Gefährliche Freiheit. Rousseau, Lefort und die Ursprünge der radikalen Demokratie 9783848727636, 9783845272337


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German Pages 504 Year 2017

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Gefährliche Freiheit. Rousseau, Lefort und die Ursprünge der radikalen Demokratie
 9783848727636, 9783845272337

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Schriftenreihe Zeitgenössische Diskurse des Politischen herausgegeben von Prof. Dr. Andreas Hetzel Prof. Dr. Oliver Flügel-Martinsen Band 13

Wissenschaftlicher Beirat Mathias Albert (Bielefeld), Robin Celikates (Amsterdam), Anna Geis (Hamburg), Charles Girard (Lyon), Ina Kerner (Berlin), Regina Kreide (Giessen), Oliver Marchart (Wien), Stephan Moebius (Graz), Maria Muhle (München), Martin Nonhoff (Bremen), Dirk Quadflieg (Leipzig), Hartmut Rosa (Jena), Rainer Schmalz-Bruns (Hannover) Die Forschungsreihe versteht sich als Forum der Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen des Politischen heute. Sie vereint Schriften aus der Politischen Theorie, der Politischen Philosophie, der Sozialphilosophie und der Soziologie. Ohne sich schulpolitisch festlegen zu wollen, verfolgen die Schriften der Reihe die Pfade eines antiessentialistischen, pluralistischen und radikaldemokratischen Denkens des Politischen, wie es sich seit der Mitte der 1980er Jahre vor allem in Frankreich, Italien, England und in den USA formiert hat. Das Themenspektrum der Bände erstreckt sich von dekonstruktiven über genealogische, agonistische, diskurs- und hegemonietheoretische Ansätze bis in die Felder der Gouvernementalitätsstudien, des (Post-)Feminismus und der Postcolonial Studies. Die Reihe eröffnet eine konstruktive Kontroverse über die Diskurse des Politischen und sucht zugleich nach Perspektiven ihrer Weiterentwicklung.

Martin Oppelt

Gefährliche Freiheit Rousseau, Lefort und die Ursprünge der radikalen Demokratie

Nomos

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Augsburg, Univ., Diss., 2015 u.d.T.: Gefährliche Freiheit – Rousseau, Lefort und die verleugneten Ursprünge der radikalen Demokratie ISBN 978-3-8487-2763-6 (Print) ISBN 978-3-8452-7233-7 (ePDF)

1. Auflage 2017 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Meinen Eltern

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

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II. Diskursive Verbindungen: Rousseau und Lefort zwischen Totalitarismus und Demokratie

41

II. 1. Totalitarismus - Ein Kampfbegriff

41

II. 2. Claude Lefort und der Totalitarismus-Diskurs II. 2. 1. Totalitarismus als Herrschaftsstruktur II. 2. 2. Genealogie des Totalitarismus II. 2. 3. Demokratie und Totalitarismus

46 46 51 57

II. 3. Jean-Jacques Rousseau und der Totalitarismus-Diskurs Exkurs I: Rousseau im liberalen Diskurs Exkurs II: Rousseau im marxistischen Diskurs Zwischenergebnisse

62 77 87 94

II. 4. Demokratie - ein umkämpfter Begriff

96

II. 5. Die partizipatorische radikale Demokratie II. 5. 1. Die prozedural-identitäre Lesart Rousseaus: Pateman und Barber II. 5. 2. Die substanzialistische Lesart Rousseaus: Fraenkel und Schmitt II. 5. 3. Radikale Demokratie mit Rousseau: Maus und Habermas II. 6. Die gegenwärtige radikale Demokratie II. 6. 1. Ein (Neu-) Denken des Politischen II. 6. 2. Grundzüge der radikalen Demokratie II. 6. 3. Zentralkategorien der radikalen Demokratie II. 6. 4. Abgrenzungen II. 6. 5. Kritik der radikalen Demokratie II. 6. 6. Rousseau und die radikale Demokratie - Übersehene Ursprünge, diachrone Verbindungen

102 104 110 123 126 126 130 139 156 169 178

7

Inhaltsverzeichnis

III. Leforts politische Theorie der radikalen Demokratie III. 1. Von der Erfahrung totalitärer Praxis zur Notwendigkeit eines Neudenkens der Demokratie: Die post-marxistische Phase III. 1. 1. Auftakt III. 1. 2. Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg: Trotzkismus und intellektueller Widerstand III. 1. 3. Abkehr vom Trotzkismus - Socialisme ou Barbarie III. 1. 4. Der XX. Parteitag der KPdSU III. 1. 5. Eine Kritik der bürokratischen Herrschaft III. 1. 6. Dem Marxismus den Rücken III. 2. Von den Ursprüngen, Chancen und Gefahren der Demokratie: Die radikaldemokratische Phase III. 2. 1. Aus den „Wäldern des Daseins“ - die Rückkehr der Politischen Philosophie III. 2. 2. Am Grund des Sozialen III. 2. 3. Kontingenz und die Ursprünge der Moderne III. 2. 4. Die demokratische Revolution III. 2. 5. „By nature a man - by grace a God-man” - Die zwei Körper des Königs III. 2. 6. „Die Zahl tritt an die Stelle der Substanz“ - Die demokratische Wahl III. 2. 7. Der Fürst und die Vor-Städte - Leforts MachiavelliLektüren III. 2. 8. Unversöhnliche Leidenschaften als Bedingung der Gesellschaft III. 2. 9. Freiheit, die ich meine - ein Schattenbild? III. 2. 10. Menschenrechte - politisch, nicht liberal III. 2. 11. Menschenrechte - politisch, nicht marxistisch III. 2. 12. Ausweitung der Kampfzone III. 3. Leforts Theorie des Politischen, der Demokratie und des Totalitarismus III. 3. 1. Eine politische Theorie sui generis? III. 3. 2. „Wilde Demokratie“ gegen den Staat III. 3. 3. Demokratie und Repräsentation - zwischen Symbolischem und Realem III. 3. 4. Macht und Demokratie III. 3. 5. Konflikte und das Abenteuer der Demokratie

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Inhaltsverzeichnis

III. 3. 6. Bürgerschaft, politische Identitäten und Demokratie Exkurs III: Wie Schmitt in Frankreich? IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie IV. 1. Über die kontingenten Grundlagen von Recht, Macht, Wissen und Gesellschaft: Die Diskurse IV. 1. 1. Ein Sägen an den Thronen - Der Diskurs über die Wissenschaften und Künste IV. 1. 2. Über die unrühmlichen Ursprünge der Gesellschaft Der Diskurs über die Ursprünge und Grundlagen der Ungleichheit IV. 1. 3. Zwischenergebnisse IV. 2. Die Frage des Politischen: Der Gesellschaftsvertrag IV. 2. 1. Ein philosophisches Dilemma? IV. 2. 2. Freiheit in Ketten IV. 2. 3. Der Umgang mit Konflikten und der gefährlichen Freiheit IV. 2. 4. Das Grundproblem der bürgerlichen Gesellschaft IV. 2. 5. Der Gemeinwille IV. 2. 6. Die Trennung von Macht und Gesellschaft IV. 2. 7. Vom Gesetzgeber IV. 2. 8. Die Tugend der Widerständigkeit und der Fortbestand politischer Gemeinwesen IV. 2. 9. Von der Zivilreligion IV. 2. 10. Zwischenfazit IV. 3. Die Frage(n) und Antworten der Politik: Die Verfassungsschriften IV. 3. 1. Ein Kampf gegen Windmühlen IV. 3. 2. Der Sturm auf die öffentliche Meinung IV. 3. 3. Die Bedingung der Freiheit - Volkes Stimme gegen das „Geschrei der Macht“ IV. 3. 4. Im demokratischen Handgemenge IV. 3. 5. Der Verfassungsentwurf für Korsika - Wie bildet man ein Volk gegen die Regierung? IV. 3. 6. Betrachtungen über die Regierung Polens - Stolze, heilige Freiheit!

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Inhaltsverzeichnis

V. Zum Schluss: Post-Rousseauismus?

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Literaturverzeichnis

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Danksagung

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„Blind sind wir inmitten des Lichts der Aufklärung: Opfer unseres eigenen, wahnsinnigen Beifalls“ (Jean-Jacques Rousseau, Brief an D´Alembert)

I. Einleitung

Im Jahr 1762 schrieb Rousseau folgende berühmte Zeilen an den königlichen Oberzensor, Förderer der Enzyklopädie und Ahnherren Alexis de Tocquevilles, Chrétien-Guillaume de Lamoignon de Malesherbes: „Ich besuchte Diderot, der damals in Vincennes gefangen saß. Ich hatte ein Heft des Mercure de France in der Tasche, in dem ich unterwegs zu blättern anfing. Ich stoße auf die Frage der Akademie zu Dijon. Hat jemals etwas einer schnelleren Eingebung geglichen, so war es die Bewegung, welche in mir vorging, als ich diese Frage las. Auf einmal fühle ich, dass mein Geist von tausend Lichtern geblendet wird, ganze Massen lebhafter Gedanken stellen sich ihm mit einer Gewalt und in einer Unordnung dar, die mich in eine unaussprechliche Verwirrung versetzt; meinen Kopf ergreift ein Schwindel, welcher der Trunkenheit gleicht. Ein heftiges Herzklopfen bedrängt mich, will mir die Brust sprengen; da ich gehend nicht mehr atmen kann, lasse ich mich am Fuß eines Baumes am Wege hinsinken und bringe eine halbe Stunde dort in einer Erregung zu, dass ich beim Aufstehen den ganzen Vorderteil meiner Weste mit Tränen durchnässt finde, ohne gefühlt zu haben, dass ich welche vergoss“1. Was Rousseau damals, im Frühjahr 1749, im Mercure las, ist hinlänglich bekannt: die Ausschreibung eines Wettbewerbes der Akademie zu Dijon zu der Frage, ob „die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat“2. Ebenso bekannt sind die Folgen: Rousseau bewarb sich mit einer Abhandlung, welche die von der Aufklärung propagierte emanzipatorische Bedeutung der Wissenschaften und Künste ordentlich gegen den Strich bürstete. In dieser Schrift entwickelte er die These, wonach „der Mensch von Natur gut ist, und dass es lediglich von ihren Einrichtun-

1 Rousseau, Jean-Jacques: Vier Briefe an den Herrn Präsidenten von Malesherbes, das wahre Gemälde meines Charakters und die wahren Beweggründe meiner ganzen Aufführung enthaltend. In: Schriften. Band 1. Herausgegeben von Henning Ritter. München/ Wien 1978. S. 483. 2 Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung über die Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat? Von einem Bürger Genfs. In: Schriften. Band 1. Herausgegeben von Henning Ritter. München/ Wien 1978. S. 27 - 60 (WuK).

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I. Einleitung

gen herrührt, wenn die Menschen böse werden“3 zu einer der polemischsten und umstrittensten Streitschriften des 18. Jahrhunderts, welche ihn quasi über Nacht berühmt machte und ihm bis heute den Ruf des AntiAufklärers par excellence anhaften lässt. Rousseau gewann den Preis und begründete damit eine schriftstellerische und philosophische Karriere, die ihresgleichen sucht. So folgte auf den Discours sur les sciences et les arts 1755 der noch wirkmächtigere Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, in welchem er die politischen und sozialen Verhältnisse des Ancien Régime einer subtilen und vernichtenden Kritik unterzog. Mit dem 1758 veröffentlichen Lettre à D´Alembert, in welchem er unter anderem gegen Voltaires Vorschlag der Errichtung eines Theaters in Genf polemisierte, festigte er für die einen seinen Ruf als rückwärtsgewandter Anti-Aufklärer, während er sich für die anderen dort als Herzensrepublikaner zu erkennen gab, was wiederum für Dritte nicht notwendig ein Widerspruch sein musste. So streiten sich die Interpretinnen schließlich bis heute darüber, ob Rousseaus Werk als das Vermächtnis eines modernen oder anti-modernen Denkers zu gelten hat.4 Mit dem Briefroman Julie ou la Nouvelle Héloïse schrieb er 1761 eines der meist verkauften und meist gelesenen Bücher seiner Zeit, welches ihn für Charles Taylor zum Fackelträger einer psychologischen Revolution machte, die mit der Idee der menschlichen Autonomie das Tor zu Moderne aufgestoßen hat.5 So habe Rousseau ebenso Kants kategorischen Imperativ vorbereitet, wie er über Fichte, Hegel und Marx bis heute all die politischen Denkerinnen beeinflusse, die sich im Namen der Freiheit dem Kampf gegen das Diktat externer Autoritäten und vermeintlicher Notwendigkeiten verschreiben.6

3 Rousseau, Jean-Jacques: Vier Briefe an den Herrn Präsidenten von Malesherbes. A.a.O. 4 Als letzteren verstehen ihn etwa Fetscher, Iring: Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs. Frankfurt am Main 1975. Shklar, Judith: Men and Citizens. A Study in Rousseau´s Social Theory. London 1969. Leduc-Fayette, Denise: Jean- Jacques Rousseau et le mythe de l´antiquité. Paris 1974. Philonenko, Alexis: Jean-Jacques Rousseau et la penseé du malheur. Apothéose du désespoir. Paris 1984. 5 Zu Taylors Rousseau-Rezeption siehe Oppelt, Martin: Zwischen Authentizität und totalitärem Terror: Charles Taylor liest Rousseau. In: Bohmann, Ulf (Hrsg.). Wie wollen wir leben? Das politische Denken und Staatsverständnis von Charles Taylor. Baden-Baden 2014. S. 21 - 39. 6 Taylor, Charles: Die Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt am Main 1996. S. 633.

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I. Einleitung

Im Jahr 1762 erschienen die beiden bis heute bekanntesten und einflussreichsten Schriften Rousseaus: der Contrat Social, sein politiktheoretisches Hauptwerk, und der Émile, einer der erfolgreichsten Erziehungsromane der Weltliteratur aus der Feder des Mannes, der seine fünf Kinder ins Waisenhaus gab.7 Und schließlich gelten seine 1782 posthum erschienenen Confessions als herausragende Wegmarke des literarischen Genres der Autobiographie, die im gleichen Jahr veröffentlichten rêveries du promeneur solitaire, laut ausgewiesener Expertenmeinung das „schönste und gewagteste“ seiner Werke, können es spielend mit den großen Schriften der abendländischen Philosophie- und Literaturgeschichte aufnehmen.8 Sorgte Rousseaus umfang- und facettenreiches Werk dabei schon zu Lebzeiten für reichlich Aufsehen und Kontroversen,9 so hat sich die Diskussion über die Jahrhunderte nach seinem Ableben eher noch verschärft. Immer tiefere Gräben zwischen den Lagern der Rousseau-Exegetinnen und Interpretinnen wurden ausgehoben, so dass heute eine schier unversöhnliche Zwietracht über die angemessene Perspektive auf Intention, Bedeutung und Wirkung Rousseaus zu herrschen scheint. Sehen die einen in Rousseaus Schriften die ideologische Vorbereitung der Französischen Revolution und damit in Rousseau, für Robespierre immerhin der „précepteur du genre humain“,10 einen Hauptverantwortlichen für die Gräuel der jakobinischen Terrorherrschaft,11 so machen ihn andere gar für die Schre7 In einem Brief an Madame de Franceuil, rechtfertigt er dies damit, dass die Klasse der Reichen seiner Klasse das Brot seiner Kinder stehle, woraus marxistische Interpreten eine grundsätzlich klassenkämpferische Position Rousseaus ableiteten. Siehe: Rousseau, Jean-Jacques: Brief an Madame de Franceuil. In: Leigh, Ralph A. Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau. Edition critique établie et annotée par R. A. Leigh. Band II. Genf 1963. S. 142 - 144. 8 Meier, Heinrich: Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries. München 2011. S. 17. 9 Trousson, Raymond: Jean-Jacques Rousseau jugé par ses contemporains. Du Discours sur les arts aux Confessions. Paris 2000. 10 Robespierre, Maximilien: Sur les rapports des idées religieuses et morales avec les principes républicains, et sur les fêtes nationales. In: Ders. Discours et rapports à la Convention. Herausgegeben von Marc Bouloiseau. Paris 1965. S. 269. 11 Siehe z.B. Berry, Brian: Prélude idéologique à la Révolution Française. Le Rousseauisme avant 1789. Paris 1985. Heinrich Heine etwa bezeichnete Robespierre als „die Hand von Jean-Jacques Rousseau (…), die blutige Hand, die aus dem Schoße der Zeit den Leib hervorzog, dessen Seele Rousseau geschaffen (hat).“ (Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Stuttgart 1997. S. 5. Den Hinweis auf das Zitat verdanke ich Halas, Franz: Träumer und Kronjurist. Der Zwang zur Freiheit bei Rousseau und Schmitt. In: Herb,

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I. Einleitung

ckensherrschaften des Nationalsozialismus und des Stalinismus verantwortlich.12 Dem gegenüber stehen jene, die in Rousseau einen der wichtigsten Wegbereiter der modernen Idee radikaler Freiheit und menschlicher Autonomie sehen.13 Spätestens seit der Überführung seiner sterblichen Überreste ins Panthéon 1794, wo Rousseau seither neben seinem Erzfeind Voltaire ruht, ist seine Bedeutung als Säulenheiliger der französischen Republik und sein Ruf als „Star“ unter den abendländischen Philosophen gefestigt.14 Ohne nun die Frage nach der historischen Bedeutung Rousseaus und der selbstverständlich auch reduktionistischen, weil stets interessegeleiteten Rezeption seiner Schriften weiter verfolgen zu wollen,15 soll hier zunächst für einen Moment an den Anfang dieser beispiellosen Karriere zurückgegangen und die Aufmerksamkeit noch einmal kurz auf die von Rousseau selbst geschilderte Urszene seines Schaffens gelegt werden: das Erweckungserlebnis von Vincennes. Rousseau beschreibt im Brief an Malesherbes, wie er unbedarft seines damals fast täglichen zweistündigen Weges entlang lief, um seinen für die Herausgeberschaft der Encyclopédy inhaftierten Freund Diderot im Gefängnis zu besuchen. Man kann sich gut vorstellen, wie er sich ein bisschen langweilte, beiläufig in der Jackentasche kramte und eine abgegriffene Ausgabe eines Magazins herauszog, in dieser ein bisschen lustlos herumblätterte und schließlich auf die Frage stieß, die sein Leben verändern sollte. Was aber wäre passiert, hätte Rousseau die Ausgabe an diesem Tag nicht in der Tasche gehabt? Was, wenn er nicht alleine, sondern zum Beispiel in Begleitung D´Alemberts gelaufen und folglich ins Gespräch vertieft und abgelenkt gewesen wäre?

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Karlfriedrich/ Scherl, Magdalena (Hrsg.). Rousseaus Zauber. Lesarten der Politischen Philosophie. Würzburg 2012. S. 57 - 65, hier S. 57). Zum Beispiel Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 1. Der Zauber Platons. Stuttgart 1992. Ders.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 2. Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. Stuttgart 1992. Talmon, Jacob L.: Die Geschichte der totalitären Demokratie. Drei Bände. Herausgegeben von Uwe Backes. Göttingen 2013. Siehe z.B. Landgrebe, Christine: Ich bin nicht käuflich. Das Leben des JeanJacques Rousseau. Weinheim/ Basel/ Beltz 2004. S. 333ff. Jaumann, Herbert: Rousseau in Deutschland. Forschungsgeschichte und Perspektiven. In: Ders. (Hrsg.). Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin/ New York 1995. S. 9. Siehe Reiling, Jesko/ Tröhler, Daniel: Einleitung. Rousseau und die Vielfalt der Rezeptionsinteressen. In: Dies. (Hrsg.). Zwischen Vielfalt und Imagination. Praktiken der Jean-Jacques-Rousseau-Rezeption. Genf 2013. S. 15.

I. Einleitung

Was, wenn er sich zuvor mit Diderot zerstritten hätte und zu Hause geblieben wäre? Die oben skizzierte Karriere eines der einflussreichsten politischen Denker der Neuzeit, so scheint es, ruht offensichtlich auf einem ziemlich wackligen Fundament auf. Für eine Gelehrtenkarriere wie die Rousseaus - und ein Gelehrter war er zweifelsohne, wenn auch nicht nach den Maßstäben der meisten Philosophen seiner Zeit, hatte er doch zum Beispiel nie eine Universität besucht - für einen Denker zumal, der bis heute zu jenen sprichwörtlichen Riesen gehört, auf deren Schultern sich seit über 250 Jahren Interpretinnen, Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen, Intellektuelle und Studierende aller politischen Couleur drängeln, scheint das fast ein wenig unglaubhaft zu sein. Und doch gibt es keinen Grund, die von Rousseau geschilderte Szene nicht ernst zu nehmen. Denn unabhängig von der ausführlich diskutierten Frage um Wahrheit oder Fiktionalität der Erweckungsszene,16 unabhängig davon, ob nun Diderot den Anstoß für die Bewerbung um das Preisausschreiben gegeben hatte oder nicht: Unbestritten hätte der protestantische Genfer Rousseau die stilistischen, rhetorischen und intellektuellen Mittel und Motive gehabt, die Szene von Vincennes als logischen Kulminationspunkt eines steinigen und entbehrungsreichen, letztlich aber auch vorbestimmten Weges intellektueller Selbstoptimierung und zunehmenden Erkenntisgewinns zu präsentieren. Stattdessen berichtete er jedoch von einem „glücklichen Zufall“17. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass dies selbst gerade kein Zufall war und Rousseau aus irgendeinem Grund Wert auf die Kontingenz am Ursprung seiner intellektuellen und öffentlichen Karriere legte, ein Eindruck, der sich durch die Lektüre der Confessions zu bestätigen scheint.18 Zudem verwendete er daneben ja auch einige Mühe darauf, die Bedeutung dieses Moments und dessen körperliche Erfahrung nicht nur verstehbar, also in-

16 Dass es sich sehr wahrscheinlich um ein nachträglich stilisiertes Ereignis handelt legt Frederick Green nahe: Green, Frederick C.: Jean-Jacques Rousseau: A critical study of his life and writings. Cambridge 1955. 17 Rousseau, Jean-Jacques: Vier Briefe an den Herrn Präsidenten von Malesherbes. S. 482. 18 So beginnen zum Beispiel Rousseaus Lehr- und Wanderjahre nicht etwa als bewusster Akt der Emanzipation und Lossagung von Familie, Beruf, Heimat und Tradition, sondern aufgrund der profanen Tatsache, dass er zu spät von einem Abendspaziergang zurückkehrte und die Stadttore verschlossen vorfand. Da er die Strafe seines Vaters und seiner Arbeitgeber fürchtete, entschloss er sich, seiner Heimat den Rücken zu kehren und machte sich noch in derselben Nacht auf den Weg.

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I. Einleitung

tellektuell und rational nachvollziehbar, sondern diesen geradezu körperlich erfahrbar („Gewalt und (…) Unordnung“, „unaussprechliche Verwirrung“, „die Brust sprengen“, „nicht mehr atmen kann“, „Erregung“, „Tränen durchnässt“), ja der Leserin nachfühlbar, nachspürbar, erlebbar zu machen, uns seine Erfahrung also über die Zeit hinweg zu konservieren, zu vergegenwärtigen und im wahren Wortsinn zu re-präsentieren. Nun soll die Bedeutung dieser Urszene mit Blick auf Intention und Motivation Rousseaus dabei nicht überbewertet werden, geht es hier ja auch nicht um die historische Person Jean-Jacques. Für die Frage der Interpretation und Rezeption seines Werkes aber ist es durchaus lohnend, genauer hinzusehen und diese für ihn doch so einschneidende und bedeutende Erfahrung eines durch nichts vorbereiteten, durch einen bloßen Zufall ausgelösten einschneidenden Erlebnisses aufzunehmen und daraus die Frage abzuleiten, ob und wenn ja welche Bedeutung die Erfahrung von und das Bewusstsein um Kontingenz und Zufall in Rousseaus Werk eingeschrieben ist und zukommt und vor allem aber, ob und wie dies rezipiert worden ist und welche Konsequenzen das schließlich auf mögliche Reaktualisierungen der politischen Theorie Rousseaus vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftspolitischer Herausforderungen haben könnte. Denn wenn Rousseaus Schriften wirklich als ein beredtes historisches und ideengeschichtliches Zeugnis der fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen am Übergang von der so genannten Vormoderne zur so genannten Moderne gelesen werden könnten und als ein solches von der Überzeugung getragen wären, dass alle sozialen Verhältnisse, gesellschaftlichen Phänomene und politischen Institutionen nicht mehr, aber eben auch nicht weniger als das Produkt konflikthafter, mitunter gewalttätiger und in ihrem Ausgang letztlich unvorhersehbarer politischer Kämpfe sind und nicht etwa das quasi-zwangsläufige Ergebnis natürlicher, religiöser, logischer oder historischer Gesetzmäßigkeiten oder gar die Folge eines im Wesen des Menschen angelegten Drangs zur Sozialisation, dann müssten Rousseaus Schriften nicht nur als Interventionen in die politischen und sozialen Gegebenheiten ihrer Zeit, sondern als ein überzeitliches Arsenal für eine Fundamentalkritik an all jenen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen gelesen werden, die ihr eigenes Gemacht- und Gewordensein verleugnen, ihre Geschichtlichkeit verschleiern und sich als notwendig und alternativlos präsentieren, um sich so jeder Kritik zu entziehen. Dies scheint zunächst auch gar nicht mal so weit hergeholt, fallen die Veröffentlichung der Hauptwerke Rousseaus und die ersten Reaktionen auf diese doch auch unmittelbar in die Zeit vor dem Ausbruch der Französischen 18

I. Einleitung

Revolution, welche ja nicht nur als einer der wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Wendepunkte der jüngeren Ereignisgeschichte Westeuropas, sondern als Zäsur eines fundamentalen Wandels im Selbstverständnis und politischen Denken Europas gilt. Und ohne gleich behaupten zu müssen, dass Rousseau für den Ausbruch der Revolution verantwortlich ist und ohne seinen Einfluss auf deren konkreten ereignisgeschichtlichen Verlauf überzubetonen, kann wohl mit einigem Recht gesagt werden, dass seine Ideen von immenser Bedeutung für die Wahrnehmung und Interpretation der Ereignisse seit 1789 und damit auch für die kollektive Selbstwahrnehmung eines großen Teils der Bürgerinnen Europas war und bis heute ist: „Liberté, Égalité, Fraternité (…) sind auch die Grundprinzipien des Rousseauschen Denkens. Und zumindest in dieser Hinsicht ist es nicht falsch, die Französische Revolution und das philosophische Werk Rousseaus als zwei zentrale Großereignisse der Moderne nebeneinander zu stellen“19. Wenn man Rousseaus Schriften dann als einen konstitutiven diskursiven ideengeschichtlichen Knotenpunkt des westeuropäischen politischen Denkens anerkennt und diesen plausibel ein ihnen eingeschriebenes radikales Kontingenzbewusstsein nachweist, böten sich nicht nur ganz neue Perspektiven auf das Werk, sondern auch auf bisher unerkannte oder liegen gelassene diskursive Anschlussmöglichkeiten und damit verbundene Aktualisierungschancen an. Nicht nur müssten dann die text- und werkimmanenten Widersprüche, welche viele Exegetinnen bis heute vor so große Schwierigkeiten stellen, nicht mehr zwanghaft einem „Mythos der Kohärenz“ geopfert werden, sondern könnten gemäß dem Prinzip des „Ockham ´schen Rasiermessers“ erst einmal ganz einfach als das akzeptiert werden, was sie sind, nämlich schlicht Widersprüche.20 Als solche wären sie dann aber vielleicht auch nicht allein Indikatoren der Komplexität moderner gesellschaftlicher Verhältnisse,21 sondern darüber hinaus Zeichen einer bewussten Zustimmung zur radikalen Unbestimmtheit, Heterogenität und

19 Schwaabe, Christian. Politische Theorie 2. Von Rousseau bis Rawls. Paderborn 2010. S. 11. 20 Skinner, Quentin: Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte. In: Mulsow, Martin/ Mahler, Andreas (Hrsg.). Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Berlin 2010. S. 21 - 87, hier S. 43. 21 Asbach, Olaf: Rousseau und das politische Denken der Moderne. Ein Lehrstück der politischen Ideengeschichte und Intellectual History. In: Zeitschrift für Politische Theorie, Heft 2/ 2011. S. 129 - 150.

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I. Einleitung

Konflikthaftigkeit nachrevolutionärer demokratischer Gesellschaften, was Rousseaus politische Schriften dann gegen die dominanten Interpretationstraditionsalternativen sowohl als ein flammendes Plädoyer für die Chancen der im doppelten Wortsinne Grundlosigkeit gesellschaftlicher und politischer Ordnungen, zugleich aber auch als Warnung vor den damit verbundenen Risiken und Gefahren für die individuelle wie kollektive Freiheit auszeichnete. Über ein sich offenbarendes Kontingenzbewusstsein hinaus, so daher eine Grundthese vorliegender Arbeit, manifestiert sich in ihnen dann vielleicht ein Aufruf zu Kontingenztoleranz und Kontingenzaffirmation im Dienste des Erhalts und der Ausweitung der individuellen und kollektiven Freiheit in demokratischen Gesellschaften. Und dies hat dann, um es zuzuspitzen, nicht nur Auswirkungen auf die Interpretation des Werkes selbst, sondern legt aus einer rezeptionstheoretischen Perspektive eine diachrone Verbindung zwischen Rousseaus Werk und dem „französischen“22 Diskurs der radikalen Demokratie frei, wie sie nicht nur von der Mehrzahl der Rezipientinnen und Interpretinnen, sondern von deren Vertreterinnen selbst bis heute größtenteils übersehen wird, was in aller Konsequenz die Anschlussfähigkeit der politischen Theorie Rousseaus und deren Aktualisierung in gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Debatten erschwert bis verunmöglicht und so wiederum zur diskursiven Verknappung und Reduktion möglicher Alternativen und Lösungsansätze für gesellschaftliche Problemlagen und politische Herausforderungen führt. Dabei soll hier weder simplifizierend einer Monokausalität in der Beziehung zwischen Theorie und Praxis das Wort geredet, noch behauptet werden, dass Rousseaus politische Theorie den Schlüssel für eine konkrete „Lösung“ auch nur eines gesellschaftlichen oder politischen Problems in sich birgt, den es dann folglich nur noch durch eine endlich gefundene „richtige“ Lektüre zu bergen gilt. Ganz abgesehen von der Frage, ob es so etwas wie „Lösungen“ für soziale und politische Probleme und Herausforderungen wirklich geben kann, lassen sich diese sicher nicht in den theoretischen Schriften einer Autorin finden, die man dann wie aus einer Blau-

22 „Französisch“ meint hier nicht, dass ausschließlich französischsprachige Autoinnen und Autoren an diesem Diskurs teilhaben, sondern dass dessen Ursprünge sowie Hauptvertreterinnen einer spezifisch französischen Denktradition entstammen. Siehe Hirsch, Michael/ Voigt, Rüdiger: Der Staat in der Postdemokratie. Politik, Recht und Polizei im neueren französischen Denken. In: Dies. (Hrsg.). Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken. Stuttgart 2009. S. 11 - 18, hier S. 12f.

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I. Einleitung

pause herauslesen und nur noch auf die Gegenwart werfen muss. Als politische Argumente in Diskursen aber haben Werke, Schriften oder Theoriebausteine durchaus Wirkung auf Möglichkeit der Wahrnehmung und möglichen Veränderung der eigenen Gegenwart, was aber ihre Anschlussfähigkeit und -würdigkeit, voraussetzt, die es mitunter zu plausibilisieren gilt, sind doch trotz aller Spielräume jeder Interpretation Grenzen gesetzt und kann keine Aktualisierung schließlich völlig willkürlich erfolgen. Rousseaus Schriften nun als die Intervention eines „radikalen“ Demokraten in ihrer Zeit und über diese hinaus zu lesen, scheint auf den ersten Blick nur unwesentlich origineller zu sein, als ihn als Theoretiker der Französischen Revolution zu verstehen. So wurde Rousseau ja bereits von Zeitgenossinnen vorgeworfen, eine subversive Theorie entworfen und einen großen Teil zum Ausbruch und der Legitimation der Französischen Revolution beigetragen zu haben,23 wenngleich sein Einfluss mitunter wohl auch überschätzt wurde.24Als einer der vermeintlich größten Kritiker der Idee repräsentativer Demokratie, als welcher er zum Beispiel das englische Volk als ein Volk von Sklaven verunglimpfte, da es sich einzig aufgrund des Wahlrechts einbildete, frei zu sein,25 scheint er sich für eine solche Lesart eher geradezu aufzudrängen.26 Und wird Rousseau nicht bis heute quer durch die Feuilletons, öffentlichen Diskussionen und akademischen Debatten als einer der radikalen Verfechter direkter Demokratie im Sinne einer Identität von Regierenden und Regierten, einer Regierungsform ohne den souveränen Volkswillen verwässernde oder verhindernde Zwischeninstanzen (re-)präsentiert? Wenn hier von radikaler Demokratie die Rede ist, wird damit jedoch ein politisches Denken bezeichnet, das sich vom gerade skizzierten in den Prämissen, Argumenten und Schlussfolgerungen, aber auch in der Perspektive auf Rousseaus Werk deutlich

23 Trousson, R.: Jean-Jacques Rousseau jugé par ses contemporains. A.a.O. Hier vor allem Kapitel 7. 24 Manin, Bernard: „Rousseau“. In: Dictionnaire critique de la Révolution Française. Herausgegeben von F. Furet und M. Ozouf. Paris 1992. S. 457 - 481. 25 Rousseau, Jean-Jacques: Œuvres complètes. Band III. Du Contrat social – Écrits politiques. Édition sous la direction de Marcel Raymond avec la collaboration de François Bouchardy, Jean-Daniel Candaux, Robert Derathé, Jean Fabre, Bernard Gagnebin, Jean Starobinski, Sven Stelling-Michaud. Paris 1964. S. 430 (im Folgenden OC III). 26 Marti, Urs: Rousseau und die Krise der repräsentativen Demokratie. In: Hidalgo, Oliver (Hrsg.). Der lange Schatten des Contrat Social. Demokratie und Volkssouveränität bei Jean-Jacques Rousseau. Wiesbaden 2013. S. 231 - 253, hier S- 231.

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abgrenzt und unterscheidet. Der Diskurs der radikalen Demokratie, um den es hier geht, entstammt einer postmarxistischen und poststrukturalistischen Denktradition und wurde im Anschluss an die Arbeiten Claude Leforts, der als dessen Wegbereiter gelten kann,27 in seiner heute weithin geteilten Bedeutung von den Arbeiten Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes und deren Reaktualisierung der Hegemonietheorie Antonio Gramscis geprägt. Er vereint so unterschiedliche Denkerinnen wie Jacques Rancière, Jean-Luc Nancy, Étienne Balibar, Judith Butler oder Jean-François Lyotard unter dem Label der Radikaldemokratie und hat mit den Ansätzen partizipatorischer oder direkter Demokratietheorien wenig bis gar nichts gemein. Vor allem aber spielt Rousseau in diesem radikaldemokratischen Denken fast keine Rolle. Somit existieren mindestens zwei Diskurse einer wie auch immer verstandenen „radikalen“ Demokratie mit mindestens einer jeweils eigenen Perspektive auf Rousseau. Ist er den einen eine wichtige ideengeschichtliche Referenz, so wollen die anderen nichts mit ihm zu tun haben und nennen nicht einmal groß seinen Namen, was nun gleich aus mehreren Gründen überrascht. So bekennt sich nämlich auch das postmarxistische radikaldemokratische Denken zu einer Fundamentalkritik der liberalen Demokratie, wie sie Rousseau seitens einer einflussreichen Interpretationstradition ja gerne zugeschrieben wird. Beide, Rousseau wie die Radikaldemokratinnen im Anschluss an Lefort, erinnern zudem die liberalen Demokratien an ihre nicht eingelösten demokratischen Versprechen der Gleichheit und Volkssouveränität, beide fordern deren Demokratisierung im Sinne der Ausweitung demokratischer Gleichheit auf alle gesellschaftlichen Bereiche und politischen Institutionen. Tatsächlich ist Rousseau im postmarxistischen radikaldemokratischen Diskurs aber bestenfalls von einer gewissen historischen Bedeutung, die wenigen Verweise auf sein Werk scheinen eher nostalgischen Motiven geschuldet zu sein, als dass ihnen wirklich systematisches Gewicht zugesprochen wird. Wenn überhaupt, ist er eben nur als ein Kritiker des Liber-

27 Heil, Reinhard/ Hetzel, Andreas: Die unendliche Aufgabe – Perspektiven und Grenzen radikaler Demokratie. In: Dies. (Hrsg.). Die unendliche Aufgabe. Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie. Bielefeld 2006. S. 7 - 24, hier S. 9. Dies.: Radikale Demokratie. In: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hrsg.). Demokratie…in der neuen Gesellschaft. Informationen aus der Tiefe des umstrittenen Raumes. Berlin 2007. S. 12 - 30, hier S. 14. Ingram, James D.: The Politics of Claude Lefort´s Political. Between Liberalism and Radical Democracy. In: Thesis Eleven, Nr. 87, 2006. S. 33 - 50, hier S. 35.

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alismus unter vielen von Interesse: „Rousseaus account of democracy is important for contemporary theorists of radical democracy, not so much for its distinctive view of the general will, which is found wanting in much contemporary thought, but for its particular criticism of the liberal tradition. His critique of representative democracy and understanding of selfgovernment challenge the key assumptions of liberal democracy, especially the notion that democracy can be reduced to the periodic selection of deputies through the ballot box”28. Rousseau sähe folglich (hierin Marx ähnlich) Politik als etwas prinzipiell Negatives an, das es zugunsten einer sich selbst transparenten Gesellschaft zu überwinden gelte, wohingegen radikale postmarxistische Demokratietheorien eine mehr oder weniger nuancierte Liberalismuskritik den zumindest tendenziell oder potenziell totalitären Varianten der politischen Theorien Rousseaus (und Marx) vorzögen. Besonders Rousseau wird dabei hart angegangen, habe er sich doch derart vor dem vermeintlich schädlichen Einfluss partikularer Interessen auf das Gemeinwohl gefürchtet, dass er sich letztlich für eine modernefeindliche und konfliktfreie Demokratiekonzeption entschieden und sich damit dem proto-totalitäreren Ziel der Schaffung homogener Gemeinschaften verschrieben habe. Jacques Derrida liest Rousseau zum Beispiel als einen melancholischen und nostalgischen Denker, der sich nach der goldenen Zeit einer geordneten Welt zurück- und die Präsenz vergangener Zeiten herbeisehnte, gleichzeitig aber die Brüche und Spaltungen der Moderne irgendwie auch anerkannte.29 Rousseau wie Marx hingen letztlich beide dem ebenso utopischen wie gefährlichen Traum in der Geschichte verwirklichter absoluter Harmonie und der Abschaffung aller Macht- und Ungleichheitsverhältnisse an, was sie als ideengeschichtliche Referenzautoren für die radikale Demokratie diskreditiere.30 Diese radikale Demokratie möchte mit Rousseaus volonté générale, der vermeintlich von ihm propagierten Utopie der Identität von Regierenden und Regierten und seinen totalitären Erziehungsmaßnahmen also offensichtlich nicht in Verbindung gebracht werden. Die in Rousseaus Schriften angeblich anvisierte endgültige Überwindung von Entfremdungs-, Macht-, Herrschaftsverhältnissen und Politik sei nicht nur unmöglich, sondern höchst gefährlich für die

28 Norval, Aletta: Radical Democracy. In: Clarke, Barry/ Foweraker, Joe (Hrsg.). Encyclopedia of Democratic Thought. London/ New York 2001. S. 587 - 594, hier S. 587. 29 Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt am Main 1996. 30 Norval, Aletta: Radical Democracy. S. 592.

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Freiheit des Individuums.31 Selbst Rousseaus Theorie gegenüber wohlmeinendere Positionen folgen dieser Lesart letztlich: „The term ‘radical democracy’ is often associated with Rousseau’s Social Contract. Although important differences exist between Rousseau’s democracy and contemporary theories, they do share a commitment to radical egalitarian and primacy of political life. Another important theoretical point shared is recognition of the modern and/or liberal value of the autonomy of the individual, which both versions argue is possible only within the sphere of the political. Important differences, however, must be recognized, including Rousseau’s belief in the possibility and desirability of a unified collective will and his privileging of the public over the private views that differ from contemporary emphases upon difference and social antagonism.”32 Dabei arbeitet sich das postmarxistische radikaldemokratische Denken wie gesagt nicht etwa an Rousseau ab oder kritisiert diesen großartig, sondern erwähnt ihn größtenteils einfach nicht. Nimmt man den oben liegen gelassenen Faden wieder auf und folgt der Hypothese, dass Rousseaus Schriften von einem radikalen Kontingenzbewusstsein durchdrungen sind, wie es auch das postmarxistische radikaldemokratische Denken im Anschluss an Lefort anleitet, stützt dies jedoch die Vermutung einer womöglich übersehenen Verbindung der politischen Theorie Rousseaus und des postmarxistischen radikaldemokratischen Diskurses, der in vorliegender Arbeit nachgegangen werden soll. So soll der Versuch unternommen werden, die liegen gelassenen diskursiven Verbindungen zwischen Rousseau und Lefort herauszuarbeiten, Rousseaus Werk dadurch an den postmarxistischen Diskurs der radikalen Demokratie anzuschließen und seine politischen Schriften im Umkehrschluss aus der Perspektive von Leforts politischer Theorie und dem gegenwärtigen radikaldemokratischen Denken einer Neuinterpretation zu unterziehen. Wenn dies gelänge, so die Hoffnung, können Rousseaus Schriften für gegenwärtige demokratietheoretische und gesellschaftspolitische Fragestellungen aktualisiert und zugleich der Diskurs der radikalen Demokratie angereichert werden. So soll in vorliegender Arbeit der Zusammenhang zwischen Rousseaus Demokratiedenken und dem neueren Diskurs der radikalen Demokratie herausgearbeitet werden, wobei das Verhältnis von Rousseau zu

31 Ingram, James D.: The Politics of Claude Lefort´s Political. S. 36. 32 Rasmussen, Claire/ Brown, Michael: Radical Democratic Citizenship: Amidst Political Theory and Geography. In: Isin, Engin F./ Turner, Brian S. (Hrsg.). Handbook of Citizenship Studies. London 2002. S. 175 - 188, hier S. 187, FN 3.

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Lefort dabei nicht einfach im Sinne eines „und“ rekonstruiert wird, indem nacheinander Gemeinsamkeiten und Unterschiede abgearbeitet werden, sondern in Form eines mit Walter Benjamin gesprochen „dialektischen Bildes“.33 Rousseau erscheint dann als Vorbereiter eines zeitgenössischen radikaldemokratischen Denkens und seine politische Philosophie und Kulturkritik zugleich selbst als genuin radikaldemokratische Intervention in ihre und unsere Zeit. Wenn vor allem Claude Lefort die moderne Demokratie seit ihrer Geburtsstunde in der Französischen Revolution als ein ergebnisoffenes Abenteuer verstand und darin sowie im angemessenen Umgang mit der radikalen Kontingenz am Grunde aller gesellschaftlichen und politischen Ordnungen die Bedingung der Freiheit ausmachte,34 so soll diese Grundüberzeugung auch den politischen Schriften Rousseaus nachgewiesen werden und die hier vollzogene Neulektüre anleiten. Leforts Weiterentwicklung der Überlegungen Tocquevilles, wonach die Gefahr der Freiheit in modernen demokratischen Gesellschaften aus deren Innerem selbst entspringe, ja diese Gefahr ihnen notwendig und von Anbeginn an wesensmäßig inhärent sei,35 verbindet der hier vertretenen These nach Leforts politisches Denken ideengeschichtlich und strukturell mit dem Rousseaus. Darüber hinaus wird angenommen, dass demokratische Praxis für und mit Rousseau wie Lefort bedeutet, dieses Abenteuer und die Ungewissheit der modernen Demokratie nicht bloß zu erdulden, ihnen gegenüber also lediglich eine gewisse Kontingenztoleranz an den Tag zu legen, sondern sich der Schaffung von Kontingenzaffirmation zu verschreiben und die Grundlosigkeit aller gesellschaftlichen und politischen Ordnungen als Bedingung der Freiheit zu begrüßen und zu verteidigen. Da dem jedoch oft schon die Abwesenheit eines kollektiven Kontingenzbewusstseins in demokratischen Gesellschaften entgegensteht, kann man Leforts wie Rousseaus politischen Schriften den Dreischritt der Schaffung von Kontin-

33 Für den Hinweis auf das Bild des „dialektischen Bildes“ danke ich Oliver FlügelMartinsen und Andreas Hetzel. Siehe Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts. In: Walter Benjamin - Gesammelte Schriften, Band V.1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1991. S. 576f. und 595. 34 Flügel-Martinsen, Oliver: Das Abenteuer der Demokratie. Ungewissheit als demokratietheoretische Herausforderung. In: Martinsen, Renate (Hrsg.). Ordnungsbildung und Entgrenzung. Demokratie im Wandel. Wiesbaden 2015. S. 105 - 119. 35 Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika. Stuttgart 2007. S. 139 sowie S. 369 - 389.

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genzbewusstsein, Kontingenztoleranz und Kontingenzaffirmation als Intention unterlegen. Das Paradoxe an diesem Unterfangen und damit die große Herausforderung ist dabei, dass in den Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit zugleich auch deren größte Gefährdung zu sehen ist, weswegen Lefort von einer „gefährlichen Freiheit“, der liberté dangereuse, spricht, auf welche man sich einlassen, ja welche man genießen, leben und erleben muss, um zugleich und dadurch die von ihr ausgehenden Gefahren zu minimieren.36 Beide sind sich also darüber einig, dass der Genuss der „gefährlichen Freiheit“ eingeübt werden muss und dies gegen die Verdrängung des und im vollen Bewusstsein um die kontingenten Grundfeste und die prinzipielle Nicht-Einlösbarkeit der Versprechen der modernen Demokratie. Damit sind extrem hohe Anforderungen an die Bürgerinnen demokratischer Gemeinwesen verbunden, gleichzeitig aber ist dieses Einüben tatsächlich alternativlos, will man die Freiheit nicht auf dem Altar der Sicherheit opfern. Wie nun aber die Einübung der demokratischen Praxis konkret vonstattengehen könnte, ohne dass die zu ergreifenden Maßnahmen selbst wiederum autoritär und damit freiheitsfeindlich würden und so die Prämissen des eigenen Denkens unterliefen, lässt sich Lefort und dem sich ihm anschließenden Diskurs der radikalen Demokratie kaum entnehmen. Wie zum Beispiel die für den Erhalt der Freiheit nötige und von ihm selbst explizit geforderte „Tugend der Uneinigkeit“ (vertu de la discorde) zu gewährleisten ist, hielt Lefort völlig offen.37 Rousseaus politische Theorie hingegen behandelt nicht nur Fragen der Gründung oder der Entstehung politischer Gemeinschaften, sondern diskutiert vor allem auch die Bedingungen deren Fortdauerns und der Sicherung der Freiheit in ihnen.38 Die in aktuellen politiktheoretischen Debatten unter dem Schlagwort der

36 Lefort, Claude: Réversibilité: Liberté politique et liberté de l´individu. In: Ders. Essais sur le politique. XIXe - XXe siècle. Paris 1986. S. 215 - 236, hier S. 220. Rousseau spricht im Contrat Social von der „gefährdeten Freiheit“, die er jedoch jeder ruhigen Knechtschaft allemal vorzöge (OC III, S. 405f.). 37 Lefort, Claude: Machiavel et la verità effetuale. In : Ders. Écrire. À l´épreuve du politique. Paris 1992. S. 141 - 179, hier S. 144. 38 In vorliegender Arbeit wird keine Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft getroffen, wie sie etwa Ferdinand Tönnies vornahm, vielmehr werden beide Begriffe synonym für die Bezeichnung einer wenigstens minimal organisierten und geordneten politischen Gemeinschaft (populo) in Abgrenzung zu einer losen Ansammlung an Menschen (multitudo) verwendet.

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„politischen Differenz“39 verhandelten analytischen Dimensionen einer ontologischen Ebene des Politischen sowie einer ontischen Ebene der Politik strukturieren dabei sowohl die politischen Schriften Rousseaus, wie auch die Leforts, wenngleich unterschiedlich gewichtet. Über diese Strukturanalogien zwischen Rousseaus und Leforts politischen Theorien kann Rousseau also, so die hier vertretene Überzeugung, über Lefort an den Diskurs der radikalen Demokratie angeschlossen werden und diesen produktiv ergänzen. Da der Diskurs der radikalen Demokratie aber nur sehr spärlich Bezug auf Rousseau nahm und nimmt, muss dieser als Referenzpunkt theoretisch erschlossen werden. Die Arbeit will ferner den diskursiven Horizont der radikaldemokratischen Debatten durch die systematische Aufeinanderbeziehung der Theorien Rousseaus und Leforts erweitern, um hieraus inhaltliche Angaben zur Fortentwicklung der Radikaldemokratie zu ziehen und Rousseau somit nicht nur als deren Vordenker, sondern auch als deren mögliche Zukunft zu präsentieren. Im ersten Teil der Arbeit werden die diskursive Stellung von Rousseau und Lefort und ihre Verbindungen in der Diskussion um das Verhältnis von Demokratietheorie und Totalitarismus herausgearbeitet. In einem ersten Schritt werden beider Theorien in die diskursiven Kontexte des „Totalitarismus“ und der „radikalen Demokratie“ eingebettet, wobei hier die verschiedenen Verständnisse von „radikal“ ebenso voneinander zu unterscheiden sind, wie die unterschiedlichen Perspektiven auf Rousseau. Dies wird um zwei Exkurse zur Diskussion Rousseaus innerhalb des Liberalismus und des Marxismus ergänzt, da sich Lefort auch mit diesen beiden intensiv auseinandersetzte. Dadurch sollen die zahlreichen offensichtlichen, jedoch von Lefort eben nicht thematisierten Verbindungen seiner politischen Theorie zu Rousseau freigelegt werden. So kann gezeigt werden, dass Lefort einer einseitigen Lesart Rousseaus aufgrund einer unkritischen Übernahme dominanter Interpretationstraditionen folgte, er Rousseau daher nicht als Gewinn für das eigene Werk anzusehen vermochte und er diesem damit die Chance verwehrte, in einen produktiven Dialog mit dem Diskurs der radikalen Demokratie zu treten. Für diese Blockadehaltung Leforts, so die hier vertretene Überzeugung, zahlen er und dieser Diskurs einen hohen Preis. Genau deswegen sollen mit der Offenlegung der verleugneten Verbindungen auch die systematischen Notwendigkeiten eines

39 Marchart, Oliver: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin 2010.

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(Wieder-) Anschlusses Rousseaus an den modernen Diskurs der radikalen Demokratie zu beiderseitigem Nutzen oder Vorteil herausgestellt werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass den Eigenheiten Leforts wie Rousseaus unnötig Gewalt angetan werden soll. Laut Miguel Abensour gibt es zwei Arten der methodischen Gegenüberstellung von Phänomenen zum Zwecke ihres Vergleichs: Entweder schwächt man die Besonderheiten der gegebenen Phänomene ab, oder man betont sie umso stärker in der Hoffnung, durch das deutliche Hervortreten dieser Besonderheiten neues Licht auf die Dinge werfen zu können.40 Vorliegende Arbeit wählt nicht den Weg der Einebnung der Besonderheiten, sondern macht diese im Zweifelsfall eher stärker, auch wenn das mitunter auf Kosten der „Vergleichbarkeit“ geht. Die aus einer heutigen Perspektive vielleicht sperrigen Teile Rousseaus jedoch einfach auszuklammern oder dessen Theorie zum Zweck der eigenen Untersuchung „weichzukochen“41, wäre aber nicht nur der unredlichere, sondern auch der unproduktivere Weg. Ein solcher „Vergleich“ unter strenger Einhaltung vorgegebener Kategorien würde Rousseau (und Lefort) einfach in ein neues Korsett zwängen und damit drohen, in die Beliebigkeit abzudriften, womit letztlich nichts gewonnen wäre. So sollen also die Spezifika hier eher noch erhärtet werden, da nur so der gegenseitige Gewinn hervorgehoben werden kann. Daher soll auch gar nicht behauptet werden, dass Leforts Theorie bereits bei Rousseau angelegt war und dieser dessen Ideen und Vorschläge lediglich aufwärmte. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass beide dieselben Fragen und dasselbe Grundproblem eint, sie jedoch unterschiedlich darauf antworteten. Befasst sich der erste Teil der Arbeit mit dem Aufweis der diachronen ideengeschichtlichen und diskursiven Zusammenhänge zur Plausibilisierung und Vorbereitung der weiteren Analyse, so folgt die Arbeit mit Beginn des zweiten Teils dem eher systematischen Anspruch des Nachweises der strukturellen Zusammenhänge der Theorien Leforts und Rousseaus. Denn wenn oben gesagt wurde, dass weder Rousseau noch Lefort „weichgekocht“ werden sollen, um in ein starres Interpretationsschema gegossen werden zu können, hat dies natürlich Auswirkungen auf die Systematik der Untersuchung. So wird im zweiten Schritt eine kontextualisierende Diskussion und daran anschließend eine interne Rekonstruktion des politischen Denkens Claude Leforts vorgenommen. Hier werden die analyti40 Abensour, Miguel: Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellische Moment. Berlin 2012. S. 243. 41 Diese Terminologie verdanke ich Marcus Llanque.

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schen Instrumente, mit welchen dann Leforts Demokratietheorie und im dritten Teil Rousseaus Demokratietheorie analysiert werden, jeweils mit Blick auf ihren tatsächlichen und potentiellen Beitrag zur gegenwärtigen Radikaldemokratie herausgearbeitet, wobei methodisch auf eine ideengeschichtlich operierende Diskursforschung und die systematischen Rekonstruktion von Theorien zurückgegriffen wird. Der Zusammenhang von Rousseau und Lefort, von Totalitarismus-Theorie und Radikaldemokratie wird als diachroner Diskurs verstanden und die jeweiligen Theorien in Hinblick auf ihre Positionierung im Arsenal der Politischen Ideengeschichte hin befragt. Der erste Anspruch dabei ist es, das Denken Leforts als politische Theorie zu präsentieren und aus dieser ein eher lockeres Analyseraster zur Interpretation der politischen Theorie Rousseaus zu gewinnen. Dieser Schritt ist nötig, hat Lefort doch nie eine in dem Sinne systematische politische Theorie vorgelegt, sondern sich seinen Gegenständen stets eher essayistisch und fragend genähert und sich der Formulierung klarer Antworten eher verweigert. Allgemein ist sein Denken in seinen Prämissen, Konklusionen und in seiner Rhetorik sehr komplex und damit oft alltagsfern. Überhaupt ist der Diskurs der radikalen Demokratie wegen des ihm ganz eigenen Vokabulars und seiner komplizierten Rhetorik ein oft hermetischer Spezialdiskurs, der sich nicht immer allein durch die mangelhafte Übersetzungen der französischen Originale erklären und entschuldigen lässt.42 Dies macht eine detaillierte systematische Rekonstruktion sowohl der Eigenarten des Diskurses, wie auch der politischen Theorie Leforts dann aber eben umso notwendiger, wird zudem erst durch eine solche die Möglichkeit einer Zusammenführung mit der Theorie Rousseaus und der Neuinterpretation dessen politischer Schriften geschaffen. Dabei wird aus heuristsichen Gründen nach zwei Phasen des Schaffens Leforts unterschieden. Der erste Abschnitt wird als „postmarxistische Phase“ bezeichnet und rekonstruiert die Entwicklung seines Denkens von Anbeginn bis zu seinem „democratic turn“43 und der Abkehr von den zentralen Prämissen des Marxismus nach. Dies dient der Vorbereitung seiner demokratietheoretischen Überlegungen, die im zweiten Teil als „radikaldemokratische Phase“ behandelt werden. Zugleich ergänzt diese Rekonstruktion die Einbettung Leforts in die Diskurse des Totalitarismus und der

42 Jörke, Dirk: Wie demokratisch sind radikale Demokratietheorien? In: Heil, Reinhard/ Hetzel Andreas (Hrsg.). Die unendliche Aufgabe. S. 253 - 266. 43 Farhang, Erfani: Fixing Marx with Machiavelli. Claude Lefort´s Democratic Turn. Journal of the British Society for Phenomenology 39, 2008. S. 200 - 214.

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radikalen Demokratie, wie sie im ersten Teil der Arbeit vorgestellt werden und stützt die dort entwickelte Erkenntnis der selektiven und unkritischen Lesart Rousseaus durch Lefort und der daraus resultierenden Blockade. Aus der im zweiten Teil rekonstruierten politischen Theorie Leforts sollen schließlich die Analysekategorien gewonnen werden, anhand derer in einem dritten Schritt die politischen Schriften Rousseaus auf die vermuteten Strukturanalogien hin untersucht und zugleich das politiktheoretische Werk Rousseaus aus der Perspektive Leforts einer Neuinterpretation unterzogen werden. Auch Rousseau, so die These, unterscheidet eine Ebene des Politischen als die Dimension der autonomen und immanenten Selbstgründung demokratischer Gesellschaften von einer Ebene der Politik im Sinne sedimentierter Machtformen und politischer Institutionen. Darüber hinaus reflektiert er aber stärker als Lefort und der Diskurs der radikalen Demokratie die in der Politik zu leistenden notwendigen Maßnahmen und Anstrengungen zur Vermeidung der Gefahr der Schließung von Gesellschaften und des damit verbundenen Verlustes der Freiheit und kann somit auch zu heutigen, hoch aktuellen gesellschaftlichen und politischen Problemenlagen einen konstruktiven Beitrag leisten. So machte sich Rousseau etwa ganz konkrete Gedanken darüber, wie man die dauerhafte Existenz einer radikaldemokratischen Bürgerinnenschaft gewährleisten kann, die von dem für das moderne Abenteuer der Demokratie so nötigen Kontingenzbewusstsein, der Kontingenztoleranz und der Kontingenzaffirmation durchdrungen ist und so zu einem freiheitskonformen Umgang mit den Bedingungen der gefährlichen Freiheit einen Beitrag leistet. Vermutet und herausgearbeitet werden also Strukturanalogien, die eine wechselseitige Befruchtung beider Ansätze erlauben sollen, nicht deren gegenseitige Sublimierung. Daher werden die im Abschnitt zum modernen radikaldemokratischen Diskurs identifizierten Kategorien radikaldemokratischen Denkens und die gegen Ende des Abschnitts zu Lefort entwickelten Zentralkategorien dessen Denkens eher weit gefasst an Rousseaus politische Schriften angelegt, um die Analogien und Anschlussmöglichkeiten herauszuarbeiten. Versteht man dabei die „Politische Differenz“ wie Bedorf als Analysewerkzeug zur ersten Strukturierung und Neubefragung eines Textfeldes, mit dem sich unterschiedlichste Weisen einer Auslegung und systematischen Nutzbarmachung identifizieren lassen,44 so soll dieses Werkzeug in 44 Vgl. Bedorf , Thomas: Das Politische und die Politik. Konturen einer Differenz. In: Ders./ Röttgers, Kurt (Hrsg.). Das Politische und die Politik. Berlin 2010. S. 13 - 37.

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vorliegender Untersuchung aus dem Werk Leforts herausgearbeitet und auf das Werk Rousseaus angewandt werden, um so dessen Anschluss an den radikaldemokratischen Diskurs zu ermöglichen, wie er momentan noch durch die bestehende Ordnung des Arsenals blockiert wird. Der Aufbau der Arbeit mag dabei ungewöhnlich scheinen, insofern nach den einführenden Überlegungen und der Analyse der Theorien radikaler Demokratie die Rekonstruktion der politischen Theorie Leforts und danach derjenigen Rousseaus folgt, die historisch jüngeren Texte also gegen die Chronologie zuerst behandelt werden. Dies erklärt sich aber mit der zentralen Rolle der Rezeptionsgeschichte Rousseaus und der sich daraus ableitenden Interpretationstraditionen. Die ausgelassene Rezeption Rousseaus in der modernen Radikaldemokratie soll mit eben diesen erklärt werden, weshalb vor der eigentlichen Interpretation Rousseaus zunächst einmal die vorhandenen Interpretationstraditionen kritisch erhellt und durch ihre diskursive Kontextualisierung relativiert werden. Der Ansatz, Rousseau in Verbindung zur postmarxistischen Variante der radikalen Demokratie zu interpretieren, ist nicht sehr verbreitet und ruft meist Unverständnis, mitunter noch Erstaunen hervor, bestenfalls wird er als „mutig“ bezeichnet.45 Er ist jedoch keinesfalls neu. Paul De Man etwa hält den Interpretinnen, die Rousseaus Schriften ein Denken der Einheit und Transparenz unterschieben wollen, eine dekonstruktivistische Lektüre Rousseaus entgegen.46 Hierin folgt ihm Kevin Inston, der Rousseau als Postfundamentalisten und Radikaldemokraten avant la lettre interpretierte und unter der rhetorischen Oberfläche eines vermeintlichen Denkens der Einheit und Homogenität Rousseaus das subversive Potential eines Plädoyers für die Akzeptanz von Brüchen, Rissen und Widersprüchen vermutete. Bereits 2003 legte Inston in einem Aufsatz nahe, Rousseau als „Vorläufer“ (précurseur) Claude Leforts zu lesen, wenn auch sehr verhalten. So nahm er dort eine eher defensive Haltung ein wenn er feststellte, dass es „nicht unmöglich sei“, Verbindungen zwischen dem politischen Denken Rousseaus und Leforts aufzuzeigen, wobei er sich, wohl auch dem Umfang geschuldet, auf einen schlaglichtartigen und eher frei-

45 Hidalgo, Oliver: 300 Jahre Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag in der Staats- und Politikwissenschaft. In: Ders. (Hrsg.). Der lange Schatten des Contrat Social. S. 9 30, hier S. 9f, FN 1. 46 De Man, Paul: Allegories of Reading: Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke and Proust. New Haven 1979.

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schwebenden Aufweis einiger Analogien beschränkte.47 Diese ursprüngliche Idee aufgreifend, legte er 2010 eine systematische Abhandlung zu den vermuteten Zusammenhängen der politischen Theorie Rousseaus und dem Diskurs der radikalen Demokratie nach, behandelte Lefort dort jedoch eher randständig und konzentrierte sich vor allem auf den Nachweis struktureller Analogien zur Diskurs- und Hegemonietheorie Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes, ohne sich dabei mit rezeptionstheoretischen Fragen zu beschäftigen. So verlor er dann auch kaum ein Wort über die liegen gelassenen diskursiven Verbindungen zwischen Rousseau, Lefort und dem Diskurs der radikalen Demokratie.48 In jüngster Zeit sind außerdem auch im deutschsprachigen Raum Arbeiten verfasst worden, die sich der gleichen Thematik widmen. Magdalena Scherl zum Beispiel folgt dem von Derrida vorgezeichneten Weg der Rousseau-Interpretation als „trauriger Nietzsche“, der sich zerrissen zwischen Sehnsucht nach dem Verlorenen und bitterer Erfahrung des Exils nach gesellschaftlicher Einheit sehnt, die er mit dem und durch den Gesellschaftsvertrag wieder auferstehen lassen will. Sie betrachtet Rousseaus Republik mittels einer poststrukturalistischen Lektüre im Lichte seiner Geschlechter- und Begehrenstheorie und will die Ambivalenzen zwischen Einheit und Spaltung freilegen. Geschlechtlichkeit und Begehren stehen laut Scherl für Rousseau paradigmatisch für die Spaltung des Menschen und erweisen sich zugleich als die zentralen Instrumente zur Widerherstellung der verloren gegangenen Einheit. Seine Lösung, so Scherl, liege darin, mittels einer rigiden Geschlechterordnung des Begehrens im wahren Wortsinn „Herr“ zu werden, die zum Fundament der Republik wird, wobei auch sie wie Inston die subversive Seite an Rousseaus Theorie freilegen möchte.49 Dagmar Comtesse aktualisiert Rousseaus Volkssouveränität als eine radikaldemokratische Alternative zur liberalen transnationalen Demokratietheorie. Die radikaldemokratische politische Philosophie Rousseaus eröffnet ihr in Anlehnung an Étienne Balibar die Möglichkeit, die Redemokra-

47 Inston, Kevin: Jean-Jacques Rousseau, précurseur de Claude Lefort: L´ouverture radicale de l´espace politique. In: Érotique de Rousseau. Études Jean-Jacques Rousseau. Volume quatorze-quinzième. Montmorency 2003 - 2004. S. 271 - 283, hier S. 271. 48 Inston, Kevin. Rousseau and Radical Democracy. New York 2010. 49 Scherl, Magdalena: Ersehnte Einheit, unheilbare Spaltung. Geschlechterordnung und Republik bei Rousseau. Bielefeld 2016. S. 11f.

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tisierung einer postnationalen Staatsbürgerschaft zu imaginieren. Rousseaus spezifischer Beitrag zur radikalen Demokratietheorie, den Herrschaftsanspruch des Volkes auf die Herstellungsmechanismen der (Re-)Produktion des Kollektivs auszudehnen, eignet sich in ihrer Lesart hervorragend dazu, die Überwindung der nationalen Subjektivierung denkbar zu machen und die Hoffnung auf ein Mehr an politischer Teilhabe und sozialer Gleichheit zu begründen.50 Tobias Maier schließlich möchte in seiner Analyse der politischen Schriften Rousseaus und Leforts dafür sensibilisieren, dass vor allem der Totalitarismus nicht als überwundenes historisches Phänomen unterschätzt und missverstanden werden darf. Die Demokratie, so stellt er ganz richtig fest, darf nicht als die Überwinderin weil/ und zeitliche Nachfolgerin des Totalitarismus behauptet werden und weist auf die naheliegenden, vielleicht aber genau deswegen oft übersehenen historischen Fakten hin, dass sich der Totalitarismus als Herrschaftssystem nach der Französischen Revolution, nach der Erklärung der Menschenrechte, also mit Starobinski nach der „Erfindung der Freiheit“51 etabliert und ereignet hat.52 Dafür, die Demokratie nicht vorschnell als Allheilmittel gegen den Verlust der Freiheit zu propagieren, sie nicht als den „panic room“53 auszuzeichnen, der sie nicht ist und nicht sein kann, möchte Maier mit Lefort und Rousseau aufrufen, nicht zuletzt um deren wirklichen Vorzüge mit Blick auf das ihren Schriften inhärente freiheitsfördernde Potential hervorzuheben. Dafür handelt er unter dem Oberbegriff der gefährdeten Freiheit die Abgründe der politischen Moderne ab und arbeitet heraus, dass im Werk Rousseaus bereits ein Verhältnis des Menschen zur Welt angelegt ist, das weitaus moderner ist, als bisher angenommen, steht dabei aber wie Scherl auch auf den Interpretationen Derridas und Starobinskis, welche Rousseaus Schriften die Sehnsucht nach Transparenz, Einheit und Eindeutigkeit unterstel-

50 Comtesse, Dagmar: Radikaldemokratische Volkssouveränität für ein postnationales Europa. Eine Aktualisierung Rousseaus. Baden-Baden 2016. 51 Starobinski, Jean: Die Erfindung der Freiheit. 1700 - 1789. Frankfurt am Main 1988. 52 Maier, Tobias: Gefährdete Freiheit. Abgründe der Politischen Moderne bei JeanJacques Rousseau und Claude Lefort. Würzburg 2014. S. 12 und S. 18. 53 Oppelt, Martin/ Sörensen Paul: Totalitarismuskritik "mit links": Cornelius Castoriadis und Claude Lefort. In: Schale, Frank/ Thümmler, Ellen (Hrsg.). Den totalen Staat denken. Baden-Baden 2015. S. 157 - 178, hier S. 175.

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len.54 Rousseau ist somit auch ihm ein „Träumer der Transparenz“ unter „dem Vorbehalt der Einsicht in ihr Scheitern“, weswegen Maier Lefort in ein diachrones Gespräch mit dem von ihm als „Diskursverweigerer“ bezeichneten Rousseau bringt. Den zeitlichen Abstand zwischen beiden versteht er als Absicherung der gegenseitigen Neutralität und Klammer einer gleichgerichteten transitiven Erfahrung. Beide Referenzen sollen dazu beitragen, den Gedanken einer gefährdeten Freiheit im „Herzen einer abgründigen, politischen Moderne“ zu entwickeln, sprich ihn freizulegen. Er distanziert sich dabei aber von einem ideengeschichtlichen Ansatz zugunsten eines Ansatzes, der den Texten der Autoren eine Sinnebene jenseits der Autorintentionen unterstellt und diese herausarbeiten möchte. 55 Die leitende These vorliegender Arbeit schlägt eine Gegenbewegung dazu vor und besteht in der Überlegung, dass von den Diskursen radikaler Demokratie aus ein bisher zu wenig beachtetes Licht auf Rousseau fällt und dass der entscheidende Punkt der Rousseauschen Intervention keineswegs in Organizismus und einer Gesellschaftskritik im Namen einer vorreflexiven natürlichen Essenz zu sehen ist, wie es ja selbst noch von Derrida behauptet wird. Mit dessen Metakritik der Rousseauschen Kulturkritik und vergleichbaren Projekten verbindet sich der Vorwurf eines sozialen und politischen Radikalismus, der auch und gerade in der bundesrepublikanischen Rezeption immer wieder geäußert wird. Dieser Radikalismus verdeutlicht sich dann vor allem im Contrat Social, der einen Diskurs der Selbstpräsenz und der transparenten Nähe derer, die einander von Angesicht zu Angesicht und in unmittelbarer Reichweite der Stimme gegenüberstehen darstelle, worin Derrida die klassische Bestimmung der sozialen Authentizität erkannt haben will. Diese Radikalität hat dieser Lesart nach schließlich die Französische Revolution vorweggenommen und letztlich in den Terreur geführt, so die gängige Argumentation (wohlgemerkt nicht der eben genannten Autorinnen). Vor allem den Abhandlungen Instons verdankt vorliegende Arbeit viel Inspiration, jedoch soll hier viel stärker aus einer ideengeschichtlichen und rezeptionstheoretischen Perspektive heraus dafür plädiert werden, gerade die verdeckten diskursiven Verbindungen Rousseaus, Leforts und der radikalen Demokratie und deren Gründe herauszuarbeiten und zu zeigen, dass es inhaltliche und strukturelle Notwendigkeiten gibt, Rousseau an den Diskurs der postmarxistischen 54 Starobinski, Jean: Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l´obstacle. Suivi de sept essais sur Rousseau. Paris 1971. 55 Maier, Tobias: Gefährdete Freiheit. S. 17f.

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radikalen Demokratie anzuschließen. Erst wenn dies geleistet wurde, soll der systematische Anspruch der Neulektüre der politischen Schriften Rousseaus geleistet werden, um die Anschlussmöglichkeiten zu einem erhofften gegenseitigen Vorteil vorzubereiten. Der Gewinn eines solchen rezeptionsgeschichtlichen Befundes ist theoretisch aufschlussreich, insofern er herausstellt, dass, warum und wie sich die gegenwärtige Radikaldemokratie selbst zum Teil auf eine kritisch-destruktive und überwiegend normativ argumentierende Theoriebewegung reduziert, statt sich durch die Wiederaneignung etwa der Politischen Theorie Rousseaus als ihres eigentlichen theoretischen Vordenkers auch konstruktiv mit institutionellen Fragen der Demokratietheorie zu beschäftigen und so dem bekämpften Gegenwartsbild der liberal interpretierten Demokratie ein Gegenmodell entgegen stellen zu können. Rousseau und Lefort nehmen schließlich gleich in mehreren Diskursen eine herausragende Stellung ein, vor allem in denen des Totalitarismus,56 der Demokratietheorien (in ihren „radikalen“ Varianten), des Liberalismus und des Marxismus, weswegen es umso mehr erstaunt, dass keine Verbindungen zwischen beiden gezogen werden, was zudem auch Auswirkungen für die Disziplin der Politischen Theorie und Ideengeschichte hat. Wenn man deren Funktion in den Begriffen eines Archivs und Arsenals denkt,57 oder die Disziplin vielleicht besser als ein Arsenal an politiktheoretischen Argumenten und Ideen versteht, welches nach gewissen archivarischen Prinzipien sortiert wird und das auf Anfrage sein Material für politiktheoretische Deutungskämpfe zur Verfügung stellt, dann ist klar, dass vor allem die Verschlagwortung, nach der das Arsenal sortiert wird, über die Wahl der jeweiligen Argumente und Ideen und damit über die Erfolgsaussicht politiktheoretischer und diskursiver Deutungskämpfe entscheidet. Die permanente Neusortierung des Arsenals ist daher eine der wesentlichen Aufgaben der Politischen Theorie und Ideengeschichte. Die Sortierung folgt dabei nicht etwa objektiven Kriterien, sondern ist selber stets das Ergebnis von Deutungskämpfen und die Reflektion von Machtverhältnissen. Wenn also die politischen Theorien Rousseaus und Leforts im Arsenal unter Registerkarten geführt werden, welche beide mindestens die Schlagworte „radikale Demokratie“, „Totali-

56 Vgl. Bosshart, David: Die französische Totalitarismusdiskussion. In: Jesse, Eckhard (Hrsg.). Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. Baden-Baden 1999. S. 252 - 260. 57 Lanque, Marcus: Politische Ideengeschichte. Ein Gewebe politischer Diskurse. München 2008. S. 1 - 10.

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tarismus“, „Marxismus“ und „Liberalismus“ verzeichnen, findet sich dennoch auf keiner dieser Registerkarten ein Vermerk auf die jeweils andere. Wer im Arsenal also mit Blick auf bestimmte politiktheoretische und diskursive Deutungskämpfe nach der radikalen Demokratie oder Lefort fragt, wird angesichts der aktuellen Sortierung niemals Rousseau herausgegeben bekommen und umgekehrt. Dies ist aber eben keiner unumstößlichen und in den jeweiligen Theorien angelegten Notwendigkeit geschuldet, sondern Folge eingeschliffener aber erfolgreicher machtvoller Interpretationstraditionen, die es aufzubrechen gilt. Die vorliegende Arbeit versteht sich daher auch als Beitrag zur Grundlagenarbeit im Arsenal der Politischen Theorie und Ideengeschichte, die von der Überzeugung getragen wird, dass Lefort und Rousseau sowohl in einem diachronen diskursiven Zusammenhang stehen, als dass beider Theorien auch systematische Strukturanalogien zueinander aufweisen, welche eine Neulektüre Rousseaus mit Lefort und zugleich den Anschluss Rousseaus an den Diskurs der radikalen Demokratie rechtfertigen. Gelingt dieser Nachweis, müssen das Arsenal neu sortiert und die bestehenden Registerkarten um Querverweise erweitert werden, womit sich die Untersuchung auch als Beitrag zur Grundlagenarbeit für den Strang der radikalen Demokratietheorie empfehlen möchte. Folgt man nämlich einer vorgeschlagenen Einteilung der Entwicklung radikaldemokratischen Denkens in drei Phasen, so befindet dieses sich momentan nach einer ersten Phase der theoretischen Entdeckung und Übersetzung und der daran anschließenden (und abgeschlossenen) zweiten Phase einer Kanonisierung in Phase drei, in welcher die theoretische Einordnung und Bewertung der Auswirkungen des Diskurses auf das politische Denken vorzunehmen sei. Wenn radikaldemokratische Positionen nun über eine „Provokation traditioneller Denkmuster“ hinaus dauerhaft Wirkung entfalten wollen, müsse nun Grundlagenarbeit betrieben, der Diskurs der radikalen Demokratie also an traditionelle Denkschulen angeschlossen und seine Querverbindungen zu Theoriesträngen wie dem Republikanismus, Liberalismus, Post-Strukturalismus oder Post-Marxismus aufgezeigt werden,58 wozu hier ein Beitrag geleistet werden soll. Zugleich begibt sich die Arbeit damit letztlich ins Handgemenge um die Auslegung der politischen Theorie Rousseaus. Sie verfolgt dabei jedoch an keiner Stelle den Anspruch, die bisherigen Interpretationen zu delegitimieren und sich als alleingültig an deren Stelle zu setzen. Ein solcher Versuch

58 Hirsch, Michael/ Voigt, Rüdiger: Der Staat in der Postdemokratie. S. 14f.

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wäre schon aufgrund der Fülle an konkurrierenden Deutungen von vornherein zum Scheitern verurteilt, er widerspräche aber vor allem dem wissenschaftlichen Selbstverständnis, dem sich die Arbeit verpflichtet fühlt. Wenn Rousseaus Werk seit seiner Entstehung dabei lange Zeit „wenig gelesen und von sehr wenigen verstanden“59 wurde, gilt das heute sicher nicht mehr. So gibt es kaum eine Einführung in das Fach der Politischen Theorie, Politischen Ideengeschichte oder Politischen Philosophie, die auf eine Darstellung des Lebens und Werks Rousseaus verzichtet, die Sekundärliteratur dazu füllt Jahr für Jahr mehr Regalkilometer. Kann dem ersten Teil des Zitats aus heutiger Sicht also sicher nicht mehr zugestimmt werden, so muss auch über 300 Jahre nach Geburt des Genfers und über 250 Jahre nach Erscheinen des Émile und des Contrat Social jedoch festgestellt werden, dass kaum ein anderer Autor seine Interpretinnen vor so große Schwierigkeiten zu stellen und in Lager mit derart unversöhnlich erscheinenden Frontverläufen aufzuteilen vermag. Somit versteht es sich von selbst, dass wohl „das letzte Wort über das Politische Denken JeanJacques Rousseaus (…) nie geschrieben werden wird“60. Dieser Anspruch wird hier aber auch gar nicht erhoben und das nicht nur, weil es mehr als zweifelhaft ist, dass er nach beinahe 300-jährigem Deutungskampf eingelöst werden könnte. Eine neue Perspektive anzubieten, bedeutet aber eben auch nicht, mit allen anderen Perspektiven aufzuräumen, diese als falsch zu entlarven und in die hinterste Ecke des Archivs zu verbannen. Vielmehr soll mit der Neulektüre ein Vorschlag unterbreitet und dazu angeregt werden, altbekannte „Interpretationstrampelpfade“ zu verlassen und einen neuen Zugang zum Werk Rousseaus zu suchen und zu versuchen. Eine solche Lesart der politischen Theorie Rousseaus ist sicher nicht objektiv und behauptet es auch gar nicht zu sein. Sie ist vielmehr von der Überzeugung motiviert und angeleitet, dass Rousseaus politische Theorie gewinnbringende Beiträge sowohl zum Diskurs der radikalen Demokratie wie auch zu aktuellen gesellschaftspolitischen Herausforderungen bereitstellen kann, vorausgesetzt natürlich man legt die Verbindungen frei und ermöglicht so den Anschluss und die gegenseitige Befruchtung.

59 Zitiert nach Brandt, Reinhard/ Herb, Karlfriedrich: Einführung in Rousseaus Gesellschaftsvertrag. In: Dies. (Hrsg.). Jean-Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts. Berlin 2000. S. 3 - 26, hier S. 3. 60 Chevallier, Jean-Jacques: Jean-Jacques Rousseau, essai de synthèse. In: Revue Française de Science Politique, 3, 1, 1953. S. 5 - 30, hier S. 5.

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I. Einleitung

Es lassen sich grundsätzlich drei analytische Perspektiven auf das Werk Rousseaus identifizieren. Zum einen historisch ausgerichtete Zugänge, die dieses vor dem Hintergrund der Vita und der Epoche ihres Autors deuteten.61 Eher systematische Zugänge zögen hingegen eine Verbindung zwischen der Interpretation von Werken, Texten und Äußerungen und der Untersuchung von Argumenten auf deren Stichhaltigkeit und Problemlösungskompetenz für die Theorie und die Praxis moderner Gesellschaften.62 Aktualisierende Zugänge wiederum nähmen Rousseaus Werk ausgehend von aktuellen theoretischen, politischen und sozialen Problemen und Fragen in den Blick und suchten zu deren Verständnis bei Rousseau nach Orientierungshilfe.63 In dieser Tradition stehen auch jene Ansätze, die Rousseau als geistigen Ahnherren der französischen Revolution diskutieren.64 Ebenso gehören jene Interpretationen dazu, die Rousseau entweder als Vordenker des Liberalismus,65 des Republikanismus,66 oder eben der modernen Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts verstehen.67 Die

61 Zum Beispiel Baczko, Bronislaw: Rousseau. Einsamkeit und Gemeinschaft. Wien 1970. Starobinski, Jean: Eine Welt von Widerständen. Frankfurt am Main 1988. Französisch: Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l´obstacle. A.a.O. Derathé, Robert: Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps. Paris 1950. Strauß, Leo: Naturrecht und Geschichte. Frankfurt am Main 1989. 62 Zum Beispiel Vossler, Otto: Rousseaus Freiheitslehre. Göttingen 1963. Masters, Roger D.: The Political Philosophy of Rousseau. Princeton 1968. Goldschmidt, Victor: Anthropologie et politique. Les principes du système de Rousseau. Paris 1974. Herb, Karlfriedrich: Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft. Voraussetzungen und Begründungen. Würzburg 1989. 63 Asbach, Olaf: Rousseau und das politische Denken der Moderne. S. 131. 64 Barny, Roger: Rousseau dans la Révolution: Le personnage de Jean-Jacques et les débuts du cult révolutionnaire (1787-1791). Oxford 1986. Roussel, Jean: JeanJacques Rousseau et France après la Révolution, 1795 - 1830: lectures et légendes. Paris 1972. Tente, Ludwig: Die Polemik um den ersten Diskurs von Rousseau in Frankreich und Deutschland. 3 Bände. Kiel 1974. Jaumann, Herbert (Hrsg.): Rousseau in Deutschland. A.a.O. 65 Chapman, John W.: Rousseau: Totalitarian or Liberal? New York 1956. Cobban, Alfred: Rousseau and the Modern State. London 1964. Groeythusen, Bernard: Jean-Jacques Rousseau. Paris 2003. Plamenatz, John B.: Man and Society. London 1963. Harvey, Simon (Hrsg.): Reappraisals of Rousseau. Studies in honour of R.A. Leigh. Manchester 1980. 66 Viroli, Maurizio: Jean-Jacques Rousseau and the „well-ordered society“. Cambridge 1988. Pocock, John G. A.: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975. 67 Talmon, Jacob L.: The Origins of Totalitarian Democracy. Boston 1952. Deutsch: Die Ursprünge der totalitären Demokratie. Köln 1961. Ders. Die Geschichte der

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vorliegende Arbeit verortet sich in diesen Kontext als ideenpolitischer Beitrag zu der Frage nach einer modernen gesellschaftlichen Verhältnissen angemessenen Demokratietheorie. Ideengeschichte in diesem Sinne als Ideenpolitik zu betreiben, bedeutet dann, bestimmte politische Ideen zu aktualisieren und auf die mögliche Problemlösung gegenwärtiger politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen hin zu untersuchen und gegebenenfalls zu übertragen.68 Dafür soll Rousseaus politischen Schriften das radikaldemokratische Kontingenzbewusstsein, die radikaldemokratische Unterscheidung einer Dimension des Politischen von einer Dimension der Politik sowie ein Verständnis von der Politik als „Primat der politischen Auseinandersetzung um das Gemeinwohl im Inneren“69 nachgewiesen werden. Rousseaus Werk, um die These zu wiederholen, fühlt sich der Schaffung von Kontingenzbewusstsein, Kontingenztoleranz und Kontingenzaffirmation verpflichtet, was es über Lefort mit dem Diskurs der radikalen Demokratie verbindet. Zudem ist es diesem gegenüber in wichtigen Punkten reichhaltiger und somit eine fruchtbare Ergänzung. Die Französische Revolution hat den Menschen für Rousseau wie für Lefort in die radikale Unbestimmtheit und daran anschließend in die Unsicherheit des „Abenteuers“ der modernen Demokratie entlassen,70 auf das er nur ungenügend vorbereitet war und in dem er sich bis heute befindet, unabhängig davon, ob und wie diese Unsicherheit seither in den verschiedenen Epochen thematisiert oder wie mit ihr umgegangen wurde. Aus diesem Abenteuer resultierten und resultieren bis heute die großen Gefahren für die Freiheit in modernen Gesellschaften, auf der anderen Seite ermöglicht es aber gleichzeitig die Ausübung historisch nie zuvor gekannter Freiheiten und autonomer Lebensführung, befreit von allen externen transzendentalen und metaphysischen Autoritäten der Natur, Tradition, Geschichte oder Religion. Die geteilte Überzeugung der Chancen und Risiken der „gefährlichen Freiheit“ der Moderne verbindet Rousseau und Lefort und weist dessen Theorie als „dritten Weg“ der Rousseau-Interpretation zwitotalitären DemokratieA.a.O. Crocker, Lester G.: Rousseau et la voie du totalitarisme. In: Rousseau et la philosophie politique, Annales de philosophie politique 5. Paris 1963. S. 99 - 136. 68 Llanque, Marcus: Geschichte des politischen Denkens oder Ideenpolitik: Ideengeschichte als normative Traditionsstiftung. In: Bluhm, Harald/ Gebhardt, Jürgen (Hrsg.). Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik. Baden-Baden 2006. S. 51 - 70. 69 Marchart, Oliver: Die politische Differenz. S. 42. 70 Merleau-Ponty, Maurice: Die Abenteuer der Dialektik. Frankfurt am Main 1974.

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schen den Alternativen Liberalismus oder Totalitarismus aus. Die Versuche eines solchen alternativen Weges beschränkten sich bisher meist darauf, Rousseau lapidar als „Republikaner“ zu verbuchen und damit die Frage als gelöst, oder das „Problem Jean-Jacques Rousseau“ (Cassirer) als zu gering anzusehen.71 Damit begibt man sich aber leicht in die Gefahr, republikanische Theorien tout court dem Verdacht des Totalitarismus auszusetzen oder solchen (durchaus wirkmächtigen) Vorwürfen wenig entgegenzusetzen zu haben.72 Um derlei Engführungen zu vermeiden, müsste der Lektüre Rousseaus also zumindest ein differenzierteres Verständnis von Republikanismus unterlegt werden. So wäre nach einer Konzeption zu suchen, die, obwohl „dritter Weg“, an der klassisch republikanischen Zurückweisung aller Vorstellungen vorpolitischer gesellschaftlicher Grundlagen der Freiheit oder Vernunft festhält (denn ansonsten könnte nicht mehr wirklich von „Republikanismus“ die Rede sein), die zugleich aber (denn daran entzündet sich ein Großteil der berechtigten liberalen Kritik) eine moderne, die Dominanz aller Einheitsvorstellungen von Gemeinwohl, Tugend oder Volk gegenüber dem Individuum überwindende Reformulierung traditioneller republikanischer Ansätze vornimmt, also einer Art „Republikanismus jenseits der Republik“73, wenn man letzte als die oft mit den Schriften Rousseaus assoziierte rigide Tugendrepublik im Sinne starker und im Konfliktfall absoluter Institutionen versteht. „Wäre“ zu suchen wohlgemerkt, hätte man sie nicht eigentlich längst gefunden und mit der politischen Theorie Leforts und dem von ihm nicht nur inspirierten, sondern wegweisend angeleiteten radikaldemokratischen Denken vor Augen, wofür im Folgenden Überzeugungsarbeit geleistet werden soll.

71 Zum Beispiel Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens. Band 3.1. Die Neuzeit. Von Machiavelli bis zu den großen Revolutionen. Stuttgart 2006. S. 503ff. 72 Zu einer Abgrenzung republikanischer und kommunitaristischer Theorien siehe Dagger, Richard: Communitarianism and Republicanism. In: Gaus, Gerald F./ Kukathas, Chandran (Hrsg.). Handbook of Political Theory. London 2004. S. 167 179. 73 Vgl. Niederberger, Andreas: Republikanismus jenseits der Republik? Zur symbolischen Funktion der Demokratie bei Marcel Gauchet, Claude Lefort, Jacques Rancière und Pierre Rosanvallon. In: Hirsch, Michael/ Voigt, Rüdiger (Hrsg.). Der Staat in der Postdemokratie. S. 93 - 113.

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II. Diskursive Verbindungen: Rousseau und Lefort zwischen Totalitarismus und Demokratie

II. 1. Totalitarismus - Ein Kampfbegriff Der Totalitarismus ist eine Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts und als Begriff im Kontext der Entstehungsgeschichte des italienischen Faschismus erstmals nachweisbar. In der Folgezeit wurde er zunächst in kritischer Absicht, später zu analytischen Zwecken auf das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion unter Stalin angewandt, um so das spezifisch Neue dieser Herrschaftsformen theoretisch in den Griff zu bekommen. Bei allen Unterschieden der jeweiligen Definitionen von und Perspektiven auf den Totalitarismus, wird dieser heute gemeinhin als eine auf die totale Durchdringung von Staat und Gesellschaft abzielende Ideologie und Herrschaftspraxis verstanden, welche mittels Mobilisierung der Massen dem auf einer spezifischen Weltanschauung basierenden und derer Umsetzung dienenden Ziel einer Neuordnung der Gesellschaft folgt und dafür auch bereit ist, in großem Umfang auf die Mittel der Gewalt und des Terrors zurückzugreifen, innere und äußere Feinde dieses Projektes zu identifizieren, gegebenenfalls auszumerzen und dadurch zugleich auch die Gesellschaft zu disziplinieren.74 Erstmals nachweislich gebraucht hat den Begriff der antifaschistische Journalist und Liberale Giovanni Amendola 1923 in einem Artikel, in welchem er das faschistische Systems Italiens unter Mussolini als sistema totalitario brandmarkte.75 Bald übernahmen jedoch nicht nur antifaschistische Opponenten und Kritiker Mussolinis, sondern auch dieser selbst den Begriff, etwa im Zusammenhang mit der von Mussolini ausgegebenen Losung „alles für den Staat, nichts außerhalb

74 Rensmann, Lars: Totalitarismus. In: Gosepath, Stefan/ Hinsch, Wilfried/ Rössler, Beate (Hrsg.). Handbuch der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Band I, A-M. Berlin 2008. S. 1349 - 1354, hier S. 1349. 75 Gleason, Abbot: Totalitarianism. The Inner History of the Cold War. Oxford 1995. S. 15.

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II. Diskursive Verbindungen

des Staates, nichts gegen den Staat“76. Der italienische Philosoph und Faschist Giovanni Gentile, berühmter Antipode des italienischen Marxisten Galvano Della Volpe, verfasste 1932 schließlich einen in Mussolinis Namen erschienenen Artikel über den italienischen Faschismus, in dem sich dieser explizit als Anführer eines totalitären und faschistischen Regimes bezeichnete.77 So besetzten faschistische Autoren also den ursprünglich kritischen Begriff zum Zweck der Selbstbeschreibung und wendeten diesen für ihre Zwecke, bevor er in den 1930er Jahren allmählich zur Kritik des nationalsozialistischen Deutschlands herangezogen wurde. Zu diesen Kritikern zählten unter anderen Franz Borkenau, Gerhard Leibholz, Paul Tillich, Herbert Marcuse und Richard Löwenthal.78 Aus heutiger Sicht, darin ist sich die Totalitarismus-Forschung weitestgehend einig, kann dann auch erst mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus und des Stalinismus von einem „wirklichen“ Totalitarismus gesprochen werden, wobei sich beide Regime nie explizit und affirmativ dazu bekannten, „totalitär“ zu sein, wie zuvor das faschistische Regime Italiens. Während des Kalten Krieges schließlich diente der Totalitarismus hauptsächlich als politischer Kampfbegriff und wurde dabei analytisch ungenau oft mit Diktatur oder anderen Formen autoritärer Herrschaft gleichgesetzt.79 Es waren dabei vor allem Versuche einer Delegitimierung der (nach-) stalinistischen Sowjetunion durch die demokratischen Staaten des Westens, in deren Kontext der Begriff regelmäßig zur Anwendung kam. Versuche wie diejenigen des Historikers Ernst Nolte, „Totalitarismus“ zur Relativierung der Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands zu gebrauchen, waren dabei eher ein randständiges Phänomen. So lässt sich also für die Zeit des Kalten Krieges eine Akzent- oder Schwerpunktverschiebung innerhalb der Totalitarismus-Forschung hin zu Analysen des Stalinismus und seiner Nachfolger konstatieren.80 Von Anbeginn seiner Existenz an war der Begriff also Gegenstand heftiger Kontroversen. Zunächst wegen seiner normativen Dimension, dann 76 Zitiert nach Söllner, Alfons: Totalitarismus. In: Hartmann, Martin/ Offe, Claus (Hrsg.). Politische Theorie und Politische Philosophie. Ein Handbuch. München 2011. S. 113 - 117, hier 114. 77 Gleason, Abbot: Totalitarianism. S. 19. 78 Maier, Hans: „Totalitarismus“ und „politische Religionen“. Zwei Konzepte des Diktaturvergleichs. In: Ders. (Hrsg.). Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs. Paderborn u.a. 1996. S. 233 - 250, hier 240. 79 Bosshart, David: Die französische Totalitarismusdiskussion. A.a.O. 80 Maier, Hans: „Totalitarismus“ und „politische Religionen“. S. 241.

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II. 1. Totalitarismus - Ein Kampfbegriff

aber vor allem auch deswegen, weil er die Möglichkeit bot, strukturelle Analogien der ideologisch oppositionellen Herrschaftssysteme des Nationalsozialismus und des Stalinismus freizulegen, ohne dabei immer gleich von vornherein auf deren politisch, strategisch und ideologisch motivierte gegenseitige Abgrenzungen achten zu müssen.81 Franz Borkenau, der den Totalitarismus als „Feind der Arbeiterbewegung“ verstand, brachte diese strukturellen Gemeinsamkeiten vor dem Hintergrund des Hitler-StalinPakts auf die Begriffe „brauner Bolschewismus“ und „roter Faschismus“82. Im Anschluss daran war der Totalitarismus vor allem aufgrund seiner politischen Instrumentalisierung wissenschaftlich umstritten,83 da eben auch Politik und Öffentlichkeit stets regen Gebrauch von ihm machten, weswegen er aber heute als ein produktives Leitkonzept der neueren Ideengeschichte gelten kann.84 Als solches ist er dann aber alles andere, als ein historisches Relikt eines überwundenen „Zeitalters der Extreme“,85 mit dem sich nun vor allem Historiker „Jenseits des Totalitarismus“86 noch zu befassen hätten. Aus dem zuvor Gesagten ergibt sich, dass abhängig von Fragestellung und Erkenntnisinteresse eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen dessen existieren, was genau totalitäre Herrschaftsformen charakterisiert und auf welchen Gegenstandsbereich der Begriff anwendbar ist, was eben auch damit zusammenhängt, dass er seine noch recht junge Karriere zu einem großen Teil der Möglichkeit verdankt, die in Deutschland und der Sowjetunion beobachteten neuartigen Herrschaftsphänomene losgelöst von allen traditionellen Begriffen und Konzepten wie Despotie, Autokratie, Diktatur oder Tyrannis zu diskutieren und zu analysieren, welche in den 1920er und frühen 1930er Jahren die Debatten noch maßgeblich bestimmten.87 Die klassischen Begriffe wurden als zu harmlos und angesichts der Gräueltaten fast schon euphemistisch empfunden, täuschten sie

81 Wie etwa durch Friedrich, Carl J./ Brzezinski, Zbigniew: Totalitarian Dictatorship and Autocracy. New York 1966. 82 Borkenau, Franz: The Totalitarian Enemy. London 1940. 83 Rensmann, Lars: Totalitarismus. S. 1351. 84 Söllner, Alfons: Totalitarismus. S. 113. 85 Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 1995. 86 Geyer, Michael/ Fitzpatrick, Sheila (Hrsg.): Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism compared. Cambridge/ New York 2009. 87 Maier, Hans. „Totalitarismus“ und „politische Religionen“. S. 234ff.

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II. Diskursive Verbindungen

in ihrer vermeintlichen Sachlichkeit doch eine scheinbare Berechenbarkeit nie zuvor dagewesener Verbrechen vor. So ziele Tyrannis etwa zu sehr auf die persönliche Dimension der jeweiligen Herrscher- oder Führerfigur und hätte zumindest implizit die Logik eines „bösen Menschen“ unterstellen und damit die systemische und ideologische Ebene der Herrschaftsformation ausblenden können. Der Faschismus hingegen könnte nicht alle neuartigen Phänomene in ihrer Unterschiedlichkeit einfangen, zudem verharmlose dies den Nationalsozialismus. Um die absolute Entgrenzung der Gewalt in den Konzentrationslagern und Gulags zu begreifen, sei der „Totalitarismus“ daher bis heute eine brauchbare Kategorie, wenngleich auch diese ihre Grenzen habe. So müsse man sich davor hüten, prinzipiell alle Regime, welche die Grenzen ihrer autoritären Herrschaft in Richtung einer dauerhaften Gewaltherrschaft überschritten, gleich als totalitär zu bezeichnen und den Begriff stattdessen immer kontextspezifisch mit Bedeutung füllen.88 Festzuhalten bleibt, dass der Totalitarismus immer auch Gegenstand politischer Deutungskämpfe war und sich daher bis heute einer eindeutigen und mithin unumstrittenen Definition entzieht. Von Anbeginn seiner Existenz waren eine Menge an unterschiedlichen Interessen und Fragestellungen mit dessen wissenschaftlich-theoretischer Konkretisierung verbunden. So suchte man auf der einen Seite nach politischen Phänomenen, auf die er sich auch über den Nationalsozialismus und den Stalinismus hinaus vielleicht anwenden ließ, während daneben mit der Zeit vor allem die historischen Entstehungsbedingungen von Nationalsozialismus und Stalinismus mehr und mehr in den Mittelpunkt des akademischen Interesses rückten. Ein dritter Strang widmete sich schließlich der Frage, ob Totalitarismus und Demokratie wirklich, wie es vor allem politisch behauptet wurde, grundlegend verschiedene, einander entgegengesetzte und sich widersprechende Herrschaftsformen sind, oder ob nicht doch auch liberale Demokratien mitunter aus sich heraus in totale Herrschaft umschlagen, sie vielleicht sogar gar totalitäre Tendenzen immer schon in sich bergen könnten. Diese etwas unübersichtliche Gemengelage an wissenschaftlichen Zugängen und Forschungsperspektiven wird heute idealtypisch durch die Unterscheidung dreier Theoriestränge strukturiert, den herrschaftsstrukturellen,

88 Ders. S. 247.

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II. 1. Totalitarismus - Ein Kampfbegriff

den genealogischen und den demokratietheoretischen TotalitarismusTheorien.89 Im Folgenden sollen die diskursiven Verbindungen zwischen Rousseau und Lefort innerhalb des Diskurses des Totalitarismus herausgearbeitet werden, wobei hierbei vor allem die Dimension der aktiven wie passiven Rezeption beider Autoren interessieren. Wenn also das diskursive „Gewebe“90 rund um den Begriff des Totalitarismus aufgespannt wird, dann immer mit Blick auf die politische Theorie Rousseaus und Leforts und deren Verbindungen zueinander, wobei Rousseau aufgrund der Chronologie eher als Objekt der Rezeption (und damit als passiv), Lefort hingegen als Teilnehmer selbiger (und damit als aktiv) befragt werden. Über die Aufdeckung zum Teil verborgener, zum Teil vielleicht bewusst übersehener diskursiver Zusammenhänge soll schließlich der Nachweis struktureller Analogien beider Theorien und somit die Neuinterpretation der politischen Schriften Rousseaus mit Hilfe der politischen Theorie Leforts plausibilisiert und so in letzter Konsequenz der Anschluss Rousseaus über Lefort an den Diskurs der radikalen Demokratie ermöglicht werden. Denn letztlich geht es ja nicht nur darum, zu ermitteln, was eine wie auch immer geartete Theorie des Totalitarismus oder der Demokratie über ihre jeweiligen Urheber aussagt, „über die Intellektuellen, die das Konzept erfunden und entwickelt, die es gebraucht, verändert oder auch kritisiert und fallen gelassen haben“, sondern immer auch – und im Fall vorliegender Arbeit mit Blick auf Lefort und Rousseau ganz besonders – „um die Rekonstruktion von politisch-existenziellen Erfahrungen, um deren Transformation in wissenschaftliche Theorien und schließlich darum, wie beides: politische Erfahrung und theoretische Reflexion kumulativ für die Geschichte der politischen Intelligenz im 20. Jahrhundert genutzt werden kann“91.

89 Rensmann, Lars. Totalitarismus. In: Göhler, Gerhard / Iser, Matthias / Kerner, Ina (Hrsg.). Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung. Wiesbaden 2004. S. 367 - 384. 90 Llanque, Marcus: Politische Ideengeschichte. A.a.O. 91 Söllner, Alfons: Das Totalitarismuskonzept in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. In: Ders. (Hrsg.). Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Berlin 1997. S. 10 - 21, hier S. 16.

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II. Diskursive Verbindungen

II. 2. Claude Lefort und der Totalitarismus-Diskurs II. 2. 1. Totalitarismus als Herrschaftsstruktur Eine der bis heute politikwissenschaftlich einflussreichsten Annäherungen an das Phänomen des Totalitarismus geht auf Carl Friedrich und Zbigniew Brzezinski zurück. Diese versuchten, aus der Analyse der politischen Systeme Nazi-Deutschlands und der Sowjetunion strukturelle, funktionale und institutionelle Gemeinsamkeiten als Merkmale totalitärer Herrschaft zu gewinnen und so zu zeigen, dass faschistische und kommunistische Ausprägungen des Totalitarismus trotz der ideologischen Unterschiede auf ihrer strukturellen Ebene in gewisser Weise identisch sind. Dafür brachten sie methodisch eine „autokratische Art der Demokratie“ und eine „konstitutionelle Demokratie“ zueinander in Frontstellung und entwickelten darauf aufbauend ein idealtypisches Modell totalitärer Herrschaftssysteme. Diese zeichneten sich demnach durch sechs Merkmale aus, zu denen die Existenz und Gültigkeit einer alle Lebensbereiche umfassenden, für alle Mitglieder der Gesellschaft verbindlichen und absoluten Wahrheitsanspruch behauptenden Ideologie zählte. Weiter gehörte zu diesen die Herrschaft einer einzigen Massenpartei unter der Führung eines Diktators, die Existenz eines Terrorsystems zum Zweck der Kontrolle und Einschüchterung der Bevölkerung, die staatlich monopolisierte und kontrollierte Massenkommunikation, das staatliche Monopol auf Waffengewalt und schließlich die staatlich-zentralistische Kontrolle und Lenkung der Wirtschaft.92 Die Theorie Friedrichs und Brzezinskis zählt zum Strang der herrschaftsstrukturellen Ansätze in der Totalitarismus-Forschung, was sie mit derjenigen Raymond Arons, dem Doktorvater Claude Leforts, verbindet.93 Aron bezeichnete das 20. Jahrhundert als Jahrhundert des „totalen Krieges“94

92 Friedrich, Carl J.: The Unique Character in Totalitarian Society. In: Ders. (Hrsg.). Totalitarianism. Cambridge 1954. S. 47 - 60. Friedrich, Carl J./ Brzezinski, Zbigniew: Totalitarian Dictatorship and Autocracy. A.a.O. Dies.: Die allgemeinen Merkmale totalitärer Diktatur. In: Seidel, Bruno/ Jenkner, Siegfried (Hrsg.). Wege der Totalitarismus-Forschung. Darmstadt 1968. S. 600 - 617. 93 Zum politischen Denken Arons siehe: Bevc, Tobias/ Oppermann, Matthias (Hrsg.): Der souveräne Nationalstaat. Das politische Denken Raymond Arons. Stuttgart 2012. 94 Aron, Raymond: The Century of Total War. Boston 1968.

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II. 2. Claude Lefort und der Totalitarismus-Diskurs

und bestand auf dem Totalitarismus als einer Idee sui generis.95 Er identifizierte im Rückgriff auf das Modell Friedrichs und Brzezinskis totalitäre Staaten ebenfalls anhand der Existenz eines monopolistischen Einparteiensystems, in welchem die Partei absolute Autorität und Hörigkeit einfordert und die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit kontrolliert. Im Unterschied zu jenen reiche es laut Aron aber aus, einzelne Elemente nachzuweisen, um politische Systeme als totalitär erkennen zu können, wohingegen Friedrich und Brzezinski den Totalitarismus als ein organisches System verstanden, dessen Charakteristika sich gegenseitig stützten und bedingten und die daher nur unter der Voraussetzung der Existenz aller Merkmale von einem totalitären System sprachen. Außerdem betonte Aron gegen Friedrich und Brzezinski die ideologischen Unterschiede der Sowjetunion und des nationalsozialistischen Deutschlands, besonders mit Blick auf die Frage nach dem egalitären und universellen Gehalt der jeweiligen Ideologie. So sah er auf Seiten der Sowjetunion einen „Klassenmessianismus“, im nationalsozialistischen Deutschland dagegen einen „Rassenmessianismus“ am Werk, die Sowjetunion stand dabei für die „eigentliche“, weil „hyperrationale“, der Nationalsozialismus für die „irrationale Version“ des Totalitarismus.96 Der von Aron in diesem Zusammenhang benutzte Begriff des „Messianismus“ weist auf die äußerst wirkmächtige Interpretation der politischen Theorie Rousseaus durch Jacob L. Talmon, der diese als Beispiel für den im 18. Jahrhundert aufkommenden „politischen Messianismus“ und Rousseau als Wegbereiter der „totalitären Demokratie“ und damit den wesentlichen ideengeschichtlichen Vorläufer der totalitären Herrschaftssysteme des zwanzigsten Jahrhunderts verstand.97 In seiner Kritik und Analyse des Totalitarismus betonte Aron jedoch vor allem die funktionale Bedeutung von Ideologien und bediente sich dafür der an Eric Voegelins Begriff der „politischen Religion“ erinnernden Kategorien der ideocratie und religion séculière, von denen letztere wiederum nicht zufällig an Rousseaus Konzept der Zivilreligion erinnert. In totalitären Systemen, so die These Arons im Anschluss an Voegelin und wie sie sich ähnlich bei Lefort findet, hält eine säkulare Ideologie den metaphysischen Ort der Religion in

95 Isaac, Jeffrey C.: Critics of Totalitarianism. In: Ball, Terence/ Bellamy, Richard (Hrsg.). The Cambridge History of Twentieth Century Political Thought. Cambridge 2003. S. 181 - 201, hier S. 183. 96 Aron, Raymond: Demokratie und Totalitarismus. Hamburg 1968. S. 53ff und S. 205. 97 Talmon, Jacob L.: The Origins of Totalitarian Democracy. A.a.O.

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II. Diskursive Verbindungen

der Gesellschaft besetzt und dient so der Legitimation der herrschenden Elite und ihrer Herrschaftspraktiken. Eher der liberalen Tradition verpflichtet, verwendet Aron den Religionsbegriff jedoch in religionskritischer und aufklärerischer Absicht und bereitete so der liberalen französischen Totalitarismuskritik den Weg,98 von der sich Lefort jedoch im Laufe der Zeit absetzen sollte. Totalitäre Systeme sind laut Aron in klassisch liberaler Perspektive jedenfalls insofern immer auch in gewisser Weise religiös, als sie die für moderne Gesellschaften charakteristische Trennung von Religion und Politik und damit einhergehend auch des Öffentlichen und des Privaten versuchten rückgängig zu machen. Analog zu der Funktion von Religionen in vormodernen Gesellschaften, seien Ideologien in modernen totalitären Gesellschaften daher omnipräsent und legitimierten politisches Handeln durch die erfolgreiche Behauptung der Existenz und Gültigkeit absoluter Werte.99 Gegen den Determinismus des orthodoxen Marxismus müsse daher die prinzipiell offene Geschichtlichkeit aller Gesellschaften als Grundbedingung modernen politischen Denkens gelten, die es gegen dessen Apologeten zu verteidigen gelte.100 Der Mensch als autonomes geschichtliches Wesen sieht sich laut Aron in modernen Gesellschaften daher mit der Herausforderung konfrontiert, sich nicht mehr an religiösen Wahrheiten und transzendentalen Heilsversprechen und nicht mehr an einer universellen Geschichtsphilosophie orientieren zu können, sondern in Abwesenheit letzter Sicherheiten persönlich Entscheidungen treffen, daraus Handlungen ableiten und letztlich für deren Ergebnisse die Verantwortung übernehmen zu müssen. Was der Marxismus demgegenüber jedoch betrieben habe, sei eine „Verweltlichung der Theologien“ und eine „Vergötzung der Geschichte“ gewesen, um so die in der Moderne verloren gegangene Sicherheit transzendentaler Heilsversprechen durch immanente Heilsversprechen zu ersetzen. Diese in der Moderne historisch erstmals fundamental unerfüllte Sehnsucht nach Ordnung und Sicherheit sei also mit eine Ursache der totalitären Herrschaftssysteme und Herr98 Gess, Brigitte: Die Totalitarismuskonzeption von Raymond Aron und Hannah Arendt. In: Maier, Hans (Hrsg.). Totalitarismus und Politische Religionen. S. 264 - 274. 99 Aron, Raymon: L´ère des Tyrannies d´Elie Halévy. In: Revue de Métaphysique et de Morale 46, 2, 1939. S. 283 - 307. Siehe auch Bosshart, David: Politische Intellektualität und totalitäre Erfahrung. Hauptströmungen der französischen Totalitarismuskritik. Berlin 1992. 100 Aron, Raymon: Opium für Intellektuelle oder die Suche nach Weltanschauung. Köln 1957.

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II. 2. Claude Lefort und der Totalitarismus-Diskurs

schaftspraktiken, die sie in der totalitären Behauptung der Existenz einer homogenen Gesellschaft zu stillen gesucht habe, in welcher die Trennung von Staat und Partei angeblich aufgehoben und alle gesellschaftlichen Konflikte befriedet seien. Die religion séculière diene dabei zugleich der Legitimation der herrschenden Eliten und der Mobilisierung und Disziplinierung der Massen. All diese Punkte lassen sich mehr oder weniger auch bei Lefort finden, wenngleich für diesen eine reine Aufzählung struktureller Elemente am Wesen des Totalitarismus vorbeizielt, solange die symbolische Dimension des Totalitären keine Berücksichtigung findet. Eric Voegelin verstand Stalinismus, Faschismus und Nationalsozialismus wie Aron als das Resultat der Säkularisierungsprozesse in den „verspäteten“ Nationen Europas. Jene hätten die für ihren politischen Zusammenhalt nötigen Ressourcen nicht mehr aus ihrer christlichen Tradition schöpfen können und daher auf die weltlichen Ideologien der Klasse, der Rasse, der Ökonomie oder des Blutes zurückgegriffen. Das Bemühen um eine quasi-religiöse Dimension politischer Ordnung hätten moderne Gewaltregime mit jenen vormodernen politisch-religiösen Einheitskulturen gemein, welche Voegelin ideengeschichtlich bis in das antike Ägypten zurückdatierte. Dem modernen politischen Denken, repräsentiert durch die Schriften Hans Kelsens und Max Webers, warf Voegelin vor, den Staat als absolute Macht auf Erden zu verherrlichen. Dies stützte seine Überzeugung, dass menschliche Gemeinschaften zu allen Zeiten ein Bedürfnis nach einer ordnungsstiftenden und Sicherheit verbürgenden Instanz hätten, wie sie es bis zum Beginn der Moderne die Religion gewesen sei. Durch Rationalisierung und Säkularisierung sei diese dann aber aus dem öffentlich-politischen Leben verdrängt worden, was zu kollektivem Sinnverlust und Orientierungslosigkeit geführt habe. Die modernen totalitären Diktaturen bedienten nun genau dieses elementare Bedürfnis und füllten so das Vakuum auf. Als quasi immanente Religion erhoben sie die Gesamtheit und Einheit der Rasse, Klasse oder des Staates zum „Realissimum“ und „divinisierten“ dieses, indem sie es an einen „Mythos der Erlösung“ knüpften.101 Hierin unterschieden sie sich für Voegelin nicht vom Weberschen und Kelsenschen Staatsverständnis und bedienten sich, wie viele traditionelle Religionen vor ihnen auch, zu einem großen Teil des Mittels öffentlicher Feste und kollektiver Rituale. Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus hätten entsprechend „gnostischen Charakter“, be-

101 Voegelin, Eric: Die Politischen Religionen. München 1996. S. 13.

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haupteten jedoch entgegen der traditionellen Religionen, dass der Mensch aus eigenem Antrieb und mittels eigener Kraft und Stärke alle Übel dieser Welt noch im Diesseits überwinden könne.102 Deren Erfolg sei folglich damit zu erklären, dass ihre immanenten Doktrinen den Menschen jene Gewissheit und jenen Sinn anböten, nach dem diese immer schon strebten.103 Wie vor ihm schon Rousseau (wenn auch unter genau umgekehrten normativen Vorzeichen) widmete sich Voegelin Fragen nach den Möglichkeiten der Schaffung und Stabilisierung kollektiver Identitäten auf einer emotionalen Ebene. Feste, Spiele, Aufmärsche und Paraden interpretierte er als diejenigen Elemente moderner totalitärer Bewegungen, mittels derer totalitäre Parteien „existentiell riskante“ Zugehörigkeiten im Unterschied zu eher unverbindlichen und leicht zurückzunehmenden Mitgliedschaften in einem Verein oder einer demokratischen Partei generierten und stabilisierten.104 Analog zu traditionellen religiösen Einheitsgemeinschaften stützten sich moderne Gewaltregime ebenso auf „reine Lehren“, „heilige Bücher“, Testamente, Ketzer und Gerichte, welche all diejenigen verurteilten, die gegen die reine Lehre verstießen.105 Für Voegelin wie für Aron trachteten totalitäre politische Systeme danach, das Wesen der Herrschaftsunterworfenen mittels Ideologie, totaler Kontrolle und Zwang zu verändern. Weiter galt beiden die Abwesenheit oder die Leugnung der Legitimität und der Existenz eines politisch-gesellschaftlichen Pluralismus als Kriterium totalitärer Herrschaft. Die Kategorie des Terrors war jedoch, anders als für Friedrich, Brzezinski (und auch für Hannah Arendt), weder für Voegelin, noch für Aron und Lefort ein notwendiges Merkmal totalitärer Herrschaft, konnte sich der totalitäre Charakter eines Systems doch durchaus auch in dessen Institutionen und deren Legitimationsformen offenbaren. Herrschaftsstrukturelle Ansätze fokussieren also hauptsächlich auf die Machthaber und Herrschenden und deutlich weniger auf die Herrschaftsunterworfenen. So wird der Totalitarismus aus einer funktionalistischen 102 Ders.: Wissenschaft, Politik und Gnosis. München 1959. 103 Ders.: Religionsersatz. Die gnostischen Massenbewegungen unserer Zeit. In: Wort und Wahrheit 15, 1960. S. 5 - 18, hier S. 15. 104 Zur Unterscheidung von Mitgliedschaft und Zugehörigkeit siehe Llanque, Marcus: Populus und Multitudo. Das Problem von Mitgliedschaft und Zugehörigkeit in der Genealogie der Demokratietheorie. In: Bluhm, Harald/ Fischer, Karsten/ Llanque, Marcus (Hrsg.). Ideenpolitik. Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte. Berlin 2011. S. 19 - 38. 105 Maier, Hans: „Totalitarismus“ und „politische Religionen“. S. 246f.

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Perspektive heraus als „politische Religion“ im Sinne eines Instruments zur Legitimation und Durchsetzung totalitärer Macht- und Herrschaftspraktiken verstanden, als welches er dem seit Jahrhunderten üblichen politischen Gebrauch von Religionen gleiche.106 Die von Aron und Voegelin aufgeworfene Frage nach der Funktion der Religion in der Politik, wie sie bereits Machiavelli und später auch dessen eifrige Leser Rousseau und Lefort diskutierten, verdichtet sich im herrschaftsstrukturalistischen Strang in der geteilten Überzeugung, dass totalitäre Herrschaft auf die historischen Epochen des Nationalsozialismus und des Stalinismus beschränkt werden müsste, weil dort erst- und letztmalig die Forderung eines mitunter notwendigen Opfers für die Gemeinschaft, die Politisierung des Privaten und die Demontage demokratischer Institutionen nicht nur gefordert, sondern in aller Konsequenz betrieben worden sei.107 Entsprechend verstehen diese Ansätze den Totalitarismus als externen Gegenspieler, das Andere oder den Feind der liberalen Demokratie,108 was sie mit den Theorien des genealogischen Strangs verbindet. II. 2. 2. Genealogie des Totalitarismus Weg von der Fokussierung auf äußerlich beobachtbare Merkmale und hin zu interpretierenden und erklärenden Ansätzen über die historischen Ursprünge und Prozesse der Entwicklung des Totalitarismus, zielen vor allem die als „genealogisch“ bezeichneten Totalitarismus-Theorien. Zu deren Autorinnen zählen vor allem deutsche Exilantinnen aus dem nationalsozialistischen Deutschland, wie etwa Ernst Fraenkel, Franz Neumann, Franz Borkenau, Theodor W. Adorno und Hannah Arendt. Dank der Vermittlung Raymond Arons wurde Arendt auch im französischen Totalitaris-

106 Linz, Juan: Totalitarian and Authoritarian Regimes. Bolder 2000. Ders.: Der religiöse Gebrauch der Politik und/ oder der politische Gebrauch der Religion. Ersatz-Ideologie gegen Ersatz-Religion. In: Maier, Hans (Hrsg.). Totalitarismus und Politische Religionen. S. 129 - 154, hier S. 130ff. Zu dieser Tradition ist auch der berühmte Schmitt-Schüler Waldemar Gurian zu zählen, der Arons und Voegelins Konzeption zu einer „säkularen Religion“ ausbuchstabierte. Siehe Gurian, Waldemar: Totalitarian Religions. In: Review of Politics 14, 1952. S. 3 - 14. 107 Curtis, Michael: Totalitarismus – eine monolithische Einheit? In: Jesse, Eckhard (Hrsg.). Totalitarismus im 20. Jahrhundert. S. 277 - 285. 108 Jesse, Eckhard: Die Totalitarismus-Forschung im Streit der Meinungen. In: Ders. (Hrsg.). Totalitarismus im 20. Jahrhundert. S. 9 - 39.

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mus-Diskurs und dort vor allem für Lefort von einiger Bedeutung, zunächst aber verhinderte Arons liberale Interpretation und Einführung Arendts als „anti-kommunistische“ Denkerin die Rezeption ihres Werkes seitens der Französischen Linken für einige Zeit.109 So habe es bis zur Veröffentlichung von Solschenizyns Archipel Gulag 110 gedauert, dass eine breite „unorthodoxe Linke“, welche zwar nie Sympathien für die Realität des Sozialismus, wohl aber für dessen Idealität gehabt habe, Arendts Werk für sich entdeckte.111 Spätestens dann (in Leforts Fall deutlich früher), habe sich der Großteil der Französischen Linken vom orthodoxen Marxismus ab- und sich der vormals als „tote Hündin“112, „kalte Kriegerin“113 oder proto-faschistoide Denkerin verschrienen Hannah Arendt zugewandt. Anders als etwa Friedrich, Brzezinski und Aron, sah Arendt, hierin Franz Neumann ähnlich, eine gewisse Strukturlosigkeit als Charakteristikum des historisch neuen Phänomens des Totalitarismus an. Franz Neumann vertrat die These eines strukturlosen Nationalsozialismus, wenngleich er diesen im Gegensatz zu Arendt auch als gesetzlos und den nationalsozialistischen Staat als Un-Staat verstand.114 Stärker funktional argumentierend, unterschied er demokratische von totalen Formen pluralisti-

109 Lefort, Claude: Hannah Arendt and the Question of the Political. In: Ders. Democracy and Political Theory. Cambridge 1988. S. 45 - 55, hier S. 45. Französisch: Hannah Arendt et la question du politique. In: Ders. Essais sur le politique. S. 59 - 72 (Zuerst erschienen in: Cahiers du Forum pour l´independence et la paix, 5, 1985). Aron, Raymond: L´essence du Totalitarisme selon Hannah Arendt. In : Critique 80, 10, 1954. S. 51 - 70. Zur Rezeption Arendts in Frankreich: Mongin, Olivier: La réception d´Arendt en France. In: Ontologie et politique. Actes du Colloque Hannah Arendt. Collection Littérales II, 1989. S. 7 - 13. 110 Solschenizyn, Alexander: Der Archipel Gulag. 1918 - 1956. Versuch einer künstlerischen Bewältigung. München 1974. 111 Vollrath, Ernst: Hannah Arendt bei den Linken. In: Neue politische Literatur, Heft 3, 1993. S. 361 - 372. Erneut abgedruckt in Grunenberg, Antonia/ Probst, Mathias (Hrsg.): Einschnitte. Hannah Arendts politisches Denken heute. Bremen 1995. S. 9 - 22. 112 Greven, Michael Th.: Hannah Arendt – Pluralität und Gründung der Freiheit. In: Kemper, Peter (Hrsg.). Die Zukunft des Politischen. Ausblicke auf Hannah Arendt. Frankfurt am Main 1993. S. 69 - 96, hier S. 88. 113 Benedict, H.-J.: Totalitarismus und Imperialismus im Jahre 1967. Fragen von Hannah Arendt. In: Bahr, Hans Eckehard (Hrsg.). Weltfrieden und Revolution. Neun politisch-theologische Analysen. Hamburg 1968. S. 95 - 105. 114 Neumann, Franz L.: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 - 1944. Frankfurt am Main 1993. S. 16.

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scher Herrschaft und sah als Folge der bürokratisch-kapitalistischen Weimarer Demokratie eine polykratische Struktur totaler Herrschaft beziehungsweise einen totalitären Pluralismus entstehen. Der totalitäre Staat war für Neumann daher kein monolithischer Block, sondern unterlag einem inneren Zerfallsprozess als Folge miteinander konkurrierender staatlicher Faktionen aus Militär, Bürokratie, Wirtschaft und Partei. Der Aspekt der inneren Zerrissenheit sowohl der herrschenden totalitären Elite, als auch der als homogen behaupteten Gesellschaft, war für Neumann ebenso wichtig, wie er es später für Lefort sein sollte, wenngleich Lefort eher auf die symbolische Bedeutung dieser Zerrissenheit abhob. Arendt stellte jedenfalls von der Diagnose der Strukturlosigkeit ausgehend die Frage nach den historischen Entstehungsbedingungen des Totalitarismus im Kontext sozialer und politischer Krisen. Ihr 1951 erschienenes Buch Origins of Totalitarianism115 zählt bis heute zu den Standardwerken der Totalitarismus-Forschung und beeinflusste die Debatte um Wesen und Reichweite des Begriffs des Totalitarismus nachhaltig. In ihrem genealogischen Zugang zu dem modernen Phänomen des Totalitarismus arbeitete sie dessen Entstehung vor dem Hintergrund der Krise der Nationalstaaten, der sinkenden Bedeutung politischer Öffentlichkeiten, der Entstehung der modernen Massen- und Arbeitsgesellschaften und dem Aufstieg des Europäischen Imperialismus heraus. Ihrer Analyse nach ruhte der Totalitarismus auf einer Logik der permanenten Bewegung und des totalitären Terrors auf. Den Begriff reservierte auch sie exklusiv für die Herrschaftssysteme des Nationalsozialismus und Stalinismus. Deren Aufkommen verstand sie in einem engen Zusammenhang mit den an den privaten und ökonomischen Interessen ihrer Mitglieder orientierten modernen Arbeitsgesellschaften und den damit einhergehenden Veränderungsprozessen von Klassen- zu Massengesellschaften im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Die in der griechischen Antike als Ort gemeinsamen Handelns verstandene politische Öffentlichkeit, die polis, wurde laut Arendt in der Moderne verdrängt von der Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten durch eine hierarchisch organisierte Bürokratie. Mit dem gleichzeitig einhergehenden inneren Zerfall der Nationalstaaten hätten sich die Bürgerschaften als kollektive Handlungsgemeinschaften in eine „unorganisierte, unstrukturierte Masse verzweifelter und hasserfüllter Individuen“ aufgelöst und 115 Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism. New York 1951. Deutsch: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. München 2009.

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seien so für die totalitären Massenbewegungen anfällig geworden, welche sich dieses so entstandene Vakuum zu Nutze gemacht hätten. Arendt unterschied dabei das seit der Antike bekannte Herrschaftssystem der Despotie als gesetzloser Willkürherrschaft von der in ihren Augen qualitativ neuen Form totalitärer Herrschaft, deren spezifisches Charakteristikum sie in der Existenz und Gültigkeit einer totalen Ideologie ausmachte. Diesen Unterschied zu traditionellen Formen despotischer Herrschaft bekämen herrschaftsstrukturelle Ansätze wie derjenige Friedrichs und Brzezinskis nicht in den Blick, worin ihr vor allem Lefort bei aller Kritik zustimmte.116 Während sich der Nationalsozialismus für Arendt auf die angeblich objektiven Gesetze der Natur berief, stützte sich der Stalinismus auf die der Geschichte, beide dienten ihren politische Führungen jeweils zur Ableitung und Legitimierung konkreter Handlungsanweisungen. Diese dienten sowohl der Disziplinierung der Gesellschaft, als auch der Ausmerzung vermeintlicher innerer und äußerer Feinde. Die totale Ideologie erklärte und rechtfertigte folglich nicht nur was ist, sondern was „wird, entsteht und vergeht“. Um dies durchzusetzen, bediente sich der Totalitarismus des „eisernen Bandes des Terrors“ als Herrschaftsmittel, was bedeutet, dass die aus der jeweiligen Ideologie abgeleiteten Bewegungsgesetze durch das Werkzeug des Terrors ausgeführt worden seien. Im Gegensatz zu den aus der Tradition und Geschichte bekannten Despotien seien totale Herrschaftsformen damit alles andere als willkürlich oder gesetzlos gewesen, jedoch strukturlos und gegen alle bekannten Formen von Staatlichkeit gerichtet. Obwohl der totale Staat alle Herrschaftselemente ins Extreme gesteigert habe, fokussierte Arendt aufgrund der „eigentümlichen Strukturlosigkeit’”117 totaler Herrschaft nicht auf den Staat, sondern auf die totalitäre Bewegung. Totalitäre Parteien hätten sich des Staatsapparates lediglich als Werkzeug oder Herrschaftsmittel bedient, er sei ihnen aber eigentlich „ein Hindernis“118 gewesen. Die Umsetzung angeblich objektiver Gesetze mit Mitteln des Terrors machte für Arendt dabei nicht an den Grenzen der Nationalstaaten halt. Der Beweis dafür, dass die geschichtlich neue Form des Totalitarismus keine Utopie war, sei in den Vernichtungslagern erbracht

116 Lefort, Claude: Thinking with and against Hannah Arendt. In: Grunenberg Antonia (Hrsg.). Totalitäre Herrschaft und republikanische Demokratie. Frankfurt am Main 2003. S. 121 - 129. 117 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. S. 828. 118 Dies. S. 832.

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worden, in denen menschliche Spontaneität ebenso getötet, wie die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und Pluralität zerstört worden sei. Dass Lefort nun Arendts Werk einiges verdankte, ist kein Geheimnis. Im Gegenteil teilten er und Castoriadis Arendts Position während ihrer Zusammenarbeit im Rahmen von Socialisme ou Barbarie sogar noch explizit.119 Im Fall Leforts aber von einem „vollkommen akzeptierten Horizont des Denkens von Hannah Arendt“120 zu sprechen, führt in die Irre und zwar nicht nur, weil er Arendt vorwarf, die politische Bedeutung von Repräsentation in modernen Gesellschaften nicht erkannt zu haben.121 Lefort leugnete zwar nie, was ihn mit Arendt verband und nannte als Gemeinsamkeit etwa ihren phänomenologischen Ansatz, ihre Angst vor autoritären oder totalitären Elementen in modernen Gesellschaften, ihr Lob auf eine aktive Bürgerschaft und intersubjektive Konstitution einer geteilten Welt sowie ihr Verständnis der Bedeutung des Totalitarismus und des Politischen. Die Punkte, an denen er sich von ihr distanzierte, überwiegen jedoch diese Gemeinsamkeiten, beginnend bei Arendts Überzeugung, dass die totalitären Regime die Kategorien des westlichen Denkens derart zerstört hätten, dass ein kompletter Bruch mit den Lehren der politischen Philosophie vollzogen werden müsste, um den Totalitarismus zu begreifen. Diesen Anspruch lehnte Lefort ab, zudem habe Arendt ihn selbst nicht eingelöst. Im Falle der Sowjetunion etwa müsse man von einer Perversion der Institution des Rechts sprechen, nicht aber von deren Zerstörung.122 Arendt habe sich zudem der Erkenntnis der Kontinuität zwischen der bürgerlichen Demokratie und dem Totalitarismus verweigert, etwa wenn sie die Krisenjahre nach dem Ersten Weltkrieg als einen historischen Unfall verstand, als Zusammenbruch eines Klassensystems und Befreiung der Massen von ihren traditionellen Fesseln. Zudem sei sie in gewisser Weise naiv gewesen, wenn sie die Sprache als einziges Medium der Überzeugung thematisierte und akzeptierte.123 So habe sich Arendt zwar nicht der Aufgabe der Interpretation entzogen, doch habe sie dieser letztlich will-

119 Lefort, Claude: Une interprétation politique de l´antisémitisme: Hannah Arendt. In: Commentaire 20, Winter 1982/ 83. S. 654 - 660 und Commentaire 21, Spring 1983. S. 21 - 28. 120 Vollrath, Ernst: Hannah Arendt bei den Linken. S. 366. 121 Lefort, Claude: Hannah Arendt et la question du politique. S. 71. 122 Lefort, Claude: Thinking with and against Hannah Arendt. In: Social Research 69, 2, 2002. S. 447 - 459, hier S. 457. 123 Ders.: Hannah Arendt and the Question of the Political. S. 53f.

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kürlich Restriktionen auferlegt. Ihre Entschlossenheit, sich von allen Traditionen zu befreien oder zu deren Quellen nur unter der Prämisse zurückzugehen, von dort das absolut Neue der Moderne zu erforschen, hing für Lefort eng mit ihrem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, das Politische zu definieren, zusammen. All ihre Untersuchungen seien damit aber ihrer eigenen klaren und fest umrissenen Unterscheidung des Politischen und des Nicht-Politischen untergeordnet worden, etwa der Trennung einer politischen von einer sozialen Sphäre, der Natur, dem Leben, der Notwendigkeit, der Arbeit, der Kultur, der Freiheit und des Handelns, zwischen Öffentlichkeit und Privatem, zwischen der Existenz des Individuums und des Bürgers. Lefort war dies nicht offen genug, für ihn war die Grenze zwischen dem Sozialen und der Politik immer eine Grenze, die politisch gezogen und entsprechend auch nur im Politischen verändert werden könnte und dürfte, nicht aber vom Schreibtisch einer politischen Theoretikerin aus. Zudem lasse ein Verständnis wie Arendts, ebenso wie die herrschaftsstrukturellen Ansätze auch, die für Lefort wesentliche symbolische Dimension des Politischen und Sozialen unberücksichtigt.124 Er kritisierte zudem an Arendt, dass ihre Konzeption des Politischen den Totalitarismus auf ein Projekt totaler Beherrschung reduzierte und somit ein Verständnis der Widersprüche und Ambiguitäten der modernen Demokratie verunmöglichte und damit für politische Fragen jenseits der historischen Totalitarismen nicht anschlussfähig war.125 Ihre Antwort auf die Frage, wie es vom ideologischen zum politischen Terror kam, enttäuschte Lefort geradezu, er sah in ihrer Erklärung lediglich das alte Motiv der „großen Männer“ in der Geschichte wiederkehren, in diesem Fall dann eben in der dämonisierten Gestalt Hitlers und Stalins. Was sie hingegen zu seinem Bedauern völlig außer Acht gelassen habe, sei die Rolle der Partei gewesen,126 nie habe sie sich zudem die Frage gestellt, wie es denn diesen einzelnen Männern habe gelingen können, dauerhaft Herrschaft über sein so große Masse an Menschen auszuüben.127 Derart beeinflusst, aber eben auch zur Abgrenzung angeregt, schickte sich Lefort daher an, ein eigenes Konzept eines Verständnisses des Totalitarismus auszuarbeiten und diesen nach sei-

124 Ders: Introduction. In: Ders. Democracy and Political Theory. S. 1 - 6, hier S. 5. 125 Ders: L´anti-sémitisme et les ambiguités de la démocratie. In: Commentaire 21, Spring 1983. S. 21 - 28, hier S. 26. 126 Ders: Thinking with and against Hannah Arendt. S. 453f. 127 Ders: Hannah Arendt and the Question of the Political. S. 53.

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ner historischen und symbolischen Beziehung zur modernen liberalen Demokratie zu befragen. II. 2. 3. Demokratie und Totalitarismus Neben Lefort wird im demokratietheoretischen Theoriestrang der Totalitarismusforschung vor allem auf Arbeiten Jacques Derridas zurückgegriffen. Allgemein fokussieren diese dekonstruktivistisch informierten Ansätze auf Diskurslogiken, mit Blick auf totalitäre Praktiken vor allem auf alle diskursiven Homogenisierungsbestrebungen einer herrschenden Elite. Totalitäre Herrschaft ist laut diesen Ansätzen dann kein genuin anti-demokratisches Phänomen, sondern im Kern liberaler Demokratien immer schon angelegt, in denen sich auch nach der Überwindung der historischen Totalitarismen und dem vermeintlichen Siegeszug der Demokratie hegemoniale Anpassungs- und Homogenisierungszwänge nachweisen ließen. Um daher alle möglichen totalitären Denk- und Diskursformen zu dekonstruieren, betreiben diese Ansätze die permanente Infragestellung von exklusiven, alle Denk- und Handlungsalternativen ausschließenden Logiken und Narrativen. Die Dekonstruktion sah Derrida als die notwendige Bedingung an, um die totalitäre Gefahr in allen Formen zu identifizieren und zu bekämpfen.128 Kritisiert werden solche Ansätze dafür, dass sie potentiell zu einem inflationären Gebrauch des Begriffs beitragen, der in letzter Konsequenz allen Ideen, sprachlichen Manifestationen und homogenisierenden großen Erzählungen angeheftet werden könne, die Identitäten konstruieren oder universelle Geltungsansprüche, wie Humanismus und Aufklärung, aufs Schild heben, womit letztlich alle universalistischen Normen zumindest unter Totalitarismusverdacht gerieten.129 Die Ursprünge dieser dekonstruktivistisch informierten Totalitarismuskritik und –analyse liegen zum Teil im französischen Trotzkismus, dem Lefort in jungen Jahren angehörte. Zielscheibe derer Kritik war die Parteielite der Sowjetunion, deren Herrschaftspraktiken und Dogmatismus, wenngleich viele ihrer Anhänger (Lefort ausgenommen) dabei lange Zeit übersahen, dass sich Trotzki selbst nie vom Leninismus und dessen Behauptung der Sowjetunion als lediglich vorübergehend deformiertem, ei128 Derrida, Jacques. Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel. Paul de Mans Krieg. Memoires 2. Wien 1988. 129 Rensmann, Lars. Totalitarismus. A.a.O.

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gentlich aber intakten Arbeiterstaat lossagte. Trotzki setzte den Stalinismus jedoch mit dem Faschismus gleich, auch wenn beide auf verschiedenen Grundlagen aufruhten.130 Für Lefort war besonders Trotzkis Verständnis der Bürokratie als neuer herrschender Klasse von Bedeutung. Daneben war es vor allem die Einheitspartei als zentraler Akteur moderner totalitärer Herrschaftsformen, die ihn interessierte. Diese Aspekte innerhalb der linken Diskussion des Totalitarismus gehen auf Überlegungen Gramscis zurück,131 der wiederum über die Vermittlung Laclaus und Mouffes neben Lefort zu einem einer der wichtigsten Referenzautoren des radikaldemokratischen Diskurses wurde.132 Claude Lefort jedenfalls befasste sich im Unterschied zu den ihm bekannten herrschaftsstrukturellen und genealogischen Ansätzen Arons, Voegelins und Arendts vor allem mit den historischen und strukturellen Zusammenhängen der modernen Demokratie und des Totalitarismus und gilt daher als herausragender Vertreter eines demokratietheoretischen Zugangs zum Phänomen des Totalitarismus. Für ihn ging der Totalitarismus aus einer „historischen Mutation“ hervor und gründete in einer Umkehrung des demokratischen Modells, welches er zugleich „in gewissen Zügen ins Phantastische verlängert“.133 Als der Totalitarismus im Kalten Krieg zum politischen Kampfbegriff avancierte, wunderte sich Lefort noch darüber, dass die Linke diesen den Liberalen, Konservativen und der nicht-kommunistischen Linken so einfach überließ, spätestens mit seiner Abkehr vom Trotzkismus und später vom Marxismus änderte sich dies aber.134 Ab da eignete sich der Begriff für Lefort lange Zeit vor allem dazu, den Stalinismus zu analysieren und zu kritisieren, den er entgegen der Trotzkisten und vieler orthodoxer Marxisten in Frankreich nicht als historischen Unfall, sondern als dem Kommunismus – zumindest in seiner dominanten Lesart und realen Ausprägung – inhärent verstand: „To my mind, the concept of

130 Trotzki, Leo: The Revolution Betrayed. New York 1937. S. 278. 131 Siehe z.B. Gramsci, Antonio: Selections from the Prisons Notebooks. New York 1971. S. 147f. 132 Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal, 1985: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics. London 1985. Deutsch: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien 1991. 133 Lefort, Claude: Vorwort zu Éléments d´une critique de la bureaucratie. In: Rödel, Ulrich (Hrsg.). Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt am Main 1990. S. 30 - 53, hier S. 34. 134 Lefort, Claude: La logique totalitaire. In: Ders. L´invention democratique. Les limites de la domination totalitaire. Paris 1981. S. 85 - 106, hier S. 85ff.

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totalitarianism has pertinence only with respect to Communism, even more than to Nazism or Fascism, if it designates a regime in which the source of power becomes unlocalizable“135. Für Lefort galt damit sicher nicht, was der linken Oppositionsbewegung des Westens mitunter vorgeworfen wurde, nämlich dass für diese „im Marxismus-Leninismus beziehungsweise der angestrebten Gesellschaftsform des Kommunismus ein positiver humanitärer Anspruch steckte, während der europäische Faschismus und insbesondere der deutsche Nationalsozialismus lediglich eine Machtform des Nihilismus“136 gewesen seien. Auf der Ebene der Herrschaftsform sah Lefort sehr wohl Unterschiede zwischen Stalinismus, Faschismus und Nationalsozialismus, alle drei aber waren ihm letztlich Ausdruck oder Mutation der Gesellschaftsformation des demokratischen Dispositivs.137 Er identifizierte Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus also explizit nicht miteinander, sondern sah sehr wohl, dass sie auf miteinander unvereinbaren Prinzipien aufruhten. Zudem war ihm natürlich bewusst, dass sich der Nationalsozialismus dezidiert antikommunistisch und der Kommunismus seit den 1930er Jahren explizit antifaschistisch gaben. Alle seien aber Teil und Ergebnis derselben „antidemokratischen Konterrevolution“138 gewesen, weswegen die behaupteten Unterschiede in Bezug auf die Frage nach dem Wesen des Totalitarismus nicht überbewertet werden dürften. Merleau-Ponty, der wissenschaftliche Ziehvater Freund Leforts, befasste sich ebenfalls aus einer phänomenologischen Perspektive mit dem Totalitarismus, unterschied die in seinem Verständnis progressive marxistische Idee der Totalität jedoch von der totalitären Ideologie des Faschismus und des Nationalsozialismus, so dass die oben zitierte Kritik zumindest zu einer bestimmten Zeit auf ihn zutraf. Dies brachte ihm zusammen mit Jean-Paul Sartre den Vorwurf des „Aktivismus“ seitens Hannah Arendts ein, wonach beide zwar den Menschen einerseits als den terroristisch-gewalttätigen Mächten der Geschichte ausgeliefert verstünden, diesen andererseits aber nur in der von allen Bedenken gereinigten, „brutal-reinen Ak-

135 Lefort, Claude: Complications. Communism and the Dilemmas of Democracy. Columbia 1999. S. 24. 136 Greven, Michael Th.: Hannah Arendt. S. 88. 137 Lefort, Claude: Fortdauer des Theologisch-Politischen? Wien 1999. S. 61. 138 Lefort, Claude: Reflections on the present. In: Ders. Writing. The Political Test. Durham/ London 2000. S. 252 - 279, hier S. 263.

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tion“ zu seiner Identität finden ließen.139 Während das Proletariat als universelle Klasse die Macht der Menschlichkeit repräsentiert und dieser den Weg geebnet habe, sei der Faschismus demgegenüber lediglich die Gewalt einer Rasse oder einer zu spät gekommenen Nation gewesen, so MerleauPonty in Analogie zu Eric Voegelin.140 Später distanzierte er sich zwar von der Verteidigung des real existierenden Kommunismus, zu diesem Zeitpunkt jedoch klassifizierte er noch die Unterschiede zwischen Kommunismus und Faschismus anhand ihrer Ziele und Zwecke, ließ dabei aber die Mittel, derer sie sich zur Erreichung dieser Ziele bedienten, außer Acht. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ebenfalls die Analogie der Begrifflichkeit Merleau-Pontys zu Voegelins Analyse der „politischen Religionen“ als einzige Möglichkeit der verspäteten Nationen Europas, sich zu integrieren und den für Krieg und wirtschaftliche Prosperität notwendigen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu generieren, insofern dies die Vermutung einer diskursiven Verbindung Leforts zu Voegelin sowohl über Aron als auch über Merleau-Ponty stützt. Der bis heute außerhalb akademischer Diskurse bekannteste Kritiker des Totalitarismus, George Orwell, zählt ebenfalls im weitesten Sinne zu den demokratietheoretischen Ansätzen der Totalitarismus-Forschung und wird als solcher auch von Lefort rezipiert.141 In seinem bereits 1945 erschienenen Roman Animal Farm142 thematisierte Orwell den Umschlag egalitärer Ideale in totalitäre Herrschaftspraktiken anhand des Beispiels der revolutionären Befreiung der Gemeinschaft der Tiere der Farm vom tyrannischen Farmbesitzer, die sich nach der Überwindung des gemeinsamen Feindes in eine totalitäre Gemeinschaft verwandelte. Schon kurze Zeit später erschien der Roman 1984, in dem Orwell das Bild eines totalitären Überwachungsstaates unter der anonymen Herrschaft des Big Brother zeichnete, die von der herrschenden Staatspartei ausgeübt wurde.143 Revolution, Staatspartei und deren Zusammenhang waren für Lefort wesentliche Untersuchungsgegenstände für die Ausarbeitung seiner Theorie

139 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt am Main 1958. S. 495f. 140 Merleau-Ponty, Maurice: Humanism and Terror: An Essay on the Communist Problem. Boston 1969. S. 123f. 141 Lefort, Claude: The Interposed Body: George Orwells Nineteen-Eighty-Four. In: Ders. Writing. S. 1 - 19. 142 Orwell, George: Animal Farm. A Fairy Story. London 2008. 143 Orwell, George: Nineteen-Eighty-Four. London 2008.

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des Totalitarismus, wobei er sich wie gesagt nicht mit der Analyse struktureller Merkmale begnügte, sondern ganz besonders auf die Dimension des Symbolischen abhob. . Als dem Lefortschen Denken dahingehend verwandt, dass es den ideengeschichtlichen Zusammenhang und die historisch bedingten inneren strukturellen und logischen Zusammenhänge von Demokratie und Totalitarismus auslotete, kann das politische Denken Hermann Hellers Ende der 1920er Jahre verstanden werden. Dessen Analyse beschränkte sich zunächst auf den italienischen Faschismus, nahm später aber auch den Nationalsozialismus in den Blick. Heller sprach in diesem Zusammenhang von „programmatischer Programmlosigkeit“ und einer „Gewaltideologie“.144 Der moderne Staat habe nur deswegen totalitär werden können, weil er wieder Staat und Kirche in einem geworden sei, was in gewisser Weise eine Rückkehr in antike oder vormoderne Verhältnisse darstellte, wie sie nur durch eine radikale Absage an das Christentum möglich wurden.145 Die von Heller vorgenommene Neuentdeckung der antiken politischen Theologie als Analyseinstrument für moderne Ideologien nutzte vor Lefort und neben Voegelin und Strauss schließlich auch Carl Schmitt,146 der auf die Zusammenhänge von Demokratie und Diktatur hinwies, und daran anschließend der Theologe Erik Peterson,147 der auf Schmitts Politische Theologie reagierte und wiederum von Jacob L. Talmon, einem der wirkmächtigsten Rousseau-Interpreten, rezipiert wurde.148 Von Lefort als aktivem Rezipienten innerhalb des Totalitarismus-Diskurses soll nun im folgenden Abschnitt zu Rousseau als dessen Gegenstand übergegangen werden, um das Gewebe sozusagen von seinem Ge-

144 Heller, Hermann: Europa und der Faschismus. Berlin/ Leipzig 1929. Siehe auch: Llanque, Marcus (Hrsg.): Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers. Baden-Baden 2010. Darin v.a.: Llanque, Marcus: Hermann Heller als Ideenpolitiker. Politische Ideengeschichte als Arsenal des politischen Denkens. S. 95 - 118. 145 Heller, Hermann: Europa und der Faschismus. S. 56. Ders.: Staatslehre. Berlin 1964. S. 209. 146 Lefort, Claude: Fortdauer des Theologisch-Politischen? Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 1996 . Siehe auch: Robbins, Jeffrey W.: Radical Democracy and Political Theology. New York 2011. 147 Peterson, Erik: Der Monotheismus als politisches Problem, Leipzig 1935. Wieder abgedruckt in Peterson, Erik: Theologische Traktate. Briefwechsel mit Adolf Harnack und ein Epilog. München 1951. 148 Maier, Hans: „Totalitarismus“ und „politische Religionen“. S. 247.

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II. Diskursive Verbindungen

genstandsbereich her weiter aufzuspannen und zu zeigen, wo Lefort hätte auf Rousseau stoßen können, ja mitunter sogar müssen. Erst dann, so die hier vertretene Annahme, wird deutlich, was es mit Leforts Ausschweigen über Rousseau für eine Bewandtnis hat, bevor schließlich der Anschluss Rousseaus über die Theorie Leforts an den radikaldemokratischen Diskurs und eine Neuinterpretation Rousseaus mittels der politischen Theorie Leforts geleistet werden kann. II. 3. Jean-Jacques Rousseau und der Totalitarismus-Diskurs Die Forschung zur Rousseau-Rezeption in Deutschland zeigt, dass Rousseau im europäischen Vergleich dort lange Zeit eher weniger Beachtung fand,149 wohingegen sein Werk in Frankreich immer schon stark rezipiert wurde. Die in diesem angelegten Widersprüche teilen die Interpreten dabei bis heute in Lager auf, von denen jedes je nach Interesse und politischer Stoßrichtung sein eigenes Bild von Rousseau hegt und pflegt und vor sich her trägt, wenn es sich für erneute ideenpolitische Auseinandersetzungen formiert.150 Politische Ideengeschichte ist eben immer sowohl Archiv, als auch Arsenal.151 Dies gilt es zu berücksichtigen, will man Rousseaus politische Theorie für moderne politiktheoretische Fragestellungen anschlussfähig machen, vor allem da man es in diesem Fall und gerade mit Blick auf die Frage der Rezeption Rousseaus im TotalitarismusDiskurs mit einer mächtigen Interpretationstradition zu tun hat, der es gelungen zu sein scheint, ein auf noch lange Zeit gültiges Bild von Rousseau als proto-totalitärem Denker etabliert zu haben. Gegen diese gilt es also vorzugehen, weswegen ihr im folgenden etwas mehr Raum zur Entfaltung gegeben werden soll. Das spezifisch „deutsche“ Desinteresse an Rousseau, so darf angenommen werden, erklärt sich dann zu einem großen Teil dadurch, dass mit dem Nationalsozialismus eine der schlimmsten

149 Kaufmann, Matthias: Politischer Rousseauismus. Einige Kapitel aus der Wirkungsgeschichte des Contrat Social. In: Kersting, Wolfgang (Hrsg.). Die Republik der Tugend. Jean-Jacques Rousseaus Staatsverständnis. Baden-Baden 2003. S. 177 - 200. Jaumann, Herbert (Hrsg.): Rousseau in Deutschland. A.a.O. Fetscher, Iring: Jean-Jacques Rousseau: Ethik und Politik. In: Ders./ Bubner, Rüdiger (Hrsg.). Rousseau und die Folgen. Göttingen 1989. S. 1 - 23. 150 L´Aminot, Tanguy: Images de Jean-Jacques Rousseau de 1912 à 1978. Oxford 1992. 151 Vgl. Llanque, Marcus: Politische Ideengeschichte. S. 1ff.

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II. 3. Jean-Jacques Rousseau und der Totalitarismus-Diskurs

Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Wurzeln eben in Deutschland gehabt hat, was das politische Denken nachhaltig beeinflusst und eine unaufgeregte Lektüre des Rousseauschen Werkes nahezu verunmöglicht habe.152 Gleiches lässt sich aber auch jenseits des Rheins feststellen, wo Rousseau zwar immer (wieder) gelesen und zu aktuellen Herausforderungen befragt wurde, dies jedoch stets innerhalb eng vorgegebener hegemonialer Interpretationsalternativen geschah oder zu geschehen hatte. Die deutschsprachige Rousseau-Rezeption lässt sich jedenfalls in drei Denkschulen unterteilen, die „Neo-Kantianer“ um Ernst Cassirer,153 die Frankfurter Schule um den schon erwähnten Franz L. Neumann,154 und eine an der griechischen Antike orientierte Gruppe Interpreten um Leo Strauß und Hannah Arendt.155 Leo Strauß wiederum war ein scharfer Kritiker der Rousseau-Interpretation Jacob L. Talmons und nahm zudem selbst aktiv an der Debatte um Rousseaus politische Theorie teil, ja beeinflusste diese nachhaltig.156 Dass Lefort Strauß Werk kannte, bezeugt er selbst,157 daneben gibt es jedoch plausible Gründe, einen „hidden dialogue“158 Leforts mit Strauß dort zu unterstellen, wo er sich mit dem Problem des „Theologisch-Politischen“ auseinandersetzte.159 Diese Thematik verbindet Lefort wiederum nicht nur mit Strauß, sondern, wie bereits erwähnt, auch mit Carl Schmitt, dessen Freund, Schüler und Kritiker Strauß

152 Söllner, Alfons: Re-reading Rousseau in the 20th Century - the Reception by Franz L. Neumann, Jacob L. Talmon and Ernst Fraenkel. In: Hidalgo, Oliver (Hrsg.). Der lange Schatten des Contrat Social. S. 211 – 227, hier S. 211f. 153 Cassirer, Ernst: Das Problem Jean-Jacques Rousseau. In: Ders.: Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen. Frankfurt am Main 1989. S. 7 - 78. Ders.: Kant und Rousseau. In: Ders.: Rousseau, Kant, Goethe. Hamburg 1991. S. 3 - 61. 154 Neumann, Franz L.: Herrschaft des Gesetzes. Eine Untersuchung zum Verhältnis von politischer Theorie und Rechtssystem in der Konkurrenzgesellschaft. Frankfurt am Main 1980. Neumann, Franz L.: Typen des Naturrechts. In: Ders.: Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930-1945. Frankfurt am Main 1978. S. 223 254. 155 Söllner, Alfons: Re-reading Rousseau in the 20th Century. S. 216 und S. 224. 156 Strauß, Leo: Naturrecht und Geschichte. S. 264 - 307. Ders.: On the Intention of Rousseau. In: Cranston, Maurice/ Peters, Richard S. (Hrsg.). Hobbes and Rousseau. A Collection of Critical Essays. New York 1972. S. 254 - 290. 157 Lefort, Claude: Three Notes on Leo Strauss. In: Ders. Writing. S. 172 - 206. 158 Labelles, Gilles: Can the problem of the Theologico-Political be resolved? Leo Strauss and Claude Lefort. In: Thesis Eleven, Nr. 87, London 2006. S. 63 - 81. 159 Lefort, Claude: Machiavel jugé par la tradition classique. In: Archives européennes de sociologie, Band 1, Paris 1960. S. 159 - 169. Ders.: Le Travail de l´ Œuvre Machiavel. Paris 1972. Ders.: Écrire. A l´épreuve du politique.

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war.160 Rousseau war und ist nun eine der zentralen Figuren im politischtheoretischen und ideengeschichtlichen Diskurs des Totalitarismus, an der Frage nach den totalitären Tendenzen im Rousseauschen Werk oder dessen Ahnherrschaft für die modernen Totalitarismen entzünden sich bis heute die Debatten. Pointiert findet sich die Position der Befürworter einer Interpretation Rousseaus als proto-totalitär bei Bertrand Russel: „Rousseau (…) ist der Erfinder der politischen Philosophie pseudo-demokratischer Diktaturen (…). In unserer Zeit war Hitler eine Folgeerscheinung Rousseaus; hinter Roosevelt und Churchill stand der Geist Lockes (…). (Rousseaus) Lehren zielen auf die Rechtfertigung des totalitären Staates ab, wenn sie auch scheinbar der Demokratie das Wort reden“161. Russel ist damit Vertreter eines Diskurses, der mit der Fokussierung auf die Zusammenhänge des Rousseauschen Werkes und des Phänomens des Totalitarismus seinen spezifisch modernen Ausgang 1952 in Jacob L. Talmons „Origins of Totalitarian Democracy“162 nahm, der jedoch zugleich an eine viel ältere Diskussion um den freiheitsgefährdenden Gehalt der Politischen Theorie Rousseaus anknüpfte. So bemerkte Benjamin Constant bereits 1819, dass Rousseaus Werk den Gräueln des Jakobinischen Tugendterrors während der Französischen Revolution theoretisch wie praktisch den Weg geebnet habe.163 Meist wird Rousseau dabei persönlich

160 Strauß, Leo: Anmerkungen zu Carl Schmitt „Der Begriff des Politischen“. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 67, 1932. S. 732 - 749, hier 732ff. Erneut abgedruckt in Meier, Heinrich: Carl Schmitt, Leo Strauß und der „Begriff des Politischen“. Zu einem Dialog unter Abwesenden. Stuttgart 1998. S. 97 - 125. 161 Russel, Bertrand. Philosophie des Abendlandes. München 2004. S. 693. 162 Talmon, Jacob L.: The Origins of Totalitarian Democracy. A.a.O. 163 Constant, Benjamin: De la liberté des Anciens comparée a celle des Modernes. Paris 1819. Deutsch: Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen. In: Ders.: Werke in vier Bänden, Band IV, Berlin 1972. S. 365 - 396. Neben Constant und Talmon sind als wichtigste und profilierteste Kritiker in dieser Tradition zu nennen: Gierke, Otto von: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik. Aalen 1958. Roesch, Eugene J.: The Totalitarian Threat. The Fruition of Modern Individualism as seen in Hobbes and Rousseau. New York 1963. Crocker, Lester G.: Jean-Jacques Rousseau. Band 1, The Quest. 1712 - 1758. New York 1968 und Crocker, Lester G.: Jean-Jacques Rousseau. Band 2, The Prophetic Voice. 1758 - 1778. New York 1974. Shklar, Judith N.: Men and Citizens. A.a.O. Ryn, Claes G.: Democracy and the Ethical Life: A Philosophy of Politics and Community. Washington 1990. Ryn, Claes G.: The New Jacobinism: America as Revolutionary State. Bowie 1991.

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II. 3. Jean-Jacques Rousseau und der Totalitarismus-Diskurs

entlastet, er sei also selber kein Totalitärer gewesen, wohl aber leite der Contrat Social eine totalitäre Maschinerie an.164 Talmons Werk beeinflusste die Debatte um den totalitären Gehalt oder die totalitären Folgen der politischen Theorie Rousseaus dabei mit am Nachhaltigsten. Er zog in diesem eine direkte ideengeschichtliche Verbindungslinie von dem in der Französischen Revolution im Anschluss an Rousseaus Arbeiten entstandenen „politischen Messianismus“ zu den modernen totalitären Ideologien und Herrschaftssystemen. Ähnlich Lefort verstand Talmon die „totalitäre Demokratie“, beziehungsweise das Phänomen des Totalitarismus oder den „politischen Messianismus“ als derselben historischen Wurzel entsprungen, nämlich der Entstehung der modernen Demokratie während der „Feuerprobe der Französischen Revolution“.165 Er teilte ebenfalls mit Lefort die Überzeugung der Unmöglichkeit, liberale Demokratien vor einem Umschlagen in ihre totalitäre Variante wirklich vollkommen bewahren zu können. Talmons Begriff der „totalitären Demokratie“ bezeichnete Lefort jedoch als „offensichtliche Absurdität“. Demokratie und Totalitarismus unterschieden sich nämlich nicht nur im Grad der Unterdrückung, das Aufkommen der modernen Demokratie habe vielmehr den Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus überhaupt erst ermöglicht, diese Systeme wendeten aber die eigentliche Bedeutung der Demokratie um.166 Im Unterschied zu Lefort diskutierte Talmon den Totalitarismus zudem in seiner Entstehung explizit als auf das Denken und Werk Rousseaus zurückgehend, wohingegen Rousseau bei Lefort keine Erwähnung findet. Talmon verstand die totalitäre Demokratie außerdem zwar als integralen Bestandteil der westeuropäischen Tradition politischen Denkens, im Unterschied zu Lefort jedoch den Totalitarismus als die degenerierte oder gegenteilige Variante der liberalen Demokratie, da beide eben nur ihren Ursprung teilten, sonst aber keinerlei strukturelle Berührungspunkte miteinander hätten. Talmon schied also den liberalen vom totalitären Typ der Demokratie und verstand beide Strömungen als auf denselben Prämissen ruhend und aus demselben „Schisma“ als Folge der Französischen Revolution und den in

164 Mc Manners, John: The Social Contract and Rousseau´s Revolt against Society. In: Cranston, Maurice/ Peters, Richard S. (Hrsg.). Hobbes and Rousseau. S. 291 317, hier S. 306f. 165 Talmon, Jacob L. Die Ursprünge der totalitären Demokratie. S. 4. 166 Lefort, Claude: Human Rights and the Welfare State. In: Democracy and Political Theory. S. 20 - 44, hier S. 28. Französisch: Les Droits de l´homme et l´Etat-providence. In: Essais sur le politique. S. 33 - 63.

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II. Diskursive Verbindungen

ihr gemachten konkreten Erfahrungen hervorgehend. Deren ideengeschichtliche Ursprünge verortete er im 18. Jahrhundert, von wo sie sich bis in das zwanzigste Jahrhundert, namentlich zu den totalitären Herrschaftsformen des Nationalsozialismus und der Sowjetunion, nachweisen ließen. Talmon verlängerte so, ähnlich wie Popper, der das Problem des Totalitarismus als so alt, wie die Zivilisation selbst verstand,167 ein zeitgeschichtliches empirisches Phänomen mit souveräner Geste in die Vergangenheit und suchte dort sozusagen nach dessen ideengeschichtlichem Urknall. Wenn er es dabei als handlungsleitendes Prinzip der „totalitären Demokratie“ verstand, dass Abweichler „durch Einschüchterung und Zwang zur Konformität“ gebracht würden, „ohne dass dabei eine wirkliche Verletzung des demokratischen Prinzips erfolgt“, zielte das direkt auf Rousseaus Prinzip eines „Zwangs zur Freiheit“. Die Spannung zwischen den Prinzipien beider Typen betrachtete Talmon als „die Kernfrage unserer Zeit“, da die „Weltkrise von heute“ als der Zusammenprall dieser Prinzipien aus der systematischen Vorbereitung der letzten Jahrhunderte auf diesen resultiere. Den wesentlichen Unterschied zwischen Totalitarismus und liberaler Demokratie machte er an der jeweiligen Einstellung zur Politik fest. Wo der liberale Typ nach dem Prinzip „trial and error“ verfahre, behaupte der totalitäre Typ im Besitz exklusiver Wahrheiten zu sein. Somit betreibe der „politische Messianismus“ die prinzipiell grenzenlose Ausweitung des Politischen auf alle menschlichen Daseinsgebiete und reiße damit die für liberale Denker sakrosankte Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten als Residuum und Refugium individueller Freiheiten ein. Beide Strömungen sähen wohlgemerkt Freiheit als das höchste Gut an, wo der liberale Typ jedoch ein negatives Verständnis im Sinne von Spontaneität, der Abwesenheit von Zwang und eben dem „trial-and-error-Prinzip“ befürworte, sei Freiheit für den totalitären Typ gleichbedeutend mit dem Streben nach einem absoluten kollektiven Ziel. Die totalitäre Demokratie löse das Problem des daraus entstehenden „Paradoxons der Freiheit“, also der Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit und gesellschaftlicher Ordnung dadurch, dass sie den Menschen nicht so betrachte, wie er ist, sondern so, wie er sein sollte und es unter den „richtigen“ Bedingungen auch wäre.168

167 Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 1und Band 2. A.a.O. 168 Talmon, Jacob Leib. Die Ursprünge der totalitären Demokratie. S. 1f.

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II. 3. Jean-Jacques Rousseau und der Totalitarismus-Diskurs

Ähnlich Voegelin sah Talmon dabei den Rationalismus des 18. Jahrhunderts als Ursache dieser Entwicklung an. Dieser habe in der Rolle des modernen Staates allmählich die Religion als ordnungs- und sinnstiftende Instanz verdrängt, den Maßstab der sozialen Nützlichkeit an die Stelle überlieferter Traditionen gesetzt und einen gesellschaftlichen Determinismus hin zu einer homogenen Gesellschaft als Voraussetzung des Gemeinwohls vorangetrieben. Das Prinzip der Freiheit sei letztlich mit einer erhofften harmonischen Gesellschaftsordnung gleichgesetzt worden und der „politische Messianismus“ zu einer Doktrin erstarrt, welche dazu benutzt worden sei, Freiheit und Tugendhaftigkeit mit Zwang und Gewalt durchzusetzen.169 Im Gegensatz zur Erbmonarchie oder einer gewaltsamen Tyrannei stütze sich die totalitäre Demokratie auf die Begeisterung der Volksmassen und sei letztlich das Ergebnis einer Synthese aus der Idee einer natürlichen Ordnung und Rousseaus Konzeption der Volkssouveränität. Dessen volonté générale identifizierte Talmon als die treibende Kraft und den Quell aller Widersprüche der „totalitären Demokratie“, welche er idealtypisch in eine rechte und eine linke Variante unterschied. Der Totalitarismus der Linken zeichne ein grundsätzlich positives Bild vom Menschen und war individualistisch, rationalistisch und atomistisch orientiert, auch wenn eine Klasse oder Partei zur höchsten politischen Instanz erhoben werde. Die zugrundeliegende Ideologie folge einem deterministischen Geschichtsbild und nehme einen universellen Standpunkt ein, die Individuen seien qua Vernunft in der Kategorie der Menschheit vereint, Zwang würde als Mittel der Beschleunigung des Fortschritts zu Vollkommenheit, sozialer Harmonie und Entfaltung der menschlichen Natur betrachtet. Die totalitäre Rechte gehe dagegen vom Kollektiv aus und denke in den partikularen Begriffen des Staates, der Nation oder der Rasse. Sie negiere eine universelle Einheit der Menschen und leugne die Allgemeingültigkeit menschlicher Werte. Der Mensch sei in dieser Perspektive nicht prinzipiell gut, sondern tendenziell eher ein Mängelwesen, das Mittel des Zwangs diene folglich der Aufrechterhaltung von Ordnung und soll den Menschen davon abhalten, seiner mit Blick auf den sozialen Zusammenhalt defizitären Natur gemäß zu handeln.170

169 Ders. S. 3. 170 Diese Unterteilung Talmons wird völlig zurecht dafür kritisiert, dass sie die Linke von den Jakobinern bis zu gegenwärtigen Kommunisten für einen vermeintlich linken Totalitarismus verantwortlich macht, wohingegen sie die Wurzeln des rechten Totalitarismus in den Vorstellungen konservativer und liberaler Denktra-

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II. Diskursive Verbindungen

Mit Blick auf die Frage nach dem Aspekt der Macht interessierte sich Talmon ähnlich Lefort nun nicht so sehr für die herrschende Elite, sondern eher für die Einstellungen, Gefühle und Motive der dieser Macht unterworfenen Menschen, dafür, was diese angesichts der Praktiken totalitärer Parteien und Systeme und den Plänen positivistischer Sozialphilosophen erleben, fühlen und glauben. Im Mittelpunkt dieser Perspektive steht das „menschliche Element“ gegenüber den Bestrebungen des „politischen Messianismus“ nach Revolutionierung und sozialer Umformung der Gesellschaft und der Erreichung des Glücks auf Erden. Das moderne Wissen um die zeitliche Begrenzung aller gesellschaftspolitischen Projekte verlange nach einer Umsetzung aller Forderungen und Behauptungen bereits im Diesseits, woraus die totalitären Herrschaftspraktiken resultierten. Rousseau war für Taömon nun der erste vermeintlich „moderne“ Autor gewesen, welcher die Grenzen des materialistischen Rationalismus überschritten und sich der Antike und den in ihr wirksamen Vorstellung von Stadtstaaten und deren Gottheiten zugewandt habe, die ihn ebenso wie deren „kollektive patriotische Gottesdienste (…) überwältigten“. Die von Rousseau angestrebte harmonische Gesellschaftsordnung sei ein „kategorischer Imperativ“ nicht der Erkenntnis, sondern des Willens. Seine Einstellung zur Sünde und zur menschlichen Natur etwa habe ihn dazu bewogen, die Todesstrafe für all jene zu fordern, die nicht an die bürgerliche Religion glaubten.171 Rousseau war für ihn „unaware that total and highly emotional absorption in the collective political endeavor is calculated to kill all privacy, and that the excitement of the assembled crowd may exercise a most tyrannical pressure, and the extension of the scope of politics to all spheres of human interest and endeavor (…) was the shortest way to totalitarianism”.172 Hier offenbart sich Talmon als in typisch liberaler Manier „gefühlsfeindlich“, nicht nur insofern er ein Übermaß an Emotion, Affekt und Leidenschaft in der Politik für gefährlich hält, sondern vielmehr einen Schritt basaler einsetzend in der impliziten Annahme, die Politik sei nicht nur dazu in der Lage, sondern geradezu dazu verpflichtet, die Descart´sche Trennung von Intellekt und Gefühl, von Vernunft und Emotion und vom fühlenden Subjekt zur objektiven Welt der Dinge zu vollzie-

ditionen ausblende. Siehe Wipperman, Wolfgang: Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute. Darmstadt 1997. S. 26f. 171 Talmon, Jacob Leib. Die Ursprünge der totalitären Demokratie. S. 20. 172 Ders.: The Origins of Totalitarian Democracy. S. 47.

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II. 3. Jean-Jacques Rousseau und der Totalitarismus-Diskurs

hen und zu verteidigen. Wie er zudem dazu kommt, gerade Rousseau diesbezüglich auf die Anklagebank zu zerren, belegte er nicht mit einer einzigen Textstelle dessen Werkes. Dass Rousseau an keiner einzigen Stelle je vorschlug, Entscheidungen von einer emotional aufgeladenen Menge fällen zu lassen, oder diese gar seitens der Politik affektiv willfährig zu machen, er geschweige denn die Zuständigkeit der Politik jemals auf alle Lebensbereiche der Gesellschaft und ihrer Bürgerinnen ausweiten wollte, ignorierte Talmon geflissentlich. Er schoss sich dafür auf die Figur des Gesetzgebers ein und verstand diesen als „großen Erzieher“, dessen Aufgabe es sei, soziale Harmonie herbeizuführen und dafür die individuellen Willen unter den Willen des Gemeinwohls zu zwingen und mit diesem in Einklang zu bringen. Dass das Individuum Anfang und Ende von Rousseaus Überlegungen sein soll, habe dabei lediglich rhetorischen Charakter, letztlich entscheide der Gesetzgeber, der die Menschen zur Einpassung in die Ordnung einer tugendhaften Gesellschaft erziehen soll, über alles.173 Rousseaus Gemeinwille wiederum sei als eine Art mathematischer Wahrheit oder platonische Idee eigener objektiver Existenz zu verstehen. „Allein der Gedanke eines in sich geschlossenen Systems, aus dem alles Übel und Unglück ausgerottet wurde, ist totalitär. Die Annahme, dass eine solche Ordnung der Dinge möglich und sogar unvermeidlich sei, ist eine Aufforderung an ein herrschendes System zu verkünden, es verkörpere diese Vervollkommnung, um von seinen Bürgern Anerkennung und Unterwerfung zu erzwingen und Opposition als Laster oder Verderbtheit zu brandmarken (…). Die größte Gefahr dieses Systems liegt in der Tatsache, dass es nicht nur dem Menschen seine Freiheit und seine Rechte nicht verweigert und keine Opfer und Unterwerfung von ihm verlangt, sondern ihm feierlich Freiheit und Rechte sowie menschlichen Eigennutz von neuem bekräftigt“174, wobei Talmon Rousseaus Konzeption der aliénation totale als Beweis seiner These anführte. Die Individuen seien dadurch nicht nur Unterdrückung und Zwang unterworfen, zusätzlich würde Ihnen manipulativ die Überzeugung eingepflanzt, dass dies ihrem eigenen Wohl diene, so dass sie gar nicht mehr im Stande seien, ihr eigenes Unglück als solches wahrzunehmen. Durch die Verbindung des Gemeinwillens mit dem Prinzip der Volkssouveränität schließlich „machte Rousseau den Weg frei für die totalitäre Demokratie“, diese Verbindung markiere die Geburt der

173 Ders.: Die Ursprünge der totalitären Demokratie. S. 30 und S. 34. 174 Ders. S. 32.

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modernen weltlichen Religion, nicht nur als „Ideensystem“ sondern als „leidenschaftlicher Glauben“.175 Abgerundet wird dieses von Talmon gezeichnete Bild durch eine souveräne psychologische Ferndiagnose über Zeit und Raum hinweg, wonach Rousseau eine der „schwierigsten unsozialen und egozentrischen Naturen, die uns Aufzeichnungen über ihr persönliches Problem hinterlassen haben“ und als „zwiespältige Persönlichkeit“ zu verstehen sei, woraus er schlussfolgerte, dass „der disziplinierte Mensch der Traum des gequälten Paranoikers war“. Von hier aus war es Talmon dann ein leichtes, aus der Kombination „psychologischer Unangepasstheit und totalitärer Ideologie“ den Bogen von Rousseau über Robespierre, Saint-Just und Babeuf zu „einigen Beispielen in neuerer Zeit“ zu spannen, in deren Fällen die „Erlösung von der Unmöglichkeit, ein ausgeglichenes Verhältnis zur Umwelt zu finden, in der vereinsamten überlegenen Stellung diktatorischer Führerschaft“ gesucht worden sei.176 Zwar benannte Talmon selbst gleich zu Beginn des Buches die Schwäche seines Ansatzes, wonach sein Problem nicht allein in systematischer Beweisführung abgehandelt werden könne, flüchtete sich dann aber in den Hinweis darauf, dass man eine Religion schließlich auch nicht mittels einer Analyse ihrer Dogmen verstehen könne, sondern diese immer „eine Sache des Glaubens“ blieben, somit also weder verifizierbar, noch falsifizierbar seien.177 Dies ist natürlich besonders dann hochproblematisch, wenn ein solcher Interpretations-Ansatz derart einflussreich wird wie im Fall Talmons, er die Ordnung des Arsenals auf lange Zeit schier unverrückbar festlegt und damit hegemonial in gesellschaftspolitische Deutuungskämpfe eingreift. So zog er in klassischer Kalter-Krieg-Rhetorik eine flotte Verbindung von Rousseaus Schriften zum ideengeschichtlichen wie vermeintlich real existierenden Marxismus seiner Zeit und warf diesem vor, im Gegensatz zu den Philosophen der Aufklärung das Volk einfach an die Stelle des aufgeklärten Despoten gesetzt und damit das kommunistische Ideal der klassenlosen Gesellschaft vorgezeichnet zu haben, welches als Ziel am Ende aller Geschichte winke. Von dieser „Erkenntnis“ Talmons war es dann nur noch ein kleiner weiterer Schritt hin zu der Schlussfolgerung, dass in Rousseaus Prinzip der „direkten und unteilbaren Demokratie“ (ein immer wieder zu lesender und durch nichts in den Schriften Rousseaus zu rechtfertigender 175 Ders. S. 39. 176 Ders. S. 35f. 177 Ders. S. 11.

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Vorwurf) und ihrer Erwartung gesellschaftlicher Einmütigkeit die Diktatur bereits angelegt sei, wie es die Geschichte so manchen Volksentscheides ja „hinreichend belege“.178 Gerade die Tatsache, dass Rousseau den Gemeinwille inhaltlich unbestimmt ließ, öffne jeder Diktatur Tür und Tor und stelle zwangsläufig der Partei als Avantgarde der Revolution im Namen des Volkes einen Blankoscheck aus, den Gemeinwillen zu kennen und den Menschen Sicherheit und Orientierung anzubieten.179 So festigte Talmon das Bild Rousseaus als „völlig durchdrungen vom Vorbild der Antike“ und dem „große(n) Erlebnis des Volkes, das versammelt ist, um Gesetze zu erlassen und das Gemeinwohl zu bestimmen,180 mithin also das Bild Rousseaus als eines Vertreters einer „identitären“ Demokratiekonzeption, wie es auch der partizipatorische Diskurs der radikalen Demokratie pflegt.181 Judith Shklar reiht sich in die Riege der Kritiker eines totalitären Gehalts der politischen Theorie Rousseaus ein und hob wie Talmon und Fraenkel ebenfalls zentral auf die Figur des Gesetzgebers ab. Wie der Erzieher Émiles und Wolmar in der „Nouvelle Heloise“ sei dieser ein mit natürlicher Autorität ausgestatteter „großer Mann“, eine „persönliche Autorität“, wie sie sich in allen Werken Rousseaus finde und die den Ausweg aus dem selbst verschuldeten „Horror der Geschichte“ weise.182 Jede Gesellschaft habe Bedarf an Autoritäten, insofern spontane Selbstführung zu keiner allgemeinen Verbesserung führen und die amour propre nicht einmal durch radikalen sozialen Wandel völlig überwunden werden könne. Dabei lehne Rousseau die zu seiner Zeit bestehenden Verhältnisse zwischen Oberhäuptern und Unterworfenen als Verhältnisse zwischen Herren und Sklaven ab und suche dagegen eine Autorität, die es wert sei, dass man sich ihr unterwirft. Diese könne sich auch in der Klasse der Oberen finden.183 In Rousseaus Werk sei ein prinzipiell nicht aufzulösender Widerstreit zweier gültiger Ideale angelegt, deren Verwirklichung er für gleich unwahrscheinlich gehalten habe: Die Herrschaft der Gesetze, in welcher alle persönliche Herrschaft eliminiert sei, oder die bestmögliche 178 179 180 181 182

Ders. S. 40f. Ders. S. 44. Ders. S. 42. Siehe das Kapitel zur „partizipatorischen“ radikalen Demokratie in dieser Arbeit. Shklar, Judith: Rousseau´s Images of Authority. In: Cranston, Maurice/ Peters, Richard S. (Hrsg.). Hobbes and Rousseau. S. 333 - 365, hier S. 333. Erneut abgedruckt in: Riley, Patrick (Hrsg.): The Cambridge Companion to Rousseau. Cambridge 2001. S. 154 - 192. 183 Dies. S. 339.

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unbegrenzte persönliche Herrschaft. Trotz der Unmöglichkeit der Auflösung dieses Konfliktes habe sich Rousseau letztlich für die Seite der persönlichen Autorität entschieden, da nur diese die Verwirklichung des Rechts garantieren könne.184 Da Rechte nie spontan, sondern immer schon konstruiert seien, bedürfe es für Rousseau der Autorität des Gesetzgebers, welcher diese kreiere und das zu ihrer Akzeptanz nötige moralische Klima schaffe. Nur die persönliche Autorität sei für Rousseau dazu in der Lage, das menschliche Herz zu berühren und das Wesen des Menschen zu verändern.185 Für Shklar war der Gesetzgeber dabei die am wenigsten überzeugende Figur in Rousseaus Konzeption, da sie einem übermenschlichen Genie gleiche, welches die menschliche Natur zu kennen behaupte, ohne sie zu teilen, und mit den bekannten Formen von Autorität nichts gemein habe, da sie Zwang ausübe, ohne zu argumentieren und alles durch die Kraft der Persönlichkeit regle.186 Um Einfluss auf die öffentliche Meinung zu haben, so Shklar, muss sich der Gesetzgeber des Mittels der Illusion bedienen und seine eigentlichen Absichten und seinen Standpunkt verbergen. So setze er auf die „suggestive Kraft“, welche den Menschen kollektive Leidenschaften und soziale anstelle individueller Wünsche einpflanze. Der Hervorrufung der für den Zusammenhalt der politischen Gemeinschaft unerlässlichen „neuen Gefühle“ dienten die von Rousseau gepriesenen Feste und Zeremonien.187 So ziele der Gesetzgeber auf die Zerstörung der menschlichen Natur und deren Ersetzung durch ein künstliches psychologisches Substitut ab.188 Die Existenz und der Erfolg einer derart verstandenen Autorität seien nun weder moralisch noch psychologisch per se unmöglich, jedoch historisch sehr unwahrscheinlich. Zaghafter als Talmon und Fraenkel, doch in die gleiche Richtung weisend, attestierte Shklar Rousseau damit die Intention, den gesellschaftlichen Wandel und damit verbunden die Wesensveränderung der Bürgerinnen und Bürger nach seinem Vorbild zu leisten, koste es was es wolle. Dass es Rousseau vor allem mit der Figur des Gesetzgebers vielleicht eher um die Frage nach dem „wie beginnen wir“ gegangen ist, also um die auf der ontologischen Ebene angesiedelten Gründungsfrage politischer Gemeinschaften, und nicht so sehr darum, den Gesetzgeber als Vorbild für eine Art und Weise, konkrete

184 185 186 187 188

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Dies. S. 340. Dies. S. 341. Dies. S. 342. Dies. S. 343. Dies. S. 345f.

II. 3. Jean-Jacques Rousseau und der Totalitarismus-Diskurs

Politik zu betreiben, zu promoten, erwähnt sie fast beiläufig und scheint keine große Rolle zu spielen.189 Lester Crocker wiederum sah im Anschluss an Isaiah Berlins berühmte Unterscheidung „negativer“ und „positiver“ Freiheit die grundlegende Frage, die Rousseau mit Blick auf den Besitz und den Gebrauch von Macht beantwortet habe, darin, „who is master over what area I am to be master of, and how large is that area?“190 So habe Rousseau jegliche Konzeption negativer Freiheit ausgeschlossen und eine Konzeption positiver Freiheit für autoritäre und totalitäre Zwecke formuliert.191 Macht, beziehungsweise die Machtausübung einer Elite, und nicht die Freiheit der Herrschaftsunterworfenen sei sein eigentliches Anliegen gewesen,192 Rousseau habe nur den Anschein erwecken wollen, dass die Frage nach den Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen auf einer autonomen Entscheidung der Individuen aufruhe.193 Crocker las Rousseaus Werk als ein Programm der Indoktrination, welches den Menschen einrede, dass der ihnen vom Kollektiv aufgezwungene Wille ihr eigener sei.194 Einem klassisch liberalen Freiheitsverständnis verpflichtet, war für Crocker das Rousseausche Prinzip der Volkssouveränität also nicht nur kein Garant der Freiheit, sondern deren erste Gefahr. Kein Individuum dürfe jemals in seiner individuellen Freiheit eingeschränkt werden, es müsse das letzte Referenzobjekt einer jeden Politik und freien Gesellschaft sein und entsprechend vor der Regierungsmacht wie vor dem Willen der Mehrheit geschützt werden.195 Die institutionellen Vorschläge Rousseaus aber seien lediglich Mittel zum Zweck der Errichtung einer homogenen Gesellschaft, was er ähnlich Talmon mit Blick auf und unter Einbezug von Rousseaus Leben und Persönlichkeit glaubte bewiesen zu haben.196 So habe Rousseau vor allem auf die Überwindung der Natur des Menschen als un-

189 Dies. S. 365. 190 Crocker, Lester G.: Rousseau´s soi-disant liberty. In: Wokler, Robert (Hrsg.). Rousseau and Liberty. Manchester 1995. S. 244 - 260, hier S. 244. Siehe auch: Crocker, Lester G.: Jean-Jacques Rousseau. Band 2, The Prophetic Voice, Kapitel 5. 191 Crocker, Lester G.: Rousseau´s soi-disant liberty. S. 244. 192 Ders. S. 255. 193 Ders. S. 245. 194 Crocker, Lester G.: Nature and Culture. Ethical Thought in the French Enlightenment. Baltimore 1963. 195 Ebd. 196 Ders. S. 246f.

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sichtbarer Feind seiner Utopie mittels der Erziehung durch den Gesetzgeber gezielt,197 habe dieser dem Volk doch beibringen sollen, was es wirklich wolle.198 Rousseau habe sich dafür der Strategie bedient, seine Ansicht der Natur des Menschen als allgemeingültig auszugeben, um so seinen Ideen jene Autorität zu verleihen, die im 18. Jahrhundert mit dem Begriff der Natur transportiert wurden.199 Rousseau habe das natürliche Selbst unterdrückt, um es durch ein „kommunitaristisches Selbst“ zu ersetzen und die Individuen so ihrer „natürlichen Identität“ beraubt 200 Letztlich sei es ihm um die Errichtung einer Gesellschaft gegangen, in welcher das Private und das Öffentliche in eins fallen und in der die totale Kontrolle der Individuen durch das Gemeinwesen von jenen gar nicht als solche wahrgenommen würde.201 Es gelte folglich, Meinungsbildung und Gedankenkontrolle auszuüben, was erneut durch nichts besser als durch das Beispiel des Verfassungsgebers gezeigt würde.202 Privatheit dürfe nicht zugelassen werden, der Staat müsse letztes Referenzobjekt aller Überlegungen und Anstrengungen der Menschen sein und jeder Verdacht auf eine willkürliche Macht solle mittels der in den allgemeinen und öffentlichen Festen angewandten Technik der Konditionierung ausgelöscht werden, was, wie Crocker unzweideutig anmerkt, dem „twentieth-century observer“ bekannt vorkommen dürfte.203 Die Hauptanklagepunkte, die er gegen Rousseaus „angebliche Freiheit“ ins Feld führt, sind zudem der Gesellschaftsvertrag als der Verzicht auf alle Rechte, welche das Individuum vor dem Zugriff der Mehrheit schützen, sofern diese Mehrheit nicht bereits selbst schon manipuliert ist. Des Weiteren die uneingeschränkte Macht des Souveräns als moralischer Kollektivkörper gegenüber dem Individuum, der nur den politischen Führern bekannte Gemeinwillen, das Verbot von Faktionen als Bedrohung der Gemeinschaft sowie die Versammlungen, in welchen über die von den „Führern“ vorgeschlagenen Gesetze abgestimmt würde, ohne dass zuvor die Bürger eigene Vorschläge einbringen, andere Vorschläge abändern oder

197 Ebd. 198 Ders. S. 248. 199 Ebd. Crocker verfährt mit seinem Verständnis von Freiheit im Übrigen ganz genauso, was ihn jedoch nicht groß zu stören scheint. 200 Ders. S. 249. 201 Ders. S. 250. 202 Ders. S. 252. 203 Ders. S. 253f.

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II. 3. Jean-Jacques Rousseau und der Totalitarismus-Diskurs

diskutieren dürften. Dem fügte er schließlich Rousseaus Illusion der Freiheit hinzu, das Zugehörigkeitsgefühl zu einem Ganzen und nicht zuletzt die besondere Rolle der Regierung.204 Letztlich gebe es in Rousseaus Konzeption keine Verbindung zwischen der lediglich theoretischen Macht des Souveräns, Gesetze zu bestätigen, und der faktischen Macht der Regierung.205 Diese sei die Institution, die über den notwendigen Apparat zur Erziehung, Meinungskontrolle, zur Formung der Bürgerinnen und Generierung des Patriotismus und zur Veränderung der Sitten verfüge.206 Dabei sprach auch Crocker Rousseau nicht ab, im Sinne der „happiness for man“ die besten Absichten gehabt zu haben, letztlich aber sei er doch ein paranoider Verschwörungstheoretiker gewesen, wie nach ihm und in seiner Tradition stehend auch Babeuf, Lenin und Trotzki.207 Sie alle seien sie sich in ihren quasi-religiösen Heilsvisionen im Gegensatz zu libertären undliberalen Denkerinnen letztlich nicht der Tatsache bewusst gewesen, dass Konflikte innerhalb gewisser Grenzen mitunter hilfreicher seien, als ein utopisches Ideal einer allgemeinen Harmonie.208 In ähnlicher Weise unterstellte Schapiro Rousseau, dass sich dieser in seiner politischen Theorie nicht der Konsequenz seiner Konzeption des Gemeinwillens bewusst war, welche durch den Verzicht der Absicherung individueller Freiheit gegenüber dem Staat zwangsläufig in eine umfassende Tyrannei münden musste. Er führt als Beleg derer totalitären Implikationen die angebliche Verdammung von Parteien und jeglicher Formen repräsentativer Demokratie und die Zivilreligion ins Feld, misst Rousseaus Theorie jedoch ein wenig zweifelhaft an den von Friedrich und Brzezinski aufgestellten Kriterien zur Bewertung totalitärer Regime.209 Wenn hier die Argumente, die gegen Rousseaus politische Theorie aus dieser Perspektive ins Feld geführt wurden, vorangehend ausführlicher rekonstruiert wurden, dann deswegen, weil sie bis heute die Diskussion um Rousseau und das Bild seiner politischen Theorie als proto-totalitär bestimmen, was dazu führte, dass Rousseau für gegenwärtige gesellschaftspolitische und politiktheoretische Fragestellungen keine Rolle spielt und seine Überlegungen folglich keinen Anschluss an aktuelle Diskurse fin-

204 205 206 207 208 209

Ders. S. 254. Ders. S. 255f. Ders. S. 256. Ders. S. 261. Ders. S. 262. Shapiro, Leonard: Totalitarianism. London 1972.

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den. Der gegenwärtige radikaldemokratische Diskurs bildet hier keine Ausnahme. Den hier rekonstruierten Vorwürfen und Argumentationen muss sich also jeder Versuch einer Neuinterpretation Rousseaus stellen, will er Anspruch auf Gültigkeit und Relevanz erheben. Festzuhalten bleibt, dass der hegemoniale Diskurs der Rousseau-Interpretation sich bis heute des zweifelhaften Mittels der Zitation prekärer Textstellen bedient. Daraus wird dann vorschnell abgeleitet, dass Rousseaus Konzeption etwa die „nahezu bedingungslose Moralisierung der Politik“ verlange, was in der Neuzeit dem Staat dann ein „totalitäres Gewand“ übergeworfen habe, insofern dem Bürger keine privaten Nischen mehr zugestanden wurden, noch nicht einmal in „seinem tiefsten Innern seiner Gedanken und seines Gewissens“. Den Beweis liefere Rousseaus Aussage, wonach jemand, der herrschende Dogmen öffentlich anerkenne, sich aber nicht entsprechend verhalte, mit dem Tod bestraft werden solle.210 Der Souverän werde damit zur „Gewissenspolizei“ und die Todesstrafe das exklusive Werkzeug einer totalitären Gesellschaftsordnung, welche Rousseau ebenso wie den Jakobinischen Tugendterror „vorgedacht“ habe.211 Rousseaus Republik sei daher mit dem Benthamschen Panoptikum vergleichbar, da beide als „Gewissensanstalt“ funktionierten und sich der Produktion des „neuen Menschen“ verschrieben. Rousseaus Freiheit sei daher letztlich die Freiheit eines Gefangenen, der sich selbst in eine Zelle sperrt und dort lebenslänglich auch noch den Schlüssel zur Tür in der Tasche behält.212 Trotz der zentralen Rolle, die Rousseau für den Diskurs um den Totalitarismus in vielen Zusammenhängen und an vielen Stellen spielt, kreuzen sich dessen und Leforts Wege nun an keiner nennenswerten Stelle in Leforts Schriften, zumindest nicht ausgewiesen. Es verwundert nach dem oben Gesagten schon sehr, dass Lefort Rousseau gerade vor dem Hintergrund seiner Beschäftigung mit den theoretischen wie praktischen politischen Analysen des Totalitarismus mit keinem Wort erwähnt. Nun kann Lefort aus einer heuristischen Perspektive heraus noch zwei anderen Diskursen zugeordnet werden, innerhalb dessen er und/ oder Rousseau eine herausgehobene Bedeutung spielen oder ihnen zugemessen wird: dem Liberalismus und dem Marxismus. Da sich beide jedoch nicht wirklich sauber von der Diskussion um den totalitären Gehalt der politischen Theorie Rousseaus trennen lassen, sondern sich die Argumente, Rezeptionen und 210 Hirsch, Alfred: Rousseaus Traum vom Ewigen Frieden. München 2012. S. 113f. 211 Ebd. 212 Ders. S. 121f.

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II. 3. Jean-Jacques Rousseau und der Totalitarismus-Diskurs

Zitationen immer wieder beim Totalitarismus-Diskurs bedienen, soll im Folgenden in Form von Exkursen dem diskursiven Verhältnis von Lefort und Rousseau und damit dem gegenwärtigen radikaldemokratischen Denken nachgespürt und geprüft werden, ob sich die These der gekappten oder blockierten ideengeschichtlichen Verbindung halten lässt. Exkurs I: Rousseau im liberalen Diskurs Parallel zu dem wirkmächtigen Diskurs, der Rousseaus politische Theorie als proto-totalitär verhandelt, gab es immer schon auch einen proto-liberal argumentierenden Interpretationsstrang.213 Beide Diskurse spannen zusammen mit dem Diskurs des Republikanismus das Feld auf, innerhalb dessen sich die Rousseau-Interpretationen hauptsächlich bewegen. Zwar gab es immer auch vermittelnde Positionen, die etwa republikanische Elemente in eine prinzipiell liberale Lesart aufnahmen, in aller Konsequenz aber verstanden auch diese Rousseaus politische Theorie als der liberalen Tradition zugehörig, insofern auch für Rousseau Menschen „von Natur aus“ mit Grundrechten ausgestattet seien und lediglich im äußersten Konfliktfall ihre legitimen persönlichen und privaten Interessen öffentlichen und moralischen Prinzipien unterzuordnen hätten.214 Diese Vermittlungsversuche bilden jedoch eher die Ausnahme. Meistens war die Frontstellung der Rousseau-Rezeption eher festgefahren, was sich nicht zuletzt auch vor dem realpolitischen Hintergrund des Kalten Krieges erklären lässt, vor dessen Hintergrund die Debatte um Rousseau fast schon die Ausmaße eines eines Stellvertreterkrieges annahm. So begann Charles E. Vaughan etwa das Nachwort der von ihm 1915 herausgegebenen englischen Ausgabe der politischen Schriften Rousseaus mit einem Frontalangriff auf die „totalitären“ Interpreten Rousseaus, wenngleich er auch nicht einseitig einer liberalen Lesart Rousseau das Wort redete, einer solchen jedoch durchaus den weg bereitete. So habe

213 Zu den bekanntesten Autorinnen zählen: Derathé, Robert: Rousseau et la science politique de son temps. A.a.O. Chapman, John W.: Rousseau: Totalitarian or Liberal? A.a.O. Cobban, Alfred: Rousseau and the Modern State.A.a.O. Cassirer, Ernst: Das Problem Jean-Jacques Rousseau. A.a.O. Wokler, Robert: Rousseau.A.a.O. Herb, Karlfriedrich: Bürgerliche Freiheit. Politische Philosophie von Hobbes bis Constant. Freiburg 1999. 214 Zum Beispiel Macedo, Stephen: Liberal Virtues. Oxford 1990.

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Fichte und nicht Rousseau als der eigentliche Vordenker des absoluten Staates zu gelten, wobei er sich vor allem auf die Reden an die deutsche Nation bezog.215 Den dort verklärten und politisch-romantisierten, zum Teil stark anti-semitisch gefärbten Volksgeist identifizierte Helmut Plessner in Die verspätete Nation 1934 als einen von zwei wesentlichen ideengeschichtlichen Strängen, die letztlich zumindest zur geistigen Wegbereitung der Machtübernahme Hitlers geführt haben.216 Fichtes Werk war für Vaughan das Arsenal, aus welchem die Propheten des deutschen Nationalismus ihre schwersten Geschütze bezogen haben. Wie Fichte habe zwar auch Rousseau in aller Konsequenz für die Unterordnung des Individuums unter die Gemeinschaft plädiert, jedoch habe dieser im Gegensatz zu Fichte nicht auf jegliche politische Absicherungen der natürlichen Freiheit der Menschen verzichtet, etwa durch die öffentliche Kontrolle der Regierung. Die Bürgerin sei zudem in Fichtes Denken ein passives, den Kräften des Staates ausgeliefertes Element gewesen, wohingegen sie für Rousseau entweder politisch aktiv oder als Bürgerin nicht existiert gewesen sei. In ihrem Kern habe Rousseaus politische Theorie somit das Ideal der Selbstregierung als Schutzrahmen der natürlichen individuellen Freiheitsrechte des Menschen geborgen. Zwar sei es dem Kollektivisten in Rousseau nie ganz gelungen, den Individualisten in sich zu verdrängen, habe sich dieser doch über das gesamte Werk verteilt immer wieder Bahn gebrochen.217 Und dennoch sei das Werk Rousseaus notwendig von unversöhnlichen Widersprüchen durchzogen, folge dieses schließlich dem wahrscheinlich gar nicht einzulösenden Anspruch, den „ewigen Konflikt zwischen moi humain und moi commun, den Konflikt zwischen individuellem und gesellschaftlichem Selbst aufzulösen, was aber letztlich nur Angelegenheit rauer und harter politischer Praxis sein könne. Festzuhalten sei jedoch, dass sich der Rousseau im angelsächsischen Raum oft unterstellte extreme Individualismus als „Mythos“ entpuppe. So könne er zwar durchaus als Apologet individueller Rechte gelesen werden, auf der anderen Seite aber ebenso gut immer auch als ein Feind des Individualismus. Seine Politische Theorie münde daher letztlich mit jedem Versuch ihrer praktischen Umsetzung in einen „kommunalen Despotismus“. In der Gesamtschau sei Rous-

215 Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Hamburg 2008. 216 Plessner, Helmut: Die verspätete Nation. Frankfurt am Main 1974. S. 53. 217 Vaughan, Charles E.: The Political Writings of Jean Jacques Rousseau. Ed. from the original manuscripts and authentic editions, with introductions and notes by C. E. Vaughan. Cambridge 1915. S. 526.

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seaus politische Theorie daher als einer der stärksten Angriffe auf den Individualismus anzusehen. Rousseau sei einerseits der Meister der individuellen Freiheit, auf der anderen Seite aber auch der Meister staatlicher Souveränität gewesen. Dies erkläre sich dadurch, dass er an einer historischen und ideengeschichtlichen Weggabelung gestanden und sein Werk sowohl die revolutionären Kräfte in sich vereint habe, welche bereits im Mittelalter an den Grundfesten der Kirche und des religiösen Glaubens rüttelten, zugleich aber auch Überlegungen zugunsten der Prinzipien der Stabilität politischer Ordnung als Gewähr gegen das Chaos revolutionärer Umbrüche integrierte. Die zugegeben stark einseitigen Prinzipien des Individuums und der Gemeinschaft, beides Meilensteine der Geschichte des politischen Denkens, prallten daher in Rousseaus Werk in unversöhnlicher Weise aufeinander. Die Prinzipien von 1789 etwa mögen mit gutem Recht als Rousseausche Prinzipien bezeichnet werden, dann jedoch desjenigen Rousseaus des zweiten Diskurses, der von jenem Geist des großen Befreiers durchdrungen sei, welcher mit und seit Rousseau stets dort historisch wirksam wurde, wo sich Menschen gegen Unrecht und Unterdrückung auflehnten. Rousseaus Einfluss, so Vaughan, ließe sich in dieser Perspektive in den Werken Paines, Godwins, Mills und Spencers finden, ebenso aber auch bei Kant und vielleicht noch dem frühen Fichte. Die Einflüsse des Contrat Social und der Économie Politique hingegen fänden ihren historischen Wiederhall in den Ideen Saint-Justes und Robespierres. Wegen des „Makels des Individualismus“ seiner „Doktrin“ und wegen der Exzesse der Revolution würden Denker wie Fichte, Hegel und Burke, die Rousseaus Argumentation eigentlich geteilt haben oder dieser gefolgt seien, dessen Einfluss kleinreden oder gar leugnen, wobei Hegel Rousseau noch am meisten Gerechtigkeit habe zuteilwerden lassen. Auf der anderen Seite habe sich aber eben auch Immanuel Kant stets als Schüler Rousseaus bezeichnet. Zusammenfassend liege Rousseaus Bedeutung jedoch darin, der erste gewesen zu sein, der den Individualismus von Angesicht zu Angesicht attackiert habe. John Chapman interpretiert Rousseau im Anschluss an Charles E. Vaughan, Robert Derathé und Ernst Cassirer aus einer liberalen Perspektive und sah in dessen Konzeption „moralischer Kreativität“ das liberale Kernelement seiner politischen Theorie angelegt.218 In expliziter Kampfansage an den „mainstream“ seiner Zeit wollte Chapman die liberalen Im-

218 Chapman, John W.: Rousseau - Totalitarian or Liberal? S. 75.

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plikationen der Schriften Rousseaus freilegen.219 Rousseaus Grundfrage sei somit folgende gewesen: „How can men endowed with the potentialities of reason and conscience, yet tending always to seek their personal goods, associate with one another, legislate for their common welfare and govern themselves consistently with this ideal?”220. Rousseaus Antwort auf diese Frage habe in der Institution des Rechts bestanden, wobei die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit ihm ein geheiligtes Recht war. Für Chapman war Rousseau somit kein Platoniker, welcher eine Konzeption des „Guten“ in die Hände einiger weiser Männer legte, wie es Vaughan zum Beispiel andeutete. Im Gegensatz zu jenen Interpretationen, die Rousseau entweder als radikalen Individualisten oder als Vertreter des Ideals gesellschaftlicher Disziplin und damit als Gefahr für die Freiheit des Individuums lasen, sah Chapman bei Rousseau das Ideal moralischer Autonomie und Verantwortlichkeit des Individuums angelegt. Rousseau mag an dessen Erreichbarkeit gezweifelt haben, für unmöglich oder utopisch aber habe er es nicht gehalten.221 Rousseaus Beschreibung des Naturzustandes beweise jedenfalls, dass jener den mit perfecitibilité und Freiheit ausgestatteten Naturmenschen nicht auf eine moralisch gute oder richtige Lebensweise innerhalb einer Gesellschaft festlegte, sondern wertneutral die im Menschen angelegte Fähigkeit zur persönlichen Entwicklung konstatiert habe. Der Mensch mag von Natur aus auf moralische und psychologische Verbesserung angelegt sein, grundsätzlich und vor allem ist er jedoch frei und Freiheit sei mit Rousseau als die Möglichkeit von Autonomie im Sinne von „independent determination and achievment of purposes“ zu verstehen.222 Rousseau wollte demnach nicht die Natur des Menschen ändern, sondern berechnete deren feste Konstanten wie Stolz und Leidenschaft, welche sich niemals auslöschen und höchstens durch eine „deliberate cultivation“ neutralisieren und begrenzen ließen, immer in alle Überlegungen mit ein. So sei etwa die gesamte Erziehung des Emile auf das Verständnis menschlichen Verhaltens und menschlicher Beziehungen zueinander angelegt gewesen, keinesfalls aber auf deren Adaption. Rousseau habe daher an der Vermittlung der Vernunft als aktives Prinzip festgehalten und nicht auf deren Indoktrination.223 Somit leite die allgemeine

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Gemeint ist damit vor allem Talmons „totalitäre“ Lesart Rousseaus. Chapman, John W.: Rousseau - Totalitarian or Liberal? S. 33. Ders. S. 21. Ders. S. 7ff. Ders. S. 14ff.

II. 3. Jean-Jacques Rousseau und der Totalitarismus-Diskurs

menschliche Vernunft und nicht gesellschaftlich vermittelte partikulare Meinungen den Menschen in seinen Handlungen an, die amour propre sei also nur eine mögliche und damit kontingente Ausdrucksform seiner sozialen Natur. Im Gegensatz zu Talmon sah Chapman Gefühle und Intellekt, Emotionen und Vernunft bei Rousseau in keinem Konflikt zueinander stehen und schon gar nicht verstand er Rousseau als naiven oder fanatischen Anhänger einer Indienstnahme kollektiver Leidenschaften durch die und für die Politik. Vielmehr müssten Vernunft und Emotionen mit Rousseau als interdependent verstanden werden, wirkten beide Prinzipien doch unweigerlich und unauflöslich zusammen, um dem Menschen so die Entwicklung gemäß seiner Natur zu einem vernunftbegabten Wesen zu ermöglichen. Die menschlichen Leidenschaften stünden weder im Widerspruch zur Vernunft, noch ersetzten sie diese also. Im Gegenteil habe Rousseau der menschlichen Natur eine nicht abzuerziehende und nicht aberziehbare egoistische Komponente belassen. So habe er diesem die Fähigkeit zugesprochen, seine Pflicht zu kennen, zu wünschen und zu erfüllen, aber eben immer auch das Recht, trotzdem ganz anders und gegen die eigene Erkenntnis zu handeln.224 Anders als von Groethuysen es behauptet, habe Rousseau auch nicht die Entscheidung zwischen dem Naturmenschen und dem Gesellschaftsmenschen gefordert, beide Prinzipien schlössen sich ja auch nicht zwangsläufig aus.225 Zwar sei der Gesellschaftsmensch unbestritten das Endprodukt eines historischen Assoziationsprozesses, jedoch verblieben stets auch untilgbare Reste seiner natürlichen Anlagen in ihm, allen voran die Fähigkeit zu vernünftigem Urteilen. Moralische Autonomie und Verantwortlichkeit seien höchste Ideale, die Rousseau nie zur Wahl gestellt habe, folglich könne er niemals die Gemeinschaft über das Individuum gestellt haben. Nie habe er zudem geleugnet, dass es gesellschaftlichen Konformitätsdruck auf die Individuen gebe, jedoch habe er den Menschen als dazu fähig verstanden, sich mittels Rückbezug auf die ihm wesenseigene Vernunft von diesem Druck freizumachen und zugleich die Gültigkeit deliberativ ermittelter moralischer Werte zu akzeptieren. Die Voraussetzung dafür sei eben nur, dass das Individuum in diesem Prozess wirklich von seiner Vernunft Gebrauch macht. Freiheit und Unabhängigkeit vom Druck der öffentlichen Meinung sei somit die Bedingung der

224 Ders. S. 17ff. 225 Groethuysen, Bernard. Jean-Jacques Rousseau. S. 117.

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Akzeptanz kollektiver Entscheidungen, diese Fähigkeit moralischer Autonomie komme aber eben sowohl dem natürlichen, als auch dem gesellschaftlichen Menschen zu.226 Rousseaus umstrittene Aussage des „Zwangs zur Freiheit“ im Gesellschaftsvertrag könne entsprechend nicht verstanden werden, wenn man Freiheit als die bloße Abwesenheit von äußeren Einschränkungen interpretiere. Vielmehr sei es Rousseau in seinem Freiheitsbegriff um die Abwesenheit von persönlicher Abhängigkeit gegangen. Indem man den Menschen von seiner Leidenschaft nach Machtausübung über andere bewahrt, so Chapmans Lesart, bewahrt man also dessen Freiheit, da jedes Herr-Knecht-Verhältnis für alle Beteiligten ein Abhängigkeitsverhältnis ist.227 Worum es Rousseau im Gesellschaftsvertrag letztlich gegangen sei, sei die Schaffung eines institutionellen Umfeldes, welches die moralischen Fähigkeiten des Menschen soweit zur Entwicklung bringt, dass dieser die wechselseitig eingegangenen Verpflichtungen nicht mehr nur akzeptiert, sondern sie als Bedingung seiner Freiheit begrüßt.228 Ähnlich Cobban, der Rousseaus Beschreibung des Naturzustandes als Maßstab für die Freiheit sozialer und politischer Institutionen interpretierte,229 verstand Chapman „Naturzustand“ und „Naturmensch“ als analytische Werkzeuge, welche es Rousseau ermöglicht haben, über die menschliche Natur nachzudenken. Diese Interpretation ist mit Cassirers Ansicht verwandt, wonach Rousseau das Konzept des Naturzustandes im Kantischen Sinne als „Prüfstein“ verstanden habe, um so sichtbar zu machen und zu kritisieren, was im gegenwärtigen Gesellschaftszustand „wahr“ und was „Illusion“, was moralische Verpflichtung und was Konvention sei.230 Alfred Cobban sah die Interpretationen zu Rousseaus Politischer Theorie seit jeher in zwei Schulen aufgegliedert. Einmal in diejenige, welche Rousseau als Schüler Lockes und den Gesellschaftsvertrag folglich als das letzte und größte Werk einer individualistischen Schule der Politik verstanden hätten. Zum anderen in die weitaus einflussreichere Schule derje-

226 Chapman, John W.: Rousseau - Totalitarian or Liberal? S. 26f. 227 Diese Überzeugung findet sich bereits in der Eröffnungssequenz des Contrat Social, im Anschluss an Rousseau dann zum Beispiel in Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr und in Hegels Dialektik von Herr und Knecht in der Phänomenologie des Geistes. 228 Chapman, John W.: Rousseau - Totalitarian or Liberal? S. 38ff. 229 Cobban, Alfred: Rousseau and the Modern State. S. 221. 230 Cassirer, Ernst: The Philosophy of the Enlightenment. Princeton 1951. S. 271.

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II. 3. Jean-Jacques Rousseau und der Totalitarismus-Diskurs

nigen, welche Rousseau in die Nähe des deutschen Idealismus gerückt und ihn für die „metaphysischen Spinnereien seiner wildesten Schüler“ verantwortlich gemacht hätten.231 Die Rousseau-Interpretation leide seit Anbeginn darunter, dass man ihn stets vor dem Hintergrund der Französischen Revolution gelesen und ihn für deren Auswüchse verantwortlich gemacht habe. Dabei sei der Gesellschaftsvertrag vor 1789 kaum gelesen worden und habe folglich gar keinen allzu großen Einfluss auf den Beginn der Revolution gehabt haben können. Zudem seien es immer eher die Konterrevolutionäre gewesen, die Rousseau rezipiert hätten. Die angebliche Bedeutung des Gesellschaftsvertrags für die Jakobinerherrschaft zog Cobban daher stark in Zweifel. So kommentierte er den Bericht des politischen Journalisten Mallet du Pan, wonach Jean Paul Marat 1788 angeblich einer euphorisierten Menge aus dem Gesellschaftsvertrag vorgelesen habe dahingehend, dass es doch erstaunlich sei, wie irgendjemand angesichts der Komplexität dieses Werkes „einen solchen Blödsinn“ glauben könne. Ebenso stark zweifelte er an der These, die Herrschaft Robespierres sei die praktische Umsetzung der Prinzipien des Gesellschaftsvertrags gewesen. Robespierre habe für die Legitimität seiner Herrschaft und politischen Maßnahmen ganz sicher nicht der Schriften Rousseaus bedurft, zumal ihm mit dem Ancien Régime doch das viel wirksamere und vor allem viel präsentere negative Vorbild zur Verfügung gestanden habe.232 Rousseaus Einfluss auf die Französische Revolution könne also im Positiven wie im Negativen keinesfalls so eindeutig behauptet werden, wie dies hauptsächlich aus einer historisch weit fortgeschrittenen und somit privilegierten Perspektive zum Beispiel Talmons heraus geschehen sei. Cobban plädierte daher dafür, Rousseau nicht aus der Perspektive des 19. oder 20. Jahrhunderts zu lesen, sondern seine Schriften in die Zeit ihrer Entstehung im 18. Jahrhundert zu verorten und sie so kontextualisiert zuerst und vor allem als beredte Zeugnisse eines Moralisten und Aufklärers in seiner Zeit zu verstehen. Die bei Rousseau vermeintlich überbetonte Bedeutung der Gemeinschaft gegenüber dem Individuum schrumpft in der Folge dann auf ein Mittel zum Zweck der Ermöglichung und Aufrechterhaltung individueller Freiheit. Anfang und Endpunkt aller Überlegungen Rousseaus sei da-

231 Cobban, Alfred. Rousseau and the Modern State. Preface. 232 Cobban, Alfred: The Political Ideas of Maximilien Robespierre during the Period of the Convention, English Historical Review (1946), LXI (CCXXXIX), S. 45 80. Ders.: The Fundamental Ideas of Robespierre, English Historical Review (1948), LXIII (CCXLVI), S. 29 - 51.

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her sehr wohl immer das Individuum gewesen, der Gemeinschaft komme nur logische Priorität zu, insofern sie dem Individuum die Möglichkeit der moralischen Freiheit und Unabhängigkeit bereitstelle.233 So befragte Cobban Rousseaus Ideen eher nach ihrer Relevanz für aktuelle gesellschaftspolitische Herausforderungen und kam zu dem in hier vorliegender Arbeit geteilten Schluss, dass diese über die Frage der Einrichtung oder Gründung politischer Gemeinschaften hinaus vor allem erhellende Einsichten für die Frage bieten, wie man ein einmal eingerichtetes politisches Regime auf Dauer stellt und die Freiheit in diesem am Leben erhält.234 Eine solche Interpretation habe es jedoch schwer angesichts erfolgreicher „Denunziation“ Rousseaus, die Cobban mit Burkes ersten Reflexionen über die Französische Revolution beginnen und in dessen Brief an ein Mitglied der Nationalversammlung kulminieren sah.235 Burke beschrieb Rousseau dort als chimärisches, paradoxes und „böses Genie“, für ihn war der Genfer die Verkörperung der politischen Philosophie der Revolution. Rousseau habe laut Burke erst die Leidenschaften des Individuums entfesselt und dieses anschließend der Tyrannei des Staates geopfert. Die „katholischen Theokraten“ Bonald und de Maistre seien Burke nicht umsonst darin gefolgt und haben in dem Protestanten und Individualisten Rousseau den Individualismus der Revolution verkörpert gesehen. 236 Die Idee des Naturmenschen hätten sie abgelehnt, da für sie schließlich nur der Gesellschaftsmensch „natürlich“ gewesen sei. Auf einem Individualwillen habe für sie ebenso wenig wie auf dem Gemeinwillen Souveränität aufbauen können, der Volkswille habe entsprechend niemals Souverän sein können. Zwar sei eine Souveränität des Gesetzes vorstellbar, jedoch nicht als Ergebnis menschlichen Willens, sondern nur als das einer göttlichen Ordnung.237 Die französischen Liberalen schließlich hätten Rousseaus Individualismus vor allem deshalb nicht erkennen können, weil sie, ganz der Tradition der

233 Cobban, Alfred. Rousseau and the Modern State. S. 14. 234 Ders. S. 17. 235 Burke, Edmund: Reflections on the Revolution in France and on the proceedings in certain societies in London relative to that event. Harmondsworth 1976. 236 Siehe zum Beispiel De Maistre, Joseph Marie: Examen d'un écrit de J.-J. Rousseau sur l'inégalité des conditions. In: Œuvres Complètes. Contenant ses Œuvres posthumes et toute sa correspondance inédite. Band VII. Genf 1979. S. 509 - 566. Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de: Œuvres. Paris 1859. Die Schriften Bonalds und De Maistres rezipierte und zitierte Carl Schmitt an zentralen Stellen seines Werkes. 237 Cobban, Alfred. Rousseau and the Modern State. S. 25.

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II. 3. Jean-Jacques Rousseau und der Totalitarismus-Diskurs

Philosophen der Aufklärung verpflichtet, deren Feindschaft zu Rousseau geerbt hätten. Die frühen Sozialisten hingegen seien geteilter Meinung gewesen, für die meisten jedoch war ganz im Gegensatz Rousseaus Individualismus sein eigentliches Verbrechen. Mit ein paar Ausnahmen seien sie und die Saint-Simonisten Rousseau gegenüber daher feindlich eingestellt gewesen, stellte für sie der Gesellschaftsvertrag doch die Allianz der Besitzenden gegen die Besitzlosen dar. Hippolyte Taine schließlich habe beide Strömungen der Rousseau-Feindschaft in seinem Werk vereint. Zwar sei er frei von Vorurteilen gewesen, jedoch habe er, hierin Tocqueville ähnlich, in der Volkssouveränität im Vergleich zur Souveränität des Königs im Ancien Régime die umfassendere Souveränität gesehen. Laut Taine sei der Staat für Rousseau alles und das Individuum nichts gewesen.238 An Talmons Rousseau-Interpretation kritisierte Cobban vor allem dessen bei Taine entlehnte Methode, auf Basis der Schriften eines Autors Rückschlüsse auf dessen Charakter zu ziehen und im Anschluss daran eine Interpretation der Schriften auf den angenommenen Charakter zu stützen. So habe Talmon Rousseau ein „totalitarian messianic temperament“ attestiert und so in dessen Werk wenig überraschend „the envious dream of the tormented paranoiac“ hervorbrechen sehen. Dies verwunderte Cobban, insofern Talmon selbst ja den Gemeinwillen Rousseaus als cartesianische oder mathematische Wahrheit und als platonische Idee interpretierte. Talmon habe die Analogien zwischen dem Phänomen des Totalitarismus und Rousseaus Gemeinwillen herausarbeiten wollen, was ihm aber nur durch eine sehr selektive Lektüre gelungen sei. So mag etwa der Wahlbetrug eine gängige Praxis totalitärer Herrschaftsformen gewesen sein, an Rousseaus Konzeption des Gemeinwillens jedoch könne der Vorwurf nicht adressiert werden, da diese ja keinesfalls Einstimmigkeit verlange. Auch der Vorwurf der ständigen und unmittelbaren Teilhabe, der totalen Mobilisierung des gesamten Volkes, sei nicht haltbar, da das Volk lediglich sporadisch und auch dann nur zur Beantwortung der essentiellen Fragen nach der Gültigkeit des Gesellschaftsvertrags und dem Fortbestand der Regierung beteiligt werden müsse. Von den exekutiven Akten der Regierung nehme Rousseau das Volk aber sogar explizit aus. Letztlich war für Cobban eine Synthese zwischen den beiden eingangs aufgezeigten Strängen der Rousseau-Kritik nicht möglich,239 er selber könne in Rousseaus Theo238 Taine, Hyppolite: Les origines de la France contemporaine. Band I. L´Ancien Regime. Paris 1986. 239 Cobban, Alfred. Rousseau and the Modern State. S. 31.

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rie jedoch nicht den leisesten Hinweis darauf finden, dass dieser einem wie auch immer gearteten Despotismus das Wort geredet habe. Rousseau habe zum Beispiel nie wirklich die konstitutionelle Regierungsform abgelehnt, sondern lediglich das Prinzip der Repräsentation des Gemeinwillens kritisiert, was er zudem etwa in den Betrachtungen über die Regierung Polens ja selbst teilweise wieder zurückgenommen habe.240 Ian Hampsher-Monk bezeichnete Rousseau im Anschluss an Cobban daher auch als „liberalen Konstitutionalisten“. Dessen Eintreten für Rechtsgleichheit und Gesetzesherrschaft sei nicht nur zu seiner Zeit radikal gewesen, sondern könnte im Prinzip bis heute als nicht erfüllte Forderung angesehen werden.241 Viele liberale Kritiker Rousseaus hätten in diesem zwar den Repräsentanten einer als „positiv“ verfemten Form politischer Freiheit gesehen, wie Isaiah Berlin sie Rousseau attestierte.242 Was sie dabei jedoch übersehen haben, sei die Tatsache, dass Berlin selbst nie einen notwendigen Zusammenhang zwischen positiver Freiheit und Tyrannei behauptet habe, sondern dass dieser Zusammenhang ein historisch kontingenter sei, ja dass Berlin überhaupt nie konzeptuell, sondern immer historisch argumentiert habe.243 Die totalitären Konsequenzen der politischen Theorie Rousseaus daher an dem abstrakten Indikator einer Reichweite des Bereichs des Privaten ermitteln zu wollen, berge die Gefahr, jegliche Gesellschaftsform als „totalisierend“ zu verstehen, in welcher Aspekte des individuellen Lebens einer Kontrolle oder zumindest Bewertung seitens des Kollektivs unterliegen. Dies würde dann nämlich ebenso auf Schweizer Bergdörfer und Tocquevilles Amerika, wie auf die Sowjetunion unter Stalin zutreffen.244 Rousseau dürfe daher nicht als Gegner individuell-liberaler Konzeptionen gelesen, sondern müsse in Abgrenzung zu sowohl anarchistischen, wie auch deontologischen Positionen verstanden werden. Claude Lefort schließlich, der sich innerhalb des liberalen Diskurses unter anderem mit der liberalen Perspektive auf die Menschenrechte be-

240 Ders. S. 42ff. 241 Hampsher-Monk, Ian: Rousseau and totalitarianism - with hindsight? In: Wokler, Robert (Hrsg.). Rousseau and Liberty. S. 267 - 288, hier S. 275. 242 Berlin, Isaiah: Zwei Freiheitsbegriffe. In: Ders. Freiheit. Vier Versuche. Frankfurt am Main 1995. S. 197 - 256. 243 Hampsher-Monk, Ian: Rousseau and totalitarianism - with hindsight? S. 271f. Siehe auch FN 19. 244 Ebd.

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fasste, lehnte die von Berlin getroffene und an Constant anknüpfende Unterscheidung negativer und positiver Freiheit explizit ab. Er verwies darauf, dass die Freiheit der Modernen nicht zwangsläufig und notwendigerweise die individuelle, private, negative Freiheit sein müsse, da beide Freiheiten, negative und positive, demselben Ursprung, nämlich der Emanzipation von jeder persönlichen Autorität entsprungen seien. Dennoch bediente sich Lefort zur Stützung seiner Argumentation aber nicht im Werk Rousseaus, der ja der erste Adressat sowohl Constants, als auch Berlins war, sondern entwickelt diese Erkenntnis in einer Diskussion der Schriften Tocquevilles. Politische Freiheit sei zu allererst unbedingte Freiheit, „it reveals the essence of the political“245, was sich mit guten Gründen auch über Rousseaus politische Theorie sagen ließe. Bei Lefort findet er jedoch keinerlei Erwähnung. Exkurs II: Rousseau im marxistischen Diskurs Claude Lefort entwickelte seine politische Theorie bei aller Abgrenzung doch stets innerhalb einer spezifisch französischen marxistischen Theorietradition, besonders in den frühen Jahren seiner akademischen Sozialisation,246 weshalb Bezugnahmen auf Rousseau innerhalb des marxistischen Diskurses zumindest erwartbar gewesen wären. Zwar ist die Rezeption Rousseaus schon bei Marx und Engels zum Teil widersprüchlich, jedoch spielte Rousseau eben keine unbedeutende Rolle in diesem Diskurs. Marx etwa behandelte ihn zentral in seiner Schrift Zur Judenfrage, wo er die Menschenrechte als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft und damit des egoistischen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen verurteilte. Diese Schrift wiederum war der für Lefort zentrale Text für seine Auseinandersetzung mit dem marxistischen Verständnis der Menschenrechte.247 In der Judenfrage kritisierte Marx Rousseaus Beschreibung des Gesetzgebers im Contrat Social als „Abstraktion des politischen Menschen“. Demgegenüber müsse der Mensch seine ihm eigenen Kräfte, seine forces propres als gesellschaftliche Kräfte erkennen und ent-

245 Lefort, Claude: Democracy and Political Theory. S. 170. 246 Siehe das Kapitel zu Leforts akademischer Sozialisation in vorliegender Arbeit. 247 Lefort, Claude: Human Rights and the Welfare State. S. 20 - 44. Deutsch: Menschenrechte und Politik. In: Rödel, Ulrich (Hrsg.). Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. S. 239 - 280.

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sprechend organisieren, um fortan die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in Form der politischen Kraft von sich zu trennen. „Erst dann“, so Marx, „ist die menschliche Emanzipation vollbracht“.248 Rousseau diente Marx an dieser Stelle dazu, den Staat als Organisator einer Transformation der Individuen in Staatsbürger als Problem und nicht als Lösung des Problems der menschlichen Emanzipation zu entlarven. Rousseaus Verständnis politischer Emanzipation könne daher bestenfalls als Zwischenstufe auf dem Weg zur wahren Emanzipation des Menschengeschlechts im Kommunismus angesehen werden. Die von Rousseau thematisierte politische Emanzipation sei sicher „ein großer Fortschritt“, jedoch nicht „die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt“, sondern lediglich „die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung“.249 Aufgrund solcher Bezugnahmen wird gerne behauptet, dass Rousseau und Marx ihre jeweilige Gegenwart als Ergebnis eines Verfallsprozesses gedeutet, und beide diesem Verfallsprozess eine historische Notwendigkeit unterstellt hätten.250. Dies zielt vor allem auf den zweiten Diskurs, in welchem Rousseau die Perfektibilität des Menschen vermeintlich als Ursache und Katalysator eines gesellschaftlichen Verfalls verstand, sie als „Quelle allen Unglücks“ des Menschen bezeichnete, welche „seine Kenntnisse und seine Irrtümer, seine Laster und seine Tugenden zur Entfaltung bringt“, ihn auf die Dauer aber „zum Tyrannen seiner selbst und der Natur macht“.251 Sicher unterscheidet sich das sowohl von einer marxistischen Geschichtsphilosophie, wie auch von einem Geschichtsbild eines durch die „List der Natur“252 beständig zur eigenen Vervollkommnung strebenden Menschengeschlechts. Rousseau, so soll gezeigt werden, betont viel stärker die Kontingenz am Grunde aller historischen und gesellschaftlichen Entwicklung, die Perfektibilität des Menschen ermöglicht

248 Marx, Karl: Zur Judenfrage. In: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 1. Berlin 1981. S. 347 - 377, hier S. 370. 249 Ders. S. 356. 250 Zehnpfennig, Barbara: Rousseau und Marx oder: Das Ende der Entfremdung. In: Hidalgo, Oliver (Hrsg.). Der lange Schatten des Contrat Social. S. 177 - 209. 251 Rousseau, Jean-Jacques: Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l´Inégalité. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier. Paderborn 2008. S. 46 (DU). 252 Kant, Immanuel: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Ders. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Werkausgabe Band XI. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main 1977. S. 31 - 50.

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diesem die individuelle wie kollektive Entwicklung zum Guten, wie zum Schlechten und muss zudem in keiner Weise notwendig zur Entfaltung kommen. Erhellend für Leforts ausgebliebene Rousseau-Rezeption ist auch in diesem Zusammenhang, dass er die Möglichkeit einer marxistischen wie einer liberalen Interpretation Rousseaus oder zumindest einer Auseinandersetzung mit diesen, die ja in einer für ihn zentralen Schrift zusammenlaufen und zugleich die diskursiven Felder seiner theoretischen Auseinandersetzungen aufspannen, liegen lässt. Auch an anderer Stelle bezog sich Marx auf Rousseau, etwa wenn er im Kapital den Kapitalisten gegenüber dem kleinen Produzenten Rousseaus Betrugsvertrag aus dessen Politischer Ökonomie zitieren lässt und jenen so mit Rousseaus Hilfe als Betrüger enttarnte: „Ich werde gestatten – sagt der Kapitalist -, dass Ihr die Ehre habt, mir zu dienen, unter der Bedingung, dass Ihr mir für die Mühe, die ich mir mache, Euch zu kommandieren, das wenige gebt, was Euch bleibt“253. Gerade wenn man sich aus einer marxistischen Tradition kommend wie Lefort mit den Ursprüngen der bürgerlichen Gesellschaft, den gründenden und grundlegenden Konflikten im Sozialen und deren Verschleierung in der und durch die Politik befasst, dürfte einem die Stelle geläufig gewesen sein. Das bedeutet natürlich nun noch lange nicht, dass sich Lefort zu jeder Rousseau-Rezeption hätte verhalten müssen, es unterstützt jedoch den Eindruck eines auffälligen Schweigens, der vorliegender Untersuchung zugrundeliegt. Zumal Rousseau im marxistischen Denken ja nicht einseitig und durchweg positiv gelesen wurde, er also weit entfernt davon war, ein Säulenheiliger eines orthodoxen Marxismus zu sein, wie Lefort ihn ablehnte und zeitlebens bekämpfte. Im Register der Marx-Engels-Werke etwa wird Rousseau als „Ideologe des Kleinbürgertums“ geführt.254 Große Teile der Marxisten geißelten ihn vor allem wegen des Contrat Social als Vertreter eines „Bourgeois-Liberalismus“, welcher dem Ideal „fiktiver“ Freiheit anhänge.255 So weise seine politische Theorie insofern zentrale liberale Ele-

253 Marx, Karl: Das Kapital. Band 1. In: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 23, Berlin 1962. S. 774. Vgl. dazu Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung über die Politische Ökonomie. In: Ders. Sozialphilosophische und Politische Schriften. Herausgegeben von Eckhart Koch. München 1981. S. 259 (EP). 254 Kaufmann, Matthias: Politischer Rousseauismus. S. 186. Siehe auch Vyshinsky, Andrei Y.: The Law of the Soviet State. New York 1948. S. 169. 255 Bakunin, Michail: Die Commune von Paris und der Staatsbegriff. In: Ders. Staatlichkeit und Anarchie. Frankfurt am Main 1972. S. 215 - 291.

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mente auf, als etwa der Staat in letzter Konsequenz doch nur dem Schutz und Erhalt des bürgerlichen Privateigentums diene. So bezeichnete Marx Rousseau in der Einleitung der Kritik der Politischen Ökonomie auch als einen Vertreter eines Naturrechts, welches von Natur aus vermeintlich unabhängige Individuen mittels eines Vertrages in ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis bringe und dadurch die bürgerliche Gesellschaft vorwegnehme.256 Für Engels wiederum ist Rousseaus Gesellschaftsvertrag nur als „bürgerliche demokratische Republik“ möglich. An anderer Stelle bezeichnet er den Staat Rousseaus als „Vernunftstaat“, der „seine Verwirklichung in der Schreckenszeit“ der Jakobinischen Herrschaft gefunden habe.257 Gleichzeitig will er in Rousseau den Vorläufer der Dialektik des historischen Materialismus erkannt haben: „Jeder neue Fortschritt der Zivilisation ist zugleich ein Fortschritt der Ungleichheit (…). Und so schlägt die Ungleichheit wieder um in Gleichheit, aber nicht in die alte naturwüchsige Gleichheit der sprachlosen Urmenschen, sondern in die höhere des Gesellschaftsvertrags. Die Unterdrücker werden unterdrückt. Es ist die Negation der Negation. Wir haben hier also schon bei Rousseau nicht nur einen Gedankengang, der dem in Marx Kapital verfolgten auf ein Haar gleicht, sondern auch im Einzelnen eine ganze Reihe derselben dialektischen Wendungen, deren sich Marx bedient: Prozesse, die ihrer Natur nach antagonistisch sind, einen Widerspruch in sich enthalten, Umschlagen eines Extrems in sein Gegenteil, endlich als Kern des Ganzen die Negation der Negation“258. Aufgrund dieses unklaren Verhältnisses von Marx und Engels zu Rousseau gab es einige Versuche, Letzteren in das marxistische Denken zu integrieren. Ein bekanntes Beispiel ist Della Volpes Untersuchung der Zusammenhänge des Rousseauschen Denkens zu Marx und dem Sozialismus. In nuce sah Della Volpe in Rousseau den Entdecker der „egalitären Freiheit“ und wies alle Lektüren Rousseaus als „utopistischen Philosophen der kleinen Staaten“ und des „radikalen Kleinbürgertums“ ebenso zurück, wie Versuche, ihn „mit dem naturrechtlichen Schlüssel sozialdemokratischen Musters“ zu deuten. Stattdessen sei seine Freiheitsbotschaft im „universalen (demokratischen) Anliegen des persönlichen Verdienstes“ zu

256 Marx, Karl: Kritik der Politischen Ökonomie. In: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 13, Berlin 1961. S. 3 - 160, hier S. 61. 257 Engels, Friedrich: Anti-Dühring. In: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 20, Berlin 1962. S. 17 und S. 239. 258 Ders. S. 130.

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sehen, deren zentrale Forderung es sei, dass „jedes menschliche Individuum, und zwar mit allen seinen besonderen Verdiensten und Bedürfnissen, gesellschaftlich anerkannt werde“. Daher müsse, um die „moderne Demokratie“ zu klären, deren „geistiger Vater“ Rousseau sei, die historische Verbindung Rousseaus zum Sozialismus herausgestellt und die Kontinuität der „egalitären Problematik“ aufgezeigt werden.259 Della Volpe kam zu dem Ergebnis, dass die „historische Verpflichtung“ des Marxismus-Leninismus gegenüber Rousseau in dessen „Grundsätzen eines der Nivellierung entgegengesetzten und die Personen vermittelnden Egalitarismus“ liege, welcher „zu den wesentlichen historischen und idealistischen Voraussetzungen des Modellbegriffs der Aufhebung der Klassen in einer Gesellschaft von Freien weil Gleichen, das heißt in der kommunistischen Gesellschaft, wie sie in der Kritik des Gothaer Programms, in Engels AntiDühring und in Lenins Staat und Revolution vorgezeichnet sei“, gehöre.260 Aus dieser Perspektive würde sich Rousseaus politische Theorie also widerspruchsfrei in die marxistische Geschichtsphilosophie einpassen. Dass Marx und Rousseau daher geglaubt hätten, dass eine Überwindung der Entfremdung des Menschen in einer neuen, vollendeten Form des Menschseins möglich sei,261 soll in vorliegender Arbeit mit Blick auf Rousseau und aus der Perspektive Leforts aber genau bestritten werden. Im Unterschied zu Marx propagierte Rousseau nämlich, so die hier vertretene Überzeugung, keinesfalls ein homogenes Gesellschaftsmodell frei von jeder Trennung, Teilung, Entzweiung oder Entfremdung. Und selbst der ihm wohlgesonnene Della Volpe unterstrich dies letztlich, wenn er Rousseau vorhielt, dass dieser zwar die Emanzipation des Volkes beabsichtigt habe, letztendlich jedoch nur „die ideellen Grundlagen für die Emanzipation der Bourgeoisie, das heißt einer Klasse“ geliefert habe. So habe er (wenngleich nicht beabsichtigt) die „ideologische Rechtfertigung einer in Klassen geteilten und folglich (…) von Ungleichheiten zerrissenen Gesellschaftsform“ unterstützt.262 Hier hätte es also für Lefort durchaus auch aus einer „post-marxistischen“ Perspektive Anschlussmöglichkeiten an das Werk Rousseaus gegeben, vor allem wenn man berücksichtigt, dass Della Volpe zur Stütze seiner Argumentation den marxistischer

259 Della Volpe, Galvano: Rousseau und Marx. Beiträge zur Dialektik geschichtlicher Strukturen. Darmstadt 1975. S. 39ff. 260 Ders. S. 135. 261 Zehnpfennig, Barbara: Rousseau und Marx. S. 202. 262 Della Volpe, Galvano: Rousseau und Marx. S. 46.

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Indoktrination absolut unverdächtigen Hans Kelsen, für ihn „der größte lebende bürgerliche Jurist“, als Zeugen aufrief. Dieser habe die rechtliche Unabhängigkeit des Parlaments vom Volk als Ersetzung des Prinzips der Demokratie durch das der Arbeitsteilung verstanden. Um diesen schleichenden Wandel zu vertuschen, so Kelsen, würde die Fiktion gebraucht, dass das Parlament das Volk vertrete.263 Bis hierhin, das werden die folgenden Abschnitte der Arbeit zeigen, könnte die radikale Demokratie nach Lefort mitgehen. Della Volpe interpretierte Kelsens Bezugnahme auf Rousseau jedoch dahingehend weiter, dass jener in diesem den Befürworter einer „radikalen“ im Sinne „direkter“ Demokratie gesehen habe. Della Volpe rief Kelsen (und mit diesem Rousseau) also als Kronzeugen einer Anklage gegen die bürgerlich-liberalen Parlamente als „Schwatzbuden“ in den Zeugenstand und forderte mit Blick auf das sowjetische Rätesystem die Umformung der „Redeparlamente“ in „arbeitende Körperschaften“, was bedeutete, „dass sie nicht nur Gesetze machen, (…) sondern sie auch ausführen und den Aufbauprozess der Rechtsordnung bis zum letzten Grad der Verwirklichung der Normen leiten müssen“. Was er sich als „Demokratisierung der Verwaltung“ versprach,264 artete in der historischen Realität der Folgejahre jedoch in ihr Gegenteil einer Bürokratisierung der Demokratie aus und wurde als solche eines der historischen Vorbilder für Leforts Kritik der Herrschaftspraktiken der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der totalitären Tendenzen des sowjetischen Herrschaftssystems. Wenn große Teile des Marxismus Rousseau also entweder als Bourgeois oder im Gegenteil als Überwinder des liberalen Parlamentarismus und Befürworter einer direkten Demokratie mit dem Ziel des Aufbaus einer konfliktbefreiten homogenen Gesellschaftsform interpretierten, dann liegt in diesen beiden Alternativen ein guter Grund dafür, dass Lefort mit seiner Abkehr sowohl vom orthodoxen Marxismus, als auch von einem rein ökonomischen Liberalismus zugleich Rousseaus politische Theorie ablehnte. Und Della Volpe sprach für eine großen Teil des marxistischen Diskurses, wenn er den Marxismus-Leninismus als die Fortentwicklung des „echt Rousseauschen Geistes der Demokratie“265 interpretierte. Zudem verteidigte er das zum XX. Parteitag der KPdSU vorgelegte Programm der „Entwicklungswege für den Übergang zur kommunistischen 263 Kelsen, Hans: General Theory of Law and State. Cambridge 1946. S. 292. 264 Della Volpe, Galvano: Rousseau und Marx. S. 69f. 265 Ders. S. 74.

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Gesellschaft in den nächsten zwanzig Jahren“ und die mit diesem angestrebte Verwirklichung der kommunistischen Gesellschaftsform vehement gegen den Vorwurf des Totalitarismus. „Nur der blindeste Klassendünkel“ vermöge es zu rechtfertigen, hinsichtlich des sozialistischen Staates von Totalitarismus zu sprechen. Die sowjetische Gegenwart sei jedoch seit dem Parteitag mit der Vergangenheit der Diktatur des Proletariats schlicht nicht mehr vergleichbar.266 Leforts Perspektive auf die Ereignisse rund um den XX. Parteitag waren dem diametral entgegengesetzt. Besonders dieser Parteitag war ihm Anlass und Gelegenheit, die totalitären Tendenzen und Konsequenzen der Herrschaft der Kommunistischen Partei und der Gesellschaftsform der Sowjetunion aufzuzeigen. Letztlich war es daher wohl vor allem die marxistische Assoziation Rousseaus mit einer bestimmten Vorstellung „radikaler Demokratie“, wie Lefort sie strikt ablehnte, welche ihm die Aufnahme der marxistischen Tradition der Rousseau-Interpretation verunmöglichte. So gab Della Volpe etwa unumwunden zu, dass die „politischen Hilfsmittel“ zur Erreichung der „tatsächlichen sozialen Gleichheit (…) selbstverständlich weit über den Rahmen des Liberalismus, d.h. der parlamentarischen oder bürgerlichen Demokratie“ hinausgehen und nannte als das Ziel des Contrat Social die Errichtung einer „radikalen Demokratie, in der (…) die Macht des Volkes mit der Freiheit des Volkes koinzidieren soll“267. Und schließlich wurde ja Marx selbst insofern als radikaler Demokrat bezeichnet, als er die Athenische Form der Demokratie bewunderte, Hegels Bewertung der Französischen Revolution als „Sonnenaufgang der Vernunft“ begrüßte und den Feudalismus für dessen soziale, politische und moralische Folgen, die Verelendung der Landbevölkerung und das Fehlen wahrer Bürgerschaft, politischer Partizipation und gegenseitiger Anerkennung geißelte.268 Wenn man folglich mit Marx die „wahre Demokratie“ insofern als „radikal“ versteht, dass in dieser der politische Staat untergeht und Rousseau als Ahnherren einer so verstandenen Demokratie der Identität von Regierenden und Regierten versteht, dann wird

266 Ders. S. 142ff, FN 58. 267 Ders. S. 124. Hervorhebung von mir. 268 Gilbert, Alan: Political Philosophy: Marx and Radical Democracy. In: Carver, Terrell (Hrsg.). The Cambridge Companion to Marx. Cambridge 1991. S. 168 195, hier S. 174f.

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klar, warum Lefort diesen Weg nicht mitgehen konnte und Rousseau aus seinen Überlegungen ausblendete.269 Zwischenergebnisse Wie gezeigt, teilen sich die Rousseau-Interpreten bis heute in ebenso dominante wie unversöhnliche Lager auf, von denen das eine die totalitären Tendenzen in Rousseaus Werk freilegen will, während das andere in Rousseau einen klassischen liberalen Apologeten der modernen Idee individueller Freiheit und Demokratie erkennen mag. Beide Seiten haben in ihrer oft gegenseitigen Bezugnahme zwar so starke Argumente, dass eine einseitige Auflösung zugunsten der „Liberalen“ oder „Totalitären“ bisher nicht möglich war, jedoch weisen die Interpretationen in beiden Strängen im Einzelnen wiederum blinde Flecken und Einseitigkeiten auf, welche den Versuch eines „dritten Weges“ der Interpretation nahe legen oder wünschbar machen. Versteifen sich die Vertreter der „totalitären“ Lesart vor dem geteilten Hintergrund einer Rousseau unterstellten Sehnsucht nach gesellschaftlicher Homogenität und vormoderner sozialer Transparenz auf eine teilweise sehr selektive Lektüre umstrittener Textstellen, wie etwa den „Zwang zur Freiheit“, die „aliénation totale“, die „Zivilreligion“, den „Verfassungsgeber“ und die „volonté générale“, wird demgegenüber die „liberale“ Lesart mit ihrer „neukantianischen“270 Fokussierung auf die Begründung demokratischer Verfahren in universalen Rechts- und Vernunftsprinzipien den wirklich demokratischen Implikationen der politischen Theorie Rousseaus nicht gerecht. Vorliegende Arbeit sieht in der Demokratie-und Totalitarismus-Theorie Claude Leforts daher die Möglichkeit einer alternativen Rousseau-Interpretation angelegt. Einem so starken und zugleich so paradox anmutenden Vorwurf wie dem, Vordenker einer „totalitären Demokratie“ zu sein, nähert man sich vielleicht am besten mit einer Theorie, welche Totalitarismus und Demokratie zusammen denkt. Claude Lefort verstand beide Phä-

269 Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts. In: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 1, Berlin 1976. S. 203 - 233, hier S. 232. 270 Heil, Reinhard/ Hetzel, Andreas/ Hommrich, Dirk (Hrsg.): Unbedingte Demokratie. Fragen an die Klassiker neuzeitlichen politischen Denkens. Baden-Baden 2011. S. 8.

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nomene in ihrer spezifisch „modernen“ Ausprägung als derselben historischen Wurzel entsprungen: der „demokratischen Revolution“. Was Leforts Ansatz gegenüber herrschaftstrukturellen und genealogischen Ansätzen der Totalitarismus-Forschung für vorliegende Arbeit auszeichnet, ist dabei vor allem dessen explizite systematische Abgrenzung sowohl von einem modernen liberalen Verständnis von Demokratie auf der einen, als auch von den totalitären Tendenzen (vor allem orthodoxer marxistischer) Theorien auf der anderen Seite.271 So scheint Leforts Demokratietheorie von vorneherein den „dritten Weg“ zwischen den oben nachgezeichneten Rousseau-Interpretationssträngen zu weisen und erfüllt zugleich die Kriterien der Zurückweisung aller Behauptungen vorpolitischer Freiheiten bei gleichzeitiger Ablehnung vormoderner Einheitsvorstellungen. Lässt sich also, so die Hoffnung, der Gordische Knoten der Rousseau-Interpretation mit Hilfe der Demokratietheorie Leforts wenn schon nicht lösen, so doch zumindest ein Stück weit lockern, um Rousseaus politische Theorie somit an aktuelle Diskurse anzuknüpfen? Aus der anhand der herausgearbeiteten diskursiven Verbindungen gestärkten Überzeugung heraus, dass es sich so verhält, sollen im folgenden systematische Notwendigkeiten einer Anbindung Rousseaus an den Diskurs der radikalen Demokratie freigelegt werden. Dass Lefort Rousseau innerhalb der Diskussion des Totalitarismus, des Liberalismus und des Marxismus übersehen hat, ist kaum anzunehmen, vieles spricht für ein bewusstes Übergehen, was wiederum darauf schließen lässt, dass Lefort ein ganz bestimmtes und hegemoniales Bild einer Rousseau-Interpretation übernommen hat, welches ihm eine weitere Beschäftigung nicht nötig oder gar unmöglich erscheinen ließ. Dies führte dazu, dass Rousseaus politischer Theorie der Durchgang durch die „Passage Lefort“ und damit der Anschluss an den postmarxistischen Diskurs der radikalen Demokratie verwehrt wurde. Daher soll im folgenden Abschnitt der diskursive Zusammenhang Leforts und Rousseaus vermittelt über die verschiedenen demokratietheoretischen Diskurse und ihrer unterschiedlichen Perspektiven auf Rousseau genauer untersucht werden und dabei zugleich der Übergang von einer diskursiven auf eine eher systematische Untersuchung beider Theorien und der Verbindung des Denkens Rousseaus, Leforts und der postmarxistischen radikalen Demokratie eingeleitet werden.

271 Vgl.: Lefort, Claude: Die Frage der Demokratie. In: Rödel, Ulrich (Hrsg.). Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. S. 281 - 297.

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II. 4. Demokratie - ein umkämpfter Begriff Wenn alle wichtigen Begriffe der Politischen Theorie umkämpfte Begriffe,272 sie also prinzipiell bedeutungsoffen und somit potentiell Träger von Urteilen, Hoffnungen und Abneigungen sind,273 und wenn umgekehrt die Dauer und Intensität der Auseinandersetzung um einen Begriff als Gradmesser für dessen Bedeutung herangezogen werden kann, dann rangiert der Begriff der Demokratie von jeher auf einem Spitzenplatz. So machte die Demokratie, zusammengesetzt aus den Wortteilen demos (Volk) und kratein (herrschen),274 seit Beginn ihrer systematischen Ausformulierung zu Zeiten der „Entstehung des Politischen bei den Griechen“275 eine wechselhafte Entwicklung durch: von dem negativ besetzten, zur Denunziation politischer Gegner benutzten Verständnis der „Pöbelherrschaft“ in der Antike, durch eine Phase ihrer exemplarisch an den Schriften Spinozas und Rousseaus abzulesenden „Positivierung“ und - seit Tocquevilles Abhandlung über die Demokratie in Amerika - „Futurisierung“ hindurch zu ihrer „Komplettierung“ in der frühen Neuzeit.276 Am Ende dieser Entwicklung steht das heute dominante, wenngleich bei weitem nicht unangefochtene Verständnis von Demokratie als einem rationalen, eher am „Output“ wirtschaftlichen Wohlstands, Friedens und Sicherheit, denn am „Input“, also der Partizipation der Bürgerinnen orientierten quasi-technischen Steuerungssystem. Entsprechend dient die Demokratie im weithin geteilten Verständnis der Aggregation partikularer privater Interessen und deren möglicher Umsetzung. Zudem wird ihr die Aufgabe der Sicherung privater Schutzräume zugeschrieben, welche die dem Menschen qua seiner Natur zustehenden individuellen Freiheitsrechte gegen den Zugriff von Staat und Gemeinschaft absichern sollen. Mit der Vorherrschaft „neukantianischer

272 Göhler, Gerhard/ Iser, Matthias/ Kerner, Ina (Hrsg.): Politische Theorie. 25 umkämpfte Begriffe zur Einführung. 2. Auflage, Wiesbaden 2012. 273 Buchstein, Hubertus: Demokratietheorie in der Kontroverse. Baden-Baden 2009. S. 16. 274 Siehe Ober, Joshua: The Original Meaning of Democracy. Capacity to do things, not Majority Rule. In: Constellations 15, 2008. S. 3 - 9. 275 Meier, Christian: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt am Main 1980. 276 Buchstein, Hubertus: Demokratietheorie in der Kontroverse. S. 20 ff. Ders./ Jörke, Dirk: Das Unbehagen an der Demokratietheorie. In: Leviathan, 31, Heft 4, 2003. S. 470 - 495.

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Ansätze“277 innerhalb der modernen Demokratietheorien und deren Paradigma der Begründung und Absicherung von Gesellschaften in transzendentalen Vernunft- und Rechtsprinzipien lässt sich das heute vorherrschende Verständnis von Demokratie somit als ein Institutionensystem beschreiben, in dem einem Volk, dessen Angehörige vertikal durch Anrufung seitens des Staates bestimmt werden, Macht oder Teilhabe an dieser Macht zukommt, meistens in Form der periodischen Auswahl einer es auf Zeit repräsentierenden politischen Elite. Diese Elite übt ihre temporäre Herrschaft „im Namen des Volkes“ aus und sichert diesem idealtypisch die Durchsetzung der vielfältigen partikularen Interessen seiner Mitglieder zu. So soll die Achtung der natürlichen individuellen Rechte und Interessen jeder Bürgerin, verstanden als tendenziell besitzmaximierender rationaler homo oeconomicus, gewährleistet werden. Dabei argumentieren diese „liberalen“ Demokratietheorien sowohl empirisch, als auch normativ,278 ihr klassisches Argumentationsmodell ist das des Gesellschaftsvertrags.279 Nun ist aber keines der genannten Merkmale exklusiv für Demokratien reserviert. So ist es etwa auch autoritären Regimen möglich, sich widerspruchsfrei auf die Orientierung an den vernünftigen individuellen Interessen ihrer Bürgerinnen zu berufen. Auch totalitäre Staaten können zudem „das Volk“ als Träger der politischen Macht behaupten und transzendentale Rechtsprinzipien kannten fundamental-religiöse Gemeinschaften schon lange vor der europäischen Aufklärung. Schließlich kann sogar das demokratische Prinzip par excellence, die „Herrschaft des Volkes“, prinzipiell erst einmal alles und nichts bedeuten. Auf der anderen Seite geht die mögliche Bandbreite an Demokratieverständnissen weit über das aktuell dominante Bild der Demokratie hinaus, welches ja nur eines von vielen historisch möglichen und damit kontingenten Modellen ist. So befinden wir uns aktuell in der ebenso historisch einmaligen wie unbefriedigenden Situation, dass der Demokratie zwar eine nie dagewesenen weltweite Popularität zukommt, sie gleichzeitig aber „nie zuvor konzeptuell vager bezie-

277 Heil, Reinhard/ Hetzel, Andreas/ Hommrich, Dirk (Hrsg.): Unbedingte Demokratie. S. 8. 278 Schaal, Gary S./ Heydenreich, Felix: Einführung in die Politischen Theorien der Moderne. Opladen 2009. S. 47ff. 279 Vgl. Kersting, Wolfgang. Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt 1994.

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hungsweise substanzärmer gewesen (ist)“280. So müssen sich laut Charles Taylor heute „alle Regierungsformen als Demokratien legitimieren. Auch die kommunistischen Regime beanspruchten, eine radikalere Demokratie zu besitzen als die bürgerlichen Gesellschaften. Und wo es heute noch autoritäre Regime gibt, behaupten sie, die Gesellschaft zur Demokratie zurückzuführen, sobald sie dazu „bereit“ sei. Kurz, es ist heute einzig die Demokratie, die politische Legitimität liefert“281. Ganz ähnlich formulierte es auch Claude Lefort, der mit dem Zerfall der Sowjetunion das weltweite Wiedererwachen demokratischer Hoffnungen in den ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion sowie in den lateinamerikanischen technokratischen Militärdiktaturen beobachtete. Allen Ortens vernehme man das Schlagwort der „democratic transitions“, was insofern kein bloßer Zufall sei, da die marxistische Ideologie als Motor der lateinamerikanischen Oppositionsbewegungen ausgedient habe, so dass allein der Kampf für Menschenrechte sich als das einzig geeignete Mittel gegen Diktatur und Totalitarismus erweise.282 Paradoxerweise habe diese Renaissance der Demokratie aber die Gemüter in den westlichen Demokratien kaum erregt. Dort gäben sich zwar mittlerweile von Le Pen bis Marchais Politiker aller Couleur als Demokratinnen aus, jedoch sei das so beliebig und unbestimmt, dass damit letztlich gar nichts mehr gesagt werde.283 So scheint eine letztgültige Festlegung nicht möglich, lässt sich die Demokratie doch als ein Institutionensystem, als Lebensform, als eine bestimmte Regierungstechnik, als Verfassung eines Gemeinwesens, als Art der Entscheidungsfindung, als abstraktes Ideal oder als erreichbares Ziel verstehen. Demokratie ist somit ein „relative term”,284 was bedeutet, dass der Begriff in einem sehr weiten und heterogenen Feld an Vorstellungen, Interessen, Philosophien und politischen Programmen benutzt und umkämpft wird. Dies erklärt dann auch die Vielzahl an verschiedenen Kon-

280 Brown, Wendy. Wir sind jetzt alle Demokraten. In: Agamben, Giorgio (Hrsg.). Demokratie? Eine Debatte. Berlin 2012. S. 55. 281 Taylor, Charles: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? In: Ders.: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie. Frankfurt am Main 2001. S. 11 - 29, hier S. 11. 282 Zum Zusammenhang von Menschenrechten und Demokratie siehe das Kapitel in vorliegender Arbeit. 283 Lefort, Claude: Reflections on the present. S. 261. 284 Trend, David: Democracy´s Crisis of Meaning. In: Ders. (Hrsg.), Radical Democracy: Identity, Citizenship and the State. New York 1996. S. 7 - 18, hier S. 7.

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zeptionen direkter, assoziativer, repräsentativer oder eben radikaler Demokratie, die sich mitunter ergänzen, mitunter aber auch widersprechen. So kann zunächst festgehalten werden, dass das aktuell dominante Verständnis von Demokratie nur eine von vielen potentiellen Möglichkeiten einer konkreten Interpretation von Demokratie als „Herrschaft“ eines „Volkes“ ist, die sich zwar als aktueller Sieger im historischen Kampf um die Deutungshoheit legitimer Herrschaftsformen fühlen darf, dies jedoch nicht für alle Zeit sein muss und es wohl auch nicht bleiben wird. Dies liegt nicht zuletzt an jener begrifflichen Ungenauigkeit der beiden sie konstituierenden Wortteile. Dass demos ein Volk bezeichnet, welches herrschen soll, klingt heutzutage so vertraut, dass kaum jemand dies noch hinterfragt. Was aber genau ist das Volk, wer gehört dazu und wer nicht? So konkurrieren zum Beispiel immer schon zwei Verständnisse von „Volk“ miteinander, einmal das Volk als Gesamtheit der Bevölkerung und dann als Pöbel oder als Gegenpart zur herrschenden Elite einer Gemeinschaft.285 Auf die also nur scheinbar harmlose Frage nach dem zentralen Akteur der Demokratie folgt sofort eine ganze Reihe an Anschlussfragen, wie die nach den Kriterien der Entscheidung über die Zugehörigkeit, den damit verbundenen Exklusionseffekten, den Rechten aber auch den Pflichten der Individuen gegenüber der Gemeinschaft oder der angemessenen institutionellen Ausgestaltung des politischen Gemeinwesens im Sinne der Gewährleistung der Versprechen der Freiheit, Gleichheit und der Sicherheit der Bürgerinnen, wobei sich daran wiederum sofort die Frage nach der genauen Bedeutung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit anschließt und so weiter. Unter „herrschen“ versteht man wiederum ganz allgemein, dass das Volk auf irgendeine Art und Weise an den Entscheidungen, die es betreffen, beteiligt sein, es also an kollektiv verbindlichen Entscheidungen „partizipieren“ soll. Nun besteht aber überhaupt keine Einigkeit darüber, was Partizipation genau bedeutet, wer auf welche Art und Weise woran genau teilhaben soll. Auch (oder gerade) die Politikwissenschaft vermag dabei keine letzte Abhilfe zu verschaffen. Entsprechend der hier ja nur ganz grob skizzierten Merkmale und Fragekomplexe ist die Zahl der theoretischen Zugänge zum Phänomen der Demokratie verständlicherweise Legion, zumal was die so genannte „moderne“ Demokratie seit ihrer historischen Geburtsstunde in der Amerikanischen und der Französischen Revolution anbelangt. So ste-

285 Buchstein, Hubertus: Demokratietheorie in der Kontroverse. S. 11.

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hen etwa ideengeschichtlich orientierte Ansätze einer diachronen Nachzeichnung der Entwicklungsphasen der Demokratie neben systematisch modellierenden, der synchronen Vergleichbarkeit verpflichteten Annäherungen, zu denen sich in jüngerer Zeit vermittelnde Positionen zugleich diachroner und synchroner diskursiver Betrachtungen ebenso gesellen, wie Versuche einer Einteilung nach Kategorien wie „empirisch“, „formal“ und „normativ“, um nur einige Beispiele zu nennen.286 Einigkeit besteht in der Forschung jenseits aller Diversität wohl nur darüber, dass die Demokratie in ihrer aktuell dominanten liberal-repräsentativen Erscheinungsform nicht das „Ende der Geschichte“287 darstellt. Sah es nach dem Zusammenbruch des Systemgegensatzes zwischen dem „real-nicht-existierenden Sozialismus“288 und den westlichen Demokratien noch einige Zeit lang so aus, als wäre die liberal-repräsentative Demokratie der Last Man Standing eines historischen letzten Gefechts um jenes viel zitierte Ende der Geschichte, sieht sie sich heute mehr und mehr eines nicht zuletzt auch dem Wegfall ihres konstitutiven Gegners geschuldeten innerperspektivischen Legitimationsdruck ausgesetzt. Manche sehen die Demokratie seither gar stärker unter Beschuss, als jemals zuvor in ihrer wechselhaften und krisenreichen Geschichte.289 Die liberale Demokratie, so eine Überzeugung, die sich inner- wie außerakademisch aktuell Bahn bricht, lässt sich Taylor zum Trotz - seit dem Ende des Kalten Krieges anscheinend doch nicht mehr so einfach aus sich selbst heraus, qua ihrer bloßen (und sei es nur begrifflichen) hegemonialen Stellung legitimieren. So wird zum Beispiel Kritik daran immer lauter, dass sich die liberale Demokratie sowohl aus Angst vor ihren Gegnern, wie auch davor, an ihr Versprechen der Volkssouveränität erinnert und auf dieses verpflichtet zu werden, immer mehr auf einen sehr defensiven Standpunkt zurückzieht, von dem aus sie sich nicht nur mit dem Anspruch begnügt, die individuellen „negativen

286 Saage, Richard: Demokratietheorien. Historischer Prozess, theoretische Entwicklung, soziotechnische Bedingungen. Eine Einführung. Wiesbaden 2005. Schmitt, Manfred G.: Demokratietheorien. Eine Einführung. Wiesbaden 2010. Llanque, Marcus: Politische Ideengeschichte. A.a.O. Buchstein, Hubertus/ Pohl, Kerstin: Moderne Demokratietheorien. In: Massing, Peter (Hrsg.). Ideengeschichtliche Grundlagen der Demokratie. Schwalbach 1999. S. 70 - 92. 287 Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992. 288 Bensaïd, Daniel: Der permanente Skandal. In: Agamben, Giorgio (Hrsg.). Demokratie? S. 23 - 54, hier S. 24. 289 Zum Beispiel Rancière, Jacques: Der Hass der Demokratie. Berlin 2011.

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Freiheiten“290 und Rechte sowie den ökonomischen Wohlstand ihrer Bürgerinnen zu schützen, sondern dies geradezu als ihre einzig legitime Aufgabe in modernen Gesellschaften ausruft, um so jede Forderung nach „mehr Demokratie“ oder einer „Demokratisierung der Demokratie“ abzuwehren.291 Gegenüber der Dominanz des liberalen Paradigmas hatten es normative Demokratietheorien in den letzten Jahren zugegeben eher schwer, mussten sie ihre Normen doch entweder auf ein realistisches Minimum herunterschrauben und sich so selbst untreu werden, oder aber sie beharrten auf ihren Standpunkten und wurden als utopisch, anachronistisch oder gemeingefährlich abgestempelt.292 Wo sich aber in Folge der Dominanz eines solchen Verständnisses die Bürgerinnen aus Politik und Öffentlichkeit in ein privates Konsumentendasein zurückzogen, wo das demokratische Prinzip der Volkssouveränität einer an ökonomischen Ergebnissen orientierten Steuerungspolitik geopfert wurde, dort entstand Raum für die Dominanz staatlicher und wirtschaftlicher Eliten und ihrer an Effizienz, Rationalität und der Akkumulation von Kapital orientierten politischen Logik. Claude Lefort bezeichnete in diesem Zusammenhang die „planetarische Expansion“ eines Marktes, der sich als selbst-regulierend ausgibt, als größte Herausforderung für moderne Demokratien.293 Phänomene wie diese werden aktuell unter dem Schlagwort der „Postdemokratie“294 diskutiert. Wo Partizipation und Volkssouveränität im öffentlichen Diskurs bis vor kurzem noch vor dem Hintergrund aktueller globaler Krisenphänomene und angesichts der wirtschaftlichen Erfolge ver-

290 Berlin, Isaiah: Zwei Freiheitsbegriffe. A.a.O. 291 Shklar, Judith: The Liberalism of Fear. In: Rosenblum, Nancy L. (Hrsg.). Liberalism and the Moral Life. Cambridge/ London 1989. S. 21 - 38. Deutsch: Der Liberalismus der Furcht. Berlin 2013. 292 Buchstein, Hubertus/ Jörke, Dirk: Das Unbehagen an der Demokratietheorie. A.a.O. 293 Plot, Martin: Lefort and the Question of Democracy - in America. In: Constellations, Heft 1, März 2012. S. 51 - 62, hier S. 61. 294 Rancière, Jacques: Demokratie und Postdemokratie. In: Badiou, Alain, Rancière, Jacques (Hrsg.). Politik der Wahrheit. Wien 1997. S. 119 - 156. Ders.: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt am Main 2002. Crouch, Colin: Postdemokratie. Frankfurt am Main 2008. Jörke, Dirk: Auf dem Weg zur Postdemokratie. In: Leviathan 33, Heft 4, 2005. S. 482 - 491.Ders.: Warum Postdemokratie? In: Forschungsjournal Neue soziale Bewegungen 19, Heft 4, 2006. S. 38 46. Ders.: Was kommt nach der Postdemokratie? In: Die Erosion der Demokratie. Vorgänge 190, Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 49. Jahrgang, Heft 2. Berlin 2010. S. 17 - 25.

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meintlich überlegener Autokratien erfolgreich als ineffiziente Störfaktoren dargestellt und infolgedessen zugunsten der Orientierung an effizienten Problemlösungsmechanismen verworfen wurden, macht sich momentan ein Bewusstsein dafür breit, dass dort, wo Demokratien nur an ihrem wirtschaftlichen Output gemessen, sie gleichzeitig durch ökonomische Entwicklungen delegitimiert werden und immer mehr an Einflussmöglichkeiten verlieren, verspielen oder bewusst hergeben, sie von innen wie von außen akut gefährdet sind.295 In diesem Kontext ist es für die Fragestellung vorliegender Arbeit mehr als erhellend, die politischen Theorien Rousseaus und Leforts in die Gemengelage an diskursiven und systematischen Verbindungen innerhalb des weiten Feldes der Demokratietheorien einzuordnen, um so deren Gehalt gerade mit Blick auf die Bedingung der Möglichkeit von Re-Aktualisierungen und Anschlussmöglichkeiten an gegenwärtige gesellschaftspolitische Herausforderungen zu leisten, die ja nie rein akademische und damit in einem verkürzten Verständnis theoretische Probleme darstellen. II. 5. Die partizipatorische radikale Demokratie Wie alle politischen Begriffe ist selbstverständlich auch derjenige der „radikalen“ Demokratie umkämpft und einem permanenten Bedeutungswandel unterworfen. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs wird er vor allem im Zusammenhang mit einer Kritik an den westlichen liberal-demokratischen Regierungssystemen verwendet und transportiert als solcher die Forderungen nach „mehr Demokratie“ oder einer „Demokratisierung der Demokratie“,296 was allein noch nicht viel über seine konkrete inhaltliche Ausgestaltung aussagt. Mit Blick auf Rousseau ist der Gebrauch des Begriffs der „radikalen Demokratie“ in diesem diskursiven Kontext insofern aufschlussreich, als dessen politische Theorie der Volkssouveränität und der volonté générale geradezu als paradigmatisch für „Radikalisierungen“,

295 Brodocz, André/ Llanque, Marcus/ Schaal, Gary S.: Demokratie im Angesicht ihrer Bedrohungen. In: Dies. (Hrsg.). Bedrohungen der Demokratie. Wiesbaden 2008. S. 11 - 26, hier S. 12 ff. 296 MacPherson, Crawford B.: The Life and Times of Liberal Democracy. Oxford 1977. Offe, Claus (Hrsg.): An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. Opladen 1984. Ders. (Hrsg.): Demokratisierung der Demokratie. Diagnosen und Reformvorschläge. Frankfurt am Main/ New York 2003.

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Kritiken an bestehenden liberalen Demokratien und den sie stützenden Theorien in der Tradition Montesquieus oder Lockes gilt. Dieser sich innerhalb des Diskurses explizit von der Tradition Rousseaus abgrenzende ideengeschichtliche Strang, der seinen Widerhall in den Verfassungsdiskussionen des 18. und 19. Jahrhunderts findet, bestimmt bis heute das gemeinhin geteilte dominante Verständnis von Demokratie. Die in dessen Tradition stehenden Überlegungen der Federalist Papers zu einem Systems der checks and balances lassen sich daher zum Beispiel auch als Reaktion auf die Angst vor einer „reinen“ oder „radikalen“ Demokratie im Sinne Rousseaus lesen.297 In diesem Verständnis Rousseausche Forderungen nach einer radikalen Demokratie und deren versuchte Umsetzungen, so der Umkehrschluss, führten über die Jakobinische Terrorherrschaft eines „sich austobenden Rousseaus“298 bis hin zu den totalitären Herrschaftsformen des zwanzigsten Jahrhunderts. Einer solchen Perspektive gilt Rousseau also geradezu als radikaldemokratischer Denker par excellence, der diese Ansätze umfassende Diskurs soll hier daher zum Zweck der Abgrenzung von der gegenwärtigen postmarxistischen radikalen Demokratie im Anschluss an Lefort als „partizipatorische“ radikale Demokratie bezeichnet werden. Rousseau wird in diesem Diskurs als herausragender Kritiker des repräsentativen Regierungssystems und als Befürworter einer direkten oder partizipatorischen Demokratie auf Basis des Prinzips uneingeschränkter Volkssouveränität diskutiert, was je nach Perspektive dann gutgeheißen oder verteufelt wird.299 Zu diesem Diskurs gehören ebenso eher linke Ansätze, wie exemplarisch diejenigen Patemans und Barbers, welche Rousseau gegenüber wohlwollend eingestellt sind, als mit Ernst Fraenkel und Carl Schmitt auch konservative bis rechte Denker diese Lesart Rousseaus teilen, wenngleich natürlich unter umgekehrten politischen Vorzeichen.

297 Madison, James: 10. Artikel (1787). In: Hamilton, Alexander et al. Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter. Herausgegeben von Angela Adams und Willi Adams. Paderborn 1994. S. 50 - 58, hier S. 54. 298 Taylor, Charles: Hegel. Frankfurt am Main 1997. S. 594. 299 So zum Beispiel klassisch von Constant, der Rousseau dem Freiheitsbegriff der „Alten“ zuordnet und den der Moderne angemessenen mit dem Repräsentationsprinzip assoziiert: Constant, Benjamin: Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen. A.a.O.

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II. 5. 1. Die prozedural-identitäre Lesart Rousseaus: Pateman und Barber Affirmative Ansätze partizipatorischer Demokratie, wie zum Beispiel jene Barbers und Patemans,300 zielen im Wesentlichen auf die zentralen Aspekte des Gemeinwohls als Ergebnis möglichst unvermittelter politischer Partizipation ab. Die Form der partizipatorischen Demokratie kann als ein Extrem auf einem Kontinuum vorgestellt werden, an dessen anderem Ende der Ausschluss des gesamten Volkes von jeglicher Beteiligung an Herrschaft und an Entscheidungsfindungen anzusiedeln wäre.301 Dieses oft auch im Alltagsverständnis als „direkte Demokratie“ bezeichnete Ideal lehnt im Extrem jede Form von Repräsentation ab, Repräsentantinnen oder Parteien als Vermittler zwischen dem Volk als Souverän und dem Volk als ausübender Gewalt werden mit Verweis auf die Gefahr der Verfälschung des Gemeinwohls zurückgewiesen. Auch wenn unterschiedliche Spielarten partizipatorischer Formen mit Blick auf die Praktikabilität diskutiert werden, welche lange nicht so rigide und unerbittlich am genannten Idealtyp festhalten, besteht das vor allem kritische Potential jedoch genau in dieser absoluten Rigidität. Der von Tocqueville auf den Begriff gebrachten Gefahr der „Tyrannei der Mehrheit“302 in modernen Demokratien wird gemäß partizipatorischer Ansätze insofern Rechnung getragen, als die Partizipation vor allem als ein Mittel der Erziehung der Bürgerinnen zu Tugendhaftigkeit verstanden wird und diese Gefahr damit abwehren helfen soll. So komme es in dieser Hoffnung zu keinen dauerhaft dominanten Mehrheiten und damit folglich auch nicht zur strukturellen Unterdrückung von Minderheiten. Wenn sich ein Abstimmungsergebnis als ungeeignet herausstellte, könne es zudem prinzipiell jederzeit revidiert werden, so dass der Idee nach jede Mehrheit alles in allem für die Bedürfnisse der Minderheit(en) empfänglich bliebe. Gemeinhin wird dieses Demokratieideal auf die Stadtstaaten des antiken Griechenlands zurückgeführt, einen seiner vermeintlich vehementesten Verfechter findet es nach landläufiger Meinung in Jean-Jacques Rousseau.

300 Barber, Benjamin: Strong Democracy: Participatory Politics for a new Age. Berkeley 2003. Deutsch: Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen. Hamburg 1994. Pateman, Carole: Participation and Democratic Theory. Cambridge 1970. 301 Trend, David: Democracy´s Crisis of Meaning. S. 9. 302 Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika. A.a.O.

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Carole Pateman etwa behandelte Rousseau als wichtigsten Referenzautoren für ihr Konzept einer partizipatorischen Demokratie.303 Für sie zielte dessen politische Theorie darauf ab, jedem Individuum die Möglichkeit voller politischer Partizipation einzuräumen, welche zugleich legitimerweise von jeder Bürgerin eingefordert werden dürfe, da diese sich schließlich ja auch nur gegenseitig, nicht jedoch gegenüber dem Staat verpflichteten. So löse Rousseau sein Versprechen ein, wonach jeder nur sich selbst gehorche und so frei bleibe wie zuvor.304 Die partizipatorische Demokratie unterscheide sich laut Pateman von klassisch liberalen Ansätzen dadurch, dass nicht die willkürliche Umsetzung individueller Interessen auf kollektiver Ebene, sondern die Bedingung der Abgleichung individueller Interessen mit dem Gemeinwohl ermöglicht werden soll. Das probate Mittel dieser Angleichung sei die unmittelbare Teilhabe der Bürgerinnen an allen allgemeinverbindlichen Entscheidungen. In ihrer Kritik an liberalen Konzeptionen ähnelt Patemans Konzeption dem gegenwärtigen postmarxistischen radikaldemokratischen Diskurs, jedoch zog sie aus ihrer Kritik andere Schlussfolgerungen. So kritisierte sie gleich zu Beginn die aus ihrer Sicht „orthodoxe Doktrin“ dominanter Demokratietheorien, wobei sie besonders die einflussreichen Theorien Moscas, Michels und Schumpeters vor Augen hatte. Laut diesen muss man sich in modernen Gesellschaften zwischen den Alternativen der Organisation und Stabilität oder der Demokratie in ihrem traditionellen Verständnis entscheiden, da beides gleichzeitig nicht zu haben sei.305 Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen mit Weimar sowie dem Nationalsozialismus und Stalinismus wurde Partizipation in dieser Tradition prinzipiell immer eher mit der Gefahr des Totalitarismus assoziiert, weswegen das Prinzip der Stabilität jenem der Teilhabe vorzuziehen sei. Partizipatorische Demokratietheorien wurden seitens der positivistischen Sozialwissenschaften der Nachkriegsgeneration daher als unrealistisch und irrelevant, weil zu normativ motiviert zu-

303 Trotzdem war sie vor allem den nicht zu leugnenden sexistischen Implikationen seines Theoriegebäudes gegenüber kritisch eingestellt. Siehe: Pateman, Carole: The Sexual Contract. Cambridge 1988. 304 Pateman, Carole: The Problem of Political Obligation. A Critique of Liberal Theory. Berkeley 1985. S. 149ff, S. 155. 305 Mosca, Gaetano: Die herrschende Klasse. Grundlagen der politischen Wissenschaft. Bern 1950. Michels, Robert: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. Stuttgart 1989. Schumpeter, Joseph A.: Capitalism, Socialism and Democracy. London 1992.

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rückgewiesen.306 Daran kritisierte Pateman vor allem die Gleichsetzung von Faktizität und Geltung und den daraus gezogenen Kurzschluss der Wünschbarkeit wie Alternativlosigkeit bestehender demokratischer Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund wollte sie mit dem „Mythos klassischer Demokratietheorien“ aufräumen und mit Hilfe Rousseaus eine Lanze für ein partizipatorisches Demokratieverständnis brechen.307 Rousseau war für sie deshalb so wichtig, weil der Partizipation in seinem Werk weit mehr als eine bloß systemstabilisierende Bedeutung zugekommen sei. Sie habe darüber hinaus vielmehr die Aufgabe, psychologisch auf die Bürgerinnen einzuwirken, diese so zur Tugendhaftigkeit zu erziehen und so deren dauerhafte Beziehung zu den funktionierenden Institutionen zu gewährleisten. Ohne Kooperation, so Pateman, wäre jede Einzelne machtlos, mit Rousseau forderte sie daher, dass Menschen nur politischen Verhältnissen unterworfen sein sollten, die sie selber mitgestaltet haben, so dass die willkürliche Herrschaft Einzelner von vorneherein ausgeschlossen würde. Die Bürgerinnen würden dementsprechend als voneinander unabhängige Gleiche betrachtet, „not dependend on anyone else for their vote or opinion“, so dass Abstimmungen in der Versammlung immer allen gleich zum Vorteil gereichten und „all benefits and burdens are equally shared“. Die Folge einer solchen Politik sei, dass der ermittelte Gemeinwille immer und notwendigerweise gerecht sei, individuelle Rechte und Interessen gewahrt und das öffentliche Interesse vorangebracht würden.308 Partizipation beinhaltete für Pateman mit Rousseaus damit sowohl die unmittelbare Teilnahme an der kollektiven Entscheidungsfindung und -fällung, als sie darin auch das geeignete Mittel sah, um die Verwirklichung privater Interessen und zugleich eines „good government“ zu gewährleisten. Rousseaus Forderung der politischen Erziehung der Bürgerinnen dürfte nicht überbewertet werden, sondern sei dahingehend zu verstehen, dass die Individuen im Prozess der Partizipation lernten, dass sie zur Durchsetzung ihrer Interessen der Kooperation bedürften, dass also individuelles und allgemeines Interesse unlösbar zusammenhingen. Sei ein solches partizipatorisches Institutionensystem einmal etabliert, sei es daher selbsterhaltend, da es im Prozess der Partizipation die für den Erhalt nötigen Qualitäten der Individuen wecke. Rousseaus Freiheitsbegriff hänge daher unlösbar mit dem Prinzip der Partizipation zusammen, Freiheit müsse ver306 Pateman, Carole: Participation and Democratic Theory. S. 1ff. 307 Dies. S. 16f. 308 Dies. S. 23f.

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standen werden als „nur Gesetzen unterworfen zu sein, die man sich selber gegeben hat“, womit Rousseaus umstrittene Aussage des Zwangs zur Freiheit an Schrecken verlöre. Berlins und Talmons Rousseau-Kritik mit ihrer Fokussierung auf das Prinzip der „negativen Freiheit“ als der modernen Demokratie einzig angemessener Form schließe jede Konzeption „positiver Freiheit“ von vornherein aus und tue Rousseau ganz bewusst Unrecht.309 Neben genannten Funktionen erfülle das Prinzip der Partizipation zudem die Erhöhung der Akzeptanz getroffener kollektiver Entscheidungen sowie die integrative Funktion, den Bürgerinnen das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu geben, sie binde Individuum und Gesellschaft somit zu einer „true community“ zusammen.310 Benjamin Barber kritisierte die existierenden liberalen und repräsentativen Demokratien als „thin democracy“311 und stellte als der zweite Hauptvertreter der partizipatorischen Demokratie in republikanischer Tradition stehend die Selbstregierung der Bürgerinnen als an sich wertvoll in den Mittelpunkt seiner Konzeption. Gegen die dominante liberale Argumentation diente die Politik seiner Ansicht nach nicht zuerst der Verfolgung individueller Interessen, weswegen eben nur die Entscheidungsfindung aller von diesen Entscheidungen Betroffenen und nicht ein wie auch immer bewerteter Output deren Legitimität garantieren könne. Mit Rousseau lehnte er die von ihm vor allem in den USA beobachtete „juridische Demokratie“ als Unterwanderung der Volkssouveränität mittels der Institution des Verfassungsgerichtes ab. Jedoch las auch Barber Rousseau bewusst selektiv und blieb mit seiner Interpretation bei der aus Sicht der gegenwärtigen postmarxistischen Radikaldemokratinnen eher anachronistischen Forderung nach einer „direkten Demokratie“. Mit Verwies auf Rousseau kritisierte auch Barber die Existenz intermediärer Organisationen, von Interessensgruppen, Parteien und Repräsentanten als Hindernis der Selbstregierung und Hemmnis politischer Freiheit. Barbers wie Patemans partizipatorische Konzeptionen sind im Gegensatz zu den postmarxistischen radikalen Demokratiekonzepten damit als eher konfliktscheu zu bewerten, da sie letztlich auf die prozedurale und institutionelle Auflösung aller Konflikte in einem geteilten Konsens zielt.312 Den Aspekt faktischer Machtasymmetrien und ungerechter Herrschaftsverhältnisse zum Beispiel blenden beide

309 310 311 312

Dies. S. 25f. Dies. S. 27. Barber, Benjamin. Strong Democracy. A.a.O. Dahl, Robert: Democracy and its critics. New Haven 1989. S. 25.

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eher aus. Zudem gehen sie nicht nur von der grundlegenden Annahme der Möglichkeit zur Auflösung von Konflikten aus, sondern setzen zudem auf der motivationalen Ebene die geteilte Bereitschaft der Individuen dazu voraus, ohne dies plausibel machen zu können. Ebenso behaupten sie die Wirksamkeit von Institutionen letztlich schon aufgrund ihrer Existenz und Dauer als gegeben, ohne diese aber als Ergebnis und somit auch prinzipiellen Gegenstand permanenter politischer Auseinandersetzungen und Konflikte zu diskutieren. Vielmehr scheinen die Institutionen, so richtig konstruiert und gut gewartet, wie perfekt geölte Maschinen zu funktionieren, bei denen auf der Input-Seite nur maximal inklusiv verfahren werden muss, um auf der Output-Seite das Gemeinwohl zu erhalten. Die Lernfähigkeit und Lernwilligkeit der Individuen, die dann mittels der Maschine in ein demokratisches Ethos verwandelt würde, wird einfach vorausgesetzt und zeichnet diese unter der Hand als eine universelle menschliche Eigenschaft aus. Was aber überhaupt der Maßstab dieser Lernfähigkeit sein soll, wer letztlich darüber bestimmt, was genau und wie gelernt werden soll, wer festlegt, was wünschenswert und gut ist, wurde von Barber und Pateman nicht weiter diskutiert. Dass Entscheidungen aber eben Entscheidungen und damit Ergebnisse politischer und konflikthafter Auseinandersetzungen innerhalb und gegen faktische Machtasymmetrien sind, blenden beide zu stark aus. Das Prinzip der Partizipation verstanden als Teilhabe „an Etwas“, bekommt also dieses „Etwas“, die Institutionen und ihr Zustandekommen ebenso wie ihre Fehlfunktionen und damit die im modernen radikaldemokratischen Denken zentrale Dimension des Politischen nicht wirklich in den Blick. Partizipatorische Ansätze bleiben aus dieser Perspektive daher in ihrer Reproduktion bestehender Institutionen zwangsläufig eher der Ebene der Politik verhaftet und können das von modernen radikalen Positionen geforderte kritische Potential nicht voll entfalten. Die Fokussierung Patemans wie Barbers auf politische Partizipation als ein geeignetes Mittel zur Einsicht in das Gemeinwohl weist ihre Ansätze daher notwendig als tendenziell konfliktscheu aus. Wenn zudem durch einen höchstmöglich inklusiven Prozess unmittelbarer und tatsächlicher Entscheidungsbeteiligung zu einem authentischen Ausdruck des Gemeinwohls gefunden und Selbstregierung aktiv erlebt werden sollte, dann liegt dem nicht nur die Annahme zugrunde, dass die regelmäßige Teilhabe an derlei kollektiven Entscheidungsfindungen dazu beiträgt, partikulare Interessen zu Gunsten des Gemeinwohls zurückzustellen und folglich zur Ausbildung tugendhafter Bürgerinnen zu führen, sondern setzt die Existenz eines ermittelbaren Volkswillens und damit in aller Konsequenz auch eines 108

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klar zu bestimmenden Volkes als Träger dieses Willens irgendwie immer schon voraus. Das damit zumindest implizit wirkende Ideal einer möglichst homogenen Gemeinschaft rückt partizipatorische Demokratietheorien somit in die Nähe kommunitaristischer Ansätze, welche die gegenwärtigen radikalen Demokratietheorien dafür ablehnen, dass diese sehr leicht zur Schließung diskursiver und politischer Räume und damit zu autoritären Herrschaftsformen führen können.313 Die direkte Beteiligung aller Bürgerinnen am politischen Entscheidungsprozess soll zwar der Stabilisierung des Systems und der Stärkung der innergemeinschaftlichen Bindungen zugutekommen, dafür wird partizipatorischen Demokratietheorien seitens radikaler Demokratietheorien jedoch der Vorwurf gemacht, die faktischen gesellschaftlichen Verhältnisse zu übersehen und einem utopischen Ideal anzuhängen. Vor allem der Idee der Erziehung der Bürgerinnen zu Gemeinwohlorientierung und Tugendhaftigkeit in und durch Institutionen (und sei es durch eben partizipatorische Beteiligungen), für die eben vor allem Rousseau als Kronzeuge angerufen wird, stehen die Radikaldemokratinnen skeptisch gegenüber. Aus einer funktionalistischen Perspektive wird dem zusätzlich der erhebliche Zeitaufwand, welcher den Individuen abverlangt würde, als Argument entgegengehalten.314 Barber und Pateman lassen sich zwar ebenfalls einer eher „linken“ Theorietradition zurechnen, die Rousseaus politische Theorie affirmativ prozedural und eben als Mittel der politischen Erziehung und Emanzipation liest. Von dieser Lesart Rousseaus und der daraus entwickelten Perspektive auf die Demokratie distanziert sich der Diskurs der gegenwärtigen radikalen Demokratie jedoch, worin ein weiterer Grund für die Nichtbeachtung Rousseaus liegen könnte.

313 Nonhoff, Martin: Demokratisches Verfahren und politische Wahrheitsproduktion. Eine radikaldemokratische Kritik der direkten Demokratie. In: Buchstein, Hubertus (Hrsg.). Die Versprechen der Demokratie. Baden-Baden 2013, S. 313 - 332. Zur Unterscheidung republikanischer und kommunitaristischer Ansätze siehe: Dagger, Richard: Communitarianism and Republicanism. A.a.O. 314 Walzer, Michael: A Day in the Life of a Socialist Citizen. In: Ders. (Hrsg.). Obligations. Essays on Disobedience, War and Citizenship. Cambridge 1970. S. 229 240.

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II. 5. 2. Die substanzialistische Lesart Rousseaus: Fraenkel und Schmitt Ähnlich Pateman und Barber, nur eben unter negativen Vorzeichen, las auch Ernst Fraenkel Rousseau als Vertreter einer partizipatorischen bis direkten Demokratie, als welcher Rousseau in Fraenkels Texten als „negative Kraft“ stets präsent war.315 Fraenkel schloss sich in seiner Lektüre Rousseaus Talmon an, ja nahm diesen beim Wort und stimmte ihm an vielen Stellen seines Werkes explizit zu. So bezeichnete er dessen Buch als das „wichtigste theoretische Werk der anti-totalitären Literatur“316 und war sich mit Talmon darin einig, dass Rousseaus Schriften unerlässlich für das Verständnis des „Politischen Messianismus“ als Wurzel der modernen Totalitarismen seien.317 So führe eine „gerade historische Entwicklungslinie vom Terreur über die Kommune von 1871 zur Russischen Revolution, von dem ´missverstandenen Rousseau´ Robespierres über Karl Marx Bürgerkrieg in Frankreich zu Lenins Staat und Revolution“318 und von dort zum totalitären Herrschaftssystem der Sowjetunion. Für Fraenkel kommt besonders die politische Bildung daher nicht daran vorbei, „sich stets und von neuem mit dem Phänomen Rousseau auseinanderzusetzen. Sie muss eindeutig zu der vielleicht erregendsten Streitfrage der modernen politischen Theorie Stellung nehmen, ob es tatsächlich zulässig ist, JeanJacques Rousseau zu den Ahnherrn der westlichen Demokratie zu zählen, oder ob es nicht viel mehr berechtigt sei, ihn als den eigentlichen Stammvater des politischen Totalitarismus zu bezeichnen und in einigen seiner Schriften den Urquell dessen zu erblicken, was man bewusst provokant und, ohne den Vorwurf der Paradoxie zu scheuen, als ´totalitäre Demokratie´ bezeichnet hat“319. Ausgangspunkt von Fraenkels Überlegungen war die Unterscheidung des englischen und französischen Demokratieverständnisses und deren unterschiedlicher Blick auf die Rolles des Parla-

315 Söllner, Alfons: Re-reading Rousseau in the 20th Century. S. 225. 316 Fraenkel, Ernst: Staat und Einzelpersönlichkeit. In: Ders. Demokratie und Pluralismus. Gesammelte Schriften, Band 5, Baden-Baden 2007. S. 386 - 405, hier S. 388f. 317 Fraenkel, Ernst: Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie. In: Ders. Demokratie und Pluralismus. S. 256 - 280, hier S. 269. 318 Fraenkel, Ernst: Parlament und öffentliche Meinung. In: Ders. Demokratie und Pluralismus. S. 208 - 230, hier S. 215. Siehe auch: Ders.: Deutschland und die westlichen Demokratien. Baden-Baden 2011. S. 198. S. 215. S. 269. 319 Ders. S. 267.

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mentes. Wo das englische Modell das Parlament als Institution für einen Ausgleich zwischen objektiv in der Gesellschaft vorhandenen unterschiedlichen Interessen anerkannt und folglich eine heterogene Gesellschaft begrüßt habe, habe das französische Modell dagegen das Parlament als unabhängig von diesen Interessen verstanden und die Homogenität der Gesellschaft als Bedingung und Ideal angesehen. Dieses französische Modell habe für Fraenkel seine Wurzeln im Werk Rousseaus, welche über Robespierre bis hin zu Lenin und Stalin reichten. Carl Schmitt habe daher völlig zu Recht Bezug auf Rousseaus Homogenitätskonzeption genommen. Beider Konzepte kritisierte Fraenkel dahingehend, dass sie in der Praxis zu den unmenschlichen Konsequenzen des Nationalsozialismus und Stalinismus geführt haben, da alle Versuche einer Durchsetzung von Homogenität zwangsläufig „Terror, Gewalt, Tod“ bedeuteten. Schmitts „Schwanengesang“ der parlamentarischen Demokratie habe daher seine Wurzeln in Rousseaus „parlamentsfeindlichen Vorstellungen“ und seiner „Identitätslehre“ in Verbindung mit der Fiktion eines einheitlichen Gemeinwillens und der Herrschaft des Volkes.320 Schmitt und Rousseau hätten beide Homogenität als wesentliches Merkmal eines jeden Staates verstanden, welcher auf dem Prinzip radikaler Volkssouveränität aufruhe, beide betrachtet Fraenkel daher als Antipoden seines eigenen Verständnisses von Pluralismus. Individuelle Interessen dürften entsprechend niemals, wie von Rousseau und Schmitt in deren a priori Setzung des Gemeinwohls propagiert, unterdrückt werden.321 Die „Notwenigkeit der Verdrängung von Sonderinteressen durch das Gemeininteresse“ sah Fraenkel als das „Herzstück“ der Rousseauschen Staatstheorie an,322 Schmitts Überzeugung, wonach zur Demokratie notwendig Homogenität, nötigenfalls die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen gehöre, war für Fraenkel nicht weniger als „eine Herausforderung meines Gewissens“323. Fraenkel wies also die von ihm selbst Rousseau unterstellte Annahme zurück, es gäbe in modernen Gesellschaften und pluralistischen Demokratien ein „Gemeinwohl a priori“. Zwar könnte man von einem bonum communae im Sinne einer regulativen Idee sprechen, dürfte daraus aber keinesfalls ein „realis-

320 Ders.: Deutschland und die westlichen Demokratien. S. 228. 321 Brünneck, Alexander v.: Vorwort des Herausgebers zur 9. Auflage. In: Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien. Baden-Baden 2011. S. 7 29, hier S. 14ff. 322 Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien. S. 266. 323 Ders. S. 268.

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tisches Aktionsprogramm“324 ableiten, wie dies im Anschluss an den „Apostel des Anti-Pluralismus“ und „Ahnherren vulgärdemokratischen Denkens“ 325 Rousseau angeblich geschehen sei. Moderne Interessensverbände hätte Rousseau das „Faktum des Pluralismus“ missachtend als potenzierte Form von Partikularinteressen und damit als Gefahr für den Staat angesehen. Zwar habe dieser nicht die Möglichkeit des Auseinanderklaffens von Gesamt- und Gemeinwillen bestritten, da er sonst nicht von sich gegenseitig aufhebenden Sonderwünschen der Individuen gesprochen hätte. Gingen die Bürgerinnen aber erst einmal Interessenskoalitionen ein, hätte sich für Rousseau mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Gruppe gegen die andere durchsetzen und den Gemeinwillen durch ihren Partikularwillen ersetzen oder den Gemeinwillen mit ihrem Partikularwillen besetzen können.326 Dass Fraenkel an dieser Stelle keinen qualitativen Unterschied zwischen Interessensgruppen und dominanten Interessensgruppen zieht, verwundert sehr, mehr noch aber, dass er Rousseaus „Gegenrezept“ gegen eine solche Hegemonie, nämlich die auch von Madison in den Federalist Papers empfohlene Vervielfältigung von Interessensgruppen zum Zweck ihrer gegenseitigen Neutralisierung geflissentlich übersieht oder ignoriert. Besonders Fraenkels Kategorisierung Rousseaus als „radikaler Demokrat“ ist dabei aufschlussreich, meinte dies für ihn doch die Ablehnung jeglicher Form von Repräsentation, da diese die Verfälschung der demokratischen Selbstregierung bedeutete und somit laut Rousseau ein Strukturfehler und Akt der Entfremdung sei. Genau dies verbinde nämlich wiederum das Denken Lenins mit jenem Rousseaus.327 Indem die an Rousseau anschließenden Radikaldemokratinnen wie dieser das Volk als Trägerin der Souveränität und alleinige Inhaberin der Exekutivgewalt verstünden, sei die daraus abgeleitete Form der „plebiszitären Demokratie“ oder später „Rätedemokratie“ wesentlich als permanente Möglichkeit einer mit einem imperativen Mandat ausgestatteten Regierung verstanden worden. Dies führte dann sehr einfach, wie am Beispiel der Sowjetunion zu sehen, in eine Parteidiktatur und zwar ab dem Moment, an dem innerhalb des Rätesystems eine Gruppe für sich erfolgreich behaupten konnte, den Volkswillen zu re-

324 325 326 327

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Ders. S. 142. Ders. S. 264. Ders. S. 266. Ders. S. 106.

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präsentieren.328 Sobald diese Gruppe sich dazu berufen gefühlt und die Möglichkeit ergriffen hatte, den „wahren“ Gemeinwillen gegen die irrende Mehrheit durchzusetzen, sei die „radikale Demokratie“ in die „totale Diktatur“ oder „Erziehungsdiktatur“329 umgeschlagen, was das Beispiel der Jakobinerherrschaft ebenso gut belege, wie eben später die Herrschaftssysteme des Leninismus und Stalinismus.330 In diesem Sinne müsste Rousseau unbedingt als Wegbereiter der Französischen Revolution verstanden werden, nur eben nicht der von 1789 sondern jener von 1792.331 Vorbild der jakobinischen Erziehungsdiktatur in Rousseaus Werk, hier lehnte sich Fraenkel wieder eng an Talmon an, sei der „von keinerlei intermediärer Gewalt eingeschränkte“ Gesetzgeber, dem die Aufgabe der „Entmenschlichung“ des Menschen zukomme. Mit Bezug auf Franz Neumann ging Fraenkel dabei sogar so weit, eine mehr als zweifelhafte Linie von Sparta als „Modell des SS-Staats“ über Rousseau hin zum Auschwitz-Prozess über die Verbrechen der Entmenschlichung auf Basis einer „zweifelhaften politischen Anthropologie“ zu ziehen.332 Die vermutete Verbindung zwischen dem marxistischen Denken und dem Denken Rousseaus und damit zu der von Talmon als „linker Totalitarismus“ klassifizierten Denkströmung unterstrich Fraenkel durch die Behauptung, dass Rousseau den Parlamentarismus deswegen abgelehnt habe, weil er im Parlament das „Herrschaftsinstrument einer politischen Klasse“ gesehen habe.333 Ein Zitat Trotzkis bemühend definierte Fraenkel sein Verständnis des Neo-Pluralismus in Abgrenzung zu Rousseau als einen Kampf nicht gegen den Schatten Ludwigs XIV., dessen Identifikation mit dem Staat fast schon liberal geklungen habe (L'État, c'est moi), sondern vielmehr gegen den Schatten Stalins, der guten Grundes von sich behaupten konnte: „Ich bin die Gesellschaft“.334 Fraenkels Urteil über die radikale Demokratietheorie

328 329 330 331 332 333 334

Ders. S. 120. Ders. S. 168. Ders. S. 214f. Ders. S. 277. Ders. S. 276. Ders. S. 210. Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien. S. 278. Das sich interessanterweise auch bei Lefort an zentraler Stelle findet. Lefort, Claude: La logique totalitaire. S. 88. Lefort zitierte diese Stelle, um auf das Verdienst Trotzkis aufmerksam zu machen, den Gegensatz von Totalitarismus und Absolutismus deutlich gemacht zu haben. Ohne die Analogien überbetonen zu wollen, sei hier noch erwähnt, dass Fraenkel und Lefort eine weitere Stelle der Kritik Trotzkis an

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Rousseaus fiel daher unzweideutig aus, für ihn war sie der Vorläufer der Totalitären Demokratie,335 die er aufs Schärfste verurteilte und ablehnte. Carl Schmitt rezipierte Rousseau in jenen Schriften, die zu maßgeblichen Referenzen des gegenwärtigen radikaldemokratischen Diskurses wurden,336 als zentralen Autor und Stichwortgeber für seine Kritik am Liberalismus. Er interpretierte Rousseau in gewisser Weise wie Fraenkel auch als essentialistisch und insofern radikalen Demokraten, als er ihn als Apologeten eines Demokratieverständnisses las, dessen Wesensmerkmal die „(…) Identität von Herrschern und Beherrschten, Regierenden und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden“ sei.337 Für Carl Schmitt war Rousseau der „literarische Vater der neueren Demokratie“, mit Bezug auf dessen Werk er die „liberale Gleichheit“ als „begrifflich und praktisch nichtssagende (…) Gleichheit der Menschen“338 abkanzelte: „Zur Demokratie gehört (…) erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen (…). Immer ist die Gleichheit nur so lange politisch interessant und wertvoll, als sie eine Substanz hat und deswegen wenigstens die Möglichkeit und das Risiko einer Ungleichheit besteht“339. Schmitt wollte aus Rousseaus Werk herausgelesen haben, dass dieser eine substantielle Gleichheit als unbedingt nötige Grundlage demokratischer Gesellschaften verstand, die als Unterscheidungsmerkmal zur Ausgrenzung des Heterogenen herangezogen werden könne und müsse. Die vor allem von Marxisten kritisierte materielle Ungleichheit sei dabei nur ein Spezialfall, viel bedeutender seien religiöse oder patriotische Überzeugungen und die daraus ableitbare „Gleichheit von Freund und Feind“340. Im Gegenteil verstand Schmitt mit Bezug auf Rousseau alle Bemühungen um eine Herstellung sozialer Gleichheit als Gefährdung der Demokratie, da eine aus diesem Anspruch resultierende

335 336 337 338 339 340

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Lenin teilten, in der es wie folgt hieß: „das Proletariat substituiert sich für das Volk, die Partei für das Proletariat, das Zentralkomitee für die Partei und schließlich der Diktator für das Zentralkomitee“ (aus Trotzki, Leo: Unsere politischen Aufgaben. Genf 1904). Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien. S. 288. Mouffe, Chantal: The Democratic Paradox, London/ New York 2000. Dies. (Hrsg.): The Challenge of Carl Schmitt, London/ New York 1999. Schmitt, Carl: Verfassungslehre. Berlin 1993. S. 234 ff. Ders.: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. Berlin 1991. S. 17. Ders. S. 14. Ders.: Verfassungslehre. S. 79. S. 229f.

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Politik zum Beispiel „an die Stelle politischer Begriffe wirtschaftliche Kategorien“341 setzte und somit nicht garantieren könnte, dass dadurch unterdrückte politische Konflikte nicht auf einem anderen Terrain umso brutaler wieder aufbrächen. Schmitt las Rousseau also als Befürworter einer „identitären“ Demokratie, forderte Rousseau doch angeblich ein homogenes Volk, in dem Richter und Partei dasselbe wollen.342 Für Schmitt, der eher für die Idee eines „totalen Staates“343 warb, als dass er von Totalitarismus sprach, war Rousseau also ebenfalls der Ahnherr der modernen Demokratie, in diesem Verständnis aber befreit von allen liberalen Anstrichen. Sein Anliegen war es, die im modernen Parlamentarismus zu beobachtende Amalgamierung der Prinzipien des Parlamentarismus und der Demokratie, den grundlegenden Gegensatz zwischen „liberal-parlamentarischen“ und „massendemokratischen“ Ideen aufzudecken und diese Prinzipien sauber voneinander zu trennen, um so zumindest dem Wortlaut nach die „geistige Überlegenheit“ des Parlamentarismus sowohl gegenüber den Konsequenzen der unmittelbaren Demokratie, als auch gegenüber Bolschewismus und Faschismus zu wahren.344 Inwiefern man Schmitt das glauben darf und ob ihm dies gelungen ist, soll hier nicht interessieren, im Folgenden soll lediglich die spezifische Rousseau-Lektüre im Mittelpunkt stehen. Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass Schmitt an anderer Stelle dafür plädierte, dass der totale Staat „dialektisch“ aus dem liberalen Staat hervorgehen sollte, so wie dieser zuvor aus dem absoluten Staat hervorgegangen war.345 Die Gleichheit von Freund und Feind jedenfalls bedeutete, dass für die Identität eines homogenen Staatsvolkes, wie auch Rousseaus es befürwortet habe, die Aussonderung von „Anderen“, von „Heterogenitäten“, egal worin diese letztlich ausgemacht wurden, ausschließliche Angelegenheit des Souveräns und für diesen konstitutiv seien. Nur über den negativen Pro-

341 Ders.: Volksentscheid und Volksbegehren. Berlin 1927. S. 52. 342 Ders.: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. S. 19. Ders.: Verfassungslehre. S. 274. Rousseau lehnte dies wohlgemerkt explizit ab (CS IV, 2). 343 Ders.: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corrolarien. Berlin 2002. 344 Ders.: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. S. 6f. 345 Ders.: Der Hüter der Verfassung. Tübingen 1931. Ders.: Der Begriff des Politischen.

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zess der Exklusion kann sich für Schmitt ein demokratisches Volk konstituieren und integrieren.346 Das aus der Absonderung des Heterogenen hervorgehende und durch dieses integrierte homogene Volk ist, will es wirklich „demokratisch“ sein, in Anlehnung an Rousseau das „wirklich versammelte Volk“. Nur dieses verdiene es, als solches bezeichnet zu werden, da nur dieses letztlich das tun könne, was dem Prinzip wahrer Volkssouveränität entspreche: durch Akklamation einen Führer, König oder Diktator bestimmen, bestätigen, aus dem Amt jagen oder die Akklamation komplett verweigern, also letztlich unvermittelt seinen Willen kundtun und diesen wirksam werden lassen.347 Staat, Nation oder politische Gemeinschaft ruhen also auf dem Prinzip der Homogenität und Identität mit sich selbst. Ob Schmitt damit letztlich stärker auf ein politisches oder auf ein essenzielles Gleichheitsverständnis abzielte, ist dabei die große Streitfrage unter den Interpretinnen, die hier nicht diskutiert werden kann.348 Die bei Talmon angelegte Verbindung von Demokratie und Diktatur findet sich jedenfalls auch in seinem Werk. Im Falle erfolgreicher Behauptung eines Wissens um den wahren Willen des Volkes stand die Diktatur für Schmitt in keinem prinzipiellen Widerspruch zur Demokratie. So könne eben auch eine Minderheit oder ein Einzelner für sich beanspruchen, den Willen des Volkes zu kennen und auszuführen, so lange ihm letztlich die Unterscheidung in Freund und Feind gelänge, ohne die ein Volk ja gar nicht erst als wirklich versammeltes Volk vorstellbar sei.349 So verstand Schmitt Volk und Nation als historisch-kontingente politische Einheiten: „Nation bedeutet gegenüber dem allgemeinen Begriff „Volk“ ein durch politisches Sonderbewusstsein individualisiertes Volk. Zur (möglichen) Einheit der Nation und zum Bewusstsein dieser Einheit können verschiedene Elemente beitragen: gemeinsame Sprache, gemeinsame geschichtliche Schicksale, Traditionen

346 Thiele, Ulrich: „Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt“. Zur Problematik negativistischer Identitätskonstruktionen. In: Voigt, Rüdiger (Hrsg.). FreundFeind-Denken. Carl Schmitts Kategorie des Politischen. Stuttgart 2011. S. 151 172, hier S. 154. 347 Schmitt, Carl: Verfassungslehre. S. 243f. 348 Preuß, Ulrich Karl: Carl Schmitt. Die Bändigung oder die Entfesselung des Politischen? In: Voigt, Rüdiger (Hrsg.), Mythos Staat. Carl Schmitts Staatsverständnis. Baden-Baden 2001. S. 141 - 168. 349 Schmitt, Carl: Verfassungslehre. S. 244ff. Ders.: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. S 38. Ders.: Volksentscheid und Volksbegehren. S. 49f.

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und Erinnerungen, gemeinsame politische Ziele und Hoffnungen“350. Schmitt dachte an vielen Stellen seines Werkes mit Bezug auf Rousseau und dessen Verständnis von Demokratie über die Vorteile einer Diktatur nach, wobei er jedoch das unter dem gleichnamigen Titel im Gesellschaftsvertrag erschienene Kapitel für das am wenigsten ergiebige zu diesem Thema hielt.351 In seiner ideengeschichtlichen Studie verfolgte Schmitt die Absicht, Ordnung in den konfusen, weil „politischen“ Gebrauch einer Zentralkategorie der Staats- und Verfassungslehre zu bringen und befasste sich dafür mit den Strängen der „bürgerlichen politischen Literatur“ und der „sozialistischen Literatur“, die sich beide mit dem Phänomen oder Begriff der „Diktatur des Proletariats“ beschäftigten.352 Der erste Strang habe unter Diktatur die persönliche Herrschaft eines Einzelnen verstanden, der einen starken und zentralisierten Regierungs- und Verwaltungsapparat unter sich hat und dessen Herrschaft auf einer „gleichgültig wie herbeigeführten oder unterstellten Zustimmung des Volkes, also auf demokratischer Grundlage beruht“. Im Kern habe dieser Strang die Diktatur als die Verbindung von persönlicher Herrschaft, Demokratie und Zentralismus verstanden, charakteristisch für eine solche sei die Aufhebung der Demokratie auf demokratischer Grundlage.353 Der zweite Strang der sozialistischen Literatur hingegen habe stärker die Funktion der Diktatur als Mittel zum Zweck des Überganges zur kommunistischen Gesellschaft betont und zudem den Staat, in dem das Proletariat die Herrschaft ausüben soll, in seiner Ganzheit als Diktatur verstanden. Diese sei also nicht allgemein als „Aufhebung der Demokratie“ zu definieren, sondern immer Mittel zum Zweck und somit Ausnahmezustand. In diesem Verständnis könne die Diktatur mit Blick auf dieses Ziel dann den Rechtsstaat aufheben und persönliche Freiheits- und Eigentumsrechte einschränken. In einem demokratischen Staat könnte die Aufhebung demokratischer Prinzipien, in einer liberalen Gesellschaft die Aufhebung oder Einschränkung der Menschen- und Freiheitsrechte als diktatorisch bezeichnet werden. Diktatur könnte also eine Ausnahme sowohl von demokratischen, wie auch von liberalen Prinzipien

350 Ders.: Verfassungslehre. S. 231. 351 Ders.: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. Dritte Auflage Berlin 1964. 352 Ders. S. XI. 353 Ders. S. XIIf.

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sein, „ohne dass beides zusammentreffen müsste“354. Wichtig für Schmitt war dabei, dass die Diktatur nicht die Ausnahme einer beliebigen Norm sei, sondern derjenigen Norm, deren Herrschaft durch die Diktatur in der politischen Wirklichkeit gesichert werden solle: „Zwischen der Herrschaft der zu verwirklichenden Norm und der Methode ihrer Verwirklichung kann also ein Gegensatz bestehen (…), das Wesen der Diktatur (liegt) in der allgemeinen Möglichkeit einer Trennung von Normen des Rechts und Normen der Rechtsverwirklichung“. Oder anders herum: Wenn sich die Diktatur nicht an einem normativen Erfolg orientiere, sie somit keinem Zweck folge und nicht das Ziel habe, sich selbst überflüssig zu machen, sei sie bloßer Despotismus. Die Diktatur sei eine „Entfesselung des Zwecks vom Recht“, ihre Legitimation liege darin, das Recht zu ignorieren, um es zu verwirklichen. Um aber die formalen Kriterien zu erfüllen, welche einen Rechtsbruch begründeten, bräuchte es die „Ermächtigung einer höchsten Autorität“, welche „rechtlich imstande ist, das Recht aufzuheben und eine Diktatur zu autorisieren, d.h. eine konkrete Ausnahme zu gestatten“. Daher wollte Schmitt untersuchen, von welchen höchsten Autoritäten die bisherigen Diktaturen, welche solche Ausnahmen gewährten, ausgingen. Es ging ihm also darum, die Geschichte des Begriffs der Diktatur nachzuzeichnen, um so seine systematische Unterscheidung der kommissarischen und souveränen Diktatur vorzubereiten, welche er am Übergang von der „Reformations- zur „Revolutionsdiktatur“ im 18. Jahrhundert auf der theoretischen Grundlage des „pouvoir constituante des Volkes“ aufruhen sah. Für das 18. Jahrhundert ließe sich der Begriff des Diktators als Kommissar nachweisen, welcher im Auftrag des konstituierenden aber noch nicht konstituierten Volkes eben jenes Volk bildete, dabei aber immer legitimatorisch an jenes zurückgebunden bliebe.355 In diesem Zusammenhang nun war Rousseaus Contrat Social, den Schmitt an anderer Stelle als Formel für den „Despotismus zur Freiheit“356 bezeichnete, ein für Schmitt herausragendes Werk, sei in diesem doch bereits das moderne Verständnis einer „souveränen Revolutionsdiktatur“ angelegt gewesen. Zwar sei die Schrift von ihrer Anlage her aus einer individualistischen Perspektive verfasst, doch zeige eine systematische Untersuchung ihres Inhaltes (wohlgemerkt nicht der Rezeption), dass Rousseaus Hauptwerk an einem gewissen Punkt „in den Staatsabsolutismus und seine 354 Ders. S. XIVf. 355 Ders. S. XVIff. 356 Ders.: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. S. 3.

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Forderung der Freiheit in die des Terrors umschlägt“.357 Trotz Rousseaus individualistischen Ausgangspunktes im Moment der Staatsgründung, bliebe dem Individuum im Staat letztlich aber keine konkrete Substanz. Der Souverän, so Schmitt, kenne laut Rousseau keine Einzelnen als solche, ihm gegenüber habe keine Partei und keine soziale Gruppe eine Existenzberechtigung. Gegenüber der volonté générale, dem für Schmitt wesentlichen Begriff der Staatslehre Rousseaus, habe Partikularität, in Schmitts Lesart „fast ein Schimpfwort“, keinerlei Bedeutung.358 Zwar sei die volonté générale der Wille der Gesamtheit, die Einzelnen aber könnten sich jederzeit über ihren eigenen wahren Willen täuschen oder dieser Wille von Leidenschaften beherrscht werden und sie somit nicht frei sein. In aller Konsequenz könnte also gegen die Mehrheit sogar eine Minderheit oder ein Einzelner den richtigen Willen erkennen, was aber eben in keinem Widerspruch zum Prinzip der Demokratie stünde. Letztlich liege Rousseaus Gesellschaftsvertrag die Überzeugung zugrunde, dass nur wer vertu habe, auch das Recht habe, mitzuentscheiden. Alle anderen seien entweder korrupt, Feind oder Sklave und müssten daher „unschädlich“ gemacht werden.359 „Der politische Gegner hatte keine vertu, d.h. nicht die richtige politische Gesinnung (...) und (war) deshalb hors la loi“360. Wenn die Mehrheit korrupt wäre, obliege es der Minderheit mit Verweis auf die vertu Terror auszuüben, weshalb auch Schmitt den Contrat Social als Legitimation für Diktatur und Despotismus las, der Freiheit nur als Pathos vor sich herträgt, faktisch aber rücksichtslose Unterdrückung aller Gegner bedeute. Dies drücke sich im paradoxen Satz des „Zwangs zur Freiheit“ aus.361 Rousseaus Verständnis nach sei die Diktatur eine importante commission, womit dem Amt kein Recht innewohne. Die Exekutive sei zwar corps intermediaire zwischen dem Volk als Souverän und dem Volk als Gesamtheit der Untertanen, doch gelte dieses Bild nur für den Fall der Übermittlung der volonté générale auf die Anwendung konkreter Gesetze. Gegenüber dem souveränen Volk aber gebe es kein Recht, das Volk könne letztlich tun und lassen, was es wolle. Die Exekutive sei gegenüber dem Volk willenlos, Repräsentanten, Fürst, Abgeordnete und Diktator seien

357 358 359 360 361

Ders.: Die Diktatur. S. 116f. Ders. S. 119. Ebd. Ders.: Verfassungslehre. S. 230. Hervorhebungen von mir. Ders.: Die Diktatur. S. 123.

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letztlich alle Kommissare des Volkes.362 Rousseaus Législateur stehe außerhalb und vor der Verfassung und sei im Gegensatz zum Diktator kein solcher Kommissar. Er habe Gesetzesinitiative, deren Sanktionierung aber der volonté générale zukomme. Den Zirkelschluss, dass die Menschen vor der Abstimmung rein logisch gar nicht in der Lage seien, über die Gemeinwohlverträglichkeit eines Gesetzes abzustimmen, da sie „im allgemeinen egoistisch“ und auf ihren Vorteil bedacht seien, löse der Législateur mit Berufung auf eine göttliche Autorität. Für Schmitt konstruierte Rousseau hier ein „humanisiertes Wunder“ und verschwieg dabei völlig die Möglichkeit eines negativen Ausgangs einer Volksabstimmung. Komme dem Législateur „machtloses Recht“ zu, dann der Diktatur „rechtlose Macht“. Der Législateur sei noch nicht konstituiertes Recht, der Diktator nichts als konstituierte Macht. Die durch die pouvouir constituante bewirkte Verbindung beider Prinzipien oder Kompetenzen markiere den Übergang von der kommissarischen zur souveränen Diktatur, jedoch habe Rousseau die Diktatur noch als ein Regierungs- und nicht als ein Souveränitätsproblem behandelt. Eine Diktatur könne aber nur auftreten, wo bereits eine Verfassung bestehe, die Allmacht des Diktators beruhe auf der Ermächtigung eines verfassungsmäßigen Organes.363 Im Rahmen dieser Arbeit aufschlussreich sind Schmitts Überlegungen zur „Politischen Theologie“ mit Blick auf die Bedeutung der volonté générale.364 Er befasste sich dort mit dem Souveränitätsbegriff und legte Analogien zu theologischen und juristischen Begriffe frei. Eine so verstandene Soziologie juristischer Begriffe setze „eine konsequente und radikale Ideologie“ voraus, nur ihr sprach er „allein Aussicht auf ein wissenschaftliches Resultat“ zu. Schmitt ging es dabei nicht um die Frage des angemessenen Verhältnisses zwischen Idealismus und Materialismus. Der Marxismus habe das wechselseitige Beeinflussungsverhältnis zugunsten der Materie verschoben und einen „Zurechnungspunkt“ im Ökonomischen behauptet, woraus eine isolierte Betrachtung ideologischer Konsequenzen von vornherein ausgeschlossen war. Darin, so Schmitt weiter, liege die große Gefahr des Marxismus, da er in „eine „irrationalistische“ Geschichtsauffassung umschlagen (kann und) alles Denken als Funktion und Emanation vitaler Vorgänge“ begreife.365 Eine Soziologie von Begriffen

362 363 364 365

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Ders.: S. 125f. Ders.: Die Diktatur. S. 127ff. Ders.: Politische Theologie. Ders. S. 47ff.

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wie er sie leisten wolle, suche dagegen nach der „letzte(n), radikal systematischen Struktur“ eines Begriffes und vergleiche diese mit „der begrifflichen Verarbeitung der sozialen Struktur einer bestimmten Epoche“. Schmitt wollte entsprechend „zwei geistige, aber substantielle Identitäten“ nachweisen. So sei es zum Beispiel einer Untersuchung der Soziologie des Souveränitätsbegriffs der Monarchie des 17. Jahrhunderts darum gegangen, „zu zeigen, dass der historisch-politische Bestand der Monarchie der gesamten damaligen Bewusstseinslage der westeuropäischen Menschheit entsprach und die juristische Gestaltung der historisch-politischen Wirklichkeit einen Begriff finden konnte, dessen Struktur mit der Struktur metaphysischer Begriffe übereinstimmte. Dadurch erhielt die Monarchie für das Bewusstsein jener Zeit dieselbe Evidenz, wie für eine spätere Epoche die Demokratie“.366 Folglich kam Schmitts Ansicht nach das jeweilige metaphysische Bild einer Epoche mit der Form seiner politischen Organisation in der geteilten Wahrnehmung der Menschen dieser Epoche zur Deckung, in der Form, die ihnen „ohne weiteres einleuchtete“367. Eine „politische Theologie“ thematisiere also den direkten Sinn- oder Verweisungszusammenhang zwischen der Metaphysik einer Epoche und ihrer politischen Organisationsform. Ein Verständnis des einen sei ohne ein Verständnis des anderen nicht möglich, weswegen Schmitt dafür plädierte, als Zugang zu einem Verständnis einer Epoche den Weg über eine „radikale“ Untersuchung der Begriffe, wie eben den der Souveränität, zu suchen, um so den an ihrem Grund ruhenden metaphysischen oder theologischen Vorstellungen auf die Schliche zu kommen. Ausgehend von der berühmten Definition, wonach „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, bemerkte er, dass in Rousseaus Werk die volonté générale identisch mit dem Willen des Souveräns und damit das Volk zum Souverän geworden sei. Was er daran kritisierte, war der Verlust des dezisionistischen und personalistischen Elements des bisherigen Souveränitätsbegriffs, da das Volk für Rousseau laut Schmitt immer automatisch tugendhaft und der Wille des Volkes immer per se gut sei. Erst der Ausnahmefall aber mache die Frage nach dem Subjekt der Souveränität, und damit nach der Souveränität überhaupt, interessant und relevant. Der Souverän stehe im Ausnahmefall außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehöre doch zu ihr, insofern er für die Entscheidung der Suspendierung der Ver-

366 Ders. S. 50. 367 Ders. S. 50.

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fassung zuständig sei. Was Schmitt beobachtete und heftig kritisierte, war die Tendenz, einen so verstandenen Souverän juristisch zu beseitigen, der extreme Ausnahmefall aber lasse sich nicht juristisch aus der Welt schaffen.368 Wo vor Rousseau die absolute Monarchie im Kampf widerstreitender Interessen und Koalitionen Entscheidung getroffen und dadurch die staatliche Einheit begründet habe, fehle der organischen Einheit des Rousseauschen Volkes fortan das Moment wirklicher politischer Entscheidung, was dazu führe, dass der politischen Metaphysik der theistische und deistische Gottesbegriff unverständlich wurden, so dass Kelsen laut Schmitt in Übereinstimmung mit der Entwicklung in der politischen Theologie und Metaphysik des 19. Jahrhunderts die Demokratie als „Ausdruck relativistischer, unpersönlicher Wissenschaftlichkeit auffassen (konnte)“369. Die sich darin spiegelnde „moderne Staatsidee“, nach der man nicht mehr unter der „Herrschaft von Personen (…) sondern unter der Herrschaft von Normen, geistigen Kräften“ lebe, ist dabei der Hauptangriffspunkt der Kritik Schmitts. Deren Befürworter seien davon überzeugt, dass man den Ideen freiwillig Gehorsam leisten könne, da sie „aus der geistigen Natur des Menschen“ hervorgingen, so dass entgegen Schmitts Überzeugung das Recht logisch wie faktisch vor dem Staat existieren würde. Der Staat habe in der Folge dann nur noch die Aufgabe, ein bereits existierendes Rechtsbewusstsein innerhalb des Volkes technisch umzusetzen und würde so zu einem Geburtshelfer transzendentaler Rechtsprinzipien degradiert.370 Das objektive „Sollen“ einer Rechtsordnung könne aber, wo immer entschieden werden muss, prinzipiell niemals bruchlos in ein „Sein“ überführt werden, es gibt immer eine notwendige Differenz zwischen Prinzip und Realität. Wo entschieden wird, kann immer auch anders entschieden werden. Wo lediglich objektive Wahrheiten umzusetzen sind, wird vielleicht ausgeführt oder befolgt, nicht jedoch entschieden. Rechtsentscheidungen verlangen immer auch gewisse Rechtsauslegungen, die Beachtung von Umständen und eine differenzierte Bewertung sowohl von Motivationen als auch von Absichten. In diesem Sinne kommt der Entscheidung für Schmitt ein unabhängiger Wert zu, sie emanzipiert sich also von der Argumentation ihrer Begründung, von der Frage, ob sie inhaltlich richtig oder falsch ist. Jedes Mal, wenn entschieden wird, entsteht etwas Neues und Fremdes. Die Entscheidung, so Schmitt, ist „normativ aus einem Nichts 368 Ders. S. 13f. 369 Ders. S. 52f. 370 Ders. S. 30.

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geboren. Die rechtliche Kraft der Dezision ist etwas anderes als das Resultat ihrer Begründung“. Erst wenn die Entscheidung gefällt ist, existiert ein Fluchtpunkt des Denkens und Handelns, von dem aus sich Normen und Recht überhaupt ableiten lassen.371 Wenn Schmitts Bezugnahmen auf Rousseau hier etwas ausführlicher rekonstruiert wurden, dann deswegen, weil sich viele seiner Prämissen und Denkfiguren so oder ähnlich sowohl in den Schriften Leforts, als auch im Diskurs der modernen radikalen Demokratie wiederfinden, ohne dass Rousseau und (mit Ausnahme Mouffes) Schmitt explizit Erwähnung finden. Fraenkel und Schmitt lesen Rousseau beide als den Denker einer substanzialistischen Demokratietheorie, wobei Fraenkel diese Lesart eher von links kommend ablehnte und Schmitt dieser von rechts kommend zustimmte. Für Raymond Aron wiederum, immerhin Leforts Doktorvater, der Carl Schmitt 1954 sogar persönlich traf,372 gehörte dieser zur „großen Schule der deutschen Gelehrten, die über ihr Fachgebiet hinaus alle Probleme der Gesellschaft samt der Politik umfassen und somit Philosophen genannt zu werden verdienen“373. Es ist fast auszuschließen, dass Lefort die Werke Schmitts nicht gekannt hat.374 Dass Rousseaus politische Theorie wenig bis gar keine Erwähnung im radikaldemokratischen Diskurs findet, zeigt einmal mehr, dass Lefort auch die über das Werk Schmitts vorhandene Verbindung zu Rousseau verleugnet und er dessen Interpretation Rousseaus als Apologeten einer „identitären Demokratie“ wohl übernahm. II. 5. 3. Radikale Demokratie mit Rousseau: Maus und Habermas Einen weiterer demokratietheoretischer Strang, der sich affirmativ auf Rousseau beruft und ebenfalls von „radikaler Demokratie“ spricht, kann mit den Ansätzen Jürgen Habermas und Ingeborg Maus verbunden und anhand dieser exemplifiziert werden. Deren Verständnis radikaler Demokratie grenzt sich explizit von Carl Schmitts Rousseau-Lektüren ab und 371 Ders. S. 37f. 372 Voigt, Rüdiger: Vorwort. In: Ders.: (Hrsg.). Der Staat des Dezisionismus. Carl Schmitt in der internationalen Debatte. Baden-Baden 2007. S. 13 - 36, hier S. 26. 373 Aron, Raymond: Erkenntnis und Verantwortung - Lebenserinnerungen. München/ Zürich 1985. S. 418. 374 Hirsch, Michael: Politische Theologie des Konflikts. Carl Schmitt im politischen Denken der Gegenwart. In: Voigt, Rüdiger (Hrsg.). Der Staat des Dezisionismus. S. 83 - 111, hier S. 95.

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hebt zentral auf die Bedeutung der Volkssouveränität ab, gleichzeitig ist besonders Habermas Demokratiekonzeption ein wichtiger Antipode zum Diskurs der gegenwärtigen postmarxistischen radikalen Demokratie. Habermas versteht Rousseau und Kant als Verfechter einer Verbindung liberaler individueller und republikanischer kollektiver Freiheitsvorstellungen.375 Auch er benutzt den Begriff der „radikalen Demokratie“ für seine daran anschließende Konzeption und hält fest, „(…) dass im Zeichen einer vollständig säkularisierten Politik der Rechtsstaat ohne radikale Demokratie nicht zu haben und nicht zu erhalten ist (…) Letztlich können die privaten Rechtssubjekte nicht in den Genuss gleicher subjektiver Freiheiten gelangen, wenn sie sich nicht selbst, in gemeinsamer Ausübung ihrer politischen Autonomie, über berechtigte Interessen und Maßstäbe klar werden und auf die relevanten Hinsichten einigen, unter denen Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll“.376 Er möchte Rousseau dabei vor allem gegen Carl Schmitts anti-individualistische Lesart „recht verstanden“ wissen.377 Dieses Verständnis radikaler Demokratie richtet sein Augenmerk auf die „allen Verfassungsbestimmungen vorhergehende verfassungsgebende Gewalt des Volkes“, wobei das Volk „als Gesetzgeber eine verfassungsrechtliche Konstruktion“ ist.378 Mit dem Fokus auf dem unhintergehbaren Zusammenhang zwischen Volkssouveränität und formalem Rechtsstaat verortet sich dieses Verständnis in der Tradition Kants und ist schon durch diese ideengeschichtlichen Referenzen von jenem Verständnis radikaler Demokratie unterschieden, wie es sich im Anschluss an Lefort genau von dieser Tradition abgrenzt. Ingeborg Maus bezieht sich für ihre Demokratietheorie stark auf Rousseau, im Anschluss auf diesen jedoch ebenfalls vor allem auf Kant und dessen spezielle Lektüre der Schriften Rousseaus. Somit vertritt sie einen eher prozeduralistischen und zu dem sehr breiten inklusiven Ansatz von Demokratie, laut dem die Partizipation möglichst aller Menschenrechtssubjekte am Gesetzgebungsprozess dazu führe, dass die Prinzipien der Gleichheit und Freiheit in diesem und durch diesen Prozess mit Inhalt gefüllt würden. Maus bezieht sich so-

375 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main 1992. S. 132. 376 Ders. S. 13. 377 Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen. Frankfurt am Main 1996. S. 166. 378 Maus, Ingeborg: Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Frankfurt am Main 2011. S. 18.

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mit affirmativ auf Rousseau, liest diesen aber der Tradition Habermas verpflichtet als Vertreter eines Autonomieideals und als ideengeschichtlichen Ahnherren des liberal-demokratischen Rechtsstaates und somit als Vorläufer einer Idee der Gleichursprünglichkeit von Freiheitsrechten und Volkssouveränität.379 So versteht sie radikale Demokratie „im wohl definierten Sinne der Theorie der Volkssouveränität“, welche Gesetzgebung zum einzigen Inhalt der Souveränität und die Gesetzesunterworfenen zum einzigen Träger dieser Souveränität macht“.380 Sie besteht dabei darauf, dass dem souveränen Volk, egal ob repräsentiert oder nicht, „nur die Gesetzgebung zukommt“, während das Gewaltmonopol der Exekutive des Staates vorbehalten bleibt, woraus eine „rigide rechtsstaatliche Gewaltenteilung zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung institutionalisiert ist“.381 Radikale Demokratie in diesem Sinne meint die institutionell abgesicherte Kontrolle des Staates als Mittel gegen die Bedrohung der Freiheit durch eben jenen Staat, an dessen Existenz als Faktum festgehalten wird, und verlangt, „alle verfassungsgebende, verfassungsändernde, gesetzgebende und regierungsändernde Gewalt in die Hände des Volkes (zu legen)“, so dass radikale Demokratie gleich einer radikalen Verteilung der Zuständigkeiten zu sehen sei: „Verfassung und Gesetz obliegen allein dem allgemeinen Willen, die Ausführung dieses Willens allein der Exekutive, die streng an das Gesetz gebunden ist“.382 Anders als die gegenwärtige radikale Demokratie zielt diese Konzeption also im Kern auf die Bedeutung des Staates als Rechtsstaat, die Staatsapparate können folglich nur durch „strenge Bindung an die Gesetze“383 in ihrer Gefährdung der Freiheit eingeschränkt werden. Freiheit bedeute gemeinsam mit allen anderen Autor der Programmierung und Steuerung der Institutionen zu sein,384 was grundlegend von dem gegenwärtigen postmarxistischen Diskurs radikaler Demokratie verschieden ist, wie Lefort ihn prägte und für den auch Rousseau die ihm nicht zugestandene Bedeutung spielen müsste.

379 Dies.: Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluss an Kant. Frankfurt am Main 1992. 380 Eberl, Oliver: Vorwort. In: Ders. (Hrsg.). Transnationalisierung der Volkssouveränität. Radikale Demokratie diesseits und jenseits des Staates. Stuttgart 2011. S. 9. 381 Maus, Ingeborg: Über Volkssouveränität. S. 8. 382 Eberl, Oliver: Vorwort. S. 10. 383 Maus, Ingeborg: Über Volkssouveränität. S. 9. 384 Niederberger, Andreas: Republikanismus jenseits der Republik? S. 94.

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II. Diskursive Verbindungen

II. 6. Die gegenwärtige radikale Demokratie II. 6. 1. Ein (Neu-) Denken des Politischen Seit einiger Zeit kann in der Politischen Theorie und Philosophie eine „Rückkehr des Politischen“385 beobachtet werden. Das Neu-Denken jenes Politischen soll es dabei ermöglichen, mittels der Unterscheidung der analytischen Ebenen „des Politischen“ und „der Politik“ die Frage nach den Gründen für und Gründungen von gesellschaftlichen und politischen Ordnungen unter der für die so genannte Moderne charakteristischen Bedingung der „Auflösung der Grundlagen aller Gewissheit“386 zu behandeln. Die theoretische Leitdifferenz dieser Unterscheidung geht begrifflich auf Carl Schmitt zurück,387 wenngleich die Wurzeln dieses Denkens mitunter auch in die als „Romantik“ bezeichnete Epoche um das Jahr 1800 herum verortet werden,388 also ungefähr in die Zeit der Entstehung und ersten Wirkungen der politischen Schriften Rousseaus. In ihrer gegenwärtig breit verhandelten Form wird die Auseinandersetzung um die „politische Differenz“389 jedoch vor allem im „französischen“ Denken lokalisiert. Ziel der Reflektionen ist ganz allgemein die Belebung demokratischer Politik und Institutionen vom Ort des Politischen her,390 mitunter also auch eine „Demokratisierung der Demokratie“, wie sie der partizipatorische radikaldemokratische Diskurs für sich behauptet. In dem gegenüber diesem jedoch

385 Flügel, Oliver/ Heil, Reinhard/ Hetzel, Andreas (Hrsg.): Die Rückkehr des Politischen. Demokratietheorien heute. Darmstadt 2004. Siehe auch Heil, Reinhard/ Hetzel, Andreas (Hrsg.): Die unendliche Aufgabe. A.a.O. Nonhoff, Martin (Hrsg.): Diskurs, Demokratie, Hegemonie. Perspektiven der politischen Theorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Bielefeld 2007. Voigt, Rüdiger/ Hirsch, Michael (Hrsg.): Der Staat in der Post-Demokratie. A.a.O. Bedorf, Thomas/ Röttgers, Kurt (Hrsg.): Das Politische und die Politik. A.a.O. Bröckling, Ulrich/ Feustel, Robert (Hrsg.): Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen. Bielefeld 2010. Marchart Oliver: Die politische Differenz. A.a.O. 386 Lefort, Claude : Die Frage der Demokratie. S. 296. Ders. Démocratie et avènement d´ún lieu vide. In: Ders. Le Temps Présent. Écrits 1945-2005. Paris 2007. S. 461 - 469. 387 Schmitt, Carl. Der Begriff des Politischen. A.a.O. 388 Hebekus, Uwe/ Matala de Mazza, Ethel/ Koschorke, Albrecht (Hrsg.): Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. München 2003. 389 Marchart, Oliver: Die politische Differenz. A.a.O. 390 Bedorf, Thomas/ Röttgers, Kurt: Vorwort. In: Dies. (Hrsg). Das Politische und die Politik. Berlin 2010. S. 7 - 10, hier S. 8.

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II. 6. Die gegenwärtige radikale Demokratie

unterschiedenen progressiven und emanzipatorischen Verständnis lässt sich die Unterscheidung auf einen Aufsatz Paul Ricoeurs zurückführen, in welchem dieser das Politische (le politique) als die Dimension zwischenmenschlicher Beziehungen bezeichnete, die sich nicht (mehr) auf den einen Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit, Bourgeoisie und Proletariat reduzieren lässt. Die Politik (la politique) hingegen sei diejenige Dimension, welche vor dem Hintergrund der negativen Auswirkungen von Machtverhältnissen politische Missverhältnisse erzeuge.391 Im Anschluss an Ricoeur spielte für die weitere Entwicklung der Theorien des Politischen vor allem das 1980 an der Pariser École Normale Supérieure von Jean-Luc Nancy und Phillipe Lacoue-Labarthe ins Leben gerufene Centre de Recherches Philosophiques sur le Politique eine wichtige Rolle. Dieses wiederum ging aus einem Kolloquium zu Jacques Derridas „Fins de l ´homme“ hervor.392 Rund um dieses Zentrum erarbeiteten und diskutierten neben den Initiatoren auch Jacques Rancière, Alain Badiou und Claude Lefort ihre jeweilige Perspektive auf das Politische,393 wobei keiner der Beteiligten die mitunter offensichtlichen Bezüge zum Werk Carl Schmitts offenlegte. Die grundlegend geteilte Beobachtung oder Überzeugung bestand darin, dass sich auch und gerade in westlich liberal-demokratischen Staaten ein totalitärer Wesenskern nachweisen lasse und totalitäre Herrschaftsformen, wie man sie im Nationalsozialismus und der Sowjetunion erlebt hatte, mithin kein überholtes zeitgeschichtliches Phänomen seien. Dies habe das erneute und permanente Stellen der Frage nach dem Politischen umso dringender und notwendiger gemacht.394 Claude Leforts Schaffen wurde nicht nur von dieser Überzeugung genährt, er kann viel-

391 Vgl. Ricoeur, Paul: Geschichte und Wahrheit. München 1974. S. 259. 392 Lacoue-Labarthe, Phillipe/ Nancy, Jean-Luc: Les fins de l´homme: A partir du travail de Jacques Derrida. Paris 1981. 393 Siehe die beiden Bände des Zentrums: Ferry, Luc/ Nancy, Jean-Luc/ Lyotard, Jean François/ Balibar, Étienne/ Lacoue-Labarthe, Phillipe (Hrsg.): Rejouer le politique. Travaux du centre de recherches philosophiques sur le politique. Paris 1981. Rogozinski, Jacob/ Lefort, Claude/ Rancière, Jacques/ Kambouchner, Denis/ Soulez, Phillipe/ Lacoue-Labarthe, Phillipe/ Nancy, Jean-Luc (Hrsg.): Le retrait du politique. Travaux du centre de recherches philosophiques sur le politique. Paris 1983. Darin v.a. Lefort, Claude: La question de la démocratie. S. 71 88. 394 Lacoue-Labarthe, Phillipe/ Nancy, Jean-Luc: Retreating the Political. London/ New York 1997. S. 95ff. Dies.: Le retrait du politique. In: Rogozinski et al. (Hrsg.). Le retrait du politique. S. 183 - 205.

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II. Diskursive Verbindungen

mehr als einer der ersten und bis heute elaboriertesten Erforscher des Totalitarismus innerhalb dieses Diskurses und darüber hinaus gesehen werden. Um den Totalitarismus in seiner Neuartigkeit zu verstehen, machten sich die Denker auf die Suche nach der l´essence du politique, ohne die sie glaubten weder die Demokratie, noch den Totalitarismus verstehen zu können. Der Aufsatz des Eröffnungsbandes von Lacoue-Labarthe und Nancy, der sich der Bedeutung dieser Suche nach der Essenz des Politischen widmet,395 wird dabei als die „fiktive, weil in mancher Hinsicht nachträgliche Eröffnung jenes Text- und Diskussionsfeldes (…), das entlang einer begrifflichen Unterscheidung (…) zwischen le politique und la politique (verläuft)“ verstanden..396 Diese bezeichnet also die Auseinandersetzung um das angemessene Verhältnis des Politischen, verstanden als Wesen der Politik, zur Politik als sozialem Funktionssystem, als empirisch mess- und beobachtbarem „setting“ von Institutionen oder ganz allgemein als das, was landläufig unter Staat, Regierung, Parteien oder Bürokratie verstanden wird. Gemein haben alle Konzeptionen dabei die Ablehnung der (selbst) behaupteten Dominanz moderner empirischer Sozialwissenschaften und deren Versuche der Einteilung moderner Gesellschaften in funktionale Teilsysteme, wie sie sich etwa auch prominent im Werk Niklas Luhmanns findet.397 Daran kritisierte Claude Lefort die behauptete Einnahme einer unmöglichen „Position des Überflugs“398, von der aus sich eine Gesellschaft als Ganze erfassen und entsprechend kategorisieren lasse. Den Begriff oder das Bild des „Überflugs“ übernahm Lefort von Merleau-Ponty, der meinte, dass wenn man Erfahrung als ein in sich geschlossenes System verstünde, man Ding und Welt eindeutig definieren könnte, man dann behauptete die Welt zu überfliegen und in der Folge Orte und Zeiten zu sein aufhörten, womit er selber „keine mehr bewohnte und nirgends engagiert wäre“.399 Ausgehend von der Kritik an dem geteilten Verständnis real existierender liberaler Regierungsformen als das, was Politik angeblich in Summe ausmache, wird in diesem Theoriediskurs also nach 395 Lacoue-Labarthe, Phillipe/ Nancy, Jean-Luc: Ouverture. In: Ferry, Luc et al. (Hrsg.). Rejouer le politique. S. 11 - 28, hier S. 12. 396 Bedorf, Thomas: Das Politische und die Politik. S. 13. 397 Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt am Main 2000. 398 Lefort, Claude/ Gauchet, Marcel: Über die Demokratie: Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen. In: Rödel, Ulrich (Hrsg.). Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. S. 89 - 122, hier S. 95. 399 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966. S. 383.

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II. 6. Die gegenwärtige radikale Demokratie

einem Standpunkt gesucht, von dem aus sich diese Politik neu befragen, bewerten, kritisieren und vor allem demokratisieren lässt und dieser Standpunkt im Politischen gesehen. Die behandelten Fragen am Centre waren also die nach dem angemessenen Verständnis des Verhältnisses von Philosophie und Politik, nach dem Totalitarismus und nach dem Rückzug (rétrait) des Politischen.400 Damit gaben die Autoren vor allem ihrer Sorge über den Rückzug der cité modern Ausdruck. Vom „Staat“ jedenfalls ließe sich angesichts der Komplexität moderner Gesellschaften nicht mehr angemessen sprechen, weder im Sinne Machiavellis, noch im Sinne Hegels. Mit dem Rückzug der cité modern sei zudem zugleich jener der civité de la cité einhergegangen, also der politisch aktiven Bürgerinnenschaft. Mit Hannah Arendt erklärten sie diese Entwicklung als den Sieg des animal laborans, als Ergebnis der Besetzung oder Bestimmung des espace public durch die dominante Logik einer technisch-pragmatischen Verwaltung des öffentlichen Lebens auf Kosten eines republikanisch-freiheitlichen politischen Lebens. Dies habe zum Verlust der autorité dieses öffentlichen Lebens und damit letztlich zum Verlust von Freiheit geführt.401 Somit können die damals am Centre versammelten Denker auch als Initiatoren des Diskurses der „Postdemokratie“ gelesen werden.402 Unter dem Anspruch der Wiederbelebung des demokratischen politisch-öffentlichen Lebens brachte die vertiefte Beschäftigung mit dem Politischen ausgehend von den Arbeiten am Centre und über diese hinaus also Denker des Post-Strukturalismus, des Post-Marxismus, der Post-Phänomenologie und des (Neo-) Republikanismus in einen diskursiven Zusammenhang, der hier als gegenwärtige postmarxistische radikale Demokratie bezeichnet wird. Die Bandbreite in diesem Sinne verwandter Autoren reicht sehr weit und schließt etwa Jean-Luc Nancy, Étienne Balibar, Jacques Rancière, Michel Foucault, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Giorgio Agamben, Toni Negri, Judith Butler, Cornelius Castoriadis und Claude Lefort ein. Dabei darf natürlich nicht übersehen werden, dass die politische Differenz lange nicht bei allen

400 Lacoue-Labarthe, Phillipe/ Nancy, Jean-Luc: Le retrait du politique. S. 184. 401 Dies. S. 191f. 402 Rancière, Jacques: Demokratie und Postdemokratie. Ders.: Das Unvernehmen. Crouch, Colin: Postdemokratie.

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II. Diskursive Verbindungen

Autorinnen in den Begriffen le politique und la politique aufgeht.403 Die oben genannte Weigerung oder Vermeidung, den Begriff des Staates zu benutzen, macht dabei die allgemeine Stoßrichtung dieser Denktradition deutlich. Gegen das staatszentrierte Denken in Öffentlichkeit und Wissenschaft und das dominante liberale Paradigma sollte eine eher republikanische Tradition wiederbelebt werden und der Raum des Öffentlichen und die Entscheidungen über das kollektive Schicksal einer politischen Gemeinschaft wieder zur Aushandlungssache freier und gleicher Bürgerinnen werden. Dabei lässt sich das gegenwärtige radikaldemokratische Denken jedoch nicht bruchlos in die republikanische Tradition einordnen, wie noch gezeigt werden wird. Dem auch stark marxistisch informierten Diskurs aber Anti-Staatlichkeit vorzuwerfen, wie es viele Kritikerinnen bis heute tun, würde diesem nicht gerecht. Gerade Claude Lefort ging es nie darum, den Staat zu überwinden. Im Gegenteil war dieser für ihn der ebenso negative, wie aber immer auch notwendige Fluchtpunkt allen politischen Denkens und Handelns und damit eine wesentliche Bedingung der Freiheit in modernen Gesellschaften. Dass hingegen alle heute diskutierten Theorien des Politischen (auch diejenige Leforts) eine gewisse Unterbeleuchtung oder Marginalisierung der Ebene der Politik, also institutionellen Fragen, Staatsverständnissen, Verfassungsfragen, Gesetzen, Prozessen und konkreten Maßnahmen zum Erhalt der Freiheit aufweisen, ist nicht von der Hand zu weisen. II. 6. 2. Grundzüge der radikalen Demokratie Mit der gegenwärtigen radikalen Demokratie wird hier also ein postmarxistisch (und poststrukturalistisch) informierter Diskurs bezeichnet, als dessen maßgeblicher Stichwortgeber Claude Lefort gelten soll. Zwar teilen auch die in diesem Diskurs beheimateten Autorinnen die Kritik an den existierenden Formen liberaler Demokratien und knüpfen daran in unterschiedlicher Ausprägung und Schwerpunktsetzung Forderungen nach einer „Demokratisierung der Demokratie“ an. Jedoch erschöpft sich ihr Verständnis dessen, was „radikal“ bedeutet im Gegensatz zu den partizipatorischen Ansätzen radikaler Demokratie nicht in Forderungen nach „wah403 Für eine systematische Kategorisierung siehe Bedorf , Thomas: Das Politische und die Politik. Bröckling, Ulrich/ Feustel, Robert: Einleitung: Das Politische denken. In: Dies. (Hrsg.). Das Politische denken. S. 7 - 19.

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rer“, „direkter“ oder „identitärer“ Demokratie im Sinne einer vollwertigen Beteiligung der Bevölkerung an der Legislative oder der faktischen Deckungsgleichheit von Regierenden und Regierten. Auf der anderen Seite ist es aber auch nicht ganz einfach, die gegenwärtigen Ansätze radikaler Demokratie auf einen positiven Nenner zu bringen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass dieser radikaldemokratische Diskurs widersprüchliche Prinzipien in ihrem paradoxen Verhältnis zueinander diskutiert, ohne dieses dabei auflösen oder sich wenigstens für eine Seite des Widerspruchs entscheiden zu wollen. Vielmehr sollen gerade aus diesen Spannungen Erkenntnisgewinne generiert und die Möglichkeiten emanzipatorischer Politik abgeleitet werden. Als Beispiele demokratischer Prinzipien können etwa „Regieren und Regiert werden, Freiheit und Gleichheit, Selbstregierung und Repräsentation, Deliberation und Emotion, Mehrheit und Minderheitenschutz (oder) Menschen- und Bürgerrechte“ gesehen werden.404 Und dennoch gibt es gute Gründe, von einem radikaldemokratischen Diskurs zu sprechen, welcher aber sicher mehr im Sinne von Familienähnlichkeiten der ihn konstituierenden Theorien, denn als geschlossene Schule verstanden werden muss.405 Er ist als solcher zunächst Sammelbegriff für eine Menge an theoretischen Konzeptionen, welche die radikale Demokratisierung aller Bereiche der Gesellschaft fordern und emanzipatorisch gegen das in modernen westlichen Gesellschaften diagnostizierte Primat des Ökonomischen als Speerspitze des Wirtschaftsliberalismus beziehungsweise Neoliberalismus vorgehen. Die Demokratie werde nämlich, so die innerhalb des Diskurses geteilte Krisenbeschreibung und daran schließende Kritik, heutzutage meistens lediglich als ihre historisch kontingente „neoliberale nordatlantische Version (bestehend) aus einem minimalen institutionellen Rahmen plus freier Marktwirtschaft“406 verstanden. Die verschiedenen Positionen des Diskurses der radikalen Demokratie teilen ein großes Unbehagen angesichts dieses als allgemein akzeptiert und gültig propagierten Verständnisses dessen, was Demokratie angeblich letztgültig sei. Rosanvallon etwa plädiert daher vehement für die Durchsetzung der

404 Nonhoff, Martin: Demokratisches Verfahren und politische Wahrheitsproduktion. S. 314f. 405 Heil, Reinhard/ Hetzel, Andreas/ Hommrich, Dirk (Hrsg.): Unbedingte Demokratie. S. 7. 406 Marchart, Oliver/ Weinzierl, Rupert: Radikale Demokratie und Neue Protestformationen. In: Dies. (Hrsg.). Stand der Bewegung? Protest, Globalisierung, Demokratie - eine Bestandsaufnahme. Münster 2006. S. 7 - 15, hier S. 8.

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II. Diskursive Verbindungen

eigentlich politischen Dimension der Demokratie, hat man es in den existierenden liberal-demokratischen Regierungssystemen doch aktuell mit einer „Demokratie ohne Eigenschaften für Menschen ohne Eigenschaften“407 zu tun. Solange das Monopol des Liberalismus auf den Begriff der Demokratie aber nicht gebrochen werde, sei auch alles Gerede der Linken über die demokratische Beherrschung der kapitalistischen Weltwirtschaft nicht mehr als ein Hirngespinst.408 Theorie- und Ideengeschichtlich ordnet sich der moderne Diskurs der radikalen Demokratie damit jener Zeit zu, in der versucht wurde, die Spannungen zwischen Liberalismus und Sozialismus aufzulösen oder diese miteinander zu versöhnen.409 So wurde nach einem praktikablen und zugleich freiheitsverträglichen Mittelweg zwischen individueller Autonomie und staatlicher Autorität gesucht, während gleichzeitig die elitären Tendenzen sowohl liberaler, als auch sozialistischer Systeme vermieden werden sollten. Die poststrukturalistisch informierten radikalen Demokratietheorien stehen also in gewisser Weise in der Tradition dieser „kulturellen“ pluralistischen Ansätze, die mit ihrer Betonung der Ausweitung bürgerlicher Partizipation als Gegengewicht zu kapitalistischen Tendenzen als deren Vorläufer verstanden werden können.410 Darin erschöpft sich der gegenwärtige radikaldemokratische Diskurs jedoch nicht. Was ihn darüber hinaus vor allen anderen demokratietheoretischen Diskursen auszeichnet, ist die affirmative Einstellung gegenüber der Kontingenz aller gesellschaftlichen und politischen Ordnungen sowie die positive, ja für die Gründung jeder Ordnung und den Erhalt der Freiheit in ihr gar konstitutive Rolle, die er Konflikten zuschreibt. Dadurch grenzt er sich nicht nur von dem vor allem im angelsächsischen Raum seitens rationalistischer und liberaler Theorien propagierten Verständnis von Demokratie als Management von Konflikten ab, welches dem Ziel eines umfassenden Konsenses verpflichtet ist, sondern eben auch von den oben skizzierten partizipatorischen radikalen Demokratietheorien. Letztere, so die Kritik, zielten in ro-

407 Rosanvallon, Pierre: Demokratische Legitimität: Unparteilichkeit - Reflexivität Nähe. Hamburg 2010. S. 27. 408 Brown, Wendy: Wir sind jetzt alle Demokraten. S. 67. 409 Zum Beispiel Dahl, Robert: A Preface to Economic Democracy. Berkeley 1984. Held, David: Models of Democracy. Cambridge 2006. Macpherson, Crawford B.: The Life and Times of Liberal Democracy. A.a.O. Cohen, Joshua/ Rogers, Joel: On Democracy. New York 1983. 410 Trend, David: Democracy´s Crisis of Meaning. S. 14.

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mantischer Absicht auf die (Wieder-) Herstellung einer harmonischen und stabilen Gemeinschaft, wogegen Konflikte als der Urquell des Wertes der Demokratie auszuzeichnen seien.411 Ein weiteres Anliegen dieses Diskurses ist der Kampf gegen diskursive, gesellschaftliche und politische Hegemonien. Dies geht vor allem auf Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes 1985 erschienenes Werk „Hegemony and Socialist Strategy“412 zurück, welches als ein weiteres Gründungsdokument der radikalen Demokratie angesehen werden kann. Aufbauend auf Leforts Demokratieverständnis und in der Diskussion der Werke Foucaults, Althussers und Gramscis entwickelten Laclau und Mouffe in der Zusammenführung derer wesentlicher Prämissen mit poststrukturalistischen Denkfiguren eine postmarxistische (ein Begriff, den sie wohlgemerkt nicht selbst gewählt haben) Hegemonie- oder Diskurstheorie und das Projekt einer radikalen Demokratie. Mit postmarxistisch war dabei nicht die Abkehr vom Marxismus tout court gemeint, was Laclau und Mouffe jedoch nicht mehr zeitgemäß erschien und wovon sie sich entsprechend befreiten, war der marxistische Glaube an die Befriedung aller gesellschaftlichen Antagonismen (oder letztlich des einen wirklichen Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit) in der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft. Ihr Anspruch war es vielmehr, vor dem Hintergrund der so genannten „Neuen Sozialen Bewegungen“ die adäquate politische Theorie zu einer Politik zu formulieren, die sich nicht weiter in die engen Denkfiguren des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat einsperren lässt, sondern den Herausforderungen moderner pluralistischer Gesellschaften Rechnung trägt. So habe seit ungefähr dem Ende der 1960er Jahre diese Vielzahl an neuen sozialen Konflikten und Positionen als politischer Akteur die Bühne betreten und lasse sich nicht mehr mit dem marxistischen Instrumentarium des Klassenkampfes einfangen.413 Die historischen Bedingungen der Möglichkeit einer solchen emanzipatorischen Politik sahen Laclau und Mouffe in dem, was Claude Lefort im Anschluss an Tocqueville als die „demokratische Revolution“ und deren Folgen diskutierte: die Auflösung aller letzten Grundlagen und Gewisshei-

411 Martin, James: Introduction. Democracy and conflict in the work of Chantal Mouffe. In: Ders. (Hrsg.). Chantal Mouffe. Hegemony, Radical Democracy and the Political. London/ New York 2013. S. 1 - 11, hier S. 1. 412 Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemony and Socialist Strategy. A.a.O. 413 Mouffe, Chantal: Hegemonie und neue politische Subjekte. Eine neue Konzeption von Hegemonie. In: kultuRRevolution 17/18, 1988. S. 37 - 41, hier S. 38.

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ten, das Auseinandertreten und die gleichzeitige Autonomisierung der gesellschaftlichen Sphären der Macht, des Rechts und des Wissens und vor allem die symbolische Entleerung und Offenhaltung jenes Ortes der Macht in der Demokratie, den Lefort als „leere Stelle“ bezeichnete.414 Im Anschluss an Lefort zeichneten Laclau und Mouffe das Bild postfundamentalistischer Bedingungen und Bedingtheit moderner Demokratien, welche seit der demokratischen Revolution eine letztgültige Gründung von Gesellschaften verunmöglichen, so dass alle Gründungsversuche oder Gründungsnarrationen stets prekär und anfällig gegenüber Neuformulierungen sind und bleiben. Dadurch rückte der Konflikt als zentrale Kategorie unausweichlich in den Mittelpunkt aller Konzeptionen dieser Ansätze radikaler Demokratie. Konflikte gelten diesem Diskurs folglich nicht nur als unausweichlich, sondern – wieder im Anschluss an Lefort – als erste Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft und Freiheit. Der Anspruch einer radikalen Demokratie weist dabei schon begrifflich auf die ontologische Ebene der Gründe und Gründungen von Gesellschaften, auf die Dimension ihrer „Wurzeln“, die gemäß dem radikaldemokratischen Denken von unversöhnlichen Antagonismen und prinzipieller Offenheit bestimmt sind. Die Schaffung eines Bewusstseins der Notwendigkeit der Anerkennung oder gar Affirmation von Pluralität, Heterogenität und radikaler Unbestimmtheit ist daher eines der zentralen Anliegen moderner radikaldemokratischer Theorien und Projekte: „Zwischen einer Logik völliger Identität und der reinen Differenz muss die Erfahrung der Demokratie aus der Anerkennung der Vielfalt sozialer Logiken und der Notwendigkeit ihrer Artikulation bestehen. Diese Artikulation muss jedoch beständig neu geschaffen und neu ausgehandelt werden – es gibt keinen Schlusspunkt, an dem ein für alle Mal ein Gleichgewicht erreicht sein wird“415. Was radikaldemokratische Theorien also antreibt, so die hier vertretene These, ist der Dreischritt einer Schaffung von Kontingenzbewusstsein, Kontingenztoleranz und daran anschließend Kontingenzaffirmation, wie er auch in den Theorien Leforts und Rousseaus zu finden ist. Zudem verstehen Laclau und Mouffe ihr Projekt einer radikalen Demokratie als den politischen Kampf um die diskursive Hegemonie oder Deutungshoheit über die Bedeutung der Prinzipien der prinzipiell „leeren Signifikanten“ der (demokratischen)

414 Lefort, Claude: Die Frage der Demokratie. A.a.O. 415 Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. S. 255.

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Gleichheit und der (liberalen) Freiheit.416 Dieser Kampf finde im „Jenseits aller Differenzen, das tendenziell leer sein wird“417 statt, wie Laclau es im Anschluss an Leforts berühmtes Diktum vom „leeren Ort der Macht“ formuliert. Sie fordern den zwar nicht permanenten, doch regelmäßig ausbrechenden Kampf um die Ausweitung von Rechten auf immer mehr soziale Gruppen, den sie als Bedingung der Möglichkeit der Herausbildung kollektiver politischer Identitäten verstehen. In diesen politischen Kämpfen werden „Äquivalenzketten“ zwischen prinzipiell verschiedenen, jedoch im Kampf gegen einen gemeinsamen (hegemonialen) Gegner geeinten gesellschaftlichen Gruppen gebildet, um so ein gegenhegemoniales Projekt anzustoßen und mittels der erfolgreichen Universalisierung der eigenen partikularen Position selbst die (temporäre) hegemoniale Deutungshoheit über ein bestimmtes gesellschaftliches Gebiet oder Phänomen oder Prinzip zu erlangen. 418 Das Ziel dabei ist es, die Institutionen der liberalen Demokratien „in Richtung auf eine radikale und plurale Demokratie zu vertiefen und auszuweiten“419. Der Demokratie komme daher die Aufgabe zu, institutionell die Räume offenzuhalten, in denen politische Kämpfe zwischen heterogenen sozialen Gruppen und daran anschließend demokratische Subjektivierungsprozesse stattfinden können. Daher ist die Konsensbetonung des liberalen hegemonialen Paradigmas, für Mouffe und viele andere repräsentiert durch die politischen Theorien John Rawls und Jürgen Habermas, das erklärte Angriffsziel radikaler Demokratietheorien.420 Gegen diese besteht zum Beispiel Mouffe darauf, dass das Aufeinandertreffen von Leidenschaften und Affekten die erste Bedingung freiheitlicher Politik ist. Das bedeutet dabei nicht, dass sie Konflikte und Freiheit einfach gleichsetzt. Vielmehr gehe es darum, antagonistische Konflikte in agonistische umzuwandeln, also darum, die grundlegenden Konflikte einer Ge-

416 Laclau, Ernesto: Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun? In: Ders. Emanzipation und Differenz. Wien 2013. S. 65 - 78. 417 Laclau, Ernesto: Von den Namen Gottes. In: Ders. Emanzipation und Differenz. Wien 2013. S. 201 - 217, hier S. 214. 418 Zu einer vertieften Einführung in die Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes siehe Stäheli, Urs/ Hammer, Stefanie: Die politische Theorie der Hegemonie: Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. In: Brodocz, André/ Schaal, Gary S. (Hrsg.). Politische Theorien der Gegenwart III. Opladen 2016. S. 63 - 98. 419 Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. S. 219. 420 Mouffe, Chantal: The Return of the Political. London/ New York 1993.

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sellschaft im Modus eines „conflictual consensus“ auszutragen.421 Wo dies nicht gelinge und, wie sie im Anschluss an Carl Schmitt formuliert,422 die politischen „Gegner“ als „Feinde“ betrachtet würden, die sich gegenseitig die Existenzberechtigung absprechen, sei die Existenz des Gemeinwesens gefährdet.423 So erklärt Mouffe sowohl das Aufkommen und den Erfolg populistischer rechtsgerichteter Parteien in den westlichen Demokratien, als auch das moderne Phänomen des religiösen Fundamentalismus und Terrorismus als Folge einer neoliberalen Hegemonie und derer Konsensbehauptungen, welche es den gesellschaftlichen Akteuren verunmögliche, ihre Unzufriedenheit und Nicht-Übereinstimmung auszudrücken und ihre Leidenschaften und Emotionen auszuleben424 Die erste Aufgabe der Politik müsse es daher sein, eine lebendige öffentliche Sphäre des Widerstreits sichtbar und möglich zu machen, in der verschiedene hegemoniale Projekte aufeinandertreffen können.425 Selbstverständlich gibt es innerhalb des Diskurses der radikalen Demokratie erhebliche Abweichungen von- und Kritik aneinander. Judith Butler etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, ist anders als Laclau und Mouffe nicht davon überzeugt, dass der demokratische Kampf als Ringen um die erfolgreiche Universalisierung der eigenen partikularen Position mittels der Bildung von Äquivalenzketten mit Bezug auf einen leeren Signifikanten konzipiert werden sollte. Sie plädiert dagegen für einen Kampf um eine Neudefinition des Universalen und gegen die Strategie der Besetzung des bestehenden Universalen. Es seien dann nicht partikulare Positionen, die um die Besetzung einer Universalie oder des einen „leeren Ortes der Macht“ kämpften und diese somit letztlich affirmierten, sondern verschie-

421 Siehe auch Oppelt, Martin: Der Kampf gegen Hegemonien vermag ein Menschenherz auszufüllen - Eine kurze Einführung in das Werk Chantal Mouffes. In: Zeitschrift für Politische Theorie, Jahrgang 5, Nummer 2, 2014. S. 253 - 262. Sowie Oppelt, Martin: „Thinking the world politically“ - An interview with Chantal Mouffe. In: Zeitschrift für Politische Theorie, Jahrgang 5, Nummer 2, 2014, S. 263 - 277. 422 Mouffe, Chantal (Hrsg.): The Challenge of Carl Schmitt. A.a.O. Dies.: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Bonn 2010. 423 Mouffe, Chantal: What is Agonistic Politics? In: Dies. Agonistics. Thinking the World Politically. London/ New York 2013. S. 1 - 18. Deutsch: Was bedeutet agonistische Politik? In: Dies. Agonistik: Die Welt politisch denken. Berlin 2014. S. 21 - 44. 424 Mouffe, Chantal: On the Political. London/ New York S. 71 und S. 81. 425 Dies. S. 3

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dene Universalitäten, die gegeneinander in Stellung gebracht würden.426 Dies sind jedoch eher theoretische Feinheiten, die gegenüber den Gemeinsamkeiten der Positionen nicht überbetont werden sollten. Denn schließlich sind sich die verschieden theoretischen Ansätze alle im Anschluss an Lefort darin einig, dass es in modernen Gesellschaften keine festgelegte Universalie mehr gibt, weder als Ursprung, noch als gegenwärtiger Handlungsleitfaden, noch als zukünftiges Ziel der Politik. „Volk“, „Nation“, „Geschichte“, „Gemeinwille“, „Freiheit“, „Gleichheit“, „Menschenrechte“ sind alles legitime und notwendige Kategorien, Begriffe oder Konzepte, die über einen historischen Zeitraum mit einer gewissen Bedeutung aufgeladen wurden, sich als universal gültig behauptet haben und entsprechend in irgendeiner Art und Weise wirksam waren. Jedoch kann deren inhaltliche Bedeutung nie auf Dauer fixiert werden, sondern ist immer der Möglichkeit von Kritik und Neudefinitionen ausgesetzt. Demokratie ist mit und im Anschluss an Lefort nicht nur die legitime Debatte um die Zuteilung und Verweigerung von Rechten, sondern zunächst die legitime Debatte darüber, was legitim ist und was nicht.427 Claude Lefort kann dabei als der wichtigste Wegbereiter dieses radikaldemokratischen Denkens verstanden werden, liefern seine Texte diesem doch die „theoriearchitektonisch entscheidenden Grundzüge“428. So schließen neben Mouffe und Laclau etwa auch Derrida, Nancy, Rancière und Balibar an Leforts Arbeiten an.429 Chantal Mouffe, die sich nach Hegemony and Socialist Strategy der Ausarbeitung des dort in den Schlusskapiteln skizzierten Projekts der radikalen Demokratie verschrieb, versteht im Anschluss an Lefort die „demokratische Revolution“ als die Wasserscheide zwischen „Moderne“ und „Vormoderne“, welche auf einer symbo-

426 Butler, Judith: Competing Universalities. In: Dies. et al. Contingency, Hegemony, Universality: Contemporary Dialogues on the Left. London 2000. S. 136 - 181. 427 Lefort, Claude: Reflections on the present. S. 269. 428 Brodocz, André: Die Konflikttheorie des zivilgesellschaftlichen Republikanismus. In: Bonacker, Thorsten (Hrsg.). Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien. Eine Einführung. Opladen 2002. S. 231 - 248, hier S. 243. 429 Derrida, Jacques: Politique de l´amitié. Paris 1994. Deutsch : Politik der Freundschaft. Frankfurt am Main 2000. Nancy, Jean-Luc: Vérité de la démocratie. Paris 2008. Rancière, Jacques: La Mésentente: Politique et philosophie. Paris 1995. Ders.: La haine de la démocratie. Paris 2005. Balibar, Étienne: La proposition de l`Égaliberté. Essais politiques 1989 - 2009. Paris 2010.

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lischen Ebene „inaugurates a new type of society“.430 Sie beruft sich zudem an zentralen Stellen ihres Werks auf Lefort und übernimmt dessen Charakterisierung der Demokratie als bedingt durch die Auflösung aller Grundlagen von Sicherheit.431 Die moderne Demokratie versteht sie wie Lefort als gekennzeichnet durch die Unmöglichkeit eines letzten Fundaments, die daraus resultierende Unmöglichkeit letztgültiger Legitimationen politischer Ordnungen müsse daher als konstitutiv für alle moderne demokratische Gesellschaften anerkannt werden.432 Aus diesen Erkenntnissen Leforts leitet Mouffe ab, dass es in modernen demokratischen Gemeinschaften kein substantielles „common good“ mehr geben könne.433 Wo die Macht zur Leerstelle geworden sei und sich entsprechend die Sphären des Rechts und des Wissens von der Sphäre der Macht emanzipiert hätten, seien diese gesellschaftlichen Sphären notwendig der Bedingung radikaler Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit unterworfen.434 Moderne pluralistische demokratische Gesellschaften seien daher seit der demokratischen Revolution, auch hier beruft sich Mouffe auf Lefort, als „theatre of an uncontrollable adventure“ zu verstehen und zu behandeln.435 Trotz der im Anschluss an Lefort (und an diesen anschließend Laclau und Mouffe) entstandenen Vielzahl an radikaldemokratischen Positionen können aus der Gemengelage an Perspektiven und Stoßrichtungen doch einige zentrale Kategorien destilliert werden, um die herum oder innerhalb derer die meisten der oben skizzierten Fragen diskutiert werden. Diese werden im Folgenden herausgearbeitet, um die im Anschluss vorgenommenen Rekonstruktion der politischen Theorie Leforts vorzubereiten und

430 Mouffe, Chantal: Radical Democracy: Modern or Postmodern? In: Martin, James (Hrsg.). Chantal Mouffe. Hegemony, Radical Democracy and the Political. S. 91 - 102, hier S. 93. 431 Ebd. 432 Ebd. 433 Mouffe, Chantal: Democratic Citizenship and the Political Community. In: Martin, James (Hrsg.). Chantal Mouffe. Hegemony, Radical Democracy and the Political. S. 103 - 114, hier S. 106. 434 Ebd. 435 Mouffe, Chantal: Politics and the Limits of Liberalism. In: Martin, James (Hrsg.). Chantal Mouffe. Hegemony, Radical Democracy and the Political. S. 115 - 131, hier S. 125. Vgl. Lefort, Claude: The Political Forms of Modern Society. Bureaucracy, Democracy, Totalitarianism. Cambridge 1986. S. 305.

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daran anschließend die Neuinterpretation der politischen Theorie Rousseaus zu leisten. II. 6. 3. Zentralkategorien der radikalen Demokratie Es gibt verschiedene Versuche, die zum Diskurs der gegenwärtigen radikalen Demokratie zählenden theoretischen Ansätze zu kategorisieren und zu systematisieren, etwa nach ihrer ideengeschichtlichen Herkunft in einen „assoziativen“ Strang in der Nachfolge Hannah Arendts und einen „dissoziativen“ Strang in der Nachfolge Carl Schmitts.436 Ein eher systematischer Zugang unterscheidet nach verschiedenen Verständnissen des Politischen, etwa als „Norm“, „Hegemonie“, „Stiftung“, „Ereignis“ oder „agon“ und nach den jeweils daraus abgeleiteten beziehungsweise ableitbaren Konsequenzen für Politikwissenschaft und Politik.437 Eine weithin anerkannte Definition radikaler Demokratie identifiziert den Diskurs anhand der geteilten Prinzipien einer zentralen Stellung des Politischen, eines Verständnisses von Demokratie als modus vivendi im Gegensatz zu einem instrumentell-institutionellen Verständnis und als Prozess der Konstruktion von politischen Subjekten und demokratischen Identitäten.438 Mit Blick auf die Herausarbeitung eines radikaldemokratischen Analyserasters, wie es an die politischen Schriften Rousseaus angelegt werden soll, gilt es darüber hinaus noch weitere zentrale Kategorien näher zu bestimmen, sei es positiv aus diesem Denken selbst heraus oder in Abgrenzung zu verwandten und/ oder konkurrierenden Demokratieverständnissen. So unterscheidet sich das gegenwärtige radikaldemokratische Denken zum Beispiel von deliberativen, mehr oder weniger der Tradition der kritischen Theorie verpflichteten Demokratietheorien vor allem in der Bewertung der Kategorien der Macht, Herrschaft, Ungleichheit, Repräsentation, Identitäten, der Bewertung von Konflikten sowie in der Frage nach der prinzipiellen Reichweite und Zuständigkeit von Politik. Während deliberative Demokratietheorien bestimmte ethische oder religiöse Fragen aus dem öffentlichen Diskurs ausklammern, versteht das moderne radikaldemokratische Denken die Demokratie insofern als „skandalös“, als diese beständig und radikal ihre eigene „Revolutionierung“ vorantreibe. Das 436 Marchart, Oliver: Die Politische Differenz. S. 35 - 42. 437 Bedorf, Thomas: Konturen einer Differenz. S. 16 - 32. 438 Norval, Aletta: Radical Democracy. S. 589ff.

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meint nicht, dass die an die existierenden parlamentarischen Demokratien gerichtete Kritik zu „autoritären Lösungen und mythischen Gemeinschaften“ führen, sondern eher beständig die von liberalen Demokratietheorien sorgsam gezogene und streng bewachte Grenze zwischen dem Politischen und dem Sozialen, dem Privaten und dem Öffentlichen verschoben werden soll. Das bedeutet damit ebenfalls nicht, dass automatisch alles politisch und damit öffentlich ist, tendenziell jedoch könnte alles politisch werden, gibt es keine letztgültig festgezerrten Demarkationslinien zwischen einer vermeintlich unpolitischen Sphäre des Privaten und einer des öffentlich-politischen Einfluss- und Zuständigkeitsbereiches der Politik. Auch oder besser vor allem die Grenzziehung zwischen oikos und polis ist letztlich Sache des Souveräns und damit Aushandlungsgegenstand legitimer demokratischer Konflikte. Da der Souverän als Einheit, als Entität niemals letztgültig zu bestimmen ist, forcieren radikaldemokratische Ansätze die permanente Ausweitung des Zugangs zur (Rechte-) Gemeinschaft der Bürgerinnenschaft und betreiben damit zugleich die beständige Auflösung und Neudefinition des Volkes als zentraler politischer Einheit im Konflikt um seine eigene Identität.439 Damit zusammen hängt die notwendige und nicht abzustellende Konflikthaftigkeit oder antagonistische Natur jeden gesellschaftlichen Miteinanders. In Abgrenzung zum Diskurs der deliberativen Demokratie halten radikale Demokratinnen daher an der Macht als dem wesentlichen Prinzip gesellschaftlichen Seins fest. Macht-, Herrschafts- und somit Ungleichheitsverhältnisse werden tendenziell als gleichursprünglich mit der Entstehung von Gesellschaften verstanden und sind aus diesen weder wegzudenken, noch wegzuwünschen. Dagegen soll die daraus resultierende Konflikthaftigkeit ins Zentrum aller Reflexion gestellt und der angemessene Umgang mit ihr stets neu diskutiert werden. Das der marxistischen Tradition entstammende Ziel der Emanzipation des Menschen (-geschlechts) bedeutet im radikaldemokratischen Sinn dann entsprechend nicht die Abschaffung von Machtverhältnissen, so wünschenswert eines solche normativ auf den ersten Blick auch sein mag. Die Behauptung der Möglichkeit oder gar Existenz machtfreier Verhältnisse wird jedoch als gefährlich angesehen, insofern eine Politik, die dies verfolgte, ihre eigene Machtposition verbergen und so Widerstand, Kritik und nonkonformes Verhalten nicht nur delegitimieren, sondern dieses diskursiv verunmöglichen und so zur

439 Bensaïd, Daniel: Der permanente Skandal. S. 54.

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Schließung des Politischen beitragen würde. Dabei gilt es zu beachten, dass hegemonialen und machtdurchtränkten Diskursen immer auch eine wichtige, vor allem auch symbolische gesellschaftliche Ordnungsfunktion zugesprochen wird. Vor dem Hintergrund der Bedingung der Kontingenz moderner Gesellschaften bietet die Macht der Gesellschaft eine Grundlage oder einen Halt, indem sie behaupten zu wissen, was diese Gesellschaft ihrem Wesen nach ist und sie in ihrem Inneren zusammenhält. So können sich die Bürgerinnen als Teil einer sinnhaften Ordnung verstehen und adressieren und sich zu dieser Ordnung verhalten, affirmativ wie kritisch. Denn gleichzeitig muss über die temporäre Zustimmung zu Behauptungen und Angeboten einer kollektiven Identität immer auch deren Ablehnung, Hinterfragung und Herausforderung möglich sein, um eine wirklich demokratische Politik zu gewährleisten. Wenn also in diesem poststrukturalistischen und postmarxistischen Sinne von „radikaler“ Demokratie gesprochen wird, ist damit ein Denken bezeichnet, das an mitunter unhinterfragt geteilten Wurzeln und Grundlagen gesellschaftlicher Ordnungen vorstößt, um dort die gründenden Konflikte des Sozialen freizulegen und so die Bedingung dafür zu schaffen, dass von den dadurch als kontingent identifizierten Ursprüngen und Grundlagen jeder gesellschaftlichen Ordnung aus alle sich als notwendig, zwangsläufig und nicht veränderbar präsentierenden und sich vermeintlich als historisch überlegen behauptenden Ordnungen, Narrative und Strukturen hinterfragt, kritisiert und gegebenenfalls reformiert oder abgeschafft werden können. Was dieses Denken damit „radikal“ macht, ist neben der Betonung des immanenten Prinzips der Selbstinstituierung aller demokratischen Gemeinschaften das geteilte Verständnis des Politischen als „auf die unhintergehbaren Momente des Dissenses und Widerstreits, des Ereignisses, der Unterbrechung und Instituierung“440 abzielend. Die politische Einheit des Volkes ist dabei „nicht der Ausdruck eines gemeinsam zugrundeliegenden Wesens, sondern das Resultat politischer Konstruktion und politischen Kampfes“441. Oder anders ausgedrückt: „Vorstellungen eines Kollektivs, Imaginationen von Gemeinschaft und Phantasmen der Einheit sind kontingente Sammlungen widerstreitender Repräsentationen“442. Gerade die Demokratie zeichnet sich in Bezug auf ihren kollektiven Akteur, das Volk,

440 Bröckling, Ulrich/ Feustel, Robert: Einleitung. S. 8. 441 Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. S. 108. 442 Bedorf, Thomas: Bodenlos. Der Kampf um den Sinn im Politischen. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5, 2007. S. 689 - 715, hier S. 693.

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dann von jeher durch die Existenz einer „nichtdemokratische(n) Peripherie und (eines) nichteingegliederte(n) Substrat(s) aus, welches (sie) materiell stützt und gegen das sie sich gleichzeitig abgrenzt“, also durch ein „verschlossenes Innen“ und ein „konstitutives Außen“.443 Dieses verschlossene Innen oder die Grenze zwischen Innen und Außen ist der originäre Kampfplatz moderner radikaldemokratischer Theorien, Positionen und Projekte um den Einschluss der Ausgeschlossenen und die permanente Ausweitung der Kategorie der Bürgerinnenschaft. Von ihren kontingenten Ursprüngen aus betrachtet, präsentiert sich die Demokratie somit als die „fortgesetzte Stiftung und Institution (ihrer) selbst“444. Gerade weil sich mit Beginn der so genannten Moderne und der damit einhergegangenen Auflösung der „Grundlagen aller Gewissheit“ niemand mehr mit dem Anspruch auf Allein- und Letztgültigkeit auf transzendente, religiöse, ethische oder traditionelle Gründungsprinzipien berufen kann, kann man in einem radikalen Sinne von Freiheit sprechen. Radikal zu denken ist dann die Voraussetzung dafür, die Demokratie mit Blick auf ihre uneingelösten und uneinlösbaren Versprechen als unvollständig und notwendig „im Kommen“ zu verstehen: „Der Ausdruck kommende Demokratie (démocratie a venir) steht zweifellos für eine kämpferische und schrankenlose politische Kritik oder verlangt doch danach. Als Waffe gegen die Feinde der Demokratie erhebt sie Widerspruch gegen jede naive oder politisch missbräuchliche Rhetorik, die als gegenwärtige oder faktisch bestehende Demokratie ausgibt, was dem demokratischen Anspruch in der Nähe oder Ferne, zu Hause oder in der Welt unangemessen bleibt“445. Die konkrete Bedeutung von Demokratie und daran anschließend eines diesem Verständnis adäquaten Institutionensystems lässt sich also immer nur temporär, nie jedoch endgültig festlegen. Der Diskurs der gegenwärtigen radikalen Demokratie begrüßt diese Unbestimmtheit und Offenheit, da sie als die Bedingung der Möglichkeit verstanden wird, dominante oder hegemoniale Vorstellungen und Ordnungen herauszufordern und zu reformieren und so demokratische Gemeinschaften vor Schließungen und schlimmstenfalls dem Umschlag in Despotie oder Totalitarismus zu bewahren. Demokratie ist im radikaldemokratischen Denken daher nicht (nur) als Staats- oder

443 Brown, Wendy: Wir sind jetzt alle Demokraten. S. 63. Zum konstituitven Außen siehe auch Staten, Henry: Wittgenstein and Derrida. Oxford 1985. 444 Lefort, Claude/ Gauchet, Marcel: Über die Demokratie. S. 96. 445 Derrida, Jacques: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. Frankfurt am Main 2003. S. 123.

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Regierungsform, sondern als niemals abzustellender konflikthafter Prozess zu verstehen, für den pouvoir constituant und pouvoir constitué gleichermaßen bedeutsam sind. So oszilliere die demokratische Praxis stets zwischen einer Politik des Aufstandes und einer Politik der Verfassung, zwischen permanenter Revolution und institutioneller Ordnung.446 Gerade in repräsentativen liberalen Demokratien ist das radikaldemokratische Prinzip zivilen Ungehorsams dabei aufgrund der Konsensorientierung des Liberalismus von enormer demokratietheoretischer Bedeutung, da dort der zivile Ungehorsam als Motor eines demokratischen Moments wirken könne und müsse, welcher die „Dialektik von konstituierender Macht und konstituierter Macht“ anstoße und in Bewegung halte.447 Der Versuch der Verdrängung von Konflikten aus dem öffentlichen Raum, wie ihn die neoliberale Hegemonie betreibe, ist dagegen für radikale Demokratinnen gleichbedeutend mit der Abschaffung von Demokratie überhaupt.448 Die bestehenden demokratischen politischen Systeme müssten daher dahingehend radikalisiert werden, dass ganz grundsätzlich zunächst die eigentliche Bedeutung des Begriffs der Demokratie, also ihrer beiden Komponenten der Volks-Herrschaft, herausgefordert und hinterfragt würde. Die sich dadurch und darin offenbarende crisis of meaning, so die Hoffnung, bedeutet dann die Bedingung der Möglichkeit von Emanzipation und Freiheit: „Rather than mourning the loss of a means to achieve these ideals, one can argue that the very fragmentation of democratic strategies opens a field of application by unsettling a dominant version. In this sense democracy becomes radicalized as its very definition becomes matter of contest and debate. In this radicalized vision of pluralism there is a source of political possibility even in democracy´s crisis of meaning”449. Jede demokratische Politik muss sich daher im Widerspruch zwischen unbedingten Prinzipien und bedingten Praktiken einrichten, ohne diesen Widerspruch dabei überwinden zu wollen.450 Daraus, dass der leere Signifikant Demokratie heutzutage beliebter ist, als jemals zuvor, resultiere nämlich auch 446 Balibar, Etienne. Die Grenzen der Demokratie. Hamburg 1993. S. 113. 447 Celikates, Robin: Ziviler Ungehorsam und radikale Demokratie. Konstituierende vs. konstituierte Macht? In: Bedorf, Thomas/ Röttgers, Kurt (Hrsg.): Das Politische und die Politik. Berlin 2010. S. 274 - 300, hier S. 278. 448 Mouffe, Chantal: Dekonstruktion, Pragmatismus und die Politik der Demokratie. In: Dies. (Hrsg.). Dekonstruktion und Pragmatismus. Demokratie, Wahrheit, Vernunft. Wien 1999. S. 11 - 36, hier S. 27. 449 Trend, David: Democracy´s Crisis of Meaning. S. 17. 450 Bensaïd, Daniel: Der permanente Skandal. S. 53.

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eine gewisse Substanzarmut. So bekennen sich zwar heutzutage weltweit Parteien und Politikerinnen aller politischen Couleur zur Demokratie, ja selbst die Linke bejuble die „radikale Demokratie“ als das, was mit dem Kommunismus eigentlich immer schon gemeint gewesen sei. Genau deswegen aber müsse man immer im Blick haben, dass es „die“ Demokratie nicht gibt und sie vor allem nicht in ihrer liberalen Variante aufgehe. Diese stellt vielmehr nur eine von unzähligen historisch denkbaren Möglichkeiten dar, wie ein souveränes Volk seine politische Machtverteilung regeln könne. Es gibt also kein einziges zwingendes Argument dafür, dass Demokratie mit „Repräsentation, Verfassungen, Deliberation, Partizipation, freien Märkten, Rechten, Universalität oder (…) Gleichheit“ gleichgesetzt werden müsse, letztlich bedeute der Begriff eben nicht mehr (aber auch nicht weniger), als dass ein souveränes Volk sich selbst regiert. Dies sage aber noch lange nichts darüber aus, welche Gewalten auf welche Art geteilt werden sollen, wie Herrschaft organisiert sein muss und welche Institutionen einzurichten sind.451 Mag die Demokratie also ein exemplarischer Fall von Bedeutungslosigkeit geworden und jede Möglichkeit ihrer Infragestellung heutzutage angesichts des hegemonialen liberalen Verständnisses passé erscheinen, so dass bestenfalls noch über verschiedene Formen von Demokratie diskutiert würde,452 dann muss jeder politische Kampf genau hier ansetzen und zunächst ein kollektives Bewusstsein um die Kontingenz am Grund aller gesellschaftlicher Ordnungen und ganz besonders der Demokratie (wieder-) beleben, wie es vorliegende Arbeit als in den Arbeiten Leforts und Rousseaus mit dem daran anschließenden Ziel der Schaffung von Kontingenztoleranz und Kontingenzaffirmation angelegt behauptet. Was die Denkerinnen des gegenwärtigen radikaldemokratischen Diskurses also eint, ist ein Post-Fundamentalismus als Ausgangspunkt aller Reflexionen zum Verhältnis des Politischen zur Politik. In Abgrenzung zu fundamentalistischen Ansätzen, welche die Gesellschaft und Politik als auf der politischen Auseinandersetzung entzogenen ewigen und transzendentalen Prinzipien ruhend verstehen, lehnen Postfundamentalisten die Idee einer Gründung von Gesellschaft und Politik nicht grundsätzlich ab (dies würden Anti-Fundamentalisten tun) wohl aber die einer letztgültigen

451 Brown, Wendy: Wir sind jetzt alle Demokraten. S. 55ff. 452 Nancy, Jean-Luc: Begrenzte und unendliche Demokratie. In: Agamben, Giorgio (Hrsg.). Demokratie? S. 72 - 89, hier S. 72.

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vor- und damit a-politischen Gründung.453 Das Politische im Gegensatz zur Politik ist dabei die Dimension, in welcher den (vorläufigen) Gründen und prekären Gründungen demokratischer Gesellschaften nachgespürt wird. Das in dieser Beschäftigung durchscheinende Kontingenzbewusstsein ist die Bedingung der Möglichkeit von Emanzipation, Autonomie und Freiheit. Die damit verbundene Gewissheit, dass die Demokratie immer nur als ein Ideal zu verstehen ist, welches realiter niemals zu voller Verwirklichung kommen kann, muss somit über eine allmähliche Kontingenztoleranz letztlich in eine allgemeine Kontingenzaffirmation überführt werden. Die Politische Differenz zwischen dem Politischen und der Politik lässt sich dabei in die Unterscheidung von instituierender Macht und instituierter Macht oder einer konstituierenden Macht und einer konstituierten Verfassungs- und Herrschaftsordnung übersetzen. Diese in jeder Demokratie gleichzeitig wirksamen Phänomene werden als in einem paradoxalen Verhältnis zueinander stehend begriffen.454 Die gegenwärtigen Theorien radikaler Demokratie heben dabei stärker auf den instituierenden oder konstituierenden Moment ab und kritisieren von diesem aus die institutionalisierten Formen von Demokratie oder richten Reformforderungen an diese. Nicht jede Post-Fundamentalistin ist somit radikale Demokratin, wohl aber jede Radikaldemokratin zwingend Post-Fundamentalistin. Wo kein Gott, keine (menschliche) Natur, kein König, keine Vernunft und kein Weltgeist als Ursprung und Ziel einer politischen Gemeinschaft akzeptiert werden, da erst kann diese wirklich als politisch bezeichnet werden und erst dort besteht wirklich die Möglichkeit zu Freiheit, Autonomie und Souveränität. Freiheit wird im radikaldemokratischen Diskurs also anders als etwa in liberalen Theorien nicht zuerst als ein natürliches Recht verstanden, welches die Abwehr gegenüber Eingriffen seitens Staat und Gemeinschaft verlangt und stützt. Sie ist andererseits aber ebenso wenig an eine für sie konstitutive Gemeinschaft im streng kommunitaristischen Sinne gekoppelt, sondern generiert sich erst im und durch den demokratischen Prozess und wird in diesem gelebt und erlebt. Dieser Prozess setzt ein, wo die Auflösung aller Grundlagen der Gewissheit im kollektiven Bewusstsein der Menschen angekommen und positiv konnotiert verankert ist, sie sich also auf sich selbst zurückgeworfen wiederfinden und daraus jedoch keine fata453 Marchart, Oliver: Die Politische Differenz. S. 245ff. 454 Loughlin, Martin/ Walker, Neil (Hrsg.): The Paradox of Constitutionalism. Constituent Power and Constitutional Form. Oxford 2007.

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listischen Konsequenzen ziehen, sondern sich als die Herrinnen ihres Schicksals begreifen. Freiheit steht im radikaldemokratischen Verständnis dann für die (prinzipielle, nicht unbedingt faktische) individuelle und kollektive Autonomie sowie für persönliche und soziale Indeterminiertheit, verbunden mit der permanenten Möglichkeit der Neufestlegung der eigenen kollektiven Identität. Sie ist dann gleichzeitig aber auch insofern „gefährlich“, als sie mit der Affirmation von Kontingenz hohe Anforderungen an die demokratischen Bürgerinnen stellt und diesen viel abverlangt. Arthur Lovejoy identifizierte das Unbehagen angesichts der modernen Freiheit, in welchem die permanente Gefahr ihrer Preisgabe an ein totalitäres Einheitsversprechen angelegt ist, mit dem „monistische(n) oder pantheistische(n) Pathos („alles ist eins“)“, welches „ein erfreuliches Gefühl der Freiheit (gewähre), das aus einem Bewusstsein des Sieges über oder der Lossprechung von den ärgerlichen Teilungen und Trennungen der Dinge entspringt. Die Erkenntnis, dass Dinge, die wir bisher als getrennt betrachtet haben, irgendwie eins sind, ist schon meist eine erfreuliche Erfahrung für die Menschen (…): Wenn nun eine monistische Philosophie behauptet oder den Eindruck hervorruft, dass man selbst Teil einer allumfassenden Einheit ist, dann erweckt dies einen ganzen Schwall verworrener Gefühle (…): Santayanas Sonett, das mit den Worten beginnt „I would I might forget that I am I“ drückt in fast unübertrefflicher Weise diese Stimmung aus, in der das Bewusstsein der Individualität zur drückenden Last wird. Die monistischen System verschaffen uns nun zuweilen dieses Erlebnis der Flucht aus dem Bewusstsein, ein begrenztes, vereinzeltes Wesen zu sein“455. Somit trägt die moderne Demokratie immer schon die Bedingungen ihrer Preisgabe an Versprechen von Ordnung und Sicherheit in sich, welche autoritäre und totalitäre Herrschaftsformen sich auf die Fahnen schreiben und vor sich hertragen. Die demokratische Freiheit muss aber zuerst ausgehalten werden, um überhaupt ausgeübt werden zu können, ihr Genuss erfordert den nicht zu vermeidenden Umgang mit ihrer Kehrseite, ohne die sie nicht zu haben ist: Das Bewusstsein um die Unmöglichkeit letzter Sicherheiten. Wenn die moderne liberale Demokratie also keine letztgültigen Gründe oder Fundamente hat, dann aber dennoch ihr eigene Prinzipien. So ist sie seit der Französischen Revolution, aus der sie als Siege455 Lovejoy, Arthur O.: Einleitung. Die Beschäftigung mit der Ideengeschichte. In: Ders. Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt am Main 1985. S. 11 - 36, hier S. 23f.

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rin über das Ancien Régime hervorgegangen ist, zugleich vom liberalen Prinzip der Freiheit, wie auch vom demokratischen Prinzip der Gleichheit geprägt. Diese Prinzipien werden als grundlegend für liberal-demokratische Gesellschaften angesehen, stehen zugleich aber in einem paradoxen Verhältnis zueinander, widersprechen die demokratischen Prinzipien der Gleichheit und Volkssouveränität doch den liberalen Prinzipien individueller Freiheit und universeller Menschenrechte und schließen sich eigentlich sogar gegenseitig aus.456 Damit befinden sich liberale Demokratien seit dem erfolgreichen gemeinsamen Kampf der liberalen Freiheit und der demokratischen Gleichheit gegen das Ancien Régime in einer liaison dangereuse, was allein noch nicht problematisch ist, aus einer radikaldemokratischen Perspektive zumal, werden dort die Spannungen zwischen beiden Prinzipien doch als fruchtbar begrüßt. Denn schließlich halten sie sich nicht nur gegenseitig in Schach und damit Freiheit und Gleichheit sich letztlich in der Waage, sondern sie provozierten darüber hinaus einander permanent, was nicht nur wesentlich zur Belebung des öffentlichen Lebens beitrage, sondern eine Grundbedingung diese Belebung darstellt. Wenn diese Waage aber dauerhaft aus dem Gleichgewicht gerät, wie dies aus Sicht radikaler Demokratinnen seit einigen Jahrzehnten der Fall ist, dann ist die demokratische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit bedroht. So dominiere spätestens seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes, eigentlich jedoch schon seit der Ära Thatchers und Reagans die neoliberale Perspektive die allgemeine Selbstwahrnehmung der westlichen liberal-demokratischen Gesellschaften. Das Problem wird dabei nicht nur darin gesehen, dass das neoliberale Paradigma die Lufthoheit über die Deutungskämpfe um die der Demokratie angemessenen Prinzipien, Praktiken, Formen und ihr Selbstverständnis für sich behauptet, sondern vor allem auch darin, dass es die eigene Position als Teilnehmer in einem prinzipiell offenen Deutungskampf erfolgreich verschleiert und sich als objektiv, vernünftig oder alternativlos selbst ans Ende aller Geschichte setzt. Genau deswegen wird die Demokratie heute mit Churchill weithin nur noch als die schlechteste, wenngleich aber aber bestmögliche Technik einer Einsetzung von Regierungen postuliert und wahrgenommen, die ihre Legitimation mit

456 Marchart, Oliver: Äquivalenz und Autonomie. Vorbemerkungen zu Chantal Mouffes Demokratietheorie. In: Mouffe, Chantal. Das demokratische Paradox. Wien 2008. S. 7 - 14.

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Verweis auf ihre Leistungsfähigkeit und ihren Output generiert.457 Dadurch delegitimiert das hegemoniale neoliberale Verständnis der Demokratie alle Angriffe gegen diese als unvernünftig, aufrührerisch oder wohlstandsfeindlich. Da sich die Demokratie als Folge daraus derzeit in einem turnusmäßigen Elitenwettkampf erschöpfe,458 spricht etwa Rancière lieber von einem „Kapitalparlamentarismus“459. Die geforderte „Demokratisierung der Demokratie“ muss daher mehr als ein bloßes Insistieren auf mehr „Partizipation“ sein, wie es noch von MacPherson oder Barber (und von beiden mit Bezug auf Rousseau) vorgeschlagen wurde. Im Gegenteil richtet sich der radikaldemokratische Diskurs genau gegen dieses oft als Allheilmittel propagierte Verständnis von politischer Partizipation im Sinne direkter Demokratie, wie es eben die „traditionelle“ radikale Demokratie fordert. Einer formell bestimmten Bürgerinnenschaft den Zugriff auf Teile eines starren Institutionensystems zuzusichern, ist den modernen Radikaldemokratinnen zu wenig, so lange nicht die Bürgerinnenschaft und die Institutionen selbst in den Blick genommen und auf ihr Zustandekommen hinterfragt, gegebenenfalls reformiert und insofern eben radikalisiert werden. Weder können direktdemokratische Verfahren mehr Legitimation beanspruchen, als repräsentative Verfahren, noch ist die mit allen Formen der direkten Partizipation einhergehende Über-Legitimation politischer Entscheidungen vor der Schließung des Politischen gefeit, noch sind sie der Demokratisierung oder Radikalisierung der bestehenden Verhältnisse und Institutionen zuträglich, sondern stützen diese eher noch.460 Daher betonen Radikaldemokratinnen die enorme symbolische und damit aber immer auch praktische Bedeutung des Repräsentationsprinzips, jedoch aus ganz anderen Gründen, als es liberale Demokratietheorien tun. Da es „die“ Gesellschaft oder „das“ Volk aus radikaldemokratischer Perspektive nicht gibt, kann es niemals eine vollständig legitime Repräsentation der Gesellschaft oder des Volkes geben.461 Dies würde schließlich einen außer- oder übersozialen Standpunkt behaupten, von dem aus sich die Gesellschaft als Ganze in einer Totalität beschreiben und kategorisie-

457 Buchstein, Hubertus: Demokratie. In: Göhler, Gerhard/ Iser, Matthias/ Kerner, Ina (Hrsg.). Politische Theorie. S. 46 - 62. 458 Mouffe, Chantal: The Return of the Political. A.a.O. 459 Rancière, Jacques. Das Unvernehmen. A.a.O. 460 Nonhoff, Martin: Demokratisches Verfahren und politische Wahrheitsproduktion. S. 313 - 332. 461 Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. S. 149.

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ren ließe, wie er (und sie) realiter nicht existiert. Wo ein solcher Standpunkt existierte und von wo ein Blick auf das Wesen und den Grund (und gegebenenfalls das Ende) alles Sozialen möglich wäre, wäre jede Politik in aller Konsequenz unnötig. Genau dies werfen die modernen Radikaldemokratinnen sowohl dem Liberalismus wie auch dem Marxismus und den empirischen Sozialwissenschaften vor. Auf der anderen Seite reden sie aber eben keiner vulgären Repräsentationskritik das Wort und promoten demgegenüber etwa das anachronistische Ideal einer „direkten“ Demokratie. Vielmehr heben sie gerade die Bedeutung der aus ihrer Unmöglichkeit resultierenden Widersprüchlichkeit aller Repräsentation in Bezug auf Sollen und (behauptetes) Sein hervor. Besonders der für Claude Lefort zentrale Unterschied zwischen der Dimension des Symbolischen und der Dimension des Realen, die Kluft, die sich zwischen Anspruch und Wirklichkeit auftut, muss als der demokratische Kampfplatz verstanden werden, auf dem dem radikaldemokratische Ansätze die Bedingung der Möglichkeit freiheitlichen Handelns und emanzipatorischer Politik zu erkämpfen sehen. Die repräsentative Demokratie ist dann für die gesellschaftliche Reflexion über die Unaufhebbarkeit von Konflikten insofern geeigneter als die direkte Demokratie, als Regierung, Parlament und ganz allgemein die Politik als symbolischer Ort angesehen werden, welcher es der Gesellschaft erlaubt, ihre Macht über sich selbst symbolisch abzubilden und zu erfahren und Konflikte dadurch als öffentliche Kontroverse um die Besetzung der leeren Stelle der Macht zu inszenieren und auszutragen beziehungsweise austragen zu lassen.462 Die für Lefort immens wichtige symbolische „Inszenierung“ (mise-en-scène) der Demokratie bedeutet eine Diskrepanz zwischen Sein und Schein, die unbedingt bestehen bleiben muss. Wo eine politische Einheit, ein kollektiver Wille oder ein geteiltes Schicksal behauptet und zugleich symbolisch inszeniert werden, da deckt sich dies nie mit der in Bezug auf diese Behauptung oder Inszenierung als defizitär erlebten Realität der Bürgerinnen. Dadurch wird schließlich erst der Widerspruch zum Beispiel gegen die Behauptung der „Gleichheit“ in der Demokratie möglich, der sich zu konzertierten oder auch spontanen politischen Aktionen gegen faktische Ungleichheiten ausweiten kann. Solche Ungleichheiten würden aus Sicht radikaler Demokratinnen als solche gar nicht erkannt werden können, gäbe es nicht die symbolische Behaup-

462 Brodocz, André: Die Konflikttheorie des zivilgesellschaftlichen Republikanismus. S. 240.

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tung der Gleichheit. Die symbolische Trennung einer Ebene der Macht von der Gesellschaft, etwa in Form von Staat oder Regierung, welche durch das Prinzip der Repräsentation geschaffen und gewährleistet wird, ist also die erste Voraussetzung für Widerspruch, Widerstand, politisches Handeln und damit Freiheit und zugleich konstitutiv für die Gesellschaft. In Bezug auf sein Akteursverständnis ist der Diskurs der radikalen Demokratie dabei insofern „anti-individualistisch“ als er Individuen und deren Identitäten nicht als prä-politisch existent versteht. Vielmehr entstehen diese erst in Differenz zu anderen in kollektiven politischen Anerkennungskämpfen, wie sie Folge der oben skizzierten Widersprüche zwischen Symbolischem und Realem sein können und sein sollen. Politische Subjekte werden idealtypisch als das temporäre und volatile Ergebnis demokratischer Auseinandersetzungen verstanden, alle Identitäten sind damit in ihrer Entstehung ebenso kontingent und der permanenten Reformulierung ausgesetzt, wie die Gesellschaft selbst.463 Subjekte oder Identitäten sind folglich in einem postmodernen Verständnis Produkte von Diskursen und der in ihnen wirkenden und diese bestimmenden Machtverhältnisse. Laclau definierte derlei Diskurse als das „Ensemble der Phänomene gesellschaftlicher Sinnproduktion, das eine Gesellschaft als solche begründet“464. Das bedeutet, dass keine Gesellschaft, keine Institutionen, kein Volk, keine Nation und keine Identitäten außerhalb oder unabhängig von Diskursen existieren. Somit verabschiedet der Diskurs der radikalen Demokratie die Vorstellung eines apriorischen moralischen Subjekts zugunsten „formender und lenkender sozialer Kräfte und Diskurse“. Das bedeutet nun nicht, dass Radikaldemokratinnen jede Vorstellung von Identität für völlig beliebig und voraussetzungslos halten. Sie reden keinem identitätspolitischen „anything goes“ das Wort, vielmehr geht es ihnen auf einer theoretischen Ebene um bestimmte Prämissen, von denen aus bestimmte gesellschaftliche Phänomene in den Blick genommen und woraus folglich alternative politische Forderungen abgeleitet werden können. So kann, wie hier vorgeschlagen, das Ziel radikaler Demokratietheorien darin gesehen werden, die Existenz und Wirkung von Diskursen zu allgemeinem Bewusstsein zu verhelfen, sie in ihrer konkreten Geschichtlichkeit und ihrer

463 Hetzel, Andreas: Der Staat im Diskurs der radikalen Demokratie. In: Hirsch, Michael/ Voigt, Rüdiger (Hrsg.): Der Staat in der Postdemokratie. S. 171 - 189, hier S. 185. 464 Laclau, Ernesto: Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus, Faschismus, Populismus. Berlin 1981. S. 176.

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Funktion offenzulegen und sie so demokratisch zu kontrollieren. Den Menschen müsse klar gemacht werden, welche sozialen oder politischen Kräfte ihnen mit welcher Absicht und welcher Wirkung Normen vorgeben, sie dadurch als Subjekte konstituieren und ihnen so Alternativen vorenthalten. Erst so würde ihnen der Entwurf von Alternativen ermöglicht.465 Natürlich gibt es auch für Radikaldemokratinnen Phänomene und Ereignisse, die unabhängig von Diskursen ohne jeglichen menschlichen Einfluss vonstattengehen: „Nicht die Existenz von Gegenständen außerhalb unseres Denkens wird (jedoch) bestritten, sondern die (…) Behauptung, dass sie sich außerhalb jeder diskursiven Bedingung des Auftauchens als Gegenstände konstituieren könnten“466. Das bedeutet, dass nicht die reine Existenz, wohl aber der Sinn von Phänomenen nur durch und in Diskursen konstruiert und erhalten wird, ihnen außerhalb dieser Diskurse jedoch keine originäre Bedeutung zukommt. Identitäten sind daher stets das Ergebnis von Zustimmung oder Ablehnung gesellschaftlich transportierter Erwartungen und Leitbilder und der hinter ihnen stehenden oder ihnen zugrundeliegenden, sie bedingenden Machtverhältnisse. Das Subjekt wird in und durch eine Vielzahl von Diskursen konstruiert und ist somit niemals vollständig zu bestimmen. Die radikale Demokratietheorie kennt „den“ Menschen also nicht und lehnt diese Kategorie strikt ab: „Nur wenn akzeptiert wird, dass die Subjektpositionen nicht auf ein positives und einheitliches Grundprinzip zurückgeführt werden können – nur dann kann der Pluralismus radikal gedacht werden“467. Die Demokratie sei daher keine Regierungsform, sondern „Subjektivierungsmodus, durch welchen politische Subjekte existieren“ und somit „Institution der Politik selbst“468. Wo in konkurrierenden Demokratiekonzeptionen im Anschluss an Kant an einem vorpolitischen, transzendentalen Subjektbegriff festgehalten würde, verträten Radikaldemokratinnen also ein eher an Hegel orientiertes Subjektverständnis als das Produkt sozialer Strukturen.469 In Bezug auf die politischen Identitäten demokratischer Akteure vertritt der Diskurs der radikalen Demokratie also die Position, dass Individuen nicht mehr nur einer

465 466 467 468 469

Brown, Wendy: Wir sind jetzt alle Demokraten. S. 66. Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. S. 158. Dies. S. 328f. Rancière, Jacques: Au bord du politique. Paris 1998. S. 13. Heil, Reinhard: Radikale und plurale Demokratie. In: Die Erosion der Demokratie. Vorgänge 190, Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 49. Jahrgang, Heft 2. Berlin 2010. S. 55 - 63, hier S. 58.

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einzigen sozialen Gruppe, etwa dem Proletariat, angehören, sondern sich zeitgleich oder auch abwechselnd mehreren, sich mitunter überlappenden und teils widersprechenden sozialen Gruppen zuordnen können. Entsprechend können sie nicht mehr nur auf eine, per Klassenzugehörigkeit definierte Identität verpflichtet werden, sondern wechselten permanent zwischen verschiedenen Identitäten, passten diese an oder kombinierten mehrere miteinander, was selbstverständlich Auswirkungen auf die Frage der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft und den dieser gegenüber zu leistenden Pflichten hat. Demokratie bedeute entsprechend keine „mere alliance between given interests“, sondern „actually modifying their identity to bring about a new political identity“.470 Somit setzt sich der Diskurs bewusst von zentralen Prämissen der Rational-Choice-Theorien, der Systemtheorie, liberaler Konzeptionen von Demokratie und des Marxismus ab. Versteht Letzter Konflikte etwa noch als notwendig aus den „Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion“471 resultierend und jede politische Identität in diesen gründend, hebt der Diskurs der radikalen Demokratie eben auf ein Verständnis von politischen Identitäten als Ergebnis spezifischer diskursiver antagonistischer Beziehungen ab. Die prekäre Existenz der einen Identität ist dabei nicht ohne die Existenz ihrer „Gegner“ zu denken, weswegen es keine prä- oder a-politischen Identitäten geben kann.472 Für Radikaldemokratinnen existieren entsprechend auch keine Wahrheiten oder Objektivitäten im metaphysischen Sinn. Daher müssen eben alle ja dennoch wirksamen Behauptungen von Wahrheiten auf ihr Zustandekommen hinterfragt und so deren kontingenter Charakter entlarvt werden. Es gibt keine Ordnung, keine Geschichte, kein allgemein als legitim anerkanntes Prinzip oder Verhältnis, das nicht als hegemoniales da sich selbst verabsolutierendes Ergebnis von Machtverhältnissen in Deutungskämpfen verstanden werden kann. Alle „Realität“, alle sozialen Phänomene und politischen Institutionen müssen als sedimentierte Machtformen verstanden und dekonstruiert werden, um sie so der Kritik und Reform zugänglich zu machen. Denn jeder siegreiche Diskurs ist nur einer unter vielen historisch möglichen, weswegen seine Überlegenheit ebenso temporär wie prekär ist und bleiben muss. Die Demokratie ist dann keine Staatsform, sondern die paradoxe Bedingung demokratischer Politik, die

470 Mouffe, Chantal: Preface: Democratic Politics Today. In: Dies. (Hrsg.). Dimensions of Radical Democracy. London/ New York 1991. S. 1 - 14. 471 Marx, Karl: Das Kapital. S. 12. 472 Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. S. 180.

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jede vermeintliche Tatsache mit ihrer eigenen Kontingenz konfrontiert.473 Denn jede Hegemonie, verstanden als das Ergebnis erfolgreicher Objektivierung von Sinn und Bedeutung, ist als alternativlos im kollektiven Bewusstsein verankert. Am Grund oder Ursprung jeder Ordnung stehen politische Entscheidungen, welche, um wirklich als solche zu gelten, eine prinzipielle Unentscheidbarkeit voraussetzen. Die von solchen Entscheidungen ausgehenden Entwicklungen sedimentieren im Laufe der Zeit in Ritualen und Alltagspraktiken und sind als solche die erste Bedingung kollektiver Orientierung und Sinnstiftung. Der Erfolg einer Hegemonie hängt daher zu großen Teilen davon ab, wie gut es den nach Hegemonie strebenden politischen Akteuren gelingt, ihre Positionen zu universalisieren und die kontingenten Grundlagen der hegemonialen Ordnung somit vergessen zu machen, indem jene als natürlich oder gar notwendig dargestellt werden.474 Wenn die innergesellschaftlichen Bedingungen politischen Handelns in der konflikthaften Beziehung der Individuen zueinander gesehen werden, also in dem, was Lefort als die innere Zerrissenheit demokratischer Gesellschaften diskutiert, dann muss dabei die Teilung der Gesellschaft in ein Innen und Außen beziehungsweise in Macht und Gesellschaft immer mitgedacht werden. In den westlichen liberal-demokratischen Gesellschaften besetzt gemeinhin der Staat die Rolle der Macht. Dieser wird seitens linker Theorien (in Frankreich zumal) immer schon eher als Hindernis für Spontaneität, Freiheit, Kreativität und Individualität wahrgenommen und entsprechend als der Ort illegitimer zentralisierter Macht und permanenter Repression bekämpft. Gerade im Frankreich der Nachkriegsjahrzehnte arbeitete sich der dort im Verhältnis zum übrigen Europa sehr einflussreiche Marxismus lange Zeit an der Überwindung aller Staatlichkeit ab. Mit dem Aufstieg des Neoliberalismus bekam er dabei unerwartete Schützenhilfe, bekämpfte doch auch dieser die Dominanz des Staates, wenngleich unter anderen politischen Vorzeichen. So versteht das neoliberale Paradigma den Staat als Hemmnis für wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand und drängt daher auf dessen radikale Kompetenzbeschneidung. Damit habe der Neoliberalismus in den letzten Jahrzehnten ein Verschwinden des Staates von genau der politischen Bühne erreicht, „die (diese) einst (selbst) bereitstellte und verkörperte“. In der Folge habe der Staat sich und die Gesell473 Rancière, Jacques: Der Hass der Demokratie. S. 98. 474 Laclau, Ernesto: New Reflections on the Revolution of our Time. London/ New York 1990. S. 68f.

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schaft, so der Vorwurf seitens linker Theorien, mehr und mehr den Zwängen des Marktes unterworfen, ohne davon jedoch wie behauptet zu profitieren, was bezüglich der Staatskritik eine Neuorientierung emanzipatorischer Politik nötig gemacht habe.475 So löste die neoliberale Hegemonie eine „Krise der Repräsentation“ aus, welche zugleich „eine Krise des (traditionell) Politischen“ war, die sich im zunehmenden Legitimitätsverlust politischer Institutionen ausdrückte. Die Ablehnung der demokratischen Institutionen führte dann schließlich mangels alternativer gesellschaftlicher Vorstellungen zu Lethargie, Apathie, Frust, Wut und Gewalt, die erlebte Alternativlosigkeit ist wiederum das Ergebnis der diskursiven Korsetts des neoliberalen Denkens, welches kein „Außerhalb“ erkennen lasse und damit als eine Ursache für den aufkeimenden Rechtspopulismus angeklagt werden muss.476 Gegen ein solches „Einheitsdenken“ seitens des Staates vorzugehen, ist daher einer der wesentlichen gemeinsamen Nenner radikaldemokratischer Projekte.477 Das geforderte Umdenken bezüglich der Funktion und der Rolle des Staates wurde wesentlich von der politischen Theorie Claude Leforts mitinitiiert. Lefort verstand die Existenz eines Staates insofern als die notwendige Voraussetzung aller Versuche der (Re-) Demokratisierung bestehender Demokratien, als solche nur als permanenter Kampf gegen den Staat funktionierten. Demokratie ist im radikaldemokratischen Verständnis auch permanenter Widerstand gegen die Bemühungen des Staates, die ihn konstituierende Macht des Volkes zu integrieren und zu organisieren. Demokratische Politik ist dann die permanente widerständige Distanznahme zum Staat und seiner institutionellen Ordnung, also der Dissenses gegen die auf Konsens zielenden staatlichen Aktivitäten.478 Somit kann durchaus von einer Gegen-Staatlichkeit radikaldemokratischer Ansätze gesprochen werden, nicht jedoch von einer Anti-Staatlichkeit. Der Referenz- oder Angriffspunkt jeder so verstandenen demokratischen Politik sind dann in

475 Hetzel, Andreas: Der Staat im Diskurs der radikalen Demokratie. S. 171. Siehe auch Mouffe, Chantal: Über das Politische. A.a.O. 476 Azzelini, Dario: Krise der Repräsentation - Ablehnung der Politik. In: Marchart, Oliver/ Weinzierl, Rupert (Hrsg.). Stand der Bewegung? S. 105 - 114, hier S. 105f. 477 Hirsch, Joachim: Soziale Bewegungen in demokratietheoretischer Perspektive. In: Marchart, Oliver/ Weinzierl, Rupert (Hrsg.). Stand der Bewegung? S. 88 104, hier S. 91. 478 Critchley, Simon: Unendlich fordernd. Ethik der Verpflichtung, Politik des Widerstands. Berlin 2008. S. 20.

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einem weiten Sinne Institutionen, also gemeinhin alle Arten von Stillstellungen und Sinnfixierungen als Ausdruck sedimentierter Machtprozesse. Demokratische Politik in diesem Verständnis ist notwendig immer ein „Dagegen“, ohne dass daraus aber eine Überwindung oder Abschaffungen von Institutionen erhofft wird, sie ist gelebtes Hinterfragen, Bestreiten und Reformieren. Schließlich kann aus dem oben gesagten abgeleitet werden, dass auch für den Diskurs der modernen radikalen Demokratie die Bürgerin die „normative Zentralinstitution einer wie auch immer verstandenen Demokratie“ ist und dass folglich „der Erhalt der individuellen Freiheit der in politischer und rechtlicher Gleichheit in einem Gemeinwesen zusammenlebenden Bürger der wesentliche Sinn der Demokratie ist, dem sich zunächst alle anderen politischen Ziele nachzuordnen haben“.479 Jedoch schweigen sich die meisten Radikaldemokratinnen zwar nicht unbedingt zu den Bedingungen der Möglichkeit demokratischer Bürgerinnenschaft, wohl aber zu konkreten Maßnahmen, diese zu installieren oder zumindest zu ermöglichen, aus. Ein mögliches Anforderungsprofil an die radikaldemokratische Bürgerin findet sich vorsichtig formuliert bei William Connolly.480 Dieser versteht Differenz in einem ontologischen Sinne als „fundamental“ für Demokratien und damit auch für ihre Bürgerinnen.481 Daher verlange das demokratische Zusammenleben nach einem gewissen Ethos, der darin bestehe, Respekt für die Position des Gegners zu zeigen und dessen Legitimität anzuerkennen, ohne sich dafür aber zu weit von der eigenen Überzeugung entfernen und den mit Leidenschaft vertretenen eigenen Standpunkt aufweichen zu müssen. Wie dieser Ethos jedoch zu erreichen sei, findet sich in kaum einer radikaldemokratischen Abhandlung. Identifikation und Überredung als unerlässliche Ergänzungen zu diesen zu fordern, da es nicht genüge, zur Abkehr von defizitären demokratischen Verhältnissen auf politische Erziehung, qualitativ höherwertige Argumentationsmuster und die Aufdeckung oder Bewusstmachung von vermeintlichen Naturgegebenheiten oder Selbstverständlichkeiten zu setzen,482 wird zwar den Prämissen gerecht, an Machtverhältnissen als HIndernis gesell-

479 Greven, Michael Th.: Sind Demokratien reformierbar? Bedarf, Bedingungen und normative Orientierungen für eine Demokratiereform. In: Offe, Claus (Hrsg.). Demokratisierung der Demokratie. S. 72 - 91, hier S. 72. 480 Connolly, William E.: Pluralism. Durham 2005. S. 4. 481 Ders.: The Ethos of Pluralization, Minneapolis 1995. S. 104. 482 Norval, Aletta: Aversive Democracy: Inheritance and Originality in the Democratic Tradition. Cambridge 2007. S. 139.

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schaftlicher Entwicklung festzuhalten, kollidiert jedoch an einer bestimmten Stelle notwendig mit dem Prinzip moderner Freiheit. Dessen Aufgabe kann nicht mehr mit dem Ziel der Emanzipation des Menschen gerechtfertigt werden. Wenn das demokratische Ethos hingegen als Ausgangspunkt und nicht als Ziel der Politik verstanden werden soll,483 muss eine gut informierte politische Theorie Aussagen dazu treffen können, wie dieses geschaffen, vermittelt und gewährleistet werden kann. Hierin, so wird gezeigt werden, erweist sich Rousseaus politische Theorie als eine fruchtbare Ergänzung zu dem gegenwärtigen radikaldemokratischen Denken. II. 6. 4. Abgrenzungen Wenn sich Claude Lefort als Wegbereiter des gegenwärtigen radikaldemokratischen Diskurses explizit von einem Demokratieverständnis abgrenzte, wie er es als „mainstream“ in der Politikwissenschaft wahrnahm, dann muss nicht nur deutlich gemacht werden, worin sich die radikale Demokratie von Theorien „direkter“ oder „partizipatorischer“ radikaler Demokratie unterscheidet. Darüber hinaus empfiehlt es sich vielmehr, einen abschließenden Blick auf die impliziten und expliziten Abgrenzungen zu näher und ferner verwandten konkurrierenden Demokratieverständnissen zu werfen, um den Diskurs der modernen radikalen Demokratie möglichst genau einzugrenzen. Dessen Nähe zu republikanischen Theorien wurde bereits angesprochen und findet selten Widerspruch,484 wenngleich es doch wesentliche Unterschiede gibt, die eine solche vorschnelle Einebnung von Besonderheiten nicht zulassen. So zielen moderne Radikaldemokratinnen ja im Gegensatz zu den meisten republikanischen Theorien explizit nicht auf ein Verständnis politischer Partizipation als Bedingung der Freiheit sine qua non ab.485 Viele Definitionen des Republikanismus legen eine solche Verbindung auf den ersten Blick nahe,486 etwa wenn sie darauf abstellen, dass „eine republikanische politische Ordnung (…) ihre Bürger 483 Dies. S. 186. 484 Audier, Serge: Machiavel, conflit et liberté. Paris 2005. Laborde, Cecile/ Maynor, John (Hrsg.): Republicanism and Political Theory. Oxford 2008. White, Stuart: Is Republicanism the Left´s “Big Idea?” In: Renewal 15 (1), 2007. S. 37 - 46. 485 Held, David: Models of Democracy. S. 43. 486 Für einen Überblick über die Forschung zum Republikanismus siehe: Gelderen, Martin/ Skinner, Quentin (Hrsg.): Republicanism. A shared European Heritage. Cambridge 2002.

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nicht nur durch Foren demokratischer Deliberation und gewählter Repräsentation (schützt), die fortwährend in Gefahr sind, zum Mehrheitsdespotismus zu werden, sondern durch ein komplexes Institutionengefüge, das die gesellschaftlichen Faktionen ausbalanciert und zudem, auf der Outputseite des politischen Entscheidungsprozesses, unter Beherrschung leidenden Bürgern Rechte, Kanäle und Foren der Kontestation von Entscheidungen garantiert“487. Wenn man diese und ähnliche Definitionen jedoch als Beweis heranzöge, rückte dies die radikale Demokratie über die Verbindung zum republikanischen Denken zugleich zumindest in die Nähe des diesem verwandten Kommunitarismus, von dem sich Radikaldemokratinnen jedoch ganz explizit distanzieren. Charles Taylor (der wohlgemerkt die Zuschreibung des „Kommunitarismus“ für sich nie akzeptierte) wäre hierfür noch ein harmloser Gewährsmann, wenn er etwa als notwendige Basis eines soliden Gemeinwesens den Patriotismus und die Loyalität der Bürgerinnen gegenüber ihren Institutionen auszeichnet, da diese deren Würde garantierten.488 In diese Tradition wollen sich radikaldemokratische Positionen aber bewusst nicht stellen, da sie ihr vorwerfen, aus Angst vor den demokratischen Massen und mit dem Ziel derer Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben auf gefährliche Art und Weise auf „altehrwürdige Werte“ wie Autorität, Abstammung und Familie zu rekurrieren.489 Dies mag eine etwas verkürzte Darstellungsweise sein, dennoch muss man sich davor hüten, Unterschiede vorschnell einzuebnen. So wird ja auch in jüngerer Zeit innerhalb des republikanischen Diskurses zwischen „neo-römischen“490 und „neo-athenischen“ Ansätzen unterschieden.491 Gegen die an die Schriften Hannah Arendts anknüpfende und eher als traditionell empfundene Konzeption von Republikanismus rückt der „neo-römische“ Strang dabei vor allem von einer zu starken Festlegung auf das Ideal der Partizipation als Bedingung legitimer Entscheidungen ab und behauptet für sich, modernen gesellschaftlichen Verhältnissen angemessenerer zu

487 Hölzing, Philipp: Republikanismus und Kosmopolitismus. Eine ideengeschichtliche Studie. Frankfurt am Main/ New York 2011. S. 196 f. 488 Taylor, Charles: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? S. 21. 489 Bensaïd, Daniel: Der permanente Skandal. S. 26. 490 Pettit, Philip: Republicanism. A Theory of Freedom and Government. Oxford 1997. 491 Vgl. Larmore, Charles: Liberal and Republican Conceptions of Freedom. In: Critical Review of International Social & Political Philosophy 6, 1, 2003. S. 96 119.

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sein.492 Philip Pettit als prominenter Vertreter dieses Theoriestranges stellt sich etwa mit seinem Verständnis einer Depoliticizing Democracy gegen direktdemokratische Verfahren, plädiert dafür jedoch für Verfahren vernünftiger Deliberation und versucht so, die Tradition des Republikanismus mit der liberalen Tradition deliberativer Demokratie zusammenzuführen.493 Somit gibt er ein beredtes Beispiel für eine Entwicklung innerhalb des Republikanismus ab, mehr und mehr vom „antiken“ Ideal der Bürgerpartizipation abzurücken und dafür, dass die aktuell dominante Variante des Republikanismus in eine Theorie des Konstitutionalismus übergegangen ist.494 Doch auch in dieser neo-römischen Version deckt er sich insofern nicht mit dem radikaldemokratischen Diskurs, als er diesem immer noch einem zu elitären und starren Verständnis eines Volkes als ethischpolitischer Gemeinschaft tugendhafter Bürger verpflichtet bleibt.495 Auch wenn er sich als konstitutionalistische Theorie mit Verfassungen als Gründungsdokumenten politischer Gemeinschaften befasst, thematisiert die radikale Demokratie Verfassungen ja eher im Zusammenhang mit dem in ihnen angelegten Widerspruch zwischen Symbolischem und Realem und der Zusammenführung widerstreitender Prinzipien wie der Gleichheit und Freiheit.496 Versuche einer Versöhnung mit der deliberativen Demokratie, wie von Pettit vorgeschlagen, entfernen die radikale Demokratie zudem eher vom Republikanismus, als dass sie sie mit diesem zusammenführt. Hier reihen sich auch Versuche ein, Rousseau als Vertreter einer „partizipativen Demokratie“ zu lesen, die nicht notwendig eine wörtlich verstandene „direkten Demokratie“ sein müsse.497 Somit sei die Umsetzung von Rousseaus Vorschlägen auch in modernen komplexen Gesellschaften möglich,498 das Verhältnis zwischen dem liberalen und dem kommunitarischen oder republikanischen Strang in dessen Werk weise ihn als Republikaner aus, der mit der Überbetonung von Einstimmigkeit und Harmonie

492 Pettit, Philip: Republicanism. S. 19. 493 Ders.: Depoliticizing Democracy. In: Besson, Samantha/ Martí, José Luis (Hrsg.). Deliberative Democracy and its Discontents. Ashgate 2006. S. 93 - 105. 494 Llanque, Marcus/ Münkler, Herfried: Politische Theorie und Ideengeschichte. Lehr- und Textbuch. Berlin 2007. S. 342. 495 Norval, Aletta: Democratic Decisions and the Question of Universality. Rethinking recent approaches. In: Critchley, Simon/ Marchart, Oliver (Hrsg.). Laclau. A Critical Reader. London/ New York 2004. S. 140 - 167, hier S. 147. 496 Balibar, Étienne: Gleichfreiheit. Berlin 2012. 497 Cohen, Joshua. Rousseau. A Free Community of Equals. Oxford 2010. S. 134. 498 Ders. S. 20.

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manchmal vielleicht übers Ziel hinaus schieße.499 Rousseau sei jedoch „philosophisch liberal“ und „soziologisch kommunitarisch“ zu lesen, die Basis seines Denkens sei dabei kommunitarisch.500 Auch aus dieser Perspektive also ein Grund mehr für die radikalen Demokratinnen, Rousseau abzulehnen. Die in der Tradition des Liberalismus stehenden Konzeptionen deliberativer Demokratie sind einer der theoretischen Hauptangriffsziele des Diskurses der radikalen Demokratie.501 Vor allem an Rawls Gerechtigkeitstheorie kritisieren Radikaldemokraten dessen Priorisierung des Rechts gegenüber dem Guten. Diese Kritik teilen sie mit kommunitaristischen Theorien,502 gehen dabei jedoch von anderen Prämissen aus und weisen auch den Umkehrschluss der Priorisierung des Guten vor dem Recht zurück, da es ihnen vielmehr um das wechselhafte und spannungsgeladene Verhältnis beider Prinzipien und dessen Aufrechterhaltung geht, denn um eine Entscheidung zugunsten einer Seite. Dabei teilen sie gewisse Kritiken an gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen. So sind auch die deliberativen Demokratietheorien als eine Reaktion auf die schrittweise Zurückdrängung des Prinzips der Volkssouveränität im Zuge der Entstehung moderner Massengesellschaften in den westlichen liberaldemokratischen Staaten entstanden. Jede Form von Partizipation, so die geteilte Krisendiagnose, würde seither mehr und mehr als ein Hindernis einer reibungslosen Ordnung und Integration der Gesellschaft verstanden, welche man seitens Politik und Wirtschaft als in den Händen einer Partei oder von Experten als besser aufgehoben auszeichnet.503 Jedoch unterscheidet sich die deliberative Demokratie sowohl in Bezug auf ihre Prämissen, als auch mit Blick auf die angestrebten Lösungsvorschläge und Konsequenzen ihrer theoretischen Reflektionen derart vom Diskurs der radikalen Demokratie, dass diese Unterschiede die wenigen Gemeinsamkei-

499 Ders. S. 22. 500 Ebd. 501 Für eine Einführung in die Theorien deliberativer Demokratie siehe zum Beispiel: Strecker, David/ Schaal, Gary S.: Die politische Theorie der Deliberation: Jürgen Habermas. In: Brodocz, André/ Schaal, Gary S. (Hrsg.). Politische Theorien der Gegenwart II. Opladen 2009. S. 99 - 148. 502 Siehe etwa Sandel, Michael: Liberalism and the Limits of Justice. Cambridge 2007. Mouffe, Chantal: Democratic Citizenship and the Political Community. S. 106. 503 Als Beispiel hierfür Schumpeter, Joseph A.: Capitalism, Socialism and Democracy. A.a.O.

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ten bei weitem überwiegen. So geht es deliberativen Ansätzen etwa darum, wie in einer möglichst inklusiven öffentlichen Debatte zu einem gerechten und von allen akzeptierten Konsens über Entscheidungen und Normen gelangt werden kann. Allein an dieser Aussage würden radikale Demokraten drei Ansprüche bestenfalls als illusorisch, sehr wahrscheinlich aber als ideologisch zurückweisen: Die Behauptung der Möglichkeit einer maximal inklusiven Öffentlichkeit sowie eines universellen Gerechtigkeitsstandards, der zudem dann noch von allen Herrschaftsunterworfenen allgemein anerkannt und akzeptiert würde. Zwar liegt der Fokus deliberativer Demokratietheorien im Unterschied zu traditionellen liberalen Konzeptionen weniger auf der Auszählung (und Auszahlung) partikularer Interessen oder Stimmen, sondern stärker auf dem Prozess der Meinungsbildung, Interessensbildung und der Herausbildung eines demokratischen Willens. Daher beanspruchen deliberativ ermittelte Positionen und Übereinkünfte für sich, demokratische Institutionen besser zu legitimieren, als es eine bloße Orientierung am Output einer gewählten Elite jemals könnte.504 Doch radikaldemokratische Ansätze betrachten dies lediglich als die Verschiebung des von ihnen identifizierten und kritisierten Problems von der Input- auf die Outputseite: Die Behauptung der Möglichkeit der Schaffung eines allgemeingültigen rationalen Konsenses und damit in der Folge die (ob intendiert oder nicht spielt keine wirkliche Rolle) Ausblendung oder Verunmöglichung widerständiger Praktiken und alternativer Vorschläge. Denn wenn deliberative Demokratietheorien fordern, dass alle Teilnehmerinnen an der Debatte um politisch relevante Entscheidungen für ihre Positionen öffentlich eintreten müssten, weil nur dies dazu führte, dass sich die Argumente und Positionen quasi-automatisch am Leitideal der Vernunft und Überzeugungsfähigkeit ausrichteten und so das von allen Partikularinteressen gereinigte beste Argument aus diesem Prozess automatisch hervorgehe, dann würden damit all jene, die diese Ansicht nicht teilen (und die es faktisch immer gibt), in den Bereich des Irrationalen und damit zumindest Grenzlegitimen gedrängt. Wenn zudem die von diesen Entscheidungen Betroffenen als potentiell zu einer gleichberechtigten Teilnahme an öffentlichen Diskussionen und politischen Entscheidungen

504 Bohmann, James/ Rehg, William (Hrsg.): Deliberative Democracy: Essays on Reason and Politics. Massachusetts 1997. D´Entrèves, Maurizio Passerin: Introduction: Democracy as Public Deliberation. In: Ders. (Hrsg.). Democracy as Public Deliberation. New Perspectives. Manchester 2002. S. 1 - 36.

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fähig und somit als Gleiche verstanden und adressiert werden,505 übersähe beziehungsweise verberge dies bewusst die Tatsache, dass dies eine reale Unmöglichkeit ist, weil Gesellschaften und zwischenmenschliche Beziehungen immer von Machtverhältnissen und damit notwendig auch von sozialen und politischen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten bestimmt sind. Wenn deliberative Ansätze daher politische Entscheidungen folglich nur dann als legitim ansehen, wenn sie aus einer deliberativen Beteiligung der diesen Entscheidungen Unterworfenen hervorgehen,506 könnte es in aller Konsequenz es realiter niemals legitime Entscheidungen geben. Soweit würden die Theorien radikaler Demokratie auch noch mitgehen. Deliberative Ansätze aber halten zumindest an der prinzipiellen Möglichkeit und der normativen Wünschbarkeit in diesem Sinne legitimer Entscheidungsfindungen fest. Habermas zum Beispiel lehnt zwar die liberale Konzeption negativer Freiheit als „(…) nicht Rede und Antwort stehen, für seine Handlungspläne keine öffentlichen Gründe an(zu)geben“507 ab, jedoch ist sein Idealbild einer politischen Öffentlichkeit aus radikaldemokratischer Perspektive immer noch zu sehr an der Schaffung eines Konsenses orientiert und damit bestenfalls naiv oder irrelevant, schlechtestenfalls jedoch gefährlich. Eine der Bedingungen idealer deliberativer Entscheidungsfindungen ist der größtmögliche Einschluss aller der Entscheidung potentiell wie faktisch Unterworfenen. Jede solle nicht nur die institutionelle oder formelle, sondern eben die faktische Möglichkeit und Kompetenz haben, an der öffentlichen Debatte teilzuhaben.508 Dadurch sei sie gleichzeitig Adressat und Autor kollektiv verbindlicher Entscheidungen und Gesetze.509 Die Grundvoraussetzung dafür seien der gegenseitige Respekt und die gegen-

505 Dryzek, John S.: Deliberative Democracy and Beyond. Liberals, Critics, Contestations. Oxford 2000. Goodin, Robert E.: Reflective Democracy. Oxford 2003. Gutman, Amy/ Thompson, Dennis: Democracy and Disagreement. Cambridge 1996. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. A.a.O. 506 Cohen, Joshua: Deliberation and Democratic Legitimacy. In: Hamlin, Alan/ Pettit, Philip (Hrsg.). The Good Politiy. Normative Analysis of the State. Oxford 1989. S. 17 - 34. Dryzek, John S.: Legitimacy and Economy in Deliberative Democracy. In: Political Theory 29, 5, 2001. S. 651 - 669. 507 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. S. 494. 508 Chambers, S.: Reasonable Democracy: Jürgen Habermas and the Politics of Discourse. London 1996. S. 100. 509 Strecker, David/ Schaal, Gary S.: Die politische Theorie der Deliberation: Jürgen Habermas. S. 110.

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seitige Behandlung der Diskussionsteilnehmerinnen als Gleiche, jeder müsse die Möglichkeit und der Raum gegeben werden, zu sprechen und für ihre Meinung, Interessen und Überzeugungen einzutreten. Dies erfordere aber eben auch die Möglichkeit und zugleich die Bereitschaft, einander zuzuhören und sich vom besseren Argument überzeugen zu lassen. Die Debattenteilnehmerinnen werden folglich als vernunftbegabte Wesen adressiert, die zudem über die bloße Möglichkeit des vernünftigen Argumentierens hinaus auch tatsächlich ihrer Vernunft folgen können und folgen wollen. Jede Gegenstimme müsste dann aber als unvernünftig gelten und dabei ist noch kein Wort darüber gesagt, wer eigentlich bestimmt, was wann und wie weit als vernünftig gilt. Die Rationalität getätigter Aussagen lässt sich laut Habermas zwar an ihrer „Kritisierbarkeit und Begründungsfähigkeit“510 messen, zudem gälten diese nur bis zu ihrer diskursiven Widerlegung als „gut“ oder gültig, denn „gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten“511. Dem würden radikale Demokratinnen jedoch entgegenhalten, dass der Konjunktiv allein noch nie ein geeignetes Instrument gegen Machtmissbrauch war. Allein die Forderung, öffentliche Debatten frei von internen und externen Zwängen zu halten, so dass das vernünftige Individuum zwanglos und autonom diskutieren, ihren Standpunkt modifizieren und letztendlich zu einer vernünftigen Übereinkunft mit den Diskussionspartnerinnen kommen kann, reicht eben nicht aus, um faktische Zwänge und Unfreiheiten zu eliminieren. Der „herrschaftsfreie Diskurs“ als sowohl Voraussetzung, wie auch Ergebnis demokratischer Entscheidungsfindung soll dazu dienen, normative Diskussionen zur Zufriedenheit aller Beteiligten zu führen. Deliberative Ansätze wollen dabei nicht nur faktische Interessen herausarbeiten, sondern prinzipiell verallgemeinerbare Interessen finden: „Deliberation is really about working out interests we share with each other which can furnish a reason for collectively recognizing a norm. According to Habermas, what we search for in practical discourse are generalizable interests“512. So erhoffen sie sich die Konsensfindung gerade in strittigen Fragen bei der Suche nach einer gemeinsamen Grundlage für das gesellschaftliche Zusammen-

510 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Zwei Bände. Frankfurt am Main 1981. S. 25. 511 Ders. S. 138. 512 Chambers, S.: Reasonable Democracy. S. 102.

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leben.513 Genau diese strittigen Fragen sind für Radikaldemokratinnen jedoch niemals auflösbar und dürfen vor allem nicht als solche behauptet werden. Es sind aus dieser Perspektive immer partikulare Gruppen, die in hegemonialen Kämpfen für eine bestimmte Zeit die Deutungshoheit für sich behaupten, jedoch dürfe ihnen niemals zugebilligt werden, einen universellen Standpunkt (wie den, im Besitz des vernünftigen Arguments zu sein) legitimerweise einzunehmen. Das deliberative Diskursmodell fußt also weder allein auf der Anerkennung universeller Menschenrechte, noch auf der ethischen Substanz einer Gemeinschaft, weder auf den liberalen Grundrechten, noch auf dem republikanischen Prinzip der Volkssouveränität, sondern auf Prozess- oder Diskursregeln einer „idealen Sprechsituation“, in welcher gleiche und freie Individuen auf einen gemeinsam geteilten und als vernünftig anerkannten Konsens hinarbeiten. Genau dies kritisierte nicht zuletzt Lefort, wenn er darauf bestand, dass „ (…) one need not refuse every relation that discloses an asymmetrie between the speakers´ respective positions (…). No one can provide the correct formula for communication (…). It is when one claims to know the limits of communication that one sometimes creates them and incommunicability is established”514. Dem Anspruch nach soll zwar eine Vermittlung zwischen der „traditionelle(n) Gegenüberstellung von Mehrheitspolitik versus liberale Garantien von Grundrechten und -freiheiten“515 erreicht werden. Habermas selbst bemüht sich zudem nach eigener Aussage bei aller Konkurrenz, in welcher deren Prinzipien zueinander stehen, um eine Versöhnung oder Verbindung liberaler und republikanischer Ansätze, also etwa der liberalen Grundrechte und der republikanischen Volkssouveränität, die er als „gleichursprünglich“ versteht.516 So akzeptiert er politische Grundrechte als die Vorbedingung oder den Rahmen des deliberativen Prozesses, in welchem die demokratischen Freiheitsrechte sowohl herausgearbeitet, als auch überprüft werden müssen.517 Letztlich schränkt er aber selbst genau dieses Prinzip der Volkssouveränität in gewisser Weise ein, da nicht 513 Ders. S. 162. 514 Lefort, Claude: An Interview with Claude Lefort. In: Telos 30, 1976. S. 173 192, hier S. 184. 515 Benhabib, Seyla: Ein deliberatives Modell demokratischer Legitimität. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1, 1995. S. 3 - 29, hier S. 22. 516 Habermas, Jürgen: Der demokratische Rechtsstaat. Eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien? In: Ders. (Hrsg.). Zeit der Übergänge. Kleine politische Schriften IX. Frankfurt am Main 2001. S. 133 - 151, hier S. 133. 517 Ders. S. 138f.

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„automatisch legitim (ist), was im Namen einer Bürgermehrheit (…) entschieden wird. Hier muss die begründete Vermutung der Vernünftigkeit hinzukommen. Anerkennungswürdigkeit und faktische Anerkennung fallen auseinander; ist erstere nicht gegeben, ist die zweite wertlos“518. Für Kritikerinnen scheiterten deliberative Ansätze daher am Anspruch der Vermittlung demokratischer und deliberativer Prinzipien und würden die Spannung zwischen diesen mit anti-demokratischen Mitteln zugunsten der Deliberation auflösen. Alle Forderungen nach und Behauptungen von Rationalität, Zurückhaltung, Selbstlosigkeit und Universalismus unterhöhlten letztlich die demokratischen Ansprüche, da die Bürgerinnen eben de facto nicht alle die gleichen Ausgangsbedingungen und Kapazitäten für die angemessene Teilnahme an einem herrschaftsfreien Diskurs aufweisen. In der Behauptung universeller Anforderungen und Standpunkte würden daher auch die Befürworterinnen deliberativer Theorien einen partikularen Standpunkt vertreten, diesen jedoch als universell ausgeben und somit ihre partikulare Position verbergen.519 Ähnlich argumentiert Iris Marion Young, wenn sie deliberativen Ansätzen vorhält, dass die Behauptung und Forderung universeller Standpunkte die Bereicherung ausblendet, welche demokratischen Debatten gerade aufgrund der Differenzen der Standpunkte, Meinungen und Interessen geboten würde und daher fordert, dass ein wirklich demokratischer Dialog auch entlang der Pluralität verschiedener Perspektiven geführt werden müsse.520 Im Zentrum der meisten Kritiken an deliberativen Ansätzen steht also die Konsensorientierung als oberstes Ziel demokratischer Debatten, der gegenüber Konflikte und strategisches Handeln als lediglich abgeleitet verstanden und behandelt würden. Habermas etwa lehnt dieses als „durch Zwang beziehungsweise Machtasymmetrien koordiniert“521 ab. Zwar weiß natürlich auch er um das Problem der faktischen Umsetzbarkeit dieses Ideals angesichts nicht zu leugnender Machtverhältnisse.522 Dennoch hält er aber an dem normativen Anspruch

518 Abromeit, Heidrun: Wozu braucht man Demokratie? Die postnationale Herausforderung der Demokratietheorie. Opladen 2002. S. 149. 519 Vgl. Sanders, Lynn M.: Against Deliberation. In: Political Theory 25, 3, 1997. S. 347 - 376, hier S. 348f. 520 Young, Iris Marion: Difference as a resource for democratic communication. In: Bohmann, James/ Rehg, William (Hrsg.). Deliberative Democracy. S. 383 - 406. 521 Strecker, David/ Schaal, Gary S.: Die politische Theorie der Deliberation. S. 104. 522 Habermas, Jürgen: Between Facts and Norms: Contributions to a Discourse Theory of Law and Democracy. Cambridge 1996. S. 287. Ebenso: Chambers, S.: Reasonable Democracy. S. 171.

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der Konsensfindung fest und bevorzugt dieses gegenüber der radikaldemokratischen Privilegierung von Dissens und Konflikt, was die Radikaldemokratinnen von den meisten liberalen Theorien unterscheidet. Ohne dem radikaldemokratischen Diskurs zugerechnet werden zu können, formuliert Charles Taylor eine Kritik am Liberalismus, wie Radikaldemokratinnen sie wohl vorbehaltlos teilen: „Der Liberalismus ist nicht die Stätte eines Austauschs aller Kulturen, er ist vielmehr der Ausdruck eines bestimmten Spektrums von Kulturen und mit einem anderen Spektrum anderer Kulturen unvereinbar“. Auch er sei also eine „kämpferische Weltdeutung“, die keine Neutralität beanspruchen könne, dies aber erfolgreich tue.523 Bei allen internen Differenzen der unter dem Begriff des Liberalismus subsumierten Theorien und bei aller Abhängigkeit von der jeweiligen Perspektive auf diese, lassen sich doch einige allgemein anerkannte Charakteristika ausmachen, an denen sich die radikaldemokratische Kritik entzündet. So fußen liberale Konzeptionen von Demokratie zunächst auf der Idee eines autonomen Individuums, das von Selbstinteresse geleitet und fähig zur freien Wahl ist. Sie folgen idealtypisch einem naturalistischen und individualistischen Menschenbild. Politik, Herrschaft, Staat und Recht werden sowohl mit Blick auf die als natürlich angesehenen Rechte und Interesse eines homo oeconomicus legitimiert, als auch aus diesen abgeleitet. Der Mensch gilt also als ein von der Gemeinschaft unabhängiges, mit natürlichen und positiven Rechten ausgestattetes und vom Eigeninteresse an der Maximierung seiner qua natürlicher Vernunftbegabung erkannten und abgewogenen Interessen orientiertes Individuum. Das Verhältnis der einzelnen Menschen zueinander innerhalb eines politischen Verbandes wird aus liberaler Sicht mittels der Institution des Rechts geregelt. Das in Gesetzesform positivierte Recht dient zuvorderst dem Schutz der individuellen Privatsphäre gegenüber Eingriffen der Gemeinschaft oder des Staates und soll so den Rahmen für die freie Entfaltung der natürlichen Anlagen des Individuums gewährleisten. Gleichzeitig kommt dem Staat im liberalen Verständnis die Aufgabe des institutionellen Schutzes dieser Grundrechte zu, weswegen Liberalismus und Rechtsstaat auch als identisch verstanden werden.524 Die politischen Rechte beschränken sich auf den

523 Taylor, Charles: Die Politik der Anerkennung. In: Ders. Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt am Main 1993. S. 13 - 87, hier S. 57. 524 So zum Beispiel Ottmann, Henning: Liberale, republikanische, deliberative Demokratie. In: Patzelt, Werner J./ Sebaldt, Martin/ Kranenpohl, Uwe (Hrsg). Res publica semper reformanda. Wissenschaft und politische Bildung im Dienste des

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Schutz der „negativen Freiheit“525 und des Eigentums des Individuums und finden ihren konkreten Ausdruck zum Beispiel im Recht auf die Wahl politischer Repräsentantinnen, im Recht auf Versammlungsfreiheit, auf Meinungsfreiheit, auf Religionsfreiheit oder auf Vertragsfreiheit. Der Liberalismus ist dem Staat gegenüber prinzipiell skeptisch eingestellt und möchte dessen Handlungsbefugnisse auf ein Minimum reduzieren, ihm kommt so die eher passive Rolle des Rechtsgaranten zu. Es wird strikt zwischen einem öffentlichen und einem privaten Bereich getrennt, regelmäßige Wahlen folgen dem Anspruch der Einbindung der Öffentlichkeit in sie betreffende Angelegenheiten bei gleichzeitiger Kontrolle der Machtausübenden. Dies hängt eng mit dem liberalen Verständnis der Begründung der Rechte des Menschen zusammen. Die Rede von natürlichen oder transzendentalen Rechten meint, dass diese dem menschlichen Zugriff prinzipiell entzogen sind, sie kommen dem Menschen also allein aufgrund seines Menschseins zu. Die Existenz des Staates wird aus reinen Nützlichkeitserwägungen gerechtfertigt, es braucht schlicht eine autoritäre Instanz, welche die Durchsetzung der Rechte regelt und Verstöße gegen diese sanktioniert. Hierfür wird der Staat von den Bürgerinnen mit Sanktionsmitteln und Zwangsmöglichkeiten ausgestattet, die prinzipiell in einem widersprüchlichen Verhältnis zu seiner ersten Aufgabe, nämlich dem Schutz individueller Freiheit, stehen. Dieser Widerspruch wird mit den Gesellschaftsvertragsmodellen des liberalen Kontraktualismus aufzulösen versucht.526 Diese Theorien rechtfertigen Herrschaft mit Blick auf die Ermöglichung oder den Erhalt individueller Rechte, unterschieden werden muss dabei aber zwischen Gesellschaftsverträgen und Herrschaftsverträgen. Die Konstruktion von Gesellschaftsverträgen wird mit der politischen Theorie John Lockes assoziiert, Herrschaftsvertragskonstruktionen mit der Thomas Hobbes.527. Beiden Konzepten gemeinsam ist, dass die einer Herrschaft unterworfenen Bürgerinnen in freiwilliger und vertraglich geregelter Übereinkunft Teile ihrer Rechte und ihrer Souveränität an eine über-

Gemeinwohls. Festschrift für Heinrich Oberreuter zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 2007. S. 104 - 113, hier S. 106. 525 Berlin, Isaiah: Zwei Freiheitsbegriffe. A.a.O. 526 Kersting, Wolfgang. Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. A.a.O. 527 Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Herausgegeben von Walter Euchner. Frankfurt am Main 2002. Hobbes Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben von Iring Fetscher. Frankfurt am Main 1966.

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geordnete Autorität zum Zwecke der Regelung des Zusammenlebens abtreten, den Herrscher sozusagen mit der Ausübung der Herrschaft beauftragen oder ihm ein entsprechendes Mandat erteilen. In Abgrenzung zur Antike und zum Mittelalter begründete der Liberalismus Herrschaft nicht mehr transzendental auf einer göttlichen oder natürlichen Ordnung, sondern immanent auf Basis der Rechte des einzelnen Menschen, welcher im Unterschied zum republikanischen Denken nicht mehr zwangsläufig tugendhaft sein muss, um das Fortbestehen des Gemeinwesens und letztlich die Freiheit des Einzelnen zu gewährleisten. Gefordert beziehungsweise vorausgesetzt wird nur noch die Vernunft, „das Problem der Staatserrichtung (muss) so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar (sein)“528. Der zentrale Handlungsort im liberalen Paradigma ist der von einer „unsichtbaren Hand“529 geregelte Markt, hier treffen die privaten, nutzenmaximierenden Individuen zur Aushandlung der für die jeweiligen Interessen notwendigen Maßnahmen aufeinander und generieren so quasi-automatisch das Gemeinwohl. Das Fehlen der Tugend, zentrales Konzept republikanischer Theorien, wird im liberalen Paradigma durch ein Institutionengefüge ausgeglichen, welches dem auf die Autoren der Federalist Papers zurückgehenden Prinzip der checks and balances Rechnung tragen und so die potentiell negativen Folgen eines rein nutzenmaximierenden Kalküls abmildern soll.530 Die dominante Regierungsform moderner liberaler Gesellschaften ist die repräsentative Demokratie, in welcher Volksvertreterinnen in regelmäßig stattfindenden, geheimen und freien Wahlen für die Dauer festgelegter Legislaturperioden gewählt und mit der Bildung einer Regierung sowie der Ausarbeitung von Gesetzen beauftragt werden. In diesem Zusammenhang pocht der Liberalismus auf das auf Montesquieu zurückgehende Prinzip der Gewaltenteilung, welches der Gefahr einer totalitären Herrschaftsform als Resultat der demokratischen Forderung nach der Einheit der Regierenden und Regierten, der Herrschenden und Beherrschten oder allgemein von Legislative und Exekutive vorbeugen soll.531 Ein zentrales Problem liberaler Theorien ist die von Alexis de Tocqueville auf den Begriff gebrachte „Tyrannei der Mehrheit“, also die Gefahr in modernen De-

528 Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Herausgegeben von Ottfried Höffe. Berlin 1995. 529 Smith, Adam: Wohlstand der Nationen. München 2003. 530 Zehnpfennig, Barbara (Hrsg.): Die Federalist Papers. Darmstadt 1993. 531 Montesquieu, Charles de Secondat: Vom Geist der Gesetze. Stuttgart 1994.

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mokratien, dass sich Individuen gegenüber der Mehrheit einem Konformitätsdruck und somit einer Einschränkung ihrer individuellen Freiheit ausgesetzt sehen.532 Jenseits dieser Gemeinsamkeiten entwickelten sich aufgrund unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen unterschiedliche Ausformungen des Liberalismus, so zum Beispiel der auf Jeremy Bentham zurückgehende Utilitarismus, welcher auf das rein quantitativ größte Glück der größten Zahl als vornehmlichem Staatsziel abstellt und demgegenüber die Frage nach der Verteilung dieses Glücks innerhalb der Bevölkerung ausblendet.533 Der Libertarianismus als eine radikale Spielart des Liberalismus befasst sich hauptsächlich mit der Frage des Schutzes des Eigentums des Individuums, welcher marktwirtschaftlich organisiert und gewährleistet und dessentwegen der Staat eben auf ein Minimum reduziert werden soll.534 Der politische Liberalismus schließlich befasst sich mit der Frage der Bedingungen der Gerechtigkeit in liberalen, vom „Faktum des Pluralismus“ gekennzeichneten Gesellschaften und macht sich zu diesem Zweck für das Idealbild eines neutralen Staates stark, der sich nicht mehr mit den Fragen des „Guten Lebens“ befasst.535 Die moderne Idee der Menschenrechte in ihrer individualistischen und universalen Auslegung steht in der Tradition des liberalen Paradigmas, ihnen wird seitens des Liberalismus eine klare Vorrangstellung etwa gegenüber der Demokratie eingeräumt, wenn diese auch eine wichtige Rolle für die konkrete Umsetzung und den Schutz der Menschenrechte spielt. Der liberale Strang kann heute als der ideengeschichtlich wie faktisch dominante Strang bezeichnet werden, weswegen er ob seiner Hegemonie auch die Zielscheibe radikaldemokratischer Kritik ist, ohne dass die liberalen Institutionen aber abgeschafft werden sollen. Denn wenn sich die Denkerinnen des radikaldemokratischen Diskurses als Postmarxistinnen verstehen, so bedeutet das nicht mehr unbedingt die Revitalisierung des Sozialismus oder Kommunismus in Gegnerschaft zur liberalen Demokratie. Wohl ist der Marxismus eine der wesentlichen ideengeschichtlichen Quellen der modernen radikalen Demokratie, aber eben

532 Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika. A.a.O. 533 Bentham, Jeremy: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. London 1996. 534 Nozick, Robert: Anarchie, Staat, Utopia. München 1976. 535 Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 1998. Ders.: Politischer Liberalismus. Frankfurt am Main 2003.

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nur eine von vielen.536 Radikale Demokratie ist aber nicht einfach eine Bemäntelung einer sozialistischen Demokratietheorie, wenngleich hier ideengeschichtlich wie systematisch viele Überschneidungen bestehen. Eine solche versteht materielle Ungleichheiten nicht als ein Nebenprodukt liberaler Demokratien, sondern als deren wesentlichen, wenn nicht konstitutiven Bestandteil. Der Staat wird als Werkzeug der herrschenden Klasse zum Zwecke der privatwirtschaftlichen Individualinteressen der Klassenangehörigen verstanden, bekämpft und zu erobern versucht. Die liberale Trennung eines vom Zugriff des Staates entzogenen privaten Bereichs und eines öffentlichen Bereichs wird vehement abgelehnt. Die Notwendigkeit und Existenz einer Grenze zwischen oikos und polis wird akzeptiert, zugleich aber zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen gemacht. In Anlehnung an Marx werfen sozialistische Theorien der liberalen Demokratie vor, eine Ideologie zum Zwecke der Verschleierung der tatsächlichen Herrschafts- und materiellen Ungleichverhältnisse im Interesse der Herrschenden zu sein. Wo als das Ziel jeder Politik die Aufhebung der Klassengegensätze und als dafür nötig die Auflösung des Staat gefordert wird, um so die Gesellschaft in das Reich der Freiheit zu führen, widersprechen gegenwärtige Radikaldemokratinnen. Ob dies im Sinne Lenins top-down unter Anleitung einer als Diktatur des Proletariats kaschierten Parteienherrschaft, oder wie von Gramsci gefordert bottom-up durch die proletarische Bewegung selbst zu geschehen habe, ist innerhalb des sozialistischen Diskurses umstritten. Im „real existierenden Sozialismus“ wurden jedoch alle emanzipatorischen Ansprüche von der Realität eines bürokratisch-totalitären Parteienapparates konterkariert. Von der geforderten Überwindung der liberalen Demokratie und des sie tragenden Staates halten moderne Radikaldemokratinnen daher nichts, sie wissen durchaus um deren Wert für Projekte einer Demokratisierung der Demokratie im Sinne einer Radikalisierung bestehender liberaler Institutionen. II. 6. 5. Kritik der radikalen Demokratie Um einen Diskurs in seinen Eigenarten anschaulich darstellen zu können, empfiehlt es sich immer auch, dessen Kritikerinnen zu Wort kommen zu lassen. Radikaldemokratische Ansätze wurden und werden von Lagern un-

536 Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. S. 36.

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terschiedlichster politischer und theoretischer Couleur angegriffen. Dass der Diskurs der radikalen Demokratie den Anforderungen einer normativen Demokratietheorie insofern nicht genügt, als er zu weit von den Erfahrungen, Sprechgewohnheiten und normativen Erwartungen derjenigen entfernt ist, in deren Namen er zu sprechen beanspruche,537 ist ein nicht von der Hand zu weisendes Problem, unterscheidet ihn aber nicht unbedingt von anderen demokratietheoretischen Diskursen. Aus dem eigenen linken Lager wird der Vorwurf erhoben, ökonomische und strukturelle Fragen zugunsten von Fragen der Identität zu vernachlässigen. So vermögen sie es zwar, egalitäre Programmatiken zu formulieren, könnten jedoch nichts zum Thema Umverteilung und weitere für den gesellschaftlichen Wandel notwendige praktischen Schritte sagen. Mitunter ist sogar der Vorwurf zu vernehmen, dass es sich bei der Etikettierung „radikale Demokratie“ um eine Strategie ehemaliger Sozialistinnen handele, die sich mehr und mehr der liberalen Demokratie annäherten, dies aber nicht zugeben könnten oder wollten.538 Zudem weise der Diskurs ein normatives Defizit auf. Wenn beansprucht werde, den kontingenten Charakter aller politischen Ordnungen, Entscheidungen und Aktivitäten zu enthüllen, dann habe die radikale Demokratie notwendigerweise normative Ansprüche, die sie jedoch nicht ausweise.539 Anders würde schließlich nicht erklärt werden können, warum man in Demokratien nicht in aller Konsequenz auch rechtsextreme Positionen aushalten müsste. Laclau versteht zwar „das Kriterium dessen, was akzeptabel ist und was nicht, selbst (als) Ort einer Vielfalt von sozialen Kämpfen“ und somit als eine politische Aushandlungsfrage.540 Wenn aber alle Entscheidungen letztlich politische Ent-

537 Jörke, Dirk: Wie demokratisch sind radikale Demokratietheorien? S. 253. Siehe auch Sörensen, Paul: Ein Klassiker eigener Art: Cornelius Castoriadis als Stichwortgeber einer kritischen Theorie der Politik. In: Reese-Schäfer, Walter/Salzborn, Samuel (Hrsg.). Die Stimme des Intellekts ist leise. KlassikerInnen des politischen Denkens abseits des Mainstreams. Baden-Baden 2015. S. 341 - 365. 538 Trend, David: Democracy´s Crisis of Meaning. S. 16. 539 Critchley, Simon: Is there a Normative Deficit in the Theory of Hegemony? In: Critchley, Simon/ Marchart, Oliver (Hrsg.). Laclau. A Critical Reader. S. 113 122. Ders.: Dekonstruktion und Pragmatismus - Ist Derrida ein privater Ironiker oder öffentlicher Liberaler? In: Mouffe, Chantal (Hrsg.). Dekonstruktion und Pragmatismus. S. 49 - 96. 540 Butler, Judith/ Laclau, Ernesto: Verwendungen der Gleichheit. Eine Diskussion via Email. In: Marchart, Oliver (Hrsg.). Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus. Wien 1998. S. 238 - 253, hier S. 242.

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scheidungen sind, geht der Unterschied zwischen demokratischen und nicht-demokratischen Entscheidungen verloren. Sobald man aber mehr Inklusion, Partizipation Gleichheit und Pluralismus als Maßstab für die Demokratie auszeichne, führe man über die Hintertür doch wieder normative Bewertungskriterien ein. Wenn man hingegen auf der „demokratischen Revolution“ und der radikalen Demokratie als Tatsachen bestehe, zöge man dieser ihren kritischen Stachel.541 Da jedoch all die Positionen abgelehnt werden, welche Pluralismus, Heterogenität und die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, wie sie sich in der Französischen Revolution als „neue Matrix des sozialen Imaginären“542 durchgesetzt haben,543 ist dies letzten Endes eine wohl normativ motivierte Setzung. Damit laufen dann aber auch all jene Kritiken ins Leere, die der radikalen Demokratie vorwerfen, die Idee eines wenigstens minimalen notwendigen gesellschaftlichen Grundkonsenses aufzugeben.544 Zudem verstehen sich radikaldemokratische Projekte ja explizit als eine von vielen möglichen Deutungen des prinzipiell leeren Signifikanten Demokratie.545 Das Ziel der Hegemonialisierung der eigenen Position und der Ausschluss konkurrierender Deutungen qua erfolgreicher Selbstdarstellung als „only game in town“ ist für Radikaldemokratinnen dabei weder ein ethisches, noch ein demokratietheoretisches Problem, so lange dies nur deutlich gemacht wird.546 Die von den meisten radikaldemokratischen Positionen geteilte Diagnose der „Postdemokratie“547 hinge dafür in gewisser Weise einem „normativen Defätismus“ an.548 Zwar habe der Begriff das Potential, ein in der Gesellschaft weit verbreitetes Unbehagen auf einen Nenner zu bringen, jedoch gehe damit auch eine konzeptionelle Unschärfe einher.549 Der melancholische Grundtenor über die Disfunktionalität demokratischer Institutio-

541 Critchley, Simon: Is there a Normative Deficit in the Theory of Hegemony? S. 116. 542 Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. S. 214. 543 Laclau, Ernesto: Emancipation(s). London 1996. S. 48f. 544 Brodocz, André: Die Konflikttheorie des zivilgesellschaftlichen Republikanismus. S. 231 - 248. 545 Laclau, Ernesto: New Reflections on the Revolution of our Time. A.a.O. Hall, Stuart: Demokratie, Globalisierung und Differenz. In: Enwezor, Okwui et al. (Hrsg.). Demokratie als unvollendeter Prozess. Ostfildern 2002. S. 21- 40. 546 Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. S. 234ff. 547 Rancière, Jacques: La Mésentente. Crouch, Colin. Postdemokratie. 548 Jörke, Dirk: Was kommt nach der Postdemokratie? S. 19. 549 Ebd.

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nen mag ein „Stachel in der politischen Kultur westlicher Gesellschaften“ sein, gleichzeitig sei er aber auch Ausdruck einer gewissen Verlegenheit angesichts der Ungewissheit kommender Entwicklungen. Die vorschnell als Demokratieretter gefeierten Neuen Sozialen Bewegungen und NGO seien jedenfalls aufgrund eingeschränkter Einflussmöglichkeiten kein angemessenes Gegenmittel gegen eine um sich greifende Postdemokratie.550 Aus einer republikanischen Perspektive wird dem Diskurs der radikalen Demokratie daher auch vorgeworfen, keinen richtigen Begriff und kein angemessenes Verständnis von Institutionen und Verfahren zu haben.551 Dieser Vorwurf des Desinteresses an institutionellen Fragen kann mit einigem Recht als offene Flanke des Diskurses betrachtet werden. So gibt Rancière etwa unumwunden zu, sich nie besonders für die Organisationsformen politischer Kollektive interessiert zu haben, da Politik für ihn in erster Linie anarchistisch sei und ohne gesicherte Grundlage gedacht werden müsse.552 So erklärt sich auch der Vorwurf, dass sich die Theoretikerinnen der radikalen Demokratie davor scheuten, sich auf konkrete Begriffe von Demokratie oder Politik festzulegen: „Lieber in Andeutungen, im Vielleicht bleiben und sich die Hände nicht schmutzig machen“. Die Unverständlichkeit für Normalsterbliche als Tugend auszuzeichnen, sei letztlich aber selber unpolitisch, da jedes politische Handeln nach klaren Orientierungen und Perspektiven verlange, welche der Diskurs der radikalen Demokratie nicht anböte.553 Hingegen marginalisierte dieser das „ongoing business“ der Politik, also Fragen der Entscheidung und konkreter Institutionen. Ein solcher „Rückzug von der Politik“ als Folge der Konzentration auf die ontologische Ebene von Gründungsfragen politischer Gemeinschaften und Subjekte sei gleichbedeutend mit einer Verweigerung drängender konkreter Fragen politischen Handelns und möglicher institutioneller Reformen. Wo radikaldemokratische Ansätze also Fragen der Entstehung politischer Gemeinschaften und ihrer Institutionen überbetonen, blenden sie das Problem deren Bestehen-Bleibens aus. Der Grund dafür, so

550 Ders. S. 22ff. 551 Niederberger, Andreas: Zwischen Ethik und Kosmopolitik: Gibt es eine politische Philosophie in den Schriften Jacques Derridas? In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 27, 2002. S. 149 - 170, hier S. 169. 552 Cornu, Laurence/ Vermeren, Patrice: La politique déplacée. Autour de Jacques Rancière. Bourg-en-Bresse 2006. Zitiert nach Bensaïd, Daniel: Der permanente Skandal. S. 34. 553 Jörke, Dirk: Wie demokratisch sind radikale Demokratietheorien? S. 258.

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ist es oft zu vernehmen, liege darin dass jede Ordnung eher als Schließung und damit als Hindernis für Spontaneität und Kreativität und als Einschränkung der Freiheit angesehen wird. Institutionen sind für Radikaldemokratinnen aber eben nicht mehr unbedingt immer als sedimentierte und erhärtete Machtverhältnisse anzugreifen, die mittels Dekonstruktion in Trümmer geschlagen werden müssen, um der Freiheit eine Gasse zu schaffen, vielmehr, so wurde oben gezeigt, ist es die Kluft zwischen der symbolischen Dimension der Institutionen und eines faktisch erlebten Bruchs mit dieser im Realen, der diese Gasse ermöglicht. Daher ähnelten liberale Demokratien aus Sicht von Radikaldemokratinnen unter ideologiekritischen Gesichtspunkten totalitären Herrschaftsformen in gewisser Art und Weise, insofern die liberale Ideologie sich mitunter ebenfalls als universell, rational und wertneutral ausgebe und auf einer formellen Ebene die Existenz von Unterdrückung, Machtasymmetrien und Ungerechtigkeiten verleugne und ihre eigenen historisch-kontingenten und gewaltvollen Ursprünge verberge,554 wenngleich angesichts faktischer historischer totalitärer Herrschaftsformen diese Analogisierung sicher nicht zu weit getrieben werden darf, da sie ansonsten in historischen Relativismus und ins Absurde abzudriften droht. Eine weitere Kritik geht dahin zu sagen, dass radikale Demokratietheorien die Politik allgemein als Herrschaftsinstrument einer Elite verachten würden, wohingegen das bevorzugte Politische der Sehnsuchtsort radikaler Ereignisse sei, welche die Ordnung stürzen, neu stiften oder doch zumindest erschüttern.555 So offenbare der Diskurs der radikalen Demokratie aber nicht nur ein gewisses Desinteresse gegenüber dem Staat, seinen Institutionen und der konkreten Alltagspolitik, sondern sei von einer allgemeinen Staatsfeindlichkeit durchzogen und damit letztlich sehr konservativ (was der wohl schlimmste Vorwurf ist, den man Radikaldemokratinnen machen kann). Der Diskurs übersähe nämlich, dass nur der Staat als Inbegriff geordneter Verfahren der Legitimation von Entscheidungen über den Einsatz seiner Gewaltmittel die Möglichkeit für gesellschaftspolitische Reformen zur Verfügung stellen kann. Dagegen betreibe das radikaldemokratische Denken die Auflösung des Staatsbegriffs in „unspezifischen Begriffen der Zivilgesellschaft und des „Politischen“, wodurch mit dem Staat

554 Vergleiche hierzu zum Beispiel Sheldon Wolins Konzeption eines „Inverted Totalitarianism“ in Wolin, Sheldon S.: Democracy Incorporated. Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarianism. Princeton 2008. 555 Bedorf, Thomas: Bodenlos. S. 698.

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einer funktionierenden rechtsstaatlichen Demokratie die Grundlage entzogen würde. Der Diskurs interpretiere Demokratie zu permanenter Politisierung um, womit nicht mehr Reformen des Staatsapparates durch das Volk im Mittelpunkt emanzipatorischer Ansprüche stünden, sondern die Formulierung einer „Gegenmacht“ in Form „zivilgesellschaftlicher Moral“ als Opposition zu jedem staatlichen Recht. Demokratie und Volkssouveränität würden sich so in „vielfältigen Bewegungen der Zivilgesellschaft verflüssigen“ und Volkssouveränität letzten Endes mit einem vormodernen Widerstandsrecht in eins gesetzt.556 Gerade Claude Lefort stehe pars pro toto für eine geteilte „Obsession für den Totalitarismus“, worin der Grund zu sehen sei, dass der Diskurs essentielle normative rechts- und demokratietheoretische Fragen ausblende. Die Forderung des „Leerhaltens“ des Ortes der Macht und des Offenhaltens des permanenten Streits weise auf ein libertäres Demokratieverständnis, welches zur „Verflüssigung der Volkssouveränität bis zur Formlosigkeit“ beitrage. Besonders Claude Lefort sei daher der Befürworter eines „Anti-Etatismus“, eines „Anti-Institutionalismus“ und einer „reinen Bewegungsdemokratie“.557 Dies verbinde den „libertären“ Diskurs der radikalen Demokratie mit rechten neo-liberalen Ideologien, da rechte wie linke Libertäre die demokratische Normierung gesellschaftlicher Sachbereiche durch das vom Staat geschützte Recht negierten. Dem stellten sie Modelle einer spontanen und vernetzten Ordnungsbildung und des bürgerschaftlichen Engagements entgegen.558 So seien radikaldemokratische Theorien nicht mehr als resignative politische Lehren, die das Scheitern demokratischer Rechtsformen durch eine Apologie der Bewegung, des Protestes und der Kreativität und durch „eine krude Lehre der Dialektik von Macht und Gegenmacht im Empire“ verdeckten.559 Dem wurde entgegengehalten, dass Radikalität nicht als „radikales Verhalten der Akteure“ missverstanden werden dürfe, sondern in erster Linie als Kritik an allen metaphysischen und transzendentalen Gründungsbehaptungen begriffen werden muss. Ein Verständnis von Politik als „ge-

556 Hirsch, Michael: Die zwei Seiten der Entpolitisierung. Zur politischen Theorie der Gegenwart. Stuttgart 2007. S. 8f. 557 Ders. S. 156. 558 Hirsch, Michael: Libertäre Demokratie im neoliberalen Staat. Die Begriffe Staat, Politik, Demokratie und Recht im Poststrukturalismus und Postmarxismus der Gegenwart. In: Hirsch, Michael/ Voigt, Rüdiger (Hrsg.). Der Staat in der Postdemokratie. S. 191 - 226, hier S. 195. 559 Ders. S. 210.

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setzlicher Programmierung des Staatsapparates“ sei hingegen genauso eine Transzendentalisierung des Staates, da dieser somit jeglicher demokratischer Auseinandersetzung entzogen und als Verkörperung universeller Vernunft alle seine Gegner aus dem Bereich des Vernünftigen wie des Menschlichen ausschließen würde.560 Der Vorwurf der Staatsfeindlichkeit lässt sich zudem mit der Rekonstruktion der politischen Theorie Claude Leforts, wie sie im anschließenden Abschnitt der Arbeit vorgenommen wird, als haltlos zurückweisen. Anders verhält sich dies jedoch mit der hier geteilten Kritik, wonach radikale Demokratietheorien nicht erklären könnten, wie die Demokratie Bindungskraft entfalten will, wenn sie gleichzeitig Faktizität und Geltung beansprucht.561 Wie kann über den Punkt normativer Wünschbarkeit hinaus davon ausgegangen werden, dass die Bürgerinnen demokratischer Gesellschaften die ihnen zugesprochene Freiheit überhaupt ausüben wollen, geschweige denn gewährleistet werden, dass sie dies auch wirklich tun? Die jüngere Geschichte weise ja eher ins Gegenteil, hin zu einem allgemeinen Rückzug in ein privates Konsumentendasein. Wie also kann das Problem der Motivation oder Initiative der Individuen über die bloße institutionelle Ermöglichung von Freiheit hinaus gewährleistet werden, ohne dabei aber die Freiheit der Individuen einzuschränken? „Wie will man von Nicht-Demokraten, die man in demokratischen Gehäusen leben lässt, die in einer zunehmend unübersichtlichen und überwältigenden globalen Landschaft ohne orientierenden Horizont von Angst erfüllt sind und nichts über das Funktionieren der Mächte wissen, von denen sie hin- und hergeworfen werden, erwarten, dass sie für ihre eigene substantielle Freiheit oder Gleichheit stimmen oder sich gar aktiv dafür einsetzen, geschweige denn für die von anderen?“562 Wie will man die allgemeine Verpflichtung auf die ethisch-politischen Prinzipien der Gleichheit und Freiheit gewährleisten, gleichzeitig aber essentialistische Konsequenzen wie jene Carl Schmitts vermeiden?563 Hierzu sagen die Theorien radikaler Demokratie leider wenig, wohl nicht zuletzt auch wegen der bewussten Abgrenzung zum republikanischen Diskurs. Durch die Konzentration auf die Dimension der Gründung politischer Gemeinschaften befasst sich der radikalde-

560 561 562 563

Hetzel, Andreas: Der Staat im Diskurs der radikalen Demokratie. S. 181f. Pettit, Phillip: Republicanism. S. 80 - 109. Brown, Wendy: Wir sind jetzt alle Demokraten. S. 68f. Schaap, Andrew: Political Theory and the Agony of Politics. In: Political Studies Review, Volume 5, Number 1, January 2007. S. 56 - 74.

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mokratische Diskurs also viel mit der Frage deren Entstehens, diskutiert hinsichtlich des Bestehen-Bleibens jedoch höchstens noch ein paar Bedingungen, formuliert aber leider wenig auf die politische Praxis gerichtete Vorschläge. So muss er sich wohl zu einem Teil die Kritik gefallen lassen, nicht weit über den Hinweis auf Kontingenzen hinauszukommen. Bestenfalls lösen die Theorien damit den Anspruch der Schaffung eines Kontingenzbewusstseins ein, wenngleich dank der Komplexität und Rhetorik geschuldeten Abschottung als Spezialdiskurs nur bei einem bei einem derart eingeschränkten Adressatinnenkreis, dass nicht wirklich von einem gesellschaftspolitischen Projekt gesprochen werden kann. Wie daraus aber dann Kontingenztoleranz oder gar deren Affirmation entstehen soll, bleibt unklar. Als normative Dissenstheorien könnten radikale Demokratietheorien zudem nicht erklären, „warum Neu- oder Wiedereröffnungen politischer Verhältnisse tatsächlich strukturell durch die Dissensorientierung der demokratischen Praxis bedingt sein sollen und warum sie sich nicht doch eher kontingenten Anstößen von Akteuren oder gar der Selbstkritik gemeinwohlorientierter Bürger an der begrenzten Inklusion Betroffener verdanken“. Die Bürgerin klammert der radikaldemokratische Diskurs jedoch weitestgehend aus. Die Theorien könnten also weder die für ein Fortbestehen politischer Gemeinschaften unbedingt nötigen Bindungskräfte erklären, noch plausibel machen, (…) wie es letztlich zum Übergang vom Dissens zur Ordnung komme.564 Diesen Dissens als Moment der Inklusion zu verstehen,565 reiche nicht aus. Zudem könne keiner der Ansätze darüber Aussagen treffen, wie sich dauerhafte Ausschlüsse vermeiden ließen.566 Demgegenüber böten Konsenstheorien wenigstens die Möglichkeit zur Kritik, zeigten sie doch, dass der vermeintliche Konsens keiner ist, da er

564 Niederberger, Andreas: Integration und Legitimation durch Konflikt? Demokratietheorie und ihre Grundlegung im Spannungsfeld von Dissens und Konsens. In: Heil, Reinhard/ Hetzel, Andreas (Hrsg.). Die unendliche Aufgabe. S. 267 - 280, hier S. 272f. 565 Bonacker, Thorsten/ Brodocz, André: Im Namen der Menschenrechte. In: Zeitschrift für internationale Beziehungen 8, 2001. S. 179 - 208. Bonacker und Brodoczs Verständnis nach bedarf die Diskussion über die Integration durch Menschenrechte weder eines geteilten Ausgangs- noch eines Zielverständnisses der Menschenrechte. Normen können ihrer Ansicht nach nur dann integrativ wirken, wenn sich „alle auf etwas Identisches beziehen, ohne darunter etwas Identisches zu verstehen“, Integration sich also symbolisch und nicht normativ vollzieht (S. 182). 566 Niederberger, Andreas: Integration und Legitimation durch Konflikt? S. 272f.

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II. 6. Die gegenwärtige radikale Demokratie

sich nur in selektivem Einschluss oder signifikantem Ausschluss stabilisiere. So böten diese wenigstens ein Bewertungskriterium der gesellschaftlichen Wirklichkeit, wohingegen Dissenstheorien sich damit zufriedengeben müssten, wenn es nur oft genug und weit verbreitet Streit gebe. Dies laufe letztlich auf einen „hegelianisch-dialektischen Optimismus“ hinaus, dem mit der Gleichheit ein normatives Gegengewicht gesetzt würde, welches gegen die bestehende Ordnung eingeklagt werden könne.567 Als Kritik seien die Ansätze der radikalen Demokratie damit nützlich und relevant, für sich selbst stehend jedoch eher haltlos. Letztlich diene die Überbetonung des Politischen gegenüber der Ebene der Politik dem Zweck, von der Pflicht zu Handeln zu entlasten.568 Was dem Diskurs der modernen radikalen Demokratie also fehlt, ist die konkrete Bestimmung eines radikaldemokratischen Bürgerinnenverständnisses.569 So ist die Bürgerin in diesem Diskurs als Zentralkategorie zugleich anwesend und auf seltsame Art abwesend, da völlig unbestimmt. Mehr als der Hinweis auf das „Aushalten“ des Abenteuers einer sich stets im Kommen befindenden Demokratie lässt sich kaum irgendwo entnehmen. Radikale Demokratietheorien können daher nicht erklären, woher das für ein Fortbestehen der Demokratie notwendige Vertrauen der Bürgerin in sie kommt und wie es auf Dauer gestellt werden kann. Was die Existenz und den Erhalt der ethischpolitischen Prinzipien der Gleichheit und Freiheit garantieren kann, lässt sich ebenso wenig erkennen, welche Maßnahmen seitens der Politik ergriffen werden könnten oder gar sollten, wird nicht thematisiert. Muss man also letztlich wenn nicht auf die Götter, dann doch auf das Gute im Menschen vertrauen und hoffen, dass er sein Handeln an einem demokratischen Ethos ausrichten wird? Muss nur der empfundene Leidensdruck hoch genug sein, dass sich die Bürgerinnen irgendwann gegen Staat, Bürokratie, Regierung, Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten auflehnen? Da eine politische Theorie, die Relevanz für sich beansprucht, sich damit nicht zufrieden geben kann, soll der Versuch des Anschlusses der innerhalb des radikaldemokratischen Diskurses nicht rezipierten politischen Theorie Rousseaus, wie er im letzten Abschnitt der Arbeit vorgenommen wird, diese offene Flanke schließen.

567 Ders. S. 276f. 568 Rasch William, Konflikt als Beruf. Berlin 2005. 569 Blackell, Mark: Lefort and the problem of democratic citizenship. In: Thesis Eleven 87, 2006. S. 51 - 62.

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II. Diskursive Verbindungen

II. 6. 6. Rousseau und die radikale Demokratie - Übersehene Ursprünge, diachrone Verbindungen Rousseau spielt als ideengeschichtlicher Referenzautor in allen der oben skizzierten Diskurse eine zentrale Rolle, im Diskurs des Totalitarismus, des Liberalismus, des Marxismus und der partizipatorischen radikalen Demokratie. Lefort steht zu allen dieser Diskurse in einem gewissen Nahverhältnis, so dass er eigentlich nicht um Rousseau hätte herumkommen können, es sei denn, er blendete ihn ganz bewusst aus. So finden sich schließlich im gegenwärtigen radikaldemokratischen Diskurs, der ja wesentlich von Lefort initiiert wurde, keine nennenswerten Rezeptionen Rousseaus. Der Diskurs des Totalitarismus diskutiert Rousseau entweder als zentralen proto-totalitären, oder aber als klassisch proto-liberalen Denker. Im marxistischen Denken gilt er entweder als Gewährsmann einer Kritik am (liberalen) bourgeoisen Besitzindividualismus und damit als Apologet einer „wahren“, also identitären Demokratie, oder umgekehrt als Vordenker eben jenes kleinbürgerlichen und besitzstandswahrenden Denkens, das bekämpft wird. Im partizipatorischen radikalen Demokratieverständnis schließlich wird Rousseau entweder aus linker Sicht affirmativ als Befürworter eines am Ideal der identitären Demokratie ausgerichteten maximalen Partizipationsverständnisses mit dem Ziel der Befriedung gesellschaftlicher Konflikte und einer wesenshaften Transformation der Bürgerinnen gelesen, oder aber aus genau diesem Verständnis heraus erneut als protototalitär abgelehnt. Die substanzialistische Lesart Fraenkels und Schmitts sieht in ihm insofern einen radikalen Demokraten, als er für die Homogenisierung eines souveränen Volkes und die absolute Gültigkeit dessen Willens plädiere, was dann entweder angegriffen oder begrüßt wird. Die deliberative Lesart schließlich liest Rousseau als einen liberalen Demokraten im Anschluss an Kant. Die Rekonstruktion des modernen radikaldemokratischen Denkens zeigt, dass die zentralen in der Diskussion Rousseaus entwickelten Annahmen der skizzierten Diskurse und die jeweils daraus abgeleiteten Demokratieverständnisse der Grund dafür sind, Rousseau tout court abzulehnen. Die im folgenden Teil der Arbeit zu leistende Rekonstruktion der politischen Theorie Leforts wird diese Erkenntnis stützen. Besonders Lefort lehnt aufgrund seiner ganz eigenen Perspektive auf die moderne Demokratie sowohl den totalitären, als auch den liberalen, den marxistischen den traditionell radikaldemokratischen und den deliberativen Rousseau ab. Dies erklärt sich aus seiner originären Position zwischen den Stühlen des 178

II. 6. Die gegenwärtige radikale Demokratie

Marxismus und Liberalismus, die er und mit ihm die moderne radikale Demokratie vor dem Hintergrund der totalitären Erfahrung eingenommen hat. Lefort und der gegenwärtige Diskurs der radikalen Demokratie haben also durchaus gute Gründe, die in den erwähnten Diskursen oszillierenden Rousseau-Interpretationen und deren Perspektiven auf die Demokratie abzulehnen. Dass sie jedoch keinen eigenen Zugang zu den Schriften Rousseau suchten, kann nur damit erklärt werden, dass sie (und ihnen voran Lefort) die von Carl Schmitt und Jacob Talmon hegemonialisierte Lesart Rousseaus als essentialistischer und proto-totalitärer Denker einer direkten Demokratie eines unter der absoluten Herrschaft des Gemeinwillens geeinten homogenen Volkes übernahmen. Dass Lefort angesichts eines derart breiten Interpretationsspielraums mitunter etwas voreilig und eigentlich unnötig eine dominante Lesart Rousseaus übernahm und diese noch nicht einmal explizit auswiesat, wäre vielleicht nur erstaunlich, mitunter vielleicht ärgerlich, jedoch nicht weiter schlimm, würde dies nicht sowohl dem radikaldemokratischen Denken zum Schaden gereichen, als es auch den Anschluss Rousseaus an aktuelle politiktheoretische und gesellschaftspolitische Herausforderungen blockiert. Vorliegende Arbeit ist davon überzeugt, dass dies der Fall ist, dass Leforts Verweigerung, Rousseaus Bedeutung anzuerkennen, als eine Blockade Rousseaus im Arsenal der politischen Theorie und Ideengeschichte identifiziert werden kann, für welche die gegenwärtige radikale Demokratie einen ebenso hohen Preis zahlen muss, wie Rousseaus politische Theorie. Daher soll im Folgenden Teil der Anschluss Rousseaus an den modernen Diskurs der radikalen Demokratie zu beiderseitigem Nutzen oder Vorteil geleistet werden. Dafür soll an die skizzierten diskursiven Verbindungen und die erste Rekonstruktion der Grundprämissen, zentralen Kategorien und Ansätze des modernen radikaldemokratischen Diskurses angelehnt die politische Theorie Leforts rekonstruiert werden, um so ein Analyseraster herauszuarbeiten, mittels dem Strukturanalogien zwischen der politischen Theorie Rousseaus und derjenigen Leforts freigelegt werden können. So soll zudem die moderne Radikaldemokratie gegen Kritiken immunisiert, deren offene Flanken zum Teil geschlossen und ihre Relevanz für die gegenwärtige politische Theorie und emanzipatorische Praxis dadurch gesteigert werden. Wenn nun mehrmals gesagt wurde, dass Rousseau im gegenwärtigen radikaldemokratischen Denken keine Rolle spielte, stimmt das in dieser Absolutheit nicht ganz. Hin und wieder finden sich schon Verweise und Bemerkungen, diese stützen aber die oben geäußerte Annahme der Übernahme der Schmittschen und der Talmonschen Interpretation Rousseaus 179

II. Diskursive Verbindungen

durch Lefort. Wenn man sich etwa laut Lefort in Bezug auf die moderne Demokratie vom „Fetisch der Einmütigkeit“ der Vertragstheorien und frühen Entwicklungsstadien der Revolution verabschieden müsse, weil dieser in vielen normativen Demokratietheorien der Grund der fälschlichen Ablehnung der Existenz von Parteien und Fraktionen und dem daraus resultierenden Eintreten für die Identität von Volk und Herrschern sei, darf wohl angenommen werden, dass dabei das dominante Rousseau-Bild eines Apologeten einer direkten Demokratie in einer homogenen Gesellschaft durch die Kulissen geistert.570 Lefort selbst nennt Rousseau daher nur an ganz wenigen und eben nicht besonders relevanten Stellen seines umfangreichen Werkes. Mit Blick auf die Problematik hegemonialer Rezeptionen oder Interpretationen stellte er etwa einmal fest, dass das große Problem eines jeden Philosophen die „stupidity of readers” sei, “who will later press upon him a vulgar or scholarly discourse in order to celebrate or condemn his `theory´ or to discover his `contradictions´” und fügte an: „Think only of the fate that awaited Machiavelli and Rousseau".571 Daraus zog er jedoch offensichtlich keine Konsequenzen für seine eigene Rousseau-Lektüre. Ebenso bezeichnete er Talmons Begriff der „totalitären Demokratie” als offensichtliche Absurdität,572 ohne dabei jedoch Rousseau auf irgendeine Art freizusprechen. Eher beiläufig bemerkte er im Zuge der Besprechung von Edgar Quinets Histoire de la révolution francaise und dessen Rechtfertigung des Jakobinischen Terrors dass „the Terror - the last avatar of the theory we find in Rousseau, the philosopher who momentarily succeeded in establishing the unconditional value of right - is on the agenda when it is proclaimed that `justice will be based upon the general interest´”.573 So habe Quinets „Theorie des Terrors” Rousseau völlig zu Recht als Paten herangezogen, da dessen Fiktion einer „natürlichen Güte“ des Menschen als eine der Wurzeln moderner Terrorherrschaften zu sehen sei.574 Wenn Lefort also forderte, dass Politik nicht

570 Lefort, Claude/ Thibaud, Paul: La Communication Démocratique. Entretien avec Claude Lefort. In: Lefort, Claude. Le Temps Présent. Écrits 1945 - 2005. Paris 2007. S. 389 - 403. 571 Lefort, Claude: Author´s Preface. In: Ders. Writing. S. S. XXXIX - XLII, hier S. XLI. 572 Ders.: Human Rights and the Welfare State. S. 28. 573 Ders.: Edgar Quinet: The Revolution that Failed. In: Ders. Democracy and Political Theory. S. 115 - 134, hier S. 118f. Französisch: Edgar Quinet: La Révolution manquée. In: Essais sur le politique. S. 140 - 161. 574 Ders.: S. 127.

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als die Suche nach einer verloren gegangenen, mythischen ursprünglichen Gemeinschaft verstanden werden darf, da dies die Existenz oder zumindest die prinzipielle Möglichkeit einer homogenen Gesellschaft voraussetze, kann dies als implizite Kritik an Rousseau verstanden werden.575 Explizit und etwas ausführlicher bezog er sich lediglich in einem Aufsatz über die Bedingungen und Möglichkeiten eines „ewigen Friedens“ auf Rousseaus „Realismus“, dem er dort zugutehielt, das zwischenstaatliche Verhältnis als ein multipolares, auf Dauer nicht zu versöhnendes Spannungsverhältnis verstanden zu haben. Für Rousseau gebe es „keinen Krieg zwischen Menschen, es gibt nur Krieg zwischen Staaten“576. Lefort war sich mit Rousseau (und Hobbes und Schmitt) darin einig, dass kein Staat sich auf Dauer einem übergeordneten Gesetz oder einer kosmopolitischen Ordnung unterwerfen lasse. Temporäre Assoziationen seien zwar denkbar und lassen sich in der Realität auch beobachten, jedoch haben diese keinerlei letzten Verpflichtungscharakter über die Beurteilung des Eigennutzens der Staaten hinaus. Mit Rousseau wies Lefort daher die Möglichkeit eines Völkerrechts zurück, da die Volkssouveränität einer bloßen Festschreibung eines status quo per Vertrag widerspreche.577 Jedoch grenzte sich Lefort auch umgehend wieder von Rousseau ab, wo er sich überzeugt zeigte, dass auch eine allmähliche kulturelle und wirtschaftliche Annäherung, der Austausch von Wissen und die Menschenrechte dazu beitrügen, eine politische Ordnung mit dem Ziel des Friedens zu etablieren. Falls diese Hoffnungen enttäuscht würden, so Lefort, solle man nicht mit Rousseau schlussfolgern, dass es dumm sei, unter lauter Verrückten der Weise sein zu wollen, sondern eher mit Freud feststellen, dass sich der Todestrieb Thanatos einmal mehr gegen den ewigen Konkurrenten Eros durchgesetzt habe.578 Wenn überhaupt, taucht Rousseaus im radikaldemokratischen Diskurs weniger konzeptionell tragend, als vielmehr zum Zwecke der Abgrenzung des eigenen Ansatzes auf, etwa wenn sein Verständnis von Freiheit als „Gehorsam gegen das selbst gegebene Gesetz“ dahingehend kritisiert wird, dass es in Form der aliénation totale seine eigene Negation implizie-

575 Ders.: La magie et l´histoire. In: Ders. Le temps présent. S. 161 - 164. 576 OC III, S. 604. 577 Lefort, Claude: L´idée d´humanité et le projet de paix universelle. In: Ders.: Écrire. A l´épreuve du politique. S. 227 - 246. Englisch: The Idea of Humanity and the Project of Universal Peace. In: Ders. Writing. S. 142 - 158. 578 Ders.: The Idea of Humanity and the Project of Universal Peace. S. 157.

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II. Diskursive Verbindungen

re.579 Die freiwillige Unterwerfung unter ein unpersönliches und für alle geltendes Gesetz ersetze die persönliche Abhängigkeit des Ancien Régime um den Preis eines „überspitzten Holismus“, der von vorneherein den liberalen Voraussetzungen des Vertrags und des Besitzindividualismus widerspreche. Dank der Figur des Gesetzgebers strande Rousseaus Konzeption des Gemeinwillens daher letztlich in einer „demokratischen Sackgasse“, nehme dieser doch den Standpunkt einer Totalität (Lefort nennt dies die „Position des Überflugs“) ein, von wo er in der Tradition des aufgeklärten Despotismus eine konventionelle Transzendenz (die Zivilreligion) anruft, um so die Kluft zwischen idealem homogenem Staatsvolk und realem heterogenen Staatsvolk zu überwinden.580 Hin und wieder lassen sich auch ein paar positive Bezugnahmen finden. Jedoch wird Rousseau meist eher wegen der von ihm aufgeworfenen Fragen als wegen seiner Antworten konsultiert. So sei die Demokratie die spezifische Regierungsform, welche sich im Anschluss an Claude Lefort um die Hegemonialisierung des „leeren Ortes der Macht“ durch Wettkampf, Überredung und Wahlen herum organisiere, was prinzipiell die Möglichkeit der Rousseauschen Frage nach der Legitimität des eigenen Gesellschaftsvertrages zur Folge haben könne.581 Für Balibar ist Rousseaus Frage danach, was ein Volk zum Volk macht, eine „theoretisch revolutionäre Aussage“. Diese transformiere die politische Philosophie zu einer Philosophie der Geschichte, viel wichtiger aber noch bereite sie die Kategorien des „(in der Geschichte agierenden, von ihr konstituierten) historischen Subjekts und die des (konstituierenden, in der Geschichte verwirklichten) Subjekts der Geschichte vor.582 Die aliénation totale dürfe nicht als die Unterwerfung unter einen persönlichen Herren verstanden werden, da durch sie eine öffentliche Person entstehe, welche nicht weniger als die „wirkliche Freiheit und Gleichheit der Bürger“ hervorbringe. Somit müsse sie als beständige Umformung der privaten Individualität zu einer gesellschaftlichen und mithin politischen Individualität verstanden werden.583 Die Behauptung der Unteilbarkeit des Ge579 Bensaïd, Daniel: Der permanente Skandal. S. 37 - 40. 580 Ders. S. 39f. 581 Critchley, Simon: Is there a Normative Deficit in the Theory of Hegemony? S. 115. 582 Balibar, Étienne: Wie wird ein Volk zum Volk? Rousseau und Kant. In: Ders. Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität. Hamburg 2006. S. 93 - 121, hier S. 93. Siehe auch Badiou, Alain/ Rancière, Jacques: Politik der Wahrheit. S. 44 - 51. 583 Balibar, Étienne: Wie wird ein Volk zum Volk? S. 94.

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II. 6. Die gegenwärtige radikale Demokratie

meinwillens sieht Balibar jedoch als hochproblematisch an, da diese die Kluft zwischen idealem und realem Volk übersehe.584 Somit bucht auch diese eher wohlwollende Lesart Rousseau in aller Konsequenz unter „gut gemeint, schlecht gemacht“ als proto-totalitär ab. Zugleich finden sich auch radikaldemokratische Positionen, die Rousseau aufgrund der Konsequenzen seines Denkens als Liberalen ablehnen. Die gegenwärtige normative Vormachtstellung der Demokratie etwa werde von Rousseaus „gewagter Behauptung“ gestützt, dass unbeschränkte individuelle Freiheit zugunsten kollektiver politischer Macht aufgegeben werden müsse, um so die individuelle Freiheit überhaupt verwirklichen zu können. Rousseau sei es daher zu verdanken, dass die individuelle Freiheit heute stärker mit der Demokratie assoziiert würde, als deren eigentlicher Kern, die „Herrschaft des Volkes“.585 Lediglich an ganz wenigen Stellen finden sich Überlegungen zur Anschlussfähigkeit Rousseaus an das moderne radikaldemokratische Denken. So gründe Rousseaus Prinzip der Volkssouveränität weder im Logos, noch im Mythos, sondern sei im wahren Wortsinn unbegründet. Die Zivilreligion soll diese gleichzeitige Verheißung und Schwäche als „treuhänderische Absicherung der permanent notwendigen (Neu-) Erfindung der Demokratie“ abfedern.586 Rousseaus Leistung liege vor allem darin, den Aspekt der Subjektivierung des Menschen durch die Politik theoretisch erfasst zu haben: „Wenn der Vertrag von Rousseau einen Sinn jenseits der rechtlichen und beschützenden Beschränkung hat, in die der veraltete Begriff ihn einschließt, dann (den), dass er nicht die Prinzipien eines Gemeinschaftskörpers erzeugt, der sich regiert, ohne auch und vor allem viel wesentlicher ein intelligentes Wesen und einen Menschen zu erzeugen, wie es buchstäblich im Text steht“587. Rousseaus Contrat Social setze nicht nur einen politischen Körper ein, sondern produziere den Menschen selbst oder „die Menschlichkeit des Menschen“.588 Wenn man sich die Demokratie als solche nicht vorstellen kann, wenn es sie nicht gibt und nie geben wird, komme man mit Rousseau daher gar nicht umhin, mit aller Kraft nach ihr zu streben.589 Derlei Bezüge auf die politische Theorie Rousseaus sind dabei

584 585 586 587 588 589

Ders.: S. 95f. Brown, Wendy: Wir sind jetzt alle Demokraten. S. 63. Nancy, Jean-Luc: Begrenzte und unendliche Demokratie. S. 75f. Nancy, Jean-Luc: Wahrheit der Demokratie. Wien 2009. S. 35f. Ders. S. 76. Derrida, Jacques: Schurken. S. 107.

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II. Diskursive Verbindungen

keinesfalls neu. Der Contrat Social wurde schon vor längerem als „Revolte gegen die Gesellschaft“ eines Entwurzelten erklärt,590 Rousseau dementsprechend als „anarchist by nature, socialist by love“ bezeichnet.591 Als Vertreter eines „defensiven Republikanismus“ wird er mitunter sogar als anschlussfähig für moderne gesellschaftspolitische Herausforderungen bezeichnet. Entgegen der Ansprüche der französischen Philosophen der Aufklärung, welche eher auf einen „updated Platonic dream“ in Form eines „enlightened despotism“ oder „enlightened absolutism“ abzielten, habe sich Rousseau immerhin damit beschäftigt, was Republikanismus unter den Bedingungen der Moderne noch bedeuten könne und wie dieser so für moderne Gesellschaften wiederzugewinnen sei. Sein „Sentimentalismus“, welcher dem Herzen gegenüber dem Geist den Vorrang einräume und an die natürliche Güte des Menschen glaube, kollidiere dabei mit dem kaltherzigen Materialismus der Aufklärung.592 Dieser unnötig romantisierenden Lesart Rousseaus wird hier jedoch nicht gefolgt, da angezweifelt wird, dass Rousseaus angeblicher „Glaube an die natürliche Güte des Menschen“ immer gleich automatisch mehr sein muss, als eine Ablehnung der Behauptung dessen natürlicher Boshaftigkeit, vor allem dann, wenn derlei Behauptungen der Legitimation von Herrschaftsverhältnissen und Herrschaftspraktiken dienen. Darüber hinaus müsste zumindest hinterfragt werden, ob nicht die Dichotomisierung von Vernunft (Aufklärung) und Gefühl (Rousseau) letztlich das Ergebnis einer erfolgreichen und in der ideengeschichtlichen Auslegung bis heute wirksamen Strategie der Diffamierung Rousseaus als unvernünftig, emotional, leidenschaftlich und damit nicht ganz zurechnungsfähig ist. Die wenigen Bezugnahmen innerhalb des modernen Diskurses der radikalen Demokratie auf Rousseau zeigen jedenfalls, dass dieser immer noch des Anschlusses an den Diskurs harrt, wie er von Claude Lefort maßgeblich initiiert wurde. Dessen Werk ist die Passage, durch die alle Ansätze radikaler Demokratie gegangen sind und die die politische Theorie Rousseaus aus diesem Diskurs herausgehalten hat. Dieses Werk soll der phänomenologischen Grundausrichtung von Leforts akademischer Sozialisation verpflichtet im Folgenden anhand der Entwicklung seines Denkens aus der Erfahrung der politischen Praxis re-

590 Mc Manners, John: The Social Contract and Rousseau´s Revolt against Society. S. 302. 591 Groethuysen, Bernhard: Jean-Jacques Rousseau. S. 136. 592 Howard, Dick: The Primacy of the Political. A History of Political Thought from the Greeks to the French & American Revolutions. New York 2010. S. 248f.

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II. 6. Die gegenwärtige radikale Demokratie

konstruiert und in ein Analyseraster übergeführt werden, wobei erfahrungsgebundene und systematische Überlegungen ineinander greifen und den Übergang der diskursiven und ideengeschichtlichen Dimension vorliegender Arbeit zu ihrem systematischen Teil markieren.

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III. Leforts politische Theorie der radikalen Demokratie

III. 1. Von der Erfahrung totalitärer Praxis zur Notwendigkeit eines Neudenkens der Demokratie: Die post-marxistische Phase III. 1. 1. Auftakt In der Frühphase seiner Laufbahn als Akademiker und öffentlicher Intellektueller wurde Lefort wesentlich von zwei Theorieströmungen beeinflusst, der französischen Phänomenologie und dem französischen Marxismus, das durch seinen Lehrer und späteren Freund Maurice Merleau-Ponty vermittelte Zusammentreffen beider Einflussstränge markiert somit die „situation initiale“593 seines Schaffens.594 Die Phänomenologie in Frankreich ist bis heute ein im Wesentlichen mit den Schriften Merleau-Pontys und Jean Paul Sartres verbundene philosophische Strömung, die in der Tradition Husserls und Heideggers einen Zugang zu einer wahrnehmbaren Welt der Phänomene vor allen wissenschaftlichen und idealisierten, oder ideologisierten Vorannahmen und Interpretationen sucht. Befreit von idealtypischen Vorfestlegungen und abstrakten Theorien wirft die Phänomenologie ihre Aufmerksamkeit von Anfang an auf das Leben in seiner Erfahrbarkeit und seinem Erfahrenwerden und geht von dem Standpunkt aus, dass jede und jeder immer schon in eine mit Phänomenen angefüllte Welt geworfen ist, welchen er und sie begegnen kann und die er möglichst präzise beschreiben sollte, ohne ihnen eben von vornherein bereits eine bestimmte Bedeutung zuzuschreiben. In der Verbindung eines Nachdenkens über die Welt mit ihrer immer schon erlebten und unhintergehbaren körperlichen Erfahrbarkeit und Erfahrung liegt der Grundanspruch der Phänomenologie, wie sie auch Merleau-Ponty vertrat. Husserls Forderung,

593 Poltier, Hugues: La Pensée du Politique de Claude Lefort. Une Interprétation des Formes de Société à la Lumière du Politique. Lausanne 1998. S. 32. 594 Lefort gab nach dem Tod Merleau-Pontys 1961 dessen Schriften heraus und widmete ihm zudem eine Essaysammlung. Siehe Merleau-Ponty, Maurice: Œuvres. Herausgegeben von Claude Lefort. Paris 2010. Lefort, Claude: Sur une colonne absente. Écrits autour de Merleau-Ponty. Paris 1978.

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III. Leforts politische Theorie der radikalen Demokratie

zu „den Sachen selbst“ zurückzugehen,595 von Heidegger zur „Maxime“ der Phänomenologie erhoben,596 wurde vermittelt über Merleau-Ponty auch Lefort zum Leitmotiv, welches sich in seinen Schriften durchgängig identifizieren lässt.597 Zugleich galten Merleau-Ponty und Sartre als zwei der einflussreichsten Denker des marxistischen Diskurses im Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht zuletzt wegen der gemeinsam von ihnen herausgegebenen Zeitschrift Le Temps Modernes. Im internationalen Vergleich galt der Französische Marxismus wegen des Einflusses der Kommunistischen Partei Frankreichs auf die Innenpolitik lange Zeit als einer der linientreuesten Ableger des sowjetischen Vorbildes, gleichzeitig war der französische innermarxistische Diskurs aber auch theoretisch vielseitiger und heterodoxer, als in irgendeinem anderen Land der Welt. Vor allem das eher marginale Interesse an ökonomischen Fragen zugunsten einer Konzentration auf Literatur und Philosophie waren dem französischen marxistischen Denken dabei eigen, was nicht zuletzt eben auch auf Sartres und Merleau-Pontys Einfluss durch Les Temps Modernes zurückzuführen ist, welche der anti-bourgeoisen, anti-kapitalistischen, anti-amerikanischen, anti-liberalen aber auch mitunter elitären Ausrichtung des französischen Marxismus eine Plattform und den Raum für ihre Entwicklung bot. Seit Anfang der 1950er Jahre entfernten sich die Herausgeber jedoch voneinander, da Merleau-Ponty sich aufgrund der politischen Entwicklungen in den vermeintlich kommunistischen Staaten der Sowjetunion mehr und mehr vom Marxismus distanzierte, während Sartre überzeugt davon war, der Kommunistischen Partei Frankreichs als für ihn einzig legitimer Repräsentantin der Arbeiterklasse und damit wohl auch der vermeintlich orthodoxen Auslegung des Marxismus die Treue halten zu müssen. Für Merleau-Ponty waren Sartres „Ultrabolschewismus“ sowie der marxistische Geschichtsdeterminismus und der Glaube an die Partei als legitimer Repräsentantin des Proletariats als revolutionäres Subjektes spätestens mit der Veröffentlichung von Solschenizyns Archipel Gulag nicht mehr tragbar, so dass er sich fortan mehr der Untersuchung der libe-

595 Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil, Gesammelte Werke. Band XIX, I. Den Haag 1984. S. 10. 596 Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1986. S. 27f. 597 Lefort, Claude: Complications. S. 26. Zur Bedeutung der Phänomenologie für Lefort siehe auch: Poltier, Hugues: La Pensée du Politique de Claude Lefort. S. 39 - 56. Flynn, Bernard: Lefort as Phenomenologist of the Political. In: Plot, Martin (Hrsg.). Claude Lefort. Thinker of the Political. London 2013. S. 23 - 33.

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III. 1. Die post-marxistische Phase

ralen Institutionen repräsentativer Demokratien auf deren freiheits- und emanzipationsförderndes Potential zuwandte. Dieser vermeintlich liberale Umschwung im Denken Merleau-Pontys und seine Kritik an Sartre gingen natürlich nicht spurlos an seinem Schüler Claude Lefort worüber und können wohl als wesentlicher Einfluss für die Ausarbeitung dessen späterer Demokratie- und Totalitarismustheorie angesehen werden. Gleichzeitig darf die Bedeutung der Phänomenologie Merleau-Pontys jedoch gerade für Leforts demokratietheoretisches Spätwerk auch nicht überbewertet werden. So hat Lefort ja in der Tat nie eine „politische Phänomenologie“ oder „Phänomenologie des Politischen“ formuliert, sondern eher vereinzelte Denkfiguren seines Lehrers übernommen, wozu zum Beispiel der auf Heidegger zurückgehenden „Chiasmus“ zählt, wie er sich in Leforts Unterscheidung des „Politischen“ und der „Politik“ wiederfindet. Daneben war es vor allem die Denkweise eines permanenten Neuanfangs und einer prinzipiellen Offenheit gegenüber dem Unbestimmten, Zufälligen und Ereignishaften, was Lefort Merleau-Pontys phänomenologischem Denken verdankte.598 Er schätzte seinen Mentor und Freund daher vor allem als einen Denker „who refused the distinction between subject and object, who thought that the true questions were not to be exhausted in the answers, that they come not only from us, but are the sign of our interaction with the world, with others, with Being itself”599. Entsprechend bezeichnete er Merleau-Ponty rückblickend als „master teacher (maître)“, der es verstanden habe, die Position der „mastery (maîtrise)“ zu vermeiden.600 In einem Aufsatz über Hannah Arendt gab Lefort ausführlich Auskunft über den Einfluss Merleau-Pontys auf sein Schaffen. Denken meine für diesen (wie für Arendt, deren Werk Lefort jedoch erst spät entdeckte) stets ein Neubeginnen auf der Basis der Erfahrung inakzeptabler Ereignisse, durch welche überhaupt erst Hypothesen und damit letztlich Philosophie entstehen könnten. Eine solche empörende Initialzündung war für Merleau-Ponty, Arendt und Lefort damit in aller Konsequenz der einzig legitime Ausgangspunkt allen Denkens.601 Wer dies leugne, so Lefort, täusche vor, dass seine systematischen Arbeiten quasi aus dem Nichts entsprungen seien, ja behaupte nicht zuletzt auch wider besseres Wissen deren allen Erfahrun-

598 599 600 601

Marchart Oliver: Die Politische Differenz. S. 121f. Lefort, Claude: The Political Forms of Modern Society. S. 294. Ders.: Philosopher? In: Ders. Writing. S. 236 - 251, hier S. 250. Siehe dazu Arendts Aussage im Interview mit Günther Gaus, wonach man, wenn man als Jüdin angegriffen werde, sich zuallererst als Jüdin verteidigen müsse.

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III. Leforts politische Theorie der radikalen Demokratie

gen entzogenen und damit vermeintlich übermenschlichen Ursprung, wo in Wirklichkeit alle theoretischen Arbeiten eben nur aus praktischer Erfahrung heraus entstehen können.602 Die wichtigste Überzeugung, welche Leforts gesamtes Schaffen damit im Anschluss an Merleau-Ponty anleitete, ist die, dass nichts absolut zufällig, nichts aber auch absolut notwendig sei und der Geschichte stets beides zugrunde liege, Logik und Kontingenz.603 Entscheidender für Leforts intellektuelle Entwicklung war jedoch die Auseinandersetzung mit und die allmähliche Überwindung von zentralen marxistischen Prämissen als Resultat seiner persönlichen Erfahrungen mit dem orthodoxen Marxismus der Französischen Linken sowie seine kritische Beobachtung der Innen- und Außenpolitik der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion, welche rhetorisch in seiner rückblickenden Selbstbezeichnung und Abgrenzung von den überzeugten Kommunistinnen und Trotzkistinnen unter seinen Zeitgenossinnen als „nicht komplett verblödet“604 gipfelte. Daher wird diese erste Phase seines Schaffens in vorliegender Arbeit als „post-marxistische Phase“ bezeichnet, wobei diese Abgrenzung zuvorderst aus heuristischen Gründen erfolgt und zudem Leforts Bekenntnis geschuldet ist, wonach er sich trotz aller Kritik an den realen Erscheinungsformen des vermeintlich marxistischen Stalinismus nie komplett von Marx (wohl aber vom Marxismus) verabschiedet habe, so dass sich diesbezüglich keine wirklich eindeutige Zäsur in seinem Werk, etwa an einem konkreten Ereignis oder einer Jahreszahl, festmachen ließe.605 Vielmehr trennte er stets sorgsam zwischen einer Kritik an all dem, was aus dem Marxismus heraus das „Phantasma des Totalitarismus“ genährt habe, und dem, was die „Wahrheit“ der Marxschen Kritik an den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen seiner Zeit ausgemacht habe.606 Lefort tat sich unter dem Einfluss Merleau-Pontys sowie des Französischen Trotzkismus dabei aber schon verhältnismäßig früh als Kritiker des Marxismus stalinistischer Ausprägung und seiner Anhänger innerhalb der französi-

602 Lefort, Claude: Hannah Arendt and the Question of the Political. S. 47. 603 Ders.: Thinking Politics. In: Carman, Taylor/ Hansen, Mark B. N. (Hrsg.). The Cambridge Companion to Merleau-Ponty. Cambridge 2005. S. 352 - 379, hier S. 359. 604 Rosanvallon, Pierre: The test of the Political. A Conversation with Claude Lefort. In: Constellations 19, 1, 2012. S. 4 - 15, hier S. 11. 605 Lefort selbst bezeichnet zwar die Veröffentlichung von Solschenizyns Archipel Gulag als eine solche, jedoch begann seine kritische Auseinandersetzung mit dem Marxismus schon deutlich früher und endete eben nie in einer völligen Abkehr. 606 Lefort, Claude: Philosopher? S. 245f.

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III. 1. Die post-marxistische Phase

schen Intelligenz der Nachkriegszeit hervor. So kritisierte er beispielsweise früh die (bis heute) oft verharmlosende Perspektive auf die Rolle Lenins in der Russischen Revolution. Immerhin sei schließlich Lenin der erste gewesen, der Intellektuelle als Demagogen und Parasiten bezeichnet und Internierungslager eingerichtet habe, um derlei „suspekte Elemente“ wegzusperren.607 Seit seinem frühesten politischen Engagement prangerte Lefort zudem wie gesagt die fast unerschütterliche Fahnentreue der französischen Linken gegenüber dem Sowjetregime an und das bereits zu einer Zeit, als dies bestenfalls als bourgeois oder konservativ, meistens jedoch eher als Verrat an der Revolution und der gemeinsamen Sache angesehen wurde. Er war somit innerhalb der Linken einer der Ersten, die den stalinistischen Terror nicht als historischen Ausrutscher oder Unfall, sondern als dem stalinistischen System und seiner Ideologie ebenso inhärent, wie als unvermeidliche Konsequenz einer zu engen und orthodoxen Auslegung der Lehre Marx verstanden, während viele den sowjetischen Genossinnen weit über die Veröffentlichung des Archipel Gulag hinaus treu ergeben blieben. Leforts Un homme en trop, 608 ein Kommentar zu Solschenizyns Buch, gilt bis heute als das zentrale Werk der sich damals herausbildenden anti-totalitären Linken.609 Der Archipel Gulag war jedoch für nicht unbedeutende Teile der französischen Linken ein Schock und hatte zur Folge, dass sich viele der zuvor vehementesten Verteidigerinnen des Stalinismus nun mit der gleichen Vehemenz gegen den Marxismus wandten und mit diesem brachen. Nicht nur mit Un homme en trop, sondern auch dank der Mitherausgeberschaft von Socialisme ou Barbarie stand Lefort stets im Zentrum der politisch-praktischen und theoretischen Auseinandersetzungen dieser Zeit, ordnete sich dabei aber keinem Lager zu, weder dem seiner Ansicht nach unpolitischen Anarchismus eines Pierre Clastres, noch dem Liberalismus François Furets.610 In der Auseinandersetzung mit progressiven Intellektuellen des gesamten Spektrums fand er schließlich zeitlebens Input und Motivation zur Ausarbeitung sei607 Ders.: Reflections on the present. S. 264. 608 Ders.: Un homme en trop. Réflexions sur "l'Archipel du Goulag". Paris 1976. Siehe auch Ders.: Kravchenko et le problème de l´URSS. In: Le Temps Modernes 2, 13, 1948. S. 1490 - 1516. 609 Rosanvallon, Pierre: The test of the Political. S. 12. 610 Zum Verhältnis des Denkens Clastres und Leforts siehe Geenens, Raf: Lefort und Clastres: Einheit und Teilung. In: Wagner, Andreas (Hrsg.). Am leeren Ort der Macht. Das Staats- und Politikverständnis Claude Leforts. Baden-Baden 2013. S. 49 - 66.

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ner politischen Schriften. So scheute er eben auch zu keiner Zeit den Konflikt innerhalb des eigenen akademischen und politischen Milieus, noch mied er je die Auseinandersetzung mit den großen Erzählungen und den dominanten politischen und philosophischen Lager seiner Zeit, seien es Liberalismus, Republikanismus, Kapitalismus, Totalitarismus, Marxismus oder Demokratie. Wissenschaftstheoretisch grenzte er sich in bester phänomenologischer Tradition von allen dominanten und populären Ansätzen ab, vom Relativismus über Universalismus, Kulturalismus und Historizismus bis zum Positivismus.611 Der Ton war dabei mitunter rau, seinem bald prominentesten Gegner Jean-Paul Sartre etwa warf Lefort vor, trotz „(…) Intelligenz, Kultur und Talent zur Verdunklung und Verdummung“612 beigetragen zu haben. Auslöser der Debatte zwischen Sartre und Lefort war Sartres Artikel Les Communistes et la paix613, dem eine heftige Auseinandersetzung folgte,614 welche in Leforts Generalabrechnung mit der französischen Intelligenz seiner Zeit gipfelte.615 An Sartre kritisierte er dessen Verständnis moderner Gesellschaften und politischer und sozialer Reformen „in seinen Prämissen, weil er nur von Individuen ausgeht (und) in seinen Folgen, weil er bei einem Kollektiv endet, das durch einen gemeinsamen Willen geeint ist und das sich vollständig über sich selbst im Klaren ist, das sich selbst durchschaut“616. Dies war deutlich gegen die Behauptung der Kommunistischen Partei gerichtet, wonach nur noch (durch die Partei verkörperter) Wille und Vernunft und nicht mehr die autonomen und spontanen Aktionen des Proletariats die gesellschaftliche Entwicklung und den Verlauf der

611 Curtis, David Ames: Translator´s Foreword. In: Lefort, Claude. Writing. S. VII XXXVII, hier S. XVI. 612 Lefort, Claude: Vorwort zu Éléments d´une critique de la bureaucratie. S. 30. 613 Sartre, Jean-Paul: Les Communistes et la paix. In: Les Temps Modernes 81 (Juli 1952), S. 1 - 50. Les Temps Modernes 84-85 (November 1952), S. 695 - 763. Les Temps Modernes 101 (April 1954), S. 1729 - 1819. 614 Lefort, Claude: Le Marxisme et Sartre. In: Les Temps Modernes 89 (April 1953), S. 1541 - 1570. Darauf Sartre, Jean-Paul: Réponse a Claude Lefort. In: Les Temps Modernes 89 (April 1953), S. 1571 - 1629. Hierauf wiederum Lefort, Claude: De la réponse à la question. In: Les Temps Modernes 104 (Juli 1954), S. 157 - 184. 615 Ders.: La Méthode des intellectuels dits „progressistes“: Échantillons. In: Socialisme ou Barbarie (Januar bis Februar 1958), S. 126 - 153. Erneut abgedruckt als „La Méthode des intellectuels progressistes“. In: Éléments d´une Critique de la Bureaucratie. Paris 1976. S. 236 - 268. 616 Ders.: Eléments d´une Critique de la Bureaucratie. S. 66.

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Geschichte anzuleiten vermögen. Dabei nahm es Lefort der französischen Linken übel, dass diese die Anliegen der Nationalen Befreiungsfront Algeriens FLN im seit 1954 tobenden Algerienkrieg nicht nur mit den eigenen Interessen verwechselt, sondern diese sogar ganz bewusst miteinander identifiziert habe, um in deren eigentlich autonomen Kampf um nationale Unabhängigkeit den Klassenkampf ausbrechen sowie in deren Abkehr vom Kolonialismus die Hinwendung zum Sozialismus hineinlesen zu können. Die französische Linke habe damit den Algerienkrieg in ihr Weltbild ein-, wenn jenen nicht sogar diesem untergeordnet und die nationalistischen und religiösen Aspekte des Aufstandes schlicht geleugnet, um diesen so zum Oberflächenphänomen einer sich in der gesellschaftlichen Tiefenstruktur vollziehenden Revolution uminterpretieren zu können. Umso bitterer sei dann schließlich auch die Enttäuschung darüber ausgefallen, als sich der FLN lange nicht so homogen wie gewünscht und nur temporär hinter dem gemeinsamen Ziel der Befreiung geeint entpuppte. Die bereits während des Krieges latent schwelenden inneralgerischen Konflikte brachen nach der Befreiung zum großen Leidwesen und zur großen Überraschung vieler linker Intellektueller nun umso härter hervor, womit der Algerienkrieg pars pro toto für die allgemeine Tendenz innerhalb großer Teile der Linken gestanden habe, politische Ereignisse vom vorprogrammierten historischen Endziel der kommunistischen Revolution her zu bewerten und sie an diesem zu messen, was sich auch gut an der anfänglichen Sympathie der Linken für die Iranische Revolution habe ablesen lassen.617 Trotz aller Enthaltsamkeit gegenüber der Selbstzuordnung zu einem politischen oder akademischen Lager, ist es sicher nicht zu bestreiten, dass Lefort zumindest seine frühen politischen Schriften unter dem Eindruck eines allgemeinen „revolutionären Fiebers“618 abfasste, wie es in Westeuropa sicher ganz besonders stark in Frankreich zu spüren war. Da er, seiner phänomenologischen Grundhaltung verpflichtet, seine Schriften stets vor

617 Ders.: La Politique et la Pensée de la Politique. In: Les Lettres Nouvelles, 32, 1963, S. 19 - 70. Die Unfähigkeit vieler orthodoxer marxistischer Theoretiker, unvorhergesehene politische Ereignisse, Auseinandersetzungen und Kämpfe mit den Instrumentarien einer klassisch marxistischen Geschichts- und Gesellschaftsanalyse zu erfassen und deren damit einhergehende Überforderung führte später Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vor dem Hintergrund der Entstehung der so genannten Neuen Sozialen Bewegungen zur Ausarbeitung ihrer Theorie der Radikalen Demokratie. Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. A.a.O. 618 Poltier, Hugues: La Pensée du Politique de Claude Lefort. S. 24.

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dem Hintergrund seiner eigenen konkreten historischen und sozialen Erfahrungen abfasste, kann darin, neben der Komplexität seiner Schriften, ein Grund für die gemessen am Gehalt seiner politischen Theorie eher dürftige Rezeption im deutschsprachigen Raum gesehen werden.619 Zudem war seine Thematisierung des Verhältnisses von Totalitarismus und Demokratie sicher gerade in Deutschland vielen unangenehm. So hat er den Totalitarismus ja schließlich nie als einen ein- oder zweimaligen historischen Unfall und schon gar nicht als ein historisch überwundenes Relikt einer alles in allem unbeirrbar Richtung Fortschritt und Emanzipation voranschreitenden Geschichte verstanden, welches für alle Zeiten unter den Trümmern der Berliner Mauer begraben liegt. Seine Weigerung, sich in die Scharmützel des Kalten Krieges einzumischen und eindeutig Position für eines der beiden Lager zu beziehen sowie einer unterkomplexen Propaganda eines im doppelten Wortsinn einseitigen Bildes der Demokratie das Wort zu reden, wie sie dann als Blaupause für Frieden und Wohlstand nach dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ nur noch in alle Welt hätte exportiert werden müssen, trug sicher auch ihren Teil zur ausgebliebenen Rezeption und verwehrten Anerkennung bei. Zu guter Letzt sei sein Verständnis Politischer Philosophie der deutschen Tradition Politischer Theoriebildung mit ihrer stark soziologischen Ausrichtung stets fremd geblieben, was in Kombination mit seiner Fähigkeit und seinem Willen zur Selbstkritik alles in allem stark am nach 1990 neu gewonnenen deutschen Selbstbewusstsein gekratzt haben dürfte.620 Dies änderte sich zwar in den letzten Jahren, jedoch gilt Lefort hierzulande bis dato immer noch meist nur relativ abgeschlossenen akademischen Zirkeln als einer der originellsten Denker des zwanzigsten Jahrhunderts.621 Ein erhoffter Nebeneffekt dieser Arbeit ist es daher, die Bedeu-

619 Vgl.: Rödel, Ulrich: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.). Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. S. 7 - 29, hier S. 7f. 620 Howard, Dick: Claude Lefort: A Political Biography. In: Plot, Martin (Hrsg.). Claude Lefort. Thinker of the Political. London 2013. S. 15 - 22, hier S. 20. 621 Deutschsprachige Einführungen in Leforts Theorie bieten Gaus, Daniel: Demokratie zwischen Konflikt und Konsens. Zur Politischen Philosophie Claude Leforts. In: Flügel, Oliver/ Heil, Reinhard/ Hetzel, Andreas (Hrsg.). Die Rückkehr des Politischen. S. 65 - 86. Marchart, Oliver: Die Politische Theorie des zivilgesellschaftlichen Republikanismus: Claude Lefort und Marcel Gauchet. In: Brodocz, André/ Schaal, Gary S. (Hrsg.). Politische Theorien der Gegenwart II. S. 221 - 252. Ders.: Die Politische Differenz. S. 118 - 151. Ders.: Claude Lefort: Demokratie und die doppelte Teilung der Gesellschaft. In: Bröckling, Ulrich/

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tung der Arbeiten Leforts über den historisch-politischen Entstehungskontext hinaus für aktuelle Herausforderungen demokratischer Praxis und politischer Theorie herauszustellen. Sein Werk reflektiert ein Bewusstsein dafür, dass das 20. Jahrhundert historisch völlig neue politische Formen und Unterdrückungsregime hervorbrachte, welche ein permanentes, immer wiederkehrendes und niemals abzuschließendes Neu-Denken und Neu-Befragen des Politischen und der Politik, mithin der klassischen Fragen der Philosophie nach Ursprung, Form, Zusammenhalt und Risiken sozialen Zusammenlebens und politischer Vergemeinschaftungen erfordern und einfordern.622 Dass sich moderne Demokratie und Totalitarismus nur zusammen denken lassen, war dabei in nuce die wesentliche Erkenntnis der hier als post-marxistisch bezeichneten Schaffensphase Leforts, deren Ende zugleich den Übergang zur zweiten Phase und damit dem l´état final seiner Politischen Theorie markiert.623 Leforts theoretische Arbeiten und Reflektionen standen dabei in beiden Phasen unter dem starken Einfluss der Erfahrungen im Frankreich sowie den Eindrücken des Stalinismus in der Sowjetunion. Diese Erfahrungen waren die Grundbedingungen für die und zugleich untrennbar verwoben mit der Entwicklung seines Neudenkens des Politischen, der Demokratie und des Totalitarismus. Lefort beschritt dabei nicht den Weg einer positiven Wesensbestimmung der Demokratie, sondern nahm den Umweg über die Befragung des Phänomens des Totalitarismus und gelangte so zu dessen Verständnis als Ergebnis einer „politischen Mutation“, welche die „Umkehrung des demokratischen Modells begründet“ und dieses zugleich „in gewissen Zügen ins Phantastische verlängert“ habe.624 Demokratie und Totalitarismus als die Gesellschaftsformen des 20. Jahrhunderts waren am Ende der Entwicklung seines Denkens keine sich ausschließenden Gegensätze mehr, sondern wurzelten seiner Überzeugung nach in derselben historischen Ausgangssituation, der von ihm mit einem Begriff Tocquevilles

Feustel, Robert (Hrsg.). Das Politische denken. S. 19 - 32. Wagner, Andreas: Recht-Macht-Öffentlichkeit. Elemente demokratischer Staatlichkeit bei Jürgen Habermas und Claude Lefort. Stuttgart 2010. S. 89 - 150. Hebekus, Uwe: Claude Lefort. In: Hebekus, Uwe/ Völker, Jan. Neue Philosophien des Politischen zur Einführung. Hamburg 2012. S. 61 - 89. Wagner, Andreas (Hrsg.): Am leeren Ort der Macht. A.a.O. 622 Thompson, John B.: Introduction. In: Lefort, Claude. The Political Forms of Modern Society. S. 1 - 28, hier S. 1f. 623 Poltier, Hugues: La Pensée du Politique de Claude Lefort. S. 17. 624 Lefort, Claude. Vorwort zu Eléments d´une critique de la bureaucratie. S. 47.

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bezeichneten und auf das 18. Jahrhundert zu datierenden „demokratischen Revolution“ und standen so folglich von Anbeginn an in einem engen historischen und systematischen Zusammenhang, der nie aufgehoben, aufgelöst, transformiert oder an ein Ende geführt werden kann. III. 1. 2. Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg: Trotzkismus und intellektueller Widerstand Während seiner Jugend im Frankreich der Nachkriegszeit war der 1924 geborene Claude Lefort ebenso wie sein langjähriger Mitstreiter Cornelius Castoriadis Anhänger des Trotzkismus, dem er sich 1943 nach eigener Aussage vor allem aufgrund des starken persönlichen Einflusses seines Lehrers am Lycée Carnot, dem Philosophen und Phänomenologen Maurice-Merleau-Ponty, anschloss. In einem Interview mit der Zeitschrift L ´Anti-Mythes aus dem Jahr 1975 berichtete Lefort von diesem Erweckungserlebnis. Nachdem er sich zuvor als Student der Philosophie profunde Kenntnisse der Arbeiterbewegung und des Marxschen Werks angeeignet hatte,625 fiel der Hinweis Merleau-Pontys auf den Trotzkismus bei ihm auf fruchtbaren Boden, suchte er doch zu jener Zeit in den Schriften Marx nach Argumenten gegen den in Russland propagierten und seinem Verständnis nach pervertierten Marxismus, nach einem „(…) marxisme qui fut fidèle à l´idée de Marx que je m´étais formée, une critique radicale de la société bourgeoise sous toutes ses formes, liée à l`action révolutionnaire du prolétariat, un marxisme qui rendait manifeste l´alliance de la théorie et de la politique, un marxisme antiautoritaire“626. Was er in der trotzkistischen Jugend fand, war zunächst jedoch vor allem gelebter Widerstand gegen die in der französischen Nachkriegsgesellschaft vorherr-

625 Lefort studierte an der Sorbonne, promovierte dort bei Raymond Aron in Literatur und Humanwissenschaften und erlangte mit der agrégation die Lehrberechtigung für Philosophie. In der Folge lehrte er in Nîmes (1949) und Reims (1950). 1951 bis 1953 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre National de la Recherche Scientifique, ebenso von 1956 bis 1965 und von 1971 bis 1976. 1953 bis 1954 nahm er Lehraufträge an der Universität Sao Paolo wahr, 1954 bis 1956 an der Sorbonne, und 1966 bis 1971 in Caen. 1976 wurde er Direktor der École des Hautes Études en Sciences Sociales, wo er bis zur Pensionierung 1989 lehrte. 626 Lefort, Claude: Entretien avec Claude Lefort. In: L´Anti-Mythes 14. Paris 1975. Wieder abgedruckt in Ders.: Le Temps Présent. S. 223 - 260. Ders.: An Interview with Claude Lefort. S. 173.

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schenden Bemühungen um eine Wiederbelebung kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen und der traditionellen republikanischen Institutionen.627 Da sich die Bewegung zu einem großen Teil gegen das Vergessen oder mitunter bewusste kollektive Verdrängen der Kollaboration von Teilen der französischen politischen Elite mit dem Nationalsozialismus engagierte, lässt den Schluss zu, dass dieser Sozialisations- und Erfahrungshintergrund einen wesentlichen Teil dazu beitrug, dass Rousseau als Säulenheiliger des französischen Republikanismus in Leforts Werk keine Beachtung fand. Als Trotzkist war Lefort sozusagen von Haus aus ein scharfer Kritiker sowohl des Kapitalismus, als auch des Stalinismus, welcher zu jener Zeit von vielen westeuropäischen, vor allem französischen Kommunisten das Vorbild für die Entwicklung einer herrschaftsfreien Gesellschaft war. Vor allem die vehemente Verteidigung des sowjetischen Herrschaftssystems durch die Kommunistische Partei Frankreichs und deren Unterdrückung jedweder Kritik an der Außen- und Innenpolitik der KPdSU (Lefort bezeichnete das Verhalten der Kommunistischen Partei Frankreichs als „ideologischen Terror“) motivieren ihn zu seinem Kampf gegen die „Denkverbote des Marxismus-Leninismus“628. So gab er später zu Protokoll: „I loathed the French Communist Party´s domineering manner, its dogmatism, its demagoguery toward the petty bourgeoisie and its nationalistic, flag-waving mentality. On the basis of Soviet propaganda and Gide, I found the USSR´s militarization of society, bureaucratic hierarchy, and inequality of incomes (not to mention the monstrosity of socialist realism) repugnant”629. So rückte besonders die Kritik an der bürokratischen Organisation einer vermeintlich Freiheit und Autonomie, in Wahrheit jedoch genau das Gegenteil fördernden Herrschaftsform in den Mittelpunkt seiner Arbeiten. Seit jener Zeit galt Leforts Interesse den Bedingungen der Möglichkeiten einer Befreiung der Arbeiterklasse (später weitete er diesen Anspruch auf die gesamte Gesellschaft aus) von bürokratischen Herrschaftsund Denkformen, wie er sie in der Sowjetunion ebenso wie innerhalb der Kommunistischen Partei Frankreichs vorherrschen sah. Seine damals einsetzende Suche nach einem antiautoritären Marxismus führte in Kombination mit seinen phänomenologischen Einflüssen zur Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit kollektiver und individueller Autonomie, nach wirklicher und gelebter gesellschaftlicher wie individueller Emanzipation, 627 Rödel, Ulrich: Einleitung. S. 7f. 628 Lefort, Claude: Vorwort zu Eléments d´une critique de la bureaucratie. S. 31f. 629 Lefort, Claude: An Interview with Claude Lefort. S. 173.

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Spontaneität und Kreativität, wie er sie bald im Trotzkismus nicht mehr zu finden glaubte. III. 1. 3. Abkehr vom Trotzkismus - Socialisme ou Barbarie Nachdem Lefort also relativ kurze Zeit Mitglied der Vierten Internationale,630 dem 1938 in Paris als Reaktion auf die Dominanz der stalinistischen Ideologie in der Dritten Internationale gegründeten Bündnis trotzkistischer Parteien und Gruppierungen gewesen ist, distanzierte er sich Ende der 1940er Jahre vom Trotzkismus aufgrund unüberwindbarer theoretischer und praktischer Differenzen. In seinen Augen unterschied sich dessen Ansicht von der revolutionären Bedeutung der Verstaatlichung der Produktionsmittel und der Führungsrolle der Kommunistischen Partei im so genannten Arbeiter- und Bauernstaat trotz aller gegenteiligen Verlautbarungen nicht wesentlich von der offiziellen Parteilinie der KPdSU. Der Trotzkismus war für Lefort jedoch vor allem nicht dazu in der Lage, das Wesen der Kommunistischen Partei zu begreifen. Dieses Wesen machte er in den Macht- und Identifikationsmechanismen aus, welche dem „Zusammenhalt einer Mikro-Bürokratie jenseits der demokratischen Regeln und selbst beim Fehlen von ökonomischen Bestimmungen“631 dienten. Zudem entwickelte er zu der Zeit in Bezug auf die grundlegenden Theoreme des Marxismus, welchen der Trotzkismus ja immer noch folgte „(…) strong reservations, for what theory (materialism or determinism) shielded was an intellectual approach which can be called deductivism. The role of the proletariat is deduced from the nature of the capitalist system, the rule of the party is deduced from that of the proletariat and present and future events (e.g. the revolution emerging from the imperialist war) were deduced from the crisis of the system. I could barely tolerate this deductivism, even though I still did not yet understand that its counterpart was party discipline”632. Mehr und mehr bemerkte Lefort also auch unter den Trotzkisten die ihm so verhasste Tendenz zu Bürokratisierung und ideologischer Verkrustung, was ihn mehr und mehr zu einem Außenseiter wer-

630 Zur IV. Internationale siehe Bensaïd, Daniel: The Formative Years of the Fourth International, 1933 - 1938. Amsterdam 1998. Frank, Pierre: Die Geschichte der IV. Internationale. Hamburg 1975. 631 Lefort, Claude: Vorwort zu Eléments d´une critique de la bureaucratie. S. 37. 632 Ders.: An Interview with Claude Lefort. S. 174.

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den ließ. Auch die glorifizierende Perspektive auf Trotzki als erster Kritiker Stalins griff Lefort heftig an, habe jener Stalin doch lange Zeit darin unterstützt, jegliche innerparteiliche Organisation zu unterdrücken. Zudem habe Trotzki die im postrevolutionären Russland neu entstandene Bürokratie nie wirklich als eine bloß korrupte Elite verstanden, welche es im Sinne der vermeintlich wahren Prinzipien der Revolution lediglich auszumerzen gelte, um auf den rechten geschichtlichen Weg zurückzukehren. Lefort identifizierte die Bürokratie vielmehr als eines der spezifischen Wesensmerkmale eines historisch neuartigen repressiven Systems, dessen sich aus Trotzki bewusst gewesen sei und das er begrüßt habe. Die im Laufe der Oktoberrevolution erfolgte Konzentration der Macht in den Händen einer kleinen bolschewistischen Elite und damit einhergehend Trotzkis Rolle in der Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstands von 1921, welcher sich ja vor allem gegen genau jene Machtakkumulation gerichtet hat, bestärkten Lefort in seiner Abkehr und gleichzeitig erstarkenden Skepsis sowohl gegenüber Trotzki, als auch der sowjetischen Bürokratie. Schließlich sei es Trotzki selbst gewesen, der in den 1920er Jahren die absolute Unterordnung unter die Partei angeordnet, das Programm der Partei wesentlich mitformuliert und der vor allem alle oppositionellen Bestrebungen wegen derer demokratischen Ansprüche und Prinzipien als „Fetischismus“ stigmatisiert habe.633 Zum endgültigen Bruch kam es, als die Vierte Internationale die gewalttätigen Machtergreifungen und -demonstrationen der Kommunistischen Parteien in Osteuropa unterstützte und guthieß. Daraufhin traten Lefort und Castoriadis 1948 aus und gründeten die Gruppe Socialisme ou Barbarie, der bald unter anderen auch Jean-François Lyotard angehörte.634 Diese war von Lefort als offene Diskussionsplattform eines kritischen Dialogs über die Zukunft des Sozialismus gedacht, jeglicher Anschein von bürokratischer Parteiorganisation sollte entsprechend tunlichst vermieden werden. Vor allem die Kritik am angeblichen Objektivismus der marxisti-

633 Ders.: La contradiction de Trotsky et le problème révolutionnaire. In: Ders. Eléments d´une critique de la bureaucratie. S. 11 - 29. Original in Les Temps Modernes 39, 1948. S. 48 - 69. Englisch: The Contradiction of Trotsky. In: Thompson, John B. (Hrsg.). The Political Forms of Modern Society. S. 31 - 51. 634 Vg.l zur Entstehung und Ausrichtung der Gruppe Castoriadis, Cornelius: An Interview with Cornelius Castoriadis. In: Telos 23, Spring 1975, S. 131 - 155. Gottraux, Phillipe: Socialisme ou Barbarie. Un engagement politique et intellectuel dans la France de l´après-guerre. Lausanne 1997.

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schen Geschichtsphilosophie sollte die Arbeiten anleiten. Deren Geschichtsdeterminismus aufzubrechen und dadurch wirklichen spontanen gesellschaftlichen Wandel zu ermöglichen, war eines der theoretischen und praktischen Hauptanliegen der Gruppe, welche neben dem Marxismus, der Philosophie Nietzsches, Heideggers, Althussers und der Dekonstruktion Derridas genealogisch als eine der wichtigen Wurzeln des postmarxistischen radikaldemokratischen Diskurses gilt.635 Lefort war damals jedenfalls noch davon überzeugt, dass die Revolution, ja jede Revolution, nicht nur des Verständnisses der spezifischen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, sondern zuvorderst der breiten Kenntnis einer allgemeinen revolutionären Theorie bedürfe.636 In dieser Absicht erschien bereits ein Jahr nach Gründung die erste Zeitschrift der Gruppe mit dem programmatischen Titel Socialisme ou Barbarie. Un organ de critique et d´orientation révolutionnaire. Die in dieser Zeit erscheinenden Schriften Leforts und Castoriadis sind nach Leforts eigener Aussage inhaltlich kongruent zueinander zu lesen.637 Neben der theoretischen Arbeit im Rahmen von Socialisme ou Barbarie ließ sich Lefort natürlich weiterhin unter dem Einfluss der Phänomenologie Merleau-Pontys von den sozio-historischen Realitäten und deren Erfahrung leiten, da Theoriearbeit für ihn umgekehrt stets nur in Rückkopplung zur Interpretation und Veränderung gegenwärtiger politischer Ereignisse Sinn ergab. Die für ihn persönlich wichtigsten Ereignisse der damaligen Zeit waren der französische Krieg in Indochina, der Algerienkrieg, der Aufstieg des Gaullismus, die Bildung der Union der Linken, die Revolten der Ostblockstaaten Mitte der 1950er-Jahre und die Reaktion der kommunistischen Führung Moskaus auf diese.638 Ein Ereignis aber beeindruckte ihn nachhaltig und beeinflusste maßgeblich die weitere Entwicklung seiner Schriften: der von Chruschtschow anlässlich des XX. Parteitags der KPdSU initiierte Prozess der „Entstalinisierung“639 und

635 Flügel, Oliver/ Heil, Reinhard/ Hetzel, Andreas: Die Rückkehr des Politischen. S. 12f. 636 Poltier, Hugues: La Pensée du Politique de Claude Lefort. S. 18. 637 Lefort, Claude: An Interview with Claude Lefort. S. 177. 638 Ders.: L´insurrection hongroise. In: Ders. L´invention démocratique. S. 202 246. Ders.: Retour de Pologne. In : Ders. L´invention démocratique. S. 273 - 332. Ders.: La situation en Pologne. In: Socialisme ou Barbarie 22 (Juli - September 1957). S. 163 - 165. Ders. : Pologne. La Kadarisation froide. In: Socialisme ou Barbarie 24 (Mai - Juni 1958). S. 107 - 110. 639 Ders.: Philosopher? S. 244f.

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der damit verbundene Versuch einer historischen Reinwaschung der kommunistischen Parteielite. III. 1. 4. Der XX. Parteitag der KPdSU Das brutale innen- wie außenpolitische Vorgehen der Führung der KPdSU und die gegenüber diesem Verhalten unkritische bis zustimmende Haltung großer Teile der französischen Linken riefen bereits seit längerem Leforts Empörung hervor, als er 1956 Le Totalitarisme sans Stalinveröffentlichte. 640 Dort entwickelte er die These, dass der Totalitarismus nicht (wie bis dahin üblich) unter rein organisatorischen Gesichtspunkten als Herrschafts- oder Regierungsform, sondern viel fundamentaler als Gesellschaftsform verstanden werden muss. Die Verbindung von Totalitarismus und bürokratischer Herrschaft wurde Lefort anhand der Beobachtung des XX. Parteitages der KPdSU deutlich. Dort kündete Nikita Chruschtschow drei Jahre nach dem Tod Stalins eine Reform von Partei und Politik der Sowjetunion unter dem Schlagwort der Entstalinisierung an. Die auf dem Parteitag gehaltene berühmte Geheimrede Chruschtschows war für den Großteil der französischen Linken ein Schock, fühlte sie sich doch dem programmatischen Aufbau des Sozialismus durch die KPdSU und der Politik Stalins auch über dessen Tod hinaus verpflichtet. Besonders Sartre als Verteidiger des stalinistischen Weges wurde in jenen Tagen endgültig zum intellektuellen Gegenpol Leforts. Völlig unbeeindruckt von den anti-stalinistischen Verlautbarungen der kommunistischen Elite arbeitete Lefort jedoch in bester phänomenologischer Manier aus den am Parteitag abgegebenen Erklärungen den totalitären Charakter der KPdSU heraus. Den Stalinismus sah er gegen die offizielle Parteilinie nicht länger als einen historischen Unfall oder Umweg, sondern als ebenso logische, wie unvermeidliche und eben auch gewünschte dauerhafte Konsequenz aus der Machtkonzentration in den Händen der Bolschewiken an. Deren totalitäres Wesen, eine für seine spätere Demokratietheorie wesentliche Erkenntnis, ruhte essentiell auf der symbolischen Behauptung der

640 Ders.: Le totalitarisme sans Stalin: L´U.R.S.S. dans une nouvelle phase. In: Ders. Eléments d´une critique de la bureaucratie. S. 130 - 190. Original: Le Totalitarisme sans Staline. L´URSS dans une nouvelle phase. In: Socialisme ou Barbarie 19, Juli - September 1956. S. 1 - 72. Englisch: Totalitarianism without Stalin. In: Ders. The Political Forms of Modern Society. S. 52 - 88.

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Identität von Gesellschaft, Partei und Staat auf, welche in einem offensichtlichen, zugleich jedoch stets geleugneten und gewaltvoll unterdrückten krassen Widerspruch zur faktischen Unterwerfung der Gesellschaft unter die Herrschaft der Partei stand.641 Stalinismus, totalitäre Partei und bürokratische Organisation waren somit eben keine zufällig gleichzeitig auftretenden, mithin korrelierenden historischen Phänomene, sondern stünden seit Anbeginn, seit der Russischen Revolution historisch und systematisch in einem unauflöslichen symbolischen wie faktischen Zusammenhang. Die Entmachtung der alten Herrscherelite in der Russischen Revolution habe daher gerade nicht die Befreiung der Arbeiterklasse von der Herrschaft der Bourgeoisie gebracht und wird dies weder mittel- noch langfristig tun, sondern lediglich den Austausch der alten Herrscherelite durch die Bolschewiken bewirkt, die das entstandene Machtvakuum rasch und bruchlos füllten. Somit war die sowjetische Elite dank der Konzentration allen Kapitals in ihren Händen als Form eines Staatskapitalismus, als die sie sich nicht wirklich vom Klassenfeind unterschied, zu adressieren und zu kritisieren gewesen. In der Folge des Machtwechsels seien zwar bemerkenswerte Veränderungen innerhalb der herrschenden Elite aufgetreten, die sich in eine bürokratische Klasse verwandelt habe. Im Unterschied zur Bourgeoisie und der von ihr als Herrschaftsinstrument zur Durchsetzung der eigenen Interessen eingesetzten liberal-kapitalistischen Gesellschaftsform, die auf der Trennung einer Sphäre privater Besitzerinnen auf der einen sowie dem Staat auf der anderen Seite und der Bürokratie als deren Vermittlungsinstanz ruhte, habe sich die sowjetische Bürokratie als eigentlich herrschende Klasse den Staat nicht nur untergeordnet, sondern sei geradezu mit diesem verschmolzen. Analog zur liberalen Bourgeoisie sei die sowjetische Bürokratie somit als eine soziale Klasse zu verstehen, die ihre Existenz ebenfalls auf einer Form des Privateigentums aufgebaut habe. Wo der Bourgeois jedoch ökonomischen Mehrwert erwirtschafte und zudem Mitglied der Klasse der Bourgeoisie sei, habe der sowjetische Bürokrat hingegen Mehrwert durch seine Zugehörigkeit zur Klasse der Bürokratie und damit zugleich zum Staat generiere. Die Bürokratie existiere als Klasse also einzig aufgrund der „integration of the bureaucrats around the state, in their absolute discipline with regard to the administrative apparatus. Without this state, without the apparatus, the bureaucracy is noth-

641 Ders.: Totalitarianism without Stalin. S. 62.

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ing”642. Symbolisch mit dem Staat und schließlich auch der Partei identifiziert, habe sich die Bürokratie daran gemacht, auch die Unterscheidung zwischen Staat und Zivilgesellschaft zu leugnen und symbolisch aufzuheben. Was Lefort auf dem XX. Parteitag der KPdSU somit als ein Wesensmerkmal totalitärer Herrschaft herausarbeitete, das Prinzip der symbolischen Behauptung der Einheit von Gesellschaft und Staat, lässt sich bereits in der Revolution feststellen und. Entgegen der offiziellen Darstellung habe diese keineswegs einen historischen Bruch vollzogen, auch war der von Partei und Bürokratie in der Folge ausgeübte Terror für Lefort keineswegs irgendwelchen vermeintlichen historischen Notwendigkeiten geschuldet, er war kein notwendiges Übel angesichts eines historischen Auftrages höherer Legitimation, sondern schlicht ebenso logische wie faktische Konsequenz einer behaupteten Identität von Staat und Gesellschaft und damit letztlich das Mittel zur Aufrechterhaltung der Einheit, jedoch nicht der von Gesellschaft, Staat und Partei, wie sie permanent symbolisch behauptet wurde, sondern der inneren Einheit und des Zusammenhalts der neuen Klasse der Bürokratie. Mit der symbolischen Behauptung der Identität von Gesellschaft, Staat und Partei identifizierte er die damit einhergehende Schließung des Politischen, einer Zentralkategorie seiner späteren Demokratietheorie, als ein Wesensmerkmal totalitärer Gesellschaften, in welcher der Partei in Personalunion mit Staat und Bürokratie die Rolle des „essential agent of modern totalitarianism“643 zukomme. Totalitarismus als Gesellschaftsform bedeutete für Lefort damals, dass alle gesellschaftlichen Aktivitäten und Sphären als miteinander zusammenhängend verstanden und die Existenz eines einzigen und konkurrenzlos gültigen Werte- und Normensystems, welches das Verhalten der Individuen physisch und psychisch zu steuern versuchte, behauptet wurden. Zu diesem Zweck und nicht aus rein ideologischen Gründen habe die Partei als zentraler Akteur die für moderne liberale Gesellschaften charakteristische Existenz und Autonomie verschiedener gesellschaftlicher Sphären, etwa der Ökonomie, der Justiz oder der Religion, vor allem aber auch der Politik leugnen müssen. Totalitarismus bezeichnete daher weniger einen Auswuchs politischer Macht innerhalb einer Gesellschaft oder einer ihrer Sphären, sondern vielmehr eine Veränderung der Gesellschaft selbst, in welcher das Politische ebenso aufhörte

642 Ders. S. 73. 643 Ders. S. 79.

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zu existieren, wie die gesellschaftlichen Teilbereiche ihre Autonomie einbüßten.644 Der Totalitarismus durfte damit nicht einfach als Neuauflage antiker Tyranneien und Despotien missverstanden und abgetan werden, sondern musste als ein fundamental neues gesellschaftliches Dispositiv verstanden werden, dessen Wesen und Ursprung Lefort fortan weiter phänomenologisch nachspürte. In der bürokratischen Herrschaftsform kam der Partei die Funktion zu, Träger oder Vermittler der kompletten Durchdringung der Zivilgesellschaft durch den Staat zu sein und beide Sphären symbolisch in eins fallen zu lassen. Somit habe die Partei auf der symbolischen Ebene als Garantin, Akteurin und Repräsentantin der Einheit der Gesellschaft und damit einhergehend der vermeintlichen Überwindung aller Klassenunterschiede und Interessensdifferenzen fungiert. Alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen individuellen wie kollektiven Unterschiede wurden geleugnet und durch allgemeinverbindliche Sinn- und Bedeutungszuschreibungen der mit dem legitimen Gewaltmonopol ausgestatteten und folglich zwangsbewehrten Partei ersetzt,645 so dass diese also keine Individuen, sondern nur mehr Proletarier auf dem Weg zum emanzipierten Menschengeschlecht kannte und anerkannte. Was die Partei damit auf einer symbolischen Ebene leistete, war für Lefort die Behauptung eines universellen und außersozialen Standpunktes, von dem aus sie die Repräsentation der Einheit der Gesellschaft für sich beanspruchte. Gleichzeitig präsentierte sie sich als Motor der Geschichte und der Abschaffung aller Klassengegensätze, womit sie sich zwangsläufig in Widersprüche verstrickte. Aus der symbolischen Behauptung einer Einheit von Staat, Politik und Gesellschaft mussten angesichts derer Nicht-Deckungsgleichheit mit der sozialen Realität immer und notwendig reale Widerstände gegen die Bemühungen der Partei folgen, die es im Interesse des Machterhalts unbedingt zu unterdrücken galt, womit die Partei genau da neue Konflikte und soziale Teilungen beförderte, wo sie selbst deren Überwindung als ihre originäre historische Leistung ausgab. Wo also vor Stalins Tod durch die Behauptung der Einheit von Gesellschaft, Ökonomie, Staat und politischer Führung jede Kritik an Stalin als Angriff auf diese Einheit delegitimiert und letztlich verunmöglicht worden sei, indem all dessen Handlungen mit Verweis auf angeblich objektive Notwendigkeiten unter prinzipi-

644 Ebd. 645 Ders. S. 80.

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ellen Unfehlbarkeitsverdacht gestellt waren, hat die Parteielite mit dem XX. Parteitag genau jene Politik versucht als fehlerhaft und die Partei fortan als wieder auf dem richtigen Kurs befindend darzustellen. Stalin war für Lefort aber nicht so einfach als verrückt oder kriminell oder als der wohlmeinende Führer abzutun, der lediglich ein bisschen das Maß verloren hatte. Ganz im Gegenteil habe er nur das verstetigt, was vor ihm bereits Lenin und Trotzki als notwendige und damals schon angeblich nur temporäre Maßnahmen zur Vollendung der Revolution vorgegeben hatten, nämlich ein Bild von sich zu zeichnen „as if they constituted in themselves the essence of socialism“646. Alle angekündigten Reformen hätten daher weder einen fundamentalen Wechsel eingeleitet, noch irgendeinen Einfluss auf die „Essenz des Totalitarismus“647 gehabt, sondern waren bestenfalls Anpassungen innerhalb des totalitären Systems oder „self-mystification“.648 Besonders aus der Beobachtung der Entstehung realer Widerstände gegen symbolische Einheitsbehauptungen zog Lefort damals einen theoretischen wie normativen Mehrwert, sah er doch genau in dem notwendigen Scheitern jeglicher symbolischer Vereinheitlichungsversuche von Staat, Partei, Bürokratie und Gesellschaft die Möglichkeit freiheitlichen, autonomen und emanzipatorischen Handelns angelegt. Wo der Mythos Stalin entglorifiziert, wo Stalin posthum als fehlbar und fehlgeleitet dargestellt wurde, musste sich die gesamte politische Führung der eigenen Vergangenheit, musste das Regime als Ganzes sich der Analyse und Kritik stellen und den Anspruch auf die Einsicht in historische Wahrheiten aufgeben: „The past, which was once presented as an ineluctable sequence of historical truths and had been lived as such, is now turned into an object of examination“649. Lefort entlarvte die kommunistische Herrschaftspraxis selbst als Ideologie, worunter er die Verschleierung der eigenen historisch kontingenten Ursprünge und Entwicklungen verstand. Er sah daher den Versuch der Wiedererrichtung des Wahrheitsmonopols durch die kommunistische Führung als zwangsläufig früher oder später zum Scheitern verurteilt an, da sich in einem totalitären System Partei und Führer nicht von deren Politik trennen ließen, und verknüpfte mit dieser Erkenntnis die Hoffnung auf die Möglichkeit fundamentalen gesellschaftlichen Wandels.

646 647 648 649

Ders. S. 64. Ders. S. 85f. Ders. S. 60f. Ders. S. 57.

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Wenn die Vergangenheit ein verhandelbarer und veränderbarer Gegenstand sei, warum dann nicht auch die Gegenwart und die Zukunft? Daher warb er zu dieser Zeit vehement für ein Bewusstsein dafür, dass die KPdSU den Herrschaftsunterworfenen entgegen des weit verbreiteten Tauwetteroptimismus auch nach dem Parteitag keine andere Möglichkeit ließ, als die eigenen Aktivitäten mit denen der politischen Führung in Einklang zu bringen. Sie alleine behauptete weiter, den Schlüssel zur Lösung aller gesellschaftlichen und politischen Probleme in der Hand zu halten, sie allein präsentierte sich als das einzig adäquate Mittel, die angeblich objektiven historischen und sozialen Herausforderungen in all ihrer Komplexität zu meistern, nun, nachdem die durch einen historischen Irrtum angefallenen Altlasten angeblich aus dem Weg geräumt waren. So blieb den Menschen in der Sowjetunion auch nach dem Parteitag weiterhin nur die Möglichkeit, entweder die Rolle des überzeugten Kommunisten oder die des Denunzianten anzunehmen, womit der kategorische Imperativ des totalitären Dispositivs seine Gültigkeit behielt: „Do as if the maxim governing your action could be erected into a universal law of the bureaucratic will or desire from the depths of your heart whatever the leadership orders you to do“650. Besonders dem Phänomen der Bürokratie widmete Lefort dabei in der Folge seine Aufmerksamkeit. Bis heute wird es ihm als originäre Leistung angerechnet, die Webersche Kategorie der Bürokratie in den marxistischen Diskurs eingeführt und so zugleich die sozialistischen, bolschewistischen, aber auch die westlich-kapitalistischen Bürokratien einer ausgeweiteten wissenschaftlichen Kritik zugänglich gemacht zu haben.651 III. 1. 5. Eine Kritik der bürokratischen Herrschaft In Abgrenzung zu klassischen Theorien der Bürokratie entwickelte Lefort seine Analyse der für moderne totalitäre Systeme charakteristischen bürokratischen Herrschaftsform weiter und versuchte deren „soziale Natur“ und „innere Dynamik“ zu ergründen. So stellte er „the fundamental questi-

650 Ders. S. 86. Dass die von Lefort hier gewählte Formulierung an eine Verbindung einer Kritik an der Kantischen Moralphilosophie mit einer Kritik an Rousseaus republikanischer Einforderung eines „Gleichklangs der Herzen“ erinnert, dürfte kein Zufall sein, was im Lauf der Arbeit deutlich werden soll. 651 Curtis, David Ames: Translators Foreword. S. XIV.

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on concerning the mode of being of this phenomenon“652 und befragte dafür vor allem die Arbeiten von Marx und Weber dazu. An Marx Konzeption der „Staatsbürokratie“, wie dieser sie in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und im 18. Brumaire des Louis Bonapartes ausarbeitete und von wo sie über Lenins Der Staat und die Revolution und die Vermittlung Trotzkis auch in den postrevolutionären russischen Diskurs hineinwirkte, hielt Lefort fest, dass die Bürokratie hier als eine Körperschaft innerhalb einer Gesellschaft verstand, der die Funktion der Aufrechterhaltung der hierarchischen sozialen Beziehungen und Hierarchien zukam. Ihre Existenz sei damit als Resultat des Klassengegensatzes zwischen Bourgeoisie und Proletariat und ihr Fortbestehen zugleich als Bedingung der dauerhaften Durchsetzung der Privilegien und Interessen der Bourgeoisie zu verstehen. Als deren Vehikel hat die Bürokratie einen universellen Standpunkt eingenommen, um von diesem aus den partikularen Interessen der herrschenden Klasse zu dienen und so die bestehenden Herrschafts- und Machtstrukturen zu stützen und zugleich zu verschleiern.653 Lefort anerkannte dabei Marx Leistung, Hegels Glauben an die behauptete Orientierung der Bürokratie an den Interessen der Allgemeinheit überwunden zu haben. Gleichzeitig kritisierte er aber die Beschränkung der Analyse auf die Unterordnung der Bürokratie unter die herrschende Klasse, also deren Behandlung als bloßen Appendix oder als Werkzeug. Die von Lenin bei Marx entnommene Beschreibung der Bürokratie als „Parasit der Klassengegensätze“654 verkenne die spezifische Eigenheit der modernen Bürokratie. Max Webers Analysen der Bürokratie als eine Form gesellschaftlicher Organisation unter Einschluss von Machtbeziehungen und Herrschaftsformen kam Leforts Anliegen in diesem Sinne näher. Weber habe die Existenz von Bürokratien nicht mehr nur auf die Sphäre des Staates beschränkt, sondern bürokratische Organisationsformen auch innerhalb eines weiten Begriffs von Gesellschaft, in Unternehmen oder Parteien und Verbänden identifiziert.655 Er sei jedoch wie Marx bei einem Verständnis der

652 Lefort, Claude: What is bureaucracy? In: Ders. The Political Forms of Modern Society. S. 89 - 121, hier S. 89. Französisch: Qu´est-ce que la bureaucratie? In: Ders. Éléments d´une critique de la bureaucratie. S. 288 - 314. 653 Ders.: What is bureaucracy? S. 90. 654 Ders. S. 93. 655 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 2002. S. 122ff. S. 124ff. S. 551ff. S. 815ff. S. 821ff. .

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Bürokratie als Gruppe innerhalb der Gesellschaft und damit als intermediärer Instanz zwischen den Klassen stehengeblieben. Dies lasse die modernen Bürokratien eigenen inneren Dynamiken völlig aus dem Blick geraten, stehe doch auch für Weber die Bürokratie frei von eigenen Interessen und Standpunkten in Diensten einer herrschenden Gruppe. Eine gegenüber den Werten und Interessen der herrschenden Gruppe oder Klasse völlig indifferente Bürokratie, welche sich jedem politischen System anpasse ohne jemals Einfluss auf dieses zu nehmen, und die all ihren Mitgliedern verbindliche, rational begründete und somit persönlicher Willkür vorbeugende Handlungsmuster vorgebe, könne nämlich zu der Analyse faktischer moderner Bürokratien wenig beitragen. Was Lefort zudem störte, war Webers Katalog formeller Kriterien zur Analyse bürokratischer Organisationsformen, da ein solcher reale bürokratische Formen mitunter nicht erkennen lasse und die historischen und sozialen Hintergründe spezifischer Ausformungen von Bürokratie ausblende. Lefort zielte daher auf ein vertieftes Verständnis der Bürokratie als neuer herrschender Klasse mit einer ihr eigenen inneren Dynamik ab. Auf der einen Seite produziere sie neue hierarchische Beziehungen, Abhängigkeiten, Differenzen und Teilungen, auf der anderen Seite schließe sie sich selber als einheitliche Gruppe von allen gesellschaftlichen (und von ihr produzierten) Spannungen, Konflikten und Gruppierungen ab und kümmere sich vornehmlich um die Sicherung der eigenen Privilegien. Weit entfernt davon, die Klassengegensätze überwunden zu haben, habe sich angesichts der neuen herrschenden Klasse damit für das Proletariat nichts geändert. Gegen Marx Verständnis der Bürokratie als Parasit wies Lefort auf die für die Entwicklung im post-revolutionären Russland entscheidenden Zusammenhänge zwischen politischer Macht und bürokratischer Organisation hin, wodurch die Bürokratie ein eigenes „milieu of power“ überhaupt erst hervorbrachte.656 So habe Stalin zum Beispiel lange vor Antritt seiner charismatischen Herrschaft Karriere innerhalb der Bürokratie gemacht und sich mit dieser und durch diese seine spätere Machtbasis geschaffen. Mit seinem politischen Aufstieg ließen sich der zeitgleiche Aufstieg einer Bürokratie auf der einen und die symbolische sowie mit Blick auf die Machtverhältnisse auch faktische Aufhebung der traditionellen Gegensätze zwischen Bourgeoisie und Proletariat auf der anderen Seite beobachten.657

656 Lefort, Claude: What is bureaucracy? S. 115. 657 Ders.: Totalitarianism without Stalin. S. 62.

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Die Rolle der Bürokratie als „Basis eines neuen historischen Projektes“ und „Zentrum einer neuen sozialen Struktur“658 war dabei eben die logische Konsequenz der vorangegangenen Bürokratisierung und Machtakkumulation der Bolschewiken. Stalinismus, totalitäre Partei und sowjetische Bürokratie lassen sich nur in ihrem wechselseitigen Zusammenhang verstehen. Die originäre Leistung der neuen Bürokratie habe darin bestanden, ökonomische und politische Macht in einem Netzwerk mit streng reglementiertem Zugang zu vereinen. Die aus der Parteibürokratie nach der Revolution hervorgegangene Staatsbürokratie sei daher als explizit „politische Bürokratie“ zu bezeichnen, welche den Massen den Zugang zur Sphäre des Wissens und zu politischer Mitentscheidung verwehrte, mithin als eine „scientific organization of inequality, which became the principle of a new form of class oppression“659. Dies war wiederum nur möglich durch die Unterstützung der Partei, welche mittels Ideologie, Terror und der gezielten Vergabe von Privilegien Mitglieder aller Klassen des vorrevolutionären Russlands in der neuen Klasse der Bürokratie zusammengeführt habe. Sie wurde zusammengehalten durch einen ihr eigenen Kodex oder Ethos, durch die Solidarität ihrer Mitglieder zueinander und das unabhängig von der jeweils ökonomischen oder sozialen Position der Bürokratinnen innerhalb der Gesellschaft (und damit außerhalb der Bürokratie). Die Bürokratie wurde so zum „ privileged terrain of totalitarianism, that is of a regime where all social activities are measured by a single criterion of validity established by the power of the state“660. Jede Form von Meinungsvielfalt bedrohte damit nicht nur die temporäre Herrschaft einer Minderheit oder Elite, sondern die Existenz der neuen herrschenden Klasse selbst zu gefährden. Darüber hinaus identifizierte Lefort aber nicht nur einen Konflikt zwischen der Bürokratie als neuer herrschender Klasse auf der einen und einer der bürokratischen Herrschaft unterworfenen Gesellschaft auf der anderen Seite. Faktisch war die Klasse der Bürokratie nämlich in sich selbst sehr wohl in eine Vielzahl miteinander konkurrierender Bürokratien geteilt.661 Webers Analyse der Bürokratie fügte Lefort hinzu, dass jede Bürokratie nach absoluter Ausdehnung und Durchdringung ihres jeweiligen historischen Kontextes strebe. Dabei ruhe die angebliche Einheit der Klasse der

658 659 660 661

Ders.: What is bureaucracy? S. 91. Ders. S. 115. Ders. S. 117. Vgl. Neumann, Franz. Behemoth. A.a.O.

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Bürokratie keinesfalls auf einer quasi-natürlichen Harmonie auf. Genau deswegen bedürften die konkurrierenden Bürokratien im totalitären Dispositiv aber stets des Prinzips ihrer permanent aktiv zur Schau gestellten Einheit mittels der symbolischen Verschmelzung von Staat und Gesellschaft, um wirksam unter Kontrolle gebracht zu werden. Dies habe wiederum die Partei als zentraler Akteur und gleichzeitig größte bürokratische Organisation geleistet.662 Die Bürokratie war also bei aller nach außen demonstrierten Einheit ständig der Gefahr der inneren Zersplitterung und Auflösung ausgesetzt, sie bemühte sich aber gleichzeitig permanent um eine Verschleierung dieser Konflikte. Daraus gewann Lefort die Erkenntnis, dass die Bürokratie nur so lange eine Klasse sein kann, wie sie die herrschende Klasse ist und als herrschende Klasse hänge ihre Existenz wiederum wesentlich vom Erfolg ihrer (prinzipiell unmöglichen) symbolischen Einheitsbehauptung ab, wodurch sie permanent der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt ist.663 Bei aller gefühlten Ohnmacht gegenüber der vermeintlichen Allmacht etablierter Bürokratien ist deren Existenz also keinesfalls objektiven, unveränderlichen und unausweichlichen Bedingungen geschuldet. Wer dies glaube, gehe der Strategie der Bürokratie auf den Leim, sich als Endzustand eines technischen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses zu präsentieren, um die eigene Existenz als notwendig und unerlässlich zu legitimieren und dadurch auf Dauer zu stellen. Jede Form der Bürokratie müsse daher als „social formation“ vor dem Hintergrund ihrer jeweils spezifischen politischen, kulturellen und historischen Entstehungsbedingungen analysiert werden, da nur so die Möglichkeit besteht, ihre gewaltvolle Seite wahrnehmen, kritisieren und bekämpfen zu können.664 III. 1. 6. Dem Marxismus den Rücken Durch seine Analyse des XX. Parteitages gelangte Lefort zu der Erkenntnis, dass die Kommunistische Partei der Sowjetunion unter dem Vorwand der Errichtung der Diktatur des Proletariats darauf abzielte, Macht, Wissen und Produktionsmittel in ihren Händen zu vereinigen, um damit ihre Herr-

662 Lefort, Claude: What is bureaucracy? S. 117. 663 Ders. S. 118. 664 In ganz ähnlicher Absicht Graeber, David: Bürokratie. Die Utopie der Regeln. Stuttgart 2016.

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schaft auf Dauer zu stellen. Die Behauptung des Wissens über den Geschichtsverlauf als notwendige Abfolge von Klassenkämpfen, die letztlich unausweichliche Revolution und die auf sie folgende klassenlose Gesellschaft, der aus diesem behaupteten exklusiven Wissen abgeleitete Führungsanspruch der Partei und dessen bürokratische Organisation und gewaltvolle Durchsetzung identifizierte Lefort als die wesentlichen Charakteristika eines totalitären Staates, dessen Herrscherelite niemals etwas an wahren Reformen gelegen war. Seine Kritik an vermeintlich „real existierenden“ Varianten des Marxismus sollte zwar, darauf legte Lefort immer wert, nicht als prinzipielle Ablehnung der Gedanken und Schriften Marx selbst verstanden werden.665 Bei aller Priorisierung konkreter Erfahrungen als Ausgangsbedingung der Gewinnung von Erkenntnis und Wissen, wäre Lefort sicher nie darin mitgegangen, die Ideen des Kommunismus und Marxismus aufgrund ihrer vermeintlichen Konkretisierungen in der Sowjetunion zu diskreditieren und zu verdammen. Dennoch fand er im Marxismus schließlich nicht mehr die Antworten auf die Frage, die sich ihm immer drängender stellten: Nach einer Freiheit fördernden Alternative zum totalitären Projekt einer konfliktfreien, homogenen und sich selbst transparenten Gesellschaft.666 Lefort sah sich dabei innerhalb der französischen Linken mit seinem Anspruch, auf die Gefahren bürokratischer Organisation und Führung hinzuweisen, alleine auf weiter Flur stehen. Gleiches galt für seine Forderung nach einer authentischen revolutionären Führung. Besonders stark beschäftigten ihn dabei der mit der bürokratischen Herrschaft einhergehende Terror und die Gewalt, welche er weder als missliebiges und zu erduldendes Nebenprodukt geschichtlicher Fortund Höherentwicklung schönreden, noch als persönliche Unzulänglichkeiten innerhalb der Parteiführung durchgehen lassen wollte. Er weigerte sich strikt, wie viele seiner Zeit- und Gesinnungsgenossen den Terror als widrigen historischen, ökonomischen und sozialen Umständen geschuldet zu entschuldigen, schließlich hatte er dessen konstitutive Bedeutung für den Ausbau der totalitären Herrschaft durch Partei und bürokratische Klasse erkannt und durchschaut, dass diese zwangsläufig und dauerhaft auf Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Herrschaftsansprüche und zum Zwecke der Disziplinierung wird zurückgreifen müssen.667

665 Vgl. Lefort, Claude: Vorwort zu Eléments d´une critique de la bureaucratie. S. 33f. 666 Ders. S. 36. 667 Vgl. Ders.: Kravchenko et le problème de l´URSS. A.a.O.

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Zwei Jahre nach dem von einem Großteil der französischen Linken als Konterrevolution gebrandmarkten Ungarischen Volksaufstand, eine Haltung die Lefort zutiefst empörte,668 beendete er 1958 schließlich seine Mitarbeit in Socialisme ou Barbarie, nicht zuletzt weil er die maßgeblich von Castoriadis bestimmte Ausrichtung nicht mehr mittragen wollte.669 Vor allem die durch seine „bürokratischen“ Studien erlangte Einsicht, dass selbst die emanzipatorischste Bewegung, egal wie wenig sie dies auch intendiere, irgendwann eine Art bürokratischer Herrschaft über diejenigen ausübe, die zu befreien sie eigentlich angetreten ist, führte zum Bruch. Zudem hätten seine Mitstreiter den Kontakt zur Realität verloren,670 wenn diese etwa das Sowjetsystem als Staatskapitalismus verklärten.671 Er war nicht länger bereit, „die Geschichte in die Grenzen einer Klasse zu pressen und diese zum Agenten einer Vollendung der Gesellschaft zu machen“, das Warten auf eine „wahre Revolution“ schien ihm ebenso vergeblich, wie gefährlich, der Glaube an eine „gute Gesellschaft entweder naiv oder heuchlerisch, in jedem Falle aber furchterregend“.672 Die Überlegungen, aus der Gruppe eine revolutionäre Führung hervorgehen zu lassen und ein Programm hin zu einer sozialistischen Gesellschaft aufzulegen, liefen Leforts ursprünglicher Gründungsintention einer freien Kommunikationsplattform zuwider und standen in zu starkem Widerspruch zu der von ihm stets favorisierten Autonomie der Arbeiterbewegung, welcher nicht „von oben“ diktiert werden dürfe, was sie „von unten“ auszuführen habe.673 Für ihn galt es fortan mehr denn je, im Rahmen emanzipatorischer Bestrebungen jeden Anflug von parteilicher und bürokratischer Organisation zu vermeiden, da eine solche die Bedingungen der Möglichkeit von Autonomie und Spontaneität notwendig bereits im Keim ersticken musste. Später gab er zu, wohl auch am eigenen Anspruch gescheitert zu sein, den intellektuellen Graben zwischen Arbeitern und Proletariern auf der einen und Philosophen und Schriftstellern auf der anderen Seite zu überwinden.674 Die

668 Lefort, Claude: The Age of Novelty. In: Telos 29, Herbst 1976. S. 23 - 38. 669 Zum Austritt aus der Gruppe siehe Lefort, Claude: Le prolétariat et sa direction. In: Ders. Eléments d´une critique de la Bureaucratie. S. 30 - 38. Ders.: Organisation et partie. In: Ders. Eléments d´une critique de la Bureaucratie. S. 109 - 122. 670 Lefort, Claude: An Interview with Claude Lefort. S. 177f. 671 Rosanvallon, Pierre: The test of the Political. S. 12. 672 Lefort, Claude: Vorwort zu Eléments d´une critique de la bureaucratie. S. 32 und S. 36. 673 Ders. S. 37f. 674 Lefort, Claude: An Interview with Claude Lefort. S. 178f.

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letzte Ausgabe der Zeitschrift erschien 1965, ein Jahr später löste sich die Gruppe auf, jedoch nicht ohne nachweisbaren Einfluss auf die französische Studentenbewegung von 1968 geblieben zu sein.675 Im Anschluss an Socialisme ou Barbarie gründete Lefort die Gruppe Information et Liaison Ouvrière (ILO), in der er zwei Jahre lang Mitglied war. In dieser Zeit fand sein Wechsel vom eher universitär-akademischen zu einem stärker politisch-intellektuellen Engagement statt,676 wenngleich Lefort entsprechend seiner phänomenologischen Grundüberzeugung bei einer Unterscheidung zwischen einer akademischen und einer öffentlichen, politischen und beruflichen Laufbahn sicher nicht mitgegangen wäre. Ob als Hochschullehrer, als Redakteur von Socialisme ou Barbarie oder als Teilnehmer an öffentlichen Debatten – stets fühlte er sich der phänomenologischen Grundüberzeugung verpflichtet, alles Denken aus der eigenen Erfahrung abzuleiten und nicht umgekehrt. Wogegen Lefort anging, war die unterkomplexe Einmischung politischer Philosophinnen in die Grabenkämpfe des Kalten Krieges, etwa wenn aus seiner Sicht falsche Frontlinien gezogen und behauptet wurde, die „westlichen Werte“ seien um jeden Preis gegen die totalitäre Gefahr zu verteidigen. Dies weitete er im Laufe der Jahre seines Schaffens auf die Analysen der Demokratie aus, etwa wenn er die Quelle und Bedingung der Möglichkeit von politischem Widerstand und gesellschaftlicher Veränderung in der repräsentativen Demokratie verortete und gegen Ansätze vorging, welche diese entweder im Individuum selbst oder in einem übergeordneten, transzendentalen Ideenhimmel vermuteten.677 Der Vorwurf, ein Liberaler zu sein, welcher ihm seitens der Linken nicht zuletzt auch wegen seiner nach und nach einsetzenden Beschäftigung mit liberalen Autoren gemacht wurde, greift daher aufgrund seiner phänomenologischen Grundüberzeugung nicht, konnte für Lefort doch erst der Erfahrung gesellschaftlicher Realität die Eigen- oder Fremdzuschreibung zu einem (partei-)politischen Standpunkt erfolgen. Eine solche Zuordnung, aus welchen Gründen auch immer sie geschah, traf mithin weder Leforts Selbstverständnis als Intellektueller, noch als politischer Aktivist, Bürger und Mensch. So hat er andererseits ja stets dafür plädiert, die materiellen Realitäten nicht aus dem Blick zu verlieren und davor gewarnt, die kritische Beschäftigung mit den Niederungen der alltäglichen, erfahrbaren Po-

675 Rödel, Ulrich: Einleitung. S. 27, FN 20. 676 Poltier, Hugues: La Pensée du Politique de Claude Lefort. S. 36. 677 Dazu siehe auch Celikates, Robin: Ziviler Ungehorsam und radikale Demokratie. A.a.O.

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litik einer ausschließlichen philosophischen Beachtung des Politischen zu opfern. Von dieser Grundhaltung zeugte bereits sein Verhalten in der Affäre um Viktor Krawtschenko Der sowjetische Ingenieur und Dissident veröffentlichte 1966 das Buch I choose Freedom, in welchem er die Brutalität und den Terror der Sowjetregierung gegen die eigene Bevölkerung aufdeckte und anprangerte, was ihm seitens der europäischen kommunistischen Parteien heftige Anfeindungen und den Vorwurf der Spionage einbrachte, gegen den er auch gerichtlich vorging. Im Prozess Kravchenko gegen Les Lettres Françaises spielte die kommunistische europäische Linke eine unrühmliche Rolle. Manche gingen sogar soweit zu unterstellen, er habe das Buch nie geschrieben, sondern lediglich als Strohmann der CIA fungiert. Lefort war einer der wenigen westlichen linken Intellektuellen, die Krawtschenko bedingungslos unterstützten, ohne dabei wie gesagt unreflektiert Partei für eine Seite zu ergreifen.678 Ihre mittlerweile unterschiedlichen theoretischen Standpunkte hinderten jedenfalls Lefort und Castoriadis zunächst nicht daran, 1968 noch die gemeinsam mit Edgar Morin verfasste Essaysammlung Die Bresche zu den Geschehnissen des Mai 1968 zu veröffentlichen.679 In den 1970er Jahren jedoch trennten sich ihre gemeinsamen Wege und Lefort intensivierte die Zusammenarbeit mit Marcel Gauchet, mit dem er Beiträge für Textures, die Lefort von 1971 bis 1975 mit herausgab, und Libre, deren Mitherausgeber er von 1977 bis 1980 war, verfasste.680 Dank der persönlichen Protektion Merleau-Pontys arbeitete Lefort sogar eine Zeit lang mit Les Temps Modernes zusammen. Den Ausstieg aus Socialisme ou Barbarie, der für ihn zeitgleich mit seinem Bruch mit dem Marxismus zusammenfiel, empfand er jedenfalls als eine „Befreiung von Denkkorsetts“ und einem mitunter auch selbst auferlegten Konformitätsdruck.681 Was er in der Folge mit der „Wiederbelebung der politischen Philosophie“ und einer

678 Lefort, Claude: Kravchenko et le problème de l´URSS. 679 Morin, Edgar/ Lefort, Claude/ Castoriadis, Cornelius: La Brèche, suivi de vingt ans après. Brüssel 1988. Deutsch: Die Bresche. Essays zum Mai 68. Aus dem Französischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Hans Scheulen. Wien 2008. 680 Zur Systematisierung der politiktheoretischen Ansätze Castoriadis siehe Sörensen, Paul: Entfremdung als Schlüsselbegriff einer kritischen Theorie der Politk. Eine Systematisierung im Ausgang von Karl Marx, Hannah Arendt und Cornelius Castoriadis. Baden-Baden 2016. 681 Lefort, Claude: Vorwort zu Eléments d´une critique de la bureaucratie. S. 32f.

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„Befreiung des Denkens“ zu seinem Programm erhob,682 nämlich „mit den herrschenden Illusionen zu brechen“683, speiste sich also, wie so viele Bausteine seiner Theorie, stark aus den persönlichen Erfahrungen dieser Jahre. Diese Befreiung kam für ihn daher schließlich einem Startschuss gleich, seine Analysen der Bürokratie und des Totalitarismus auszuarbeiten und in Konsequenz daraus die Ideen der Freiheit und gesellschaftlichen Kreativität im Rahmen einer Zuwendung zum Phänomen der modernen Demokratie neu zu durchdenken. So wandte er sich schließlich doch vom Marxismus ab und der Beschäftigung mit der modernen Demokratie zu, welche er nicht länger klassisch marxistisch als lediglich temporäre Phase eines geschichtlichen Stufenprozesses verstanden wissen wollte. Die marxistische Geschichtsphilosophie war ihm zur „Mystifikation“ des offenen Charakters einer jeden modernen Gesellschaft und der Abwesenheit letzter Grundlagen geworden. Die Überwindung dieser Mystifikation stellte er fortan in den Mittelpunkt seiner theoretischen Arbeiten. Der Anspruch, „den Mythos der proletarischen Revolution mit den Wurzeln auszurotten“684, kann als Anspruch der Vermittlung eines Schaffung von Kontingenzbewusstsein übersetzt werden. Dies war für Lefort kein kleiner Schritt, hielt er doch trotz aller Kritik das Proletariat lange Zeit für den privilegierten Agenten der Geschichte,685 da er genau wie Merleau-Ponty lange davon überzeugt war, dass nur die proletarische Existenz eine Erfahrbarkeit der Universalität bot, dass nur die Proletarierin sich wirklich und selbst und in ihrer Existenz, in ihrer erfahrenen und gelebten Wirklichkeit von ihren gesellschaftlichen Bedingungen befreien kann, was Philosophinnen nur antizipieren und zum Beispiel Mitglieder der Bourgeoisie nur abstrahieren könnten.686 Doch führte ihn die Beobachtung und Analyse des totalitären Regimes der Sowjetunion schließlich zu der Überzeugung, dass der Totalitarismus als symbolische Mutationen der modernen Demokratie verstanden und von daher diese zuerst in ihrer Bedeutung durchdrungen und neu erfasst werden muss.687 Der Traum des Kommunismus von Konfliktfreiheit, Homogenität und Selbsttransparenz, zu dieser

682 683 684 685

Ders.: Die Frage der Demokratie. S. 281. Ders.: Vorwort zu Eléments d´une critique de la bureaucratie. S. 36. Lefort, Claude: Vorwort zu Eléments d´une critique de la bureaucratie. S. 32. Lefort, Claude: The Image of the body and Totalitarianism. In: Ders. The Political Forms of modern Society. S. 292 - 306, hier S. 293. 686 Merleau-Ponty, Maurice: Humanism and Terror. S. 115f. 687 Lefort, Claude: Philosopher? S. 245.

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Einsicht gelangte Lefort am Ende dieser Phase, kann nicht vom Alptraum des Totalitarismus gelöst werden.688 III. 2. Von den Ursprüngen, Chancen und Gefahren der Demokratie: Die radikaldemokratische Phase III. 2. 1. Aus den „Wäldern des Daseins“ - die Rückkehr der Politischen Philosophie Die von Lefort als Befreiung von Denkkorsetts beschriebene Abkehr vom Marxismus veranlasste ihn, zunächst seinen Standpunkt als Wissenschaftler für sich erneut zu klären. Es habe für ihn immer schon einen schalen Beigeschmack gehabt, als Sozialwissenschaftler bezeichnen zu werden,689 spätestens mit Beginn seiner hier als radikaldemokratisch bezeichneten Phase lehnte er diese Zuschreibung nun strikt ab. Dies begründete er mit dem neuen Zugang, den er zu den Phänomenen des Totalitarismus und der Demokratie nehmen wollte. Die Sozialwissenschaften würden die moderne Demokratie von einem objektivistischen Standpunkt aus nach institutionellen Aspekten kategorisieren, um so deren Vergleichbarkeit mit „dem“ Totalitarismus zu ermöglichen. Es reiche aber nicht aus, ein vorgefertigtes analytisches Vergleichsinstrumentarium an eigentlich schon a priori als totalitär verstandene Herrschaftssysteme anzulegen, um so zu zeigen, dass der Totalitarismus in seiner faschistischen wie kommunistischen Variante die liberal-demokratischen Regierungssysteme quasi von außerhalb kommend zerstört habe. Für Lefort saß der Feind nämlich sozusagen „im Inneren“, weswegen man sich mit dem Wesen des Totalitarismus auseinanderzusetzen habe, wie er selber es bereits mit seinen Studien zum Wesen der Bürokratie getan hat. Dies zu unterlassen, bedeute „s ´arrêter aux traits de la dictature, c´est rester au ras de la description empirique“690. Die inneren Wesensmerkmale der Demokratie und des Totalitarismus herauszuarbeiten, war also der erste Anspruch der weiteren Arbeiten Leforts, um so die Bedingung zu schaffen, Demokratie und Totalitarismus in ihren Zusammenhängen wirklich zu verstehen. Doch wie kam Le-

688 Ders.: Vorwort zu Eléments d´une critique de la bureaucratie. S. 38. 689 Ders.: Philosopher? S. 236. 690 Ders.: L´invention démocratique. S. 98.

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fort überhaupt zu dieser grundstürzenden Hypothese einer Wesensverwandtschaft von Demokratie und Totalitarismus? Zunächst waren seine Erfahrung mit der Herrschaftspraxis der KPdSU sowie seine fundamentale Kritik an den zentralen theoretischen Prämissen des orthodoxen Marxismus die Bedingung dafür, sich den vermeintlichen Überbauphänomenen der modernen Demokratie und der Menschenrechte zuzuwenden. Die vormals von ihm geteilte Kritik am Kapitalismus habe bis dahin für ihn immer die logische Konsequenz gehabt, mit diesem auch der „modernen Demokratie den Prozess zu machen“691. Dies änderte sich mit der Abkehr vom Marxismus und Leforts „democratic turn“, der sich ungefähr auf die Zeit seiner Machiavelli-Lektüren im Rahmen seiner von Raymond Aron betreuten Dissertation datieren lässt.692 „Was mich ehemals am engsten an Marx gebunden hatte, schien mir nun am verdächtigsten“693. Was Lefort von Marx übernahm und als dessen große Leistung würdigte, war die Erkenntnis und Akzeptanz der radikalen Historizität aller gesellschaftlichen Phänomene, jede Behauptung allein der Möglichkeit einer endgültigen Auflösung aller gesellschaftlichen Konflikte lehnte er jedoch strikt ab. Dabei sah er sich nun mit dem Problem konfrontiert, einerseits den Totalitarismus für seine symbolische Leugnung der faktischen Teilungen der Gesellschaft zu kritisieren, auf der anderen Seite aber auch nicht einfach die faktischen Teilungen innerhalb existierenden liberalen Demokratien legitimieren zu wollen.694 Seine Kritik am Totalitarismus sollte keine bloße Affirmation der real existierenden liberalen Demokratien sein, so dass ihm eine Parteinahme in den ideologischen Grabenkämpfen der Ära des Kalten Krieges hätte vorgehalten werden können. So griff er zugleich die kommunistischen Dogmen an, ohne das „Spiel der Bourgeoisie“695 mitzuspielen und entzog sich somit in gewisser Weise dem Stellungskrieg zwischen Links und Rechts, einen Weg jenseits der Alternativen Ost oder West, Totalitarismus oder Demokratie, Sozialismus oder Barbarei. Dabei hielt Lefort immer explizit an der marxistischen Kritik der bürgerlichen Ideologie fest. Marx habe Recht gehabt, wenn er die liberale

691 692 693 694 695

Ders.: Vorwort zu Eléments d´une critique de la bureaucratie. S. 33. Farhang, Erfani: Fixing Marx with Machiavelli. A.a.O. Lefort, Claude: Vorwort zu Eléments d´une critique de la bureaucratie. S. 33. Ders.: Philosopher? S. 245. Habib, Claude/ Mouchard, Claude/ Pachet, Pierre: Présentation. In : Habib, Claude/ Mouchard, Claude (Hrsg.). La démocratie à l´œuvre. Paris 1993. S. 5 - 16, hier S. 5 und S. 12.

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rationalistische Konzeption als mythisch bezeichnete, da der liberale Diskurs in der Tat „die Verdunkelung des Faktischen durch das Recht“ betreibe.696 Daraus dürfe jedoch keinesfalls die Überwindung des Liberalismus und seiner Institutionen als Forderung abgeleitet werden, ist das Wesen der Demokratie als ein Werkzeug der Bourgeoisie zur Verschleierung der Herrschaftsverhältnisse doch nicht hinreichend beschrieben. Damit wandte sich Lefort explizit gegen ein Verständnis des Politischen als lediglich abgeleitetes Phänomen, wonach die Demokratie „ausschließlich im Lichte der (…) geheimen Architektur des kapitalistischen Systems“ zu verstehen sei.697 Marx habe zudem übersehen, dass zwischen dem gleichzeitigen Aufstieg des Bürgertums und der Demokratie zwar ein temporärer, keinesfalls jedoch ein notwendiger Zusammenhang bestehe,698 womit Lefort auf die Kontingenz aller historischen Ereignisse und politischen Ordnungen abhob. Und wenn der Totalitarismus schließlich wirklich die Kampfansage an die Demokratie sein soll, dann müsse erst deren Wesen begriffen werden, bevor man den Totalitarismus als deren schlimmste Negation oder Pathologie bekämpfen könne.699 Um dies zu leisten, wollte Lefort daher an die Ursprünge der modernen Demokratie vor- (oder zurück-), nicht jedoch um einen eindeutig feststellbaren Urgrund zu identifizieren, sondern von dort deren wesenshafte Charakteristika im Unterschied zu ihren Vorgängerregimen, etwa der mittelalterlichen Ständegesellschaft und dem Ancien Régime freizulegen. So entwickelte er schließlich im Rahmen der Arbeiten am Centre de Recherches Philosophiques sur le Politique sein Denken des Politischen, welches ihm die Neubefragung der Ursprünge, Chancen und Risiken der modernen Demokratie und derer Gefährdungen ermöglichen sollte. Leforts Anliegen der „Wiederherstellung der politischen Philosophie“700 war dann sowohl die Konsequenz seiner Kritik am Marxismus und den Sozialwissenschaften, wie zugleich auch eine Kampfansa-

696 Lefort, Claude/ Gauchet, Marcel: Über die Demokratie. S. 89. 697 Dies. S. 90. 698 Eine Einsicht, die auch Schmitts Parlamentarismuskritik und MacPhersons Diskussion des Besitzindividualismus anleitet, welche wiederum beide zentral von Mouffe rezipiert wurden. 699 Vgl.: Molina, Esteban: Le défi du politique. Totalitarisme et démocratie chez Claude Lefort. Paris 2005. 700 Lefort, Claude: La question de la démocratie. In: Rogozinski, Jacob et al. (Hrsg.). Le retrait du politique. Travaux du centre de recherches philosophiques sur le politique. Paris 1983. S. 71 - 88, hier S. 71.

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ge an die Dominanz liberaler Gesellschaftstheorien.701 Wenn die Humanwissenschaften, welche den place publique „mit ihrer kompetitiven, quantifizierenden und interdisziplinären Geschwätzigkeit“ besetzt hielten, die politische Philosophie aus dem Zentrum des öffentlichen Lebens in die „schönen Viertel des Formalismus“ (les beaux quartier des formalisme) und noch weiter bis hinaus in die „Wälder des Daseins“ (les forêts de l´Etre) vertrieben haben, so galt es nun, sie von dort zurück auf ihren angestammten Platz in das Zentrum des öffentlichen Lebens (centre de la cité) zurückzuführen.702 Angesichts des phénomène totalitaire kann sich die politische Philosophie dann aber nicht mehr sinnvollerweise die Frage stellen, welche Theorie die meistversprechende mit Blick auf eine Lösung des Problems der Unmenschlichkeit in der Welt sei. Wer eine solche in Aussicht stelle, bediene viel mehr die Sehnsucht nach sozialer Transparenz und befördere damit die Utopie einer homogenen Gesellschaft. Der „bürokratische Traum“ eines Transparenz und Homogenität vermittelnden perfekten „God´s eye view“703 ist ausgeträumt, eine politische Philosophie müsse sich von allen metaphysischen Altlasten befreien, welche stets versuchten, die Essenz des Politischen definitorisch festzulegen und das gesellschaftliche Leben gemäß dieser Festlegung auszurichten.704 Leforts „Bruch mit dem Standpunkt der Wissenschaft im Allgemeinen“705, womit er explizit vor allem die Politikwissenschaft und die Soziologie in ihrer dominanten positivistischen Ausrichtung meinte, bedeutete für ihn daher keine Hinwendung zu universellen und normativen Gerechtigkeitstheorien. Politische Philosophie “goes beyond the bounds of every doctrine or theory (…). It submits to the exigency that one takes on the questions that are at the heart of every human establishment and the exigency to face up to what arises”706.

701 Lefort, Claude: L´invention démocratique. S. 88ff. Ders.: Libéralisme et démocratie. In: Ders. Le temps présent. S. 745 - 760. John Rawls nahm für seines „Theorie der Gerechtigkeit“ gleiches für sich in Anspruch. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. A.a.O. 702 Manent, Pierre: Vers l´œuvre et vers le monde. Le Machiavel de Claude Lefort. In: Habib, Claude/ Mouchard, Claude (Hrsg.). La démocratie à l´œuvre. S. 169 190, hier S. 171. 703 Howard, Dick: Introduction to Lefort. In: Telos 22, Winter 1974/ 75. S. 2 - 30, hier S. 4. 704 Lacoue-Labarthe, Phillipe/ Nancy, Jean-Luc: Ouverture. S. 16f. 705 Lefort, Claude: Die Frage der Demokratie. S. 283. 706 Ders: Author´s Preface. S. XLII.

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Die Revolution zum Beispiel war für Lefort fortan kein Ereignis mehr, welches sich planmäßig vorbereiten, durchführen und als notwendiges Ergebnis der ökonomischen Produktionsverhältnisse erklären lässt. Überhaupt blieb er bis zum Ende seines Lebens skeptisch gegenüber dem Begriff der Revolution und vor allem der damit einhergehenden Selbststilisierung und Heroisierung von selbst ernannten Revolutionären. So begrüßte er zwar stets jede spontane Selbstorganisation gesellschaftlicher Akteure, interessierte sich dabei aber immer mehr für das „demokratische Phänomen“ in seiner Gesamtheit, so dass er manchen eher als ein Theoretiker postrevolutionärer Verhältnisse oder demokratischer Transformationen gilt.707 Für ihn war der Begriff der Revolution jedenfalls für jene seltenen Ereignisse reserviert, die sozialen Phänomenen einen (neuen) Sinn verliehen, welche also ein neues gesellschaftliches Dispositiv errichteten und damit zur „truth of politics as question“ wurden.708 Wonach Lefort bei der Erkundung des Wesens der Demokratie daher fragte, war das Politische (le politique) als die Gründungsdimenison von Gesellschaften damit zusammenhängend dem „Wesen des Gemeinwesens“709. Die Politik (la politique) war demgegenüber die Dimension, in welcher er die Fragen zu Institutionen, Parteien, Gesetzen oder allgemein der Ausübung und Übertragung von Herrschaft verortete.710 Sie war im Gegensatz zum Politischen damit als ein gesellschaftliches Teilsystem neben anderen anzusehen und als solches der vielleicht angemessene und legitime Untersuchungsgegenstand der Sozialwissenschaften, wobei Lefort diese Zuordnung und Kategorisierung entsprechend seiner phänomenologischen Grundhaltung sicher nur aus heuristischen Gründen vornahm, schließlich interessierte ihn eh die Seite des Politischen mehr als die der Politik. Die „Inventarisierung des sozialen Raums“ durch die Sozialwissenschaften sei schließlich der Grund dafür, dass das Politische als das Prinzip der Institution des Sozialen aus dem Blick gerate. Nur an jenem Ort aber, wo „Gemeinschaft als solche ins Spiel gebracht wird“711 lassen sich das Wesen eines gesellschaftlichen Dispositivs freilegen und von dort aus die jeweiligen Gesell-

707 Arato, Andrew: Lefort, the Philosopher of 1989. In: Constellations 19, 1, 2012. S. 23 - 29. 708 Howard, Dick: The Marxian Legacy. Minneapolis 1988. S. 185. 709 Lefort, Claude: Die Frage der Demokratie. S. 284. 710 Ders.: Fortdauer des Theologisch-Politischen? S. 35f. 711 Nancy, Jean-Luc: Preface. In: Ders. The Inoperative Community. Minneapolis/ Oxford 1991. S. XXXVI - XLI, hier S. XXXVI.

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schaftsformen als die konkreten, realen und erfahrbaren Unterschiede zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Dispositiven verstehen. Leforts politische Philosophie oder Theorie folgt dabei nun keinem Muster kausaler, sondern eher zirkulärer Begründungszusammenhänge, was eine überblickshafte oder chronologische Darstellung schwierig macht. Wiederholungen und Überschneidungen lassen sich kaum vermeiden, anerkennt Lefort doch Ursache-Wirkung-Beziehungen bestenfalls als behelfsmäßig.712 Erschwerend hinzukommt, dass sein Denk- und Schreibstil mitunter sehr komplex war. Alain Caillé etwa, selbst langjähriger Mitarbeiter Leforts, sah dessen Werk von der Bedeutung her auf einer Ebene mit dem von Rawls und Habermas angesiedelt, wenngleich die Rezeption seiner Schriften bei weitem nicht mit der Menge an Sekundärliteratur über letztere mithalten könne. Dies sei eben sowohl der Komplexität des Werkes, als auch der Tatsache geschuldet, dass Lefort ganz bewusst den Sozialwissenschaften den Rücken gekehrt und somit einen Großteil seines eigentlich „natürlichen“ Publikums verprellt habe. Aufgrund seiner Hinwendung zur Politischen Philosophie und unter dem Einfluss Merleau-Pontys entwickelte Lefort ein Denken des Unbestimmbaren, weswegen sich sein Werk als Geduld einfordernde, unendliche Kritik an Festlegungen erweist. Caillé selbst hatte nie das Gefühl, Lefort vollumfänglich verstanden zu haben, nicht mal im Traum habe er daher daran gedacht zu versuchen, Studierenden ansatzweise Leforts Denken zu erklären.713 Um jedoch die Strukturanalogien der Politischen Theorie Leforts und Rousseaus herausarbeiten zu können, soll im Folgenden der Versuch einer Systematisierung von Leforts zentralen demokratietheoretischen Überlegungen vorzunehmen und die für den Aufweis der Strukturanalogien nötigen Kategorien herausgearbeitet werden, nicht zuletzt auch um einer zu starken Komplexitätsreduktionen und einer „Sloganisierung“714 seines Denkens vorzubeugen.

712 Marchart, Oliver. Die Politische Theorie des zivilgesellschaftlichen Republikanismus. S. 221 - 251. 713 Caillé, Alain: Claude Lefort, les sciences sociales et la philosophie politique. In: Habib, Claude/ Mouchard, Claude (Hrsg.). La démocratie à l´œuvre. S. 51 - 78, hier S. 51ff. 714 Vgl. Marchart, Oliver: Die politische Differenz. S. 118.

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III. 2. 2. Am Grund des Sozialen Der Moment der Gründung einer Gesellschaft fällt für Lefort logisch zusammen mit der Quasi-Repräsentation ihrer Selbst.715 Mit Quasi-Repräsentation ist zunächst gemeint, dass die Repräsentation der Gesellschaft nur als eine symbolische Einheitsbehauptung funktionieren kann, insofern eine wirkliche Repräsentation der Gesellschaft eine Unmöglichkeit darstellt. Ihm ging es jedoch nicht einfach darum, diese einfach als eine Lüge zu entlarven, sondern deren konstitutive Funktion für jede politische Gemeinschaft und ganz besonders für die Demokratie hervorzuheben. Eng damit verbunden war für ihn die besondere Funktion der Macht in modernen demokratischen Gesellschaften. Dieser kommt als symbolischer Instanz für die Selbstgründung der Gesellschaft durch deren Quasi-Repräsentation ihrer selbst eine wesentliche Rolle zu. Mit Macht bezeichnet Lefort dabei den „Ort“, von dem aus sich eine Gesellschaft selbst betrachten und somit überhaupt erst als eine Einheit verstehen und adressieren kann.716 Dieser Ort behauptet sich und zugleich die Quelle seiner Legitimation außerhalb oder oberhalb der Gesellschaft oder von dieser unterschieden, gleichzeitig jedoch kann er als solcher unmöglich real existieren. Mit Merleau-Ponty lehnte Lefort die Existenz eines Ortes außerhalb des „Fleisch des Sozialen“ ab, da dies nach einer „Position des Überflugs“717 verlange, die unmöglich einzunehmen sei. Die Macht ist also die Bedingung der Möglichkeit der Quasi-Repräsentation einer Gesellschaft ihrer selbst, sie ist der symbolische Pol, auf den die Machthaber verweisen, um Legitimität dafür zu generieren, eben diesen Ort der Macht besetzt zu halten.718 Somit wandte Lefort sich an der Macht als Zentralkategorie des Politischen zu, stellt diese doch erst die Einheit und Identität jeder Gesellschaft symbolisch her. Den Moment des Ursprungs einer Gesellschaft bezeichnete er dabei als den gleichzeitige Akt ihrer mise-en-scène, mise-enforme und mise-en-sense.719 Die mise-en-forme des Sozialen meint die Art

715 716 717 718

Lefort, Claude: Fortdauer des Theologisch-Politischen? S. 39. Ders.: Le pouvoir. In: Ders. Le Temps Présent. S. 981 - 992. Lefort, Claude/ Gauchet, Marcel: Über die Demokratie. S. 95. Gauchet, Marcel: Die totalitäre Erfahrung und das Denken des Politischen. In: Rödel, Ulrich (Hrsg.). Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. S. 207 238, hier S. 225f. 719 Lefort, Claude: The Permanence of the Theologico-Political? In: Ders. Democracy and Political Theory. S. 213 - 255, hier S. 219f. Diese Begriffe hat Lefort laut

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und Weise, in der sich eine Gesellschaft eine Form gibt, also eine Institutionalisierung der Prinzipien ihrer Einheit und Existenz. Die mise-en-sense bezeichnet den eng daran geknüpften Vorgang der Sinnzuschreibung an die eigene Existenz als politische Gemeinschaft. Denn erst wenn soziale Praktiken vor einem geteilten und akzeptierten Bedeutungshintergrund an Sinn gewinnen, kann sich eine Gesellschaft in ihrer Form als solche wahrnehmen und verstehen. Die mise-en-scène schließlich bezeichnet die symbolische Inszenierung der sozialen Beziehungen und des Selbstverständnisses einer Gesellschaft auf der symbolischen Bühne der Politik. Somit ist die Quasi-Repräsentation der Gesellschaft, bedingt und ermöglicht durch die symbolische Besetzung eines von dieser Gesellschaft unterschiedenen Ortes der Macht, die erste Bedingung ihrer Existenz.720 Gesellschaften instituieren sich also nicht im Realen und existieren daher im strengen Sinne nicht wirklich. Es gibt mithin keine Gesellschaft, sondern lediglich symbolische Behauptungen ihrer Existenz und daran geknüpfte (notwendig zum Scheitern verurteilte) Versuche, diese zu repräsentieren. Dieser Gründungsakt qua Repräsentation kann daher auch als „mystère“721 bezeichnet werden. Eine grundlegende Spaltung zwischen Realität und Repräsentation, zwischen Instituierendem und Instituiertem und zwischen Volk und Regierung ist dabei die am Grunde alles Sozialen ruhende Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft sowie ihrer beständigen Veränderung und Entwicklung.722 Dies lässt sich nun ganz leicht entmystifizieren, wenn man bedenkt, wovon Lefort sich damit abgrenzte. Das waren zum einen all jene liberalen Gesellschaftstheorien, welche politische Gemeinschaften als das Ergebnis konsensueller Übereinkünfte in Form von Gesellschaftsverträgen verstehen. Diese würden genau wie der Marxismus und die klassischen Ansätze politischer Philosophie auch alle Gründungen von Gesellschaften von einer Epoche her denken, welche der Existenz von Macht, Politik, Ordnung und Souveränität vorausgingen. Wenn aber diesem angeblichen Ursprung von Macht, Politik, Herrschaft eine Epoche vorausginge, müsste diese zum einen von deren Gegenteil gekennzeichnet sein (wie es die Na-

David Ames Curtis von Castoriadis damaliger Ehefrau Piera Aulagnier übernommen. Siehe: Curtis, David Ames: Translators Foreword. S. VIIIf. 720 Lefort, Claude: The Permanence of the Theologico-Political? S. 218f. 721 Poltier, Hugues: La Pensée du Politique de Claude Lefort. S. 187. 722 Caillé, Alain: Claude Lefort, les sciences sociales et la philosophie politique. S. 56.

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turzustandstheorien ja in unterschiedlicher Akzentuierung in gewisser Weise behaupten). Derart paradiesische Zustände lehnten Lefort und der an ihn anschließende radikaldemokratische Diskurs aber als unmöglich ab, da von einem Ursprung im eigentlichen Sinn ja nicht mehr die Rede sein könnte. Denn wo ein Ursprung behauptet würde, kann es keinen Zustand „vor“ diesem Ursprung gegeben haben, da es dann auch einen Zustand vor dem „vor“ gegeben haben muss, so dass sich die Entwicklung der Gesellschaft bis ins Unendliche zurückverfolgen lassen müsste. Auf der anderen Seite aber ist es ebenso wenig vorstellbar, dass es keinen Ursprung einer Gesellschaft gibt, da dies ja behauptete, dass diese voraussetzungslos und damit quasi aus dem Nichts entstanden oder aber immer schon dagewesen wären. Die Ursprünge des Sozialen sind also immer zugleich anwesend, wie abwesend, sie entziehen sich der Wahrnehmung, je mehr man sich ihnen nähert, verschwinden jedoch auch nie ganz. Das Denken eines Ursprungs ist also beides, sowohl unmöglich, wie auch notwendig.723 Von einer privilegierten „Position des Überflugs“ muss man sich mit Lefort dabei aber ebenso verabschieden, wie von der Idee des einen historischen Ursprungsmomentes einer Gesellschaft, und sich folglich dem Ursprünglichen auf eine andere Art zu Denken nähern. Die Gründungen politischer Ordnungen verdanken sich keiner vernünftigen Einsicht in Notwendigkeiten, sondern sind ein Akt radikaler Freiheit, in dem eine Gemeinschaft über die Errichtung, Ausgestaltung, Weiterentwicklung und Geltung von Institutionen, Verfahren und Rechten selbst entscheidet. Lefort kann somit insofern als radikaldemokratischer Denker bezeichnet werden, als er an die Wurzel beziehungsweise den Ursprung von Gemeinschaften vorstößt, obwohl er zugleich weiß und anerkennt, dort niemals angelangen zu können. Dabei folgte er der Erkenntnis, die er aus seinen Lektüren der Schriften Machiavellis gewann: Weiter als bis zur Feststellung, dass Gesellschaften auf dem negativen Grund unversöhnlicher Antagonismen aufruhen und in genau dem Moment entstehen, indem sie sich durch eine Quasi-Repräsentation ihrer Einheit zugleich Sinn und Form geben, kann man niemals gelangen. Die Gesellschaftsformen verschiedener gesellschaftlicher Dispositive unterscheiden sich dabei durch die Art und Weise, wie sie symbolisch mit ihren gründenden, grundlegenden und immer latent präsenten Konflikten umgehen und wie sie diesen Umgang institutionalisieren. Dies gelte ganz besonders für das aus der demokratischen Re-

723 Lefort, Claude/ Gauchet, Marcel: Über die Demokratie. S. 95f.

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volution hervorgegangene demokratische Dispositiv am Ursprung der so genannten Moderne, welches durch eine Trennung der Sphären des Rechts, der Macht und des Wissens charakterisiert ist und über das Lefort zum Wesen des Totalitarismus vordringen möchte. Deren principes générateurs724 herauszufinden und im Unterschied zueinander zu bestimmen, im demokratischen Dispositiv etwa die „Volkssouveränität“, „Menschenrechte“, „Gleichheit“ und „Freiheit“, zählt zu den ersten Aufgaben einer so verstandenen politischen Philosophie.725 III. 2. 3. Kontingenz und die Ursprünge der Moderne Aus seinen frühen Analysen vermeintlich „primitiver“ Gesellschaften gewann Lefort Erkenntnisse über die Wesensmerkmale und die Bedingungen der Möglichkeit emanzipierter, von Unterdrückung und Ausbeutung befreiter Gesellschaftsformen.726 Diese Studien lieferten ihm das Grundgerüst für ein Verständnis der Eigenheit moderner demokratischer Gesellschaften. So verwarf er als erstes all die Bemühungen rationalistischer Ansätze, zu dem einen Ursprungsmoment von Gesellschaften vorzudringen.727 Das Problem an diesen sei nämlich, dass sie sich damit zufrieden gäben, einen historischen Punkt zu identifizieren, an dem eine Gesellschaft einmal nachweislich ihren eigenen geschichtlichen Kurs eingeschlagen habe. Zuallererst müsse jedoch immer geklärt werden, dank welcher menschlicher Entscheidungen und Sinngebungen sich Geschichte überhaupt erst als Organisationsform und sinnstiftendes Element menschlicher Beziehungen etablierte habe. Die liberale Behauptung eines Ur- oder Gesellschaftsvertrags war für ihn daher wenig plausibel. Wo Menschen sich ihre eigene kollektive Geschichte erzählen, könne dies nicht mit mechanisch-kausalen Ansätzen erklärt werden. Geschichte meint immer „a style of ´collective behaviour´ giving sense to the world and defining social re-

724 Lefort, Claude: Écrire. S. 326. 725 Ders.: De l´égalité à la liberté. In: Ders. Essais sur le politique. S. 237 - 271, hier S. 265f. 726 Ders.: L´échange et la lutte des hommes. In: Les Temps Modernes 6, 64, 1951. S. 1400 - 1417. Ders.: Notes critiques sur la méthode de Kardiner. In: Cahiers internationaux de sociologie 10, 1951. S. 117 - 127. Ders.: Sociétés sans histoire et historicité. In: Cahiers internationaux de sociologie, 12, 1952. S. 91 - 114. 727 Ders.: Sociétés sans histoire et historicité. A.a.O.

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lations”.728 Das kollektive Geschichtsbewusstsein einer partikularen Gesellschaft, deren Interpretation ihrer eigenen Vergangenheit, die Beziehung, in welche sie sich narrativ und institutionell zu dieser Vergangenheit setzt, waren alles Aspekte, die ins Zentrum seiner Überlegungen rückten. Es ging ihm also nicht darum, einen „wahren“ Ursprungsmoment nachweisen zu können, sondern um die Art und Weise der institutionellen Repräsentation einer als wahr behaupteten und als solche akzeptierten Vergangenheit, sowie daran anknüpfend einer möglichen Interpretation der Gegenwart und anvisierten Zukunft. Geschichte ist kein Stufensystem einer stetigen Höherentwicklung, sie folgt keinem Telos, sondern wird in Deutungskämpfen konkurrierender Interpretationen beständig fortentwickelt oder bestätigt. Diese Erkenntnis markiert einen wesentlichen Punkt in der Entwicklung seines Denkens, der nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: Die Überzeugung der Nicht-Notwendigkeit gesellschaftlicher Existenz, also der Kontingenz am Grunde alles Sozialen. Dies zu erkennen, ohne aber dabei einem Relativismus zu verfallen, muss daher als eine der großen Stärken des Lefortschen Denkens gelten. Erst durch die kollektive Interpretation der eigenen Geschichte wird einer Gesellschaft ein Bewusstsein ihrer eigenen Identität ermöglicht. Geschichte und Gesellschaft müssen dabei zuallererst als Institutionen vorgestellt werden, die aus der profanen Tatsache menschlichen Zusammenlebens resultieren und dabei von keinerlei materiellen oder moralischen Vorbedingungen abhängen.729 Am unmöglich gedanklich einzuholenden Beginn menschlicher Geschichte steht für Lefort eine Ansammlung von Menschen, die sich aus bestimmten, jedoch empirisch nie wirklich zu bestimmenden Gründen als derselben öffentlichen Sache zugehörig empfinden und die in der ständigen symbolischen und narrativen Wiederholung und/ oder Herausforderung dieser Gründungserzählung eine kollektive Identität ausbilden. So schrieben sie ihre partikulare Position in einen allgemeinen Horizont und ihre konkreten Institutionen in eine allgemeine Kultur ein und definierten sich so zunächst vor allem als eine Gemeinschaft in Abgrenzung zu Fremden.730 Weder hat nun also eine Gesellschaft eine vorbestimmte Geschichte, noch eine bestimmbare Vorgeschichte, sondern ist das Ergebnis eines autonomen und radikal freiheitlichen menschlichen Aktes der Selbstinsti-

728 Howard, Dick: The Marxian Legacy. S. 196. 729 Ders. S. 197. 730 Lefort, Claude: Réflexions sociologiques sur Machiavel et Marx. S. 113 - 135, hier S. 129.

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tuierung. Die Kontingenz, also die nicht-Notwendigkeit von Gesellschaft, ist damit die erste Bedingung der Möglichkeit von Freiheit und Autonomie von und in Gesellschaften. Dass eine Gesellschaft keine Vorgeschichte hat, bedeutet nun aber gleichzeitig nicht, dass sie historisch aus dem Nichts entstanden, sie sozusagen „vom Himmel gefallen“ ist. Kontingenz meint nicht, dass es keine beobachtbaren Zusammenhänge gesellschaftlicher Entwicklung gibt. Es gibt nur eben keine notwendigen oder zwangsläufigen Zusammenhänge. Genauso wenig lässt sich ein solcher Übergang zwischen einem Gesellschaftszustand und einem vorgesellschaftlichen Naturzustand feststellen, wie es liberale Vertragstheorien behaupten. Sicher kann man den Übergang von einem gesellschaftlichen Dispositiv in ein anderes als Revolution oder Gründungsakt interpretieren. In vielen Fällen macht es sogar Sinn, diese Übergänge als eine Revolution zu bezeichnen. Dies darf jedoch nicht in einem geschichtsdeterministischen Sinn geschehen, ist jede Revolution doch die kollektive Entscheidung zur Neugestaltung der eigenen Zukunft in Abkehr oder radikaler Negation der eigenen Vergangenheit, wie sie bisher erzählt oder repräsentiert wurde. Worauf diese Entscheidung dabei beruht, lässt sich nie voraussagen und in den wenigsten Fällen eindeutig und letztgültig rekonstruieren. Wäre dies der Fall, geriete man in die Gefahr, nicht mehr von einer wirklichen Entscheidung im strengen Sinn sprechen zu können, da eine solche immer eine prinzipielle Nicht-Entscheidbarkeit voraussetzt. Als Beispiel mag hierfür die Gesellschaftsform der Demokratie des antiken Griechenlands dienen, welche in ihrem Ursprung nicht erklärt werden kann. Man kann nicht ernsthaft behaupten, den Grund zur Entstehung der Demokratie zu kennen, weder lässt sich eine soziale, noch eine historische Notwendigkeit rekonstruieren oder nachweisen, die antiken griechischen Demokratien hatten keine antiken griechischen Demokratien zum Vorbild.731 Und trotzdem kann man sich darauf verständigen, dass es irgend einen historischen Punkt gegeben haben muss, ab dem man von einem Wandel des gesellschaftlichen Dispositivs oder dem Beginn der Existenz einer Demokratie sprechen kann, ja sogar muss, da diese sonst im Umkehrschluss ja immer schon vorhanden gewesen sein müsste. Die Unmöglichkeit des empirisch einwandfreien Nachweises eines Ursprungsmoments bedeutet also nicht, dass es keinen Sinn ergibt, über einen solchen Ursprung nachzudenken. Im Gegenteil setzt ja gerade die Erzählung eines solchen Ursprungs diesen

731 Vgl. Meier, Christian: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. A.a.O.

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als Ursprung. Derart haben sich Gesellschaften zu allen Zeiten ein Bild oder eine Vorstellung über ihre eigenen Ursprünge gemacht und diesen kollektiven Ursprungserzählungen kam zu allen Zeiten die Funktion der Ermöglichung des reflexiven Selbstbezugs auf die eigene Existenz als Kollektiv und damit die Funktion der Ermöglichung von Gemeinschaft zu. Die Frage nach der Letztgültigkeit dieser Ursprungserzählung aber, so Lefort, kann in der Moderne selbst nicht mehr (letztgültig) beantwortet werden. Hierin sieht er den wesentlichen Unterschied zwischen den so genannten vormodernen und den modernen Gesellschaften, die als solche ja selber ein narratives Konstrukt sind. Wenn man also gesellschaftlichen Wandel, die Übergänge zwischen Dispositiven und damit letztlich deren jeweils spezifischen Eigenheiten, Formen und Wesen auf den Grund kommen will, muss man neue Formen des Zusammenlebens identifizieren, neue Repräsentationen der Beziehungen der Menschen in einer Gemeinschaft zueinander und zu ihrer eigenen Geschichte, Natur, Macht und Politik. Die antiken Stadtstaaten Griechenlands etwa haben in sich selbst das Gesetz ihres eigenen Ursprungs gesucht und gefunden, die Repräsentation ihrer eigenen Gründung und Existenz unterscheide sich daher fundamental von den transzendentalen Erklärungsschemata der vorrangehenden Gesellschaftsformen. Die wesentliche Erkenntnis dieser frühen Studien Leforts besteht also darin, dass es kollektive narrative und symbolische Operationen sind, mittels derer Gesellschaften sich ein Bild von sich selbst machen, ihre eigene Geschichte entwerfen und diese durch ständige Wiederholung der symbolischen Handlungen und Erzählungen verstetigen.732 Die „Moderne“ ist daher nicht etwa fortschrittlicher als die „Vormoderne“, modern bezeichnet dann vielmehr einen Wechsel in der symbolischen Ordnung des Wissens um die eigenen Ursprünge und die daraus folgende gesellschaftliche Ordnung und deren Geschichte. „Modern“ meint also ein Dispositiv mit einer spezifischen symbolischen Ordnung, das sich vom „vormodernen“ Dispositiv des so genannten Mittelalters oder des Ancien Régime fundamental unterscheidet.733 Für Lefort besteht dabei ein enger Zusammenhang zwischen „Modernität” und „politischem Diskurs”, der politische Diskurs und sein Gegenstand des Politischen erscheinen nicht nur einzig in modernen Gesellschafen, sondern sind für diese geradezu konstitutiv.

732 Lefort, Claude: Sociétés sans histoire et historicité. A.a.O. 733 Flynn, Bernard: The Philosophy of Claude Lefort. S. 83.

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Mit diesen Erkenntnissen und Einsichten wandte sich Lefort schließlich der Frage nach den Eigenheiten der modernen demokratischen Gesellschaften zu. Diese Frage versuchte er über einen Strukturvergleich der Gesellschaft des Ancien Régime mit den als Folge der „demokratischen Revolution“ des 18. Jahrhunderts entstandenen modernen demokratischen Gesellschaften zu beantworten. Für diesen Vergleich konzentrierte er sich auf die symbolische Ebene der Selbstinterpretation der neuen demokratischen Gesellschaften im Vergleich zu jenen des Ancien Régime und den symbolischen Bedeutungswandel der gesellschaftlichen Sphären der Macht, des Rechts und des Wissens, sowie das symbolische Verhältnis dieser Gesellschaftsform zu ihrer inneren und äußeren Teilung. III. 2. 4. Die demokratische Revolution Wenn Lefort den Wechsel vom vormodernen zum modernen demokratischen Dispositiv auf die „demokratische Revolution“ datiert, weist das auf seinen für diese Überlegungen maßgeblichen Referenzautoren Alexis de Tocqueville hin, der diesen Begriff in seiner Untersuchung der Demokratie in Amerika sowie der Französischen Revolution geprägt hat. Tocqueville bezeichnete das Jahr 1789 zunächst nur als den Höhepunkt einer viel länger zurückreichenden „demokratischen Revolution“734, als deren unmittelbare Folgen er die Instabilität, Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und letztlich Gefährdung der modernen Freiheit ausmachte.735 Er war sich dabei aber dessen bewusst, dass diese Revolution nicht aufzuhalten und erst recht nicht rückgängig zu machen ist und die Demokratie folglich als das Schicksal moderner Gesellschaften betrachtet und akzeptiert werden muss.736 Spätestens mit der Französischen Revolution habe also das „demokratische Zeitalter“737 begonnen, welches sich fundamental vom vorangehenden Zeitalter des absolutistischen Ancien Régime unterscheidet. Die Überwindung des „alten Staates“738 ermöglichte nun aber eben nicht nur 734 DA, S. 15. 735 Hereth, Michael: Alexis de Tocqueville. Die Gefährdung der Freiheit in der Demokratie. Stuttgart 1979. S. 18f. 736 DA, S. 20. 737 Offe, Claus: Selbstbetrachtungen aus der Ferne. Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten. Frankfurt am Main 2004. S. 16. 738 Tocqueville, Alexis de: Der alte Staat und die Revolution. München 1989.

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eine neue Form der Freiheit, sondern barg immer schon auch gewisse Gefahren in sich, denen entsprechend begegnet werden muss.739 Diesem Anspruch folgte Tocquevilles Amerika-Studie, in welcher er sich davon überzeugt zeigte, dort die Mittel kennengelernt zu haben, um die prekären Folgen der demokratischen Revolution für den Erhalt der Freiheit unter demokratischen Bedingungen fruchtbar zu machen.740 Die Demokratie war für ihn dabei mehr als ein reines Institutionensystem, sie war die „exklusive Gesellschaftsform (…) der Moderne“,741 ein gesellschaftlicher Zustand.742 Das ihr wesentliche Prinzip sei die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen, die égalité des conditions, welche „dem öffentlichen Geist eine bestimmte Richtung und den Gesetzen ein bestimmtes Wesen“ gebe.743 Die Institutionalisierung von Bürgerrechten und des Prinzips der Volkssouveränität ermöglichten es, dass die Gleichheit als zuvor nur normatives Prinzip faktische politische Wirksamkeit erlangte. Tocqueville begrüßte diese Entwicklung und sah doch zugleich auch die Gefahr, die damit einhergeht: Dass die Bürger sich auf den Genuss ihrer individuellen Rechte und Freiheiten konzentrierten und „die große Gesellschaft sich selbst (überlassen), nachdem (sie) sich eine kleine Gesellschaft zum eigenen Gebrauch geschaffen (haben)“744. Der Rückzug ins Private und die daran anschließende Vernachlässigung der Pflicht, sich um den Erhalt des öffentlichen Lebens zu kümmern, bedrohten als Resultat der neu gewonnenen Freiheit diese zugleich von Anbeginn an. Im Unterschied zu Lefort war es für Tocqueville dabei ein positiver Akt der bewussten Abwendung vom öffentlichen Leben, von dem diese Gefahr ausgeht, wohingegen Lefort eher negativ die Flucht oder das Ausweichen der Menschen angesichts der Unzumutbarkeit oder Schwierigkeit des Aushaltens moderner Freiheit als Quelle der Gefährdung thematisierte. Unterscheiden sich also die Gründe, ändert sich an den Folgen dafür aber wenig: die moderne Demokratie ermöglicht es ihren Bürgerinnen, eine neue Art der Freiheit zu genießen und gefährdet diese zugleich. Indem die Bürgerinnen nämlich, so 739 Herb, Karlfriedrich/ Hidalgo, Oliver: Tocquevilles Staatsverständnis. In: Herb, Karlfriedrich/ Hidalgo, Oliver (Hrsg.). Alter Staat - Neue Politik. Tocquevilles Entdeckung der modernen Demokratie. Baden-Baden 2004. S. 13 - 22, hier S. 14. 740 DA, S. 30. 741 Hidalgo, Oliver: Unbehagliche Moderne. Tocqueville und die Frage der Religion in der Politik. Frankfurt am Main/ New York 2006. S. 23 742 Herb, Karlfriedrich/ Hidalgo, Oliver: Tocquevilles Staatsverständnis. S. 14f. 743 DA, S. 15. 744 DA, S. 238.

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Tocquevilles Beobachtung, ihre politischen Freiheiten allmählich auf die zentrale administrative Instanz, den modernen Staat, übertrugen, beraubten sie sich sukzessive der Möglichkeit, die Zügel zum Erhalt ihrer Freiheit in der Hand zu behalten. Das Resultat daraus bezeichnete er als eine sanfte Form des Despotismus, in welcher er „eine (…) Menge ähnlicher und gleicher Menschen (sah), die sich rastlos um sich selbst drehen, um sich kleine und gewöhnliche Freuden zu verschaffen, die ihr Herz ausfüllen. Jeder von ihnen ist, ganz auf sich zurückgezogen, dem Schicksal aller anderen gegenüber wie unbeteiligt (…). Über diesen Bürgern erhebt sich eine gewaltige Vormundschaftsgewalt, die es allein übernimmt, ihr Behagen sicherzustellen und über ihr Schicksal zu wachen. Sie ist absolut, ins Einzelne gehend, pünktlich, vorausschauend und milde (…); sie sucht (…) die Menschen unwiderruflich in der Kindheit festzuhalten (…). Sie sorgt für ihre Sicherheit, sieht und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnügungen, führt ihre wichtigsten Geschäfte (…); könnte sie ihnen nicht vollends die Sorge, zu denken, abnehmen und die Mühe, zu leben?“745 Ein mögliches Gegenmittel sah Tocqueville zum einen in den aus dem „wohlverstandenen Eigennutz“ resultierenden politischen und zivilgesellschaftlichen Assoziationen.746 Zum anderen diskutierte er als ein solches die Religion,747 welche das gemeinschaftsstiftende und gemeinschaftsstabilisierende Band zur Verfügung stellen soll, das die Demokratie zu ihrem Erhalt braucht.748 Ohne geteilte religiöse Überzeugungen sei auf Dauer kein gemeinsames Handeln möglich und damit auch nicht die Existenz eines Gesellschaftskörpers oder politischen Kollektivsubjekts.749 Die Religion stifte den nötigen Zusammenhalt dadurch, dass sie klare und dauerhafte Antworten auf diejenigen Fragen gebe, die sich die Menschen immer schon stellten, woran auch die demokratische Revolution nichts geändert habe.750 Tocqueville sprach in diesem Zusammenhang von der „heilsamen

745 DA, S. 343f. 746 DA, S. 256. 747 Herb, Karlfriedrich/ Hidalgo, Oliver: Alexis de Tocqueville. Frankfurt am Main 2005. S. 66. Hidalgo, Oliver: Glaube und politisches Engagement – die zivilgesellschaftliche Funktion der Religion bei Alexis de Tocqueville. In: Liedhegener, Antonius/ Werkner, Ines-Jacqueline (Hrsg.). Religion zwischen Zivilgesellschaft und politischem System. Befunde - Positionen - Perspektiven. Wiesbaden 2011. S. 39 - 55, hier S. 44. 748 DA, S. 219. 749 DA, S. 219. 750 DA, S. 226.

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Hingabe“ an die Religion. Als solche setze sie dem menschlichen Handeln gewisse Schranken, die jedoch nicht unbedingt als Einschränkung der Freiheit, sondern als Entlastung von der Ungewissheit, Unsicherheit und den damit verbundenen Bürden empfunden würden. Lefort folgte nun weder den liberalen, noch den eher republikanischen Elementen in oder Auslegungen von Tocquevilles Schriften, sondern legte eine eigene Interpretation vor. So sei die Erkenntnis der „Gleichheit der Bedingungen“ die Schlüsselbedingung der ununterdrückbaren Dynamiken moderner Gesellschaften. Bei allem Verdienst habe Tocqueville jedoch aufgrund der Idealbedingungen seines amerikanischen „Laboratoriums“ übersehen, dass die Entwicklung der Demokratie auf dem europäischen Kontinent als ein Kampf zwischen den Kräften der Reaktion und der Revolution vonstattengegangen sei. Diesen Kampf der unversöhnlichen Prinzipien oder Logiken der Gleichheit und der Freiheit als ein Entwicklungshemmnis verstanden zu haben, während darin der eigentliche Motor der demokratischen Entwicklung liege, sei die Schwachstelle der Theorie Tocquevilles.751 So habe er letztlich eben doch und entgegen seiner Verlautbarungen die Demokratie in aller Konsequenz nach wie vor als „politisches System“ und nicht als „Existenzweise der Gesellschaft“ verstanden.752 Letztlich bezeuge Tocquevilles Denken gar dessen Überzeugung einer teleologischen Entwicklung der demokratischen Gleichheit.753 Er preise eine Gesellschaft, die sich vollständig als Demokratie „will und entfaltet“, entsprechend eine „wahrhafte gesellschaftliche Einheit in sich birgt“ und so in die Falle der „demokratischen Übereinstimmung“ tappe.754 Für Tocqueville ruhe die Republik somit fälschlicherweise auf einem „consensus universalis“ auf.755 Lefort lag nun aber wie gesagt auch keinem vulgär-revolutionären Geschichtsverständnis auf, wonach es eine wirkliche StundeNull dieser neuen Gesellschaftsform gegeben habe, die in einem einzigen Gewaltakt ans welthistorische Tageslicht gezerrt wurde. Die Französische Revolution geht nicht in der Ereignisgeschichte der Vorkommnisse zwischen 1789 und 1799 auf, sie begann keineswegs mit der Einberufung der

751 Gauchet, Marcel: Tocqueville, Amerika und wir. Über die Entstehung der demokratischen Gesellschaften. In: Rödel, Ulrich (Hrsg.). Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. S. 123 - 206, hier S. 161. 752 Ders. S. 123f. 753 Ders. S. 131. 754 Ders. S. 134. 755 Ders. S. 136.

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Generalstände und endete auch nicht mit der Machtergreifung Napoleon Bonapartes. Wenn Lefort also im Anschluss an Tocqueville von der „demokratischen Revolution“ sprach und den ihr folgenden Wechsel zum demokratischen Dispositiv pars pro toto an der Enthauptung Ludwigs XVI. im Jahr 1793 illustrierte, hat dies vor allem heuristische Gründe. Dabei muss stets Tocquevilles Verständnis der Revolution mitgedacht werden. So stimmte Lefort Tocqueville etwa darin zu, dass „nothing in Christianity, nothing even in Catholicism, is absolutely contrary to the spirit of democratic societies, and many things are very favorable“756. Insofern behauptet Lefort keinen absolut radikalen Bruch zwischen etwa einem „christlichen“ Mittelalter gegenüber einer „säkularisierten“ Neuzeit. Tocqueville komme dennoch der Verdienst zu, zu den historischen Ursprüngen der Demokratie vorgedrungen zu sein, um von dort die moderne Demokratie als ein Abenteuer zu entschlüsseln. Dabei habe er bereits eine Vorstellung von der Unumkehrbarkeit der Geschichte und von dem großen geschichtlichen Wandel, den er miterlebte, gehabt. Er habe die Zweideutigkeit der demokratischen Revolution aufgespürt und stets Vor- wie Nachteile der Demokratie beleuchtet. Lefort interessierte an Tocqueville dabei vor allem dessen „Vorstellung einer Gesellschaft, die sich mit dem allgemeinen Widerspruch konfrontiert sah, der sich aus dem Verschwinden einer letzten Begründung der Gesellschaftsordnung ergab.757 In dieser „Auflösung der Grundlagen aller Gewissheit“ liege der zentrale Aspekt am Übergang des Ancien Régime zur Demokratie, sie markiere den wesentlichen Unterschied zu ihren historischen Vorläufern. Die daraus resultierenden Paradoxien der modernen Demokratie habe Tocqueville dabei auf vier Ebenen identifiziert: Auf der Ebene des modernen Individuums, welches einerseits frei von persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen, Traditionen und Normen sei, das dadurch zugleich aber als isoliertes und wehrloses Wesen die Verschmelzung mit der Masse als Heilmittel gegen die Auflösung der eigenen Identität suche und sich so in ein neues Abhängigkeitsverhältnis begebe. Auf der Ebene der Meinung, auf der sich einerseits das Recht auf freie Meinungsäußerung etabliert habe, von wo aus aber gerade dadurch eine neue Form einer Tyrannei der Mehrheit auf die Rechtsträger ausgeübt würde. Auf der Ebene des Rechts, welches Ausdruck des kollektiven Willen des Souveräns sei, zugleich aber infolge der

756 Lefort, Claude: The Revolution as new Religion. In: Ders. Writing. S. 160. 757 Ders.: Die Frage der Demokratie. S. 289.

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Gleichheit der Bedingungen eine Uniformierung der Verhaltensnormen der Rechtssubjekte befördere. Und zu guter Letzt auf der Ebene der Macht, welche von der Willkür persönlicher Herrschaft befreit zugleich als unpersönliche und abstrakte Macht des Volkes auftrete und dadurch drohe, grenzenlos und allmächtig zu werden.758 In Auseinandersetzung mit Tocqueville identifizierte Lefort also Individuum, Recht, Macht und Wissen als zentrale Kategorien, an denen die Neuartigkeit der Demokratie veranschaulicht werden kann. Tocquevilles besonderes Verdienst sah er darin, die Demokratie nie auf das Prinzip der Gleichheit der Bedingungen beschränkt, sondern immer auch darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass sie jederzeit die Gefahr in sich berge, in eine Tyrannei der Mehrheit gegenüber Minderheiten umzuschlagen.759 Allerdings sei Tocqueville dabei leider stets beim bloßen Gegenteil jedes Phänomens stehen geblieben, anstatt auf dieser Suche fortzuschreiten, wohinter Lefort einen intellektuellen Widerstand in Verbindung mit einem politischen Vorurteil gegen die Ungewissheit der Demokratie, die „Mühe zu leben“, vermutete. Was Tocqueville aber so übersehen habe, sei „die Anstrengung, die jeweils an dem zweiten Pol, an dem die Gesellschaft versteinert, sich vollzieht oder erneut aufbricht“ und die sich in der „Erscheinung von Denk- und Ausdrucksweisen (enthülle), die gerade gegen die Anonymität, gegen die stereotype Sprechweise der öffentlichen Meinung zurückerobert werde: Das Aufkommen von Forderungen und Kämpfen für solche Rechte, die den formellen Gesichtspunkt des Gesetzes außer Kraft setzen, das Aufbrechen eines neuen Sinns der Geschichte und die Entfaltung mannigfacher Perspektiven der Geschichtserkenntnis, bedingt durch die Auflösung der quasi organischen Dauer, die ehemals durch Gebräuche und Traditionen bestimmt wurde“.760 Was Lefort hier etwas kompliziert ausdrückte, meint in nuce Folgendes: Dass Tocqueville übersehen habe, dass moderne Gesellschaften sich seit der demokratischen Revolution aufgrund des Fehlens einer letztgültigen Grundlage in einem stets offenen Prozess oder einer Pendelbewegung zwischen den Polen der absoluten Stillstellung oder Versteinerung und ihrer Auflösung, also letztlich zwischen den Alternativen des Totalitarismus und der Anarchie bewegen. Der Demokratie wohnt für Tocqueville also immer schon die Gefahr ihrer symbolischen Schließung oder ihrer Auflösung inne, sie drohe stets in die 758 Ders. S. 289f. 759 Ders.: Reflections on the present. S. 272. 760 Ders.: Die Frage der Demokratie. S. 290f.

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Despotie umzuschlagen oder im Bürgerkrieg unterzugehen. An dem Punkt aber, an dem dies geschehe, so Leforts Weiterentwicklung, kommt es irgendwann zwangsläufig zu einem erneuten Aufbrechen der starren Gesellschaftsordnung, zu neuen Freiheitsbestrebungen und als deren Resultat zu einer neuen Gesellschaftsordnung oder der Auflösung aller Ordnung. Dass nun jede Despotie letztlich in die Anarchie zu kippen droht, ist weder eine neue Erkenntnis Leforts, noch Tocquevilles, noch ein spezifisches Charakteristikum der modernen Demokratie, sondern die Gefahr, der jede Gesellschaftsform ausgesetzt ist. Das spezifisch Neue an Leforts Perspektive aber war, dass sie als ein paradoxes Abenteuer mit offenem Ausgang nicht nur anerkannt, sondern geradezu begrüßt werden muss und das nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit. Wie dies zu verstehen ist, erklärt sich durch Leforts Vergleich der modernen Demokratie mit dem mittelalterlichen gesellschaftlichen Dispositiv, wie er ihn anhand der Diskussion der Politischen Theologie des Mittelalters entwickelte. III. 2. 5. „By nature a man - by grace a God-man” - Die zwei Körper des Königs Um zu verstehen, was Lefort mit der oben erwähnten symbolischen Mutation an der Schwelle vom mittelalterlichen zum demokratischen Dispositiv meinte, hilft ein Blick auf seine Diskussion von Ernst Kantorowiczs Studie „The Kings two Bodies“761, zu der er während seiner Lehrtätigkeit einmal ein ganzes Seminar abhielt. Die von Kantorowicz analysierte Beschreibung des christlichen Kaisers in der Liber Augustalis (der Konstitutionen von Melfi) Friedrichs II. als major et minor se ipso wurde Lefort zum Schlüssel des Verständnisses der mittelalterlichen politischen Körpermetaphorik. Der König sei demnach bis zur demokratischen Revolution sowohl als der Untertan eines höheren, göttlich legitimierten Gesetzes, als auch zugleich als von den irdischen Gesetzen losgelöst (ab-solut) verstanden worden: „We thus have to recognize (in the king) a twin person, one descending from nature, the other from grace (…). One through which, by the condition of nature, he conformed with other men; another through 761 Kantorowicz, Ernst: The King´s Two Bodies: A Study in Medieval Political Theology. Princeton 1957. S. 46. Deutsch: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990.

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which, by the eminence of (his) deification and by the power of the sacrament (of consecration), he excelled all others. Concerning one personality, he was, by nature, an individual man; concerning his other personality, he was, by grace, a Christus, that is, a God-man”762. Bis zum Ende des Ancien Régime habe also eine politische Theologie dem König oder Fürsten die in der Bibel von Jesus Christus eingenommene Doppelrolle von weltlichem Herrscher und quasi-göttlicher Instanz zugeschrieben, von „body politic“ und body natural“763, welche bis zur als solcher bezeichneten Säkularisation meist der Papst innegehabt habe.764 Mit der ersten Königsweihe durch einen christlichen Papst sei in Europa daher eine „theologischpolitische Formation“765 entstanden, in welcher die sakrale und die säkulare Autorität in der Person des Königs vereint waren. In dieser Funktion habe der König die Gesellschaft zu einer Einheit symbolisch zusammengeschlossen und alle religiöse und politische Macht in seiner Person verkörpert. Zugleich sei er jedoch weit entfernt vom Besitz einer unbegrenzten Machtfülle gewesen, die er hätte willkürlich ausüben können. Zwar war er absoluter Herrscher im Sinne von über allen weltlichen Gesetzen stehend, zugleich aber war er in der Rechtsprechung und seinen politischen Handlungsmöglichkeiten diesen auch unterworfen, insofern er all sein Handeln letztlich mit Berufung auf diese von Gott vorgegebenen Gesetze rechtfertigen musste. Der König sei im Mittelalter deus in terris, so wie der Papst Christus in terris gewesen und habe so in sich immanente und transzendente Legitimationsansprüche zugleich verkörpert.766 So nahm er eine Doppelstellung sowohl als natürlicher Körper innerhalb der Gesellschaft, als auch als Verkörperung des Göttlichen außerhalb der Gesellschaft ein. Von diesem außerweltlichen und außergesellschaftlichen symbolischen Pol aus wurden im Mittelalter alle Prinzipien der Macht, des Rechts und des Wissens abgeleitet. So war die Teilung zwischen Herrschern und Beherrschten durch die Repräsentation der Einheit der Gesellschaft im Körper des Königs ebenso verdeckt, wie die inneren Teilungen der Gesellschaft innerhalb der Stände und über die Ständegrenzen hinweg. Zugleich habe der König die legitimen Vorstellungen der Macht, des Rechts und des

762 Ebd. 763 Ders.: Die zwei Körper des Königs. S. 31. 764 So waren die Konstitutionen von Melfi als Rechtssammlung vor allem eine Waffe Friedrichs II. im Kampf gegen den Papst. 765 Lefort, Claude: Fortdauer des Theologisch-Politischen? S. 86. 766 Kantorowicz, Ernst: Die zwei Körper des Königs. S. 31.

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Wissens in sich vereint. Im Gegensatz zu modernen Gesellschaften hätten sich traditionelle Gesellschaften dabei explizit als eine politisch-theologische Formation verstanden, deren Ordnung fest in der Religion und der Monarchie verankert war. Auf diesem Fundament einer wechselseitigen Bedeutung „des Einen“ für alle anderen ruhte die Gesellschaft auf. Die Legitimation der politisch-theologischen Formation erklärte Lefort mit dem „Zauber“, den die Verbindung göttlicher und irdischer Macht auf die Bevölkerung ausgeübt habe.767 Das spezifisch Neue der modernen Demokratie ist nun die Beseitigung dieses Wissens um eine bestimmbare Einheit und einen festen Grund der Gesellschaft: „In der Moderne tritt nun die gesellschaftliche Teilung deutlich hervor, die Grundlagen von Macht, Recht und Wissen sind nicht mehr im Körper des Königs repräsentiert, die „Macht geht aus der Gesellschaft hervor und soll ihr zugleich die Bedingung ihrer Einheit liefern; das Recht erweist sich als dem wechselhaften Willen der Menschen unterworfen; die Erkenntnis (…) bleibt selbst in der Tätigkeit des Erkennens immer auf der Suche nach ihren Grundlagen: letztlich eröffnet sich eine unbestimmte Fahrt ins Neue“768. Diese Fahrt ins Ungewisse als Resultat der demokratischen Revolution war für Lefort im oben nachgezeichneten Sinn Ursprung und Schicksal der modernen demokratischen Gesellschaften. Die Hinrichtung Ludwigs XVI. 1793 war für ihn der symbolische Kulminationspunkt der demokratischen Revolution und der damit einhergehenden symbolischen Mutation. Diese sei weithin als elementarer Bruch empfunden worden, da mit der Hinrichtung des natürlichen Körpers des Königs auch dessen politischer Körper eliminiert wurde und so die Vereinigung des irdischen und des göttlichen in der Person des Königs aufgelöst wurde. Fortan habe die Einheit des politischen Körpers auf andere Art symbolisch repräsentiert werden müssen, da das vom absolutistischen Ancien Régime vertretene Einheitssymbol des Königskörpers auf keine alternativen symbolischen Ressourcen habe zurückgreifen können. Die Folge der Enthauptung Ludwigs XVI. brachte Lefort auf die berühmte Formel des „leeren Ortes der Macht“ in der modernen Demokratie. Mit der faktischen Entkörperung des vom König besetzten Ortes der Macht sei auch dessen symbolische Entkörperung einhergegangen. Die vormals im Körper des Königs vereinten Sphären der Macht, des Rechts und des Wissens hätten sich infolge-

767 Lefort, Claude: Fortdauer des Theologisch-Politischen? S. 78. 768 Ders.: Vorwort zu Eléments d´une critique de la bureaucratie. S. 35.

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dessen von seiner Person emanzipiert und seien auseinandergetreten und zum Gegenstand gesellschaftlicher Debatten und Deutungskämpfe geworden. Mit der Enthauptung Ludwigs XVI. habe sich also eine symbolische Entleerung des Ortes der Macht vollzogen, so dass dieser seitdem nicht mehr dauerhaft symbolisch besetzt werden könne. Die Macht sei zwar weiterhin jener Pol, welcher es der Gesellschaft ermögliche, sich auf sich selbst zu beziehen und so ein Verständnis von sich selbst zu entwickeln. Doch zugleich ist sie eben insofern ein „leerer“ Ort, als niemand letztgültig dessen dauerhafte Besetzung für sich beanspruchen könne. Wenn es in England „der König ist tot, lang lebe der König“ hieß, lautete die Parole in Frankreich „der König ist tot, lang lebe die Republik“, dort habe also die Idee der Nation das Vakuum, das der Tod des Königs hinterließ, besetzt.769 Nun sind aber „Republik“ oder „Nation“ im Gegensatz zur Person des in einer Erbfolge stehenden Königs als sichtbarer Repräsentant einer streng reglementierten Tradition keine eindeutig zu bestimmenden Entitäten. Wer zur Nation gehört oder was genau die Republik ausmacht, ist im demokratischen Dispositiv daher ebenso Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzung und legitimer Konflikte, wie die Geschichte Gegenwart und Zukunft der Gemeinschaft selbst.770 So bedeutete die Entleerung des Ortes der Macht also nicht die Abschaffung von Macht überhaupt. Was der leere Ort der Macht somit ermöglichte, war der Streit um dessen legitime Besetzung und die periodische, temporäre und symbolische Neubesetzung dieser Leerstelle mittels der Institution der allgemeinen Wahl. Zudem sind die Bürgerinnen demokratischer Gesellschaften durch die Autonomisierung der Sphären des Rechts und des Wissens von der Sphäre der Macht seit der demokratischen Revolution Herrinnen ihrer eigenen Geschichte, Institutionen und sozialen Beziehungen. Sie haben seither die Möglichkeit und zugleich die Pflicht, in Freiheit und Eigenverantwortung ihre Geschichte in die Hand zu nehmen, ihre eigenen „Ursprungsfantasien“771 zu entwerfen oder zu verwerfen und anhand dieser verbindlich festzulegen und gleichzeitig permanent zu debattieren, was legitim ist und was nicht.

769 Manow, Philip: Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation. Frankfurt am Main 2008. S. 45ff. 770 Lefort, Claude: Les droits de l´homme et l´État-providence. S. 51. 771 Manow, Philip: Politische Ursprungsphantasien. Der Leviathan und sein Erbe. Konstanz 2011.

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III. 2. 6. „Die Zahl tritt an die Stelle der Substanz“ - Die demokratische Wahl Der demokratischen Wahl als Wettstreit um die Besetzung des leeren Ortes der Macht kommt in Leforts Demokratietheorie eine zentrale Bedeutung zu. Lefort interpretierte sie als die symbolische Austragung gesellschaftlicher Konflikte. Alle Solidaritätsbeziehungen innerhalb einer demokratischen Gemeinschaft lösten sich demnach in dem Moment symbolisch auf, in dem die Bürgerinnen Gebrauch von ihrem allgemeinen Wahlrecht machten. Dann nämlich tritt „die Zahl (…) an die Stelle der Substanz“.772 Entgegen der traditionellen liberalen Erzählung hat die demokratische Wahl für Lefort also gerade nicht die Funktion der Auszählung individueller Interessen, sie ist nicht der Moment, indem sich ein essenzieller Mehrheitswille Gehör verschafft oder prozedural überhaupt erst herausbildet, sondern sie bedeutet die symbolische Bewusstmachung oder Bewusstwerdung der unzähligen und unauflösbaren inneren Konflikte und der prinzipiellen Zerrissenheit des Sozialen sowie der Kontingenz am Grunde ihrer institutionellen Ordnung, ihrer prekären Einheit und ihrer vermeintlich lückenlosen Geschichte. Somit ruft sie zugleich die Notwendigkeit der symbolischen Austragung der gründenden und zugrundeliegenden Konflikte in der Ebene der Politik in Erinnerung. Dort wird die Repräsentation eines Volkes und dessen Willens in „normalen“ Zeiten symbolisch behauptet, vorgeführt und somit zugleich gewährleistet, ohne dass sich diese QuasiRepräsentation jemals mit der gesellschaftlichen, wahrnehmbaren und erfahrbaren Realität decken könnte. Wenn also die mise-en-scène der gesellschaftlichen Konflikte deren symbolische Austragung auf der Bühne der Politik ermöglicht, so fallen im Moment der Wahl diese Konflikte bildlich gesprochen von der Bühne in die Gesellschaft zurück, wo sie drohen unvermittelt aufeinanderzuprallen und die Bühne einzureißen Die Wahl beziehungsweise der Schwebezustand im Moment zwischen Stimmabgabe und Stimmauszählung kann damit als so etwas wie der symbolische Ausnahmezustand der Demokratie verstanden werden, der die eigene Grundlosigkeit in Erinnerung ruft, den demokratischen Bürgerinnen einen Blick in die eigene Ab-Gründigkeit, in welche sie prinzipiell jederzeit abzustürzen drohen, gewährt. Nach der Wahl, wenn der Ort der Macht mit Verweis auf die symbolische Universalie des „Volkswillens“ wieder symbolisch

772 Lefort, Claude: Die Frage der Demokratie. S. 295.

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besetzt ist, ist die Ordnung der Dinge damit zumindest vorläufig wiederhergestellt. Doch was gewann Lefort damit für seine Analyse des Wesens der Demokratie und des Totalitarismus? Sicher darf die demokratische Wahl in ihrer faktischen Bedeutung dahingehend nicht überbewertet werden, etwa dass sie ihre Bürgerinnen in Angst und Schrecken versetzt und dankbar für die Wiederherstellung der Machtverhältnisse und dafür sein lässt, dem Bürgerkrieg gerade noch einmal entronnen zu sein. Leforts Perspektive bietet vielmehr die Möglichkeit, sich der Bedeutung der Demokratie in ihrer Gesamtheit, also des demokratischen Dispositivs von einer anderen Perspektive her zu nähern, als sie der Liberalismus und der Marxismus mit unterschiedlichen normativen Vorzeichen anbieten, nämlich der ihrer symbolischen Bedeutung. Ganz besonders sticht dabei die wesentliche Erkenntnis der zugleich Freiheits-ermöglichenden, wie diese auch gefährdenden, ihrer „gefährlichen“ Seite ins Auge. Die prinzipielle Grundlosigkeit moderner demokratischer Gesellschaften, an welche die demokratische Wahl, nimmt man Leforts Perspektive ein und ernst, eben in regelmäßigen Abständen erinnert, kann prinzipiell als Chance, wie als Bedrohung wahrgenommen und entsprechend politisch verarbeitet werden. Eine „unbestimmte Fahrt ins Neue“ kann aufregend sein, aber auch Unbehagen hervorrufen und Ängste wecken. Wo für Tocqueville noch die Religion die Aufgabe übernahm, zur Stärkung der Einheit ein „gemeinsames Band“ anzubieten, ließ die demokratische Revolution keinerlei letzte Orientierungshilfen übrig und setzte die Menschen dem demokratischen Schicksal absoluter Autonomie und prinzipieller radikaler Unbestimmtheit aus. Dies wird in dem Moment problematisch, in dem die Mehrheit der Menschen diese absolute Freiheit nur sehr schwer ertragen, in dem das kollektive Gefühl der „Mühe zu leben“ überhandnimmt und die Sehnsucht nach Sicherheit sich breit macht. Wo die Religion die Grenze zwischen Ordnung und Chaos zog, kann sie dies seit der demokratischen Revolution nicht mehr leisten, wurde zugleich in dieser Funktion aber auch durch nichts ersetzt - bis eben zum Auftreten des Totalitarismus auf der welthistorischen Bühne. Diese „unterirdische Dynamik der Ungewissheit“ ist das Charakteristikum moderner Demokratien, in ihr liegt ebenso die Bedingung der Möglichkeit moderner Freiheit, wie aus ihr auch die Gefahr des Totalitarismus erwächst. Die eigentliche Gefahrenquelle der Freiheit in der Demokratie ist damit der „sich selbst ausgelieferte Mensch“, welcher die in der demokra-

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tischen Revolution erlangten Freiheiten als Belastung empfindet und sich nach Ordnung, Transparenz und Einheit sehnt.773 Hannah Arendt kam in ihrer Totalitarismus-Studie zu einer ganz ähnlichen Einschätzung: „Wir wissen auch nicht, aber wir können es ahnen, wie viele Menschen sich in der Erkenntnis ihrer wachsenden Unfähigkeit, die Last des Lebens unter modernen Verhältnissen zu ertragen, willig einem System unterwerfen würden, das ihnen mit der Selbstbestimmung auch die Verantwortung für das eigene Leben abnimmt“774. Genau daran droht die moderne Demokratie permanent zu scheitern und in den Totalitarismus umzuschlagen, im Gefühl der Unsicherheit und im Wunsch nach deren Überwindung wurzelt das Potential zur totalitären Schließung moderner Gesellschaften. Wenn die Unsicherheit der Menschen angesichts des erdrückenden Bewusstseins um die im doppelten Sinne Grundlosigkeit der eigenen Existenz und der damit zusammenhängenden existentiellen Unsicherheit zu sehr zunimmt, dann „entfaltet sich das Phantasma eines Einheits-Volkes, die Suche (…) nach einem Staat, der von jeglicher Teilung frei wäre“. Die Erkenntnis des symbolischen Charakters der Macht, der symbolischen Bedeutung der Institution der demokratischen Wahl und der gefährlichen Freiheit der Moderne war daher wesentlich für Leforts Verständnis der modernen Demokratie und ihres inneren Zusammenhangs zum Totalitarismus. Der Unterschied zwischen symbolischer und realer Macht, das hat die Enthauptung Ludwigs XVI. verdeutlicht, liegt darin, dass die reale Macht ihren Ort oder Besitzer wechseln mag, die symbolische Macht hingegen die in dem Sinne eigentliche Macht, die symbolische Dimension daher die der Macht wesentliche Dimension ist. Diese kann aber weder letztgültig repräsentiert, noch wirklich realisiert werden, weswegen sie eine „power of nobody“ ist.775 Die Bedingungen und Möglichkeiten der Freiheit in modernen Demokratien liegen genau in dem spannungsgeladenen Aufeinandertreffen des Realen und des Symbolischen, in dem durch den erfahrbaren Widerspruch zwischen Sollen und Sein, Anspruch und Wirklichkeit, Schein und Sein eröffneten Raum. Diese Erkenntnis und damit zusammenhängend die konstitutive und integrative Bedeutung unversöhnlicher Konflikte am Grunde alles Sozialen entwickelte Lefort nicht zuletzt aus seinen intensiven Lektüren und Studien des Werks Machiavellis. Diese mögen vielleicht mitunter den Eindruck ver773 Gauchet, Marcel: Tocqueville, Amerika und wir. S. 155f. 774 Arendt, Hannah: Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft. S. 675f. 775 Rosanvallon, Pierre: The test of the Political. S. 10.

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mitteln, als habe Lefort Machiavellis klare Ausdrucksweise bewusst verkomplizieren wollen,776 für die Demokratietheorie Leforts jedoch kommt ihnen ebenso eine zentrale Bedeutung zu, wie für das an Lefort anschließende radikaldemokratische Denken. III. 2. 7. Der Fürst und die Vor-Städte - Leforts Machiavelli-Lektüren Le Travail de l´ Œuvre Machiavel, die von Raymond Aron betreute Doktorarbeit Leforts und zugleich sein Opus Magnum, an dem er seit 1956 arbeitete und das er 1972 veröffentlichte, erschien zu einer Zeit, als sich die Humanwissenschaften auf dem Höhepunkt ihres Erfolges wähnten.777 Wieder einmal entpuppte sich Lefort als einer der ersten Kritiker einer dominanten Denkrichtung, indem er mit seiner Interpretation all die der Tradition der Geistes- und Sozialwissenschaften entsprungenen Lesarten des Werks Machiavellis zu überwinden versuchte. Lefort verfolgte in und mit diesem Werk einen Ansatz, der die Lektüre klassischer Texte als Zugang zu einer Analyse der eigenen Gegenwart verstand. Damit einher ging die Zurückweisung klassisch philosophischer Ansätze, welche den Gehalt und Inhalt eines Textes wie aus einem fest stehenden Gedanken- oder Lehrgebäude herausarbeiten, oder diesen wie einen Schatz aus einem versunkenen Schiff zu bergen und zu heben beanspruchen, um ihn dann eins zu eins in die Gegenwart zu transportieren und in dieser und auf diese zur Anwendung kommen lassen zu wollen. Leforts Überzeugung nach mussten philosophische Werke Unbestimmtheitsstellen aufweisen, welche zum Nachdenken anregten, ja zu diesem geradezu provozierten,778 weswegen sein Erkenntnisinteresse weder dem vermeintlich überzeitlichen Wahrheitsgehalt eines philosophischen Werkes, noch den historischen, sozialen oder politischen Kontexten seiner Entstehungszeit galt. Vielmehr sah er den Gehalt und Gewinn philosophischer Texte in der diachronen Lektüre und Transformation auf die und Interpretation in der eigenen Gegenwart, 776 Flynn, Bernard. The Philosophy of Claude Lefort. S. 7. 777 Lefort, Claude: Le Travail de l´Œuvre Machiavel. A.a.O. 778 Den Begriff der Unbestimmtheitsstellen verdanke ich Höntzsch, Frauke: Für eine politikwissenschaftliche Ideengeschichte. In: Reinalter, Helmut (Hrsg.). Neue Perspektiven der Ideengeschichte. Innsbruck 2015. S. 75 - 89. Dies.: Die Unbestimmtheit der Klassiker. In: Reese-Schäfer, Walter/ Salzborn, Samuel (Hrsg.). Die Stimme des Intellekts ist leise. KlassikerInnen des politischen Denkens abseits des Mainstreams. Baden-Baden 2015. S. 167 - 185.

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wobei die Interpretationen anderer Autorinnen im Laufe der Zeit zwischen Entstehung und Aktualisierung eines Werkes in die Befragungen und Analysen mit einbezogen werden müssen, da sie wesentlich dazu beitragen, ein Werk zu dem zu machen, was es gegenwärtig für den Interpreten und die Interpretin bedeutet.779 Wenn ein Werk „reaches us, we carry an image formed over time, very often conflicting that determines the object of our quest and the problems we have been concerned with from the very beginning“780. In Auseinandersetzung mit dem Werk lösten sich nach Lefort jedoch das oder die überlieferten Bilder auf, welche die ersten Lektüren bewusst oder unbewusst anleiteten und führten über eine Vervielfältigung der Fragen an das Werk zur Frage nach der jeweils eigenen Zeit.781 Mit der Arbeit an seinem Machiavelli-Buch vollzog sich ein „democratic turn“ in Leforts Schaffen, der seine Arbeiten in ein Früh- und ein Spätwerk teilt.782 Leforts Lektüre Machiavellis wurde stark von derjenigen Merleau-Pontys beeinflusst, der diesen gegen die herrschende Tradition nicht als zynischen Realisten, sondern als Denker der Kontingenz politischer Verhältnisse las. Demnach habe Machiavelli politisches Handeln als die permanente Hinterfragung und Rekonstruktion der fundamentalen Bestimmungen menschlichen Zusammenlebens verstanden.783 Wenn Lefort also den Anspruch auf die „Wiederherstellung der politischen Philosophie“ erhob, darf dies keinesfalls als eine platonische Suche nach einer harmonisch unter der Idee des Guten geeinten Gesellschaft missverstanden werden.784 Bernard Flynn weiß zu diesem Kontext eine erhellende Anekdote beizusteuern. So berichtet er von einem Spaziergang mit Lefort entlang des Hudson, im Zuge dessen dieser feststellte, dass „c´est difficile a trouver l´essence de la vie philosophique“. Auf Flynns irritierte Rückfrage nach dem Gebrauch eines solch essentialistischen Vokabulars entgegnete Lefort lachend, dass er „Essenz“ eben nicht im platonischen Sinne verstehe, sondern etwa so wie Benzin, das man in ein Auto fülle. Das oder

779 Lefort, Claude: Le Travail de l´Œuvre Machiavel. S. 56 - 59. 780 Bignotto, Newton: Lefort and Machiavelli. In: Plot, Martin (Hrsg.). Claude Lefort. Thinker of the Political. S. 34 - 50, hier S. 36. 781 Lefort, Claude: Le Travail de l´Œuvre Machiavel. S. 151. 782 Farhang, Erfani: Fixing Marx with Machiavelli. A.a.O. 783 Merleau-Ponty, Maurice: Notes sur Machiavel. In: Ders.: Signes. Paris 1960. S. 267 - 283. 784 Zu den Ähnlichkeiten und Abgrenzungen der Interpretation Leforts zu derjenigen Leo Strauß und der klassischen philosophischen Tradition siehe Manent, Pierre: Vers l´oeuvre et vers le monde. A.a.O.

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sein Problem mit der Philosophie sei jedenfalls, dass man nie wisse, ob überhaupt und wenn ja, welche Fortschritte man in ihr und mit ihr gemacht oder erreicht habe.785 So rückten nicht zuletzt eben auch als Folge seiner Machiavelli-Studien die prinzipiell unversöhnlichen Antagonismen als konstitutive Bedingungen von Gesellschaften sowie die Frage nach dem der Erhalt der Freiheit angemessenen Umgang mit diesen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Im Zentrum von Leforts Buch stehen seine Interpretationen der beiden zentralen Schriften Machiavellis, der Discorsi und des Principe. Lefort war sich mit Leo Strauß darin einig, dass beide einer unterschwellig belehrenden Absicht folgten. Diese Einschätzung teilte er auch mit Rousseau, laut dem Machiavelli mit dem Fürsten ja „das Buch der Republikaner“786 geschrieben habe. Dass Lefort aber keinerlei Bezug auf Rousseau nahm, überrascht vor allem deswegen, weil er an anderer Stelle zeigte, dass er sehr wohl um dessen Interpretation Machiavellis als „Lehrer der Völker“ wusste.787 Und nicht zuletzt zitierte Lefort Rousseau (ohne dies auszuweisen) dort, wo er Machiavelli unterstellte, den Principe nicht an Monarchen, sondern an „a public of young republicans“788 adressiert zu haben. Mit Verweis auf Leo Strauß war Lefort jedenfalls davon überzeugt, dass die Discorsi unter dem Deckmantel eines Lobliedes auf die Römische Republik und auf die Tugendhaftigkeit ihrer Bürger vor allem die klassische Philosophie attackieren sollten. Dies müsse daher als eine subversive Kritik an all jenen Konzepten eines good government verstanden werden, wie sie die klassischen Autoren oft formuliert hätten, „that is, the government that was the product of wise legislators and that maintained strict order and stability in the city.“789 Lefort vermutete in den Discorsi zudem das Gegenprogramm zur Interpretation des zu Zeiten Machiavellis amtierenden Führers der oligarchischen Partei, Bernardo Rucellai angelegt zu sehen, der behauptet hatte, dass Rom vor allem an den Aufständen des Pö-

785 Flynn, Bernard: Lefort as Phenomenologist of the Political. S. 31f. 786 OC III, S. 409. 787 Lefort, Claude: The Revolution as Principle and as Individual. In: Ders. Democracy and Political Theory. S. 135 - 185, hier S. 145. Französisch: La révolution comme principe et comme individu. In: Essais sur le politique. S. 162 - 177. 788 Rosanvallon, Pierre: The test of the Political. S. 8. 789 Lefort, Claude: Machiavelli: History, Politics, Discourse. In Carroll, David (Hrsg.). The States of “Theory”. History, Art and Critical Discourse. New York 1990. S. 113 - 124, hier S. 115. Um vom „wise legislator“ auf Rousseaus législateur zu schließen, braucht es dann wahrlich nicht viel Fantasie.

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bels zugrunde gegangen sei.790 Mit drei dominanten Diskursen hätte sich Machiavelli durch Veröffentlichung der Discorsi zudem angelegt: Einem realistischen, einem christlich-moralischen und einem humanistischen.791 Jeder der drei sei von der Notwendigkeit gesellschaftlicher Einheit sowie der Gefahr von Konflikt und Streit überzeugt gewesen. Zudem lehnten alle die Existenz von Parteien als gemeinwohlgefährdend ab, stellten diesen die Tugend der Institutionen gegenüber und diese wiederum in den Dienst einer Verteidigung des status quo. Vornehmlich hätten diese drei Diskurse dabei aber der Verschleierung einer oligarchischen Herrschaft und der Entrechtung eines großen Teiles der Bevölkerung gedient.792 Lefort schloss sich Machiavellis Überlegungen an und forderte, dass man den „Kampf der Menschen (…), dem wir das „gesamte historische Schaffen“793 verdanken, als Bedingung des Zustandekommens und zugleich auch des Fortbestandes von Gesellschaften akzeptieren muss. Dank Machiavelli verstand Lefort Konflikte nicht als einen zu überwindenden Störfaktor, sondern als Bedingung von Freiheit und Autonomie. Die Anerkennung von prinzipiell unversöhnlichen Konflikten, egal ob inner- oder außerinstitutionell, gehe also aller politischen Freiheit in politischen Gemeinwesen voraus und sei daher deren Ermöglichungsbedingung.794 So schrieb Machiavelli etwa in den Discorsi, (,…) dass diejenigen, die die Kämpfe (tumulti) zwischen Adel und Volk verdammen, auch die Ursachen verurteilen, die in erster Linie zur Erhaltung der Freiheit Roms führten, (und) dass alle zu Gunsten der Freiheit entstandenen Gesetze nur diesen Auseinandersetzungen (disunione) zu verdanken sind“795. Damit sei Machiavelli der Entwurf einer „nouvelle ontologie“796 gelungen, welche den Konflikt, die Unordnung, die geschichtlichen Zufälle und die gesellschaftlichen Veränderungen in den Mittelpunkt der Fragen nach Regierungsformen und Gesellschaftstypen gerückt habe. Dies erklärte Lefort mit den zeithistorischen Umständen, unter denen Machiavelli sein Werk verfasste, vor allem „the invention or the advent of the modern city. It is no coincidence that an 790 Ders. S. 118. 791 Gilbert, Felix: Machiavelli and Guicciardini: Politics and History in SixteenthCentury Florence. Princeton 1965. 792 Lefort, Claude: Machiavelli: History, Politics, Discourse. S. 119. 793 Ders.: Le Travail de l´ Œuvre Machiavel. S. 725. 794 Ders.: Machiavel et la verità effetuale. S. 144. S. 166f. S. 175. 795 Machiavelli, Niccolò: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Stuttgart 2007. S. 18. 796 Lefort, Claude. Le Travail de l´ Œuvre Machiavel. S. 425.

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important part of his work focuses on Machiavelli, because the writings of Machiavelli are indissociable from the problems related to the organization of the city of Florence, exactly like the work of Rousseau is indissociable from a reflection on Geneva or that of Spinoza from a consideration of Amsterdam”797. Die aus heutiger Sicht europäischen Vor-Städte der Neuzeit, Florenz, Amsterdam, Genf, waren für Lefort alle zu bestimmten Zeiten Weltmetropolen, sie verstand er daher in gewisser Weise als die Wiege der modernen Demokratie, deren Auswuchs Tocqueville in Amerika beobachtete, die für Lefort aber theoretisch bereits im Denken Machiavellis angelegt war. Die europäischen Städte waren ihm das Sinnbild für den Bruch mit den hierarchischen Feudalsystemen ihrer Zeit und daher Brutstätte des Dispositivs der modernen Demokratie. Dabei behauptete Lefort wohlgemerkt an keiner Stelle, dass Machiavelli ein Demokrat gewesen sei, noch dass in den erwähnten Städten jemals tatsächliche demokratische Gleichheit geherrscht habe. Vielmehr seien diese als Begegnungsstätten zu verstehen, in denen sich die traditionellen sozialen Hierarchien hart an den sich rapide verändernden gesellschaftlichen Realitäten stießen und dadurch an Wirk- und Integrationskraft einbüßten. So haben sich in diesen frühen Städten erste Anzeichen moderner gesellschaftlicher Teilungen bemerkbar gemacht, die heute unter dem Begriff des Pluralismus als unhinterfragte Kennzeichen moderner demokratischer Gesellschaften gelten. Lefort bezeichnete Machiavelli daher als den ersten Denker „sozialer Teilung“798. Er habe zudem als einer der ersten die Idee einer nationalen Volksidentität in Abkehr von den bis dahin absolut verbindlichen Identitätsvorschriften des Ständesystems formuliert. Zudem habe Machiavelli als erster die faktische Spaltung zwischen einer Elite und dem niederen Volk als nicht nur als die Bedingung der Entstehung von Gesellschaften identifiziert, sondern auch für deren Bestehen-Bleiben und habe daher nie danach getrachtet, diese Teilungen aufzuheben. Dabei war für Lefort das niedere Volk der erste Adressat des Principe. Im Unterschied zu Hobbes, der ja gemeinhin als Gründer des modernen individualistischen politischen Denkens gilt, war Machiavelli für ihn zudem der originär moderne Denker. Nicht nur weil er sich aller Deduktionen des Politischen aus einer angeblichen menschlichen Natur enthalten hat, sondern vor allem auch deswegen, weil politisches Handeln für ihn nur innerhalb

797 Rosanvallon, Pierre: The test of the Political. S. 5. 798 Ders. S. 6.

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einer gesellschaftlichen Ordnung möglich ist und somit auf keine vorpolitischen Grundlagen (etwa einen Naturzustand) zurückgeführt oder aus diesen abgeleitet werden kann.799 III. 2. 8. Unversöhnliche Leidenschaften als Bedingung der Gesellschaft Für Lefort war der als Fürstenspiegel getarnte Principe also nicht dem traditionellen Textgenre der politischen Ratgeberliteratur zuzurechnen. Weder habe Machiavelli die Beziehung des Fürsten zu seinen Untertanen, noch dessen Beziehung zu Natur oder Gott thematisiert,800 was zudem darauf hinweise, dass der Principe von der grundlegenden Überzeugung getragen wurde, das Politische als autonom gegenüber der Theologie zu verstehen.801 Aus dem sechstem Kapitel des Principe nahm Lefort heraus, dass der Fürst die mythischen Gründungsfiguren einer politischen Ordnung imitieren müsse, um seine Herrschaft zu legitimieren und zu stabilisieren und nennt als Beispiele Moses, Romulus und Remus.802 Im neunten Kapitel entfaltet Machiavelli seine Theorie vom unauflösbaren Konflikt zwischenjenen, die herrschen wollen und jenen, die nicht beherrscht werden wollen am Ursprung aller politischen Ordnungen. Das neunte Kapitel war daher wegen der dort diskutierten Aufteilung einer jeden Stadt in zwei antagonistische Klassen das für Leforts Demokratietheorie wichtigste. Beide Klassen existierten für Lefort nur aufgrund der Existenz ihrer widersprüchlichen Begierden und des daraus unlösbaren Konfliktes, ihre jeweilige Existenz hänge konstitutiv von ihrem Mangel aus der Perspektive der anderen Klasse ab. Auf der einen Seite stünden jene, die vom Wunsch nach Unterdrückung der Niederen beherrscht würden, auf der anderen Seite eben jene Niederen, gemeinhin „das Volk“, die nicht unterdrückt werden wollten. Noble und Niedere teilten sich dabei nicht notwendig in arm und reich auf, Lefort wollte keine marxistische Klassentheorie in den Principe hineinlesen. Ihm ging es darum, dass es in jeder Gesellschaft eine worauf auch immer beruhende Herrscherklasse und eine dieser gegenüberstehende Klasse von Unterdrückten gebe: „Il s´avère que le concept de

799 Lefort, Claude: Le Travail de l´Œuvre Machiavel. S. 380f. 800 Ders. S. 326. 801 Flynn, Bernard: Lefort as Phenomenologist of the Political. In: Constellations 1, 2012. S. 16 - 22, hier S. 17. 802 Lefort, Claude: Le travail de l´Œuvre Machiavel. S. 326ff.

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`peuple´ recouvre une opposition. Ou, pour le dire autrement, à l´intérieure du peuple, communauté apparente à laquelle l´État assigne son identité, de découvre la masse de sans pouvoir - `peuple´ au sens précis qui le soustrait à l´unité fictive que le langage lui impose (…) les Grands sont les Grands et (…) le peuple est le peuple“803. Die prinzipiell nicht aufzulösende Spannung zwischen deren beiden elementaren Begierden sei nun mit Machiavelli als die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft zu verstehen. Der Konflikt zwischen beiden Parteien, Gruppen oder Klassen ist dabei auf nichts weiter zurückzuführen, als auf zwei „appétits par principe également insatiables“804. Die Existenz und Identität beider Klassen hat also keinerlei positiven und keinerlei vorpolitischen Grund, keine der Klassen eine ihr eigene unabhängige Identität, beide definieren sich in Differenz zum und Abgrenzung vom Interesse der Gegenseite. Die Opposition zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen, zwischen Unterdrückern und denjenigen, die sich dieser Unterdrückung erwehrten, macht nun allein aber natürlich noch keine Gemeinschaft aus und schon gar keine politische. Auch verstanden weder Machiavelli, noch Lefort Zwietracht als an sich wertvoll oder wünschenswert. Selbstverständlich braucht jede Gesellschaft ein gewisses Maß an Einigkeit.805 Diese kann aber weder vorausgesetzt, noch als der Gesellschaft vorausgehend verstanden werden. Vielmehr kommt in diesem Zusammenhang der Macht (in Machiavellis Fall dem Fürsten) die wesentliche Bedeutung zu. Diese ist gegenüber dem Konflikt ein sekundäres Phänomen, insofern dieser ihre Existenz bedingt. Der Konflikt bedingt die Macht und diese die politische Gemeinschaft.806 Dabei erschien die Macht keinesfalls zwangsläufig auf der historischen Bühne, sondern war das historisch zufällige Ergebnis einer bestimmten faktischen Herrschaft von Menschen über Menschen.807 Wie genau schuf nun aber die Macht (der Fürst) aus den Konfliktparteien eine politische Gemeinschaft? Indem sie diesen Konflikt von einem Standpunkt jenseits der Konfliktparteien aus symbolisch versöhnte und so verhinderte, dass er in Bürgerkrieg und Anarchie auf Dauer gestellt oder aber in einer Despotie oder Tyrannei gewaltvoll gelöst und in seiner Existenz geleugnet würde. Durch ihre symbolische Position oberhalb der beiden Konfliktparteien bietet die Macht

803 804 805 806 807

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Ders. S. 382. Ebd. Ders.: Machiavelli and the verità effetuale. S. 130. Ders.: Le Travail de l´Œuvre Machiavel. S. 348f. Flynn, Bernard. The Philosophy of Claude Lefort. S. 10.

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einen symbolischen Fluchtpunkt an, der es diesen ermöglichte, sich als eine unter dieser Macht geeinte Gemeinschaft wahrzunehmen, wenngleich eine Gemeinschaft im Streit. Entsprechend könne und dürfe es keinen Gesetzgeber geben, der mittels weiser und gerechter Gesetzgebung diesen Konflikt befrieden würde, da er mit diesem zugleich die Gemeinschaft auflösen würde. Die Macht befriedet also den Konflikt zwischen Herrschen-Wollenden und Nicht-Beherrscht-Werden-Wollenden nicht wirklich, sondern symbolisch. Latent ist er jedoch immer vorhanden, potentiell droht er stets auszubrechen. Wenn nun alle Eingriffe in die gesellschaftliche Wirklichkeit immer das Resultat des Kampfes zwischen einer privilegierten Klasse und dem Volk sind,808 dann ist diese Gesellschaft notwendig prekär und permanent von ihrer Zerstörung bedroht. Da das Bild, das die Macht von sich abgibt und das Bild, welches sich die Gesellschaft von ihm macht, nie deckungsgleich sind und es gar nicht sein können, ist die symbolisch dargestellte Einheit also faktisch niemals voll zu erreichen. Der Fürst (die Macht) verkörpert und verdeckt zugleich die Teilung am Grunde des Sozialen, ohne sie jemals aufheben zu können.809 Anders als die neuzeitlichen Vertragstheorien behaupteten also weder Machiavelli noch Lefort, dass die Macht notwendigerweise aus einem Urkonflikt resultiert. Für beide war es zudem durchaus denkbar, dass der Konflikt auf Dauer gestellt würde und die beiden Konfliktparteien so in einem endlosen Bürgerkrieg zueinander verblieben. Die Errichtung der Macht ist ein historisch kontingenter Akt, der durch nichts vorausgesagt und durch nichts endgültig erklärt werden kann. In dem Moment aber, in dem sich ein Ort der Macht symbolisch von den Konfliktparteien abgesetzt instituiert oder ein solcher instituiert wird, bedeutet dies zugleich den Beginn der Existenz einer politischen Gemeinschaft. Durch die mise-en-scène, also die (Selbst-) Inszenierung einer Macht in Abgrenzung zu den zwei Klassen wird den Parteien die Ausbildung einer gemeinsamen, konfliktgeladenen, kollektiven Identität ermöglicht.810 Ohne die Macht als symbolischer Vermittlungsinstanz aber bliebe nur die direkte Unterdrückung der Niederen durch die Noblen. Daher fordere Machiavelli laut Lefort auch vom Fürsten, alle seine Handlungen in einem möglichst positiven Licht erscheinen zu lassen. Denn nur wenn er tugendhaft erscheint, könne sich die in ihm spiegelnde Gesellschaft eben808 Lefort, Claude: Notes sociologiques sur Machiavel et Marx. S. 117f. 809 Lefort, Claude: Le travail de l´Œuvre Machiavel. S. 433. 810 Ders. S. 433f.

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falls als tugendhaft verstehen.811 Dabei muss er nicht wirklich gut oder tugendhaft handeln oder gar sein, der Schein, also das Bild, das er von sich gibt, reiche aus. Machiavelli empfahl dem Fürsten bekanntermaßen, besser gefürchtet, als geliebt und keinesfalls gehasst zu werden. Für Lefort bezogen sich Liebe und Hass dabei auf die Person, die Furcht aber auf die Position des Fürsten, die diesen wiederum als von der Gesellschaft abgehoben erscheinen ließ. Würde er folglich geliebt oder gehasst, so sei er nicht mehr von der Gesellschaft, den Bürgern oder Untertanen zu unterscheiden und könnte daher seiner symbolischen Funktion über den Konfliktparteien nicht gerecht werden. Er wäre aus Sicht der Untertanen „einer von uns“, womit das für eine Gesellschaft konstitutive Bild eines imaginären Außen in sich zusammenfiele und die Gesellschaft in ihre unvermittelte Konflikthaftigkeit zurückzufallen würde und sich somit aufzulösen drohe. Der Fürst oder die Macht müssen sich also immer und notwendig symbolisch von der Gesellschaft und den Bürgern unterscheiden, er darf keiner „von ihnen“ sein, darf nicht als solcher wahrgenommen werden. Es kann und darf keine Identität von Herrschern und Beherrschten geben, weder symbolisch und schon gar nicht faktisch. Eine direkte Demokratie war also für Lefort wie für Machiavelli eine normative und faktische Unmöglichkeit. Ein guter Herrscher ist daher der, dem es gelinge, ein Bild von sich über der Gesellschaf stehend abzugeben, das Furcht einflößt.812 Da kein Machthaber sich je aus altruistischen Motiven heraus am Ort der Macht festsetzte, müssen der pure Machtinstinkt und Eigennutz als Movens verstanden werden, nach der Macht zu greifen und diese zu behalten. Dies war für Lefort jedoch nicht wirklich problematisch. Er unterschied (wie Machiavelli auch) stets genau den ursprünglichen Zweck der Errichtung von der faktischen Funktion einer Institution. Festzuhalten bleibt, dass die Existenz der Macht und damit der Gemeinschaft keine Folge des Eingriffs einer vernünftigen Autorität ist, sondern allein die Konsequenz des exzessiven Freiheitsanspruchs der Unterdrückten gegenüber einer Gruppe an Unterdrückern. Deren Sehnsucht nach Freiheit und damit pure Negativität und Verweigerung unterdrückt zu werden,813 sind der eigentliche Motor der Entstehung und des Fortbestandes von Gesellschaften, mit ihr steht und fällt die Freiheit in diesen. Diese Bedeutung lässt sich aber nicht aus dem ursprünglichen Zweck ihrer Einrich811 Ders. S. 414. 812 Ders. S. 424. 813 Ders.: Machiavelli and the verità effetuale. S. 112.

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tung gewinnen, zwischen diesen Dimensionen besteht kein notwendiger, sondern nur ein historisch kontingenter Zusammenhang. Auch Leforts Interpretation der Bedeutung Machiavellis großer historischer Figuren wie Moses, Theseus, Romulus und Remus passt sich dem ein. So habe Machiavelli diese in ihrer realen und ihrer symbolischen Funktion diskutiert. Moses Gründung einer Gemeinschaft kraft seiner virtu etwa sei nicht das Ergebnis des souveränen Willens eines Fürsten gewesen, sozusagen ein Schöpfungsakt ex nihilo. Vielmehr sei Moses, hier entpuppt sich Lefort als Weberianer, wie jeder erfolgreiche Gründer einer politischen Gemeinschaft vor und nach ihm, auf den Pfaden seiner Vorgänger gewandelt, in deren Fußstapfen getreten und habe deren virtu zitiert und imitiert. Indem er sich auf die mythische und symbolische virtu seiner Vorgänger berufen habe, habe er so aus deren Autorität die Legitimität für sein eigenes Handeln gewonnen und so wiederum seine eigene virtu gefestigt. Jeder Gründer einer neuen gesellschaftlichen politischen Ordnung müsse also, davon zeugten die großen Männer der Geschichte, erfolgreich darin sein, von den Herrschaftsunterworfenen mit den mythischen Gründern der vorhergehenden Ordnung identifiziert zu werden.814 In den Discorsi diskutiert Machiavelli das Politische im Zusammenhang mit der Legitimität von Konflikten.815 Daher verstand Lefort diese Schrift auch als in einem engen Zusammenhang mit dem Principe stehend, das vierte Kapitel der Discorsi las er parallel zum neunten des Principe. Wenn im Principe der gründende Konflikt zwischen Elite und Volk als für das Politische konstitutiv verstanden würde, so diskutiere Machiavelli in den Discorsi die verschiedenen Modi des Umgangs mit dieser Konflikthaftigkeit. Nimmt der Principe also eher die Ebene des Politischen in den Blick, haben die Discorsi die Politik zum Thema. Entsprechend der Tatsache, ob man den grundlegenden Konflikt als solchen anerkennt oder nicht, gebe es laut Machiavelli die Möglichkeiten, Gesellschaften als gut eingerichtet, korrumpiert oder zügellos zu klassifizieren.816 In einer gesunden Gesellschaft identifiziere sich die Macht mit keiner der beiden Klassen, verteidige aber eher die Niederen gegen den Unterdrückungswillen der Noblen. Dies aber ohne die Absicht, die beiden Klassen zusammenführen oder harmonisieren zu wollen, denn um als wirklich po-

814 Ders.: Le Travail de l´Œuvre Machiavel. S. 363. Nichts anderes erwartete Rousseau vom Gesetzgeber. 815 Flynn, Bernard: The Philosophy of Claude Lefort. S. 53. 816 Lefort, Claude: Le Travail de l´Œuvre Machiavel. S. 555f.

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litisch zu gelten, müsse jedes Handeln aus der Akzeptanz und Bewahrung der grundlegenden Spaltung der Klassen heraus geschehen.817 In einer korrumpierten Gesellschaft hingegen identifiziere sich die Macht mit einer der beiden Klassen, in einer zügellosen Gesellschaft prallten beider Interessen unvermittelt aufeinander, während die Macht zugleich die Harmonie und Einheit der Gesellschaft behaupte. Die Antwort auf die Frage, wie eine Gesellschaft mit dem Ur-Konflikt umgehen muss, wenn ihr etwa der liberale Weg der vertraglichen Befriedung verschlossen ist, liege für Machiavelli in der Republik. Diese verstehe er als ein freiheitliches Regime auf der Grundlage einer Herrschaft der Gesetze. Den Gesetzen, oder allgemeiner den Institutionen, kommt dabei die Funktion zu, den Konflikt zwischen Noblen und Volk zu regeln, ihn symbolisch auszutragen, nicht aber diesen zu lösen. Die Akzeptanz der Existenz sowie der Unauflösbarkeit des prinzipiellen Konfliktes ist nun eine recht anspruchsvolle normative Erwartungshaltung, die Lefort an die Bürgerinnen herantrug und die sich nur schlecht mit dem Machiavelli oft zugeschriebenen pessimistischen oder negativen Menschenbild verträgt. Genau diese Existenz eines wie auch immer gearteten Menschenbildes las Lefort nun jedoch nicht in Machiavelli hinein, er unterstellte diesem keine philosophische Anthropologie. Der Ur-Konflikt ist rein negativ und wechselseitig zu verstehen und hat folglich mit individuellen oder natürlichen Dispositionen weder der „Herrschen-Wollenden“, noch der „Nicht-Beherrscht-Werden-Wollenden“ zu tun. Im Gegenteil mache ja gerade die Abwesenheit einer positiv bestimmbaren Natur der Menschen überhaupt die Existenz einer Klasse möglich, eben in der negativen Abgrenzung zur anderen Klasse.818 Das bedeutet, dass sich Gesellschaften in der Erfahrung eines negativen Grundes, der Abwesenheit einer Anthropologie und des basalen Konflikts zwischen Willen zur Herrschaft und Abneigung gegenüber dieser Herrschaft integrieren. Machiavellis Verdienst sei es gewesen, in den Discorsi auf die Historizität moderner Gesellschaften aufmerksam gemacht und gezeigt zu haben, dass alle denselben Antagonismen und der Bedingung von Kontingenz ausgesetzt sind.819 Entsprechend interpretierte Lefort Machiavellis im Principe vorgenommene Beschreibung der fortuna als einer Frau, der man sich nie sicher sein kann, als einen Appell an den Mut zum Risiko, sich auf die Offenheit und Ungewissheit moderner Gesellschaften einzu817 Ders. S. 522. 818 Ders. S. 382. 819 Ders. S. 585.

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lassen, anstatt alle nötigen und möglichen Maßnahmen bis ins letzte Detail durchzukalkulieren oder zu behaupten, die richtige Lösung für ein gesellschaftliches Problem zu kennen.820 Die verschiedenen Arten des Umgangs der Gesellschaft mit der konstitutiven Spaltung an ihrem Grund übertrug Lefort auf die moderne Demokratie und den Totalitarismus. Dies erklärt, warum die bei Machiavelli entdeckte Teilung von Gesellschaften die axe central der späteren Werke Leforts und Bedingung der Freiheit in politischen Gemeinwesen war.821 III. 2. 9. Freiheit, die ich meine - ein Schattenbild? Wenn Leforts Überlegungen zum Umgang mit Konflikten dem Ziel des Erhalts der Freiheit verpflichtet waren, bleibt die Frage zu beantworten, was unter dieser Freiheit zu verstehen ist. Mit Machiavelli bedeutete sie Lefort zunächst nicht, dass jeder tun und lassen könne, was er wolle, sie meinte also nicht die kollektive Zügellosigkeit eines anarchischen Naturzustandes. Wahre, nämlich politische Freiheit ist vielmehr die Zustimmung zu einer Form des Zusammenlebens innerhalb gewisser Grenzen, innerhalb derer niemand die legitime Möglichkeit besitzt, willkürlich über die Belange seiner Mitmenschen zu entscheiden. Freiheit war für Lefort wie für Machiavelli damit die Negation und Verunmöglichung von Tyrannei und die Ablehnung jeder autoritären Instanz, die behauptet, das gemeinsame Gute zu kennen und durchsetzen zu können. In diesem Sinne ist Freiheit für Lefort die Zurückweisung traditioneller Philosophien, die behaupteten, die Normen gesellschaftlicher Organisation und das gute Leben verbindlich festlegen zu können.822 Machiavelli habe als erster die Chancen und Risiken eines immanent begründeten kollektiven menschlichen Schicksals thematisiert, sowie die Überlegenheit der vita activa über die vita contemplativa, vor allem die herausragende Bedeutung von Institutionen als Garant der Sicherheit der Bürgerinnen, ihrer rechtlichen Gleichheit, der Entwicklung ihrer Fähigkeiten, der kollektiven Ausübung öffentlicher Angelegenheiten und damit eben ihrer politischen Freiheit.823 Zugleich gestand Lefort aber auch die „Lügen“ hinter dieser republikanisch-

820 821 822 823

Ders.: Machiavelli and the verità effetuale. S. 125. Poltier, Hugues: La Pensée du Politique de Claude Lefort. S. 173. Lefort, Claude: Machiavelli and the verità effetuale. S. 133. Ders. S. 120.

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zivil-humanistischen Konzeption Machiavellis ein, die mit den von Tocqueville entdeckten Paradoxien der modernen Demokratie korrelieren. Einmal sei dies die Lüge über eine rein immanente Tugendkonzeption, welche einen dann aber doch an ein Gemeinwesen binde, in dem die christliche Religion alle Machtpositionen besetzt halte. Die zweite Lüge war die, wonach das Ideal der Überlegenheit der vita activa den Bruch zwischen dem Bourgeois und dem Citoyen wirklich überwunden habe. Und die dritte Lüge schließlich liege in der kollektiven Ausübung der öffentlichen Angelegenheiten. Diese Lügen verschleierten die de facto Herrschaft einer Oligarchie, die ihre eigenen partikularen Interessen erfolgreich für das allgemeine Interesse ausgebe.824 Wie aber verträgt sich dann diese Lüge mit dem Anspruch des Erhalts der Freiheit? Ist diese doch nur ein Schein, ein Schattenbild? Und welche Konsequenzen zog Lefort daraus für sein Verständnis der modernen Demokratie? Dies erschließt sich, wenn man seine Interpretation Machiavellis als früher Ideologiekritiker berücksichtigt. Machiavellis Selbstverortung innerhalb eines bürgerhumanistischen Diskurs unter einer oligarchischen Regierungsform sei insofern als eine frühe Form der Ideologiekritik zu verstehen, als diese die Deckungsgleichheit des humanistischen Tugendkonzepts mit der christlichen Moral und so die damit einhergehende Verunmöglichung jeder Kritik an bestehenden Verhältnissen aufgedeckt habe. Dadurch habe Machiavelli entlarvt, dass das Loblied auf die vita activa die faktischen Unterschiede zwischen bourgeois und citoyen verbergen sollte, welche erst das zur Verteidigung der Stadt etablierte Söldnerwesen wirklich sichtbar gemacht habe. Zudem habe Machiavelli gezeigt, dass die Herrschenden ihre Privatinteressen dadurch verbergen, indem sie sich als weise Beschützer der Freiheit inszenieren.825 Somit habe Machiavelli darauf insistiert, dass wer eine politische Ordnung reformieren wolle, sich nicht der Illusion der Harmonie und Mäßigung hingeben und vor allem nicht seinen Feinden vertrauen dürfe. So habe er sich daher in dem Moment von den klassischen Philosophen abgewandt, als er erkannt habe, dass der Bürgerhumanismus deren Lehren zur Legitimation einer oligarchischen Herrschaft genutzt habe. Die Bürgerhumanisten hätten laut Machiavelli die Römische Republik fälschlich als eine harmonisch geeinte

824 Ebd. 825 Eine Parallele zu Rousseaus Betrugsvertrag, wie er ja auch im marxistischen Diskurs rezipiert wird, lässt sich hier ohne Schwierigkeiten ziehen. Bei Lefort jedoch wie immer kein Wort zu Rousseau.

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Gemeinschaft präsentiert und deren faktische soziale Teilungen geleugnet. Zugleich hätten sie einer Regierungsform das Wort geredet, welche große Teile der Bevölkerung von der Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten ausschloss.826 Machiavelli habe damit diejenigen angesprochen, die von der Macht geblendet gewesen seien und nicht erkannt hätten, dass jede Manifestation von Macht eine menschliche Schöpfung und das Ergebnis sozialer Kämpfe ist.827 Wenn die Republik dasjenige Regime war, in welchem die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz anerkannt wurde, dann müsse diese Gleichheit wohlgemerkt als eine prinzipielle, nicht als eine faktische Gleichheit verstanden werden. Auf der Grundlage der prinzipiellen Gleichheit vor dem Gesetz werden daher alle positiven Gesetze Gegenstand von Konflikten, da sie sich nicht mit der prinzipiellen Gleichheit decken. Machiavelli sei es also darum gegangen, die Verbindung von Freiheit und Recht freizulegen und aufzuzeigen, dass in einer Republik die Uneinigkeit über die Gesetze das gesellschaftliche Leben nicht zerstört, sondern dieses im Gegenteil erst ermöglicht.828 Freiheit entsteht und existiert dann im Widerspruch zwischen Prinzip und Faktizität, zwischen Schein und Sein, Anspruch und Wirklichkeit. Dies war ein ganz zentraler Punkt der Argumentation Leforts, an dem viele seiner Überlegungen zusammenliefen. Die oben erwähnte „Lüge“ bezeichnet den notwendigen Bruch zwischen einer symbolischen Behauptung der Einheit auf der Ebene der Macht und der realen Erfahrung der Unwahrheit dieser Behauptung, also der faktischen gesellschaftlichen Teilungen: „The Republic and its free institutions live only in the gap between the two desires“. Selbst die beste Republik hält dabei keine wirklich Lösung für dieses Problem bereit, „it distinguishes itself, rather, by its tacit abandonment of the idea of a solution, by the welcome it extends to division and, under the effect of the latter, to change”.829 Aber indem die Republik es den Bürgerinnen ermöglicht, die positiven Gesetze auf ihre Deckungsgleichheit mit ihren Prinzipien hin zu überprüfen und für ihre Nicht-Kongruenz zu kritisieren, zu reformieren und deren Erfüllung einzufordern, ermöglicht sie ihren Bürgern den Widerspruch und damit politische Aktivität, bürgerschaftliches Handeln, die Beteiligung an der Gesetzgebung und somit letztlich die Verwirklichung ihrer Freiheit.

826 827 828 829

Ders.: Machiavelli: History, Politics, Discourse. S. 122. Howard, Dick: The Marxian Legacy. S. 209. Lefort, Claude: Machiavelli and the verità effetuale. S. 132. Ders. S. 136.

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III. Leforts politische Theorie der radikalen Demokratie

Die so gewonnen Erkenntnis übertrug Lefort auf seine Lektüre und Analyse der Menschenrechte, die erneut einen dritten Weg zwischen liberaler und marxistischer Tradition einschlug und deren politischen Gehalt herauszuarbeiten beanspruchte. III. 2. 10. Menschenrechte - politisch, nicht liberal Die Institution der Menschenrechte entsprang laut Lefort dem Wunsch der Beherrschten und Unterdrückten nach Freiheit, wie er ihn bereits in Machiavellis Schriften thematisiert fand. Leforts Perspektive verdeutlicht seine originäre Position zwischen allen wissenschaftlichen und politischen Stühlen, folgte seine Interpretation doch weder dem Argumentationsmuster des Marxismus, noch den liberalen Ansätzen, wie sie den Rechtsstaat als institutionellen und sanktionsbewehrten Garanten individueller Rechte legitimierten. Demgegenüber hob Lefort deren generativen Charakter hervor: Die symbolische Trennung einer Sphäre der Gesellschaft vom Ort der Macht, welche sie nicht nur ermöglichten, sondern auch auf Dauer stellten.830 Bereits die erste Deklaration der Menschenrechte habe die Forderung nach ihrer permanenten Reformulierung in sich getragen und somit zum Fortbestand und der eigentlichen Wirksamkeit der Menschenrechte erst beigetragen.831 Durch seine Machiavelli-Interpretation gelangte Lefort ja zudem zu der Erkenntnis, dass man den Zweck der Einrichtung einer Institution von ihrer Funktion und ihren Wirkungen unterscheiden müsse. In bewusster Abgrenzung zu traditionellen Lesarten entwickelte er also eine Perspektive, welche die explizit politischen Bedeutung und Funktion der Menschenrechte hervorhob und einen weiteren wichtigen Baustein zu seiner Demokratietheorie darstellte. In einer diachronen Diskussion vor allem mit Benjamin Constant und François Guizot präzisierte Lefort sein Verständnis der Menschenrechte in Abgrenzung zu liberalen Interpretationen. Guizot komme zwar mehr Bedeutung für die Ausgestaltung des politischen Liberalismus zu, als Constant, beide jedoch seien herausragend für die Souveränität des Rechts und in der Folge für den Rechtsstaat eingetreten. Guizot habe darüber hinaus für eine Regierung plädiert, die einerseits aus einer bourgeoisen Elite hervorgehen, zugleich diese aber in eine wirk-

830 Lefort, Claude: Human Rights and the Welfare State. S. 23. 831 Habib, Claude/ Mouchard, Claude/ Pachet, Pierre: Présentation. S. 11.

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III. 2. Die radikaldemokratische Phase

liche Aristokratie transformieren sollte, so dass deren Mitglieder nicht mehr nach Herkunft und Abstammung, sondern nach Verdienst und Funktionen ausgewählt würden. Dieses Verständnis von Liberalismus habe auf einem Staatsverständnis aufgebaut, in welchem das moderne liberale Denken bereits in Tendenzen angelegt gewesen sei. Constant habe hingegen übersehen, dass die Entstehung des modernen Staates aus den Überresten der in der demokratischen Revolution zerstörten alten Hierarchien Hand in Hand mit der Geburt der Idee moderner Individuen als zugleich Freie und Gleiche gegangen sei.832 Guizot wiederum habe nicht erkannt, dass die liberalen Schutzwälle, welche er in Form eines beschränkten Zugangs zur Ausübung ungleich verteilter politischer Rechte um die herrschende Schicht herum errichtete, dem Widerstand der Ausgeschlossenen nicht standhalten würden. Guizot und Constant hätten daher ähnlich Aristoteles und Montesquieu die Demokratie als bloße Regierungsform missverstanden, in welcher das Prinzip der Volkssouveränität eben nur formell verankert sei und in der eine Regierung lediglich vordergründig „im Namen des Volkes“ agiere. Keinem von beiden sei aber bewusst gewesen, dass die moderne Demokratie ein „unvorhersehbares historisches Abenteuer“ ist, welches sich nicht durch eine vernünftige Regierungspolitik steuern oder gar bewältigen ließe.833 Wieder einmal war es daher Tocqueville, der für Lefort als erster das wirklich Neue der Demokratie herausgearbeitet hatte. Im Bewusstsein darum, dass die traditionellen Begriffe des Despotismus und der Tyrannei den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen nicht mehr angemessen Rechnung trugen, habe er als erster für die der modernen Demokratie inhärente Gefahr sensibilisiert, „Freiheiten hinter einer Fassade der Freiheit zu verlieren“.834 Die große Gefahr in modernen Demokratien ging für Lefort also im Anschluss an Tocqueville nicht mehr hauptsächlich von einem despotischen Herrscher oder Tyrannen aus, sondern von den inneren Bedingungen der Demokratie selbst: der égalité des conditions. Dem Individuum würde zwar rhetorisch und symbolisch vermittelt, eine autonome und individuelle Rechtsträgerin zu sein, de facto sei es aber nach wie vor abhängig von Ideen, Prinzipien und Traditionen, die sich seinem persönlichen Einfluss und Zugriff entzögen. Dies könne leicht zur Folge haben, dass es sich einem inneren Konformitätsdruck und damit

832 Lefort, Claude: Human Rights and the Welfare State. S. 24. Siehe auch Balibar, Étienne: Gleichfreiheit. A.a.O. 833 Ebd. 834 Ders. S. 25.

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III. Leforts politische Theorie der radikalen Demokratie

der anonymen Herrschaft der Mehrheitsgesellschaft unterwerfe und somit Opfer der Tyrannei der Mehrheit wird: „Every man allows himself to be put in leading-strings, because he sees that it is not a person or a class of persons, but the people at large who hold the end of his chain“835. Zwar könne man den Staat und seine Institutionen durchaus als Schutzmacht gegen die Tyrannei der Mehrheit verstehen, nicht jedoch in der Art und Weise, wie liberale Ansätze dies leisten. Die besondere Funktion der liberalen Institutionen lag für Lefort darin, den Ort der Macht symbolisch freizuhalten. Die liberale Interpretation der Menschenrechte, nach welcher die westlichen demokratischen Gesellschaften das Ergebnis der Existenz eines liberalen Rechtstaates seien, lehnte er jedoch ab. Besonders die daraus oft abgeleitete Schlussfolgerung einer Identität von Rechtsstaat und Wohlfahrtstaat verwarf er, weil die Funktion des Staates damit auf die Rolle der Wohlstandssicherung eingedampft wurde, was Lefort zu unterkomplex und zu wenig emanzipatorisch war. Das liberale Verständnis der Menschenrechte als Legitimation eines „enabling state“, welcher den Individuen freien Zugang zu den Märkten ermöglichen und deren private Freiheitsräume schützen sollte, wies er als ungenügend zurück, die Natur des politischen Systems der liberalen Demokratie könne nicht auf das Management von hypothetischen Bedürfnissen reduziert werden.836 Die Beschränkung der Menschenrechte auf ein Verständnis von negativen institutionell abgesicherten Individualrechten, welche das Individuum gegen den Staat, die Gemeinschaft oder den Nächsten verteidigen, ließen einen scließlich auch nicht die Differenz zwischen Totalitarismus und Demokratie erkennen.837 III. 2. 11. Menschenrechte - politisch, nicht marxistisch Leforts Zweifel am Erbe des liberalen Rechtsstaats legen es nahe, dass zumindest in diesem Punkt sein marxistisches Herz stärker schlug, als sein liberales. Dies scheint sich zu bestätigen, wo er den Staat als faktisch sehr wohl dem Schutz der herrschenden Interessen und Interessen der Herr-

835 Ders.: Human Rights and the Welfare State S. 25. Auffällig, wenngleich nicht verwunderlich, ist, dass Lefort hier das Bild der Ketten benutzt, wie es Rousseau im ersten Kapitel des Gesellschaftsvertrags ebenfalls verwendet. 836 Ders.: S. 23. 837 Ders.: Menschenrechte und Politik. S. 246.

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III. 2. Die radikaldemokratische Phase

schenden zuträglich versteht. Die liberale Tradition, so Lefort, habe den Armen die in den großen Menschenrechtserklärungen propagierten Rechte de facto nie zugestanden, sobald es ihren eigenen Interessen widersprochen habe und die vermeintlich Liberalen ihre Macht bedroht gesehen haben. Marx habe daher Recht damit gehabt, die verborgenen Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen hinter den propagierten Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu denunzieren. Zwar sei seine Kritik der Menschenrechte größtenteils geschichtlich überholt, doch seien trotz einiger analytischer Schwächen nicht alle Kritikpunkte falsch und nicht alle Kritik an Marx damit berechtigt. So habe dieser völlig richtig das in der amerikanischen Verfassung und der Menschenrechtserklärung von 1791 und 1793 verankerte Eigentumsrecht als Grundlage und Stütze aller anderen Rechte erkannt. Auch enthülle eine genaue Lektüre durchaus, dass die Konzeption der Menschenrechte als negative individuelle Freiheitsrechte die Funktion und reale Folge der Aufteilung der politischen Gemeinschaft in voneinander isolierte Monaden habe, wie dies ja ähnlich bei Tocqueville anklinge. So schrieb Marx in Zur Judenfrage, dass die „sogenannten Menschenrechte (…) nichts anderes (…) als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und Gemeinwesen getrennten Menschen (sind)“838. Lefort betonte nun aber, dass sie trotz all dieser mehr als berechtigten Kritik ab dem Moment ihrer Ausrufung und Niederschrift de facto einen nachweisbaren emanzipatorischen Fortschritt gebracht haben, der ohne sie nicht möglich gewesen wäre. Denn erst ab dem Moment, da den Menschen überhaupt Bewegungsfreiheit und im Unterschied zum Ancien Régime eine Vielfalt von sozialen Beziehungen juristisch ermöglicht worden sei, haben sie diese Rechte faktisch nutzen und in wirkliche gesellschaftliche Beziehungen zueinander eintreten können. Selbst wenn die Institution der Menschenrechte also sowohl von ihrem ursprünglichen Zweck her höchst defizitär, als auch von ihrer Funktion als Dienerin der Interessen der Herrschenden her zu kritisieren war, brachte sie dennoch einen deutlich spürbaren Zugewinn gegenüber der Zeit vor ihrer Ausrufung. Das Recht auf Meinungsfreiheit etwa bedeutete ja nicht nur, dass die Meinung als ein rein privates Gut anzusehen war, welches die Menschen voneinander isolieren sollte. Darüber hinaus ermöglichte und gewährleistete es auch die Freiheit menschlicher Beziehungen zueinander und eröff-

838 Marx, Karl: Zur Judenfrage. S. 363f.

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III. Leforts politische Theorie der radikalen Demokratie

nete dadurch einen unkontrollierbaren öffentlichen Raum, in dem die Menschen in eine kommunikative Beziehung zueinander treten.839 Entscheidend ist hierbei erneut das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Symbolischem und Realem. Wo die Menschenrechte symbolisch die Gleichheit aller behaupteten, stieß sich dies hart an den Tatsachen und den Erfahrungen im neuen öffentlich-politischen Raum. Genau darauf wies der Marxismus ja auch immer hin, der entscheidende Punkt war für Lefort jedoch ein anderer. Marx habe nicht erkannt, dass die Menschenrechte seit ihrer Niederschrift und Deklaration die Trennung der Sphäre des Rechts von der Sphäre der Macht aufrecht erhalten, dass ihnen seither übergesetzliche und universelle Autorität zugeschrieben werde und sie sich so erfolgreich dem Zugriff der jeweiligen Machthaber entzögen.840 Er sei blind für die aus der symbolischen Bedeutung resultierenden faktischen Wirkungen gewesen und damit in die von ihm selbst als solche kritisierte Ideologiefalle getappt.841 Dadurch nämlich, dass die Menschenrechte einmal in der Welt waren, sie einmal ausgerufen wurden und sich seitdem auf sie berufen wird, hat die herrschende Klasse die Kontrolle über sie verloren und keinen vollen Zugriff mehr. So ermöglicht erst die symbolische Behauptung der Freiheit den Hinweis auf die faktischen Unfreiheiten und Ungleichheiten und im Anschluss daran die Forderung nach der Ausweitung der prinzipiellen Gleichheit. Bei allen kritikwürdigen Gründen und Funktionen der Menschenrechte, hatten und haben diese also doch seit ihrer Ausrufung nicht zu leugnende Auswirkungen auf die Ausweitung der Rechts- und Freiheitsräume in demokratischen Gesellschaften. Das Recht auf Meinungsfreiheit zum Beispiel ermöglichte eine „Zirkulation von Gedanken und Meinungen, von Wort und Schrift (…), die der Macht prinzipiell entgeht“842 und zwar nicht nur rein formell. Damit manifestierte das Recht auf Meinungsfreiheit aber nicht einfach die Spaltung zwischen bourgeois und citoyen, zwischen Privateigentum und Politik, sondern bestätigte vielmehr die seit der demokratischen Revolution existierende symbolische „Kluft zwischen Macht (Recht) und Wissen“843 und die Autonomie der einzelnen gesellschaftlichen Sphären. Die politische Dimension der Menschenrechte liegt also in dem durch die Menschenrechtserklärun-

839 840 841 842 843

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Lefort, Claude: Human Rights and the Welfare State. S. 33. Ders.: Menschenrechte und Politik. S. 256. Ders. S. 250. Ders. S. 253. Ders. S. 253.

III. 2. Die radikaldemokratische Phase

gen geschaffenen Raum zwischen symbolischer und realer Dimension als dem Raum der Freiheit, da nur in diesem und durch diesen freiheitliches politisches Handeln möglich ist. Wo Ausgeschlossene den ihnen symbolisch zugesicherten Einschluss in die Rechtegemeinschaft fordern, wird Freiheit gelebt und die politische Einheit im Konflikt mittels der Kämpfe um die „richtige“ Auslegung der Menschenrechte am Leben erhalten. III. 2. 12. Ausweitung der Kampfzone Die Menschenrechte sind also gegen die liberale Behauptung als generische Prinzipien der Demokratie zu verstehen, die als Ergebnis von sozialen Kämpfen in die Welt kamen und nur dank permanenter Kämpfe um ihre Ausweitung weiter existieren.844 Die von Marx behauptete Isolation der Individuen voneinander sei zudem nicht das Ergebnis der Rechte auf Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, den Schutz des Eigentums und Sicherheit, sondern Resultat der Verweigerung dieser Rechte.845 Die Menschenrechte dienen den Gesellschaften, in denen sie Geltung haben und anerkannt werden, seit ihrer Ausrufung zu deren permanenter Selbstinstituierung und ihrem Selbsterhalt in Abgrenzung zu den jeweiligen Inhabern der Macht. Sie setzen innerhalb einer partikularen Gesellschaft einen universellen Bezugsrahmen, durch den positives Recht und Gesetze in Frage gestellt werden und mehr und mehr soziale Gruppen ihnen verweigerte Rechte für sich einklagen und so ihren Einschluss in die „Kategorie Mensch“ einfordern können.846 Hierin sah Lefort deren politische Funktion, wer Menschenrechte fordere oder sich auf diese berufe, handle damit immer politisch. In totalitären Gesellschaften etwa, in welchen die Menschenrechte weder symbolisch noch faktisch existierten, bedeutete der Einsatz für Menschenrechte daher automatisch immer auch den fundamentalen Kampf gegen den Totalitarismus in seiner Gesamtheit.847 Selbst die überzeugtesten Marxisten, so Lefort, hätten spätestens mit Solschenizyns „Archipel Gulag“ erkennen oder eingestehen müssen, dass die Menschenrechte nicht länger nur als das Werkzeug der herrschen-

844 Ders. S. 264. 845 Ders. S. 247. 846 Marchart, Oliver: Die Politische Theorie des zivilgesellschaftlichen Republikanismus. S. 238. 847 Lefort, Claude: Menschenrechte und Politik. S. 242.

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III. Leforts politische Theorie der radikalen Demokratie

den Klasse verstanden werden können, sondern dass „in ihrem Namen ein realer Kampf gegen die Unterdrückung geführt wird“848. Da die meisten Marxisten und Trotzkisten die Funktion der Menschenrechte aber als Überbauphänomen diskreditierten und marginalisierten, kamen sie in ihren Analyse des sowjetischen Herrschaftssystems nie weiter als bis zur Entdeckung und Kritik an einer „bedauernswerten Willkür der bürokratischen Mächte“849, was Lefort schon im Rahmen seiner Analyse der vermeintlichen „Entstalinisierung“ auf dem XX. Parteitag der KPdSU als Heuchelei entlarvte. Dagegen rückte er die aktive Verteidigung der Menschenrechte qua permanenter Einforderung neuer Rechte durch von ihrem Genuss ausgeschlossene Minderheiten in den Mittelpunkt seiner Charakterisierung der modernen Demokratie. Man kann Lefort nicht zuletzt auch deswegen als den Vordenker der modernen Radikaldemokraten im oben bezeichneten Sinn verstehen, befürwortete er doch die Radikalisierung und Demokratisierung der liberalen Institutionen und Traditionen, ohne diese abschaffen zu wollen. Das Recht, die liberale Institution schlechthin, verstand er als „Kampfplatz der Klassen“850. Es schaffe eine als legitim anerkannte politische Bühne, auf welcher der permanente Kampf zwischen bereits bestehenden Rechten und den Forderungen nach neuen Rechten symbolisch ausgetragen werden kann.851 So gab es seit der demokratischen Revolution kein Recht und kein Gesetz, das nicht prinzipiell angreifbar war.852 Somit ist jedes Recht zugleich Produkt, Gegenstand und Rahmen politisch-gesellschaftlicher Konflikte und damit eine Zentralkategorie des Politischen und Bedingung der Freiheit in modernen Demokratien. Wenn Minderheiten neue Rechte einfordern, tun sie dies in einem Rechtsbewusstsein, das sich auf „öffentlich anerkannte Prinzipien“ berufen kann. Diese Prinzipien finden in Form von Gesetzen ihren konkreten Niederschlag und können jedes Mal mobilisiert werden, wenn man die legalen Schranken, auf die sie stoßen, zerstören will.853 Darin liege die „political significance of human rights“854. Was sie somit schließlich ermöglichen, ist die Ausbildung einer politischen Identität, individuell wie kollek-

848 849 850 851 852 853 854

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Ders. S. 241. Ders. S. 243. Abensour, Miguel: Demokratie gegen den Staat. S. 236. Ders. S. 239. Lefort, Claude: The Political Forms of Modern Society. S. 303. Ders.: Menschenrechte und Politik. S. 266. Ders.: Human Rights and the Welfare State. S. 30.

III. 2. Die radikaldemokratische Phase

tiv, in Differenz zu und im Konflikt mit politischen Gegnern. Denn durch die Einforderung der in den Menschenrechtserklärungen niedergeschriebenen Prinzipien entstehe eine dynamische, prinzipiell anarchistische oder zumindest anti-autoritäre öffentliche Sphäre, in der sich Individuen als Gleiche und Freie begegnen und so in Beziehung und Differenz zueinander ihre kollektiven, individuellen und politischen Identitäten formen und verändern können. Zu diesen im Menschenrechtsdiskurs wirksamen und für die Demokratie relevanten Prinzipien zählte Lefort Souveränität, Nation, Autorität, Gemeinwillen und das Recht, alle hätten sie gemein, sich einer letzten Aneignung prinzipiell zu entziehen.855 So würde Souveränität etwa einmal mit der Nation, ein anderes Mal mit dem Volk assoziiert, weder die Nation, noch das Volk aber können seit der demokratischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte von irgendjemandem legitim letztgültig definiert oder verkörpert werden. Der Gemeinwille zum Beispiel drücke sich laut der Erklärung der Menschenrechte im Recht aus, das Recht aber komme nur durch die Teilhabe der Bürgerinnen zustande und ist somit wiederum Folge des Prinzips der Volkssouveränität und damit wiederum das Objekt von Konflikten und Deutungskämpfen.856 Mit dem Zeitpunkt der Erklärung der Menschenrechte wurden also „Existenz-, Handlungs- und Kommunikationsweisen anerkannt, deren Auswirkungen unbestimmt sind und die sich aus demselben Grund dem Zugriff (…) entziehen“857. Für die Legitimität der Erklärung der Menschenrechte war dabei kein Bezug auf eine Natur des Menschen als Träger schützenswerter Rechte nötig. Sie war vielmehr von der „Idee politischer Freiheit“ getragen und ihre eigentliche Bedeutung muss in ihren realen Effekten gesehen werden. Der Mensch der Menschenrechte ist also ein Mensch ohne Eigenschaften, weil unbestimmbar, die Menschenrechte inhaltlich nicht eindeutig festzulegen und daher immer über jede einmal konkret festgesetzte Formulierung hinausweisend. Jede konkrete Formulierung zieht neue Forderungen, Interpretationen und Umdeutungen nach sich und sobald sie einmal als letzter Bezugsrahmen gesetzt waren, sah sich das positive Recht von ihnen permanent und radikal herausgefordert. Mit dem Recht wird dann schließlich immer auch die etablierte Ordnung der Gesellschaft zum Gegenstand ständiger Hinterfragung einer rechtmäßigen Oppositi-

855 Ebd. 856 Ders. S. 31. 857 Ders.: Menschenrechte und Politik. S. 260.

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III. Leforts politische Theorie der radikalen Demokratie

on.858 Das Besondere an der Demokratie ist also nicht die formelle Anerkennung einer Opposition, sondern deren permanentes Überschreiten von Grenzen und beständiges Einfordern und Ausprobieren neuer Rechte: „Der demokratische Staat erprobt Rechte, die ihm noch nicht inkorporiert sind; er ist die Bühne eines Protestes, der nicht nur auf die Erhaltung einer stillschweigenden Übereinkunft zielt, sondern von Handlungszentren ausgeht, die die Macht nicht vollkommen zu beherrschen vermag“859. Diese Erkenntnis war für Lefort insofern wichtig, als sich für ihn erst so der Totalitarismus vollständig begreifen ließ, nämlich als die Negation eben genau jenes Prinzips. Das Ziel aller modernen Politik kann daher nicht mehr der rationale Konsens aller von politischen Entscheidungen Betroffenen sein, wie es im liberalen Paradigma formuliert wird, und auch nicht mehr die Übernahme der Macht durch die Revolution und die Auflösung des Staates, wie im marxistischen Paradigma. Auch der als Ursprung und Bedingung der Freiheit in politischen Gemeinwesen identifizierte Wunsch der Unterdrückten nach Freiheit reicht nicht dafür aus, diese zu sichern. Es braucht, so lassen sich die vorangehenden Überlegungen zusammenfassen, das Bewusstsein um die Kontingenz und Offenheit am Grunde alles Politischen, darüber hinaus eine grundlegende positive Einstellung gegenüber dieser Offenheit, also eine gewisse Kontingenztoleranz und daran anschließend die Entwicklung einer Kontingenzaffinität. Erst so wird ein lebendiger politischer Wille danach, nicht unterdrückt zu werden, ermöglicht und kann sich Ausdruck verschaffen. Daran kann sich Widerstand gegen Unterdrückung und Ungleichheit anschließen, das nötige wache politische Bewusstsein, keinen Ideologien aufzuliegen, ist also eine Grundbedingung des Erhalts der Freiheit in modernen demokratischen Gesellschaften. Es bedeutet sicher eine gewisse „Mühe zu leben“, wenn man akzeptieren muss, dass sich eine Gesellschaft „auf der Suche nach ihrer Einheit strukturiert“ und so eine „gemeinsame Identität im Latenzzustand bezeugt“860 und bei dieser Suche niemals an ein Ende gelangen wird. Der Illusion einer fixen Identität kann und darf sich daher niemals hingegeben werden, jede Gesellschaft muss im Streit um die Interpretation der Menschenrechte permanent an der neu- und Weiterentwicklung ihrer kollektiven Identität arbeiten und so die Schließung diskursiver Räume vermeiden, will sie nicht ihre kollektiven wie individuellen Freiheiten verlieren. 858 Ders. S. 262. 859 Ders. S. 263. 860 Ders. S. 278.

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III. 3. Leforts Theorie des Politischen, der Demokratie und des Totalitarismus

Die bloße Existenz von wie auch immer gestalteten Institutionen reicht dafür nicht aus, diese leben nur durch das Engagement der Bürgerinnen, sie permanent zu kritisieren, zu demokratisieren und zu radikalisieren. Daher gelte es, „zäh und unerbittlich sowohl der Illusion einer Macht zu widerstehen, die tatsächlich mit der Position übereinstimmt, die ihr vorgezeichnet ist und die sie zu besetzen versucht, als auch der Illusion einer Einheit, die sinnlich erfahrbar und wirklich werden und alle Differenzen in sich auflösen würde“861. Ist das Recht also der Kampfplatz der Klassen, so ist die Demokratie die permanente Ausweitung der Kampfzone. III. 3. Leforts Theorie des Politischen, der Demokratie und des Totalitarismus III. 3. 1. Eine politische Theorie sui generis? Ähnlich dem Fall Rousseaus, spalten sich auch die Rezipientinnen Leforts in mitunter schwer zu vereinbarende Interpretationsstränge. Manche sehen Leforts Ansatz eine universalistische Konzeption zugrunde liegen, welche letztlich auf eine normative Befürwortung bestehender liberaler Demokratien zielt,862 andere wiederum versuchen ihn aus der Vereinnahmung durch die politischen Ontologien der modernen radikalen Demokratietheorien zu befreien und zu zeigen, dass sein Werk eher einem historischen Realismus zuzurechnen ist.863 Gegen den Vorwurf, Lefort sei gegen Ende seines Schaffens zu einem überzeugten Apologeten der existierenden westlichen Regierungssysteme mutiert, muss jedoch deutlich gesagt werden, dass er um deren Schwächen wusste und mit Kritik an diesen nie sparte. So bezeichnete er die liberalen Demokratien etwa als „(…) a civilization in which everything is granted indifferently and therefore nothing is truly respected and respectable“. Der Mangel an „a certain quality of the social bond – a religiosity that was often, but not always, nourished by a 861 Ders. S. 277f. 862 Geenens, Raf: Contingency and Universality? Lefort´s Ambigious Justification of Democracy. In: Research in Phenomenology 37, 2007. S. 443 - 463. Ders.: Democracy, Human Rights and History. Reading Lefort. In: European Journal of Political Theory 7, 2008. S. 269 - 286. 863 Klein, Rebekka A.: Wider das Scheitern der Demokratie. Claude Leforts politischer Realismus im Spiegel der neueren Forschung. Zeitschrift für Politische Theorie, 3, 2, 2012. S. 204 - 222, hier S. 219.

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III. Leforts politische Theorie der radikalen Demokratie

belief in God and that was expressed in their (der Flüchtlinge aus ehemals totalitären Regimen; MO) sense of community” sei daher ein problematisches Defizit liberaler Demokratien.864 Daher wird Leforts Theorie auch als genau das Gegenteil, nämlich als eine Stellungnahme contre le réalisme und Lefort als stärkster Kritiker eines jeglichen Realismus gelesen. Als solcher positioniere er sich insofern zwischen den Lagern der Individualistinnen und methodologischen Holistinnen, als er stets die Verwobenheit von Individuum und Gesellschaft hervorhebe.865 Wieder andere versuchen, die methodische Vereinbarkeit von Lefort und der Habermasschen Diskurstheorie aufzuzeigen,866 wobei Lefort dabei meist als stärker der Tradition der Phänomenologie Merleau-Pontys gelesen wird. Postmarxistische, postfundamentalistische, dekonstruktivistische und radikaldemokratische Ansätze schließen vor allem an seine zentralen Theoreme des Politischen und des leeren Ortes der Macht an, um den herum sich die moderne Demokratie konstituiert und organisiert.867 Liberale Ansätze wiederum lesen Leforts „defensiven Liberalismus“868 als eine Versöhnung mit den liberal-demokratischen Institutionen und berufen sich dafür auf dessen Vorschläge einer Vertiefung oder Demokratisierung der Demokratie. Republikanische Ansätze wiederum verorten Leforts Theorie in einer noch jungen Tradition, die den Republikanismus nicht von seinem Ziel, sondern von den Grundbedingungen für die Konstitution von Freiheit aus versteht. Als „Republikanismus jenseits der Republik“, so eine Lesart, ziele er vor allem auf die Symbolfunktion einer republikanisch konzipierten Demokratie, deren symbolische Einheitsbehauptungen faktisch mit einem bestimmten Setting von Institutionen, Rechten und Verfahren nie zu erreichen sind. In der so entstandenen Kluft zwischen Symbolischem und Realem liege in diesem Verständnis von Republikanismus die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit.869. Im Gegensatz zu der von Platon und Aristoteles bis Rawls wirksamen Tradition, welche Politik als die Suche nach dem Guten ver-

864 Lefort, Claude: Reflections on the present. S. 265. 865 Caillé, Alain: Claude Lefort, les sciences sociales et la philosophie politique. S. 54f. 866 Wagner, Andreas: Recht-Macht-Öffentlichkeit. A.a.O. Weymans, Wim/ Hetzel, Andreas: From Substantive to Negative Universalsim. Lefort and Habermas on Legitimacy in Democratic Societies. In: Thesis Eleven 108, 2012. S. 26 - 43. 867 Nancy, Jean-Luc/ Lacoue-Labarthe, Philippe: Retreating the Political. A.a.O. Laclau, Ernesto/ Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. A.a.O. 868 Ingram, James D.: The Politics of Claude Lefort´s Political. S. 34. 869 Niederberger, Andreas: Republikanismus jenseits der Republik? A.a.O.

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III. 3. Leforts Theorie des Politischen, der Demokratie und des Totalitarismus

steht und normativ-holistisch Rückschlüsse über die angemessene Form einer politischen Gemeinschaft zieht, assoziieren radikaldemokratische Ansätze in einer Traditionslinie von Machiavelli über Marx und Weber bis zu Foucault auf die zentralen Aspekte von Politik als Macht, Herrschaft, Konflikt und Wettbewerb.870 Wie die meisten dieser Tradition verpflichteten Denkerinnen will auch Lefort eine Balance finden zwischen den analytischen Philosophen in platonischer Tradition und der „bunten“ Gruppe historisch orientierter, anti-essentialistischer und eher der marxistischen Tradition verpflichteter Philosophen wie Nietzsche, Dewey oder Adorno.871 Wie er dies jedoch leistete, unterschied ihn gravierend von allen bekannten Positionen, was ihm die etwas umständliche Bezeichnung als Vertreter eines „Non-Marxist-Libertarian-Leftism“872 einbrachte, wobei libertär hier nicht mit dem Ultraliberalismus Robert Nozicks verwechselt werden darf,873 sondern eher einen links gerichteten Anti-Autoritarismus meint. Dass und warum sich in Leforts Werk sowohl liberale, als auch radikaldemokratische Ansätze finden und er sich einer Entscheidung zu verweigern scheint, wurde oben hinreichend deutlich gemacht. So verwundert es auch nicht, dass er innerhalb der radikalen Linken, als deren wichtigster Referenzautor Lefort für vorliegende Arbeit gilt, ebenso unterschiedlich rezipiert wird. Demnach wird jene politische Linke nach „pro-demokratischen“ Autorinnen, zu denen zum Beispiel Laclau, Mouffe, Balibar, Butler, Agamben, Negri und Nancy gerechnet werden, und „anti-demokratischen“ Denkerinnen wie zum Beispiel Zizek, Rancière und Badiou unterschieden. Die pro-demokratische Perspektive auf die moderne Demokratie verstehe diese als diejenige Gesellschaftsform, welche die Kontingenz ihrer politischen Machtdiskurse nicht verleugnen muss und entsprechend keine Abschaffung oder Überwindung, sondern eine permanente Radikalisierung oder Demokratisierung der Demokratie selbst fordert. Anti-demokratische Haltungen dagegen konstatierten eine „Post-

870 Siehe auch: Marchart, Oliver: Die Schlacht am Grund der Gesellschaft. Zwischen Polemologie und Agonistik: Von Weber zu Foucault. In: Ders. Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft. Berlin 2013. S. 231 - 262. 871 Geuss, Raymond: Realismus, Wunschdenken, Utopie. In: DZPhil 58, 2010. S. 419 – 429, hier S. 422f. Ders.: Philosophy and Real Politics. Princeton 2008. 872 Ingram, James D.: The Politics of Claude Lefort´s Political. S. 34. „Libertär“ darf nicht verwechselt werden mit dem Ultralibertarianismus à la Nozick, sondern meint einen eher links gerichteten Antiautoritarismus. 873 Nozick, Robert: Anarchie, Staat, Utopia. A.a.O.

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III. Leforts politische Theorie der radikalen Demokratie

Demokratie“ als Ergebnis des Sieges der demokratischen Gesellschaftsform über die totalitären Kontrahenten, als dessen Resultat sich ein gesellschaftlicher „Konsens über die Auslöschung ihrer eigenen institutionellen Handlungsformen“ institutionalisiert habe.874 Badiou und Zizek etwa sähen daher wirkliche radikale Politik innerhalb der demokratischen Gesellschaftsordnung als unmöglich an und forderten daher die Überwindung der Demokratie.875 Die aus der Vielzahl unterschiedlicher interpretativer Anschlüsse erkennbaren Ambivalenzen in Leforts Werk machen es zugegeben schwer, aus diesem eine unumstrittene „Demokratietheorie“ herauszulesen, wie sie als Analyseraster an das Werk Rousseaus angelegt werden soll. Leforts Werk entzieht sich letztlich immer einer endgültigen Festlegung auf eine „Schule“ oder eine bestimmte „Tradition“ oder Methode, er argumentierte nie rein positivistisch, noch jemals völlig normativ, sondern wählte als Zugang zu seinen Gegenständen und Reflektionen meist den Weg der Kritik, suchte auf diesem Weg nach Widersprüchen und Paradoxien und stellte mehr Fragen, als dass er Antworten gab. Die Weigerung, eine systematische Ausarbeitung einer eigenen Theorie vorzulegen, ist ja nicht zuletzt darin begründet, dass Leforts Verständnis von Wissenschaft das eines stets notwendig unvollständigem, provisorischem, fragendem Herantasten an ihren jeweiligen Gegenstand ist. Hierin fühlte er sich ganz dem phänomenologischen Erbe seines Mentors und Freundes MerleauPonty verpflichtet, welcher der Philosophie ins Stammbuch schrieb, dass sie „keine Fragen (stellt) und (…) keine Antworten (findet), durch die sich die Lücken nach und nach schließen würden. Die Fragen stecken in unserem Leben und unserer Geschichte: dort entstehen sie, und dort vergehen sie, sobald sie ihre Antworten gefunden haben, meist formen sie sich um, auf alle Fälle endet eine Vergangenheit aus Erfahrung und Wissen eines Tages bei dieser klaffenden Offenheit“876. Dies entbindet nun aber die politische Ideengeschichte im hier verstandenen Sinne von Ideenpolitik nicht von ihrer Aufgabe, über das Stellen von Fragen hinaus auch Antworten zu

874 Klein, Rebekka A.: Wider das Scheitern der Demokratie. S. 206. 875 Badiou, Alain: Über Metapolitik. Zürich 2003. Zizek, Slavoj: Die politische Suspension des Ethischen. Frankfurt am Main 2005. 876 Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen. Mit einem Vor- und Nachwort versehen von Claude Lefort. Aus dem Französischen von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München 1986. S. 142. Französisch: Merleau-Ponty, Maurice: Le visible et l´invisible. Paris 1964.

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III. 3. Leforts Theorie des Politischen, der Demokratie und des Totalitarismus

präsentieren und diese der Kritik zugänglich zu machen, was ja nicht zuletzt auch einer der ersten Ansprüche Leforts an sein eigenes Schaffen war. Nach der vorangegangenen Rekonstruktion der Entwicklung der Demokratietheorie Leforts, sollen daher im Folgenden die aus dieser gewonnen und für die Neuinterpretation Rousseaus nötigen systematischen Kategorien eingeführt werden, wie sie im Anschluss als Analyseraster an die politischen Schriften Rousseaus angelegt werden, um so die vermuteten Strukturanalogien zu Lefort herauszustellen und den Anschluss Rousseaus an den Diskurs der radikalen Demokratie zu ermöglichen. Es versteht sich, dass der Zuschnitt der Kategorien dabei genau diesem Zweck folgt, nämlich den Aufweis dieser Analogien zu ermöglichen. Auch die im Arsenal der politischen Theorie und Ideengeschichte für dessen Sortierung zuständige Archivarin, um auf das eingangs gewählte Bild zurückzukommen, ist Teilnehmerin des Deutungskampfes und nimmt daher wesentlich Einfluss auf die Ordnung der Dinge im Arsenal. Sie entscheidet über die Klassifizierung und Sortierung und damit über die Auswahl und Bereitstellung des Repertoires und damit letztlich über Erfolg und Misserfolg von Deutungskämpfen mit. Dies lässt sich weder verhindern, noch soll überhaupt dieser Anspruch erhoben werden. Es gilt nur, dies möglichst transparent offenzulegen, um den Kriterien und Ansprüchen wissenschaftlichen Arbeitens zu genügen. So soll hier also weder behauptet werden, dass die herausgearbeiteten und für die spätere Analyse Rousseaus verwendeten Kategorien die einzigen oder gar einzig gültigen Elemente der Demokratietheorie Leforts sind, noch wird der Anspruch auf deren Vollständigkeit und Ausgewogenheit erhoben. Sie sind ganz bestimmt zu einem guten Teil auch das Ergebnis einer eigenen Interpretation der Schriften Leforts und damit selbst nicht immun gegen Kritik. Damit sind sie aber letztlich eben genau das, was sie sein sollen: Ein analytisches Werkzeug, welches es ermöglichen soll, einen bestimmten Interpretationsversuch vor dem Hintergrund zuvor plausibel gemachter diskursiver und systematischer Zusammenhänge durchzuführen, der natürlich selbst wieder Gegenstand von Kritik und Kontroversen sein kann (und es hoffentlich auch sein wird). III. 3. 2. „Wilde Demokratie“ gegen den Staat Die moderne Demokratie bezeichnete Lefort oft auch synonym als die „Verfassung der Demokratie“ oder demokratischen Gesellschaft. Dies 269

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zeigt, dass er damit nicht allein ein bestimmtes institutionelles Setting meinte, wie etwa das parlamentarische Regierungssystem auf Basis der Prinzipien der Gewaltenteilung und der Repräsentation darstellt. Demokratie müsse vielmehr als ein „way of life” verstanden werden: „(Democracy) does not allow itself to be reduced to a set of institutions and rules of behavior for which one could provide a positive definition by means of a comparison with other known regimes. It requires people´s adherence. And this adherence, or approval, isn´t necessarily formulated in strictly political terms”.877 Demokratie geht also nie in der Verfassung, den Verfahren und den Institutionen eines politischen Systems auf, das sich selbst demokratisch nennt oder so genannt wird. Sie lebt vielmehr zu einem großen Teil von der Einstellung der Bürgerinnen gegenüber den Bedingungen des demokratischen Dispositivs und deren Umgang mit diesen, sprich der Kontingenz an ihrem Ursprung, der Ungewissheit ihrer Zukunft, den nie abzustellenden Konflikten und der Gefahr der Preisgabe der Freiheit zum Beispiel an das Prinzip der Sicherheit. Letztlich lebt eine so verstandene Demokratie also davon, so lässt sich Lefort verstehen, gelebt und erfahren zu werden. Dabei spielen dann aber eben vor allem auch vermeintlich irrationale, weil auf der emotionalen Ebene zu verortende Komponenten in Bezug auf die Bindungskraft eine wichtige Rolle, so dass diese in alle politischen Überlegungen zu den hoch anspruchsvollen Anforderungen demokratischen Lebens unbedingt mit einbezogen werden müssen. Demokratien sind nicht einfach das Ergebnis einer einmaligen (vertraglichen) Errichtung eines wertneutralen Raumes, innerhalb dessen Grenzen die Menschen dann die Möglichkeit haben, „zu atmen und nicht dumm zu sterben“, wie Lefort es ausdrückte. Vielmehr setze sie sich durch ihre Institutionen und ihr Repräsentationssystem qualitativ von allen anderen Regierungsformen ab.878 Wie ist das zu verstehen? Mit Miguel Abensour, neben Marcel Gauchet einer der bedeutendsten Schüler“ Leforts, so man in seinem Fall wirklich von einer Schule sprechen kann, ist es die wilde Demokratie, auf welche jede Interpretation von Leforts Demokratietheorie letztlich hinauslaufen müsse, vor allem dann, wenn Lefort weder auf eine „aufwieglerische“ Variante bestehender liberaler Demokratien, noch auf das Prinzip eines „permanenten Protestes“ reduziert werden soll. Besonders seine Lesart der Menschenrechte bezeuge das Verständnis einer wil-

877 Lefort, Claude: Reflections on the present. S. 266. 878 Ders. S. 262. Hervorhebung von mir.

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den Demokratie als sowohl rechtlich gestiftet wie auch rechtlich eingehegt.879 Gleichzeitig kann niemand die Demokratie auf eine bestimmte Formel bringen, bestehe ihre (negative) „Essenz“ doch genau in jenem Mangel an einer letzten Referenz, mit Blick auf die sich eine bestimmte soziale oder politische Ordnung identifizieren und legitimieren ließe. Daraus folgt nun, dass die Demokratie nicht durch das gemeinwohlorientierte Engagement idealtypischer tugendhafter Bürgerinnen der klassisch-republikanischen Tradition und auch nicht durch die vernünftigen und nutzenmaximierenden Rechtsträgerinnen der liberalen Tradition, sondern durch die von den Wohltaten und Versprechen der Demokratie Ausgeschlossenen in ihrem Bestreben um den Einschluss und die Einlösung der Versprechen der Demokratie am Laufen und Leben gehalten wird.880 Die Schwierigkeit liege nun aber dennoch darin, eine etwas genauere positive Definition dessen zu finden, was mit Lefort unter wilder Demokratie zu verstehen ist.881 Trotz all der Negativität in Leforts Denken sieht Abensour in Un homme en trop mit dem Begriff libertär ein Synonym für dieses wild angelegt. Libertär sei für Lefort folglich, wer es wage zu sprechen, wo alle anderen schweigen, mithin der „öffentliche Widerspruchsgeist“, der den Mut hat, „die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, um der unzeitgemäßen Stimme der Freiheit Gehör zu verschaffen“882. Wild bezeichne also den „wilden Geist“, der sich seine eigenen Gesetze gibt und immer dann erwacht, wenn ein Ereignis ihn dazu motiviert „die Legitimität des bestehenden Wissens in Frage zu stellen“883. Die Demokratie, „die so oft domestiziert und banalisiert wird, um sie umgänglicher zu machen“ muss also als eine „eigentümliche Form der politischen Erfahrung“ verstanden werden, „die sich politische Institutionen gibt, um sich dauerhaft entwickeln zu können, aber gleichzeitig nicht aufhört, sich gegen den Staat aufzulehnen, so als ginge es bei ihrem Widerstand gegen den Staat und bei ihrem Aufbrausen nicht darum, auf das Ende des Politischen hinzuarbeiten, sondern darum, auf eine höchst fruchtbare und höchst paradoxale 879 Wagner, Andreas: Recht-Macht-Öffentlichkeit. S. 150. 880 Lefort, Claude/ Thibaud, Paul: La Communication Démocratique. S. 34. 881 Abensour, Miguel: Demokratie gegen den Staat. S. 227f. Ders.: “Savage Democracy” and “Principle of Anarchy”. In: Philosophy and Social Criticism 28, 6, 2002. S. 703 - 726. 882 Lefort, Claude: Un homme en trop. S. 34f. 883 Ders.: L´Idée d´être brut et d´esprit sauvage. In: Les Temps Modernes 17, 1961. S. 253 - 286. Wieder abgedruckt in Ders. : Sur une Colonne absente. A.a.O. Hier S. 44.

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Weise eine „neue Unordnung“ zu schaffen und so eine Politik zu erfinden, die sich stets erneuert, eine Politik jenseits des Staates, ja gegen ihn?“884. Abensour begegnet mit dieser Definition im Sinne Leforts bereits vielen Kritiken, welche Lefort und im Anschluss an ihn dem Diskurs der Radikalen Demokratie vorhalten, den Konflikt gegenüber dem Konsens über Gebühr auszuzeichnen. In dieser Vorstellung von Demokratie findet sich beides, Konflikt und Konsens. Beide spielen zusammen, beide sind für das demokratische Leben unbedingt notwendig. Die wilde Demokratie Leforts ist sowohl Ordnung, als auch regelmäßige Unterbrechung dieser Ordnung, sie beinhaltet ruhige Zeiten und Zeiten des Aufruhrs. Die Momente eines nicht aufzulösenden Konflikts zwischen Forderungen nach wahrer Demokratie und deren faktischer Unmöglichkeit sind dabei der eigentliche Motor der permanenten Weiterentwicklung der Demokratie und damit die Bedingung ihres Überlebens zwischen der Gefahr der Anarchie und des Totalitarismus. Gleichzeitig rücken damit die beiden Pole oder Akteure des Staates auf der einen und der Bürgerschaft auf der anderen Seite als Zentralkategorien des radikaldemokratischen Denkens ins Blickfeld. Eine Demokratie „gegen den Staat“ bedeutet ja nicht zwangsläufig, dass dieser Staat abgeschafft oder überwunden werden soll.885 Ein „gegen“ den Staat hat diesen „Staat“ zu seiner Voraussetzung und Bedingung, daher sei die Demokratie, anders als von liberalen “Konvertiten” wie Marcel Gauchet behauptet, als ein permanenter politischer Kampf gegen den Staat zu verstehen, an dessen Stelle sie das Volk als Souverän setzen möchte, ohne dass ihr dies jedoch jemals gelingen kann oder auch gelingen soll. Sie sei die Instituierung des Konflikts zweier unversöhnlicher Logiken, einer Logik der Autonomisierung der Staatsform auf der einen und einer Logik des Volkes als politisch handelndem Akteur auf der anderen Seite.886 Der Staat war für Lefort also nicht nur und zugleich immer doch auch ein Instrument der Unterdrückung und Gewalt, vor allem aber die Projektionsfläche und damit Bedingung der Möglichkeit der permanenten Einforderung von Freiheit, Gleichheit und demokratischer Teilhabe.887 Die Vorstellung einer kosmopolitischen Rechtsordnung sah er dabei nicht prinzipiell als unmöglich an, dennoch müsse der Staat die letzte Referenz allen

884 Abensour, Miguel: Demokratie gegen den Staat. S. 265. 885 Ingram, James D.: The Politics of Claude Lefort´s Political. S. 44. 886 Abensour, Miguel: Lettre d´un révoltiste à Marcel Gauchet converti à la “politique normale”. Paris 2008. 887 Lefort, Claude: Writing. S. 216ff.

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Nachdenkens über Freiheit, Frieden und Demokratie bleiben.888 Lefort und mit ihm die modernen radikalen Demokraten sind also keine AntiEtatisten oder im strengen Sinne Anarchisten, verlangt eine Demokratie gegen den Staat ja vor allem anderen nach der Existenz eines Staates, um nicht ins Leere zu laufen, mithin also nach einem symbolisch von der Gesellschaft abgehobenen Ort der Macht, meist repräsentiert durch Regierung und Verwaltung. Auch bevorzugte Lefort keineswegs a priori die Zivilgesellschaft als privilegierten Akteur oder Ort gesellschaftlicher Reformationen. So habe er sich zum Beispiel bezüglich der Lage der Sowjetunion im Juli 1989 nach eigener Aussage gründlich getäuscht, sei doch die gesellschaftliche Kraft, die das System dort letztlich verändert habe, eben nicht bottom up oder aus der Zivilgesellschaft heraus gekommen, sondern von der Person Gorbatschows als „violence (…) from on high“889 ausgegangen. Um demokratisches Handeln im Sinne einer Ausweitung der Kampfzone um die Demokratisierung der Demokratie als Bedingung der Freiheit zu ermöglichen, muss daher gerade unter den modernen Bedingungen, in denen der Staat dazu tendiert, die Leben der Individuen von der Geburt bis zum Tod zu kontrollieren, dieser unbedingt von der Entwicklung eines neuen Rechtsbewusstseins herausgefordert werden. Die daraus resultierende „révolte contre l´Etat“890 muss daher als das permanente Hinterfragen und Herausfordern etablierter Ordnungen verstanden, erfahren und gelebt werden. Demokratie bedeutet dann letztlich nicht mehr (aber eben auch nicht weniger), als die Abwesenheit von Regeln, welche für alle Zeiten festlegten, wer an der Politik teilhaben darf und wer nicht.891 Sie ist in anderen Worten die legitime wie prinzipiell endlose und gegen den Staat geführte Debatte darüber, was legitim ist und was nicht.892 Wenn sich dann jede gesellschaftliche Ordnung aufgrund des Bewusstseins um ihre kontingenten Grundlagen ständiger Hinterfragung durch die Ausgeschlossenen ausgesetzt sieht, gleicht sie darin „einem reißenden Fluss, der unablässig über die Ufer tritt, nicht „nach Hause kommen“ (und) sich nicht einer bestehenden Ordnung unterwerfen“ kann.893

888 889 890 891 892 893

Ders. S. 155f. Ders.: Reflections on the present. S. 254. Lefort, Claude/ Thibaud, Paul: La Communication Démocratique. S. 37. Lefort, Claude: Guizot: le libéralisme polémique. In: Ders. Écrire. S. 113 - 139. Ders.: Democracy and Political Theory. S. 39. Abensour, Miguel: Demokratie gegen den Staat. S. 236.

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III. 3. 3. Demokratie und Repräsentation - zwischen Symbolischem und Realem Der in modernen demokratischen Gesellschaften häufig geäußerte Vorwurf, Politiker dieser oder jener Partei betrieben „reine Symbolpolitik“, muss mit Lefort dann als irreführend zurückgewiesen werden, wenn dem explizit oder implizit ein diminuierendes „nur“ anhängt. Für Lefort ist die symbolische Dimension der Politik nicht hoch genug einzuschätzen, was seine Diskussion um den seinerzeit an Gorbatschow gerichteten Vorwurf veranschaulicht. Die Tatsache nämlich, dass sich Gorbatschow sowohl zum Parteiführer, als auch zum Staatspräsidenten der Sowjetunion habe wählen lassen, sei nur mit Blick auf ihren symbolischen Gehalt in ihrer vollen Bedeutung zu erfassen. Durch die Wahl habe Gorbatschow der Partei symbolisch ihre Vorrechte entzogen und ihr damit „eine Hälfte weggenommen“. Dies habe das Gefüge der etablierten Macht grundlegend verändert, Gorbatschows Macht sei daher von fundamental anderer Natur gewesen, als die seiner Vorgänger, insofern mit der Übernahme dieser Ämter „the established power (was) thus rendered visible, identifiable, liable to evaluation, to judgement in terms of the reality of an individual – one who doesn´t hesitate to say `I´”.894 Gorbatschow war derjenige, der „Ich“ sagte und der so der durch seine Vorgänger symbolisch verschleierten oder verleugneten Macht wieder ein Gesicht gab. Wo in der totalitären Herrschaftsform der Sowjetunion also die Einheit von Staat, Macht und Gesellschaft symbolisch behauptet und mit Gewalt aufrecht erhalten wurde, präsentierte Gorbatschow diese als von der Gesellschaft unterschieden und unterscheidbar und setzte sie damit fortan der Kritik aus. Wo also vorher die Einheit von Staat, Macht, Gesellschaft und Partei symbolisch behauptet wurden, konnte diese Einheit ebenfalls nur symbolisch aufgehoben werden. Wenn Kritiker dem daher entgegenhielten, dass die sowjetische Gesellschaft seit Stalin de facto niemals homogen, sondern immer schon das Theater mannigfaltiger Konflikte gewesen sei und der symbolischen Bedeutung daher die wissenschaftliche Relevanz absprachen, begingen sie laut Lefort den Fehler, Prinzip und Fakten zu verwechseln.895 Natürlich gebe es in jeder Gesellschaft und innerhalb ihrer politischen Führung immer sich widerstreitende Interessen und Konflikte. Jedoch sei diese Hete-

894 Lefort, Claude: Reflections on the present. S. 255. 895 Ders. S. 259.

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rogenität im Fall der Sowjetunion eben symbolisch nicht repräsentiert und damit weder als Faktum, noch als legitim anerkannt worden.896 Die symbolische Ermöglichung der Erkennung und gleichzeitigen Anerkennung sozialer Spaltungen und Konflikte unterscheidet also totalitäre Herrschaftsformen von demokratischen Regimen. Dies macht deutlich, warum Lefort trotz seiner marxistischen Wurzeln und trotz seiner Kritik an liberalen Demokratien so vehement am Repräsentationsprinzip festhielt. Für viele linke, aber auch republikanische Demokratietheorien ist die politische Repräsentation eines souveränen Volkes, sei es durch den Staat, die Regierung, das Parlament oder die politischen Parteien, bestenfalls ein notwendiges Übel, niemals jedoch der Garant der Freiheit. Dies gilt besonders in Frankreich, wo der Staat als direkte Verkörperung des Willens der Gesellschaft verstanden wird und daher traditionell immer schon mit einer großen Machtfülle ausgestattet ist. Dort lässt sich spätestens seit den Arbeiten Tocquevilles eine starke kritische Tradition an der verzerrenden und verzerrten Darstellung eines angeblichen Volkswillens durch den Staat feststellen.897 Ganz anders jedoch Leforts Ansatz. So verfolgte er in seinen Arbeiten den Anspruch, die Ambivalenz zwischen Repräsentation und Realität nicht nur zu kritisieren, sondern sie überhaupt erst zu verstehen. Analog zu seiner Diskussion der Menschenrechte kritisierte er das Prinzip demokratischer Repräsentation dabei weder aus der marxistischen Perspektive als Verschleierung faktischer sozialer Ungleichheiten und asymmetrischer Herrschaftsverhältnisse, noch folgte er dem liberalen Paradigma in dessen Behauptung der Repräsentation als Garanten des vertraglichen Konsenses vernünftiger Individuen. Repräsentation war für Lefort weder ein rein technisches Mittel, noch anti-demokratisch. Ihre Funktion sah er vielmehr darin, ein „Netz der Differenzen“898 herzustellen und dadurch die inneren Konflikte und die Nicht-Identität der Gesellschaft mit der symbolischen Repräsentation ihrer Einheit sichtbar zu machen. Zugleich verlagerte das Repräsentationsprinzip die sichtbar gewordenen Konflikte zwischen Herrschenden und Beherrschten und diejenigen innerhalb der Gesellschaft ins Symbolische und entschärfte sie somit. Erste Voraussetzung dieser symbolischen Entschärfung ist aber eben der durch

896 Ebd. 897 Weymans, Wim: Freiheit durch politische Repräsentation - Lefort, Gauchet und Rosanvallon über die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft. In: Heil, Reinhard/ Hetzel, Andreas (Hrsg.). Die unendliche Aufgabe. S. 185 - 208, hier S. 186. 898 Lefort, Claude/ Gauchet, Marcel: Über die Demokratie. S. 113.

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die Repräsentation erst ermöglichte sichtbare Unterschied zwischen Macht und Gesellschaft.899 Den Akt der Wahl von Repräsentantinnen verstand Lefort daher vor allem als den Moment einer Unterbrechung der symbolischen Einheit der politischen Gemeinschaft. Für diesen einen Moment springen die auf der Bühne der Politik symbolisch ausgetragenen Konflikte zurück ins Publikum und drohen dort zu Tumulten zu mutieren, die ganze Konstruktion des Theaters mitsamt Bühnenaufbau und Inneneinrichtung einzureißen und somit die politische Gemeinschaft aufzulösen. Sobald die Wahlergebnisse aber ausgezählt sind und der Ort der Macht neu besetzt ist, hat alles seine Ordnung und die symbolische Trennung zwischen Macht und Gesellschaft, Bühne und Publikum ist wieder hergestellt. Die Wahlergebnisse werden dann von den jeweiligen Machthabern als die berechtigten Ansprüche auf die symbolische Verkörperung von Macht, Einheit und den Willen der Gesellschaft interpretiert, während oppositionelle und zivilgesellschaftliche Gruppierungen diese Interpretationen permanent angreifen und die Ordnung stören, deren Legitimität aber letztlich anerkennen. Dieser ständige Kampf um die symbolische Besetzung des leeren Ortes der Macht ist kein Manko der modernen Demokratie, sondern deren Charakteristikum und eigentliche Stärke. Aus den so zugleich ermöglichten wie freigelegten Widersprüchen zwischen dem Symbolischem und dem Realem kommt man schließlich auch gar nicht heraus, was für die Gesellschaft in ihrer vermeintlichen Gesamtheit ebenso gilt, wie für alle gesellschaftlichen Teilbereiche. Diejenigen Arbeiterinnen in einer Fabrik etwa, die für die Rechte der gesamten Arbeiterschaft eintreten und sich entsprechend zu deren Repräsentantinnen aufschwingen, heben sich dadurch immer und zwangsläufig von jenen ab, für die sie zu sprechen beanspruchen.900 Zugleich aber, und dies ist eine weitere wesentliche Funktion des demokratischen Repräsentationsprinzips, konstituieren sie in dem Moment, in dem sie das Wort für die Arbeiterschaft ergreifen, diese als Gruppe oder politische Einheit. Die dabei nicht zu verhindernde Spaltung zwischen Repräsentantinnen und Repräsentierten resultiert wohlgemerkt nicht aus der Absicht, sich persönliche Vorteile zu verschaffen, sondern ist eine logische und symbolische Zwangsläufig-

899 Dies. S. 112. 900 Lefort, Claude: Démocratie réelle et représentation démocratique. In: Cahiers du Centre d´études socialiste. Februar 1963. S. 22 - 27. Ders.: Pour une sociologie de la démocratie. In: Eléments d´une critique de la bureaucratie. S. 327 - 346.

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keit. Lefort verstand die Repräsentantinnen nicht zuerst als eine Gruppe mit verschleierten eigenen Interessen, was sie de facto wohl sehr wahrscheinlich immer auch waren. Ihm ging es aber darum, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit unüberwindbare fundamentale Differenz zwischen Prinzip und Wirklichkeit von ihrer produktiven Seite her zu beleuchten.901 Repräsentation ist dann nicht einfach die passive oder reflektierende Wiedergabe vorpolitischer natürlicher Interessen und Identitäten, sondern das aktive Prinzip, welches diese Interessen und damit Identitäten überhaupt erst produziert. Im Beispiel der Arbeiterinnen gab es diese vor ihrer Repräsentation durch (selbst-) ernannte Vertreterinnen nicht als Arbeiterschaft. Eine Gruppe, für die man sprechen oder deren Interessen man repräsentieren kann, gibt es erst in dem Moment, da jemand für sie das Wort ergreift, diese zu repräsentieren beansprucht und somit die Gemeinschaft der Repräsentierten als solche sichtbar macht. Das Prinzip der Repräsentation und die Existenz politischer Identitäten bedingen sich somit gegenseitig, sie stehen in einem engen konstitutiven Zusammenhang und können quasi als gleichursprünglich verstanden werden. Im Moment der Repräsentation entsteht eine nicht aufzuhebende Kluft zwischen Repräsentierten und Repräsentierenden und mit dieser Kluft die Gemeinschaft der Repräsentierten als wahrnehmbares, sicht- und hörbares politisches Kollektiv. Diesen Vorgang bezeichnet Lefort wie oben gezeigt als das Zusammenspiel einer mise-en-scène, die immer zugleich mise en forme und mise-en-sens ist.902 Übertragen auf die modernen Demokratien sind es vor allem die Prinzipien eines vermeintlichen Volkswillens sowie der Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, Menschenrechte, Autonomie, Gemeinschaft und Partizipation, die repräsentiert, also symbolisch als existent behauptet und damit zugleich in die Welt gesetzt werden. Diese demokratischen Versprechen verstand Lefort als die generativen Prinzipien der Demokratie. Keine Gesellschaft hat dabei jemals auch nur annähernd eines dieser Versprechen verwirklicht und könnte dies auch nie leisten. Wie schließlich sollten angesichts der Abwesenheit letzter Grundlagen und Referenzen auch „wirkliche“ Freiheit oder „wahre“ Gleichheit aussehen? Sich bereits auf einen allgemein gültigen Maßstab zu einer möglichen Beantwortung der Frage zu einigen, ist in modernen Gesellschaften eine Unmöglichkeit, umso 901 Ders.: Les formes de l´histoire. Essais d'anthropologie politique. Paris 1978. S. 282; Ders.: Essais sur le politique. S. 265ff. 902 Ders.: Democracy and Political Theory. S. 11f und S. 217 - 221.

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mehr natürlich die Verwirklichung allgemeiner Prinzipien im Realen. Das schmälert aber deren symbolischen Wert keinesfalls, im Gegenteil. Eine wirkliche gleiche Teilhabe an der Gesetzgebung etwa ist in modernen Gesellschaften nicht nur aus technischen Gründen eine Unmöglichkeit, sondern auch aufgrund der unterschiedlichen Qualifikationen der Menschen und dem damit kollidierenden Gleichheitsideal faktisch nicht umzusetzen. Dennoch hat das Prinzip der Partizipation eine immense symbolische Bedeutung und zwar deswegen, weil man mit Berufung auf dieses Prinzip die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Sollen und (behauptetem) Sein sichtbar machen, die Nicht-Identität der Repräsentation und der Wirklichkeit kritisieren und somit die dauerhafte Schließung der Gesellschaft verhindern kann. Das behauptete Ideal der Partizipation widerspricht der Realität notwendig immer. Wenn nun aber das Ideal direkter Partizipation aller Bürgerinnen gar nicht symbolisch im Raum stünde, wäre dies als Problem gar nicht erkennbar und es gäbe folglich gar nicht die Möglichkeit, auf diesen defizitären Umstand aufmerksam zu machen, ihn zu kritisieren und an dessen Aufhebung zu arbeiten. Gleiches gilt für alle anderen demokratischen Prinzipien auch, etwa dem der Gleichheit: Nur dadurch, dass die Demokratie symbolisch für sich beansprucht, dass alle ihre Bürgerinnen gleich sind, gibt es die Möglichkeit, auf soziale, politische oder ökonomische Ungleichheiten aufmerksam zu machen. In der so sich offenbarenden Kluft zwischen Symbolischem und Realem liegt der Raum demokratischen oder politischen Handelns und somit die Bedingung der Möglichkeit der Freiheit. Demokratische Politik ist daher „a site of a tension or productive ambiguity between governance and disturbance of naturalized identities. It thrives only while this tension is kept alive”.903 Letztlich ging es Lefort also um die Bedeutung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft in der so genannten Moderne. Castoriadis brachte das auf den Punkt, wenn er schrieb, dass „für Lefort, zumindest wie ich ihn verstehe, (…) sich Gesellschaft nur instituieren (kann), indem sie sich teilt und gleichzeitig auf diese Teilung durch die Errichtung des Staates antwortet. Der Begriff des „Staates“ bezeichnet hier die von der Gesellschaft getrennte „politische“ Macht, die die Teilung genau in dem Moment nochmals bestätigt und von neuem verwirklicht, indem sie sich als ihre ver-

903 Connolly, William E.: Democracy and Contingency. In: Carens, J.H. (Hrsg.). Democracy and Possesive Individualism: The Intellectual Legacy of C.B. MacPherson. New York 1993. S. 193 - 220, hier S. 208.

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meintliche Auslöschung präsentiert“.904 Castoriadis zweifelte dabei zwar an der These Leforts, dass sich eine Gesellschaft erst durch ihre Teilung formieren kann und folglich erst dadurch eine kollektive Identität ausbildet und führte als Gegenbeispiel einen idealtypischen „archaischen“ Stamm an, also eine politische Gemeinschaft ohne Staat, wie sie folglich mit Leforts Theorie nicht zu erklären oder verstehen sei. Nun ist es sicher so, dass Lefort mit Blick auf die ihn Zeit seines Lebens beschäftigten Fragen immer den modernen Staat westeuropäischer Ausprägung vor Augen hatte oder dieser zumindest in allen theoretischen Überlegungen stets den Fluchtpunkt seines politischen Denkens bildete. Argumentativ jedoch muss die Trennung eines Ortes der Macht daher aber ja nicht zwangsläufig zu der heute bekannten Staatsform führen, auch das Oberhaupt eines vermeintlich „staats-freien“ Stammes kann sich ja durchaus genauso als von seinen Untertanen symbolisch entrückt repräsentieren und ist sicher nicht zwangsläufig und per se immun gegen die Kritik der Untergebenen.905 Fest steht jedoch, dass der Staat in Leforts Konzeption moderner Demokratien, der konstitutive Gegenspieler der Gesellschaft und als solcher auch „politische Macht“ ist.906 Als am symbolischen Ort der Macht sitzend ist er zugleich Gegenpol und Adressat gesellschaftlicher Forderungen. Im Gegensatz zum Marxismus hielt Lefort daher sowohl an der Kategorie der Macht, als auch an der des Staates fest, denn „wer von der Abschaffung der Macht träumt, hält unter der Hand an dem Bezug auf das Eine und auf Dasselbe fest: Er malt sich eine Gesellschaft aus, die spontan mit sich übereinstimmen würde“907, also eine totalitäre Gesellschaft. III. 3. 4. Macht und Demokratie Mit der demokratischen Revolution und der Autonomisierung der gesellschaftlichen Sphären der Macht, des Rechts und des Wissens wurde der Ort der Macht zur symbolischen Leerstelle. Niemand kann seither mehr 904 Castoriadis, Cornelius: Das Gebot der Revolution. In: Rödel, Ulrich (Hrsg.). Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. S. 54 - 88, hier S. 82. 905 Vgl. Comaroff, Jean/ Comaroff, John L.: Demokratie gestalten. Ein anthropologischer Blick auf afrikanische Formen politischer Moderne. In: Dies. Der Süden als Vorreiter der Globalisierung. Neue postkoloniale Perspektiven. Frankfurt am Main/ New York 2012. S. 153 - 182. 906 Lefort, Claude: Menschenrechte und Politik. S. 267. 907 Ders. S. 276.

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diese Leerstelle legitimerweise dauerhaft besetzen. Vor dem Hintergrund der Bedingung radikaler Kontingenz ist die Demokratie deswegen vor allem auch ein Suchen nach den Antworten auf alle offenen Fragen nach den Gründen des Zusammenlebens, den Ursprüngen, Zwecken und Zielen der Gemeinschaft, nach ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei können diese Fragen immer nur immanent beantwortet werden, sollen die Antworten als legitim anerkannt werden, was geradezu nach der gesellschaftlichen Debatte über das verlange, was legitim und was illegitim ist.908 Dass die gesellschaftlichen Handlungssphären des Rechts, der Macht und des Wissens auseinandergetreten sind, sich emanzipiert und autonomisiert haben, bedeutet also, dass die Regierenden nicht mehr wie noch der König im Ancien Régime die Quelle des Rechts, der Macht und des Wissens oder deren weltliche Verkörperung sind. Sie hätten daher etwa nicht das Recht dazu, die Normen für eine funktionierende Wirtschaft zu bestimmen, die Unabhängigkeit der Justiz zu sabotieren oder Historikerinnen, Wissenschaftlerinnen oder Soziologinnen vorzuschreiben, was nützlich für die Gesellschaft oder was der Zensur zu unterwerfen sei. Verletzten sie diese Prinzipien, dann verletzten sie damit eine fundamentale demokratische Ethik.909 Das bedeutet nun nicht, dass dies realiter nicht ständig versucht würde beziehungsweise nicht de facto geschehe, daher gilt es aber eben seitens einer wachen Bürgerschaft, all diesen Versuchen kritisch und entschlossen entgegenzutreten, was durch die Macht als die symbolische „Bühne eines nicht zu bemeisternden Differenzierungsprozesses“ ermöglicht wird. Auf dieser Bühne tragen die verschiedene Milieus, Traditionen, Verhaltensweisen und Glaubenssätze ihre Konflikte symbolisch miteinander aus beziehungsweise lassen sie dort symbolisch von den jeweiligen Machthaberinnen austragen. Somit ermöglicht es diese Bühne der Gesellschaft, sich mittels eines symbolischen Referenzpunktes als eine Gesellschaft im Konflikt um die Besetzung der leeren Stelle der Macht herum zu begreifen und schafft damit die Bedingung ihrer eigenen Existenz.910 Wenn Lefort von „der Macht“ sprach, meinte er also auch die jeweiligen Besetzerinnen des in der Demokratie leeren Ortes der Macht. Sein Machtverständnis war weit weniger unpersönlich, als es der Begriff zunächst vermuten lässt. Lefort sprach aber deswegen lieber von „der Macht“, weil er spätestens seit dem XX. Parteitag der KPdSU skeptisch 908 Ders.: Reflections on the present. S. 269. 909 Ebd. 910 Ders.: Vorwort zu Éléments d´une critique de la bureaucratie. S. 49f.

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gegenüber jeder Überbetonung persönlicher Dispositionen von Machthaberinnen war und mehr auf die inhärenten Logiken, Strukturen und Funktionen der Macht abzielen wollte und sich bevorzugt eines anti-individualistischen Vokabulars bediente. Die Macht ist also ein symbolisch von der Gesellschaft abgehobener Referenzpunkt, dessen „Besetzung“ meint, dass die jeweiligen Machthaber erfolgreich für sich behaupten, diesen Ort legitimerweise einzunehmen oder auszufüllen, also zu Recht in einer der Gesellschaft enthobenen Position sind, von der aus sie kollektiv verbindliche Entscheidungen treffen. „Erfolgreich“ bedeutet in dem Fall, dass die Bürger der Gemeinschaft oder die Herrschaftsunterworfenen, die Legitimitätsansprüche der jeweiligen Machthaber akzeptieren. Wenn Gauchet daher davon sprach, dass sich die Macht „mit den Insignien der Transzendenz schmückt“, weist das darauf hin, wie man sich diese symbolische Abgehobenheit des Ortes der Macht praktisch vorstellen muss. Die Macht gibt sich den Anschein des Universalen und Transzendenten und grenzt sich dadurch von der Gesellschaft ab. Dies bezeichnete Lefort mit der „äußeren Teilung“ der Gesellschaft. Beide, Macht und Gesellschaft, existieren logisch nicht „vor“ dieser Trennung. Macht war für Lefort immer symbolische Macht und stellt sich als solche stets offen zur Schau. Sie wirkt also anders als etwa bei Foucault nicht als eine geheime Mikropraktik, sondern öffentlich oder gar nicht. Dies tut sie, indem die jeweiligen Machthaberinnen sich einer der Macht eigenen Sprache bedienen, rituelle Umgangsformen pflegen und sich auf „große Erzählungen“911, auf kollektiv geteilte und anerkannte Narrationen oder bestimmte herrschaftslegitimierende Spezialdiskurse berufen, oder indem sie sich „Prunk, Pracht, Zeremonien, Feierlichkeiten, Ansehen und Ruhm“ und anderer „lächerlicher Instrumente“ bedienen.912 Dabei wandeln die jeweiligen Machthaberinnen stets auf einem schmalen Grat. Sie dürfen nämlich nicht der von ihnen selbst mit geschaffenen und mitgetragenen Illusion aufliegen und ihre symbolische Unterschiedenheit von der Gesellschaft als real wahrnehmen, die Macht darf das Bild, welches sie der Gesellschaft von sich präsentiert oder welches die Gesellschaft sich von ihr macht, nicht als echt annehmen. Sie darf die universellen Prinzipien, auf die sie verweist, nicht versuchen wirklich zu verkörpern, denn die Bürgerinnen würden diesen Versuch der dauerhaf-

911 Lyotard, François: La condition postmoderne. Paris 1994. Dt. : Das postmoderne Wissen. Wien 2012. 912 Gauchet, Marcel: Die totalitäre Erfahrung und das Denken des Politischen. S. 227.

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ten realen Besetzung des Ortes der Macht sofort als das durchschauen, was er ist: einen willkürlichen und illegitimen Gewaltakt mit dem Ziel der Schließung der Gesellschaft und der Etablierung letztgültiger Fundamente. Die Folge wären in letzter Konsequenz Widerstand und Auflehnung gegen die Macht, die sich nur noch mit Gewalt an ihrem Ort halten könnte, wobei Lefort es hier versäumte, die Bedingungen für das Aufkommen von Widerstand näher zu identifizieren. Jeder in diesem Sinne erfolgreiche Versuch der Verkörperung universeller Prinzipien, welche die Besetzung des Ortes der Macht legitimieren, bedeutete also die symbolische Aufhebung beziehungsweise Leugnung des konstitutiven Bruchs zwischen Macht und Gesellschaft und somit den Umschlag in eine totalitäre Herrschaftsform. De facto lässt sich dieser Bruch natürlich nicht aufheben, symbolisch aber lässt sich die Aufhebung behaupten und repräsentieren. Jeder Widerspruch gegen die Macht wäre dann im wahren Wortsinn sinnlos, da man letztlich sich selber widersprechen würde. Faktisch muss diese Überwindung der Diskrepanz zwischen letztgültiger Einheitsbehauptung und realer Zerrissenheit der Gesellschaft daher zur Zuhilfenahme von Gewaltmitteln führen. Gewalt ist für Lefort demnach kein hinreichendes und noch nicht mal ein notwendiges, wohl aber ein sehr wahrscheinliches Charakteristikum totalitärer Herrschaft. III. 3. 5. Konflikte und das Abenteuer der Demokratie Die Demokratie ist „die Form von Gesellschaft, die über den Konflikt, über den Kampf der Menschen eine menschliche Bindung herstellt und dabei an den Ursprung der immer wieder neu zu entdeckenden Freiheit anknüpft“913. Laut Machiavelli gibt es dabei drei mögliche Alternativen des Umgang mit dem Ur-Konflikt zwischen Herrschenden und Beherrschten, aus denen entsprechend drei Regierungsformen resultieren können: Die Alleinherrschaft, die Anarchie oder die Freiheit.914 Dieser Dreisprung kann für Leforts Theorie in die Alternative Totalitarismus, Anarchie oder Freiheit übersetzt werden. Wenn Lefort daher von der „Institutionalisierung des Konflikts“915 als Wesensmerkmal der Demokratie sprach, bedeutete dies keine mythische Überhöhung von Konflikten und damit einherge913 Abensour, Miguel: Demokratie gegen den Staat. S. 266. 914 Machiavelli, Niccolò: Der Fürst. Stuttgart 1978. S. 39. 915 Lefort, Claude: Die Frage der Demokratie. S. 293.

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hende Verurteilung von Kompromissen, Konsens und Koordination. Leforts Kritik an den Konsensbehauptungen des Liberalismus bedeutete nicht, dass er diese als nicht wünschenswert ansah und auch nicht, dass er sie als unnötig oder gar unmöglich verwarf. Er verneinte keinesfalls die Notwendigkeit von Konsens, im Gegenteil brauchte auch die Demokratie ein Minimum an Einigkeit, wenngleich diese natürlich stets prekär und immer nur temporär ist. Was er jedoch ablehnte, war die liberale Narration eines ursprünglichen konsensuellen Gesellschaftsvertrages als Ursprung und Grundlage von Gesellschaft und Politik. Dies aber nicht etwa, weil das nicht plausibel oder wünschenswert wäre, sondern vor allem wegen der daraus abgeleiteten möglichen Stillstellungen aller Formen institutionalisierter Politik. Was besteht, wie es besteht, weil es Ergebnis eines rationalen Konsenses ist, kann innerhalb des rationalen Paradigmas nicht mehr vernünftigerweise und damit auch nicht mehr legitim angegriffen und verändert werden. Somit verlangt der Erhalt der Freiheit die Anerkennung von Konflikten und die Demokratie war für Lefort die einzige politische Form, die Konflikte als legitim in ihr symbolisches Zentrum stellte. Für klassische politische Theorien war die bloße Existenz von Parteien und damit die Repräsentation von Konflikten schon ein Zeichen des Untergangs der Republik, insofern dies anzeigte, dass die Gesellschaft gespalten und die „res publica“ somit nicht realisiert war.916 Die Positivierung des Konfliktes kann somit als Herzstück der Lefortschen Demokratietheorie angesehen werden. Der symbolische Umgang mit der Tatsache, dass Konflikte die Gesellschaft gründen und zugleich am Leben halten, sie mithin die Bedingung der Bewahrung der Freiheit sind, unterscheidet dann demokratische (freiheitliche) Gesellschaften von despotischen und totalitären Formen. Ein derart positiver Block auf die gründenden und zugrundeliegenden sowie innergesellschaftlichen Konflikte ist dabei keinesfalls banal oder selbstverständlich. Als immer präsente Gefahr des Gemeinwesens, drohen sie dieses schließlich stets in die Anarchie zu überführen, oder provozieren den Versuch ihrer Stillstellung, was den Übergang zum totalitären Dispositiv markiert. Mit anarchischen Verhältnissen hat man es in diesem Verständnis zu tun, wenn die symbolische Austragung vor allem der inneren gesellschaftlichen Konflikte nicht mehr gelingt, so dass diese als reale Konflikte von der Bühne der Politik zurück in die Gesellschaft gespielt

916 Howard, Dick: The Marxian Legacy. S. 396. FN 90.

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dort unvermittelt aufeinandertreffen und ungehemmt ausgetragen werden. Der Totalitarismus hingegen leugnet auf der Ebene der Macht die Existenz von Konflikten, verunmöglicht damit deren symbolische und politische Austragung und schließt den Diskurs über das Soziale hermetisch ab. Die Neigung jeder demokratischen Gesellschaft zum „Phantasma einer totalen Beherrschung des gesellschaftlichen Raumes“ erklärt sich daher aus dem Unbehagen der Bürgerinnen sowohl angesichts der Kontingenz und der Konflikte am (Ab-) Grund des Sozialen, die Gefahr der Anarchie resultiert eher aus den Inner-Sozialen Konflikten sowie dem zwischen Herrschenden und Beherrschten. Die in den so genannten modernen Gesellschaften zunehmende Machtaneignung und Machtausübung staatlicher Institutionen und Bürokratien steht sinnbildlich dafür. Der Staat weitete seit der demokratischen Revolution und im Laufe der industriellen Revolution und des stetig voranschreitenden technischen Fortschritts seinen Einfluss und seine Machtbefugnisse gegenüber den Bevölkerungen permanent aus, er folgte darin aber nicht nur pragmatischen Überlegungen oder organisatorischen Notwendigkeiten, sondern bediente wohl auch gesellschaftliche Erwartungen. Zugleich sah und sieht er sich ständig mit wachsenden Ansprüchen und kollektiven Widerständen konfrontiert, etwa wenn zuvor ausgeschlossene soziale Gruppen von ihren Menschenrechten Gebrauch machten und den faktischen Einschluss in die symbolische Gemeinschaft der (Rechts-)Gleichen einforderten. Diese Paradoxien seien in einer modernen demokratischen Gesellschaft aber nicht aufzulösen, sie gehörten unweigerlich zum „gesellschaftlichen Abenteuer“, das als solches angenommen und gelebt werden muss.917 Die Demokratie war für Lefort dabei die einzige Gesellschaftsform, die dieses Abenteuer symbolisch bewusst eingeht und affirmativ angeht, die also ihr prinzipielles Einverständnis dazu bekundet, mit der Herausforderung der Ungewissheit zu leben und diese im Idealfall sogar als Bedingung der Freiheit zu begrüßen, die zugleich aber auch akzeptiert, dass jede politische Aktivität mit dieser Ungewissheit an ihre Grenze stößt. Dieses symbolische Bekenntnis bedeutet nun nicht, dass es innerhalb demokratischer Bevölkerungen nicht die faktische Sehnsucht nach einem Ende des Abenteuers, nach mehr Ruhe, Sicherheit und Transparenz gibt. Genau darin liege vielmehr die nie stillzustellende und unvermeidliche Gefahr eines Relativismus, der seinen Höhepunkt erreiche, „wenn

917 Lefort, Claude: Vorwort zu Éléments d´une critique de la bureaucratie. S. 50.

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man sogar den Wert der Demokratie in Frage stellt“.918 Die symbolische Akzeptanz von Kontingenz und Unbestimmtheit bedeutet und verlangt also weder zwangsläufig deren faktische Akzeptanz, im Gegenteil können die wenigsten Menschen wohl realiter mit diesen Bedingungen umgehen. Genau daraus aber resultiert die größte Gefahr für die Freiheit. Um also die freiwillige kollektive Hingabe an die Heilsversprechen totalitärer Regime oder die Auflösung des Gemeinwesens in Bürgerkrieg und Anarchie zu vermeiden, darf Politik nicht als die Suche nach einer verloren gegangenen mythischen Urgemeinschaft verstanden und ausgeübt werden. Im Umkehrschluss bedeute dies, dass die Bürgerinnen nicht mit derlei Erwartungen an die Politik herantreten dürfen und sie derlei Angeboten stets misstrauen und widerstehen müssen.919 „Wenn die Menschen in der Bestrebung, Unannehmlichkeiten zu beseitigen oder sichtbare und naheliegende Vorteile zu erreichen, dem augenblicklichen Antrieb ihres Geistes folgen, dann gelangen sie zu Zielen, die noch nicht einmal ihre Phantasie voraussehen konnte. (…) Wie die Winde, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen, und die wehen, wohin sie wollen, stammen auch die Formen der Gesellschaft von einem dunklen und fernen Ursprung her. (…) Die Nationen stoßen gleichsam im Dunkeln auf Einrichtungen, die zwar durchaus das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht jedoch die Durchführung irgendeines menschlichen Plans“920. Politisches Handeln, demokratisches Engagement und freiheitliche Politik müssen daher zuvorderst als Zweck und nicht als Mittel verstanden werden. Dadurch überlasse die wilde Demokratie das Handeln sich selbst, die kontingenten Grundlagen des Sozialen entbinden das Handeln entsprechend von allen logischen, geschichtlichen, religiösen, natürlichen oder sonstigen „Sachzwängen“ und eröffnen den Bürgerinnen demokratischer Gesellschaften das „endlose Abenteuer“921 der Demokratie.

918 Ders.: Le Temps présent. S. 161. 919 Ders.: Reflections on the present. S. 262. 920 Ferguson; Adam: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1988. S. 258. Den Hinweis auf dieses erhellende und treffende Zitat verdanke ich Paul Sörensen. Siehe: Sörensen, Paul. A.a.O. 921 Abensour, Miguel: Demokratie gegen den Staat. S. 250ff.

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III. 3. 6. Bürgerschaft, politische Identitäten und Demokratie Dass die Bürgerin die „normative Zentralinstitution einer wie auch immer verstandenen Demokratie“ und der „Erhalt der individuellen Freiheit der in politischer und rechtlicher Gleichheit in einem Gemeinwesen zusammenlebenden citizens der wesentliche Sinn der Demokratie ist, dem sich zunächst alle anderen politischen Ziele nachzuordnen haben“922, gilt sicher auch für Leforts politische Theorie. Ohne eine spezifische politische Identität, die gemeinhin Bürgerin genannt würde, kann letztlich keine Demokratie existieren.923 Eine der großen Schwierigkeiten mit der Demokratietheorie Leforts ist aber die Frage nach dem konkreten Bürgerinnenbild, welches diese in sich trägt. Lefort sagte wenig Konkretes über seine Vorstellung demokratischer Bürgerschaft, weswegen diese in jüngerer Zeit vermehrt Gegenstand von Interpretationen war. So wurde etwa vorgeschlagen, sie als die psychologische Identifikation mit den Prinzipien der Gleichheit und Freiheit zu verstehen. Gefragt wurde dann, ob eine gewisse „gesture of love“ gegenüber einem metaphysischen Horizont vielleicht doch nicht ganz aus der modernen Demokratie zu tilgen ist.924 Es wird jedoch auch hier nicht wirklich klar, wie sich diese „gesture of love“, die man auch als demokratisches Ethos verstehen könnte, generieren und auf Dauer stellen lässt. Es scheint, als müsse man sie entweder voraussetzen oder als könne man nur auf sie hoffen. Auch in die Bürgerinnenbilder liberaler und marxistischer Theorien lässt sich Leforts Theorie nicht bruchlos einpassen, am ehesten lässt sich dieser noch ein republikanischer Tugendbegriff unterstellen, wenngleich Lefort im Unterschied zu klassisch republikanischen Theorien keine genauen Angaben zu Dispositionen, Tugenderwartungen oder politischer Erziehung der Bürger machte. Der Vorschlag, seine Vorstellung des Bürgers auf den Begriff einer „existential disposition to the world“ zu bringen, bringt einen daher auch nicht sehr weit.925

922 Greven, Michael Th.: Sind Demokratien reformierbar? S. 72f. 923 Tilly, Charles: Political Identities in Changing Polities. In: Social Research. Selected Essays. An International Quarterly of the Social Sciences. Vol. 70, No. 2, New York 2003. S. 605 - 620, hier S. 610. Siehe auch: Tilly, Charles: Democracy. Cambridge 2007. 924 Blackell, Mark: Lefort and the problem of democratic citizenship. S. 52. 925 Ders. S. 55.

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Wie also müsste die Bürgerin beschaffen sein, was müsste sie mitbringen, um das Abenteuer der Demokratie eingehen und erleben zu wollen und zu können und was müsste oder könnte die Politik gegebenenfalls dazu beitragen? Zur Beantwortung dieser Frage hilft ein erneuter Blick auf Leforts Machiavelli-Studien. Sein sich in der Interpretation Machiavellis offenbarendes Freiheitsverständnis lässt auf ein sehr anspruchsvolles Bürgerinnenbild schließen. Zwar betonte er mitunter, dass seine Überlegungen keinesfalls eine dauerhaft wachsame, immer politisch aktive und permanent öffentlich präsente Bürgerin einforderten. Von keinem Menschen könne und dürfe schließlich erwartet werden, gegenüber allen möglichen Optionen, die das Leben, die Geschichte und die Politik jemals bereithalten könnten, offen zu sein oder diese gar vorbehaltlos zu begrüßen. Dies sei aber auch gar nicht nötig. Die Bürgerinnen als die Verantwortlichen der Verteidigung ihrer Freiheit seien realiter ebenso weit davon entfernt wie der Fürst, der verità effetuale jederzeit zu entsagen. Das Neue an Machiavelli sei ja aber gerade gewesen, dass dieser die Institutionen der Römischen Republik als weder an sich gut, noch deren Bürger als von Natur aus tugendhaft und dennoch Rom als diejenige Stadt, welche Streit und Unruhen akzeptierte und daraus Vorteile zog, plausibel präsentiert habe. Dies habe sicher sowohl individuelle wie kollektive Initiative und Disziplin erfordert. Diese Disziplin habe aber niemanden davon abgehalten, dann und wann die bestehenden Regeln zu überschreiten, was nun insofern gar nicht so problematisch gewesen sei, als dadurch die jeweiligen Autoritäten ihrer ständigen Herausforderung ausgesetzt waren. Hin und wieder politisch aktiv zu werden oder gar Widerstand zu leisten, halte einen also nicht davon ab, grundsätzlich dem Gesetz zu gehorchen und umgekehrt. Zudem sei jedes Volk schon qua seiner Existenz und quasi-natürlichen Bedingung des Nicht-Beherrschtwerdenwollens prinzipiell immer misstrauisch gegenüber dauerhaften Macht-Anmaßungen und halte diese somit größtenteils effektiv im Zaum.926 Wenn sich Lefort aber mit Machiavelli darauf berief, dass die Institutionen, mögen sie auch noch so gut konstruiert sein, den Charakter der Akteurinnen auf beiden Seiten des Konflikts verschleiern und keine Institution aus ihrer bloßen Existenz heraus lebt, ja alle Institutionen für ihre Fortdauer zumindest zeitweise aktiver Bürgerinnen bedürfen, welche sie mit Leben anfüllen, dann hätte er um eine zumindest rudimentäre positive Bestimmung einer Idealbürgerin

926 Lefort, Claude: Machiavel et la verità effetuale. S. 141 - 179.

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eigentlich nicht herumkommen können. Wenn jede Institution als ein politischer Wille in sedimentierter Form zu verstehen ist, welchen es in der Analyse von Gesellschaftsformen herauszuarbeiten gelte und eine Analyse der Formen einer politischen Gesellschaft zwangsläufig immer auch zu einer Analyse der Handlungsformen und umgekehrt führe, wenn „reflections on the political and reflections on politics are at once distinct and intertwined”, dann hätte Lefort mehr Angaben dazu machen müssen, woher die für den Erhalt der Freiheit nötigen Bürgerinnen kommen können, gerade angesichts des permanenten latenten Unbehagens angesichts der Bedingungen der Kontingenz. An wen sonst wäre das in vorliegender Arbeit aus den Schriften Leforts herausgearbeitete Programm zur Schaffung eines Kontingenzbewusstseins und darüber hinaus der Entwicklung zur Kontingenztoleranz bis hin zu deren Affirmation zu adressieren? Lefort beließ es aber leider bei der Klage, dass für viele Menschen das Politische wohl nobel und die Politik trivial zu sein scheinen.927 Zwar diskutierte er die Bedeutung und Funktion liberaler Institutionen im Zusammenhang mit der Frage nach dem Erhalt der Freiheit anhand der Menschenrechte, auf die Bürgerin als Rechtsträgerin und in seinem Sinne Demokratin ging er jedoch auch dort an keiner Stelle ein. Dennoch lassen sich einige Eckpfeiler eines Bürgerinnenbildes Leforts ausmachen. So müsste eine demokratische Bürgerin gegenüber der radikalen Freiheit und Unbestimmtheit, der Auflösung oder Abwesenheit aller Grundlagen der Gewissheit, aller letzten Ordnungen und Sinnstiftungen positiv und offen eingestellt sein, diese begrüßen und als einen Freiheitsgewinn verstehen, folglich darf sie die Erkenntnis der prinzipiellen Offenheit alles vergangenen und Zukünftigen weder zu Fatalismus noch zu Fanatismus verführen. Eine demokratische Bürgerin müsste alle Arten von Objektivierungsfehlern vermeiden und sich stets dessen bewusst sein, dass alle Formen von Politik, alle Strukturen, Ordnungen und Institutionen immer auch in anderer Form auftreten könnten. Er braucht also ein Bewusstsein dafür, dass Institutionen nicht mehr, aber auch nicht weniger als „vergegenständlichte menschliche Tätigkeit“ sind.928 So muss sie also paradoxerweise zugleich trotz dieses Wissens den hohen Wert dieser Institutionen anerkennen, sich ihnen gegenüber verpflichtet und sich an sie gebunden fühlen, sie also mit Leben füllen und im Konfliktfall gar ihre privaten individuel927 Lefort, Claude: Machiavelli and the verità effetuale. S. 138. 928 Berger, Peter L./ Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main 2009. S. 65.

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len Interessen gegenüber deren Fortbestand hintanstellen. Sie muss eine gewisse emotionale oder affektive Bindung an die kollektive Ordnung, an das Volk, die Nation, die Verfassung und deren Institutionen aufbauen und zugleich diesen Entitäten gegenüber immer skeptisch bleiben, sie permanent hinterfragen, kritisieren und nötigenfalls reformieren, um der Gefahr der Stillstellung des Politischen vorzubeugen und sich ihre Freiheit nicht abkaufen zu lassen. Sie muss allen immanenten wie transzendentalen Heilsversprechen gegenüber immun bleiben und trotzdem den Wert aktiver politischer Beteiligung über die Erreichung kurzfristiger Leib-und-Magen-Ziele hinaus verinnerlichen. So müsste Leforts Bürgerinnenbild eine andernorts versuchte Minimaldefinition eines radikaldemokratischen Bürgerinnebildes erfüllen, insofern es “puts forward a conception of democracy as a way of life, a continual commitment not to a community or state but to the political conceived as a constant challenge to the limits of politics”929. Ein solcher Bügerinnenbegriff zielt darauf, auf Basis einer post-fundamentalistischen Konzeption den dauerhaften Ausschluss von Individuen und Gruppen aus der gesellschaftlichen Ordnung zu vermeiden und die Freiheit als widerständiges aktives politisches Handeln einzufordern. Dem korreliert ein Bekenntnis zu den negativen Prinzipien der Gleichheit, Freiheit und zur Partizipation, zugleich aber auch zu einer Radikalisierung der Politik durch permanenten gesellschaftlichen Wandel und kollektives Handeln.930 So wird der Bürgerinnenstatus im radikaldemokratischen Verständnis nicht mehr als das Privileg einer bestimmten Gemeinschaft innerhalb bestimmter territorialer Grenzen verstanden, sondern als eine anti-essentialistische und als solche nur negativ zu fassende Konzeption, die zunächst ganz allgemein der Kritik an all jenen Verständnissen dient, welche aus angeblich natürlichen Eigenschaften der Subjekte Rückschlüsse auf die Legitimation bestehender Herrschaftsverhältnisse ableiten.931 Somit könnte radikaldemokratische Bürgerinnenschaft als „erlebte Identität“ verstanden werden, insofern sie sich aus zwei Quellen speist: der Bildung von Subjektpositionen entsprechend ihrer Positionierung in einem diskursiven Raum und der politischen Subjektivität, welche sich „durch die Handlun-

929 Rasmussen, Claire/ Brown, Michael: Radical Democratic Citizenship. S. 175. 930 Rasmussen, Claire/ Brown, Michael: Radical Democratic Citizenship. S. 175. 931 Mouffe, Chantal: The Return of the Political. A.a.O.

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gen der Subjekte im Einzelnen begründet“932. Für Mouffe etwa ist die „history of subject (…) the history of his/ her identifications and there is no concealed identity to be rescued beyond the latter”933. Daraus folgt, dass gerade weil keine Festlegung a priori vorhanden ist, eine Dialektik der Festlegung-Nicht-Festlegung möglich wird.934 Ganz ähnlich war auch Lefort davon überzeugt, dass „l´individu n´est pas cet atome à partir duquel serait édifiée la société, l´individu n´existe que dans la relation et c ´est bien le problème de la définition de la relation sociale qui est celui-la meme de la société politique“.935 Politische Identitäten können so als soziale Arrangements, also als das Ergebnis gemeinsam konstruierter Geschichten verstanden werden, welche sich Menschen darüber erzählen, wer sie sind und was sie miteinander verbindet. Eine geteilte Identität zu besitzen, bedeutet dann, dass eine Menge an Menschen so handle, „as if they believed their own shared answer to the question „Who are you?” and creating consequential stories about the past, present and the future (…)”936. Als ein Beispiel hierfür kann noch einmal Leforts MachiavelliLektüre herangezogen werden. Dort beschrieb er, wie sich die Bürgerschaft von Florenz binnen relativ kurzer Zeit nicht mehr als eine Tochter des Römischen Reiches, sondern als eine Tochter der Römischen Republik verstand. Lefort rekurrierte dabei explizit auf das Konzept des Bürgerhumanismus als einer neuen Art der Identifikation.937 So sei in Florenz zwar immer noch vom „römischen Blut“ die Rede gewesen, welches durch die florentinischen Adern geflossen sei, jedoch sei dieses von da an als das „Blut eines freien Volkes“ verstanden worden und Freiheit und Tugend den Florentinern somit quasi zur Natur geworden. In der Folge sei die gesamte Geschichte Florenz als der Kampf um den Erhalt der Freiheit der Stadt neu re-interpretiert worden. An diesem Punkt habe sich also ein ursprüngliches Verständnis bürgerschaftlicher Tugenden mit dem republika-

932 Wöhl, Stefanie: Die Subjekte der radikalen Demokratie. Institutionalisierte Differenzen und Barrieren gegenhegemonialer Artikulationen. In: Nonhoff, Martin (Hrsg.): Diskurs, radikale Demokratie, Hegemonie. S. 139 - 158, hier S. 141. 933 Mouffe, Chantal: Feminism, Citizenship and Radical Democratic Politics. In: Butler, Judith/ Scott, Joan W. (Hrsg.). Feminists theorize the Political. London/ New York 1992. S. 369 - 384, hier S. 371. 934 Dies. S. 371f. 935 Lefort, Claude/ Thibaud, Paul: La Communication Démocratique. S. 42f. 936 Tilly, Charles: Political Identities in Changing Polities. S. 619. 937 Baron, Hans: The Crisis of the early Italian Renaissance: Civic Humanism and Republican Liberties in an Age of Classicism and Tyranny. Princeton 1955.

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nischer Tugenden vermischt und eine neue Bürgerinnenidentität hervorgebracht.938 Eine radikaldemokratische Bürgerinnenschaft muss also, um die verschiedenen Identitätspositionen in einem demokratischen Staat sowie um die Fragen nach Inklusion, Exklusion und den Kampf um politische und soziale Rechte herum konzipiert werden.939 Dabei garantiert natürlich ein Bekenntnis zu den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit allein noch keine egalitären und freiheitlichen Institutionen. Zudem ist unklar, ob und wie man sich überhaupt mit derlei leeren oder gar negativen und sich widerstreitenden Prinzipien wie der Gleichheit und Freiheit identifizieren kann.940 Wie also versteht Lefort „political comittment“, also das Verhältnis der Bürgerinnen zur Politik und Gemeinschaft? Ein Vorschlag geht dahin zu sagen, dass sich bei Lefort die Perspektiven der Identifikation, Betroffenheit und der distanzierten Nüchternheit auf die Politik abwechseln. Aus Empörung über ein Unrecht heraus solidarisierten oder identifizierten sich Menschen mit einem politischen Projekt oder mit einer sozialen Bewegung, irgendwann jedoch würden sie von diesem immer und notwendig und im wahren Wortsinne enttäuscht, so dass „the imaginary link of concerns that binds us to the situation at hand is suddenly broken“. Daraufhin nähmen sie eine realistische und eher distanzierte Perspektive ein, bis es zur nächsten Empörung komme. Genau diese sukzessive Abfolge von Engagement und Enttäuschung im Spannungsfeld zwischen Symbolischem und Realem sei die für Lefort typische Art und Weise, wie Menschen sich zur Politik verhielten.941 Daraus lässt sich mit Blick auf das Bürgerinnenbild Leforts ableiten, dass zunächst nur die grundlegenden Fähigkeiten und die institutionellen Möglichkeiten zur Empörung und eines daraus resultierenden politischen Engagements, etwa in Form von Protest oder Widerstand, vorhanden sein müssen. Weder muss Protest also auf Dauer ge-

938 Lefort, Claude: Machiavelli: History, Politics, Discourse. S. 120. Diesen Bürgerhumanismus habe nicht einmal Cosimo de Medici stillstellen können, für Lefort war er die Grundsubstanz des europäischen Republikanismus (Ders. S. 121). 939 Wöhl, Stefanie: Die Subjekte der radikalen Demokratie. S. 144. Siehe auch: Mouffe, Chantal: Inklusion, Exklusion. Das Paradox der Demokratie. In: Weibel, Peter/ Zizek, Slavoij (Hrsg.). Inklusion, Exklusion. Probleme des Postkolonialismus und der globalen Migration. Wien 1997. S. 75 - 90. 940 Blackell, Mark: Lefort and the problem of democratic citizenship. S. 60. 941 Geenens, Raf: “When I was young and politically engaged…“: Lefort on the problem of political commitment. In: Thesis Eleven 87, London 2006. S. 19 - 32, hier S. 24.

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stellt, geschweige denn die Revolution permanent am Leben erhalten werden, noch die Bürgerin in sonst einer Art und Weise dauerhaft und direkt am politischen Leben partizipieren und selbstverständlich schon gar nicht in Form einer identitären oder direkten Demokratie. Das Verhältnis der Bürgerin zu Staat und Gemeinschaft ist dann am ehesten eines der Äquidistanz. Wie aber mit den Bürgerinnen umzugehen ist, die sich dauerhaft und zahlreich in der politischen Apathie einrichten, wie Politikverdrossenheit vielleicht gar prophylaktisch verhindert oder zumindest irgendwann wieder in erneutes temporäres politisches Engagement umgewandelt werden kann, lässt sich bei Lefort nicht entnehmen. So beklagte dieser zwar selbst bereits lange vor Rancière und Crouch das Aufkommen postdemokratischer Verhältnisse, ohne freilich dabei diesen Begriff bereits zu benutzen, als „un phénomène de dévitalisation“ der Demokratie. Demnach träten mehr und mehr Menschen in demokratischen Gesellschaften nicht mehr für grundlegende Werte ein, kaum jemand sei zudem mehr dazu bereit, für seine oder ihre Überzeugungen wirklich politisch zu kämpfen. Wenn schließlich überhaupt noch eine Partei gewählt wird, dann nur weil die konkurrierende Partei als größeres Übel empfunden wird.942 Das muss nun aber noch nicht zwangsläufig den Umschlag des demokratischen Dispositivs in den Totalitarismus bedeuten. Die demokratischen Institutionen seien zwar zu einem großen Teil sinnentleert, jedoch funktionierten sie auf gewisse Weise weiter. Um aber ein weiteres Abgleiten, einen weiteren kollektiven Rückzug der Bürgerinnen aus dem öffentlichen Bereich der Politik zu verhindern, ist es nötig, dass jene Minderheiten, welche die Ausweitung bestehender Rechte auf immer mehr gesellschaftliche Gruppen forden, hartnäckig an diesem Anspruch festhalten. Es brauche daher ein demokratisches Ethos der Kritik bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse, mithin die Forderungen nach einer Demokratisierung der Demokratie. Nur wie soll dieses Ethos generiert, wie stabilisiert werden? Auch wohlmeinende Interpretinnen kommen mit Lefort letztlich nicht weiter als bis zu dem Appell, dass „we should be active citizens, believing in the importance of the tasks that lie ahead and not hesitate to participate in their realization ourselves. However and at the same time we should be aware that the divisions of society and the vicissitudes of concrete politics render the full and immediate realization of any great idea beyond the realm of possibili-

942 Lefort, Claude/ Thibaud, Paul: La Communication Démocratique. S. 35.

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ty”.943 Mehr als die Hoffnung auf einen zahlenmäßig ausreichenden Ausbruch kollektiver Empörung lässt sich aus dieser Forderung aber nicht gewinnen. Dem ließe sich noch ein „sich auch politisch äußerndes Freiheitsverlangen“ als Bürgerinnentugend hinzufügen, ein Freiheitsverlangen als „aktives Element der politischen Kultur“, ohne welches die Demokratie auf Dauer nicht überleben würde, da ohne dieses keine Wahrnehmung der Gefährdung der Freiheit möglich wäre.944 Was aber wenn dieses Freiheitsverlangen einmal nicht mehr vorhanden ist oder von stärkeren Verlangen, etwa dem nach Ruhe und Sicherheit, verdrängt wird? Was wenn der „Mut zum Ereignis als politische Tugend“945 abstirbt, ganz abgesehen von der viel wichtigeren Frage, wo dieser Mut überhaupt herkommen und wie er auf Dauer gestellt werden soll? Lefort zeichnete also eine „Tugend der Uneinigkeit“946 als wünschenswert aus und versuchte sich sogar an einer Art Definition einer demokratischen Bürgerin: „Rebelles de nature, comme on les nomme, ils n´ont pas peur de dire: je, sachant, d´un savoir qui ne s´embarasse pas de justifications, que ce n´est pas leur petit ego qui s ´exhibe, mais la vérité qui fait vibrer leur voix“. Radikaldemokratische Bürgerinnen können so als „contradicteur public“947 verstanden werden, er ließ aber jeden Hinweis darauf vermissen, wie Gesellschaft, Politik oder Staat auf solch ein Bürgerinnenideal hinarbeiten, wie sie es ermöglichen und wie sie es dauerhaft gewährleisten können. Muss man also annehmen, dass Lefort diese prinzipielle Widerständigkeit als natürlichen Wesenszug, gar als eine anthropologische Komponente ansieht? Wohl kaum, bedenkt man, dass das radikaldemokratische Verständnis des Menschen, jede vorpolitische Festlegung auf irgendeine Natur oder ein Wesen ablehnt. Der Begriff oder die Kategorie Mensch lässt sich mit Lefort weder auf den liberalen vernünftigen Nutzen-Maximierer, noch auf den patriotischen republikanischen Bürger reduzieren, sondern ist genau wie die Demokratie unbestimmt und damit prinzipiell Gegenstand permanenter Konflikte und beständiger (Neu-) Interpretationen.948 Irgendwie muss die demokratische Gesellschaft ja aber das für den Erhalt der Freiheit nötige Kontingenzbe-

943 Geenens, Raf: “When I was young and politically engaged…“. S. 31. 944 Greven, Michael Th.: Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie. Wiesbaden 2009. S. 177. 945 Heil, Reinhard/ Hetzel, Andreas: Radikale Demokratie. S. 13. 946 Lefort, Claude: Machiavel et la verità effetuale. S. 144. 947 Ders.: Un homme en trop. S. 35. 948 Ders.: Writing. S. 22.

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wusstsein, die Kontingenztoleranz und das Kontingenzaffinität ihrer Bürgerinnen generieren, geht man davon aus, dass gerade in modernen Demokratien Knechtschaft und Sklaverei „une passion renaissante“949 sind. Der totalitäre Staat ist weder ein historischer Unfall, noch der Quell der Gefährdung der Freiheit. Vielmehr muss er als Konsequenz der Aufgabe der Freiheit, als Folge der Verweigerung der Auferlegung ihrer Bürden durch die Bürgerinnen selbst verstanden werden, als die Verweigerung der „Mühe zu leben“. Weiter aber als zu den eher kryptischen Forderungen, dass Kritik geübt werden müsse, da sie heilsam sei, die Ambiguitäten der Demokratie nicht versteckt oder verleugnet werden dürften und gleichzeitig die Kritik einen Weg finden müsse, Relativismus zu kritisieren, ohne dabei den Sinn für Relativität zu zerstören, kam Lefort leider nicht.950 Dies ist umso verwunderlicher, als er selbst ein allgemeines Wehklagen über den vermeintlichen Mangel an moralischen Autoritäten kritisierte, den er als das Zeichen einer neuen Ideologie interpretierte. Diese diente der Verschleierung der inneren Spannungen moderner Gesellschaften und damit der symbolischen Ausblendung der Unterschiede zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Positionen. Zeitlebens stemmte er sich gegen einer solche Ideologie der „bonne communication“ und deren Leugnung von Konflikten.951 Mit Hannah Arendt kann Leforts Verständnis von Ideologie somit als die „Verleugnung der Kontingenz von Wirklichkeit“952 bezeichnet werden. Nicht zuletzt diese Kritik an einer liberalen Ideologie machte Lefort zum Wegbereiter der modernen radikalen Demokratie, eines der wesentlichen Anliegen seiner Arbeiten war es daher stets, diese liberale Ideologie als eine solche zu entlarven, um so ein Bewusstsein für deren Charakter als (unbestritten erfolgreiche) Teilnehmerin an einem politischen Deutungskampf um die Hegemonie über das gesellschaftlich Sag-, Denk- und Machbare zu schaffen. Sein Anspruch war es, „to give readers a feeling for the dynamic of democracy, the experience of an ultimate indetermination at the bases of the social order and of an unending debate over right and law; I had to try to shake up not only their convictions but their intimate relationship with knowledge; I had to try to reawaken in them a sense of the kind of questioning that would induce them to undertake the necessary mourning of the “good society” and, at

949 950 951 952

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Habib, Claude/ Mouchard, Claude/ Pachet, Pierre: Présentation. S. 7f. Lefort, Claude: Reflections on the present. S. 273. Lefort, Claude/ Thibaud, Paul: La Communication Démocratique. S. 39. Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. München 2006. S. 964f.

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the same time, I had to escape from the illusion that what seems real here and now is to be confused with the rational” und fragt selber: “Is this undertaking philosophical or political?”953 Derrida schloss genau dort an Lefort an, wenn er theoretische Interventionen als „institution of a new statement about the whole state and of a new establishment aiming at state hegemony” bezeichnete. Jede Intervention verfolge den Anspruch, hegemonial zu werden, „which isn´t meant to subjugate or control the other(s) from the outside, but which is meant to incorporate them in order to be incorporated into them”.954 Leforts Anstrengungen galten daher dem Begreifbarmachen und der Ermöglichung von Kritik und daran anschließend dem Erhalt politischer Freiheit. Ihm zu unterstellen, am Ende seines Lebens und Wirkens ein „Liberaler“ geworden zu sein, kann mit seinem Hinweis auf die Bedeutung der spontanen und „wilden Mobilisierung“ der Studentenschaft von 1968 zurückgewiesen werden. Er teilte nach eigener Aussage zwar nie deren Hoffnung auf die Revolution, auf der anderen Seite widersprach er aber auch Raymond Arons Kritik an den Ereignissen als Angriff auf die Integrität der Institution der Universität und bewertete die „wilde Demokratie“ der Zeit als durchaus wertvoll.955 Wie aber kann dann angesichts des „age of contingency“956 garantiert werden, dass die Bürgerinnen ihrer Aufgabe der Einforderung der Versprechen der Demokratie nachkommen und dabei gleichzeitig kritisch gegenüber jeder behaupteten Verwirklichung bleiben? Und dies angesichts der Herausforderung, dass man weder den Bedingungen der Kontingenz und Abwesenheit letztgültiger Gründungen, noch dem menschlichen Drang nach Ordnung, Gewissheit und Sicherheit entkommen kann?957 Nun war Leforts Ansatz zunächst ein dezidiert anti-individualistischer, er befasste sich also stets eher mit kollektiven politischen Identitäten. Diese sind „Produkte imaginärer Institutionen und symbolischer Ordnungen. Sie konstituieren sich als fiktive Körper, die nur um den Preis die Form der Geschlossenheit annehmen, dass sie die Selbstverständnisse der beteilig953 Lefort, Claude: Philosopher? S. 246. 954 Derrida, Jacques: Some Statements and Truisms about Neologisms, Newisms, Postisms, Parasitisms, and other small Seisms. In: Carroll, David (Hrsg.). The States of “Theory”. S. 63 - 94, hier S. 68. 955 Rosanvallon, Pierre: The test of the Political. S. 14. 956 Baumann, Zygmunt: Morality in the age of contingency. In: Heelas, Paul/ Lash, Scott/ Morris, Paul (Hrsg.). Detraditionalization. Oxford 1996. S. 49 - 58. 957 Vgl. Mouffe, Chantal: Dekonstruktion, Pragmatismus und die Politik der Demokratie. S. 11 - 36.

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III. Leforts politische Theorie der radikalen Demokratie

ten Individuen unterbrechen. Das Individuum, das den kollektiven Körper mit begründet und zu seinem Teil wird, ist ein anderes als das Individuum, das dem Gemeinwillen widerspenstig seinen Eigenwillen entgegensetzt. Das Volk als Souverän wird durch die Gründung des corps politique vom niederen Volk, dem unartikulierten, verworfenen „Pöbel“ getrennt.958 Kollektive politische Identitäten, egal welcher Art, sind immer nur von vorübergehender Dauer und überdecken die inneren Konflikte nur so lange, wie sich Gruppen hinter einem gemeinsamen Ziel vereinen. Zu dieser Erkenntnis gelangte Lefort auch anhand der Beobachtung und Analyse des Algerienkrieges, wo die inneren gesellschaftlichen Konflikte nur so lange nicht ausbrachen, wie die beteiligten Gruppen hinter dem Ziel der Befreiung von den französischen Besatzern geeint waren.959 Letzten Endes aber brechen die inneren Konflikte jeder Gesellschaft irgendwann hervor und bleiben daher immer und notwendig der erste Gegenstand der Politik. Jedoch sind in modernen demokratischen Gesellschaften nicht mehr Verteilungskämpfe traditioneller Art das Hauptproblem der Politik, sondern zunehmend und mit sich verschärfender Tendenz Auseinandersetzungen über Werte oder Konflikte um Identitätskonstrukte, welche mittels politischer Gesetzgebung zu „allgemein verbindlichen Normen gemacht werden sollen“.960 Gegen solche Homogenisierungstendenzen muss auch Leforts Bürgerin sich wehren, will sie nicht ihre Freiheit aufgeben. Ist das Individuum dann aber in Bezug auf die Herausbildung einer politischen Identität letztlich dem freien Spiel diskursiver Mächte ausgesetzt? Und wenn ja, welche Konsequenzen müssten daraus für eine demokratische Politik gezogen werden? Hierzu lässt sich bei Lefort wenig entnehmen, womit sich der Kreis zu den bereits oben erwähnten, an den modernen radikaldemokratischen Diskurs adressierten Vorwürfen einer Überbetonung der Dimension des Politischen gegenüber der Dimension der Politik schließt. Bereits im Eröffnungstext des ersten Bandes des Centre de Recherches Philosophiques sur le Politique bekennen etwa Lacoue-Labarthe und Nancy, dass „l´abord direct (…) l´abord empirique du politique

958 Hebekus, Uwe/ Matala de Mazza, Ethel: Einleitung: Zwischen Verkörperung und Ereignis. Zum Andauern der Romantik im Denken des Politischen. In: Hebekus, Uwe/ Matala de Mazza, Ethel/ Koschorke, Albrecht (Hrsg.). Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. München 2003. S. 7 - 22, hier S. 14. 959 Lefort, Claude: La Politique et la Pensée de la Politique. A.a.O. 960 Greven, Michael Th.: Die politische Gesellschaft. S. 189.

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III. 3. Leforts Theorie des Politischen, der Demokratie und des Totalitarismus

ne nous intéresse pas – et c´est pour cette raison très simple que nous ne croyons plus, au fond, qu´un tel abord soit encore possible (ou tout au moins qu´il puisse être encore décisif)“961. Der mitunter erhobene Vorwurf einer stiefmütterlichen Behandlung aller Fragen der Politik scheint also berechtigt,962 wenn die Autoren dies selbst zu ihrem Programm erheben. Zwar traf dies im Fall Leforts nicht so stark zu, sind „reflections on the political and reflections on politics (…) at once distinct and intertwined. “963. Doch sagte er in der Tat wenig über die Politik und gab zudem keinerlei Empfehlung für ein bestimmtes Institutionensetting ab. Axl Honneth und Jürgen Habermas kritisieren Lefort (und Castoriadis) genau dafür, sich konkreter institutioneller Vorschläge zu verweigern und werfen ihnen vor, sich damit quasi im luftleeren Raum zu bewegen.964 So kann zwar zugunsten Leforts ins Feld geführt werden, dass er sich eben dezidiert mit der Gründungsebene von Gemeinwesen befasste und das so ermöglichte kritische Potential nicht zu unterschätzen ist. Zudem könnte das vermeintliche Desinteresse der französischen politischen Philosophie an allen Fragen der Politik zugunsten der Beschäftigung mit dem Politischen auch davon zeugen, dass für diese jedwede praktischen Anwendung theoretischer Modelle inhumane Folgen zeitigen kann. Nicht umsonst kritisierte Lefort den wissenschaftlichen Marxismus und die Sozialwissenschaften ja genau dafür. Demgegenüber wollte er aufzeigen, dass alles Handeln, jede Ordnung und Institution letztlich als das „Ergebnis einer gewollten Einschränkung vieler Möglichkeiten“ verstanden werden und somit kritisiert und reformiert werden kann.965 Wer Leforts Denken verstehen will, dem sei als empfohlen, mit ihm immer wieder an dessen Ausgangspunkt zurückzukehren: die ständige Befragung des im zwanzigsten Jahrhundert neuen Phänomens des Totalitarismus.966 Seit seiner demokratischen Wende und der damit einhergegangenen Abkehr vom Marxismus analysierte Lefort den Totalitarismus mit

961 Lacoue-Labarthe, Phillipe/ Nancy, Jean-Luc: Ouverture. S. 13. 962 Zum Beispiel Schnell, Martin W.: Lefort, Claude. In: Bedorf, Thomas/ Röttgers, Kurt (Hrsg.). Die französische Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch. Darmstadt 2009. S. 216 - 218. 963 Lefort, Claude: Machiavelli and the verità effetuale. S. 138. 964 Van Reijen, Willem: Das Politische - eine Leerstelle. Zur politischen Philosophie in Frankreich. In: Transit: Europäische Revue 5, Winter 1992/93. S. 109 - 122, hier S. 116. 965 Ders.: S. 120f. 966 Lefort, Claude: La Complication. Retour sur le Communisme. Paris 1999.

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III. Leforts politische Theorie der radikalen Demokratie

Blick auf dessen symbolische Behauptung der Abwesenheit von grundlegenden Teilungen auf der Existenz eines „Mythos einer Ungeteiltheit, einer Homogenisierung und Transparenz der Gesellschaft für sich selbst“.967 Am Ende der Entwicklung seiner politischen Theorie verstand er diesen als die (versuchte) dauerhafte symbolische Besetzung des leeren Orts der Macht, als die symbolische Behauptung der Identität von Herrschern und Volk, Staat und Gesellschaft, Regierenden und Regierten und als das daran geknüpfte Versprechen, die mit dieser Vakanz verbundene existentielle Unsicherheit und historische Unbestimmtheit der modernen Demokratie zu beseitigen. Der Totalitarismus behauptet also, dass die Gesellschaft mit dem Bild, das sie sich von sich selbst macht, identisch sein kann oder sogar identisch ist. Da Gesellschaften faktisch jedoch immer von Konflikten durchzogen sind, da dies ja überhaupt die Bedingung ihrer Existenz ist, der Anspruch der Selbsttransparenz und Kongruenz mit der Repräsentation ihrer Einheit also niemals einzulösen ist, flüchten sich totalitäre Herrschaftsformen in Terror und Gewalt, ohne dass diese jedoch notwendige Merkmale einer totalitären Herrschaft sind. Die Behauptung der gesellschaftlichen Einheit ist hingegen viel mehr das „entscheidende Kennzeichen“ totaler Herrschaft,968 diese „Identitätsrepräsentation“969 ist der entscheidende Unterschied zwischen demokratischen und totalitären Regimen. De facto ist der Totalitarismus deswegen meistens „zur Gewalt gewordene Illusion“970, bedarf er doch zur Aufrechterhaltung seiner totalen Herrschaft der permanenten (Neu-) Bestimmung eines Feindes und dessen Verfolgung. So wird ein Ausnahmezustand kreiert und auf Dauer gestellt, der wiederum als Projektionsfläche der Einheitsverkörperung herangezogen wird. „Gegenmittel“ gegen den Totalitarismus, etwa in Form konkreter Überlegungen zur Gewährleistung einer demokratischen Bürgerinnenschaft finden sich bei Lefort nicht. Wenn Gauchet stellvertretend empfiehlt, Freuds Psychoanalyse auf moderne Gesellschaften zu übertra-

967 Ders.: Vorwort zu Elements d´une critique de la bureaucratie. S. 34. 968 Gauchet, Marcel: Die totalitäre Erfahrung und das Denken des Politischen. S. 213. 969 Vollrath, Ernst: Identitätsrepräsentation und Differenzrepräsentation. In: Orsi, Giuseppe, Seelmann, Kurt, Smid, Stefan, Steinvorth, Ulrich (Hrsg.). Recht und Moral. Rechtsphilosophische Hefte 1. Frankfurt am Main 1993. S. 65 - 78. 970 Gauchet, Marcel: Die totalitäre Erfahrung und das Denken des Politischen. S. 218.

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gen,971 bleibt er leider die Antwort schuldig, wie man sich das konkret vorzustellen hat. Exkurs III: Wie Schmitt in Frankreich? Abschließend seien hier noch ein paar Worte zu den geleugneten ideengeschichtlichen Verbindungen zwischen Lefort und Rousseau gesagt, bevor die Neuinterpretation Rousseaus angegangen wird. Einige diskursive Verbindungen zwischen Lefort und Schmitt wurden bereits im ersten Teil vorliegender Arbeit aufgezeigt oder angedeutet, zudem werden diese nicht ausgewiesenen Verbindungen auch in der Sekundärliteratur hin und wieder thematisiert. Demnach weise zum Beispiel Leforts Erkenntnis, dass die Kommunistische Partei mittels des Zwangs zur immer neuen Grenzziehung zwischen Freunden und Feinden im Selbstwiderspruch zerrieben wurde, erstaunliche nicht ausgewiesene Parallelen zu Carl Schmitts Analyse der Weimarer Republik auf.972 Fragt sich nur, warum Lefort Schmitt nicht erwähnte, habe dieser doch (ebenso wie Ernst Jünger und im Unterschied zu vielen in Deutschland hoch gelobten Autoren) seit jeher eine besondere Faszination auf die französischen Intellektuellen ausgeübt.973 Étienne Balibar etwa bezeichnete Schmitt als den „intelligentesten“, wenngleich aber auch „gefährlichsten Denker der extremen Rechten“974. So liegen einige Verbindungen des radikaldemokratischen Denkens und demjenigen Schmitts ja auch auf der Hand. Im Vorwort von Der Begriff des Politischen von 1962 etwa betonte Schmitt, dass „die Epoche der Staatlichkeit (…) jetzt zu Ende (geht). Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren. Mit ihr geht der ganze Überbau staatsbezogener Begriffe zu Ende, den eine europazentrische Staats- und Völkerrechtswissenschaft in vierhundertjähriger Gedankenarbeit errichtet hat. Der Staat als das Modell der politischen Einheit, der Staat als der Träger des erstaunlichsten aller Monopole, nämlich des Monopols der politischen Entscheidung, wird entthront“975. Der Schwanengesang des modernen Staates als alleiniger Inhaber des Mono-

971 972 973 974

Ders. S. 211. Van Reijen, Willem: Das Politische - eine Leerstelle. S. 114. Voigt, Rüdiger: Vorwort. In: Ders.: (Hrsg.). Der Staat des Dezisionismus. S. 20. Balibar, Étienne: Internationalisme ou Barbarie. In: Solidarité 30, 2003. S. 22 23, hier S. 23. 975 Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. S. 10.

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pols auf politische Entscheidung kann also durchaus als Anschlussstelle Schmitts an das linke französische politische Denken gesehen werden. Und tatsächlich hat ja Chantal Mouffe zum Beispiel Schmitts Definition des Politischen als die Unterscheidung nach Freund und Feind in den modernen Diskurs der radikalen Demokratie eingespeist.976 Dieser Diskurs teilt, wie auch Lefort, Schmitts Verständnis des Politischen als allen gesellschaftlichen Sachgebieten übergeordnet.977 Wenngleich Lefort also zumeist in der Traditionslinie von Hannah Arendts „liberalkonservativlibertärem Republikanismus“ verortet wird, haben seine wie auch ein Großteil weiterer französischer Theoriefiguren des gegenwärtigen politischen Denkens ihre Wurzeln im politischen Denken der Zwischenkriegszeit in Deutschland, etwa bei Heidegger, Benjamin oder eben auch bei Schmitt. Geeint seien diese Positionen vor allem in ihrer Opposition zum Denken der Aufklärung, so dass Schmitts Werk für manche wohl als eine Art Sturmgeschütz gegen das dominante liberale Denken in der Tradition Kants gelten kann.978 Und so lassen sich tatsächlich über die Ähnlichkeit der Titel zweier Hauptwerke hinaus (bei Schmitt die „Politische Theologie“979, bei Lefort die „Fortdauer des Theologisch-Politischen“980) auch strukturelle Analogien herausfiltern. So unterscheiden beide immerhin eine symbolische von einer realen Dimension der Macht. Schmitt versteht die Funktion der Staatsform zudem sowohl als Herstellung, wie auch als Darstellung einer politischen Einheit,981 was ziemlich genau der Denkfigur Leforts einer „gleichzeitigen“ mise-en-scène, mise-en-forme und miseen-sens entspricht. Ganz nah bei Schmitt ist zudem Leforts Charakterisierung der modernen Demokratie im Unterschied zum Ancien Régime. Laut Schmitt bedarf die moderne Demokratie, wie zuvor auch die Monarchie, zu ihrer Legitimation einer der Religion analogen Instanz.982 Lefort wie Schmitt sind sich also darin einig, dass jede politische Ordnung eine

976 Mouffe, Chantal: Das demokratische Paradox. Wien 2008. Dies.: Über das Politische. A.a.O. 977 Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. S. 27 und S. 38. 978 Hirsch, Michael: Politische Theologie des Konflikts. S. 83f. Vgl. auch Marchart, der das „französische“ Denken der politischen Differenz als einen Heideggerianismus der Linken versteht. Marchart, Oliver: Die politische Differenz. S. 59 84. 979 Schmitt, Carl: Politische Theologie. A.a.O. 980 Lefort, Claude: Fortdauer des Theologisch-Politischen? Wien 1999. 981 Schmitt, Carl: Verfassungslehre. S. 207. 982 Ders.: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. S. 39.

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ethisch-religiöse Grundlage braucht, die „Säkularisierung“ halten sie entsprechend beide für einen Mythos, wenngleich natürlich für einen sehr wirkmächtigen. Für Schmitt etwa sind „alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre (…) säkularisierte theologische Begriffe”983. Diesen „geheimen Teil des sozialen Lebens“ zu leugnen, so wiederum Lefort, also die „Prozesse, die die Zustimmung der Menschen zu einem Regime bewirken (mehr noch: die ihre Weise, in Gesellschaft zu sein, bestimmten) und diesem Regime, dieser Gesellschaftsform eine Dauerhaftigkeit in der Zeit verleihen“984, hätte eine mangelhafte Perspektive auf die spezifische Qualität des Politischen zur Folge und würde die (moderne) Demokratie unterkomplex als Verwaltung technischer Sachfragen konzipieren. Auch Lefort verstand die Gründung einer Gesellschaft zudem mitunter als eine Gemeinschaft in Abgrenzung zu Fremden.985 Gesellschaft sei dementsprechend ein „Akt des Zusammenschlusses von Menschen zu einem ´wir´ in Abgrenzung zu anderen Menschen, die von diesem ´wir´ ausgeschlossen werden“.986 Auch an anderer Stelle thematisierte er Schmitts Figur des Feindes, erwähnte diesen dabei jedoch nicht explizit: „L´inconnu, l´imprévisible, l´indéterminable sont les figures de l´ennemi“987. Dies bestätigte Gauchet: „Durch den gesellschaftlichen Konflikt setzen sich die Einzelnen und Gruppen als Feinde innerhalb ein und derselben Welt. Der Kampf zwischen den Menschen erzeugt Zugehörigkeit und stellt die Dimension der Gemeinschaft wieder her.“988 Derrida schließlich stellt rückblickend bereits die Arbeiten am Centre de Recherches Philosophiques sur le Politique in einen Zusammenhang mit dem Werk und Begriff des Politischen Carl Schmitts, welchen die Autoren freilich nicht explizit gemacht hätten. Der Anspruch sei es gewesen, „eine Wissenschaft des Politischen als solchem ihrer begrifflichen Grundlagen, ihrer semantischen und phänomenologischen Axiome de iure zu versichern. Wir haben es mit einem Politologen zu tun, der jedem anderen regionalen Wissen, jeder nicht „politischen Erfahrung“ das Recht abzusprechen gedenkt, eine Politologie, eine Ontologie oder Epistemologie des Politischen zu begründen. Was das rein Poli-

983 984 985 986 987 988

Ders.: Politische Theologie. S. 43. Lefort, Claude: Fortdauer des Theologisch-Politischen? S. 34. Ders.: Réflexions sociologiques sur Machiavel et Marx. S. 129. Howard, Dick: The Marxian Legacy. S. 198. Lefort, Claude: La logique totalitaire. S. 102. Gauchet, Marcel: Die totalitäre Erfahrung und das Denken des Politischen. S. 233.

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III. Leforts politische Theorie der radikalen Demokratie

tische ist, kann uns einzig das Politische selbst lehren“989. Insofern kann Lefort wohl zu den Autoren gezählt werden, die Schmitt gelesen und seine Ideen in Teilen verarbeitet haben,990 jedoch nicht aus Enttäuschung über den Staat und schon gar nicht mit dem Ziel, diesen zu überwinden. Der Staat bleibt notwendiger aber eben nicht alleiniger Bezugspunkt politischer Auseinandersetzung, eine Demokratie „gegen den Staat“ ist keine Demokratie ohne den Staat. Über das Werk Carl Schmitts, vor allem über dessen Kritik am Parlamentarismus und Liberalismus besteht eine weitere Verbindung des Denkens Leforts zu jenem Rousseaus,991 erwähnt hat Lefort Schmitt jedoch mit keinem Wort. In Verbindung mit oben Gesagtem darf also angenommen werden, dass Lefort Schmitts Rousseau-Perspektive nicht nur kannte, sondern diese übernommen hat und sie ihm in Verbindung mit derjenigen Talmons daher den Grund lieferte, Rousseau (zum eigenen Schaden) aus dem radikaldemokratischen Diskurs herauszuhalten.

989 Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft. S. 162 (Hervorhebung im Original). 990 Hirsch, Michael: Politische Theologie des Konflikts. S. 83 - 111. 991 Schmitt, Carl: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. A.a.O.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

IV. 1. Über die kontingenten Grundlagen von Recht, Macht, Wissen und Gesellschaft: Die Diskurse IV. 1. 1. Ein Sägen an den Thronen - Der Diskurs über die Wissenschaften und Künste Rousseaus erstes politiktheoretisch relevante Veröffentlichung war die auch als „erster Diskurs“ bezeichnete Schrift über die Wissenschaften und Künste, seine Antwort auf die Preisfrage der Akademie von Dijon, mit der er quasi über Nacht berühmt wurde.992 Für Leo Strauß war diese der Schlüssel zu Rousseaus Werk und Intention, die Kontroverse, die unter den Exegetinnen und Rezipientinnen um diese geführt wurde und wird, reflektiert laut seiner Ansicht die grundlegende Debatte um die Natur der modernen Demokratie. Rousseau selbst habe sich ja schließlich auch als erster Demokratietheoretiker verstanden.993 Ohne Strauß Lesart Rousseaus, wonach dieser einem philosophischen Elitenprojekt das Wort geredet habe, folgen zu müssen, kann dennoch der Punkt aufgegriffen werden, wonach Rousseau die klassische Philosophie auf Basis der modernen Wissenschaften wiederbeleben wollte, insofern man diesen Anspruch in Analogie zu Leforts Programm einer Rückführung der Politischen Philosophie ins Zentrum des öffentlichen Lebens versteht. Daher war Rousseau weder ein Platoniker, noch der Diskurs eine einfache „explosion of temperament“994. Ganz im Gegenteil kann dieser als Beleg für Rousseaus Kontingenzbewusstsein gelesen werden, welches er in den Dienst der Freiheit und Autonomie des Menschen innerhalb bestehender Gemeinwesen stellt.

992 Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung über die von der Akademie zu Dijon gestellte Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe. In: Rousseau, Jean-Jacques: Sozialphilosophische und Politische Schriften. Herausgegeben von Eckhart Koch. München 1981. S. 5 - 35 (WuK). 993 Strauß, Leo: On the Intention of Rousseau.A.a.O. Siehe auch: Strauß, Leo: Naturrecht und Geschichte. A.a.O. 994 Vaughan, Charles E.: The Political Writings of Jean-Jacques Rousseau. Vol. I. Oxford 1962. S. 8.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

Dabei darf die Schrift getrost als „Frontalangriff gegen die Aufklärung, gegen die Vernunft und die Wissenschaft der Zeit – genauer gesagt gegen die Nebenfolgen dieser zivilisatorischen Entwicklung: den Verlust der Tugend“995 gelesen werden, ohne dass dies einen Widerspruch bedeutete. Es wäre jedoch voreilig, Rousseau deshalb zum Anti-Aufklärer par excellence abzustempeln.996 Es war nicht die Idee der Vernunft per se, die Rousseau ablehnte, vielmehr muss er als Kritiker einer bestimmten Art oder besser eines hegemonialen Verständnisses der Aufklärung gelten. Ziel seiner Angriffe war der herrschende Spezialdiskurs der französischen Aufklärer seiner Zeit, Adressaten seiner Streitschriften also die höfischen Gelehrten und königsnahen Philosophen, allen voran Voltaire. Daher muss der erste Diskurs vor allem mit Blick auf seine Adressaten gelesen werden, um in dieser Bedeutung erfasst zu werden. Unabhängig von aller mitunter berechtigten Kritik an der mangelnden inhaltlichen argumentativen Stringenz (die Rousseau selbst eingestanden hat, habe es der Schrift doch an „an Feuer und Kraft“ ebenso gemangelt, wie an „Logik und Ordnung“997) kann sie dann als erste Beschäftigung Rousseaus mit den Grundlagen des herrschenden Wissens und dessen Zusammenhang zu bestehenden gesellschaftlichen Ordnungen sowie daraus abgeleitet den Bedingungen der Möglichkeit für ein selbstbestimmtes und freiheitliches Zusammenleben und deren Gefährdung innerhalb politischer Gemeinwesen gelesen werden. Den ersten Diskurs daher als vulgäre Kulturkritik abzutun, greift eindeutig zu kurz.998 Bereits die auf dem Frontispiz abgebildete prometheische Szene darf dann gegen die traditionelle Auslegung nicht elitistisch oder paternalistisch gedeutet werden. Rousseau kommentierte diese wie folgt: „Der Satyr (…) wollte das Feuer beim ersten Anblick küssen und umarmen; allein Prometheus rief ihm zu: Sartyr Du wirst Deinen Bart beweinen, denn es brennt, wenn man es anrührt“999. Prometheus stahl dem Mythos nach bekanntlich den Göttern das Feuer, das für das exklusive Herrscherwissen

995 Schwaabe, Christian. Politische Theorie. S. 13. 996 So zum Beispiel Blom, Philipp: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München 2013. 997 Rousseau, Jean-Jacques: Die Bekenntnisse. In: Ders.: Die Bekenntnisse. Die Träumereien des einsamen Spaziergängers. München 1978. S. 7 - 646, hier S. 347. 998 Vgl. etwa Ottmann, Henning: Geschichte des Politischen Denkens. S. 465 - 469. 999 WuK, S. 21.

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IV. 1. Über die kontingenten Grundlagen von Recht, Macht, Wissen und Gesellschaft

stand, übergab es den Menschen und wurde dafür von den Göttern bestraft. Die Geschichte ging als Sinnbild der Revolution und Emanzipation in den Kanon des abendländischen politischen Denkens ein und findet sich dort von Platon bis Marx. In Rousseaus Fall verhält es sich nun so, dass Prometheus den Sartyr lediglich warnt, er ihm das Wissen aber weder vorenthält, noch paternalistisch überlässt. Ungeachtet des Hinweises auf die Gefahren der Flamme, bleibt die Entscheidung dem Sartyr überlassen. Wenn man diese Warnung als den Hinweis darauf liest, dass das Wissen zwei Seiten hat, eine die – um im Bild zu bleiben – Licht und Wärme spendet und eine andere, die Schmerzen, Verletzungen und schlimmstenfalls den Tod herbeiführen kann,1000 weist dies in Analogie zu Lefort auf das Grundmotiv der „gefährlichen Freiheit“. Wie ein zweischneidiges Schwert befreit das Wissen die Menschen einerseits von metaphysischen Abhängigkeiten und ermöglicht so potenziell die Befreiung von traditionell oder religiös legitimierten Herrschaftsformen, zugleich aber überlässt es sie dann auch der radikalen Unbestimmtheit und Unwissenheit selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Handelns. Die aus der Emanzipation des Wissens resultierende Freiheit bezeichnete Rousseau in den Betrachtungen über die Regierung Polens als eine „Nahrung aus gutem Saft, doch schwer zu verdauen; es gehört ein gesunder Magen dazu, sie zu vertragen“1001. Mag sein, dass er sich dabei zu einem gewissen Teil selbst als Prometheus verstanden hat, als welcher er Genies erleuchtet und gewöhnliche Menschen vor der Gefahr des Wissens warnt,1002 das beweist ja aber nur, dass er der menschlichen Freiheit eine gefährliche Seite zuschrieb, um die man wissen muss und mit der es umzugehen gilt. Wenn Rousseaus Werk insgesamt seinen Lesern also ein hohes Maß an „Ambiguitätstoleranz“ abverlangt,1003 dann nur deswegen, weil modernen demokratischen Gesellschaften diese Ambiguitäten als Resultat der Kontingenz am Grunde aller gesellschaftlichen Ordnungen wesensmäßig inhärent sind, worin ja mit Lefort wiederum genau die Bedingung der Möglichkeit von individueller Freiheit im Gemeinwesen wurzelt. Um diese genießen zu können,

1000 Siehe auch Meier, Heinrich: „Les rêveries du Promeneur Solitaire“: Rousseau über das philosophische Leben. München 2005. S. 14ff. 1001 OC III, S. 974. 1002 Kauffmann, Clemens: Rousseaus Politisches Reden. In: Herb, Karlfriedrich/ Scherl, Magdalena (Hrsg.). Rousseaus Zauber. S. 161 - 175, hier S. 164. 1003 Herb, Karlfriedrich/ Scherl, Magdalena: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.). Rousseaus Zauber. S. 11 - 18, hier S. 12.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

war auch für Rousseau die Schaffung eines kollektiven Kontingenzbewusstseins die erste Bedingung, die dann als einer der wichtigsten konzeptionellen Fluchtpunkte seiner politischen Schriften verstanden werden muss. Daher wollte er sich im ersten Diskurs auch explizit nicht mit „metaphysischen Subtilitäten“ befassen, sondern mit denjenigen „Wahrheiten (…), die auf das Glück des Menschengeschlechts abzielen“1004. Damit machte er deutlich, dass Wahrheiten keine überzeitlich und überirdisch gültigen, quasi-transzendentalen Objektivitäten, sondern sozial konstruierte und politisch manifestierte Tatsachen sind, diesen aber als Tatsachen eben dennoch eine ordnungsstiftende Funktion zukommt, welche aus einer normativen Perspektive dem nicht näher bestimmten Glück eines ebenfalls nicht näher bestimmten Kollektivs zu dienen hat. Indem er jedoch ihren immanenten Charakter hervorhob, gab er sie der Kritik Preis und befreite die Menschen dadurch vom Zwang unreflektierter Autoritätshörigkeit. Dass eine solche Position den meisten Menschen unbequem ist und daher auf Widerstand stößt, war ihm dabei durchaus bewusst: „Denn da ich all dasjenige, was heutzutage von aller Welt bewundert wird, vor den Kopf stoße, so kann ich nichts anderes als allgemeinen Tadel erwarten. (…) Es werden sich zu allen Zeiten Leute finden, die sich von den Meinungen ihres Jahrhunderts, ihres Landes und ihrer Gesellschaft fesseln lassen: Derjenige, der heutzutage einen Freigeist und Philosophen vorstellt, wäre aus eben dem Grunde zu Zeiten der Liga nichts als ein Fanatiker gewesen“1005. Die Wertmaßstäbe und Normen einer Epoche, das Sag-, Denkund Machbare ist also mit Rousseau immer insofern relativ, als es das Ergebnis von spezifischen Machtverhältnissen und letztlich kontingenten politischen Entscheidungen ist. Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass dem so verstandenen Wissen aufgrund seines Zustandekommens keine Bedeutung zukommt. Jede politische Gemeinschaft hat und braucht ihre spezifisch eigenen partikularen und temporären Wahrheiten, denen alle politischen und theoretischen Überlegungen Rechnung tragen müssen. Rousseau wies sich damit als Post-Fundamentalist und Denker der Immanenz aus und nahm den prometheischen Kampf im Namen der Freiheit gegen die herrschenden Meinungen seiner Zeit auf, wozu zuvorderst sowohl die traditionelle Ständeordnung des Ancien Régime, als auch das hegemo-

1004 WuK, S. 9. 1005 Ebd.

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IV. 1. Über die kontingenten Grundlagen von Recht, Macht, Wissen und Gesellschaft

niale Verständnis der französischen Aufklärungsphilosophie zählten. Rousseaus Kritik am Luxus und Wohlstand folgt daher nicht unbedingt zuerst einer Kritik an einer allgemeinen Dekadenz gemessen an seinem vermeintlichen Ideal spartanischer Verhältnisse, sondern reiht sich in die Kritik an den Wissenschaften und Künste dahingehend ein, als dadurch nicht nur die Bürgerinnen dem öffentlichen Leben entzogen, sondern sie dadurch vor allem der herrschenden Meinung unterworfen würden.1006 Rousseaus erster Diskurs muss also in den Horizont der von Lefort ausführlich thematisierten demokratischen Revolution verortet und als dem Anspruch verpflichtet gelesen werden, jede Ordnung und alles Wissens der Hinterfragung und Herausforderung seitens der Bürgerinnen zugänglich zu machen. Niemand sollte sich vor wissenschaftlichen Autoritäten und herrschenden Meinungen einschüchtern lassen, jede hat nicht nur die Möglichkeit, sondern das Recht und die Pflicht, die Grundlagen der Macht, des Rechts und des Wissens zu hinterfragen und zu kritisieren, die dadurch zu einem ergebnisoffenen gesellschaftlichen Projekt werden: „Ich misshandle nicht die Wissenschaft, sondern ich verteidige die Tugend (…) da ich meiner natürlichen Einsicht nach die Wahrheit behauptet habe.1007 Tugend bezeichnet dann ein gewisses reflexives Potential und dessen Abrufung im Zusammenhang mit der Kritik am herrschenden Wissen und an den durch dieses gestützten politischen und gesellschaftlichen Ordnungen: „Während die Regierung und die Gesetze über die Sicherheit und die Wohlfahrt der versammelten Menschen wachen, breiten die Wissenschaften, die Literatur und die Künste, die weniger despotisch, vielleicht aber desto mächtiger sind, über die ihnen angelegten Ketten Blumenkränze aus, ersticken bei ihnen diese Empfindung der ursprünglichen Freiheit, um derentwillen sie doch geboren zu sein schienen, lassen sie ihre Sklaverei lieben und bilden aus ihnen, was man gesittete Völker nennt. Die Notwendigkeit schuf die Throne, die Wissenschaften und die Künste haben sie befestigt. Ihr Mächte der Erde, liebt die Talente und schützt die, welche an ihrer Verbesserung arbeiten. Ihr gesitteten Völker, verbessert sie: Glückliche Sklaven, ihnen habt ihr den zarten und feinen Geschmack zu verdanken, auf den ihr so stolz seid, diese sanfte Gemütsart und diese Höflichkeit der Sitten, die den Umgang bei euch so vertraulich und so leicht macht, mit einem Wort, den Schein aller Tugenden, ohne eine einzige davon

1006 OC III, S. 405. 1007 WuK, S. 10.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

wirklich zu besitzen“1008. Nicht den Ketten und Thronen als den Sinnbildern für die Einschränkung der Freiheit und Herrschaft und Ordnung gilt die Kritik, sondern deren Verschleierung durch die Wissenschaften und Künste, welche den Menschen das Bewusstsein um die Freiheit nimmt, einmal errichtete Ordnungen verändern, herrschendes Wissen hinterfragen und Wahrheiten zurückweisen zu können, zu dürfen und mitunter sogar zu müssen. Rousseaus Schrift zielt also über die Schaffung eines Kontingenzbewusstseins darauf ab, den Menschen in Erinnerung zu rufen, dass sie sich als Kollektiv die Ketten nicht nur selbst angelegt und die Throne selbst gezimmert haben, sondern dass auch sie es sind, die deren Schlüssel und Baupläne in der Tasche tragen. Das ist dann keinesfalls gegen die Prinzipien der Aufklärung tout court gerichtet, viel eher kritisierte Rousseau hier, dass die dominante Form der Aufklärung ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht wurde und ihre emanzipatorischen Versprechen nicht einlöste. Er war in diesem Sinne also kein Anti-Aufklärer, sondern eher ein Gegen-Aufklärer, mithin also ein viel radikalerer Vertreter derer Prinzipien, als ihre selbsternannten Fackelträger unter seinen Zeitgenossen.1009 Wenn Rousseau daher vom trügerischen Schein der Sitten seiner Zeit sprach, er die vorgetäuschten und fälschlich als Tugenden etikettierten Höflichkeiten des höfischen Zeremoniells der Natürlichkeit und Einfachheit des antiken Roms und Athens gegenüberstellte, er die bäurischen Sitten, die Zeit, bevor die „Kunst (uns) geschickte Manieren gelehrt und unseren Leidenschaften eine gekünstelte Sprache in den Mund gelegt hatte“1010 pries, dann nicht deswegen, weil dies der „Natur“ des Menschen entspräche, die zudem jeder Kultur überlegen wäre. Im Gegenteil: „Die menschliche Natur war im Grunde nicht besser“ als die durch Wissenschaften und Künste geschaffene Kultur. Aber, und das ist der entscheidende Punkt, „die Menschen fanden ihre Sicherheit darin, dass sie einander leicht durchschauten“1011. Die „Verschiedenheit des Verhaltens“ und die „Verschiedenheit der Gemütsarten“, also die Differenz der Menschen zueinander, gewährte diesen paradoxerweise die nötige Sicherheit im Um-

1008 WuK, S. 11f. 1009 Siehe zu einer alternativen Lesart „radikaler“ Aufklärung auch Israeli, Jonathan: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650 - 1750. Oxford 2001. 1010 WuK, S. 13. 1011 Ebd.

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gang miteinander. Dies darf jedoch nicht als proto-totalitäres Plädoyer für eine transparente und homogene Gesellschaft missverstanden, sondern muss im Gegenteil als Affirmation von Differenzen innerhalb einer Gemeinschaft gelesen werden. Nur die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit ermöglicht ein gedeihliches Zusammenleben, da nur so der Umgang mit der Nächsten als immer schon de facto Verschiedener gelernt und ausgeübt werden kann. Etikette und Normen des höflichen Umgangs hingegen verdecken diese Unterschiede, verunmöglichen die gegenseitige Anerkennung als einander Verschiedene und tragen somit zu der von Rousseau kritisierten Homogenität bei, wie sie durch das Befolgen allgemeingültiger Etikette befördert wird. So zielte seine Kritik letztlich darauf ab, dass die Differenzen an Anschauungen, Leidenschaften, Wünschen und Interessen zwischen den Menschen durch die Macht, die Wissenschaft und das Recht symbolisch vereinheitlicht und damit geleugnet werden. Die Sitten, missverstanden als Etiketten höflichen Umgangs, dienen so den Herrschenden als Mittel der Homogenisierung ihrer Untertanen, der Einebnung derer Differenzen und der Verunmöglichung der Herausbildung einer demokratischen Öffentlichkeit. Das unhinterfragte Befolgen von Etiketten muss als Auswirkung machtvoll oktroyierter Verhaltensnormen kritisiert werden, welche die Etablierung eines kollektiven Kontingenzbewusstseins und der Herausbildung einer kritischen Bürgerinnenschaft im Weg stehen. So wird mittels der Erziehung zu einem künstlichen Umgang miteinander, für die Rousseau eben die Wissenschaften und Künste im Dienst der politischen Machthaber verantwortlich machte, das Bewusstsein der Untertanen für ihre Rolle als Bürgerinnen ausgeschaltet, was dann den Platz für den Glauben an eine göttlich oder historisch legitimierte Gesellschaftsform schafft, als deren legitimer Repräsentant sich jeder absolutistische Herrscher unwidersprochen präsentieren konnte: „Die Höflichkeit fordert ohne Unterlass; der Anstand befiehlt; man folgt beständig dem allgemeinen, niemals seinem eigenen Sinne. Man wagt nicht mehr als derjenige angesehen zu werden, der man wirklich ist; und unter diesen beständigen Zwange müssen die Menschen, welche die Herde, die man Gesellschaft nennt, bilden und sich in einerlei Umständen befinden, alle dieselben Dinge tun wenn nicht stärkere Beweggründe sie davon abhalten. Man weiß daher niemals recht, mit wem man es zu tun hat“1012. Die Folge ist, dass es „keine aufrichtige Freundschaft mehr; keine wirkliche Hochachtung; kein

1012 Ebd.

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rechtes Vertrauen (gibt). Argwohn, Verdacht, Furcht, Kälte, Zurückhaltung Hass und Verrat werden sich beständig unter diesem einförmigen und falschen Deckmantel der Höflichkeit, unter dieser so gerühmten Feinheit des Betragens verbergen, die wir der Aufklärung unseres Zeitalters zu verdanken haben“1013. Der Verweis auf die antiken Stadtstaaten diente ihm ebenfalls als Kritik an den Wissenschaften und Künsten als ein Werkzeug in der Hand der herrschenden Autoritäten. Die Menschen selbst erscheinen dann nur noch nur als Objekte wissenschaftlicher Diskurse, als passive Trägerinnen anerzogener und machtvoll vermittelter Verhaltensmuster, sozusagen als Akzidenz der Wissenschaften und Künste und nicht als autonome Indiviuen, die über ihre grundlegenden Belange selbst zu entscheiden haben. Diesen Zustand als die Folge von Korruption und einer Entmündigung durch die Mächtigen aufzudecken, ist der Anspruch, dem Rousseau mit dem ersten Diskurs folgte. Sein Anliegen war nicht die Wiederherstellung einer antiken Tugendrepublik nach dem Vorbild Spartas, sondern die Bewusstmachung selbstverschuldeter Unmündigkeit mittels eines Vergleichs mit Sparta und damit zusammenhängend der Aufweis der historischen Kontingenz der jeweils eigenen Gesellschaftsordnung.1014 Rousseaus Post-Fundamentalismus zieht sich durch den gesamten Verlauf des Diskurses und findet sich etwa auch dort, wo er diejenigen Völker lobte, bei denen man die „Tugenden lernte, wie man bei uns die Wissenschaft lernt:„(…) sie haben gar wohl gewusst, dass in anderen Gegenden müßige Leute ihr Leben damit verbrachten, über das höchste Gut, über das Laster und über die Tugend zu streiten, und das stolze Schwätzer sich selbst die größten Lobreden hielten und alle anderen Völker mit dem verächtlichen Namen der Barbaren belegten; allein sie haben die Sitten derselben betrachtet und gelernt, ihre Gelehrsamkeit zu verschmähen“1015. Unabhängig von der Frage, ob Rousseaus Beschreibung historisch zutreffend ist oder nicht, wird an der Passage deutlich, dass er keine universell gültige, einzig legitime Gesellschaftsform und –norm anerkannte, sondern dass vielmehr ein jedes Regime, mit all seinen Sitten, Traditionen, Tugenden, Bräuchen, Riten und Institutionen weder einfach eine unveränderliche oder gar eine gemessen an universellen Maßstäben defizitäre Gegebenheit ist, sondern das jeweils

1013 WuK, S. 13f. Hervorhebung von mir. 1014 Zu Rousseaus Sparta-Rezeption siehe: Rawson, Elizabeth: The Spartan Tradition in European Thought. Oxford 1991. 1015 WuK, S. 16f.

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spezifische Ergebnis historischer Entwicklungen und politischer Entscheidungen. Jede Ordnung, zu allen Zeiten und an allen Orten, muss also als jeweils spezifische Antwort auf die Frage danach, wie Menschen zusammenleben wollen, verstanden werden. Universalistische Prinzipien überzeitlich gültiger Normen und Gesellschaftsformen, wie sie sich die Aufklärung mitunter auf die Fahnen schrieb, lehnte Rousseau ab und überantwortete deren Gestaltung der freien und bewussten Entscheidung der Bürgerinnen: „Die Sophisten, die Dichter, die Redner, die Künstler wissen ebenso wenig als ich, was wahr, was gut und was schön ist, allein mit dem Unterschied, dass diese Leute alle, obgleich sie nichts wissen, dennoch etwas zu wissen glauben, während ich, obgleich ich nichts weiß, doch daran ganz und gar nicht zweifle. So besteht also die ganze Überlegenheit an Weisheit, welche mir das Orakel zugestanden, bloß darin, dass ich vollkommen überzeugt bin, ich wisse das nicht, was ich nicht weiß“1016. Wer also die Existenz oder gar den Besitz letztgültigen Wissens behauptet, liegt einer Selbsttäuschung auf oder lügt. Wenn Rousseau in diesem Zusammenhang von „glücklicher Unwissenheit“1017 sprach, ist das keine Verklärung eines kollektiven vorreflexiven Urzustandes, sondern die Kritik an der Kritiklosigkeit gegenüber der Dominanz an bestehenden Wissensformationen: „Der dichte Schleier, hinter welchem sie (die ewige Weisheit; M.O.) alle ihre Wirkungen verborgen hat, schien uns hinlänglich daran zu erinnern, dass sie uns nicht zu eitlen Untersuchungen bestimmt hat (…). Ihr Völker wisset also, dass Euch die Natur vor der Wissenschaft hat bewahren wollen, so wie eine Mutter einem Kinde eine gefährliche Waffe aus den Händen reißt; dass alle die Geheimnisse, welche sie vor Euch verbirgt, ebenso viele Übel sind, vor denen sie Euch bewahrt; und dass die Mühe, welche Euch das Lernen kostet, nicht die geringste ihrer Wohltaten ist. Die Menschen sind verderbt; aber sie wären noch ärger, wenn sie zu ihrem Unglück gelehrt geboren würden“1018. Rousseau lieferte hiermit kein Plädoyer für den Verbleib in Unwissenheit und naiver Abhängigkeit. Wenn er die Redlichkeit als eine Tochter der Unwissenheit bezeichnet, dann ist es eine ganz bestimmte Art von Wissen, gegen die er anschreibt, beziehungsweise ein bestimmter Umgang mit der Legitimität und Autorität dieses Wissens als universell und quasi-metaphysisch: „Die Sternkunde stammt aus dem Aberglauben; die Beredsamkeit aus dem Ehr1016 WuK, S. 18. 1017 WuK, S. 20. 1018 Ebd.

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geiz, dem Hass, der Schmeichelei und der Lüge; die Messkunst aus dem Geiz; die Naturlehre aus einer eitlen Neugierde; alle und selbst die Sittenlehre, aus dem menschlichen Stolz. Die Wissenschaften und Künste haben also ihr Dasein unseren Lastern zu verdanken!“1019. Für Rousseau haben Erkenntnis, Wissen und damit auch die Wissenschaften und Künste keine objektiven, universellen und überzeitlichen Wahrheiten zu ihrem Gegenstand. Vielmehr ist alles Wissen und sind alle auf diesem Wissen aufbauenden Ordnungen das Resultat des bloßen Faktums menschlichen Zusammenlebens. Die Mühe des Lernens auf sich zu nehmen, bedeutet daher die alternativlose Bedingung für ein freies und selbstbestimmtes Leben innerhalb errichteter Ordnungen. Dieser Kontingenzaufweis spricht dabei nun wie gesagt noch nicht per se jeder Ordnung ihre Legitimität ab. Die Notwendigkeit von Ordnung und einem zumindest zeitweisen und minimalen Grundkonsens, ohne den keine Gemeinschaft vorstellbar wäre, erkannte auch Rousseau vorbehaltlos an. Ob die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung aber legitim sind oder nicht, obliegt letztlich der Entscheidung des Souveräns. Erste Bedingung einer solchen – wie auch immer zu treffenden – Entscheidung aber ist das Wissen um die Kontingenz am Grund der eigenen politischen Ordnung, mithin das, was hier als Kontingenzbewusstsein bezeichnet wird. Genau deswegen weist Rousseau auf den „schimpflichen Ursprung“ der Wissenschaften hin,1020 da von einem politischen Standpunkt aus betrachtet jede Bürgerin besser daran täte, wenn sie „nichts als die Pflichten des Menschen und die Notwendigkeiten der Natur bedächte und alle (…) Zeit dem Vaterlande, den Unglücklichen und (…) Freunden widmete“1021. Rousseau forderte also eine Abkehr von metaphysischen Spekulationen und eine Zuwendung zu spezifisch immanenten Fragen und Problemen der konkreten politischen Gemeinschaft als Gegenstand der öffentlichen Angelegenheiten der Bürgerinnen und nicht als Objekt wissenschaftlicher Eliten. Wer wollte sich schließlich mangels eines objektiven Kriteriums, an dem sich eine „Wahrheit“ jemals festmachen ließe, wer wollte in Anbetracht des „Haufens verschiedener Meinungen“1022 je endgültig festlegen, was wahr oder richtig ist, was wichtig ist und was nicht? Das ist der Grund, warum Rousseau sich für einen Zustand der „Unwissenheit“ stark

1019 1020 1021 1022

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WuK, S. 21. Hervorhebung von mir. WuK, S. 22. Ebd. Ebd.

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machte: weil er damit eine Abkehr von dem Allmachtsansprüchen und dem Diktat der modernen Wissenschaften im Dienste der Herrschenden verband. Stattdessen forderte er die Besinnung auf die Tugend des Patriotismus, verstanden als die affektive Bindung einer selbstbewussten Bürgerschaft an ihr jeweiliges Gemeinwesen sowie der Bürgerinnen aneinander. Hinter Rousseaus Kritik an den modernen Wissenschaften zeichnete sich also die (Re-) Aktivierung eines Bürgerideals ab, welches er aus dem öffentlichen Diskurs und damit dem Horizont des Sag-, Denk- und Machbaren verdrängt sah. Er sprach besonders den Wissenschaften jeden praktischen Nutzen ab, sofern sie sich nicht mit den für eine politische Gemeinschaft wesentlichen Fragen nach der Gefahr und der Aufrechterhaltung der Freiheit beschäftigten. Den Philosophen warf er Eitelkeit und Müßiggang vor, was ein noch weit schlimmeres Übel, nämlich den Luxus, hervorbringe.1023 Rousseaus Kritik am Luxus als Grundübel ist als solche wenig originell und reiht sich in einen langen und einflussreichen republikanischen Theoriestrang ein, der über Machiavelli bis zurück zu Aristoteles reicht. Wenn er aber den antiken Staatsmännern zugutehielt, „immerfort von Sitten und Tugenden“ geredet zu haben wohingegen die Staatsmänner seiner Zeit nur noch „vom Handel und vom Gelde“1024 gesprochen haben, verbindet ihn diese Kritik mit aktuellen Angriffen gegen die Hegemonie eines marktorientierten Denkens in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen, allen voran in der Politik, wie sie auch das gegenwärtige postmarxistische radikaldemokratische Denken anleitet. Diese Kritik an der Dominanz einer ökonomischen Logik in Fragen des öffentlichen und politischen Lebens griff Rousseau in den Betrachtungen über die Regierung Polens wieder auf und formulierte diese dort zu einem der wichtigsten Kampfplätze gesellschaftspolitischer Reformprojekte aus. Seine Formulierung im ersten Diskurs, wonach ein Mensch in diesem Verständnis nur so viel wert sei, wie er verbrauche,1025 spricht jedoch bereits die Sprache der Kritik an der für das moderne neoliberale Denken (ideal-) typischen rationalen Bewertung sozialer Phänomene nach ökonomischen Parametern. Und gerade diese Orientierung befördert nicht zuletzt dank der Schützenhilfe der Wissenschaften und Künste die Ausbildung eines oktroyierten Massengeschmacks und damit einhergehend einer Gemeinschaft vereinzelter, an der 1023 WuK, S. 23. 1024 WuK, S. 24. 1025 Ebd.

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persönlichen Nutzenmaximierung mehr denn an politischen Belangen interessierter und auf ihren kurzfristigen Lustgewinn ausgerichteter Individuen, oder mit einem modernen Begriff: Konsumenten. Anstatt Kinder dann in ihre Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen zu unterrichten, anstatt sie in erster Linie zu Bürgerinnen zu erziehen und sie in den Tugenden der „Großmut, Billigkeit, Menschenliebe und Tapferkeit“1026 zu unterrichten, würde ihnen schon früh beigebracht, den Weg einer Spezialisierung einzuschlagen und ihre Identität dann nicht politisch, sondern in erster Linie über eine exklusive, sie von den Mitmenschen unterscheidende Profession auszubilden, so dass „(wir) Naturforscher, Geometer, Chemiker, Astronomen, Dichter, Musiker und Maler (haben), doch wir haben keine Bürger mehr!“1027 Besonders hart geht er mit der Philosophie ins Gericht, wenn er gegen Ende des ersten Diskurses zum großen Rundumschlag gegen die Philosophen unter seinen Zeitgenossen ausholt und nach deren Nutzen und Bedeutung fragt: „Was ist Philosophie? Was enthalten die Schriften der bekanntesten Philosophen? Welches sind die Lehren dieser Freunde der Weisheit? Könnte man sie (…) nicht für einen Haufen Scharlatane halten, von denen jeder für sich (…) riefe: Kommt zu mir, ich allein betrüge nicht?“1028. Auf der einen Seite widersprächen sie sich zum Teil radikal, sowohl in ihren Prämissen als auch in den daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen, auf der anderen Seite aber würde ihnen allen gleichermaßen Ruhm und Ehre über den Tod hinaus zuteil und zwar durch die „Buchdruckerkunst (…) unter der Herrschaft des Evangeliums“, welche die „Narrheiten des menschlichen Geistes (…) verewige“. Dieser Tatsache habe man es zu verdanken, dass den „künftigen Jahrhunderten eine zuverlässige Geschichte des Fortschritts und des Nutzens unserer Wissenschaften und Künste“ überliefert würde.1029 Rousseau kritisierte hier also die Selbststilisierung der Philosophie der Aufklärung als eine bedeutsame Etappe auf einem quasi-heilsgeschichtlichen Stufenplan einer Emanzipation des Menschengeschlechts, welche durch nichts weiter gedeckt ist, als die ihr qua ihrer wissenschaftlichen Autorität im Dienste der Herrschenden von den Herrschaftsunterworfenen zugesprochene Legitimation. Die führenden Wissenschaften schrieben also derart erfolgreich ihre eigene Geschichte in

1026 1027 1028 1029

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WuK, S. 28. WuK, S. 30. WuK, S. 31. WuK, S. 32. Hervorhebung von mir.

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eine allgemeine Geschichte des Fortschritts ein, dass sie sich irgendwann an einem Ort einrichten konnten, wo sie keine gesellschaftliche Kritik mehr erreichte oder gar von dort vertreiben kann. Als Besetzerinnen eines solchen Ortes müssen sie dann der Gegenstand emanzipatorischer und demokratischer Projekte sein, die sich der Aufdeckung der kontingenten historischen Grundlagen der Wissenschaften und daraus resultierender Wissensformationen zu widmen haben, um deren Charakter als originärer Aushandlungsgegenstand politischer Gemeinschaften aufzudecken und den Bürgerinnen zumindest der Möglichkeit nach zur Hinterfragung, Kritik und Reformulierung zurückzugeben. Rousseau kämpfte also im ersten Diskurs gegen die Selbst-Abschottung der Wissenschaften vom öffentlichpolitischen Diskurs und drängte darauf, sie für die gesamte Gesellschaft offen zu halten. Er war überzeugt, dass die Wissenschaften so lange nichts zum Menschenglück beizutragen haben, wie sie die Menschen nicht wirklich in die Mündigkeit entlassen, was sie jedoch als abgeschotteter Spezialdiskurs mit streng reglementiertem Zugang kaum leisten könnten. Sein Verdikt gegen jene Vielzahl an „einfachen Schriftstellern“, welche sich Zugang zum „Tempel der Musen“ verschafft und das „Tor der Wissenschaften unbescheiden aufgebrochen“ haben, so dass mit ihnen der „Pöbel“ in dieses „Heiligtum“ eingezogen sei, muss dann schließlich nicht zwangsläufig als eine Kritik an der Demokratisierung des Wissens gelesen werden.1030 Vielmehr kritisierte er hier die Konzentration auf gesellschaftlich und politisch irrelevantes Wissen. Er relativierte damit die allgemein anerkannte Hierarchisierung und Priorisierung einer bestimmten Art philosophischen Wissens, indem er dieses als unnützes und falsches Vorbild entlarvte, dem nicht nachgeeifert werden sollte.1031 Sicher gebe es hin und wieder Genies wie Descartes und Newton, „Lehrer des Menschengeschlechts“, denen die Beschäftigung mit den Wissenschaften erlaubt und aller Freiraum dafür geschaffen sein müsste. Letztlich müssten aber auch diese wenigen weisen Männer und Frauen politisch darauf verpflichtet werden, zum „Glück der Völker“ beizutragen und an der „Glückseligkeit des Menschengeschlechts“ zu arbeiten.1032 So lange aber „die Macht allein auf der einen Seite, Einsicht und Weisheit allein auf der anderen Seite stehen“, werden die Völker zwischen beiden Seiten weiterhin unglücklich

1030 WuK, S. 33. 1031 Ebd. 1032 WuK, S. 34.

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sein.1033 Die gesellschaftlichen Sphären der Macht und des Wissens, so ließe sich Rousseaus Anliegen hier in Analogie zu Lefort zusammenfassen, müssten daher der Aushandlung und Hinterfragung seitens aller Bürgerinnen zugänglich gemacht werden. Wenn er in dem Zusammenhang den „gemeinen Menschen“ riet, in der „Dunkelheit“ zu bleiben und anderen die Sorge darüber zu überlassen, die Völker „ihre Pflichten zu lehren“, scheint dies auf den ersten Blick nicht unbedingt ein emanzipatorischer Appell zu sein. Bedenkt man jedoch, dass es Rousseau in seiner Kritik um eine bestimmte dominante Art der Aufklärung ging, die ihre eigene Partikularität erfolgreich verbergen und sich als universales Projekt präsentieren konnte, kann diese Stelle auch genau anders herum gelesen werden.1034 Rousseau forderte dann die Bürgerinnen hier dazu auf, aus dem grellen Licht einer hegemonialen Aufklärung herauszutreten, deren paternalistischen Ansprüchen der Belehrung der Völker nicht nachzukommen und folglich auch nicht nach Anerkennung in der „Republik der Gelehrten“ zu streben, wo man eh nur „wohl zu reden“ wisse, sondern sich stattdessen darauf zu konzentrieren, „wohl zu handeln“1035. Eine kollektive vita activa ist der Freiheit weit zuträglicher, als jede edle vita contemplativa, die wohl mitunter auch dem Menschengeschlecht nützliche Genies hervorbringen mag, dies dann aber eher zufällig und auch nur sehr selten. Rousseau sah jedoch vor allem keinen Grund, diese dauerhaft auf den Thronen oder in deren Nähe zu installieren, auf Thronen zumal, die das Volk prinzipiell jederzeit wieder einreißen könnte, wenn es denn wollte und um diese Möglichkeit wüsste. IV. 1. 2. Über die unrühmlichen Ursprünge der Gesellschaft - Der Diskurs über die Ursprünge und Grundlagen der Ungleichheit Der Diskurs über die Grundlagen der Ungleichheit ist die mit Blick auf die Rezeption weitaus bedeutendere und einflussreichere der beiden Früh-

1033 Ebd. Hervorhebung von mir. 1034 Vgl. hierzu auch L´Aminot, Tanguy: Rousseau gegen den Staat. In: Baron, Konstanze/ Bluhm, Harald (Hrsg.). Jean-Jacques Rousseau im Bann der Institutionen. Berlin/ Boston 2016. S. 105 - 125. 1035 WuK, S. 35. Hervorhebung von mir.

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IV. 1. Über die kontingenten Grundlagen von Recht, Macht, Wissen und Gesellschaft

schriften Rousseaus.1036 Rousseau selbst bezeichnete diese Schrift, die er ebenfalls als Antwort auf eine Preisfrage der Akademie in Dijon nach dem „Ursprung und den Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ verfasste, als die erstmalige Gelegenheit, die Prinzipien seines Politischen Denkens vollständig zu entwickeln,1037 welche er daher dort auch „mit der größten Kühnheit, um nicht zu sagen Verwegenheit“ niedergeschrieben habe.1038 Oft wurde Rousseau in Zusammenhang mit dem so genannten zweiten Diskurs dafür kritisiert, soziale und politische Fragen vor dem Hintergrund eines spekulativen Naturzustandes zu thematisieren, ohne dabei geklärt zu haben, inwiefern man Geschichte auf einer Fiktion gründen könne und wie seine daraus abgeleiteten politische Forderungen nach Gleichheit in der Realität umsetzbar seien.1039 Dazu muss zunächst klargestellt werden, dass der zweite Diskurs keine Schrift gegen Ungleichheit an sich ist, sondern Rousseau sich mit der Frage nach deren Grundlagen und Ursprüngen als notwendiges und unleugbares Faktum menschlichen Zusammenlebens beschäftigte.1040 Das ohne Zweifel rassistische Bild mit dem Titel Il retourne chez ses Egaux, welches der Widmung und dem Titelblatt vorangestellt war und das einen Kariben zeigen soll, der von Sklavenhaltern in die Freiheit entlassen wird und zu Seinesgleichen zurückkehrt, lässt die beiden Motive, nach denen sich Rousseaus Verständnis von Ungleichheit aufteilen lässt, erkennen. So unterscheidet er im zweiten Diskurs natürliche von politischer Ungleichheit, wobei er die für ihn relevante politische Ungleichheit als weder naturgegeben, noch gottgewollt versteht, sondern „von einer Art Konvention (abhängig) und durch die Zustimmung der Menschen begründet oder zumindest autorisiert“ und die in „unterschiedlichen Privilegien, die einige zum Nachteil der anderen genießen“

1036 Siehe hierzu auch Forschner, Maximilian: Rousseau. Freiburg/ München 1977. S. 43 - 55. Fetscher, Iring: Rousseaus Politische Philosophie. S. 49 - 61. Herb, Karlfriedrich: Rousseaus Theorie legitimer Herrschaft. S. 73 - 107. 1037 Rousseau, Jean-Jacques: Œuvres Complètes. Band I. Les Confessions - Autres textes autobiographiques. Édition sous la direction de Marcel Raymond avec la collaboration de Bernard Gagnebin, Robert Osmont. Paris 1959.S. 388f (OC I). 1038 OC I, S. 407. 1039 De Man, Paul: Allegories of Reading. S. 135 - 159. Lacoue-Labarthe, Phillipe: Poétique de l´histoire. Paris 2002. Althusser, Louis: Sur le Contrat Social (les décalages). In: L´Impensé de Jean-Jacques Rousseau, Cahiers pour l´analyse. Paris 1967. S. 5 - 42. 1040 DU, S. XXIf.

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besteht.1041 Es ist unbestritten inakzeptabel und kann nur, um es zu wiederholen, als rassistisch bezeichnet werden, wenn eine angebliche „natürliche Ungleichheit“, wenn auch unausgesprochen, als das Gegenteil, nämlich naturgegeben, gottgewollt und unabhängig von Konventionen, Machtund Gewaltverhältnissen existent behauptet und aus den Überlegungen und der Kritik ausgeklammert wird. Rousseau konnte oder wollte das nicht sehen, dabei wäre der Erkenntnissprung von seiner Diskussion der Grundlagen der politischen Ungleichheit zu jener der „natürlichen“ Ungleichheit kein allzu großer gewesen, ganz im Gegenteil. So schrieb Rousseau ja selber, dass „unter den Unterschieden, die zwischen den Menschen bestehen, manche als natürlich gelten, die einzig und allein das Werk der Gewohnheit und der verschiedenen Lebensweisen sind, welche die Menschen in der Gesellschaft annehmen“1042Umso wichtiger ist es daher, im Anschluss an die Rekonstruktion seiner Argumentation diese auch kritisch an sein eigenes Werk wie die Rezeptionsgeschichte anzulegen, um blinde Flecken aufzuzeigen und zu kritisieren.1043 Rousseau war Mitglied einer zutiefst rassistischen Gesellschaft und als Persönlichkeit ganz bestimmt nicht ohne Fehl und Tadel, hier soll jedoch nicht seine Persönlichkeit, sondern sein Werk interessieren und nicht zuletzt das, was aus diesem gerade zur Bekämpfung zum Beispiel rassistischer Strukturen gewonnen werden kann. Mit Blick auf die politische Ungleichheit unterschied er in Analogie zu Machiavellis Unterscheidung von Herrschenden und Beherrschten am Grund jeder politischen Gemeinschaft „jene, die befehlen“ von jenen, „die gehorchen“1044. Diese Unterscheidung war auch ihm ein prinzipielles Merkmal aller gesellschaftlichen Zustände und damit Bedingung und Folge jeder politischen Organisationsform menschlichen Zusammenlebens zugleich. Vor oder außerhalb von diesem gab es weder Knechtschaft noch Herrschaft,1045 jede Knechtschaft sei vielmehr das Resultat der wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen und ihrer widerstreitenden Bedürf1041 DU, S. 67 1042 DU, S. 163. 1043 Zu den rassistischen Implikationen in den Schriften Rousseaus wie seiner Zeitgenossen und Nachfolger siehe u.a. Buck-Morss, Susan: Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte. Berlin 2011. S. 15 - 39, sowie Purtschert, Patricia: Jenseits des Naturzustandes. Eine postkoloniale Lektüre von Hobbes und Rousseau, DZPhil 60, 6, 2012. S. 861 - 882. 1044 DU, S. 69. 1045 DU, S. 165.

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nisse. Diese Bedürfnisse verbinden und trennen Menschen zugleich voneinander und müssen daher als gleichursprünglich mit der Existenz jeder Gesellschaft selbst verstanden werden. Rousseaus vielgescholtene Aussage, wonach „der Zustand der Reflexion ein Zustand wider die Natur“ und „der Mensch, der nachsinnt, ein depraviertes Tier“1046 sei, darf daher erneut nicht als Verherrlichung eines vorreflexiven und apolitischen Lebens missverstanden werden. Vielmehr ging es ihm genau umgekehrt darum, den Ursprung einer Gemeinschaft und den Beginn jeder Reflexion und damit des gegenseitigen In-Beziehung-Setzens der Menschen zusammen zu denken. Im Gegenzug ist der Naturzustand dann radikal von jeder Form der Gesellschaftlichkeit als Folge des Beginns menschlicher Reflexion unterschieden. Der „wilde Mensch“ dürfe folglich nicht mit den Menschen „die wir vor Augen haben“ gleichgesetzt werden.1047. Diesen kategorialen Fehler hätten alle Naturrechtslehrer vor ihm begangen, wenn sie „unablässig von Bedürfnis, von Habsucht, von Unterdrückung, von Begehren und von Stolz gesprochen und damit auf den Naturzustand Vorstellungen übertragen (haben), die sie der Gesellschaft entnommen haben (…). Sie sprachen vom wilden Menschen und beschrieben den bürgerlichen Menschen“1048. Rousseaus Kritik zielte also auf all die affirmativen Genealogien seiner Vorgänger und Zeitgenossen, welche mittels der Projektion bestehender sozialer und politischer Verhältnisse auf einen angeblich vorpolitischen Naturzustand letztlich nur die Notwendigkeit bestehender politischer Ungleichheiten legitimieren und deren kontingente Grundlagen zugleich verbergen wollten. Wer den „Mensch, den er vor Augen hat“ also mit dem „natürlichen Menschen“ gleichsetzt und zwischen beiden einen notwendigen Zusammenhang behauptet, entzieht jeder Kritik an bestehenden politischen Ungleichheiten ihre Grundlage. Zwar „gibt (es) den Menschen, ich gebe es zu, der Mensch aber, wie er durch Religionen und Regierungsformen, durch Gesetze, Sitten, Vorurteile und Klima geformt wird, wird von sich selbst so sehr verschieden, dass wir nicht mehr fragen sollten, was für die Menschen allgemein gut ist, sondern was ihnen zu dieser Zeit oder in jenem Lande frommt“.1049 Rousseau wollte daher „bis an

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DU, S. 89. DU, S. 93. DU, S. 69f. Rousseau, Jean-Jacques: Brief an Herrn D´Alembert über seinen Artikel „Genf“ im VIII. Band der Enzyklopädie und insbesondere über den Plan, ein Schau-

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

die Wurzel graben und im Bilde des wahrhaften Naturzustandes“1050 die Ursprünge bestehender politischer Ungleichheiten als menschengemacht, also nicht natürlich, nicht gottgewollt, sondern als Ergebnis historischer Ereignisse und Ausdruck von Machverhältnissen freilegen. Zu keiner Zeit behauptete er die Wahrhaftigkeit eines Naturzustandes, „der nicht mehr existiert, der vielleicht nie existiert hat, der wahrscheinlich niemals existieren wird“1051. Vielmehr diente ihm dieser als Gedankenexperiment, mit dessen Hilfe er sich der Frage des Politischen nach den Gründungen politischer Ordnungen näherte. Deswegen begann Rousseau damit, alle „Tatsachen beiseite (zu) lassen“, um die „Natur der Dinge“, also mit Lefort gesprochen ihr Wesen, statt ihren „wahrhaften Ursprung“1052 zu zeigen und verwarf im gleichen Zug sowohl die naturwissenschaftlichen, als auch alle religiösen Erklärungen zur Entstehung der Welt und ihrer politischen und gesellschaftlichen Ordnungen.1053 Er distanzierte sich damit wie schon im ersten Diskurs erneut von allen universellen und transzendentalen Standpunkten der traditionellen Philosophie und erzählte stattdessen die Version der Geschichte der Menschheit, „wie ich sie zu lesen geglaubt habe“1054. Dies unterstrich er später im Brief an D´Alembert, wo er seine Position in diesem Sinne als politisch auswies: „Wenn man mich nun fragt, warum ich selbst noch streite, so antworte ich: ich spreche zur großen Menge, ich erkläre praktische Wahrheiten, ich berufe mich auf die Erfahrung, ich erfülle meine Pflicht und bin nicht böse, wenn man nicht meiner Ansicht ist, solange ich nur habe sagen können, was ich denke“1055. Er stellt sich also nicht in eine platonische Traditionslinie, explizit wies er seine eigene Position als partikularistisch und seine Rolle als die eines Teilnehmers in einem Deutungskampf um die Legitimität bestehender sozialer Verhältnisse und politischer Ordnungen aus. Er wusste, dass das „Menschengeschlecht eines Zeitalters nicht das Menschengeschlecht eines anderen Zeitalters ist“1056. Wenn Rousseau also die Geschichte der Entstehung politischer Ungleichheit nachzeichnete, dann von einem explizit politischen

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spielhaus in dieser Stadt zu errichten. In: Schriften. Band 1. Herausgegeben von Henning Ritter. München/ Wien 1978. S. 333 - 474, hier S. 349 (DA). DU, S. 161. DU, S. 45. DU, S. 71. DU, S. 72f. DU, S. 75. DA, S. 343. DU, S. 265.

IV. 1. Über die kontingenten Grundlagen von Recht, Macht, Wissen und Gesellschaft

Standpunkt aus, seine einleitende „Lobrede auf (die) ersten Ahnen“ war daher dem Anspruch der „Kritik (der) Zeitgenossen“ und der Ermahnung kommender Generationen geschuldet.1057 Über den vorgesellschaftlichen Naturzustand des Menschen lassen sich nur „vage und nahezu imaginäre Vermutungen“1058 anstellen. Diese seien jedoch das einzig probate Mittel, um „die Wahrheit aufzudecken“, um die es ihm ging. So würden Vermutungen in dem Moment zu Gründen, in dem sie als die wahrscheinlichsten präsentiert und plausibilisiert werden können.1059 Was hier zwischen den Zeilen durchscheint, ist Rousseaus Bewusstsein dafür, dass sich Wahrheiten nicht deswegen durchsetzen, weil sie objektiv und überzeitlich wahr sind, sondern weil sie zu einer bestimmten Zeit für eine gewisse Dauer als wahr akzeptiert werden, ihnen also Legitimität zugesprochen wird. Alle Wahrheiten sind für Rousseau das kontingente Ergebnis hegemonialer Deutungskämpfe, Kritik muss dann in Form eines genealogischen Aufweises des Zustandekommens dieser Hegemonie erfolgen. Wenn jede Form von Geschichte dem Ziel folge, historische Tatsachen miteinander zu verbinden, dann sei es die Aufgabe der Philosophie, im Wissen um die prinzipielle Unmöglichkeit einer einzig legitimen Geschichte „ähnliche Tatsachen zu bestimmen, die sie verbinden können“1060 und somit den Wahrheits- und Legitimitätsanspruch herrschenden Wissens zu unterlaufen, was den zweiten mit dem ersten Diskurs verbindet. In seinem Gedankenexperiment des Naturzustandes, für welches er den Menschen als „wilden Menschen“ zeichnete, einem wilden Tier ähnlich, welches „alles in allem am vorteilhaftesten von allen“ organisiert war, auf zwei Beinen lief und seinen Körper als einziges Werkzeug zur Verfügung hatte,1061 sprach er dem Menschen im Naturzustand dennoch die Fähigkeit der „Wahl (…) zwischen der Flucht und dem Kampf“1062 zu, welche er jedoch in den Dienst seiner einzigen Sorge, der Selbsterhaltung, stellte.1063 Von dieser physischen Bestimmung des natürlichen Menschen unterschied 1057 DU, S. 75. 1058 DU, S. 77. 1059 DU, S. 167. Hervorhebung von mir. Vergleiche auch die ganz ähnliche Formulierung in Geuss, Raymond: Privatheit. Eine Genealogie. Frankfurt am Main 2013. S. 20. 1060 DU, S. 169. 1061 DU, S. 77ff. 1062 DU, S. 85. 1063 DU, S. 95.

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Rousseau noch einmal dessen „metaphysische“ oder „moralische“ Seite. Diesbezüglich hielt er den Menschen für ein frei handelndes Wesen, welches eben nicht nur aus reinem Instinkt heraus agiere, sondern im Unterschied zum Tier „durch einen Akt der Freiheit“ Optionen abwägen und Entscheidungen fällen kann: „Die Natur befiehlt jedem Lebewesen, und das Tier gehorcht. Der Mensch empfindet den gleichen Eindruck, aber er erkennt sich frei, nachzugeben oder zu widerstehen, und vor allem im Bewusstsein dieser Freiheit zeigt sich die Geistigkeit seiner Seele“1064. Dieses verloren gegangene Bewusstsein wieder zu heben, kann als Rousseaus Ziel der Schaffung von Kontingenzbewusstsein übersetzt werden. Die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit sah Rousseau in der perfectibilité des Menschen angelegt, also der ihm eigenen Fähigkeit, sich zu vervollkommnen, wohlgemerkt weder notwendig zum Guten oder zum Schlechten. Dieses Potential brachte „mit Hilfe der Umstände“ sukzessive alle anderen menschlichen Fähigkeiten hervor, sobald es einmal durch einen externen Impuls wachgerufen wurde. Während ein Tier also bereits nach ein paar Monaten voll entwickelt sei und sich seine Art sich innerhalb von tausend Jahren nicht verändert habe, entwickelte sich der Mensch ständig weiter,1065 wobei davon ausgegangen werden darf, dass Rousseau diese perfectibilité auch sich und seinen Zeitgenossinnen zusprach. Der Ausgang aus dem Naturzustand aber verdankte sich einem „singulären und zufälligen Zusammentreffen von Umständen“1066, also einem Akt reiner Kontingenz, welcher zur Auslösung der angelegten perfectibilité führte. Folglich kann weder der Mensch, „wie man ihn vor Augen hat“, noch die von ihm errichtete bestehende politische Ordnung unmöglich als zwingend notwendig behauptet werden. Gegen „die Moralisten“ bestand Rousseau dabei explizit auf der konstitutiven Rolle der menschlichen Leidenschaften für die Ausbildung des menschlichen Verstandes. Jene hätten stets den Fehler begangen, den Menschen essentiell für ein vernünftiges Wesen zu halten. Seine erste Antriebskraft seien aber eben seine Leidenschaften, der Vernunft komme nur die Sekundärfunktion der Abfederung der schlimmsten Folgen der aus den Affekten und Emotionen resultierenden Handlungen zu.1067 Der Mensch im Naturzustand ist trotz seiner Wahlfreiheit zwischen Kampf und Flucht kein rational Handelnder, er

1064 1065 1066 1067

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DU, S. 99f. Hervorhebung von mir. DU, S. 103. DU, S. 95. DU, S. 106, FN 132.

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kennt außer den oben erwähnten keine weiteren physischen Bedürfnisse und überlässt sich dem bloßen Zustand des „Gefühls seiner gegenwärtigen Existenz“1068. Entgegen seiner „ursprünglichen Verfassung“ haben ihn dann die „Zeiten“, „Dinge“, „Umstände“ und „Fortschritte“ verändert und zwar „im Schoße der Gesellschaft“, hervorgerufen und befördert durch „tausend unablässig neu entstehende Ursachen“, durch den Erwerb einer „Menge von Kenntnissen und Irrtümern“ und durch den „ständigen Anprall der Leidenschaften“1069. Rousseau blieb entgegen der sehr konkreten Trennung von Natur und Gesellschaft bei der Beschreibung der Umstände der Vergesellschaftung des Menschen bewusst im Allgemeinen und vermied so den Eindruck, einem historischen Determinismus oder einer anthropologischen oder religiösen Teleologie das Wort zu reden. Die ersten Ursachen der Ungleichheit, der Beginn der Differenz zwischen dem natürlichen Zustand des Menschen und seinem in der Gesellschaft ausgebildeten Wesen, „wodurch auch immer sie eingetreten sein mögen“ lassen sich nicht letztgültig rekonstruieren.1070 Somit lässt sich vom Gesellschaftsmenschen auch nicht unmittelbar auf den Naturmenschen schließen und umgekehrt. Allein der immens große zeitliche Übergang, Rousseau spricht von „Jahrhunderten“, ein paar Absätze weiter gar von „Tausenden von Jahrhunderten“, machte eine solche Rekonstruktion unmöglich, doch auch logisch ist dieses Problem nicht in den Griff zu bekommen. Sicher war für Rousseau nur eines: Ohne zwischenmenschliche Kommunikation als unmittelbare Folge externer Notwendigkeiten und der Perfektibilität des Menschen wären wohl nie Gesellschaften entstanden, da diesen eben weder ein göttlicher noch ein natürlicher Heilsplan zugrunde liegt, sondern sie durch blanke Zufälle hervorgebracht worden sind.1071 Die paradoxe Frage nach der Existenz einer Gesellschaft als Bedingung für die Ausbildung einer gemeinsamen Sprache oder als deren Folge, sah sich Rousseau nicht in der Lage zu beantworten, fest stand für ihn nur, dass die Natur die Soziabilität des Menschen nicht vorgesehen oder gar vorbereitet hat.1072 Daraus folgt dann ganz unmittelbar, dass keine bestehende Gesellschaftsordnung als Überwindung eines lebensunwürdigen

1068 1069 1070 1071 1072

DU, S. 111. DU, S. 45. DU, S. 47. DU, S. 113. DU, S. 131.

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Naturzustandes legitimiert werden kann.1073 Den Naturzustand aber als verdammungswürdig auszuzeichnen, lehnte Rousseau schon deswegen ab, als dies die Existenz eines Wertmaßstabes zur Beurteilung von „gut“ und „schlecht“ voraussetzte, wie es ihn vor allen moralischen und allen Beziehungen überhaupt der Menschen zueinander nicht gegeben haben kann. Was als moralisch und unmoralisch zu gelten hat, kann nur politisch und damit in einer bestehenden Gemeinschaft und von dieser selbst festgelegt werden.1074 Einzig das Mitleid komme dem Menschen von Natur aus zu und gehe als „reine Regung der Natur“1075 jeder Reflexion voraus. Es kann als die Bedingung der Möglichkeit von Reflexion und damit Gemeinschaft verstanden werden, wobei auch die reine Fähigkeit zum „MitLeiden“ noch nicht zwangsläufig zu deren Aktivierung führen muss. Zwar seien alle weiteren gesellschaftlichen Tugenden als Weiterentwicklung des angewandten Mitleids zu verstehen, jedoch besteht zwischen Anlage und Anwendung kein notwendiger Zusammenhang.1076 Die Gesetze, Sitten und Tugenden des Gesellschaftszustandes lassen sich dann unter Umständen auf die Fähigkeit zum Mitleid zurückführen, den Sprung aus dem Naturzustand erklären kann diese jedoch nicht, ist sie doch wie die perfectibilité auch eben zunächst nur reine Möglichkeit.1077 Im Naturzustand habe es daher weder Tugenden, noch Laster gegeben,1078 der Mensch ist nicht „von Natur aus böse“1079 und damit auch nicht von Natur aus gut. Rousseaus Kritik zielte genau auf derlei Legitimationsstrategien politischer Ungleichheit, da diese auf eine Schließung des Politischen hinarbeiteten und so bestehende politische Ordnungen jeder möglichen Kritik entzogen. Dabei bleibt es aber nicht bei der Erzählung eines einmaligen Tigersprungs aus dem Naturzustand hinein in Geschichte und Gesellschaft. Vielmehr wird diese Strategie auch innerhalb bestehender Gemeinschaften fortgesetzt, so dass Ungleichheiten und deren Legitimationsmuster permanent reproduziert werden. Während der Mensch im hypothetischen Naturzustand nur „Ruhe und Freiheit (atmet); er (nur) leben (…) und müßig

1073 DU, S. 132, FN 166. 1074 Siehe hierzu auch Vaughan, Charles E.: The Political Writings of Jean-Jacques Rousseau. Vol. I.. S. 10. 1075 DU, S. 143f. 1076 DU, S. 147. 1077 DU, S. 151. 1078 DU, S. 135. 1079 DU, S. 137.

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bleiben (will), quält sich der Bürger unablässig, ist er immer aktiv, schwitzt und hetzt“ 1080. Der Mensch in der Gesellschaft lebt immer „außer sich, nur in der Meinung der anderen“. Nur in deren Urteil und damit in Differenz zu und Abhängigkeit von ihnen kommt er dort zum „Gefühl seiner eigenen Existenz“1081. Hierin entdeckte Rousseau eine wesentliche Ursache aller politischen Ungleichheiten.1082 Daher sei es ebenso wichtig zu erkennen, dass „unter den Unterschieden, die zwischen den Menschen bestehen, manche als natürlich gelten, die einzig und allein das Werk der Gewohnheit und der verschiedenen Lebensweisen sind, welche die Menschen in der Gesellschaft annehmen“1083. Rousseau nennt die so entstandene Ungleichheit auch die Inégalité d´institution, was auf deren „Gemachtheit“ wie auf deren Legitimation und Stabilisierung durch bestehende gesellschaftliche und politische Institutionen hinweist.1084 Die Institution des Rechts etwa folge keinem metaphysischen „Gesetz der Natur“1085, sondern sei „im Schoße der Gesellschaft selbst“1086 gemacht, also politisch entwickelt worden. Vor diesem Hintergrund und aus dieser Perspektive gewinnt Rousseaus berühmte Geschichte der ersten Inbesitznahme von Land als Ursprung der bürgerlichen Gesellschaft ganz neue Kraft: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ´Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem´“1087. Demnach steht am Grund der bürgerlichen Gesellschaft der Willkür- und Gewaltaktakt eines partikularen Akteurs und zugleich die Akzeptanz oder zumindest der ausgebliebene Widerspruch der von diesem Akt Betroffenen und um

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DU, S. 267. DU, S. 269. DU, S. 271. DU, S. 163. DU, S. 162. DU, S. 53 DU, S. 55. DU, S. 173.

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ihre Freiheit betrogenen. Für die Frage nach den Gründen für den Austritt aus dem Naturzustand oder den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft, also dafür, dass der Widerspruch gegen die Ansprüche des Besitznehmers ausblieb, genügte Rousseau hier der Hinweis darauf, dass „die Dinge damals bereits an dem Punkt angelangt (waren), an dem sie nicht mehr bleiben konnten, wie sie waren“. Die gewaltsame Inbesitznahme von Land als symbolisches Ur-Moment des Übergangs vom Naturzustand in den Gesellschaftszustand war für Rousseau also nicht im strengen Sinn ein wirklicher Ursprung, sondern vielmehr der Kulminationspunkt einer Vielzahl nicht mehr zu rekonstruierender historischer Ereignisse, die aber letztlich auch keine wirkliche Rolle spielen.1088 Wichtiger war, dass das aus der Inbesitznahme des Landes resultierende Eigentumsrecht und deren Legitimation einzig auf „Konvention und menschlicher Einrichtung“1089 als Folge vermeintlich nicht zu erduldender „Schwierigkeiten“1090 ruhten. Deren Überwindung zwang die Menschen in eine Beziehung zueinander, wodurch sie sich ein Bild von sich in Differenz zu ihren Mitmenschen machen und relationale Begrifflichkeiten wie „groß, klein, stark, schwach, schnell, langsam, furchtsam, kühn“ entwickeln konnten. Dieser „erste (vergleichende) Blick, den er auf sich selbst warf, (brachte) die erste Regung von Hochmut in ihm hervor“1091. Die ersten (noch losen) Assoziationen, die auf irgendeinem geteilten konkreten gemeinsamen Interesse fußten, resultierten aus der Ausbildung einer gewissen Identität in Differenz zu anderen.1092 In der Folge waren alle sozialen Beziehungen daher notwendig von Elementen des Kampfes und Konfliktes unterfüttert.1093 So zog die Erfindung des Eigentums als Folge der gewaltsamen Landnahme „Konkurrenz und Rivalität“ sowie den „Gegensatz der Interessen“ als „untrennbare Gefolge der entstehenden Ungleichheit“ nach sich.1094 Daraus leitete Rousseau nun aber keinesfalls Forderungen nach der Abschaffung von Eigentum und Gesellschaft ab: „Soll man die Gesellschaften zerstören, Dein und Mein vernichten und dazu zurückkehren, in den Wäldern

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DU, S. 173. DU, S. 241. DU, S. 175. DU, S. 177. DU, S. 179. DU, S. 181ff. DU, S. 209.

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mit den Bären zu leben?“1095 Mitnichten. Die „heiligen Banden der Gesellschaften“1096 sind immer und unbedingt zu achten, folglich gab es für und mit Rousseau weder ein „zurück zur Natur“1097, noch war er für eine vulgär-revolutionäre Programmatik zu haben.1098 Vor allem später im Contrat Social sowie den Abhandlungen über Polen, Korsika und Genf plädierte er dafür, Eigentum gerechter zu verteilen. Kein konsensueller Akt, etwa ein Vertragsschluss, rief also die voneinander durch Umstände, Kultur und Sprache verschiedenen und in sich durch Ungleichheiten charakterisierten politischen Gemeinschaften ins Leben, die immer als das Ergebnis ihnen jeweils eigener spezifischer geschichtlicher Umstände verstanden werden müssen.1099 Konflikt und Konkurrenz sind dabei gleichzeitig Ursprung und Folge der Instituierung einer Gesellschaft und somit deren ontologischer Dimension eingeschrieben. Und genau deswegen, damit sich angesichts dieser grundlegenden Konflikthaftigkeit eine stabile Ordnung herausbilden konnte, wurde die Institution des sanktionsbewehrten Rechts geschaffen, welche zu den „ersten Pflichten geselligen Betragens“ führte.1100 Die Institution des Rechts ist also eine Erfindung des Menschen, der sich diese „in Bezug auf die Dinge beilegt, derer er bedarf“1101. Die Selbstjustiz und die aus ihr resultierenden Grausamkeiten waren für Rousseau also keine Charakteristika des Naturzustandes, sondern bereits Merkmale eines irgendwie gearteten bürgerlichen Zustandes, in welchen der Mensch aufgrund eines „unheilvollen Zufalls“ eingetreten ist.1102 Dass die Institution des Rechts nun menschengemacht ist, bedeutet keinesfalls, dass sie automatisch gerecht ist oder demokratisch instituiert wurde oder ihrer Existenz und konkreten Ausprägung

1095 DU, S. 319, Anmerkung IX. 1096 DU, S. 321, Anmerkung IX. 1097 Voltaire schreibt in seinem Brief an Rousseau vom 30. August 1755 die ebenso berühmte wie folgenreiche Verunglimpfung: „On n´a jamais employé tant d´esprit à vouloir nos render bêtes; il prend envie de marcher à quatre pattes, quand on lit votre ouvrage.” 1098 Rousseau, Jean-Jacques: Réponse à M. Borde. In: Œuvres complètes, Band I. Les Confessions - Autres textes autobiographiques. Édition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond avec la collaboration de Robert Osmont. S. 65. Ders.: Vorrede zu „Narcisse“. In: Ders. Schriften. Band 1. S. 145 - 164. 1099 DU, S. 187. 1100 DU, S. 190, FN 234 und S. 191. 1101 DU, S. 137. 1102 DU, S. 191ff.

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überzeitliche Legitimität zukommt. Das Problem einer erfolgreichen Behauptung eines Rechts der Mächtigen gegenüber den Machtlosen aus einer Position der Stärke heraus kann als Kern der Kritik im zweiten Diskurs gelten. Dieses Recht diente immer der Legitimierung der Ungleichheit und damit der Verunmöglichung derer Kritik, stellte diese somit auf Dauer und verlieh ihr den Anschein des Natürlichen. Einerseits kam der Institution des Rechts also die wichtige Funktion der Befriedung gesellschaftlicher Antagonismen zu, erwuchs doch „zwischen dem Recht des Stärkeren und dem Recht des ersten Besitznehmers (…) ein fortwährender Konflikt, der nur mit Kämpfen, Mord und Totschlag“ enden kann.1103 Auf der anderen Seite aber manifestierte es eben auch die daraus erfolgende politische Ungleichheit. Um nämlich die prekäre Situation zu seinen Gunsten aufzulösen, ersann „der Reiche, von der Notwendigkeit gedrängt, schließlich den durchdachtesten Plan, der dem menschlichen Geist jemals eingefallen ist. Er bestand darin, die Kräfte selbst jener, die ihn angriffen, zu seinen Gunsten einzuspannen, aus seinen Widersachern seine Verteidiger zu machen, ihnen andere Maximen einzuflößen und ihnen andere Institutionen zu geben, die für ihn ebenso günstig wären, wie das Naturrecht ihm widrig war“1104. Daher habe der Reiche „Scheingründe“ erfunden, welche die ihm gegenüber Benachteiligten dem status quo gesellschaftlicher Ungleichheit zustimmen ließen und ihnen vorgeschlagen: „Vereinigen wir uns (…), um die Schwachen vor der Unterdrückung zu schützen, die Ehrgeizigen in Schranken zu halten und einem jeden den Besitz dessen zu sichern, was ihm gehört (…). Mit einem Wort: Lasst uns unsere Kräfte, statt sie gegen uns selbst zu richten, zu einer höchsten Gewalt zusammenfassen, die uns nach weisen Gesetzen regiert, alle Mitglieder der Assoziation beschützt und verteidigt, die gemeinsamen Feinde abwehrt und uns in einer ewigen Eintracht erhält“1105. Dadurch sei es ihm gelungen, leicht verführbare Menschen für sich einzunehmen, die zudem ohnehin nicht lange hätten ohne Herren auskommen können: „Alle liefen auf ihre Ketten zu, im Glauben, ihre Freiheit zu sichern (…). Dies war oder muss der Ursprung der Gesellschaft und der Gesetze gewesen sein, die dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Kräfte gaben (und) aus einer geschickten Usurpation ein unwiderrufliches Recht machten“1106. Was

1103 1104 1105 1106

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DU, S. 211. DU, S. 215. DU, S. 215f. DU, S. 217f.

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Rousseau hier also leistete, kann als Kritik an einer Herrschaftsideologie bezeichnet werden, welche den Staat als „Selbstschutzvereinigung der Reichen“ und „Trutzburg des Eigentums“ entlarvte.1107 Er kritisierte demnach als einer der ersten die Leugnung der Gewalt- oder Willkürakte am Grund der bürgerlichen Gesellschaft durch das hegemoniale liberale politische Denken und dessen Gedankenmodell eines „Verschleierungsvertrages“1108. Angesichts dessen bleiben laut Rousseau nur zwei Handlungsalternativen: „Man muss ein Teil von ihr (der bürgerlichen Gesellschaft; MO) sein, oder sich vereinigen, um ihr zu widerstehen. Man muss sie nachahmen, oder sich von ihr verschlingen lassen“1109. Auch aus der Instituierung des Rechts kann also nur dessen Akzeptanz oder der Kampf dagegen resultieren. Denn der Moment, an dem „das Recht die Stelle der Gewalt (einnimmt) und die Natur somit dem Gesetz unterworfen (wird)“1110 und der den willkürlichen, gewaltförmigen und betrügerischen Ursprung der bürgerlichen Gesellschaft markiert, wird erst durch die kollektive Anerkennung der Unterworfenen legitimiert. Analog zu Lefort wusste auch Rousseau dabei um die prinzipielle Nicht-Deckungsgleichheit zwischen dem Symbolischen und dem Realen und um die daraus resultierende Kluft, in welcher sich Widerstand als genuin politisches Handeln entfalten kann: „Trotz aller Anstrengungen der weisesten Gesetzgeber (bleibt) der politische Zustand immer unvollkommen, weil er nahezu das Werk des Zufalls (ist) und weil, da er schlecht begonnen (hat), die Zeit dadurch, dass sie die Mängel (aufdeckt) und Mittel zur Abhilfe (anregt), niemals die Fehler der Verfassung wieder gutmachen (kann)“1111. Diese Fehler sind jeder Verfassung oder Verfasstheit einer Gemeinschaft also bereits seit dem symbolischen Moment ihrer Gründung eingeschrieben und lassen sich auf Dauer auch nicht verbergen. Alle Institutionen sind das Ergebnis von Konflikten und Kämpfen und notwendigerweise die Stütze von Macht- und

1107 Kersting, Wolfgang: Vom Vertragsstaat zur Tugendrepublik. Die politische Philosophie Jean-Jacques Rousseaus. In: Ders (Hrsg.). Die Republik der Tugend. S. 11 – 23, hier S. 14. Siehe auch MacPherson, Crawford B.: Die politische Philosophie des Besitzindividualismus. Frankfurt am Main 1990. 1108 Starobinski Jean: La pensée politique de Jean-Jacques Rousseau. In: Baud-Bovy, Samuel et al. (Hrsg.). Jean-Jacques Rousseau. Neuchâtel 1962. S. 81 - 99, hier S. 92. 1109 DU, S. 219, FN 267. 1110 DU, S. 68. 1111 DU, S. 225.

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Ungleichheitsverhältnissen. Gleichzeitig sind sie aber auch dadurch, dass sie die Aufdeckung der Nicht-Deckungsgleichheit von Symbolischem und Realem ermöglichen, der erste Angriffspunkt widerständiger Praktiken und damit die Bedingung der Möglichkeit politischen Handelns überhaupt. Rousseau wusste also wie Lefort um den Unterschied zwischen dem Zweck der Einrichtung einer Institution, deren weiterer Entwicklung sowie der politischen Funktion, die ihr zukommt. Die Versprechen, die jede Institution symbolisch abgibt, bleiben notwendig uneingelöst, weil sie nicht zuletzt aufgrund ihrer Abstraktion uneinlösbar sind und bieten so erst die Möglichkeit, diese Institution an eben jene Versprechen zu erinnern und sie auf deren Einhaltung zu verpflichten. Mit Verweis auf Lykurgs Leistung in Sparta schloss Rousseau zwar die prinzipielle Möglichkeit eines „gut eingerichteten Gebäudes“ nicht aus, historisch wurden jedoch meistens (erfolglos) die einmal bestehenden Institutionen unaufhörlich ausgebessert.1112 Die in den Institutionen manifestierte politische Ungleichheit ist dabei zugleich die Bedingung der Existenz einer Gesellschaft: „Denn zu sagen, dass die Oberhäupter gewählt worden seien, ehe die Konföderation geschaffen war, und dass die Diener der Gesetze vor den Gesetzen selbst existierten“ ist ein Widerspruch in sich.1113 Die Ernennung von Oberhäuptern, mit Lefort die symbolische Trennung einer Sphäre der Macht von der Gesellschaft, war auch in Rousseaus Konzeption Voraussetzung des Selbstverständnisses der Gemeinschaft als Gemeinschaft, wie zugleich auch Bedingung der Möglichkeit von Widerspruch und damit der Ausübung politischer Freiheit. Völker geben sich Oberhäupter, so Rousseau, damit diese ihre Freiheit verteidigen.1114 Die Einrichtung einer Regierung zugunsten des Erhalts einer Willkürherrschaft mag zwar in den meisten Fällen historisch korrekt sein, Legitimität aber kann sie keinesfalls beanspruchen.1115 Genau dies versucht jedoch eine jede Regierung und verstrickt sich damit unweigerlich in Widersprüche. Die Einrichtung des politischen Körpers bezeichnete Rousseau daher auch als den „wahren Vertrag zwischen dem Volk und den Oberhäuptern, (…) die es sich wählt“. Zugleich wusste er aber auch um die „unvermeidlichen Missbräuche“ 1116

1112 1113 1114 1115 1116

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DU, S. 225f. DU, S. 227. DU, S. 229 DU, S. 241. DU, S. 243. Hervorhebung von mir.

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einer jeden Verfassung. Doch ist eben keine Verfassung auf Dauer gestellt, ebenso wie kein durch ein souveränes Volk geschlossener Vertrag für dieses unwiderruflich wäre. Gegen eine illegitime Regierung ist – die Prämisse der Volkssouveränität ernst genommen – nicht nur jederzeit Widerstand legitim, sondern geradezu oberste Bürgerinnenpflicht.1117 Die Einrichtung einer politischen Ordnung bedarf mitunter der Berufung auf eine wie auch immer verstandene höhere Legitimationsquelle,1118 nichts steht jedoch über dem Prinzip der Volkssouveränität. Damit nun die Gefahr der Schließung einer einmal instituierten Gesellschaftsordnung vermieden wird, muss das widerständige Potential der Herrschaftsunterworfenen immer wieder aktiviert werden. Der Herrschaftswille der Mächtigen in Kombination mit der Sehnsucht des Volkes nach Ruhe, Ordnung und Sicherheit und infolgedessen der Akzeptanz seiner Ketten führt zu einem kollektiven Mangel an Kontingenzbewusstsein und somit zur Versteinerung der bestehenden Verhältnisse. Somit waren für Rousseau folglich auch die Herrschaftsunterworfenen, welche die Zaunpfähle nicht herausrissen und keinen Widerspruch formulierten, zu einem wesentlichen Teil für die politische Ungleichheit mit verantwortlich. Denn „auf diese Weise gewöhnten sich die Oberhäupter, erblich geworden, daran, ihre Magistratur als einen Familienbesitz zu betrachten, sich selbst als die Eigentümer des Staates anzusehen, dessen Beamte sie anfangs nur waren (…) und sich selbst Göttergleiche und Könige der Könige zu nennen“1119. Die Oberhäupter behaupteten also nicht nur die legitime Besetzung des Ortes der Macht, sondern identifizierten sich mit diesem und trugen so zur Schließung des Politischen bei. Die Verantwortung für die dauerhafte Existenz einer Herrscherelite kann also nicht dieser allein zugesprochen werden. Es ist vielmehr das Volk, das „bereits an die Abhängigkeit, die Ruhe und die Bequemlichkeiten des Lebens gewöhnt und bereits außerstande, seine Ketten zu sprengen“ darin einwilligte, „seine Knechtschaft vergrößern zu lassen, um seine Ruhe sicherzustellen“1120. Die freiwillige Aufgabe der Widerständigkeit der Herrschaftsunterworfenen stellt den Gegensatz zwischen Herr und Sklave auf Dauer und ist der „letzte Grad der Ungleichheit und das Stadium, zu dem alle anderen schließlich hinführen, bis neue Revolutionen die Regierung völlig auflö-

1117 1118 1119 1120

DU, S. 245f. DU, S. 247. DU, S. 251. Ebd.

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sen oder sie der legitimen Einrichtung näher bringen“1121. Eine im Sinne Rousseaus gut verfasste Gesellschafts- oder Herrschaftsordnung bedarf daher keines idealen republikanischen oder demokratischen Gründungsaktes und umgekehrt kann (und wird) auch die besteingerichtete Institution über kurz oder lang von Partikularinteresse und korrupten Machenschaften unterlaufen und ausgehöhlt werden. Es sind vielmehr die Form, „die er (der Gründungsakt; MO) bei seiner Ausführung annimmt“ und die „Unzuträglichkeiten, die er nach sich zieht“1122, welche für die Fehlentwicklung verantwortlich sind. „Die Laster, welche die gesellschaftlichen Institutionen notwendig machen, sind ebendieselben, welche ihren Missbrauch unvermeidlich machen“1123. Rousseau war kein Utopist oder Idealist, er wusste um die Unvermeidbarkeit gesellschaftlicher und politischer Korruption. Ihm ging es daher aber genau deswegen um den richtigen Umgang mit dieser Problematik im Sinne des größtmöglichen Erhalts der Freiheit innerhalb bestehender Gemeinwesen. Dafür ist es nötig, die Unzulänglichkeiten der Institutionen als solche erkennen zu können, um dann dagegen Widerstand zu leisten und deren Verbesserung einzufordern. Und dafür wiederum ist ein kollektives Kontingenzbewusstsein unabdingbar. Keineswegs war Rousseau daher in irgendeiner Weise daran interessiert, das Wesen des Menschen zu verändern, um eine harmonisch geeinte und tugendhafte Gesellschaft zu ermöglichen. Gesetze können Menschen zwar im Zaum halten, ändern können sie diese jedoch nicht, die Leidenschaften sind immer stärker, als jedes Gesetz.1124 Schließlich hätte ein Land, „in dem niemand die Gesetze umginge und die Magistratur missbrauchte, weder Magistrate noch Gesetze nötig“1125. Rousseau lieferte also neben der Erklärung der Entstehung von politischer Ungleichheit und illegitimen Herrschaftsverhältnissen auch gleich den Ansatzpunkt derer Vermeidung oder Überwindung mit: Den wachen Freiheitswillen der Bürgerinnen, deren Bereitschaft, die Bürden der mit dem Wissen um die Grund- und prinzipielle Sinnlosigkeit aller Ordnungen verbundenen Freiheit zu tragen. Nur wenn jedem Kuhhandel eines Tauschs von Freiheit zugunsten von Sicherheit und Ordnung, für Rousseau die Vorbedingung der Knechtschaft und Tyrannei, widerstanden wird, können die Früchte der Freiheit genos-

1121 1122 1123 1124 1125

332

Ebd. Ebd. DU, S. 251f. DU, S. 253. Ebd.

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sen werden: „Die wachsende Ungleichheit zwischen dem Volk und seinen Oberhäuptern macht sich bald unter den Einzelnen fühlbar und wird dort (…) in tausend Arten abgewandelt (…). Überdies lassen sich die Bürger nur unterdrücken, sofern sie von einem blinden Ehrgeiz fortgerissen werden; und da sie mehr unter sich, als über sich sehen, wird die Herrschaft ihnen teurer, als die Unabhängigkeit und sie willigen ein, Ketten zu tragen, um ihrerseits (anderen) welche anlegen zu können. Es ist sehr schwierig, denjenigen zum Gehorsam zu zwingen, der nicht zu befehlen sucht; und dem gewandtesten Politiker würde es nicht gelingen, Menschen untertänig zu machen, die nur frei sein wollten“1126. Rousseau, das wurde hier deutlich, war kein Befürworter einer in Harmonie und Einstimmigkeit geeinten Gemeinschaft, insofern dieser Einklang mit Transparenz und Homogenität gleichgesetzt wird. Denn wenn „der Zusammenklang oder der Widerstreit dieser verschiedenen Kräfte (Reichtum, Adel, Rang, Macht, persönliches Verdienst) das sicherste Anzeichen eines gut oder schlecht verfassten Staates ist“1127, dann bedeutet Zusammenklang ja nicht die Aufhebung der Differenzen der verschiedenen Kräfte mit dem Ziel der Schaffung von Eintönigkeit. Die Rede von einem Zusammenklang in Harmonie ergibt nur dann wirklich Sinn, wenn an deren differenten Elementen festgehalten wird. Es ging Rousseau daher vielmehr um den Umgang mit widerstreitenden Kräften, nicht um deren Überwindung. Den Konflikten innerhalb der Bürgerschaft sowie zwischen Volk und Oberhäuptern schrieb er genau wie Machiavelli vor ihm und Lefort nach ihm also eine konstitutive Bedeutung für ein freies Gemeinwesen zu. Diesen Konflikten sei es schließlich zu verdanken, „was es an Bestem und was es an Schlechtestem unter den Menschen gibt: unsere Tugenden und unsere Laster (…) eine Menge schlechter Dinge gegenüber einer geringen Zahl guter“1128. Analog zu Lefort plädierte er daher dafür, den Widerstandsgeist des Volkes gegenüber den Herrschenden als Bedingung der Freiheit wachzuhalten. Denn de facto wird ein jedes Volk von seinen Machthabern als Gefahr angesehen und behandelt, so dass eine jede Regierung über kurz oder lang eher zur Einschränkung oder gar zum Abbau bürgerlicher Rechte tendiert und die „Beschwerden der Schwachen“ irgendwann als „aufrührerisches Murren behandelt (werden)“1129. Dabei

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DU, S. 253f. DU, S. 255. DU, S. 257. DU, S. 259.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

kritisierte Rousseau vor allem all jene Maßnahmen der politischen Oberhäupter, welche der Gesellschaft „ein Aussehen scheinbarer Eintracht geben und dabei einen Keim tatsächlicher Zwietracht säen“1130. Indem sie also die Einheit und Homogenität von Gesellschaft und Macht behaupten, schaffen sie es nicht nur, dass das Volk nicht mehr um die eigene Bedeutung als pouvoir constituant weiß, sondern verunmöglichen zugleich auch die symbolische Austragung der latenten Konflikte, so dass diese von der symbolischen Bühne der Politik zurück in die Gesellschaft zu fallen drohen, um dort unvermittelt aufeinander zu treffen und in letzter Konsequenz in einen Bürgerkrieg auszubrechen. In der Folge würden sich die Regierenden als Tyrannen am Ort der Macht festsetzen, eine despotische Herrschaft ausüben und die Bürgerschaft sich in eine lose Ansammlung blind gehorchender Sklaven verwandeln.1131 Somit ist es weder die Folge eines wie auch immer gearteten Naturrechts, noch irgendeiner anders legitimierbaren Notwendigkeit geschuldet, sondern das Ergebnis von Machtverhältnissen und einem unterdrückten oder nicht existenten Widerstandsgeist der Bürgerinnenschaft, wenn „eine Handvoll Leute überfüllt ist mit Überflüssigem, während die ausgehungerte Menge am Notwendigsten Mangel leidet“1132. Damit liegt es aber zugleich immer auch in der Hand der Bürgerinnen, die bestehenden Verhältnisse zu kritisieren und zu verändern, so dass man sich bezüglich der Frage nach einem freiheitlichen Gemeinwesen immer damit beschäftigen muss, ob und warum offensichtliche Ungerechtigkeiten von den Betroffenen stillschweigend hingenommen werden, anstatt Protest und Widerstand zu provozieren. IV. 1. 3. Zwischenergebnisse Die weithin geteilte Interpretation, wonach Rousseaus politische Schriften von einer rückwärtsgewandten und melancholischen Grundstimmung durchdrungen sind, muss nach der hier vorgeschlagenen Lektüre revidiert oder zumindest relativiert werden.1133 Rousseau verfasste mit den Diskursen keine kulturpessimistische Verfallsgeschichte, sondern legte in genea-

1130 1131 1132 1133

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DU, S. 261. Hervorhebungen von mir. Ebd. DU, S. 271f. So z.B. bei Strauß, Leo: Naturrecht und Geschichte. A.a.O. De Man, Paul: Allegories of Reading. A.a.O. Shklar, Judith N.: Men and Citizens.A.a.O.

IV. 1. Über die kontingenten Grundlagen von Recht, Macht, Wissen und Gesellschaft

logischer Absicht die kontingenten Ursprünge des Sozialen frei. Die dadurch ermöglichte Kritik am herrschenden Wissen als exklusivem Wissen der Herrschenden kann als die Grundintention beider Diskurse angesehen werden, das genealogische Projekts eines Grabens „bis an die Wurzel“ diente dabei der Bewusstmachung der Nicht-Natürlichkeit und Nicht-Notwendigkeit politischer Ungleichheit. Der Kontingenzgedanke spielte in beiden Diskursen eine zentrale Rolle, ebenso wie die daraus abgeleitete Kritik an der Rolle der Institutionen im Dienst der Verschleierung der kontingenten Grundlagen von Recht, Macht und Wissen. Politisch relevant wird dies immer dort, wo die Bürgerinnen eines Gemeinwesens mit freiheitsgefährdenden Forderungen oder Maßnahmen konfrontiert werden, denn „eine Ethik, die derartige Forderungen stellt, offenbart damit schon ihren ideologischen Charakter“.1134 Diesen Zusammenhang aufzudecken, war einer der grundlegenden Ansprüche der Diskurse. Denn ebenso wie die Ursprünge von Gesellschaften, entziehen sich auch die auf sie folgenden historischen und institutionellen Entwicklungen einer jeden Logik der Notwendigkeit. Indem Rousseau darlegte, dass die bloße Existenz von Institutionen keine hinreichende Grundlage für die Bewertung ihrer Legitimation darstellt, entlarvte er deren zugleich freiheitsgefährdenden wie freiheitsermöglichenden Charakter und identifizierte in und mit den Institutionen den primären Ort oder Angriffspunkt zur Veränderung sozialer und politischer Verhältnisse.1135 Wenn immer wieder kritisiert wird, dass Rousseau in den Diskursen wie auch in den späteren politischen Schriften eine zu erwartende Handlungsaufforderung habe vermissen lassen und alles, was er geleistet habe die Denunziation sämtlicher Regierungsformen gewesen sei (ende doch schließlich sogar die vermeintlich beste Herrschaftsform, in welcher die gesamte Bürgerschaft zugleich Souverän ist, letztlich in einer Herrschaft der Reichen über die Armen),1136 so muss dem hiernach widersprochen werden. Nicht nur zeugt Rousseaus wie jede Kritik an sozialen und politischen Missverhältnissen ja von der grundsätzlichen Überzeugung, dass sich soziale und politische Verhältnisse prinzipiell ändern lassen können. Darüber hinaus thematisierte Rousseau zudem in

1134 Sturma, Dieter: Rousseaus Kulturphilosophie. In: Kersting, Wolfgang (Hrsg.). Die Republik der Tugend. S. 27 - 54, hier S. 45. 1135 Vicenti, Luc: Der Ursprung ohne Zweck. Rousseau - Denker des Möglichen. In: Delholm, Pascal/ Hirsch, Alfred (Hrsg.). Rousseaus Ursprungserzählungen. München 2012. S. 37 - 48. 1136 Vaughan, Charles E.: The Political Writings of Jean-Jacques Rousseau. S. 12.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

den Diskursen ganz fundamental die Vorbedingung für jedwedes politische Handeln, indem er die radikale Freiheit der Menschen als in jeder Regierungs- oder Staatsform immer zugleich gefährdet und gefährlich diskutierte. Denn „mit der Freiheit steht es wie mit jenen derben und kräftigen Speisen oder jenen feurigen Weinen, welche dazu taugen, die robusten Temperamente, die an sie gewöhnt sind, zu nähren und zu stärken, welche die Schwachen und Zarten aber, die nicht für sie geschaffen sind, umwerfen, ruinieren und betrunken machen. Sind die Völker erst einmal an Herren gewöhnt, so können sie sie nicht mehr entbehren. Wenn sie das Joch abzuschütteln versuchen, entfernen sie sich umso weiter von der Freiheit, als sie diese mit einer grenzenlosen Zügellosigkeit verwechseln, die das Gegenteil der Freiheit ist, und ihre Revolutionen sie daher fast immer Verführern ausliefern, die ihre Ketten nur schwerer machen“1137. Keinesfalls kann man Rousseaus Schriften also „Fatalismus und Verzweiflung“ und schon gar nicht das Ausbleiben eines Aufrufs zum politischen Handeln unterstellen. Rousseaus Diskurse sind nicht der „hoffnungslose Schrei des Propheten in der Wildnis“1138, nicht der Seufzer einer bedrängten Kreatur, sondern zeugen von einem Bewusstsein darüber, dass die Grundlagen politischer Ordnungen auf nichts als der radikalen Freiheit der Menschen aufruhen und diese Ordnungen die Freiheit zugleich immer auf eine gewisse Weise ermöglichen, wie sie diese auch gefährden. Mit diesem Paradoxon gilt es umzugehen, nimmt man den Erhalt der Freiheit im Gemeinwesen ernst. Rousseau formulierte also bestimmt keine Theorie eines „individualism run mad“ mündet, auch sind die Diskurse keinesfalls das Werk eines Moralisten.1139 Rousseau formulierte sehr wohl und bereits mit den Diskursen eine politische Theorie mit dem Anspruch auf praktische Relevanz. Als solche geht es ihr darum, „in öffentlicher Rede auf die Veränderung der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Ungleichheit hinzuwirken, (…) das „alte Material“ nach Kräften aus dem Weg zu räumen, damit danach „ein gutes Gebäude“ errichtet werden kann, ein Gemeinwesen, in dem alle Bürger gleichberechtigte Mitglieder des Souveräns sind und die gesellschaftlichen Ungleichheiten in letzter Instanz der Verfügungs- und Gestaltungsmacht des Souveräns unterstehen“1140. Notwendige Voraussetzung dafür sind die Offenhaltung oder erneute Öffnung

1137 1138 1139 1140

336

DU, S. 15. Vaughan, C.E.: The Political Writings of Jean-Jacques Rousseau. S. 13. Ders. S. 14. DU, S. LVIII.

IV. 1. Über die kontingenten Grundlagen von Recht, Macht, Wissen und Gesellschaft

des mit Lefort gesprochen prinzipiell leeren Ortes der Macht sowie der Erhalt oder die Wiedergewinnung der Autonomie der gesellschaftlichen Sphären des Rechts, der Macht und des Wissens. Vor diesem Hintergrund widmete er sich im zweiten Diskurs der Frage, warum Menschen Ungleichheit als (quasi-) natürlich hinnehmen und diese nicht mehr hinterfragen. Dabei verfehlt man den entscheidenden Punkt, wenn man konstatiert, dass Rousseau vor allem das Stillschweigen jener irritierte, die unter dieser Ungleichheit „leiden“1141, den von Leid zu sprechen, setzt die Möglichkeit voraus, die eigene Position innerhalb einer sozialen Ordnung als defizitär oder ungerecht wahrzunehmen. Rousseaus Problematisierung aber setzte viel grundsätzlicher an und fragte, warum politische und soziale Ungleichheiten eben gerade nicht als Leidenserfahrung wahrgenommen werden und diese somit gegen jede Kritik immun sind. Der Betrugsvertrag diente dabei der Veranschaulichung eines ursprünglichen Gewaltaktes der Einrichtung einer politischen Gemeinschaft. Die darauf erfolgte Instituierung des Rechts stellte die politische Ungleichheit und die aus ihr resultierenden Herrschaftsverhältnisse auf Dauer und verbarg zugleich deren Ursprünge. In beiden Diskursen gab sich Rousseau als Post-Fundamentalist zu erkennen, oder in den Worten Leforts als Kritiker einer Position des Überflugs. Als solcher lehnte er die Naturzustandsbeschreibungen und Naturrechtslehren seiner Vorgänger und Zeitgenossen und deren Behauptung eines exklusiven Wissens über einen notwendigen oder logischen Geschichtsverlauf und die wiederum daraus abgeleitete Legitimation bestehender Herrschaftsordnungen ab. Innerhalb der Gesellschaft ist es schlicht nicht möglich, den „natürlichen“, also vor-vergesellschafteten Menschen definitiv vorzustellen, da jede angebliche Kenntnis über den Naturzustand im Gesellschaftszustand entwickelt wurde und dementsprechend kontextgebunden und interessegeleitet ist. In Rousseaus politischer Theorie gibt es keinen Naturzustand „ontologisch nackter Wesen, die sich a posteriori über eine Sinnordnung verständigen“. Somit verwarf auch er implizit alle vertragslogischen Modelle, die stets mit der Frage zu kämpfen haben, wie aus einem Naturzustand ein Rechtszustand hervorgehen soll, der nicht bereits in Ersterem angelegt wäre.1142 Daher kann der angebliche Kontrak-

1141 Howard, Dick: The Primacy of the Political. S. 249. 1142 Bedorf, Thomas: Bodenlos. S. 692f. Siehe auch Koschorke, Albrecht: Vor der Gesellschaft. Das Anfangsproblem der Anthropologie. In: Kleeberg, Bernhard/ Walter, Tilman/ Crivellari, Fabio (Hrsg.). Urmensch und Wissenschaften. Eine Bestandsaufnahme. Darmstadt 2005. S. 245 - 258.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

tualismus in und für Rousseaus Werk bestenfalls von sekundärer Bedeutung sein.1143 Ungleichheit, Korruption und Unterdrückungsverhältnisse sind nicht Folge einer wie auch immer gearteten menschlichen Natur, sondern korrupter Institutionen in Kombination mit dem Mangel an Möglichkeiten der Kontestation, Kritik und Reform durch die Herrschaftsunterworfenen aufgrund erfolgreicher ideologischer Strategien der Herrschenden. An den Ursprüngen von politischen Gemeinschaften stehen mit Rousseau wie mit Lefort immer Entscheidungen, die insofern politisch sind, als sie das Resultat der prinzipiellen Offenheit der Geschichte und der Abwesenheit letzter Grundlagen der Gewissheit sind. Politische Entscheidungen sind der unmittelbare Ausdruck der Freiheit und Autonomie der Menschen, was diese selbstverständlich weder zu demokratischen noch zu per se freiheitsfördernden Entscheidungen macht und was ebenso wenig zwangsläufig bereits freiheitliche und autonomiefördernde Institutionen nach sich zieht. Soziale Einheit entsteht für Rousseau wie für Lefort durch die permanente und konfliktgeladene Auseinandersetzung der Mitglieder über den Gehalt und die Gestalt dessen, was eben für alle gleichermaßen verbindlich sein soll, seien es die Gesetze, die eigene Geschichte oder die Form der Einheit der Gesellschaft selbst. Rousseaus Diskurse zeugen dabei von einem Bewusstsein dafür, dass es im demokratischen Dispositiv viele miteinander konkurrierende „Ursprungsphantasien“ gibt, von denen eine den Kampf um die Deutungshoheit temporär für sich entscheidet. Damit einhergehend besetzt eine Gruppe den Ort der Macht enthebt diesen symbolisch „sichtbar“ der Gesellschaft, welche sich dadurch ihrer Form bewusst werden und sich selber einen Sinn zusprechen kann. Der meist unrühmliche Ursprung politischer Ordnungen wird dabei von den Machthabern versucht durch die allgemein anerkannte Ursprungserzählung symbolisch und institutionell zu verdecken. Dadurch werden die bestehenden Institutionen dem Zugriff der Gemeinschaft entzogen, was Rousseau als eine Strategie der Herrschaftsstabilisierung und damit einhergehenden Verdrängung eines allgemeinen Kontingenzbewusstseins thematisierte und kritisierte. Eine Gesellschaftsform, die sich ihrer eigenen kontingenten Ursprünge nicht mehr bewusst ist, kann für Lefort wie für Rousseau keine freiheitliche Gesellschaft sein.

1143 Vaughan, Charles E.: The Political Writings of Jean-Jacques Rousseau. S. VIII.

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IV. 1. Über die kontingenten Grundlagen von Recht, Macht, Wissen und Gesellschaft

Will man die politische Struktur einer Gesellschaft verstehen, muss man mit Lefort untersuchen, „wie sich eine Gesellschaft (…) auf das Faktum bezieht, dass sie existiert, und wie sie die Teilungen, die sie in eins begründen und zu ihrer Selbstinstitution nötigen, in einzigartiger Weise aufgreift und ausarbeitet“1144. Rousseau unterschied daher ebenso wie Lefort eine Ebene des Politischen, auf welcher Fragen nach der Gründung von Gemeinwesen zu verorten sind, von einer Ebene der Politik, auf welcher institutionelle Fragen bezüglich des Fortbestehens einmal eingerichteter Gemeinwesen verhandelt werden, wobei Rousseau letztere in den Diskursen noch nicht wirklich thematisierte. Das Politische ist dann auch das Hauptthema der Diskurse, wie Lefort benutzte auch Rousseau die Methode der „Erhellung durch den Ursprung“1145, seine „Ursprungserzählungen sind (jedoch) nie bloße Darstellungen eines vergangenen Ereignisses und auch selten der Versuch einer objektiven Rekonstruktion der Geschichte. Sie sind immer ein Blick in die Vergangenheit von der Gegenwart aus und können als Versuch der Erklärung, der Rechtfertigung oder der Kritik dieser Gegenwart verstanden werden“1146. Die Suche nach Ursprüngen kann daher als ein Grundmotiv in Rousseaus Werk angesehen werden.1147 Ob dahinter der Anspruch steckte, eine „Theorie der Entfremdung, Enteignung und Widerständigkeit des Ursprünglichen zu entwickeln“1148, kann an dieser Stelle mit Blick auf letztere beantwortet werden: Widerständig ist das Ursprüngliche für Rousseau wie Lefort darin, dass es sich jeder letzten Erkenntnis entzieht und es sich logisch nicht einfangen lässt. Am Grunde jeder Gesellschaft ruht ein negatives Moment, der Konflikt zwischen den Herrschen-Wollenden und denjenigen, die nicht beherrscht werden wollen und deswegen „überzeugt“ oder getäuscht werden (müssen). Näher jedoch lässt sich keinem Ursprung kommen und schon gar nicht lässt sich eine stringente Verbindung zwischen vorgesellschaftlichen und gesellschaftlichen Zuständen herstellen. Wenn aber die Grundlage der Gesellschaft als kontingent entlarvt wird, dann ist die Gegenwart 1144 Lefort, Claude/ Gauchet, Marcel: Über die Demokratie. S. 96. 1145 Starobinski; Jean: Rousseau. S. 407. 1146 Delholm, Pascal/ Hirsch, Alfred: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.). Rousseaus Ursprungserzählungen. S. 7 - 15, hier S. 8. 1147 Starobinski, Jean: Rousseau et la recherche des origines. In: Cahiers du sud 53, 1962. S. 325 - 334. 1148 Trautmann, Felix: Enteignung des Ursprungs. Phillipe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy als Leser Rousseaus. In: Heil, Reinhard/ Hetzel, Andreas/ Hommrich, Dirk (Hrsg.). Unbedingte Demokratie. S. 95 - 117, hier S. 96.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

der Gesellschaft ebenso veränderbar, wie ihre Zukunft offen ist. Der damit verbundene emanzipatorische Anspruch bringt Rousseau, Lefort und die gegenwärtigen Theorien radikaler Demokratie in einen diachronen Zusammenhang. Erst der Verweis auf die Kontingenz am Ursprung der Gesellschaft eröffnet für sie jenen Raum oder jene Kluft zwischen behaupteter Wirklichkeit und tatsächlicher Unbestimmtheit, zwischen Symbolischem und Realem, der im radikaldemokratischen Diskurs nach Lefort jene Sphäre ist, in der Kritik und damit demokratisches Handeln überhaupt erst möglich sind. Da sich dem Menschen keine natürliche Disposition zu irgendeiner Gesellschafts- oder Regierungsform zuschreiben lässt, bleibt in Rousseaus Konzeption letztlich nur die Perfektibilität als Möglichkeit permanenter Selbstveränderung übrig. Aus einer radikaldemokratischen Perspektive kann man also sagen, dass sich der Mensch auch für Rousseau mit verschiedenen Diskursen (durchaus auch gleichzeitig) identifizieren kann und somit eine stets temporäre Identität ausbildet. Das soll nicht behaupten, dass Rousseau Identitäten als beliebig ansieht, im Gegenteil hält er, was im Contrat Social deutlicher hervortreten wird, stets am Ideal stabiler Identitäten fest. Das ändert jedoch nichts daran, dass Identitäten im Prinzip permanent veränderbar sind und kein Mensch und kein politisches Kollektiv auf eine fixe Identität festgelegt und verpflichtet werden können. Dies muss bei Rousseau wie bei Lefort als eine wesentliche Bedingung der Möglichkeit von Freiheit angesehen werden, deren Ausübung wiederum die nicht einfach vorauszusetzende Verantwortung und Aktivität des Einzelnen in der Gesellschaft fordert. Die natürliche Freiheit wird im zweiten Diskurs aufgrund letztlich beliebiger äußerer Umstände zugunsten des Gesellschaftszustandes aufgegeben. Der Mensch tauscht dabei aber nicht etwa ihre natürliche Freiheit gegen eine bürgerliche Freiheit ein, schon allein weil dieser ursprüngliche Schenkungs-, Tausch- oder Vertragsakt der Idee eines radikalen Ursprungs widerspricht Sie gibt ihre natürliche Freiheit nicht in dem Sinne auf, dass sie irgendwann vor eine Wahl gestellt war. Vielmehr ist der Moment der Einrichtung eines politischen Gemeinwesens logisch gleichbedeutend mit der Aufgabe natürlicher Freiheit, die bürgerliche Freiheit damit erst einmal nicht mehr als die wertfreie Feststellung der Abwesenheit natürlicher Freiheit. Die bürgerliche Freiheit bedarf zu ihrer Entfaltung jedoch der kritischen Widerständigkeit der Bürgerinnen eines Gemeinwesens gegen alle Versuche von Kontingenzverschleierungen und damit einhergehenden Schließungen des Politischen. Freiheit und Verantwortung hingen für Rousseau eng zusammen, 340

IV. 1. Über die kontingenten Grundlagen von Recht, Macht, Wissen und Gesellschaft

wie Lefort dachte er Freiheit stets von ihrer Gefährdung her. Diese Gefährdung wurzelt bei beiden darin, dass die Menschen mit der Freiheit als Ergebnis der demokratischen Revolution und der Auflösung der Grundlagen aller Gewissheit nicht sehr gut umgehen können, dass sie im Sinne Tocquevilles die „Mühe zu leben“ scheuen und stets der Gefahr einer „heilsamen Hingabe“ ausgesetzt sind. Folglich (an-) erkennen sie die mit dem Abenteuer der Demokratie zusammenhängende prinzipielle Unsicherheit und Offenheit jeder gesellschaftlichen Ordnung nicht als die Ermöglichungsbedingung ihrer Freiheit, sondern nehmen diese mehr oder weniger diffus als Symptom einer Krise wahr, deren Überwindung durch Transparenz, Ordnung und Stabilität leicht zum Preis der Aufgabe der Freiheit erkauft werden kann. Der Erfolg der demokratischen Revolution hängt damit wesentlich von einem Bewusstsein der Bürgerinnen um die Verantwortung der Freiheit, von der Anerkennung und Bejahung der prinzipiellen Offenheit von Gesellschaft und Geschichte, der Unabschließbarkeit des Politischen und der Unmöglichkeit, die Frage nach den eigenen Ursprüngen endgültig beantworten zu können, ab. Die Freiheit in Gemeinwesen steht und fällt mit den demokratischen Bürgerinnen, sie sind der Dreh- und Angelpunkt aller emanzipatorischen Politik im Sinne der radikalen Demokratie und damit stets im Mittelpunkt der Überlegungen Rousseaus präsent. Im Anschluss an die Diskurse machte er sich daher Gedanken darüber, wie die Freiheit im Gemeinwesen und damit dessen Fortbestehen gewährleistet werden können, wie man die Menschen daran gewöhnen könne, die „heilsame Luft der Freiheit zu atmen“1149. Wie Lefort war also auch Rousseau davon überzeugt, dass die gefährliche Freiheit eingeübt werden muss, präsentierte aber Überlegungen, wie dem auf der Ebene der Politik Rechnung getragen werden könnte. Was damit zwischen dem zweiten Diskurs und dem Contrat Social passierte, war kein radikaler Perspektivwechsel „von fait zu droit“1150, sondern der allmähliche Übergang von der ontologischen Ebene der Gründung politischer Gemeinschaften und der dort verhandelten Problematik nach Bedingungen und Gefahren der Frei-

1149 DU, S. 15. 1150 Herb, Karlfriedrich: Ich weiß es nicht. Rousseau und die Frage nach dem Ursprung der Gesellschaft. In: Delhom, Pascal/ Hirsch, Alfred (Hrsg.). Rousseaus Ursprungserzählungen. S. 149 - 158, hier S. 152. Siehe auch Kelly, Christopher: Rousseau´s „peut-être“: Reflections on the Status of the State of Nature”. In: Modern Intellectual History, 3, 1, 2006. S. 75 - 83, hier S. 76ff.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

heit hin zu der ontischen Dimension der Frage nach den Möglichkeiten und Maßnahmen für den Erhalt der Freiheit in bereits errichteten Gemeinwesen. IV. 2. Die Frage des Politischen: Der Gesellschaftsvertrag IV. 2. 1. Ein philosophisches Dilemma? Der Contrat Social ist wohl die meist diskutierte und rezipierte Schrift Rousseaus und oft der Hauptangriffspunkt der Debatten um dessen Bedeutung als proto-totalitärer oder (proto-) liberaler Denker. Dabei drehen sich die Diskussionen bis heute oft um die im Werk vermeintlich angelegten unversöhnlichen Widersprüche zwischen dem Anspruch auf Erhalt und Ausweitung der menschlichen Freiheit auf der einen und der Notwendigkeit gesellschaftlicher Ordnung und der Errichtung von Institutionen auf der anderen Seite. Das Prinzip individueller Freiheit, so ließe sich das Grundproblem der Rousseau-Exegese zusammenfassen, stößt sich derart hart mit den Anforderungen an Gemeinwohlorientierung, Tugend und Vaterlandsliebe an die Bürgerinnen, dass man sich als Rezipientin entweder für eine Seite entscheiden, oder aber die Widersprüche wahlweise als den historischen Umständen, der prinzipiellen Komplexität moderner Gesellschaften oder Rousseaus defizitärem geistigen Zustand geschuldet akzeptieren muss: „Ein Philosoph, der seine Politische Philosophie (…) nicht als eine Philosophie konzipiert, die (…) sich vom Interesse an der Abwehr oder der Eindämmung des Politischen leiten lässt, sondern der sich dem Politischen zuwendet, weil er in der politischen Existenz des Bürgers eine Form geglückter menschlicher Existenz erkennt, und der das gute Gemeinwesen von hier aus, im Hinblick auf die besondere anthropologische Bedeutung und Würde des Politischen zum zentralen Gegenstand seiner Politischen Philosophie macht, steht damit vor einer grundsätzlichen Schwierigkeit: Wenn, wovon Rousseau überzeugt war, die Republik, das legitime Gemeinwesen, das seinen Gliedern unter Bedingungen der „Soziabilität“ ein „Leben in Übereinstimmung mit sich selbst“, ein erfülltes, nicht depraviertes Dasein als Bürger eröffnet, wenn diese Republik nur Bestand haben kann auf der Grundlage fraglos geltender Sitten, Traditionen und Meinungen, aus denen sich das Bewusstsein ihrer nationalen Einheit und Besonderheit speist, wenn sie unverzichtbar eines harten Kerns gesellschaftlicher Grundüberzeugungen und „durch die Gesetze autori342

IV. 2. Die Frage des Politischen: Der Gesellschaftsvertrag

sierter heiliger Dogmen“ bedarf, auf denen die politische Freiheit und die konventionelle Gleichheit in ihrem Inneren aufbauen und beruhen, dann droht die Politische Philosophie, die die Voraussetzungen des guten Gemeinwesens ans Licht hebt, um auf ihre Weise, mit den Mitteln der Philosophie, einen Beitrag zu seiner Verwirklichung zu leisten, die Erfüllung ihrer Aufgabe selbst in Gefahr zu bringen. Philosophisch ist dieses Dilemma nicht aufzulösen. Die theoretisch erkannte Gefahr kann nur praktisch entschärft werden“1151. Um dieses Dilemma zwischen dem Anspruch der Bewahrung individueller Freiheit und den dazu nötigen, prinzipiell freiheitseinschränkenden Bedingungen und Anforderungen eines republikanischen Gemeinwesens kommt also keine Rousseau-Interpretation herum. Es soll hier aber auch gar nicht erst versucht werden, diese Widersprüche aufzulösen. Ganz im Gegenteil, sollen diese zunächst ernst genommen und als das akzeptiert und diskutiert werden, was sie sind, nämlich Widersprüche. Erst dann kann untersucht werden, ob und wie sich Rousseaus Tugendrepublik vielleicht nicht trotz, sondern genau wegen dieser Widersprüche mit einer modernen demokratischen Verhältnissen angemessenen, nicht nur freiheitsverträglichen, sondern freiheitsfördernden politischen Bürgerinnenexistenz verträgt, ja vielleicht gar deren Bedingung ist. Gelänge dies, wäre der Contrat Social eben nicht im strengen Sinn als Lösung irgendeines „Problems“ und schon gar nicht des oben nachgezeichneten Dilemmas zu lesen, sondern als theoretisches Grundlagenwerk für den Umgang mit den Herausforderungen der gefährlichen Freiheit in modernen demokratischen Gesellschaften. Die Kontroversen und Debatten um Rousseaus Hauptwerke begleiteten diese nun bereits seit ihrer Veröffentlichung im Jahr 1762. Schon kurz danach wurden sowohl der Contrat Social, als auch der Emile durch den Kleinen Rat von Genf dazu verurteilt, verbrannt und zerrissen zu werden, weil sie „die christliche Religion und alle Regierungen umzustoßen suchen“. Dies veranlasste eine Gruppe von Genfer Bürgern zum Protest, der sich bald zu einem grundlegenden Streit über die Genfer Verfassung und die durch sie gewährten Sonderrechte des Genfer Patriziats ausweitete. Im Kern ging es um die in der Verfassung getroffene Unterscheidung zwischen citoyens und bourgeois und die damit zusammenhängenden Privilegien, also um genau jene politischen Ungleichheiten, die Rousseau selbst im zweiten Diskurs anprangerte. Damit brach ein in der Genfer Bevölke-

1151 DU, S. XLIXf. Hervorhebungen von mir.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

rung bereits lange schwelender Konflikt wieder auf, der Jahrzehnte vorher noch zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen geführt hatte. Anlass der Auseinandersetzungen zu Beginn des 18. Jahrhunderts war die Tatsache, dass nur den citoyens Zugang zu allen öffentlichen Ämtern gewährt wurde. Innerhalb der citoyens wiederum war es das Genfer Patriziat, welches sich die umfangreichsten politischen Rechte angeeignet hatte und diese exklusiv für sich behauptete. Die Gruppe von Bürgern, die sich nun 1762 auf die Seite Rousseaus schlug, berief sich ironischerweise für ihren Protest auf das ihr verfassungsmäßig zustehende Recht der „Repräsentation“, also das Recht, dem Kleinen Rat von Genf Beschwerden einzureichen. In der Folge machte die Gruppe ausgiebigen Gebrauch von diesem Recht und bezeichnete sich selbst als Représentants in Abgrenzung zu den nach ihrem Vetorecht benannten Négatifs, den Mitgliedern des Kleinen Rates.1152 Dieser vermeintliche Treppenwitz der Geschichte, wonach mit Rousseau ausgerechnet der Repräsentationsgegner par excellence einer widerständigen Gruppe von „Repräsentanten“ Anlass wurde, bestehende politische Ungleichheiten zu kritisieren, löst sich jedoch auf, liest man den Contrat Social wie hier vorgeschlagen als frühes Dokument eines postfundamentalistischen radikaldemokratischen Denkens. Sodann tritt einem Rousseau als ein ideengeschichtlicher Ahnherr Claude Leforts gegenüber, der genau wie dieser das oder ein ganz bestimmtes Repräsentationsprinzip als eine der wesentlichen Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit auszeichnete. Darüber hinaus kann so gezeigt werden, dass Rousseau weder Anarchist, noch naiver Utopist oder gar Vertreter irgendeiner wie auch immer gearteten identitären Demokratiekonzeption und erst recht kein protototalitärer Denker war und sein Werk folglich weder als ein solches gelesen werden kann und muss, noch zum Teil darf. Nicht nur verteidigte er sich selbst vehement gegen den Vorwurf, „alle Regierungsformen umzustoßen“1153, vielmehr untersuchte er gerade im Contrat Social die Möglichkeiten der Radikalisierung und Demokratisierung bestehender politischer Ordnungen aus ihrem Inneren heraus als Bedingung des Erhalts und der Ausweitung der immer gefährdeten und zugleich gefährlichen Freiheit des Individuums im Gemeinwesen.

1152 Siehe Rousseau, Jean-Jacques: Schriften. Band 2. Herausgegeben von Henning Ritter. München/ Wien 1978. S. 763ff. 1153 Rousseau. Jean-Jacques: Briefe vom Berge. Sechster Brief. In: Schriften. Band 2. S. 143 - 153, hier S. 143.

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IV. 2. Die Frage des Politischen: Der Gesellschaftsvertrag

IV. 2. 2. Freiheit in Ketten Rousseau leitete den Contrat Social mit dem Anspruch ein, rechtmäßige und sichere Regeln für das Regieren innerhalb politischer Ordnungen zu suchen, ohne dafür aber im strengen Wortsinn Beweise liefern zu wollen.1154 Wie bereits im zweiten Diskurs ging es ihm also auch hier niemals darum, Wahrheiten zu behaupten oder zu finden, sondern darum, Maximen aufzustellen, aus denen sich im Anschluss vielleicht konkrete Handlungsanweisungen ableiten ließen. Er war sich dabei stets dessen bewusst, dass soziale Phänomene Produkte menschlichen Zusammenlebens und nicht das Ergebnis oder Zeugnis der Existenz eines vorpolitischen, außergesellschaftlichen oder gar transzendentalen ordnungsstiftenden Ideals sind. Ganz besonders die „politische Gewalt“ ist explizit „hinsichtlich ihrer Einrichtung ganz willkürlich“, gründen kann sie genau deswegen nur auf Verträgen, jede „Obrigkeit (kann) anderen nur vermöge der Gesetze gebieten“.1155 Menschen schaffen sich ihre gesellschaftlichen Ordnungen und politischen Institutionen also selbst, sie verständigen sich immanent über deren Form und Bedeutung, ohne dass dies konsensuell ablaufen oder einer wie auch immer gearteten anthropologischen Determinierung folgen muss, denn „c´est par ces institutions seules que les hommes deviennent méchants“1156. Wenn es also von Menschenhand geschaffene Institutionen sind, welche die Menschen verderben, liegt es folglich auch an ihnen selbst, verderbliche und verdorbene Zustände zu erkennen und gegebenenfalls zu verändern. Institutionen, politische wie soziale, werden von den Menschen dabei nicht nur erdacht und errichtet, sondern auch mit Leben gefüllt, weshalb sie nicht (und schon gar nicht zwangsläufig) die quasi-natürlichen, überzeitlichen, anonymen und „stahlharten Gehäuse“ sind, als die sie seitens der Herrschenden oft behauptet und seitens der Beherrschten oft wahrgenommen werden. Wenn Rousseau im Emile also schrieb, dass „alles (…) gut (ist), was aus den Händen des Schöpfers kommt, (aber) alles (…) unter den Händen des Menschen entartet“1157, unterstreicht dies seinen explizit immanenten Ansatz einer Kritik an ungerechten und gewaltvollen sozialen und politischen Verhältnissen als erster Be-

1154 1155 1156 1157

OC III, S. 351. EP, S. 227. OC I, S. 1135f. Hervorhebung von mir. Rousseau, Jean-Jacques: Emil oder Über die Erziehung. Herausgegeben von Ludwig Schmidts. Paderborn 1993. S. 9.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

dingung derer Veränderung. Für eine solche liefern die im Contrat Social entwickelten Prinzipien dann nicht unmittelbar konkrete institutionelle Ratschläge, sondern entfalten zunächst einmal ein bestimmtes Verständnis der Rolle und Funktion von Institutionen an der Schnittstelle zwischen den Individuen in ihrer individuellen Existenz sowie dem Kollektiv als Gesamtheit der Bürgerinnen, mithin dem Souverän.1158 Keinesfalls war Rousseau daran gelegen, einen Kriterien- oder Maßnahmenkatalog anzufertigen, der einer Blaupause gleich auf konkrete soziale und politische Verhältnisse angewendet werden kann. So leitete er seine Überlegungen schließlich auch mit dem lakonischen, aber sicher ernst gemeinten Hinweis ein, dass wenn er Fürst oder Gesetzgeber wäre, er einfach tun würde, was zu tun sei, oder aber schweige.1159 Fürsten und Gesetzgeber rechtfertigten und reflektierten ihr Handeln nicht immer und nicht zwangsläufig, sondern handeln einfach und folgen dabei keinem am Reißbrett entworfenen Masterplan. Sie treffen also aus Machtwillen und Instinkt heraus Entscheidungen entsprechend der historischen und politischen Zeitumstände und Notwendigkeiten. Nun diskutierte Rousseau Fürsten und Gesetzgeber als Gründerfiguren politischer Gemeinwesen, wobei er bereits in der Politischen Ökonomie zwei Möglichkeiten der Gründung von Gesellschaften und des daran anknüpfenden Verhältnisses zwischen Herrschenden und Beherrschten unterschied. Einmal als das Resultat einer Übereinstimmung der Interessen des Volkes und derjenigen der Oberhäupter im Moment der Gründung selbst, was in der Folge zu einer nach dem Gemeinwillen herrschenden Regierung führe. Zum anderen aber auch die Verschiedenheit von Volks- und Herrscherwillen, was in eine tyrannische Regierungsform münde. Die erste Möglichkeit finde man nur in den Schriften der Philosophen behandelt, „welche die Rechte der Menschheit zu fordern wagen“, die zweite aber in den „Archiven der Geschichte und in den Satiren des Machiavelli“1160. Die Vorstellung einer „Einheit des Interesses und des Willens zwischen dem Volke und den Oberhäuptern“1161 mag also in der Theorie wünschenswert sein, praktische Relevanz oder historische Präsenz kann sie jedoch nicht beanspruchen. Bereits im zweiten Diskurs bezeugte Rousseau, dass zwischen

1158 Lanson, Gustav: L´Unité de la pensée de Jean-Jacques Rousseau. In: Annales de la Société Jean-Jacques Rousseau 8. Genf u.a. 1912. S. 1 - 32, hier S. 1. 1159 OC III, S. 351. 1160 EP, S. 233f. Hervorhebung von mir. 1161 EP, S. 232.

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IV. 2. Die Frage des Politischen: Der Gesellschaftsvertrag

der Dimension der Gründung einer politischen Gemeinschaft und ihrer weiteren Entwicklung für ihn keinerlei notwendiger Zusammenhang bestand. Die von Machiavelli identifizierte fundamentale Kluft zwischen Herrschenden und Beherrschten, wie sie auch für Lefort von zentraler Bedeutung war, liegt auch den Contrat Social zugrunde. Rousseau verortete sich in der Tradition Machiavellis, wonach ein republikanisch-demokratisches Gemeinwesen keiner idealtypisch republikanisch-demokratischen Gründung bedarf, wie sie ohnehin niemals der historische Fall gewesen ist. Er verfasste daher eben keinen Gesellschaftsvertrag im Sinne Hobbes oder Lockes, die Einrichtung politischer Gemeinwesen war für ihn nicht das Ergebnis einer konsensuellen, vernünftigen und gleichberechtigten Übereinkunft individueller Rechtsträgerinnen zu deren gegenseitigem Vorteil. Vor allem in Abgrenzung zu Locke verstand Rousseau die Gründung politischer Gemeinschaften, wie er sie etwa am Beispiel Südamerikas diskutierte, als gewaltsame Inbesitznahmen, welche erst nachträglich rechtlich legitimiert und dadurch erst auf Dauer gestellt würden.1162 Folglich muss der hauptsächliche Anspruch der im Contrat Social entwickelten politischen Theorie Rousseaus nicht in der Frage gesehen werden, wie sich eine ideale freiheitsfördernde politische Gemeinschaft einrichten, sondern wie sich die Freiheit in einer bereits irgendwie (meist eben nicht sehr freiheitsfördernd) eingerichteten politischen Ordnung (wieder-) herstellen und bestenfalls auf Dauer stellen lässt. Das Grundparadoxon, mit dem es dabei umzugehen gilt, besteht darin, dass politisch instituierte Gemeinwesen zugleich die Ermöglichung der Freiheit als auch deren größte Gefahr sind. Wenn Rousseau den Contrat Social also mit den berühmten Worten „der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten“1163 einleitete, dann ist zunächst zu beachten, dass die beiden Aussagen mit einem und verbunden und nicht mit einem aber voneinander getrennt sind. Rousseau sah also unüberwindbaren Widerspruch im Verhältnis von Freiheit und Ketten beziehungsweise trat er nicht mit dem Anspruch an, diesen Widerspruch aufzuheben. Die paradoxale Grundspannung zwischen den Prinzipien der Freiheit und der Gleichheit, wie sie ihren institutionellen Ausdruck im Widerspruch zwischen liberalen und demokratischen Ordnungsentwürfen findet, muss als das bestimmende Grundmotiv des Contrat Social angesehen werden, mit dem es umzugehen, das es aber weder zu um-

1162 OC III, S. 365ff. 1163 OC III, S. 351.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

gehen, noch aufzulösen gilt. Das Bild der Ketten, wie Rousseau es bereits in den beiden Diskursen verwandte, wurde im Contrat Social erweitert um „jene Ketten (…), die nicht gesprengt, sondern um der Freiheit willen geschmiedet werden müssen“1164. Diese Widersprüchlichkeit gilt es, für den Erhalt der Freiheit fruchtbar zu machen, die dafür nötigen Überlegungen anzustellen, beanspruchte Rousseau im Contrat Social. Denn genau das widersprüchliche Zusammenwirken der Prinzipien von Gehorsam und Freiheit macht das Wesen einer jeden gesellschaftlichen Ordnung aus,1165 diese gilt es daher in ein möglichst freiheitsmaximierendes Verhältnis zueinander zu bringen. Wie genau dabei der Übergang vom Naturzustand zum Gesellschaftszustand vorzustellen ist, interessierte Rousseau im Gesellschaftsvertrag bereits nicht mehr. „Ich weiß es nicht“, bemerkte er dazu lapidar.1166 Es mag zutreffen, dass „(d)as eigene Wissen um die Genealogie des bürgerlichen Zustands (…) für Rousseau und für seine Leser damit hinter einem Schleier (…) deklarierter Ignoranz bleiben (darf), da die Prinzipien des Staatsrechts keiner geschichtsphilosophischen Prolegomena bedürfen“ und sicher kreierten die Menschen den Ursprung „aus der Idee autonomen Handelns selbst“, jedoch nicht – zumindest nicht in erster Linie – „als Rechtssubjekte“.1167 Eine solche Interpretation würde nicht nur die Existenz eines Rechts vor allem Politischen voraussetzen, sondern auch die Verpflichtung auf die Einrichtung eines nach liberalen Prinzipien geordneten Gemeinwesens nach sich ziehen – und sei es nur als Prüfstein der Vernunft. Den Beginn aller Soziabilität erklärte Rousseau aber schlicht damit, dass „die Menschen jenen Punkt erreicht haben, an dem die Hindernisse, die ihrem Fortbestehen im Naturzustand schaden, in ihrem Widerstand den Sieg davontragen“1168. So waren es also letztlich beliebige externe Umstände, welche die Menschen in eine Gemeinschaft miteinander zwangen und zwar bevor man diese sinnvollerweise als Rechtssubjekte adressieren konnte. Die genauen Umstände spielen dabei letztlich keine Rolle, weil die Gründung politischer Gesellschaften ebenso wenig wie die daraus resultierenden sozialen Verhältnisse jemals letztgültig gerechtfertigt werden können. Aus dem Moment der Gründung folgt schlicht nichts Zwangsläufiges für die Bewertung, Analyse oder Kritik der daraus resul-

1164 1165 1166 1167 1168

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Herb, Karlfriedrich: Ich weiß es nicht. S. 156. OC III, S. 427. OC III, S. 351. Herb, Karlfriedrich: Ich weiß es nicht. S. 150. OC III, S. 359.

IV. 2. Die Frage des Politischen: Der Gesellschaftsvertrag

tierenden politischen Ordnungen und ihrer möglichen historischen Entwicklungen. Die „Grundsätze des Staatsrechts“ lassen sich nicht aus einer vorpolitischen oder vorsozialen Sphäre ableiten, zwischen instituierten politischen Ordnungen und einem wie auch immer gearteten „Davor“ bestand für Rousseau kein notwendiger Zusammenhang. Freiheit und Ketten als das Symbol der Unfreiheit gehören im Gesellschaftszustand also notwendig zusammen, ja sie bedingen sich geradezu und zwar ganz und gar unabhängig davon, aus welchen Gründen und in welcher Art und Weise dieser konstituiert und instituiert worden ist. Mit Beginn der Gesellschaft fällt das Ende der natürlichen Freiheit in eins, da diese nicht mit der Gesellschaft zusammenzudenken ist und höchstens durch Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung wiedergewonnen werden könnte, wobei Rousseau dies an keiner Stelle seines Werkes als wünschenswerte Alternative präsentierte. Die „gesellschaftliche Ordnung“ war ihm „ein geheiligtes Recht, das allen anderen zur Grundlage dient“1169. Daher müssen die Bedingungen der Möglichkeit eines freiheitlichen Lebens innerhalb bestehender gesellschaftlicher Ordnungen ausgelotet werden, muss der gesellschaftliche Zustand trotz des Widerspruchs zwischen Freiheit und Ordnung maximal legitimiert und dabei zugunsten der Freiheit fruchtbar gemacht werden und dies eben im vollen kollektiven Bewusstsein darum, dass alle gesellschaftlichen Ordnungen das Resultat menschlichen Miteinanders,1170 diese damit in ihrem Ursprung kontingent und folglich in ihrer Gegenwart stets veränderbar sind. Rousseau verfasste mit dem Contrat Social also explizit keine Utopie, wie es ihm mitunter vorgeworfen wird.1171 Treffender ließe sich statt von einer Utopie vielleicht noch von „Träumereien“ sprechen, welche dem rationalen Denken der Aufklärung äußerst suspekt gewesen, die jedoch zuvorderst dem „Erfinden und Schöpfen von zuvor Unbekanntem“ gewidmet waren, wozu die hehren Leitideale der Aufklärung, Verstand und Wissen, nur begrenzt etwas beitragen konnten. Denn wirklich Neues entstehe nur, wo der Rahmen der Vernunft und der bekannten Ordnung des Wissens verlassen wird und man sich auf das Abenteuer des Denkens und Urteilens einlasse. Rousseaus Denken in diesem Sinne als „Ereignis“ zu verstehen, wird auch hier vorgeschlagen. Als solches breche es plötzlich und unerwartet in die Kontinuität des Alltags ein, so dass seine Träumereien keine „Spinnereien“, 1169 OC III, S. 352. 1170 OC III, S. 355. 1171 So zum Beispiel von Shklar, Judith. Men and Citizens. S. 1 - 33.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

sondern ernstzunehmende Alternativen zu einem Denken logischer Konsistenz als Maßstab gesellschaftlicher Wirklichkeit hervorbrachten.1172 Mit dem Contrat Social begab sich Rousseau also in das Herz des Abenteuers der modernen Demokratie, die er, so die hier vorgeschlagene Lesart, wie Lefort auch als eine „wilde Demokratie“ verstand. Er kritisierte dabei sowohl all jene, die „sich vor(stellen), die Demokratie sei eine Regierung, in der das ganze Volk Magistrat und Richter ist“, als auch jene, welche „die Freiheit nur in dem Recht (sehen), seine Oberhäupter zu wählen, und da sie nur Fürsten unterworfen sind, so glauben sie, dass der, der befiehlt immer auch der Souverän sei“. Jenseits der falschen Alternativen einer direkten oder rein repräsentativen Ordnung ist die demokratische Verfassung also „das Meisterstück der Staatskunst, allein, je bewundernswerter ihr Aufbau ist, desto weniger Augen ist es vergönnt, sie ganz zu durchschauen“.1173 Dieses Meisterstück für möglichst viele Augen sichtbar, es zugleich möglichst vielen Herzen zugänglich und in seiner Bedeutung für den Erhalt der Freiheit einer Vielzahl an Bürgerinnen erfahrbar zu machen, darin darf der Grundanspruch des Contrat Social gesehen werden. IV. 2. 3. Der Umgang mit Konflikten und der gefährlichen Freiheit Bereits die „ersten Gesellschaften“ sah Rousseau genau wie Machiavelli in Oberhäupter, welche Vergnügen am Befehlen empfinden, und deren Völker, bestehend aus Menschen, deren „oberstes Gesetz“ die Selbsterhaltung ist, aufgeteilt.1174 Auch er identifizierte den Konflikt der zwei unversöhnlichen Leidenschaften des „Herrschen-Wollens“ und des „Nicht-Beherrscht-Werden-Wollens“ am Grund jeder politischen Gemeinschaft. Rousseaus Kritik setzte daher auch an all jenen Versuchen an, welche bestehende Gesellschaftsordnungen nicht von diesem Urkonflikt her, sondern aus der im Anschluss an diesen entwickelten Gesellschaftsform heraus legitimieren wollen. So war sein Vorwurf an Grotius, wonach dieser „das Recht auf die Tatsachen gründet“1175 so zu verstehen, dass dieser ein Denken des Ursprungs vermied, um politische und soziale Ungleichheiten

1172 Hirsch, Alfred: Rousseaus Traum vom Ewigen Frieden. S. 24. 1173 Rousseau, Jean-Jacques: Briefe vom Berge: Achter Brief. In: Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981. S. 444 - 476, hier S. 446. 1174 OC III, S. 352. 1175 OC III, S. 353.

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IV. 2. Die Frage des Politischen: Der Gesellschaftsvertrag

zu legitimieren, um sie somit jeder Kritik zu entziehen und auf Dauer zu stellen. Keine Methode sei für Tyrannen vorteilhafter, als dieser „Missbrauchs des Staatsrechts“. Analog zu Lefort diskutierte Rousseau also die Institution des Rechts auch als ein Instrument der Verschleierung bestehender Ungleichheitsverhältnisse, zumindest so lange deren Instituierung nicht in den Blick genommen wird. Was hier erkennbar wird, ist Rousseaus Unterscheidung der Ebene des Politischen von der Ebene der Politik, was er Grotius vorwarf, war die Ausblendung der Dimension des Politischen als der Gründung und Einrichtung von gesellschaftlichen Ordnungen und Institutionen. Sein Verweis auf Aristoteles veranschaulicht dies: Menschen mögen als Sklaven oder in die Sklaverei hinein geboren worden sein, sie sind jedoch niemals „von Natur aus“ zu einem Sklavendasein bestimmt. Jedoch würde ihnen dieses Dasein so lange als „natürlich“ verkauft, bis sie „in ihren Ketten alles bis hin zu dem Wunsch, ihnen zu entrinnen“ verlören, ihre Knechtschaft zu lieben begännen und ihr Schicksal somit unhinterfragt akzeptierten.1176 Die Ausblendung der Dimension des Politischen als das Ergebnis einer ideologischen Strategie der Herrschenden, so muss Rousseau hier in Analogie zu Lefort gelesen werden, führt zu einem allgemeinen Verlust von Kontingenzbewusstsein seitens der Beherrschten, die folglich ihre eigene prekäre Situation nicht mehr wahrzunehmen in der Lage sind. Das Wissen um die Konflikte am Grunde aller sozialen Verhältnisse und Beziehungen war auch für Rousseau die erste Bedingung für das Bewusstsein um die Möglichkeit der Veränderung dieser Verhältnisse. Jede Form sozialer Beziehungen, sowohl die zwischen Herr und Sklave, als auch die zwischen einem Volk und seinen Oberhäuptern, war auch für Rousseau immer und notwendig von Differenzen und Machtungleichgewichten bestimmt,1177 die entscheidende Frage ist nur, wie mit dieser fundamentalen Konflikthaftigkeit umgegangen wird. Wenn Rousseau Rom deswegen hat untergehen sehen, weil es die gesetzgebende Gewalt und die souveräne Macht in den gleichen Händen vereinigt habe,1178 machte er nicht nur deutlich, dass er nicht dem Ideal einer identitären Demokratie anhing. Darüber hinaus bewies er, dass er genau wie Lefort die symbolische Akzeptanz von Konflikten und die Möglichkeit derer Austragung als eine Bedingung für den Erhalt von Freiheit in gesellschaftlichen Ordnungen verstand. Denn wo die grundlegenden Konflikte da1176 OC III, S. 353. 1177 OC III, S. 359. 1178 OC III, S. 382.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

durch verborgen und deren symbolische Austragungen dadurch verunmöglicht werden, dass gewaltvoll die Einheit von Exekutive und Legislative, von Macht und Gesellschaft behauptet und aufrecht zu halten versucht wird, ist jedes freiheitliche Gemeinwesen zwangsläufig dem Untergang geweiht. Konflikte sind unvermeidlicher, weil konstitutiver Bestandteil aller sozialen Beziehungen und müssen als solche symbolisch im Zentrum jeder politischen Ordnung stehen, die am Erhalt der Freiheit ihrer Bürgerinnen interessiert ist. Wo dies nicht geschieht, droht nicht nur der Umschlag der Freiheit in Unfreiheit, sondern vor allem die allmähliche Akzeptanz unfreier und ungerechter Lebensverhältnisse als quasi-natürlich. Wenn Gewalt also die ersten Sklaven geschaffen haben mag, dann habe vor allem deren „Feigheit“ diesen Zustand verewigt.1179 Wie schon im zweiten Diskurs identifizierte Rousseau auch im Contrat Social die ausbleibende Widerständigkeit gegen Schließungen des Politischen als das Grundproblem für die Freiheit in modernen Gesellschaften. Die kontingenten und konfliktgeladenen Ursprünge aller bestehenden Verhältnisse zu erkennen und anzuerkennen, ist folglich die Voraussetzung dafür, die eigene Feigheit oder Passivität als zu überwindendes Problem zu identifizieren, sich dann dem Abenteuer der Demokratie zu stellen und an der Überwindung ungerechter politischer und sozialer Verhältnisse zu arbeiten. Wenn es Menschen waren, die ungleiche Gesellschaftsordnungen mittels Gewalt errichtet haben, dann sind es ebenfalls Menschen, die diese Ordnungen einreißen oder umgestalten können, dann sind sie allein letzt- und eigenverantwortlich für ihr persönliches wie kollektives Schicksal. Rousseau folgte also wie Lefort dem Anspruch der Bewusstmachung der Abwesenheit letzter Grundlagen der Gewissheit sowie der Bedeutung von Konflikten für den Erhalt eines freiheitlichen Gemeinwesens. Wenn also jede Gesellschaftsform das Resultat eines unterdrückerischen Impulses seitens der Herrschenden und der (mitunter ausbleibenden) Reaktion der Herrschaftsunterworfenen ist, wird deutlich, dass Rousseau eben besonders Letztere hierbei in die Pflicht nahm. Ein der Demokratie wesensinhärentes Risiko war daher für Rousseau wie für Lefort, dass sich die Menschen angesichts der radikalen Ungewissheit moderner Verhältnisse ihre als unbequem oder gar beängstigend empfundene Freiheit mit dem Versprechen nach Konfliktfreiheit und Sicherheit abkaufen lassen, wie

1179 Ebd.

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Rousseau es etwa in sener Kritik an Hobbes formulierte.1180 Dies ist jedoch nicht einfach nur ein schlechtes Geschäft, sondern ein skandalöser und prinzipiell eigentlich nicht denkbarer Akt der Selbstentmenschlichung, denn „auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch verzichten“1181. Der Mensch ist für Rousseau in einem nicht-essentialistischen Sinn wesentlich dadurch bestimmt, dass sie frei ist, dies ist die Prämisse all seiner theoretischen Reflektionen. Sie ist keiner Natur, keiner Tradition oder Religion, keiner Vernunft und keiner Geschichte gegenüber zu irgendetwas verpflichtet, ist durch nichts determiniert oder eingeschränkt ist sie Herrin über ihre Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Dies verbindet Rousseaus politisches Denken mit dem Leforts, für den der Mensch mit der demokratischen Revolution von allen metaphysischen Fesseln befreit zur Herrin über ihr eigenes Schicksal wurde. Für beide, Rousseau wie Lefort, geht mit dieser radikalen Freiheit aber immer schon die Gefahr ihrer freiwilligen Aufgabe einher, da der Mensch gegenüber der Abwesenheit letzter Gewissheiten ein extremes Unbehagen empfindet und daher lernen muss, mit dieser Freiheit umzugehen. Die moderne Freiheit ist also aus beider Perspektive nicht nur eine stets „gefährdete“, sondern zugleich immer auch eine „gefährliche“ und dies nicht nur, weil sie den Menschen als solche erscheint, sie sie als solche wahrnehmen, sondern weil sie diese tatsächlich zu ihrer gefährlichen Aufgabe im Tausch gegen Ordnung, Sicherheit, Transparenz und damit Unfreiheit treibt. Somit drohen dann allen instituierten Ordnungen in letzter Konsequenz stets die Alternativen der Anarchie oder der Despotie.1182 Ähnlich dem Betrugsvertrag des zweiten Diskurses läge einer solchen unfreien Gesellschaft ein Vertrag zugrunde, den Rousseau auf folgende Formel bringt: „Ich schließe mit Dir einen Vertrag ausschließlich zu Deinen Lasten und meinen Gunsten, den ich halten werde, so lange es mir gefällt, und den Du halten wirst, solange es mir gefällt“1183. In der Politischen Ökonomie findet sich eine ähnliche Stelle, wo Rousseau den Vertrag zwischen Armen und Reichen wie folgt zusammenfasst: „Ihr habt meiner nötig, denn ich bin reich und ihr seid arm; lasst uns also einen Vertrag miteinander schließen: ich werde euch erlauben, die Ehre zu haben, mir zu dienen unter der Bedingung, dass ihr mir das wenige überlasst, was euch bleibt, für die Mü-

1180 1181 1182 1183

OC III, S. 355 OC III, S. 356. OC III, S. 397. OC III, S. 358.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

he, die ich habe, euch zu befehligen“1184. Die Folge solcher „Verträge“ wären für Rousseau stets die gleichen, nämlich ein unfreies und despotisches Regime, in dem nicht die Gesetze herrschten, sondern eine Masse zerstreut lebender Einzelner unter der Willkür einer Despotie zu leiden hätten und die ungleichen und ungerechten politischen Verhältnisse gar nicht mehr als solche wahrgenommen würden.1185 Die der Despotie als alternatives Extrem korrespondierende Anarchie hingegen bedeute, dass „die unbesiegbare Natur die Herrschaft wiedererlangt hat“1186. Beides gilt es zu vermeiden, zwischen beiden Extrempolen müssen die Bedingungen und Möglichkeiten des Erhalts der Freiheit und die dafür nötigen Maßnahmen ausgelotet werden. IV. 2. 4. Das Grundproblem der bürgerlichen Gesellschaft Um über den Erhalt der Freiheit angemessen nachdenken zu können, stellte sich Rousseau daher die Frage, wodurch ein Volk überhaupt zum Volk wird, ist dieser Akt schließlich „die wahre Grundlage der Gesellschaft“1187. Die radikale Freiheit des Menschen in ihrem paradoxen Verhältnis zu jeglicher Form gesellschaftlicher Ordnung stellte Rousseau als das politische problème fondamental vor: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt, wie zuvor“1188. Dies findet sich ähnlich in der Politischen Ökonomie: „Wie kann man aber die Menschen zwingen, die Freiheit eines unter ihnen zu verteidigen, ohne in die Freiheit der übrigen einzugreifen? Und wie kann man für die öffentlichen Bedürfnisse sorgen, ohne das besondere Eigentumsrecht derjenigen, welche man zum Beitrage nötigt, zu verändern? Mit welchen Trugschlüssen man auch immer diesem allem einen anderen Anstrich geben mag, so bleibt es doch immer gewiss, dass ich nicht mehr frei bin, wenn man meinem Willen Gewalt antut und dass ich nicht mehr Herr meines Eigentums bin, wenn ein anderer daran

1184 1185 1186 1187 1188

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EP, S. 259. OC III, S. 359. OC III, S. 393 OC III, S. 359. OC III, S. 360.

IV. 2. Die Frage des Politischen: Der Gesellschaftsvertrag

rühren kann“1189. Die „Auflösung“ dieses per se eigentlich unauflöslichen Paradoxons sei die „unbegreifliche Kunst“, welche es vermag, den Willen der Menschen „mit ihrem Einverständnis zu fesseln“, so dass sie gehorchen, ohne dass jemand befiehlt, dass sie dienen, ohne einen Herren zu haben und trotzdem so frei sind, wie zuvor: „Diese Wunderdinge sind das Werk des Gesetzes“, welches es vermöge, die „natürliche Gleichheit der Menschen im Recht“ wiederherzustellen.1190 Rousseau setzte hier also die Freiheit des vorgesellschaftlichen Zustandes und des Gesellschaftszustands nicht gleich, sondern relativiert diese eher, wenn er von einem „wie“ zuvor sprach. Wenn er zudem eine „grundlegende Lösung“ dieses paradoxen Problems in Aussicht stellte, sollte man ihn nicht vorschnell beim Wort nehmen, handelt es sich bei dem paradoxalen Verhältnis von Freiheit und Gesellschaft um ein prinzipiell unlösbares. Das bedeutet aber nicht, dass nicht an einer solchen Lösung gearbeitet werden müsste. Im Gegenteil macht der permanente Versuch der Vermittlung oder Auflösung unversöhnlicher Widersprüche ja den Wesenskern der radikalen Demokratiekonzeption aus. Nur kann diese Lösung eben niemals erreicht werden. Auch das Versprechen der Wiederherstellung der natürlichen Gleichheit im Recht darf dann nicht so verstanden werden, dass das Recht dies tatsächlich erreichen und de facto gewährleisten könne. Was es als Kampfplatz aber ermöglicht, ist die beständige Angleichung tatsächlicher Verhältnisse an das symbolische Prinzip einer allgemeinen Rechtsgleichheit. Rousseau war keinesfalls so naiv zu glauben, dass die bloße Existenz von Gesetzen vor Willkürherrschaft schützt und die Menschen sich mitsamt ihren Privatinteressen freiwillig einem für alle gültigen Prinzip unterwerfen lassen. Eine der umstrittensten Stellen, gerade mit Blick auf die Frage nach den totalitären Implikationen seiner Schriften, ist die von ihm in diesem Zusammenhang präsentierte aliénation totale jedes Mitgliedes mit allen Rechten an das Gemeinwesen.1191 Der Gesellschaftsvertrag beschränke sich im Wesentlichen auf folgende Formel: „Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf“1192. So entstehe eine sittliche Gesamtkörperschaft, eine Einheit, ein „gemeinschaftliches Ich“, das früher

1189 1190 1191 1192

EP, S. 234. EP, S. 234f. OC III, S. 360. OC III, S. 361.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

Polis, heute Republik genannt würde. Die Mitglieder dieser politischen Gemeinschaft stünden in einem doppelten Verhältnis zu ihr. Wenn sie ihnen passiv gegenübersteht, nennen die Mitglieder sie „Staat“, wenn sie aktiv ist „Souverän“, wenn sie in Kontakt zu anderen Gemeinschaften tritt „Macht“. Die Mitglieder als Gesamtheit seien das „Volk“, als Teilhaber an der Souveränität seien sie „Bürger“, als Unterworfene des Gesetzes „Untertanen“1193. Im Verfassungsentwurf für Korsika gibt Rousseau ein Bespiel dafür, wie er sich eine solche aliénation konkret vorstellt. Nachdem sich das korsische Volk durch einen feierlichen öffentlichen Eid zu einem politischen Körper vereinigt hat, soll es unter freiem Himmel und mit der Hand auf der Bibel folgende Formel schwören: „Im Namen Gottes des Allmächtigen und auf die heiligen Evangelien vereinige ich mich durch einen heiligen und unwiderruflichen Schwur mit Körper, Gütern, Willen und all meiner Kraft mit dem korsischen Volk, um ihm gänzlich anzugehören, ich und alles, was von mir abhängig ist. Ich schwöre, für es zu leben und zu sterben, all seine Gesetze zu befolgen und seinen Oberhäuptern und seiner rechtmäßigen Obrigkeit in allem, was mit den Gesetzen übereinstimmt, zu gehorchen. Möge der Herr mir beistehen in diesem Leben und sich meiner Seele erbarmen. Es lebe auf immer die Freiheit, die Gerechtigkeit und die Republik der Korsen. Amen“1194. Zunächst sind hier die einschränkenden (oder, wenn man so will, „auflösenden“) Bedingungen, die Rousseau einführt, zu beachten. So geht die Vereinigung als bewusster und autonomer Handlungsakt von den einzelnen Individuen aus („vereinige ich mich“). Zudem vereinigen sie sich nicht mit einer homogenen Entität oder einem essentialistisch verstandenen überzeitlichen Volkskörper, sondern mit einer konkreten historischen Gemeinschaft. Außerdem schwören sie nur einer rechtmäßigen Obrigkeit Gehorsam in Bezug auf alles, was mit den Gesetzen übereinstimmt (deren Mitautorinnen, wie gezeigt werden wird, letztlich wiederum die Individuen sind). Diese Vereinigung ist also mitnichten so total oder allumfassend, wie es in der Diskussion oft behauptet wird. Auch der „unwiderufliche“ Schwur darf nicht als einmaliger historischer Akt missverstanden werden. Rousseau fragte nicht danach, wie legitime Ketten geschmiedet werden können, sondern wie man das Tragen bereits existierender Ketten legitimieren kann. Radikaldemokratisch übersetzt ging es ihm also nicht um die Einrichtung wahrhaft

1193 OC III, S. 361f. 1194 OC III, S. 943; Hervorhebungen von mir.

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demokratischer Institutionen, sondern um die Demokratisierung bestehender (und eher nicht demokratischer) Institutionen. Damit ist der Schwur ein Versuch der (Neu-) Bestimmung des Verhältnisses der Individuen zu ihrer politischen Gemeinschaft, in der sie immer schon leben. „Unwideruflich“ zielt dann darauf, dass kein Individuum jenseits der Gesellschaft gedacht werden kann, in die es hineingeboren wurde und in der es lebt, dass also niemand aus den Bedingungen der Verwobenheit in soziale Verhältnisse herauskommt. Die Mitgliedschaft in einer sozialen Gemeinschaft mag daher unwiderruflich sein, deren konkrete Ausgestaltung ist es sicher nicht. Zudem wird die Diskussion von Rousseaus Verständnis der Volkssouveränität zeigen, dass das Individuum als Mitglied des Souveräns niemals „unwideruflich“ auf irgendetwas legitimerweise verpflichtet werden kann. Die aliénation totale ist aber vor allem, und das ist in diesem Zusammenhang der viel entscheidendere Punkt, keine „Lösung“ des oben skizzierten paradoxalen Grundproblems in dem Sinne, dass sie dieses Verhältnis zugunsten einer Seite auflöste. Sie ist vielmehr der Versuch, den für den Erhalt und die Ausweitung der Freiheit nötigen Umgang mit dem paradoxalen Verhältnis zwischen Freiheit und Ketten in eine prinzipielle Formel zu kleiden. Es ist jede Einzelne, so die Idee, die mit sich selbst einen Vertrag schließt und sich als Glied des Souveräns gegenüber den anderen Einzelnen und als Glied des Staates gegenüber dem Souverän verpflichtet.1195 Dabei sind es explizit immanente Prinzipien, auf die sich die Bürgerinnen verpflichten, also von ihnen selbst als legitim bestimmte Prinzipien. Keines der Prinzipien, auf die man sich verpflichtet, weist irgendeinen transzendentalen Bezug auf, keines wird den Individuen von irgendeiner höheren Macht oktroyiert. Zudem sind sie inhaltlich derart unbestimmt, dass ihre genauen Bedeutungen geradezu Gegenstand von Konflikten und Deutungskämpfen zwischen den Bürgern sein müssen. Um sich auf ein Prinzip der Freiheit zu verpflichten, beziehungsweise auf dieses verpflichtet zu werden, muss ja zunächst Einigkeit oder Klarheit darüber bestehen, was Freiheit genau bedeuten soll. Als Bürgerin verpflichtet sich die Einzelne also gegenüber abstrakten Universalien wie „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ und „Gemeinwille“, von einer Verschmelzung, Identifikation oder Unterordnung unter ein konkretes und allgemeingültiges Prinzip oder von der Auflösung der Individualität in einer eindeutig

1195 OC III, S. 362.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

bestimmbaren politischen Körperschaft mit Namen Volk aber kann keine Rede sein. Rousseau wollte die Menschen von allem metaphysischen Ballast vorangegangener Epochen, der nur zu leicht zu einem Herrschaftsinstrument in den Händen der Mächtigen werden kann, befreien. Er löste dafür aber das paradoxe Verhältnis von Freiheit und Gemeinschaft nicht auf. Dass der Souverän als die Gesamtkörperschaft der Aktivbürgerinnen nicht gegenüber sich selbst verpflichtet werden kann, ist nur logisch konsequent und wird von Rousseaus radikaler Konzeption der Volkssouveränität gestützt. Diese gipfelt darin, dass nicht einmal der Gesellschaftsvertrag selbst, also jede aktuell durch stillschweigende Zustimmung oder das Ausbleiben von Widerstand gültige politische Ordnung und legitime Unterscheidung dessen, was zum Beispiel legitim ist und was nicht, den Souverän binden kann.1196 Rousseau behauptete oder forderte kein Aufgehen des Individuums im Kollektiv, er sprach von „beiden Vertragsteilen“, die „in gegenseitigem Beistand“ und in einer „Doppelbeziehung“ zueinander stünden. Zudem bestehe der Souverän explizit aus „den Einzelnen, aus denen er sich zusammensetzt“. Daher ist es keinesfalls proto-totalitär, wenn er daraus ableitete, dass der Souverän „allein weil er ist, immer alles (ist), was er sein soll“1197. Rousseau sprach keinem Individuum die Legitimität dessen partikularen Sonderwillens ab, er behauptete nicht, dass der Zusammenschluss zur Gesellschaft die Auflösung der Partikularwillen im Gemeinwillen fordert oder zur Folge hat. Warum sollte er die Sonderwillen auch sonst extra thematisieren? Der Sonderwille des Individuums kann etwa dem Gemeinwillen, „den er als Bürger hat“1198 nicht nur entgegenlaufen, er tut es sehr wahrscheinlich in den meisten Fällen auch. Dies an sich ist noch kein Problem, was Rousseau jedoch fürchtete, ist ein Ausufern der Pflichtvergessenheit gegenüber der Gemeinschaft zugunsten der Verfolgung von Sonderinteressen, was in letzter Konsequenz den Untergang des Gemeinwesens zur Folge habe.1199 Daraus leitete er die zweite heftig umstrittene These ab, wonach der Gesellschaftsvertrag „stillschweigend jene Übereinkunft ein(schließt), die allein die anderen ermächtigt, dass, wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird, was nichts anderes heißt, als dass man

1196 1197 1198 1199

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OC III, S. 362. OC III, S. 436. OC III, S. 363. Ebd. Ebd.

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ihn zwingt, frei zu sein“1200. Hierbei muss Rousseaus Freiheitsverständnis berücksichtigt werden, um Missverständnisse zu vermeiden. Rousseau legte als Maßstab an die Freiheit den Schutz vor persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen an, die er als tyrannisch und sinnlos ablehnte.1201 Der Zusammenschluss zu einer politischen Gemeinschaft erzeuge eine „sehr bemerkenswerte Veränderung“ im Menschen, insofern dessen Verhalten fortan durch das Prinzip der Gerechtigkeit anstatt des Instinkts geleitet würde. Gerechtigkeit ist hier wohlgemerkt kein universelles Prinzip, sondern meint das, was die Bürger eines Gemeinwesens politisch für ihre jeweilige Gemeinschaft als gerecht festgelegt haben oder neu festlegen. Jede Vorstellung von Gerechtigkeit ist ebenso das Resultat von Deutungskämpfen, wie die politische Gemeinschaft selbst, in der diese gilt. Gleiches gilt für die Pflicht, welche die vermeintlich natürliche Triebhaftigkeit als handlungsanleitendes Prinzip des Naturzustandes im Gesellschaftszustand ersetzt, ebenso wie für das Recht, welches an die Stelle des Begehrens trete und für die Vernunft, welche die Neigungen ersetze.1202 Das bedeutet nun nicht, dass dem Menschen die körperlichen Triebe, das Begehren und die Neigungen genommen oder diese als illegitim verurteilt werden. Sie können nur innerhalb des Gemeinwesens nicht beanspruchen, dominante oder gar alleinige und legitime handlungsleitende Prinzipien zu sein. Gemäß dem nicht aufzulösenden Widerspruch zwischen den Prinzipien radikaler Freiheit und gesellschaftlicher Ordnung hätte dies wohl die Auflösung des Gemeinwesens in anarchische Verhältnisse zur Folge. Die von Rousseau angesprochene „Wesensveränderung“ muss daher als die Neusortierung innerhalb der Hierarchie von Handlungsprinzipien gesehen werden und nicht als deren Zurücknahme oder Auslöschung. Die bürgerliche Freiheit ist im Unterschied zur natürlichen Freiheit notwendig immer durch einen Gemeinwillen begrenzt,1203 Gemeinschaft und Gemeinwillen bedingen sich gegenseitig (von einer Gemeinschaft, die ohne das Prinzip eines Gemeinwillens vorstellbar wäre, lässt sich nicht sinnvollerweise reden). Doch unterwirft man sich ja nicht der einzigen, sondern lediglich der höchsten Herrschaft dieses Gemeinwillens,1204 der zudem ja prinzipiell inhaltlich unbestimmt ist und auch nicht in allen Fragen des täglichen Le-

1200 1201 1202 1203 1204

OC III, S. 364. Ebd. OC III, S. 364. OC III, S. 364f. Cohen, Joshua: Rousseau. S. 38. Hervorhebung von mir.

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bens Geltung beansprucht. Wenn Rousseau also oft vorgeworfen wird, er lege funktionierenden Gemeinwesen ein zu striktes Homogenitätsideal als Bedingung ihres Fortbestehens unter, kann dies hier zurückgewiesen werden. Rousseaus Definition von Freiheit als „Gehorsam gegenüber dem selbst gegebenen Gesetz“1205 macht deutlich, inwiefern man sinnvollerweise von einem „Zwang“ zur Freiheit sprechen kann, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln. Wenn also der Gesellschaftsvertrag letztlich das Prinzip der rechtlichen Gleichheit vor dem der natürlichen Ungleichheit auszeichnet und so allen Behauptungen der Legitimität rechtlicher Ungleichheiten als angebliche Folge natürlicher Ungleichheiten begegnet, unterstellt dies nicht die faktische Verwirklichung von Rechtsgleichheit in einer politischen Gemeinschaft oder setzt eine solche gar voraus. Rousseau war sich des tatsächlichen Missbrauchs der formellen Rechtsgleichheit durchaus bewusst, diene doch unter schlechten Regierungen die „scheinbare“ und „vorgespiegelte“ Gleichheit stets der Verblendung der Benachteiligten. Er wusste, dass „in Wirklichkeit“ die Gesetze immer den Besitzenden nutzen.1206 Die eigentliche Bedeutung dieses Absatzes liegt aber nicht allein in dessen sozialkritischen Implikationen. Viel wichtiger ist hier, dass Rousseau trotz des Wissens um den Missbrauch der formellen Rechtsgleichheit des Gesellschaftsvertrags und trotz der Tatsache, dass Gesetze „immer“ den Besitzenden und Mächtigen dienen, diese nicht nur als das Werkzeug einer herrschenden Klasse zur Verschleierung ungerechter und ungleicher Machtverhältnisse verstand. Analog zu Leforts Behandlung der Menschenrechte, wonach diese de facto wohl auch niemals zu verwirklichen sind, geschweige denn irgendwo jemals voll verwirklicht wären, wird deutlich, dass auch Rousseau auf die symbolische Bedeutung des Prinzips der Rechtsgleichheit abhebt. Trotz der Tatsache, dass Rechte und Gesetze in der Realität unterlaufen werden, kommt ihrer symbolischen Existenz, also dem Fakt, dass sie formuliert, dokumentiert und öffentlich (re)präsentiert werden, eine enorm hohe Bedeutung und subversive faktische Wirksamkeit zu. Denn nur wo Rechtsgleichheit symbolisch als existent behauptet wird, lässt sich faktische Rechtsungleichheit als solche erkennen, anprangern und versuchen abzuschaffen, lässt sich der faktische Einschluss Ausgeschlossener fordern und das demokratische Projekt am Leben halten. Der Ursprung und Zweck der Einrichtung einer gesell-

1205 OC III, S. 365. 1206 OC III, S. 367.

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schaftlichen Ordnung und ihrer Institutionen muss sich nicht mit derer Funktion und weiteren Entwicklung decken, die Paradoxien und Widersprüche moderner Gesellschaften, hierin sind sich Lefort und Rousseau einig, können und dürfen nicht aufgelöst werden, sondern müssen in ihrer Widersprüchlichkeit in den Dienst der Freiheit gestellt werden. Und erst in diesem Zusammenhang kommt dem Gemeinwillen seine eigentliche, für das demokratische Projekt wesentliche Funktion zu. IV. 2. 5. Der Gemeinwille Der Gemeinwille ist einer der umstrittensten und zugleich zentralsten Bausteine in Rousseaus Theoriegebäude und wird nicht zuletzt auch wegen dessen inhaltlicher Unbestimmtheit mitunter als Mythos bezeichnet.1207 Diese Unbestimmtheit ist jedoch keine konzeptionelle Schwäche,1208 sondern in ihr liegt eine wesentliche Bedingung der Möglichkeit des Erhalts der Freiheit in politischen Gemeinschaften. Der Gemeinwille ist zunächst als ein Prinzip oder Ideal vorzustellen, dass sich de facto nie verwirklichen lässt, weil dies eine prinzipielle Unmöglichkeit darstellt. Er ist dabei aber nicht in dem Sinne als mythisch zu verstehen, dass ihm etwas Unheimliches oder Übersinnliches anhaftet, am Gemeinwillen wie Rousseau ihn vorstellte gibt es nichts Transzendentales.1209 Er wird nach rein immanenten Prinzipien und in jeweils spezifischen Epochen und für bestimmte Gesellschaften gültig von deren Mitgliedern bestimmt und leitet politische Entscheidungen an oder dient derer Bewertung und Beurteilung. Rousseau behauptete die Existenz eines Gemeinwillens nicht als per se gut oder schlecht, sondern zunächst schlicht als Faktum organisierten menschlichen Zusammenlebens. Wo eine Gemeinschaft existiert, lässt sich immer auch ein wie auch immer konkret verstandener Gemeinwille identifizieren vielmehr die Wirksamkeit des Prinzips eines Gemeinwillens ausmachen. Jeder Gemeinwille muss deswegen auch immer in Relation zu dem Gemeinwesen verstanden werden, in dem er Geltung beansprucht beziehungsweise in dem dessen Geltung beansprucht wird. So ist der Gemeinwille der einen Gemeinschaft nur aus deren Innenperspektive als absolut und allgemein zu

1207 Chevallier, Jean-Jacques: Jean-Jacques Rousseau, essai de synthèse. S. 28. 1208 Cohen, Joshua: Rousseau. S. 40. 1209 Siehe auch Durkheim, Emil: Le contrat social de Rousseau. In: Revue de métaphysique et de morale, 25, 1918. S. 1 - 23.

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verstehen, von außen betrachtet jedoch nicht mehr als ein partikularer Wille einer beliebigen Gemeinschaft. Der Gemeinwille ist somit weder in dem Sinne essentialistisch, dass er eindeutig inhaltlich bestimmt und das einzig gültige handlungsanleitende Prinzip innerhalb einer Gemeinschaft ist, noch ist er ein universales und überzeitliches, also für alle Gemeinschaften gleichgültiges Prinzip. Rousseau vorzuwerfen, das Individuum dem Gemeinwillen zu opfern,1210 geht an dessen eigentlicher Bedeutung vorbei. Nur der Gemeinwille kann den Staat so anleiten, dass dem Gemeinwohl gedient ist aber dies nur deswegen, weil er nicht a priori inhaltlich bestimmt ist.1211 Politisches Gemeinwesen und Gemeinwohl bilden für Rousseau eine Einheit, sie gehören zusammen und bedingen sich gegenseitig. Weder Gemeinschaft noch Gemeinwille sind dabei das Ergebnis eines harmonischen Gründungsaktes sich miteinander im Einklang befindender Herzen oder Interessen: „Denn wenn der Widerstreit der Einzelinteressen die Gründung von Gesellschaften nötig gemacht hat, so hat der Einklang derselben Interessen sie möglich gemacht. Das Gemeinsame in diesen unterschiedlichen Interessen bildet das gesellschaftliche Band, und wenn es nicht irgendeinen Punkt gäbe, in dem alle Interessen übereinstimmen, könnte es keine Gesellschaft geben. Nun darf aber die Gesellschaft nur gemäß diesem Gemeininteresse regiert werden“1212. Am Grund und Ursprung jeder Gesellschaftsordnung identifiziert Rousseau erneut Konflikte und Dissens, die Unterschiedlichkeit der Menschen und ihrer Interessen, welche sich diese als eine Einheit im Konflikt instituieren und integrieren lässt. Weder Lefort noch Rousseau behaupten nun, dass eine Gesellschaft ausschließlich auf Konflikten aufruht. Beide wissen um die Notwendigkeit eines zumindest minimalen Grundkonsenses, andernfalls befände sich das Gemeinwesen im permanenten Bürgerkrieg. Jedoch ist dieser Konsens den Konflikten und widerstreitenden Interessen logisch nachgeordnet. So sprach Rousseau wohl nicht zufällig so vage von „einem Punkt“, in dem sich die Interessen einig sein müssen, ohne diesen zu konkretisieren. Er lässt ihn auch ganz bewusst inhaltlich unbestimmt, da er letztlich kontingent ist und daraus ohnehin keine letztgültigen Schlüsse für gesellschaftliche Ordnung abgeleitet werden können. In Analogie zu Leforts Demokratietheorie handelt es sich bei dem Widerstreit der Interessen um die innere Teilung der Gemeinschaft als Bedingung ihrer Existenz, die 1210 Ders.: Montesquieu and Rousseau. Michigan 1960. S. 98. 1211 OC III, S. 368. 1212 Ebd. Hervorhebung von mir.

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jedoch symbolisch auf die Ebene der Politik gehoben und dort ausgetragen werden muss, bevor man im vollen Sinn von einer politischen Gemeinschaft sprechen kann. Bereits die Politische Ökonomie zeugt vom Bewusstsein Rousseaus darum, dass jede Gesellschaft „aus anderen, kleineren Gesellschaften unterschiedlicher Art, deren jede ihre Interessen und Grundsätze hat“1213 besteht. Da diese Interessen zueinander in einer Spannung stehen, an der das Gemeinwesen zu zerbrechen droht, wenn es sie nicht aussöhnt, muss die Politik zu deren Befriedung beitragen. Dies leistet sie durch deren symbolische Vermittlung, also die mise-en-scène der Konflikte auf einer symbolisch von den Konfliktparteien abgehobenen Ebene. Für Lefort wie für Rousseau konstituiert sich die Gemeinschaft als solche in dem Moment als Gemeinschaft, in dem die basalen inneren Konflikte der Gesellschaft sowie der Konflikt zwischen „Herrschen-Wollenden“ und „Nicht-Beherrscht-Werden-Wollenden“ durch die symbolische Errichtung eines von der Gemeinschaft getrennten Ortes der Macht auf die Ebene der Politik gehoben und dort repräsentiert und damit symbolisch ausgetragen werden. Indem sich die Macht sichtbar von den Konfliktparteien abhebt, bietet sie diesen den symbolischen Fluchtpunkt, der es ihnen ermöglicht, sich als Gemeinschaft im Konflikt zu integrieren. Die jeweils den Ort der Macht besetzende Elite repräsentiert die politische Gemeinschaft und konstituiert sie dadurch zugleich. Für diese mise-en-scène kommt dem Gemeinwillen eine ganz wesentliche Bedeutung zu, ist er doch der prinzipiell leere „äußere Pol“, auf den die Macht verweist, um sich zu legitimieren. Das gesellschaftliche Band, so kann Rousseau in Analogie zu Lefort gelesen werden, wird also dadurch geknüpft, dass die sich widerstreitenden unversöhnlichen Konflikte mittels Verweis auf den Gemeinwillen dem Gemeinwohl untergeordnet und dadurch symbolisch ausgetragen werden. Dabei forderte Rousseau keinesfalls die faktische Deckungsgleichheit von Einzel- und Gemeinwillen. Diese hielt er zwar theoretisch für möglich, auf Dauer jedoch für praktisch nicht haltbar, denn „der Einzelwille neigt seiner Natur nach zur Bevorzugung und der Gemeinwille zur Gleichheit“1214. Wo es, wie er in der Politischen Ökonomie anmerkt, nahe liegend wäre zu fordern, dass die „besonderen Gesellschaften immer jenen untergeordnet sind, die sie enthalten“ und folglich „der allgemeinste Wille

1213 EP, S. 232. 1214 OC III, S. 368.

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zugleich auch immer der gerechteste ist“, decke sich das leider nicht mit der gesellschaftlichen Realität, stehe doch „das persönliche Interesse in umgekehrten Verhältnis zu der Pflicht und nimmt in ebendem Maße zu, in welchem die Verbindung enger wird und die Verpflichtung an Heiligkeit verliert“.1215 Der Einzelwille jedes Menschen steht also in prinzipiellem Widerspruch und Konflikt zum Gemeinwillen, beide könnten, darin vergleichbar den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, niemals auf Dauer vollständig in Einklang miteinander gebracht, niemals wirklich miteinander versöhnt werden,. Daher können sich die Bürger auch nie ganz sicher sein, ob der von der Macht behauptete Gemeinwille wirklich der Gemeinwille, oder nicht eher ein als solcher behaupteter partikularer Wille ist. Das zieht, nimmt man Rousseaus Prämisse des Erhalts der Freiheit im Gemeinwesen ernst, die Notwendigkeit der ständigen Hinterfragung dieses vom Ort der Macht aus behaupteten Gemeinwillens nach sich und damit in aller Konsequenz die permanente Auseinandersetzung um dessen gültige Definition sowie die Legitimität der jeweiligen durch den Verweis auf das Gemeinwohl legitimierten Besetzungen des Ortes der Macht. Folglich ist der Gemeinwille als Prinzip immer allgemein, in seiner tatsächlichen Verwirklichung jedoch immer defizitär, der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit also niemals aufzulösen. Rousseau konzipierte damit keine harmonisch unter einem vorgegebenen und absolut gültigen Gemeinwillen befriedete Gemeinschaft. Vielmehr bestehen unter der Oberfläche der immer nur prekär repräsentierten Einheit die unzähligen Konflikte fort, die permanent auszubrechen drohen, jedoch auf der Bühne der Politik symbolisch ausgetragen und dadurch am Ausbrechen gehindert werden. Eine friedliche und homogene Gesellschaft, wie sie Rousseau oft als dessen vermeintliches Idealbild unterstellt wird, hätte für diesen die Bedingung, dass „alle Bürger gleicherweise gute Christen wären“, was er für genauso unwahrscheinlich oder unrealistisch hielt, wie die Existenz einer wahren Demokratie, wäre eine Gesellschaft von wahren Christen schließlich „keine Gesellschaft von Menschen mehr“1216. Er anerkannte also einen latenten und nicht aufzulösenden Widerspruch zwischen der symbolischen Einheitsbehauptung des Gemeinwillens und der realen Konflikthaftigkeit des Sozialen und bezog dies zentral in seine Überlegungen ein. In diesem Widerspruch sah er die erste Bedingung der Möglichkeit

1215 EP, S. 232. 1216 OC III, S. 465.

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freiheitlichen politischen Handelns. Erst die symbolische Behauptung der Existenz eines allgemeingültigen Gemeinwillens ermöglicht es, die dieser Behauptung widersprechende Realität sichtbar zu machen und im Anschluss daran Kritik zu üben und Reformen einzufordern. Damit rückt die Bürgerin als zentrale Akteurin der politischen Theorie Rousseaus wieder in den Mittelpunkt. In ihrer Doppelrolle als zugleich Untertanin und Souverän ist sie zwischen Gehorsam und Freiheit hin- und hergerissen und muss lernen, die damit verbundene Bürde der Freiheit zu tragen und ihrer Neigung, dem Partikularwillen den Vorzug vor dem Gemeinwillen zu geben, zumindest hin und wieder nachzugeben,1217 da sonst die Existenz des Gemeinwesens als Ganzes und die Freiheit einer jeden Einzelnen auf dem Spiel stünden. Zugleich muss ihr aber auch bewusst sein, dass der Gemeinwille kein überzeitlich und universell gültiges transzendentales Prinzip, sondern politisch konstruiert und damit immer schon notwendig potentieller Gegenstand von Konflikten ist. Der Gemeinwille ist keine vorpolitisch existierende Entität, zu deren Auffindung dann der Gesetzgeber beitragen soll, wie oft behauptet.1218 Entsprechend ist Rousseaus Feststellung, wonach sich der Gemeinwille keine Ketten für die Zukunft anlegen lässt, so zu lesen, dass der Gemeinwille von heute nicht der von morgen sein muss. Es ging ihm dabei nicht darum, dass das Volk einem vorgeschriebenen oder gar immer schon existenten konkreten Willen einfach nur gehorcht, schließlich wäre es dann kein souveränes Volk mehr.1219 Vielmehr hat es an der permanenten Neudefinition des Gemeinwillens teilzunehmen, was dann in einer politischen Gemeinschaft, die auf widerstreitenden Interessen und Konflikten aufbaut, gar nicht anders als konflikthaft ablaufen kann. IV. 2. 6. Die Trennung von Macht und Gesellschaft Entgegen aller sich hartnäckig haltenden Behauptungen, Rousseau sei der Befürworter einer „identitären“ Demokratie, bestand er nachdrücklich auf der Trennung des Souveräns von seinen Oberhäuptern, deren Befehle „für

1217 OC III, S. 427. 1218 Riley, Patrick: Rousseau´s General Will. In: Ders. (Hrsg.). The Cambridge Companion to Rousseau. S. 124 - 153, hier S. 138. 1219 OC III, S. 369.

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den Gemeinwillen gelten“, so lange der Souverän nicht widerspricht.1220 Dies muss in Analogie zu Leforts Trennung einer Sphäre der Macht von einer Sphäre der Gesellschaft verstanden werden. Die jeweiligen Machthaber, die den Ort der Macht mit Verweis auf ihre zumindest temporär als legitim anerkannte Definition des Gemeinwillens besetzen, halten sich dort so lange, wie sie eben glaubhaft vermitteln können, dass ihre Befehle und Entscheidungen mit dem von ihnen behaupteten Gemeinwillen konform gehen und dieser zudem das Gemeinwohl befördere. Damit repräsentiert die Regierung mit Verweis auf das Gemeinwohl vom Ort der Macht aus den Gemeinwillen und das Volk. Wenn ihnen dies nicht mehr gelingt, lehnt sich das souveräne Volk gegen sie auf, leert den Ort der Macht und besetzt diesen neu. Kollektives Schweigen deutete Rousseau dabei als Zustimmung des Volkes zu den Befehlen der Oberhäupter und somit als den für jede politische Ordnung notwendigen temporären Konsens. Den Machthabern obliegt so die Konkretisierung des jeweils anerkannten und damit gültigen Gemeinwillens, sowie die Ausführung von Gesetzen mit Blick auf dessen Zweck, das Gemeinwohl. Erst durch konkrete Handlungen, Entscheidungen oder Befehle bekommt der Gemeinwille ebenfalls eine fassbare Gestalt, der dann zugestimmt wird, oder nicht. Er ist genau deswegen auch unteilbar, ist entweder allgemein oder gar nichts, wie Rousseau es so prominent beschrieb. Denn würde er symbolisch bloß als der Wille eines Teils des Volkes, also als Sonderwille ausgegeben, wären alle mit Blick auf ihn legitimierten Handlungen ein reiner Verwaltungsakt.1221 Um aber als legitimer symbolischer Referenzpunkt zur Legitimation der Besetzung des Ortes der Macht fungieren zu können, muss er als allgemein und damit als unteilbar adressiert und behauptet werden. Der Gemeinwille muss also von seiner Idee her deswegen eine unteilbare und fundamentale Größe sein, da dem Verweis auf ihn seitens der jeweiligen Machthaber als Ausdruck der Souveränität des ganzen Volkes sonst keine Legitimität zugesprochen werden könnte. Deswegen verwarf Rousseau auch das Prinzip der Repräsentation für die Legislative, denn „da das Gesetz nur die Bekundung des Gemeinwillens ist, ist es offenbar, dass das Volk als Legislative nicht vertreten werden kann; aber es kann und muss vertreten werden als Exekutive, die nur gemäß dem Gesetz angewandte Kraft ist“1222. Der Souverän als gesetzgebende Gewalt bedarf also notwen1220 Ebd. 1221 Ebd. 1222 OC III, S. 430.

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dig einer Gewalt, welche die abstrakten und allgemeinen Gesetze in konkrete Handlungen umsetzt, einer Gewalt, „die immer das Gesetz und zwar nur das Gesetz selbst ausübt“. Diese Gewalt war für Rousseau die Regierung. Sie ist die zwischen das Volk als Ansammlung von Untertanen und das Volk als Souverän geschaltete intermediäre Instanz, welche sowohl die Existenz der politischen Gemeinschaft als auch die paradoxe Doppelexistenz der Bürgerin ermöglicht. Sie dient der gegenseitigen Verständigung, der Ausführung des Rechts und der Aufrechterhaltung der bürgerlichen und politischen Freiheit. Die Regierung hat als ein untrennbarer Teil des politischen Körpers dabei Anteil an dem allgemeinen Willen, der sie mit begründet. Als eigener Körper aber hat sie einen eigenen Willen und diese beiden Willen können sich einig sein, sich aber genauso gut bekämpfen. Diesen Konflikt zwischen dem allgemeinen Willen und dem Einzelwillen der Regierung problematisierte Rousseau jedoch nicht oder pathologisierte diesen gar, sondern er sah in deren paradoxen Verhältnis zueinander, also aus „der Verbindung dieser Übereinstimmung und dieses Konflikts (…) das Spiel der ganzen Maschine“ entspringen.1223 Dass der Gemeinwille also immer Recht hat und immer auf das öffentliche Wohl ausgerichtet ist, muss mit Blick auf dessen symbolische Funktion verstanden werden und bedeutet nicht, dass die Beschlüsse des Volkes automatisch immer richtig sind, könne es doch schließlich auch sehr leicht getäuscht werden. Daher muss der Gesamtwille als Summe von Einzelwillen von dem Gemeinwillen unterschieden werden. Diesen Unterschied definiert Rousseau wie folgt: „Nimm von ebendiesen (Sonderwillen) das Mehr und das Weniger weg, das sich gegenseitig aufhebt, so bleibt als Summe der Unterschiede der Gemeinwille“1224. In einer Fußnote zitierte er den Marquis D´Argenson mit den Worten: „Jedes Interesse hat einen anderen Ausgangspunkt. Die Übereinstimmung zweier Differenzen kommt durch die Gegnerschaft gegen ein drittes zustande“ und fügte dem hinzu, dass „die Übereinstimmung aller Interessen durch die Gegnerschaft gegen das Interesse eines jeden zustande kommt. Wenn es keine unterschiedlichen Interessen gäbe, spürte man den Gemeinwillen, der nie auf ein Hindernis träfe, kaum: alles andere ginge von selbst, und die Politik hörte auf, eine Kunst zu sein“1225. Wo eine Interessensidentität, mithin ein faktisch existenter und wirksamer Gemeinwille also wirklich existierte, 1223 Rousseau. Jean-Jacques: Briefe vom Berge. Sechster Brief. S. 148. 1224 OC III, S. 371. 1225 Ebd. Hervorhebung von mir.

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bräuchte es diesen gar nicht, da es nichts mehr zu entscheiden gäbe, jede Politik somit überflüssig wäre. Wenn Rousseau aber die Verfassung des Staates als „ein Werk der Kunst“ bezeichnete,1226 wird deutlich, dass der Gemeinwille nicht nur aus der Differenz der Einzelinteressen und Partikularwillen resultiert, sondern diese zu seiner Bedingung hat. Da das Prinzip des Gemeinwillens und die Existenz einer Gemeinschaft sich gegenseitig bedingen, gilt diese Bedingung natürlich auch für Letztere. Indem die Partikularwillen aufeinander prallen, wird in dem daraus resultierenden Konflikt das Prinzip eines Gemeinwillens generiert, mittels dem diese Konflikte temporär symbolisch ausgetragen werden. Zugleich kann dieses Prinzip als Prinzip nur so lange bestehen, wie es eben widerstreitende Willen und Interessen gibt, die eine solche symbolische Aussöhnung notwendig machen. Die Kunst der Politik besteht also darin, eine Gemeinschaft im Konflikt um die Definitionen des Gemeinwillens herum zu integrieren, ohne dass diese Gemeinschaft an den Konflikten zerbricht und sich im Bürgerkrieg auflöst oder sie auf der anderen Seite in Despotismus und Unfreiheit erstarrt. Wenn Rousseau in diesem Zusammenhang die Existenz von „Faktionen“ dahingehend kritisierte, dass deren Wille „ein allgemeiner hinsichtlich seiner Glieder und ein besonderer hinsichtlich des Staates“ ist, dann bedeutete dies keine Rundumverurteilung der Existenz von Faktionen oder Parteiungen per se. 1227 Vielmehr galt seine Kritik der Dominanz einer großen dominanten, ja hegemonialen Faktion, welcher es erfolgreich gelingt, ihren Sonderwillen dauerhaft als mit dem Gemeinwillen identisch auszugeben, welche also ihre partikulare Interpretation des Gemeinwillens als absolut verbindlich und von allen akzeptiert auf Dauer zu stellen vermochte und welche so den Ort der Macht dauerhaft besetzen, die Schließung des Politischen betreiben und jegliche Neudefinition des Gemeinwillens verunmöglichen könnte. Ein Parteienverbot war daher auch nur ein Vorschlag des möglichen Umgangs mit dieser Gefährdung des öffentlichen politischen Lebens, genauso schlug Rousseau ja aber auch vor, die Zahl der Faktionen zum Beispiel zu vervielfältigen, dadurch die Konkurrenz der Interessensgruppen zu erhöhen und die dauerhafte Dominanz einer Gruppe zumindest zu erschweren.1228 Rousseau verbannte also weder Konflikte, noch Parteien, oder gar Einzelinteressen als illegitim oder schä1226 OC III, S. 424. 1227 OC III, S. 371. 1228 OC III, S. 372.

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digend aus dem öffentlichen Leben. Im Gegenteil war ihm die öffentliche Austragung von Konflikten vielmehr ein mögliches Heilmittel gegen die latent drohenden Schließungen des Politischen und die davon ausgehenden Gefahren für die Freiheit im Gemeinwesen. Die wichtigste Sorge jeder politischen Gemeinschaft sei schließlich ihre Selbsterhaltung,1229 „der Gesellschaftsvertrag hat die Erhaltung der Vertragschließenden zum Zweck“1230. Die Souveränität ist dabei die unumschränkte Gewalt der politischen Gemeinschaft, welche vom Gemeinwillen geleitet wird. Die politische Gemeinschaft besteht gleichzeitig jedoch aus Privatpersonen, deren „Leben und Freiheit von Natur aus unabhängig von ihr sind“1231. Die Rechte der Bürgerinnen müssen daher unbedingt von den Rechten des Souveräns unterschieden werden, das natürliche Recht der Menschen auf Freiheit kollidiert dabei notwendig mit der gesellschaftlichen Pflicht der Untertanen auf ein Mindestmaß an Gehorsam. Dieser Widerspruch zwischen Freiheit und Gehorsam, zwischen Autonomie und politischer Ordnung, welcher zugleich die paradoxe Doppelexistenz der Untertanen-Bürgerin charakterisiert, ist in der hier vorgeschlagenen Lesart jedoch die unhintergehbare Bedingung für den Erhalt der Freiheit. Der Souverän als Kollektivperson bestand für Rousseau immer und unaufhebbar aus freien Individuen und widerstreitenden Interessen, welche ihn konstituieren. Darin wurzelte Rousseaus Konzeption der Gleichheit und Gerechtigkeit: Dass der Gemeinwille von allen ausgeht und sich zugleich immer auch auf alle bezieht.1232 Sobald er sich auf einen einzelnen, festumrissenen Gegenstand bezöge, verlöre er seine „natürliche Richtigkeit“ und legitimer Widerstand rege sich.1233 Wenn also die hinter einer Behauptung der Konformität mit dem Gemeinwillen verborgenen partikularen Interessen einer Gruppe als solche erkannt werden, brechen die Konflikte um die Definition des Gemeinwillens jedes Mal notwendig und zurecht erneut aus. Dann nämlich handelt das Volk als Souverän im Sinne Leforts „gegen den Staat“ und nicht als bloße „Behörde“, welche unkritisch ausführt,1234 worüber sie selbst nicht mitzubestimmen hat. Die konstitutive Unterscheidung zwischen einer Dimension der Macht und der Gemeinschaft jedoch wird

1229 1230 1231 1232 1233 1234

Ebd. OC III, S. 276. OC III, S. 373. Ebd. OC III, S. 374. Ebd.

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auch in diesem Fall keinesfalls abgeschafft, eine Demokratie gegen den Staat ist auch für Rousseau keine Demokratie mit dem Ziel der Auflösung des Staates. Dass die Regierenden und Regierten de facto nun stets dazu neigen, auch gegen die allgemeinen Gesetze zu verstoßen, stellt so lange kein wirkliches Problem dar, wie diese Vergehen mit Verweis auf die uneingeschränkte und absolute Gültigkeit der Gesetze geahndet werden können und jede Abweichung von der geltenden symbolischen Norm prinzipiell als solche erkennbar ist. Dies bedingt dann natürlich zuerst die symbolische Behauptung der Gültigkeit oder Existenz einer Herrschaft allgemein gültiger Gesetze, ohne welche keine Gesetzesübertretung ja als solche erkennbar wäre. Genau hierfür zeichnet in Rousseaus Konzeption die am Ort der Macht sitzende Regierung verantwortlich. Erst vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung des Symbolischen und des Realen wird dann deutlich, was Rousseaus Paradox der Freiheit bedeutet: Die einen sagen „(…) wir sind das freieste unter allen Völkern, und andere ebenso vernünftige Leute sagen wieder: wir leben unter der härtesten Sklaverei. Wer hat recht, fragen Sie mich? Alle, mein Herr, aber in verschiedener Hinsicht (…). Nichts ist freier, als euer rechtmäßiger Staat, und nichts ist sklavischer, als euer jetziger Zustand“1235. Es gibt also einen erkennbaren und vor allem auch erfahrbaren qualitativen Unterschied zwischen den Institutionen eines Staates, dem Zweck ihrer Einrichtung und der ihnen zugesprochenen Funktion und Legitimation und der Art und Weise, wie deren Prinzipien erfüllt und im täglichen sozialen und politischen Zusammenleben erfahren werden. Alle sozialen Verhältnisse, um in Rousseaus Bild zu bleiben, können nur dann als zum Beispiel sklavisch verstanden oder empfunden und als solche angegriffen und überwunden werden, wenn sie sich wahrnehmbar von dem symbolisch vermittelten Selbstverständnis eines freien Volkes fundamental unterscheiden und dann zwangsläufig Widerstand hervorrufen. Um Unfreiheit als solche erkennen und erfahren zu können, braucht es die symbolische Behauptung einer freien und gleichen Gesellschaft: „Das ist eure Freiheit, und das ist eure Sklaverei“. Formal mögen also zum Beispiel Gleichheit und Volkssouveränität herrschen, de facto aber tun sie dies nie, etwa weil eine sehr starke Exekutive eine zu schwache Legislative unterdrückt oder gewählte Oberhäupter „andere

1235 Rousseau, Jean-Jacques: Briefe vom Berge: Siebter Brief. In: Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981. S. 421 – 443, hier S. 421.

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Vollmachten“ als die durch die Wahl übertragenen beanspruchen. Keinesfalls redete Rousseau dabei einer Identität von Herrschenden und Beherrschten das Wort. „Im Anfang“ seien Regierende und Regierte („gesetzgebende“ und „ausübende Gewalt“, „aus denen die Souveränität besteht) zwar nicht zu unterscheiden, mit der Zeit komme es aber zwangsläufig wohl immer zur Herausbildung einer Beamtenkaste als Folge derer Beauftragung durch den Souverän. Anfangs legten diese Beamten dem Souverän gegenüber vielleicht noch Rechenschaft ab, um danach zurück ins Glied zu treten. Über die Zeit aber komme es zu einer Professionalisierung und damit zu einer Verstetigung eines neu entstandenen politisch handelnden Körpers, „welcher immer handelt“. Dadurch könne dieser gar nicht mehr über alle Handlungen Rechenschaft ablegen, tue dies in der Folge auch immer weniger und bald gar nicht mehr. Damit einhergehend würde die Legislative als Ort der Souveränität immer mehr marginalisiert und als politischer Akteur in den Hintergrund gedrängt, „der gestrige Wille wird stillschweigend auch als der heutige angenommen, dabei müsste das gestrige Handeln davon entbinden, auch heute zu handeln“. Das eigentliche Problem dabei ist nun aber nicht die Existenz einer ihre Befugnisse und ihre Macht ausweitenden bürokratischen Kaste, sondern vielmehr die Untätigkeit gegenüber dieser Anmaßung seitens des Souveräns. Durch diese verstetigt und verhärtet sich die Dominanz der Exekutive, welche „ihren Willen unabhängig“ macht. Die Regierung ist immer eine Körperschaft, welche einen eigenen partikularen Willen entwickelt und diesen versucht als den Gemeinwillen auszugeben und so die eigene Partikularität zu kaschieren. Wenn der Souverän dem jedoch keinen Einhalt gebietet, bleibt irgendwann nur noch reine „Stärke“ übrig und wo „die Stärke allein regiert, ist der Staat aufgelöst“.1236 Die Existenz eines freiheitlichen Gemeinwesens hat also die symbolische Trennung einer Ebene der Macht von der Ebene der Gesellschaft zur unbedingten Voraussetzung. Der Souverän als solcher existiert nur im und durch den Widerspruch zwischen Symbolischem und Realem. Wenn Rousseau schrieb, dass „in jedem Staat, wo der Souverän spricht, (…) das Gesetz (spricht)“1237, dann meinte das, dass nur dadurch, dass von einem symbolischen Ort der Macht aus Gesetze mit Verweis auf den Gemeinwillen erlassen werden, dieses Volk auch zu „existieren“ beginnt.

1236 Ders. S. 422f. 1237 Ders. S. 424.

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IV. 2. 7. Vom Gesetzgeber Dass Rousseau nicht daran glaubte, dass kollektive Identitäten als Ausdruck einer quasi-natürlichen Evidenz aufzufassen sind, ist deutlich geworden. Jeder vermeintliche nationale Charakter ist als temporäre Fixierung einer kontingente Folge politischer Entscheidungen über den Lauf der historischen Zeit. Als ein politisches Konstrukt ist kein Gemeinwiesen Ausdruck eines natürlichen Selbst, sondern ein politisches und soziales Konstrukt und wegen dieser Gemachtheit als fragil und stets vom Verfall bedroht anzusehen. Wenn, wie oben gezeigt, dem Erlass von Gesetzen von einem symbolisch abgehobenen Ort der Macht aus eine konstitutive Bedeutung vor allem für den Erhalt einer jeden politischen Gemeinschaft zukommt, spielt Rousseaus Figur des Gesetzgebers eine zentrale demokratietheoretische Bedeutung für die Frage nach deren ursprünglicher Gründung, die keinesfalls als kollektive Hypnose vorgestellt werden sollte.1238 Um die Bedeutung der Gründungsfigur des Gesetzgebers für Rousseaus Theoriegebäude angemessen einordnen zu können, muss daher etwas ausgeholt werden. Im sechsten Kapitel des zweiten Buches des Contrat Social („Vom Gesetz“) bemerkte Rousseau: „Durch den Gesellschaftsvertrag haben wir der politischen Körperschaft Dasein und Leben gegeben; jetzt handelt es sich darum, ihr durch das Gesetz Antrieb und Willen zu verleihen. Denn der ursprüngliche Akt, durch den sich der Körper bildet und zusammenschließt, legt noch nicht fest, was er zu seiner Erhaltung tun muss“1239. Die Frage der Erhaltung war also für Rousseau auf einer anderen Ebene zu verorten, als die der Gründung, er schied strikt eine Dimension des Politischen von jener der Politik. Während sich Rousseau also die „politische“ Frage nach der Gründung einer Gemeinschaft stellte, danach, was ein Volk zum Volk macht, hatte er gleichzeitig die auf der Ebene der Politik zu behandelnde Frage nach dem „Bestehenbleiben“ der Gemeinschaft im Blick. Wie für den modernen Diskurs der radikalen Demokratie spielen die Gründungsfragen aber auch für Rousseau eine herausragende Rolle, sind sie doch der „lehrreichste Teil der Annalen eines Volkes“. Gleichzeitig sind diese jedoch meist nicht historisch dokumentiert, es gebe fast nie gesicherte Zeugnisse über die Ursprünge von Gemeinschaften, zumeist handele es sich um Legenden,1240 wenn man so möchte also um Ur1238 Shklar, Judith: Rousseau´s Images of Authority. S. 346. 1239 OC III, S. 378. 1240 OC III, S. 444.

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sprungsphantasien im oben bezeichneten Sinn. Rousseau bezog sich daher ganz bewusst und explizit auf jene überlieferten Geschichten, welche „am meisten Anerkennung“ bei den Bürgern finden. Ihr Wahrheitsgehalt interessierte ihn dabei nicht, wohl weil Wahrheit für Gründungsfragen nicht von Bedeutung, ja kein Maßstab für politische Fragen ist. Die überlieferten Geschichten, von denen Rousseau sprach, bezeugen zunächst nur, dass sich jede Gemeinschaft irgendein Bild über ihren eigenen Ursprung macht, sie sich ihre jeweils eigene Geschichte erzählt und an dieser fortschreibt. Wenn er Gesetze nun als das Mittel verstand, der politischen Gemeinschaft Antrieb und Willen zu verleihen und ihren Fortbestand zu sichern, sind diese Überlegungen auf der Ebene der Politik anzusiedeln. Sie sind rein immanent zu verstehen, also als menschengemacht und von Menschen legitimiert, kämen sie von Gott oder irgend einer anderen metaphysischen Instanz „hätten wir weder Regierung noch Gesetz nötig“1241. Gesetze sind die Konkretisierung oder Positivierung von Rechtsprinzipien und als solche ein von Menschen konstruiertes Mittel zur Regelung ihres prinzipiell antagonistischen Miteinanders. Ein Gesetz definierte Rousseau daher als den allgemeinen Akt der Willensbestimmung, der für alle Untertanen gleich gültig ist.1242 Die Republik bezeichnete er daran anknüpfend als „jeden durch Gesetze regierten Staat, gleichgültig, unter welchen Regierungsformen dies geschieht“1243, denn „jede gesetzmäßige Regierung ist republikanisch“1244. Die Regierung fungiert in dem Zusammenhang als „Sachwalter“ des Souveräns, wobei erst einmal nur zählt, dass es eine Regierung gibt, nicht wie diese ausgestaltet ist. Ob die Regierungsform einer Monarchie, einer Aristokratie oder einer Demokratie entspricht, spielt also keine Rolle. Wenn nun die mise-en-scène der Einrichtung des Ortes der Macht entspricht und das dort erlassene Gesetz dem Souverän nicht nur Gestalt, sondern in Rousseaus Worten „Antrieb und Wille“ verleiht, wird die Funktion des Gesetzgebers für seine Überlegungen deutlich. Wie sollten schließlich einer „blinden Menge“ gute Gesetze gelingen? „Von selbst will das Volk immer das Gute, aber es sieht es nicht immer von selbst“ und der Gemeinwille ist zudem ja auch der permanenten Gefahr der Okku-

1241 1242 1243 1244

OC III, S. 378. OC III, S. 379. Ebd. OC III, S. 380.

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pation durch viele Sonderwillen ausgesetzt.1245 Aus diesem logisch nicht auflösbaren Problem heraus führt die Gründerfigur des ersten „Gesetzgebers“, Rousseaus wohl mit umstrittenster Denkfigur. Wohlwollende Deutungen legen diesen als eine anerkannte Autorität aus, welche mit einem „vernünftigen Blick auf das Ganze der Gesellschaft dasjenige erkennt, was für alle gleichermaßen gut ist“. Der Zweck jeder politischen Ordnung sei für Rousseau wie für viele republikanische Theorien im Anschluss an ihn dann die Suche nach einem mehr oder minder substantiell verstandenen Gemeinwohl.1246 Nun wies Rousseau ja selber darauf hin, dass es, um die objektiv „besten“ Gesetze ausfindig zu machen, eigentlich der Götter bedürfe.1247 Der Gesetzgeber aber ist keineswegs im Besitz von objektiv besten oder wahren Prinzipien der Gesellschaft: „Bei der Geburt der Gesellschaften bewirken die Oberhäupter der Republik die Errichtung, danach formt das Errichtete die Oberhäupter der Republik“1248. Der Moment der Gründung einer Republik ist nicht zwingend ein republikanischer oder demokratischer, wohl aber ein dynamischer Akt, der einen permanenten und wechselhaften Entwicklungsprozess anstößt. Die Einrichtung von Gesellschaften ist nicht notwendig und historisch wohl äußerst selten bis nie ein freiheitlicher Akt gleicher Bürgerinnen, sondern das gewaltsam durchgesetzte Resultat politischer Entscheidungen von Oberhäuptern, Fürsten oder Königen. Deren Stärke könne dann zwar durchaus Recht schaffen, sie sei jedoch keinesfalls mit dem Recht gleichzusetzen.1249 Gesellschaften gründen sich letztlich immer auf „Asymmetrien der Anerkennung“1250, nie sei zudem ein Staat gegründet worden, dem die Religion nicht zur Grundlage gedient habe.1251 Rousseau argumentierte hier wie Machiavelli, wonach die Gründung von Gesellschaften kein sehr ruhmreicher Moment sein muss, nicht einmal für ein ideales republikanisches Gemeinwesen. Dies ist wichtig zu berücksichtigen, um die Bedeutung des Gesetzgebers

1245 Ebd. 1246 Niederberger, Andreas: Integration und Legitimation durch Konflikt? S. 268. Siehe auch: Goyard-Fabre, Simone: Qu´est-ce que la démocratie? La généalogie philosophique d´une grande aventure humaine. Paris 1998. 1247 OC III, S. 381 1248 Ebd. 1249 Masters, Roger D.: The Structure of Rousseau´s Political Thought. In: Cranston, Maurice/ Peters, Richard S. (Hrsg.). Hobbes and Rousseau. S. 401 - 436, hier S. 409. 1250 Hirsch, Alfred: Rousseaus Traum vom Ewigen Frieden. S. 72. 1251 OC III, S. 464.

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zu erfassen. Demnach muss, „wer sich daran wagt, ein Volk zu errichten, (…) sich imstande fühlen, sozusagen die menschliche Natur zu ändern; jedes Individuum, das von sich aus ein vollendetes und für sich bestehendes Ganzes ist, in den Teil eines größeren Ganzen zu verwandeln, von dem dieses Individuum in gewissem Sinn sein Leben und sein Dasein empfängt; die Verfasstheit des Menschen zu ändern, um sie zu stärken; an die Stelle eines physischen und unabhängigen Daseins, das wir alle von Natur erhalten haben, ein Teil eines moralischen Daseins zu setzen. Mit einem Wort, es ist nötig, dass er dem Menschen die ihm eigenen Kräfte raubt, um ihm fremde zu geben, von denen er nur mit Hilfe anderer Gebrauch machen kann“, so dass kein Bürger mehr ohne alle anderen etwas ist.1252 Rousseau forderte also nicht, dass jemand diese Gabe oder Kräfte wirklich besitzen muss, ihm geht es mehr um die Überzeugungen, Intentionen und Motive, die jemanden den Glauben daran verleihen, es tun zu können, jemanden, der sich dazu berufen oder eben imstande fühlt und der von sich glaubhaft behaupten und es damit anderen glaubhaft machen kann, dies leisten zu können. Dies ist mehr als eine semantische Spitzfindigkeit, sondern illustriert einmal mehr die enorme Bedeutung des Verhältnisses zwischen der Ebene des Symbolischen und der des Realen, mithin also der Bedeutung der Repräsentation in Rousseaus politischer Theorie. Der Gesetzgeber ist keine Gottheit, sondern eher einer der von Rousseau so bewunderten allzu menschlichen „großen Männer“, wie sie auch in Machiavellis Schriften eine gewichtige Rolle spielen. Der Gesetzgeber ist vor allem eines nicht, nämlich unfehlbar. Rousseau behauptete in keiner Weise, dass er objektiv wahre, richtige oder gute Gesetze formuliert, denen dann auch noch bis ans Ende aller Tage Folge geleistet werden müsse: „Tausend Fälle können eintreten, die der Gesetzgeber nicht vorgesehen hat“, was mitunter sogar die zeitweilige Aussetzung der Gesetze notwendig macht, wie Rousseau sie im Contrat Social im Kapitel über die Diktatur extra diskutierte.1253 Der Gesetzgeber mag also ein „außergewöhnlicher Mann im Staat“1254 sein, unfehlbar und immun gegen spätere Kritik und Revision ist er keinesfalls. Er ist dabei als „Mann im Staat“ aber auch kein Teil der Verwaltung und ebenso wenig Mitglied des Souveräns, sondern eben eine Gründungsfigur. Vor dem Gründungsakt, für den der Gesetzgeber als Repräsentant Pate steht, existierte also weder ein Volk, noch ein Souverän, 1252 OC III, S. 381f. Hervorhebung von mir. 1253 OC III, S. 455ff. 1254 Ebd.

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noch irgendeine Regierung oder Verwaltung. „So findet man im Werk der Gesetzgebung zwei Dinge zugleich, die unvereinbar scheinen: ein die menschliche Kraft übersteigendes Unterfangen und zu seiner Ausführung eine Macht, die nichts ist“1255. Der Gesetzgeber gründete die politische Gemeinschaft damit quasi aus dem Nichts, sprich ohne notwendigen und ohne unbedingt nötigen Bezug zu einem Zuvor. Um diesen Akt zu einem wirklich legitimen zu machen, müsste sich der Gesetzgeber in dem Moment an ein Volk richten können, welcher befähigt wäre, den Gemeinwillen zu erkennen. Ein solches Volk aber kann ja wiederum erst das Ergebnis des Gründungsaktes sein und damit für diesen nicht vorausgesetzt werden. Die „Wirkung“ kann nicht gleichzeitig „Ursache“ sein und die Menschen können nicht vor der Gründung der Gesellschaft sein, was sie durch diese werden sollen, nämlich tugendhafte Bürgerinnen.1256 Mit der Formulierung dieses Problems kehrte Rousseau also an die Wurzel der Gründungsproblematik politischer Gemeinschaften zurück: die Frage nach dem, was ein Volk zum Volk macht. Die Antwort ist so einfach, wie naheliegend: Eine solche Gründung ist ein letzten Endes willkürlicher politischer Akt, der erst im Nachhinein als ein solcher erkannt und legitimiert werden kann. So entzieht er sich allen Versuchen, auf ihn zuzugreifen. Denn wenn im streng logischen Sinne von einem wirklichen Anfang ausgegangen werden soll, kann es kein „davor“ geben. Auf der anderen Seite ist auch die Verabschiedung der Vorstellung eines Anfangs nicht haltbar, müsste dann die Geschichte einer Gemeinschaft schließlich ins Unendliche nach hinten verlängert und diese somit als immer schon existent vorgestellt werden. In Rousseaus konkretem Fall besteht das Problem dann darin, dass die Gründung eines republikanischen Gemeinwesens eigentlich der Anwesenheit und Beteiligung tugendhafter Bürgerinnen bedürfte, ohne dass hier bereits darüber die Rede wäre, was diese Tugend genau bedeutete. Diese können aber wiederum nicht vorausgesetzt werden, da die Republik sonst bereits bestehen würde und nicht mehr begründet werden müsste. Rousseau „löste“ dieses Problem nun, indem er der Figur des Gesetzgebers zugestand, Zuflucht zu religiösen Autoritäten zu nehmen, um Legitimität für den von ihm vorgenommenen Gründungsakt zu generieren. Der Gesetzgeber legt seine „Entscheidungen“ also den „Unsterblichen in den Mund“, wobei die Tatsache, dass Rousseau von „Ent-

1255 OC III, S. 383. 1256 Ebd.

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scheidungen“ sprach, davon zeugt, dass jener eben nicht im Besitz universeller Wahrheiten, er mithin kein platonischer Philosophenherrscher ist, sondern in einem politischen Deutungskampf steht. In diesem greift er zu dem Mittel, seine partikulare Position für universell auszugeben und so die für den Gründungsakt nötige Legitimität und Autorität zu generieren, indem er also die Legitimationsquellen historischer, mythischer oder metaphysischer Autoritäten anzapft.1257 Was den Gesetzgeber dabei als besonders auszeichnet, ist dass er berücksichtigt, ob das „Volk, dem er sie (die Gesetze; MO) bestimmt, fähig ist, sie zu tragen“1258. Auch für Lefort wandelte jeder Gründer einer politischen Gemeinschaft, etwa Moses, notwendig auf den Pfaden seiner Vorgänger, trat jeder bildlich gesprochen in deren Fußstapfen, indem er deren virtu zitierte und imitierte. Dadurch habe er aus deren Autorität die Legitimität für sein eigenes Handeln geschöpft und so wiederum die eigene virtu gefestigt. Jeder Gründer oder Stifter einer politischen Ordnung müsse also, davon zeugten die Taten der großen Männer der Geschichte, erfolgreich darin sein, von den Herrschaftsunterworfenen mit den mythischen Gründern der vorhergehenden Ordnung identifiziert zu werden.1259 Bei Machiavelli liest sich das in den Discorsi so: „Will man einem Staate eine neue Verfassung geben, und soll diese angenommen und zur Zufriedenheit eines jeden erhalten werden, so ist man genötigt, wenigstens den Schein der alten Formen beizubehalten, damit das Volk seine alte Ordnung nicht verändert glaubt, obgleich die neuen Institutionen den früheren ganz fremd sind“1260. Nichts anderes erwartete Rousseau von seinem Gesetzgeber, wenn er diesem zugestand, sich zum Zweck der Einrichtung eines Gemeinwesens „Zuflucht zu einer Autorität anderer Ordnung und (…) zum Himmel als Mittler zu nehmen“, für die Schaffung einer Gemeinschaft also die Legitimitätsquelle vorhandener religiöser Autoritäten anzuzapfen. Dafür bedurfte er natürlich eines gewissen Charismas, auf Steintafeln schreiben, so Rousseau, könne schließlich jeder. Wer aber nicht mehr vermöge als dies, würde höchstens „einen Haufen Verrückter“ um sich scharen. Erfolgreiche Gründer sind also weder für Machiavelli, noch für Rousseau und auch nicht für Lefort einfach nur Betrüger oder wie oben zitiert Hypnotiseure, allen drei dient die Religion der

1257 1258 1259 1260

OC III, S. 384. OC III, S. 385. Lefort, Claude: Le Travail de l´Œuvre Machiavel. S. 363. Machiavelli, Niccolò: Politische Schriften. Herausgegeben von Herfried Münkler. Frankfurt am Main 1990. S. 177. Hervorhebung von mir.

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Politik „beim Ursprung der Nationen (…) als Werkzeug“1261 und zwar als legitimes. Wenn der Gesetzgeber nun, um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen, mit Hilfe vorhandener Legitimitätsquellen aus einer blinden Menge ein Volk formt, welches zur Selbstgesetzgebung befähigt sein und entsprechend tugendhaft sein soll, wird deutlich, dass dies in Auseinandersetzung mit und mitunter auch gegen die Einrichtung durch den Gesetzgeber geschehen muss. Denn wenn Intention oder Zweck der Einrichtung eines Gemeinwesens keinen notwendigen Einfluss auf ihre weitere Entwicklung haben,1262 dann kann und muss sich wohl sich jede gesellschaftliche Ordnung von ihrer ursprünglichen Einrichtung emanzipieren. Dies unterstrich Rousseau im Siebten Brief vom Berge: „Schon vor zweihundert Jahren hätte ein Politiker voraussehen können, was euch jetzt begegnet. Er hätte gesagt: Die Einrichtung die ihr formt, ist gut für die gegenwärtige Zeit und schlimm für die Zukunft, sie ist gut, um die öffentliche Freiheit herzustellen, schlecht, um sie zu erhalten, und was jetzt eure Sicherheit gründet, wird euch in kurzer Zeit zu Ketten werden“. Rousseau kannte den grundlegenden Unterschied zwischen Maßnahmen, die gut sind „um die öffentliche Freiheit herzustellen“, jedoch schlecht, um sie „zu erhalten“.1263 Im Fall des Gesetzgebers bedeutet dies, dass die errichtete politische Ordnung veränderbar ist, er also keinen auf alle Zeiten gültigen Prinzipienkanon und Dogmenkatalog vorlegt, dem unbedingt Folge zu leisten ist, er kein institutionelles Gefüge entwirft, das nicht verändert werden kann. Der Moment der Entstehung eines Volkes ist radikal ebenso unsicher und unbestimmt, wie das darauf folgende Abenteuer seiner weiteren Entwicklung. Der Gesetzgeber gibt dem Souverän also insofern „Antrieb und Willen“, als sich zwangsläufig die Diskrepanz zwischen den symbolischen Einheitsbehauptungen der von ihm vorgeschlagenen Verfas-

1261 OC III, S. 383f. 1262 Diese Stelle im Werk Rousseaus weist eine interessante Parallele zu Carl Schmitt, dem maßgeblichen Wegbereiter des „dissoziativen Stranges“ (Marchart) der modernen radikalen Demokratietheorie auf. Laut Schmitt kann nämlich „zwischen der Herrschaft der zu verwirklichenden Norm und der Methode ihrer Verwirklichung (…) ein Gegensatz bestehen“ (Vgl.: Schmitt, Carl: Die Diktatur. S. XVII). Wie der Verfassungsgeber, soll sich ja auch die Diktatur in absehbarer Zukunft selber abschaffen, somit quasi als politischer „deus ex machina“ ein Gründungsparadox (zumindest theoretisch) überwinden und sich hiernach zurückziehen. 1263 Rousseau, Jean-Jacques: Briefe vom Berge: Siebter Brief. S. 423. Hervorhebung von mir.

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sung und der gesellschaftlichen Realität offenbaren werden und dies zum Widerstand des so geschaffenen Souveräns führen wird. Damit nimmt der Gesetzgeber die oben skizzierte konstitutive Funktion der Macht für die Gesellschaft ein. Er hebt sich sichtbar von einer zuvor nur losen Ansammlung von Individuen ab und bietet diesen den symbolischen Fluchtpunkt und die Möglichkeit, sich als Gemeinschaft zu verstehen. Die von ihm vorgeschlagene Verfassung oder behauptete Identität der Gemeinschaft findet im Moment der Gründung also Zustimmung, ist ab dem Moment derer Konstituierung aber Gegenstand des permanenten Abgleichs mit der erfahrenen sozialen und politischen Wirklichkeit und somit potentieller Adressat von Kritik und Reformansprüchen. Im Achten Brief vom Berge konkretisiert Rousseau seine Vorstellung der Funktion des Gesetzgebers und stützt die hier vorgeschlagene Interpretation. Dessen Aufgabe ende mit der Errichtung oder Einrichtung des politischen Gemeinwesens. Wo dies geschehen sei, erfordere die „Sicherheit des Gebäudes“ fortan, „dass man seiner Zerstörung so viele Hindernisse entgegensetzt, als man vorher Erleichterungen brauchte, um sie zu errichten“1264. Von Anbeginn der Existenz der fragilen politischen Gemeinschaft an gilt es also, gegen deren Zerstörung anzukämpfen und vor allem darauf zu achten, dass diejenigen, denen „das Werk des Gesetzgebers (…) anvertraut ist, ihr Pfand (nicht) missbrauchen und sich im Namen der Gesetze Gehorsam verschaffen, während sie diesen selbst nicht gehorchen“1265. Was Rousseau hier als Problem aufzeigte, ist die Besetzung des Ortes der Macht mittels der rhetorischen und symbolischen Selbstidentifikation einer herrschenden Elite mit den allgemeinen Gesetzen, also die Verschleierung derer eigenen partikularen Position mittels Bezug auf eine behauptete Identität von Regierenden und Regierten. Demgegenüber bestehe nicht nur das Recht auf, sondern sogar die „Pflicht zum Einspruch“1266. Diese Pflicht korrespondiert dabei explizit dem Recht auf freie Meinungsäußerung auch privater Interessen im öffentlichen Raum: „(…) Petitionen (…) bedeuten keine Abstimmung (…), sondern man sagt seine Meinung über Fragen, die dort (im Allgemeinen Rat; MO) vorgetragen werden sollen. Da man die Stimmen nicht zählt, stimmt man nicht ab, sondern sagt seine Meinung. Diese Meinung ist freilich nur die einer einzelnen oder mehrerer Privatpersonen. Da aber diese Privatpersonen Mitglieder des 1264 Rousseau, Jean-Jacques: Briefe vom Berge: Achter Brief. S. 450. 1265 Ders. S. 451. 1266 Ders. S. 453.

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Souveräns sind und ihn manchmal in ihrer Menge repräsentieren können, so folgt daraus vernünftigerweise, dass man ihre Meinung achten muss, nicht als eine Entscheidung, sondern als einen Vorschlag, der eine Entscheidung fordert und sie manchmal notwendig macht“1267. Etwas befremdlich mag es wirken, dass Rousseau die Pflicht des „Staatsbürgers“ oder des „einfachen Bürgers“ darin sieht, seine Meinung zu äußern und ihm sonst Vertrauen in die Obrigkeit anempfiehlt, „um sie für fähig zu halten, den Nutzen dessen zu erwägen, was er ihr vorschlägt und für geneigt, es zu billigen, wenn sie es für das Gemeinwohl für nützlich hält“1268. Jedoch gilt diese Beschränkung eben für den Vorschlag neuer Gesetze, nicht für die Überwachung der Einhaltung bestehender, die Recht, Pflicht und Eid des Souveräns ist. Für das Einbringen neuer Gesetze aber ist allein die Regierung zuständig, wenn auch unter Berücksichtigung der „Meinungen“ der Bürger. Rousseaus Staatsverständnis forderte also keine permanente Gesetzgebungstätigkeit des Volkes in seiner Gesamtheit und Präsenz. Der Gesetzgeber kann daher als die Initialzündung einer im Lefortschen Sinne „wilden Demokratie“ gelesen werden, so dass sich in der Folge der Gründung politische Tugenden im Sinne von Kritik und Widerständigkeit entfalten können. Diese wiederum sind die Folgen des für den Erhalt der Freiheit so nötigen Kontingenzbewusstsein, der Kontingenztoleranz und der Kontingenzaffinität. Politische Tugend kann dementsprechend schon bei Rousseau nicht nur als das Aushalten von Ungewissheit und Unsicherheit, sondern darüber hinaus als Akzeptanz der Abwesenheit letztgültiger Grundlagen verstanden werden, mithin also als „Mut zum Ereignis“. Der Gesetzgeber installiert mitnichten eine perfekte Tugendrepublik, in der sich alle seiner allgemeingültigen Definition des Gemeinwillens zu unterwerfen haben, sondern initiiert eine dynamische politische Gemeinschaft im Konflikt um die Auslegung ihres eigenen Gemeinwillens. Qua miseen-scène hebt sich der Gesetzgeber symbolisch vom Volk ab, installiert und besetzt zugleich somit einen symbolischen Ort der Macht und ermöglicht es dem Volk dadurch, sich als Volk zu verstehen. Dadurch gelingt ihm die mise-en-forme einer politischen Gemeinschaft, der somit die Möglichkeit gegeben ist, sich selber Sinn zuzusprechen (mise-en-sens). Als solche Gemeinschaft ist und wird sie immer notwendig eine Gemeinschaft

1267 Ders. S. 451. 1268 Ebd.

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im permanenten Konflikt um die legitime Definition des Gemeinwohls sein. IV. 2. 8. Die Tugend der Widerständigkeit und der Fortbestand politischer Gemeinwesen Das Ziel aller Gesetzgebung war für Rousseau der Erhalt von Freiheit und Gleichheit.1269 Gleichheit verstand er dabei nicht als die exakte Gleichverteilung von Reichtum und Macht, die privaten Vermögen etwa sollten lediglich so verteilt sein, dass niemand aus ökonomischer Not heraus in persönliche Abhängigkeitsverhältnisse gezwungen werde. Für Rousseau setzte dies „auf Seiten der Großen“ wirtschaftliche Mäßigung, auf „Seiten der Kleinen“ die Mäßigung von Neid voraus.1270 Die Unterteilung in „Große“ und „Kleine“, Herrschende und Beherrschte gab er also nicht auf, er forderte weder die politische noch soziale Homogenisierung da er wusste, dass diese ein „Hirngespinst“ ist, „das in der Praxis nicht bestehen könnte“1271. Gerade weil es aber in der Realität immer zu Machtmissbrauch und Ungleichheit kommt, selbst in den besteingerichteten Gesellschaften, müssten Gesetzgebung und Ermittlung des Gemeinwillens umso mehr am Ideal und Prinzip der Gleichheit festhalten: „Wenn aber der Missbrauch unvermeidlich ist, heißt das, dass man ihn nicht wenigstens steuern muss? Genau deshalb, weil die Kraft der Dinge stets dazu neigt, die Gleichheit zu zerstören, muss die Kraft der Gesetzgebung stets versuchen, sie aufrechtzuerhalten“1272. Es mag widersprüchlich scheinen, um die Unmöglichkeit absoluter Gleichheit zu wissen, deren Unwünschbarkeit zugleich implizit immer mitzudenken und sie dennoch vehement einzufordern und jeder Gesetzgebung als deren erste Aufgabe ins Stammbuch zu schreiben. Rousseau verfiel jedoch nicht der liberalen Illusion einer vermeintlich realistischen und damit an abstrakten Idealen wie der persönlichen Leistung orientierten prozeduralen Regelung von Gerechtigkeitsproblemen. Auch verstand er die Gesetzgebung dann in erster Linie nicht als quasi-technisches Steuerungsmittel zur im strengen Sinne „Lösung“ sozialer und politischer Probleme und Schieflagen. Vielmehr stellte er erneut auf die sym-

1269 1270 1271 1272

OC III, S. 391. Ebd. OC III, S. 392. Ebd.

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bolische Bedeutung der Gesetzgebung ab, durch welche gerade die Demokratie sich als ein offenes und niemals zu vollendendes Projekt einer ständigen Reformulierung von Gesetzen und einer permanenten Forderung nach mehr Rechten beziehungsweise deren Ausweitung offenbart. Eine so verstandene Demokratie bedeutet dann im Sinne einer „wilden Demokratie gegen den Staat“ den ständigen Kampf gegen Machtmissbrauch von und durch Personen, Gruppen und Institutionen, gegen die Unterdrückung der Beherrschten durch die Herrschenden und damit einhergehend die permanente Kritik an der aktuell gültigen hegemonialen Definition des Gemeinwillens und an den Gesetzen als dessen Ausdruck. Die Lücke zwischen Symbolischem und Realem ließ sich auch für Rousseau unmöglich schließen, so lange an den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit festgehalten wurde. Genau in dieser Unvollkommenheit, welche durch die und in der Gesetzgebung erst als solche sichtbar wurde, sah er wie Lefort das Potential der Sicherung der Freiheit angelegt. In der Wahrnehmung und Erfahrung der Inkongruenz zwischen symbolisch behaupteter Gleichheit und faktisch erlebter Ungleichheit wurzeln das Aufbegehren gegen Ungerechtigkeiten und der daraus immer wieder ausbrechende Konflikt um Recht und Gesetz, Gleichheit und Freiheit. Nur die symbolische Behauptung verwirklichter Gleichheit ermöglicht die Wahrnehmung der tatsächlichen sozialen und politischen Ungleichheiten und somit auch die Kritik an diesen. Im dritten Buch des Contrat Social griff Rousseau in der Diskussion der Regierungsformen daher seine Forderung wieder auf, unbedingt am Begriff der Regierung in Abgrenzung vom Souverän festzuhalten. So trennte er Exekutive und Legislative voneinander und schrieb der Exekutive die Funktion der „Kraft“ zu, der Legislative die des „Willens“1273, welche beide zusammenwirken müssen. Die Legislative müsse unbedingt beim Volk liegen, die Exekutive hingegen könne und dürfe niemals ebenfalls dort angesiedelt sein. Die Trennung von Exekutive und Legislative, mithin von Macht und Souveränität, ist als eine Grundbedingung der Demokratiekonzeption Rousseaus, ebenso wie der Leforts zu verstehen. Die Legislative war für Rousseau „das Herz des Staates“, die Exekutive dessen „Gehirn, das allen seinen Gliedern Bewegung verleiht“1274. Beide erfüllten sie in dieser Körpermetaphorik also überlebenswichtige und eng miteinander zusammenhängende Funktionen, explizit aber voneinander geschiede-

1273 OC III, S. 395. 1274 OC III, S. 424.

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ne. Die öffentliche Gewalt, so Rousseau, braucht einen „Geschäftsführer“, der diese gemäß den Anweisungen des Gemeinwillens und den Anforderungen an das Gemeinwohl ins Werk setzt, einen Geschäftsführer, „der als Verbindung zwischen Staat und Souverän dient“1275. Der Regierung komme zugleich die Funktion zu, den demokratischen Staat zum Leben zu erwecken und dem Souverän zu dienen, sie ist eine „vermittelnde Körperschaft“1276 zwischen Untertan und Souverän und ermöglicht so die paradoxe Doppelexistenz der demokratischen Bürgerin als zugleich Mitglied des Souveräns und Mitglied der Masse an Untertanen. Was die Regierung also leistet, um den demokratischen Staat zum Leben zu erwecken, lässt sich in den Worten Leforts erneut als den Dreischritt aus mise-en-scène, mise-en-forme und mise-en-sens des Volkes beschreiben. Indem sie die Funktion der „Quasi-Repräsentation“ der Gemeinschaft durch den symbolischen Verweis auf den Gemeinwillen als den äußeren Pol der Macht ausübt, erweckt sie das demokratische Volk zum Leben, einem Leben in permanentem Widerspruch wohlgemerkt. Der Akt, durch den sich ein Volk Oberhäupter gibt, ist daher eben gerade kein Vertrag im strengen Sinne, also die konsensuelle Übereinkunft zweier Parteien auf Augenhöhe, die sich auf gegenseitige Einhaltung der Vertragsinhalte verpflichten und deren Übertretung durch eine dritte Instanz zu sanktionieren vereinbaren. Vielmehr muss die Einsetzung und gleichzeitige Beauftragung der Regierung mit der „rechtmäßigen Ausübung der Exekutive“ von der Seite her betrachtet werden, dass darin das Verhältnis des Ganzen zum Ganzen oder des Souveräns zum Staat geregelt wird.1277 Die Exekutive müsse sich also vom Staatskörper abheben, um „wirkliches Leben“ zu erlangen,1278 dafür brauche sie aber unbedingt einen ihr eigenen Willen. Versammlungen, Beratungen, Entschließungsund Entscheidungsbefugnis, Rechte, Titel und ausschließlich der Regierung zustehende Privilegien seien dabei die Mittel, welche die Stellung der Obrigkeit „in dem Maß ehrenvoller machen, wie sie mühsamer ist“1279. Die Errichtung einer Regierung ist somit „unerlässlich, um die politische Körperschaft lebendig und bewegungsfähig zu machen.1280 In diesem

1275 1276 1277 1278 1279 1280

OC III, S. 396. Ebd. OC III, S. 396. OC III, S. 399. Ebd. OC III, S. 432.

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Gründungsakt enthüllt sich für Rousseau „eine jener erstaunlichen Eigenschaften der politischen Körperschaft“, aufgrund derer sie scheinbar widersprüchliche Geschäfte miteinander versöhnt“ indem sie einen „plötzlichen Umschlag der Souveränität in Volksherrschaft“ (Démocratie) ermöglicht.1281 Rousseau hob hier an zentraler Stelle wie Lefort darauf ab, dass eine Grundbedingung der Demokratie darin liegt, dass sich die Macht sichtbar vom Volk unterscheiden und sie diese Abgrenzung symbolisch vollziehen muss. Gleichzeitig war er genau wie Lefort besorgt, dass die Inhaber der Macht die Abgrenzung vom Volk zu weit treiben und vergessen, auch ein Teil dessen oder von diesem abhängig zu sein, dass sie also ihre „gesonderte, auf (die) eigene Erhaltung gerichtete Gewalt von der auf die Erhaltung des Staates gerichteten öffentlichen Gewalt“ unterscheiden.1282 Sie müssen daher die Gratwanderung hinbekommen und sich zugleich als vom Volk unterschieden und als diesem gegenüber abhängig inszenieren, sie müssen den Ort der Macht mit Verweis auf das Gemeinwohl symbolisch besetzen und die der Gesellschaft zugrundeliegenden Teilungen zumindest zeitweise verbergen, dürfen aber niemals der Illusion verfallen, ihre symbolische Unterschiedenheit für real und die Teilungen für wirklich überwunden zu behaupten oder gar zu halten. Diesem nötigen Bewusstsein der Machthaber korrespondieren die Anforderungen an die Bürgerinnen, nie zu vergessen, dass die Inhaber der Macht niemals das ganze Volk und niemals den faktischen Gemeinwillen repräsentieren können, gleichzeitig aber der Notwendigkeit der zumindest temporären Besetzung des Ortes der Macht Legitimität zuzusprechen. Die Tatsache, dass die Regierung dem Souverän untergeordnet und von diesem abhängig ist, hinderte diese schließlich keinesfalls daran, vom Zweck ihrer Einrichtung abzuweichen und ihren eigenen partikularen Sonderwillen zu verfolgen,1283 ganz im Gegenteil. So sind die Oberhäupter schließlich „dem Volk gegenüber zu nichts verpflichtet als zu dem, was zu tun sie ihm versprochen haben und dessen Erfüllung zu fordern es ein Recht hat“1284. Das bedeutet aber auch, dass die Regierung in ihrem Handeln einen gewissen Spielraum hat, sie also keinesfalls an der kurzen Kette eines stets wachsamen Souveräns liegt und sie auch nicht permanent von mit imperativen Mandaten ausgestatteten Volksvertreterinnen kontrolliert wird. Als ausfüh-

1281 1282 1283 1284

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Ebd. OC III, S. 399. OC III, S. 399f. EP, S. 228.

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rende Gewalt ist sie für alle im engeren Sinne politischen Entscheidungen zuständig und verantwortlich, erst in letzter Konsequenz müssen ihre Handlungen mit dem übereinstimmen oder sich vor dem rechtfertigen, was sie dem Souverän versprochen hat und schuldig ist: die Ausrichtung ihres Handelns am Gemeinwillen und damit einhergehend den Erhalt und die Steigerung des Gemeinwohls. Nun ist laut Rousseau aber jede Regierung von drei Willen bestimmt: von ihrem Eigenwillen als Einzelwesen, vom körperschaftlichen Willen ihrer Beamten, der bezüglich der Regierung ein allgemeiner, bezüglich des Staates ein besonderer ist und vom Willen des Souveräns, der sich zum Staat und zur Regierung als allgemeiner Wille verhalte. In einer idealen Situation sei der persönliche Wille ausgeschaltet und der körperliche Wille dem souveränen Willen untergeordnet.1285 Die „natürliche Ordnung“ hingegen sehe so aus, dass der Gemeinwille der schwächste und der Einzelwille der stärkste ist, so dass jedes Mitglied der Regierung zuerst ein egoistisches Individuum, dann Beamter und erst zuletzt Bürgerin sei. Diese „Abstufung, die der von der sozialen Ordnung geforderten geradewegs entgegengesetzt ist“1286 reflektiert den grundlegenden und unversöhnlichen Widerspruch der Interessen der Regierung und des Souveräns, von Macht und Gesellschaft, Herrschenden und Beherrschten. Das grundlegende Problem dabei ist das der ungleichen Macht- und Einflussverteilung, da der Sonderwille der Regierenden immer einflussreicher sei, als der der Bürgerin.1287 In Rousseaus Werk ist also eine Spannung angelegt und stets berücksichtigt, eine Spannung zwischen einer formellen Machthierarchie, gemäß der die Legislative die Exekutive beauftragt und überwacht und einer faktischen Machthierarchie, gemäß welcher die Initiative politischen Handelns in der Hand einer kleinen Elite ist, die sowohl die Agenda bestimmt, als auch die Legislative anleitet.1288 Es wird aber in der Realität niemals eine Regierungsform geben, die dieses Problem nicht hätte,1289 die Frage nach einer solchen ist faktisch „unlösbar“1290. Ob ein Volk gut oder schlecht regiert würde, lasse sich daher nur anhand des Kriteriums

1285 1286 1287 1288 1289 1290

OC III, S. 400f. OC III, S. 401. OC III, S. 402. Siehe auch Cohen, Joshua. Rousseau. S. 167. OC III, S. 403. OC III, S. 419.

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der „Erhaltung und (des) Gedeihen(s) der Glieder“1291, also des Fortbestandes des freiheitlichen Gemeinwesens bewerten und für diesen Fortbestand brauche es eben die Aufrechterhaltung der Trennung von Exekutive und Legislative. Wären beide identisch, handelte es sich um eine „Regierung ohne Regierung“, was zu einer politischen Körperschaft führte, welche über kurz oder lang Opfer genau jener Gewalt würde, gegen die sie eigentlich eingerichtet worden sei.1292 Zudem würde der Einfluss von Privatinteressen auf die öffentlichen Angelegenheiten maximiert und die Auflösung des Gemeinwesens befördert werden.1293 Wo die Trennung zwischen Macht und Gesellschaft also symbolisch aufgehoben wird, wo aufgrund der symbolischen Einheitsbehauptung von Ideal und Realität, Staat und Gesellschaft, Regierenden und Regierten keine Möglichkeit mehr besteht, den Missbrauch von Gesetzen als solchen zu kritisieren, ja ihn überhaupt wahrzunehmen, ist „der Staat in seiner Substanz verändert (…), wird jede Reform unmöglich“1294. Folglich gäbe es keine Freiheit mehr und das Volk als souveräner Akteur würde aufhören zu existieren. Wahre Demokratie im Sinne der Identität von Regierenden und Regierten hielt Rousseau also für ebenso unmöglich wie gefährlich: „Ein Volk das stets gut regierte, brauchte gar nicht regiert zu werden. Nimmt man den Begriff in der ganzen Schärfe seiner Bedeutung, dann hat es niemals eine echte Demokratie gegeben und es wird sie niemals geben. Es geht gegen die natürliche Ordnung, dass die Mehrzahl regiert und die Minderzahl regiert wird. Man kann sich nicht vorstellen, dass das Volk unaufhörlich versammelt bleibt, um die öffentlichen Angelegenheiten zu besorgen“1295. Neben den technisch-formalen Aspekten, die gegen eine wahre Demokratie sprechen,1296 herrschte in dieser eine Gleichheit in Sitte, Talent, Grundsätzen und Vermögen und damit eine Form der Homogenität, die Rousseau als freiheitsgefährdend ablehnte.1297 Jede Regierung tendiert also dazu, über die Legislative zu siegen, die Herrschaft der Gesetze durch eine Herrschaft von Menschen zu ersetzen und so ein Herren-Sklaven-Ver-

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Ebd. OC III, S. 432. OC III, S. 404. Ebd. Ebd. OC III, S. 405. OC III, S. 443.

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hältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten zu etablieren.1298 Daraus leitete Rousseau nun aber gerade nicht die Auflösung oder Abschaffung aller Formen von Regierungen ab. Vielmehr plädiert er für den Erhalt jeder bestehenden Regierungsform und das genau wegen der „Verbindung aus Übereinstimmung und Konflikt“, die sie leistet. Die konkrete Regierungsform macht dabei nicht den Unterschied, denn „die Grundlagen des Staates sind in allen Regierungsformen dieselben“. Um aber eine Regierungsform kritisieren zu können, muss überhaupt erst einmal eine bestehen. Statt alle Regierungen zu zerstören, wie ihm oft vorgeworfen werde, habe er sie daher vielmehr alle begründet: „Ich habe keine Regierungsform verworfen, ich verachte keine einzige. Indem ich sie untersuchte und verglich, hielt ich die Wage und beobachtete das Gewicht: mehr habe ich nicht getan“.1299 Die Institutionen dieser Regierungsformen in einem breiten Institutionenverständnis sind es, die Rousseau als den Kampflatz der Austragung politscher Konflikte um deren Demokratisierung und Radikalisierung verstand. Was genau kann oder muss dann aber getan werden, will man die Freiheit gegen die „natürliche“ Tendenz der Regierung zum Machtmissbrauch verhindern? Rousseaus Antwort auf diese Frage lag in der Tugend der Bürgerinnen, sie ist die Bedingung und Basis für die Aufrechterhaltung und Stabilität eines funktionierenden freiheitlichen Gemeinwesens und damit der Fluchtpunkt seiner auf der Ebene der Politik anzusiedelnden Überlegungen. Die Demokratie als die Regierungsform, die wie keine andere der Gefahr innerer Unruhen ausgesetzt sei,1300 sei zugleich die der Freiheit am nächsten stehende, Freiheit und Gefahr stehen also in einem engen Zusammenhang. Sie verlange daher auch wie keine andere Regierungsform Wachsamkeit und Mut zu ihrer Aufrechterhaltung, die demokratische Bürgerin brauche Kraft und Ausdauer, um sie auszuhalten. Wie bei Lefort auch, ist diese „gefährliche Freiheit“ aber in gewisser Weise alternativlos, will man nicht in sklavischen Verhältnissen leben: „Ich ziehe die gefährdete Freiheit einer ruhigen Knechtschaft vor. Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung passt für Menschen nicht.1301 Wenn die Bürgerinnen also „geizig, feige, kleinmütig“ sind und „ihre Ruhe mehr lieben als die Freiheit, widerste-

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Rousseau, Jean-Jacques: Briefe vom Berge: Sechster Brief. S. 148. Ders. S. 151f. OC III, S. 405. OC III, S. 405f.

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hen sie nicht lange den verdoppelten Anstrengungen der Regierung“ und geben ihre Freiheit auf.1302 Politische Gemeinschaften haben aber ihre Erhaltung und ihr kollektives Wohlergehen als oberstes Ziel.1303 Dafür ist ein starkes gesellschaftliches Band nötig, wenn dieses erschlaffe, werde der Staat schwach und die Sonderinteressen träten in den Vordergrund. Kleine Gruppen übertrumpften dann die Menge an anderen, das gemeinsame Interesse erlahme und „der Gemeinwille ist nicht mehr der Wille aller“1304. Wenn der Staat schließlich nur noch „eingebildete und leere Form“ und das „gesellschaftliche Band in allen Herzen gerissen“ ist, wenn „das niedrigste Interesse die Stirn hat, sich mit dem geheiligten Namen des Gemeinwohls zu schmücken“, ist das Gemeinwesen dem Untergang nahe.1305 Denn „ein Schatten von Freiheit (hilft) die Erduldung von Knechtschaft desto geduldiger (zu) ertragen“1306. Daher müssen Wahlen, welche ohne Folgen und damit reiner „Zeitvertreib“ wären oder Institutionen, die bloße Hülle und ohne Macht und Wirkung auf den politischen Prozess sind,1307 als Strategien der Verschleierung enttarnt und erkannt werden. In Verbindung mit einem Staat als „eingebildeter und leerer Form“ und einem Souverän, der seiner Rolle als kritischer und schöpferischer Instanz nicht mehr nachkommt, sah Rousseau dies als hoch gefährlich an. Denn wenn das Volk nicht mehr gegen Unrecht aufbegehrt, „verstummt der Gemeinwille“. Die Bürgerinnen nehmen dann die jeweilige Besetzung des Ortes der Macht als Tatsache oder Schicksal hin und verzichten auf Kritik und Reform. Damit ist es dann den partikularen Willen und den ihnen zugrunde liegenden Sonderinteressen gelungen, sich mit dem Gemeinwillen zu identifizieren und so dauerhaft am Ort der Macht festzusetzen. Rousseau sah also die Existenz von Privat- oder Sonderinteressen nicht per se, sondern erst dann als problematisch an, wenn sie dem Volk dauerhaft als dessen eigene Interessen verkauft werden und sich die Gesetzgebung nicht mehr mit dem Gemeinwillen decken kann. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang Rousseaus Kritik an der athenischen Demokratie, die er als „keine Demokratie, sondern eine sehr tyrannische Aristokratie, in welcher Ge-

1302 1303 1304 1305 1306 1307

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OC III, S. 428. OC III, S. 437. OC III, S. 438. Ebd. Ders. S. 438. Rousseau, Jean-Jacques: Briefe vom Berge: Siebter Brief. S. 438.

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lehrte und Redner das Ruder führten“1308 verurteilte. Hier entpuppte er sich als ein scharfer Kritiker ideologischer Verschleierungstaktiken einer herrschenden Gruppe, die nicht nur in Bezug auf die jeweils verblendete Gemeinschaft erfolgreich waren, sondern darüber hinaus auch noch historisch und ideengeschichtlich wirksam wurden, hält sich doch weit über Rousseaus Zeitgenossenschaft hinaus bis heute eine romantisierende Vorstellung der antiken Demokratie. Rousseau thematisierte das Problem der Verschleierung einer Nicht-Deckungsgleichheit zwischen symbolisch behaupteter Einheit und real erlebbarer Differenz und sprach in diesem Zusammenhang von einer „geheimen Spaltung, eine(r) stillschweigenden Verbindung, welche aus Privatabsichten die natürliche Gesinnung der Versammlung zu verdrehen weiß“1309. Dadurch nehmen die Herrschenden den Bürgerinnen letztlich die Möglichkeit, „bei allen Akten der Souveränität abzustimmen (…) seine Meinung zu äußern, Vorschläge zu machen, einzuteilen und zu diskutieren, welches nur ihren Mitgliedern zu überlassen die Regierung immer sehr bemüht ist“1310. Die „größte Fähigkeit der Oberhäupter“ bestehe folglich darin, „ihre Macht zu verbergen und diese weniger hassenswert zu machen, und den Staat so friedlich zu leiten, dass es scheint als bedürfe er keiner Führer“1311. Wo also die symbolische Identität von Herrschenden und Beherrschten erfolgreich behauptet wird und infolge des daraus resultierenden Verstummens des Souveräns „Einstimmigkeit“ herrsche, sind die Bürgerinnen in die Knechtschaft geraten, haben sie keine Freiheit und keinen Willen mehr, so dass in den Versammlungen nicht mehr ab-, sondern bestenfalls noch zugestimmt wird.1312 Sich derart unreflektiert einfachen dogmatischen Glaubenssätzen hinzugeben, beraubt den Menschen aber letztlich sogar seines Wesens, nämlich der Freiheit, da „gedankenlose Zustimmung (…) (diesen) zum Tier machte“.1313 Die Herrschenden erlangen oder erhalten ihre Macht also nicht zwangsläufig durch einen Staatsstreich oder eine Revolution, sondern „durch langsame und anhaltende

1308 1309 1310 1311 1312 1313

EP, S. 233. EP, S. 233. OC III, S. 439. EP, S. 236. OC III, S. 439. DA, S. 345f.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

Bemühungen, durch fast unmerkliche Veränderungen, deren Folgen ihr nicht vorhersehen konntet und die ihr kaum bemerkt habt“1314. Es sind also die unterschwelligen Prozesse hegemonialer Verschiebungen, die Rousseau ins Visier nahm, als freiheitsgefährdend auszeichnete und derer er sich annahm. Niemand kann nun wirklich ein Volk in permanenter Alarmbereitschaft voraussetzen, das andere Extrem jedoch ist das für die Freiheit viel gefährlichere: die Untätigkeit und das dauerhafte Schweigen des Souveräns. Dies öffnet weiteren hegemonialen Strategien der Machtsicherung Tür und Tor und treibt die Schließung des Politischen voran. Daher fordert Rousseau für den Erhalt der Freiheit die stetige Kritik an herrschenden Ideologien und gab dafür ein anschauliches Beispiel aus der Geschichte Genfs. Durch „Gewöhnung“ des Volkes an Neuerungen mittels permanenter und „unauffälliger“ Wiederholungen seien dort alle Veränderungen irgendwann „zum Brauch“ geworden, so dass sie in der Folge institutionalisiert und in Form von Gesetzen und Verordnungen legitimiert und legalisiert wurden, ohne dass dem Volk dann noch irgendeine Möglichkeit des Einspruchs gegeben war. Die Strategie bestand darin, Neuerungen als solche unkenntlich zu machen und als Tradition oder Brauch dem Zugriff des Souveräns zu entziehen, demgegenüber es stets wachsam zu sein und wogegen es vorzugehen gelte: „Dies mein Herr, ist die Politik Ihrer Obrigkeit. Sie machen ihre Neuerungen nach und nach, langsam, ohne dass jemand die Folgen derselben sieht, und wenn man es endlich bemerkt und Abhilfe schaffen will, so schreien sie, dass man Neuerungen einführen wolle“.1315 Zwar gelänge dies bestimmt nicht immer, doch habe die herrschende Klasse ja auch weniger zu verlieren, als die beherrschte: „Durch eine geglückte Unternehmung erhalten sie mehr Kräfte, durch eine fehlgeschlagene aber verlieren sie nur Zeit. Ihr aber, die ihr bloß auf die Erhaltung Eurer Verfassung seht, erleidet wirklichen Verlust, sobald ihr verliert; gewinnt ihr aber, so gewinnt ihr nichts. Wie kann man an bei einem solchen Fortgang hoffen, am gleichen Punkt zu bleiben?“1316. Rousseau benannte hier ein Grundproblem demokratischer Staaten, welches auch Lefort und mit ihm der Diskurs der radikalen Demokratie diskutierte: Die notwendige unaufhörliche Verteidigung der Demokratie, der Volkssouveränität und der Freiheit gegen Übergriffe von innen wie von außen, ohne dass dabei immer ein sofort erkenn- oder erleb1314 Ders.: Briefe vom Berge: Siebter Brief. S. 424f. 1315 Ders. S. 426f. 1316 Ders. S. 428.

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bares Ergebnis vor Augen steht, geschweige denn das Ende der demokratischen Entwicklung jemals zu erreichen wäre, was hohe Anforderungen an die motivationalen Ressourcen demokratischer Bürgerinnen stellt. Die Demokratie als die zugleich am meisten freiheitsfördernde und gefährdetste Gesellschaftsform verlangt also aufgrund der ihr innewohnenden Unsicherheiten, der Kontingenz an ihrem Grund und ihrer daraus resultierenden prinzipiellen Unbestimmbarkeit den Bürgerinnen eine Menge an Engagement, Kontingenztoleranz und Selbstbewusstsein ab. Sie bietet auf der anderen Seite aber auch von allen vorstellbaren Gesellschaftsformen am meisten Handlungsspielraum für Spontaneität, Kreativität und autonomes politisches Handeln. Der Gefahr ihrer Schließung muss dabei und dafür aber stetig entgegengewirkt werden und dieses Entgegenwirken in Form freiheitlichen politischen Handelns als die für das Überleben der Demokratie unerlässliche Tugend angesehen werden. Tugend in diesem Sinne kann dann als ein starkes Verbundenheitsgefühl des Volkes gegen seine Regierung verstanden werden, denn „je enger ein zahlreiches Volk zusammenrückt, umso weniger kann sich die Regierung des Souveräns bemächtigen“. Widerstand würde so wahrscheinlicher und die Möglichkeit des Despotismus eingeschränkt.1317 Rousseau schloss also den zivilen Ungehorsam als Mittel freiheitsfördernder und freiheitserhaltender Politik nicht aus, sondern sah in diesem vielmehr einen Garanten für den Erhalt der Freiheit. Den Wegfall der Gehorsamspflicht thematisierte er dabei sogar explizit für den Fall des „Missbrauchs der Regierung“1318. Rousseau plädierte wohlgemerkt nicht per se für Revolutionen, sei eine eingerichtete Regierungsform aber nicht mehr mit dem Gemeinwohl vereinbar, müsse sie abgeschafft werden. Wichtig sei es dabei nur, „einen recht- und gesetzmäßigen Akt von einem aufrührerischen Tumult und den Willen eines ganzen Volkes vom Geschrei einer Partei streng zu unterscheiden“1319. Die Gefahr ist die, dass die Regierung ihre partikulare Position nur zu leicht hinter der Fassade des Gemeinwillens verstecken und etwa mit Verweis auf die „öffentliche Ruhe“ und die „Wiederherstellung der guten Ordnung“ Versammlungen verbieten könne. Dies bedeutete, dass die Regierung die souveräne Macht „usurpiert“ oder mit Lefort gesprochen, dass sie den Ort der Macht eben dauerhaft besetzt hält. Deswegen braucht es die Einrichtung regelmäßiger Versammlungen, welche die Regierung nicht 1317 OC III, S. 418. 1318 OC III, S. 421ff. 1319 OC III, S. 435.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

verbieten könne, „ohne sich offen zum Gesetzesbrecher und Staatsfeind zu erklären“1320. Die Institution von Volksversammlungen und das sie stützende Recht auf Versammlungsfreiheit sind also bei Rousseau nicht in einem liberalen Sinne als rein institutionelle Ermöglichung von freiwilliger Partizipation im Sinne der Artikulation und Aggregation partikularer Interessen gedacht. Die Bedeutung der Institutionalisierung demokratischer Versammlungen und die damit verbundene symbolische Repräsentation der Prinzipien der Gleichheit und Freiheit liegen vielmehr darin, das Erkennen anti-demokratischen Verhaltens der Machthaber und derer Versuche der Schließung des Politischen zu erkennen. „The fixed periodic assemblies of the people, at which they express their sovereignty, are primarily preventive in purpose. Their chief political aim is to halt the all but irresistible tendency of any government to become arbitrary and despotic. Their positive function is symbolic and ritualistic. They actually do very little (…) The very occasion of consenting, the assembly, is a device for keeping their country before their eyes, and their public selves intact. Like the endless ceremonies and festivals that Rousseau urged upon the Poles, the assemblies exist to remind men of their public role”1321. Wenn demokratische Rechte und Verfahren einmal instituiert sind, machen sie also den Missbrauch der ihnen zugrunde liegenden Prinzipien sichtbar, ermöglichen somit Kritik und Reform und sind daher Garanten der Freiheit. Genau deswegen bedarf es also „fester und regelmäßig wiederkehrender Versammlungen“, wobei der Souverän sich umso häufiger versammeln müsse, je stärker die Regierung sei.1322 Die Versammlungen des Souveräns haben dabei immer das Forstbestehen des Gesellschaftsvertrags zum Thema und behandeln zwei Fragen: Die nach der Beibehaltung der aktuellen Regierungsform und die nach der Beibehaltung der aktuellen Inhaber der Macht.1323 In den Abstimmungen wird daher nicht die individuelle Zustimmung der Bürgerinnen abgefragt, sondern die Einschätzung der Befragten, ob ein Vorschlag mit dem Gemeinwillen übereinstimmt. Daher irrt die Bürgerin gegebenenfalls nur bezüglich der eigenen Einschätzung der Vereinbarkeit eines Gesetzesvorschlagsmit dem Gemeinwohl, keinesfalls wird ihr aber die Legitimität ihrer partikularen Position abgesprochen, die

1320 1321 1322 1323

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Ebd. Shklar, Judith: Men and Citizens. S. 20. Hervorhebung von mir. OC III, S. 426. OC III, S. 436.

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ja in den Abstimmungen zudem zu keiner Zeit abgefragt oder gar in Frage gestellt wird. Sobald das Volk rechtmäßig als politische Körperschaft versammelt ist, gilt zudem, dass „jede Rechtsprechung der Regierung (endet und) die Exekutive ausgesetzt (ist) (…) weil es keinen Stellvertreter mehr gibt, wo sich der Vertretene befindet“1324. Im Verfassungsentwurf für Korsika findet sich eine analoge Stelle. Wenn die „Hüter der Gesetze“ die Generalstände einberufen, würde so lange diese zusammentreten und damit das Volk als Souverän versammelt sei, die gesetzesmäßige Gewalt des großen Podestà und des Staatsrates und damit die Trennung zwischen Regierenden und Regierten aufgehoben.1325 Dies lässt sich beides in Analogie zu dem bei Lefort thematisierten Moment der demokratischen Wahl lesen, in dem das Volk als Souverän die politische Bühne betritt, alle „Quasi-Repräsentation“ ein Ende hat und die „Substanz zur Zahl“ wird. In dem Moment, in dem der Souverän die politische Bühne betritt, sei es nun durch eine Versammlung der Legislative, wie bei Rousseau, oder im Moment der demokratischen Wahl als Moment der Neubesetzung des Ortes der Macht bei Lefort, tritt die prekäre Verfasstheit des Gemeinwesens offen zu Tage und erinnert das Volk symbolisch an die prinzipielle Konflikthaftigkeit und eigene Grundlosigkeit, wie sie in „normalen“ Zeiten durch die Inhaber des Ortes der Macht verdeckt wird. In dieser Erinnerung liegt für Lefort ein wesentliches demokratisches Moment, denn nur so sind die Bürgerinnen davor gefeit, den Einheitsversprechungen der Macht nicht genügend Kritik entgegenzubringen und einen Umschlag demokratischer totalitäre Verhältnisse zu befördern. Bei Rousseau waren die Versammlungen des Souveräns ebenfalls „Zeiten der Aussetzung“, und „Schutzschild der politischen Körperschaft (…) der Zaum der Regierung (und somit) zu allen Zeiten der Schrecken der Oberhäupter“1326. Sie tragen somit auch wesentlich zu der Ausbildung des für die Abwehr von Despotismus wichtigen kollektiven Bürgerinnenselbstbewusstseins bei. Die rein institutionelle Ermöglichung politischer Tugenden im Sinne der Formulierung von Kritik und Widerspruch ist nun aber eben noch keine hinreichende Garantie für deren tatsächliche Ausübung. Wo Bürgerinnen aber aus Faulheit nicht in die Versammlungen gingen und Abgeordnete entsandten oder sie sich aus politischen Verpflichtungen freikauften, sei die Auflösung des politischen Kör1324 OC III, S. 427f. 1325 OC III, S. 944. 1326 OC III, S. 428.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

pers vorprogrammiert.1327 „In einem wirklich freien Staat tun die Bürger alles eigenhändig (…) in einem gut geführten Staat eilt jeder zu den Versammlungen“1328. Was Rousseau hier einforderte, ist ein demokratisches Ethos, das es auszubilden und zu bewahren gilt, um das Gemeinwesen zu erhalten und gemäß dem jede Bürgerin freiwillig und gerne ihren demokratischen Pflichten nachkommt. Wo dies ausbleibt, ist die Freiheit in Gefahr, denn „die Souveränität kann aus dem gleichen Grund, aus dem sie nicht veräußert werden kann, auch nicht vertreten werden; sie besteht wesentlich im Gemeinwillen, und der Wille kann nicht vertreten werden: er ist derselbe oder ein anderer; ein Mittelding gibt es nicht. Die Abgeordneten des Volkes sind also nicht seine Vertreter, noch können Sie es sein, sie sind nur seine Beauftragten; sie können nicht endgültig beschließen. Jedes Gesetz, das das Volk nicht selbst beschlossen hat, ist nichtig; es ist überhaupt kein Gesetz. Das englische Volk glaubt frei zu sein, es täuscht sich gewaltig, es ist nur frei während der Wahl der Parlamentsmitglieder; sobald diese gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts“1329. Entgegen landläufiger Meinung, das dürfte nach dem bisher Gesagten deutlich geworden sein, sprach sich Rousseau hier nicht gegen Repräsentation an sich aus. Er wandte sich hier vielmehr gegen die Behauptung, Repräsentanten könnten als legitime Stellvertreter des Souveräns in der Legislative fungieren. Dies hat seinen Grund vor allem darin, dass es Rousseau gar nicht so sehr um die dort beschlossenen Gesetze und deren Qualität an sich ging, die dann an ihrem Output gemessen werden könnte. Ebenso wenig garantiert aber auch die rein prozedurale Perspektive einer Beteiligung aller Bürgerinnen an der Gesetzgebung auf der Input-Seite, dass wirklich gute Gesetze im Sinne des Gemeinwohls dabei herauskommen. Das ist aber eben auch gar nicht der entscheidende Punkt. Es ging Rousseau gar nicht so sehr um die klassisch republikanische Gesetzesherrschaft, sondern, so der hier vorgeschlagene Ansatz, vielmehr um eine Gesetzgebungsherrschaft. Wenn also gemeinhin gesagt wird, dass sein Freiheitsverständnis im klassisch republikanischen Sinne eine Herrschaft der Gesetze bedeutet, dann stimmt das nur bedingt. Zunächst ist es so, dass überall dort, wo Gesetze ungestraft verletzt werden können, für Rousseau keine Freiheit mehr herrscht.1330 Rousseau ging aber weder davon aus,

1327 1328 1329 1330

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OC III, S. 429. Ebd. OC III, S. 429f. Rousseau, Jean-Jacques: Briefe vom Berge: Siebter Brief. S. 421.

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dass es jemals eine wahre Herrschaft von Gesetzen in dem Sinne geben kann, als dass diesen durch ein absolut tugendhaftes Volk uneingeschränkt Folge geleistet würde, noch dass die bloße Existenz „guter“ Gesetze, was auch immer dies im Einzelnen bedeuten mag, irgendeine Art abstrakter Herrschaft ausüben kann. Genau deswegen bestand er auch auf der Beteiligung des gesamten Volkes an der Legislative als Bedingung der Freiheit. Berücksichtig man die zwei essentiellen Fragen, die er von der Legislative behandelt wissen will, nämlich die nach der Legitimität der momentanen Besetzung des Ortes der Macht und die nach dem Fortbestand des Gemeinwesens, lässt er sich hier so verstehen, dass er das souveräne Volk in die Verantwortung der permanenten Kontrolle und Hinterfragung der bestehenden Gesellschaftsordnung sowie der Herrschenden und der von diesen erlassenen Gesetze als konkretisierte Gemeinwohlbehauptungen nahm. Nur durch die Existenz einer aktiven und kritischen Bevölkerung „gegen den Staat“, also im permanenten und produktiven, nie abzustellenden Konflikt um die Bestimmung des Gemeinwohls, kann die Freiheit im politischen Gemeinwesen möglichst lange auf Dauer gestellt werden. Um die Gesetze auf ihre Gemeinwohlkompatibilität hin zu überprüfen, bedarf es daher der Partizipation und des Engagements tugendhafter Bürgerinnen, wobei „Tugend“ in diesem Verständnis dann eben ein gewisses Reflexionsniveau meint und Qualitäten wie Wachsamkeit, Mut, Kraft und Ausdauer zur Kritik bezeichnet, welche erlernt beziehungsweise im öffentlichen politischen Prozess anerzogen und angeeignet werden müssen. Politische Erziehung trage somit wesentlich dazu bei, die Meinungen der Menschen zu heben und ihre Sitten zu läutern.1331 Es gelte daher, das kollektive Urteil in rechte Bahnen zu lenken, sprich Einfluss auf die öffentliche Meinung oder den öffentlichen Diskurs zu nehmen, um so das Verhalten und die Aktivitäten der Bürgerinnen zu beeinflussen, denn „man liebt immer, was schön ist oder was man dafür hält“1332. Ein bestehendes Gesetz allein vermag dies niemals zu leisten, der Gesetzgebung hingegen, also der aktiven Teilhabe an der Legislative, kam daher für Rousseau die viel größere Bedeutung zu. Lässt diese erstmal nach, verfallen die Sitten.1333 Die permanente Kontrolle in der und durch die Teilhabe an der Gesetzgebung ist also das erste Recht und die erste Pflicht der Bürgerin: „Das Gesetz von gestern ist heute nicht verbindlich, 1331 OC III, S. 458. 1332 Ebd. Hervorhebung von mir. 1333 Ebd.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

aber aus dem Schweigen (des Souveräns; MO) wird die schweigende Zustimmung abgeleitet. (…). Alles, was er einmal als seinen Willen erklärt hat, das will er immer noch, es sei denn, er widerruft es“1334. Damit war Rousseaus Argumentation am systematischen Übergang von der Ebene des Politischen und den dort angesiedelten Gründungsfragen zur Ebene der Politik und des Erhalts der Freiheit im Gemeinwesen angekommen. „Wie die souveräne Gewalt erhalten werden kann“1335 ist folglich die auf der Ebene der Politik zu verhandelnde Frage nach den Bedingungen des Fortbestandes freiheitlicher Gemeinwesen, als deren erste Rousseau die Existenz eines an der Gesetzgebung und deren Kritik beteiligten Volkes nennt. Technische Gegenargumente, wie etwa die Größe moderner Staaten, ließ er dabei wohlgemerkt nicht gelten. Explizit ging er gegen das vor, was Lefort als „Denkverbote“ geißelte, wenn er feststellte, dass die „Grenzen des Möglichen (…) im Moralischen weniger eng (sind), als wir denken. Es sind unsere Schwächen, unsere Laster, unsere Vorurteile, die sie enger ziehen“1336. Wenn also etwas als unmöglich, unrealistisch, utopisch oder gar als „Hirngespinst“ gilt,1337 bedeutet das nur, dass es in der allgemeinen Wahrnehmung (noch) nicht in den Bereich des Möglichen fällt, beziehungsweise aus diesem bewusst herausgehalten wird. Die Grenzen des Sag-, Denk- und Machbaren werden aber politisch gezogen und können und müssen folglich auch politisch verändert werden. Die von der Aufklärung als universelles Prinzip gefeierte individuelle Vernunft etwa verwarf Rousseau dahingehend, da es keinem Menschen zustehe, „seine Vernunft zum Maßstab der Vernunft anderer zu machen“. Die allgemeinen Grenzen der Vernunft seien nicht festgelegt und auch nicht festlegbar, niemand könne schließlich in die Vernunft des anderen hineinsehen.1338 Daher plädierte er nicht nur für die Offenheit des Denkens, für geistige Flexibilität, Kreativität und ein Bewusstsein um die Möglichkeiten menschlicher Vorstellungs- und Gestaltungsmacht, sondern bewies in einer frühen Vorwegnahme des modernen radikaldemokratischen Denkens ein Bewusstsein dafür, dass der Horizont der menschlichen Wahrnehmung diskursiv errichtet und somit auch genauso zu verändern, zu erweitern oder auch einzureißen ist. Er entwarf also keine Utopien, wenn man darunter

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OC III, S. 424. OC III, S. 425ff. OC III, S. 425 Ebd. DA, S. 343.

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„Hirngespinste“ oder Traumgebäude versteht, sondern lotete die Grenzen des Sag-, Denk- und Machbaren auf ihr emanzipatorisches Potential hin aus und forderte die Bürgerinnen demokratischer Gemeinwesen dazu auf, es ihm gleich zu tun. Denn erst dann, so muss er in diesem Zusammenhang verstanden werden, erst wenn sich diese ihrer Rolle als demokratische Akteurinnen bewusst sind, kann der politische Körper dauerhaft am Leben gehalten werden, ein aktives Bürgerinnenbewusstsein ist für Rousseau dafür die conditio sine qua non: „Der Schluss vom Wirklichen auf das Mögliche erscheint mir gut“1339. Die politische Erziehung als das Mittel der Ermöglichung und Gewährleistung einer kritischen politischen und in diesem Sinne tugendhaften Bürgerinnenschaft wird damit zum zentralen Problem Rousseaus, das er vor allem in den an den Contrat Social anschließenden Schriften diskutierte. Der Ort, an dem diese Erziehung stattfinden kann und muss, ist die öffentliche Meinung, mit einem modernen Begriff der common sense und herrschende Diskurs der Gesellschaft über sich selbst. IV. 2. 9. Von der Zivilreligion Das Kapitel „von der bürgerlichen Religion“ ist der Frage nach den Bedingungen des Fortbestandes freiheitlicher politischer Gemeinschaften gewidmet und kann aufgrund seiner Stellung am Ende des Gesellschaftsvertrags als Kulminationspunkt des Contrat Social angesehen werden. Zugleich markiert es in der hier vorgeschlagenen Lesart des Werkes Rousseaus den Übergang von Überlegungen auf der ontologischen Ebene zu der Entstehung politischer Gemeinschaften zur ontischen Ebene und den dort verhandelten Fragen nach den Bedingungen ihres Bestehenbleibens. Somit kann das Kapitel in gewisser Weise als Scharnier zwischen den Dimensionen des Politischen und der Politik und zugleich zwischen dem Contrat Social und den ihm nachfolgenden Schriften, etwa den „Briefen vom Berge“ oder den Verfassungsentwürfen für Korsika und Polen, verstanden werden. Der Vorschlag, den Gesellschaftsvertrag „von hinten zu lesen“, unterstreicht die Bedeutung dieses Kapitels, das folglich nicht als aus der

1339 OC III, S. 426.

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Reihe schlagender Appendix missverstanden und unterbewertet werden sollte.1340 Für Rousseau gab es prinzipiell zwei mögliche Perspektiven auf die Bedeutung der Religion: entweder interessiere man nach sich für deren Wahrheitsgehalt, oder aber für ihre sozialen Effekte, wie er sie bereits im Kapitel über den Gesetzgeber diskutierte. Somit ist diejenige Religion, welche für sich das Wahrheitsmonopol beansprucht, nicht zwangsläufig die sozial verträglichste, schließlich seien die grausamsten Kriege nicht zuletzt auch um den Wahrheitsanspruch von Religionen geführt worden.1341 Rousseau sah in der Religion aber, nicht in jeder wohlgemerkt, vielmehr ein Werkzeug, welches für das Fortbestehen des Gemeinwesens benutzt werden und die dafür nötigen Bindungen der Bürgerinnen an selbiges generieren und deren Tugenden gewährleisten könne.1342 Die Zivilreligion, wie sie ihm vorschwebte, ist das Mittel zum Zweck der Etablierung eines demokratischen Ethos, ohne das es keine guten Bürgerinnen und keine gesetzestreuen Untertanen geben kann. Ausgangspunkt dieser Überlegungen war, dass die Menschen „anfangs keine anderen Könige als die Götter und keine andere Regierung als die theokratische“ gehabt haben.1343 Ausgehend von der Beobachtung eines historischen wie systematischen Zusammenhangs von Religion und Politik diskutierte Rousseau den Wandel vom vor-demokratischen zum demokratischen Dispositiv und identifizierte an diesem Übergang einen Wandel, der in Leforts Sinne als „revolutionär“ verstanden werden kann. So mussten „Gefühle und Vorstellungen (…) eine große Veränderung durchgemacht haben, bis man sich entschließt, seinesgleichen zum Herrn zu nehmen, und sich einbildet, gut damit zu fahren“1344. Was heute, also in der demokratischen so genannten Moderne als normal und völlig unhintergehbar erscheint, war zum Zeitpunkt seines Entstehens eine historisch nie zuvor dagewesene Neuigkeit.

1340 Critchley, Simon: Der Katechismus des Bürgers. Politik, Recht und Religion in, nach, mit und gegen Rousseau. Zürich/ Berlin 2008. 1341 Vgl. Evrigenis, Ioannis D.: Freeing man from sin: Rousseau on the natural condition of mankind. In: McDonald, Christie/ Hoffmann, Stanley (Hrsg.). Rousseau and Freedom. S. 9 - 23. 1342 Rehm, Michaela: Keine Politik ohne Moral, keine Moral, ohne Religion? Zum Begriff der Zivilreligion. In: Hildebrandt, Mathias/ Brocker, Manfred (Hrsg.). Der Begriff der Religion. Interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden 2008. S. 59 - 79, hier S. 64f. 1343 OC III, S. 460. 1344 Ebd.

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Wie genau dieser Übergang oder Wandel vorzustellen ist, thematisierte Rousseau nicht, was angesichts seiner Überzeugung der Unmöglichkeit des Feststellens von ohnehin kontingenten Ursprüngen nur konsequent war. So lasse sich nicht mehr sagen, als dass es früher so viele Götter wie Völker gegeben hat. Die Idee einer universalen Gottheit war weithin unbekannt, kein Staat habe zudem zwischen seinen Göttern und seinen Gesetzen unterschieden.1345 Mit Lefort kann man diese vor-demokratische Einheit von Religion und Politik als theologisch-politisches Dispositiv bezeichnen. Mit dem Christentum ging für Rousseau historisch die Trennung des theologischen vom politischen System einher. Rasch habe sich in der Folge das Christentum unter „einem sichtbaren Oberhaupt“ zum „härtesten Despotismus“ auf Erden entwickelt und ist damit zu einer politischen Kraft geworden. Rousseau interessierte aber vor allem der damit zusammenhängende „ständige Konflikt“ zwischen religiösen und weltlichen Gesetzen, wie er eine gute Staatsordnung in christlichen Staaten verunmöglicht habe, insofern dort die Bürgerinnen in Loyalitätskonflikten zwischen weltlichen und religiösen Autoritäten aufgerieben würden.1346 Das Christentum sei daher eine „bizarre Art von Religion“, die er als „Priesterreligion“ brandmarkte und die ein politisches Gemeinwesen nicht auf Dauer stellen könne.1347 Von dieser unterschied er die Religion des Menschen und die Religion des Bürgers, die beide ihre Fehler hätten, was hier im Einzelnen nicht interessieren muss. Wichtig festzuhalten ist nur, dass Rousseau für eine Symbiose aus den Vorteilen beider Religionen plädierte, die er als „Zivilreligion“ bezeichnete. Diese sei „eines der großen Bindeglieder“ in Gesellschaften, welche die Herzen der Bürgerinnen an den Staat hefteten.1348 Daher sei es wichtig, dass die Zivilreligion diese ihre Pflichten lieben heißt.1349 Rousseau legte dabei keinen Wert darauf, was die einzelne in ihrem Inneren wirklich glaubte, oder ob die Zivilreligion einem Test auf metaphysische Wahrheit standhielt. Letztlich zählte einzig ihr immanenter Nutzen der Ausbildung und Festigung eines demokratischen Ethos, so dass die Bürgerinnen „in diesem (Leben) hier gute Bürger sind“, weswegen er die Zivilreligion als „rein bürgerliches Glaubensbekenntnis“ bezeichnete, dessen einzelne Artikel der Souverän festzulegen

1345 1346 1347 1348 1349

Ebd. OC III, S. 462. OC III, S. 464. OC III, S. 465. OC III, S. 468.

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hat. Was so gelänge, sei die Schaffung einer „Gesinnung des Miteinander“. An diese muss nicht zwingend geglaubt, wohl aber muss sich so verhalten werden, als glaubte man daran. Wer dagegen verstoße, begehe mit der Lüge vor den Gesetzen das größte aller Verbrechen und müsse dafür mit dem Tod bestraft werden.1350 Dies mag aus heutiger Sicht erschreckend und abstoßend klingen, unterstreicht aber nur die immense Bedeutung, die Rousseau dem Erhalt des politischen Gemeinwesens beimaß, zumal die Alternative des „Tod des politischen Körpers“1351 die für ihn weit schlimmere war. Die Zivilreligion soll also eine Beziehung zwischen den Bürgerinnen sowie zwischen Bürgerinnenschaft und Staat aufrechterhalten, ist dabei aber nicht als Mittel der Manipulation oder Dogma misszuverstehen: „Es gibt also ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis. Seine Artikel müssen vom Souverän erlassen werden. Sie dürfen keine Dogmen sein, sondern Gemeinschaftsgefühle, ohne die es unmöglich ist, weder guter Staatsbürger noch treuer Untertan zu sein“. Wenn die Zivilreligion sowohl die Beziehung der Bürgerinnen zueinander, wie auch die der Bürgerschaft zum Staat aufrechterhalten soll, zeigt dies, dass damit weder Identifizierung noch Homegnisierung angestrebt werden. Von einer „Beziehung“ zu sprechen, macht nur insofern Sinn, als sich Pole identifizieren lassen, die zueinander in dieser Beziehung stehen und damit voneinander unterscheidbar sind und bleiben. Diese Beziehung ist dann zudem auch keine harmonische, sondern das einer „wilden Demokratie“ wesenseigene kritische Verhältnis der Bürgerinnen zu ihrer Regierung. Dem Volk wird keine Religion vorgeschrieben, diese ist ebenso immanent, wie partikular zu verstehen und in seinen Einzelheiten vom Souverän festgesetzt.1352 Die Grundsätze oder Dogmen der Zivilreligion müssen lediglich „einfach sein, gering an der Zahl, klar im Ausdruck, ohne Erklärungen und Auslegungen“. Daher beschränkte sich Rousseau auch auf die Aufzählung ganz allgemeiner Grundsätze: „Die Existenz der allmächtigen, allwissenden, wohltätigen, vorhersehenden und sorgenden Gottheit, das zukünftige Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung des Bösen sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze und der Ausschluss

1350 Ebd. 1351 Schwaabe, Christian. Politische Theorie. S. 32. 1352 Rehm, Michaela: „Ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis“: Zivilreligion als Vollendung des Politischen? In: Brandt, Reinhard/ Herb, Karlfriedrich (Hrsg.). Jean-Jacques Rousseau. S. 213 - 239, hier S. 226.

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von Intoleranz.1353 Die ersten drei Dogmen können als kleinster gemeinsamer Nenner einer „Minimalreligion“1354 angesehen werden, der alle gefahrlos zustimmen können. In dem Zusammenhang wird daher auch von einer Verbannung „dissensriskanter Glaubensstücke“1355 gesprochen, welche ein „konsensfähiges Minimum religiöser Überzeugungen“ übrig ließen.1356 Die in den ersten drei Dogmen zur Anwendung kommenden universellen Prinzipien dienen der Ermöglichung des immanenten Prinzips der Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags, sie ist das Herzstück der Zivilreligion. Somit erhoffte sich Rousseau die Gewährleistung gemeinwohlorientierten Handelns im Diesseits durch den Verweis auf das Jenseits zu gewährleisten,1357 und bewies ein dem Denken Leforts verwandtes Bewusstsein um die „Fortdauer des Theologisch-Politischen“ in modernen Gesellschaften. Das Konzept der Zivilreligion ist dabei fraglos einer der strittigsten Teile des Contrat Social. Kritikerinnen meinen, es bezeuge, dass Rousseau der Erhalt der politischen Einheit wichtiger gewesen sei, als die Gewissensfreiheit des Einzelnen“1358. Dies dürfte unbestritten sein, jedoch muss diese Aussage Ganzen relativiert werden. So wäre zum Beispiel nach der Sinnhaftigkeit dieser Hierarchisierung und Priorisierung und einer logischen wie realistischen Alternative zu fragen, bedenkt man, dass das Andere einer freiheitlichen politischen Gemeinschaft für Rousseau nur Anarchie und Bürgerkrieg oder Despotie und Tyrannei sein konnten. Inwiefern innerhalb dieser Alternativen von Gewissensfreiheit zu sprechen noch Sinn machte, sei dahingestellt. Selbst überzeugte Liberale müssten sich aber die Frage gefallen lassen, ob denn nicht jedem existierenden Gemeinwesen letztlich diese Priorisierung zugrunde liegt oder zumindest implizit inhärent ist, oder sich umgekehrt zu der Frage verhalten, ob wirklich ein Gemeinwesen vorstellbar ist, welches die individuelle (Gewissens-) Freiheit absolut setzt und im Konfliktfall dem Erhalt des Gemeinwesens vor-

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OC III, S. 468f. Fetscher, Iring: Rousseaus politische Philosophie. S. 190. Kersting, Wolfgang: Jean-Jacques Rousseaus Gesellschaftsvertrag. S. 192. Ders. S. 195. Vgl. Iser, Mattias: Glauben als Pflicht? Zivilreligion bei Jean-Jacques Rousseau. In: Buchstein, Hubertus/ Schmalz-Bruns, Rainer (Hrsg.). Politik der Integration. Symbole, Repräsentation, Institution. Baden-Baden 2006. S. 303 - 322, hier S. 309f. Rehm, Michaela: Keine Politik ohne Moral, keine Moral, ohne Religion? S. 89f. 1358 Rehm, Michaela: Ein rein bürgerliches Glaubensbekenntnis. S. 237.

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zöge. Und wie sollte ein solches schließlich konkret aussehen? Die Gewissensfreiheit der Einzelnen macht für sich stehend keinen Sinn, insofern die Rede von ihr die Existenz eines Gemeinwesens ebenso bedingt, wie umgekehrt ein Gemeinwesen ohne die Möglichkeit der Gewissensfreiheit im nicht als vollwertig und schon gar nicht als freiheitsfördernd angesehen werden kann. Zudem ging es Rousseau mit der vielkritisierten Forderung der Todesstrafe um diejenigen, die sich „so verhalten“, als glaubten sie nicht an die Zivilreligion, also diejenigen, die aktiv und bewusst gegen die basalen Prinzipien, Überzeugungen, Wertvorstellungen, Sitten und Bräuche des Gemeinwesens verstoßen. Kann ein solcher Verstoß mit Berufung auf die individuelle „Gewissensfreiheit“ wirklich gerechtfertigt werden? Handelt es sich hierbei überhaupt noch um eine Frage des „Gewissens“? Auch das darf bezweifelt werden, ohne die Bedeutung der Gewissensfreiheit gerade für moderne demokratische Gesellschaften anzweifeln zu wollen. Fakt ist, dass keine politische Gemeinschaft, auch nicht die denkbar liberalste, und das wäre in aller Konsequenz die Folge dieses Vorwurfs an Rousseau, ein „anything goes“ zum Dogma ihrer Zivilreligion erheben würde oder könnte. Die Existenz einer „Zivilreligion“ damit kategorisch abzulehnen oder auch nur abzustreiten, ist nicht plausibel, schöpft eine soclhe doch aus den kollektiven, über Generationen gewachsenen und transportierten Werteund Normenvorstellungen, wie sie einem jeden Gemeinwesen qua Existenz immer schon zugrunde liegen und eingeschrieben sind, ohne dass diese natürlich in einem essentialistischen Kurzschluss als wahr, evident oder wirklich existent missverstanden werden dürfen. Keine Gemeinschaft ist ohne irgendeine Art von Zivilreligion denkbar und umgekehrt und Rousseau hat an keiner Stelle gefordert, eine solche aus dem Nichts zu erfinden und den Bürgerinnen mit Gewalt aufzuzwingen. Jede Zivilreligion ist ein Set an Narrationen, Symbolen, Ritualen und Traditionen, welches die Bürgerinnen an ihr politisches Gemeinwesen bindet, jedoch nicht als willfährige und homogene Masse, sondern als kritische politische Bürgerinnenschaft. Rousseau politisch motivierte „Intoleranz“1359 vorzuwerfen, führt daher an der Sache vorbei, die Zivilreligion ist die Quelle und zugleich das Mittel der Gewährleistung der Herausbildung eines demokratischen Ethos, einer tugendhaften Bürgerinnenschaft und damit die Bedingung der Möglichkeit eines Zusammenlebens in Freiheit.

1359 Dies. S. 237.

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IV. 2. 10. Zwischenfazit Der Contrat Social bezeugt, dass Rousseau die für den radikaldemokratischen Diskurs fundamentale Unterscheidung des Politischen und der Politik nicht nur kannte, sondern diese seine politiktheoretischen Überlegungen über die Bedingungen des Erhalts der Freiheit in konstituierten Gemeinwesen strukturierte und anleitete. Seine Schriften waren von einer prinzipiellen Skepsis gegenüber jeder pouvoir constitué, durchdrungen, an keiner Stelle plädierte er jedoch für deren Überwindung oder Auflösung. Ganz im Gegenteil argumentierte er, dass die in der Politik auftretenden und dort die Freiheit des Menschen bedrohenden Gefahren auch nur dort gelöst werden können und müssen. Die Überzeugung einer in modernen demokratischen Gesellschaften „gefährlichen“ aber alternativlosen Freiheit verbindet sein Denken mit dem Leforts, für beide birgt diese Form der Freiheit stets das Potential in sich, in ihr Gegenteil umzuschlagen, die „freiwillige Sklaverei“1360. Bereits das berühmte Grundproblem des Contrat Social lässt sich daher in Analogie zum Demokratieverständnis Leforts und damit der radikalen Demokratie lesen. Ein allen demokratischen Gesellschaften eigenes Problem ist demnach stets die Frage, wie demokratische Herrschaft im Sinne einer „Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk“ mit einer historisch, faktisch und empirisch ebenso unumgänglichen, wie theoretisch und normativ unmöglichen Teilung von Staat und Gesellschaft zusammengehen kann und soll. Denn wenn sich moderne Demokratien nur über die Integration von Konflikten stabilisieren lassen und dies nach der symbolischen Austragung der inneren Teilung der Gesellschaft auf der von der Gesellschaft abgehobenen Bühne der Politik und dem Ort der Macht verlange,1361 gibt es zum Prinzip der Prinzip der Repräsentation keine denkbare und auch keine wünschenswerte Alternative. Repräsentation widerspricht aber auf der anderen Seite dem demokratischen Ideal einer Volksherrschaft fundamental. Dieser unauflösliche Widerspruch liegt auch Rousseaus Überlegungen zugrunde, ihn gilt es genau deswegen aber auch nicht aufzulösen, sondern zunächst durchzudenken und dann vor allem bewusst zu machen und politisch auszuhalten. Schließlich lässt sich ja auch die Festlegung auf einen vermeintlichen historischen Ursprung der demokratischen Idee weder für Rousseau, noch

1360 Lefort, Claude: Reflections on the present. S. 270. 1361 Gauchet, Marcel: Tocqueville, Amerika und wir. S. 192.

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für Lefort als Maßstab zur Kritik und entsprechend auch der Auflösung des demokratischen Paradoxons heranziehen. Beide hielten letztgültige Definitionen konkreter politischer Ordnungsentwürfe für ebenso unmöglich wie zwangsläufig freiheitsgefährdend. Eine solche auf Dauer angelegte Stillstellung des Politischen würde das Ende der Freiheit in modernen Gemeinwesen bedeuten. Gesellschaftliche Einheit und politische Ordnung hielten beide in gewissen Maßen für selbstverständlich nötig und möglich, nur dürften diese nicht auf der Basis vor- oder außerpolitischer Prinzipien errichtet, sondern müssen als ebenso prekäres wie temporäres Ergebnis ergebnisoffener Deutungskämpfe verstanden werden. Wenn Rousseau dabei darauf bestand, dass die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft als geheiligt verstanden werden müssen, dann muss immer mit bedacht werden, dass es nur das Prinzip der Volkssouveränität ist, welches diesen ihre Heiligkeit verleihen kann. Dies meint aber nicht, dass die gesellschaftlichen und politischen Institutionen in ihrem Ursprung oder vom ursprünglichen Zweck ihrer Einrichtung her demokratischen Prinzipien gefolgt sein müssen. Ganz im Gegenteil eignete sich jedes Volk im Laufe der Zeit die Institutionen nach und nach an und nutzte sie im Sinne Leforts als Kampfplatz gegen alle Versuche einer Schließung des Politischen durch die Herrschenden. Dabei kam dem obersten Prinzip der Volkssouveränität zwar einerseits absolute Gültigkeit zu, aber auf der anderen Seite aber kann es niemals realiter verwirklicht werden. Sie ist als das normative Leitideal und als zur gleichen Zeit radikal unmöglich zu akzeptieren. Kein Volk der Welt kann sich schließlich faktisch selbst regieren, jedes Volk der Welt sollte aber nicht nur trotzdem, sondern genau deswegen an dem absoluten Anspruch auf Volksherrschaft festhalten. Der sich dabei und dadurch offenbarende Widerspruch zwischen dem Symbolischen und dem Realen ist die Bedingung der Möglichkeit demokratischen Handelns und eint die Arbeiten Rousseaus und Leforts. Neben Fragen nach der Herrschaft der Gesetze, den Möglichkeiten an der Teilhabe an der Gesetzgebung und nach der Verteilung von Wohlstand und Eigentum stellte Rousseau vor allem emotionale und affektive Aspekten der Bindung an die Gemeinschaft als Bedingung des Fortbestandes politischer Gemeinwesen vor, wie sie das dominante liberale politische Denken erfolgreich aus dem Bereich der Politik verbannte.1362 Diese affektive 1362 Siehe Llanque, Marcus: Liebe in der Politik und der Liberalismus. In: Heidenreich, Felix/ Schaal, Gary S. (Hrsg.). Politische Theorie und Emotionen. BadenBaden 2012. S. 105 - 134.

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Komponente erlangt innerhalb des gesellschaftlichen und politischen Lebens in Form in die Herzen eingeschriebener Sitten ihre Wirksamkeit. Die Liebe zum Gemeinwesen speist sich dann aus einem Gefühl der Zugehörigkeit, welches wiederum die stärkste Komponente gegen den Verlust oder die Aufgabe der Freiheit darstellt. Diese Liebe ist dann aber alles andere als blinde Affirmation des Bestehenden, sondern das Bedürfnis nach gegenseitigem politischem Austausch und das Wissen um die Notwendigkeit von Kritik und kollektiver Verteidigung der Freiheit gegen die Machthaber, im Sinne Leforts also nach einer „Demokratie gegen den Staat“. Eine solche zu schaffen und zu erhalten und dadurch in letzter Konsequenz wirklich demokratische Bürgerinnen zu formen, ist für Rousseau wie für Lefort die erste Aufgabe demokratischer Politik. Die in diesem Zusammenhang von Rousseau angestellten Überlegungen zur politischen Erziehung finden sich vor allem in seinen späteren Abhandlungen über Korsika und Polen. Doch schon in der Politischen Ökonomie schrieb er, dass wenn „es gut ist, zu wissen, wie man sich der Menschen, so wie sie sind, bedienen soll, so ist es noch weit besser, sie so zu bilden, wie man sie nötig hat. Die am wenigsten eingeschränkte gesetzmäßige Macht ist diejenige, welche bis in das Innerste des Menschen dringt und nicht weniger auf den Willen, als auf die Handlungen einwirkt. Es ist gewiss, dass die Völker mit der Zeit das sind, wozu die Regierung sie macht. Krieger, Bürger, Menschen wenn sie will, Pöbel, Gesindel, wenn es ihr beliebt; und jeder Fürst, der seine Untertanen verachtet, entehrt sich selbst, weil er dadurch zu erkennen gibt, dass er nicht verstanden habe, sie achtenswert zu machen. Bildet demnach Menschen, wenn Ihr Menschen befehlen wollt; wenn Ihr wollt, dass man den Gesetzen gehorche, so macht, dass man sie liebe und dass, um der Pflicht zu genügen, es hinreichend sei, zu denken, dass es Pflicht ist“. Dies sei es, was die „neuzeitlichen Regierungen“ mit ihrer Beschränkung auf den Einzug von Steuern übersähen, wie Rousseau in früher liberalismuskritischer Manier anmerkte.1363 Dass die Menschen nun das sind, wozu die Regierung sie macht, dass diese in deren Innerstes dringen soll, sollte nicht vorschnell als eine Forderung nach totalitärer Indoktrination und Fernsteuerung missverstanden werden. Nicht nur hielt Rousseau dies ohnehin für eine faktische Unmöglichkeit, vielmehr muss er hier aber in theoretischer Analogie zu Lefort gelesen werden. Demnach kann sich eine Gesellschaft nur das Bild von und über sich selbst machen,

1363 EP, S. 237f. Hervorhebung von mir.

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welches ihr vom symbolischen Ort der Macht aus zurückgespiegelt wird. Dies bezeichnet nun natürlich kein unmittelbar kausales Verhältnis, insofern die Identität eines Volkes bruchlos aus der Repräsentation des Volkes vom Ort der Macht aus resultierte. Auf der anderen Seite besteht eben doch ein notwendiger Zusammenhang zwischen der Repräsentation auf der einen und der Wahrnehmung oder Erfahrung kollektiver Identität auf der anderen Seite, stehen beide doch in einem, wenn auch gebrochenen, konstitutiven Verhältnis zueinander. Somit ist der von der Regierung oder den Herrschenden besetzte Ort der Macht eben der Ort, von wo aus Einfluss auf die inneren Einstellungen der Bürgerinnen zu sich selbst und zu ihrem Verhältnis unter- und zueinander genommen wird. Denn keine Erfahrung einer Zusammengehörigkeit ist selbstevident, die Aufgabe der Politik im Allgemeinen und der Regierung im konkreten besteht daher darin, diesen Erfahrungen einen theoretischen und diskursiven Rahmen oder Horizont anzubieten, in welchen diese Erfahrungen eingeschrieben werden oder von welchem sie sich abgrenzen und distanzieren können. Von der Ebene der Politik aus also Einfluss auf das Selbstverständnis und die kollektive Identität der Bürgerinnen zu nehmen, auf die Stabilisierung einer kollektiven Mentalität hinzuwirken oder deren Wandel voranzutreiben, ist daher keinesfalls schon totalitär. Genau umgekehrt ließe sich dagegen fragen, ob denn wirklich irgendeine Art der Regierung im hier bezeichneten weiten Verständnis denkbar wäre, die keinen Einfluss auf den Charakter, die Tugenden und die Sitten „ihres“ Volkes nehmen könnte, selbst wenn sie dies wollte (oder es, wie im liberalen Gesellschaftsparadigma, gar explizit behauptet nicht zu tun), ob es irgendeiner Regierung wirklich gelingen könnte, den Ort der Macht symbolisch zu besetzen, ohne sich dabei in irgendeiner Art und Weise immer schon auf eine kollektive Identität zu beziehen und sich zu einer als gemeinsam und verbindend verstandenen kollektiven Geschichte zu verhalten? Für Rousseau sicher ebenso wenig wie für Lefort, die beide eine solche Behauptung als ideologische Strategie einer Verschleierung prinzipieller wie faktischer Verhältnisse sozialer und politischer Ungleichheit demaskieren würden. Rousseaus Überlegungen zu einer öffentlichen politischen Erziehung, wie er sie vor allem im Anschluss an den Contrat Social präsentierte, kann also keinesfalls als die totalitäre und zugleich zwangsläufige Konsequenz des abstrakten Prinzips eines „Zwangs zur Freiheit“ gel-

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ten.1364 Vielmehr muss diese zunächst ganz allgemein als „civic education that draws us out of ourselves“1365 verstanden werden. Damit nämlich politische Institutionen als Kampfplatz um den Erhalt und die Ausweitung der Freiheit fungieren können, bedarf es Bürgerinnen, die dazu bereit und gewillt sind, diesen Kampf aufzunehmen. Erst vor diesem Hintergrund wird wirklich verständlich, warum und inwiefern Rousseau in der politischen Erziehung das geeignete Mittel sah, um Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen und eine in seinem Verständnis tugendhafte Bürgerinnenschaft zu generieren und auf Dauer zu gewährleisten. Dies hat rein gar nichts mit einer totalitären Programmierung der politischen Gemeinschaft zu tun. Und wirklich hielt sich Rousseau bei seinen bereits in der Politischen Ökonomie formulierten Vorschlägen ja stets und nicht umsonst sehr im Allgemeinen. Dem Volk vorzuschreiben, dass es gut sein soll, sei nicht genug, man müsse es „lehren“, tugendhaft zu sein, wobei Tugend meinte, dass „wir freiwillig wollen, was die Leute wollen, die wir lieben“. Der konkrete Inhalt der jeweiligen Tugenden wurde also nicht von irgendeiner Autorität festgelegt, sondern orientierte sich an den grundlegenden und alles andere als nicht verhandelbaren Wertevorstellungen der Gemeinschaft selbst und allen voran dem Erhalt der kollektiven wie individuellen Freiheit. Die so oft gescholtene Liebe fürs Vaterland war Rousseau dann die Bedingung der Herausbildung dieser Tugenden, sie vereinigte die „Kraft der Eigenliebe“ mit aller Schönheit der Tugend und stellte diese in den Dienst der Erhalt der Freiheit und den Kampf gegen die Schließungen des Politischen. So muss Rousseau verstanden werden, wenn er schrieb, dass wenn man wolle, dass die Völker tugendhaft sind, man ihnen Vaterlandsliebe einflößen müsse.1366 So deutlich, dass Liebe zum Vaterland für Rousseau die Bindung an die Institutionen einer der Prinzipien der Freiheit und Gleichheit verpflichteten politischen Gemeinschaft meinte, was nicht ausschließt, sondern geradezu bedingt, deren Demokratisierung und Radikalisierung einzufordern. Tugend nach Rousseau kann dann als demokratische Abenteuerlust in Verbindung mit einer kritisch-reflexiven Distanz zu einem politischen Gemeinwesen verstanden werden, das sich den Prinzipien der Gleichheit und Freiheit verpflichtet fühlt. Damit siedelt sie in einem Spannungsverhältnis und ist die Bedingung des Aushaltens einer zwiespältigen Doppelexistenz, 1364 Crocker, Lester G. Rousseau´s Social Contract. Cleveland 1968. S. 11ff. 1365 Riley, Patrick: Rousseau´s General Will. S. 127. 1366 EP, S. 239ff.

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denn wo nur Gehorsam ist, da ist keine Freiheit mehr und wo die permanente Kritik an allem Bestehenden zum obersten Prinzip erhoben wird, verliert diese nicht nur ihren Stachel und wird beliebig, sondern gefährdet damit den eh schon prekären sozialen Zusammenhalt mehr, als sie ihn befördert. Die (meist liberale) Kritik an Überlegungen zu einer gelingenden politischen Erziehung blendet schließlich zu gerne aus, dass „once we have left the state of nature we are all socialised in one form or another and no modern political theory can adequatly ignore that. Liberal writers, of course, do ignore it. They imagine that their educational schemes as much as their economic arrangements or political structures, exert no harmful influence but merely develop natural abilities and maximise individual freedom. But their education is, in most instances, as manipulative and doctrinaire, as ideologically biased, as education in non-liberal societies”1367. Man muss mithin kein Marxist sein und sich innerhalb der Linken auch nicht dem strukturellen Marxismus verschreiben, um Althusser darin zuzustimmen, wenn er über die Schulbildung schrieb: „Was aber lernt man in der Schule? (…) Man lernt auf jeden Fall lesen, schreiben, rechnen (…) daneben und auch gleichzeitig (…) lernt man (..) die Regeln des guten Anstands, d.h. des Verhaltens, das jeder Träger der Arbeitsteilung einhalten muss (…) Regeln der Moral, des staatsbürgerlichen und beruflichen Bewusstseins (…) was letztlich heißt Regeln der durch die Klassenherrschaft etablierten Ordnung“1368. Ganz ähnlich konstatierten Marx und Engels im Manifest gegen die liberale Bourgeoisie: „Aber, sagt ihr, wir heben die trautesten Verhältnisse auf, indem wir an die Stelle der häuslichen Erziehung die gesellschaftliche setzen. (…) Und ist nicht auch eure Erziehung durch die Gesellschaft bestimmt? Durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer ihr erzieht, durch die direktere oder indirektere Einmischung der Gesellschaft, vermittelst der Schule usw.? Die Kommunisten erfinden nicht die Einwirkung der Gesellschaft auf die Erziehung; sie verändern nur ihren Charakter, sie entreißen die Erziehung dem Einfluss der herrschenden Klasse.“1369

1367 Mason, John Hope: Forced to be free. In: Wokler, Robert (Hrsg.). Rousseau and Liberty. S. 121 - 138, hier S. 134. 1368 Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung). In: Ders. Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/ Berlin 1977. S. 108 - 153, hier S. 111f. 1369 Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei.

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Öffentliche und politische Erziehung kann also nicht per se des Totalitarismus verdächtig sein, da jedes Individuum immer und notwendig von dem Gemeinwesen, in dem es lebt, zu einem guten Teil mit erzogen wird und auf der anderen Seite keine Regierung, keine herrschende Ideologie, keine Partei und kein Staat jemals vom Anspruch der Bildung von Bürgerinnen und Bürgern lassen würde, lassen könnte und lassen sollte. Es ist also schlicht falsch zu behaupten, dass Rousseau nur die Freiheit im Gemeinwesen, nicht jedoch die Abgrenzung von diesem im Auge hatte und Gemeinwillen und Zivilreligion folglich ein hohes Maß an Homogenität einforderten.1370 Auch zielte er keinesfalls darauf ab, alle partikularen Interessen zur Deckung zu bringen und dies als das erste Ziel jeder Politik auszurufen.1371 Dass politische Erziehung als ein legitimes Mittel der Politik auf weithin geteilte Kritik und Ablehnung stößt, ebenso wie die Tatsache, dass die Forderung tugendhaften Verhaltens leicht als unrealistische bis mitunter gefährliche Utopie abgetan wird, verdankt sich wohl vielmehr dem Umstand, dass sie als historische Tatsachen aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden, weil verdrängt worden sind. Als ein früher Kritiker der liberalen Hegemonie, welcher es erfolgreich gelungen ist, eine bestimmte Vorstellung des Sag-, Denk- und Machbarem allgemeingültig festzulegen und alle über diesen eng gesteckten Rahmen gehenden Vorschläge und Ideen in den Bereich des Illegitimen, Verrückten, Freiheitsgefährdenden oder gar Perversen zu verbannen, forderte Rousseau dazu auf, diesen Rahmen aufzubrechen und der Spontaneität, Kreativität und Souveränität eines freien Volkes den ihnen zustehenden Raum im öffentlichen Leben zurückzugeben. Dabei wusste Rousseau sehr genau, dass kein Volk jemals zu einer harmonisch geeinten Gemeinschaft erzogen werden könnte und das nicht nur deswegen, weil eine solche an sich nicht vorstellbar ist. So soll zwar der „wahre Staatsmann“ stets dem Anspruch folgen, auf die Willen der Menschen und auf deren Handlungen einzuwirken, faktisch könne dies jedoch nie gelingen. Denn wenn er „es bewirken könnte, dass alle Menschen gut handelten, so hätte er nichts mehr zu tun und das Meisterstück seiner Werke wäre, müßig bleiben zu können“1372. Dies wird ihm jedoch nicht vergönnt sein, denn politische Erziehung muss als ein ebenso unendliches, wie unbedingt notwendiges Unterfangen angenommen wer-

1370 Ottmann, Henning: Geschichte des Politischen Denkens. Band 3. 1. S. 506. 1371 Schwaabe, Christian. Politische Theorie. S. 27. 1372 EP, S. 236.

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den, wobei Sicherung und Vermehrung der Freiheit und Gleichheit der systematische Fluchtpunkt aller Überlegungen sind und bleiben müssen. Der Prozess der Bestimmung des Gemeinwillens ist damit keiner der Deliberation oder der Kompromissfindung. Wenn Rousseau forderte, dass es bei dessen Ermittlung keinerlei Beratschlagungen geben dürfe, erweckte dies mitunter den Anschein, als sei der Gemeinwille intuitiv und präreflexiv erfassbar. Eine solche Interpretation geht an Rousseaus Intention jedoch vorbei, lehnte dieser doch vor allem die faktisch wohl nie zu verhindernde Dominanz einzelner partikularer Interessen bei der Ermittlung des vermeintlich für alle gültigen und alle gleichermaßen berücksichtigenden Gemeinwillens ab. Wenn man den Gemeinwillen als symbolischen Pol versteht, mittels Berufung auf den sich eine Gruppe am Ort der Macht festsetzt und ihre Position dadurch legitimiert, dann ist die große Gefahr die, dass diese Gruppe ihre Partikularinteressen dauerhaft als mit dem Gemeinwillen deckungsgleich ausgibt bzw. jene hinter dem vermeintlichen Gemeinwillen dauerhaft kaschiert und sich über kurz oder lang mit der Gemeinschaft als identisch behauptet. Rousseaus Forderung dient daher dazu, partikulare Interessen aus der Ermittlung des Gemeinwillens auszuschließen, um letztlich genau dadurch die legitimen partikularen Interessen aller gesellschaftlichen Gruppen und Individuen zu schützen. Zudem findet der Gemeinwille explizit nur auf universelle Fragen Anwendung, keinesfalls soll er als Bewertungsmaßstab privater Auseinandersetzungen oder alltäglicher politischer Probleme herangezogen werden. Diese selbstverständlich mit Blick auf das Gemeinwohl zu regeln, ist und bleibt Aufgabe der Regierung, eine Aufgabe an der sie immer wieder und zwangsläufig scheitern wird und scheitern muss. Dennoch oder gerade deswegen dient der Gemeinwille beziehungsweise die Auseinandersetzung um seine richtige Auslegung aufgrund seiner Universalität und der damit einhergehenden Unbestimmtheit als Garant der Freiheit und Möglichkeit der Auslebung bürgerlicher Tugenden in den öffentlichen Angelegenheiten,1373 vor allem in der Frage nach der Legitimität der Besetzung des Ortes der Macht und dem Fortbestand des Gemeinwesens als Ganzem. Eine von keinerlei „civil bond“ oder „positive compact“, sondern lediglich aufgrund eines gegenseitigen guten Willens zusammengehaltene Gesellschaft ist war für Rousseau weder denkbar noch wünschenswert.1374 So verstand er

1373 Howard, Dick: The Primacy of the Political. S. 253. 1374 Vaughan, C.E.: The Political Writings of Jean-Jacques Rousseau. S. 27.

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eine freiheitliche politische Gemeinschaft als eine Einheit im Disput um die Bestimmung des Gemeinwillens. Dieser ruht schon deswegen auf Differenz und Antagonismen auf beziehungsweise resultiert aus diesen wie er sie zugleich immer wieder auch provoziert, insofern eine aller Ordnung und Gemeinschaft vorausgehende Einheit ja gar keines Gemeinwillens mehr bedürfte, worauf Rousseau selbst hinwies. Der Gemeinwille muss daher und nur deswegen überhaupt erst gebildet werden, weil er eben nicht prä-politisch existiert und er somit eben gerade nicht als Essenz oder im strengen Sinne Wesen einer demokratischen Gesellschaft verstanden werden kann, wie es oft behauptet wird.1375 De facto wird die aktuell gültige Definition des Gemeinwesens also nie mehr sein, als das vorübergehend erfolgreiche Ergebnis eines Deutungskampfes, welches prinzipiell immer hinterfragt werden kann und wird, so lange eine kritische und in diesem Sinne tugendhafte Bürgerinnenschaft vorhanden ist. Der Gemeinwille ist der symbolische Referenzpunkt der konflikthaften Auseinandersetzung um Wesen und Form der jeweiligen Gesellschaft und ermöglicht so das Fortbestehen der „wilden“ Demokratie im Konflikt um seine „richtige“ Interpretation durch die Bürgerinnen selbst. Auch die demokratische Staatsbürgerschaft Rousseaus ist also „konfliktgeladen, oder sie ist nicht“1376. Entgegen dem in demokratietheoretischen Debatten mitunter arg überstrapazierten „Böckenfördschen Diktum“, wonach die Demokratie von Voraussetzungen lebe, die sie selbst nicht garantieren könne,1377 gilt mit Rousseau eher umgekehrt, dass die Demokratie ihren eigenen Fortbestand nur dadurch garantieren kann, dass sie ihre eigene Voraussetzungslosigkeit und prinzipielle Unmöglichkeit anerkennt, begrüßt, symbolisch in ihr Zentrum stellt und sich so gesellschaftlichen und politischen Konflikten gegenüber zugänglich zeigt. Die erste Bedingung dafür wie Konsequenz daraus ist die Existenz einer aktiven und im oben entwickelten Verständnis tugendhaften Bürgerinnenschaft: „Ihr werdet alles haben, wenn ihr Bürger bildet; tut ihr es nicht, werdet ihr allenfalls Sklaven haben, angefangen bei den Staatsoberhäuptern“1378. Daher brauche es die Erziehung zur Bürgerin von Kindesbeinen an, so dass sie ihre „Einzelperson nie an-

1375 Riley, Patrick: Rousseaus General Will. S. 124 - 153. 1376 Balibar, Étienne: Gleichfreiheit. S. 236. 1377 Böckenförde spricht eigentlich vom „freiheitlich säkularisierten Staat“. Vgl.: Böckenförde, Ernst Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt am Main 1976. 1378 EP, S. 245.

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ders als gemäß ihren Verhältnissen zum Staatskörper (…) betrachten und ihr eigenes Dasein sozusagen nur als Teil des seinigen (ansehen)“, so dass sie sich letztlich mit dem Staat identifizieren, „sich als Glieder des Vaterlandes (…) fühlen und es mit jenem auserlesenen Gefühl (…) lieben (kann), welches der vereinzelte Mensch nur für sich selbst hat“.1379 Diese Identifikation mit „dem Staat“, das dürfte deutlich geworden sein, zielt nicht auf eine totalitäre Identität mit einem stahlharten Institutionengehäuse und der jeweiligen Gruppe am Ort der Macht. Im Gegenteil identifiziert sich eine idealtypische Bürgerin mit einer politischen Gemeinschaft über deren abstrakte aber erfahrbare Prinzipien, die aber niemals allgemeingültig zu bestimmen sind. Daher verstand Rousseau die öffentliche Erziehung „nach Regeln, welche die Regierung vorgeschrieben hat und unter obrigkeitlichen Personen, welche der Souverän eingesetzt hat“ als einen der „Hauptgrundsätze einer gemeinherrschenden oder rechtmäßigen Regierung“1380. Die Letztverantwortung liegt dabei immer beim Souverän, wie im Fall der Gesetzgebung wird er auch die Maßnahmen der öffentlichen Erziehung wachsam begleiten und gegebenenfalls kritisieren und reformieren, vorausgesetzt man hat es mit einer kritischen politischen Bürgerinnenschaft zu tun, die zu gewährleisten „die Frage der Politik“ sein muss, wie Rousseau sie im Anschluss an den Contrat Social diskutierte. IV. 3. Die Frage(n) und Antworten der Politik: Die Verfassungsschriften IV. 3. 1. Ein Kampf gegen Windmühlen Rousseaus berühmter Brief an D´Alembert, mit dem er den Vorschlag der Errichtung eines Theaters in seiner Heimatstadt Genf kommentierte und der ihm den Ruf einbrachte, ein rückwärtsgewandter Romantiker und Feind der Aufklärung zu sein, kann vor dem Hintergrund der hier vorgeschlagenen Interpretation Rousseaus auch als Kommentar zu den Maßnahmen verstanden werden, den Risiken für die Freiheit in modernen Gemeinwesen entgegenzuwirken. Dann wäre der Brief als eine Art Scharnier zwischen dem Contrat Social und den auf diesen folgenden Verfassungsschriften und damit zwischen Rousseaus Beschäftigung mit dem Politischen und der Politik anzusehen. Die Kritik am Theater ist dann nur die 1379 EP, S. 246. 1380 EP, S. 247.

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Oberfläche, die Rousseau die Gelegenheit bot, über die Möglichkeiten einer politischen Erziehung im Dienste des Erhalts und der Ausweitung der Freiheit nachzudenken. Rousseau kannte grundsätzlich drei Wege, Einfluss auf die Sitten eines Volkes zu nehmen, „die Macht der Gesetze, die Herrschaft der Meinung und die Reizung des Vergnügens“. Alle drei kämen im Theater jedoch nicht zur Geltung.1381 An diesem kritisierte er, dass es „Zeitvertreib“ sei und den Bürger nicht nur in die Passivität, sondern letztlich sogar in die Isolation treibe: „Man glaubt, sich zum Schauspiel zu versammeln, dort aber trennt sich jeder von jedem“1382. Dabei lehnte er nicht das Schauspiel an sich ab, ließen sich aus diesem doch mitunter „angenehme und nützliche Lehren für alle Lebenslagen ableiten“1383. Jedoch habe das Theater bei weitem nicht die ihm oft zugeschriebene Macht, Meinungen und Sitten zu ändern, sondern könne diese bestenfalls befolgen und ausschmücken, also reproduzieren.1384 Das Theater, so lässt sich Rousseau hier verstehen, ist keinesfalls als progressive Kraft oder gesellschaftskritische Institution anzusehen, sondern stützt den common sense (und damit bestehende politische Ungleichheiten) eher, als dass es ihn zu ändern vermag. Somit ist es als Mittel der politischen Erziehung wie Rousseau sie sich vorstellte nicht zu gebrauchen. Die „Wirkungen auf das Volk“1385 durch das Theater bestünden lediglich darin, diejenigen Leidenschaften zu läutern, die man ohnehin nicht habe und die zu schüren, die man eh schon besitze.1386 Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist Rousseaus Diskussion von Molières Menschenfeind. Diesen bezeichnete er als einen prinzipiell guten Mann, der jedoch die Sitten seines Jahrhunderts und die Bosheiten seiner Zeitgenossen verabscheute und der gerade weil er seinesgleichen liebte, bei diesen das Böse, dass sie sich gegenseitig zufügten, und die Laster, aus denen dieses Böse entsprang, hasste. „Wäre er denn selber menschlicher, wenn die Irrtümer der Menschen ihn weniger ergreifen, die Ungerechtigkeiten, die er sieht, weniger empören würden?“1387 Der Menschenfeind kämpft also gegen einen seiner Ansicht nach verrohten Zeitgeist an, der

1381 1382 1383 1384 1385 1386 1387

Rousseau, Jean-Jacques: Brief an D´Alembert. S. 354. Ders. S. 348. Ders. S. 349. Ders. S. 351. Ders. S. 349. Ders. S. 354. Ders. S. 370.

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sich allerdings als „normal“ etabliert und damit die Grenzen des Sag-, Denk- und Machbaren abgesteckt hat. Genau deswegen ist der Menschenfeind also „nicht Feind der Menschen, sondern der Schlechtigkeit der einen und der Unterstützung, welche diese Schlechtigkeit bei den anderen findet“. Der wirkliche Menschenfeind sei doch viel eher der, der „mit allen gut Freund ist, der, immer von allem entzückt, pausenlos die Bösen ermutigt und mit seiner verwerflichen Gefälligkeit den Lastern schmeichelt, aus denen alle Missstände der Gesellschaft entstehen“1388. Soziale Missstände also auch gegen einen mächtigen Zeitgeist anzuprangern, wie er sich über Forderungen nach tugendhaftem Verhalten gerne lustig macht, trotz allgemeinen Spotts und der Vorwürfe der Mehrheit Vorschläge für ein freies und gleichberechtigtes Miteinander zu machen, das ist der Anspruch, den Rousseaus Überlegungen zur Politik gewidmet waren. Dies mag „unbequem“1389 sein, das ist nun aber mal die Bürde der modernen Freiheit. Diese zu tragen ist alternativlos, will man ihre Früchte genießen. Rousseau schrieb damit gegen eine Gesellschaft an, welche diejenigen als ehrenhaft auszeichnet, die „immer mit jedermann zufrieden sind, weil sie sich um niemanden Gedanken machen, die am gut gedeckten Tisch behaupten, es sei nicht wahr, dass das Volk hungere, die es mit gut gefüllter Tasche für sehr übel halten, dass man sich für die Armen erklärt, die es aus ihrem wohl verwahrten Haus mit ansehen würden, wie gestohlen, geplündert, gemordet und das ganze Menschengeschlecht hingeschlachtet wird, vorausgesetzt, Gott hat sie mit einer sehr lobenswerten Sanftmut im Ertragen der Leiden anderer ausgestattet“1390. Er illustrierte dies mit der Geschichte jenes Mannes, der sein Bett nicht verlassen will, obwohl es im ganzen Haus brennt. „Was geht mich das an?“ antwortete dieser, darauf aufmerksam gemacht, „ich bin nur der Mieter“. Erst als das Feuer bis zu ihm gelangt, beginnt er zu begreifen, „dass wir uns manchmal für das Haus, das wir bewohnen, interessieren müssen, auch wenn es uns nicht gehört“1391. Gegen die Grundsätze der allgemeinen „Moral der Welt“ sei es also trotz allem besser, eine gerechte Sache zu verlieren, als eine schlechte zu gewinnen.1392 Der Kampf gegen oder besser um den common sense, gegen die Windmühlen des Zeitgeistes, mochte für Rousseau also ein

1388 1389 1390 1391 1392

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Ders. S. 371. Ebd. Ders. S. 372. Ders. S. 375. Ders. S. 377.

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Kampf auf verlorenem Posten sein, dennoch plädierte er aber dafür, ihn als alternativlos an- und aufzunehmen. Der permanente Kampf um die Verteidigung der Freiheit, ohne dass dieser jemals in einem „letzten Gefecht“ endgültig gewonnen werden könnte, ist der Wesenskern der politischen und damit bürgerlichen Freiheit in Rousseaus Theorie, der einer Sysiphos-Aufgabe gleichkommen mag, dennoch (oder gerade deswegen) aber unbedingt gekämpft werden muss. IV. 3. 2. Der Sturm auf die öffentliche Meinung Anstatt Rousseau als Befürworter einer republikanischen Gesetzesherrschaft zu verstehen, wurde oben bereits dafür plädiert, in ihm eher einen Vertreter einer Gesetzgebungsherrschaft mit dem Ziel der affektiven Bindung der Bürgerinnen an das Gemeinwesen und an dessen Verteidigung gegen alle Versuche der Schließung zu sehen. Dies setzt dann eine permanente Kritik an den jeweils geltenden konkreten Gesetzen als temporärer Ausdruck eines vermeintlichen Gemeinwillens voraus, was wiederum die Existenz einer wachen und aktiven Bürgerinnenschaft zur Bedingung hat. Eine solche kann nun nicht per Gesetz geschaffen oder per Dekret gewährleistet, sondern muss mittels der öffentlichen Meinung hergestellt und auf Dauer gestellt werden. Auch für den Kampf um den common sense, welcher letztlich der Schaffung von Kontingenzbewusstsein, Kontingenztoleranz und Kontingenzaffirmation Vorschub leisten soll, kann der bloßen Existenz von Gesetzen noch keine hervorgehobene Bedeutung zukommen. Vielmehr stehen Sitten und Gesetze in einem sich gegenseitig bedingenden Verhältnis: „Wenn bisweilen die Gesetze einen Einfluss auf die Sitten haben, so deshalb, weil sie aus ihnen ihre Kraft beziehen. Die Gesetze geben dann den Sitten diese selbe Kraft in einer Art von Reaktion zurück, die wahren Politikern gut bekannt ist“. Aus sich selbst heraus können Gesetze also keine eigene Wirkung entfalten. Der Aufruf der Spartaner etwa, Gesetze nicht einfach nur zu befolgen, sondern sie zuerst zu lieben, zeige „den Geist der spartanischen Verfassung, (der) die Gesetze und Sitten im Herzen der Bürger so innig verband, dass sie dort sozusagen ein und denselben Leib bildeten“1393. Gesetze müssen wie alle Institutionen mit Leben gefüllt und dafür an die Leidenschaften der Menschen angeschlossen wer-

1393 Ders. S. 401.

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den, um Wirkung zu entfalten. Da Sparta jedoch kein Modell für moderne Gesellschaften sein könne, müsse in diesen eben über die „öffentliche Meinung“ versucht werden, Einfluss auf die allgemeinen Sitten zu nehmen.1394 Dafür seien eben aber „weder Gesetze, noch Strafen, noch andere Zwangsmaßnahmen“ geeignet, da sie die Ursachen der Sitten unangetastet ließen.1395 Nichts hingegen sei „von der höchsten Gewalt unabhängiger (…), als das Urteil der Öffentlichkeit“. Jedoch werden „weder Vernunft, noch Tugend, noch Gesetze (…) die öffentliche Meinung überwinden, solange man die Kunst, sie zu ändern, nicht kennt“1396. Diese Kunst nun hat für Rousseau nichts mit Sanktionen, Drohungen und Gewalt zu tun, die öffentliche Meinung kann nicht einfach per Dekret geändert werden: „Die Meinung, die Königin der Welt, ist der Macht der Könige nicht unterworfen; sie selber sind ihre ersten Sklaven“1397. Sind die allgemeinen Sitten also einmal festgesetzt, entzögen sie sich zwangsläufig dem Zugriff der Mächtigen. So habe keine Regierung der Welt die Macht, diese zu verändern, ohne sich dabei selbst zu verändern. „So schwer es (aber) ist, die öffentliche Meinung zu lenken, so beweglich und veränderlich ist sie doch aus sich selbst. Der Zufall, tausend unvermutete Ursachen, tausend unvorhersehbare Umstände erreichen, was Gewalt und Vernunft nicht erreichen könnten, oder vielmehr eben weil der Zufall die öffentliche Meinung regiert, vermag Gewalt nichts über sie“1398. Nun wusste Rousseau aus seinen Machiavelli-Lektüren, dass dem Zufall niemals endgültig beizukommen ist, ihm lässt sich jedoch wenigstens zu einem gewissen Teil begegnen beziehungsweise dieser sich in gewisser Weise durch die Politik einhegen. Rousseau identifizierte dafür die Gemeinschaft der Bürgerinnen als den Ort, an dem durch die Politik Einfluss auf die öffentliche Meinung genommen werden muss: „Die Bürger eines Staates, die Bewohner einer Stadt sind keine Einsiedler, sie können nicht immer allein und getrennt voneinander leben, und selbst wenn sie es könnten, dürfte man sie nicht dazu zwingen. Nur der furchtbarste Despotismus erschrickt beim Anblick von sieben oder acht Männern, weil er immer fürchten muss, dass ihre Gespräche sich nur um ihr Unglück drehen“1399. Der Vorwurf, Rousseau habe

1394 1395 1396 1397 1398 1399

416

Ders. S. 402. Ders. S. 409. Ders. S. 403f. Ders. S. 408. Ders. S. 409. Ders. S. 444.

IV. 3. Die Frage(n) und Antworten der Politik: Die Verfassungsschriften

ein totalitäres Erziehungsprogramm entwerfen wollen, ist demnach nicht haltbar: „Will man etwa aus einer ganzen Stadt ein Volk von fehlerlosen und in jeder Hinsicht besonnenen Menschen machen?“ Natürlich sei es grundsätzlich begrüßenswert, wären alle Menschen aufrichtig und vernünftig, denn „alles was moralisch böse ist, ist auch politisch böse. Aber der Prediger beschränkt sich auf das Böse im Persönlichen, der Beamte sieht nur die öffentlichen Folgen“1400. Rousseau anerkannte also sowohl eine Sphäre des Privaten, als er auch insofern Wort hielt, wie vor ihm Machiavelli die Menschen so zu nehmen, wie sie sind. Keinesfalls beanspruchte er die Schaffung eines „neuen Menschen“, Staat, Regierung und politische Erziehung haben auch bei Rousseau in Fragen privater Meinungen und individueller Lebensentwürfe zunächst nichts zu suchen. Für Rousseau war nicht alles per se politisch, jedoch konnte prinzipiell alles politisch werden. Die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit können vom Souverän festgelegt werden, sobald diese Grenze also verschoben und etwas zuvor Privates öffentlich relevant wurde, war dies aus Rousseaus radikaldemokratischer Perspektive ein legitimer, weil eben souveräner Akt. Hier setzte seine öffentliche Erziehung als eine explizit politische Erziehung an. Wo der Priester die Vollkommenheit des Menschen zum Ziel habe, wie sie der Mensch nie erreichen könne, ziele der Beamte auf das Wohl des Staates, „soweit er es erreichen kann“. Dabei dürfe also bei weitem nicht alles, „was man mit Grund von der Kanzel tadelt, durch Gesetze bestraft werden“1401 Es gehe nicht darum, „eine chimärische Vollkommenheit“ anzupeilen, sondern das „nach der Natur des Menschen und der Verfassung der Gesellschaft Bestmögliche“1402 zu erreichen. Als eine solche Chimäre verstand er zum Beispiel einen „Menschen ohne Leidenschaften“1403, wie ihn das liberale Paradigma behauptet oder als Prämisse seiner Politik voraussetzt. Alle Vorschläge zur politischen Erziehung müssten für Rousseau jedoch die affektiven oder emotionalen Komponenten der Politik mit in ihre Überlegungen einbeziehen.1404 An diesem Punkt rücken die öffentlichen Feste ins Blickfeld, sie sah Rousseau als das geeignete Mittel an, „die sanften Bande des Vergnügens und der Freude zu

1400 1401 1402 1403 1404

Ders. S. 445f. Ders. S. 446. Ders. S. 447. Ders. S. 453. Siehe dazu Heidenreich, Felix/ Schaal, Gary S. (Hrsg.): Politische Theorie und Emotionen. A.a.O.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

knüpfen“1405. Diese Form öffentlicher Schauspiele unterscheide sich radikal von den „sich abschließenden Schauspiele(n) (…), bei denen eine kleine Zahl von Leuten in einer dunklen Höhle trübselig eingesperrt ist, furchtsam und unbewegt in Schweigen und Untätigkeit verharrend“. Dagegen plädierte er dafür, sich „in frischer Luft und unter freiem Himmel“ zu versammeln. „Was werden aber die Gegenstände dieses Schauspiels sein? Was wird es zeigen? Nichts, wenn man will. Mit der Freiheit herrscht überall, wo viele Menschen zusammenkommen auch die Freude. Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit Blumen bekränzten Baum auf, versammelt dort das Volk, und ihr werdet ein Fest haben. Oder noch besser: stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern, sorgt dafür, dass ein jeder sich im anderen erkennt und liebt, dass alle besser miteinander verbunden sind“.1406 Rousseau lässt also den eigentlichen Anlass für ein solches Fest bewusst unbestimmt, da er letztlich egal ist. Wichtig ist, dass die Bürger eines Gemeinwesens in unmittelbaren Kontakt zueinander treten, sich in einem die individuellen Leidenschaften und Emotionen ansprechenden Rahmen begegnen, Gemeinschaft und Gemeinsamkeit erfahren und diese Begegnungen zur Ausbildung kollektiver Leidenschaften und eines stabilen Gemeinschaftsgefühls führen. Nach dem Vorbild antiker griechischer Stadtstaaten wollte Rousseau öffentliche Wettbewerbe etablieren, da jedes Volk nicht nur leben, sondern angenehm leben soll, damit es seine Pflichten besser erfüllen kann und dadurch die „öffentliche Ordnung sicherer besteht“. Dies könne nur dann gewährleistet werden, „die Grundlage des Staates ist nur dann fest und gut, wenn alle sich am rechten Platz fühlen, wenn die einzelnen Kräfte sich vereinen und um das gemeinsame Wohl wetteifern, anstatt sich gegenseitig aufzureiben (…). Wollt Ihr ein Volk tätig und fleißig machen? Gebt ihm Feste, bietet ihm Vergnügen, die es seinen Staat lieben lehren und es davon abhalten, sich einen milderen zu wünschen“1407. Den Staat lieben zu lernen, bedeutete nicht, den Regierungen blinden Gehorsam zu schulden, ganz im Gegenteil. Staat bezeichnet hier allgemein das Ensemble von Institutionen, Traditionen, Geschichte, Kultur und Gemeinschaft, das prinzipiell gegen jede dauerhafte Besetzung durch die Machthaber verteidigt werden soll, eben weil man sich dem Gemeinwesen und den Mitmenschen auch emo-

1405 Rousseau, Jean-Jacques: Brief an D´Alembert. S. 462. 1406 Ebd. 1407 Ders. S. 463.

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IV. 3. Die Frage(n) und Antworten der Politik: Die Verfassungsschriften

tional verbunden fühlt und dieses nicht dem freien Spiel der Mächtigen überlassen möchte. Daher spielt der konkrete Grund oder Anlass der Feste eben auch keine so große Rolle, wichtig ist, dass die Leidenschaften der Menschen angesprochen und diese in eine erlebbare Beziehung zueinander gebracht werden. Aufgrund des rein immanenten Charakters der öffentlichen Feste können diese als Ergänzung zu Rousseaus Diskussion der Zivilreligion im Contrat Social gelesen werden. Auch ihr Zweck besteht dann in der Bewusstmachung und Gewährleistung der Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags. Daher entwarf Rousseau keine konkreten Rituale oder Vorschriften, sondern formulierte vielmehr allgemeine Prinzipien, welche die Ausbildung einer politischen Bürgerinnenschaft befördern sollen. Als eine solche würden die Bürgerinnen letzten Endes mit den Ungewissheiten der Demokratie nicht nur irgendwie zurechtkommen, sondern Offenheit und Unbestimmtheit als Bedingung ihrer Freiheit wertschätzen und um jeden Preis verteidigen wollen. Jeder Versuch, diese aus der Welt zu schaffen, tendiert dazu, die Freiheit mehr einzuschränken. „In der Absicht, alles zu reglementieren“, stößt man für Rousseau nämlich die erste aller Regeln um, „die Gerechtigkeit und das allgemeine Wohl. Wann werden die Menschen einmal einsehen, dass es keine verderblichere Unordnung gibt, als die willkürliche Gewalt, mit welcher sie dem Übel vorzubeugen glauben? Diese Gewalt ist selbst die schlimmste aller Unordnungen, und ein solches Mittel anwenden, um diesen zu begegnen, heißt ebensoviel, wie die Leute töten, damit sie nicht das Fieber bekommen“1408. Man kann sich gegen die Unwägbarkeiten der Demokratie nicht absichern, die Hingabe an eine vermeintlich neutrale friedensstiftende und Sicherheit gewährende Instanz ist ein gefährlicher Trugschluss. Als konkreten Vorschlag formulierte Rousseau dann zum Beispiel, die Einwohner eines Ortes insofern an diesen zu binden, als man ihnen ermöglicht, dort einer Erwerbstätigkeit nachzukommen.1409 Dies sind durchaus Überlegungen, wie sie sich für die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen moderner Gesellschaften fruchtbar machen ließen. Zwar würden sich solche Forderungen wohl schnell dem Vorwurf der Romantisierung und Rückwärtsgewandtheit ausgesetzt sehen, was ja umgekehrt aber zunächst auch nur zeigt, dass sie quer zum herrschenden neoliberalen Ideal der Flexibilität und Mobilität

1408 Rousseau, Jean-Jacques: Briefe vom Berge: Siebter Brief. S. 436. 1409 DA, S. 469f.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

stehen, welches selber ja alles andere als selbstverständlich, sondern eben das Ergebnis erfolgreicher hegemonialer diskursiver Strategien ist.1410 IV. 3. 3. Die Bedingung der Freiheit - Volkes Stimme gegen das „Geschrei der Macht“ Die erste Aufgabe der Politik ist also die Schaffung einer tugendhaften und wachsamen aktiven Bürgerinnenschaft im Dienst der Erhalt und der Ausweitung der Freiheit im Gemeinwesen. Eine solche ruhte für Rousseau dabei immer auf der Übereinkunft der Mitglieder dieser Gemeinschaft, denn „welche sicherere Grundlage kann die Verbindlichkeit unter Menschen haben als den freien Willen dessen, der sich verpflichtet. Man kann über jeden anderen Grundsatz streiten, nur nicht über diesen“, den Rousseau als „Bedingung der Freiheit“ versteht.1411 Der Erhalt der Freiheit ist das Ziel allen tugendhaften, also kritischen und nötigenfalls auch widerständigen Handelns, bei gleichzeitiger affektiver Bindung an die Institutionen und das Gemeinwesen. Ermöglicht wird die Freiheit durch die Widersprüche zwischen Symbolischem und Realem, konkret zwischen der Gesetzgebung der Regierenden und deren Prüfung, Kritik und Abgleich mit dem Gemeinwillen durch den Souverän: „Die ganze Schwierigkeit liegt hier in der Auslegung der Tatsachen. Die Bürger sagen, dass es geschehen ist (dass das Gesetz übertreten wurde; MO), die Obrigkeit verneint es“1412. In Ermangelung einer obersten Schiedsinstanz in der Politik, Rousseau sprach von einem „oberstem Richter“, wozu alle metaphysischen oder transzendentalen Prinzipien wie Natur, Religion oder Vernunft gezählt werden können, lässt sich gerade in Gerechtigkeitsfragen nie letztgültig feststellen, wer Recht hat, was das „Offenkundige“ ist, und „Wahrscheinlichkeiten (…) sind keine Beweise“. Aber: „Wenn beim Vergleich bekannter Tatsachen mit den Gesetzen eine Anzahl Bürger behauptet, dass Ungerechtigkeit vorliege, und die Obrigkeit, die dieser Ungerechtigkeit beschuldigt wird, behauptet, es sei nicht der Fall: wer soll dann Richter

1410 Solche Überlegungen finden sich zum Beispiel bei Barber, Benjamin: Coca Cola und heiliger Krieg. Wie Kapitalismus und Fundamentalismus Demokratie und Freiheit abschaffen. Bern/München/Wien 1996. 1411 Rousseau, Jean-Jacques: Briefe vom Berge: Sechster Brief. S. 145f. 1412 Rousseau, Jean-Jacques: Briefe vom Berge: Achter Brief. S. 456.

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IV. 3. Die Frage(n) und Antworten der Politik: Die Verfassungsschriften

sein, wenn nicht die aufgeklärte Öffentlichkeit (…)?“1413 Was daher ein Privatmann für sein Privatinteresse nicht leisten könne, könnten alle um des gemeinsamen Interesses Willen, denn da „jede Übertretung des Gesetzes eine Verletzung der Freiheit ist, so wird sie eine öffentliche Angelegenheit, und wenn die Stimme der Öffentlichkeit sich erhebt, so muss die Klage vor den Souverän gebracht werden“1414. In letzter Konsequenz formulierte Rousseau hier also das Recht auf Widerstand gegen die Regierung aus, auch wenn „hier weder die Rede von Aufruhr, noch von Gewalttätigkeit“ ist. Es sei zudem „nicht die Rede von den mitunter nötigen, aber immer schrecklichen Hilfsmitteln, die man Euch sehr weislich untersagt hat, nicht weil ihr sie jemals missbraucht hättet, da ihr im Gegenteil nur in der äußersten Not euch derselben bedient habt, einzig um euch zu verteidigen, und stets mit einer Mäßigung, die euch vielleicht das Recht auf Waffengewalt hätte erhalten können, wenn nur jemals ein Volk es ohne Gefahr haben könnte“. Gleichzeitig sei die Öffentlichkeit aber eben eine Körperschaft, die „alle ihre Rechte, alle ihre Privilegien bewahrt und immer den vornehmsten Teil des Staates und des Gesetzgebers ausmacht (…). Außer dem Gesetz gibt es keine Autorität (…) (und) die Autorität des Gesetzes, das von ihnen (der Obrigkeit; MO) übertreten wird, fällt wieder an den Gesetzgeber zurück“. Dass in der „äußersten Not (…) alles erlaubt (ist)“, hielt Rousseau also nicht für ratsam, er stritt den Wahrheitsgehalt dieser Aussage jedoch auch nicht ab, wenngleich er auch dringend vom Gebrauch von Gewaltmitteln abriet.1415 Festzuhalten ist, dass die Volkssouveränität angesichts der Abwesenheit der letzten Grundlagen der Gewissheit die einzig Legitimationsquelle für jede politische Entscheidung sein kann und bleiben muss. Dem Widerstand als letzter Absicherungen der Freiheit, zog Rousseau also sicher institutionelle Lösungen jederzeit vor, wie er sie etwa mit der „Versammlung von Bürgerkompanien (…) an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten“ und der Sendung von Deputierten durch diese Bürgerinnenversammlungen vorschlug.1416 Die Abgesandten handelten dabei im Interesse und als Vertreterinnen der Bürgerinnen und hätten sich folglich nicht mit der Einbringung von neuen Gesetzen, sondern mit der Überwachung bestehender zu befassen. Sie schafften dabei keine Missstände

1413 1414 1415 1416

Ders. S. 457. Ders. S. 458. Ders. S. 459f. Ders. S. 462.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

ab (dies sei Aufgabe der Exekutive), sondern machten diese als solche sichtbar, „ihre Meinung ist immer nur eine Petition“, also kein direkter Gesetzesakt.1417 Dies machte Rousseau am Beispiel Genfs deutlich: „Um also dieses Aufhebungsedikt zu erzwingen, bediente man sich des Schreckens, der Überraschung und wahrscheinlich auch des Betruges, und zum mindesten wurde gewiss das Gesetz verletzt. Man urteile nun, ob diese Eigenschaften sich mit denen eines geheiligten Gesetzes, wie man es zum Schein nennt, vertragen“1418. Er wusste um die Scheinhaftigkeit „geheiligter Gesetze“, schlussfolgerte daraus aber nicht die Notwendigkeit derer Abschaffung, sondern gab selbst ein Beispiel für eine gegenhegemoniale Strategie: „Dem Gesetzgeber, dem Verfasser der Gesetze kommt es zu, dessen Ausdrücke nicht zweideutig zu lassen. Wenn sie es aber sind, so muss die Rechtschaffenheit der Obrigkeit ihren Sinn in der Ausübung bestimmen. Hat das Gesetz verschiedene Bedeutungen, so bedient sie sich ihres Rechts, wenn sie diejenige vorzieht, die ihr gefällt; allein, dieses Recht erstreckt sich nicht so weit, dass sie sogar den buchstäblichen Sinn der Gesetze ändern und ihnen einen Sinn geben darf, den sie nicht haben. Sonst gäbe es kein Gesetz mehr“. Nur so würde einer Interpretation aus Eigennutz und Leidenschaft heraus vorgebeugt.1419 Die Gesetze sind also der in letzter Konsequenz immer zum Scheitern verurteilte Versuch, dem Gemeinwillen eine positive Ausdrucksform zu geben und das Gemeinwohl herbeizuführen. Das Volk muss daher stets prüfen, ob dies der Regierung gelungen ist, wobei Zustimmung schweigend vonstattengehen kann oder umgekehrt Schweigen als Zustimmung gedeutet werden muss. Nur das dauerhafte Schweigen des Souveräns war Rousseau verdächtig und stellte ein Problem dar, keinesfalls war er für den permanenten Tumult zu begeistern. Die für ein so verstandenes demokratisches Handeln nötige Motivation sah Rousseau dabei ganz ähnlich Tocqueville aus einer Art wohlverstandenem Eigeninteresse heraus resultieren: „Es muss jeder seinen eigenen Vorteil in den öffentlichen Angelegenheiten gefährdet sehen, ehe er sich entschließen kann, sich in sie einzumischen“1420. Nicht die Interessenidentität, sondern deren Differenz ist also die erste Bedingung der Gemeinschaft und deren tugendhaften freiheitsfördernden Handelns. Vom Gemeininteresse unterschiedene Sonderinteressen sind dabei nicht nur le-

1417 1418 1419 1420

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Ebd. Ders. S. 466. Ders. S. 469f. Ders. S. 471.

IV. 3. Die Frage(n) und Antworten der Politik: Die Verfassungsschriften

gitim, sondern letztlich eine der wesentlichen Bedingungen des Kampfes gegen Unfreiheit, der ein leicht aufzuwiegelndes Volk von Bürgerninnen, welches sich vor die Interessen anderer wie vor die eigenen spannen ließe, deutlich stärker ausgeliefert wäre. Oft fänden Ungerechtigkeit und Betrug ihre Verteidiger, niemals aber sei die Öffentlichkeit auf ihrer Seite, weshalb Rousseau in der Stimme des Volkes das Pendant zu „Gottes Stimme“ sah. Unglücklicherweise sei diese geheiligte Stimme aber gegen das „Geschrei der Macht“ tendenziell nur schwach ausgebildet, so dass die Klage der unterdrückten Unschuld sich nur in einem Murren Luft verschaffe, welches von der Tyrannei leicht missachtet würde. „List, Vorurteil, Eigennutz, Furcht, Hoffnung, Eitelkeit, ein täuschender Anstrich, ein Schein von Ordnung und Ergebenheit: all dies ist etwas für geschickte Männer, die Autorität haben und die Kunst verstehen, das Volk zu hintergehen“. Um die Bürgerinnen vor solcher Manipulation zu bewahren, brauche es daher „die Stütze der Gesetze, die Billigkeit, die Wahrheit, die Evidenz, (den) Gemeinsinn, die Sorge für die Privatsicherheit, alles, was die Menge mitreißen müsste.1421 Es sind dabei vor allem die „Erklärungen, welche man (die Oligarchie; MO) sich untersteht, (den) Gesetzen zu geben“1422, welche laut Rousseau das Volk empören müssten, also die Behauptung der Identität von Gemeinwillen und dem Partikularwillen der Regierung, die bewusste Irreführung des Volkes mittels der eindeutigen Auflösung der in den Gesetzen prinzipiell und notwendig angelegten Mehrdeutigkeiten. Diese erlaubten es jeder Oligarchie, die eigene Machtposition mit Verweis auf das Gemeinwohl zu legitimieren und damit auf Dauer zu stellen. Gesetze sind nie frei von Widersprüchen und Zweideutigkeiten und können dies auch gar nicht sein, sind sie doch eben die vorläufigen Versuche von Feststellungen und Konkretisierungen abstrakter Prinzipien. „Da im Übrigen die Gesetze zu verschiedenen Zeiten gemacht wurden und das Werk von Menschen sind, so darf man darin keine Ordnung suchen, die ohne jeden Fehler, und keine Vollkommenheit, die ohne Mängel wäre. Es genügt, dass, wenn man das Ganze überdenkt und die Artikel vergleicht, man darin den Geist des Gesetzgebers und die Gründe der Anlage seines Werkes erkennt“1423. Gesetze sind also immer und notwendig Deutungskämpfen unterworfen und sollen dies auch sein. Sie bekommen ihren Sinn im demokratischen Handgemenge zugeschrieben, sie sind symbolisch gespro1421 Ebd. 1422 Ders. S. 472. 1423 Ders. S. 474.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

chen der Kampfplatz, auf dem das Volk seine Stimme erheben und dem Geschrei der Macht Paroli bieten soll. IV. 3. 4. Im demokratischen Handgemenge Die Schaffung einer tugendhaften Bürgerinnenschaft verstand Rousseau als praktische Aufgabe der Politik und nicht als reine Angelegenheit einer vermeintlich praxisfernen Theorie. Den Wissenschaften misstraute er bereits seit dem ersten Diskurs, ihnen unterstellte er, den Interessen der Herrschenden dienlicher zu sein, als dem Erhalt und der Ausweitung der Freiheit: „Man durchstöbert gelehrt die Dunkelheit der Jahrhunderte und führt euch großsprecherisch unter allen Völkern des Altertums spazieren, führt euch nacheinander Athen, Sparta, Rom und Karthago vor, wirft euch lybischen Sand in die Augen, um euch zu hindern, das zu sehen, was um euch herum vorgeht“1424. Man müsse hinter allen Äußerungen, Entscheidungen und Änderungen der Machthaber, seien sie oberflächlich betrachtet auch noch so geringfügig, eine verborgene Strategie der Machthaber vermuten, und sei es die Entscheidung der Ratsmitglieder, „den Rat zukünftig mit dem linken, statt dem rechten Fuß zu betreten“1425. Konkret hatte Rousseau dabei die Genfer Obrigkeit im Blick, welche die Formen der Verfassung dazu benutzt habe, diese unter der Oberfläche ihrer formellen Beibehaltung grundlegend zu ihren Gunsten zu verändern.1426 Dass der Geschichte als Herrschaftsinstrument eine bedeutsame Rolle zukommt, hatte Rousseau ebenfalls bereits in den Diskursen diskutiert. Er warnte daher vor aller rhetorischen Verblendung und Ablenkung, etwa durch Bezüge auf historische Entwicklungen und traditionelle Vorbilder: „Die alten Völker sind für die neuen kein Vorbild mehr; sie sind ihnen in jeder Hinsicht fremd geworden. Vor allem aber, ihr Genfer, bleibt an eurem Platz und jagt nicht nach den erhabenen Gegenständen, die man euch vorführt, damit ihr den Abgrund überseht, den man vor euren Füßen gräbt. Ihr seid weder Römer noch Spartaner, ja nicht einmal Athener. Lasst alle diese großen Namen, die euch nicht kleiden; ihr seid Kaufleute, Handwerker, Bürger, die immer mit ihrem Privatinteresse, ihrer Arbeit, ihrem Handel,

1424 Ders.: Briefe vom Berge: Neunter Brief. In: Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981. S. 477 - 506, hier S. 479. 1425 Ders. S. 481. 1426 Ders. S. 488.

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IV. 3. Die Frage(n) und Antworten der Politik: Die Verfassungsschriften

ihrem Gewinn beschäftigt sind, Leute, für die die Freiheit selbst nur ein Mittel ist, um ohne Hindernisse etwas zu erwerben und in Sicherheit besitzen zu können. Diese Lage erfordert für Euch eigene Maximen“1427. Die Bürgerinnen sollen also wachsam gegenüber dem Missbrauch der Regierungsgewalt und gegenüber allen freiheitseinschränkenden Tendenzen sein und jederzeit die Möglichkeit haben und notfalls auch ergreifen, sich in die öffentlichen Angelegenheiten einzuschalten. Wer sich der Aufgabe der Überwachung der Freiheit entledigt, gibt diese über kurz oder lang auf, wer deren Mühe nicht ertrage, könne nur die Ruhe in der Knechtschaft finden.1428 Es gibt keine freiheitsverträgliche Alternative zur Freiheit und diese ist unlösbar geknüpft an die modernen Bedingungen der Unsicherheit, Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit. Natürlich ginge es immer auch darum, ein „unruhiges, müßiges Volk, das zu Umtrieben neigt und (…) allezeit bereit ist, sich in die (Geschäfte) des Staates einzumischen“ im Zaum zu halten. Doch vor allem das Gegenteil, die Beschränkung auf das eigene private Wohlergehen, ist die größte Gefahr für die Freiheit, sehe man doch ansonsten die Ketten, die einem die Obrigkeit anlegt, erst dann, wenn es zu spät ist und man bereits deren Druck spüre.1429 Bürgerinnen, die angesichts von Machtmissbrauch seitens der Herrschenden schweigen, sind das Schlimmste, was Rousseau sich vorstellen konnte. Sein Bürgerinnenideal sah daher keine „unruhige oder aufrührerische“, wohl aber eine „wachsame“, „aufmerksame“, „leicht zu erregende“ und seine Freiheit gegen alle Gefahren verteidigende Bürgerin vor.1430 Die Bürgerinnenschaft war damit die erste Adressatin aller Überlegungen Rousseaus zur Politik. Die Obrigkeit Genfs zum Beispiel kann „das Gesetz sogar im Namen des Gesetzes ungestraft übertreten. Sie kann die Verfassung angreifen unter dem Vorwand, sie zu beschützen, und sie kann jeden, der sie im Ernst zu verteidigen wagt, als einen Rebellen bestrafen“, sie hat sowohl den Willen, als auch die Möglichkeit, ihre Macht absolut auszudehnen und „alles zu erreichen, was sie will“1431. Die Oberhäupter „(…) wollen Gesetze, um sich an ihre Stelle zu setzen und um in ihrem Namen gefürchtet zu werden (…). Sie bedienen sich der Rechte, die sie haben, um sich gefahrlos diejenigen anzumaßen, die sie nicht haben. Da

1427 1428 1429 1430 1431

Ders. S. 489. Ders. S. 491. Ders. S. 490. Ders. S. 496. Ders. S. 498.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

sie immer im Namen des Gesetzes sprechen, selbst dann, wenn sie es verletzen, so behandeln sie jeden, der es zu verteidigen wagt, als einen Aufrührer und Rebellen“1432. Rousseau kritisierte an der Obrigkeit genau das, was Lefort später analog als Charakteristikum totalitärer Herrschaft auszeichnete: Die symbolische Identifikation einer herrschenden Elite mit dem Volk bei gleichzeitiger Verbergung der faktischen politischen Ungleichheiten und damit einhergehend die Verunmöglichung jeder legitimen Sprecherposition „außerhalb“ der behaupteten Einheit von Regierenden und Regierten. Die größte Gefahr der Freiheit gehe dabei von einem „rohen und dummen Pöbel“ aus, welcher anfällig für Demagogie geworden sei und in der Folge auf seine Freiheit verzichte: „Der Reiche hält das Gesetz in seinem Geldbeutel, und der Arme liebt das Brot mehr als die Freiheit“1433. Dies sei vor allem deswegen gefährlich, weil die Strategie der Herrschenden nicht etwa darin bestehe, das Gemeinwohl geradewegs anzugreifen, würde man dadurch schließlich „alle Welt zu seiner Verteidigung aufwecken“. Vielmehr würden alle Verteidiger von vornherein in ihrem Dauerschlaf gehalten: „Redet erst allen ein, dass das öffentliche Interesse niemandes Interesse sei, so ist die Knechtschaft allein dadurch schon eingeführt“.1434 Wenn nun aber der Missbrauch von Macht und Freiheit schon prinzipiell unvermeidlich ist, so Rousseau, „dann ist es besser, dass ein Volk durch seine eigene Schuld unglücklich ist, als dass es durch die Hand eines anderen unterdrückt wird“1435, weswegen kein Weg um die Erziehung zu einer demokratischen Bürgerin herumführt. Gerade weil es in modernen Gesellschaften keine letztgültige metaphysische Instanz mehr gibt, auf die man sich in der Politik berufen oder diese gar gründen kann, muss das Prinzip der Volkssouveränität und dies im Bewusstsein um die Kontingenz am Grunde aller zu treffenden Entscheidungen gewahrt werden. Dabei enthielt sich Rousseau jedoch erneut konkreterer Ratschläge, da diese aus dem jeweils betroffenen Volk selbst kommen müssen.1436 Es kommt also „weniger auf Beratschlagung als auf Einigkeit an, denn die Wahl des Mittels zu dem ihr greifen wollt, ist nicht das Wichtigste: Wäre es auch an sich selbst falsch, so ergreift es nur alle zusammen; schon dadurch wird es sich zum Besten

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Ders. S. 501. Ders. S. 499. Ders. S. 502. Ders. S. 500. Ders. S. 504.

IV. 3. Die Frage(n) und Antworten der Politik: Die Verfassungsschriften

wenden, und ihr werdet immer das tun, was ihr tun sollt, solange ihr es nur gemeinsam tut“1437. Es kann keine a-priori „richtigen“ oder „falschen“, sondern eben nur legitime und illegitime, demokratische oder nicht-demokratische Entscheidungen (oder eben Nicht-Entscheidungen) geben. Diese müssen aber vom Souverän im Bewusstsein um die Kontingenz am Grund aller gesellschaftlichen Phänomene getroffen werden. Daher muss die Politik die Herausbildung und den Erhalt einer aktive Bürgerinnenschaft leisten und dafür den common sense dahingehend beeinflussen, dass die Demokratie als zukunftsoffene und prinzipiell nicht zu bestimmende Regierungs-, wie Gesellschaftsform ebenso Zustimmung findet, wie sie als Epoche der Ungewissheit, Unsicherheit und Kontingenz nicht nur als Bedingung der Möglichkeit, sondern als Garant der Freiheit verstanden und begrüßt wird. IV. 3. 5. Der Verfassungsentwurf für Korsika - Wie bildet man ein Volk gegen die Regierung? Wenn Rousseau vor allem in den Verfassungsentwürfen für Korsika und Polen die Maßnahmen diskutierte, die in der Politik zu ergreifen sind, um eine aktive und kritische Bürgerinnenschaft zu ermöglichen, dann wird hier wohlgemerkt nicht behauptet, dass die Schriften als ein Handbuch zur Gewährleistung radikaldemokratischer Bürgerinnenschaft zu verstehen sind. Vielmehr geht es hier darum, plausible Analogien und Hinweise dafür freizulegen, was sich im Anschluss aus der vorgelegten Interpretation an Antworten Rousseaus für die noch offenen Fragen der modernen radikalen Demokratie gewinnen und dadurch an Anschlussmöglichkeiten Rousseaus an diesen Diskurs aus den Verfassungsentwürfen freilegen lässt. Bereits im Contrat Social adelte Rousseau Korsika als das einzige Land, welches in Europa noch einer guten Gesetzgebung fähig sei und es daher verdiene, dass ein „weiser Mann“ es lehre, seine Freiheit zu bewahren.1438 Im Jahr 1764 bat der Vertreter der korsischen Unabhängigkeitsbewegung, Matthieu Buttafoco, Rousseau mit Verweis auf diese Zeilen um den Entwurf einer Verfassung für Korsika. Rousseau nahm sich der Bitte

1437 Ebd. 1438 OC III, S. 391.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

nach anfänglichem Zögern an, veröffentlicht wurde sein Entwurf jedoch erst im Jahr 1861, in die Wirklichkeit umgesetzt allerdings ebenso wenig, wie die auf Bitten Graf Michal Wielhorskis bis 1772 verfassten Betrachtungen über die Regierung Polens.1439 Obwohl sich in beiden Schriften Querverweise auf den Contrat Social finden, darf angezweifelt werden, dass Rousseau sich wirklich als die Personifikation seines dort diskutierten Législateur verstand.1440 Was nach der hier vorgeschlagenen Lesart unabhängig von Rousseaus Selbstverständnis jedoch strikt abgelehnt werden muss, ist die Behauptung, bei dem Gesetzgeber handle es sich um eine Person mit „gottgleichen Eigenschaften“, die durch ihr Wissen über die wahre Natur des Menschen die zur Gründung einer Gesellschaft nötigen Schritte überblicken und von seiner herausgehobenen Stellung den Gemeinwillen erkennen müsse.1441 Die Gründer politischer Gemeinschaften, darauf ging Rousseau zu Beginn der Betrachtungen über die Regierung Polens erneut ein, sind keine Übermenschen, sondern bestenfalls weitsichtige Männer, die glauben erkannt zu haben, wessen es zur Gründung einer dauerhaften und stabilen freiheitlichen politischen Ordnung bedarf. Ihnen werden aus bestimmten Gründen Eigenschaften zugesprochen, welche ihre Autorität stützten und ihre Handlungen legitimierten. Viel wichtiger hier ist jedoch, dass sich Rousseau in beiden Schriften weniger mit der politischen Dimension der Gründung einer politischen Gemeinschaft, sondern vornehmlich mit der auf der Ebene der Politik anzusiedelnden Frage nach den politischen Institutionen und der politischen Erziehung und deren Rolle für den Erhalt der Freiheit im Gemeinwesen befasste. Explizit interessierte er sich dabei für die Möglichkeit eines freien, glücklichen und tugendhaften Lebens unter Zuhilfenahme der unter

1439 Zum historischen Hintergrund der Verfassungsentwürfe siehe Stelling-Michaud, Sven: Projet de Constitution pour la Corse. In: Rousseau, Jean-Jacques: Œuvres complètes. Band III. S. CXCIX - CCXV. Fabre, Jean Considérations sur le Gouvernement de Pologne. In: Rousseau, Jean-Jacques: Œuvres complètes. Band III. S. CCXVI - CCLV. Vaughan, Charles E.: Introduction. In: Ders. The Political Writings of Jean-Jacques Rousseau. Vol. 2. Oxford 1962. S. 369 - 423. Rousseau, Jean-Jacques: Sozialphilosophische und Politische Schriften. S. 836 872. 1440 Shklar, Judith: Rousseau´s Images of Authority. S. 160. 1441 Herz, Dietmar: Rousseau als Gesetzgeber. Über die Verfassungsentwürfe im Projet de Constitution pour la Corse und den Considérations sur le gouvernement de Pologne. In: Kersting, Wolfgang (Hrsg.). Die Republik der Tugend. S. 147 - 175, hier S. 148.

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IV. 3. Die Frage(n) und Antworten der Politik: Die Verfassungsschriften

korrupten gesellschaftlichen und politischen Bedingungen ausgebildeten menschlichen Eigenschaften.1442 Der Rahmen, innerhalb dessen Rousseau seine Überlegungen zur Politik entfaltete, wurde durch die in modernen Gesellschaften nicht aufzulösende Spannung zwischen den Prinzipien der Freiheit und der Sicherheit sowie den immer drohenden Extrempolen der Anarchie und der Despotie abgesteckt. Auch im Fall Korsikas ging es ihm daher nicht etwa darum, gesellschaftliche Ungleichheiten abzuschaffen und eine homogene, sich selbst transparente und von allen Konflikten befreite Gesellschaftsordnung zu etablieren. Dies ist deshalb hervorzuheben, weil er hier ja die einmalige Möglichkeit hatte, einen konkreten Verfassungsentwurf auf dem Reißbrett zu entwickeln. Wäre er also der proto-totalitäre Denker gewesen, als der er oft hingestellt wird und der Contrat Social entsprechend das Manifest eines solchen Denkens, wo, wenn nicht hier, hätte er es besser in die Tat umsetzen können? Doch ist der Verfassungsentwurf für Korsika, das wird gleich zu Beginn deutlich, ebenso wie der Contrat Social dem Anspruch verpflichtet, das problème fondamental einer freien und zugleich sicheren Existenz innerhalb einer bereits bestehenden politischen Gemeinschaft zu ermöglichen. Erneut ist es die Bedingung der Möglichkeit der Verbindung von Freiheit und Ketten, die Rousseau beschäftigte und seine Überlegungen anleitete. So diskutierte er auch hier die Unmöglichkeit einer einmaligen Einrichtung einer dauerhaft stabilen und freiheitlichen Gesellschaftsordnung: „Der Missbrauch politischer Einrichtungen ist ihrer Einführung so nahe, dass es kaum der Mühe wert ist, sie zu schaffen, um sie so schnell entarten zu sehen. Die Menschen bemühen sich mit allerhand „Kunstgriffen“, die Regierung „in ihrem ursprünglichen Zustand“ zu erhalten und fesseln diese dafür, legen ihr Ketten an und „belasten sie damit so sehr“, das sie „niedergedrückt vom Gewicht ihrer Bande, untätig und unbeweglich verharrt“, was zwar ihren Verfall aufhalten mag, sie jedoch ebenso daran hindere, ihrer eigentlichen Bestimmung nachzukommen. Intention, Zweck und die weitere Entwicklung von Institutionen und der sie umfassenden politischen Ordnungen sind sauber voneinander zu trennen, ebenso lässt sich Freiheit auf Dauer niemals allein institutionell absichern. Jedes freiheitliche politische System muss zu einem gewissen Grad offen gegenüber Unerwartetem und Unberechenbarem bleiben, die Bürgerinnen haben mit dieser Unsicherheit umzugehen und den Umgang mit dieser zu lernen.

1442 Vgl. Cassirer, Ernst: Das Problem Jean-Jacques Rousseau. A.a.O.

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Eine Bedingung, die Rousseau in diesem Kontext erneut aufs Tapet brachte und die sich in all seinen Schriften findet, ist die Trennung einer Ebene der Macht von der Gemeinschaft. Ein Fehler, der gerne begangen werde, sei zwar, dass man „zwei untrennbare Dinge zu sehr voneinander trennt, nämlich den politischen Körper, der regiert, von dem, der regiert wird. Diese beiden bilden einen einzigen in der ursprünglichen Ordnung, und sie trennen sich erst in der Folge des Missbrauchs desselben“1443. Diese Feststellung aber, dass nämlich Regierende und Regierte ursprünglich aus demselben politischen Körper hervorgehen, ist noch keine proto-totalitäre Forderung nach der Wiederherstellung einer vermeintlich verloren gegangenen Einheit. So sprach Rousseau zunächst ja auch nur davon, dass man beide „zu sehr“ voneinander getrennt habe. Damit kritisierte er all jene Behauptungen einer quasi-natürlichen Trennung zwischen Herrschern und Beherrschten, die der Legitimation und somit Manifestation bestehender Herrschafts- und Machtverhältnisse als unumgänglich und alternativlos dienen. Analog zu Leforts politischem Denken muss aber auch bei Rousseau der Moment der Gründung einer Gesellschaft als Akt der miseen-forme, mise-en-sens und mise-en-scène verstanden werden. Dieser Moment offenbart und schafft zugleich eine symbolische Kluft zwischen Repräsentierenden und Repräsentierten und konstituiert damit die politische Gemeinschaft als Gemeinschaft. Die Herrschenden arbeiten in der Folge aber (meist erfolgreich) daran, vergessen zu machen, dass sie als politischer Körper ebenso aus „dem Volk“ hervorgehen, wie sie von diesem unterschieden sind. Der ursprüngliche Missbrauch, den Rousseau hier ansprach, fällt also logisch mit der Einrichtung des politischen Körpers und der Konstitution des Volkes in eins. So erklärt sich auch die hoch umstrittene Aussage Rousseaus, dass man „das Volk für die Regierung“ formen müsse und nicht umgekehrt die Regierung für das Volk. Denn formte man eine Regierung für das Volk, so löste sich „der Gleichklang der Verhältnisse“ mit Zerfall dieser Regierung auf, „da das Volk sich gleichblieb“1444. Wo also die Regierung nicht den vom Volk unterscheidbaren und dieses zugleich konstituierenden symbolischen Ort der Macht besetzt und sich dadurch und darin symbolisch von diesem abhebt, fällt sie in eins mit diesem, kann somit die inneren gesellschaftlichen Konflikte nicht mehr sym-

1443 OC III, S. 901. Übersetzung nach Rousseau, Jean-Jacques: Entwurf einer Verfassung für Korsika. In: Ders. Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981. S. 507 - 561. 1444 Ebd.

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bolisch austragen und entsprechend auch nicht mehr für den „Gleichklang der Verhältnisse“ sorgen. In der Folge brächen die inneren Konflikte dieses Volkes erneut aus und der politische Körper wäre zerstört. Damit bestand auch für Rousseau genau wie für Lefort und die modernen Radikaldemokraten ein direkter Zusammenhang zwischen dem Selbsterhalt des Volkes und dem Erhalt einer sichtbar von diesem Volk getrennten Regierung. Das Volk erhält also die Regierung, indem es sich selbst erhält und bringt sie zu Fall, wenn es selbst zerfällt. Da das Volk sich nur bedingt durch die Existenz eines äußeren Pols der Macht, beziehungsweise einer Regierung, welche den Ort der Macht mit Verweis auf den äußeren Pol des Gemeinwillens besetzt, konstituiert, ist der umgekehrte Schritt der Formung einer Regierung für „das“ Volk eine logische Unmöglichkeit. Ohne Regierung kein Volk, welches sich erst durch die Repräsentation des Gemeinwillens am Ort der Macht als solches verstehen und ansprechen kann. Das korsische Volk sei nun jedenfalls in der glücklichen Lage, sich einer Regierung zuwenden zu können, die es umgekehrt „kräftig und gesund“ erhalte. Es darf hier also unterstellt werden, dass Rousseaus Überlegungen der Schaffung eines „Volkes für die Regierung“ aus radikaldemokratischer Perspektive auch als die eines „Volkes gegen die Regierung“ verstanden werden kann, wobei dieses „gegen“ eben nicht die Abschaffung der Regierung meint. Vor allen Überlegungen zu einer wie auch immer gearteten politischen Form, die das korsische Volk sich geben könnte, behandelte Rousseau daher zunächst die „Prinzipien“, welche als Grundlage allen Gesetzen vorgelagert sein müssten, allen voran das kollektive Bewusstsein um die Souveränität und Autonomie des Volkes.1445 Das korsische Volk war für ihn dabei „in Gefahr geeint“, also aufgrund der Existenz eines externen Feindes entstanden und durch diese zusammengehalten worden. Doch sobald dieser Feind verschwunden war, sind die inneren Konflikte wieder aufgebrochen und haben die prekäre Einheit aufgelöst. Die Machthaber, so lässt sich Rousseau hier mit Lefort lesen, haben die inneren Konflikte nicht symbolisch auf der Ebene der Politik ausgetragen, sondern sie unvermittelt in der Gesellschaft ausbrechen und diese dort austragen lassen. Dies diente für Rousseau dem Zweck, die Einheit des Volkes zu verhindern und darüber hinaus innerhalb der Bevölkerung ein Bewusstsein dafür zu verunmöglichen, dass die behauptete korsische „Neigung zur Spaltung“ keinen natürlichen Gesetzen gehorcht. Es bedürfe

1445 OC III, S. 903.

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daher dringend Anstrengungen, „den Frieden in der Freiheit“ zu finden, wofür das Volk sich auf nichts als die eigenen Kräfte stützen könne.1446 Über den Moment der Entstehung als Reaktion auf die Existenz eines äußeren Feindes hinaus ist die dringendste Aufgabe jeder Politik daher, das Bestehen-Bleiben dieser Einheit freiheitsverträglich zu gewährleisten. Rousseau befasste sich dabei explizit nicht mit angeblich „den Dingen innewohnenden Notwendigkeiten“1447, sondern sah die Form der Regierung, die ein Volk sich gibt, letztlich als ein Werk des Zufalls an.1448 In diesem kontingenten Gründungsakt sah er die Bedingung dafür angelegt, die weitere Entwicklung oder mögliche Reformen bestehender Institutionen der Spontaneität und Kreativität des Volkes zu überlassen. Die Demokratie, um die es ihm ging, kenne „außer der Tugend keinen anderen Adel als die Freiheit“1449. Das grundlegende Gesetz jeder legitimen politischen Ordnung könne daher nur die Gleichheit im Sinne der gleichen Rechte aller sein. Rousseaus Egalitarismus bedeutete nun nicht, dass es innerhalb der Gesellschaft keine Ungleichheiten und Vorrechte gibt, ganz im Gegenteil. Diese müssen aber anders verteilt oder zugewiesen, nämlich gemäß den Verdiensten und Tugenden der Bürgerinnen vergeben werden. Rousseau schlug daher vor, das Volk in verschiedene Ränge zu unterteilen, ohne Abstammung und Herkunft zu berücksichtigen. Vertreterinnen aller sozialer Schichten, egal ob Edel- oder Landmann, hätten dann nur die Pflicht, die Gesetze und Obrigkeiten als solche anzuerkennen, auf der anderen Seite müsste es allen möglich sein, selbst der Obrigkeit anzugehören, sofern sie sich dafür durch Kenntnisse und Rechtschaffenheit als würdig erwiesen. Die gesamte Bevölkerung soll dabei als Trägerin gleicher Rechte und gleicher Pflichten angesprochen,1450 nicht jedoch zwingend gleich behandelt oder gar gleich gemacht werden. Die Regierung verstand Rousseau dabei als den Ort, an dem „alles zusammenläuft“. Dies scheint zunächst ein technisches Argument zu sein, insofern Rousseau festhielt, dass wo kein fester Regierungssitz vorhanden ist, die Regierung „allzu beschwerlich“ von Provinz zu Provinz reisen müsste, wodurch das „Zusammenspiel des Mechanismus erschwert“ würde. Dies hätte zur Folge, dass „seine Teile untereinander weniger verbunden“ wären. Genauso lässt sich

1446 1447 1448 1449 1450

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OC III, S. 904. OC III, S. 905. OC III, S. 906. OC III, S. 909. OC III, S. 911.

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dies aber symbolisch lesen, was eine andere Intention offenbart. Wenn es nämlich die Aufgabe einer Hauptstadt ist, eine Verbindung zu allen Herrschaftsbereichen zu bilden, ohne dabei die Bewohner „an sich zu ziehen“ und so „alles untereinander in Verbindung treten und doch jedes Ding an seinem Platz bleiben soll“, ist das nicht unbedingt nur als eine Kritik an zentralistischen Strukturen, als eine Rettung des Landes vor einer um sich greifenden Urbanisierung zu lesen. Man kann hier vielmehr die Hauptstadt oder den Regierungssitz (oder die Regierung selbst) als den symbolischen Ort der Macht verstehen. Als symbolischer Referenzpunkt ermöglicht es dieser dem Volk oder den Provinzen dann, sich als eine politische Einheit zu verstehen und in eine symbolische Verbindung zueinander zu treten, ohne in Eins zu fallen. Zugleich gewährleistet es die so entstandene Differenz, der im doppelten Wortsinn „Abstand“ zwischen Regierung und Regierten, dass die Bewohner „an ihrem Platz“, also in der Unterschiedenheit zum Ort der Macht bleiben können und nicht von der Regierung „an sich gezogen werden“, wie es im mittelalterlichen Dispositiv oder in totalitären Herrschaftsformen der Fall ist.1451 Dies seien jedenfalls die „Grundsätze“ einer Regierung, von denen her sich erst jede konkrete Form ableite.1452 Aufschlussreicher mit Blick auf mögliche konkrete Vorschläge zur Gewährleistung der Freiheit in bereits bestehenden Gemeinwesen ist jedoch die Aufgabe, die Rousseau der Regierung ins Heft diktierte. Indem er ihr auftrug, entgegen bisheriger Gepflogenheiten, Sitten und Traditionen alle Bürgerinnen als rechtlich Gleiche anzusprechen, diese aber gemäß ihrer Verdienste um das Gemeinwohl unterschiedlich zu behandeln, forderte er den Bruch mit überlieferten gesellschaftlichen Hierarchien und damit einhergehend die Neudefinition des Sag-, Denk- und Machbaren, mithin also die Neuziehung der diskursiven Grenzen der Gemeinschaft. Die Initiative zu einer solchen diskursiven Revolution, so unwahrscheinlich sie auch sein mag, kann dabei nur vom symbolischen Ort der Macht ausgehen, da die Macht als Repräsentantin der Gemeinschaft deren Selbstbild und Selbstverständnis beeinflusst. Erster Angriffspunkt und Ziel aller Maßnahmen muss daher die öffentliche Meinung sein. Dass Rousseau dies als allgemein gültige Regel verstand und Korsika hier keinen historischen Ausnahmefall darstellte, unterstrich er mit seinen Anmerkungen zur Schweiz. Auch der Ursprung des Schweizer Volkes sei insofern ein negativer, als 1451 OC III, S. 912. So sprach Rousseau auch lieber von einem (symbolischen) Hauptort als von einer (topographischen) Hauptstadt. 1452 OC III, S. 913.

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dieses in der Verteidigung seiner Freiheit gegen äußere Feinde zum Volk wurde.1453 Dadurch, dass „alle die gleichen Ziele und die gleichen Neigungen hatten, konnten sie sich ohne Mühen vereinen, um die gleichen Dinge anzustreben und zu tun“1454. Mit der Abwehr oder Überwindung der externen Feinde sei jedoch gleichzeitig und notwendig einhergegangen, dass „der Ehrgeiz der Vornehmsten“ sich Bahn gebrochen und diese somit vom Rest des Volkes abgespalten habe. Die so entstandene Obrigkeit habe die Leidenschaften innerhalb des Volkes als Herrschaftsinstrument und Machtmittel erkannt, um die sozialen und politischen Ungleichheiten dadurch zu legitimieren und zu zementieren, dass sie die inneren Konflikte gegeneinander ausspielte und so das Volk daran hinderte, zu einer politischen Kraft zu werden.1455 Weit entfernt davon, ein genuines Schweizer Volk zu behaupten, verortete Rousseau dessen Ursprung in einer gemeinsamen Abwehr eines „Außen“, welche zunächst alle inneren Konflikte überdeckte. Mit erfolgreicher Abwehr habe jedoch ein herausgehobener Teil des in der Feindesabwehr entstandenen Volkes die durch die Vertreibung des Feindes entstehende Lücke gefüllt und den symbolischen Ort der Macht eingenommen. Die „barbarische Regierung“ trug nur nicht zu der symbolischen Austragung der inneren Konflikte bei, sondern verschärfte diese sogar bewusst.1456 Vor diesem Hintergrund konkretisierte Rousseau sein Anliegen einer politischen Erziehung: „Man muss das Volk mit der Ausübung dieses Systems vertraut machen, es lehren, die Betätigung zu lieben (…) seine Lust darauf zu richten, seine Wünsche, seine Neigungen, kurz, sein ganzes Lebensglück in ihr zu finden und die Ziele seines Ehrgeizes in ihr zu schöpfen“1457. Er war davon überzeugt, dass die Menschen nicht nur dazu erzogen werden können, sondern dazu erzogen werden müssen, mit den inneren Konflikten und gesellschaftlichen Teilungen umzugehen und sie für den Erhalt ihrer Freiheit zu nutzen. Daher plädierte er im Fall Korsika für die Neu-Einteilung des Volkes in die drei Klassen der Bürgerinnen, Patriotinnen und Kandidatinnen, deren Ursprung

1453 Bis heute hält sich der Gründungsmythos des Rütlischwurs der drei Eidgenossen gegen die Habsburger und damit zusammenhängend die Idee einer Gleichheit in Verschiedenheit. Siehe zum Beispiel Kreis, Georg: Mythos Rütli. Geschichte eines Erinnerungsortes. Zürich 2004. 1454 OC III, S. 916. 1455 Ebd. 1456 OC III, S. 917. 1457 OC III, S. 918.

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„ein feierlicher Eid“ sein und deren Durchlässigkeit sich am Verdienst des Individuums an der Gemeinschaft bemessen solle.1458 Diese sehr konkreten und auf den historischen Fall Korsikas gemünzten Vorschläge Rousseaus für moderne Gesellschaften fruchtbar machen zu wollen, würde sicher zu weit führen. Rousseau soll ja aber auch nicht als Prophet missverstanden und als solcher aus seiner konkreten politischen Formation gelöst und in die Gegenwart transportiert werden, um dort konkrete Antworten auf ganz konkret gegenwärtige Fragen zu geben. Was es aber festzuhalten gilt, ist, dass es Aufgabe der Politik sein muss, Maßnahmen zu erarbeiten und zu ergreifen, welche den Einsatz für das Gemeinwesen nicht nur als ehrenvolle, sondern als wichtigste Aufgabe in der allgemeinen Wahrnehmung der Bürgerinnen zu verankern. Was die Politik folglich leisten muss, ist es, einen Mentalitätswechsel zu befördern und wo nötig neue soziale Wertmaßstäbe, Priorisierungen und Hierarchien voranzutreiben. Was Rousseau damit vorschlug, sind vom Ort der Macht ausgehende Maßnahmen für einen erfolgreichen Diskurswandel, in dessen Folge zum Beispiel jede Arbeit im Dienst des Gemeinwesens nicht mehr als „Fronarbeit“ verstanden und damit als Sanktion eines Fehlverhaltens verachtet würde. Den oberen Schichten der Bürgerinnen käme dabei die Aufgabe zu, diesen Wechsel aktiv voranzutreiben und die allgemeine Anerkennung gemeinwohlorientierter Arbeiten zu bewerkstelligen.1459 So lange die Arbeit am Gemeinwesen aber als unwürdig oder eben als Strafe verstanden würde, könne diese Quelle zum Beispiel nicht für den Erhalt des Bandes der Gemeinschaft angezapft werden. Rousseau plädierte also für eine radikale Abkehr von rein ökonomischen Kategorien als Gradmesser für den „Wert“ eines Dienstes an der Gemeinschaft und wollte durch die kollektive Anerkennung der Verrichtung vermeintlich „niedrigerer“ Dienste gewährleisten, dass sich die Bürgerinnen in der Arbeit für das Gemeinwesen als Gleiche begegnen können. Sicher galt es auch für Rousseau, die faktischen sozialen Ungleichheiten nicht zu vergessen und auch nicht schön zu reden, jedoch muss immer bedacht werden, dass Rousseau zur Bedingung eines gelingenden Gemeinwesens machte, dass der Wohlstand soweit verteilt wird, dass niemand gezwungen wird, sich in persönliche Abhängigkeitsverhältnisse zu begeben. Rousseau griff dabei auf sein im zweiten Diskurs entwickeltes Argument zurück, wonach der Drang der Menschen, sich nicht nur

1458 OC III, S. 919. 1459 OC III, S. 932f.

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zueinander in Beziehung zu setzen, sondern den Anderen tendenziell übertreffen zu wollen, als ein Motor gesellschaftlicher Entwicklungen verstanden und entsprechend genutzt werden kann. Diesen Wettbewerbsgedanken wollte er für eine Politik furchtbar machen, die sich der Bewahrung der Freiheit verschreibt. Dafür ist es dann aber erste Bedingung, dass jede an dem Wettbewerb um Auszeichnungen für den Dienst am Gemeinwesen teilhaben kann, damit daraus eine aktive und tugendhafte Bürgerinnenschaft entstehen kann. Beide Anforderungen sprechen dagegen, dass dieser gesellschaftliche Wettbewerb (weiterhin) über die Kategorien der ökonomischen Leistung, des Gelderwerbs und der Vermögensvermehrung funktionieren kann. Stattdessen muss eben der Dienst am Gemeinwesen belohnt werden und wer solche Dienste erbringt dafür entsprechende Anerkennung erfahren, um sich so mit dem Gemeinwesen zu identifizieren und in der Folge sensibler gegenüber Missbräuchen und Schließungen zu werden. Dafür sah Rousseau den „sittlichen Schatz“1460 einer Gemeinschaft als mindestens so wichtig an, wie das Entrichten von Steuern, wobei natürlich die konkreten Vorschläge für ein Gemeinwesen immer von den jeweils spezifischen politisch-kulturellen Hintergründen abhängen.1461 Wenn Furcht und Hoffnung die zwei Werkzeuge sind, mit denen man Menschen angeblich regieren kann, lehnte Rousseau die Furcht ab. Kein fauler Mensch sei schließlich jemals durch die Furcht vor Verelendung fleißiger geworden. Er setzte dagegen auf das motivierende Prinzip der Hoffnung: Um „den Fleiß eines Volkes zu wecken, muss man ihm edle Wünsche, edle Hoffnungen und edle Antriebe zum Handeln weisen“1462. Die Eitelkeit sah er dabei als das wesentliche Handlungsmotiv, an dem Reformen ansetzen müssten, diese wiederum ist die Frucht der öffentlichen Meinung, „sie entsteht aus ihr und sie nährt sich aus ihr“, was die öffentliche Meinung erneut als den Dreh- und Angelpunkt von Rousseau Überlegungen zur Politik ausweist. Er schlug also vor, die Menschen bei ihrer Eitelkeit zu packen und diese mit Hilfe der Öffentlichkeit in den Dienst des Gemeinwesens zu stellen. Dafür muss aber zuerst entsprechend Einfluss auf die öffentliche Meinung des Volkes genommen werden, denn dieses „strebt nach den Dingen im Verhältnis zu dem Wert, den es ihnen zuerkennt. Ihm zeigen, was es wertschätzen soll, heißt, ihm sagen, was es

1460 OC III, S. 933. 1461 Ebd. 1462 OC III, S. 937.

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tun soll“.1463 Wenn also zum Beispiel die öffentliche Meinung geändert werden könnte, würde so das der amour-propre innewohnende produktive Potential, welches Rousseau hier mit „Stolz“1464 umschreibt, umgeleitet und ausgenutzt, ohne dass dabei gewaltsam Einfluss auf das innere Wesen oder den Charakter der Bürgerinnen genommen werden müsste.1465 Dieser Stolz unterscheide sich zudem dahingehend qualitativ von der eher negativen Eigenschaft der Eitelkeit, als er sich auf „wahrhaft schätzenswerte Güter“ wie Unabhängigkeit und Stärke beziehe, während letztere das Werk von Vorurteilen sei,1466 wobei natürlich auch die Unterscheidung zwischen Stolz und Eitelkeit letztlich eine politische ist. Ein anschauliches Beispiel für diskursiv ausgeübte Macht und die Bedeutung der Öffentlichkeit gibt Rousseau mit dem Hinweis auf die „Gazettenschreiber“, welche die korsischen Unabhängigkeitskämpfer auch nach vierzig Jahren noch „Aufrührer“ nannten und somit das allgemeine öffentliche Bild über Generationen hinweg zementierten. „So findet die Verjährung nur zu Gunsten der Tyrannei statt, nie wird sie zu Gunsten der Freiheit zugelassen (…) Glücklicherweise aber sind Worte nicht Tatsachen“1467, sprachlich oder diskursiv durch Macht erzeugte Zuschreibungen, Meinungen und Bilder also prinzipiell jederzeit revidierbar und somit erster Angriffspunkt der Politik im Dienste der Ausbildung einer Freiheit gewährenden, weil diese verteidigende Bürgerinnenschaft. Wo dies nicht gewährleistet würde und das Gegenteil der Fall wäre, die „wahre“ Gewalt also in den Händen der Reichen, die „scheinbare“ in den Händen der Obrigkeit läge, so dass „alles der Willkür der Leidenschaften“ und nichts dem „Zweck der Errichtung“ folgte,1468 hätte dies die für jedes freiheitliche Gemeinwesen tödliche politische Apathie ihrer Bürgerinnen zur Folge. Die einen verkauften dann die Vorteile ihres Amtes an die Reichen, die Mehrheit strebte indes nach Reichtum, mittels dem sie sich wiederum Zugang zum Ort der Macht oder diese gar komplett erkaufte. Der Großteil des Volkes aber würde ange-

1463 Ebd. 1464 OC III, S. 938. 1465 Eine negativistische Lesart der amour-propre entfaltet auch Neuhouser und weist in seiner Studie zum darauf hin, dass amour-propre in der deutschen Übersetzung als Eigenliebe oder Selbstsucht eine negative Konnotation bekommt, die sie bei Rousseau nicht hat. Neuhouser, Frederick: Pathologien der Selbstliebe - Freiheit und Anerkennung bei Rousseau. Berlin 2012. 1466 OC III, S. 938. 1467 OC III, S. 942. 1468 OC III, S. 939.

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sichts des Ausschlusses aus dem Wettbewerb zweier kleiner Eliten, einer politischen und einer wirtschaftlichen, von einer „allgemeinen Verzagtheit“ übermannt und sich in die Passivität zurückziehen.1469 Daneben ist vor allem die Sehnsucht nach Ordnung, Sinn und Transparenz die große Gefahr, der Gesellschaften immer ausgesetzt sind und die bei Lefort als das „Phantasma einer totalen Beherrschung des gesellschaftlichen Raums“ den Umschlag von demokratischen in totalitäre Regierungsformen markieren. Dies erkannte auch Rousseau als Problem, dem er beikommen wollte: „Man wird sie (die Menschen; MO) vom Aberglauben abbringen, indem man sie viel mit ihren Bürgerpflichten beschäftigt, indem man viele Vorkehrungen für die nationalen Feiertage treffen lässt, indem man ihnen viel von der Zeit für kirchliche Feierlichkeiten nimmt und sie ihnen für bürgerliche Feierlichkeiten gibt; und mit etwas Geschicklichkeit lässt sich das bewerkstelligen, ohne die Geistlichkeit zu erzürnen, indem man es so einrichtet, dass sie immer daran Anteil hat, dieser Anteil jedoch so gering ist, dass die Aufmerksamkeit ihm nicht verhaftet ist.1470 Rousseau (an)erkannte also das Bedürfnis der Menschen nach Ordnung, Sicherheit und Gewissheit als Gefährdung der Freiheit, ging aber im Gegensatz zu Lefort produktiv damit um. Er versuchte, es zu kanalisieren und immanent umzuleiten, um es so für den Erhalt des Gemeinwesens fruchtbar zu machen, was er er in den Überlegungen über eine Verfassung für Polen ausführte. IV. 3. 6. Betrachtungen über die Regierung Polens - Stolze, heilige Freiheit! Wie im Fall Korsikas soll das Herausarbeiten von Strukturanalogien der Theorien Rousseaus und Leforts auch am Beispiel der Betrachtungen über die Regierung Polens auch nicht dahingehend übertrieben werden, als hier vermeintlich konkrete Handlungsanleitungen zu erwarten sind, die man dann über die Vermittlung Leforts an den Diskurs der radikalen Demokratie anschließen könnte. Vielmehr dient die hier vorgeschlagene Interpretation der Eröffnung neuer Anschlussmöglichkeiten und Interpretationsalternativen. So soll von den konkret auf den Fall Polens zugeschnittenen institutionellen Vorschlägen so weit wie möglich abstrahiert und eher allge-

1469 Ebd. 1470 OC III, S. 944.

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meingültige Aussagen Rousseaus herausgearbeitet werden, was nicht zuletzt auch dadurch begünstigt wird, dass er selber keine Kenntnisse der konkreten historischen und politischen Situation Polens bis ins letzte Detail besaß, wie er an vielen Stellen eingestand. Das Grundproblem ist im Fall Polen jedenfalls das gleiche wie überall, nämlich dass „wo die Freiheit herrscht, (…) sie unablässig angegriffen (wird) und (…) sehr oft in Gefahr (ist)“1471. Wie mit dieser Gefahr einer gefährdeten und zugleich gefährlichen Freiheit in der Politik umgegangen werden muss, wie dieser dort begegnet werden kann, ist somit auch das zentrale Thema von Rousseaus Betrachtungen über Polen. Im Gegensatz zu Korsika hatte er es dabei mit einer Nation zu tun, „deren staatliche und gesellschaftliche Einrichtungen bereits alle bestehen, deren Neigungen, Sitten Vorurteile und Laster zu tief eingewurzelt sind, als dass sie leicht (…) verdrängt werden könnten“1472. Den polnischen Staat bezeichnete Rousseau als „sonderbar eingerichteten“ großen Körper, „gebildet aus einer großen Zahl uneiniger Glieder und einer kleinen Zahl abgetrennter Glieder, deren Bewegungen alle, fast unabhängig voneinander und weit davon entfernt, ein gemeinsames Ziel zu haben, sich gegenseitig zerstören.1473 Rousseau forderte erneut nicht die Unterordnung aller Glieder unter ein gemeinsames Ziel in dem Sinne, dass alle Uneinigkeiten aus dem öffentlichen Leben verbannt werden müssten, sondern versuchte, die faktischen Gegebenheiten eines fraktionierten politischen Körpers für die Überlegungen zum Erhalt dessen Stabilität und Freiheit zu berücksichtigen. Das Besondere an Polen sei, dass es in Ketten liegt und dennoch nach Mitteln sucht, sich die Freiheit zu bewahren.1474 Es bestand für Rousseau also nach wie vor kein Widerspruch zwischen „Ketten“ und Freiheit, zu deren Gunsten die Ketten etwa gesprengt werden müssten. Vielmehr muss beides zusammen gedacht werden, ja bedingt sich beides gegenseitig. Eindringlich warnte er davor, die Verfassung abzuschaffen oder zu ersetzen, da sie es ist, welche die Polen im Wesentlichen zu dem machte, was sie sind,1475 ein Volk, welches sich die Freiheit bewahren will. Die größte He-

1471 OC III, S. 998. Übersetzung nach Rousseau, Jean-Jacques: Betrachtungen über die Regierung Polens. In: Ders. Sozialphilosophische und Politische Schriften. München 1981. S. 565 - 655. 1472 OC III, S. 953. 1473 OC III, S. 953f. 1474 OC III, S. 954. 1475 Ebd.

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rausforderung bestand nun darin, diese Freiheit vor der Sehnsucht der Bevölkerung nach Ruhe zu beschützen: „Hütet Euch vor der Gefahr, Eure Lage zu verschlimmern, in dem Wunsche, es Euch gar zu gut einzurichten!“. So ist die Freiheit auch im Fall Polens kein einfaches und bequemes Unterfangen: „Ein bleierner Schlaf hatte sich ihrer bemächtigt; der Sturm hat sie aufgeweckt. Die Ketten die man ihnen zugedacht hatte, haben sie zerbrochen, nun spüren sie die Anstrengung. Sie möchten den Frieden des Despotismus mit der Süße der Freiheit verbinden. Ich fürchte dies heißt Dinge wollen, die sich widersprechen. Die Ruhe und die Freiheit scheinen mir unvereinbar; man muss sich für eines entscheiden“1476. „Aber, ich kann es nicht oft genug wiederholen, man muss nicht zwei sich widersprechende Dinge gleichzeitig wollen. Ordnung ist gut, aber Freiheit zählt mehr, und je mehr ihr die Freiheit durch Formen einzwängt, desto mehr Mittel geben diese Formen widerrechtlichen Eingriffen an die Hand. Alle Formen, die ihr anwendet, um die Ordnung der gesetzgebenden Gewalt vor Zügellosigkeiten zu schützen, werden, obwohl an sich gut, früher oder später angewendet werden, um diese Ordnung zu unterdrücken“1477. Eine Entscheidung meint nun nicht, dass sich eine Regierungs- oder Gesellschaftsform sich in ihren konkreten Einzelfallentscheidungen jedes Mal eindeutig zum Prinzip der Freiheit oder dem der Sicherheit bekennen müsste. Bezüglich der letzten Referenz jedoch, an der sich alle Maßnahmen bewähren müssen, gilt es sich festzulegen und in dem Fall aus Sicht Rousseaus (wie Leforts auch) immer für die Freiheit, sei diese auch noch so unbequem. Dies ist nicht einfach nur eine Kompromissformel,1478 genauso wenig ging Rousseau aber um die Überwindung von Ruhe, Ordnung und Harmonie zu Gunsten einer wilden, anarchischen Form der Freiheit. Wie später Lefort, war auch Rousseau fest davon überzeugt, dass sich die Freiheit in modernen Gesellschaften nur innerhalb institutioneller Ordnungen bewahren, sie sich auf der anderen Seite aber niemals rein institutionell absichern lässt. Gleich der „wilden Demokratie“ ist die Freiheit also als ein Fluss vorzustellen, der permanent über die Ufer zu treten droht. Der Vorwurf also, in Rousseaus Denken sei gerade mit Blick auf die in den Verfassungsschriften entwickelten Gedanken zur Erziehung der jakobinische und totalitäre Terror bereits angelegt gewesen, kann leicht zurückgewiesen werden, da aus Rousseaus Perspektive Institutionen ebenso 1476 OC III, S. 954f. 1477 OC III, S. 983. 1478 Herz, Dietmar: Rousseau als Gesetzgeber. S. 159.

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wenig ein verlässlicher Schutz vor diesem „Terror des Allgemeinwillens“ sind, wie dieser allein aus ihnen resultieren könnte. Der wichtigste Punkt in Rousseaus Betrachtungen über die Regierung Polens war daher die Frage, wie die Freiheit in modernen Gesellschaften vor dem menschlichen Bedürfnis nach Ruhe, Sicherheit und Ordnung, nach Gewissheit, Harmonie und Transparenz bewahrt werden kann. Gerade in modernen Gesellschaften kann sie diesem Bedürfnis nur allzu leicht geopfert werden, ist sie doch ein „Gewicht“, das ertragen, das ausgehalten werden muss, ist sie mit „Anstrengungen“ verbunden, die in den Ketten nicht immer unmittelbar zu spüren sind: „Ich erkenne die Schwierigkeit des Unternehmens, eure Völker in die Freiheit zu entlassen. Was ich fürchte, ist nicht allein der schlecht verstandene Eigennutz, die Eigenliebe und das Vorurteil der Herren. Ist dies Hindernis einmal überwunden, so fürchte ich die Laster und den feigen Sinn der Leibeigenen. Die Freiheit ist eine Nahrung aus gutem Saft, doch schwer zu verdauen; es gehört ein gesunder Magen dazu, sie zu vertragen. Ich lache über die erniedrigten Völker, die sich durch Aufrührer aufhetzen lassen und von Freiheit zu sprechen wagen, ohne auch nur einen Begriff davon zu haben, und die, das Herz voll von Sklavenlastern, sich einbilden, um frei zu sein, genüge es aufwieglerisch zu sein. Stolze, heilige Freiheit! Wenn diese Leute Dich erkennen könnten, wenn sie wüssten, um welchen Preis man Dich erwirbt und bewahrt; wenn sie einsähen, um wie viel strenger Deine Gesetze sind, als das Joch der Tyrannen hart ist; ihre schwachen Seelen, von Leidenschaften versklavt, die man ersticken müsste, würden Dich hundertmal mehr fürchten, als die Knechtschaft; sie würden mit Entsetzen vor Dir als vor einer Last fliehen, die sie zu ersticken droht“1479. Um die „gefährliche Freiheit“ als ein „gewagtes und gefahrvolles“ Unterfangen annehmen zu können, müssten die in die Freiheit zu Entlassenden oder Entlassenen dieser Freiheit würdig und gewachsen sein, müsste ihnen beigebracht werden, diese nicht nur zu ertragen, sondern ihnen ein Bewusstsein um den Wert und den Preis der Freiheit vermittelt werden.1480 Dies war Rousseaus Anliegen und zugleich der Punkt, an dem er über Lefort hinausging. Gesetze zu erlassen, welche alle zukünftigen möglichen Missbräuche voraussähen und verunmöglichten, überstiege selbst die Kräfte des vollendeten Staatsmannes, weswegen das grundlegende Problem der Staatskunst umgekehrt darin bestehe, das Ge-

1479 OC III, S. 974. 1480 Ebd.

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setz über den Menschen zu stellen, was für Rousseau der „Quadratur des Kreises“ gleichkam. Solange dies nicht gelänge, würden nie Gesetze, sondern immer nur Menschen über Menschen herrschen. Ziel jeder Staatskunst und aller Überlegungen sei es daher, „zu den Herzen der Menschen“ vorzudringen, da eben kein Gesetz, mag es auch noch so gut gemeint oder gemacht sein, den Missbrauch verhindern könne. Auch die Androhung oder Ausübung von Gewalt, das Aussprechen von Strafen und die Auslobung von Belohnungen, ja selbst die unparteiischste Gesetzgebung können dies nicht leisten, da so die nötige Begeisterung nicht entfacht werden kann. Wie aber kann diese „Quadratur des Kreises“ gelingen, der sich Rousseau trotz aller Unwahrscheinlichkeit und Widrigkeiten annehmen wollte? „Durch welches Mittel die Herzen ergreifen und Liebe zu seinem Vaterland und zu seinen Gesetzen wecken? Soll ich wagen es auszusprechen? Durch Kinderspiele, durch Einrichtungen, die in den Augen oberflächlicher Menschen müßig sind, die aber doch teure Gewohnheiten und unbesiegbare Bindungen hervorbringen“1481. Bevor Rousseau nun seine Vorschläge zur Schaffung eines Bürgerbewusstseins konkretisierte, räumte er zunächst diskursive Hürden aus dem Weg, um dem erwartbaren Widerstand gegen die vermeintlich „kindischen“ oder anachronistischen Vorschläge den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dies vollzog er durch den Hinweis darauf, dass die „starken Seelen“ der antiken Griechen und Römer bei aller berechtigten Verehrung keinesfalls Übermenschen und damit unerreichbare Vorbilder gewesen seien, auch wenn die Überlieferungen gemeinhin ein solches Bild vermittelten. Auch die traditionellen Helden und Philosophen waren „menschliche Wesen wie wir“,1482 warum sollten Ihnen dann also Dinge gelungen sein, die heute angeblich nicht mehr möglich sein sollen? Geschichte ist für Rousseau seit dem ersten Diskurs immer die Kombination aus menschlichen Handlungen und dem nachträglich wertenden und sich in diskursiven oder politischen Deutungskämpfen durchsetzenden Blick auf diese Handlungen. Folglich liegt es immer in der Hand der Menschen, ihre eigene Geschichte, Gegenwart und Zukunft neu zu schreiben, sie ist in ihren Ursprüngen kontingent, folgt keinerlei inneren oder äußeren Notwendigkeiten und steht als Referenz der ständigen Neuinterpretation und Reformation der gegenwärtigen Verhältnisse dem kollektiven Zugriff prinzipiell im-

1481 OC III, S. 955. 1482 OC III, S. 956.

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mer zur Verfügung. So seien Moses, Lykurg und Numa keine Wesen einer anderen Welt und ihre Vorschläge für die Einrichtung von Gesellschaften damit nicht weltfremd und unrealistisch gewesen. Die künstliche, da von Menschen in der retrospektiven Betrachtung „ihrer“ Geschichte vorgenommene Unterscheidung einer unerreichbaren Vormoderne und einer Moderne etwa akzeptierte Rousseau für die Frage nach der „Formung eines Volkskörpers“, eines „Staatskörpers“ und einer „freien Nation“ nicht.1483 Damals wie heute gehe es darum, dem politischen Körper Sitten und Gebräuche, Riten und Zeremonien zu geben, die ihn von anderen Gemeinschaften unterschieden, ja die sogar mit deren Sitten und Gebräuchen „nicht vereinbar“ seien.1484 Rousseaus Ansicht nach waren es also die jeder politischen Gemeinschaft je eigenen Charakteristika, welche in Abgrenzung zu den spezifischen Eigenschaften einer anderen politischen Gemeinschaft wesentlich zur Schaffung einer kollektiven Identität beitragen. Weit davon entfernt, ein „goldenes Zeitalter“ zu behaupten, in dem homogen geeinte, sich selbst transparente Vertragsgemeinschaften unter der Herrschaft eines vorpolitischen Gemeinwohls existierten, ist es zunächst eine sicht- und erfahrbare Differenz zu anderen Gemeinschaften, die für die Identität und Stabilität neu entstandener Gemeinschaften wesentlich ist: „Alle Bande der Brüderschaft, welche er (Moses; MO) unter den Gliedern seines Gemeinwesens flocht, waren ebenso viele Schranken, welche diese Glieder von ihren Nachbarn trennten und sie daran hinderten, sich mit diesen zu vermischen. Dadurch hat diese einzigartige Nation (…), stets ihre Ordnung abgöttisch verehrend, sich doch bis auf unsere Tage erhalten, verstreut unter den anderen Nationen, aber nicht mit ihnen vermengt. Dadurch bestehen ihre Sitten, ihre Gesetze, ihre religiösen Bräuche fort, und sie werden so lange bestehen, wie die Welt besteht, trotz des Hasses und der Verfolgung durch das übrige Menschengeschlecht“1485. Die Spartaner wiederum verdankten ihre Existenz dem von Lykurg ausgeübten „Zwang“, der „Fesselung“ an ein Joch, „wie es nie ein anderes Volk getragen hatte“. Was Lykurg gelungen sei, ist dem neu entstandenen Volk durch Gesetze, Spiele und Feste ein Bewusstsein der Identifikation mit dem ihm eigenen Joch zu vermitteln. Der Moment der Entstehung des spartanischen Volkes, so lässt sich Rousseau hier verstehen, ging einher mit der Neudefinition und damit verbundenen Positivierung eines zuvor als Last empfun1483 Ebd. 1484 Ebd. 1485 OC III, S. 957.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

denen Schicksal, welches den Spartanern in der Folge zum Alleinstellungsmerkmal wurde. Auch im Fall Spartas behauptete Rousseau also keinen positiven Gründungsakt der Selbstgesetzgebung einer politischen Gemeinschaft, sondern zunächst die Unterordnung unter ein nicht näher bestimmtes „Joch“1486, somit das Erlebnis und die Erfahrung eines geteilten (in dem konkreten Fall negativen) Schicksals einer aufgezwungenen Unterwerfung, welches vermittelt über kollektive Feste, Rituale und Institutionen allmählich umgedeutet, positiviert und schließlich kollektiv und narrativ zur Erklärung der eigenen Ursprünge uminterpretiert wurde. Im Fall des römischen Volkes sei Numa und nicht Romulus als dessen Gründer anzusehen, habe er doch erst die Römer in eine Bürgerinnenschaft verwandelt, indem er sie durch „menschenfreundliche Institutionen“ und „scheinbar nichtige und abergläubische Bräuche“ aneinander und alle zusammen an ihren Boden gebunden habe.1487 Für den Fall Polens glaubte Rousseau wiederum, dass „die Nation (…) das Datum ihrer Wiedergeburt auf das der furchtbaren Krise legen (wird), welche sie soeben überstanden hat (und) zurückblickt auf das, was ihre noch regellosen Glieder ausgeführt haben“, um daraus die Überzeugung abzuleiten, dass eine „wohlabgewogene Einrichtung“ ihr von größtem Nutzen ist. So wird sich für Rousseau die Polnische Nation „aus sich selbst erneuern und so (…) alle Kraft einer entstehenden Nation wiedergewinnen“1488. Dieser Fundus an kollektiven Narrationen, Sitten, Bräuchen und Traditionen muss seitens der Politik gehoben und ausgeschöpft werden. Die negativen Ursprünge oder besser die Abwesenheit letzter positiver Gründe jeder Gesellschaft sind die erste Bedingung oder Voraussetzung, um unter der Anleitung der großen Männer an „besondere Bräuche“ anzuknüpfen und mittels spezifischer und folglich exklusiver „religiöser Zeremonien“1489, durch Spiele, Wettkämpfe, Schauspiele, welche die Geschichte, Schicksalsschläge, Tugenden und Siege der Vorfahren thematisierten, zur Nachahmung und Identifikation anregten und so „die Bürger zusammenführten“1490. Dadurch schufen sie den politischen Körper und erreichten die für dessen Stabilität nötige Identifikation, wobei die Schauspiele nicht in Form des

1486 1487 1488 1489

Ebd. Ebd. OC III, S. 969. Rousseau verweist hier explizit auf „das Ende des Gesellschaftsvertrags“, also das Kapitel zur „Zivilreligion“. 1490 OC III, S. 958.

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klassischen Theaters, also monologisch von der Bühne in Richtung Publikum, sondern als kollektives Ereignis der unter freiem Himmel versammelten Volksgemeinschaft vorgestellt werden müssen. Der Form nach bestünden diese Institutionen, Rituale und Zeremonien auch in modernen Gesellschaften fort, jedoch dienten sie dort nicht mehr ihrem eigentlichen Zweck der Schaffung und Aufrechterhaltung eines für den Erhalt der Freiheit in der Gemeinschaft nötigen kollektiven Bewusstseins, sondern der Verschleierung und Zementierung ungleicher Herrschafts- und Machtverhältnisse, sowie der zu diesem Zwecke verfolgten Strategie der Trennung und Isolierung der Bürger voneinander. So fänden die Rituale in modernen Gesellschaften in Form von Festen statt, „wo das stets verachtete Volk ohne Einfluss ist, wo öffentlicher Tadel und öffentliche Billigung nichts fruchten“1491. Rousseau identifizierte also mittels des historischen Vergleichs durchaus die Gefahr des Missbrauchs kollektiver Feste, Rituale und Zeremonien zum Zweck der Zerstörung einer politischen Gemeinschaft und grenzte davon deren zur Schaffung und Aufrechterhaltung eines freien kollektiven Miteinanders angemessene Verwendung ab. Die Herzen der Bürgerinnen verstand er dabei als das Reservat der Freiheit, weswegen die Republik und die Liebe zu dieser genau dort eingepflanzt werden muss, damit sie diese gegen alle inneren wie äußeren Gefahren zu verteidigen bereit sind.1492 Tugenden, Patriotismus und Institutionen waren Rousseau der „Wall“, den „keine Armee erstürmen kann“, sie hätten es zu gewährleisten, dass die Bürgerinnen ihren Pflichten und Gesetzen aus Lust und Liebe und nicht aus purem Eigennutz nachkämen und gehorchten.1493 Deswegen ist eben die Einstellung der Bürgerinnen gegenüber den Gesetzen wichtiger, als deren „wirkliche“ Qualität.1494 Dem konkreten Inhalt der Gesetze kam für Rousseau keine primäre Bedeutung zu, er unterschied nicht zuvorderst zwischen guten und schlechten oder gut oder schlecht gemachten Gesetzen, sondern zwischen Gesetzesgehorsam und Gesetzes-Ungehorsam. Wie auch Lefort hob er damit eben vor allem auf die symbolische Bedeutung der Gesetze ab. Daher müsse auch die Geschichte, welche die polnische Bevölkerung sich über sich selbst, über ihre Herkunft, Gegenwart und Zukunft erzählte, nicht primär „wahr“ sein, falls es so etwas

1491 1492 1493 1494

OC III, S. 958f. OC III, S. 959. OC III, S. 959f. OC III, S. 960.

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überhaupt geben kann, sie müsse aber erfolgreich den Zweck der positiven kollektiven Identifikation der Bürgerinnen mit ihrem Gemeinwesen erfüllen. Den Bürgerinnen präsente „große Augenblicke“ sollten dafür genutzt werden, diese „mit heiligen Lettern in die Herzen aller Polen“ einzuschreiben, sie sollten symbolisch und narrativ in den Mittelpunkt der Gemeinschaft gestellt werden und von dort aus für deren Zusammenhalt sorgen. Mittels kollektiver Feste zu Ehren der symbolträchtigen historischen Augenblicke soll eine positive kollektive Identifikation mit dem Gemeinwesen ermöglicht geschaffen werden, unabhängig von den „realen“ historischen Abläufen und Auswirkungen dieser Ereignisse, weswegen Rousseau auch jeden vergleichenden Blick nach außen, etwa auf den Feind, explizit ausklammerte.1495 In Bezug auf die Maßnahmen zur Stabilisierung des Gemeinwesens und des Erhalts der Freiheit wurde Rousseau dabei konkreter als Lefort. So forderte er die Verleihung von Ehrenbezeugungen, welche „durch öffentliche Belohnung allen vaterländischen Tugenden Glanz“ verliehen.1496 So würde die Sorge um das Gemeinwohl, angestachelt durch den Drang, sich öffentlich hervorzutun, sich um das Gemeinwesen verdient zu machen, allmählich den Drang, sich durch individuelle ökonomische Leistungen, durch Bereicherung und wirtschaftlichen Wohlstand zu profilieren, verdrängen. Dieser Wandel des kollektiven Bewusstseins, kollektiver Werte und Normen, sei die Kunst, „die Seelen zu adeln und sie zu Werkzeugen zu machen, die mächtiger sind als Gold“1497. Durch Festlichkeiten und Neu-oder Um-Interpretationen des symbolischen „Ursprungs“ der Gemeinschaft in Kombination mit Belohnungen für gemeinwohlorientiertes Verhalten wollte Rousseau den Wandel des diskursiven Selbstverständnisses und der allgemein anerkannten Wertehierarchie erreichen und so allmählich die Orientierung der Bürgerinnen an der Steigerung des individuellen wirtschaftlichen Wohlstandes durch die Beteiligung am kollektiven politischen Leben der Gemeinschaft ersetzen. Dabei muss dieser Diskurswandel freilich unter Rückgriff auf die jeweils spezifischen Traditionen, Riten und Bräuche der Gemeinschaft erfolgen. Rousseau versuchte also, das Streben der Menschen nach Ordnung, Sicherheit und Transparenz von der Orientierung an metaphysischen Heilsversprechen wegzuleiten und es immanent zum Zwecke des Erhalts der Gemeinschaft zu nutzen. Der In1495 OC III, S. 961. 1496 OC III, S. 962. 1497 Ebd.

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halt der Rituale, Festlichkeiten, Bräuche und Traditionen sei dabei völlig egal, sie müssten nicht einmal zwangsläufig „gut“ sein, da sie letztlich nur Mittel zum Zweck sind, die Herzen der Bürgerinnen als Reservoir gegen die mit der Auflösung aller Gewissheiten verbundenen modernen Unsicherheit zu gewinnen. Damit erscheint auch Rousseaus Verdammung und Verbannung aller kulturellen Errungenschaften und Institutionen moderner Gesellschaften, wie er sie bereits im ersten Diskurs thematisierte, in ein neues Licht. Theater, Schauspiel, Oper, alles, was für den größten Teil der Bürgerinnenschaft reiner Zeitvertreib sei, diene der Trennung der Bürgerinnen voneinander und deren Aufteilung in Handelnde und Passive.1498 Keine exklusiv den Mächtigen und Reichen vorbehaltenen Veranstaltungen, alles möglichst öffentlich zugänglich und unter Beteiligung der gesamten Gemeinschaft, das ist in nuce Rousseaus Idealvorstellung öffentlicher Feierlichkeiten, die sich gegen ein auf politische und soziale Ungleichheiten basierendes System richteten.1499 Daher sei es „ferner gut, dass das Volk sich oft mit seinen Oberhäuptern bei angenehmen Gelegenheiten versammle, sie kenne, sich daran gewöhne, sie zu sehen, dass es seine Vergnügungen mit ihnen teile. So lange die Unterordnung stets beachtet wird und das Volk sich nicht mit seinen Oberhäuptern vermengt, ist dies das Mittel, ihm Zuneigung einzuflößen, und zwar Zuneigung vereint mit Achtung“1500. Rousseau bestand also weiter explizit auf die Trennung zwischen Regierenden und Regierten, zwischen dem Ort der Macht und der Gesellschaft. Politische oder soziale Ungleichheiten ganz abzuschaffen, hielt er schon daher für eine Unmöglichkeit, als die Menschen immer danach strebten, sich voneinander zu unterscheiden. Spaltungen und Parteikämpfe seien aber auch gar nicht das Problem, solange diese Kämpfe irgendwie dem Erhalt des Gemeinwesens dienten, also gemeinwohlfördernde Auszeichnungen und Ehrungen zum Gegenstand hätten.1501 Dafür sei es aber eben zuerst nötig, die „Meinungen zu beherrschen“ und so „die Leidenschaften am sicheren Zügel zu führen“1502. Wie Lefort überlegte auch Rousseau, was zu tun ist, damit diese notwendigen Spaltungen und Kämpfe den politischen Körper gleichzeitig nicht zerreißen würden. Die diesbezüglichen

1498 1499 1500 1501 1502

Ebd. OC III, S. 963. OC III, S. 964. OC III, S. 965. OC III, S. 965f.

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Überlegungen Leforts, wonach die Inhaber des Ortes der Macht sich daher immer darum bemühen müssen, zugleich ein Bild von sich als der Gemeinschaft entspringend zu zeichnen, ohne dabei die Identität des Ortes der Macht mit der Gesellschaft zu behaupten, auf der anderen Seite aber auch keine zu sehr dem Volk oder der Gemeinschaft entrückte Position einnehmen dürfen, findet sich auch bei Rousseau. Auch er schrieb den Ritualen, dem Prunk und den Zeremonien genau aus diesem Grund eine so hohe Bedeutung zu: „Es ist nicht zu glauben, in welchem Maß das Herz des Volkes seinen Augen folgt und wie sehr die Herrlichkeit der Feier es beeindruckt. Dies gibt der herrschaftlichen Autorität das Erscheinungsbild der Ordnung und der Geradlinigkeit, welches Vertrauen einflößt und den Gedanken an Launen und Grillen vertreibt, den man mit der Willkürherrschaft verbindet“. Wichtig sei dabei nur, die Zeremonien des Ancien Régime nicht zu imitieren,1503 also die um den „doppelten“ Körper des Königs errichtete Ständeordnung des mittelalterlichen politisch-theologischen Dispositivs. Die Erziehung war Rousseau also das wichtigste Mittel zum Erhalt der Stabilität und Freiheit eines Gemeinwesens, denn nur so könnten die Herzen der Bürgerinnen erreicht werden. Seine Forderung, wonach „ein Kind (…), sobald es die Augen öffnet, das Vaterland sehen und bis zum Tode nichts anderes, als das Vaterland sehen (muss)“, wird ihm daher zu Unrecht als Beweis der proto-totalitären Tendenzen seines Denkens vorgehalten. Zunächst sind mit Vaterland explizit nur „Gesetze und Freiheit“ bezeichnet, so dass die Vaterlandsliebe eben die Liebe zu den Gesetzen und zur Freiheit ist und nicht etwa zu einem essentialistisch verstandenen homogenen Volkskörper. Wenn Rousseau schlussfolgerte, dass der Mensch ohne Vaterland nichts sei,1504 bedeutete das dann eben nicht die Forderung nach der freiwilligen Selbst-Unterwerfung des freien und autonomen Individuums unter den kollektiven Zwang einer homogenen und tyrannischen Mehrheitsgemeinschaft, sondern genau umgekehrt, dass nur eine Gemeinschaft der Freien und Gleichen den Menschen vor der Willkür und Tyrannei ihrer Mitmenschen schützen, nur die Liebe zu den Gesetzen den Menschen vor persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen bewahren kann und somit die Freiheit schützt, ohne die, wie Rousseau bereits im Contrat Social deutlich machte, der Mensch kein wirklicher Mensch ist. Es sind

1503 OC III, S. 964. 1504 OC III, S. 966.

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„freie Menschen“, die als Adressatinnen wie als Ziel im Fokus seiner Überlegungen zur Erziehung standen. Rousseau forderte also keinesfalls eine totalitäre Erziehung des Individuums durch die Gemeinschaft. Vielmehr zielte die öffentliche Erziehung auf die Ausbildung von Kontingenzbewusstsein, Kontingenztoleranz und Kontingenzaffirmation. Dies als totalitär zu brandmarken, geht völlig an Rousseaus Intention vorbei, die er auch auf das Schulwesen ausweitete: den von „Fremden und Priestern“ erteilten Unterricht als schädlich für das Gemeinwesen abzuschaffen und durch eine Erziehung durch Bürgerinnen zu Bürgerinnen zu ersetzen, das Amt der Lehrerin folglich nicht zu einem „gewöhnlichen Gewerbe“ zu degradieren, sondern aus diesem ein hohes und ehrenvolles Staatsamt zu machen, um welches man sich verdient machen müsse. Die republikanische Bildung sollte allen sozialen Schichten frei zugänglich sein, Arme sollten Stipendien erhalten, die sich am Verdienst der Eltern am Gemeinwesen (und nicht an deren Vermögen) bemäßen. In einer solchen Bildungs- oder Erziehungsreform sah Rousseau den „Schlüssel zu einer großen Kraft im Staate“1505. Öffentliche Erziehung meinte für ihn ganz konkret auch Erziehung im Sinne der Verhinderung der Ausbildung von Lastern und damit zusammenhängend die Vermeidung langweiligen, zur Apathie führenden Frontalunterrichts.1506 Über den sinnlich erfahrbaren Sport und öffentliche, im engen Wortsinn erlebbare Wettkämpfe sollten die Bürgerinnen an die eigene Gemeinschaft, an Gleichheit, Schwesterlichkeit, an das Leben zwischen und unter ihren Mitbürgerinnen und auch an das Streben nach öffentlicher Anerkennung gewöhnt werden, also an ein Leben als aktive Bürgerin.1507 Dabei steht die Autorität des Souveräns über allem, keine Verordnung könne einen Bürgerin binden, die nicht selbst abgestimmt habe, sei es persönlich, „oder wenigstens durch einen Repräsentanten“1508. Dies sah Rousseau als eine weitere Bedingung dafür an, die Freiheit aufrechtzuerhalten,1509 eine Identität von Legislative und Exekutive hingegen explizit nicht. Auch das polnische Gemeinwesen wurde schließlich nicht über Nacht eingerichtet, sondern ist das Ergebnis eines permanenten Reformprozesses in Folge der regelmäßigen Missbräuche der Gesetze. Diese Art

1505 1506 1507 1508 1509

OC III, S. 967. OC III, S. 968. OC III, S. 969. OC III, S. 973. OC III, S. 977.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

des Vorgehens habe kein Ende und führe geradewegs zu dem „furchtbarsten aller Missstände“, nämlich dem, „alle Gesetze auszuhöhlen gerade dadurch, dass man sie immer mehr vervielfacht“1510. Der Missbrauch der Institutionen ist ein Faktum, mit dem in der Politik immer zu rechnen ist und der die beständige Kritik an bestehenden (Rechts-) Praktiken sowie Forderungen und den Einschluss neuer Rechte unbedingt notwendig macht. Dies macht die Demokratie zu einem unendlichen Projekt, ohne dass sie dabei aber zwangsläufig an den Missbräuchen zugrunde gehen muss. Denn „was ist es denn, was bis heute die Autorität der gesetzgebenden Gewalt bewahrt hat? Es ist die beständige Gegenwart des Gesetzgebers, es ist die häufige Neuwahl des Reichstags, es ist die wiederholte Ernennung der Landboten (…). Ein zweites Mittel, durch welches die gesetzgebende Gewalt sich in Polen erhalten habe, sei die Teilung der vollziehenden Gewalt, welche die Träger dieser Gewalt gehindert habe, vereint auf deren Unterdrückung hinzuwirken und die häufige Weitergabe dieser Gewalt in andere Hände (…). Nur durch diese Punkte sei es, trotz der stets vorhandenen Neigung zum Despotismus, doch nie zu einer wirklichen Entwicklung in diese Richtung“ gekommen.1511 Wäre die Exekutive in der Hand einer einzigen Körperschaft oder Familie, würde sie über kurz oder lang die Legislative unterdrücken,1512 dies war für Rousseau in Anlehnung an Machiavelli ein ehernes Gesetz: Es wird immer Herrschende mit dem Willen zur Unterdrückung und Beherrschte, mit dem Widerwillen gegen Unterdrückung geben. Die Aufgabe der Politik muss es also sein, zu verhindern, dass diese Konflikte wirklich ausbrechen, da nur so die Freiheit gewahrt werden kann, wofür die symbolische Ebene einmal mehr die maßgebliche ist. So schrieb Rousseau in Bezug auf den König, dass die „Majestät des Thrones (…) mit Glanz ausgestattet werden (muss)“, es dem König jedoch nicht zustehen solle, über die nötigen finanziellen Ausgaben zu entscheiden.1513 Rousseau wusste um die symbolische Bedeutung der Erhabenheit des Thrones, der die symbolische Unterscheidung von Macht und Volk anhand von Ritualen, Zeremonien und Prunk visualisiert und manifestiert und dadurch die Gemeinschaft als solche konstituiert. Deswegen sprach er sich auch gegen das Prinzip der Erbmonarchie aus, weil eine regelmäßige Wahl des Königs „jedermann kundtut, dass die Pläne des Herrschers mit

1510 1511 1512 1513

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OC III, S. 975. OC III, S. 975f Ebd. OC III, S. 991.

IV. 3. Die Frage(n) und Antworten der Politik: Die Verfassungsschriften

seinem Leben erlöschen“1514. Der Wert der Wahlmonarchie lag also weniger darin, dass das Volk ein ihm zustehendes demokratisches Recht auf die Wahl des eigenen Oberhauptes wahrnimmt, als darin, den Bürgerinnen regelmäßig die Kontingenz und Nicht-Natürlichkeit der eigenen Ordnung, der Institutionen und der Besetzung des Ortes der Macht ins Gedächtnis zu rufen. Auch dies ist Teil der öffentlichen Erziehung zu Kontingenzbewusstsein, Kontingenztoleranz und Kontingenzaffirmation. Der Königswahl kommt dann analog zur demokratischen Wahl bei Lefort die Bedeutung zu, die Zahl an die Stelle der Substanz treten zu lassen und die konstruierte Ordnung und Einheit vorübergehend symbolisch aufzulösen. Das Gegenteil würde im Fall einer Erbmonarchie eintreten, in der die Bürgerinnen über die Generationen hinweg den Versprechen der Monarchen Glauben und Vertrauen schenkten und so jede kritische Distanz verlören.1515 „Erblichkeit des Thrones und Freiheit des Volkes werden ewig unvereinbare Dinge sein“1516, denn wo die Erblichkeit der Krone „(…) den Wirren vor(beugt), (…) führt (sie) die Knechtschaft im Gefolge“, die Wahl hingegen „erhält die Freiheit, aber sie erschüttert bei jedem Regierungswechsel den Staat“.1517 Indem die Wahlmonarchie also regelmäßig die Brüchigkeit der bestehenden Ordnung symbolisch in Erinnerung ruft, verhindert sie die dauerhafte Besetzung des leeren Ortes der Macht, weswegen eine Wahlmonarchie mit schrankenloser Gewalt immer noch besser sei, als eine gewaltfreie Erbmonarchie.1518 Die Bedeutung, die Rousseau der symbolischen Dimension der Politik zusprach, bezeugt also, dass ihm Leidenschaften, Emotionen und das sinnlich Erfahrbare unauslöschliche Charakteristika menschlichen (Zusammen-) Lebens waren, denen sich politiktheoretische Überlegungen keinesfalls verschließen dürfen. Denn die Leidenschaften und Sinne sind der ideale Anknüpfungspunkt für jede politische Erziehung, sie gilt es zu aktivieren und im Sinne des Gemeinwohls zu stimulieren und zu aktivieren. Der menschliche Ehrgeiz mag dabei die Triebfeder allen Handelns sein, Geld und Reichtum sind jedoch keinesfalls die natürlichen Objekte dieses Ehrgeizes, als welche sie in vielen modernen Gesellschaften angesehen und hochgehalten werden. Für Rousseau war das Streben nach Geld im

1514 1515 1516 1517 1518

OC III, S. 991. Ebd. OC III, S. 992. OC III, S. 1029. OC III, S. 991.

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IV. Rousseaus radikale Demokratietheorie

Gegenteil das Symptom eines Mangels an stärkeren und wichtigeren menschlichen Leidenschaften, Reichtum mithin nur eine Ersatzbefriedigung für einen Mangel an einem angemessenen Objekt der Begierde. Diese Leidenschaften gelte es daher wiederzuerwecken und ihnen eine neue Richtung zu geben, um die Menschen von ihrer Konzentration auf Geld und Reichtum abzulenken und sie zu wirklichen Bürgerinnen zu erziehen. Daraus, so zeigte sich Rousseau überzeugt, zögen diese letztlich dann auch individuell die viel größeren Genüsse, als eben durch die Anhäufung von Luxusgütern.1519 Geld sei als Belohnung schließlich auch „nicht öffentlich genug“ und könne „nicht unablässig zu den Augen und Herzen sprechen“, hinterlasse daher keine sichtbare Spur im öffentlichen Leben und reize den nötigen Wetteifer nicht im wünschenswerten Maß. Ehrenvolle Bürgerinnen, die sich um die Republik verdient machen, wollte Rousseau daher öffentlichkeitswirksam auszeichnen lassen, damit sie so unabhängig von ihrem tatsächlichen ökonomischen Reichtum und ihrer sozialen Position in der allgemeinen Anerkennung über jenen stehen, die etwa „nur“ reich sind.1520 Die angestrebte Neusortierung der allgemeinen Werteordnung, der Wechsel in der als natürlich wahrgenommenen Ordnung sozialer Hierarchien, die wie jedes soziale Phänomen ein künstliches Produkt menschlichen Erfindungsgeistes und nicht zuletzt auch das Ergebnis von Machtverhältnissen sind, war dabei das dahinterliegende Ziel der Bemühungen. Die „Entkräftung der „Macht des Reichtums“ mag ein schwieriges Unterfangen sein, welches sicher auf viele kognitive wie politische Widerstände stoßen würde, es ist jedoch nicht prinzipiell unmöglich, weil die Verteilung sozialer Anerkennung nach dem ökonomischen Leistungsprinzip und dem vermeintlich aus dessen Befolgung resultierendem Reichtum eben nicht „natürlichen“ Ursprungs ist. So erhoffte sich Rousseau, durch konkrete Maßnahmen in der Politik den Wetteifer der Menschen weg von der individuellen Nutzenmaximierung hin auf den Dienst am Gemeinwesen lenken und so für den Erhalt der Freiheit und die Stabilität der Gemeinschaft nutzbar machen zu können. Geradezu modern klingt sein Plädoyer, dass es ihm dabei keineswegs um die Abschaffung der Geldwirtschaft gehe, sondern eher um deren Verlangsamung, darum, das Geld „weniger notwendig zu machen“, da „im Grunde (…) das Geld nicht der Reichtum (ist), es ist nur dessen Zeichen; nicht das Zeichen muss

1519 OC III, S. 1005f. 1520 OC III, S. 1007.

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vervielfältigt werden, sondern die Sache, für die das Zeichen steht“1521. Politik sollte sich also nicht auf die Steuerung von Finanztransaktionen beschränken, sondern dafür Sorge tragen, die Leidenschaften der Menschen für den Dienst am Gemeinwesen zu wecken und dem ökonomischen System einen „neuen Geist“ einzuhauchen,1522 so dass die Bürgerinnen ihre Energien und Leidenschaften darauf verwenden, ihre Erfüllung in einem gemeinwohlorientierten Handeln zu finden.1523 Die mitunter auch körperliche Arbeit am Gemeinwesen dann nicht unbedingt im engen Verständnis zu bezahlen, jemanden also für unliebsame Mühen „heimlich“ und damit weniger nachhaltig zu entschädigen, sondern diese im öffentlichen Leben sichtbare Arbeit als ehrenvoll auszuzeichnen und deren Bedeutung öffentlich hervorzuheben, würde eine radikale Abkehr vom individualistischen Leistungsprinzip des liberalen Paradigmas bedeuten. Egal welche konkreten Maßnahmen jedenfalls für die Bewahrung der Freiheit ergriffen würden, auf alle Fälle sollte man sich für die nötigen Reformen ausreichend Zeit nehmen.1524 Weder redete Rousseau einem autoritären Gewaltakt ex machina das Wort, noch erhoffte er den Auftritt einer revolutionären Avantgarde, welche das Gemeinwesen dann nur noch dem Morgenrot entgegen zu führen hätte. Er war bis zum Schluss gegen jede „Erschütterung des Staatsapparates“ und im Anschluss an den Diskurs der radikalen Demokratie Vertreter einer „Demokratisierung der Demokratie“ in Permanenz, nicht jedoch ihrer Abschaffung. Als solcher war er der festen Überzeugung, dass man um der Freiheit willen nicht „neue Bürger schaffen“, sondern „aus denen Nutzen ziehen (kann und muss), welche bereits da sind“, etwa indem man dem menschlichen Ehrgeiz neue Wege anbiete.1525 Rousseau nahm sein Versprechen ernst und die Menschen so, wie sie tatsächlich waren und sind, in all ihrer Fehlbarkeit und Unberechenbarkeit, vor allem aber in ihrer wesentlichen Eigenschaft als Freie und einander Gleiche.

1521 1522 1523 1524 1525

OC III, S. 1008. Ebd. OC III, S. 1009. OC III, S. 1036. OC III, S. 1040.

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V. Zum Schluss: Post-Rousseauismus?

Die Vermutung, wonach Rousseaus politische Schriften von einem radikalen Kontingenzbewusstsein angeleitet sind, wurde mit Hilfe einer durch die politische Theorie Claude Leforts geleisteten Neulektüre bestätigt. Damit konnte eine übersehene Verbindung des politischen Denkens Rousseaus zum gegenwärtigen Diskurs der radikalen Demokratie freigelegt und diesem der Anspruch auf die Schaffung von Kontingenzbewusstsein, Kontingenztoleranz und Kontingenzaffirmation im Dienste der Freiheit nachgewiesen werden. Dafür war es nötig, zunächst die Blockaden im Arsenal der politischen Ideengeschichte zu identifizieren, welche eine bisher nicht wirklich erfolgte Rezeption Rousseaus seitens der gegenwärtigen Radikaldemokratie verhinderten, um diese dann zu überwinden. Eine wesentliche dieser Blockaden konnte in der unkritischen Adaption einer hegemonialen Rousseau-Interpretation durch Claude Lefort ausgemacht werden. An all den diskursiven Knotenpunkten, an denen Lefort Rousseau begegnet sein musste und ihm wohl begegnet ist, sah er sich immer vor die Alternative „Totalitarismus oder Liberalismus“ gestellt, der er sich aus gezeigten Gründen verweigern musste. Den einzigen Ausweg aus dieser Interpretationssackgasse hätte vielleicht ausgerechnet Carl Schmitt angeboten, zu dessen Rezeption sich Lefort aber aus nachvollziehbaren Gründen (und anders als Jahrzehnte später Chantal Mouffe) nicht bekennen mochte. Es spricht einiges dafür, dass Lefort Rousseau für ebenso historisch belastet und schlecht beleumundet hielt, wie Schmitt, als dass er sich um dessen Rehabilitation hätte bemühen wollen. All das wäre nun nicht wirklich problematisch und vielleicht erst einmal nur für Schmitt- und Rousseau-Exegetinnen von werkimmanentem oder historischem Interesse, insofern ja prinzipiell keinerlei immanente Notwendigkeit oder Zwang zur Rezeption und Adaption welcher Autorinnen oder Schriften auch immer besteht. Sobald die unkritische Übernahme von Interpretationshegemonien und damit von Rezeptionsblockaden aber zur Konsequenz einer Verknappung des systematischen Gehalts einer politischen Theorie oder der Verengung eines Diskurses führt, wird dies für die Ideenhistorikerin aber zu einer Herausforderung, der sie sich annehmen muss, zumindest dann, wenn Sie ihre Disziplin als explizit politische Ideengeschichte versteht und an der Bedeutung von Ideen für gegenwärtige Deutungskämpfe festhält.

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V. Zum Schluss: Post-Rousseauismus?

Nach der Identifikation der Blockaden galt es also daher, sich an deren Überwindung zu machen und den Anschluss Rousseaus an den Diskurs der radikalen Demokratie über die zuvor rekonstruierte Demokratie- und Totalitarismustheorie Claude Leforts zu leisten. So wurden die aus einer sich gegenseitig befruchtenden ideengeschichtlichen Kontextualisierung und systematischen Rekonstruktion des politischen Denkens Claude Leforts gewonnen Kategorien in Verbindung mit jenen Zentralkategorien des gegenwärtigen radikaldemokratischen Denkens, die sich zu einem großen Teil dem Einfluss Leforts verdanken, an die politischen Schriften Rousseaus angelegt und diese einer Neulektüre unterzogen. Die Kategorien waren dabei ganz bewusst großzügig zugeschnitten, um die jeweils markanten und ganz eigenen Positionen Rousseaus wie Leforts nicht unnötig zugunsten der Einpassung in ein zu engmaschiges Analyseraster zu schleifen. Schließlich ist es nie die Absicht gewesen, Rousseaus und Leforts Ansatz als zueinander identisch auszuweisen. Es ging vielmehr darum, Strukturanalogien freizulegen und zu zeigen, dass Rousseau und Lefort auf der Basis eines geteilten Bewusstseins und der gemeinsamen Sorge um den freiheitskonformen Umgang mit der für moderne demokratische Gesellschaften ebenso charakteristischen wie alternativlosen „gefährlichen Freiheit“ in ein produktives Gespräch gebracht werden können, welches eine Bereicherung für den gegenwärtigen Diskurs der radikalen Demokratie sein könnte. Rousseau und Lefort sehen die größten Chancen und zugleich die größten Gefahren der Freiheit aus ihrer eigenen Bedingung und Bedingtheit selbst entspringen: der Grundlosigkeit aller gesellschaftlichen und politischen Ordnungen. Beide stimmen darin überein, dass das erste Ziel aller Politik der Erhalt der Freiheit sein muss, ohne dass sie sich dafür vorschnell die Trennung einer individuellen und kollektiven, einer traditionellen und vermeintlich modernen Form der Freiheit einkaufen. Vielmehr eint sie ihr Grundplädoyer, wonach jede Form der politischen Freiheit als ein ergebnisoffenes Abenteuer anzuerkennen und anzunehmen ist, die Freiheit also mit all ihren Unsicherheiten, Unwägbarkeiten und in all ihrer Unheimlichkeit erlebt werden muss, um wirklich genossen werden zu können. Was sich nun, wie etwa auch in Rousseaus ganz persönlichem Fall, individuell in Form eines Vagabundendaseins, in einer gewissen Waghalsigkeit, Offenheit gegenüber Unerwartetem und Abenteuerlust ausleben lässt, bedarf auf der kollektiven Ebene, also im Bereich des Politischen und der Politik einer aktiven und tugendhaften Bürgerinnenschaft, welche sich im Bewusstsein um die Risiken der Freiheit dennoch stets und zuallererst de456

V. Zum Schluss: Post-Rousseauismus?

rer Verteidigung gegenüber allen Versuchen letztgültiger Besetzungen des leeren Ortes der Macht, endgültiger Festlegungen des Gemeinwillens, der Grenzen und der Identität der politischen Gemeinschaft, mithin also dem Kampf gegen jede Schließung des Politischen zugunsten von Ordnung, Sicherheit und Transparenz verschreibt. Als eine in diesem Sinne tugendhafte Bürgerinnenschaft muss sie zuvorderst diskursiv wie institutionell als widerständig adressiert und gefördert werden, um sich selbst als solche zu begreifen, konstituieren und erfahren zu können. Aus einer rationalen und intellektuellen Überzeugung ebenso wie aus der affektiven und emotionalen Bindung an ihre Institutionen, Prinzipien und Geschichten muss diese die Institutionen, Machthaber und letztlich auch sich selbst stets als Einheit im Widerspruch an die Einlösung der demokratischen Versprechen erinnern. Eine im diesen Sinne „wilde Demokratie gegen den Staat“ strebt nicht nach der Überwindung oder Auflösung des Staates, sondern fordert permanent von diesem und gegen diesen die Demokratisierung der Demokratie. Um den Anspruch einzulösen, einen Beitrag zu einer möglichen Neusortierung des Arsenals der Politischen Theorie und Ideengeschichte zu leisten, begab sich die Arbeit dafür in das Handgemenge um die Auslegung der politischen Theorie Rousseaus, ohne die dominanten Interpretationstraditionen delegitimieren und ihnen ihre Berechtigung absprechen zu wollen. Archive und Arsenale, politisch-ideengeschichtliche zumal, reflektieren jedoch immer auch Machtverhältnisse, weswegen jeder Kampf um gesellschaftliche und politische Reformen, für Emanzipation und Freiheit nicht nur der Unterstützung der Archive und Arsenale bedarf, sondern in diesen und um diese geführt werden muss. Diese Kämpfe sind daher nicht voneinander zu trennen. Denn so lange im ideengeschichtlichen Archiv Narrative um die Identitäten und Legitimationen von politischen Gemeinschaften nicht nur verwahrt, sondern bearbeitet und reaktualisiert werden, um von dort aus politische Debatten mit dem nötigen Material zu versorgen, welches regelmäßig bei der Frage nach oder dem Kampf um die Neuziehung der Grenzen des Denk-, Sag- und Machbaren zum Einsatz kommt, ist die Vorstellung einer Trennung von Theorie und Praxis nicht aufrecht zu halten, ja selbst bereits Teil hegemonialer Deutungskämpfe. Aus diesem Grund sollte Rousseaus politische Theorie aus den mitunter engen Korsetts der Interpretationstraditionen befreit und als ebenso anschlussfähig wie anschlusswürdig für aktuelle politische Herausforderungen präsentiert werden. Ob dieser Versuch überzeugend gelang und von Erfolg gekrönt sein wird, zwei Dinge, die ja nicht notwendig miteinander 457

V. Zum Schluss: Post-Rousseauismus?

zu tun haben müssen, wird sich zeigen. Vor allem die Auslegung Rousseaus als proto-totalitärer Denker erweist sich dabei als der größte zu überwindende Widerstand. Eine jüngere (und sehr erfolgreiche) Publikation, um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen, scheint eher die Erhärtung der bestehenden Vorurteile gegen Rousseau zu bestätigen, bezeichnet sie diesen doch weithin unwidersprochen als „selbstbesessene(n) und sich selbst zerfleischende(n) Geist und (…) zwanghafte(n) Lügner“, von Selbstekel zerfressen und einem zutiefst pessimistischen Menschenbild anhängend, so dass seine auf Schuldgefühlen und Paranoia basierende „Philosophie der Unterdrückung im Namen hehrer Ideale den Weg für die totalitären Regime des zwanzigsten Jahrhunderts (ebnete)“. Folglich sei es gar „kein Wunder“, dass Rousseau zum Vorbild Robespierres wurde.1526 Rousseaus politische Philosophie müsse daher als „totalitäre, aus seinem kochenden Zivilisationshass geborene Utopie“ gelesen werden, welche in Robespierre, Lenin und Pol Pot begeisterte Leser und Anhänger gefunden habe. Letzter habe „den wohl grausamsten Versuch (unternommen), Rousseaus Gesellschaft unverdorbener und tugendhafter Landbewohner fern von allen Einflüssen einer dekadenten Zivilisation zu verwirklichen, indem er versuchte, sein eigenes Land in die Eisenzeit zurückzumorden“.1527 Dass dieses Bild der Bedeutung der politischen Schriften Rousseaus seit geraumer Zeit den Anspruch auf Wahrhaftigkeit erfolgreich für sich behauptet, ist eine unbestreitbare (und unbestrittene) Tatsache, die daher jedoch umso mehr die Notwendigkeit einer permanenten Hinterfragung von Interpretationstraditionen gerade der Klassiker und damit zusammenhängend der Neusortierung des Arsenals der politischen Ideengeschichte hervorhebt, weil die Blockaden in den Archiven und Arsenalen in aller Konsequenz zu deren Schließung und damit der Schließung des Politischen führen würden. Dass Rousseau „den Kampf um die Nachwelt gewonnen“ haben soll, was ihm einen „Ehrenplatz im Panthéon“ eingebracht habe (den er selber ganz sicher sofort gegen die Ruhe Ermenonvilles zurücktauschen würde), weil sich seine „persönlichen und intellektuellen Widersprüchlichkeiten dazu eignen, die Widersprüche unserer eigenen Kultur zu verbrämen“ muss nicht nur als zynisch bezeichnet werden,1528 sondern weist aber vor allem auf die verdrehte Perspektive hin. Nicht „der“ Rousseau mit seiner einen gültigen und in sich kohärenten politischen Theorie hat hier irgend1526 Blom, Philipp: Böse Philosophen. S. 17f. 1527 Ders. S. 20. 1528 Ders. S. 19.

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einen Kampf gewonnen (den er nie geführt hat), sondern eine ganz bestimmte Interpretationstradition hat sich in einer konkreten und spezifischen ideenpolitischen Konstellation gegen konkurrierende Interpretationen durchgesetzt und sich über den Lauf der Zeit in ähnlichen Situationen immer wieder behauptet, so dass die Geschichte sie frei nach Foucault so hart gesotten hat, dass sie sich nicht mehr zu verändern scheinen lässt, ja sie überhaupt nicht mehr als eine unter mehreren Alternativen erkennbar ist. Genau dagegen anzugehen, derlei Interpretationshegemonien als solche zu identifizieren und die damit verbundenen Rezeptionsblockaden wenn nötig aufzubrechen, muss die erste Aufgabe einer politischen Ideengeschichte sein. So folgte die Arbeit keineswegs dem Anspruch, die Person Rousseau erneut vor das Gericht der Geschichte zu zitieren, um ihn dort etwa zu rehabilitieren. Die Registerkarten, unter denen Rousseaus und Leforts politische Theorien im Arsenal der Politischen Theorie und Ideengeschichte verschlagwortet sind, sollten vielmehr um Querverweise zu- und aufeinander ergänzt werden, was durch den Aufweis der diachronen Verbindungen und Strukturanalogien plausibilisiert wurde. Das ist insofern wichtig, als die Ordnung des Arsenals eben niemals von rein historischem Interesse, sondern maßgeblich für die Gegenwart und das Selbstverständnis einer jeden politischen Gemeinschaft ist. Es können dann aber eben nur diejenigen Ideen, Theorien und Konzepte ausgegeben werden, die auch angefragt werden, was die beständige Neusortierung des Arsenals zu einer der wesentlichen Aufgaben einer politischen Ideengeschichte macht. In diesem Sinn kann die vorliegende Arbeit daher auch als ein ideenpolitischer Beitrag zu einer gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen angemessenen Demokratietheorie gelesen werden. Als solcher plädiert sie dafür, vor allem die so genannten „Klassiker“ und deren Stellung im Arsenal immer wieder neu zu befragen und dieses entsprechend regelmäßig neu zu sortieren, was selbstverständlich nicht rein willkürlich geschehen kann, egal wie wirkmächtig Interpretationshegemonien sein mögen. Genau wie unsere Gegenwart aber nicht zwangsläufig zu dem geworden ist, als was sie uns heute in den Begriffen der „Notwendigkeit“ und „Alternativlosigkeit“ oft gegenübertritt oder präsentiert wird, so ist auch die allgemein anerkannte Interpretation unserer ideengeschichtlichen Traditionen und Herkünfte niemals die einzig gültige, noch die einzig mögliche. Eine Disziplin, die sich darauf beschränkt, ihre Klassiker nur auf deren Kompatibilität mit der gegenwärtigen Ordnung hin zu lehren und zu lesen, kann nicht leisten, was die hier präsentierte und radikaldemokratisch in459

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spirierte Perspektive bietet: Die Bewusstmachung der prinzipiellen Möglichkeiten von Alternativen sowie die Plausibilisierung von Perspektivwechseln zugunsten radikaler Kritik an allen hegemonialen Praktiken, die im Ergebnis auf die Entmündigung der Bürgerinnen zulaufen. Was gewährleistet, wenn nicht sogar ganz grundsätzlich erst (wieder) geschaffen werden muss, ist die (Selbst-) Befreiung mündiger Bürgerinnen von allen vermeintlich alternativlosen Entscheidungszwängen, welche ihnen nur zu gerne von selbst ernannten Expertinnen abgenommen würden, ist die Wiederaneignung und Wiedergewinnung des Politischen und die Akzeptanz dessen, dass sich alle auftretenden Probleme weder antizipieren, noch jemals wirklich lösen lassen können und es auch nicht müssen. Es gilt eine Sensibilität gegenüber autoritären Aneignungen sozialer und politischer Probleme seitens der Machthaber und dominanter gesellschaftlicher Kräfte zu schaffen, die ihre Interessen hinter politischen Maßnahmen zur Krisenbewältigung verbergen, um daran anschließend im Namen der Demokratie zum Winderstand gegen diese Aneignungen mobilisieren zu können. Bleibt dies aus, wird letztlich derjenige Souverän werden, dem es am überzeugendsten gelingt, die kollektive Angst zu instrumentalisieren und dem permanenten Ausnahmezustand einen Namen zu geben. Wie Spinozas politische Theorie ist auch Rousseaus eine der Immanenz.1529 Als solche entbehrt sie jeglicher metaphysischer Bezüge und versteht politische Gemeinschaften und deren Institutionen ebenso als das Ergebnis menschlichen Handelns, wie die Orientierung aller Politik an diesem ausgerichtet sein muss. Rousseaus Theorie als Ergebnis einer (erfolglosen) „Suche nach dem Ursprung“ unterliegt ein Bewusstsein um die Unmöglichkeit letzter Gründungen, sie verweigert sich der Flucht und Rettung in vermeintlich Sinn und Sicherheit stiftende transzendentale Wahrheiten, weil und indem sie ihr selbst formuliertes Primat der Freiheit radikal ernst nimmt – mit allen Konsequenzen. Zugleich beließ es Rousseau nicht bei der Schaffung von Kontingenzbewusstsein, sondern machte sich Gedanken darüber, wie der Angst und Unsicherheit der Bürgerinnen durch ein geeignetes Institutionendesign, vor allem aber durch das Mittel der politischen Erziehung begegnet, wie dieser vorgebeugt werden kann. Dabei liegen die Hürden sehr hoch. Denn der Umgang mit den Bedingungen radikaler Freiheit muss erlernt werden, ein Bewusstsein der Unmöglichkeit

1529 Saar, Martin: Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza. Berlin 2013.

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letzter Gründungen und der gleichzeitigen Unumgänglichkeit von immer neuen Gründungsversuchen nicht nur akzeptiert, nicht nur ausgehalten, sondern als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit geradezu begrüßt werden. Das ist hoch voraussetzungsreich und erfordert eine anspruchsvolle Praxis politischer Freiheit, welche permanent der Gefahr der Opferung auf dem Altar vermeintlicher Sicherheit, Transparenz und Homogenität ausgesetzt ist. Diese Form radikaler Freiheit nach Rousseau bedingt und informiert die immanente und permanente Selbstgründung demokratischer Gesellschaften. Ihr muss Rechnung getragen werden, wenn der Mensch in der Gesellschaft, also unter der nie abzuschaffenden Bedingung politischer Herrschaft, so frei sein soll, wie vor dem gedachten Beginn von Herrschaftsverhältnissen. Dieser Form der Freiheit verschreibt sich alle legitime Politik, sie ist deren letzter Zweck und die einzige Legitimation damit notwendig einhergehender Herrschaftsverhältnisse zugleich. Weder geht Freiheit so in einem rein liberalen „negativen“ Verständnis auf, noch ist sie bloß „positiv“ im Sinne der Möglichkeit und der Pflicht - manche würden sagen des Zwangs - zur Partizipation. Sie ist mehr als das, sie ist die Bedingung allen menschlichen Handelns und dessen letzter Zweck, sie ist im positiven wie im negativen Sinn Schicksal, man mag sie normativ auszeichnen, sie institutionell absichern, in ihrem Namen Kriege führen oder sie verteufeln, entkommen kann man ihr letztlich nicht. In diesem Sinne ist Rousseaus politische Theorie eine des Politischen und der Politik. Durch den Aufweis der „gefährlichen Freiheit“ als Klammer zwischen dem gegenwärtigen Diskurs der radikalen Demokratie und der politischen Theorie Rousseaus wurde auch der Anspruch auf Grundlagenarbeit für den Diskurs der Radikaldemokratie einzulösen versucht. Die Interpretation Rousseaus mit Hilfe der politischen Theorie Claude Leforts zeigte, dass jener den Diskurs der radikalen Demokratie produktiv ergänzen kann. War dort schon der Rückgriff auf die von Rousseau gestellten Fragen blockiert, so ganz sicher der auf seine Antworten. Gerade vor dem historischen Hintergrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus hielt Lefort (und mit und nach ihm auch große Teile des radikaldemokratischen Denkens) offensichtlich jede Beschäftigung mit Fragen der politischen Erziehung für diskreditiert. Befreit man Rousseau jedoch plausibel vom totalitären Ballast der bisherigen Rezeption, ergeben sich neue Anschlussmöglichkeiten. Dann kann sich auch oder gerade die radikale Demokratie aus der Deckung wagen und nicht nur versuchen, sich Rousseaus Vorschlägen unverfänglich und neugierig zuzuwenden, sondern sich vielleicht ganz bewusst zu ihrem Ahnherren beken461

V. Zum Schluss: Post-Rousseauismus?

nen, sich in dessen Tradition stellen und seine Vorschläge aufnehmen, konkretisieren oder weiterentwickeln. Wenn Rousseaus Überlegungen zu den Möglichkeiten einer öffentlichen politischen Erziehung der Bürgerinnen nicht mehr automatisch gleich die altvertrauten Abwehrreflexe hervorriefen, wenn also Appelle an und Überlegungen über Leidenschaften, Affekte und Emotionen auch in emanzipatorischen Kontexten und progressiven Diskursen vermehrt angestellt würden, könnte dies dazu beitragen, die vom liberalen Paradigma festgezurrten Grenzen der Möglichkeiten emanzipatorischer Politik neu zu ziehen. Die jeder Politik immer und notwendig inhärente emotionale Dimension müsste dann nicht mehr automatisch mit (proto-) totalitären Maßnahmen und Versuchen der Gleichschaltung und Kontrolle assoziiert werden, als welche die Hegemonie eines bestimmten liberalen Denkens sie (und mit ihr Denker wie Rousseau) erfolgreich stigmatisiert und aus aktuellen Debatten fernhält. Wenn die Radikaldemokratinnen mit Rousseau aber weiterhin diese Dimension der Politik ausblenden und sich damit einhergehend der Notwendigkeit der Formulierung von Antworten und konkreten Vorschlägen in der und durch die Politik verweigern, geschieht das letztlich auch zu ihrem eigenen Schaden. Dann unterwerfen sie sich schließlich nicht nur genau jenen Denkverboten des (neo-) liberalen Paradigmas, welches sie so heftig zu bekämpfen vorgeben, sondern räumen über kurz oder lang vielleicht ganz die öffentlichen Plätze, um sich in die Wälder des Daseins und damit der politischen Irrelevanz zurückzuziehen. Dass der Totalitarismus kein historisch überholtes Phänomen, sondern die immer präsente Möglichkeit der Entwicklung ganz besonders auch demokratischer Gesellschaften ist, ist eine der wesentlichen Erkenntnisse der Schriften Leforts, an die der Diskurs der radikalen Demokratie anschloss. Will man wirklich wirksam gegen das „Geschrei der Macht“ seine Stimme erheben, dann kann Rousseau von großem Nutzen sein, stellte er doch konkrete Überlegungen dazu an, wie eine in diesem Sinne gemeinwohlorientierte und zugleich widerständige Bürgerinnenschaft beschaffen sein müsste und gewährleistet werden könnte. Es ging hierbei wie gesagt nicht darum, konkrete Antworten aus Rousseaus politischen Schriften herauszulesen und diese dann ohne Rücksicht auf Kontext und historische Entwicklungen auf gegenwärtige gesellschaftspolitische Herausforderungen zu werfen. Es war eher die Auflösung selbst auferlegter Denk- und Rezeptionsblockaden, die Überbrückung von selbst verschuldeten Kurzschlüssen im Arsenal der politischen Ideengeschichte, die es der radikalen Demokratie ermöglichen soll, sich auf die von Rousseau angedachten Denkpfade zu 462

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begeben und (von) dort zu eigenen, den gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen angemessenen Antworten zu finden. Um ein abschließendes Plädoyer zu formulieren, sollten sich die Radikaldemokratinnen zu ihrem rousseauistischen Erbe bekennen, sollten sie sich selbstbewusster und ergebnisoffener ihrer eigenen Ideengeschichte zuwenden, sollten sie ihre eigenen Interpretations- und Rezeptionshorizonte in ihrer Kontingenz hinterfragen und mitunter überschreiten, um sich nach einer erneuten und (als wäre dies je möglich) möglichst unvoreingenommenen Lektüre Rousseaus als dessen Nachfolgerinnen zu adressieren und zu positionieren. Ein solcher „Post-Rousseauismus“ wäre schließlich ebenso wie eine „Post-Demokratie“ und ein „Post-Marxismus“ weder eine vollständige Übernahme, noch eine komplette Ablehnung der Prämissen, Argumente und Vorschläge Rousseaus. Dessen politische Theorie, davon ist vorliegende Arbeit überzeugt, hat dem radikaldemokratischen Diskurs jedenfalls mehr zu bieten, als es die stillschweigende Akzeptanz bestehender Rezeptionsblockaden zu erkennen erlaubt, gesetzt den Fall, man will am eigenen Grundanspruch festhalten und sich nicht dem Exodus aus konkreten gesellschaftspolitischen Kämpfen anschließen.1530 Auf diesem Weg könnte dann zu einem „Republikanismus jenseits der Republik“1531 gefunden werden, welcher an der republikanischen Zurückweisung aller Vorstellungen vorpolitischer gesellschaftlicher Grundlagen von Freiheit oder Vernunft festhält, zugleich aber eine modernen gesellschaftlichen Verhältnissen angemessene Reformulierung traditioneller republikanischer Ansätze vornimmt. Um es daher abschließend erneut deutlich zu machen: Eine im radikaldemokratischen Sinne progressive und emanzipatorische Politik könnte sich durchaus in die Tradition eines Post-Rousseauismus einschreiben, ohne sich selbst zu verraten oder sich in Widersprüche zu verwickeln. Schließlich gibt es keinerlei historische, logische, systematische und politische Notwendigkeit, das überlieferte Bild einer politischen Theorie kampflos abzulehnen oder zu übernehmen. Gleiches gilt dann ganz besonders für die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen und für die politischen Theorien stets eine konstitutive Bedeutung zukommt. Denn auch heute noch ist der Mensch frei geboren und immer noch liegt er überall in Ketten. Wie es historisch dazu gekommen ist, mag uns dabei vielleicht niemals voll verfügbar sein, ja wissen wir vielleicht nicht. Wohl 1530 Mouffe, Chantal: Exodus und Stellungskrieg. Die Zukunft radikaler Politik. Wien 2005. 1531 Niederberger, Andreas: Republikanismus jenseits der Republik? A.a.O.

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aber, was den gegenwärtigen Zuständen Dauerhaftigkeit verleiht, was sie stabilisiert und legitimiert und damit aber zugleich und nicht zuletzt dank Rousseau auch, wo und wie der Hebel angesetzt werden könnte, diese Verhältnisse zu analysieren, zu kritisieren und im Namen der Freiheit zu ändern.

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Danksagung

Wer über Kontingenz spricht, sollte vielleicht auch über die eigenen Ursprünge, oder - mit Nietzsche und Foucault gesprochen - die eigene Herkunft reflektieren. In diesem Sinne gilt mein erster Dank Prof. Dr. Karlfriedrich Herb. Dafür, dass er einen „Fallschirmspringer“ zur Promotion ermutigte, ihm bei der Themenfindung half und mit Claude Lefort auf den „richtigen“ Weg brachte. Vor allem aber dafür, dass er mich mit dem Bayerischen Promotionskolleg zusammenführte und so eine entscheidende Weichenstellung meiner weiteren akademischen Laufbahn vornahm. Denn dort lernte ich Dr. Frauke Höntzsch kennen, die mir den Weg nach Augsburg eröffnete und mir über die Jahre von einer hoch geschätzten Kollegin zu einer echten Freundin geworden ist. Ich danke ihr für ihre aufmunternde und immer positive Art, für den Zuspruch und die vielen sehr guten fachlichen und privaten Gespräche. Es war wirklich immer ernst gemeint, Frauke, ich würde es jederzeit wieder tun. In Augsburg angekommen hat mich Prof. Dr. Marcus Llanque von Anbeginn an hervorragend fachlich betreut und beraten und mir stets das nötige Vertrauen und die inhaltlichen Freiräume in Forschung und Lehre gewährt, um mein Dissertationsprojekt voranzutreiben und in der gegebenen Zeit auch zu Ende zu führen. So hat er es ermöglicht, die Arbeit zu dem zu machen, was sie ist: Meine Herzensangelegenheit. Vielen Dank dafür. Bei meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Wilhelm Hofmann möchte ich mich für die wichtigen Hinweise und klugen Kommentare bedanken, die mir vor allem dabei sehr hilfreich waren, mir über methodische Aspekte und dahingehend offene Flanken klar zu werden. Für die intellektuell anregende, offenherzige und mitunter auch ausgelassene Stimmung sowie das produktive und angenehme Arbeitsklima am Lehrstuhl möchte ich mich bei meinen Augsburger Kolleginnen und Kollegen bedanken, denen ich im Rahmen unseres Oberseminars regelmäßig die Zwischenergebnisse meiner Arbeit vorstellen durfte und deren Kritik und Anmerkungen mir stets enorm weitergeholfen haben. Allen voran seien hier Dr. Paul Sörensen und Dr. Tobias Bevc genannt, nicht minder herzlicher Dank gilt Katja Teich, Marc Grimm, Dr. Sibylle de la Rosa, David Terwiel, Michael Vogt und Karin Tausend. Rebecca Gulowski danke ich von Herzen dafür, mir das phänomenologische Denken nicht nur grundlegend erklärt, sondern darüber hinaus fundamental erfahrbar ge-

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Danksagung

macht zu haben. Zu erkennen und gleichzeitig zu erleben, dass wir der Welt niemals einfach nur gegenüberstehen, sondern immer und notwendig Teil des Lebens sind, hat mir einen Zugang zu eben dieser Welt ermöglicht, der weit über die Arbeit hinaus von enormer Bedeutung für mich war, ist und bleiben wird. Meinen Brüdern und Freunden danke ich für die wichtigen Ablenkungen, die gelösten Momente und die Gespräche über alles, was auch mal nichts mit meiner Doktorarbeit zu tun haben durfte. Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle Thilo Bausback, ohne dessen Unterstützung dieses Buch in der Form nicht hätte erscheinen können. Prof. Dr. Oliver Flügel-Martinsen und Prof. Dr. Andreas Hetzel danke ich für die Aufnahme in die Schriftenreihe und die damit verbundene Wertschätzung der Arbeit. Meinen Eltern Rainer und Adelgunde schließlich verdanke ich mehr, als sich je zwischen zwei Buchdeckel pressen lässt. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.

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