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German Pages 204 [208] Year 1962
GEDICHTE CONRAD FERDINAND MEYERS WEGE IHRER VOLLENDUNG
Herausgegeben und mit einem Nachwort und Kommentar versehen von HEINRICH HENEL
DEUTSCHE
TEXTE
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M A X N I E M E Y E R V E R L A G T Ü B I N G E N 1962.
DEUTSCHE TEXTE Herausgegeben von Richard Alewyn und Rainer
Gruenter
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Gedichte Conrad Ferdinand Meyers Wege ihrer
Vollendung
Herausgegeben und mit einem Nachwort und Kommentar versehen von Heinrich Henel
Alle Rechte vorbehalten Copyright by Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1962 Printed in Germany Satz und Druck: Ferdinand Oechelhäuset Druck- und Verlags-GmbH, Kempten
INHALT VERÄNDERUNG I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.
IX.
X. XI. XII. XIII. XIV. XV.
1
1. Der Pfad 2. Die Felswand 1. Himmelsnähe 1865 2. Himmelsnähe 1870 3. Himmelsnähe 1892 1. Bei der Jahreswende 2. Neujahrsgeläute 3. Neujahrsglocken 1. Unter schwankender Ampel 2. In einer Sturmnacht 1. Abendbild 2. Ein doppeltes Leben . . . 3. Zwei Segel 1. Mit dem Tode . . . 2. Der Kamerad 1. Einer Scheidenden 2. Laß scharren deiner Rosse Huf! 1. Abendgang 2. Auferstandene Liebe 3. Alte Liebe 1873 4. Alte Liebe 1878 5. Die alte Liebe 6. Die tote Liebe 1882 7. Die tote Liebe 1887 1. Rom: Springquell 2. Der Brunnen 3. Der sdiöne Brunnen 4. Der Brunnen 1864 oder 1865 5. Der Brunnen 1869 6. Der sdiöne Brunnen 7. Der römische Brunnen 1. Die Fahrt des Achilles 2. Die Waffen des Achill 3. Der tote Adiill 1. Die Jungfrau 1879 2. Die Jungfrau 1882 1. Thespesius 2. Der neue Name 3. Thespesius 1. Die Dioskuren 2. Der Botenlauf 1. Bertarit 2. Bettlerballade 1. Cäsar Borgia 2. Cäsar Borjas Ohnmacht
VERWANDLUNG XVI. XVII.
1. Poesie 2. Fülle 1. An die Natur im Spätsommer 3. Säersprudi
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20 23 26 28 35 38 41 47 49
2. Spätjahr 49 III
XVIII. XIX. XX. XXI. XXII.
XXIII. XXIV. XXV.
1. Dein d e n k ' i d i . . . 2. Längst löschten sie... 3. Liebeshelle 4. Liebesflämmchen 1. Auf plötzlich dunkeln Matten... 2. In der Abendstunde 3. Dämmergang 1. Traumbild 2. Lethe 1. Waldweg 2. Im Walde2 3. Stapfen 1881 4. Stapfen 1882 1. Nachtgedanken 2. Ich kann den Schlaf nicht finden... 3. Nachtwache 4. Abendwolken 5. In Harmesnächten 1. Die sterbende Meduse 2. Vor einer Büste 1. Der Zweikampf 2. Der Ritt in den Tod 1. Raneé 2. Die Kartäuser
VERZWEIGUNG XXVI.
XXVII.
XXVIII. XXIX.
XXX.
XXXI. XXXII.
IV
1. Der Frühling k o m m t . . . 2. „Tag, schein herein" 1870 3. „Tag, schein' herein" 1882 4. Der Schatten 5. Zur neuen Auflage 1. Kommet wieder 2. Möwenflug 1881 3. Möwenflug 1882 4. Der Gesang des Meeres 1882 5. Der Gesang des Meeres 1891 1. Erntelied 2. Schnitterlied 3. Erntegewitter 1. Der Musensaal 1865 2. Die neuen Musen 3. Der Musensaal 1892 4. Der Triumphbogen 1876 5. Der Triumphbogen 1891 1. Michel Angiolos Gebet 2. Michel Angelo 3. In der Sistina 4. Michel Angelo und seine Statuen 5. Il Pensieroso 1. Trennung von Rom 2. Römische Mondnacht 3. Auf Ponte Sisto 4. Chor der Toten 1. Der sterbende Fechter 2. Vercingetorix 3. Das Geisterroß 1878 4. Das Geisterroß 1887 5. Das Amphitheater 6. Die wunderbare Rede
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XXXIII.
1. Der Schwimmer 2. Camoëns 1875 3. Camoëns 1882 4. Nicola Pesce
VEREINIGUNG XXXIV. XXXV. XXXVI.
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1. Frühlingsgespenster 2. Frühlingsgespenster 3. Lenznacht 4. Liederseelen 5. Blütezeit 6. Lenz Triumphator 1882 7. Lenz Triumphator 1887 8. Das rote Tal 9. Wetterzeichen 10. Frühlingsspruch 11. Friihlingsspruch 12. Wetterleuchten 1881 13. Wetterleuchten 1882 14. Kennst du, K i n d . . . 15. Liebesjahr 1881 16. Liebesjahr 1882 17. Mein Jahr 129
NACHWORT ÜBER
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1. An die Muse 2. Liebe, du t r ä n k s t . . . 3. Wachend in des J a h r e s . . . 4. Die Ampel 119 1. Jungfrau 2. Im Engadin 3. Firnelicht 4. Gletscher 121 1. Alpenlüfte 2. Abendwehen 3. Auferstehung 4. Der Apollo 5. Das Seeldien 1882 6. Das Seelchen 1883 123
VERWANDTSCHAFT XXXVII.
109
137
EINRICHTUNG
U N D BENUTZUNG DER AUSGABE
161
ABKÜRZUNGEN
165
KOMMENTAR
168
V
VERÄNDERUNG
I.
1. D E R P F A D (1870) Wüst gespaltne Felsenmassen Türmen sich vor meinem Blick, Wie vor einem wilden Hassen Weicht befremdet er zurück; Aber auf das Schrecknis wieder Zieht ihn ein geheimer Bann, Durdi die Trümmer auf und nieder Sucht er, wo er haften kann. Über schroffem Felsenrisse Schweben sieht er einen Steg, Durdh die Tannenfinsternisse Dämmert hier und dort ein Weg; Er verfolgt ihn — an den Wänden Klettern Stufen steil empor, Dunkel öffnet, wo sie enden, Sich ein stilles Felsentor. Endlich hat der Blick gefunden Eines Pfades sichern Gang, H ö h ' und Tiefen sind verbunden Durch des Wegs Zusammenhang; Ruhig weilt er auf dem Bildnis Nun, daraus das Irrsal sdiwand, Es getröstet in der Wildnis Ihn das Werk der Menschenhand. 2. D I E F E L S W A N D (1883) Feindselig, 1 wildzerrissen steigt die Felswand. Das Auge schrickt zurück. Dann irrt es unstät Daran herum. Bang sucht es, wo es hafte. Dort! über einem Abgrund schwebt ein Brücklein Wie Spinnweb. H ö h e r um die scharfe Kante
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Sind Stapfen eingehaun, ein Wegesbruchstück!8 Fast oben ragt ein Tor mit blauer Füllung: Dort klimmt ein Wanderer 3 zu Licht und Höhe! Das Aug' verbindet Stiege, Stapfen, Stufen. Es sucht. Es hat den ganzen Pfad gefunden, Und gastlich, siehe, wird die steile Felswand. 4
II. 1. H I M M E L S N Ä H E (1865) Auf sdimalem Grat bin ich gelagert hier In der Gebirge weißgezadctem Kreis, Ein blendend Silberhorn blickt über mir Hervor aus einem grünen Meer von Eis. Vom Abgrund ist mein Lagerplatz umgrenzt, In beiden Tiefen leuchten blaue See'n, Mit blüh'nden Moosen ist mein Sitz bekränzt, Mein Blut ist kühl und meine Haare wehn. Der Schnee, der gestern hing am Fels zerstreut, In hundert Rinnen rieselt er davon, Und in der schwarzen Feuchte schimmert heut Der Soldanelle zarte Glodte schon. Bald nahe tost, bald fern der Wasserfall, Jetzt stürzt er rechts verweht, jetzt stäubt er links, Ein tiefes Schweigen und ein steter Schall! Der Stille murmelnde Geräusche rings! 1
2 3 Gigantisch G1 Bruchstück Weges G1 der Weg empor 4 statt ein Wanderer G1 Statt der letzten drei Verse hat G1 vier Verse: Nicht ruht das Aug, bis ihn es aufgefunden: / Den ganzen Weg entlang die ganze Felswand. / Feindselig blickte sie. Nun blickt sie gastlich, / Geeinigt im Zusammenhang des Pfades!
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O Gottes Atemzug! O Luft der Höhn! Dein Schauer rieselt mir bis in das Mark; Wenn deine kühlen Ströme midi durchwehn, So werden meine guten Geister stark. Zusammenschrickt die trübe Leidenschaft, Von reinen Hauchen schauerlich gekühlt, Und fröhlich steht gegürtet jede Kraft, Die sich in ihres Meisters Nähe fühlt. Es flattert in der staubbefreiten Brust Und öffnet ihre Schwingen ungestüm Des Gott entstammten Geistes Gotteslust Und strebt auf leichten Banden auf zu ihm. O Glück, in deiner Gegenwart zu sein, Der reinen, die den Reinen nur berührt! Ich bebe vor dem Pfad am Felsgestein, Der steil midi bald in dunkle Tiefen führt. O dürft idi ihn behalten, meinen Raub, Die Beute meiner kurzen Himmelfahrt, Und mit mir tragen in des Tales Staub Die Alpenlüfte deiner Gegenwart.
2. H I M M E L S N Ä H E
(1870)
Auf sdimalem Grat bin ich gelagert hier In der Gebirge weißgezacktem Kreis, Ein blendend Silberhorn blickt über mir Hervor aus einem grünen Meer von Eis. Der Schnee, der am Geklüfte hing zerstreut, In hundert Rinnen rieselt er davon, Und aus der schwarzen Feuchte schimmert heut Der Soldanelle zarte Glocke schon. 5
Bald nahe tost, bald fern der Wasserfall, Jetzt stürzt er hier verweht, jetzt stäubt er dort! Ein tiefes Schweigen und ein stäter Schall: Der ungebrochnen Stille flüsternd Wort! O Luft der Höh'n, du wundersame Kraft! Idi habe s e i n e n Atemzug gefühlt! Zusammenschrickt die dumpfe Leidenschaft, Von reinen Hauchen schauerlich gekühlt. Es flattert in der staubbefreiten Brust, Die kühnen Schwingen öffnend ungestüm, Des gottentstammten Geistes Gotteslust Und schwebt mit Adlerskräften auf zu ihm.
3. H I M M E L S N Ä H E (1892) In meiner Firne feierlichem Kreis Lagr' ich am schmalen1 Felsengrate hier, Aus einem grünerstarrten Meer von Eis Erhebt die Silberzacke sich vor mir. Der Sdinee, der am Geklüfte hing zerstreut, In hundert Rinnen rieselt er davon, Und aus der schwarzen Feuchte schimmert heut Der Soldanelle zarte Glocke schon. Bald nahe tost, bald fern der Wasserfall, Er stäubt und stürzt, nun rechts, nun links verweht, Ein tiefes Schweigen und ein steter Schall, Ein Wind, ein Strom, ein Atem, ein Gebet! Nur neben mir des Murmeltieres Pfiff, Nur über mir des Geiers heisrer Schrei, Ich bin allein auf meinem Felsenriff Und ich empfinde, daß Gott bei mir sei. schmalem G'—G*
III. 1. B E I D E R J A H R E S W E N D E
(1874)
Oben schweigen Sterne, Unten schweigen Grüfte, Ein gewaltger Sturm der Glocken Wandelt durch die dunkeln Lüfte. In den tiefsten Fernen Schwellendes Gedröhne, — Wie die Halme des Gefildes Weht und neigt der Wind die Töne. Das sind große Heere, Nicht ein einzler Rufer! Ein melodisches Geheimnis Flutet ohne Strand und Ufer. Eine kleine Welle, Sinkt des Jahres Stunde — Horch — Unendlichkeit sie redet Hallend rings mit eh'rnem Munde.
2. N E U J A H R S G E L Ä U T E
(1876)
Durch das heil'ge Dunkel Wallt der Töne Reigen, Unter dem der Erde Gräber, Über dem die Sterne schweigen. Wie des Feldes Halme Weht der Wind die Klänge, Nun ein Sterben und Verdröhnen, Nun ein schwellendes Gedränge! Das sind große Heere, Nicht ein einzler Rufer, Ein melodisches Geheimnis Flutet ohne Strand und Ufer! 7
Eine leichte Welle, Sinkt die flücht'ge Stunde — Horch, Unendlichkeit — sie redet Hallend rings mit eh'rnem Munde.
3. N E U J A H R S G L O C K E N (1882) In den Lüften schwellendes Gedröhne, Leicht wie Halme beugt der Wind die Töne. Leis verhallen, die zum ersten riefen, Neu Geläute hebt sich aus den Tiefen. Große Heere, nicht ein einzler Rufer! Wohllaut flutet ohne Strand und Ufer.
IV. Î. U N T E R S C H W A N K E N D E R A M P E L (ca. 1886) Es stürmt die Lenzgewalt Und ängstigt die Natur, Die Laue rollt und hallt, Es schmilzt der Schnee der Flur. In Lüften zieht und ringt Ein dunkler Riesenstreit... Das Friedelied erklingt Aus ferner Seligkeit. Und gibt das Wehen Frist, Dann werden Seufzer laut, Weil dem, was sterbend ist, Vor seiner Stunde g r a u t . . .
Jetzt wiegt sich hin und her, Daß meinem Blicke bangt, Die Ampel, welche schwer In ihren Ketten hangt. Die sonst so ruhig steht, Geliebt von Weib und Kind, Wie eine Fackel weht Die Flamme wild im Wind . . . Vor Zeiten hat ein Paar Bei solchem Schein gewadit, Da Nikodemus war Der Gast des Herrn zu Nacht. Es sprach, der Heiland heißt, Bei solchem Sturm, wie heut: So braust der Schöpfer Geist, Wenn er die Welt erneut.
2. I N E I N E R S T U R M N A C H T (1892) Es fährt der Wind gewaltig durch die Nacht, In seine gellen Pfeifen bläst der Föhn, Prophetisch kämpft am Himmel eine Schlacht Und überschreit ein wimmernd Sterbgestöhn. Was jetzt dämonenhaft in Lüften zieht, Eh' das Jahrhundert schließt, erfüllt's die Zeit — In Sturmespausen klingt das Friedelied Aus einer fernen, fernen Seligkeit. Die Ampel, die in leichten Ketten hangt, Hellt meiner Kammer weite Dämmerung, Und wann die Decke bebt, die Diele bangt, Bewegt sie leise sich1 in sachtem Schwung. 9
Mir redet diese Flamme wunderbar Von einer windbewegten 2 Ampel Licht, Die einst geglommen für ein nächtlich Paar, Ein greises und ein göttlich Angesicht. Es sprach der Friedestifter, den du weißt, In einer solchen wilden Nacht wie heut: „Hörst, Nikodeme, du den Schöpfer Geist, Der mächtig weht und seine Welt erneut?"
V. 1. A B E N D B I L D
(1870)
Zwei Segel, sie wandern Vorbei unserm Haus, Folgt eines dem andern Und plaudern's nicht aus. Sich lieben, sich meiden, S idi folgen von fern — Es blinkt zwischen beiden Im Wasser ein Stern. Die Segel empfinden Zusammen die Luft, Die Seelen verbinden Sich über die Kluft. Ich sehe sich breiten Die dämmernde Bucht — Sie ziehn und entgleiten In ruhiger Flucht. 1
sich gemach G3 G4
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* längst erlosdinen DD
2. O h n e T i t e l
(1875)
Ein doppeltes Leben, Zwei Segel auf dunkelnder Flut, Sie ziehen und schweben — Sie rötet der Abend mit Glut. Wie eins in den Winden Sidi schwellt und die Schwingen bewegt, Wird gleiches Empfinden Im Wandergefährten erregt. 3. Z W E I SEGEL (1882) Zwei Segel erhellend Die tiefblaue Bucht! Zwei Segel sich schwellend Zu ruhiger Flucht! Wie eins in den Winden Sidi wölbt und bewegt, Wird audi das Empfinden Des andern erregt. Begehrt eins zu hasten, Das andre geht schnell, Verlangt eins zu rasten, Ruht audi sein Gesell.
VI. 1. O h n e T i t e l (1876)
5
Mit dem Tode Schloß ich Kameradschaft: „Gib, so lang ich atme, Kraft und Ruhe, Sprach ich, gib den unbestodinen Blick mir — Winkst du dann, gleich bin ich reisefertig." Und so standen wir auf gutem Fuße, 11
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Oft erschien der Freund, mit mir zu plaudern. D a bescherte mir die Erde plötzlich All' ihr Glück in ungeahnter Fülle, Und, von Lust und Leben stets begleitet, Mied ich meines Freundes weisen Umgang. Neulich, wie das Liebchen mir am Hals hing In der trauten stillen Dämmerstunde — Über ihre Schulter weg erblickt' ich Meinen Freund, den Tod, im Abenddunkel, Ungehalten schien er, finsterlaunig, Und ich hörte den Verstimmten murmeln: „Bin idi dir verleidet? Schöne Treue, Die des alten Freundes schlichten Namen Abergläubisch von den Lippen fern hält! Ist das hübsch von einem Kameraden?" In demselben Augenblick umarmte Liebchen mich und rief: „So möcht' idi sterben! Nahst du jetzt dich, Tod, du bist willkommen!" Und der Tod, von schwellend warmen Lippen H ö r t ' er seinen Namen ausgesprochen Freudebebend, ohne Furcht und Schauder. Uber sein geheimnisvolles Antlitz Glitt ein Lächeln und, sieh, er schied begütigt.
2. D E R K A M E R A D (1882) Mit dem .Tode Schloß ich Kameradschaft. Über einem vollen Humpen saßen Oft wir nächtens und philosophierten. Auch zusammen gingen wir spazieren, Lauschten mit elegischen Gefühlen Nach dem Pilgerruf der Abendglocke. Aber männlich auch an meiner Seite Stand der Kamerad und sekundierte, Oder wann ich im Gebirg verirrt war, 12
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Hangend über schwindelnd tiefem Abgrund, Sprach er: „Blick' mir in das Auge ruhig!" Und ich tat es und ich war gerettet. Lange standen wir auf gutem Fuße, Bis mich volles Leben überströmte Glühend warm mit unbekannter Fülle, Und mir schauderte vor meinem Freunde . . . Als das Liebchen heute mir am Hals hing, Über seine Schulter weg erblickt' ich Meines Kameraden leichten Umriß Auf dem Abendhimmel, und er grollte: „Bin ich dir verleidet? Deine feigen Lippen meiden meinen sdilichten Namen? Ist das hübsch von einem Kameraden?" In demselben Augenblick umarmte Liebchen mich und rief: „So möcht' ich sterben! Komme, Tod, und raub' mich, Tod, im Kusse!" Und der Tod, von schwellend jungen Lippen Heiß und leidenschaftlich angerufen, Hörte seinen Namen mit Vergnügen. Uber sein geheimnisvolles Antlitz Glitt ein Leuchten, und er schied in Minne.
VII. 1. E I N E R S C H E I D E N D E N
(1877)
Die ersten Flocken gleiten sacht, Mein Feuer lodert hell entfacht; Es kommt die N a c h t . . . O eile, scheide nicht in Hast, Hier halt' an meinem Herde Rast, Bleib' lange Gast! 13
O bleib', die Gott für mich erschuf, Laß scharren deiner Rosse Huf, Als Reiseruf! Ehi weißt ja nicht, mein Lieb, wohin Dich diese fliicht'gen Renner ziehn . . . Wohin, wohin? Der Abend naht, die Stunde rinnt — Wie viele noch, die unser sind, Mein teures Kind? O scheide nicht — bedenk', wohin Dich diese raschen Rosse ziehn — Dahin, dahin! LASS S C H A R R E N D E I N E R ROSSE H U F ! (1882) Geh nicht, die Gott für mich erschuf! Laß scharren deiner Rosse Huf Den Reiseruf! Du willst von meinem Herde fliehn? Und weißt ja nicht, wohin, wohin Dich deine Rosse ziehn! Die Stunde rinnt! Das Leben jagt! Wir haben uns nodi nichts gesagt — Bleib' bis es tagt! Du darfst aus meinen Armen fliehn? Und weißt ja nicht, wohin, wohin Dich deine Rosse ziehn . . .
VIII. 1. A B E N D G A N G (ca. 1873) Wir wandern wieder auf den trauten Wegen Wie ehemals dem stillen Dorf entgegen, Mir klopft das Herz in immer lautern Schlägen
Und wüßt' idi nicht, daß sie den Tod erlitten, Idi meint', es käme dort aus Feldes Mitten Die alte Liebe zu mir hergeschritten Und ginge zwischen uns in Abendhelle Und spräche plaudernd: Kennt ihr diese Stelle? Und dort die rot bemooste Waldesschwelle? — Den sie so lange Herr und Meister nannten, Sie hielten ihn für einen Unbekannten, Die Jünger, aber ihre Herzen brannten — — Weißt du, wie unser Herz in Liebe lohte? — Sie lebt! Sie lebt! Erstanden ist die Tote! Und dort glüht Emmaus im Abendrote. 2. A U F E R S T A N D E N E L I E B E (ca. 1873) Wir wandern wieder auf den trauten Wegen, Wie vormals, unserm stillen Dorf entgegen — Mir pocht das Herz in immer lautern Sdilägen. Hier lehrte Liebe uns geheime Worte Und tränkt' und speist' uns hier aus ihrem H o r t e . Begraben liegt sie auch an diesem Orte. Wir haben sie gemartert und gebunden, Mit scharfen Dornenspitzen sie umwunden, Bis sie verschied an blutgen, tiefen Wunden. Doch wüßt' ich nicht, daß sie den Tod erlitten, Ich meint', es käme dort aus Feldes Mitten Die alte Liebe wieder hergeschritten Und ginge zwischen uns in Abendhelle Und spräche plaudernd: Kennt ihr diese Stelle? Und dort die rot bemooste Waldesschwelle? Wir sind die Jünger, die nach Emmaus gehen . . . Fühlst du die Glut von Herz zu Herzen wehen, Die Liebe wandert mit uns ungesehen.
Sie lebt! Sie lebt! Sie bradi die Todesbande! Sie löste sich die kalten Grabgewande, Und dort glüht Emmaus im Abendbrande. 3. A L T E L I E B E (ca. 1873) Wir wandern wieder auf den trauten Wegen Wie vormals unserm stillen Dorf entgegen, Mir pocht das Herz in immer lautern Schlägen. Hier lehrte Liebe dich geheime Worte Und speist' und tränkte mich aus ihrem Horte, Begraben liegt sie auch an diesem Orte. Wir haben sie gemartert und gebunden, Mit Dornen sie gekrönt in finstern Stunden, Bis sie verschied an blutgen tiefen Wunden . . . Doch wüßt' ich nicht, daß sie den Tod erlitten, So glaubt' ich, käme dort aus Feldes Mitten Die alte Liebe wieder hergeschritten Und ginge zwischen uns in Abendhelle Und spräche plaudernd: Kennt ihr diese Stelle? Und dort die rot bemooste Waldesschwelle? Die alten Pfade kann sie alle nennen, Sie hofft und wartet, daß wir sie erkennen — Hörst du sie reden, daß die Herzen brennen? Sie löste sich die kalten G r a b g e w a n d e . . . Sie lebt! Sie lebt! Sie brach die Todesbande . . . Und dort glüht Emmaus im Abendbrande! 4. A L T E L I E B E (ca. 1878) Wir wandern wieder auf den alten Wegen Dem Dorf in Sommerabendglut entgegen, Wir lassen trauernd einen Raum inmitten Für unsre Liebe, die den Tod erlitten; 16
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Dodi ob wir die versdilossnen Blicke senken, Wir müssen an die alte Liebe denken — Und siehe, plötzlich in der Abendhelle Begleitet uns ein dritter Weggeselle; Er weiß die trauten Pfade rings zu nennen, 10 Er spricht mit uns, daß unsre Herzen brennen: Hier lehrt' idi eudi des Herzens schlichte Worte, Hier speist' und tränkt' ich euch aus meinem Horte: Ihr habt midi an das Marterholz gebunden, Und ich verschied an blut'gen, tiefen Wunden. 15 Gefesselt wähnt ihr mich von Todesbanden — Ich löste midi aus meinen Grabgewanden . . .
5. D I E A L T E L I E B E (ca. 1878) Wir wandern wieder auf den alten Wegen Dem Dorf in letzter Abendglut entgegen, Wir lassen trauernd einen Raum inmitten Für unsre Liebe, die den Tod erlitten. 5 Doch ob wir die verzagten Blicke senken, Wir müssen an die alte Liebe denken . . . Und, siehe, plötzlich in der Abendhelle Begleitet uns ein dritter Weggeselle, Er weiß die trauten Pfade rings zu nennen, 10 Er redet freundlich, daß die Herzen brennen:
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Hier lehrt' ich euch der Seele tiefste Worte, Hier tränkt' und speist' ich euch aus meinem Horte . Ihr aber habt mich auf das Kreuz gebunden, Daß ich verschied an blutgen tiefen Wunden. Ihr suchet mich in meinen Grabgewanden! Und kennt midi nicht? Ich bin vom Tod erstanden!
Deutsche Texte 8
6. D I E T O T E L I E B E (1882)
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Im Schatten wir, Das Dorf im Sonnenkuß (Fast wie das Jüngerpaar, Das ging nach Emmaus, Dazwischen leise Redend schritt Der Meister, dem sie folgten,1 Und der den Tod erlitt) — So schreitet zwischen uns Im Dämmerlicht2 Unsre tote Liebe, Die leise spricht. Sie weiß für das Geheimnis Ein heimlich3 Wort, Sie kennt der Seelen Allertiefsten Hort, 4 Sie deutet und erläutert Uns jedes Ding, Sie sagt: So ists gekommen, Daß idi am Holze hing. Ihr habet mich verleugnet5 Und schlimm® verhöhnt, Idi saß im Purpur, Blutig, dorngekrönt. Ich habe Tod erlitten, Den Tod bezwang idi bald, Und geh'7 in eurer Mitten Als geistige8 Gestalt — Die Weggesellin Blieb unerkannt, Dodi hat uns wie den Zweien Das Herz gebrannt.
Dem sie gefolgt vor Der Meister durchstrichen merlicht durchstrichen ' deutlich gestrichen 1
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Ab vor DämVers 13—16
7. D I E T O T E L I E B E (1887)
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Entgegen wandeln wir Dem Dorf im Sonnenkuß, Fast wie das Jüngerpaar Nadi Emmaus, Dazwischen leise Redend schritt
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Der Meister, dem sie folgten, Und der den Tod erlitt. So wandelt zwischen uns Im Abendlicht Unsre tote Liebe, Die leise spricht. Sie weiß für das Geheimnis Ein heimlich Wort, Sie kennt der Seelen Allertiefsten Hort. Sie deutet und erläutert Uns jedes Ding, Sie sagt: So ist's gekommen, Daß ich am Holze hing. Ihr habet mich verleugnet Und schlimm verhöhnt, Ich saß im Purpur, Blutig, dorngekrönt, Ich habe Tod erlitten,
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Den Tod bezwang ich bald, Und geh' in eurer Mitten Als himmlische Gestalt — D a ward die Weggesellin Von uns erkannt,
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Da hat uns wie den Jüngern Das Herz gebrannt. nachträglich zugefügt träglich zugefügt 2*
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mißhandelt gestrichen
bin gestrichen
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verbessert
' sdilimm nachaus In geistiger
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IX. 1. R O M : S P R I N G Q U E L L (1860) Es steigt der Quelle reicher Strahl Und sinkt in eine schlanke Schal'. Das dunkle Wasser überfließt Und sich in eine Musdiel gießt. Es überströmt die Muschel dann Und füllt ein Marmorbecken an. Ein jedes nimmt und gibt zugleich Und allesammen bleiben reich, Und ob's auf allen Stufen quillt, So bleibt die Ruhe doch im Bild. 2. D E R B R U N N E N (ca. 1860) In reichem Strahle steigt der Quell Und sinkt in eine Muschel hell, In eine breite Schale gießt Die Muschel, was zu viel ihr ist,1 Es2 überströmt die Schale dann Und füllt ein Marmorbecken an, Und alle Stufen bleiben reich, Denn jede gibt und nimmt zugleich, Und wenn es allenthalben quillt, So ist3 es doch ein ruhig Bild. 3. D E R S C H Ö N E B R U N N E N (1864) In einem römischen Garten Weiß ich einen schönen1 Bronnen, Von Laubwerk aller Arten Umwölbt und grün umsponnen. 4 1 f
Bis er in die Muschel überfließt / Und sich in eine Schale gießt, s Er bleibt
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Er steigt in lichtem Strahle, 3 Der unerschöpflich ist, Und plätschert in eine Schale, Die golden wallend überfließt.4 Das Wasser flutet nieder In 5 zweiter Schale Mitte, Und voll ist diese wieder, Es flutet in die dritte: Ein Geben und ein Nehmen Und alle bleiben reich. Und alle Stufen strömen Und scheinen unbewegt zugleich.
4. D E R B R U N N E N (1864 oder 1865) In einem römischen Garten Verborgen ist ein Bronne, Behütet von dem harten Geleucht' der Mittagssonne, Er steigt in schlankem Strahle In dunkle Laubesnacht Und sinkt in eine Schale Und übergießt sie sacht. Die Wasser steigen nieder In zweiter Schale Mitte, Und voll ist diese wieder, Sie fluten in die dritte: Ein Nehmen und ein Geben, Und alle bleiben reich, Und alle Fluten leben Und ruhen doch zugleich. 1 Beschützt vor heißen Sonnen. kühlen ® im Silberstrahle 5 Nach In die Worte * Die dunkel überfließt. die Sdiale gestrichen 1
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5. D E R B R U N N E N (1869) Der Springquell plätschert und erfüllt Die Schale, daß sie überfließt; Die steht vom Wasser leicht umhüllt, Indem sie's in die zweite gießt; 1 Und diese wallt 2 und wird zu reich Und gibt der dritten ihre Flut, Und jede gibt und nimmt zugleich, Und alles strömt 3 und alles ruht.
6. D E R S C H Ö N E B R U N N E N (1870) Der Springquell plätschert und ergießt Sich in der Marmorschale Grund, Die, sich verschleiernd, überfließt In einer zweiten Schale Rund; Und diese gibt, sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt und gibt zugleich, Und alles strömt und alles ruht.
7. D E R R Ö M I S C H E B R U N N E N (1882) Aufsteigt der Strahl und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund, Die, sich verschleiernd, überfließt In einer zweiten Schale Grund; Die zweite gibt, sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt und gibt zugleich Und strömt und ruht. 1
Des Wassers kühler Strahl ergießt / Sich hell aus einem 4 Löwenmund / Die Schale wallt und überfließt / In einer zweiten Sdiale Grund 8 a 4 strömt quillt Nochmals verbessert zu eines
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χ. 1. D I E F A H R T D E S A C H I L L E S (1870) Wogen, die wie Silber schäumen, Seh' ich langsam rollend nah'n, Rosse seh' ich, die sich bäumen, Mähnen flattern stolz heran; Zu gewundner Muscheln Dröhnen Über blauer Gründe Pracht Singt ein Zug von Meeressöhnen Speergetos und Männerschlacht. Thetis fährt, die sie begrüßen, Durch die rings belebte Flut, Bleich liegt ihr Achill zu Füßen, Der in tiefen Träumen ruht. Da er stürzte mit der Wunde, Glaubten wir den Schnellen tot, Aber nur auf eine Stunde Schlummert er im Muschelboot. Daß er nicht unmäditig grolle In des Hades düsterm Schoß, Neidend auf der grünen Scholle Jedes ärmste Menschenlos, Führt die Mutter ihn von hinnen In ein neues Leben schon, Und ein feierliches Sinnen Senkt den Blick ihr auf den Sohn. Schwert und Helm und Schildesleuchte Hebt der Nereiden Schwärm, Schwimmend durch die salz'ge Feuchte, Hoch empor mit hellem Arm: Waffen künden an und Wehren Einen freud'gen Siegeslauf, Seine Taten, seine Ehren Tauchen vor dem Helden auf. 23
Aus des Meeres stillem Glänze In der Sonne Strahlenspiel Steigt mit grünem Rebenkranze Chios auf als Wanderziel; Wie beflügelt eilt der Nachen, In des Blassen Angesicht Blitzt ein mächtiges Erwachen, Dämmert auf ein selig Licht. Wo, das Vorgebirg umrauschend, Weiße Brandung nimmer schweige, Steht ein blinder Seher, lauschend In die Ferne vorgeneigt. Hellgeschlagne Saiten klingen! Weiß er, wer das Meer durchzieht? Ja, er ahnt, daß sie ihn bringen — Hordi! Homer beginnt sein Lied!
2. D I E W A F F E N D E S A C H I L L (1880) Idi sah es auf antiken Sarkophagen: Thetis entführt den Rufer in dem Streite, Gewundne Muscheln dröhnen im Geleite Des Schlummrers, kühner Rosse Häupter ragen! Nach einer sel'gen Insel rollt der Wagen In raschem Laufe durch des Meeres Breite, Die Nereiden schwimmen an der Seite Des mächt'gen Toten, dessen Wehr sie tragen. Dein Schwert, Achill, von Mädchenhand gehoben Leichtsinnig! Einer blanken Schulter Glanz, Held, unter deinen ehrnen Schild geschoben! Ein Meergeschöpf, mit deinem Bogen zielend! Dein Helm gesetzt auf feuchter Haare Kranz, Ein töricht Kind mit deinem Ruhme spielend !
3. D E R T O T E A C H I L L (1892)
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Im Vatikan vor dem vergilbten Marmorsarg, Dem ringsum bildgeschmückten, träumt' idi heute lang, Betraditend seines feinen Zierats üpp'gen Kranz: Thetis entführt den Sohn, den Rufer in der Schlacht, Den Renner, dem die Knie' erschlafften, welchem schwer1 Die Lider sanken — von Delphinen rings umtanzt — Im Musdielwagen durch des Meers erregte Flut. Tritonen, bis zum Schuppengurt umbrandete, Bärt'ge Gesellen, schilfbekränztes, stumpfes Volk, Gebärden sich als Pferdelenker. Es bedarf Der mut'gen Rosse Paar, das, Haupt an kühnem Haupt, Die weite Flut 2 durchrudert mit dem Schlag des Hufs, Des Zügels nicht! In des Peliden Waffen hat Sich schäkernd ein leichtsinniges Gesind geteilt: Die Nereiden. Eine hebt das Schwert und zieht's Und lacht und haut und sticht und wundet 3 Licht und Luft. Ein schlankes Mädchen zielt mit rückgebognem Arm, In schwachgeballter Faust den unbesiegten Speer, Der auf und nieder, wie der Wage Balken,4 schwankt. Die dritte schiebt der blanken Schulter feinen Bug Dem Erzschild unter, ganz als zöge sie zu Feld, Dann deckt damit den sanften Busen gaukelnd sie, Als schirmt' das Eisen eines Kriegers t a p f r e Brust. Die vierte — Held, du zürntest, schlummertest du nicht! — Setzt jubelnd sich den Helm, den wildumflatterten, Auf das gedankenlose Haupt und nickt damit. 5 Scherzt, Kinder! Nur mit dir ein Wort, 6 Vollendeter! (Denn mit der Mutter, die dein schlummerschweres Haupt Im Schoß gebettet hält, der dir das Leben gab,7 Der schmerzversunknen Mutter, plaudert es sich nicht.) Pelide, sprich! Was ist der Tod? Wohin die Fahrt? Wozu die Waffen? Zu erneutem Lauf und Kampf? 8 Zu deines Grabes Schmuck und düstern Ehren nur? Was blitzt auf deinem Schwerte? Deine letzte Tat, 25
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Verglimmend, wie der Abend eines heißen9 Schlachtentags? Die Morgensonnen eines neuen Kampfgefilds? Bedarfst du deines Schwertes noch, du Schlummernder? Wohin der Lauf? Zum Hades? Nein, es lügt Homer. Den Odem neiden einem kleinen Ackerknecht Sieht nicht dir ähnlich, Heros! Eher fährst Du einer Geisterinsel bleichem Frieden zu Und trägst den Myrtenkranz, beseligt und gestillt, Mit den Geweihten! Doch auch solches ziemt dir nicht! Was einzig dir geziemt, ist Kampf und Kampfespreis — Pelide! ein Erwachen schwebt vor deinem Boot Und schimmert unter deinem mächt'gen10 Augenlid! Du lebst, Achill?11 Gib Antwort! Wohin wanderst du? Er schweigt! Er schweigt. Der Wagen rollt. Ein Triton bläst 18 Sein Muschelhorn, daß leis und dumpf 13 der Marmor tönt. 14
XI. 1. D I E J U N G F R A U (1879) Noch bist du rein von Eitelkeit und Lüge, Aus scheuen Augen drohst du lieblich wild — Wo, Mädchen, sah ich deine kräft'gen Züge? Auf Buonarottis altem Bild. 1
2 dem die schlaffen Knie sidi lösten, dem Das weite Meer 4 ' Und schwingt's und lacht und haut und wundet ein Wagc5 balken Nach Vers 26: Ein töricht Weibchen spielt mit deinem 7 Ruhm, Achill! · N u n ein Wort mit dir der dich gebar 8 10 Kampf und Lauf ' heißen fehlt leise durch dein 11 12 mächtig Achill, du lebst? Er schweigt! Er schweigt. Der 13 dumme Kerl, der Triton nur Bläst sein gewunden Horn, daß 14 dumpf schallt (so noch G1—G4)
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Da senkt der Schöpfer sich in sanftem Fluge Zum Menschen, der auf seiner Erde l i e g t . . . In seines Mantels blauem Wolkenbuge Ruht himmlisches Gesind geschmiegt: Voran in einem jugendschlanken Leibe, Den Gottes Linke schützend noch umfängt, Ein dunkles Wesen — der Beginn vom Weibe — An Gottes Schulter still gedrängt. Sie schaut erstaunt, das Haupt hervorgewendet, Mit großen, offnen Augen tief erschreckt, Wie seinem Liebling Er den Funken spendet Und seine güt'ge Rechte r e c k t . . . Gleich jener harrst du an des Lebens Schranke, Bald fesselt dich dein irdisches Geschick — Jetzt bist du noch ein göttlicher Gedanke Und öffnest zagend deinen Blick . . .
2. D I E J U N G F R A U (1882) Wo sah idi, Mädchen, deine Züge, Die droh'nden Augen lieblich wild, Noch rein von Eitelkeit und Lüge? Auf Buonarottis großem Bild: Der Schöpfer senkt sich sachten Fluges Zum Menschen, welcher schlummernd liegt, Im Sdioße seines Mantelbuges Ruht himmlisches Gesind geschmiegt: Voran ein Wesen, nicht zu nennen, Von Gottes Mantel keusch umwallt, Des Weibes Züge, zu erkennen In einer schlanken Traumgestalt. 27
Sie lauscht, das Haupt hervorgewendet, Mit Augen schaut sie, tief erschreckt, Wie Adam Er den Funken spendet Und seine Rechte mahnend reckt. Sie sieht den Schlumm'rer sich erheben, Der das bewußte Sein empfängt, Audi sie sehnt dunkel sich zu leben, An Gottes Schulter still gedrängt — So harrst du vor des Lebens Schranke, Noch ungefesselt vom Geschick, Ein unentweihter Gottgedanke, Und öffnest staunend deinen Blick.
XII. 1. T H E S P E S I U S (1864) Nach Plutarch Sich begegnend auf der Reise Rasteten in Griechenland Zwei sich unbekannte Greise Hoch an eines Berges Rand. Wie sie so beisammen ruhten, Diinkten sie sich bald bekannt, Sahn sich freundlich in die guten Augen, reichten sich die Hand. Und der eine spricht zum andern: „Sag mir deinen Namen, Freund, Den mit mir ein heißes Wandern, Eine kühle Rast vereint." — 28
„Meinen ersten? meinen zweiten?" Spricht der andre rätselvoll, „Doch ich muß dir dieses deuten, Denn es scheint dir dunkel wohl." Mit gesenktem Angesichte Hebt in ernstem Ton er an: „Meine Jugend ward zu nichte In der Sinne Lust und Wahn. Von dem Wein des Lebens trunken Peitscht' ich mein Gespann mit Wut, Bis der Weg vor mir versunken U n d verschwendet war mein Gut. D a n n erwacht in nacktem Elend Ging auf G o l d ich gierig aus, Aber freche Wege wählend Bracht' ich dunkle Schmach nach Haus. Endlich selber mich erblickend, Floh ich tief erschreckt das Licht, U n d ich trug ein niederdrückend Immer wachsendes Gewicht. Ringend mit der Reue Schlangen, Ihren Biß im Herzen schon Eilt' ich mit verirrten, bangen Schritten aus der Stadt davon. U n d in nächt'ger Wildnis schreitend Über einer Felsenwand, Stürzt' ich plötzlich, niedergleitend, Bis mir das Bewußtsein schwand. Wie der K ö r p e r lag, und stille Sich des Lebens Puls verlor, Stieg aus abgeworfner Hülle D e r erstaunte Geist empor. 29
Und mich wie auf Schwingen hebend Über Fläche, Meer und Strand, Kam ich wandelnd oder schwebend In ein blau gebirgig Land. Auf den lichten Bergesspitzen Sah ich mit bekränztem Haar Und in weißen Kleidern sitzen Eine feierliche Schar. Friede lag auf ihren Zügen, Wonne ruht' in ihrem Blick, Und sie schauten mit Vergnügen Auf den steilen Pfad zurück. Eine dieser Lichtgestalten Hatt' ich wohl als Kind gekannt, Vielmal kam ich zu dem Alten, Denn er war mir blutsverwandt. Gutes Werk im engen Kreise Tat er, ein bescheidner Mann, Friedlich zog er seine Gleise, Und im Frieden schwand er dann. Dieser schwebte mir entgegen, Und entbot mir seinen Gruß; Glück zu deinen neuen Wegen, Sprach er, o Thespesius! Und ich frug den wundersamen Alten: Sag' mir, wie du's meinst! Trag' ich einen neuen Namen? Aridäus hieß idi einst. Doch er schüttelte die Locken, Die ambrosischen, zum Gruß; Wandle fürder unerschrocken, Sprach er, o Thespesius! 30
D a verschwanden rings die Bilder. Aus der sel'gen Insel Glück Führte mich ein schwarzer wilder Sturm in meinen Leib zurück. Ich erwacht' beim Schrei der Raben Blutend an des Felsens Fuß, Einen Namen eingegraben In das Herz: Thespesius. Wieder kehrt' idi in das Meine, Anders bin ich, als ich war; Denn es stärkte mich der reine Neue Name wunderbar. Nun sich meine Jahre senken, Meine Tage niedergehn, Muß ich jener oft gedenken Auf den wolkenlosen Höhn. Sich erheben, sich befreien, Dieser Kampf, er ist nicht klein, Aber, glaub' mir, unsre neuen Namen werden herrlich sein." Schweigend sinnen beide Greise, Und: „Auf Wiedersehen b a l d ' , — Sagen scheidend sie sich leise, „In der Sel'gen Aufenthalt."
2. D E R N E U E N A M E (1875) Zwei, die sich begegnet, ruhten Einst in Tempes schönem Tal, Neben einer Quelle Fluten Teilten sie das Reisemahl. 31
Und der eine bat den andern: „Freund, dein Wesen sagt mir zu, Eh' wir auseinander wandern, Nennst mir deinen Namen du." — „Welchen Namen? Meinen alten? Meinen neuen, der mein Hort?" Der Gefährte sagt: „Entfalten Sollst du mir dein Rätselwort." — „Höre denn: In jungen Tagen Überschäumte mir der Mut, Frevel trieb er midi zu wagen, Und ich schwelgt' in Wein und Blut. Furien folgten mir, von Schlangen War umstrickt die Brust mir schon, Und ich stürzte bleich mit bangen Schritten aus der Stadt davon. Flüchtend auf des Berges Zinne, Glitt idi aus in wildem Lauf, Dunkel wurden mir die Sinne, Seltsam aber wacht' ich auf. Ober baumgekühlte Matten Hauchten Lüfte frisdi und rein. War ich auf der Flur der Schatten? War ich in der Sel'gen Hain? Durdi die Aue sah idi wandeln Weiß gekleidet eine Schar, An den Füßen leichte Sandeln Und den Myrtenkranz im Haar. Eine dieser Lichtgestalten Hatt' im Leben ich gekannt, Oft verkehrt idi mit dem Alten, Denn er war mir blutverwandt. 32
Und er wallte mir entgegen, Bot die Lippen mir zum Kuß. „Glück zu deinen neuen Wegen", Grüßt' er, „o Thespesius!" U n d idi frug den wundersamen Alten: „Sag mir, wie du's meinst — Trag idi einen neuen Namen? Aridäus hieß idi einst." Wieder aus den Silberlocken Sprach er freudevoll mir zu: „Wandle fürder unerschrocken. Wie ich sagte, heißest du." — Da verblaßten rings die Bilder. Aus der sel'gen Aue Glück Raffte midi ein schwarzer wilder Sturm in diesen Leib zurück. Blutend lag idi, schwer verwundet An des steilen Berges Fuß, Doch die Seele war gesundet Durch des neuen Namens Gruß. Wieder kehrt ich in das Meine, Doch ein andrer, als ich war; Mich erfrischte dieser reine Neue N a m e wunderbar. Lächle nicht! — durch Fabeldinge, Meinst du, ward mein Herz gefeit. Sei's. Ein Traum mit lichter Schwinge H a t mich von mir selbst befreit." — 3. T H E S P E S I U S (1891) Zwei Greise ruhten unter einer Pinie, Stab neben Stab, an einer Quelle klarer Flut, Wo wandernd sie begegnet sich von ungefähr. Deutsche Texte 8
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Sie führten Zwiegespräch und sie behagten sich. — „ M a n nennt mich Eukrates, und wer, mein Freund,
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bist d u ? " — „Mich nannten Aridäus lange J a h r e sie, Seit langen Jahren bin ich nun Thespesius." — „Zwei N a m e n trugst d u ? " — „Beide N a m e n , Eukrates. H ö r ' an! Ein Jüngling, peitscht' ich rasend das Gespann. Die Rosse flogen. Becher, Buhlen, Würfelspiel, Wut, Zorn, vergossen Blut — verklagend Blut! D e m ich entfloh, die Eumeniden hinter mir. Sie folgten meiner raschen Füße schnellstem L a u f , Idi warf midi in den Fluß, sie sprangen jauchzend nach U n d hoben schwimmend ihrer Fackeln düstre Glut.
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Idi klomm bergan — verirrt stürzt' idi von einer Wand — D i e Sinne schwanden mir. D a n n lebt' ich wieder — war's Im Traum? — und schritt auf einem weichen Wiesengrün, Wo Sel'ge, soldie schienen sie, lustwandelten In still bewegten Scharen. K r ä n z e trugen sie.
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Den Einen kannt' ich wohl und ward von ihm erkannt: Mein Blutsverwandter, welcher jüngst geschwunden war Aus dieser Erde Staub nach einem reinen L a u f . D e r sprach midi an: „Ich grüße dich, Thespesius!" „ W o z u der neue N a m e , wundersamer Ohm? Wie nennst du mich? Dein Aridäus bin ich j a ! " D i e Locken schüttelt' leis er, die ambrosischen, U n d abermals: „Ich grüße dich, Thespesius!" . . . J e t z t wacht' ich wirklich auf. A m H a n g e lag Idi blutbefleckt 1 , von gier'gen Raben schon umschwärmt. Was mehr? Ich w a r d ein andrer. Nicht mit kleinem K a m p f ! Der K a m p f ist groß! Mein neuer N a m e stärkte mich, Der makellose, der so rein und göttlich klang! H a b ' gute F a h r t ! " — „ F a h r ' wohl auch du, Thespesius!"
blutbedeckt G>—G3
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XIII. 1. D I E D I O S K U R E N
(1870)
Wo kann der Bote weilen? Wer wird der Sieger sein? Die Burg mit ihren Säulen Erglüht im Abendschein. Dort an des Landes Marke, Da blitzt es blutigrot, Da ringt Tarquin der Starke Mit Rom bis auf den Tod. Laut flehend läßt erschallen Den Ruf die Frauensdiar: „Dich bitten wir vor allen, Du hilfreich Brüderpaar! Du hast mit deinem Sterne Den Schiffer oft bewacht, Auf weißen Rossen gerne Durchleuchtest du die Schlacht! Ihr Güt'gen, laßt zu lange Den Boten nicht verziehn! Die Stunde wird so bange — Beflügelt, Götter, ihn!" Horch! Hordi! da klirren Hufe Den Burg weg steil hinan! Still, ohne Jubelrufe Zwei schlanke Reiter nahn. Sie halten an der Quelle Des heil'gen Brunnens jetzt, Sie senken in die Welle Die Stirnen schweißbenetzt; Dann sprechen zu den Frauen Die Krieger kühn und schlicht, Wie Brüder anzuschauen Von Wuchs und Angesidit:
„Nun dürfet ihr euch freuen, Der grimme Zwingherr wich, Wir fochten in den Reihen, Der Bruder traut und idi. Schon könnt auf nahen Wegen Ihr eure Tapfern sehn! Auf! Wollt ihr nicht entgegen Den Siegbelaubten gehn?" Nodi tönen seine Worte, Da winkt ihm der Genoß, Und hebt sich zu der Pforte Des Abends Mann und Roß; Es kann vom Bruder lassen Der andre Bruder nicht, Sie schwinden und erblassen Im stillen Dämmerlicht. Da heben, wie sie scheiden, Sich alle Hände auf: „Dank sei euch Brüdern beiden Für euern Botenlauf! Bewohnet unsre Fluren, Nehmt unsre Stadt in Hut! Gelobte Dioskuren, Wie seid ihr stark und gut!"
2. D E R B O T E N L A U F (1892) Blicke gen Himmel gewandt, gebreitete flehende Arme! Murmeln und schallender Ruf knieender Mädchen und Frau'n: 1 „Götter, beflügelt den Boten! Entscheidung, lieber als Bangnis! Seit sich die Sonne erhob, ringen die Stadt und Tarquín. 36
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Siehe, die Sonne versinkt, Mitkämpfer, Kastor und Pollux, Denkt der verlassenen Frau'n, sendet den Boten geschwind!" Horch! Achthufig Geklirr bergan. Zwei befreundete 2 Reiter! Schon am heiligen Quell spülen die Waffen sie rein. Dann, zwei gewaltige Jünglinge, stehn auf der ragenden Burg sie,
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Gegen die sdiauernden Frau'n hat sich der eine gekehrt: „Freude, knospendes Mädchen! Entschlossene Römerin, Freuide! Herrlidier Sieg ist erkämpft! Geht ihr entgegen dem Heer?" Einer spricht's und der andre lauscht, zu dem Bruder gewendet. Jetzt in das bleichende Licht springen die Rosse empor.
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Einer der Jünglinge schwindet im Abend, es sdiwindet der andre. Denn wie ein liebendes Paar lassen die Brüder sidi nicht. Uber der römischen Feste gewaltigem, dunkelnden 3 Umriß Hebt sich in dämmernder Nacht seliges Doppelgestirn.
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Blicke gen Himmel gewandt! gebreitete flehende Arme! Murmeln und schallender Ruf! Knieende Mädchen und Fraun!
G1 GBlidce gen Himmel gewandt, gebreitete flehende Arme! Murmeln und schallender Ruf: knieende Mädchen und Frau'n. G3 2
reisige G'—G'
3
dunkelndem
G'—GJ
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XIV. 1. B E R T A R I T (1875) Veronas ganze Bettlerschaft, Was Hände streckt und harft ein Lied, Labt mit der Purpurtraube Saft Der Königsenkel Bertarit. Er beut den vollen Humpen Mit ritterlicher Art Dem Lazarus in Lumpen Und dem Apostelbart. Frisch blüht des Wirtes Angesicht, Mit Rosen hell die Stirn umkränzt; Sie zechen, bis von Mondenlicht Die Etsdi im Silberbogen glänzt. Des Schlosses offne Halle Füllt wunderlich Getön, Sie harfen rings mit Schalle: „Was ist das Leben schön!" Wie Der Um Der
freundlich schaut aus blondem Haar Schenk, und noch ein Knabe fast! ihn vergißt der Gäste Schar Armut und der Jahre Last. Er singt in hellem Tone: „Mein Hof umgibt mich hier! Versagt man mir die Krone, Mir bleibt der Rose Zier.
Das Reich verwaltet mir der Ohm, Und weist mich an auf Scherz und Lust, Drum leît* ich einen Freudestrom In jede kummervolle Brust. Bevor du, blutgefärbter Erlauchter Purpur, mein, Will fröhlich ich Enterbter Mit euch Enterbten sein." —
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Da reckt ein Alter sich empor Zu seinem mild geneigten Haupt, Und murmelt ihm entsetzt ins Ohr: „Das Leben wird dir heut geraubt! Dein Ohm, — idi lauschte — wehe! . Die Meudiler sind nicht weit. Nimm mein Gewand, ich flehe! Dich rettet nur dies Kleid! Wirf um den braunen Mantel hier Und nimm des alten Rollo Stab, Tief in die Stime drücke dir, Kind, meinen Pilgerhut herab! Verstecke nur die Locken, Sie ringeln sich zu licht! Nur fort, und unerschrocken! Der Tod errät dich nicht!" — Im Hofe klirren Axt und Schild — Ein Pilger schleicht mit Stab und Hut. „Von hinnen, Bettler! Edelwild Begehren wir und Königsblut!" — Der, fröhlich im Erbarmen, Allum den Becher bot, Der holde Wirt der Armen Entrinnt im Kleid der Not. Und als nach manchen Jahres Flug Er wiederkam, ein männlich Herz, Und seiner Krone Räuber schlug Mit Heeresmacht, gehüllt in Erz, Da wuschen sie die Halle Von dunkelm Blute rein, Und seine Bettler alle Lud er zur Krönung ein.
2. B E T T L E R B A L L A D E (1882) Prinz Bertarit bewirtet Veronas Bettlerschaft Mit Weizenbrot und Kuchen und edlem Traubensaft. Gebeten ist ein jeder, der sich mit Lumpen deckt, Der, heischend auf den Brücken der Etsch, die Rechte reckt. Auf edlen Marmorsesseln im Saale thronen sie, Durch Riss' und Löcher gucken Ellbogen, Zeh' und Knie. Nicht nach Geburt und Würden, sie sitzen grell gemischt, Jetzt werden noch die Hasen und Hühner aufgetischt. Der tastet nach dem Becher. Er durstet und ist blind. Den Krüppel ohne Arme bedient ein frommes Kind. Ein reizend stumpfes Naschen geckt unter strupp'gem Schöpf, Mit wildem Mosesbarte prahlt ein Charakterkopf. Die Herzen sind gesättigt. Beginne, Musika! Ein Dudelsack, ein Hackbrett und Geig' und H a r f ist da. Der Prinz, noch schier ein Knabe, wie Gottes Engel schön, Erhebt den vollen Becher und singt durch das Getön: „Mit frisch gepflückten Rosen bekrön' ich mir das Haupt, Des Reiches eh'rne Krone hat mir der Ohm geraubt. Er ließ mir Tag und Sonne! Mein übrig Gut ist klein! So will idi mit den Armen als Armer fröhlich sein!" Ein Bettler stürzt ins Zimmer. „Grumell, wo kommst du her?" Der Schreckensbleiche stammelt: „Ich lauscht' von ungefähr, Gebettet an der Hofburg . . . dein Ohm schickt Mörder aus, Nimm meinen braunen Mantel!" Erzschritt umdröhnt das Haus. „Drück' in die Stirn den Hut dir! Er schattet tief! Geschwind! Da hast du meinen Stecken! Entspring', geliebtes Kind!" Die Mörder nahen klirrend. Ein Bettler schleicht davon. — „Wer bist du? Zeig' das Antlitz!" Gehobne Dolche dröhn.
— „Laß ihn! Es ist Grumello! Ich kenn' das Loch im Hut Γ Idi kenn' den Riß im Ärmel! Wir opfern edler Blut!" Sie spähen durch die Hallen und suchen Bertarit, Der unter dunkelm Mantel dem dunkeln Tod entflieht. Er fuhr in fremde Länder und ward darob zum Mann. Er kehrte heim gepanzert. Den Ohm erschlug er dann. Verona nahm er stürmend in rotem Feuerschein. Am Abend lud der König Veronas Bettler ein.
XV. 1. C Ä S A R B O R G I A (1870) Romas Bischof starb in dieser Nacht. Öde der Palast, die Diener flohn, Und im Sessel, bleiern müd erwacht, Stöhnt des dreigekrönten Priesters Sohn. Ein Verschütteter in Grabes Raum, Der sich hebt ans Tageslicht empor, Starrt geblendet auf und faßt es kaum, Daß in dumpfem Sturz er sidi verlor. „Gestern? Als idi aus dem Becher trank?" So besinnt sich Borgia — und erbleicht. „ J a , da war's, daß jäh idi niedersank! Und ihn hat der Vater mir gereicht! War's der Becher, der dem Gaste galt, Dem Valenza? Wechseltest du ihn, Spott des Zufalls? Mich durchrieselt's kalt — Audi der Vater trank! Er ist dahin. Borgias Gasttrunk, tödlich ist dein Saft! Keine Rettung mehr! Der Greis erliegt! Doch ich lebe! Casars Drachenkraft H a t das grimme Drachengift besiegt. 41
Keiner steigt mir mehr auf Petri Thron! Dem Apostel hiit' ich selbst das Haus! Helle, starke Zeiten nahen schon, Mit den alten Märchen ist es aus!" Borgias Blicke schweben scharf und reg Über Jagdgefilden unbegränzt, Sein Gedanke zieht sich einen Weg, Wie durdi's reife Korn die Sichel glänzt. „Die ich rastlos brütend nahen sah, Stunde, lange Jahre vorbedacht, Schicksalsvolle Stunde, du bist da: Sturz und Elend, oder Königsmacht!" Schon ist er im Geist davongebraust, Kühne Scharen stehen ihm bereit, Und, das nackte Schwert in nerv'ger Faust Endet rasch er jeden Widerstreit; Über Leichen grausig hingemäht Steigt zum Kapitol er unverzagt, Wo in seiner Frevel Kreis er steht, Die er alle haupthodi überragt — Wahngebild vor eines Kranken Blick! Borgia liegt gelähmt, des Giftes Raub, Meteorgleich leuchtet hell sein Glück Vor ihm auf, bevor es sinkt in Staub. Vor des raschen Lebens Schranke liegt Knirschend er, geschleudert aus der Bahn, Eine Stunde flieht, die zweite fliegt Und die dritte Stunde schwebt heran! Finster quellen ihm die Tränen jetzt, Auf der schmalen Lippe zuckt der Hohn, Eh' die stolze Wimper sie genetzt, Lacht er seiner ersten Träne schon.
Immer rascher eilt der Stunden Lauf, Und er windet sich in stummer Qual, Dehnt den schlanken Leib und schnellt ihn auf, Aus dem Auge schießt ein Flammenstrahl, Einen Schritt, von kaltem Schweiß bedeckt, Tut in unsichtbarem Kerker er, Wankt und stürzt und liegt dahingestreckt Schweigend, angefesselt doppelt schwer. Nebel steigen, Leichenaugen schaun, Finger deuten auf den Mörder hin, Langsam dunkelnd senkt unsagbar Graun, Senkt die Todeswolke sich auf ihn. 2. CÄSAR B O R J A S O H N M A C H T (1892)
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Wer bin ich? Einer, welcher unterging, Den Kranz im Haar, den Becher in der Faust, Mit einem herkulanischen Gelag Von einem ungeheuren Sturz bedeckt? Idi weiß den Becher nur und meinen Sturz . . . Im Belvedere . . . Gestern . . . Am B a n k e t t . . . Den Becher, ihn kredenzte schlürfend mir Der Papst, der ewig heiter lächelnde, Denn Cäsar Borja bin ich, Sohn des Papsts! Die Ampel über meinem Lager kämpft Mit eines neuen Tages fahlem Schein . . . Ob's gestern oder ehegestern war, Idi weiß es nicht, doch eines weiß ich wohl: In jenem Becher gor der Borja Gift. Er galt dem Gast, dem Bischof. Selbst gewürzt Hat sich der Vater ew'gen Schlummers Trunk! Ein Becher ward verwechselt. Warum nicht? Verrat des Schenken? Zufall? . . . Es geschah. Ich lebe. Meine Drachenkraft bezwang Das Drachengift. Die Stunde ruft. Zur Tat! 43
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Leer steht ein Thron und eine Krone rollt. Verbraucht ist das Apostelmärchen.- Weg Damit! Der Vater war der letzte Papst! Ein König folgt ihm nach und der bin idi. Entscheidungsstunde, wie 1 erschreckst du mich, Idi habe lange dich voraus bedacht: Entlarve mir dein kühnes Angesicht! Du heißest Heute: Kämm'rer gib das Schwert! Reif stehn die Ernten und die Sichel blitzt. Marsch, meine Banden! Richtet das Geschütz Auf des Konklave Kammern! Suchst du mich, Hauptmann? Im Borgo, sagst du, wird gekämpft? Ich komme! Ich vertausendfache mich! Ich steige mordend auf das Kapitol Und mit Italiens Krone krön' idi mir Dies Haupt, das seine Frevel überragt! Idi träume nur und komme nicht vom Platz. Sturmlaufend, bleib idi eingewurzelt stehn. Gelähmte Sehnen! Meuchlerisches Gift! Auf einem Krankenlager krümm' ich mich. Kein Diener hier! Kein Arzt an meinem Pfühl! Mietlinge! Meine Stunde schwebt vorbei, Mit flieh'ndem Fuß berührt sie spottend mir Die Faust, die ein erdichtet Schwert umkrampft, Verweile, Schicksalsstunde!... Doch sie schwebt. Ich fühle meiner Feinde heimlich Werk: Sie schaufeln, sie minieren, während ich, Geschleudert aus der Schränke, l i e g e . . . Dort! Die grüne Feuerkugel! Ein Signal Von meinen Banden? Nein, ein Meteor Zuckt flüchtig durch die schwüle Sommernacht. Hier über Romas Kuppeln loht es auf: Nahn fackelschwingend meine Banden sich? Nein, es ist Borjas Glück, das flammt und brennt, Und seine Zinnen stürzen! Wehe mir!
D e m Valentino netzt die W i m p e r sich . . . P f u i ! Ist das eines Weibes Augenlid? V e r z w e i f l u n g ! Göttin! Stähle meinen L e i b ! Ich winde midi v o n meinem L a g e r auf, 60
Ich schreite . . . q u a l v o l l . . . doch ich schreite. 2 Bei D e r nackten H ö l l e , Sehnen, strammet e u c h ! . . . V e r d a m m n i s ! . . . Wieder lieg' ich h i n g e s t r e c k t . . . U n d ein erdolchter K n a b e fesselt mich M i t Ringen an den S t e i n . . . D o r t gafft ein Weib,
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D i e H a a r e triefend, mit geschwoll'nem H a l s . . . Blutlose B r u t ! Weg in des Tibers G r a b ! . . . Aus allen Wänden quillt es schwarz hervor U n d dunkelt über mir . . . U n s a g b a r G r a u n . . .
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nicht G'—G 4
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Keiner sieht's . . . Ich sdireite. G 1 G 1 45
VERWANDLUNG
XVI. 1. P O E S I E (1860) Es schüttelt sich der schlanke Baum, Und Frucht an Frucht zur Erde fällt. Er steht im Paradiesesraum Und nicht in dieser herben Welt. 2. F Ü L L E (1883) Genug ist nicht genug! Gepriesen werde Der Herbst! Kein Ast, der seiner Frucht entbehrte! Tief beugt sich mancher allzureich beschwerte, Der Apfel fällt mit dumpfem Laut zur Erde. Genug ist nicht genug! Es lacht im Laube! Die safl'ge Pfirsche winkt dem durst'gen Munde! Die trunknen Wespen summen in die Runde: 1 „Genug ist nicht genug!" um eine Traube. Genug ist nicht genug! Mit vollen Zügen Schlürft Dichtergeist am Borne des Genusses, Das Herz, auch es bedarf des Überflusses, Genug kann nie und nimmermehr genügen!
XVII. 1. A N D I E N A T U R I M SPÄTSOMMER (1865) Ihr Wolken und Die sich gemerkt Ihr heimatlichen Die ich verlassen
ihr Winde, der Knabe, Gründe, habe!
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Die Pfirsche hat dem Munde zugewunken! Ein helles Zechlied summt die Wespe trunken — G1 4
Deutsche Texte 8
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Auf langentbehrten Wegen Laßt wiederum mich gehn, Vergönnt mir euern Segen, Laßt eure Sprache mich verstehn. Verweht ist längst der Schleier, Der blaue, mit dem Lenze, Es naht die Erntefeier, Des Sommers goldne Grenze. Schon rötet sich die Traube Im grünen Rebenblatt, Bald deckt mit gelbem Laube Die Erde ihre Ruhestatt. Ein jedes Werk des Jahres Hat seine eigne Weihe Und ist ein Wunderbares In wunderbarer Reihe; Das letzte kommt von allen Des Sämanns stiller Gang Und seiner Körner Fallen Der Furche dunkle Flucht entlang. Wenn deine sanften Freuden Nicht selber ich mir trübe, Natur, wer will mich scheiden Von deiner Mutterliebe, So lang du, Totgeglaubte, Dich wonnevoll erneust, Bis du mir einst zu Haupte Die dunkelbraunen Schollen streust! 2. S P Ä T J A H R (1870) Verweht ist längst der Schleier Der Ahnung mit dem Lenze, Vorbei die Erntefeier, Des Sommers goldne Grenze, 50
Entnommen ist die Traube Dem roten Rebenblatt, Der Wald bestreut mit Laube Der Erde Ruhestatt. Ein jedes Werk des Jahres Hat seine eigne Weihe Und ist ein wunderbares In wunderbarer Reihe; Das liebste doch von allen Ist mir des Sämanns Gang Und seiner Körner Fallen Der Furche Flucht entlang. Nun träumen ohne Leiden Des Lebens neue Triebe — Natur, wer kann mich scheiden Von deiner Mutterliebe, So lang du, Totgeglaubte, Dich wonnevoll erneust, Bis du mir auch zu Haupte Die braunen Schollen streust!
3. S Ä E R S P R U C H (1882) Bemeßt den Schritt! Bemeßt den Schwung! Die Erde bleibt noch lange jung! Dort fällt ein Korn, das stirbt und ruht. Die Ruh ist süß. Es hat es gut. Hier eins, das durch die Scholle bricht. Es hat es gut. Süß ist das Licht. Und keines fällt aus dieser Welt, Und jedes fällt, wie's Gott gefällt. 4*
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XVIII. 1. O h n e T i t e l (1875) Dein denk' idi, süßes Leben, Beim Morgenglockenschlag, Von Dämmerung umgeben, Im Herzen hellen Tag; Und lösch idi aus die Kerzen Am Abend mit Bedacht, Das Licht in meinem Herzen Brennt durch die ganze Nacht. 2. O h n e T i t e l (1875) Längst löschten sie die Lichter Im Dorfe mit Bedacht — Das Licht in meinem Herzen Brennt durch die ganze Nacht. Sacht dämmert's auf den Wegen Beim Morgenglockenschlag, Schon ist in meiner Kammer Der allerhellste Tag. 3. L I E B E S H E L L E (1876) Die Mutter mahnt mich abends: „Trag' Sorg' der Ampel, Kind! Jüngst träumte mir von Feuer, audi weht ein böser Wind." Das Flämmchen auf der Ampel, das löscht' ich mit Bedacht — Das Licht in meinem Herzen brennt durch die ganze N a c h t . . . 4. L I E B E S F L Ä M M C H E N (1882) Die Mutter mahnt mich abends: „Trag' Sorg' zur Ampel, Kind! Jüngst träumte mir von Feuer — Audi weht ein wilder Wind."
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Das Flämmchen auf der Ampel, Idi lösch' es mit Bedacht, Das Lidit in meinem Herzen Brennt durch die ganze Nacht. Die Mutter ruft mich morgens: „Kind, hebe dich! 's ist Tag!" Sie pocht an meiner Türe Dreimal mit starkem Schlag. Und meint, sie habe grausam Mich aus dem Schlaf geschreckt — Das Licht in meinem Herzen H a t längst mich aufgeweckt.
XIX. 1. O h n e T i t e l
(1875)
Auf plötzlich dunkeln Matten In Abendsommerschatten, Wann du die heißen Wangen kühlst Beim ersten Sterne, Erschrick nicht, Kind! Daß einen Kuß du fühlst Aus naher Ferne.
2. I N D E R A B E N D S T U N D E (1877) Wir sind geschieden Durch Raum und Ferne N u r bis zum Frieden Der ersten Sterne. 53
Dann webts im Düster, Rauscht im Gehege, Ein warm Geflüster Geht auf dem Wege. Und bald vertrauter Wird das Geleite, Du plauderst lauter An meiner Seite; Hast hellen Mutes Mir viel zu sagen, Viel Lieb' und Gutes — Und auch zu klagen.
3. D Ä M M E R G A N G (1883) Du lebst meerüber In blauer Ferne Und du besuchst mich Beim ersten Sterne. Ich mach' im Felde Die Dämmerrunde, Umbellt, umsprungen 1 Von meinem Hunde. Es rauscht im Dickicht, Es webt im Düster, Auf meine Wange Haucht warm Geflüster. Das Weggeleite Wird trauter, trauter, Du schmiegst dich näher, Du plauderst lauter. 54
Da gibt's zu Da gibt's zu Und hell zu Und leis zu
schelten, fragen, lachen klagen.
Was wedelt Barry So gliickverloren? Du kraust dem Liebling Die weichen Ohren . . .
XX. 1. T R A U M B I L D (1860) Ich seh durch edle Trümmer, Gebrochne Bogen reich, Des Wassers grüne Schimmer Uberhangen von Gesträuch. Eine schlanke Barke gleitet, Darin Gesang ertönt, Das schallt so zartbesaitet Und ist so mild versöhnt. Von Frauen und von Knaben Ein himmlisches Geleit, Die längst vergessen haben Des Lebens Bitterkeit. Und eine von den Frauen Mit der Stimme süßen Schalls Erkenn ich an den Brauen Und an dem Schwanenhals. 1
Umkreist, umbollen G1 55
Die Geister fahren singend, Das Liebdien, es singt mit, Da singt es so durchdringend, Daß mir's das Herz zerschnitt. Es faßt das alte Sehnen Mich wieder mit Gewalt, Da stürzen schwere Tränen Und trüben die Gestalt.
2. L E T H E (1882) Jüngst im Traume sah ich auf den Fluten Einen Nachen ohne Ruder ziehn, Strom und Himmel stand in matten Gluten Wie bei Tages Nahen oder Fliehn. Saßen Knaben drin mit Lotoskränzen, Mädchen beugten über Bord sich schlank, Kreisend durch die Reihe sah ich glänzen Eine Schale, draus ein jedes trank. Jetzt erscholl ein Lied voll süßer Wehmut, Das die Schar der Kranzgenossen sang — Ich erkannte deines Nackens Demut, Deine Stimme, die den Chor durchdrang. In die Welle taucht' ich. Bis zum Marke Schaudert' ich, wie seltsam kühl sie war. Ich erreicht'1 die leise zieh'nde Barke, Drängte mich in die geweihte Schar. Und die Reihe war an dir zu trinken, Und die volle Schale hobest du, Sprachst zu mir mit trautem Augenwinken: „Herz, ich trinke dir Vergessen zu!" 56
Dir 2 entriß in trotz'gem Liebesdrange Ich 3 die Schale, warf sie in die Flut, 4 Sie versank und, siehe,5 deine Wange Färbte sich mit einem Schein von Blut. Flehend küßt' ich dich in wildem Harme, Die den bleichen Mund mir willig bot, D a zerrannst du lächelnd mir im Arme, U n d ich wußt' es wieder — du bist tot.
XXI. 1. W A L D W E G (1865) Wie wandr' ich gern mit dir allein, Umzaubert von dem grünen Schein Des Waldes unter Zweigen! Beredter als der Stimme Klang Ist einen stillen P f a d entlang Ein einverstand'nes Schweigen. Ins Tannendunkel blitzt ein Strahl U n d überhellt mit einemmal Den Waldesweg, den feuchten, Ein Lächeln rasch und unverhofft Erhellt dein ernstes Antlitz oft Mit wunderbarem Leuchten. Das Bächlein rieselt rein und braun U n d läßt bis auf den Grund sich schaun,
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2 Schwang midi in Ich Zornig in den Strom und
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Dir
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goß die kalte Flut
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Daß nicht ein Kiesel fehle; Im Schatten rinnt das Wasser klar, Dein Auge spiegelt rein und wahr Die Tiefe deiner Seele. Und wie die Sonne niedersinkt Und zitternd an den Stämmen blinkt, Stehn wir an Waldes Grenzen, Da seh' ich noch in Waldes Schoß Des stillen Ganges Spur im Moos So freudevoll erglänzen.
2. I M W A L D E 2 (1870) Demantne Tropfen hangen An Halm und Blatt und Strauch — Mir klopft das Herz: gegangen Bist diesen Pfad du auch! Der schlanke Fuß, der leichte, Der mir das Liebste trägt, Ins Erdreich hat, ins feuchte, Sein Bildnis er geprägt. Doch ist zu manchen andern Gesellt die zarte Spur; Mir deucht, ein starkes Wandern War heut auf Feld und Flur. Aus allen Stapfen kennen Kann ich der deinen Flucht, Von allen möcht' ich trennen Sie voller Eifersucht. Verzeichnet auf den Wegen Dein stiller Morgengang? Lösch aus die Spur, o Regen, Den ganzen Pfad entlang!
3. S T A P F E N (1881)
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Träumend schreiten wir auf Waldeswegen, Aus den gelben Blättern rieselt Regen, U n d den P f a d lass' ich voran dich gehen, Den wir H a n d in H a n d gewandelt haben, Sehe leichter Stapfen Flucht entstehen, Zarter Sohlen Bildnis eingegraben . . . Wie du schweigst! Wie kühl die Lippen zaudern! Aber deine feinen Stapfen plaudern; Deine Stapfen können's nicht verhehlen, Schwatzen und beteuern und erzählen, Wie sie dich in schwülen Sommertagen Durch den feuchten Waldesgrund getragen, Wie sie suchten, spähten, lauschend weilten, Wie sie sehnlich mir entgegeneilten . . . Doch die leidenschaftliche Geschichte
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Glaub' ich nicht im bleichen Herbsteslichte, Flücht'ge Stapfen, die davon geblieben, Werden bald vergehn, verwehn, verstieben — Ihr Geplauder laß dich nicht erschrecken! Müdes Laub wird deine Stapfen decken . . .
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4. S T A P F E N (1882)
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In jungen Jahren war's. Ich brachte dich Zurück ins Nachbarhaus, wo du zu Gast, Durch das Gehölz. Der Nebel rieselte, Du zogst des Reisekleids Kapuze vor U n d blicktest traulich mit verhüllter Stirn. N a ß ward der Pfad. Die Sohlen prägten sich Dem feuchten Waldesboden deutlich ein, Die wandernden. Du schrittest auf dem Bord, Von deiner Reise sprechend. Eine noch, Die längre, folge drauf, so sagtest du. 59
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Dann scherzten wir, der nahen Trennung klug Das Angesicht verhüllend, und du schiedst, Dort wo der First sich über Ulmen hebt. Idi ging denselben Pfad gemach zurück, Leis schwelgend noch in deiner Lieblichkeit, In deiner wilden Scheu, und wohlgemut Vertrauend auf ein baldig Wiedersehn. Vergnüglich schlendernd, sah ich auf dem Rain Den Umriß deiner Sohlen deutlich nodi Dem feuchten Waldesboden eingeprägt, Die kleinste Spur von dir, die flüchtigste, Und doch dein Wesen: wandernd, reisehaft, Schlank, rein, walddunkel, aber o wie süß! Die Stapfen schritten jetzt entgegen dem Zurück dieselbe Strecke Wandernden: Aus deinen Stapfen hobst du dich empor Vor meinem innern Auge. Deinen Wuchs Erblickt' idi mit des Busens zartem Bug. Vorüber gingst du, eine Traumgestalt. Die Stapfen wurden jetzt undeutlicher, Vom Regen halb gelöscht, der stärker fiel. Da überschlich mich eine Traurigkeit: Fast unter meinem Blick verwischten sich Die Spuren deines letzten Gangs mit mir.
XXII. 1. N A C H T G E D A N K E N (vor 1861) Es deckt die Nacht dich freundlich zu, Doch keine Ruhe findest du Und klopfst in raschen Schlägen. Was wirst du eng? Was wirst du weit, Mein Herz? Und ist zum Schlafen Zeit, Und nicht dich so zu regen. 60
U n d friig' idi didi zu dieser Frist, Was dein geheimes Leiden ist, So müßtest du didi schämen; Audi schweigst du gern, so lang man wacht, U n d sparst es auf die stille Nacht, Didi grenzenlos zu grämen. U n d wenn du denn nicht schlafen willt, So komm und schau ein ander Bild Als das dich jüngst bestrickte: Es zeigt ein Stern sich über dir Von feinem Glanz, von hoher Zier, Wie keiner niederblickte. Vom Himmel himmlisdier Gesang, Er wandelt sanft die Welt entlang — Herz, freue dich im Stillen! Horch: „Ehre Gott, auf Erden Fried' Mit jedem willigen Gemüt, U n d jedem reinen Willen . .
Die zagen Jünger sind allein, Da tritt der H e r r mit Grüßen ein. „So weilst du noch hienieden?" „Ich komme aus der Todesnadit. Den ich erfochten in der Schlacht, Ich geb' euch meinen Frieden." Getrost mein Herz! Der Herr ist da! Entschlummre sanft! Er hat dich ja Zum Frieden eingeladen, Ist dort und hier: beim Vater hoch Und steht an deinem Lager doch Mit allen seinen Gnaden. 61
2. O h n e T i t e l (1861) Idi kann den Schlaf nicht finden, Die alte Schuld wird wach: So muß ich denn midi winden Bis zu dem neuen Tag? Es schreien meine bangen Gedanken, Herr, zu dir: Der du am Holz gehangen, Mein Heiland, komm zu mir! Nun laß zu deinen Füßen, Du höchste Liebestreu, In Tränen mich zerfließen, In Tränen bittrer Reu. Laß du in solchen Nächten Verschärfter Seelenpein Mich nicht mit dem gerechten, Dem heil'gen Gott allein.
3. N A C H T W A C H E (1871) Wenn dich der Harm nicht schlummern läßt, Streck' aus die Hand du in die Nächte Und sei gewiß, du fassest eine Redite; Die halte fest, Und sei gewiß, Ein Freund ist in der Finsternis. Sprich: „Gott ist größer als mein Herz; Ich lege, Vater, nur bis morgen In deines Mantels Falten meine Sorgen Und meinen Schmerz." Dann wird es Ruh, Und ungekränkt entschlummerst du. 62
4. A B E N D W O L K E N (1871) Wolken wallen. Im Abendklar; Ein Gruß euch allen Aus der Geisterschar! Wer seid ihr, Mächte? Du Heldenreigen, Wie nennst du dich? Sie ζiehn und schweigen — Doch eine Rechte Segnet mich.
5. I N H A R M E S N Ä C H T E N (1882) Die Rechte streckt' idi schmerzlich oft In Harmesnächten Und fühlt' gedrückt sie unverhofft Von einer Rechten — Was Gott ist, wird in Ewigkeit Kein Mensch ergründen, Doch will er treu sich allezeit Mit uns verbünden.
XXIII. 1. D I E S T E R B E N D E M E D U S E (1887) Ein kurzes Schwert gezückt in nerv'ger Rechten, Belauert Perseus bang in seinem Schild Der schlummernden Meduse Spiegelbild, Das süße Haupt mit müden Schlangenflechten. Zur Hälfte zeigt der Spiegel längs der Erde Des jungen Wuchses atmende Gebärde —
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„ R a u b ' idi das arge H a u p t mit raschem Hiebe, Verderblich der Verderberin genaht? Wenn n u r die blonde Wimper sdilummern 1 bliebe! D e r Blick versteint! Gefährlich ist die Tat. Die Mörderin! Sie schließt vielleicht aus List Die wachen Augen! Sie, die grausam ist! Durch weiße Lider schimmert blaues Licht U n d — zischte dort der Kopf der N a t t e r nicht?" Medusen träumt, daß einen K r a n z sie winde, Der Menschen schöner Liebling, der sie w a r , Bevor die Stirn der Göttin Angebinde Verschattet ihr mit wirrem Schlangenhaar. Mit den Gespielen glaubt sie noch zu w a n d e r n U n d spendet ihnen lockenschüttelnd Grüße, In blüh'ndem Reigen regt sie mit den andern Die freudehellen, die beschwingten Füße, I h r Antlitz hat vergessen, daß es töte, Es glaubt, es glaubt an die barmherz'ge Lüge Des Traums. Es lauscht dem Hauch der Hirtenflöte, D e r weichmelodisch 2 zieht durch seine Züge. Es lächelt still, von schwerem Bann befreit, In unverlorner erster Lieblichkeit. Der Mörder t r i t t an ihre Seite dicht, U n d dunkler t r ä u m t Medusens Angesicht. I h r ist, sie habe H a ß empfunden schon, V o r sich geschaudert, dumpf u n d bang gelitten, Die Menschen habe scheu sie erst geflohn, D a n n ihnen nachgestellt mit Meuchlerschritten — Sie sinnt, was Unheilbares sie gequält, D a ß sie dem eignen Leben feind geworden, U n d andres Leben sich ergötzt zu morden — Sie sinnt umsonst. Ihr hält's der T r a u m verhehlt,
schlummernd G' G 2
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- weich melodisch G1 G 2
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Die grause Larve, die sie lang geschreckt, Ist wie mit einem Purpurtudi bedeckt. Das Graun ist aufgelöst in Seligkeit, Begonnen hat der Seele Feierzeit. Der Dämmer herrscht. Das harte Licht verblich. Als eine der Erlösten fühlt sie sich. Sie fürchtet keines Schreckens Wiederkehr, Sie weiß, die Qualen kommen nimmermehr, Nein, nimmermehr, und nun ist alles gut! Sie liegt, den Hals gebogen, auf dem Rasen, Sie hört die Hirtenflöte wieder blasen Und lauscht. Sie zuckt. Sie windet sich. Sie ruht.
2. V O R E I N E R B Ü S T E (1891) Bist du die träumende Bacche? Der Sterblichen lieblichste bist du! Still in den Winkeln des Mundes 1 lädielt ein grausamer Zug.
XXIV. 1. D E R Z W E I K A M P F
(1864)
Die gebietende Stimme des Liktors ertönt: Im Namen des Konsuls ist heute verpönt Bei Strafe des Beiles der Kampf in dem Feld, Im Einzelgefecht, wie zu Scharen gesellt. Aus der Pforte des Lagers, der offenen, sprengt Ein Reitergesdiwader, die Zügel verhängt; Des Konsuls in Jugend erblühender Sohn Hat heute die Wache mit seiner Schwadron. 1
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Munds G'—G3 Deutsche Texte 8
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Und schon ist das feindliche Lager in Sicht, Sie umkreisen es, aber verhöhnen es nicht. Da reitet voran der latinisdien Wacht Ein bärtiger Hauptmann und spottet und lacht: „Was üben die Jungen im Reiten sich hier? Und wenn idi sie zähle sind's drei oder vier, — Ihr niedlichen Buben, wie Mägdlein so zart, Wann wird er euch wachsen, der fehlende Bart? Wie lang ist es her, daß geworfen euch hat Die gierige Wölfin der römischen Stadt? Kriecht unter die Mutter!" so lacht er und lacht, „Und laßt mich mit Männern bestehen die Schlacht!" Sadit reitet der zornige Römer im Schritt: „Wir bringen dir morgen die übrigen mit, Da werd' ich dich suchen, da find' ich dich schon Und zahle mit Blut dir den blutigen Hohn!" Rasch spornt der Latiner den Renner und spricht: „Ich sollte dich kennen, du glattes Gesicht!" Dann reitet entgegen dem Römer er schnell Und jubelt: „Was meinst du, mein junger Gesell? Von heute bis morgen das dauert so lang, Auf, reit mir entgegen und mach einen Gang! Ihr andern von hinnen! Wir kämpfen zu zwei'n! Was fährst du zusammen? Da steh ich allein." Wohl kehrt sich dem Römer das Herz in der Brust, Doch bleibt das Verbot ihm des Vaters bewußt; Hart reißt er den stampfenden Renner im Maul, Aufbäumt sich mit flatternden Mähnen der Gaul. Da spottet der andre mit steigendem Hohn: „Du elender Feigling, des Manlius Sohn! Willst du mir nicht stehen, so reiße nun aus Und bringe dein Milchgesicht sauber nach Haus." 66
Der Jüngling entfärbt sich, wird blaß wie der Tod Und dann wie der dunkelste Purpur so rot, Es rausdit in dem Ohr ihm, wie Zinken und Horn, Mit Riesengewalt übermannt ihn der Zorn. Die Gefährten, sie warnen mit flehendem Blick Und halten ihn mit der Geberde zurück — D a berührt mit der Ferse den Renner er schon Und brauset im wirbelnden Staube davon. Der Mann und der Jüngling, verblendet von Wut, Sie fallen sich an und sie ledizen nach Blut; D a gleiten die Speere, sie fehlen den Stoß Und stürzen vorüber und wenden das Roß. Der Römer hat schnell seinen Renner gekehrt, Gewendet sich halb das latinisdie Pferd, D a trifft mit dem Speer er's dicht hinter dem Ohr, Wild springt es mit blutenden Nüstern empor, Und wirft den Latiner zur Erde: Der liegt, Und riditet sidi auf an die Lanze gesdimiegt, D a fährt ihm der römische Speer ins Genick Und sinkt er gemach an die Erde zurück. Der Römer springt ab und enthelmt ihm das Haupt Und entharnischt die Schulter ihm. — Nackt und beraubt Starrt hohl der erlegte, verlorene Mann Mit den irren, erlöschenden Blicken ihn an. Schon eilen die jubelnden Freunde h e r b e i . . . Was verstummen sie mitten im Freudegeschrei? Sie halten die schnaubenden Tiere zurück Und meiden des Siegers frohlockenden Blick. Der Jüngling erstaunt, und erschrickt, und erwacht: Er hat sich mit ihm um das Leben gebracht... Kühl schaudert es ihn in der sonnigen Luft, Und der strahlende Tag wird ihm schwarz wie die Gruft. 5*
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Von der schattigen Schwinge des Todes berührt, Und bald vor den Vater in Banden geführt, Ein rühmlicher Sieger, — der Schuld sich bewußt Und der Sühne begehrend in eigener Brust! — Still sammelt der Jüngling die fliehende Kraft; Er hat seine Geister zusammengerafft, Die zagen Gedanken, er schüttelt sie fort Und tröstet die Freunde mit männlichem Wort: „Mein Haupt ist verwirkt, und was ist es denn mehr? Ich bin nur ein einzelner Mann in dem Heer. Begleitet midi alle zum strengen Gericht, Schaut mir in die Augen, ich fürchte mich nicht. Mit den Blättern der Eiche bekränzt mir das Haupt, Daß es falle mit grünender Ehre belaubt! Und den schimmernden Helm und die glänzende Wehr, Tragt meine Trophä'n mir voran auf dem Speer! Greif aus, du mein edles, mein feuriges Tier, Und laß mich noch einmal verwachsen mit dir! Du letzte der Sonnen, wie spiegelst du schön Didi in meinen ersten, ersehnten Trophä'n!"
2. D E R R I T T I N D E N T O D (1882) „Greif' aus, du mein junges, mein feuriges Tier! Noch einmal verwachs' ich zentaurisch mit dir! Umschmettert mich, Tuben! Erhebet den Ton! Den Latiner besiegte des Manlius Sohn! Voran die Trophä'n! Der latinische Speer! Der eroberte Helm! Die erbeutete Wehr! Duell ist bei Strafe des Beiles verpönt. . . Doch er liegt, der die römische Wölfin gehöhnt! 68
Liktoren, erfüllet des Vaters Gebot! Ich besitze den Kranz und verdiene den Tod Bevor es sich rollend im Sande bestaubt, Erheb' ich in ewigem Jubel das Haupt!"
XXV. 1. R A N C É (ca. 1865?)
I. Durch das Dunkel jagt er ohne Weg, lange mied er der Geliebten Schloß, hier ein Abgrund, aber wo der Steg? Hoch hinüber braust das schwarze Roß. „Dein Gelübd' im Sturm davongerafft! Priester du, und fühlst der Liebe Glut!" Raneé bändigt seines Tieres Kraft, und dann treibt er's wieder an mit Wut. „Todesfackeln, helle Fensterreihn. — In den Abgrund reiß ich sie mit mir — endlich, endlich, nach der Trennung Pein wieder in den Armen lieg ich ihr." „Raneé, Raneé, du bist ungetreu, und dein Glück ist freventlich geraubt! — Raneé, Raneé, fühlst du keine Reu? Bangt dir nicht um das geliebte Haupt?" „Hümmel, ja, verbirg dein Angesicht!" Tosend ruft er's in die schwüle Nacht, „Brichst du über mir zusammen nicht, der sein heiliges Gelübd' verlacht?"
Um die schwarzen Eichen lodert auf wetterleuchtend offner Himmelsgrund, Raneé hemmt am Tor des Rosses Lauf, sehnend eilt er zu der Liebe Bund. Still der Hof, die Treppe, still der Saal: hoher Kerzen Flammen wehn im Wind — und im Sarge liegt sie ernst und fahl, deren Hände still gefaltet sind. II. Fläche rings mit Suilipf und Wald bedeckt, drin ein leises Sommerrausdien geht, in die feuchte Niederung versteckt, ruht ein Kloster, das vereinsamt steht. An den Fenstern, an den Türmen glimmt still ein trübes Abendrot empor, stark und tief im Dunkel angestimmt steigt ein abgemess'ner Männerchor. Letzte feierliche Klänge ziehn und verhallen und verstummen nun, strenge Mönche treten schweigend hin an die Gräber, wo die Brüder ruhn. Müdgejagte Flüchtlinge der Welt, die gekostet Schuld und Fluch und Not, stehn in eine kleine Schar gesellt, harren auf den Frieden in dem Tod. Weil sie in den Abgrund tief geschaut, rührt sie Lust und rührt sie Leid nicht mehr, weil es ihnen vor dem Leben graut, ist nur selig Sterben ihr Begehr. Raneé, der in ihrer Mitte steht, hebt sein abgehärmtes Angesicht, auf den Lippen zittert ein Gebet, auf der Stime zittert Mondenlidit. 70
Nun geht einer ohne Gruß zur Ruh', durch die Pforte folgt ein andrer sacht. Keiner schließt sie vor dem Bruder zu, und der letzte schwindet in der Nacht.
2. D I E K A R T Ä U S E R (1882)
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Idi sehe sie auf Sacdiis süßem Bilde Beschreiten ihrer toten Brüder Grüfte, Gegürtet mit dem Knotenstrick die Hüfte, In weißen Kleidern, festlich, göttlich milde — Manch einer schleppte sich mit Schwert und Schilde, Gepanzert saust' zu Roß er durch die Lüfte, Bevor er suchte die verlornen Klüfte Und weltentsagend trat in diese Gilde. Sie alle wollen hier in öder Wildnis Vergessen ein verführerisches Bildnis, Sie alle wollen hier ein Stündlein büßen, Um mit den Reinen rein sich zu begrüßen, Sie alle wollen hier ein Stündlein beten, Bevor sie vor den strengen Richter treten.
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VERZWEIGUNG
XXVI. 1. O h n e T i t e l (1864) Der Der Mit Sich
Frühling kommt, die Berge strahlen rein, Himmel spiegelt sich in klarer Bucht, gleicher Güte neigt der milde Schein auf das sanfte Tal, die rauhe Schlucht.
Leis schmilzt der Schnee, es stürzt in breitem Guß Der Wasserfall und braust zu Tale schon, Mit vollen Borden rauscht der kühle Fluß, Mit allen Wassern zieht der Rhein davon. Du hast den Wanderstab nun in der Hand, O Frühling, alles rinnt und rauscht mit dir, Nimm du mir meine Lieder über Land Und gib aus deinem Füllhorn neue mir!
2. „TAG, S C H E I N H E R E I N , U N D , L E B E N , F L I E H H I N A U S ! " (1870) Romeo und Julia Tag, schein herein! die Kammer steht dir offen! Du blauer Frühlingsmorgen, steig herein! Sdion glitzert, von der Sonne Strahl getroffen, Das Tintenfaß, der eichne Büchersdirein. Der Winter räumt, ein mürrischer Verwalter, Dem jungen schönen Erben Hof und Haus, In meines Fensters Bogen schwebt ein Falter — Tag, schein herein, und, Leben, flieh hinaus!1 In meinem Manuskript beginnt zu blättern Der Morgenwind, der lustige Student! Vergoldet schimmern die bewegten Lettern, Kaum fängt er an, und schon ist er zu End', Und an den Boden wirft er*s ohne Gnade, Und jagt's durdi's Fenster, — Taugenichts! o Graus!
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Komm mit! wir haschen's, rauscht er, 's wäre schade! Tag, schein herein, und, Leben, flieh hinaus! Ein Segel zieht auf wunderkühlen Pfaden, Ein Meer von Güte, glänzt der blaue Tag. Was hat die Barke wohl für midi geladen? Vielleicht ist's etwas, das mich freuen mag! Entgegen ihr! Was kann das Segel bringen Mir durch der Wellen freudiges Gebraus? Noch spannt der Lenz auch meiner Seele Schwingen! 2 Tag, schein herein, und, Leben, flieh hinaus!
3. „TAG, S C H E I N ' H E R E I N ! U N D , L E B E N , F L I E H H I N A U S ! " (1882) Shakespeare Tag, schein' herein! Die Kammer steht dir offen! Holdsel'ger Lenzesmorgen, schein' herein! Schon glitzert, von der Sonne Strahl getroffen, Das Tintenfaß, der eichne Bücherschrein. Vogt Winter muß dem Lenze Rechnung geben, Dem schönen Erben, über Hof und Haus — Audi mir zu gut geschrieben ist ein Leben — Tag, schein' herein! und, Leben, flieh hinaus! Ich war von einem schweren Bann gebunden. Ich lebte nicht. Ich lag im Traum erstarrt. Von vielen tausend unverbrauchten Stunden Schwillt ungestüm mir nun die Gegenwart. Aus dunkelm Grunde grüne Saat zu wecken Bedarf es Sonnenstrahles nur und Tau's, Ich fühle, wie sich tausend Keime strecken. Tag, schein' herein! und, Leben, flieh hinaus! 1
Und du, mein Seeldien, du erstarrter Falter,
Lockt dich die süße Bläue nidit hinaus? 1
Wie kräftig seid ihr noch, geliebte Schwingen!
Ein Segel zieht auf wunderkühlen Pfaden, In Flutendunkel spiegelt sich der Tag. Was hat die Barke dort f ü r midi geladen? Vielleicht ist's etwas, das mich freuen mag! Entgegen ihr! Was wird die Barke bringen Durch blauer Wellen freudiges Gebraus? Entgegen ihr! Mit weitgestreckten Schwingen! Tag, sdiein' herein! und, Leben, flieh hinaus! 4. D E R S C H A T T E N (1860) Es huscht mir übers helle Buch Der Schatten von einem Vogelflug: Dein Schatten huscht, Verräterin, In meinen Reimen her und hin. 5. Z U R N E U E N A U F L A G E (1883) Mit dem Stifte les' ich diese Dinge, Auf der Rasenbank im Freien sitzend, Plötzlich zuckt mir einer Vogelschwinge Schatten durch die Lettern freudig blitzend. Was da steht, ich hab' es tief empfunden, Und es bleibt ein Stück von meinem Leben — Meine Seele flattert ungebunden Und ergötzt sich drüberhinzuschweben.
XXVII. 1. K O M M E T W I E D E R (1870) Um die bleichen Kreidefelsen kreisen Möwen immer in denselben Gleisen, In des stillen Meeres dunkelm Spiegel Flattern helle Lichter, weiße Flügel. 77
Und das Meer beginnt ein leises Singen: Wolken, meine Kinder, regt die Schwingen! Von der Erde seid ihr angezogen, Rauscht im Regen! Glänzt im Regenbogen! Füllt die Bronnen, murmelt in den Quellen! Stürzt von Felsen, rieselt in den Wellen! Zieht in Strömen durdi die Lande nieder! Kommet, meine Kinder, kommet wieder!
2. M Ö W E N F L U G (1881)
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Möwen sah um einen Felsen kreisen Idi in unermüdlich gleidien Gleisen, Auf gespannter Schwinge schweben bleibend, Eine schimmernd weiße Bahn beschreibend, Und zugleich in stillem Meeresspiegel Sah idi um dieselben Felsenspitzen Eine helle Jagd gestreckter Flügel Unermüdlich durch die Tiefe blitzen. Und der Spiegel hatte solche Klarheit, Daß sich anders nicht die Flügel hoben Tief im Meer, als hoch in Lüften oben, Daß sich völlig glichen Trug und Wahrheit. Allgemach beschlich es mich wie Grauen, Schein und Wesen so verwandt zu schauen, Und ich fragte midi, am Strand verharrend, Auf das doppelte Geflatter starrend: Und du selbst?... Bist du lebendig Leben? Oder nur ein traumgespiegelt Schweben? Treibst du dich im Kreis mit nidit'gen Dingen, Oder hast du Kraft in deinen Schwingen?
3. M Ö W E N F L U G (1882) Wie Fassung 2, außer grünem statt stillem in Vers 5, und außer dem abweichenden Schluß (Vers 16—20): Ins gespenstische Geflatter starrend: Und du selber? Bist du echt beflügelt? Oder nur gemalt und abgespiegelt? Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen? Oder hast du Blut in deinen Schwingen?
4. D E R G E S A N G D E S M E E R E S (1882) Wolken, meine Kinder, wandern gehen Wollt ihr? Fahret wohl! Auf Wiedersehen! Eure wandellustigen Gestalten Kann ich nicht in Mutterbanden halten. Von der Erde seid ihr angezogen: Blaue Gipfel! Küsten weit gebogen! Dort der Stern ist eines Leuchtturms Feuer! Ziehet, Kinder! Suchet Abenteuer! Segelt, kühne Schiffer, in den Lüften! Ruhet, sel'ge Geister, über Klüften! Bauet Türme! Blitzet! Liefert Schlachten! Traget glüh'nden Kampfes Purpurtrachten! Rauscht im Regen! Murmelt in den Quellen! Füllt die Brunnen! Rieselt in die Wellen! Braust in Strömen durch die Lande nieder — Kommet, meine Kinder, kommet wieder! 5. D E R G E S A N G D E S M E E R E S (1891) Wolken, meine Kinder, wandern gehen Wollt ihr? Fahret wohl! Auf Wiedersehen! Eure wandellustigen Gestalten Kann ich nicht in Mutterbanden halten. 79
Ihr langweilet euch auf meinen Wogen, Dort die Erde hat euch angezogen: Küsten, Klippen und des Leuchtturms Feuer! Ziehet, Kinder! Geht auf Abenteuer! 1 Segelt, kühne Schiffer, in den Lüften! Sucht die Gipfel! Ruhet über Klüften! 2 Brauet Stürme! 3 Blitzet! Liefert Schlachten! Traget glüh'nden Kampfes Purpurtrachten! Rauscht im Regen! Murmelt in den Quellen! Füllt die Brunnen! Rieselt in die Wellen! Braust in Strömen durch die Lande nieder — Kommet, meine Kinder, kommet wieder!
XXVIII. 1. E R N T E L I E D (1876) Wir schnitten die Ernte, wir Knaben und Dirnen, Mit rüstigen Sicheln und triefenden Stirnen, Von rollenden Wolken bedroht. Ein schmetternder Schlag — und die Hoffnungen starben! Wir bringen die hastig geladenen Garben — Wir bringen das Brot. Hoch thronet ihr Schönen, umschimmert von Blitzen, Mit flatternden Haaren auf güldenen Sitzen — Wie schwellen die Lippen eudh rot! Zum Tanze, zum Tanze, zur fliegenden Runde! Vom schäumenden Becher zum durstigen Munde Ist Raum für den Tod. 1
t Strophe 2 in G 2 noch wie in G' Ruhet, stille Waller, über 3 8 Klüften! G Bauet Türme! G'—G'
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2. S C H N I T T E R L I E D (1883) Wir schnitten die Saaten, wir Buben und Dirnen, Mit nackenden Armen und triefenden Stirnen, Von donnernden 1 dunkeln Gewittern bedroht — Gerettet das Korn! Und nicht einer, der darbe! Von Garbe 2 zu Garbe Ist Raum für den Tod — Wie schwellen die Lippen des Lebens so rot! Hoch thronet ihr Schönen auf güldenen Sitzen, In strotzenden Garben umflimmert von Blitzen — Nicht eine, die darbe! Wir bringen das Brot! Zum Reigen! Zum Tanze! Zur tosenden Runde! Von Munde 3 zu Munde Ist Raum für den Tod — Wie schwellen die Lippen des Lebens so rot!
3. E R N T E G E W I T T E R (1882)
5
10
1
6
Ein jäher Blitz. Der Erntewagen schwankt. Aus seinen Garben fahren Dirnen auf Und springen schreiend in die Nacht hinab. Ein Blitz. Auf einer goldnen Garbe thront Nodi unvertrieben eine frevle Maid, Der das gelöste Haar den Nacken peitscht. Sie hebt das volle Glas mit nacktem Arm, Als brächte sie's der Glut, die sie umflammt, Und leert's auf einen Zug. Ins Dunkel wirft Sie's weit und gleitet ihrem Bedier nach. Ein Blitz. Zwei schwarze Rosse bäumen sich. Die Peitsche knallt. Sie ziehen an. Vorbei.
steigenden G1 Deutsche Texte 8
1
Ahre G1
* Becher G' 81
XXIX. 1. D E R M U S E N S A A L (1865) Es brachte jüngst der dunkle Flug Der Nacht den liebsten mir der Träume, Die Schwinge meiner Sehnsucht trug Midi in des Vatikanes Räume. Still tret' ich in den Musensaal Und staune, daß er ist ein andrer, Als scheidend ihn das letzte Mal Betrachtete der junge Wandrer. Apollo tritt nicht mehr hervor, Der sonst geleuchtet in der Mitte, Voranzugehn dem edeln Chor Mit feierlich gemess'nem Schritte, Und in der Schwestern Kreise steht In hoher Halle vollem Lichte, Von wallendem Gewand umweht, Klio, die Muse der Geschichte. Besonnen ist der Göttin Blick, Die freie Stirne fordert Wahrheit, Die Schleier wirft sie weit zurück Und wandelt in des Tages Klarheit. Die staub'gen Rollen legt sie hin, Die ihr der Dinge Saat verkünden; Der Gegenwart Gebieterin, Will sie die volle Garbe binden. Melpomene tritt ihr voran, Und Jammer redet die Gebärde, Der Schwester öffnet sie die Bahn Mit dem verhängnisvollen Schwerte. Sie rächt die Schuld der alten Zeit An den herangewachs'nen Söhnen, Und wenn vollendet ist das Leid, Erheitert sie sich unter Tränen.
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Die sonst so kindlich mit Homer, Dem blinden Sänger, ist gezogen, Sie schreitet sorgenvoll einher Auf des Gesanges hohen Wogen; Des einen Volkes Sterbeweh, Des andern neu erwachend Leben Läßt tiefbewegt Kalliope Auf ihrem schönen Munde beben. Thaliens leichtgesdiürzten Gang Ich kann ihn nicht mehr lieblich heißen, Der Glöcklein und des Reifes Klang Die Seele will er mir zerreißen. Der alten Ehrfurcht frommen Wahn Freut sich die Trunkene zu höhnen, Und was nicht zeitig sterben kann, Das mordet sie mit scharfen Tönen. Begeistert hält und himmlisch klar Urania den Blick erhoben Zu dem Gesetz, das wunderbar Verschlingt den goldnen Gang der Globen, Es ist ihr fremd der Sdiwestern Tun, Doch tritt sie nicht aus ihrem Ringe, In ew'ger Weisheit Händen ruhn Sieht sie den Lauf der ird'schen Dinge. Idi hing an ihrem Angesicht Und ließ midi seine Helle trösten; D a braust der Wind, die Säule bricht, Als zitterten der Erde Vesten. Ich sehe die vereinte Schar Aus offenen Ruinen schreiten Mit Hymnenklang und weh'ndem Haar, Die Musen dieser letzten Zeiten.
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2. D I E N E U E N M U S E N (1870) Es brachte jüngst der dunkle Flug Der Nacht den liebsten mir der Träume, Der in des Vatikanes Räume Mich auf der Sehnsucht Schwinge trug. Still tret' ich in den Musensaal Und staune, daß er ist ein andrer, Als scheidend ihn der junge Wandrer Betraditete das letzte Mal. Apollo leuchtet nicht hervor, Der sonst beherrscht des Saales Mitte, Mit feierlich bewegtem Schritte Voranzugehn dem edlen Chor, Und in der Schwestern Kreise steht In hoher Halle vollem Lichte Die ernste Muse der Geschichte, Von wallendem Gewand umweht. Die Pergamente legt sie hin, Die ihr der Dinge Saat verkünden, Sie will die volle Garbe binden Und schreitet wie die Schnitterin; Die Schnitterin, die nimmer weilt, Wenn über ihr die Wolken grollen, Und unter Blitz und Donnerrollen Die Ernte sorgenvoll beeilt. Melpomene tritt ihr voran Mit Mienen, die von Jammer spredien, Und sdiwingt das strenge Schwert, zu rächen, Was die Begrabenen getan; Sie rächt am Sohn der Väter Zeit, Als ob wir alle schuldig wären, Und dann erhellt sie unter Zähren Sich über dem vollbrachten Leid. 84
Die sonst so kindlidi mit Homer, Dem blinden Sänger, ist gezogen, Sie sdireitet auf den hohen Wogen Des Lebens ungestüm einher; Erschütternd singt Kalliope Und läßt auf schönem Munde schweben Des einen Volkes neues Leben, Des andern Volkes Sterbeweh. Thaliens leichtgeschürzten Gang, Ich kann ihn nicht mehr lieblich heißen, Die Seele will mir fast zerreißen Der Glöcklein und des Reifes Klang; Der alten Ehrfurcht frommen Bann Freut sich die Trunkene zu höhnen Und mordet mit den scharfen Tönen, Was zeitig nidit ersterben kann. Der Schwestern eine blieb sich gleich, Urania, den Blick erhoben Zu dem gemess'nen Gang der Globen, Zu der Gestirne stillem Reich; Wohl ist ihr fremd der Schwestern Tun, Doch tritt sie nicht aus ihrem Ringe, Sie sieht den Lauf der ird'schen Dinge In ew'ger Weisheit Händen ruhn. Ich hing an ihrem Angesicht Und tröstete mich seiner Helle. — D a braust der Wind, versinkt die Schwelle, Des Vatikanes Säule bridit! Ich sehe die vereinte Schar In freien Lüften mächtig schreiten, Die Musen dieser neuen Zeiten Mit Hymnenklang und weh'ndem Haar.
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3. D E R M U S E N S A A L (1892)
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Jüngst trug ein Traum auf dunkler Schwinge midi Nach Rom der ew'gen Stadt. Den Vatikan Betrat idi. Ich betrat den Musensaal Verwundert, denn er war ein andrer heut, Als ich geschaut mit jungen Augen ihn, Da Pio Nono höchster Priester war. Verschwunden aus dem edeln Oktogon, Dem kuppelhellen, war der Musaget, Apollo, der die Zither zierlich schlug, Voranzugehn dem Chor tanzmeisterlich. Die Neune saßen oder standen nicht Umher verteilt in schönen Stellungen — In wilder Gruppe schritten eilig sie, Wie Schnitterinnen, die auf blachem Feld Ein flammendes1 Gewitter überrascht: Voran die blutige Melpomene, Die an den Söhnen rächt der Väter Schuld. Sie trägt das Schwert und auch den Kranz von Wein. „Ein Reich", so jubelt sie, „zerstör' ich jetzt! Das Feuer knistert unter seinem Thron! Die nordische Barbarin preßt den Fuß, Den plumpen, auf den Nacken eines Weibs, Das schmerzenreicher blickt als Niobe — Sklavin, empor! Zerbrich die Fessel! Wirf Die grinsende Barbarin in den Staub! . . So jauchzt die blutige Melpomene — Wer schreitet, schlicht gewandet, neben ihr? Kalliope, die keusch und kindlich blickt, Die den erblindeten Homer geführt, Die tapfre Helden liebt und Sdiildgetos Und Roßgestampf und dann abseits der Schlacht Im jugendzarten 2 Busen Lose wägt — Mit beiden Armen in die Ferne grüßt Sie jetzt: „Behelmte! Blonde Herzogin!
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Ins rauhe Heerhorn stoßest du mit Macht! Erzklirrend springen dir die Söhne auf! Die Völker richtest und beherrschest du, Gerechte Herrin, beilgewalt'ge Frau!" Weithallend redet dort 3 ein mächtig Paar, 40 Terpsichore und Polyhymnia: „Der Tag ist fern und er erfüllt sich doch: Die Völker schreiten e i n e n Reigen einst, Sich an den H ä n d e n haltend, frei gesellt, Vieltausendstimmig dröhnt der Chorgesang!* 45 — „Dann weicht das Leid! Nicht alles, aber doch Das meiste Leid!" Euterpe flötet es, Das liebliche Geschöpf, die Schmeichlerin! — „Dann füllt", Erato lacht's mit blüh'ndem Mund, , Die schöne Schelmin, die das Liebeslied, 50 Das Zechlied f ü r allein unsterblich hält, „Dann füllt ein jeder 4 seine Schale sich Mit duft'gem Wein und schlürft und keiner 5 darbt." — „Törinnen!" gellt ein scharfgeschnittner Mund, „Verspotte sie, mein A r i s t o p h a n e s ! . . . 55 Doch eure Kampfgesellin bin ich audi! Ich morde lachend, was nicht sterben kann! Im Angesicht den hippokrat'schen Zug Zeig' ich der selbstgefäll'gen Gegenwart Mit meinem Spiegel, der getreu verzerrt, 60 Die Prahlerei der Zeit zerreißt mein H o h n In trunkner Lust, wie die Bacchante jach Ein Zicklein oder Reh in Stücke reißt. Mordlust'ger bin ich noch und tragischer Als du, mein Schwesterchen Melpomene, 65 Denn du erhellest unter Zähren dich,
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Doch mein Gelächter, Tränen schluchzen drin!" Thalia rief's und unterm Epheukranz Verlarvte mit der Satyrmaske sie Die wehmutvoll ergriffnen Züge sich Und hob mit nerv'gem Arm das Tympanum. 87
Die letzte wandelt noch Urania, Die Gläubige mit dem gehobnen Blick (Die andern nennen® sie die Schwärmerin), Dodi trennt sie sich von den Geschwistern nicht. 75
Sie sieht den Sturm der Erdendinge ruhn In friedevollen Händen immerdar — Aufflattert das Gewand! Die Locken wehn! Ein Sturm erbraust! Die Säule birst entzwei! Die Kuppel weicht! 7 In leuchtend tiefem Blau
80
Entfesselt schwebt der Musenchor einher.
4. D E R T R I U M P H B O G E N
(1876)
Aus eines goldnen Korngefildes Wogen Erhebt sich ein vermorschter Säulenbogen, Dem Sieger eines alten Kampfs geweiht; E r wirft den Schatten mit dem scharfen Rande Ins Feld hinein, drin fand die Schnitterbande Die kurze Rast der glühen Mittagszeit. D e r Inschrift halb zerstörte Lettern blicken Hernieder auf der schweren Halme Nicken, Auf eine reife Saat ein alt Geschick . . . N u r eine Schnitterin ist wach geblieben, Sie sinnt — woran? Vielleicht an ihren Lieben; Doch auf des Bogens Zeichen ruht ihr Blick. J e t z t springt sie auf, daß nicht zu lang sie raste, Die Sichel schwingt sie schon, die rasch erfaßte, Die neben ihr im kühlen Schatten lag; H i n schreitet sie, die vollen Ähren fallen, Den hellen Klang der Sichel hör' ich schallen U n d seh sie blitzen durch den blauen T a g . . . Vers 19—26, 33—38, 57—60, 78 nur in G1 3 jetzt G1 * In jugendzartem G'—G1 5 Keiner G'—G3 « heißen G'—G3 88
leuditendes G1 4 Jeder G'—G3 bricht G' 1
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Ein hohes Weib! — Idi glaubte didi zu schauen, Du herbe Klio, die am altergrauen Gestein enträtselt dunkler Worte Sinn. Du forschest das Vergangne, das Entfernte — Jetzt überwältigt dich die Lust der Ernte, Und heute wird die Muse Schnitterin! 5. D E R T R I U M P H B O G E N (1891)
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Ein leuchtend blauer Tag. Ein wogend Ährenfeld, Daraus ein wettersdiwarzer Mauerbogen steigt. In seinem kurzen Sdiatten schläft das Schnittervolk. Allein emporgerichtet sitzt die schönste Maid, Des Landes Kind, dodi weldien Lands? Italiens! Ein strenggeschnittnes, musenhaftes Angesicht, Am halbzerstörten Sims des Bogens hangt der Blick, Als müht' er zu enträtseln dort die Inschrift sidi. (Wenn nicht des Auges Dunkel von dem Liebsten träumt!) Sie hebt die erste sich, erweckt die Schnitterschar, Ergreift die blanke Sichel, die im Schatten lag, Und schreitet herrlich durch das Goldgewog des Korns, 1 Umblaut vom Himmel, als ein göttliches Gebild. 'S ist Klio, die das Altertum enträtselnde, Vergilbten Pergaments und der Archive müd', Gelockt vom Rauschen einer überreifen Saat, Wird sie zur starken Schnitterin. Die Sichel klingt.
XXX. 1. M I C H E L A N G I O L O S G E B E T (1865) Ein Lichtlein schimmert in der Mitternacht, Und Michel Angiolo, der hohe Greis, Der wundersame Meister, sinnt und wadit In seiner Marmorbilder blassem Kreis. 1
golden wogende Korn G'—G' 89
Die Ruhe stört er nicht mit Hammerschlag, Gewaltig ist er in ein Buch vertieft. Ob er die Verse Dantes wägen mag? ' Ob er die Sprüdie prüft der heil'gen Schrift? Er hat die Tage Raphaels überlebt, Des Menschengeistes kurze Blütezeit, Und Blatt um Blatt, das trauernd niedersdiwebt, Ermahnt ihn an den Ernst der Ewigkeit. Im Schatten stehend wartet Charon dort, Verdrießlich murmelnd in den wirren Bart, Und triebe gern den dunkeln Nachen fort, Der in dem Schilfe des Gestades harrt. Des Meisters Angesicht wird feierlich, Er scheint mit jemand im Gespräch zu sein, Er wendet von dem Buche langsam sich Und redet mitten in die Nacht hinein. „Die süßen Fabeln haben mir geraubt Die Zeit, die dich zu suchen du verliehn. Unwillig schüttl' ich mein beschneites Haupt, Die Zauberinnen wollen nicht entfliehn. Statt zu erfassen in dem Wesen dich, Ergriff idi dich, o Gott, an deinem Kleid, Die Macht der Schönheit übermannte mich, Und ich ermangle der Gerechtigkeit. In Fehle bin gealtert ich und Schuld, An deinem Himmel hab' ich keinen Teil Als meiner schnöden Knechtschaft Ungeduld, Mein durstiges Verlangen nach dem Heil. Ich stemme mich und kann mich nicht befrei'n. Mein Herz ist feig und trotzig, trüb und wild. Mein Gott, entreiße du dem toten Stein Mit mädit'ger Meisterhand dein Ebenbild! 90
Doch, Meister, ist der Stein zu schlecht und alt, Brich ihn entzwei mit deines Hammers Schlag, Und aus den Trümmern hebe die Gestalt, Die göttliche, zu dir in deinen Tag."
2. M I C H E L A N G E L O
(1870)
Ein Lichtlein schimmert in der Mitternacht Und Michel Angelo, der hohe Greis, Der wundersame Meister, sinnt und wacht In seiner Marmorbilder blassem Kreis. Die Ruhe stört er nicht mit Hammerschlag, Gewaltig ist er in ein Buch vertieft. Ob Dantes Schatten er befragen mag? Ob er die Sprüche wägt der heil'gen Schrift? Er hat die Tage Raphaels überlebt, Der vollen Schönheit kurze Blütezeit, Und Blatt um Blatt, das trauernd niederschwebt, Ermahnt ihn an den Ernst der Ewigkeit. Des Meisters Angesidit wird feierlich, Er scheint mit jemand im Gespräch zu sein, Er wendet von dem Buche langsam sich Und redet in die stille Nacht hinein: „Die süßen Fabeln haben mir geraubt Die Zeit, die dich zu suchen du verliehn, Unwillig sdiüttl' ich das beschneite Haupt, Die Schmeichlerinnen wollen nicht entfliehn. Statt zu erfassen in dem Wesen dich, Ergriff idi dich, o Gott, an deinem Kleid, Die Macht der Schönheit übermannte mich, Und ich entbehre der Gerechtigkeit. 91
In Fehle bin gealtert idi und Schuld, An deinem Himmel hab' ich keinen Teil Als meiner schnöden Knechtschaft Ungeduld, Mein durstiges Verlangen nach dem Heil. Idi stemme Mein Herz Mein Gott, Mit starker
mich, und kann mich nicht befrein, ist hart und trotzig, trüb und wild. entreiße du dem toten Stein Meisterhand dein Ebenbild.
Auf, schwinge deinen Hammer mit Gewalt! Erhab'ner Bildner, führe Schlag um Schlag, Und aus den Splittern ziehe die Gestalt, Die göttliche, hervor an deinen Tag!"
3. I N D E R S I S T I N A (1891)1 In der Stistine dämmerhohem Raum, Das Bibelbuch in seiner nerv'gen Hand, Sitzt Michelangelo in wachem Traum, Umhellt von einer kleinen Ampel Brand. Laut spricht hinein er in die Mitternacht, Als lauscht' ein Gast ihm gegenüber hier, Bald wie mit einer allgewalt'gen Macht, Bald wieder wie mit seinesgleichen schier: „Umfaßt, umgrenzt hab' ich dich, ewig Sein, Mit meinen großen Linien fünfmal dort! Ich hüllte dich in lichte Mäntel ein Und gab dir Leib, wie dieses Bibelwort. Mit weh'nden Haaren stürmst du feurigwild Von Sonnen immer neuen Sonnen zu, Für deinen Menschen bist in meinem Bild Entgegenschwebend und barmherzig du! 92
So schuf idi dich mit meiner nidit'gen Kraft: Damit idi nidit der größ're Künstler sei, Schaff' midi — ich bin ein Knecht der Leidenschaft — Nach deinem Bilde schaff' mich rein und frei! Den ersten Menschen formtest du aus Ton, Ich werde schon von härterm Stoffe sein, Da, Meister, brauchst du deinen Hammer schon, Bildhauer Gott, schlag' zu! Ich bin der Stein."
4. M I C H E L A N G E L O U N D S E I N E S T A T U E N (1882)
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Du öffnest, Sklave, deinen Mund, Dodi stöhnst du nicht. Die Lippe schweigt. Nicht drückt, Gedankenvoller, dich Die Bürde der behelmten Stirn. Du packst mit nerv'ger H a n d den Bart, Dodi springst du, Moses, nicht empor. Maria mit dem toten Sohn, Du weinst, dodi rinnt die Träne nicht. Ihr stellt des Leids Gebärde dar, Ihr meine Kinder, ohne Leid! So sieht der freigewordne Geist Des Lebens überwundne Qual, Was martert die lebend'ge Brust, Beseligt und ergötzt im Stein. Den Augenblick verewigt ihr, Und sterbt ihr, sterbt ihr ohne Tod. Im Schilfe wartet Charon mein, Der pfeifend sich die Zeit vertreibt.
MICHEL ANGELO G1—G' 93
5. IL P E N S I E R O S O (1891) In einem Winkel seiner Werkstatt las Buonarotti, da es dämmerte; Allmählich vor dem Blicke schwand die Schrift . . . Da schlich sich Julianus ein, der Träumer, 5 Der einzige der heitern Medici, Der Schwermut kannte. Dieser glaubte sich Allein. Er setzte sich und in der Hand Barg er das Kinn und hielt gesenkt das Haupt. So saß er schweigend bei den Marmorbildern, 10 Die durch das Dunkel leise schimmerten, Und kam mit ihnen murmelnd ins Gespräch, Geheim belauscht von Michelangelo: „Feigheit ist's nicht und stammt von Feigheit nicht, Wenn einer seinem Erdenlos mißtraut, 15 Sich sehnend nach dem letzten Atemzug, Denn audi ein Glücklicher weiß nicht, was kommt Und völlig unerträglich werden kann — Leidlose Steine, wie beneid' ich euch!" * Er ging, und aus dem Leben schwand er dann 20 Fast unbemerkt. Nach einem Zeitverlauf Bestellten sie bei Michelangelo Das Grabbild ihm und brachten emsig her, Was noch in Schilderei'n vorhanden war Von schwachen Spuren seines Angesichts. 25 So waren seine Züge, sagten sie. Der Meister schob es mit der Hand zurück: „Nehmt weg! Idi sehe, wie er sitzt und sinnt Und kenne seine Seele. Das genügt."
* Eigene Worte Julians in einem von ihm vorhandenen Sonett.
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XXXI. 1. T R E N N U N G V O N R O M (1864) Aus eines hohen Gartens Dunkel schau ich still, Da eben auf Sankt Peters lichtem Dom Der letzte Strahl der Sonne zittern will, Auf das erblichne Rom. Sacht tritt zurück in seiner Schwestern Reihn, Das ungeduld'ge, ruhelose Heut, Und keine Welle flutet mehr allein Im tiefen Strom der Zeit. Nun laß midi scheiden, Stadt der Welt, von dir Und laß mich dein gedenken, früh und spat, Daß die Betrachtung tätig werde mir Und ruhig meine Tat. Den Ernst des Lebens nehm* ich mit mir fort, Den Sinn des Großen raubt mir keiner mehr; Ich nehme der Gedanken reichen Hort Nun über Land und Meer.
2. R Ö M I S C H E M O N D N A C H T (1870) Ein feierliches Mondenlicht ergießt Sich auf das schlummernde, das ew'ge Rom, Kein Laut, und unter stillen Brücken fließt Des heil'gen Tibers unerschöpfter Strom; Was sich erbaute sein Gestad entlang Und was zerfällt in Trümmer voller Pracht, Verwächst in ruhigem Zusammenhang Zu einer ernsten, friedevollen Macht. Wie Wellen schweben Ungemach und Glück Vorüber, keine gleitet mehr allein, Verschüchtert tritt das laute Heut zurück In seiner Schwestern leise zieh'nde Reihn;
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Die Stunde schämt sich ihrer Ungeduld, Wo still Jahrtausend an Jahrtausend ruht, Und es versinkt des Tages Hast und Schuld In eines großen Lebens stete Flut. 3. A U F P O N T E S I S T O
(1882)
Süß ist das Dunkel nach Gluten des Tags! Auf dämmernder Brücke Schau' ich die Ufer entlang dieser unsterblichen Stadt. Burgen und Tempel verwachsen zu e i n e r gewaltigen Sage! Unter mir hütet der Strom manchen verschollenen Hort. Dort in der Flut eines Nachens Gespenst! Ist's ein flüchtiger Kaiser? Ist es der „Jakob vom K a h n " *, der Buonarotti geführt? Gellend erhebt sich Gesang in dem Boot zum Ruhme des Liebchens. Horch! Ein lebendiger Mund fordert lebendiges Glück.
4. C H O R D E R T O T E N (1883)
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Wir Toten, wir Toten sind größere Heere Als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere! Wir pflügten das Feld mit geduldigen Taten, Ihr schwinget die Sicheln und schneidet die Saaten, Und was wir vollendet und was wir begonnen, Das füllt noch dort oben die rauschenden Bronnen, Und all unser Lieben und Hassen und Hadern, Das klopft noch dort oben in sterblichen Adern, Und was wir an gültigen Sätzen gefunden, Dran bleibt aller irdische Wandel gebunden, Und unsere Töne, Gebilde, Gedichte Erkämpfen den Lorbeer im strahlenden Lichte, Wir suchen noch immer die menschlichen Ziele — Drum ehret und opfert! Denn unser sind viele!
* In den dreißiger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts setzte Meister »Jakob vom Kahn" zwischen Ponte Sisto und S. Angelo die Leute über den Tiber.
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XXXII. 1. D E R S T E R B E N D E F E C H T E R (1846) Er sinkt zur Erde gut getroffen, und Schmerz aus seinen Zügen spridit; es schaut das Auge, starr und offen, das Blut, das aus der Wunde bricht. Er sieht die roten Tropfen blinken und langsam rieseln niederwärts, er sieht das durstge Land sie trinken und hält die Hand nicht vor das Herz. Der Jubel, der den Sieger feiert, an seinem Ohr verklingen muß, und seinen letzten Blick umschleiert der Tod, der gute Genius. Es schaut sein Geist die Heimatlande, die Hütte, drin das Licht er sah; zerrissen sind die Sklavenbande, und das Entfernte wird ihm nah. Der Berge Hauch, der Ströme Betten, die Welle, die so oft ihn trug, der Quellen, die sich kühn entketten, beredter Gruß, der Adler Flug. Ein Zauber läßt sie reden alle, er lauscht entzückt dem lieben Ton. Es grüßt mit diesem frischen Schalle das Vaterland den fernen Sohn. Die Berge sinken auf ihn nieder, und lauter wird der Wellen Schlag, es lösen sanft sich seine Glieder, und es verfinstert sich der Tag. — Sie schaut, wie sich das Auge breche, sie ist erfreut von diesem Spiel, es klatscht die Römerin, die freche dem Sklaven, der so zierlich fiel. 7
Deutsche Texte 8
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2. V E R C I N G E T O R I X (1870) Aus des Volkes lauten Wogen Steigt in dreigeteiltem Bogen Des Triumphes prangend Tor; Ein Gespann von Marmorrossen, Weiß wie Schnee, von Licht umflossen, Springt mit leichtem Huf empor. Mit dem Schlüsselbund ein Alter, Der Gefängnisse Verwalter, 1 Schreitet um das Kapitol, Steigt hinab die Seufzerstufen — „Gallier! Gallier!" rollt sein Rufen In die Tiefe dumpf 2 und hohl. „Gallier, komm den Zug zu zieren, Rom und Cäsar triumphieren, Uns der Ruhm und dir der Hohn! Drauf bist du dem Henker eigen, Und dann magst du ewig schweigen, Schweigst du ja so lange schon." In des Kerkers feuchter Ecke, Wo sich niederwölbt die Decke, Lehnt ein Haupt verhüllten Blicks; Aber wie der Ruf 3 erschollen, Blitzend hebt die freudevollen Augen Vercingetorix. 4 „Römer, Dank für deine Kunde!" Schallt's aus seinem trotzgen Munde. „Reden will ich noch mit dir. Weißt du denn, warum idi trage Ohne Laut und ohne Klage Die verhaßte Fessel hier?5 Mit den jungen Gaugenossen, Eng vom Römerwall umschlossen, Cäsars ganzen Hasses wert, 98
Zückte schon zu freiem Sterben, Den Triumph ihm zu verderben, Ich auf diese Brust das Schwert. 6 Dodi bevor midi Tod umgraute, Sah idi die mir anvertraute Schar verstummt in trübem Mut: Birgt er mich mit nädit'gem Flügel, Rötet mir den Grabeshügel Cäsar mit der Brüder Blut. 7 Strömen werden heiße Tränen Rings im Lande! — Schnell an jenen Send' ich: Cäsar, laß sie ziehn! 8 Midi, der dich aufs H a u p t geschlagen, Feßle midi an deinen Wagen, Nimm die volle Beute hin! In dem hellsten Waffenglanze Jag' allein idi aus der Schanze, In der Faust des Schwertes Blitz, Dreimal flieg' idi um im Kreise, Noch im Lauf nach Gallierweise Spring' idi ab vor Cäsars Sitz. Mir in's Antlitz schnaubt das treue Tier, ich stoß ihm ohne Reue Meine Waffe durchs Genick, Schleudre sie zu Cäsars Füßen: Hei! das war ein blutig 9 Grüßen, War ein Trotzen Blick in Blick! Über Meer entführt, gebunden, Stunden Jahre, Jahre Stunden, Modernd in des Kerkers Gruft — Komm! Noch aufrecht kann idi gehen Unter Sklaven und Trophäen, Sdion umweht von Heimatluft!
Hat er sich mit mir gebrüstet, Wird mir Block und Beil10 gerüstet, Wenn11 die Sonne neigt den Lauf. Dann ein Streich! der Kerker zittert, Und mein Roß, das Blut gewittert, Aus der Tiefe braust es auf. Sausend geht es durdi die Felder In die Geisternacht der Wälder Über Felsen kühn12 und wüst! Hör' ich meiner Rhone Stimme? In den Strom, mein Tier, und schwimme! Heimat, Heimat, sei gegrüßt!" 3. D A S G E I S T E R R O S S (1878) Über dunkeln Menschenwogen Hebt sich ein bekränztes Haupt: Cäsar, Cäsar kommt gezogen, Dessen Stirn der Sieg umlaubt! Seine lässige Geberde Lenkt den Tanz der weißen Pferde. Hinter des Triumphes Wagen Schreitet des Triumphs Begleit, Kommen, die da Fesseln tragen, 1
2 Im Verließ der strenge Walter, In der Tiefe lang * das Wort 5 Richtet auf den freudevollen / Blitzend Vercingetorix. Und er ruft mit trotz'gem Munde: / „Römer, Dank für deine Kunde! / Reden will ich heut zu dir. / Tritt heran, daß idi dir sage, / Warum ohne β Laut und Klage / Idi ertrug die Fessel hier. Cäsars Feind bis ins Verderben, / Zückte schon zu raschem Sterben / Ich auf meine Brust 7 das Schwert. Flüdit' ich auf des Todes Flügel, / Rötet meinen 8 Grabeshügel / Cäsar mir mit Gallierblut! Und idi sah der Mütter Tränen — / Einen Boten send' an jenen / Ich und sag ihm: Laß sie 10 11 ziehn; » wildes hier das Beil Wann " groß stätt kühn 4
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Grimm und Haß und Gram und Leid. Einer ragt aus dem Gedränge: Seht den Kelten! zischt die Menge. Unberührt vom Hohn der Stunde, Wandelt Vercingetorix. Ein Geflüster auf dem Munde, Träumt sein Haupt verhüllten Blicks; Und nach einer fremden Weise Singt er murmelnd, spricht er leise: „Heute endlich! Endlich heute, Wann der Kahle sdiwelgt am Mahl, Würgen sie die müde Beute, Mich im letzten Sonnenstrahl... Seine Schimmel, jene viere, Tauscht' ich nicht mit meinem T i e r e ! . . . Ellid ist ein wackrer Jager, Hoch von Wuchs und stark im Bug, Der midi in das Römerlager Und in diese Fesseln trug — D a für meines Volkes Leben Ich in Bande mich gegeben . . . Mir ins Antlitz schnob der gute Rappe mit dem treuen Blick, Und ich stieß, damit er blute, Meinen Dolch ihm durch's Genick . . . Daß mir meines Rosses Ehre Mangle nicht im Geisterheere. Übers Meer geführt, gebunden, War ein Kerker mir zur Gruft . . . Stunden, Jahre — Jahre, Stunden, Endlich wieder Licht und Luft Zwischen Sklaven und Trophäen! Sonne, du wirst untergehen!... 101
Ellid aber, ungeritten, Jagt in Gallien durch die Nacht, Ungezügelt sprengt er mitten In den Toten mancher Schlacht — Und sie ziehn mit großem Trosse, Doch die Helden sind zu Rosse . . . Sehn sie Ellid ledig fahren, Noch den Hals in Blut getaucht, Wundern sich die stillen Scharen, Deren Blut im Kampf verraucht... Wird das meine nicht vergossen, Ellids ist für mich geflossen!... Henker, nimm das Beil zu Händen! Nicht das Beil? So nimm den Strang! Letzte Schmach . . . Nur enden, enden —. Sterne zögert nicht so lang! In dem niedern Todeskampfe Hör' ich Ellids Hufgestampfe . . . Dann an seiner rascherfaßten Mähne spring' ich auf im Flug, Und vorüber eilen, hasten, Bergesjoch und Wolkenzug . . . Das ist Rhodans tiefe Stimme! In den Strom, mein Tier, und schwimme!" Cäsars Rosse blähn die Nüstern, Rings vom Jubellärm umdröhnt, Doch des Kelten Lippen flüstern, Mit dem Todeslos versöhnt: „Ellid, in gestrecktem Jagen Wird mich in die Heimat tragen."
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4. D A S G E I S T E R R O S S (1887) Durch den dreigeteilten Bogen, Des Triumphes prangend Tor, Durch die lauten Menschenwogen Dort zum Kapitol empor Lenkt den Tanz der weißen Pferde Casars lässige Geberde. Hinter des Triumphes Wagen Duldend oder grollend gehn Überwundne. Ketten tragen Casars lebende Trophä'n. „Dieser!" höhnt es im Gedränge, „Dieser Trotz'ge!" zischt die Menge. Unberührt vom Hohn der Stunde, Starren, traumgefüllten Blicks, Geht, ein Singen auf dem Munde, Ruhig Vercingetorix — Fremde Weise, fremde Worte, Mit dem Geist an fremdem Orte: „Cäsar, blendend weiße Rosse Hat Hispanien dir gebracht! Ellid, edler Ahnen Sprosse, Dunkel ist er wie die Nacht — Deine Schimmel, deine viere, Tauscht' idi nicht mit meinem Tiere.. Ellid heißt der wackre Jager Stark von Wuchs und fest im Bug, Welcher mich ins Römerlager Mit gewalt'gen Sprüngen trug . . . Der zum Opfer ich gegeben Mich für meines Volkes Leben! Dreimal flog ich um im Kreise, In der Faust des Schwertes Blitz, Nodi im Lauf, nach Gallier Weise,
Sprang ich ab vor Casars Sitz . . . Schwarzer Ellid, zu den Toten Send5 idi dich als meinen Boten! 1 Wie er mir ins Antlitz schnaubte, Stieß ich, Blick versenkt in Blick, Hinter seinem mächt'gen Haupte Stracks das Schwert ihm durchs Genick . . . Daß mir eines Rosses Ehre Mangle nicht im Geisterheere. Ellid sprengt seit langen Jahren Mitten in der bleichen Jagd, Wann daheim die Toten fahren Durch die Wälder, bis es t a g t . . . Sehn sie meinen led'gen Renner, Wundern sich die stillen M ä n n e r . . . Lange Jahre lag gebunden Ich in feuchter Kerkergruft — Kettenschwere, dumpfe Stunden — Endlich wieder Tag und Luft — Ellid, schwarzer Ellid, spute Dich! Du witterst, wo ich blute! Heute endlich! Endlich heute! Wann der Kahle schwelgt am Mahl, Würgt er seine Siegesbeute. Mit dem letzten müden Strahl, Wann die Sonne niedergleitet, Wird mir Block und Beil bereitet. Henker, nimm das Beil zu Händen! Nicht das B e i l ? . . . So nimm den Strang! Droßle mich! Nur enden, enden! Letzte Schmach! Sie währt nicht lang . . . Ellids kurzes Hufgestampfe Dröhnt in meinem2 Todeskampfe! 104
Sterbend pack' idi Ellids Haare, Ein Befreiter spring* idi auf, Fahre, schwarzer Ellid, fahre! Nach der Heimat nimm den Lauf! Wogen tosen! Rhodans Stimme! In den Strom, mein Tier, und schwimme!" Casars Schimmel blähn die Nüstern. „Ave Triumphator!" schallt. Des Gebundnen Lippen flüstern: „In der Heimat bin ich bald! Ellid mit gestrecktem Jagen Wird mich nach der Heimat tragen!" 5. D A S A M P H I T H E A T E R
(1870)
(Ende des zweiten Jahrhunderts) Μέχρι πότε τοιαύτα πάσχομεν; Dio Cassius L X X X V , 4.
Fechterspiel ist angesagt auf heut, Und die Römerin versäumt es nicht; Aus dem Spiegel, den die Sklavin beut, Schaut ein blasses, stolzes Angesicht, Auf die üpp'gen Flechten Drückt sie mit der Rechten Eines Diademes blitzend Licht. Bebend eilt das schöne Weib davon, Das geliebte Spiel, sie muß es sdiaun, Sklaven heben ihre Sänfte schon, Auf den schwülen Plätzen brütet Graun; In der Gassen Enge Winkt sie durchs Gedränge Eile mit den ungeduld'gen Brau'n. 1 2
Ellid schickt' ich zu den Toten / Mir voran als meinen Boten! G' G~ H ö r idi nahn im G 1 G ä
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In das Mauerrund, das riesig trotzt, Strömt das Volk durch Pforten ein und Tor, Und der Kreis, der schon von Menschen strotzt, Drängt sich wuchtig in das Blau empor; Dicht darüber steigen Dumpfe Wolkenreigen, Quellen schwerer, dunkler stets hervor. Fechterpaare stehen kampfbereit, Treten auf der Bühne hellen Sand, Und in trunkner Selbstvergessenheit Überneigt das Volk den Mauerrand. Kurze Schwerter spielen Lüstern schon und zielen Rasch gelenkt von der geschulten Hand. Und die Menge, gierig, Sitz an Sitz, Sie belauscht das Spiel mit Lust und Graus, Durch die Wolken oben zuckt ein Blitz, Unten streckt ein Schwert sich tötend aus — Auf der höchsten Stufe Gellen Schreckensrufe, Und ein Schauder geht durchs ganze Haus. Niederstarrend auf des Blutes Strom, Wie ein Raub dämonischer Gewalt, Groß, als wäre sie der Geist von Rom, Hebt sich eine weibliche Gestalt. Spricht sie wider Willen, Eine der Sibyllen? Horch, wie ehern ihre Stimme schallt! „Toter Fechter, um ist deine Zeit, Und was kümmert nun das Morgen dich! Sterben können, welche Seligkeit! Morgen, morgen, klingt so schauerlich! Feuerbrände schimmern — Höret ihr es wimmern? Weh, sie schleppen an den Haaren mich! 106
Wirbeln in der Ebne seh' ich Staub, Auf der Appierstraße zieht ein Heer, Seine Adler wittern schon den Raub: Rom im Schauspiel schwelgend ohne Wehr. Horch, die Lüfte dröhnen Von der Tuba Tönen! Schauet eure Beute! ruft Sever." Marmorn steht sie da. Die Menge lauscht. Stille rings! D a schwirrt ein Flüstern leis, Eine dunkle Rede irrt und rauscht, Jeder spricht sie, ohne daß er's weiß, Stimmen viele tausend Wie die Brandung brausend, Ein gewaltig Wehe füllt den Kreis: „Roma, Königin, wann endet dodi Über dir der Götter Strafgericht? Immer tiefer, immer tiefer nodi Neigst du dein geschändet Angesicht; Deine Schmach und Klage Wächst mit jedem Tage — Sterben aber, Roma, kannst du nicht!"
6. D I E W U N D E R B A R E R E D E (1887) Auf der Appierstraße zieht ein Heer Schnellen Schrittes, weit umwölkt von Staub. Weiß am Horizont das Häusermeer — „Rom ist morgen euer!" zeigt Sever. „Flieget, Adler! Stoßt auf euren Raub!" Morgen? Rom sorgt sich um morgen nicht. „Die Gladiatoren spielen heut!" Weiber schmücken sich. Orestes ficht! Manch unheimlich brennend Augenlidit Blitzt im Spiegel, den die Sklavin beut. 107
Sänften hasten zum Theater schon, Von Gewitterwolken überjagt, Schwüle Blicke, die wie Fackeln lohn! Ungeduldig finstre Brauen dröhn: „Eilet, Sklaven!" 1 Spiel ist angesagt! Über Dach und Zinne ragt empor Himmelhoch ein riesenstarker Bau, Der ein Volk empfängt durch manches Tor. Hinter seinem Mauerkranz hervor Steigt es schwarz und schwärzer auf im Blau. Drinnen drängen sie sich Sitz an Sitz, Jede Stufe strotzt und wogt und schwillt. Auf der Bühne züngeln hell und spitz Kurze Schwerter. Schimmernd flirrt ein Blitz, Und ein erster Sprudel Blutes quillt. Starren Blickes, blaß vor Leidenschaft, Lauert vorgeneigt die Römerin Auf die Sterbewunde — eine gafft Lüstern, eine sinnt dämonenhaft, Eine lauscht mit hartem Mördersinn. An der rasch gedrehten Klingen Spiel Haften Seelen gierig, ohne Zahl — Traf der Stoß? Er saß. Ein Fechter fiel, Wälzt sich um im Sand und ist am Ziel Nach der kurz empfundnen Sterbequal. Mark und Herz erschütternd gellt ein Schrei! Dort auf dem Balkon ein Weib im Traum: Um die Schultern wehn die Haare frei, Und als ob sie die Sibylle sei, Ruft sie ehern durch den vollen Raum: „Wehe morgen! Fechter, du bist tot! Gute Fahrt! Dir tun sie nichts zuleid! 108
Morgen wehe! Horch! Die Tuba droht! Eine weite Flamme weht und loht! Wehe! Sie zerreißen mir das Kleid!" In das Morgen blickt sie voller Graun, Schaudernd wie vor Blutes tiefem Strom, Denn ihr Auge kann das Künft'ge sdiaun — Es ist keine von den ird'schen Frau'n! Es ist Rom! Es ist die Göttin Rom! Vor dem Volk auf hoher Stufe ragt Rom die Herrin in verneintem Schmerz, Rom, vor welcher einst die Welt gezagt, Jetzt die wunde, die geschlagne Magd! Leid und Mitleid füllen jedes Herz. Durch die Menge geht ein Flüstern leis, Eine Rede schwirrt und irrt und rauscht, Flutet höher, höher stufenweis, Braust wie Meeresbrandung, füllt den Kreis, Jeder spricht sie mit und jeder lauscht: „Schande! Brandmal! Striemen! Sklavenjoch! Wehe! Sie zerreißen dir das Kleid! Ach wie lange noch, wie lange noch? Stürbest, Göttin Roma, stürbst du doch! Aber du bist voll Unsterblichkeit!"
XXXIII. 1. D E R S C H W I M M E R (1860) Das Himmelsblau, es überquillt, Und, weht ein Lüftdien, ist es mild, Das Meer ist ohne Wogen. 1
Finst'rer Brauen ungeduldig Drohn — / Gibt's ein Morgen? G 1 G*
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Wer mag auf offnem Meer allein Der unerschrockne Schwimmer sein, Der Wanderer verwogen? Er legt sich auf die Fläche hin, Er streckt den Arm und ründet ihn, Das Ufer zu erringen; Die Linke hebt aus Meeresgrün Die Rolle hoch und hält sie kühn U n d scheint sie froh zu schwingen. U n d wieder sich der Schwimmer streck Von einem grünen Kleid gedeckt, Zum schlanken Pfeil gestaltet, U n d in dem rinnenden Gewand Der Welle breitet hin die H a n d , Den starken Arm entfaltet. Dann rastet er und atmet leicht, Das H a a r sich aus den Augen streicht, U n d schwimmt in kurzen Zügen; Er sendet rings den hellen Blick, Er schickt ihn vor und dann zurück, U n d wird ihm zum Vergnügen. Das lecke Schiff, darauf er fuhr, Verschwunden ist es ohne Spur, U n d drüber nur die Weite; U n d vor ihm auf dem Wasser steht, Vom Hauch des Meeres angeweht, Der Insel grüne Breite. Die Berge steigen leicht und schlank, Die Wälder ziehn am Bergeshang, U n d wo die lauten Stimmen Das Aug der wilden Brandung sucht, Da ladet eine tiefe Bucht, Gemach an's Land zu klimmen.
Da wußt er nicht, wie ihm geschah, Er ist dem schönen Land so nah, Es geht so leicht geschwommen; Er aber mißt den schwarzen Grund, Den leicht bedeckten Todesschlund, Und fühlt sich tief beklommen. Und schaudernd denkt er: Wenn erschlafft' Die neu erwachte Jugendkraft, Und mich das Glück betröge, Wenn midi erfaßt' ein jäher Krampf, Und nach vergebnem, stummem Kampf Gebunden niederzöge! Und immer tiefer bohrt der Graus, Des Tages Farben löschen aus, Es brausen ihm die Ohren; Ihm schwindelt vor der weiten Schau, Da schwärzt sich Meer und Himmelblau, Und gibt er sich verloren. Und in der Angst des Herzens fleht Zu allen Göttern der Poet, Den alten und den jungen; Die Musen erst, die Heilgen dann, Er ruft sie allesammen an, In einem Chor verschlungen: „Gebt Mangel mir und Herzeleid, Und zieht mir an das Bettlerkleid, Nur laßt mir meine Klänge! Ich fürchte nicht den Untergang, Es ist mir um die Leier bang Und meine zehn Gesänge. Mein Lied ist, rosig angehaucht, Mit hellen Augen aufgetaucht Und ist nur erst im Werden; 111
D a lächelt eine Wohlgestalt, Die andre hebt den Schleier bald Und macht mir sdion Geberden. D u stilles Meer, du tiefer Born! Du sanfte Ruh, du herber Zorn! D u feierlicher Reigen! Dem Helden wiesest du den Weg Und ließest ihn auf schwankem Steg Das ferne Ziel erreichen. Das du dem Helden wohlgewollt, Erzeig didi audi dem Dichter hold! Was jener stracks gehandelt, H a t dieser mit des Wortes Macht In einen leichten Ring gebracht Und in ein Bild verwandelt. Ich sang des echten Mannes Mut, Der unerschrocken nimmer ruht Und rastet nicht auf Erden Und duldet mit Gelassenheit, U m seinem Volk und seiner Zeit Ein heller Stern zu werden. Ich sang den Geist, der fürder strebt Und nimmer an der Scholle klebt, Zu sparen und zu speichern, Der immer eine neue Frucht An wildgewachs'nen Zweigen sucht, Den Garten zu bereichern. Ich sang ein Volk, das, heil und jung, Nicht schaudert vor der Wanderung Befremdenden Gefahren, Und das auf seiner fernen Fahrt Dem Vaterland das Herz bewahrt Und opfert seinen Laren, 112
Und immer wagt und unternimmt, Und das durch alle Meere schwimmt, Mit Schiffen Reiche gründet, Und dem ein unvollendet Haus Der Väter Ruhm, es baut es aus Und hoch die Kuppel rundet. Du kaum verrauschte Heldenzeit, Ihr Namen voller Herrlichkeit, Beschirmet eure Söhne! Umringet und bedecket midi, Indes die Stirn der Mutter ich Mit edelm Lorbeer kröne! Und du, am Ziele meiner Bahn, Ersehntes Eiland, komm heran, Dem Tode mich zu rauben! Und wie du gastlich näher rinnst, Mit meinem lieblichsten Gespinst Will ich dich iiberlauben. Idi laß' es quellen überall, Die Wasser stürzen Fall an Fall Durch deine nackten Schluchten; Die schönsten Nymphen ewig jung Geb' idi dir zur Bevölkerung In deine klaren Buchten. Ein weißes Blatt ist noch gespart, D a sollst du meine Heldenfahrt Mit dichtem Grün verschränken; Und meine Schiffer sieggekrönt, Du sollst sie, wunderbar verschönt, Bewirten und beschenken!" Indem er betet licht und warm, Hat er gerudert mit dem Arm, Gesteuert mit der Ferse; 8
Deutsche Texte 8
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Er findet Boden, tritt ans Land, Und ringt sein triefendes Gewand Und trocknet seine Verse.
2. C A M O Ë N S
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(1875)
Camoëns, der Musen Liebling, Lag erkrankt im Hospitale. In derselben armen Kammer L a g ein Schüler aus Coimbra, Ihm die Schmerzenstage kürzend, Unerschöpflich, mit Geplauder. „Edler Herr und hocherlauchter Dichter", frug er einst den Alten, „Was sie melden, ist es Wahrheit? Daß gescheitert eines Tages Am Gestad von Coromandel Sei das undankbare Fahrzeug, Das beehrt war, euch zu tragen? Daß ihr, kämpfend in der Brandung, Mit der Rechten kühn gerudert, Doch in ausgestreckter Linken, Unversehrt vom Wellenwurfe, Hieltet — noch war's unvollendet — Eures ew'gen Liedes Handschrift? Schwer wird solches mir zu glauben. Herr, auch mir, wenn ich verliebt bin, Sind Apollos Schwestern günstig; Aber ging es mir ans Leben, Wahrlich, meine schönsten Verse Ließ ich flattern mit dem Winde, Meine beiden Arme braucht' ich! — Nun, ihr lächelt, und ich merke, Was das Volk erzählt, ist Fabel."
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Freundlich spricht der greise Dichter: „Solches tat ich, Freund, in Wahrheit, Ringend auf dem Meer des Lebens. Mit dem einen dieser Arme Kämpft' ich um des Tages Notdurft, Wider Bosheit, Neid, Verleumdung — Ohne Rast und ohne Ruhe.
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Mit dem andern dieser Arme Hielt ich über Tod und Abgrund In des Sonnengottes Strahlen Mein Gedicht, die Lusiaden, Bis sie wurden, was sie bleiben."
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3. C A M O Ë N S (1882)
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20 8*
Camoëns, der Musen Liebling, Lag erkrankt im Hospitale. In derselben armen Kammer Lag ein Schüler aus Coimbra, Ihm des Tages Stunden kürzend Mit unendlichem Geplauder. „Edler Herr und großer Dichter, Was sie melden, ist es Wahrheit? Daß gescheitert eines Tages Am Gestad von Coromandel Sei das undankbare Fahrzeug, Das beehrt war, Euch zu tragen? Daß Ihr, kämpfend in der Brandung, Mit der Rechten kühn gerudert, Doch in ausgestreckter Linken, Unerreicht vom Wellenwurfe, Hieltet Eures Liedes Handschrift? Schwer wird solches mir zu glauben. Herr, auch mir, wann ich verliebt bin, Sind Apollos Schwestern günstig; 115
Aber ging' es mir ans Leben, Flattern meine schönsten Verse Ließ' ich wahrlich mit dem Winde, Brauchte meine beiden Arme!" 25
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Antwort gab der Dichter lächelnd: „Solches tat ich, Freund, in Wahrheit, Ringend auf dem Meer des Lebens! Wider Bosheit, Neid, Verleumdung Kämpft' idi um des Tages Notdurft Mit dem einen dieser Arme. Mit dem andern dieser Arme Hielt ich über Tod und Abgrund In des Sonnengottes Strahlen Mein Gedicht, die Lusiaden, Bis sie wurden, was sie bleiben." 4. N I C O L A P E S C E 1 (1882)
Ein halbes Jährchen hab' ich nun geschwommen, Und noch behagt mir dieses kühle Gleiten, Der Arme lässig Auseinanderbreiten — Die Fastenspeise mag der Seele frommen! Halb schlummernd lieg' ich stundenlang, umglommen 2 Von Wetterleuchten, bis auf allen Seiten Sich Wogen türmen. Männlich 3 gilt's zu streiten. Ich freue midi. 4 Stets bin ich durchgekommen. Was machte midi zum Fisdi? Ein Mißverständnis Mit meinem Weib. Vermehrte Menschenkenntnis. Mein Wanderdrang und meine Farbenlust. Die Furcht verlernt' ich über Todestiefen, Fast bis zum Frieren kühlt' ich mir die Brust — Idi bleib' ein Fisch und meine Haare triefen! 2 ich, stundenlang um glommen NICLAS PESCE 4 Ich zage nicht. Wogen drohend nah'n. Dann
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Die
VEREINIGUNG
XXXIV. 1. A N D I E M U S E (1875) Die du midi in dunkeln Tagen Mit dem herbsten Los versöhnt, Muse, hilf das Glück mir tragen, Denn ich bin es nicht gewöhnt. Konntest du die Schmerzen mindern, Komm — der Freude wird zu viel — Hilf mir heut die Freude lindern Mit dem sanften Saitenspiel! 2. O h n e T i t e l (1875) Liebe, du tränkst zwei Durstende heut: so neige die Schale, Über und über gefüllt, neige die Schale du sadit. Amor, halte die Leuchte, daß hodi und ruhig sie lod're, Nicht mit dem zuckenden Schein schrecke das holde Gesicht! 3. O h n e T i t e l (1876)
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Wachend in des Jahres letzter Stunde Fühlt ich mehr wie sonst mich nodi vereinsamt, „Niemand", seufzt* idi leis, „beschert mich morgen! Keiner denkt an mich, wenn nicht die Götter Mich mit einem Angebind bedenken." Mitternacht! Zwölf dumpfe Schläge hallten Her vom nahen Turm — da glomm ein Lichtstrahl. Durdi die helle Kammer sah idi schweben Ein geflügelt, leiditgeschürztes Mägdlein, Sie, des jungen Jahres erste Höre — Unter halbgeschlossnen Lidern lauscht' ich Freudevoll hervor, bescherungslustig! — Auf den Tisch — mit Büchern lag bedeckt er — Setzt sie mir ein Lämpchen — jetzt ersdirak ich: „Nicht des mitternädit'gen Fleißes Ampel, Etwas Freud'ges schenk mir", fleht' idi, „Holde!"
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Schon entschwebend wandte sie das Antlitz, Und ich sah das feine Haupt im Umriß, Freundlich spottend öffnet es die Lippen: „Erst vernimm, wozu die Götter schenken Dir die stillen Strahlen dieser Ampel: Mit den stillen Strahlen dieser Ampel Wird dir Eine, die dich liebt von Herzen — Eh' wir unsern neuen Lauf vollenden — Dunkle Wendeltreppen oft erhellen, Auf die letzte Stufe setzt sie nieder Sacht das Lämpchen, daß sie zärtlich scheide." — So geschah's. Die Götter trügen niemals. 4. D I E A M P E L (1882)
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An des Jahres Wende sprach ich: Muse, Keiner Mutter Hand beschert mich! Gib mir Du mein Angebinde, Muse! fleht' ich. In die Kammer, lauschend von dem Lager, Sah ich bald der Schwestern eine schreiten. Auf mein Tischchen setzt' sie einer Ampel Zarte Form mit schlankgeschweiften Henkeln, Aber dir mir keineswegs antik schien. Ich erschrak. Was meinst du, Muse? Rätst du Nächtlich auszufeilen meine Verse? Schon entschwebend, wandte sie das Antlitz Halb. Ich sah des Musenhauptes edeln Umriß mit den spottend feinen Lippen . . . Als ich dann in neuem Jahr erwachte, Keine Ampel! Doch ich fand sie wieder — Und erkannte gleich sie an der zarten Form und an den schlankgeschweiften Henkeln In des Liebchens Hand, das mir die Treppe Nächtlich hellt' mit stillen Ampelstrahlen. Scheidend auf die letzte Stufe setzt' sie Das Geschenk der Muse sacht und küßt' mich.
XXXV. 1. J U N G F R A U (1870) Die erzürnten Wogen rollen, Es erzittert bang der Steg. Wie sie rufen, wie sie grollen Neben meinem nächt'gen Weg! Rissen gerne mich von dannen, Wie entwurzeltes Gesträuch — Blicke, lasset euch nicht bannen, Zage Blicke, hebet euch! Über wildem Felsgetrümmer, Uber finstrer Stromgewalt Wacht in mildem Sternenschimmer Eine selige Gestalt. Sanfte Leuchte, hohe Firne, Thronend in der Sterne Rat, Neige deine klare Stime Über meinen dunkeln Pfad!
2. I M E N G A D I N (1870) Über dunkelm Arvenwipfel Steigen auf die weißen Gipfel Von dem tiefsten Blau begränzt: Heldenzelte, die sich breiten Über wilden Einsamkeiten — Wie die stolze Reihe glänzt! Ruhe. Nur die Wasser rinnen, Nur die Welle zieht von hinnen Eifrig, die zu Tale will. Über hell besonnten Matten Nur der Arven kurze Schatten Und ein Leuchten groß und still. 121
3. F I R N E L I C H T (1883) Wie pocht' das Herz mir in der Brust Trotz meiner jungen Wanderlust, Wann 1 , heimgewendet, idi ersdiaut' Die Schneegebirge, süß umblaut, Das große stille Leuchten! Ich atmet' eilig, wie auf Raub, Der Märkte Dunst, der Städte Staub. Ich sah den Kampf. Was sagest du, Mein reines Firnelicht, dazu, Du großes stilles Leuchten? Nie prahlt' ich mit der Heimat noch, Und liebe sie von Herzen doch! In meinem Wesen und Gedicht Allüberall ist Firnelicht, Das große stille Leuchten. Was kann ich für die Heimat tun, Bevor ich geh' im Grabe ruhn? Was geb' ich, das dem Tod entflieht? Vielleicht ein Wort, vielleicht ein Lied, Ein kleines stilles Leuchten!
4. G L E T S C H E R (1898) In der wolkenlosen Helle Seh' ich steile Firne ragen, Und die mächt'gen Pfeiler tragen Eine wunderbare Welt. 1
Da
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G'
XXXVI. 1. A L P E N L Ü F T E
(1871)
Alpenlüfte, reine, Wirken schon mit Macht, Heben, wälzen Steine Mir vom bangen Busen sadit. Schwere Biirden schweben, Die idi keuchend trug, Und das ganze Leben Wird zum tiefen Atemzug.
2. A B E N D W E H E N (1871) Scheidend sank die Sonne Hinter Bergesrand, Und ein Windstoß schaurig Fährt durchs Alpenland. Flüstert durch die Tannen Wie ein Seufzer nur — Ist's des Tages Seele, Die von hinnen fuhr? Ein rastender Falter Sitzt mir auf der Brust, Er 1 öffnet die zitternden Schwingen mit Lust. Seele, meine Seele, Der Rast schon genug? Seele, meine Seele, Wohin geht der Flug? 1
Er aus Und verbessert
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3. A U F E R S T E H U N G (1873) Balsambedeckt in reiner 1 Lüfte Wehn Lag tief idi eingesenkt ins Alpengras, Geduldig harrend auf mein Auferstehn, Bis ich des läst'gen Erdenstaubs genas. Die schweren Bürden von der müden Brust Hob mir der Gletscherwinde kühles2 Spiel, Bis heut der letzte Gruftstein, mir zur Lust, Hinrollend in die duftgen Kräuter fiel. Ein Falter heftet mir aufs Wanderkleid Die lichten Schwingen mit dem roten Ring, Und meine Seele regt 3 sich flugbereit, Ein wonnevoll entpuppter Schmetterling.
4. D E R A P O L L O (1875)1 Mir lag der Ebne Staub Auf müder 2 Seele dicht, Da hob 3 ich zu 4 den Bergen Mein sehnend Angesicht. Ich stieg empor zur Alp Und streckte mich ins Gras, In sel'ge Bläuen blickt' idi,5 Bis mir das Herz genas. Da hing auf meiner Brust Am leichten Wanderkleid Mir 6 unversehns ein Falter Und 7 bebte flugbereit. 1
k ü h l e r gestrichen,
frischer gestrichen
w i n d e leises gestrichen
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fühlt
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gestrichen
A l gestrichen,
Sommer-
Vier Tropfen blutigrot Auf weißem 8 Schwingenpaar! Ich weiß nicht, ob's ein Falter, Ob's meine Seele war. 5. D A S S E E L C H E N (1882)
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Ich lag im Gras auf einer Alp, In sel'ge Bläuen starrt' ich auf — Mir war als ob auf meiner Brust Midi etwas sacht betastete. Ich blickte schräg. Ein Falter saß Auf meinem grauen Wanderkleid. Mein Seelchen war's. So lernt' idi einst In Rom an einem Basrelief. Wie sieht es aus? Das wüßt' ich gern, Idi blinzle mein Gewand entlang — Blank war's, betupft mit Tropfen Bluts. 6. D A S S E E L C H E N (1883)
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Ich lag im Gras auf einer Alp, In sel'ge Bläuen starrt' ich auf — Mir war, als ob auf meiner Brust Mich etwas sacht betastete. Idi blickte schräg. Ein Falter saß Auf meinem grauen Wanderrock. Mein Seelchen war's, das flugbereit, Die Schwingen öffnend, zitterte. Wie sind die Schwingen ihm gefärbt? Sie leuchten blank, betupft mit Blut.
1
2 3 M E I N E SEELE gestrichen Leib und gestrichen wandt' 4 5 gestrichen nach gestrichen U n d schaut in selge Bläuen 6 7 gestrichen Ein gestrichen Der gestrichen, E r gestrichen 8 Am hellen verbessert zu An hellem, dann gestrichen; lichtem gestrichen
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VERWANDTSCHAFT
XXXVII. Α.
1. F R Ü H L I N G S G E S P E N S T E R
(1870)
Heut hat zur feierlichen, Zur mitternäditgen Zeit Ein Grauen mich beschlichen Wie Zauberbangigkeit. Mir ward von tausend Geistern Der Busen voll und eng, Mein pochend Herz, bemeistern Nicht könnt* es das Gedräng. „Steht heut besondre Stunde Vermerkt im Jahreslauf? Taucht mächt'ger Elfen Runde Aus Fluß und Quellen auf?" Idi sprachs und trat ins Fenster Und lauschte weit ins Land — D a war es voll Gespenster Im weißen Spukgewand. Dcxii als die stillen Räume Ich schärfer mir besah, D a standen alle Bäume Im Blütenkleide da. Es war ein süß Erschrecken Was mir geraubt die Ruh: Viel tausend Blüten decken Mich und die Erde zu. 2. F R Ü H L I N G S G E S P E N S T E R
(1870)
Heut' in der feierlichen, Der mitternäditgen Zeit H a t Grau'n mich überschlichen Und Zauberbangigkeit. 9
Deutsche Texte 8
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Es ward von tausend Geistern Der Busen mir zu eng, Ich könnt' es kaum bemeistern, Das wogende Gedräng. Ist heut besondre Stunde In Jahres Lauf und Kreis? Schwebt mächtger Elfen Runde Mir um die Kammer leis? Ich aber trat ans Fenster Und lauscht hinaus ins Land — Stand alles voll Gespenster Im weißen Spukgewand! Dodi wie die nädit'gen Räume Gelassen ich besah, Stand alles voller Bäume Bedeckt mit Blüten da! Das war das süße Schrecken, Das mir geraubt die Ruh: Viel tausend Blüten decken Mich und die Erde zu. 3. L E N Z N A C H T (1870) In mitternächt'ger Stille Der lauen Maiennacht Bin idi an einer Fülle Von Liedern aufgewacht. Wie soll ich es bemeistern, Das freudige Gedräng? Es wird von tausend Geistern Der Busen mir zu eng! Ist heut besond're Stunde In Jahreslauf und -kreis? Schwebt eine Genienrunde Mir um die Wohnung leis? 130
Idi schleich' ans offne Fenster Und späh' ins dunkle Land — Ist alles voll Gespenster In weißem Spukgewand! Doch wie die finstern Räume Genauer ich beseh, Ist alles voller Bäume Bedeckt mit Blütenschnee. Das war das süße Schrecken, Das mir geraubt die Ruh': Viel tausend Blüten decken Mich mit der Erde zu.
B.
4. L I E D E R S E E L E N (1882) In der Nacht, die die Bäume mit Blüten deckt, Ward ich von süßen Gespenstern erschreckt, Ein Reigen schwang im Garten sich, Den ich mit leisem Fuß beschlich; Wie zarter Elfen Chor im Ring Ein weißer lebendiger Schimmer ging. Die Schemen hab' ich keck befragt: Wer seid ihr, luftige Wesen? Sagt! „Ich bin ein Wölkchen, gespiegelt im See." „Ich bin eine Reihe von Stapfen im Schnee." 1 „Ich bin ein Seufzer gen Himmel empor!" „Ich bin ein Geheimnis, geflüstert ins Ohr." „Ich bin ein frommes, gestorbenes Kind." „Ich bin ein üppiges Blumengewind —" „Und die du wählst, und der's beschied Die Gunst der Stunde, die wird ein Lied."
1
Vers 10 vor Vers 9 in der Fassung von
9*
1881.
131
5. B L Ü T E Z E I T (1874) Wieder schau' ich blauen Schein Nach des Winters Nebelbroden, Trete warmen Boden, Atme Lenz und Leben ein. Über alle Pfade quer Flattern ungezähmte Zweige — Stolzes Haupt, verneige Dich! Die Demut ist nicht schwer. Bücke dich nach Pilgerart Vor den unbefleckten Blüten, Vor den rot erglühten Und den weißen, jung und zart! Frühling, der die Welt umlaubt, Niedrig baust du deine Pforten! Legst mir allerorten Deinen Segen auf das Haupt.
6. L E N Z T R I U M P H A T O R (1882) Frühling mit der Vöglein Laut Allerenden, allerorten! Frühling, der die Welt umblaut, Deine blüh'nden Siegespforten Hast du niedrig aufgebaut! Über alle Pfade her Schießen blütensdiwere Zweige Ungebändigt, kreuz und quer, Daß dir jedes Haupt sich neige, Und die Demut ist nicht schwer.
7. L E N Z T R I U M P H A T O R (1887) Frühling, der die Welt umblaut, Frühling mit der Vöglein Laut, Deine blüh'nden Siegespforten Allerenden, allerorten Hast du niedrig aufgebaut! Ungebändigt, kreuz und quer, Über alle Pfade her Schießen blütenschwere Zweige, Daß dir jedes Haupt sich neige, Und die Demut ist nicht schwer. 8. D A S R O T E TAL (1871) Auf Felsenstufen stieg einmal Ich in ein abgelegnes Tal, Das vollgedrängt bis an den Rand Von blüh'nden Alpenrosen stand. Das ganze Tal war rot wie Blut: Da dacht' idi dein in Liebesglut; Doch länger schauend in das Rot Gedacht' idi an den jähen Tod. 9. W E T T E R Z E I C H E N (1871) Abendglühn gelobt Eines hellen Morgens Sdiein — Wenn es morgen stürmt und tobt, Werd' ich sdiön betrogen sein. Wundern soll's mich nicht, Wenn die Himmelsröte log, Seit auf liebem Angesicht Ein Erröten mich betrog.
10. F R Ü H L I N G S S P R U C H
(1880)
Rote Blüten muß man lieblich heißen, Sdlöner brennen dodi die weißen, Die ein flüdit'ger Lenzesblitz umflammt, Der vom Himmel stammt. Rote Wangen muß man gelten lassen, Sdlöner brennen dodi die blassen, Die ein rasches Liebeswort ersdireckt Und mit Glut bedeckt. 11. F R Ü H L I N G S S P R U C H (1880) Rote Knospen will idi lieblich heißen; Sdlöner brennen dodi die weißen Purpurrot, Von des Jahres erstem Blitz umloht. Rote Wangen will ich gelten lassen; Schöner brennen dodi die blassen Glutbedeckt, Durch das erste Liebeswort erschreckt. 12. W E T T E R L E U C H T E N (ca. 1881) Kaum dem Garten könnt' idi mich entreißen, Wo der erste Blitz des Jahres lohte Und mit jähem Schein die blendend weißen Frischen Blüten wandelte in rote. Lange stand ich vor der zarten Blüte, Die in raschem Sdiimmerlidite brannte Und erblich und wiederum erglühte — Doch mir schien, daß einst idi Schön'res kannte Schön*res wohl, doch diesem zu vergleichen: Wangen, die vor einem Wort erschrecken, Vor dem ersten Liebeswort, und bleichen Und sidi dann mit dunkler Glut bedecken.
13. W E T T E R L E U C H T E N
5
10
G.
(1882)
Im Garten schritt ich durch die Lenzesnadit. Des Jahres erste Blitze loderten. Die jungen Blüten glommen feuerrot Und blichen wieder dann. Ein schönes Spiel, Davor ich stille hielt. D a sah ich dich! Mit einem Blütenzweige spieltest du, Die junggebliebne Tote! Durch die Hast Und Flucht der Zeit zurück erkannt* ich dich, Die just des Himmels Feuer überglomm. Erglühend standest du, wie dazumal, D a dich das erste Liebeswort erschreckt, Du Ungebändigte, du Flüditende! Dann mit den Blüten wieder blichest du. 14. O h n e T i t e l
(1875)
Kennst du, Kind, im Sterngefunkel Nodi das Eichendunkel? Noch das Eiland unbelauscht, Dran die Welle rauscht? Dort im Abendlicht vor wenig Wochen Ward ein Wort gesprochen — Zwei Verarmte macht' es ewig reich — Doch du wurdest bleich. Dort im Abendlicht vor wenig Wochen Ward ein Bann gebrochen, Daß der Quell des Lebens überquoll, O wie voll, wie voll! — 15. L I E B E S J A H R
(1881?)
Dichte Winterflocken wirbeln mit den dürren Blättern dort, Und idi atme nodi des Lenzes Blühn und Düften immerfort. Als sie Liebe mir gestanden, wetterdunkel war der See, Frisch und leuchtend in den Gärten lag der junge Blütenschnee. 135
Und vom Himmel fuhr des ersten Blitzes ungebändigt Licht Über die ersdirocknen Blüten und ein stilles Angesicht. Dichte Winterflocken wirbeln um ein goldenblondes Haar, Und ich atme noch des Lenzes Blühn und Düften immerdar!
16. L I E B E S J A H R (1882) Hat sich die Kelter gedreht? Tanzt dort mit dem Laub eine Flocke? Zuckte der Blitz im August? Blühten die Kirschen im Mai? Blüten und Ähren und Trauben erblickt' ich in schwellendem Kranz nur Um das geliebteste Haupt und idi erblicke sie nodi.
H.
17. M E I N J A H R (1891) Nicht vom letzten Schlittengleise Bis zum neuen Flockentraum Zähl' idi auf der Lebensreise Den erfüllten Jahresraum. Nicht vom ersten frischen Singen, Das im Wald geboren ist, Bis die Zweige wieder klingen, Dauert mir die Jahresfrist. Von der Kelter nicht zur Kelter Dreht sich mir des Jahres Schwung, Nein, in Flammen werd' ich älter Und in Flammen wieder jung. Von dem ersten Blitze heuer, Der aus dunkler Wolke sprang, Bis zu neuem Himmelsfeuer Rechn' ich meinen Jahresgang.
136
NACHWORT Conrad Ferdinand Meyers Leben und Leistung sind voller Wunder. Woher wußte er, daß er ein Dichter war, obwohl er von der Schulzeit bis ins vierzigste Lebensjahr kaum Fortschritte machte und über das Stümpern nicht hinauskam? Was hat ihn in diesen langen Jahren am Leben erhalten; wie hat er der Versuchung zum Selbstmord widerstanden, der seine Mutter und seine Tochter erlagen? Wie kam es, daß er sdion sehr früh wußte, wie seine Dichtung beschaffen sein sollte, und warum ist ihm der Durchbrudi zum eignen, neuen Stil erst so spät gelungen? Woher kam ihm, schon jenseits der Höhe des Lebens, die Kraft, diesen Stil zu schaffen? (Denn was er aus Frankreich, aus Platen und aus den symbolistischen Ansätzen der deutschen Romantik empfangen haben mag, reicht nicht aus, um die Kunst seiner Reife zu erklären.) U n d welche merkwürdige Beziehung waltet zwischen seinem Anliegen und den Stoffen seiner Dichtung? Kein Dichter verfährt herrischer und selbst gleichgültiger mit seinen Gegenständen als er; bei keinem ist das dichterische Anliegen so viel älter und echter als das Interesse am Stoff; und dennoch ist das Gelingen seiner Gedichte abhängig vom Finden des rechten Stoffes und von seinem Verstehen, seiner Durchdringung, seiner Bewältigung. Warum hat Meyer nicht gradheraus und bekennerhaft gesagt, was er zu sagen hatte? Warum die verhüllte Darstellung des Selbst in fremder Gestalt und geborgtem Vorgang? H a t t e er etwa nichts zu sagen? Oder war es ein Unsägliches, das ihm selbst erst in Bildern greifbar und in den Klängen und Rhythmen der Sprache verständlich wurde? Uber die äußeren Lebensverhältnisse Meyers sind wir leidlich gut unterrichtet; auch ist da nicht sehr viel zu wissen. Was in ihm vorging, ist kaum bekannt, und da die Briefe an seine Schwester (nur ihr hat er sich mitgeteilt) größtenteils vernichtet sind, sind neue Aufschlüsse schwerlich zu erwarten. Er war körperlich robust und seelisch gefährdet, zugleich tapfer und ängstlich, gläubig und zweiflerisch, sorglos wie ein Künstler und penibel 137
wie ein Philister. Die zarteste Gewissenhaftigkeit, tief in seinem Wesen angelegt und durch die Mutter ins Übermaß verstärkt, paarte sich, besonders in seinen mittleren Jahren, mit einer sonderbaren Freude am Gewalttätigen: nicht daß er selbst je etwas Hartes getan hätte, aber er hatte Geschmack am Heroischen und Unbeugsamen, an Kampf, Opfer und Blut. Die Gründerzeit mit ihrer Neigung zum Pompösen, dazu der Piloty- und Makartstil mögen auf ihn eingewirkt haben. Seinen Hutten hat er in der dritten Auflage (1881) mit Absicht „viel wilder" gemacht. Um so nötiger, daß der Leser dennoch die „Weichheit" empfindet, welche die Umarbeitung verbergen sollte, und daß er audi manchen Stücken der Gedichtsammlung den Panzer auszieht und die heroische Geste nimmt, um ihren lyrischen Kern aufzuspüren. Daß dieser in den frühen Fassungen der Gedichte oft greifbarer zutage liegt, ist allein schon Rechtfertigung genug für ihr Studium. Aber sie zeigen auch Meyers Aufstieg. Der Fünfunddreißigjährige, der die handschriftliche Sammlung Bilder und Balladen zusammenstellte, war eigentlich nodi ein guter Junge, ein treuherziger Sohn bürgerlich-christlicher Traditionen, der die Geschichte nach Beispielen von Edelmut und Niedertracht durchforschte und sie rechtschaffen und ein wenig einfältig verifizierte. Erst später, zehn bis zwanzig Jahre später, lernte Meyer die Kunst des Weglassens und Versdiweigens und erfuhr, wieviel niederschmetternder das unausgesprochene Urteil ist und wieviel lieblicher die verborgene Empfindung. Und doch war alles von Anfang an in ihm angelegt. Er war ein wirklicher Richter der Geschichte, und er war ein wirklicher Lyriker, auch als er die Geschichte noch nicht verstand und noch keine Verse schreiben konnte. Hinter dem Zug zum Grandiosen stand ein echtes Gefühl für Größe; hinter dem Moralisieren eine starke Rechtlichkeit; hinter den Sentimentalitäten standen Zartheit, Milde und Güte. Daß er dann skeptisch wurde aber nicht zynisch, daß seine Form herber wurde aber seine Gehalte zarter, daß dieser Ernste und Unbeholfene schließlich sogar ein paar leichte und zierliche Gedichte schrieb, war nur möglich, weil er eine dichterische Welt in sich hegte, die nichts Äußeres berühren konnte. 138
Das innere Gefühl für Größe, Recht, Reinheit, Lieblichkeit war so stark, daß keine seiner Leistungen ihm je genügte. Unbestechlich auch gegen sich selbst, hat er seine Gedichte immer wieder zerschlagen und neugeschaffen. Meyer ist am 12. Oktober 1825 geboren und am 28. November 1898 gestorben. Der Zufall hat eine Handvoll Jugendgedichte von ihm bewahrt, etwa dreißig, aus der Mitte der vierziger Jahre. Wir wissen, daß er in den folgenden Jahren unermüdlich um sein Dichtertum rang, aber er scheint die meisten seiner Manuskripte vernichtet zu haben, nachdem er 1860 eine Auswahl von 101 Gedichten getroffen und diese säuberlich mit eigener Hand abgeschrieben hatte. Das ist die Sammlung Bilder und Balladen (BB). Der erste Teil besteht aus 79 kurzen Sprüchen und Lyrika, der zweite aus 22 ermüdend langen Balladen. Das Manuskript bot er dem Leipziger Verleger J . J . Weber zum Drucke an, wohl wissend, daß es abgelehnt würde. So geschah's. Im folgenden Winter hat er seinen Vorrat nochmals gesichtet und überarbeitet und schickte dann neun der Balladen aus BB zusammen mit drei anderen zur Begutachtung an seinen Freund Felix Bovet. Auch diese Handschrift ist erhalten. Sie ist im Besitz von Martin Bodmer, der sie 1922 unter dem Titel Frühe Balladen von Conrad Ferdinand Meyer (FB) herausgab. Erst 1864 gelang Meyer die erste Publikation — auf eigene Kosten. Der Verlag Metzler in Stuttgart übernahm die Zwanzig Balladen von einem Schweizer (ZB), denen das lyrische Gedicht „Der Frühling kommt" als Vorspruch vorausgeschickt und die autobiographische Allegorie „Fingerhütchen" als Epilog angeschlossen war. Fünf Balladen aus BB und FB wurden in verbesserter Form in ZB aufgenommen. Der Mißerfolg der Veröffentlichung war berechtigt; den Dichter schützte die Anonymität. Schon das folgende Jahr brachte einen sprungartigen Fortschritt. Die Scheu vor Preisgabe seines Inneren überwindend, wagte es Meyer, statt der erzählenden Gedichte Lyrisches in den Druck zu geben, und darunter waren einige seiner hoffnungsvollsten Stücke. Acht Gedichte erschienen im letzten Jahrgang des Cottasdien Morgenblatts, vier weitere in den Jahren 1866 139
und 1867 in der Schweizer Zeitschrift Alpenrosen. Und nun fand Meyer seinen Verleger. Romanzen und Bilder (RB), im Dezember 1869 mit dem Datum 1870 bei Haessel in Leipzig erschienen, ist Meyers Abschied von seiner Jugend. Drei aus BB und FB übernommene Balladen sind gestrafft, achtzehn sind neu hinzugekommen. Bedeutender sind die 33 lyrischen Gedichte der Sammlung. Sie sind stimmungsvoll, lieblich, schwermütig — ein letzter Nachhall der Romantik — aber zugleich enthalten sie vielfältige Andeutungen von Meyers künftiger symbolistischer Manier. Fast alle sind in verwandelter Gestalt in die endgültige Sammlung seiner Lyrik aufgenommen worden, die meisten gekräftigt und verschönt, und dennoch haben die alten Fassungen manchmal einen stillen Reiz, der uns bedauern läßt, daß ihr Autor sie später verleugnete. Auch RB war kein Publikumserfolg. Den brachte erst Huttens letzte Tage (1872), vielleicht der geschlossenste Zyklus in deutscher Sprache, vielleicht das schönste lyrische Lesebuch, das man an einem Abend im Freundes- oder Familienkreis vorlesen kann und das verbindet wie der gemeinsame Besuch eines großen Konzerts oder Schauspiels. Es folgten die Jahre der Meisterschaft, fast zwei Jahrzehnte angestrengtesten Arbeitens und einer reichen Produktion in Poesie und Prosa. Viele der neuentstehenden Gedichte wurden, neben umgearbeiteten alten, in Zeitschriften veröffentlicht, andere blieben in Handschriften verborgen, bis Meyer schließlich seinen lyrischen Vorrat sammelte und in den Gedichten (1882) darbot. Erstaunlich die Leistung, die Meyer in wenig über einem J a h r bei der Vorbereitung dieser Sammlung vollbrachte. Ein Gedicht nach dem anderen wurde vorgenommen, mit fester H a n d beschnitten, zurechtgerückt, neugestaltet. Aus so unglaublich langstieligen alten Gedichten wie „Der Zweikampf", „Der Schwimmer", „Schloß Gottlieben", „Der Gang" wurden herrliche Gebilde wie „Der Ritt in den Tod", „Camoëns" und „Nicola Pesce", „Hussens Kerker", „Die tote Liebe". Bei anderen freilich versagte selbst die Kraft des Meisters. Er hat manches in die Sammlung aufgenommen, was einer längst überwundenen Stufe seines Könnens angehörte, und er hat andrer140
seits manchmal so hart zugegriffen, daß er den Seelenton erstickte. Sein alter Wunsch, nur Gestalten hinzustellen und das Innere durch das Äußere sprechen zu lassen, wurde nun erfüllt, aber er zwang dem Lyrischen eine übertriebene Deutlichkeit und Bildhaftigkeit auf, die manche Gedichte fast leer, andere großtuerisch erscheinen lassen. Jedoch war das eine Gefahr, die der Stil von Meyers Reife notwendig in sich barg und die er auf sich nehmen mußte. Mir scheinen die Gedichte dreißig bis vierzig vollendete Stücke zu enthalten, und auch ein sehr strenger Kritiker wird wenigstens ein Dutzend finden. Fünf Auflagen (G1 bis G 5 ) der Gedichte hat Meyer selbst durchgesehen, einzelne Gedichte darin revidiert und neue hinzugefügt. G 1 enthielt 191 Gedichte, G 5 231. Die fünfte Auflage erschien 1892, die zehnte im Jahre von Meyers Tod. Die Gesamtauflage bis zum heutigen Tage dürfte mehr als eine halbe Million betragen. So ist der wegen seiner historischen und kunsthistorischen Stoffe einst als „Bildungsdichter" Verschriene fast zum Volksdichter geworden. Aber auch Stefan George, wahrhaftig kein Bewunderer der Masse oder des Massenprodukts, hat ihn geehrt. Die Anthologie Deutsàe Dichtung, von George und Wolfskehl herausgegeben, schließt den dritten und letzten Band mit einer Auswahl von fünfzehn Gedichten C. F. Meyers. Daß Meyer seine Gedichte immer wieder umschuf — wir haben bis zu vierzehn Fassungen eines einzigen Gedichts — ist vielleicht nichts Außerordentliches; auch andere Dichter haben an ihren Werken gefeilt und gehämmert. Ungewöhnlicher schon, daß es eine relativ kleine Zahl von Gedichten war, daß sich die Arbeit an manchen über Jahre und Jahrzehnte hinzog, und daß er Bilder, Wendungen und ganze Stücke aus Gedichten herausnahm und in scheinbar fernstehende übertrug. Das Merkwürdigste jedoch ist, daß er längst überholte Entwürfe aufbewahrte und — man kann es in einzelnen Fällen beweisen — viel später auf sie zurückgriff und fallengelassene Züge wieder aufnahm. Diese Verfahrensweisen zeigen nicht nur, daß er langsam reifte und ein Dichter mit beschränkter Erfindungsgabe und zähflüssiger Phantasie war, sondern daß alle seine Gedichte zu141
sammenhingen und sich nie ganz vom gemeinsamen Mutterboden trennten. Obwohl er ausdrücklich das Gegenteil behauptete, war das Geschaffene nie für ihn erledigt und abgetan. 1 Es war immer nur eine vorläufige, unvollkommene und unvollständige Verwirklichung poetischer Gesichte, die es bei weitem übertrafen an Stärke, Leuchtkraft und Fülle. Der Besitz dieser Innenwelt, sein „Traumbesitz", war, was ihn zum Dichter machte. Daß er ihr Ausdruck verlieh, war mehr Sache des Menschen als des Dichters: es diente seinem Lebenswillen und Geltungsbedürfnis. So gewähren die zahlreichen Fassungen von Meyers Gedichten nicht nur den vielberufenen „Einblick in die Werkstatt des Dichters", sondern auch den bei allen Dichtern, aber besonders bei ihm viel schwierigeren Zugang zu seinem Anliegen. Man kann das Glätten oder Kräftigen der Sprache beobachten, das Vereinfachen, Verdeutlichen oder Verschleiern, das Verändern der Vers- oder Strophenform, und man wird besonders bemerken, wie hartnäckig sich oft Reime oder sonstige klangliche Wirkungen erhalten, indem Wörter mit dem gleichen Tonvokal oder der gleichen markanten Konsonantverbindung an die Stelle von anderen treten, die ganz anderen Sinn haben. Aber das ließe sich auch an einem weniger umfangreichen Material studieren. Daß Meyers Nachlaß eine Fülle von Handschriften enthält, ist deshalb ein solcher Glücksfall, weil die Entwicklung seiner Gedichte eine offenere Sprache spricht als ihre letzte Ausformung. Seine endgültige Sammlung hat er (gewissermaßen die Musen beschwörend oder sich in ihren Schutz stellend) in neun Abteilungen gegliedert, und diese Anordnung richtet sich nach den Stoffen. Da sieht es so aus, als sei Meyer der Dichter seiner Reiseeindrücke, der Alpen, der Liebe, der Kunst und der Geschichte gewesen. Aber das war er nicht. Selbst jene sechs Gedichte über die „junggebliebene Tote", die den innersten Bezirk im Mittelschrein seines Musentempels einnehmen, sind nicht durch ein bestimmtes Erleb1 „Das Getane ist für mich verblaßt, es ist nicht mehr ich. Nur das Werdende bin ich selber." Meyer an Wille, 5. Dezember 1885 (Briefe I, 182).
142
nis hervorgerufen und richten sich an keine wirkliche Person. Vorstellungen von der anima, der eignen Seele, mit der der Dichter Zwiesprache hält, vielleicht audi der Gedanke an seine verlorene Jugend, die in seiner Dichtung weiterlebte oder auferstand, liegen diesen Gedichten zugrunde und bilden ihren eigentlichen Gehalt. Man braucht nur Gedichte wie „Das Seelchen" und „Die Jungfrau" heranzuziehen, um in ihnen die gleichen Ursprünge zu erkennen und damit einzusehen, daß Natur, Kunst (hier Michelangelo) und (wirkliche oder fingierte) Liebe nur die Anlässe oder Möglichkeiten boten zur Darstellung viel älterer und verborgenerer Empfindungen. Wer die Entstehung von Meyers Gedichten verfolgt und zugleich die vielen Fäden aufspürt, die zwischen Gedichten über ganz verschiedene Gegenstände hin- und herlaufen, muß zu dem Schluß kommen, daß der Zusammenhang seiner Gedichte untereinander viel stärker ist als der zwischen einzelnen Gedichten und ihren Anlässen oder Stoffen. Die „Traumwelt" des Dichters kristallisiert sich zunächst in gewissen Vorstellungen oder poetischen Motiven, die erst später eigentliche Stoffe attrahieren und so zu Gedichten werden. Meyer selbst hat den Vorgang in dem Gedicht „Liederseelen" dargestellt, wo er eine Anzahl Motive nennt und sie mit den Seelen nodi ungeborener Wesen vergleicht. Nur kann jedes seiner Motive eine Vielzahl von Stoffen anziehen und so zu den verschiedensten Verkörperungen oder Ausprägungen gelangen. Und da kein Stoff je dem inneren Anliegen, der Traumwelt ganz entspricht, experimentiert der Dichter mit seinen Stoffen, verwirft und vertauscht sie und schafft so das Gewirre von Querverbindungen, das seine Gedichte und erst recht seine Entwürfe zeigen. Ein oberflächlicher Beweis dafür sind schon die Titel. „Weihgeschenk" hieß in RB „Einer Toten" und wurde umgenannt, als 1874 ein neues Gedicht mit diesem Titel entstand, das ihn dann auch in G beanspruchte. Ebenso „Im Spätboot": der N a m e gehörte nodi 1880 dem Gedieht „Die toten Freunde", das ihn aber an die ca. 1882 geschriebenen und viel bedeutenderen Verse abtreten mußte. „Venedigs erster T a g " hieß in G 1 — G 3 „Auf dem Canal grande"; in G 4 kam ein zweites, 143
kürzeres Gedicht mit demselben Titel hinzu, und erst in G 5 wurde das alte Gedicht umgenannt. „In einer Sturmnacht" trug bei seinem ersten Erscheinen in einer Zeitschrift (1887) den Titel „Unter schwankender Ampel"; der Name wurde geändert, als das Gedicht in G 4 aufgenommen wurde, wo sidi bereits ein Gedicht „Die Ampel" befand. (Der Fall ist besonders lehrreich: ein scherzhaftes Liebesgedicht und ein sehr ernstes religiöses teilen das gleiche Motiv.) „Abendwolke" in G hat nur den Titel gemein mit dem Gedicht „Abendwolken" in Gruppe X X I I der vorliegenden Ausgabe. Das gleiche gilt von dem Gelegenheitsgedicht „Fiebemacht" in G und dem gleichnamigen Gedicht im Hutten. Und schließlich ist der Titel „Morgenlied" nicht weniger als vier verschiedenen Gedichten gegeben worden, von denen allerdings nur eines, das geschmückteste aber nicht das bedeutendste, in G steht. In der Beziehung aller seiner Gedichte auf sein Innenleben besteht Meyers Symbolismus. Oder, präziser gesagt, er ist der Vorläufer und Bahnbrecher des Symbolismus in Deutschland durch die neue Technik der Verbindung von Innen und Außen. Symbole finden sich bei vielen Dichtern und in vielen Zeiten. Die unterscheidenden Merkmale von Meyers Symbolismus sind die Wiederkehr einer beschränkten Zahl von Symbolen in Gediidhten über die verschiedensten Gegenstände, die relative Konstanz der Bedeutung dieser Symbole und die Kongruenz des symbolhaltigen Motivs mit dem Gedicht als Ganzem. „Lethe" zum Beispiel ist entwickelt aus dem Motiv des ruderlosen Kahns, und dieser bedeutet letzten Endes Charons Nachen oder das Totenschifi; dem entspricht die Handlung, die von dem vergeblichen Versuch erzählt, eine tote Geliebte wiederzugewinnen. Segel sind ein glückverheißendes Sinnbild bei Meyer. Das Gedicht „Zwei Segel" verdoppelt das Sinnbild und gibt ihm die Bedeutung des ehelichen Glücks, während der dargestellte Vorgang, das gleichmäßige Eilen oder Ruhen zweier Segelboote, noch einmal den Gedanken der Harmonie ausdrückt. In diesen Gedichten hat also der Sinn des Symbols die Handlung oder Situation völlig durchdrungen, das Anliegen des Dichters ist auf 144
den Stoff projiziert und wird dadurch verdeutlicht wie das kleine Bild auf einem Diapositiv, das auf einen großen Sdiirm geworfen wird. Beim Vergleich sukzessiver Fassungen läßt sich nicht selten beobachten, wie Meyer sich einen Stoff zunächst dadurch anzueignen sucht, daß er ihn mit mehreren Symbolen durchsetzt — so wie der Bäcker den Teig mit Hefe. Im Laufe der Umarbeitungen werden dann Symbole und die ihnen entsprechenden stofflichen Elemente ausgeschieden, bis nur ein Symbol übrig bleibt. „Himmelsnähe" ist ein gutes Beispiel für diesen Vorgang. Auch in ihm zeigt sich die Tendenz des Symbolisten, das ganze Gedicht auf ein einziges Symbol aufzubauen oder wenigstens eines zum herrschenden zu machen. Im idealen Fall ist das Symbol dann überhaupt nicht mehr als solches zu erkennen, denn es entstammt derselben Sphäre wie der Stoff des Gedichts oder ist völlig in dessen Situation aufgegangen. Das ganze Gedicht, nicht ein besonders hervorgehobenes Wahrzeichen, trägt jetzt den Symbolsinn, so daß nur der Vergleich mit anderen Gedichten Meyers verrät, daß auch hier eines seiner wiederkehrenden Motive den entscheidenden Anteil an der Gestaltung hatte. Daneben gibt es einige kurze Gedichte („Eppich", „Die Felswand", „Zwei Segel"), in denen, wie schon der Titel sagt, Stoff und Symbol völlig, oder fast völlig, identisch sind. Man darf sie programmatische Gedichte nennen, denn ihr Zweck ist die programmartige Deutung des Sinnbilds. Eine weniger vollendete Form ist das Gleichungsgedicht. Es kommt schon in der Romantik vor (Wilhelm Müllers „Vineta" und „Perlen" sind Beispiele). Wenn es nicht gelingt, das Anliegen in den Stoff zu verschmelzen, den Sinn ins Bild zu bannen, werden die beiden Elemente auf gleichgebaute Strophen verteilt, einander gegenübergestellt und gleichgesetzt wie die Seiten einer mathematischen Gleichung. Unsere Gruppe X X X V I zeigt die Entwicklung eines solchen Gleichungsgedichts („Abendwehen") zu einem echt symbolischen („Das Seelchen"). Und schließlich kann das Vergleichen zur bloßen Manier werden und damit zum Ärgernis. Wenn der Siebzehnjährige von sich schreibt — 10
Deutsche Texte 8
145
Steigt wohl täglich ufernieder Nach Ouchy ein Dichterblut, Volle Rosen auf den Wangen, Rosenknospen auf dem Hut — so mag man sich freuen über die Keckheit der Jugend und den kecken Wortwitz. Aber wenn der reife Dichter ähnliche Späße treibt, wenn der heraldische Schwan der „Zwingburg" am Ende als wirklicher Schwan herumrudert, wenn das Goldtuch des gleichnamigen Gedichts zum Bahrtuch wird (und noch dazu sein Gleißen mit dem Glänzen der Sonne gleichgesetzt wird), so ist man enttäuscht und verdrossen. Bei der „Zwingburg" handelt es sich um das Recht des Lebendigen über das Vergangene und Tote, beim „Goldtuch" um die Ungewißheit des Lebens und den zweifelhaften Wert der Schätze: ernste Dinge, aber hier zu Gemeinplätzen erniedrigt, denn die erzwungenen und nur scheinbar präzisen Gleichungen offenbaren keine Tiefe der Einsicht oder der Empfindung. Meyers Stellung in der Geschichte der deutschen Lyrik läßt sich gegenwärtig nur andeutungsweise bestimmen, und zwar deshalb, weil diese Geschichte selbst noch nicht in zureichender Weise verstanden und dargestellt ist, und weil überdies die nötigen Spezialstudien fehlen. Die älteren Darstellungen beschreiben die Entwicklung im 19. Jahrhundert meist als allmähliches Verebben der romantischen Tradition und als Aufkommen realistischer, naturalistischer, impressionistischer und neuromantischer Tendenzen. Diese einsträngige Auffassung wird der Vielfalt der Erscheinungen nicht gerecht und findet, im speziellen Falle, keine zutreffende Beschreibung des historischen Orts von C. F. Meyer. Einige haben ihn, wohl mehr aus N o t als aus Überzeugung, einen Realisten genannt, aber das war er gewiß nicht. Und wo gäbe es überhaupt realistische oder naturalistische Lyrik im 19. Jahrhundert? Die politische Dichtung, mit der diese Kategorien gerne aufgefüllt werden, ist primär bestimmt durch ihre Tendenz, also durch ein intellektuelles Anliegen und nicht durch einen eigentümlichen Stil, den man reali146
stisch nennen dürfte. Jede Systematisierung ist notwendig eine Vereinfachung, aber wenn Wissenschaft: jene Art Systematisierung ist, die zugleich Überblick über ein Ganzes schafft und den rechten Weg zum Verständnis des Besonderen weist, so ist es angemessener, in der deutschen Lyrik des 19. Jahrhunderts gleichzeitige Tendenzen oder Strömungen zu unterscheiden statt sukzessiver Schulen. Man kann zum Beispiel von einer romantischen und einer nichtromantischen Dichtweise sprechen — diese bei weitem die ältere und in Petrarka wurzelnd, jene aus der englischen Naturdichtung des 18. Jahrhunderts und aus Goethes Jugendwerk hervorgehend — die beide als Möglichkeiten das ganze 19. Jahrhundert hindurch bestanden, jedoch so, daß die romantische im größten Teil des Jahrhunderts dominierte, und die andere erst in den letzten zwei Jahrzehnten die Übermacht gewann. Conrad Ferdinand Meyers Stellung ist dann die des Bahnbrechers, der im Banne der romantischen Tradition begann, den Kampf der beiden Dichtarten in sich ausfocht und schließlich zum Vorläufer des Triumvirats George, Hofmannsthal, Rilke wurde. Auch diese Entwicklung läßt sich an den sukzessiven Fassungen seiner Gedichte ablesen. H . Stefan Schultz 2 hat vor kurzem auf die Diskontinuität der literarischen Entwicklung in Deutschland hingewiesen und auf die Schwierigkeiten, die die üblichen Epochenbegriffe Klassisch, Romantisch, Neo-Klassisch und Neu-Romantisch bereiten. Ihre Geltung ist nur beschränkt, nämlich intern deutsch, und selbst innerhalb der deutschen Situation vereinigen sie das Unzusammenhängende und verwischen die Unterschiede. E r schlägt vor, wir sollten lieber vom Goetheschen und Schillerschen sprechen, und meint damit zwei verschiedene Haltungen und sprachliche Gesten, die von den beiden Dichtern urbildlich dargestellt wurden und seither als ständige Möglichkeiten bestehen. Schultz beruft sich auf Gundolfs Bemerkung, er sei kein Georgescher, 1
„Über das Verhältnis Stefan Georges zu Schiller", Deutsche
zur geistigen Überlieferung 10*
Beiträge
I V (1961), 109—129.
147
sondern ein Goethescher Mensch, und er findet das Gegensätzliche und dodi Ergänzende von Goethe und Schiller in nur leicht variierender Ausprägung in dem Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und George wieder. Weiter zeigt er in einer ebenso feinsinnigen wie präzisen Untersuchung, daß George trotz seiner Ablehnung Schillers in seiner Kunst gerade diesem Dichter bis in Einzelheiten verpflichtet war. Wenn nun die gemeinsamen Eigenschaften Schillers und Georges definiert werden als „die Betonung der Form des Kunstwerks, die verhältnismäßige Gleichgültigkeit des materiellen Inhalts, die hohe Auffassung des Dichterberufes, das Aristokratische und Gesetzgeberische", so kann diese Formel ohne weiteres auch auf C. F. Meyer angewandt werden, wenn nur „das Richterliche" für „das Gesetzgeberische" substituiert und überhaupt Meyers geringerer Rang eingeräumt wird. Ist es für Schiller die Aufgabe des Künstlers, „das heiige F e u e r . . . zu nähren", und sieht ihn George als „bewahrer des ewigen feuers" (Schultz, S. 125), so steht Meyer genau zwischen ihnen mit seinem Gedicht „Das heilige Feuer". Vor allem aber in dem wichtigsten Punkt, in d e r Gemeinsamkeit, die über die Art ihres Dichtens entscheidet, gehört Meyer zu Schiller und George; nämlich der verhältnismäßigen Belanglosigkeit des Stoffes oder (bei Schiller) der Überwindung des Stoffes durch die Form. An dieser Stelle berühren sich Schultzens Gedanken mit meinen eignen Versuchen. In einem Aufsatz über Erlebnisdichtung und Symbolismus wurde die Entwicklung des symbolistischen Dinggedichts von Mörike über Meyer zu Rilke verfolgt, und es wurde zugleich dargetan, warum diese Art Gedichte „ein genaues Anschauen der Welt" (Schultz über George) voraussetzt, und wie sie auf ihm beruht. Und in einem soeben erschienenen Aufsatz über Rückert und Platen 8 wird die Frage ihres Verhältnisses zu Meyer und George, daneben auch zu Hof* „Erlebnisdichtung und Symbolismus", Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte X X X I I (1958), 71—98. „Epigonenlyrik: Rückert und Platen", Euphorion LV(1961),260—278.
148
mannsthal und Rilke, untersudit. An dem älteren Aufsatz wurde zu Redit kritisiert, daß er den Gegensatz von Erlebnisdichtung und Symbolismus verabsolutierte, nämlich das Symbolische in der Romantik und das Romantische im Symbolismus übersah — ein Fehler, der mir wohl nodi aus meiner Studentenzeit nachhing, der Zeit der sogenannten Geistesgeschichte, die Epochenbegriffe und Wesensbegriffe zur Deckung bringen wollte, und in der deshalb Bücher erschienen mit Titeln wie „Die Wesensbestimmung
der deutschen R o m a n t i k " .
Epochenbegriffe
sind
stets gemischte Begriffe; selbst wenn sie, wie üblich und nötig, nur den herrschenden Stil einer Epoche erfassen wollen, können sie nicht definieren, sondern nur beschreiben. U n d wie René Welleks Untersuchungen
der Begriffe „Barock",
„Romantik"
und „Realismus" gezeigt haben, 4 muß die Beschreibung zwar viele Merkmale aufnehmen, um allen wichtigen Produkten der Epoche gerecht zu werden, muß aber auch zugeben, daß die wenigsten dieser Merkmale allen Produkten eignen. Wesensbegriffe dagegen sind eindeutig und
definierbar.
Goethesdie
Dichtung läßt sich definieren als „vom Stoff entzündet und durch den Stoff organisiert"; Sdiillersche Dichtung als „von der Idee entzündet und durch die Idee organisiert"; und Platensdie oder Georgesche Dichtung als „von der Form entzündet und durch die Form organisiert". Diese drei dichterischen Typen werden in dem zweiten der genannten Aufsätze aufgestellt, jedoch wird dort audi betont, daß sie einander nicht notwendig ausschließen, so daß die Merkmale von zweien und sogar von allen drei bei einem Dichter auftreten können. Hofmannsthal, dessen V e r wandtschaft mit seinen Zeitgenossen George und Rilke mir unleugbar scheint, kann dennoch mit gleichem Recht von Schultz als Goethescher Dichter angesprochen werden, weil bei ihm Form
„The Concept of Baroque in Literary Scholarship", The Journal of Aesthetics and Art Criticism V (1946), 77—109. „The Concept of .Romanticism' in Literary History", Comparative Literature I (1949), 1—23, 147—172. „The Concept of Realism in Literary Scholarship", Neophilologus X L V (1961), 1—20. 4
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und Stoff gemeinsam das Werk organisieren. Die Verwandtschaft von Schiller und George, von der Schultz ausgeht, besteht vom Standpunkt dieser Typologie allerdings nur in einem Negativen: sie sind ungoethesche Dichter, denn der Stoff bildet bei ihnen nicht die organisierende Mitte. Für das 19. Jahrhundert mit seinen unsäglich komplizierten Verhältnissen wird es sich empfehlen, Epochenbegriffe zunächst nur als Etiketten, als fast inhaltsleere Marken zu verwenden und die einzelnen Dichter durch die genannten Wesensbegriffe zu charakterisieren. Viele deutsche Romantiker verbinden das Goethesche und Schillersche; C. F. Meyer verbindet das Sdiillersche und Platensche; und Hofmannsthal das Goethesche und Platensche. Gewiß, diese Definitionen abstrahieren von unendlich viel Eigentümlichem, Feinem, Einzigartigem; aber sie kommen der historischen Wirklichkeit doch näher als Epochenbegriffe, die ein für allemal auf eine bestimmte Wesensart festgelegt sind. Denn wie sollte man es erklären, daß die französischen Symbolisten sowohl die Erben der deutschen Romantik als auch die Väter des deutschen Symbolismus waren, wenn Romantik und Symbolismus zugleich als historische und als wesensmäßig eindeutige Begriffe verstanden werden? Das Platensche oder Georgesche, woran Meyer teil hat, läßt sich am deutlichsten an der allgemeinen Form der Gedichte erkennen: es äußert sich als statischer Stil. Meyers frühe Balladen sind ermüdend lange Erzählungen. Später hat er viele von ihnen auf einen Augenblick zusammengedrängt, also zu Bildern gemacht. (Unsere Auswahl bietet viele Beispiele; siehe ζ. B. N r . X X I V und X X V . ) Daß sie dabei kürzer und gedrungener wurden, ist einfach Sache der größeren Reife: Ökonomie, d. h. das Erreichen des Optimums im Verhältnis der Mittel zur beabsichtigten Wirkung, ist ein Kennzeichen aller großen Kunst. Was uns interessiert, ist die Veränderung der Struktur. Erzählungen werden durch den Fortgang der Handlung zusammengehalten, sie sind durch den Stoff organisiert. Gemälde dagegen werden komponiert durch Anordnung und Verteilung der Figuren, Linien, Farben, Lichter und Schatten. Analog ein dichterisches Bild: es 150
gewinnt Einheit durch parallelen oder antithetischen Satzbau, durch Wiederholung und Variation, und durch Mittel wie Anapher, Alliteration, Assonanz und Reim. Sogar rahmen kann man ein Gedicht, und Meyer hat nicht nur Rahmennovellen geschrieben, sondern auch Rahmengedichte (vgl. N r . X I und X X X I I I ) . Seine späten Gedichte unterscheiden sich von den frühen durch das Aufhalten des Flusses der Erzählung, durch das Erstarren und Gefrieren, und, daraus sich ergebend, durch die veränderte Struktur: ihr Gefüge ist mit spradilichen Mitteln geschaffen, sie sind durch die Form organisiert. Das Merkwürdige dabei ist, daß schon der junge Dichter diesen Stil anstrebte, daß er ihm aber nur bei ganz kleinen Gebilden gelang. In dem Gedicht „Der Schwimmer" (1860) sagte er, Heldentaten würden vom Dichter „mit des Wortes Macht / In einen leichten Ring gebracht / Und in ein Bild verwandelt" (vgl. Nr. X X X I I I , 1, Strophe 14). Dies Programm, die Verwandlung einer Handlung in ein Bild und Ersatz des zeitlichen Fortschreitens durch eine ringförmige, also statische Struktur, wird von dem Gedicht selbst allerdings durchaus nicht erfüllt. Der Gedanke jedoch, die Absicht, findet sich noch einmal mit aphoristischer Knappheit in der frühen Handschrift C F M 177.69 ν : „Was heißt es, einen Stoff behandeln? Ihn verwandeln!" Die Verwandtschaft mit Schiller liegt auf der Hand. Ein weiteres Merkmal des statischen Stils ist die Verselbständigung der Teile. Strophen und Verse sind in sich geschlossene Einheiten, Zeilensprung ist selten, und meist entspricht je ein Satz oder Satzteil einem Gedanken oder einer Vorstellung. Die Selbständigkeit der Teile bringt es mit sich, daß Verse und Strophen bei der Umarbeitung eines Gedichts fast nach Belieben vertauscht werden können, oft ohne auch nur ein Wort zu ändern, um einen neuen Zusammenhang oder Übergang herzustellen. (Nr. X X X V I I , 6 und 7 zeigen das sehr hübsch.) In einem vom Stoff her organisierten Gedicht, in einer Erzählung, wären solche Umstellungen unmöglich. Wir sagten vorhin, daß Meyers „Bilder" auf einen Augenblick zusammengedrängt sind. Eigentlich hieße es besser: sie sind 151
zeitlos; oder: sie stehen außerhalb der Zeit. Statische Gedichte sagen von Anfang bis Ende immer dasselbe; oder sie machen am Anfang eine Aussage, die dann nur noch variiert oder durch Beispiele, Gleidinisse oder Metaphern verdeutlicht wird. Dies bloß Abwandelnde oder Ausdeutende des statischen Gedichts ist bei Rückert, Platen und oft audi bei George deutlicher als bei Meyer, weil das Bildliche bei ihnen weniger Eigenwert hat. In Georges „Du schlank und rein wie eine flamme" zum Beispiel sind die Bilder Metaphern, d. h. rhetorische, nicht gesehene Bilder. Meyers Gedichte (außer den frühen, bis jetzt meist nur handschriftlich bekannten Sprüchen) haben mehr Stoff, sie haben eine greifbare Szene. Dennoch ist in einem Gedicht wie „Zwei Segel" (Nr. V, 3) der Sinn bereits am Anfang gegeben, eben in dem Symbol der zwei Segel, und wird im weiteren Verlauf nur noch verdeutlicht. Ähnlich „Der römische Brunnen" (Nr. I X , 7) : der Vorgang in den ersten zwei Versen wiederholt sich zweimal, und der Schluß bietet eine ausdrückliche Deutung des Sinnbilds. Weniger augenfällig, eigentlich nur dem genauen Kenner von Meyers Dichtung deutlich, ist die statische Struktur in „Der Ritt in den T o d " (Nr. X X I V , 2). Das Roß ist bei Meyer durchweg Symbol für das Schicksal. Wenn das Gedicht also mit dem zentaurischen Verwachsen-Sein des jungen Römers mit seinem Streitroß beginnt, so ist der Sinn, die Schicksalsbejahung, in diesem Bilde bereits vorweggenommen. Die nächsten vier Strophen sind ein Rückblick auf Vergangenes (wie im analytischen Drama wird die chronologische Erzählung vermieden durch die Aufnahme der Vergangenheit in den gegenwärtigen Moment), und der Schluß bringt wieder die Deutung des Sinnbilds. Die ringförmige Struktur, die sich der junge Dichter zum Ziel setzte, ist in diesem Gedicht gelungen: Das Ende kehrt zum Anfang zurück, nur ist der Sinn des Anfangs am Ende klar. Die Zeitlosigkeit des statischen Gedichts besteht also in einem Auf-der-Stelle-Treten, das sich von der Darbietung des Stoffes bis zu letzten stilistischen Feinheiten beobachten läßt. Was Wiederholungen und Variationen in „Zwei Segel" und „Der römische Brunnen" leisten, leistet im „Ritt in den T o d " der parallele Satzbau. 152
Ein letztes Merkmal bleibt zu nennen. Die Selbständigkeit der Teile im statischen Gedicht zeigt sich auch im Versbau, nämlich in der metrischen Regelmäßigkeit und der Gleichwertigkeit der einzelnen Versfüße. Im fließenden Gedicht dagegen wird das Metrum überspielt durch eine Melodie, so daß die Hebungen ständig wechseln an Länge, Höhe und Schwere und die Senkungen bald ganz wegfallen, bald mehrere Silben umfassen. Um den Unterschied zunächst an fast überdeutlichen Beispielen zu zeigen, seien die Anfänge zweier Morgenlieder von Eichendorff und Meyer zitiert: In der stillen Pracht In allen frischen Büschen und Bäumen Flüstert's wie Träumen Die ganze Nacht.
Mit edeln Purpurröten Und hellem Amselschlag, Mit Rosen und mit Flöten Stolziert der junge Tag. Die ungleiche Länge der Verse und die wechselnde Stellung der Hebungen verrät hier schon dem Auge, welches das Eichendorff sche Gedicht ist. Dazu kommt der lange Wellenschlag und die melodiöse Weichheit der fließenden Verse im Kontrast mit dem Paradeschritt und, fast möchte man sagen: der Kurzatmigkeit der statischen. Wer diesen Unterschied ins Gehör aufgenommen hat, wird ihn auch in den völlig gleichgebauten Anfangsstrophen zweier Abendlieder (wiederum von Eichendorff und Meyer) erkennen: Es war, als hätt' der Himmel Die Erde still geküßt, Daß sie im Blütenschimmer Von ihm nun träumen müßt'.
So stille ruht im Hafen Das tiefe Wasser dort, Die Ruder sind entschlafen, Die Schifflein sind im Port. 153
Hier ist nur nodi der unterschiedliche Satzbau greifbar. Alles andere muß man hören: die Pausen, die verschiedenen Höhenlagen der Tonvokale und die Dehnungen bei Eichendorff (wenn „ihm" nicht hoch und langgezogen gesprochen wird, ist der Sinn der Strophe verloren); und dagegen das fast völlige Gleichmaß und die Gleichwertigkeit bei Meyer, seine Gelassenheit, die aber dodi kein Legato erzeugt. Zugegeben, daß wir relativ unbedeutende Proben von Meyers Kunst herrlichsten Schöpfungen Eidiendorffs gegenübergestellt haben, daß also nicht nur ein Unterschied der Art, sondern auch einer des Wertes besteht. Aber die Unterscheidung von melodischen und rhythmischen Versen besteht dennoch zu Recht, und sie bewährt sich selbst bei jenen berühmten Gedichten Rilkes, die aus einem einzigen Satz bestehen und dennoch der Auflösung des Metrums ins Melodiöse widerstehen. In einer wertvollen Studie von Corrie Rosman 5 wird der Begriff des Statischen etwas anders gebraucht als von uns. U m Verwirrung zu vermeiden, soll darauf eingegangen werden. Das Dynamische ist für Rosman Ausdruck des Erlebens und zugleich die eigentlich dichterische Form. Das Statische dagegen ist primär die Form der bildenden Kunst, kann aber auch von Dichtern übernommen werden, die ihren Werken Formenstrenge
und
Anschaulichkeit zu geben wünschen. Bei Michelangelo fand C . F. Meyer eine Vereinigung von Statik und Dynamik, die er erfolgreich mit den Mitteln der Dichtung nachbildete, während seine Zeitgenossen, die Parnassiens, einseitig das Statische, die deutschen Barocklyriker ebenso einseitig das Dynamische ausbildeten. Rosmans Begriffe sind offensichtlich von Wölfflin übernommen. Für Statik sagt sie auch Plastizität, und diese ist ihr Kennzeichen der Renaissancekunst. Aber auch ihr Begriff der Dynamik ist aus der bildenden Kunst entlehnt. O b w o h l Rosman das Wort nicht gebraucht, ist das Dynamische für sie das Eruptive
—
Ausbruch des Erlebnisses in der Dichtung, analog dem Ausbruch Statik und Dynamik Haag 1949. 5
154
in Conrad
Ferdinand
Meyers Gedichten,
Den
der Bewegung aus dem Stein in der barocken Plastik. Gegen die Übertragung kunsthistorischer Begriffe auf die Literatur ist an sich nichts einzuwenden, wohl aber gegen ihre Verabsolutierung. Renaissance und Barock waren Phasen ein und derselben Bewegung, nicht grundsätzliche und polare Gegensätze; und Michelangelo hat nicht zwei „Stiltypen" in einer „höheren Synthese" vereinigt, sondern er stand historisch an dem Punkt, wo die Hochrenaissance in die Spätrenaissance überging, also barocke Züge anzunehmen begann. Bei der deutschen Barocklyrik ist es eher nodi deutlicher, daß sie eine Weiterentwicklung der Renaissancepoesie ist, und nicht deren radikales Gegenteil. Ihre Stilmittel — Aufzählung, Wiederholung, Variation, Antithese, Anapher, anatomisierend-zerlegende Beschreibung yon Menschen und Dingen usw. — stammen aus der Renaissance und fallen durchaus in Wölfflins Kategorien der Vielheit und der Selbständigkeit der Teile. Das Neue im Barock ist nur der übertreibende Gebrauch dieser Stilmittel sowie eine gewisse Heftigkeit des Tones. Dies Neue kann man, wie Wölfflin selbst, aus einer veränderten Sehweise ableiten, oder man kann es einem veränderten Lebensgefühl zuschreiben; man kann es aber auch als bloße Weiterbildung einer Kunstrichtung auffassen, die gewissermaßen mit Naturnotwendigkeit reift und ihre äußersten Möglichkeiten entwickelt; und man kann schließlich statt einer historischen eine systematische Erklärung geben und sagen, daß im Barock ein stärkerer Ausdruckswille herrscht, so daß statische Formen durch den gesteigerten Druck des Gehalts ins Dynamische gedrängt oder dazu umgemodelt werden. Wie man sich auch zu diesen Fragen stellt, das Statisch-Plastische und das Dynamisch-Eruptive sind keine radikalen Gegensätze, sondern Stufen einer Entwicklung. Ganz anders liegen die Dinge im 19. Jahrhundert. D a stehen Goethe, Schiller und Platen am Anfang als Verkörperungen von Dichtarten, die das ganze Jahrhundert hindurch als konkurrierende Möglichkeiten bestehen: Platen als Vorbild des Statischen, Schiller als Beispiel des Dynamischen (typologisch ist er den Barockdichtern durchaus verwandt) und Goethe als Begründer der neuen, romanti155
sehen Lyrik in Deutschland. Diese ist nun wirklich ganz anders als die statische Dichtung, nämlich fließend und melodiös. Während Schillers leidenschaftliches Anliegen sich auf die Form wirft und eine rhetorisch-statische Kunstsprache ins Dynamische steigert, durchdringt Goethes Gefühl den Stoff und eignet sich ihn an als erlebte Wirklichkeit. Im romantischen Gedicht ist die Form nicht vorgegeben, sondern sie bildet sich gewissermaßen von selbst als Funktion der Aussage. Emil Staiger, der unter Lyrik romantische Lyrik versteht, sagt deshalb zu Recht, das höchste Lyrische sei dann erreicht, „wenn nicht nur jeder Dichter, sondern jedes Lied seinen eigenen Ton, seine eigene Strophe, sein eigenes Maß hat", ja wenn es „überhaupt in keiner metrischen Rechnung mehr aufgeht"." Von dieser schmiegsamen Form findet sich bei Meyer so gut wie nichts. Obwohl er in der romantischen Tradition begann, sind seine Verse von Anfang an hart und gleichmäßig. Seine Helden waren Schiller und Platen. An ihnen hat er sich geschult und so den Stil seiner Reife entwickelt. An Schiller bewunderte er vor allem die Darstellung von Gedanken durch Gestalten, an Platen Reinheit und Gleichmaß der Sprache. Unsere Auffassung des Dynamischen als eruptive Steigerung des Statischen wird bestätigt durch die Tatsache, daß sich eine dynamisch-heftige Sprachgebung bei Meyer am stärksten in seinen historischen Tableaus findet, also den Umformungen seiner frühen moralisierenden Erzählungen: die Handlung erstarrt zum Bild, die Tat zur Gebärde, aber die innere Bewegung, die Idee, drängt über die statische Form hinaus. Rosmans Beispiele für Meyers Verwandtschaft mit dem Barock sind zum großen Teil solchen Gedichten entnommen. (Beispiele in der vorliegenden Sammlung: N r . XIII, XIV, XV, XXIV, usw.) Zusammenfassend läßt sich unser Gebrauch des Wortes „statisch" von dem Rosmans wie folgt abgrenzen: Für Rosman ist das Statische eigentlich die Form der bildenden Kunst; wir halten es für eine echte Art der Dichtung. Rosman unterscheidet das Statische als reine Form vom Dynamischen als Ausdruck des « Grundbegriffe 156
der Poetik, Zürich 1946, S. 22 f.
Lebens; wir unterscheiden nidit zwischen Erlebnis und Dichtung, sondern zwischen drei Arten dichterischen Erlebens und dichterischen Ausdrucks. Statt Rosmans Gegenbegriff des Dynamischen setzen wir den des Fließenden, weil dieser die Dichtart bezeichnet, die im 19. Jahrhundert vorherrschte und der Meyer widerstand. Und schließlich trennen wir uns von Rosman in der Bewertung, da uns das Statische nicht als poetisch minderwertig erscheint, das der Belebung durch das Dynamische bedarf. Meyer gilt uns also durchaus als Lyriker, indem wir behaupten, daß dichterisches Erleben sich ebenso gut in der statischen wie in der dynamischen oder der fließenden Form manifestieren kann. Während der wissenschaftliche Betrachter sich früher hauptsächlich mit den Quellen, den biographischen Anlässen und der Entstehungsgeschichte der Dichtung beschäftigte, richtet er heute sein Augenmerk meist auf die Form und auf das Anliegen des Dichters. Wir empfinden das als Fortschritt, können uns aber doch nicht verhehlen, daß audi die neuere Betrachtungsweise — anders, aber nicht weniger als die alte — hinter das Werk greift und gewissermaßen dem Dichter auf die Schliche zu kommen sucht. Bei meinem Studium C. F. Meyers habe ich hauptsächlich auf die wiederkehrenden Motive in seiner Dichtung geachtet und deren Symbolsinn zu ergründen gesucht. D a auch einige Anmerkungen in der vorliegenden Ausgabe diese Methode empfehlen, darf ein Wort über ihre Grenzen und Gefahren nicht fehlen. Der symbolische Kern von Meyers Gedichten bezieht sich immer auf das Innenleben des Dichters. Die Konzentration auf Meyers Symbole ist also berechtigt, insofern sie seinem eigensten Interesse entspricht, ihn von dem Vorwurf des bloßen Ästhetentums reinigt und ihn als echten Lyriker erweist. Wenn wir nun aber ausschließlich nach dem innersten Anliegen fragen, fallen die Gedichte gewissermaßen in sich zusammen. Die Liebesgedichte haben keine Geliebte mehr, die Reisegedichte erzählen nicht mehr von fremden Ländern und die Balladen handeln nicht mehr von historischen Begebnissen. Alles wird Zwiesprache des Dichters mit sich selbst. Man soll also das Forschen nach dem Geheimnis des Dichters nicht zu weit treiben. 157
Die Gegenstände seiner Gedichte waren Meyer relativ gleichgültig; aber er hat sich dennoch unendlich bemüht, diese Gegenstände zur höchsten Prägnanz und Anschaulichkeit zu bringen. J a , soweit Dichten Arbeiten ist, galt sein Dichten dem Feilen der Sprache und der Darstellung der Stoffe. Audi darin zeigt sidi seine Rückkehr zur Tradition der Renaissance. Er war ein Poeta, ein Macher oder Verfertiger, dessen Gedichte den Charakter von Produkten haben, ähnlich den Werken eines Teppichwebers oder Töpfers. Eine bunte Welt wird vorgestellt, eine Vielfalt von Gestalten und Ereignissen, die erfreuen, rühren und belehren soll, und die zunächst nicht dazu einlädt, nach dem Anteil des Dichters zu forschen: In diesen Liedern suche du Nach keinem ernsten Ziel! Nimmt man diese Verse aus „Alles war ein Spiel" wörtlich, so kann man sagen, die Behandlung der Stoffe sei das, was Meyer für den Leser gemacht hat, und der in ihnen verborgene Symbolsinn sei das, was er für sich selber gemacht hat. Aber das ist nur im oberflächlichsten Sinne wahr. Jeder gute Handwerker arbeitet nicht nur für seinen Kunden, sondern vor allem zu seiner eigenen Befriedigung, und so ist auch der Werkcharakter von Meyers Gedichten Ausdruck einer echten Schaffenslust. Andrerseits ist ihr Symbolsinn nicht nur für den Dichter gemeint. Ich teile nicht die häufig vorgetragene Meinung, Meyer habe sich aus Ängstlichkeit oder Zartsinn maskiert, um dem Leser die seelischen Werte seiner Gedichte zu verbergen. Wie jeder Dichter wollte audi Meyer sich mitteilen, nur ist die Form seiner Mitteilung nicht das Bekenntnis, sondern das Symbol. Der Stoff hat also eine doppelte Funktion in Meyers Gedichten: er verleiht ihnen die Solidität gewerblicher Produkte, und er dient zum Ausdruck des Innerlichen. Meyer war so sehr Symbolist, daß er sidi ohne die geeigneten Stoffe überhaupt nicht, oder nur stammelnd und höchst ungenau hat ausdrücken können. Deshalb also die ständige Sudie nach Gegenständen, die seinem Anliegen ge158
maß waren. E r brauchte sie nicht bloß als Beispiele, um bereits Besessenes zu erläutern oder zu erklären, sondern um seiner selbst habhaft zu werden, um seine Gedanken zu konkretisieren und damit zu bereichern und zu klären. N u r in seinen schlechten Gedichten erfüllt der Stoff diese Aufgabe nicht. D a bleibt er bloße Umhüllung des Gehalts, der ebenso gut oder besser mit dürren Worten ausgesprochen wäre: solche Gedichte sind Allegorien. Von ihnen durfte Hofmannsthal sagen, es begegneten uns darin nicht Menschen, sondern „Wämser und Harnische, aus denen Stimmen reden". 7 Hofmannsthals Urteil über Meyer ist jedoch überhaupt sehr streng. Es verrät eine Ungeduld mit dem Stofflichen, die dem modernen Geschmack entspricht. Wir haben eine Gier nach dem Seelischen und verlangen nach den verborgensten Zuckungen des Herzens. Dem sind die Dichter entgegengekommen, oder sie haben selbst den Drang nach immer größerer Verinnerlidiung gespürt, wie jede Modernisierung eines antiken oder überhaupt alten Stoffes seit Goethe beweist. Ein Dichter wie Rilke hat sidi zerrissen, um der Blutlust der modernen Innerlichkeit zu genügen. Im Vergleich mit Rilke scheint Meyers Behandlung seiner Stoffe allerdings oft äußerlich, langweilig, pedantisch. Aber im Grunde ist das eine Frage des Könnens oder, wie schon gesagt, des Gelingens einzelner Gedidite. M a n muß also unterscheiden. Ein Gedicht wie „Der Marmorknabe" ist uns heute so schal, daß es nur gewinnen kann, wenn wir es gewissermaßen demontieren, von der Anekdote absehen und den seelischen Kern, das Gefühl der Einheit von Eros und Thanatos, herauslösen. Anders „Die tote Liebe": hier ist das Seelische in solcher Weise durch die Beschreibung des Ganges nach Emmaus dargestellt, daß es überhaupt nur in dieser Verbindung und innerhalb des Gedichts besteht. Wer diesen Fragen weiter nachgehen will, sei auf meine Hugo von Hofmannsthal, „C. F. Meyers Gedichte", Wissen und Leben, Neue Schweizer Rundschau, Jahrgang 18, X X I X (1925), 983. Nachgedruckt in Gesammelte Werke, Prosa IV, hrsg. von Herbert Steiner, Frankfurt 1955, S. 279. 7
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Deutungen der Gedichte „Nach einem Niederländer" und „Stapfen" verwiesen. 8 Bei jenem glaubte idi midi berechtigt, einigermaßen derb zuzugreifen; diesem hoffe ich seine Unantastbarkeit bewahrt zu haben. Dies Nachwort darf nicht schließen ohne den Ausdrude meines lebhaften Dankes für freundlich gewährte Hilfe. Die Yale University hat meine Lehrpflichten erleichtert, um den Abschluß der Arbeit zu beschleunigen, und die Verwaltung der Zentralbibliothek in Zürich hat mich seit Jahren unterstützt. Ohne ihr Entgegenkommen wären weder die vorliegende Ausgabe nodi überhaupt meine Studien über C. F. Meyer möglich gewesen.
8
„Conrad Ferdinand Meyers ,Nadi einem Niederländer'",
und Hüter,
Festschrift
für Hermann
].
Weigand,
Wächter
New Haven (De-
partment of Germanic Languages, Yale University) 1957, S. 108—120. — „Conrad Ferdinand Meyers ,Stapfen'", Die deutsche Lyrik,
Form
und Geschichte, hrsg. von Benno von Wiese, Düsseldorf (August Bagel) 1956, S. 2 3 0 — 2 4 2 .
160
ÜBER E I N R I C H T U N G DER
UND
BENUTZUNG
AUSGABE
1. Die Ausgabe ist zu pädagogischen Zwecken bestimmt. Sie erstrebt deshalb nirgends Vollständigkeit und vermeidet sie, wo sie der eigenen Forschung des Benutzers vorgreifen würde. 2. Die hier dargebotenen Texte und Varianten entstammen den von Meyer selbst veranstalteten Sammlungen ZB, RB und G 1 — G 5 ; den Zeitschriften, worin er Gedichte einzeln oder in kleinen Gruppen veröffentlichte; und den Hss. seines Nachlasses, der sich größtenteils in der Zentralbibliothek Zürich befindet. 3. Die Hss. des Nachlasses durften jedoch nur mitgeteilt werden, soweit sie schon anderwärts gedruckt sind. Eine Liste der Werke, aus denen solche Drucke für die vorliegende Ausgabe entnommen wurden, findet sich im Verzeichnis der Abkürzungen. 4. Es war deshalb nicht immer möglich, die für die Entwicklung eines Gedichtes charakteristischsten Fassungen zu bieten. Jedoch verweisen die Anmerkungen häufig auf die hier fehlenden Fassungen — in der Hoffnung, dadurch zum Studium des Hss. selbst anzuregen. Es ist erleichtert durch die Großzügigkeit, mit der die Verwaltung der Zentralbibliothek die Anfertigung von Photokopien und Mikrofilmen erlaubt. 5. Hans Zellers Gesamtausgabe des lyrischen Nachlasses soll im Rahmen der historisch-kritischen Ausgabe (Benteli-Verlag, Bern) in den Jahren 1962—68 erscheinen. Bis sie vorliegt, muß man sich mit den Angaben in meinem Buch (siehe Abkürzungen) behelfen, wo für eine große Zahl von Meyers Gedichten sämtliche Fassungen chronologisch verzeichnet sind. Die häufigen Verweise auf mein eigenes Buch möge man also entschuldigen; sie dienen dem Anschluß an Zellers Ausgabe. 6. Wenn in den Anmerkungen nicht anders angegeben, ent11
Deutsche Texte 8
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stammen Gedichte oder Fassungen mit dem Datum 1860 der Handschrift BB, solche mit dem Datum 1864 dem Drudi ZB, solche mit dem Datum 1870 dem Druck RB, solche mit den Daten 1882, 1883, 1887, 1891, 1892 der ersten bis fünften Auflage der Gedichte. Für alle anderen Texte ist der Fundort in den Anmerkungen genannt. Um Verwirrung zu -vermeiden, sei bemerkt, daß Gedichte aus RB in meinem Buch mit der Jahreszahl 1869, hier dagegen mit 1870 versehen sind. R B erschien im Dezember 1869 mit dem Datum 1870, und in meinem Buch ging es um Feststellung der Entstehungszeit. 7. Mit fünf Ausnahmen standen alle Gedichte, die wir G entnommen haben, schon in der Erstausgabe. Das Datum nach dem Titel bezeichnet also nicht notwendig das erste Erscheinen des betreffenden Gedichts, sondern die endgültige Version. Wann das Gedicht zuerst in G auftrat, zeigen die Varianten; nur wo keine Varianten gegeben sind, bezeichnet das Datum zugleich Erstdruck und endgültige Version. Beispiel: „Thespesius" (1891) hat eine Variante aus G 1 —G 3 ; also erschien es zuerst 1882 und bekam in G 4 seine endgültige Gestalt. Dagegen hat „II Pensieroso" (1891) keine Varianten; also erschien es zuerst in G 4 , und zwar in endgültiger Gestalt. Die fünf Ausnahmen: „Zur neuen Auflage" und „Chor der Toten" erschienen erstmals in G 2 ; „In einer Sturmnacht" in G 3 (trotz dem Datum 1892!); „Ii Pensieroso" und „Mein Jahr" in G 4 . 8. Moser hat die meisten Zs.-Drucke gesammelt und nachgedruckt. Fremde und eigene Nachträge zu Moser sind verzeichnet in meinem Buch, S. 260. Dazu kommen noch die Nachträge von Frey in Briefe II, 179, Anm. 2 und von Jonas Frankel im Euphorion X X I V (1922), 138—162. Unsere Ausgabe beruht meist auf Mosers Abdrucken, obwohl diese nicht immer zuverlässig sind. Da Zellers kritische Ausgabe bevorsteht, lohnen sich Kosten und Mühe einer vollständigen Kollationierung nicht. Sie wurde nur vorgenommen, wo mir die Zss. selbst leicht zugänglich waren. 162
9. Die Schreibung der Hss. und Drucke wurde nur beibehalten, wo sie die Sprechweise oder Reimtechnik des Dichters zu bezeichnen scheint. Sonst ist die Rechtschreibung modernisiert. 10. Walther Lindens Wandlungen der Gedichte Conrad Ferdinand Meyers (Berlin 1935) ist die einzige Studienausgabe, die der vorliegenden vorausging. Sie ist längst vergriffen, bietet fast nichts aus den Hss., druckt meist nur zwei, gelegentlich drei Fassungen eines Gedichts und beschränkt sidi auf die relativ einfachen Entwicklungen, die in unsrer ersten Gruppe, „Veränderung", belegt sind. Unsre Ausgabe dagegen möchte nicht nur das Reifen von Meyers Können, sondern auch die Entfaltung seiner poetischen Motive und den inneren Zusammenhang scheinbar völlig verschiedener Gedichte zur Anschauung bringen. 11. Die Anmerkungen sind mit Absicht unsystematisch gestaltet. Manche befassen sich mit der Entstehungsgeschichte, andre verweisen auf Quellen und wieder andre erwägen Fragen des Gehalts, der Deutung oder der ästhetischen Wertung. Der Benutzer soll angeregt werden, die verschiedensten Aufgaben der Literaturwissenschaft anzupacken: die Suche nach Quellen, Vorbildern, Vorlagen und Einflüssen nicht weniger als Formanalysen, Gehalt-Gestalt-Probleme und Fragen der literarhistorischen Einordnung. Er wird solche Studien auch bei den Gedichten anstellen, wo die Anmerkungen nicht ausdrücklich dazu auffordern, und er wird verstehen, daß die Bemerkungen des Herausgebers selten oder nie die Sadie erschöpfen, eben weil ein Übungsbuch und kein Lehrbuch geschaffen werden sollte. Besonders verwiesen sei noch auf Meyers Verhältnis zur bildenden Kunst. Schon Rosenfeld hat gezeigt, und einige unsrer Anmerkungen belegen es im speziellen Fall, daß Meyer nicht selten von einer literarischen Quelle ausging und entweder eine bildliche Vorlage fingierte oder ein wirklich bestehendes Kunstwerk erst nachträglich heranzog. Andrerseits gibt es Gedichte, die sein eindringliches Sehen und Verstehen von Kunstwerken bezeu11
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gen. Hier bleibt noch manches zu erforschen. Das Gleiche gilt von Meyers Verhältnis zur Geschichte. Die Quellen seiner Balladen sind noch längst nicht alle bekannt. Seit Kraeger 1901 über dies Thema schrieb, haben nur Nußberger und Helene von Lerber (Der Einfluß der französischen Sprache und Literatm auf Conrad Ferdinand Meyer und seine Dichtung, Bern 1924) im Anhang ihrer Bücher, sowie Ludwig Gorm in der Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte XVIII (1910), 41—54 Nachträge geliefert. 12. Die gleiche pädagogische Rücksicht wie bei den Anmerkungen hat bei den Literaturangaben gewaltet. Das Verzeichnis der Abkürzungen bietet eine erste Anleitung, und manches andere, besonders entlegene Titel, ist in den Anmerkungen genannt. Grundsätzlich jedoch soll der Benutzer die einschlägige Literatur selbst finden. Verwiesen sei nur noch auf die in Deutschland wohl wenig bekannte Bibliographie von Interpretationen deutscher Gedichte, die Bernhard Blume und Adolf E. Schroeder in den Monatsheften (Wisconsin) XLIX (1957), 241—263 veröffentlichten.
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ABKÜRZUNGEN BB
= Bilder und Balladen von Ulrich Meister. Dies ist der Titel der Hs. CFM 1, einer autographen Sammlung von 101 Gedichten aus dem Jahr 1860. Ulrich war der Mädchenname von Meyers Mutter, Meister ist eine Anspielung auf den Helden von Goethes Roman. CFM = Signatur der Meyer-Hss. in der Zentralbibliothek Zürich. FB = Frühe Balladen von Conrad Ferdinand Meyer, hrsg. von Martin Bodmer, Leipzig 1922. G 1 —G 5 = die fünf von Meyer selbst besorgten Auflagen seiner Gedichte, Leipzig (Haessel) 1882, 1883, 1887, 1891, 1892. RB = Romanzen und Bilder, Leipzig (Haessel) 1870. ZB = Zwanzig Balladen von einem Schweizer, Stuttgart (Metzler) 1864. Titelauflage: Balladen von Conrad Ferdinand Meyer, Leipzig (Haessel) 1867. Bebler = Emil Bebler, Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Kinkel, Zürich 1949. Betsy = Betsy Meyer, Conrad Ferdinand Meyer in der Erinnerung seiner Schwester, Berlin 1903. Bettelheim = Louise von François und Conrad Ferdinand Meyer. Ein Briefwechsel, hrsg. von Anton Bettelheim, 2. Aufl., Berlin und Leipzig 1920. Bohnenblust = Theodor Bohnenblust, Anfänge des Kiinstlertums hei C. F. Meyer. Studie auf Grund ungedruckter Gedichte, Leipzig 1922. Brecht = Walther Brecht, Conrad Ferdinand Meyer und das Kunstwerk seiner Gedichtsammlung, Wien und Leipzig 1918. Briefe = Briefe Conrad Ferdinand Meyers nebst seinen Rezensionen und Aufsätzen, hrsg. von Adolf Frey, 2 Bde., Leipzig 1908. 165
Robert Faesi, Conrad Ferdinand Meyer, 2. Aufl., Frauenfeld 1948. Jonas Fränkel, „Ein schweizerischer DichterAlmanach", Euphorien X X I V (1922), 138 bis 162. Adolf Frey, Conrad Ferdinand Meyer. Sein Leben und seine Werke, 4. Aufl., Stuttgart und Berlin 1925. Heinrich Henel, The Poetry of Conrad Ferdinand Meyer, Madison (Wisconsin) 1954. Erich Hock, Motivgleiche Gedichte von Walther von der Vogelweide bis Josef Weinheber, 2 Hefte, 3. Aufl., Bamberg und Wiesbaden 1955. Conrad Ferdinand Meyer, Leuchtende Saat. Eine neue Sammlung von Gedichten und Sprüchen, hrsg. von Friedrich Kempter, Engelberg (Württ.) 1951. Eduard Korrodi, „Conrad Ferdinand Meyer. Zu seinem hundertsten Geburtstag", Die Literarische Welt, I, 3 (23. Oktober 1925). Heinrich Kraeger, Conrad Ferdinand Meyer. Quellen und Wandlungen seiner Gedichte, Palaestra XVI, Berlin 1901. C.-F. Meyer. La Crise de 1852—1856. Lettres de C.-F. Meyer et de son entourage, hrsg. von Robert d'Harcourt, Paris 1913. August Langmesser, Conrad Ferdinand Meyer. Sein Leben, seine Werke und sein Nachlaß, 3. Aufl., Berlin 1905. Magazin für die Literatur des In- und Auslandes (siehe Carl Diesch, Bibliographie der germanistischen Zeitschriften, Leipzig 1927, Nr. 2171). Neue Monatshefte für Dichtkunst und Kritik (Diesdi, Nr. 2542).
Morgenblatt Moser Nußberger Rosenfeld
Speyer
Wandlungen
= Morgenblatt für gebildete Leser (Diesdi, Nr. 2061). = Heinrich Moser, Wandlungen der Gedichte Conrad Ferdinand Meyers, Leipzig 1900. = Max Nußberger, Conrad Ferdinand Meyer. Leben und Werke, Frauenfeld 1919. = Hellmut Rosenfeld, Das deutsche Bildgedicht. Seine antiken Vorbilder und seine Entwicklung bis zur Gegenwart, Palaestra CIC, Leipzig 1935. = Conrad Ferdinand Meyers Gedichte an seine Braut Luise Ziegler, hrsg. von Constanze Speyer, Zürich und New York 1940. = Wandlungen der Gedichte Conrad Ferdinand Meyers, hrsg. von Walther Linden, Literarhistorische Bibliothek XV, Berlin 1935.
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KOMMENTAR I. Außer der „Felswand" bietet unsre Ausgabe nodi sieben Beispiele für Meyers höchst eigentümliche und abwechslungsreiche Behandlung des Blankverses; daneben auch einige Gedichte in ungereimten vier- bzw. sechsfüßigen Jamben sowie ungereimten vier- bzw. fünffüßigen Trochäen. Carl Spitteier („Conrad Ferdinand Meyers Gedichte", Gesammelte Werke, hrsg. von Werner Stauffacher, Zürich 1947, VII, 494) sprach mit der größten Bewunderung von Meyers fünffüßigen Jamben: er habe ihnen Lyrik entlockt — eine Kunst, die die deutschen Klassiker noch nicht besessen hätten. Für die Entstehungszeit von Meyers reimlosen Gedichten vgl. mein Buch, S. 77. II. Die Fassung von 1865 erschien im Morgenblatt, S. 663. Hier nach Moser, S. 47 f. III. „Bei der Jahreswende" schickte Meyer an Eliza Wille am 26. Dezember 1874. Hier nach Briefe I, 148 f. Die Hs. gibt nur Tag und Monat an; Frey (ebenda) hat die Jahreszahl 1874 richtig ergänzt. Fränkel, S. 161 glaubt, die Hs. sei ein Jahr später, Ende 1875, geschrieben. Er hat unrecht, denn die verbesserte zweite Fassung „Neujahrsgeläute" ist bereits April 1875 entstanden, wie Hs. CFM 48.3 zeigt. „Neujahrsgeläute" erschien in Das Schweizerhaus VI (auf das Jahr 1877), 128 f. Hier nach Moser, S. 14. Zu Meyers Neujahrsgedichten vgl. W. Linden in der Einleitung zur Meyer-Ausgabe des Verlages Bong, S. XLIV bis XLVII sowie mein Buch, S. 311, Anm. 54. IV. „Unter schwankender Ampel" steht in Hs. CFM 120. Hier nach dem Faksimile bei Wilhelm Holzamer, Conr. Ferd. Meyer, Berlin und Leipzig (o. J.), S. 24. Nach den Schriftzügen zu ur168
teilen, entstand die (autographe) Hs. nicht lange vor der verbesserten Fassung „In einer Sturmnacht". Der Erstdruck der letzteren in Deutsche Dichtung II (1887), 2 ist in den Varianten mit D D bezeichnet. Das Gedicht findet sich schon in G 3 , nicht erst G 4 , wie Moser, S. 20 fälschlich sagt. Vgl. Brecht, S. 113; Nußberger, S. 255; Briefe I, 366. V. „Abendbild" trägt in der Hs. das Datum 8. März 1870. Hier nach Langmesser, S. 88, der jedoch in Vers 7 fälschlich „So" f ü r „Es" liest. Audi die zweite, titellose Fassung stammt aus einer datierten Hs. (4. August 1875). Hier nach Speyer, S. 35, jedoch mit Berichtigung des entstellenden Lesefehlers „auf dem Kahn der Flut" in Vers 2. VI. N r . 1 erschien in den Monatsheften IV (1876), 137. Hier nach Moser, S. 41 f. N r . 2 erschien in der Deutschen Dichterhalle X I I (1882), 17 (Moser, S. 42 gibt fälschlich das Datum 1883) und kurz darauf in G 1 . Die einzige Variante ist „macht ich" statt „sdiloß ich" im ersten Vers. Vgl. unten die Anmerkung zu XXXIV. VII. In einem Brief an seine Schwester Betsy vom 21. Februar 1877 (Frey, S. 278) erwähnt Meyer ein Gedicht „O scheide nicht". So lautet der Titel in der von Betsy geschriebenen Hs. C F M 103.1. Sie ist von Meyer selbst durdikorrigiert und in Titel und Text in fast völlige Übereinstimmung gebracht mit dem Druck in der Deutschen Dichterhalle VI (1877), 22. Dieser hier wiedergegeben nach Moser, S. 45. Schon viel früher, im Frühjahr 1863, schrieb Betsy an ihren Bruder aus Stuttgart: „Das Reiserößlein springt nidit mehr wie früher" (Frey, S. 166). Das Bild von den Rossen der früh wie spät im Leben reiselustigen Schwester gehört also zu den zahlreichen Motiven, die Meyer schon früh besaß, aber erst nach langen Jahren in gültigen Gedichten ausprägen konnte. Die einzige andere Hs. des Gedichts, C F M 103.2, schrieb Meyer 169
selbst bei Vorbereitung von G 1 , also ca. 1881—82. Der Text ist fast identisch mit G 1 . VIII. Die zwei ältesten Fassungen, in BB (1860) und in Hs. CFM 171e (Eintrag zum 19. Juli 1871) durften nicht mitgeteilt werden. Die hier als Nr. 1—6 bezeichneten Fassungen nach Emil Staigers Druck im Trivium I, 2 (Jan. 1943), 24—43 (wiederholt in Meisterwerke deutscher Sprache aus dem neunzehnten Jahrhundert, 2. Aufl., Zürich 1948, S. 204—224). Sie stehen in den Hss. CFM 105.3, 105.1, 105.2, 105.5, 105.6, 105.7, in der soeben genannten Ordnung. Außerdem findet sich ein Bruchstück des Gedichts in Hs. CFM 76.2©, nämlich eine dreizeilige Strophe von genau der Form wie in unsren Nr. 1—3. Es gehört also zur selben Schaffensstufe wie diese Fassungen, ist jedoch etwas später geschrieben, weil in ihm die Liebe selbst das Wichtigste zu sagen hat (vgl. Staiger, S. 37). Es bildet demnach den Ubergang von Nr. 3 zu Nr. 4. Dieses Bruchstück läßt sich datieren, denn auf der recto-Seite der Hs. steht eine Fassung des Gedichts „Ja", die 1873 in der Deutschen Dichterhalle veröffentlicht wurde (vgl. Moser, S. 19). Da die oben genannte Fassung der „Toten Liebe" aus dem Jahr 1871 wesentlich unreifer ist als unsre Nr. 1—3 und das Bruchstück, dürften diese vier Hss. alle im Jahre 1873 entstanden sein. In Hs. CFM 105.6 (unsre Nr. 5) wurde nach Staiger, S. 29 das Datum „1. (oder 7.) Juli 1878" von fremder Hand beigefügt. Diese Fassung erschien unverändert in der Deutschen Dichterhalle VIII (1879), 262. (Nachdruck bei Moser, S. 82.) Bei der Ähnlichkeit der Fassungen 4 und 5 ist anzunehmen, daß beide 1878 oder 1879 entstanden. Am Anfang der Hs. CFM 105.7 (unsre Nr. 6) stehen folgende vier Verse, vom Dichter durchstrichen: Im Schatten wir, das Dorf im Sonnenkuß — So ging das Jüngerpaar nach Emmaus Da, leise redend, zwischen ihnen schritt, Dem sie gefolgt und der den Tod erlitt. 170
Nr. 6 wurde bei der Vorbereitung von G 1 geschrieben und ging mit nur einer Änderung („Jüngern" für „Zweien" in Vers 31) in G 1 über. Die endgültige Fassung brachte erst G 3 . Bohnenblust, S. 47 gibt eine kurze Paraphrase der Fassung von 1860 und zitiert zwei Strophen daraus. Schon am 28. April 1853 schrieb Meyer an Cécile Borrel, Lukas 24,32 zitierend: „Notre cœur n'a-t-il pas brûlé?" (vgl. Brecht, S. 100). Auch „Die tote Liebe" entstammt also ältesten Konzeptionen des Dichters. Rudolf Bordiardt hat das Gedicht als Meyers „einziges vollkommen gediegenes und Unsterblichkeit wertes" in seinen Ewigen Vorrat deutscher Poesie aufgenommen. IX. Außer den Drucken in R B und G sind zwölf Hss. bekannt. Vier von den Hss. hat Faesi, eine hat Korrodi mitgeteilt. Faesi setzt fälschlich unsre Nr. 3 vor Nr. 2. Die Sdiriftzüge des Dichters sowohl wie die Gestalt des Gedichts verweisen Nr. 2 in die Zeit um 1860. Für Anordnung und Datierung der Fassungen vgl. mein Buch, S. 293, Anm. 23. Die hier gedruckten sieben Fassungen sind in meinem Buch als Nr. 1, 2, 4, 6, 8, 11 und 12 bezeichnet. Die Varianten zu Nr. 2 und 3 geben vom Dichter gestrichene Textteile. Bei Nr. 5 ist es umgekehrt. Hier gibt unser Druck den ursprünglichen Text der von Betsy geschriebenen Hs. wieder, während die Varianten die Korrekturen des Dichters bieten. Auch der Titel ist vom Dichter hinzugefügt. Warum hier umgekehrt verfahren wurde, wird der Benutzer ohne Mühe erkennen. In Nr. 3, Vers 9 hat die Hs. „nieder", und in Vers 10 „die Schale" (statt „wieder" und „der Schale" in Faesis Drudi). In Nr. 4, Vers 12 hat die Hs. „fluten" (nicht „flutet", wie Korrodi und Hock drucken). Ausnahmsweise sei die (zum Teil recht dürftige) Literatur zu diesem schon fast zu Tode interpretierten Gedicht zusammengestellt: Kraeger (1901), S. 206 f. Korrodi (1925). Kurt Oppert, „Das Dinggedicht. Eine Kunstform bei Mörike, Meyer und Rilke", Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte IV (1926), 777. Rosenfeld (1935), S. 219—221. 171
Johannes Pfeiffer, Umgang mit Dichtung, Leipzig 1936, S. 32 f. Max Dessoir, „Der römische Brunnen", 2s. f . Ästhetik XXXI (1937), 61—63. Faesi (1948), S. 61—70. Corrie Rosman, Statik und Dynamik in Conrad Ferdinand Meyers Gedichten, Den Haag 1949, S. 78—82. Fritz Lockemann, Das Gedicht und seine Klanggestalt, Emsdetten (Westf.) 1952, S. 200—204. W. Schneider, Liebe zum Gedicht, Freiburg 1952, S. 114—121. Hock (1953), II, 56—58. Joachim Kröll, „Über den Stil zweier Gedichte", Muttersprache, 1953, S. 150—153. Robert Hippe, „Vier Brunnengedichte", Wirkendes Wort IV (1953/54), 268—274. Oswald Kleinschmidt, „Das Lautgewebe im Gedicht", in: Das Manuskript, Wilhelmshaven 1954. Rudolf Zitzmann, „Deutsche Barocklyrik im Unterricht der Oberstufe", Wirkendes Wort V (1954/55), 165—172. Anneliese Bach, „Das Motiv des Brunnens in der deutschen Lyrik vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart", Germanisch-Romanische Monatsschrift XXXVII (1956), 221 f. H. W. Belmore, „Two Poems on a Fountain in Rome", German Life and Letters, New Series, X (1956/57), 49—53. Ursula Wiegers, Der Brunnen in der deutschen Dichtung, Diss. Bonn 1957. Frank G. Ryder, „,Der römische Brunnen' — Sound Pattern and Content", Monatshefte (Wisconsin) LII (1960), 235 bis 241. X. Das Gedicht entstand in sechs Arbeitsperioden. Die erste Periode (1864) ist durch fünf Hss. (CFM 80.1—80.5) vertreten; die zweite (1866) durch zwei Hss. (CFM 80.6 und 80.7); die dritte (1869) durch drei Hss. (CFM 80.8—80.10); die vierte durch den Druck in RB (1870); die fünfte durch den Drude in der Deutschen Dichterhalle IX (1880), 341; und die sechste (1882) durch Hs. CFM 80.11 (das Ende dieser Hs. ist abgetrennt und als CFM 163 katalogisiert) sowie durch die Drucke im Magazin (Juli 1882, Nr. 27, S. 372) und in G 1 . Die elf Hss. sind unveröffentlicht, so daß hier nur die Drucke von 1870, 1880 (nach Moser, S. 75 f.) und 1882 geboten werden können. Der Text unsrer Nr. 3 entstammt G1, die Varianten dem etwas 172
früheren Druck im Magazin, auf den Bettelheim, S. 288 zuerst aufmerksam gemacht hat. N u r das letzte Wort, „tönt", wurde aus G 5 in den Text eingesetzt — eine späte aber bedeutende Verbesserung. Die frühen hs. Fassungen zeigen, daß das Gedicht ursprünglich nicht durch eine bildliche, sondern (wie so oft bei Meyer der Fall) durch eine literarische Vorlage angeregt wurde, nämlich eine Stelle in Jacob Burckhardts Oie Zeit Constantins des Großen (Basel 1853, S. 107). Schon Kraeger, S. 265 hat auf diese Stelle hingewiesen, beharrte jedoch auf dem Glauben, ein SarkophagRelief im Vatikan habe die erste Veranlassung gegeben. Vgl. Rosenfeld, S. 206. Übrigens gehen die bildlichen Darstellungen (audi das hat Kraeger festgestellt) ihrerseits auf den 19. Gesang der Ilias zurück, wo Thetis mit den Nereiden dem l e b e n d e n Achill die yon Hephästos geschmiedeten Waffen bringt. Die Berufung auf antike Sarkophage erscheint erst ganz spät in der Entwicklung des Gedichts, nämlich in dem Sonett vom Jahre 1880. Zudem hat sie Meyer später widerrufen (Briefe II, 25Ü). Er sprach nun von einem Basrelief von Thorwaldsen, aber darauf ist erst recht nichts zu geben. Das Gedicht hatte bereits starke Wandlungen durchgemacht, ehe es in RB zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Ursprünglich lag der Nachdruck auf der Rückkehr zur Mutter Thetis und zum Mutterschoß der Erde, was der Dichter durch das Bild des Kreislaufs des Wassers verdeutlichte. Hinzu kam der Gedanke, daß Leben und Tod sich wie Bild und Spiegelbild verhalten. Diese Partien entwickelten sich später zu den selbständigen Gedichten „Der Gesang des Meeres" und „Möwenflug" (vgl. unten die Anmerkung zu X X V I I ) . Auf der dritten Stufe nahm das Gedicht eine Wendung ins Heroische. Ein feiner neuer Zug, der Widerspruch gegen den 11. Gesang der Odyssee (Strophe 3 in RB), führt zu der Prophezeiung eines „größeren Lebens" nach Achills Tode. Wieder ganz anders ist der Schluß in RB. N u n geht die Fahrt nidit mehr zu der Geisterinsel Leuce, sondern zu Homers Chios. Daß das Gedicht damit in einen ganz anderen, aber in Meyers Dichtung ebenso weit verbreiteten Vorstellungskreis ein173
mündet, wird dem Leser nicht entgehen. Bemerkt sei nur noch, daß Keller die Fassung in RB der endgültigen Form des Gedichts vorzog (Frey, S. 215 und 407), und daß letztere die Lösungen der früheren Fassungen nacheinander erwägt, um schließlich die Frage nach dem Sinn des Todes offen zu lassen. XI. Zwei ungedruckte Hss. (CFM 11.1—2) gehen dem Druck in der Deutschen Dichterballe VIII (1879), 273 voran. Dieser hier nach Moser, S. 59. Ich halte es für möglich, daß neben Michelangelo auch Novalis' erste Hymne an die Nacht eine gewisse Anregung zu dem Gedicht gegeben hat. Meyer hat Novalis gut gekannt (vgl. Frey, S. 52; mein Buch, S. 177). XII. Ein Brief Betsy Meyers aus dem Jahr 1863 (Frey, S. 168) erwähnt das Gedicht, das im folgenden Jahr erstmals in ZB veröffentlicht wurde. Die zweite Entwicklungsstufe führte über die vier Hss. CFM 111.1, 111.5,111.3 und 111.2 zu dem Drude in den Monatsheften I (1875), 318 (hier nach Moser, S. 66 f.). Die endgültige Form wurde über die autographe Hs. CFM 111.4 (ca. 1882) in G 1 erreicht. Unsere drei Texte stellen also das jeweilige Endergebnis der drei Arbeitsperioden dar. Das Gedicht ist ein Musterbeispiel von Meyers Arbeitsweise. Der aus Plutarch entlehnte Stoff ist dem Dichter an sich gleichgültig. Wichtig ist ihm der darin enthaltene Gedanke der inneren Wandlung. Um sich den fremden Stoff anzueignen, durchsetzt er ihn mit Motiven, die Grunderlebnisse des eignen Innern bildhaft fixieren, und die deshalb häufig in seiner Dichtung wiederkehren. Verfolgt man die Wiederkehr von Worten, Wendungen und Vorstellungen des „Thespesius" in den Gedichten „Die Heimkehr" (FB, Nr. 10), „Die Felswand", „Fiebernacht", „Pentheus", „Unter den Sternen" und in den frühen hs. Fassungen des „Toten Achill" (siehe oben die Anmerkung zu Nr. X), so erschließt sich die Bedeutung von Meyers Bildersprache und damit audi der Sinn unsres Gedichts. Die nächste Verwandtschaft 174
hat es natürlich mit dem Motiv des Verlorenen Sohnes in der „Heimkehr"; aber audi auf die Unterschiede ist zu achten. Sehr merkwürdig ist die letzte Strophe unsrer Fassung 2; sie wurde später in den zweiten Teil des Gedichts „Möwenflug" verarbeitet. Die hs. Fassung dieser Strophe (gedruckt in meinem Buch, S. 307, Anm. 27) zeigt dies noch deutlicher. XIII. Das Gedicht läßt sidi bis 1860 zurückverfolgen. Uber Fassungen und Symbolismus vgl. mein Buch, S. 300, Anm. 45. XIV. Obwohl das Gedicht schon 1863 in einem Brief Betsy Meyers erwähnt wird (Frey, S. 167), hat Meyer es weder in ZB noch RB aufgenommen. Die Hs. CFM 124.1 (siebzehn achtzeilige Strophen unter dem Titel „Das Bettlerkleid") wird wohl den Zustand des Gedichts um 1863 wiedergeben. Ende 1874 oder 1875 nahm es Meyer wieder vor. Die Hss. CFM 124.2—3 sind Vorarbeiten für den Erstdruck in den Monatsheften II (1875), 374 (hier nach Moser, S. 69—71, jedoch mit Korrektur von Mosers Druckfehlern „Schmerz" statt „Scherz" in Strophe 4,2 und „gefüllt" statt „gehüllt" in 8,4). In den beiden Hss. heißt das Gedicht jetzt „Der gütige Bertarit", im Druck einfach „Bertarit". Die vierte und letzte Hs. (CFM 124.4) entstand um 1882 bei der Vorbereitung von G 1 . Aufmerksame Leser werden bemerken, daß die Fassung von 1875 einen doppelten Schluß hat. Auf die abschließende Moral von der belohnten Mildtätigkeit in der vorletzten Strophe folgt, recht unerwartet, die Verwandlung und siegreiche Rückkehr Bertarits. Tatsächlich hat Meyer die letzte Strophe erst in Hs. CFM 124.3 nachträglich hinzugefügt. Über die Strophe schrieb er das Wort „Zurückgesendet". Sollte dies bedeuten, daß das Gedicht von einem Freund oder Redakteur beanstandet worden war, und daß Meyer es nun dem heroisierenden Geschmack der Gründerjahre anpaßte? Selbst dann wurde er sich nicht ganz untreu. Das Problem der inneren Wandlung (siehe oben Nr. XII) und 175
die Vereinigung von Sanftmut und Kraft (oben N r . XIII) waren seine innersten Anliegen und haben ihn zeitlebens beschäftigt. Was er mit der letzten Strophe eigentlich meinte, zeigt sehr schön die Variante „Er panzert sich den Busen" in Hs. CFM 124.4 statt „Er kehrte heim gepanzert" in G 1 . Nur hat er, hier wie so oft, Objektivität und Monumentalität mit einem Verlust an Innerlichkeit erkauft. Das Urteil Kellers, Heyses und Storms über die „Fleischhauertat" am Ende des ]ürg Jenatsch ist bekannt. Ob Meyer den Stoff direkt aus der Historia Langobardorum des Paulus Diaconus genommen hat, ist ungewiß. Dafür spricht, daß der Thronräuber in Meyers ältester Fassung wie in der Historia Grimoald heißt, und daß erst die späteren Fassungen ihn zu Bertarits Oheim machen, die Handlung nadi Verona (statt dem historischen Pavia) verlegen und das Fest zu einer Bewirtung von Bettlern umgestalten. Dagegen, daß schon in der ältesten Fassung die Umstände von Bertarits Rettung stark von der Historia abweichen und der warnende Bettler eine entscheidende Rolle spielt. Diesen Bettler nennt Meyer merkwürdigerweise in der ersten Fassung Marcolin, später Tobias, dann Rollo, schließlich Grumello. Die Namensform Grimoald und der Name Marcolin lassen vermuten, daß Meyer eine italienische Bearbeitung des Stoffes vorlag, vielleicht eine Renaissance-Novelle oder eine Erzählung aus der Zeit der Romantik. Dafür spräche audi, daß Meyers Ballade von Anfang an keinerlei frühmittelalterliche Züge trägt (obwohl er sie später chronologisch richtig in G einordnete). Meyers Quelle oder Quellen wären also noch festzustellen. Was Nußberger (S. 148 f.) über Quelle und Entstehungsgeschichte sagt, ist ungenau. Corneilles Tragödie Pertharite, roi des Lombards steht inhaltlich ganz fern. XV. Betsy (S. 93 f.) berichtet, Meyer habe in der Zeit um 1845 bis 1850 den Stoff dramatisch behandelt und später einen Monolog aus dem frühen Entwurf zu dem Gedicht erweitert. Das 176
erstere ist möglich, das letztere unwahrscheinlich, da die frühen Fassungen des Gedichts erzählend sind. Fünf um 1865 und drei um 1869 geschriebene Hss. (darunter fünf Fragmente) gehen dem Erstdruck in RB voraus. XVI. Frey (S. 159) erkannte den Zusammenhang von „Poesie" und „Fülle". Da keinerlei Zwischenstufen bekannt sind, muß die Entwicklung des Gedichts und deren Sinn aus analogen Fällen erschlossen werden. Das Ethos von „Fülle" halte ich nicht nur für fragwürdig, sondern f ü r unecht. Wenn Meyer in der Hochzeit des Mönchs von Dante sagt, „Seine Fabel lag in ausgeschütteter Fülle vor ihm; aber sein strenger Geist wählte und vereinfachte", so mag dies von Dante gelten. Von Meyer galt es nicht. D a f ü r zeugen drei Briefstellen. Über Freys Gedichte schrieb Meyer am 13. Mai 1881: „Mein Hauptbedenken überall ist Mangel an Fülle, woran auch ich zu laborieren habe, Schweizereigenschaft!" (Briefe I, 337). An Kinkel am 24 April 1882: „Von jeher habe ich die Ihnen innewohnende und mir fremde Fülle . . . aufrichtig bewundert" (Bebler, S. 65). Und an Stückelberg am 14. Dezember 1891: „Jetzt verlangt man von mir einen ,Roman* — und ich hasse die Breite, die sogenannte Fülle" (Briefe II, 447). Die Antwort auf den Geist des Gedichts (noch einmal: es war nicht wirklich Meyers Geist) steht, wenn man will, in Rilkes „Winterlichen Stanzen", besonders der letzten Strophe. XVII. „An die Natur im Spätsommer" erschien im Morgenblatt L I X (1865), 662 f. Hier nach Moser, S. 6. Außer dem „Säerspruch" dürfen nodi sechs Gedichte in G und in Huttens letzte Tage zu den Nachkommen des Gedichts gerechnet werden. XVIII. Die ersten beiden Fassungen wurden kurz nach Meyers Verlobung mit Luise Ziegler (13. Juli 1875) geschrieben. N r . 1 steht 12
Deutsche Texte 8
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in Hs. CFM 176.8 und wurde von Speyer, S. 24 und Kempter, S. 53 gedruckt. Nr. 2 steht in den Hss. CFM 176.10 und CFM 176.18 (Nr. 4) und wurde von Langmesser, S. 84 und Speyer, S. 30 gedruckt. Nr. 3 erschien in der Deutschen Dichterhalle V (1876), 106 (hier nach Moser, S. 81). Der durch alle Fassungen unveränderte Kern des Gedichts mag einem frühen religiösen Gedicht Meyers entstammen (vgl. die Anmerkungen zu Nr. VIII und Nr. XXII, 1). Jedenfalls wirkt er unverhältnismäßig gewichtig in dem leichten Gelegenheitsgedicht. Daß eine Reminiszenz an Goethes „Der Bräutigam" zugrunde liegt, ist aus äußeren und inneren Gründen unwahrscheinlich. Der Anfang von Goethes Gedicht scheint eher ein Nachklang der in der Barockdichtung verbreiteten Vorstellung, daß sich die Seele des Liebenden im Schlafe vom Körper trennt. XIX. Nr. 1 ist gleichfalls ein hingeworfenes Gelegenheitsgedicht aus Meyers Verlobungszeit. Die Hs. (vermutlich CFM 176.10) trägt das Datum 22. August 1875. Hier nach Speyer, S. 41. Abschrift mit einer Variante in Hs. CFM 176.18, Nr. 18. Speyers Anmerkung (S. 69) ist irreführend: sie hält unser Gedicht für den Anfang eines in Inhalt und Strophenform völlig verschiedenen. Nr. 2 erschien im Schweizerischen Miniatur-Almanach V (auf das Jahr 1878), 151. Hier nach Fränkel, S. 147. Fränkel glaubt, das Gedicht sei an eine wiedergekehrte Tote gerichtet, also wohl an dieselbe „junggebliebne Tote", der die sechs Gedichte von „Weihgeschenk" bis „Einer Toten" in G gewidmet sind. Wahrscheinlicher ist Brechts Vermutung (S. 96 ff.), daß Betsy Meyer gemeint sei. Daß das Gedicht für die Braut zu einem Gedicht an die Schwester wurde, darf nicht befremden. Gemeinsam ist ihnen das Motiv des Abendsterns, der wegen seiner Leuchtkraft bei großer Entfernung die Empfindung der „gegenwärtigen Abwesenheit" oder „nahen Ferne" verbildlicht. Dies Motiv ist älter als die Anlässe zu unsren Gedichten, und seine Bedeutung reicht weit über sie hinaus. Vgl. mein Buch, S. 100, 122 f., 133, 159. Die endgültige Fassung in G bringt eine glück178
lidie Vereinfachung der Reime und einen ebenso geglückten neuen Zug, der an Kleists Bettelweib von Locamo erinnert. XX. Nr. 1 steht in BB und in Hs. C F M 177.58. Hier nach Nußberger, S. 264. Sieben weitere Hss. von „Traumbild" und „Lethe" sind in meinem Buch, S. 274, Anm. 10 genannt. Die Varianten zu Nr. 2 entstammen dem Erstdruck in der Deutschen Dichterhalle III (1874), 73. Hier nach Moser, S. 17. Für die bildliche Vorlage des Gedichts vgl. Frey, S. 104; für die Entstehungszeit Briefe II, 59. Über seine Entwicklung in den hs. Fassungen gibt einige Auskunft mein Beitrag zu von Wieses Die deutsche Lyrik II (1956), 2 1 7 — 2 2 9 . XXI. Nr. 1 erschien im Morgenblatt L I X (1865), 986. Hier nach Moser, S. 10 f. Nr. 3 erschien in der Deutschen Dichterhalle X I (1881), 49. Hier nach Moser, S. 11 f. Außer den vier von Meyer veröffentlichten Fassungen sind zwölf hs. Fassungen bekannt (CFM 77.3 und 9 5 . 1 — 9 ; C F M 95.5 enthält drei verschiedene Texte). Die Hss. sind alle unveröffentlicht. Die chronologisch richtige Anordnung der Hss. stellt dem literarhistorischen Detektiv reizvolle Aufgaben, und die durch die Hss. bezeugte Entwicklung des Gedichts erlaubt interessante Einsichten in Meyers Schaffensart. Jedoch ist die endgültige Form des Gedichts auch ohne Kenntnis seiner Entstehung verständlich. XXII. Der Leser wird bemerken, daß diese Gedichtgruppe audi in unser viertes Kapitel, „Vereinigung", eingeordnet werden könnte. Nr. 1—4 sind handschriftlich erhalten und wurden zuerst von Mary C. Crichton in den Monatsheften (Wisconsin) X L V I I (1955), 129—148 veröffentlicht (Nr. 4 schon vorher von Frey, S. 230 und Kempter, S. 10). Hier mit geringen Besserungen nach den Hss. Nr. 1 hat in der Hs. (CFM 177.10, Kopie in C F M 31.1) elf Strophen, wovon Crichton nur die ersten vier und die 12*
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letzten zwei druckte. Mehr durfte audi hier nicht mitgeteilt werden. Eine kurze Inhaltsangabe der ausgelassenen Strophen bei Crichton. Anders als bei „Stapfen" ist hier die endgültige Fassung so wortkarg, daß ihr Gehalt erst durch die Vorstufen erschlossen wird. Nußberger (S. 24) hat zwar unrecht mit der Behauptung, dies sei das älteste durch einen hs. Entwurf bezeugte Gedicht Meyers; aber richtig ist, daß es den Nöten seiner Jugendjahre entsprang. In Nr. 1 findet der Schlaflose Trost in der Erinnerung an das Leben und Leiden Christi. Nr. 2 beruht auf Hebräer 10,31: „Schrecklich ist es, in die Hände des allmächtigen Gottes zu fallen". (Der Schluß von Meyers „Die Füße im Feuer" zitiert Hebräer 10,30.) Biblisches und Persönliches ist in dem Gedicht überzeugend verschmolzen: „die alte Schuld" ist sowohl die Erbsünde wie die Schuld des Dichters (gegenüber seiner Mutter?), und der Reuige identifiziert sich mit Maria Magdalena (vgl. „Die Narde"). Der gewaltige Aufschrei dieses Gedichts — in seiner Erschütterung vergleichbar nur mit den größten religiösen Gedichten viel älterer Zeiten — wird in den folgenden Fassungen nicht wieder erreicht. Nr. 3 bringt zum ersten Mal das Bild von Gottes Hand. Es entstammt der geistigen Welt, in der Meyer aufwuchs, wie ein Brief der Mutter an Meyers Pflegerin und Freundin Cécile Borrel aus dem Jahre 1853 zeigt. Er schließt mit den Worten: „Demandons à notre Dieu Sauveur de nous donner la main pour nous soutenir dans ce mystérieux pèlerinage qu'on appelle la vie" {La Crise, S. 145. Die Briefe Meyers, seiner Mutter und seiner Schwester aus den Jahren 1852—56, die d'Harcourt gerettet und herausgegeben hat, enthalten überhaupt vielfach Worte und Vorstellungen, die in Meyers Dichtung eine bedeutende Rolle spielen.) Zu dem Bild von Gottes Mantel erinnert Crichton an die Erschaffung Adams in den Sistina-Fresken (vgl. Meyers „Die Jungfrau"), aber die Gestalten auf Michelangelos Gemälde sind ja Ungeborene. Wahrscheinlicher hat Meyer die Vorstellung von dem Schutzmantel der Madonna auf Gott selbst übertragen. Die Vorstellung kam im 13. Jahrhundert unter den Zisterziensern 180
auf und hat sich dann überaus rasch und weit verbreitet. Von den zahlreichen bildlichen Darstellungen ist, wenigstens im deutschen Sprachgebiet, Holbeins Gemälde des Basler Bürgermeisters Meyer und seiner Familie im Mantel der Madonna am berühmtesten. Der Dichter mag es durch Abbildungen gekannt und sich mit seinem Schweizer Landsmann und Namensvetter identifiziert haben. Vgl. Paul Perdrizet, La Vierge de Miséricorde, Paris 1908, besonders S. 189 f. Nr. 4 fügt zum biblischen und persönlichen Gotteserlebnis die Offenbarung des Ewigen in der Natur, und die endgültige Fassung verschmilzt das Naturgedicht mit dem persönlichen. Die Entwicklung des Gedichts vom konventionellen Glauben durch Angst zu erneuter Gewißheit erinnert an die umstrittene Frage, ob Meyer dem orthodoxen Protestantismus oder dem Glauben an ein immanentes Göttliches anhing. Vgl. mein Buch, S. 67, 91, 169, 231. Ein definitives Buch über Meyers Religiosität müßte die Werke seines Freundes Ernest Naville heranziehen, der ihn tief beeinflußt hat. Folgende Schriften über Meyers Religion seien genannt: Carol Klee Bang, Maske und Gesicht in den Werken Conrad Ferdinand Meyers, Baltimore und Göttingen 1940, S. 85—93. Emil Ermatinger, „Conrad Ferdinand Meyer und der Protestantismus", Zeitwende I (1925), 142 ff. Ernst Feise, „Fatalismus als Grundzug von C. F. Meyers Werken", Euphorien X V I I (1910), 111—143 (Nadidruck in Feises Xenion. Essays in the History of German Literature, Baltimore 1950). Richard Fischer, Conrad Ferdinand Meyer. Sein religiöses und sittliches Vermächtnis, Stuttgart 1949. Otto Frommel, Neuere deutsche Dichter in ihrer religiösen Stellung, Berlin 1902, S. 115—144. Walther Hutzli, Der Glaube im Werk C. F. Meyers, Bern 1947. Walter Köhler, Conrad Ferdinand Meyer als religiöser Charakter, Jena 1911 (das beste Buch). Karl Muster, Das Weltbild Conrad Ferdinand Meyers, Diss. Frankfurt 1926 (Kassel 1927). Hermann Pongs, „C. F. Meyer als Protestant", Die christliche Welt X X X V I I I (1924), 3—11. Robert Spörri, Es sprach der Geist. C. F. Meyers religiöse Botschaft, Stuttgart 1934. Amalie Steuerwald, Das Todesproblem in 181
der Dichtung C. F. Meyers, Diss Frankfurt 1933. Eugen Wolff, Κ. F. Meyer. Ein protestantischer Dichter, Berlin 1903. XXIII. „Die sterbende Meduse" wurde vermutlich angeregt durch Cellinis Perseus in Florenz und, bedeutsamer, durch die Medusa Ludovisi in Rom. Vgl. Rosenfeld, S. 191, 207 und 206, Anm. 39, wo ältere Literatur genannt ist. Goethe schrieb am 20. Dezember 1786 an Charlotte von Stein von der „Medusenmaske, wo in einer hohen, schönen Gesichtsform das ängstliche Starren des Todes unsäglich trefflich ausgedrückt ist". Eine feinsinnige Deutung des Gedichts von Wilhelm von Scholz steht in Gedicht und Gedanke, hrsg. von Heinz Otto Burger, Halle 1942, S. 288 bis 293; eine unnütze in August Closs's Buch Medusa's Mirror, London 1957, S. 38 ff. Drei hs. Fassungen (CFM 108) sind erhalten; jedoch geben sie wenig Auskunft über Ursprung und Entwicklung des Gedichts. „Vor einer Büste" entstand aus der ersten Strophe einer Vorfassung von Meyers „Pentheus" (Hs. CFM 107, betitelt „Vor der Büste einer Bacchantin"). Rosenfeld, S. 193 und 207 f. sucht das Vorbild in der antiken Büste einer Bacchantin im Kapitolinischen Museum. Obwohl das Distichon also anderen Ursprungs ist als „Die sterbende Meduse", habe ich die beiden Gedichte hier zusammengestellt wegen der Gemeinsamkeit ihres Problems, der Verbindung von Lieblichkeit und Schrecken. Eben dies ist in der Ludovisischen Meduse unvergleichlich dargestellt, so daß Meyer sie auch bei dem Distichon im Sinne gehabt haben mag. Die endgültige Fassung des „Pentheus" hat nichts mehr mit dem Distichon zu tun. XXIV. Ein anschauliches Beispiel für die Entwicklung von Meyers Dichtung von Erzählung zu Bild, vom fließenden zum statischen Stil. Die alte Ballade ist fast ein lyrisches Gedicht geworden. XXV. Für die Hss. sowie für bildliche und literarische Anregungen vgl. mein Buch, S. 296, Anm. 11. „Raneé" hier nach Rosenfeld, 182
S. 265 f. Ob Meyer auch an Goethes Die Geheimnisse, Vers 113—120 und 265—290 gedacht hat? Die Verwirklichung derselben poetischen Idee an zwei total verschiedenen Stoffen ist höchst bezeichnend für Meyers Arbeitsweise. XXVI. In dieser Gruppe sind die Vorsprüche zu Meyers Gedichtsammlungen zusammengestellt. Nr. 1 ist der lyrische Vorspruch zu ZB, Nr. 2 eröffnet RB, Nr. 3 leitet die Abteilung „Reise" in G ein, und Nr. 5 wurde von G 2 ab der endgültigen Sammlung vorangestellt. Nr. 4 steht in BB und wurde zuerst in meinem Buch, S. 303, Anm. 7 gedruckt. Ebenda ausführlich über die Hss. zu allen hier gebotenen Gedichten sowie über ihr Verhältnis zueinander. Die Varianten zu Nr. 2 stammen aus Hs. CFM 69.1. Die Beziehung von Nr. 1 zu den folgenden Nummern ist lose; jedoch hat das Gedicht auch sonst in Meyers späterer Dichtung seine Spuren hinterlassen („Frühlingslüfte 2" in RB; „Lenz Wanderer", „Lenzfahrt" und „Himmelsnähe" in G). Das Bild in der mittleren Strophe von Nr. 2 stammt aus Eichendorff. Platens „Einladung an einen Freund" mag für das Gedicht als Ganzes Pate gestanden haben. Die Vereinigung von Nr. 2 und 4 in Nr. 5 ist deutlich (für einen analogen Vorgang siehe oben, Gruppe XXII). Weniger deutlich, aber ebenso gewiß ist die Verzweigung von Nr. 2 zu Nr. 3 und 5. Das gemeinsame Element von Nr. 2 und 5 ist das Motiv der zerbrochenen Inschrift. Vgl. dazu mein Buch, S. 81, 142 f., 160, 289, Anm. 34 und 317, Anm. 5. XXVII. Nr. 2 erschien in der Deutsdyen Dichterhalle X (1881), 102. Hier nach Moser, S. 12. Nr. 4 = G 1 , Nr. 5 = G< mit den Varianten von G 2 und G 3 . Drei Hss. gehen dem Druck von „Kommet wieder" voraus (vgl. mein Buch, S. 307, Anm. 27). Hs. Fassungen von „Möwenflug" und „Der Gesang des Meeres" sind mir nicht bekannt. 183
Die Vorgeschichte der Gedichte ist ungewöhnlich kompliziert, läßt sich aber bis ins einzelne rekonstruieren. Wie und wann das Motiv vom Kreislauf des Wassers in Meyers Dichtung eindrang, ist exakt bestimmbar. Die autographen, fast identischen Hss. CFM 177.91 und 177.92 bewahren ein zehnzeiliges Gedicht über diesen Stoff mit dem Titel „Nach dem Italiänischen des Metastasio". Das Gedicht paraphrasiert eine Arie aus der Oper Artaserse, die Arbace am Ende der ersten Szene des dritten Aktes singt. Die Hss. tragen das Datum 20. Januar 1864. Nodi im selben Jahr hat Meyer das Motiv in sein eben entstehendes Gedicht „Der Leichenzug des Achilles" verschmolzen (vgl. oben die Anmerkung zu X. Die zwei frühsten Hss. sind datiert vom 24. bzw. 28. September 1864). Audi das Möwenflug-Motiv tritt erstmals in diesen Hss. auf, jedoch hat Meyer es aus der Hauptquelle für sein Achilles-Gedicht, Burckhardts Die Zeit Constantins des Großen (1853). Dort heißt es auf S. 107 f.: „Eine Insel des Pontus, Leuce, nicht weit von den Donaumündungen, [gehörte] ganz dem Schatten Achills. Ein weißes Felsgebirge (so lauten die Schilderungen) steigt aus dem Meer, zum Teil mit überhängenden Wänden; keine Wohnung, kein menschlicher Laut weder am Gestade nodi in den einsamen Talsdiluditen; nur Scharen von weißen Vögeln umschweben die Klippen. Heiliger Schauer beseelt die Vorübersegelnden; wer die Insel betritt, wagt dodi nie die Nacht daselbst zuzubringen; wenn man den Tempel und das Grab Achills besucht und die seit alten Zeiten von frühern Besuchern niedergelegten Weihgeschenke betrachtet hat, so besteigt man abends wieder das Schiff. Das ist der Ort, welchen einst Poseidon der göttlichen Thetis für ihren Sohn verheißen hat, aber nicht bloß zu seinem Begräbnis, sondern damit er selig fortlebe. Und Achill wandelt hier nicht allein; allmählich gibt ihm die Sage zu Begleitern andere Helden und glückselige Geister, die auf Erden ein schuldloses Dasein geführt und die Zeus nicht in den dunkeln Orkus lassen will. Mit Andacht schaute man auf jene weißen Vögel, welche dem Anblick nach den Halkyonen ähnlich schienen; vielleicht war dies die sichtbare Gestalt jener glücklichen Seelen, nach deren 184
Los gerade das späteste Heidentum sich am meisten sehnte." Kraeger, S. 265 zitiert einen Teil dieser Stelle, aber gerade die Sätze über die Geistervögel und über den Orkus läßt er aus. Er konnte nicht wissen, daß darin die wesentlichste Anregung für Meyer lag, weil er die frühen Hss. des Achilles-Gedichts nicht kannte. Jedoch fehlt auch Burckhardts Bericht noch das Entscheidende, nämlich die symbolhafte Gegenüberstellung der Vögel und ihrer Spiegelung. Diese Erfindung, eigentlich die Erfüllung der antiken Sage, ist erst Meyers dichterischer Phantasie gelungen. Fünf Jahre später, bei der Vorbereitung von RB, hat Meyer dann die beiden Motive vom Wasser und von den weißen Vögeln in feiner Erkenntnis ihres lyrischen Wertes aus dem Achill-Gedicht herausgelöst und zu „Kommet wieder" vereinigt. Und wieder zwölf Jahre später, bei der Vorbereitung von G, hat er das so viel bedeutendere Möwenflug-Motiv von der (im Grunde zufälligen, nur in der Entstehungsgeschichte begründeten) Verbindung mit dem Motiv vom Kreislauf des Wassers befreit und zu einem seiner eindrucksvollsten Gedichte gestaltet. Daß er dabei auch eine aus „Thespesius" ausgeschiedene Strophe benutzte, wurde in der Anmerkung zu X I I gesagt. So viel über die Entstehungsgeschichte. Zur Deutung nur einige Hinweise auf Dinge, die sich aus den hier vorgelegten Texten nicht erkennen lassen. Im „Leichenzug des Achilles" wird die Vorstellung von der Rückkehr des Wassers zum Meere als Analogie zur Rückkehr des Mensdien zur Erde und zur Rückkehr des Helden zu seiner Mutter Thetis gebraucht. In einigen Hss. ist diese Vorstellung zu einem Lied geformt, das die Nereiden dem Toten singen — also eine Nänie. Der Gedanke ist moralisierend und christlich: auch der Halbgott und Held teilt das Los aller Sterblichen. Umgekehrt in „Der Gesang des Meeres": hier ist der Naturvorgang Gegenstand des Gedichts und das Menschenleben bloße Analogie, die in einer Reihe von Metaphern in das Gedicht verwoben ist. Die anthropomorphisierende Darstellung der Wolken und ihrer Verwandlungen ist wenig erfreulich: der Leser weiß nicht, was er damit anfangen soll. Zudem ist die elegische Stimmung des alten Gedichts einer 185
kraftgenialischen gewidien. Offensichtlich hat der Dichter überkompensiert. In der Bemühung um Objektivität ist der Symbolsinn des Gedichts untergegangen, und der Lärm von Kampf und Abenteuer übertönt die Stimme der Innerlichkeit. In Wirklichkeit geht es noch immer um das Schicksal des Menschen. Was Meyer darstellen will, ist der Trost, den er aus seiner zyklischen Auffassung von Geschichte und Zeit schöpfte. Vgl. mein Buch, S. 82—84 und 168—171. Ebenda S. 47 f. über die Gefahren von Meyers objektivem Stil. Vgl. audi oben die Anmerkung zu XIV. Der seelische Gehalt von „Möwenflug" ist in den Motiven von der Schwinge und der Spiegelung beschlossen. Vgl. dazu mein Buch, S. 289, Anm. 34 und S. 156—158; auch "Zur neuen Auflage" (oben XXVI). In der Ausführung nimmt das Gedicht impressionistische Effekte voraus, wie sie Meyer auch sonst gelegentlich gelungen sind. Bis einschließlich G 4 stand „Möwenflug" am Ende der Abteilung „Reise" (erst in G 5 wurde „Das Ende des Festes" als noch ernsterer Abschluß hinzugefügt). Die Anordnung ist zunächst stoff lidi begründet: „Möwenflug" schließt sich an eine Gruppe von Gedichten über das Meer an. Wichtiger ist, daß das Gedicht dem Thema „Reise" die tiefere Bedeutung der Lebensreise gibt und nach deren bleibendem Gewinn für den Menschen und Künstler fragt. So erinnert seine Stellung in G noch einmal an seinen Ursprung aus dem „Toten Achill". XXVIII. „Erntelied" entstand vermutlich 1875 und erschien im folgenden Jahr in Das Schweizerhaus VI (auf das Jahr 1877), 129. Nachgedruckt von Moser, S. 81 und Brecht, S. 48. Für die Hss. der drei Gedichte vgl. mein Buch, S. 320, Anm. 31 und 33; zur Deutung ebenda, S. 224 f. Die Wirkungen von Versmaß und Strophenform sind hier besonders zu beachten. Uber Meyers Behandlung des reimlosen jambischen Pentameters schrieb Carl Spitteier in „Conrad Ferdinand Meyers Gedichte" (Gesammelte Werke, hrsg. von Werner Stauffacher, Zürich 1947, VII, 494). Das Motiv der Ernte läßt sich bis zu Meyers früher Prosaerzählung Clara (ca. 1855) zurückverfolgen. Die zahlreichen 186
Gedichte, die ihm entsprangen, sind auf S. 235 meines Buches tabellarisch verzeichnet. Das älteste Gedicht, „Der Erntewagen", zusammen mit seinem unmittelbaren Nachkommen, „Auf Goldgrund", ist gedruckt bei Moser, S.7f. und in Wandlungen, S. 71 f. „Erntegewitter" nimmt einige Züge aus dem „Erntewagen" wieder auf. Ein Seitensproß des „Erntewagens" ist das Gedicht „Erntenacht", das Staiger („Zu einem Gedicht C. F. Meyers", Akzente, 1954, Heft 2, S. 188) nach Hs. CFM 36.4 gedruckt hat. (Das erste Wort ist verdruckt; lies „Nun" statt „Nur".) In meinem Buch, S. 319, Anm. 27 ist das Datum 1871 für „Erntenacht" erschlossen. Staiger hält es für älter, wohl kaum zu recht. Das Gedicht wurde ca. 1881 zu „Vor der Ernte" umgearbeitet. Staiger, S. 191 fi. druckt drei hs. Zwischenfassungen, „Mondensichel", „Die Sichel" und „Vor der Ernte". Der Text der letzten Hs. ist identisch mit G 1 ; G 2 bringt einige Besserungen, aber erst G 3 bietet die endgültige Form. G 3 —G 5 haben übereinstimmend im vorletzten Vers „Früh morgen", nicht „Frühmorgen" — eine Bildung, über die sich Staiger zu redit wundert. Schließlich ist noch das Gedicht „Ernteabend" zu nennen, das Langmesser, S. 522 und Kempter, S. 9 nadi Hs. CFM 177.17 gedruckt haben. Es ist zwischen 1881 und 1887 entstanden und wird im 4. Kapitel der Versuchung des Pescara paraphrasiert. (Staiger sagt irrtümlich, die Pescara-Stelle beziehe sich auf „Erntenacht".) Vgl. mein Buch, S. 262 f. und 320, Anm. 30. Der Vergleich aller dieser Gedichte und Fassungen ist lohnend. Als Beispiel von Meyers Einfluß auf seine Zeitgenossen sei noch Martin Greifs „Vor der Ernte" herangezogen: Nun störet die Ähren im Felde Ein leiser Hauch, Wenn eine sich beugt, so bebet Die andre auch. Es ist, als ahnten sie alle Der Sichel Schnitt — Die Blumen und fremden Halme Erzittern mit. 187
XXIX. Nr. 1 erschien im Morgenblatt LIX (1865), 664; Nr. 4 in der Deutschen Dichterhalle V (1876), 223. Die beiden Fassungen hier nach Moser, S. 89 f. bzw. 83 f. Nr. 4 auch in Wandlungen, S. 59. Uber die Hss. mein Buch, S. 306, Anm. 22. Die wichtigste hs. Fassung ist „Der Gesang der Klio" (Hs. CFM 177.39, datiert 22. Sept. 1875), wovon die ersten zwei Strophen wie folgt lauten: Die Muse blickt hernieder auf das Land Vom Helikon, die Tafeln in der Hand, Und singt, gelehnt an eine Felsenwand: „Verwischte Lettern les' ich früh und spat, Doch horch' idi leise nieder nach der Saat, Begierig lausch' ich, ob die Ernte naht." Die Statuen der Musen im Vatikan stehen ernst und gelassen. Der Anfang des „Musensaals" erklärt ihre Verwandlung, aber die Erklärung ist mühsam und überzeugt nicht. Vielleicht löst sich das Rätsel dadurch, daß Meyer ursprünglich durch Mantegnas „Der Parnass" im Louvre angeregt wurde. Der Gegensatz der tanzenden Musen auf diesem Bilde, das er 1857 sah, zu den unbewegten römischen Statuen, die er im folgenden Jahre sah, mag seine Phantasie bewegt haben. Eindrücke von Pariser Gemälden haben auch sonst seine Dichtung befruchtet (für „Lethe" vgl. oben die Anmerkung zu X X ; für „Nach einem Niederländer" vgl. unten die Anmerkung zu XXX). Vermischung von mehreren Vorbildern, Verbergen des wirklichen Modells und Angabe eines fiktiven ist bei Meyer nicht ungewöhnlich. (In Fr. Schlegels Gemäldebeschreibungen wird Mantegnas Bild ausführlich besprochen und besonders „die jüngste der Musen, die bacchantisch mit fliegendem H a a r . . . einher springt", gelobt — Sämtliche Werke, Wien 1823, VI, 12 f.) Auch die Anwendung der Motive ,Gewitter' und ,Ernte' auf Klio, später auf alle Musen, ist etwas gezwungen. Was Meyer damit
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bezweckt, wird deutlicher durch den Vergleich mit den Gedichten der vorigen Gruppe (XXVIII). Im „Triumphbogen" kommt das Motiv ,Verwischte Inschrift' hinzu (vgl. oben die Anmerkung zu XXVI). Welcher Triumphbogen gemeint ist, ist gleichgültig und läßt sich ohnehin nicht sicher ausmachen (Langmesser, S. 89, Nußberger, S. 162 und Rosenfeld, S. 210 sind verschiedener Meinung). Das Entscheidende ist, daß Klio als Richterin der Geschichte auftritt. Sie vertritt nicht die gelehrte Erforschung der Vergangenheit, sondern ihre musische Deutung und Wertung. Das Gedidit bezeichnet also den letzten Sinn von Meyers eigner historischer Novellistik. Die Verse in Nr. 3, die Meyer von G 2 ab ausschied, beziehen sich natürlich auf den Krieg von 1870. Sie fußen auf einem unveröffentlichten Gedicht, „Germanias Sieg" (CFM 177.72—74), das noch während des Krieges geschrieben wurde. In ihm findet sich auch schon die Prophezeiung eines künftigen Weltfriedens, die in Vers 39—52 von N r . 3 wiederholt ist. Sie wird bestätigt in den Gedichten „Die Menschheit" (Huttens letzte Tage, N r . LX, veröffentlicht 1872), „Friede auf Erden" (zuerst in G 3 ) und „Alle" (zuerst in G 4 ). Vgl. mein Buch, S. 320, Anm. 36. Die Auffassung der komischen Muse als Mörderin des Kranken und Uberlebten findet sich bereits in dem Gedicht „Das Lustspiel" in BB (gedruckt von Frey, S. 158 und Kempter, S. 78). Verwandt, aber düstrer ist der Gedanke am Ende der „Wunderbaren Rede" (unsre Nr. X X X I I , 6). Vgl. Brecht, S. 111, Anm. 3. XXX. Nr. 1 erschien im Morgenblatt LIX (1865), 663 f. Hier nach Moser, S. 56—58. Nr. 1—3 sind nachgedruckt in Wandlungen, S. 53—55. Über die Hss. zu diesen drei Fassungen vgl. mein Buch, S. 291, Anm. 18. Nr. 4 entstand wahrscheinlich erst bei der Vorbereitung von G 1 ; jedenfalls stammt die einzige Hs. (CFM 144) aus dieser Zeit. Sie hat nur eine Abweichung vom Drucktext: „quillt" statt „rinnt" in Vers 8. Auch Nr. 5 scheint erst kurz vor dem Erstdruck in G 4 entstanden zu sein. Vgl. mein Buch, S. 311, Anm. 51. 189
Was hat Meyer genötigt, seinem alten Michelangelo-Gedicht zwei weitere folgen zu lassen? Worin sind die drei Gedichte verwandt und worin verschieden? Und warum hat er sie alle in G aufgenommen? Die Beantwortung dieser Fragen führt in den Kern von Meyers Denken und Empfinden. Seine Künstlergedichte sind als ergänzende Gegenstücke zu seinen Gedichten (und Prosawerken) über Mönche und Nonnen zu verstehen. Die Beziehung ist so eng, daß ζ. B. Platens „Luca Signorelli" einerseits die Szene von „Michel Angiolos Gebet" hergegeben hat, andrerseits „Nach einem Niederländer" zum Vorbild diente (vgl. meinen Aufsatz über letzteres Gedicht in Wächter und Hüter, Festschrift für Hermann J. Weigand, Yale University, New Haven, 1957, S. 114 f.). Bedeutsam auch, daß die vierte Strophe von Nr. 1 am Ende von Nr. 4 wieder aufgenommen wird. (Rosenfeld, S. 213 denkt an Böcklins Einfluß für das Motiv ,Charon im Schilf'.) Die erste eingehende Betrachtung der Michelangelo-Gedichte bot Erwin Kalischer in seinem gescheiten Buch Conrad Ferdinand Meyer in seinem Verhältnis zur italienischen Renaissance, Berlin 1907, S. 137—151. Da die Entstehungsgeschichte der Gedichte zu Kalischers Zeit noch unbekannt war, müssen die späteren Arbeiten zur Korrektur herangezogen werden. XXXI. Man würde kaum zu behaupten wagen, daß diese vier Gedichte zusammengehören, wenn es die Schwester des Dichters nicht ausdrücklich bezeugte (Betsy, S. 164—167). Nr. 1 ist ein zehnstrophiges Gedicht (Hs. CFM 154.1), wovon hier nur die Strophen 1, 5, 7 und 8, die Frey, S. 126 mitgeteilt hat, geboten werden können. Zum vollen Verständnis muß also die Hs. herangezogen oder auf Zellers bevorstehende kritische Ausgabe gewartet werden. Dies gilt besonders, da Strophe 4 den gedanklichen Kern enthält, der in Vers 5—8 unsrer Nr. 2 bewahrt ist. Vgl. mein Buch, S. 281, Anm. 13. Über den Reigen der Hören schreibt Brecht, S. 32 f. Das Motiv ist gedeutet in meinem Buch, S. 168—172: es ist ein Sinn190
bild für Meyers zyklische Geschichtsauffassung (vgl. oben die Anmerkung zu X X V I I ) , und diese bedeutete für ihn Befreiung vom Gefühl des Leids und der Schuld. Der damit zusammenhängende Begriff der immanenten Gerechtigkeit klingt an; in dem Gedicht „Friede auf Erden" ist er am deutlichsten ausgedrückt (vgl. Brecht, S. 112—117). Denkbar wäre, daß Meyer ihn von Schopenhauer hatte, dessen Begriff der ewigen Gerechtigkeit (Die Welt als Wille und Vorstellung, Budi 4, § 63) durchaus dasselbe meint wie Meyer. Schopenhauer erklärt, warum die meisten Menschen die im Weltlauf immanente Gerechtigkeit nicht erkennen können, und welche Art Menschen dazu fähig sind: Meyer war dieser Art. Schopenhauers Satz, „Der Quäler und der Gequälte sind eins", gilt von Meyers Becket, audi von dem Eros seiner „Gegeißelten Psyche". Meyers Abschieds Lied an Rom versucht also nichts Geringeres, als sein Zeit- und Lebensgefühl im Bilde der ewigen Stadt auszudrücken. Vielleicht ist dies Gefühl wirklich in Rom zur Reife und Klarheit gediehen; daß es nicht während des relativ kurzen Aufenthalts entstanden sein kann, versteht sich von selbst und ist überdies durch frühere Briefe zu belegen. Das ursprüngliche, ambivalente aber dennoch einheitliche Gefühl ist in den zwei späteren Gedichten zum beabsichtigten Widerspruch zerlegt, der durch die völlige Verschiedenheit von Stil und Genre unterstrichen wird. „Chor der Toten" ist Meyers beliebtestes Gedicht, wenn man der Auswahl in den Anthologien glauben darf. Und gewiß ist es eines seiner bedeutendsten: sein mächtiger Ton ist ohne Vorbild in der deutschen Lyrik. Platens „Gesang der Toten" mag den Titel hergegeben haben — gewiß nicht mehr. Näher steht Novalis' „Lied der Toten", das Tieck in seinem Bericht über die Fortsetzung des Ofterdingen mitteilte. (H. J. Schrimpf hat es vorzüglich gedeutet in von Wieses Die deutsche Lyrik, Düsseldorf 1956, I, 414 ff.) Meyer hat Novalis sehr gut gekannt und auch sonst Vorstellungen und Gedanken aus ihm übernommen (siehe oben die Anmerkung zu X I ) . Meyers Gedicht seinerseits hat gewaltig auf die neuere deutsche Lyrik gewirkt (auch wo keine direkte Bekanntschaft und Beeinflussung 191
anzunehmen ist), und zwar sowohl als Beispiel der statischen Form (siehe oben die Anmerkung zu XXIV) wie durch seine Haltung. Stefan Georges ,Wir Schatten atmen kräftiger' („Porta Nigra" in Der siebente Ring) steht paradigmatisch für die meisten neueren Behandlungen des Themas. XXXII. Nr. 1 ist eines der wenigen Jugendgedichte Meyers, die uns erhalten sind. Rosenfeld, S. 264 f. hat es gedruckt. Merkwürdigerweise übertrifft es viele Gedichte in der vierzehn Jahre später angelegten Sammlung BB. Erst um 1865 begann ein entschiedener Aufstieg in Meyers dichterischem Können. Die Varianten zu Nr. 2 stammen aus einer Vorfassung, die im Morgenblatt LIX (1865), 985 f. erschien. Hier nach Moser, S. 30 bis 32. Nr. 3 erschien in der Deutschen Dichterhalle VII (1878), 80 f. Hier nach Moser, S. 32 f. Eine Briefstelle aus dem Jahr 1860 (Briefe I, 121: „Je suis l'esclave monté derrière le char de César et qui le chansonne") deutet an, daß ein „Vercingetorix" unter den Gedichten war, die Meyer damals zur Begutachtung an Felix Bovet schickte (vgl. Briefe I, 123 f.) An den fünf Hss. CFM 117.1—5 läßt sich die Entwicklung des Vercingetorix-Gedichts von 1865—1878, und an den vier Hss. CFM 119.1—4 die der „Wunderbaren Rede" von 1864—1869 verfolgen. Interessanterweise stellt schon CFM 119.3 das Anrücken des Septimius Severus an den Anfang des Gedichts, während die etwas spätere Hs. CFM 119.4 und RB es erst in Strophe 8 bringen. Die wirkungsvollere aber auch schwierigere Anordnung des Stoffes wollte Meyer 1869 noch nicht gelingen, aber in G griff er darauf zurück. Solche späten Verwirklichungen alter Pläne sind nicht selten in der Entwicklung von Meyers Gedichten. Sie zeugen von der Hartnäckigkeit, mit der er an ihrer Vervollkommnung arbeitete. Dennoch blieb in diesem Falle die endgültige Fassung weit hinter den besten Leistungen seiner Reifezeit zurück. Um zu verstehen, warum Meyer das Gedicht dennoch in G aufnehmen durfte, muß man die poetisdie Dutzendware der Zeit kennen; etwa Gustav Pasigs „Vercinge192
torix", Deutsche Dichterhalle I X (1880), 118, oder Hermann Linggs „Im Kolosseum". Vgl. Kraeger, S. 282—295 über Quellen und Entwicklung der Gedichte. Hochinteressant ein Brief Meyers aus Rom (Briefe I, 59 f.), wo er nach Betrachtung des „Sterbenden Fechters" sein frühes Kunstideal entwickelt: der Vergleich mit „Michelangelo und seine Statuen" (oben X X X ) ist lehrreich. Die in demselben Briefe S. 61 erwähnte Büste der Julia pia mag die Gestalt der Seherin in N r . 5 angeregt haben. XXXIII. N r . 1 steht in BB und FB. Bodmers Druck (FB) hat einige offensichtliche Irrtümer, und Bohnenblusts Druck (S. 72—75) folgt nicht, wie man erwarten sollte, BB, sondern FB. E r berichtigt z w a r einiges nach BB, fügt aber neue Fehler hinzu. Unser Text beruht auf FB als der etwas späteren Fassung, jedoch mit Ausmerzung der Irrtümer und konsequenter Zeichensetzung. N r . 2 erschien in den Monatsheften II (1875), 54 (hier nach Moser, S. 51 f.). Die Varianten zu N r . 4 entstammen der Fassung, die Meyer kurz vor G 1 in der Deutschen Dichterhalle X I (1882), 208 veröffentlichte (hier nach Moser, S. 18). Über Hss. und Quellen vgl. mein Buch, S. 304, Anm. 14 und S. 305, Anm. 17. Strophe 10 des „Schwimmers" ist nicht bloß ein hübscher poetischer Einfall, sondern eine Andeutung von Meyers Religiosität. Vgl. mein Buch, S. 229 ff. und oben die Anmerkungen zu X X I I und X X X I . Auch Strophe 14 muß ernst genommen werden: die Aufgabe des Dichters ist, Handlungen in Bilder zu verwandeln. So früh hat Meyer gewußt, was er wollte; aber wie lange dauerte es nodi, bis er es konnte! Der autobiographische Bezug der Figur des Schwimmers ist vielfach bezeugt: von Meyer selbst (Briefe II, 519), von seiner Schwester (Betsy, S. 140 f.) und von Adolf Frey (S. 49, 55 f., 252). Das Gefährdete und Bedrohliche der Figur deutet ein früher Brief leise an (La Crise, S. 202). Auch das Gedicht „Die Flut" in Huttens letzte Tage ist zu vergleichen. N r . 1 läßt sich als Rahmenerzählung auffassen, deren Binnenteil den Inhalt der Lusiaden um13
Deutsche Texte 8
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schreibt. N r . 2 macht den alten Rahmen zur Binnenhandlung und erfindet einen neuen Rahmen hinzu.
XXXIV. Verschmelzung zweier Gedichte zu einem neuen ist seltener in der Entwicklung von Meyers Lyrik als Zerlegung eines Gedichts in zwei neue, jedoch finden sich außer den drei hier folgenden Fällen schon Beispiele in den Gruppen X X I I und X X V I . N r . 1 und 2 veröffentlicht von Speyer, S. 23 und 43, vermutlich nach Hs. CFM 176.8—10. Faksimile von N r . 1 bei Speyer gegenüber S. 24. Zwei weitere Abschriften von N r . 2 in Hs. CFM 176.18; gedruckt auch bei Langmesser, S. 87. N r . 3 erschien in den Monatsheften IV (1876), 137 (hier nach Moser, S. 50 f.). Eine Vorfassung mit dem Titel „Die Ampel" und dem Datum 1. August 1875 in Hs. C F M 176.18, N r . 9. Das Gedicht beginnt hier mit den Worten „Als ich am vergangenen Weihnachtsabend", hat jedoch die gleiche Länge wie der Druck (28 Verse). In dem Druck ist es mit den Gedichten „Spielzeug" und „Der Kamerad" (vgl. VI) zusammengestellt, die gleichfalls Meyers Braut Luise Ziegler gewidmet waren; aber während „Die Ampel" und „Der Kamerad" anscheinend wirklich in der Zeit seiner Verlobung (vgl. X V I I I und X I X ) entstanden sind (so Frey, S. 266), stand eine Fassung des „Spielzeugs" mit dem Titel „Das D o r f " schon in BB (vgl. Frey, S. 160). Von Meyers Vorliebe für Ampeln erzählt Betsy, S. 147. Die ganz andersartige Verwendung des Motivs in IV läßt den ernsten Unterton des scherzenden Liebesgedichts erkennen.
XXXV. Für die überaus zahlreichen Hss. vgl. mein Buch, S. 314—316, Anm. 23; für das Motiv, ebenda, S. 313, Anm. 15 und S. 316, Anm. 24. Kraeger, S. 185—189 zeigt, daß außer N r . 1 und 2 auch die Gedichte „Frühlingslüfte 2" und „Auf dem See 4" in RB zu den Vorläufern von „Firnelicht" gehören. Bei einer soldi verzwickten und rein literarischen Entwicklung darf man nicht nach den Gebirgen suchen, die den Gedichten Modell gestanden 194
haben. Die Hss. zeigen, daß bei dem Gedicht „Jungfrau" ursprünglich nicht an den Berg im Berner Oberland gedacht war, und audi „Im Engadin", obwohl in Silvaplana enstanden, nennt kein bestimmtes Vorbild. Das abgeleitete „Firnelicht" ist also erst recht kein beschreibendes, sondern ein dekoratives Gedicht. Die Worte des Refrains entstammen einem inneren Erlebnis oder dem innerlichen Besitz des Dichters und konnten deshalb auch von einem menschlichen Angesicht gebraucht werden. Schon 1858 in Rom fand er auf einer Büste Epikurs „ein helles, humanes, lachendes Licht" (Briefe I, 60), und mehrere frühe Fassungen von „Stapfen" spredien von dem „wunderbaren Leuchten" auf dem „ernsten Antlitz" der Geliebten (vgl. oben X X I , 1). Nr. 4, ein rührender Nachklang aus Meyers letztem Lebensjahr, wurde von Langmesser, S. 528 veröffentlicht. XXXVI. Nr. 1 und 2 stehen in Hs. CFM 171e, einem Kalender, in den Betsy Meyer im Sommer 1871 die soeben entstehenden Gedichte ihres Bruders eintrug. Nr. 1 wurde am 4. Juli, Nr. 2 am 11./12. Juli eingetragen. Nr. 3 ist in der Hs. CFM 54.1 datiert „Sommer 1873". Nr. 4 steht in der Hs. CFM 54.2 und wurde im Schweizerischen Miniatur-Almanach I I I (auf das Jahr 1876), 117 gedruckt. Hs. und Druck sind identisch, nur fehlt in dem Druck der Titel. Die vier Hss. erstmals gedruckt in meinem Aufsatz in der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte X X V I I (1953), 358—386; der ZeitsdiriflDruck von Nr. 4 wiederholt bei Frankel, S. 142. Über die Gedichte in dem Kalender handelt die Dissertation von Mary C. Crichton, Conrad Ferdinand Meyer's Poetic Manuscripts of the Summer 1871 (Wisconsin 1954. Maschinenschrift). Nr. 1 könnte sich auf die Vollendung von Huttens letzte Tage beziehen, die Meyer kurz vor Beginn eines Ferienaufenthalts in St. Wolfgang bei Davos gelang (vgl. Frey, S. 228). Dort führte Betsy den poetisdien Kalender und trug „Alpenlüfte" an zweiter Stelle ein. „Abendwehen" wurde in das Versepos Engelberg verschmolzen (8. Gesang, Vers 51—54): 13*
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Und wenn versinkt der Sonne Brand Und kalt ein Windstoß fährt durchs Land, So fühlt sie's hauchen durch die Tannen, Wie eine Seele fährt von dannen. Ein solches Einverleiben ungedruckter Gedichte in größere Werke findet sich bei Meyer häufig (vgl. mein Buch, S. 262 f.). Die letzte Strophe des „Apollo" — durch sie nimmt die Entwicklung des Gedichts eine ganz neue Wendung — scheint mir durch Mörikes „Auf eine Christblume" angeregt; es wäre der wunderlichste Zufall, wenn dies Vorbild Meyer nicht bewußt oder unbewußt vorgeschwebt hätte. D a der Psyche-Schmetterling schon bei Mörike vorkommt, könnte die Berufung auf das römische Basrelief in der nächsten Fassung (Nr. 5) eine absichtliche Verschleierung sein. Jedenfalls ist „Das Seelchen" ebensowenig wie „Der tote Achill" aus einem Werk der bildenden Kunst entsprungen (vgl. oben die Anmerkung zu X). Vielmehr entstammt es alter literarischer Tradition. Brecht (S. 62) hat zuerst auf die berühmten Verse des Kaisers H a d r i a n verwiesen, und seine Entdeckung (er kannte die hs. Fassungen unsres Gedichtes nicht) wird durch die letzte Strophe von „Abendwehen" bestätigt. Ich gebe den lateinischen Text zusammen mit drei Übersetzungen (Martin Opitz in der Trostschrift an Herrn David Müller (1636); Richard Beer-Hofmann in Verse, Stockholm und New York, 1941 [1897 entstanden]; Joachim Maaß in Schwierige Jugend, Frankfurt 1952): Animula, vagula, blandula, Hospes comesque corporis, Quae nunc abibis in loca, Pallidula, rigida, nudula, Nec ut soles, dabis jocos. Mein Seelichen, mein Flattergeist, Des Leibes Gast und Spießgeselle, Der bleich, verstarrt und bloß verreist, 196
Du weißest nicht, in welche Stelle Du Ärmste von mir scheiden mußt: Wirst nicht mehr sdierzen, wie du tust. Seelchen — kleines — schweifend, schmeichelnd, Meines Leibs Genoß und Gast, Sag — wohin wirst du jetzt wandern — Armes — fröstelnd, nackt, erblaßt? Du umspieltest meinen Sinn, Froh — und gehst nun, sag, — wohin? N u n , Seelchen, armer Wandrer, Gefährte sonst und Gast des Leibes, Wohin denn nun, in welche Länder? Sie werden fahl sein, kahl und schaurig, U n d nicht wie einst wirst du zu scherzen wissen. XXXVII. Die acht Unterabteilungen dieser Gruppe von siebzehn Gedichten sind am Rande durch die Buchstaben A — H bezeichnet. Erstdruck von N r . 1 in meinem Buch, S. 62 (nach Hs. C F M 4.2). N r . 2 nach Hs. CFM 4.1 (der Druck bei Speyer, S. 17 hat zwei Fehler). N r . 3 nach Hs. C F M 4.6 (der Druck bei Langmesser, S. 517 hat drei Fehler). Die in der Fußnote zu N r . 4 genannte Fassung von 1881 erschien in der Deutschen Dichterhalle X (1881), 161 (vgl. Moser, S. 17). N r . 5 erschien ebenda III (1874), 159 (hier nach Moser, S. 63). N r . 8 ist in Hs. CFM 171e, einem Kalender, zum 1. September 1871 eingetragen (gedruckt bei Frey, S. 182; Kempter, S. 36; in meinem Buch, S. 76). N r . 9 ebenda eingetragen zum 7. Juli 1871 (gedruckt bei Frey, S. 230 und in meinem Buch, S. 73). N r . 10 steht in den Hss. C F M 96.2 und 176.18 (gedruckt bei Langmesser, S. 82 und in meinem Buch, S. 72). N r . 11 erschien in der Deutschen Dichterhalle I X (1880), 231 (hier nach Moser, S. 3). Erstdruck von N r . 12 in meinem Buch, S. 74 (nach Hss. CFM 96.1 und 176.18). N r . 14 steht in Hs. CFM 176.18 (gedruckt bei Langmesser, S. 81 f.; Speyer, 197
S. 41; Kempter, S. 54. Speyer hält diese Strophen und unsere Nr. X I X , 1 fälschlich für e i n Gedicht). Erstdruck von Nr. 15 bei Speyer, S. 49 (nach Hs. CFM 99). Im dritten Kapitel meines Buches und den dazugehörigen Anmerkungen findet man Auskunft über die Datierung der Gedichte, ihr Verhältnis zu einander und über die zahlreichen noch ungedruckten hs. Fassungen. Nr. 8 ist später von Meyer in das Versepos Engelberg (1872), 7. Gesang, Vers 61—68 eingefügt worden. Die Empfindung eines „süßen Schreckens", aus der die Gedichte dieser Gruppe entsprangen, ist schon in dem Gedicht „Waldgang" (Hss. CFM95.2 und95.3, vermutlich zwischen 1865 und 1869 geschrieben) ausgedrückt. Es ist eine Vorfassung von „Stapfen" und spricht von dem „süßen Graun", das den Liebenden befällt, als er sich der Gegenliebe des Mädchens bewußt wird. In meinem Buch, S. 90 f. wurde die Formel vom „süßen Schrecken" auf die Romantik zurückgeführt. Sie hat bei den Romantikern wie bei Meyer eine so weitreichende Bedeutung, daß hier noch einige Nachträge geboten werden dürfen. Sie findet sich nämlich schon im Waldemar, wo Jacobi „Pappeln das süße Schrecken der angenehmsten Empfindung durchfahren" läßt — eine Geschmacklosigkeit, die ihm Friedrich Schlegel in seiner Rezension nicht anzukreiden versäumt (Charakteristiken und Kritiken, Königsberg 1801, I, 25). Schlegel selbst schreibt im Aufsatz über den Wilhelm Meister: „Noch süßere Schauer [als der Harfner] und gleichsam ein schönes Grausen erregt das heilige Kind [Mignon]" (ebenda, I, 140). In Novalis' erster Hymne an die Nacht ist der Dichter „froh erschrocken" beim Anblick der Mutter, und in der fünften Hymne „freudig erschreckt" beim Gedanken an die Auferstehung. Meyer am nächsten steht eine Strophe in Eidiendorffs „Entgegnung", wo der Augenblick der dichterischen Eingebung „mit freud'gem Schrekken" begrüßt wird. „Froh erschrocken" ist aber audi Frau Venus bei ihrer Auferstehung im Frühling (Fortunatos Lied gegen Ende des Marmorbilds). Zu den in meinem Buch gegebenen Zitaten aus Mörike stellen sich nodi die Verse aus dem „Besuch in Urach": 198
Erinnrung reicht mit Lächeln die verbittert Bis zur Betäubung süßen Zauberschalen; So trink* ich gierig die entzückten Qualen. Weiter die bedeutsame Stelle in Mozart auf der Reise nach Prag, wo von „jener süßen Bangigkeit" die Rede ist, womit die Aufführung großer Kunst erwartet wird. Benno von Wiese (Die deutsche Novelle, Düsseldorf 1956, S. 232) kommentiert die Stelle an H a n d von Briefen Mörikes, und Werner Kohlschmidt (Form und Innerlichkeit, München 1955, S. 242) beschreibt Mörikes Zeitgefühl mit einem Ausdruck Stifters, „der traurig süße Genuß des Vergangenen". Eine vollständige Geschichte der Formel vom „süßen Schrecken" und ihrer Abwandlungen würde zugleich die Verschmelzung der Erlebnisse von Natur, Kunst, Liebe, Tod und Religion darstellen, die den eigentümlichsten Zug der deutschen Dichtung seit der Romantik ausmacht. Noch Rilkes Gedicht „An Hölderlin" gebraucht, nun allerdings bewußt archaisierend und sich an den Stil seines Gegenstands anlehnend, den Ausdrude, „die heilig erschrockene Landschaft". Die Metapher vom „Blütenschnee" (Nr. 3, Vers 20 und N r . 15, Vers 4) ist gewiß sehr alt. Ein zufällig aufgegriffenes Beispiel möge genügen: „Wie Schnee die Blüte sich unter die Blätter dringt", singt Rudolf Florestan in Tiecks Sternbald II, 3 (S. 272 der Erstausgabe). Meyers Eigentum dagegen scheint der Gebrauch der weißen Blüten als Sinnbild f ü r das süße Schrecken. N u r Eichendorff verbindet die Vorstellung „Mit Blüten überschüttet Sein" mit Gefahr und Bedrohung, aber da handelt es sich um die Verlockung durch eine gottlose N a t u r oder heillose Liebe. (Vgl. die vorzügliche, leider ungedruckte Dissertation von Vladimir Zernin, Symbolism in the Works of Josef von Eickendorf}, Yale University 1959, S. 125—128.) Meyer hat Eichendorff viel verdankt, und so mag auch die Wendung am Ende unsrer N r . 1—3 eine Umdeutung Eichendorff scher Symbolik sein.
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