Gedenken und 9783700180302, 3700180306

Since its “outbreak” in 2014, the Centenary of the First World War was marked by numerous commemorative events, exhibiti

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German Pages [253] Year 2017Oktober 30

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Inhaltsverzeichnis
Gedenken und (k)ein Ende? Eine Einleitung
Wellen der Erinnerung und der Analyse: Gedanken zu Historiographie und Narrativen vom „Großen Krieg“ zwischen 1914 und 2014 in globaler Perspektive
Deutungsmuster und Narrative
Der Stellenwert des Ersten Weltkrieges in der slowenischen Erinnerungskultur und das Gedenkjahr 2014 in Slowenien
Gavrilo Princip, Serbien und das Jahr 2014 – Neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder am Ende (doch nur wieder) alte Zuweisungen?
Krieg und Frieden als „paradoxe Kohärenz“: Warum und wie die Europäische Union in ihrer Geschichts-, Gedächtnis- und Identitätspolitik den Ersten Weltkrieg (ge-)braucht
Der Große Vergessene Krieg: der Erste Weltkrieg in modernen russischen Schulbüchern
Forschungsansätze und Zugänge
Den Krieg im Visier: Weltkriegsarchäologie – ihre Ansprüche, Methoden, Grenzen
Neue Quellen und Zugänge zum Ersten Weltkrieg auf dem Balkan am Beispiel Bulgariens
Das österreichisch-ungarische Nationalitätenproblem und der Erste Weltkrieg
Öffentlichkeit und medialer Diskurs
Grundsatzüberlegungen zur Präsentation des Ersten Weltkrieges in Dauerausstellungen
Innenleben einer Ausstellung. „Grenzgang. Das Pustertal und der Krieg 1914 –1918“ des Tiroler Photoarchivs
Virtueller Weltenbrand – Das Computerspiel „Valiant Hearts“ und der Erste Weltkrieg
Informationen zu den Autorinnen und Autoren
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Gedenken und
 9783700180302, 3700180306

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Bernhard BachinGer, richard Lein, Verena Moritz, JuLia WaLLeczek-Fritz, SteFan Wedrac, MarkuS Wurzer (Hg.)

Gedenken und (k)ein ende? Das Weltkriegs-Gd debatten, zugänge, ausblicke

STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN MONARCHIE

Herausgegeben im Auftrag des

Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften von

Franz Adlgasser

Band XXXVii

Gedenken und (k)ein ende? Das Weltkriegs-Gd debatten, zugänge, ausblicke Herausgegeben von Bernhard Bachinger, Richard Lein, Verena Moritz, Julia Walleczek-Fritz, Stefan Wedrac und Markus Wurzer

Angenommen durch die Publikationskommission der philosophisch-historischen Klasse der ÖAW: Michael Alram, Bert Fragner, Hermann Hunger, Sigrid Jalkotzy-Deger, Brigitte Mazohl, Franz Rainer, Oliver Jens Schmitt, Peter Wiesinger und Waldemar Zacharasiewicz

Das Erscheinen des Bandes wurde von folgenden Institutionen maßgeblich gefördert:

[email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Diese Publikation wurde einem anonymen, internationalen Peer-Review-Verfahren unterzogen. This publication has undergone the process of anonymous, international peer review. Umschlagbild: Kriegsgräber auf einem britischen Soldatenfriedhof bei Péronne, Département Somme. © Richard Lein Die verwendete Papiersorte ist aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff hergestellt, frei von säurebildenden Bestandteilen und alterungsbeständig. Alle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-7001-8030-2 Copyright © 2017 by Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien Satz: Barbara Ebeling Druck und Bindung: Prime Rate kft., Budapest http://epub.oeaw.ac.at/8030-2 http://verlag.oeaw.ac.at

Inhaltsverzeichnis Bernhard Bachinger / Richard Lein / Verena Moritz / Julia Walleczek-Fritz / Stefan Wedrac / Markus Wurzer Gedenken und (k)ein Ende? Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Daniel Marc Segesser Wellen der Erinnerung und der Analyse: Gedanken zu Historiographie und Narrativen vom „Großen Krieg“ zwischen 1914 und 2014 in globaler Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Deutungsmuster und Narrative Karin Almasy Der Stellenwert des Ersten Weltkrieges in der slowenischen Erinnerungskultur und das Gedenkjahr 2014 in Slowenien . . . . . . . . . . . . . .

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Dario Vidojković Gavrilo Princip, Serbien und das Jahr 2014 – Neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder am Ende (doch nur wieder) alte Zuweisungen? . . . . . . . .

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Peter Pichler Krieg und Frieden als „paradoxe Kohärenz“: Warum und wie die Europäische Union in ihrer Geschichts-, Gedächtnis- und Identitätspolitik den Ersten Weltkrieg (ge-)braucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nikolav Vlasov Der Große Vergessene Krieg: der Erste Weltkrieg in russischen Schulbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Forschungsansätze und Zugänge Christian Terzer Den Krieg im Visier: Weltkriegsarchäologie – ihre Ansprüche, Methoden, Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

6 Oliver Schulz Neue Quellen und Zugänge zum Ersten Weltkrieg auf dem Balkan am Beispiel Bulgariens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Anatol Schmied-Kowarzik Das österreichisch-ungarische Nationalitätenproblem und der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Öffentlichkeit und medialer Diskurs Andrea Brait Grundsatzüberlegungen zur Präsentation des Ersten Weltkrieges in Dauerausstellungen. Darstellungsformen im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden und im Musée de la Grande Guerre du Pays de Meaux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Martin Kofler Innenleben einer Ausstellung. „Grenzgang. Das Pustertal und der Krieg 1914 –1918“ des Tiroler Photoarchivs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   209 Martin Bayer Virtueller Weltenbrand – Das Computerspiel „Valiant Hearts“ und der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Informationen zu den Autor/innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

7 Bernhard Bachinger, Richard Lein, Verena Moritz, Julia Walleczek-Fritz, Stefan Wedrac, Markus Wurzer

Gedenken und (k)ein Ende? Eine Einleitung „In jenem Sommer des Jahres 1914 […] bot die Stadt [Višegrad] ein kleines, aber beredtes Bild der ersten Symptome einer Erkrankung, die mit der Zeit Europa und dann die ganze Welt befallen sollte. […] Aber all das sind Dinge, die wir nur am Rande erwähnen und die die Dichter und Wissenschaftler künftiger Epochen mit Mitteln und Methoden, die wir nicht ahnen, und mit einer Klarheit, Freiheit und geistigen Kühnheit, die weit über unsere hinausgehen, untersuchen, deuten und wieder aufleben lassen werden. Es wird ihnen wahrscheinlich gelingen, auch für dieses sonderbare Jahr eine Erklärung zu finden und ihm seinen Platz in der Weltgeschichte und der Menschheitsentwicklung zuzuweisen.“ 1 Ivo Andrić Anlässlich des Zentenariums dieses „sonderbaren Jahres“ 1914 setzte ein wahrer „Geschichts- und Erinnerungsboom um den Ersten Weltkrieg“2 ein. Es scheint, als hätten sich 100 Jahre nach Ausbruch der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) die angeführten Zeilen des nachmaligen Literaturnobelpreisträgers Ivo Andrić geradezu prophetisch erfüllt. Mitten im Zweiten Weltkrieg hatte dieser mit seinem 1945 veröffentlichten, opulenten Epochenroman der Višegrader Drina-Brücke ein literarisches Denkmal gesetzt. Die kriegsbedingte Sprengung der Brücke im Jahr 1914 markiert dabei nicht nur den Endpunkt des Romans, sondern akzentuiert gleichfalls die mit dem Kriegsbeginn einhergehende epochale Zeitenwende. Doch lange Zeit wurde insbesondere im deutschsprachigen Raum die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg von der Entstehungsperiode des Werkes überschattet und überlagert. Im Zuge der herannahenden Gedenkjahre und speziell des Jahres 2014 rückte der „Große Krieg” allerdings schlagartig wieder in den Fokus und somit in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit. Geradezu generalstabsartig hatten im

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Ivo Andrić, Die Brücke über die Drina. Eine Wischegrader Chronik (München 22013) 404. Jost Dülffer, Die geplante Erinnerung. Der Historikerboom um den Ersten Weltkrieg; in: Osteuropa 64/2 –  4 (2014) 351–367, hier 352.

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im Vorfeld besagten Gedenkjahres „Wissenschaftler und Publizisten, die Print-, Film- und Tonmedien sowie alle Arten der politischen Bildung ihre Auftritte geplant“3 und im Anschluss eine nie dagewesene Konjunktur der Weltkriegserinnerung ausgelöst. Wurden bisher runde Jahrestage im Zusammenhang mit Weltkriegsereignissen, wie Korte, Paletschek und Hochbruck bereits 2008 anmerkten, stets von „Wellen der Erinnerung“ begleitet4, so übertraf deren Dimension im Jahr 2014 doch die kühnsten Erwartungen. Herausstechend und prägend sowohl für die öffentliche Perzeption als auch für die wissenschaftlichen Hauptdebatten waren zweifelsohne auf den eigentlichen Kriegsausbruch gemünzte Untersuchungen5 sowie umfangreiche Gesamtdarstellungen6. Darüber hinaus lässt sich im Zusammenhang mit dem Gedenkjahr eine beinah unüberschaubare Anzahl an Detailstudien zu bisher vernachlässigten Themen, an wiederverwerteten bzw. modifizierten und zum 100jährigen Gedenken abermals publizierten Abhandlungen sowie Beiträgen aus nahezu allen historischen Teildisziplinen ausmachen7. Doch wurde dem Ersten Weltkrieg damit tatsächlich sein historischer „Platz in der Weltgeschichte und der Menschheitsgeschichte“ zugewiesen, fand eine über bisherige Ergebnisse hinausweisende Beforschung des Zeitabschnitts 1914  –1918 statt und hat die Wissenschaft im Zuge des Gedenkjahres 2014 wirklich „Neues“ hervorgebracht?

Dülffer, Erinnerung 351. So „in Annäherung an die zehnten Jahrestage der Kriegsereignisse“ bis Mitte der 1930er Jahre, schließlich zum 50. und auch zum 90. Jahrestag. Vgl. Barbara Korte, Sylvia Paletschek, Wolfgang Hochbruck, Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur. Einleitung; in: Barbara Korte, Sylvia Paletschek, Wolfgang Hochbruck (Hgg.), Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur (Essen 2008) 7–24, hier 9 –11. 5 Hier zu nennen ist vor allem das bereits 2012 in englischer Sprache unter dem Titel „The Sleepwalkers. How Europe Wentto War“ erschienene Werk von Christopher Clark, das 2013 auf Deutsch präsentiert wurde. Eher ungewollt löste Clark damit eine Neuauflage der Kriegsschulddebatte aus, sein Werk wurde nicht nur im deutschsprachigen Raum kontrovers diskutiert. Siehe Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog (München 2013); Siehe ferner u. a. Annika Mombauer, Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg (München 2014) sowie Gerd Krumeich, Juli 1914. Eine Bilanz. Mit einem Anhang: 50 Schlüsseldokumente zum Kriegsausbruch (Paderborn 2014). 6 Siehe u. a. Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs (München 2014); Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918 (Berlin 2013); Außerdem für die österreichische Perspektive die gründlich überarbeitete und erweiterte Version des Standardwerks „Der Tod des Doppeladlers“ aus dem Jahr 1993: Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914 –1918 (Wien–Köln–Weimar 2013). 7 Vgl. Michael Epkenhans, Der Erste Weltkrieg. Jahrestagsgedenken, neue Forschungen und Debatten einhundert Jahre nach seinem Beginn; in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 63/2 (2015) 135 –166, hier 143. 3 4

Einleitung

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Am Ende des Jahres 2014, also noch mitten im „Trommelfeuer der Erinnerung“ 8, versuchte die 2. biennale Konferenz des Vereins Forum: ÖsterreichUngarn im Ersten Weltkrieg Antworten auf diese Fragen zu finden und eine erste Bilanz zu ziehen. Die in Wien vom 10. bis 12. Dezember 2014 gemeinsam mit dem Österreichischen Staatsarchiv und dem Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften abgehaltene internationale Tagung 9, die insbesondere auch jungen Kolleginnen und Kollegen eine Plattform zur Diskussion ihrer wissenschaftlichen Forschungen bieten sollte, unterschied sich in ihrer Ausrichtung deutlich von den übrigen Gedenk- und Erinnerungsveranstaltungen. Am Ende des „ErinnerungsMarathons“ wollte man, so die Intention der Veranstalter, innehalten, um einen ersten reflektierten Blick auf die aufgeworfenen Diskurse zu werfen, um (Forschungs-)Ergebnisse zu diskutieren und weiterführende Konsequenzen des Gedenkjahres 2014 zu betrachten. Im vorliegenden Band wird der Versuch gemacht, mit den Artikeln von insgesamt elf Beiträgerinnen und Beiträgern aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen diese Zusammenschau auf dem Stand von Jahresende 2014 zu Papier zu bringen10. Selbstredend vermag es eine derartige Edition nicht, sämtliche Spektren abzudecken, sondern allenfalls Schlaglichter auf die im Vorfeld und im Gedenkjahr 2014 selbst stattgefundenen oder angestoßenen wissenschaftlichen bzw. öffentlichen Diskussionen rund um verschiedene Fragestellungen des Ersten Weltkrieges zu werfen. Drei große Leitthemen haben zur vorliegenden Auswahl geführt: Die kritische Hinterfragung von Erinnerungspolitik und damit zusammenhängenden Narativen; Forschungsansätze, die entweder inhaltlich oder methodisch einen neuen Weg gehen sowie die aktuelle mediale Repräsentationen des Krieges. Dabei wurde darauf geachtet, jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ausreichend Raum zu widmen. Diese Publikation ist daher – durchaus im Einklang mit der Hauptintention des Vereins Forum: Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg, als Plattform für den wissenschaftlichen Austausch zu fungieren und dabei insbesondere Kolleginnen und Kollegen am Beginn ihrer beruflichen Laufbahn zu fördern – mitunter auch als „Schreibwerkstatt“ zu verstehen, mittels derer Nils Freytag, Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg. Einführung; in: Sehepunkte 14, Nr. 7/8 (2014), http://www.sehepunkte.de/2014/07/forum/neuerscheinungen-zum-1-weltkrieg-178/, [6. Februar 2016]. 9 Siehe dazu den Tagungsbericht der Konferenz „Gedenken und (k)ein Ende – Was bleibt vom Jahr 2014? Das Gedenkjahr 1914/2014 und sein historiografisches Vermächtnis“, 10. Dezember 2014 – 12. Dezember 2014 Wien, in: H-Soz-Kult, 24. April 2015, http://www.hsozkult.de/confe-rencereport/id/tagungsberichte-5931, [6. Februar 2016]. 10 Davon ausgenommen ist der Beitrag von Daniel Marc Segesser. 8

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ihre Forschungsergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und zur Diskussion gestellt werden können. Bei einem retrospektiven Blick auf das offizielle Gedenkprogramm auf nationaler Ebene kann klar diagnostiziert werden, dass die zentrale Botschaft verschiedener Regierungen bzw. Regierungsvertreter unverkennbar einem Appell an ein friedliches Miteinander sowie einem Bekenntnis zu einem vereinten Europa verpflichtet war. In Anbetracht der das Jahr 2014 beherrschenden Krisen und Konflikte wie etwa im Nahen Osten oder in der Ukraine wurde europaweit anlässlich verschiedener Gedenktage und -veranstaltungen 2014 dazu aufgerufen, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Im Rahmen der großen Weltkriegs-Gedenkveranstaltung in Lüttich Anfang August 2014 forderte etwa Frankreichs damaliger Staatspräsident François Hollande ein stärkeres internationales Engagement seitens der Europäischen Union. In das gleiche Horn stieß der seinerzeitige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, indem er ein Eintreten „für Freiheit und Recht, für Aufklärung, für Toleranz, für Gerechtigkeit und Humanität” einmahnte und an die „Erfolgsgeschichte“ des friedlichen europäischen Kontinents erinnerte, die sich erst nach zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen vollzogen hatte. Von den „richtigen Lehren“ sprachen am 28. Juli 2014 auch hochrangige Vertreter der österreichischen Bundesregierung, der ehemalige Bundeskanzler Werner Faymann wie auch der damalige Vizekanzler Michael Spindelegger, anlässlich des 100. Jahrestages der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. Beide zogen eine Verbindung von den Ereignissen des Ersten Weltkrieges zu den „großen Herausforderungen“, vor denen Europa angesichts aktueller Konfliktherde stehe. Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz betonte zudem, dass das europäische Friedensmodell „alternativlos“ sei und unterstrich den europäischen Integrationsprozess, der dem Ersten Weltkrieg gefolgt war und eine „Friedenszone“ geschaffen hatte11. Zahlreiche Vorbereitungen für das Gedenkjahr waren europaweit von den dafür einberufenen Gremien oder verantwortlichen Sektionen /Abteilungen bereits vor 2014 getroffen worden, die, abhängig von dafür bereitgestellten finanziellen Mitteln, recht unterschiedliche Formen annahmen. Die Republik 11 Vgl. Epkenhans, Der Erste Weltkrieg 141. Der Autor bezieht sich dabei auf die vom seiner zeitigen deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzlerin Angela Merkel oder dem ehemaligen Bundespräsident Joachim Gauck im Jahr 2014 gehaltenen Reden. Zur Weltkriegs-Gedenkveranstaltung im belgischen Lüttlich am 4. August 2014 siehe http://www.salzburg.com/nachrichten/spezial/1914/sn/artikel/100-jahre-kriegsausbruchgedenken-in-luettich-116215/. Zur Stellungnahme des ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Faymann und seinerzeitigen Vizekanzler Spindelegger anlässlich des Kriegsausbruches am 28. Juli 2014 siehe: http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/ 3845575/Politiker-gedenken-Kriegsausbruch-vor-100-Jahren, [12. März 2016].

Einleitung

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Österreich etwa stellte ihr diesbezügliches „Programm“ im Wesentlichen auf das Fundament eines im August 2013 veröffentlichten „Grundlagenpapiers österreichischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Anlass des Gedenkens des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren“, das vom österreichischen Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten in Zusammenarbeit mit fünf weiteren österreichischen Ministerien initiiert worden war. Es sollte „PolitikerInnen, den VertreterInnen Österreichs an den Botschaften im Ausland sowie den VertreterInnen der einzelnen Ministerien eine konzise Informationshilfe“ hinsichtlich des aktuellen Forschungsstandes zum Ersten Weltkrieg bieten12. Abgesehen davon, dass österreichische Auslandsvertretungen im Jahr 2014 österreichische Erste-Weltkriegs-Historikerinnen und Historiker zu Vorträgen einluden und Ministerien über ein gewisses Budget verfügten, mit dem diverse Veranstaltungen und Publikationsvorhaben gefördert werden konnten, dürfte die Angelegenheit damit für das offizielle Österreich erledigt gewesen sein. In Slowenien oder Frankreich wiederum bildeten sich eigene Komitees, deren Aufgabe darin darin bestand bzw. nachwievor besteht, entsprechende Aktivitäten im Zeitraum der Gedenkjahre 2014 –2018 zu setzen. Während die französische Regierung 2012 die Mission du Centenaire de la Première Guerre Mondiale einsetzte13,  wurde 2013 in Slowenien das Nacionalni odbor za obeležitev 100-letnic 1. Svetovne vojne (2014–2018) / [Nationales Komitee für das 100jährige Jubiläum des Ersten Weltkrieges] gegründet. Dieses Komitee besteht aus Historikerinnen und Historikern sowie Politikerinnen und Politikern und ist mit der Koordination verschiedener Gedenkveranstaltungen betraut worden, um einerseits die Öffentlichkeit für die Thematik zu sensibilisieren und andererseits die Zusammenarbeit mit anderen Ländern zu verstärken14. Neben jenen Gedenkveranstaltungen des Sommers 2014, die mit internationaler Beteiligung insbesondere an den ehemaligen Kriegsschauplätzen der Westfront abgehalten wurden, fand am 28. Juni 1914 ein Gedenk-Konzert der Wiener Philharmoniker in der Vijecnica, dem alten Rathaus in Sarajevo, statt, was die Erinnerungsarbeit des offiziellen 12

Vgl. dazu das im Internet veröffentliche, 47 Seiten umfassende Dokument „1914-2014. Grundlagenpapier österreichischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Anlass des Gedenkens des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren“ (August 2013), das die österreichische Situation im europäischen Kontext fokussiert. Vgl., Ebd., 3, http:// www.bmi.gv.at/cms/cs03documentsbmi/1399.pdf, [12. März 2016]. 13 Dazu auch: http://centenaire.org/fr, [12. März 2016]. 14 Zum slowenisch-englischen Internetauftritt des Komitees, dessen Aktivitäten entscheidend von der slowenischen Expertin für den Ersten Weltkrieg, der Historikerin Petra Svoljšak als Vizepräsidentin mitgestaltet werden, siehe etwa auf Englisch: Slovenian National Committee for the 100th Anniversary of World War I (2014–2018) – presentation; http:// www.100letprve.si/en/noga/slovenian_national_committee/, [12. März 2016].

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Österreich im Jahr 2014 weitgehend abdeckte. Dem Konzert, das, so der seinerzeitige Vorstand der Philharmoniker Clemens Hellsberg, als „Plädoyer für die Versöhnung“ und für die „Idee eines gemeinsamen Europas” verstanden werden sollte, blieben jedoch der serbische Staatspräsident Tomislav Nikolić, Serbiens Premier Aleksandar Vučić sowie das serbische Mitglied im Präsidium Bosnien-Herzegowinas, Nebojša Radmanović, fern15. Während die Diskussion in der Öffentlichkeit und in den Medien im Vorfeld der Gedenkveranstaltungen 2014 weitgehend moderat bis ruhig verlief, sorgte indes die Enthüllung eines Mosaiks in der Stadt Andrićgrad in Ostbosnien, das die Bewegung „Junges Bosnien“ (Mlada Bosna) und die Attentäter, ganz vorne im Bild Gavrilo Princip, zeigt, für einiges Aufsehen16.  Diese zuletzt genannten kleinen „Störfeuer“ gegen ein „gesamteuropäisches“ Gedenken verdeutlichen allerdings, dass der Kriegsausbruch als Ereignis auch 100 Jahre später ein emotional besetztes Feld darstellt, das für (geschichts-)politische Zwecke instrumentalisiert wird. In diesem Zusammenhang konstatierte Jost Dülffer „nationale wie europäische Motive, sich gerade heute der jeweiligen nationalen und europäischen Identität zu versichern“17. Die Hervorhebung des Ersten Weltkrieges als sinnstiftendes Element einer gesamteuropäischen Identität spielte bei zahlreichen Gedenkveranstaltungen zweifellos eine unübersehbare Rolle. Peter Pichler sieht hier in seinem Beitrag für vorliegenden Band einige grundsätzliche Probleme, denen die historische Wissenschaft per se nicht beikommen könne. Zudem gilt zu bedenken, dass die „hehren Worte“ von Politikerinnen und Politikern weder die tatsächliche Erinnerungspolitik noch die historiografischen Tendenzen widerspiegeln müssen. Grundsätzlich hat sich die erinnerungskulturelle Annäherung an den Ersten Weltkrieg auch im Jahr 2014 augenfällig entlang nationaler Narrative orientiert18. Eine „supranationale“ Erinnerung kann einstweilen vor allem in Bezug 15

Grund dafür waren nicht die verfeindeten Positionen Österreichs und Serbiens im Ersten Weltkrieg, sondern vielmehr die im Eingangsbereich des Alten Rathauses angebrachte Tafel mit der Inschrift: „An dieser Stelle haben serbische Verbrecher in der Nacht vom 25. zum 26. August 1992 die National- und Universitäts-bibliothek in Brand gesetzt. Mehr als zwei Millionen Bücher, Magazine und Dokumente verschwanden in den Flammen. Vergesst nicht, erinnert und mahnt!“. Vgl. den Bericht der Wiener Philharmoniker in Sara jevo auf „derstandard.at“ vom 28. Juni 2014. http://derstandard.at/2000002433868/Kaiser hymne-und-Monar-chisten-bei-Welt-kriegsgedenken, [12. März 2016]. 16 Siehe dazu den Bericht auf „derStandard.at“ vom 29. Juni 2014, http://derstandard.at/200 0002434954/Gavrilo-Princip-als-Kaempfer-fuer-die-Republika-Srpska, [12. März 2016]. 17 Dülffer, Erinnerung 351. 18 Vgl. Jürgen Angelow, Johannes Grossmann, Vorwort; in: Jürgen Angelow, Johannes Grossmann (Hgg.), Wandel, Umbruch, Absturz. Perspektiven auf das Jahr 1914 (Stuttgart 2014) 7 f., hier 7.

Einleitung

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auf den westlichen Kriegsschauplatz konstatiert werden, der allerdings schon länger seinen Platz im kollektiven Gedächtnis (West-)Europas gefunden hat und seine dominante Rolle in der historiografischen, aber auch öffentlichen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Fronten zumindest tendenziell behaupten konnte19. In Zusammenhang mit den Gebirgs- und Isonzofronten, welche als in der westeuropäischen Erinnerung weitestgehend ausgeblendete Kriegsschauplätze zu betrachten sind, sind seit einigen Jahren gleichfalls diverse Initiativen bemüht, eine Art transnationalen Erinnerungsort zu schaffen, der angesichts der herannahenden Gedenkjahre 2014/2015 Aufschwung und erhöhte Aufmerksamkeit erfuhr20. Vgl. Korte, Paletschek, Hochbruck (Hgg.), Der Erste Weltkrieg 9. Der 1973 maßgebend von Gabriele und Walther Schaumann gegründete österreichische Verein Dolomitenfreunde ist seit seinen Anfängen bemüht, ein grenzüberschreitendes Bewusstsein für die Weltkriegsereignisse im Gebiet der Südwestfront zu schaffen und hat damit wesentlich zur Schaffung dieses transnationalen Erinnerungsortes beigetragen. Neben dem in Kötschach-Mauthen befindlichen „Museum 1915-18. Vom Ortler bis zur Adria“, dem „Freilichtmuseum des Gebirgskrieges 1915-1917“ am Plöckenpass / Kleiner Pal, sowie den von ihnen initiierten „Friedenswegen - Le Vie della Pace“ in den Dolomiten und den Karnischen Alpen, hat der Verein durch zahlreiche Publikationen ein Zeichen für ein friedliches Miteinander gesetzt und stärkt diesen Erinnerungsort. http://www.dolomitenfreunde.at/, [12. März 2016]. Folgende Publikationen sind beispielhaft genannt: Gabriele Schaumann, Walther Schaumann, Unterwegs zwischen Save und Soca. Auf den Spuren der Isonzofront 19151917 (Klagenfurt 2002); Gabriele Schaumann, Walther Schaumann, Unterwegs vom Plöckenpass zum Kanaltal. Auf den Spuren der Karnischen Front 1915-1917. Das Freilichtmuseum des Gebirgskrieges 1915-1917 Plöckenpass (Klagenfurt 2004); Gabriele Schaumann, Walther Schaumann, Unterwegs vom Pustertal zum Plöckenpass. Auf den Spuren der Karnischen Front 1915-1917 (Klagenfurt 2003). Ähnliche Bestrebungen liegen jenem 2015 erschienenen historischen Wanderführer inkl. Wanderkarte zum Frontabschnitt zwischen Sexten und Plöckenpass zugrunde, der in Kooperation zwischen den Gemeinden Kartitsch und Sexten und den Dolomitenfreunden entstand: Julia Walleczek-Fritz, Peter Fritz, Begehen-Begreifen-Bewahren. Der Erste Weltkrieg entlang des Karnischen Kamms zwischen Sexten und Plöckenpass (Kartitsch-Sexten 2015). Für das Gebiet der Isonzofront ist der in Kobarid ansässige slowenische Verein Pot Miru zu nennen, der die Idee der „Friedenswege“ aufgriff und im Sinne einer Bewahrung und Vermittlung der historischen (Kriegs-)Landschaft im Soča-Tal bzw. bis an die Adriatische Küste weiterführt: Pot Miru (Hg.), The Walk of Peace from the Alps to the Adriatic. A Guide along the Isonzo Front (Kobarid 2015). http://www.potmiru.si/deu/, [12. März 2016]. Vgl. weiterführend auch Gunda Barth-Scalmani, Memory-Landscapes of the First World War: The Southwestern Front in Present-Day Italy, Austria and Slovenia; in: Günter Bischof, Fritz Plasser, Peter Berger (Hgg.), From Empire to Republic: Post-World War I Austria (New Orleans–Innsbruck 2010) 222 –253; Nicola Labanca, Der Erste Weltkrieg in Italien. Von der Erinnerung zur Geschichte und zurück; in: Nicola Labanca, Oswald Überegger (Hgg.), Krieg in den Alpen. Österreich-Ungarn und Italien im Ersten Weltkrieg (1914 -1918) (Wien – Köln –Weimar 2015) 281–306, hier 298 f. Mit Bezug auf Tirol in der Zwischenkriegszeit siehe Oswald Überegger, Erinnerungskriege. Der Erste Weltkrieg, Österreich und die Tiroler Kriegserinnerung in der Zwischenkriegszeit (= Tirol im Ersten Weltkrieg 9, Innsbruck 2011).

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Genau an diesem Punkt eröffnet sich allerdings, dass sich eine Betrachtung des europaweiten (und bisweilen weltweit) ausgerufenen Gedenkjahres insofern problematisch gestaltet, als das Jahr 2014 nicht für alle kriegsteilnehmenden Staaten die einschneidende Zäsur zwischen Krieg und Frieden darstellte. Vor allem die „Späteinsteiger“21 räumen diesem Jahr in ihrer nationalen Erinnerungstradition nicht unbedingt jene Sonderstellung ein, die ihm im westund mitteleuropäischen Raum zukam. Nicht nur mit Italien, sondern auch mit Bulgarien, Rumänien oder Griechenland fällt ein Gutteil des südosteuropäischen Raumes in diese Kategorie. Auch Staaten wie Portugal, China, die USA oder Brasilien orientieren sich an anderen Jahren. Vor diesem Hintergrund ist also zu berücksichtigen, dass mit der Erinnerungskulmination 2014 bereits ein wesentlicher Teil der ehemals kriegführenden Staaten aus dem politisch, aber auch wissenschaftlich arrangierten Gedenkprogramm exkludiert war bzw. die hier bereits angesprochenen transportierten Botschaften in besagten Ländern überhaupt nicht rezipiert wurden. Ebenso spielt im kollektiven Gedächtnisspektrum der als Folge des Krieges entstandenen Länder eine auf den Beginn der Eigenstaatlichkeit fokussierte Nationalhistoriografie mit ihren spezifischen Meistererzählungen oft eine größere Rolle als das Jahr 1914. Es bleibt zu hinterfragen, inwieweit es die jeweilig angesprochenen Gesellschaften vermochten, am Zentenarium zu partizipieren. Gleichzeitig gilt zu eruieren, wie der Input ihrer historischen Zunft aussah. Wie Daniel Mark Segesser bereits 2010 hervorgehoben hat, ist eine eurozentrische Annäherung an die globale Dimension des Weltkrieges deshalb „nicht unproblematisch“22, als damit die kriegsbedingten Verwerfungen außerhalb Europas weitgehend ausgeblendet werden. Dies muss jedoch gleichfalls für die europäische Peripherie gelten; eine Zusammenschau im Sinne einer großen Erzählung fehlte lange Zeit, obgleich eine Hinwendung zu Forschungsdesiderata mit Bezug etwa auf weitgehend unbeforschte Kriegsschauplätze, Regionen und Milieus bereits in den Jahren vor 2014 zu beobachten waren23. Jörn Leonhard mag es angesichts des Gedenkens 2014 am umfassendsten gelungen sein, globale Aspekte in eine

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Lothar Höbelt, To fight or not to fight? Die „Späteinsteiger“ und ihre Entscheidung für den Krieg; in: Angelow, Grossmann (Hgg.), Wandel, Umbruch, Absturz 139 –149. 22 Daniel Marc Segesser, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive (Wiesbaden 2010) 7. 23 Vgl. Hannes Leidinger, Vergleichende Weltkriegsforschung – Analyse und Trends; in: Wolfram Dornik, Julia Walleczek-Fritz, Stefan Wedrac (Hgg.), Frontwechsel. Österreich-Ungarns „Großer Krieg“ im Vergleich (Wien–Köln–Weimar 2014) 37– 47, hier 45 f.; Heather Jones, Jennifer O’Brien, Christoph Schmidt-Supprian, Introduction. Untold War; in: Heather Jones, Jennifer O’Brien, Christoph Schmidt-Supprian (Hgg.), Untold War. New Perspectives in First World War Studies (Leiden–Boston 2008) 1–20, hier 2.

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Gesamtdarstellung und -analyse einfließen zu lassen24. Allerdings bilden, wie Michael Epkenhans anführt, die von deutschen Historikern beigesteuerten Studien mit globalem Blickwinkel, so von Jörn Leonhard, Herfried Münkler und Oliver Janz, nur erste „Bausteine“ für eine vergleichende globale Perspektive auf den Ersten Weltkrieg, zumal bis dato ein „transnationaler Blick […] gleichwohl ein Desiderat“25 darstelle. Ungewiss bleibt, inwiefern sich derartige transnationale Diskurse im internationalen Trend durchsetzen werden und mit nationalen Historiografien interagieren. Der Beitrag in diesem Band über die „Wellen der Erinnerung und der Analyse“ des Ersten Weltkrieges von Daniel Marc Segesser nimmt darauf Bezug. Als ausgewiesener Weltkriegsexperte analysiert er die aufgeworfene Problematik, indem er vorrangig die WeltkriegsHistoriografie in ihrer historischen Entwicklung während der vergangenen 100 Jahre, 1914 – 2014, in globaler Perspektive unter die Lupe nimmt. Gleichzeitig setzt er mit seinem Beitrag, dem der 2014 gehaltene Keynote-Vortrag zugrunde liegt, eine thematische Klammer für die nachfolgenden Texte.26 Die Beiträge im ersten Abschnitt Deutungsmuster und Narrative beziehen sich ebenfalls auf historiografische und erinnerungskulturelle Aspekte. Dabei spannt sich ein thematischer Bogen vom Stellenwert des Ersten Weltkrieges in der slowenischen Erinnerungskultur, der Debatte um Serbiens Verantwortung für den Kriegsausbruch im medialen Diskurs des Jahres 2014, über die Darstellung des Ersten Weltkrieges in modernen russischen Schulbüchern bis hin zur Europäischen Union und ihrer Deutung bzw. „Benutzung“ des Ersten Weltkrieges im Kontext ihrer Gedächtnis- und Identitätspolitik. Karin Almasy konstatiert für Slowenien, dass die Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg erst durch das Gedenkjahr 2014, bzw. verstärkt durch das Jahr 2015 einen breitenwirksamen Aufschwung erlebte und in Ausstellungen, Fernseh-, Zeitungs- und Radiobeiträgen intensiv besprochen wurde. Dabei stellt sie eine Verschiebung des räumlichen Fokus von den Ereignissen entlang der Soške Fronte (Isonzofront) hin zu Fragen der an der Ostfront kämpfenden slowenischen Soldaten, die auf den Schlachtfeldern Galiziens ihr Leben verloren, sowie eine inhaltliche Erweiterung um Aspekte der Alltags-, Sozial- und Geschlechtergeschichte fest. Um ein Plädoyer für eine Deutung der Ereignisse vom Sommer 1914, die 24

Daneben seien noch Herfried Münkler und Oliver Janz genannt, denen es gleichfalls gelang anhand „nationale[r] Erfahrungen der kriegsführenden Länder, recht anschaulich Gemeinsamkeiten wie Unterschiede deutlich zu machen“. Dülffer, Erinnerung 363. 25 Epkenhans, Der Erste Weltkrieg 164. 26 In Anbetracht des fortgeschrittenen „Gedenkjahre-Marathons“ und des Erscheinungsjahres der vorliegenden Publikation, bezieht sich Daniel Marc Segesser in seinen Ausführungen auch überblickshaft auf die „heißen“ Themen des Weltkriegs-Hypes bis zum Zeitpunkt der Drucklegung.

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dominante diesbezügliche Narrative in Frage stellt, geht es im Beitrag von Dario Vidojković. Mit Bezug vor allem auf Christopher Clarks „Die Schlafwandler“ kritisiert der Autor einen „Geschichtsrevisionismus“ und fordert eine „Neuauflage“ jener bereits im Jahr 2013/2014 geführten Debatte um Serbiens Verantwortung für den Kriegsausbruch und über die Person Gavrilo Princips, die sowohl in internationalen wissenschaftlichen Publikationen wie auch medial ausgetragen worden war. Im „supranationalen“ Kontext betrachtet Peter Pichler die Bedeutung des Ersten Weltkrieges für die Geschichts-, Gedächtnisund Identitätspolitik der Europäischen Union und attestiert ihr eine „paradoxe Kohärenz“, bei der Brauchen und Gebrauchen des Ersten Weltkrieges eng miteinander verflochten sind. Nikolav Vlasov analysiert schließlich die Deutung des Ersten Weltkrieges in russischen Schulbüchern, die im Geschichtsunterricht zum Einsatz kommen. Dabei konstatiert der Autor, dass der eigentlich als vergessen geltende Erste Weltkrieg in den Schulbüchern ein stringentes Bild aufweist. Allerdings wird dabei nur knapp und oberflächlich auf den Krieg eingegangen, zudem ist die Darstellung nach wie vor von Narrativen aus der Sowjetzeit geprägt ist. In eine etwas andere Richtung geht der zweite Abschnitt Forschungsansätze und Zugänge, den Christian Terzer mit seinem Beitrag eröffnet. Dieser fragt in einem interdisziplinären Zugang zunächst nach den Möglichkeiten und Grenzen einer Weltkriegsarchäologie und nach dem Erkenntnisgewinn derselben für die wissenschaftliche Forschung. Er konstatiert schließlich neue Perspektiven und Ergebnisse insbesondere für die Erforschung der Alltags-, Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte. Oliver Schulz führt die Diskussion um neue Quellenbestände und damit einhergehende Zugänge in einem Raum fort, der trotz seiner strategischen und militärischen Bedeutung für die Mittelmächte und für die Entente nach wie vor als „weißer Fleck“ in der Weltkriegsforschung gilt. In seinem Beitrag zu Bulgarien gibt der Autor zunächst einen historiografischen Abriss, benennt Desiderata und verortet angesichts der nunmehr zugänglichen Quellenbestände nicht nur großes Potenzial im Bereich sozialund kulturgeschichtlicher Untersuchungen, sondern auch hinsichtlich von Aspekten, die die Nationsbildungsprozesse oder die Erinnerungskultur betreffen. Mit der Frage von Nationalität(en) und ihre(r) Bedeutung für das Werden oder den Untergang eines Reiches beschäftigt sich Anatol Schmied-Kowarzik, der das österreichisch-ungarische Nationalitätenproblem und den Ersten Weltkrieg diskutiert. Er argumentiert, dass dieser Aspekt in der Frage von Österreich-Ungarns Weg in den Krieg bis dato unterbewertet, bei der Beurteilung seines Zerfalls am Ende des Krieges allerdings überbewertet wurde. Es sei angebracht, so der Autor, hinsichtlich des Kriegsausbruchs größeres Augenmerk auf die innere südslawische Frage zu legen und in Bezug auf das Kriegs-

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ende die ab 1916 immer stärker werdenden sozialen Bewegungen eingehender zu beachten. Obzwar nur anhand dreier Beispiele aufgeschlüsselt, wird das Potential von unbearbeiteten Feldern, neuen Quellen und Methoden sowie auch Gewichtungen deutlich gemacht. Dabei ist nicht zu vergessen, dass die Weltkriegshistoriografie noch während des Krieges eingesetzt hat. Seither gab es viele unterschiedliche Voraussetzungen für eine Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg, die ihrerseits spezifische Forschungsansätze, Leerstellen und Interpretationen zur Folge hatten27. Eine Öffnung hinsichtlich neuer Fragestellung und Methoden ist so betrachtet kein Novum, sondern eine Konstante, die vor dem Hintergrund des Gedenkjahres 2014 allerdings neue Dimensionen anzunehmen schien. Dabei sahen sich bereits zuvor Generationen von Forschern mit einem wesentlichen Problem konfrontiert: der Fülle an Primär- und Sekundärquellen. Schon ab dem Kriegsbeginn begann man institutionell, aber auch privat die Dokumentierung des als epochal empfundenen Zeitgeschehens voranzutreiben. Außerdem begünstigte unter anderem die beinahe flächendeckende Alphabetisierungsrate, dass Zeitgenossen zahlreiche Ego-Dokumente verfassten und der Nachwelt hinterließen. Wiewohl aktuell nur mehr vereinzelte Augen- und Zeitzeugen des Ersten Weltkrieges unter den Lebenden weilen, existiert ein enormer Fundus an persönlichen Hinterlassenschaften. Im Vorfeld des Zentenariums entdeckten viele Institutionen wie Bibliotheken oder Museen ihre reichhaltigen und mehr oder weniger in Vergessenheit geratenen Kriegssammlungen aus der Zeit des Weltkrieges wieder. Das damals als „kulturelle Praxis“ verstandene Sammeln sollte für künftige Forschergenerationen „Denkmal und Quellenfundus“ zugleich sein28. Die Wiedererschließung verschiedener themenrelevanter Sammlungen, aber zugleich auch neue Kollektionen, wie etwa das breitenwirksame Projekt „Europeana 1914 -1918“29, welches sich das Ziel setzte, europaweit EgoDokumente zu sammeln, zu digitalisieren und zugleich öffentlich zugänglich zu machen, eröffneten gänzlich neue Möglichkeiten. Bei letzterem wurden und werden nicht nur Fachleute, sondern ebenso interessierte Laien angesprochen und mit einbezogen. In dieser Beziehung kommt dem Gedenkjahr 2014 besondere Bedeutung zu, hat es doch – in einem gefühlten Wettrennen – die 27

Vgl. Gerd Krumeich, Gerhard Hirschfeld, Die Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg; in: Gerd Krumeich, Gerhard Hirschfeld, Irina Renz (Hgg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg (Paderborn – München –Wien –Zürich 2009) 304 –315, hier insbesondere 304. 28 Vgl. Aibe-Marlene Gerdes, Ein Abbild der gewaltigen Ereignisse. Die Kriegssamm lungen zum Ersten Weltkrieg ( = Zeit der Weltkriege 4, Essen 2016). 29 Siehe die aus verschiedenen europäischen Projekten hervorgegangene bzw. gespeiste Online-Sammlung „Europeana 1914 –1918“, http://www.europeana1914 -1918.eu/de, [12. März 2016].

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Digitalisierung entsprechender Bestände beträchtlich vorangetrieben oder den Zugang zu bis dato vernachlässigten Quellen erleichtert bzw. diese prinzipiell stärker in das Bewusstsein gerückt. Gerade die große Anzahl an Ego-Dokumenten, anhand derer persönliche Schicksale und individuelle Erfahrungen im Ersten Weltkrieg als Teil eines kollektiven Erlebens nachvollziehbar wurden und werden, begann schon im Vorfeld des Gedenkjahres 2014 gleichsam für die Forschung wie auch für eine Vermittlung der Thematik im Ausstellungswesen einen unübersehbar großen Stellenwert einzunehmen.30 Obwohl diese oft ein voreingenommenes Bild zeichnen, ist weder der pädagogische Ansatz noch die Tatsache zu leugnen, dass anhand von Einzelschicksalen und greifbaren biografischen Exempeln ein breitenwirksames Interesse generiert werden konnte. In Bezug auf die in Österreich stattgefundene museale Darstellung des Ersten Weltkrieges gingen den Ausstellungsprojekten vielerorts Sammelaktionen – angeregt durch die erfolgreiche Sammelaktion des renommierten Niederösterreichischen Ausstellungszentrums Renaissanceschloss Schallaburg zur dort gezeigten Ausstellung „Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg, 1914 -1918“ – voraus. Dabei gelangte eine Fülle an persönlichen Aufzeichnungen ans Tageslicht, am Beispiel derer den Ausstellungsbesuchern die Dimensionen und Auswüchse des Krieges vermittelt wurden31. Der dritte Abschnitt Öffentlichkeit und medialer Diskurs behandelt gerade die Vermittlung des Ersten Weltkrieges. Bemerkenswert ist dabei, dass hinsicht Dabei handelt es sich keineswegs um eine neue Erfindung, denn Ausstellungsmacher bedienen sich in ihrer Arbeit seit Jahrzehnten und unabhängig der Gedenkjahre zum Ersten Weltkrieg dieses tools. 31 So kündigte etwa in Österreich die Schallaburg Kulturbetriebsges.m.b.H., ein internationales Ausstellungszentrum in Niederösterreich, im Rahmen einer Pressekonferenz im Frühjahr 2013 an, in Hinblick auf die 2014 auf der Schallaburg gezeigte Ausstellung zum Ersten Weltkrieg „Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg, 1914-1918“ (Kuratoren: Christian Rapp und Peter Fritz), eine landesweite Sammelaktion durchführen zu wollen. Die durch diese Aktion zusammengetragenen Objekte, aus denen eine größere Anzahl für die Ausstellung ausgewählt wurde, unterstützten die Vermittlung der persönlichen Erfahrungsdimension im Krieg. In weiterer Folge kündigten diverse österreichische Landes museen, wie auch Regionalmuseen an, ebenfalls Sammelaktionen durchzuführen. Vgl. Christian Rapp, Peter Fritz, Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914 -1918. Zum Ausstellungskonzept; in: Schallaburg Kulturbetriebsges.m.b.H. (Hg.), Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914–1918. Ausstellungskatalog Schallaburg/ Niederösterreich 29. März bis 9. November 2014 (Wien 2014) 8–13, hier insbesondere 13. Zu den Sammelaktionen weiterer österreichischer Museen, die auch im Vorfeld von im Jahr 2015 gezeigten Ausstellungen organisiert wurden, siehe beispielhaft die folgenden Links: http://www.burgenland.at/kultur-wissenschaft/kultur/kulturnews/detail/news/ sammelaktion-fuer-exponate-zum-ersten-weltkrieg-im-burgenland-fuer-ausstellung-imlandesmuseum-gesuc/; http://shop.tiroler-landesmuseen.at/buecher/frontheimat.html, [12. März 2016]. 30

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lich einer Thematisierung von Inhalten mitunter die „Problem- und Grenzzonen“ entlang geografischer (Front-)Räume – vergleichbar mit der bereits erwähnten Dominanz nationaler Narrative – augenfällig wurden, deren wissenschaftliche Bearbeitung sich bereits fortgeschrittener darstellte, als es letztlich in den musealen Aufarbeitungen, die während des Gedenkjahres 2014 der breiten Öffentlichkeit präsentiert wurden, seinen Niederschlag fand32. Sieht man jedoch davon ab, so zeigt sich, dass die Ausstellungen – nicht nur jene auf dem Gebiet ehemaliger Kriegsteilnehmer, sondern etwa auch in Staaten mit ehemals neutralem Status – mehrheitlich die aktuellen Forschungszugänge aufgriffen33. Andrea Brait stellt zunächst am Beispiel zweier Museen – des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden und des Musée de la Grande Guerre du Pays de Meaux – Überlegungen zu Darstellungsformen des Ersten 32

Eine umfassende inhaltliche Analyse kann leider im Rahmen dieser Publikation nicht er folgen, die Problematik sei aber an dieser Stelle angemerkt. Gröbere Schwierigkeiten scheint es in der Darstellung von (vermeintlich) „exotischen“ Kriegsschauplätzen gegeben haben, die aus westeuropäischer Sicht bereits im Frontgebiet zwischen Österreich-Ungarn und Italien – der Südwestfront – ihren Anfang genommen haben dürften. Anhand von 14 Orten sollte die Ausstellung „1914-1918. Der Erste Weltkrieg“ im Deutschen Historischen Museum Berlin eine Übersicht der Ereignisse und ihrer Zusammenhänge „entwerfen“. Im Zuge dessen wurde etwa der „Ort“ Isonzo mit dem Aspekt des Gebirgskrieges verknüpft und dieser wiederum mit dem gesamten Raum der Südwestfront gleichgesetzt. Die Vielschichtigkeit dieses Kriegsschauplatzes – Stichwort Karst – und die damit verbundenen Herausforderungen und Anstrengungen für jene Soldaten, die im Verlauf des Krieges den dortigen Frontverschiebungen zu folgen hatten, wurde damit außer Acht gelassen. http://www.dhm.de/ausstellungen/archiv/2014/der-erste-weltkrieg/die-ausstellung.html, [12. März 2016]. 33 Vgl. dazu exemplarisch die im deutschsprachigen bzw. insbesondere im österreichischen Raum gezeigten Ausstellungen „Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914-1918“ (Renaissanceschloss Schallaburg, Niederösterreich); „Vom Leben mit dem Krieg – Oberösterreich im Ersten Weltkrieg“ (Linzer Schlossmuseum); „Krieg-Trauma-Kunst. Salzburg und der Erste Weltkrieg“ (Salzburg Museum); „Land im Krieg. Das ‚Burgenland‘ 1914-1918 (Landesmuseum Burgenland); „Fern der Front – mitten im Krieg. Niederösterreich 1914-1918“ (Landesarchiv Niederösterreich); eine Reihe von Ausstellung zum Generalthema „Das Rheinland und der Erste Weltkrieg“; „1914-1918. Die Pfalz im Ersten Weltkrieg“ (Historische Museum der Pfalz, Speyer); „Frontstadt. Freiburg im Ersten Weltkrieg“ (Museum für Stadtgeschichte Freiburg). Schallaburg Kulturbetriebsges.m.b.H. (Hg.), Jubel & Elend; http://www.salzburgmuseum.at/index.php?id=1280, [12.März 2016]; Broschüre des Oberösterreichischen Landesmuseums, Oberösterreich im 1. Weltkrieg. Geschichte(n) und Orte, hrsg. Oberösterreichisches Landesmuseum (o. J.), Einführung; http://www.burgenland.at/kultur-wissenschaft/kultur/kulturnews/detail/news/ sammelaktion-fuer-exponate-zum-ersten-weltkrieg-im-burgenland-fuer-ausstellungim-landesmuseum-gesuc/; http://www.noe.gv.at/Bildung/Landesarchiv-/Landesarchiv/ Ausstellung_2014_1WK.html; http://www.museum.speyer.de/Deutsch/Sonderausstellungen/Erster_Weltkrieg.htm; http://www.dreilaendermuseum.eu/de/Netzwerk-Museen/Partner- 2014/Freiburg, [12. März 2016]; Broschüre „1914 – Mitten in Europa. Das Rheinland und der Erste Weltkrieg“, hrsg. Thomas Morus Akademie Bensberg (2013).

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Weltkrieges in Dauerausstellungen an. Im Rahmen einer immer bedeutsameren globalen Perspektive untersucht sie weiterhin vorherrschende nationale Narrative und Deutungen. Martin Kofler verweist auf das Potenzial eines Freiluft-Ausstellungsprojektes, das unter seiner Leitung im Jahr 2014 in Tirol realisiert wurde. Die Vermittlung der Inhalte steht stellvertretend für einen allgemeinen Trend im Ausstellungswesen zum Ersten Weltkrieg, diese nicht vordergründig an einem klassisch militärgeschichtlichen Erzählstrang zu orientieren. Wiewohl entsprechende „Erzählmarken“ für eine Auseinandersetzung mit dem Krieg im Allgemeinen unumgänglich sind, werden vielmehr kultur-, wirtschafts- und sozialgeschichtliche oder geschlechtergeschichtliche Fragestellungen – auch mit regionalem Fokus – aufgegriffen34. Zudem wird deutlich, wie sehr die „Lichtbild-Schau“ (ein regionales, aber grenzüberschreitendes Gemeinschaftsprojekt im Grenzraum Österreich-Italien (Osttirol-Südtirol)) zu einer „barrierefreien“ Auseinandersetzung mit der Thematik und zur Schaffung eines transnationalen Erinnerungsortes beitrug. Im Kontext eines medialen Diskurses beleuchtet abschließend Martin Bayer den Stellenwert des Ersten Weltkrieges für die Computerspiele-Industrie. Er fragt nach der (Be-)Nutzung des Ersten Weltkrieges in den virtuellen und visuellen Medien und beleuchtet anhand des Computerspiels „Valiant Hearts“, das sich an den Ereignissen des Kriegsschauplatzes „Westfront“ orientiert, die Intention der Spieldesigner und die von ihnen gewählten Erzähl- und Darstellungsformen. Nachbetrachtungen in Bezug auf das Gedenkjahr 2014 wird es noch viele geben. Im vorliegenden Band sind – wie bereits eingangs erwähnt – unter Berücksichtigung der Momentaufnahme von 2014 und mit Ausnahme des Beitrages von Daniel Marc Segesser, erste unmittelbare Eindrücke zusammengefasst, die sich auf ausgewählte Aspekte beziehen. Angesichts dessen sind sich die Herausgeberinnen und Herausgeber dieses Bandes des „Wagnis der Unmittelbarkeit“ bewusst. Aktuelle Entwicklungen, welche eine veränderte Europäische Union betreffen, verweisen indessen auf die begrenzte Wirkmacht eines Gedenkens, das nicht zuletzt auf die Bewahrung der europäischen Ein Die herannahenden Gedenkjahre bzw. das Jahr 2014 selbst bot ebenso für (Militär-)Museen Anlass, den Bereich „Erster Weltkrieg“ ihrer permanenten Ausstellung, unter Berück sichtigung kulturgeschichtlicher Aspekte neu aufzustellen. Vgl. dazu beispielhaft die Neukonzeption des Bereiches „Erster Weltkrieg“ im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien, der im Juni 2014 eröffnet wurde.  Vgl. http://www.hgm.at/de/ausstellungen/permanenteausstellungen/erster-weltkrieg.html; http://derstandard.at/1381371896888/Heeresgeschichtliches-Museum-erweitert-Ausstellungsflaeche-zum-Ersten-Weltkrieg, [12. März 2016].

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heit auch und gerade in schwierigen Zeiten Bezug nahm. Wir danken in jedem Fall den Autorinnen und Autoren dieses Bandes, die in ihren Texten zeitnahe Bilanzen wagten und dabei Perspektiven eingenommen und Themen gewählt haben, die zu weiteren Betrachtungsweisen und Diskussionen einladen. Weiterer Dank gilt auch allen Referentinnen und Referenten der Konferenz „Gedenken und (k)ein Ende? – Was bleibt vom Jahr 2014?“ für ihre Bemühungen, ihre Bereitschaft zur Diskussion und zum Austausch. Herzlich bedanken möchten wir uns bei den beiden Mitveranstaltern der Konferenz Generaldirektor Senatsrat Doz. Dr. Wolfgang Maderthaner und Hofrat Dr. Christoph Tepperberg (Österreichisches Staatsarchiv) sowie Univ.-Prof. Mag. Dr. Michael Gehler (Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften). Weiters gilt unser Dank den Sponsoren der Konferenz, namentlich dem Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres und der Schallaburg Kulturbetriebsges.m.b.H., ohne deren großzügige Unterstützung die Konferenz nicht durchführbar gewesen wäre. Die Drucklegung des Bandes haben ermöglicht das Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres, die Abteilung Wissenschaft und Forschung des Landes Niederösterreich sowie die Stadt Wien.

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Wellen der Erinnerung und der Analyse: Gedanken zu Historiographie und Narrativen vom „Großen Krieg“ zwischen 1914 und 2014 in globaler Perspektive In Anlehnung an Eric Hobsbawm1 lässt sich festhalten, dass für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Medienleute, die sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen, 2014 durchaus als ein Jahr der Extreme bezeichnet werden kann. Auch wenn es vielleicht angesichts der Kugeln und Granaten, die den Männern an der Front um die Ohren pfiffen und angesichts des Hungers, der die Gesellschaft zu Hause schon bald nach Kriegsbeginn zu plagen begann, vermessen klingen mag, so ist die Feststellung, wonach der Hype von 2014 für die Beteiligten wohl gesundheitsschädigend war, doch nicht ganz falsch. Termine und Publikationen jagten sich, so dass es kaum möglich war und ist, auch nur ansatzweise einen Überblick über die vielfältigen in diesem Zusammenhang erfolgten Aktivitäten zu gewinnen2. Es scheint, als ob eine Welle der Erinnerung und Analyse 2014 die Weltkriegsforschung wie ein Tsunami überrollt hat. Daher ist es angebracht, danach zu fragen, wie dieses Jahr mit Blick auf die Historiographie und die Narrative vom „Großen Krieg“ einzuordnen sowie mit Blick auf seine „Wellenhöhe“ zu bewerten ist. Dabei soll exemplarisch auch danach gefragt werden, in welchen Zyklen „Wellen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg“ wo auftraten, welches die Triebkräfte

Eric Hobsbawm, Age of Extremes: The Short Twentieth Century, 1914 –1991 (London 1994). 2 Eine Übersicht zu bieten versuchen http://www.100-jahre-erster-weltkrieg.eu; http://www. 1914.org oder http://centenaire.org/fr, [27. Oktober 2016]. Vgl. zudem Martin Bayer, Der Erste Weltkrieg in der internationalen Erinnerung; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64, 16–17 (2014) 47–53; Stig Förster, Hundert Jahre danach. Neue Literatur zum Ersten Weltkrieg; in: Neue Politische Literatur: Berichte aus Geschichts- und Politikwissenschaft 60 (2015) 5 –25; Alan Kramer, Recent Historiography of the First World War; in: Journal of Modern European History 12 (2014) 5–27 & 155–174 oder Matthias Schöning, Das Maschinengewehr und der „kulturelle“ Faktor. Die aktuelle Historiographie zum Ersten Weltkrieg; in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 24 (2014) 467– 481. 1

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waren und in welcher Weise diese die Weltkriegsforschung in neue oder erneuerte alte Bahnen lenkten3. Um diese Fragen zu beantworten soll als erstes der historiographische Umgang mit dem Weltkrieg mit den jüngsten Entwicklungen in der Forschung gerade in diesem Jahr verknüpft werden. Dabei soll geklärt werden, wer heute wo anknüpft und welche Fragestellungen vielleicht – ob zu Recht oder zu Unrecht bleibe dahingestellt – heute verschüttet sind. Danach werden nationale Narrative und transnationale Ansätze zum Thema, bevor nach neuen Quellen und Ansätzen in der Weltkriegsforschung gefragt wird. Im vierten Teil will ich einen Ausblick wagen. Historikerinnen und Historiker sind zwar keine Propheten, aber es gibt schon gewisse Anzeichen an der Wand, die zeigen, wie es mit diesem Hype – auch gerade in globaler Perspektive – weitergehen könnte. Als letztes soll versucht werden, einige Schlussfolgerungen mit Blick auf die weitere Arbeit von Historikerinnen und Historikern zu ziehen. Ausgangspunkt für meine Ausführungen bildet ein Zitat des gerade in Tirol durchaus umstrittenen österreichischen Generals Viktor Dankl4, der bei Kriegsbeginn Kommandeur der im nordwestlichen Galizien stationierten ersten Armee wurde: „Frankreich mobilisiert. Deutschland hat Kriegserklärung an Russland übergeben. Die Schweiz mobilisiert; der Weltkrieg ist da!“5 Diese Worte notierte Dankl bereits am 2. August 1914, also vor dem Kriegseintritt Großbritanniens und seines Empires, der gemeinhin als Schlüsselmoment für den Übergang von einem europäischen Krieg zu einem Weltkrieg bezeichnet wird6. Dankl ging es einerseits wie anderen Zeitgenossen darum, den welthistorischen Charakter des Ereignisses in einen Begriff zu fassen, wie Oliver

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Den im Titel verwendeten Begriff der „Wellen der Erinnerung“ haben mit Blick auf den Ersten Weltkrieg Barbara Korte, Sylvia Paletschek, Wolfgang Hochbruck, Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur. Einleitung; in: Barbara Korte, Sylvia Paletschek, Wolfgang Hochbruck (Hgg.), Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur (Essen 2008) 7–24, hier 9 eingeführt. Von einer zyklisch verstärkten Beschäfti gung sprechen Christian Meierhofer, Jens Wörner, Der Weltkrieg und das Populäre. Ein interdisziplinärer Vorschlag; in: Christian Meierhofer, Jens Wörner (Hgg.), Materialschlachten: Der Erste Weltkrieg und seine Darstellungsressourcen in Literatur, Publizistik und populären Medien 1899–1929 (Göttingen 2015) 9– 66, hier 9. 4 Siehe dazu entsprechende Anmerkungen von Oswald Überegger, Der andere Krieg: Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg (Innsbruck 2002) 93–105. 5 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Kriegsarchiv (KA), Nachlass Dankl: B/3/5: Kriegstagebuch, Bd.1 (31. Juli – 20. September 1914) 4 (2. August 1914). 6 Stig Förster, Vom europäischen Krieg zum Weltkrieg; in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hgg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg (Paderborn 2003) 242–248, hier 242; Jürgen Osterhammel, In Search of a Nineteenth Century; in: GHI Bulletin Washington D.C. 32 (2003) 9–28, hier 13.

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Janz dies zu Recht betont hat7. Andererseits war sich Dankl aber auch der globalen Dimensionen, die dieser Konflikt annehmen würde, durchaus bewusst8. Dass er dabei als letztes vor seiner Feststellung, dass der Weltkrieg da sei, die Mobilmachung der Schweiz erwähnte, hatte nichts mit der welthistorischen Bedeutung des Landes zu tun – wie dies einige rechtsnationale Politiker und Historiker dort sicher gerne deuten würden – sondern mit der Tatsache, dass, wenn selbst kleine Staaten wie die Schweiz sich auf einen europäischen Großkrieg einstellten, kaum jemand von dessen Folgen verschont bleiben würde. Dankls Aussage kann daher auch als Hinweis gelesen werden, dass es in diesem Weltkrieg nicht nur die Großmächte, sondern auch die so genannten kleinen Staaten einer Untersuchung wert sind 9. Im übertragenen Sinne ist die Aussage aus heutiger Perspektive auch eine Aufforderung sowohl die Makro- wie die Mikrogeschichte nicht zu vergessen und zu versuchen, die verschiedenen Ebenen der Erfahrungen und Lebenswelten im Großen Krieg bestmöglich zu verknüpfen. Vollumfänglich ist das natürlich nicht machbar, aber in einer guten Zusammenarbeit ist eine Annäherung an eine Totalgeschichte, wie sie Roger Chickering in seinem Ausspruch „total war requires total history“10 für einen so umfassenden Krieg für angemessen hielt, doch möglich. Dazu sollte auch die Forschung selbst Grenzen im Dialog überwinden, um die Perspektiven der eigenen wissenschaftlichen Sozialisation zu erweitern und gegenseitig für einander fruchtbar zu machen11. Oliver Janz, Einführung: Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive; in: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014) 147–159, hier 159. 8 So finden sich bei Dankl auch Hinweise auf die mögliche Rolle Japans und des Osmanischen Reiches in diesem Krieg. ÖStA, KA, Nachlass Dankl: B/3/5: Kriegstagebuch, Bd. 1 (31. Juli – 20. September 1914) 9–11 (4. August und 5. August 1914). 9 Das hat jüngst auch Maartje Abbenhuis in einem in vergleichender Perspektive angelegten Vortrag zum Thema „Exceptional neutrality? Situating Switzerland in the context of the First World War“ an der Tagung „Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg zu Recht wieder hervorgehoben. Siehe dazu: https://www.infoclio.ch/de/am-rande-des-sturms-das-schweizer-militär-im-ersten-weltkrieg-face-à-la-tempête-larmée-suisse, [27. Oktober 2016]. 10 Roger Chickering, Total War: The Use and Abuse of a Concept; in: Manfred Boemeke, Roger Chickering, Stig Förster (Hgg.), Anticipating Total War: The German and American Experiences 1871–1914 (Washington 1999) 13–28, hier 27. 11 Margrit Pernau, Transnationale Geschichte (Göttingen 2011) 50 –51 zu entsprechenden Ansätzen der Histoire Croisée. Vgl. zu letzterer im engeren Sinne auch: Monica Juneja, Margrit Pernau, Lost in Translation? Transcending Boundaries in Comparative History; in: Heinz-Gerhard Haupt, Jürgen Kocka (Hgg.), Comparative and Transnational History: Central European Approaches and New Perspectives (New York 2009) 105–129 und Michael Werner, Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung: Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen; in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002) 607–636. 7

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1. Die Historiographie zum Weltkrieg 1914  – 2014 und ihre Verbindungen mit der Gegenwart Vor mehr als zehn Jahren publizierten Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz mit der Hilfe von Markus Pöhlmann und einer großen Anzahl von Einzelautorinnen und - autoren im Schöningh Verlag die „Enzyklopädie Erster Weltkrieg“. Damit legten sie ein Werk vor, welches trotz aller Schwächen in den Details damals wie heute immer noch Referenzcharakter hat. In ihrem Vorwort machten die Herausgeberin und Herausgeber aber eine wichtige Feststellung, die bis heute weiterhin in weiten Teilen ihre Gültigkeit bewahrt hat: „Die Forschungsintensität und Vielseitigkeit historiographischer Aneignungen hat zu einer ungewollten Fragmentierung in Spezialgebiete geführt, die nur mühsam oder gar nicht mehr miteinander in Beziehung gebracht werden können. So sind etwa zwischen der Geschichte der Schlachten und der Geschichte der Frauenarbeit im Krieg die Abstände derart groß, dass wir mittlerweile Gefahr laufen, die Gesamtheit des Weltkriegs aus den Augen zu verlieren. Die Verschiedenheit und Ausdifferenzierung der Forschungsansätze und -ergebnisse kann auf Dauer nur wissenschaftlich fruchtbar sein, wenn die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen historiographischen Feldern erhalten bleibt. Doch nicht nur eine Aufsplitterung der Geschichtsschreibung über den Weltkrieg ist kontraproduktiv, sondern – mehr noch – die nach wie vor starke, wissenschaftlich überhaupt nicht zu rechtfertigende, national-kulturelle Beschränktheit der Forschung.“12

Auf den letzteren Punkt werde ich in meinem zweiten Abschnitt nochmals zurückkommen, möchte hier aber zuerst einmal einen Blick auf die Entwicklung werfen, die zu dieser Verschiedenheit und Ausdifferenzierung der Forschungsansätze geführt hat. Das Erinnern, Gedenken und die historiographische Beschäftigung mit dem Weltkrieg begann nicht erst an dessen Ende. Eine erste Welle erfasste viele Länder noch während des Krieges. Schon in dieser Zeit gab es auf allen Seiten eine intensive Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie dieser Konflikt nach seinem Ende in Erinnerung bleiben sollte. Sammlungen wurden aufgebaut und Personen damit beauftragt, sich Gedanken zu machen, welche Dinge, Beschreibungen und Erinnerungen, gerade auch an Gefallene, für die 12

Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz, Vorwort; in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hgg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg (Paderborn 2003) 9–11, hier 9. Seit 2014 existiert mit 1914–1918–Online eine ähnlich angelegte Enzyklopädie, die einen weit globaleren und transnationaleren Charakter hat als die Enzyklopädie Erster Weltkrieg (http://encyclopedia.1914-1918-online.net/home/, [23. Juni 2016]). In fast noch stärkerem Ausmaß leidet sie allerdings angesichts der Fülle der Beiträge unter einer ungewollten Fragmentierung in Spezialgebiete.

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Nachwelt wie aufbewahrt werden sollten. Beispiele dafür sind die Weltkriegsbücherei, die heutige Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart, das Imperial War Museum in London oder das aus der Australian War Records Section schließlich in Canberra entstandene Australian War Memorial. In allen drei Fällen wurden mit dem Aufbau der Sammlungen klare Ziele verfolgt. Es ging darum, die eigene Erfahrung ins Zentrum zu setzen und die Erinnerung möglichst auf eine klar national-kulturelle Perspektive zu lenken, was nicht zuletzt dem Erhalt der Moral an der so genannten Heimatfront dienen sollte13. Das blieb auch für die Erinnerung an und die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Krieg nicht ohne Folgen. Der vom australischen Historiker Bill Gammage für die Publikation seiner Dissertation 1974 gewählte Titel der „Broken Years“14, mit welcher er die Schicksale der einzelnen australischen Veteranen zu beschreiben suchte, charakterisiert eigentlich wesentlich mehr als das und weist auf den weitgehenden Zusammenbruch der internationalen, auch wissenschaftlichen Kooperation in den Jahren des Krieges und vielfach auch in der Zeit danach hin. Gerade die in Europa heftige Diskussion um die Kriegsschuldfrage, die in Deutschland gar eine Zeitschrift mit genau diesem Titel hervorbrachte, zeigt den zum Teil außerordentlich tiefen Graben in der sozio-kulturellen Erinnerung der Menschen, aber eben auch in der historischen Forschung zum Weltkrieg in den 1920er Jahren15. Auch die militärhistorische Forschung zielte in dieser Zeit darauf ab, die eigenen Stärken und Schwächen im Krieg dahingehend zu analysieren, was denn in einem zukünftigen Krieg besser gemacht werden könne16. Parallel zu dieser von militärischen Gesichtspunkten und den Interessen der Politik und Diplomatie wie der Veteranen geprägten Welt gab es in der Zwischenkriegszeit aber auch einen ganz anderen Ansatz. Dieser wurde vom Carnegie Endowment of International Peace verfolgt. Schon vor 1914 hatte Gerhard Hirschfeld, Die Stuttgarter Weltkriegsbücherei 1915–1944; in: Barbara Korte, Sylvia Paletschek, Wolfgang Hochbruck (Hgg.), Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur (Essen 2008) 47–57; Peter Londey, Nigel Steel, Der Erste Weltkrieg als nationaler Erinnerungsort: Das Imperial War Museum in London und das Australian War Memorial in Canberra; in: Barbara Korte, Sylvia Paletschek, Wolfgang Hochbruck (Hgg.), Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur (Essen 2008) 27– 46. Vgl. dazu auch Oliver Janz, Das symbolische Kapital der Trauer: Nation, Religion und Familie im italienischen Gefallenenkult des Ersten Weltkrieges (Tübingen 2009). 14 Bill Gammage, The Broken Years: Australian Soldiers in the Great War (Harmondsworth 1974). 15 Annika Mombauer, Julikrise und Kriegsschuld – Thesen und Stand der Forschung; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64 / 16 –17 (2014) 10 –16, hier 10 –11. 16 Vgl. dazu Stig Förster (Hg.), An der Schwelle zum Totalen Krieg: Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1919–1939 (Paderborn 2002). 13

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dieses Pläne gehabt, um die Auswirkungen von Kriegen auf zivilisierte Gesellschaften zu untersuchen. Der Kriegsausbruch 1914 veränderte die Situation grundlegend und veranlasste die Stiftung dazu, eine umfassende Geschichte des Weltkrieges an die Hand zu nehmen, „the theme of which should be the extent of the displacement caused by the war in the normal processes of civilization“17. Auf der Grundlage einer allgemeinen Anleitung durch den Hauptherausgeber, den amerikanischen Historiker James T. Shotwell, sollten nicht nur Orientierungshilfen und Bibliographien für zukünftige Historikerinnen und Historiker entstehen, sondern auch eine große Zahl von nach Ländern geordneten Monographien. Vorgesehen war je eine Serie für Großbritannien und das Empire, Frankreich und seine Kolonien, Österreich‑Ungarn, das Deutsche Reich, Russland bis zur Revolution, Italien, Rumänien, Holland sowie die skandinavischen Länder. Mit den beiden letzten Serien sollte gezeigt werden, dass auch die neutralen Staaten vom Krieg maßgeblich betroffen gewesen seien. Als Autoren sollten namhafte Wirtschaftswissenschaftler, Historiker und Philologen sowie Rechtswissenschaftler ebenso gewonnen werden, wie Akteure und Politiker aus dem Krieg beziehungsweise der unmittelbaren Nachkriegszeit18. Auch wenn die Pläne Shotwells nie vollständig umgesetzt wurden, waren sie von einem klaren Verständnis dessen geprägt, wie sich „Zivilisationen“ entwickeln sollten. Etliche Gebiete der Welt wie China, erhebliche Teile Afrikas, Asiens und des Nahen Ostens sowie Amerikas wurden daher nicht in ihren Blick genommen. Nichts desto trotz bildete die Economic and Social History of the World War den ersten Versuch, um die Geschichte des Weltkrieges in transnationaler und interdisziplinärer Art und Weise zu untersuchen. Zudem war hier auch eine sehr vielschichtige Beschäftigung mit dem Krieg zu beobachten, die eine Annäherung an die von Roger Chickering beschriebene Form einer kooperativ erarbeiteten „total history of total war“ bildete. Ernährungs- und Versorgungsfragen spielten dabei eine wichtige Rolle, ein Aspekt der heute außerhalb Österreichs und der Schweiz19 nur mehr am Rand James T. Shotwell, Economic and Social History of the World War: Outline of Plan: European Series (Washington 1924) 1. Dieser Satz macht auch deutlich, dass der als Hauptherausgeber dieser Serie von Studien zur Geschichte des Weltkrieges – ähnlich wie vor dem Krieg Norman Angell, The Great Illusion: A Study of the Relation of Military Power in Nations to their Economic and Social Advantage (New York 1910) – deutlich machen wollte, wie schädlich und unsinnig Krieg für die Wirtschaft sei und wie sehr diese unter den daraus resultierenden Folgen und den staatlichen Eingriffen in das Wirtschaftsleben leide. 18 Shotwell, History 12–23. 19 Vgl. Ernst Langthaler, Die Großstadt und ihr Hinterland; in: Alfred Pfoser, Andreas Weigl (Hgg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs: Wien im Ersten Weltkrieg (Wien 2013) 232–239; Ernst Langthaler, Vom transnationalen zum regionalen Hinterland – und retour: Wiens Nahrungsmittelversorgung vor, im und nach dem Ersten Weltkrieg; in: 17

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Beachtung findet. Dass sich das Projekt des Carnegie Endowment gegen die national-kulturelle Verengung in der Forschung zumindest vorerst nicht durchzusetzen vermochte, lag einerseits in der Intensität der dazumaligen Diskussion zur Kriegsschuldfrage begründet, die Shotwells Projekt bewusst ausklammerte. Andererseits konzentrierte sich die Wissenschaft angesichts der steigenden Bedrohungen der 1930er Jahre im Zeichen einer „geistigen Landesverteidigung“ – um einen Begriff aus der Schweiz zu verwenden – verstärkt wieder auf die eigene nationale Entwicklung und eigene nationale Interessen20. Dies verdrängte inter- und transnationale Ansätze. Der Zweite Weltkrieg führte dazu, dass die Forschung zur Geschichte des Ersten in den Jahren 1939 bis 1959 zu großen Teilen von einer stärkeren Welle verdrängt wurde und damit in den Hintergrund rückte21. Aus dem „Großen Krieg“ wurde nun in vielen Teilen der Welt der Erste Weltkrieg, auch wenn die Begriffe der „Grande Guerre“ in Frankreich und vor allem „Great War“ in Großbritannien geläufig blieben. In vielen Teilen wurde dem Konflikt nun Vorläufercharakter mit Blick auf die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges zugesprochen. Auf dem Hintergrund einer Diskussion über Kontinuitäten in der deutschen Außenpolitik in der Zeit zwischen Bismarck und Hitler rückte mit dem Buch „Der Griff nach der Weltmacht“ von Fritz Fischer auch die Kriegsschuldfrage wieder ins Zentrum der Forschung zum Ersten Weltkrieg22. Die Reaktionen waren heftig, dies sowohl in der Wissenschaft wie in der Politik. Fischer und seine Schüler wurden in diesem Zusammenhang auch als „Nestbeschmutzer“ bezeichnet. In den 1980er Jahren etablierte sich ein weitgehender Konsens, wonach das Deutsche Reich zwar den Hauptteil der Verantwortung für den Kriegsbeginn zu tragen hatte, aber kein von langer Hand entwickelter Plan bestanden habe, einen europäischen, ja einen Weltkrieg auszulösen. So ebbte die Welle erst einmal ab. Im Kontext der Rezeption des Buches „Die Schlafwandler / The Sleepwalkers“ von Christopher Clark sollte sie allerdings Stefan Karner, Philipp Lesiak (Hgg.), Erster Weltkrieg: Globaler Konflikt – lokale Folgen: Neue Perspektiven (Innsbruck 2014) 307–318; Daniel Krämer, Christian Pfister, Daniel Marc Segesser (Hgg.), „Woche für Woche neue Preisaufschläge“: Nahrungsmittel-, Energie- und Ressourcenkonflikte in der Schweiz des Ersten Weltkrieges (= Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte 6, Basel 2016). 20 Zur Schweiz vgl. Christian Koller, Die schweizerische „Grenzbesetzung 1914/18“ als Erinnerungsort der „Geistigen Landesverteidigung“; in: Hermann J. W. Kuprian, Oswald Überegger (Hgg.), Der Erste Weltkrieg im Alpenraum: Erfahrung, Deutung, Erinnerung. La Grande Guerra nell’arco alpino. Esperienze e memoria (Innsbruck 2006) 441–462. 21 Annika Mombauer, Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg (München 2014) 12. 22 Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht: Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914/18 (Düsseldorf 1961).

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2013/14 neue Höhen erreichen23. Während Clark betonte, dass es ihm nicht darum gehe, einen Schuldigen zu suchen, er allerdings eine wesentliche Mitverantwortung Frankreichs und Russlands für gegeben erachtete,24 legte besonders Herfried Münkler großen Wert darauf, dass das Deutsche Reich und die Habsburgermonarchie keineswegs absichtlich einen Präventivkrieg heraufbeschworen hätten25. Die deutsche Publizistin Cora Stephan hielt sogar fest, dass Clark nachweise, „dass von einer deutschen ‘Schuld‘ an der Katastrophe nicht die Rede sein kann und dass sich die ‘Verantwortung‘ dafür die Staatsmänner aller beteiligten Nationen teilen müssen“26. Damit überlagerte die Kriegsschuldfrage insbesondere in Deutschland im Jahr 2014 viele andere spannende Ansätze, die schon vor dem Abflauen der Debatte in den 1980er Jahren große Bedeutung erlangt hatten. Dazu gehörte, dass sich in den späten 1960er und vor allem den 1970er Jahren, in welchen das öffentliche Interesse am Ersten Weltkrieg ansonsten langsam nachließ27, das in der Geschichtswissenschaft allgemein dominierende Paradigma der Sozialund Wirtschaftsgeschichte auch in der Weltkriegsforschung durchzusetzen begann. Die bekanntesten Beispiele waren die Bücher „Army, Industry and Labor in Germany 1914 –1918“ von Gerald Feldmann aus dem Jahr 1966, „The Deluge. British Society and the First World War“ von Arthur Marwick aus dem Jahr 1965 und „Klassengesellschaft im Krieg: Deutsche Sozialgeschichte, 1914–1918“ von Jürgen Kocka aus dem Jahr 197328. Mit der Zeit gewann auch die sich aus der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Krieges entwickelnde Alltagsgeschichte an Bedeutung, sei es mit dem Fokus auf Soldaten, Arbeiter, Frauen oder Kinder sowie Jugendliche29. Damit rückten 23

Mombauer, Julikrise 12–15. Christopher Clark, The Sleepwalkers: How Europe went to War in 1914 (London 2012), erschienen in deutscher Übersetzung als Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog (München 2013). 25 Herfried Münkler, Der Große Krieg: Die Welt 1914–1918 (Berlin 2013) 82–106. 26 Cora Stephan, Die Urkatastrophe; in: Die Welt vom 14. November 2013, abrufbar unter: http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article121873002/Die-Urkatastrophe.html, [27. Oktober 2016]. 27 Korte, Paletschek, Hochbruck (Hgg.), Weltkrieg 10. 28 Gerald Feldmann, Army, Industry and Labor in Germany 1914–1918 (Princeton 1966); Arthur Marwick, The Deluge. British Society and the First World War (London 1965); Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg: Deutsche Sozialgeschichte, 1914 –1918 (Göttingen 1973). 29 Gail Braybon, Women Workers in the First World War: The British Experience (London 1981); Jay Winter, The Great War and the British People (London 1986); Ute Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft: Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg (Göttingen 1989); Stéphane Audoin-Rouzeau, La Guerre des Enfants (1914–1918) (Paris 1993); Christoph Jahr, Gewöhnliche Soldaten: Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer (Göttingen 1998). 24

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auch in Europa diejenigen in den Vordergrund, die in einer unbestreitbar nationalen Verengung schon seit der Zwischenkriegszeit die Geschichtsschreibung in Australien dominiert hatten30. Spätestens ab den 1990er Jahren wurde dann die Kulturgeschichte zum bestimmenden Paradigma der Weltkriegsgeschichte. Mentalitäten, Haltungen, Repräsentationen und Psychologien sowie die Formen der Erinnerung an den Krieg rückten in den Vordergrund. Die klassische Sozialgeschichte, als deren Grundlage fälschlicherweise der Marxismus betrachtet wurde, galt angesichts des Falls des Kommunismus nach 1990 als veraltet und inadäquat. Das langsame Aussterben der letzten Veteranen machte zudem die Frage nach Formen der Erinnerung aktuell. Bis heute ist die Kulturgeschichte des Krieges in weiten Teilen, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, dominant geblieben31. Daran haben Studien, die den Ersten Weltkrieg umfassend auf dem Hintergrund des Konzeptes des totalen Krieges in den Blick nahmen32, ebenso wenig etwas geändert wie im Zeichen eines „global turn“ vorgebrachte Forderungen nach einer stärkeren Betonung transnationaler und globaler Verflechtungen. Dieser Prozess ist allerdings immer noch im Gang und dabei ist es meines Erachtens wichtig, die jeweiligen Ansätze keinesfalls als gegeneinander gerichtet, sondern vielmehr als komplementär zu verstehen. Jüngste Publikationen wie beispielsweise die von Jay Winter herausgegebene „Cambridge History of the World War“, Jörn Leonhards „Büchse der Pandora“ oder „14: Der Große Krieg“ von Oliver Janz versuchen dieser Tatsache Rechnung zu tragen, es gelingt ihnen allen allerdings nicht immer im wünschbaren Ausmaß33.

2. Nationale Narrative und transnationale Ansätze In diesem zweiten Abschnitt wird die Frage nationaler Narrative und transnationaler Ansätze aufgegriffen. Dabei soll gezeigt werden, wie gerade Ansätze aus der transnationalen und Globalgeschichtsschreibung uns vielleicht einen 30

Charles E. W. Bean (Hg.), The Official History of Australia in the War of 1914 –1918, 12 Bde. (Sydney 1921–1943). 31 John Horne, War and Conflict in Contemporary European History 1914–2004; in: Zeithistorische Forschungen. Studies in Contemporary History 1 (2004) 347–362, hier 351, online unter http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2004, [27. Oktober 2016]; Jay Winter, Antoine Prost, The Great War in History: Debate and Controversies (Cambridge 2005) 25 –31. 32 Roger Chickering, Stig Förster (Hgg.), Great War, Total War: Combat and Mobilization on the Western Front, 1914–1918 (Cambridge 2000); Daniel Marc Segesser, Empire und Totaler Krieg: Australien 1905–1918 (Paderborn 2002); Roger Chickering, The Great War and Urban Life in Germany (Cambridge 2007). 33 Jay Winter (Hg.), The Cambridge History of the First World War, 3 Bde. (Cambridge 2014); Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora: Geschichte des Ersten Weltkriegs (München 2014); Oliver Janz, 14: Der Große Krieg (Frankfurt a.M. 2013).

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Weg weisen können, um die gemäß Hirschfeld, Krumeich und Renz „überhaupt nicht zu rechtfertigende, national-kulturelle Beschränktheit der Forschung“34 zu überwinden oder zumindest dafür zu sorgen, dass die Wissenschaft nicht darin gefangen bleibt. Trotz aller Ausdifferenzierung der Forschung ist es auch heute weiterhin so, dass bestimmte Themen in bestimmten Ländern immer noch dominieren und die Kommunikation über die Grenzen hinweg weiterhin erschweren. Es ist natürlich hier nicht möglich, diese nationalen Narrative alle abzubilden, aber ich will versuchen, an einigen exemplarischen Beispielen – der neutralen Schweiz, dem im Zentrum des Krieges stehenden Deutschen Reich und dem weitab der wichtigsten Frontlinien gelegenen Australien – zu zeigen, wie transnationale Ansätze dabei helfen können, national-kulturellen Verengungen auch dann nicht zu erliegen, wenn der Untersuchungsgegenstand primär national ausgerichtet ist. Als erstes Beispiel habe ich die Schweiz gewählt, deren Mobilmachung für Dankls Ausruf, wonach nun der Weltkrieg da sei, eine so wichtige Rolle spielte. Interessanterweise hatte sich die Wissenschaft dort nach einer Reihe von wirtschaftsgeschichtlichen Studien in den 1920er Jahren35 der Beschäftigung mit diesem Konflikt weitgehend entzogen. Die meisten Wellen der Weltkriegsforschung auf internationaler Ebene hinterließen in der Folge in der Schweiz kaum Spuren. Bis 2014 datierte die letzte Monographie zur Geschichte des Landes während des Ersten Weltkrieges aus den Jahren 1928 bis 1930, als der unter starkem deutschem Einfluss stehende Jacob Ruchti seine Darstellung veröffentlicht hatte. In seinem zweibändigen Werk versuchte er politischen, militärischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekten gerecht zu werden und vor allem zu zeigen, mit welchen großen Herausforderungen während dieses Krieges auch ein kleines und neutrales Land wie die Schweiz konfrontiert gewesen war36. Ruchti war zwar noch nicht direkt Teil der Bemühungen zur Schaffung einer schweizerischen Einheit im Zeichen der „Geistigen Landesverteidigung“, wie sie während des Zweiten Weltkrieges dann dominant wurde, aber es finden sich bei ihm schon erste Ansätze in diese Richtung. Die Hirschfeld, Krumeich, Renz (Hgg.), Vorwort 9. Gustav A. Frey, Die Rohstoffversorgung der Schweiz während des Krieges besonders in der Textil- und Metallindustrie (Aarau 1921); Heinrich Sieveking, Schweizerische Kriegswirtschaft (Lausanne und Leipzig 1922); Eduard Scheurmann, Die Milchversorgung der Schweiz während des Krieges und der Nachkriegszeit. Darstellung und Kritik (Stuttgart 1923); Traugott Geering, Handel und Industrie der Schweiz unter dem Einfluss des Weltkrieges (Basel 1928). 36 Jacob Ruchti, Geschichte der Schweiz während des Weltkrieges 1914–1919, 2 Bde. (Bern 1928–1930). Das Buch war wohl zusammen mit den in der vorangehenden Fussnote genannten Werken auch der Grund dafür, dass das Carnegie Endowment darauf verzichtete, die Schweiz in seine Serien aufzunehmen. Vgl. Shotwell, History 10. 34 35

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„Geistige Landesverteidigung“ bestimmte denn auch die weitere, wenn auch zugegebenermaßen nicht besonders intensive Beschäftigung der Historikerinnen und Historiker mit der Geschichte des Ersten Weltkrieges in der Schweiz. In der Rückprojektion wurde die Frage der Einheit des Landes als einer Insel in den stürmischen Wogen des Krieges ins Zentrum gerückt. Filme wie „Füsilier Wipf“ oder „Gilberte de Courgenay“, die im Ersten Weltkrieg spielen, aber die nationale Kohäsion im Zweiten im Blick hatten, sind Beispiele dafür, wie die Geschichte des Großen Krieges mit Blick auf spätere Jahre instrumentalisiert und damit auch die Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges während langer Jahre bestimmt wurde37. In den 1960er und 1970er Jahren erfasste zwar eine kleine Welle der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Weltkrieges auch die Schweiz, im Fokus stand aber weniger das Land im Krieg als vielmehr der Landesgeneralstreik an dessen Ende38. Erst als sich das Erinnerungsjahr 2014 am Horizont immer deutlicher abzuzeichnen begann, gab es größere Forschungsprojekte39 und wurden eine Reihe von Aufsätzen in der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte publiziert40. Im Erinnerungsjahr selber erschienen Koller, Grenzbesetzung 441–462; Peter Neumann, Im patriotischen Dienst: „Füsilier Wipf“ als Film der Geistigen Landesverteidigung; in: Konrad J. Kuhn, Beatrice Ziegler (Hgg.), Der vergessene Krieg: Spuren und Traditionen zur Schweiz im Ersten Weltkrieg (Baden 2014) 233–246; Beatrice Ziegler, Hierarchisierungen in der Grenzbesetzung: Zivilgesellschaften und Armee im Film „Gilberte de Courgenay“; in: Konrad J. Kuhn, Beatrice Ziegler (Hgg.), Der vergessene Krieg: Spuren und Traditionen zur Schweiz im Ersten Weltkrieg (Baden 2014) 247–265. 38 Willi Gautschi, Der Landesstreik 1918 (Zürich 1968); Markus Mattmüller, Die Zürcher Arbeiterbewegung während des Ersten Weltkrieges; in: Zürcher Taschenbuch 90 (1970) 65–87; Joe Schelbert, Der Landesstreik vom November 1918 in der Region Luzern (Luzern 1985); Hanspeter Schmid, Krieg der Bürger: Das Bürgertum im Kampf gegen den Generalstreik 1919 in Basel (Zürich 1980); Marc Vuillemier (Hg.), La Grève Générale de 1918 en Suisse (Genf 1977). Zu den wenigen Studien in welchen nicht der Landesgeneralstreik im Vordergrund steht, gehören: Hans-Ulrich Jost, Linksradikalismus in der deutschen Schweiz 1914–1918 (Bern 1973) und Heinz Ochsenbein, Die verlorene Wirtschaftsfreiheit: Methoden ausländischer Wirtschaftskontrollen über die Schweiz (Bern 1971). 39 http://p3.snf.ch/project-126434; http://p3.snf.ch/Project-130929; http://p3.snf.ch/project 141906 sowie http://p3. snf. ch/project-160716, [27. Oktober 2016]. 40 Daniel Marc Segesser, Nicht kriegführend, aber doch Teil eines globalen Krieges: Perspektiven auf transnationale Verflechtungen der Schweiz im Ersten Weltkrieg; in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 63 (2013) 364–381; Alexandre Elsig, Un „laboratoire de choix“? Le rôle de la Suisse dans le dispositif européen de la propagande allemande (1914–1918); in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 63 (2013) 382–404; Patrick Bondallaz, De la charité populaire à la diplomatie humanitaire: l’exemple des secours suisses en faveur de la Serbie; in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 63 (2013) 405–427; Roman Wild, Volksschuhe und Volkstücher zu Volkspreisen: Zur Bewirtschaftung lederner und textiler Bedarfsartikel im Ersten Weltkrieg in der Schweiz; in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 63 (2013) 428 – 452; Konrad J. Kuhn, Beatrice 37

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dann mit den Büchern „Insel der unsicheren Geborgenheit“ von Georg Kreis und „14/18: Die Schweiz und der Grosse Krieg“ von Roman Rossfeld, Thomas Buomberger und Patrick Kury auch umfangreichere neue wissenschaftliche Studien, die sich differenzierter mit dem Geschehen beschäftigen, sich aber weiterhin an der Frage der Insellage, des Sonderfalls und der Neutralität der Schweiz abarbeiten41. Die enge politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und sogar militärische Verflechtung der Schweiz mit ihrer Umgebung vor 1914 hat die Historikerinnen und Historiker im Land aber dazu gebracht, die dominanten Narrative zu hinterfragen und eine stärkere Kooperation jenseits der Nationalgeschichte auch dann zu suchen, wenn der Untersuchungsgegenstand primär in der Schweiz liegt42. Besonders deutlich wird dies im Buch von Rossfeld, Buomberger und Kury, in welchen auch den Verflechtungen der Schweiz im Weltkrieg mit Blick auf die Internierung ausländischer Kriegsgefangener, auf den Einfluss ausländischer Propaganda, auf schweizerische Kriegsmaterialexporte oder auf Spielarten der Neutralität thematisiert werden. Ganz zu Recht betitelte daher eine Schweizer Zeitung ihre Rezension des Buches und Besprechung der damit verbundenen Ausstellung mit „Alles andere als eine Insel“43. Auch der Blick nach Deutschland zeigt, dass es selbst in einem Land mit einer außerordentlich ausdifferenzierten, von vielen Wellen unterschiedlich geprägten Weltkriegsforschung immer noch nationale Narrative – vielleicht macht es mehr Sinn, in diesem Zusammenhang von konkurrierenden Deutungsmustern zu sprechen – das Potential haben, die Diskussion zu dominieren. Das hat sich gerade im Umgang mit der Studie von Christopher Clark gezeigt, die besonders Ziegler, Tradierungen zur Schweiz im Ersten Weltkrieg: Geschichtskulturelle Prägungen der Geschichtswissenschaft und ihre Folgen; in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 63 (2013) 505–526. 41 Georg Kreis, Insel der unsicheren Geborgenheit: Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914– 1918 (Zürich 2014); Roman Rossfeld, Thomas Buomberger, Patrick Kury (Hgg.), 14/18: Die Schweiz und der Grosse Krieg (Baden 2014). 42 Jakob Tanner, Die Schweiz im Grossen Krieg: Plädoyer für eine transnationale Geschichte; in: Roman Rossfeld, Thomas Buomberger, Patrick Kury (Hgg.), 14/18: Die Schweiz und der Grosse Krieg (Baden 2014) 8–17. Erste thematische Studien sind Harald Fischer-Tiné, The Other Side of Internationalism: Switzerland as a Hub of Militant AntiColonialism c. 1910–1920; in: Patricia Purtschert, Harald Fischer-Tiné (Hgg.), Colonial Switzerland: Rethinking Colonialism from the Margins (New York 2015) 221–258 und Florian Weber, Die amerikanische Verheissung: Schweizer Aussenpolitik im Wirtschaftskrieg 1917/18 (= Die Schweiz im Ersten Weltkrieg 1, Zürich 2016). Allgemein zu dieser Tendenz in der Schweiz André Holenstein, Mitten in Europa: Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte (Baden 2014) und Jakob Tanner, Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert (München 2015). 43 Marc Tribelhorn, Alles andere als eine Insel; in: Neue Zürcher Zeitung vom 23. August 2014, 55.

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in Deutschland – natürlich auch mit einem durchaus politischen Hintergrund – zu großen Diskussionen geführt hat. Auf der einen Seite standen diejenigen, welche mit Clarks Buch den Beweis als nun definitiv erbracht hielten, dass Deutschland nicht allein schuld am Krieg sei und die daraus wie Dominik Geppert, Sönke Neitzel, Cora Stephan und Thomas Weber sogar die Forderung ableiteten, dass Deutschland sich von seinem „Schuldstolz“ befreien müsse, um in der Welt von heute wieder eine aktivere Rolle zu spielen: „Pazifismus und die Überwindung des Nationalstaates sind nicht die einzig denkbaren Schlussfolgerungen aus den Weltkriegen.“ 44 Solche Aussagen blieben natürlich nicht unwidersprochen. Besonders Gerd Krumeich machte mit seiner Studie zur Julikrise – auch sie viel kritisiert45 – deutlich, dass das Deutsche Reich eine besondere Verantwortung für den Beginn des Weltkrieges trage46, eine Aussage, in welcher Krumeich auch durch den damaligen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck unterstützt wurde47. Neben dieser – vielleicht auch nur zeitweisen – Rückfokussierung auf die Kriegsschuldfrage ist in Deutschland aber auch weiterhin eine starke Hinwendung zur Geschichte des eigenen Landes im Ersten Weltkrieg festzustellen, die bestenfalls – wie gerade auch bei Krumeich – mit einer Fokussierung auf den deutsch-französischen Gegensatz einhergeht. Neuere Studien nehmen verstärkt auch andere Räume wie Polen, Belgien oder die deutschen Kolonien in den Blick, doch sind diese Studien weiterhin geprägt von einer Perspektive „Deutschland und…“48. Auch in Dominik Geppert, Sönke Neitzel, Cora Stephan, Thomas Weber, Der Beginn vieler Schrecken; in: Die Welt vom 3. Januar 2014, online unter: http://www.welt.de/print/die_ welt/politik/article123489102/Der-Beginn-vieler-Schrecken.html, [27. Oktober 2016]. 45 Ein Beispiel ist: Friedrich Kiessling, Zwei Neuerscheinungen von Gerd Krumeich zum 1. Weltkrieg; in: sehepunkte: Rezensionsjournal für die Geschichtswissenschaften 14/7– 8 (2014), online unter http://www.sehepunkte.de/2014/07/23637.html, [27. Oktober 2016]. 46 Gerd Krumeich, Juli 1914: Eine Bilanz (Paderborn 2014). 47 Reden von Bundespräsident Joachim Gauck an der Gedenkveranstaltung „100 Jahre Erster Weltkrieg“ in Lüttich sowie an der Katholischen Universität Löwen jeweils am 4. August 2014 online unter http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/ Joachim-Gauck/Reden/2014/08/140804-Gedenken-Luettich.html und http://www.bundes praesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2014/08/140804-GedenkenLoewen.html, [27. Oktober 2016]. 48 Beispiele sind: Stephan Lehnstaedt, Fluctuating between ’Utilisation’ and Exploitation: Occupied East Central Europe during the First World War; in: Wlodzimierz Borodziej, Joachim von Puttkamer (Hgg.), Legacies of Violence: Eastern Europe’s First World War (München 2014) 89–112; Gerd Krumeich, Deutschland, Frankreich und der Krieg: Historische Studien zu Politik, Militär und Kultur (Essen 2015); Christian Westerhoff, Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg: Deutsche Arbeitskräftepolitik im besetzten Polen und Litauen 1914–1918 (Paderborn 2012); Wilfried Loth, Marc Hanisch (Hgg.), Erster Weltkrieg und Dschihad: Die Deutschen und die Revolutionierung des Orients (München 2014). 44

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Jörn Leonhards „Büchse der Pandora“ bleibt die Beschäftigung mit Deutschland trotz aller teilweise auch sehr gelungenen Teilen zu anderen Teilen der Welt dominant49. Ähnliches gilt auch für Ernst Pipers Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges unter dem Titel „Nacht über Europa“, in welchem die Bedeutung und Transformation der Bereiche Kunst und Kultur im Zentrum stehen50. Die Welle der transnational bzw. global orientierten Weltkriegsforschung vermochte die Analysen zum und die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Deutschland also nur zum Teil in eine neue Richtung zu lenken. Auch in Australien dominieren nationale Narrative die Diskussionen zum Ersten Weltkrieg noch sehr stark und vielleicht stärker als dies vor einigen Jahren und Jahrzehnten der Fall gewesen ist. Der Fokus lag dabei – nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass es in diesem Krieg nur wenige hohe australische Offiziere gab – lange Zeit und teilweise immer noch auf den Taten und dem Schicksal der als diggers bezeichneten australischen Soldaten. Stand dabei zu Beginn noch die enge Verbindung zum Empire im Vordergrund, so trat mit der Zeit angesichts der Kritik am Vietnamkrieg und eines wachsenden australischen Nationalismus auch immer mehr der eigenständige Charakter des Handelns dieser Soldaten in den Vordergrund51. Ab den 1980er Jahren erfasste auch Australien die Welle der Alltagsgeschichte, wobei der Fokus hier nicht primär auf den Soldaten lag, die bereits länger ein das eigene Land überhöhendes Thema gewesen waren, sondern vor allem auf der Rolle der Frauen für den Krieg, aber auch im Widerstand gegen den Krieg52. Gleichzeitig wurde das bis Außereuropäische Gebiete finden im über 1000 Seiten dicken Buch immer nur kurz Erwähnung. Beispiele sind: Leonhard, Büchse 194–204, 267–274, 313, 399, 484–490, 655– 661, 688 –722, 869 – 872, 909 – 913, wobei die längsten Abschnitte dem Kriegseintritt der USA und dessen Folgen gewidmet sind. Ähnliches gilt auch für Münkler, Krieg. 50 Ernst Piper, Nacht über Europa: Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs (Berlin 2013). 51 Michael McKernan, Writing about War; in: Michael McKernan, Margaret Browne (Hgg.), Australia: Two Centuries of War and Peace (Canberra 1988) 11–21. Vgl. Auch Ken Inglis, The Anzac Tradition; in: Meanjin Quarterly 24 (1965) 25– 44; Gammage, Broken Years und John Dawes, Leslie Lloyd Robson, Citizen to Soldier: Recollections of Members of the First A.I.F. (Melbourne 1977). 52 Jan Bassett, Ready to Serve: Australian Women in the Great War; in: Journal of the Australian War Memorial 2 (1983) 8–16; Joy Damousi, Socialist Women and Gendered Space: The Anti-Conscription and Anti-War Campaigns of 1914 –18; in: Labour History 60 (1991) 1–15; Jennifer Crew, Women’s Wages in Britain and Australia during the First World War; in: Labour History 57 (1989) 27– 43; Judith Smart, The Panacea of Prohibition: The Reaction of the Women’s Christian Temperance Union of Victoria to the Great War; in: Sabine Willis (Hg.), Women, Faith & Fetes: Essays in the History of Women and the Church in Australia (Melbourne 1977) 162–192; Judith Smart, Feminists, Food and Fair Price; in: Labour History 50 (1986) 113–131; Judith Smart, The Great War and the ‘Scarlet Scourge’: Debates about Veneral Diseases in Melbourne during World War I; in: Judith Smart, Tony Wood (Hgg.), An Anzac Muster: War and Society in Australia and New Zealand 1914–18 and 1939–45 (Carlton Vic. 1992) 58–85. 49

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anhin dominante, auf Ernest Scott zurückgehende Narrativ einer einig im Krieg stehenden australischen Gesellschaft nachhaltig in Frage gestellt53. Daneben erschienen in dieser Zeit allerdings auch erste Studien über höhere australische Offiziere, die bis dahin im Unterschied zu vielen anderen Ländern nur am Rand ein Thema gewesen waren54. Ende der 1980er Jahre entspann sich zudem eine Auseinandersetzung um die Behandlung der deutschen Einwanderer in Australien während des Krieges55 und die Frage, inwiefern Australien selbst während des Krieges wirklich bedroht gewesen sei56. Ab den 1990er Jahren begann auch in Australien die Kulturgeschichte die Weltkriegshistoriographie zu bestimmen. Im Vordergrund standen dabei die Folgen von Krieg allgemein und später auch spezifisch des Ersten Weltkrieges für die australische Gesellschaft sowie Formen der Erinnerung57. In jüngster Zeit ist in Australien dabei eine gewisse 53

Ernest Scott, Australia during the War (Sydney 1936); Dan Coward, The Impact of War on New South Wales: Some Aspects of Social and Political History, 1914–17 (Canberra 1974); Marilyn Lake, A Divided Society: Tasmania during World War I (Melbourne 1975); Kevin Fewster, The Operation of State Apparatuses in Times of Crisis: Censorship and Conscription 1916; in: War & Society 3 (1985) 37–54; Raymond Evans, Loyalty and Disloyalty: Social Conflict on the Queensland Homefront, 1914–18 (Sydney 1987); Frank Cain, The Wobblies at War: A History of the IWW and the Great War in Australia (Melbourne 1993). Jüngstes Werk dazu ist John Connor, Peter Stanley, Peter Yule, The War at Home (= The Centenary History of Australia and the Great War 4, Oxford 2015). 54 Beispiele sind: Alec J. Hill, Chauvel of the Light Horse: A Biography of General Sir Harry Chauvel (Carlton Vic. 1978); Chris Coulthard-Clark, A Heritage of Spirit. A Biography of Major-General William Throsby Bridges (Melbourne 1979); Geoffrey Serle, John Monash, A Biography (Melbourne 1982); Peter A. Pedersen, Monash as Military Commander (Melbourne 1985); Chris Coulthard-Clark, No Australian Need Apply: The Troubled Career of Lieutenant-General Gordon Legge (Sydney 1988). 55 Gerhard Fischer, The Darkest Chapter: Internment and Deportation of Enemy Aliens in Queensland, 1914 –1920; in: Manfred Jürgensen, Alan Corkhill (Hgg.), The German Presence in Queensland over the last 150 Years (St. Lucia 1988) 22–52; Gerhard Fischer, Enemy Aliens: Internment and the Homefront Experience in Australia 1914 –1920 (St. Lucia 1989). 56 John Moses, Australia and the ‘Kaiser’s War’: On Understanding the ANZAC Tradition: Argument and Theses (Brisbane 1993); John Moses, The Great War as Ideological Conflict – An Australian Perspective; in: War & Society 7/2 (1989) 56 –76; Peter Overlack, Australian Defence Awareness and German Naval Planning in the Pacific, 1900 –1914; in: War & Society 10/1 (1992) 37–51; Anthony Cooper, The Australian Historiography of the First World War: Who is Deluded?; in: Australian Journal of Politics and History 40 (1993) 16–35; Peter Overlack, German Interest in Australian Defence, 1901–1914: New Insights into a Precarious Position on the Eve of War; in: Australian Journal of Politics and History 40/1 (1993) 36 –51; Peter Overlack, German Commerce Warfare Planning for the Australian Station, 1900 –1914; in: War & Society 14 /1 (1996) 17– 47. 57 Beispiele sind: Stephen Garton, The Cost of War: Australians Return (Melbourne 1996), Ken Inglis, Sacred Places: War Memorials in the Australian Landscape (Melbourne 1998) oder Joy Damousi, The Labour of Loss: Mourning, Memory and Wartime Bereavement in Australia (Cambridge 1999) und mit einem Fokus allein auf den Ersten Weltkrieg

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Spannung zwischen den Aussagen akademischer und populärwissenschaftlicher Werke zum Krieg festzustellen, wobei letztere dazu tendierten, ältere Formen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wieder zu stärken58. Bei etlichen Historikerinnen und Historikern führte dies zu durchaus heftiger Kritik: „The key premise of the Anzac legend is that nations and men are made in war. It is an idea that had currency a hundred years ago. Is it not now time for Australia to cast it aside?“59 Dennoch gilt es festzuhalten, dass es auch weiterhin Studien gibt, welche die Erfahrungen an der Front mit denjenigen in der Heimat zu verknüpfen suchen60, welche die Organisation und Funktionsweise der Australian Imperial Force breiter – auch mit Blick auf die Entwicklungen hinter der Front – thematisieren61 oder die Verflechtungen der Erfahrungen und Lebenswelten australischer Kriegsteilnehmer mit denjenigen aus anderen Ländern betonen62. Generell lässt sich mit Carolyn Holbrook feststellen, dass die Wellen der Weltkriegsforschung Australien immer wieder erfassten, die australische Historiographie ihnen aber, wie im Bereich der Geschichte des Soldatenalltags, teilweise auch voran ging. Andererseits gibt es in Australien auch sehr nationale Narrative, welche wie der ANZAC-Mythos die Erinnerung an und die Analyse zum Ersten Weltkrieg weiterhin entscheidend mitbestimmen63. Bruce Scates, Return to Gallipoli: Walking the Battlefields of the Great War (Cambridge 2006) oder Bart Ziino, A Distant Grief: Australians, War Graves and the Great War (Perth 2007). 58 Carolyn Holbrook, Historiography 1918–Today (Australia); in: 1914–1918–online. International Encyclopedia of the First World War, ed. by Ute Daniel, Peter Gatrell, Oliver Janz, Heather Jones, Jennifer Keene, Alan Kramer, and Bill Nasson, issued by Freie Universität Berlin, Berlin 2014–12–16 online unter http://encyclopedia.1914-1918-online.net/ article/historiography_1918-today_australia, [27. Oktober 2016]. 59 Marilyn Lake, Henry Reynolds, Mark McKenna, Joy Damousi, What’s Wrong with Anzac? The Militarisation of Australian History (Sydney 2010) 173. 60 Joan Beaumont, Broken Nation: Australians in the Great War (Crow’s Nest 2013). Beiden Aspekten gerecht zu werden, versuchen auch die neu gestalteten Ausstellungsräume zur Geschichte Australiens im Ersten Weltkrieg im Australian War Memorial in Canberra, wie Alexandra Walton, Exhibition Review: Australia in the Great War, Australian War Memorial, Canberra; in: Australian Historical Studies 46/2 (2015) 304 –307 zeigt. 61 Jean Bou, Peter Dennis, The Australian Imperial Force (= The Centenary History of Australia and the Great War 5, Oxford 2016). 62 Peter Stanley, Die in Battle, Do Not Despair: The Indians on Gallipoli, 1915 (Solihull 2015); John Connor, Anzac and Empire: George Foster Pearce and the Foundations of Australian Defence (Cambridge 2011). Mit letzterem Werk hat der Autor gezeigt, dass selbst das Genre der Biographie Ansatzpunkte für transnationale Analysen bieten kann. 63 Holbrook, Historiography. ANZAC war ursprünglich ein Akronym für “Australian and New Zealand Army Corps,” dessen Ursprung sich nicht mehr genau klären lässt. Im Verlauf der Zeit wurde der Begriff jedoch sowohl von Behörden wie in der allgemeinen Öffentlichkeit für weit mehr als das gebraucht. Heute ist ANZAC eine öffentliche Ins-

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Die nationalen Narrative sind also immer noch wirkmächtig. Das zeigt im Übrigen gerade im angelsächsischen Raum die Namensänderung zweier Archive. Aus dem Public Record Office in London wurde 2003 The National Archives und schon 1998 aus den Australian Archives die National Archives of Australia64. Dennoch ist es auch wichtig festzustellen, dass die Bereitschaft, nationale Ausrichtungen mittels von Ansätzen der transnationalen und Globalgeschichtsschreibung zu hinterfragen, bereits dazu geführt hat, dass die nationalkulturelle Verengung der Weltkriegsforschung zumindest in Teilen aufgebrochen werden konnte. In diesem Bereich sind allerdings mit Sicherheit weitere Anstrengungen notwendig. Dabei sollte der Begriff der transnationalen Geschichte aber nicht zu eng zu verstanden werden65. Meines Erachtens wäre hier eine Anlehnung an Sebastian Conrads Vorstellungen einer Globalgeschichte sinnvoll und daher transnationale Geschichte zu verstehen als Geschichte mit transnationalem Horizont, als Geschichte transnationaler Verflechtungen und als Geschichte vor dem Hintergrund globaler Veränderungen in welcher auch nationale Forschungstraditionen mit reflektiert werden66. Damit bleibt die Untersuchung nationalstaatlicher, aber auch und besonders regionaler Aspekte weiterhin möglich, ohne dass dadurch eine national-kulturelle Verengung resultieren muss. Das gilt für alle Ebenen und Formen der historischen Beschäftigung mit dem Krieg, sei die nun global, national, regional oder lokal, politik-, wirtschafts-, sozial-, kultur- oder militär-historisch ausgerichtet. Verschiedene Studien, so beispielsweise von Oswald Überegger in Zusammenarbeit mit Hermann Kuprian und Nicola

titution und ein Datum (ANZAC-Day, 25. April), die für die australische Gesellschaft ganz allgemein eine zentrale Rolle spielt. Seit 1916 ist der Begriff auch markenrechtlich geschützt. Vgl. Seal, Graham: Anzac (Australia), in: 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, ed. by Ute Daniel, Peter Gatrell, Oliver Janz, Heather Jones, Jennifer Keene, Alan Kramer, and Bill Nasson, issued by Freie Universität Berlin, Berlin 2015-02-20, http://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/anzac_australia, [27. Oktober 2016]. 64 http://www.naa.gov.au/about-us/organisation/history/index.aspx, [27. Oktober 2016]. Leider fehlen analoge Informationen auf der Homepage der britischen National Archives. 65 Teilweise findet sich ein solcher Ansatz bei Jay Winter: „Transnational history […] takes multiple levels of historical experience as given, levels which are both below and above national level. Thus the history of mutiny is transnational, in that it happened in different armies for different reasons, some of which are strikingly similar to the sources of protest and refusal in other armies.“ Global Perspectives on World War I: A Roundtable Discussion; in: ZeithistorischeForschungen. Studies in Contemporary History 1 (2014) 92–119, hier 95, online unter http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2014, [27. Oktober 2016]. 66 Sebastian Conrad, Globalgeschichte: Eine Einführung (München 2013) 10. Zur Reflexion nationaler Forschungstraditionen vgl. Werner, Zimmermann, Vergleich 609, 622–624.

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Labanca67, haben in den letzten Jahren eindrücklich belegt, dass dies möglich ist, wenn die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Feldern bewusst gesucht und gefördert wird68.

3. „Neue“ Quellen und Ansätze in der Weltkriegsforschung Angesichts der Fülle von Studien ist es natürlich nicht immer einfach, neue Erkenntnisse zur Geschichte des Ersten Weltkrieges zu gewinnen. „Neue“ Quellen zu finden, ist schwierig, da viele schon bearbeitet wurden. Andererseits zeigt der vorliegende Band doch, dass es gerade auf der lokalen und regionalen Ebene noch sehr viel Material gibt, das entweder ganz neu ist oder das neue Zugänge ermöglicht. Nur als Beispiel zu nennen sind die vielen im Rahmen der Vorbereitungen zur Ausstellung auf der Schallaburg in Niederösterreich zusammengetragenen Gegenstände und Artefakte69. Dazu gehören aber auch die Datenbank zu Angehörigen der Tschechoslowakischen Legion, das Projekt Europeana mit dem ganzen ihm angeschlossenen Material, oder auch bloß die Tatsache, dass immer mehr Archive Quellen online bereitstellen. Besonders innovativ ist dabei das Vorgehen der National Archives of Australia, wo Bestellungen auch von außerhalb Australiens möglich sind und digitalisierte Quellen dann allen Forschenden gleichmäßig zur Verfügung stehen70. Auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf hat 2014 Teile seiner Bestände zum Ersten Weltkrieg, darunter auch die Karteikarten der Agence Internationale des Prisonniers de Guerre online gestellt71. Quellen sind heute also Hermann J. W. Kuprian, Oswald Überegger (Hgg.), Der Erste Weltkrieg im Alpenraum: Erfahrung, Deutung, Erinnerung. La Grande Guerra nell’arcoalpino. Esperienze e memoria (Innsbruck 2006); Nicola Labanca, Oswald Überegger (Hgg.), Krieg in den Alpen: Österreich-Ungarn und Italien im Ersten Weltkrieg (1914–1918) (Wien 2015). 68 Vgl. auch die Tagung „Der Erste Weltkrieg an der Grenze. Grenzregionen und -Gesellschaften im europäischen Vergleich“ an der Freien Universität Bozen, 14.–15. November 2014, von der es leider keine Publikation geben wird. https://www.unibz.it/de/public/ research/zefuer/wkIgrenze.html, [27. Oktober 2016]. 69 Christian Rapp, Peter Fritz, Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914 –1918. Zum Ausstellungskonzept; in: Schallaburg Kulturbetriebsges.m.b.H. (Hg.), Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914–1918. Ausstellungskatalog Schallaburg/ Niederösterreich 29. März bis 9. November 2014 (Wien 2014) 8–13, hier 13. 70 Beispiele für das Online-Stellen von Quellen finden sich bei den National Archives of Australia (http://www.naa.gov.au/collection/fact-sheets/fs249.aspx), bei den National Archives in London (http://www.nationalarchives.gov.uk/about/our-role/transparency/ digitisation-and-digital-archives/) oder im deutschen Bundesarchiv (https://www.bundesarchiv.de/fachinformationen/00885/index.html.de), [27. Oktober 2016]. 71 http://grandeguerre.icrc.org/fr, [27. Oktober 2016]. 67

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transnational viel besser greifbar als dies noch vor 20 Jahren der Fall war und dies ist für die Forschung gerade mit einem transnationalen Ansatz durchaus von erheblichem Vorteil. Gleichzeitig besteht damit die Möglichkeit, regionale Quellen aus dem Kontext einer eigenen Forschung besser mit solchen aus anderen Kontexten in Bezug zu setzen und damit einen erheblichen Erkenntnisgewinn zu erzielen. Historikerinnen und Historikern steht hier noch viel Arbeit bevor, denn nicht in allen Teilen der Erde ist der Zugang zu Quellen gleich gut möglich. Das betrifft keineswegs nur Archive in außereuropäischen Ländern, sondern auch solche in unserer unmittelbaren Nähe. Es sind aber nicht nur „neue“ oder besser bereitgestellte Quellen, die einen Erkenntnisfortschritt versprechen. Auch schon bekannte Quellen können immer wieder neue Antworten geben. So finde ich selbst in Quellen, die ich vor fast zwanzig Jahren in den damaligen Australian Archives erschlossen hatte, Antworten auf Fragen, die ich damals nicht gestellt hatte72. Das hat einerseits damit zu tun, dass seither neue methodische Ansätze gerade im Bereich der transnationalen und Globalgeschichtsschreibung, aber auch in der Kultur- und Klimageschichte, aufgetaucht sind.73 Gleichzeitig ist es allerdings andererseits auch so, dass es zwar Paradigmata für die Weltkriegsforschung auf globaler Ebene gegeben hat, dass diese aber nicht immer im gleichen Maß in den verschiedenen Teilen der Welt Fuß zu fassen vermochten. So stellte Boris Kolonitsky von der European University in St. Petersburg 2014 fest, dass die Interessen der Historikerinnen und Historiker in der ehemaligen Sowjetunion sich lange Zeit von solchen im Westen und anderen Teilen der Welt unterschieden. Daher kam er zum Schluss, dass „some issues that are treated as ‘done’ as far as British, French or German histories are concerned could be absolutely innovative being applied to the field of Russian history, […] and it could help also to use new groups of sources from the rich archives of the Russian Empire.“74 Auch wenn ich selber den Gehalt der Aussagen Kolonitskys 72

Vgl. Daniel Marc Segesser, Saving the Australian War Effort in 1916? The Significance and Impact of Global Climatic Conditions and Pests on William Morris Hughes’ Negotiations with the British Government; in: Michael J. K. Walsh, Andrekos Varnava (Hgg.), Australia and the Great War: Identity, Memory and Mythology (Melbourne 2016) 97–109 und Segesser, Empire 453–462. 73 Zu Ansätzen der Klimageschichte mit Blick auf die Geschichte des Ersten Weltkrieges vgl. Christian pfister Auf der Kippe: Regen, Kälte und schwindende Importe stürzten die Schweiz 1916-1918 in einen Nahrungsengpass; in: Daniel Krämer, Christian Pfister, Daniel Marc Segesser (Hgg.), „Woche für Woche neue Preisaufschläge“: Nah rungsmittel-, Energie- und Ressourcenkonflikte in der Schweiz des Ersten Weltkrieges (= Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte 6, Basel 2016) 57– 81 oder Yuri Brugnara, Stefan Brönnimann, Marcelo Zamuriano, Jonas Schild, Christian Rohr, Daniel Marc Segesser, December 1916: Deadly Wartime Weather (Bern 2016). 74 Roundtable Discussion, Global Perspectives 107.

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nicht im Detail zu bewerten vermag, so verweist dieses Zitat doch darauf, dass je nach räumlichem und zeitlichem Kontext andere Fragen, andere Quellen und andere Ansätze fruchtbar sein können. Wer innovativ bleiben will, muss mit einem breiten Fächer von Fragen, Quellen und Ansätzen an die Arbeit gehen, eigene sowie andere Forschungsansätze wie Forschungstraditionen reflektieren und alle Kontakte nutzen – egal ob Lokalhistorikerinnen und Lokalhistoriker oder Professorinnen und Professoren an einer renommierten Universität. Jede Unterstützung ist von Nutzen, selbst wenn es nicht sofort erkennbar ist75. Nur so ist es möglich, aus dem Vorhandenen in Kombination mit vielfältigen Ansätzen und Theorien den maximalen empirischen Ertrag herauszuholen76. In diesem Zusammenhang ist es einerseits wichtig, immer gerade diejenige Argumentation, die auf den ersten Blick nicht einleuchtet, besonders genau zu analysieren, um zu sehen, ob diese nicht doch etwas für sich hat77. Andererseits muss nicht in jedem Fall eine abschließende Erklärung gesucht werden. Manchmal ist es sinnvoll, unterschiedliche Deutungen, die unterschiedlichen Kontexten entspringen und unterschiedliche Perspektiven einnehmen, auch nebeneinander bestehen zu lassen, ohne bestehende Widersprüche gänzlich aufzulösen78. Letzteres hat Christopher Clark besonders eindrücklich in seiner Bewertung von Hannes Leidinger, Verena Moritz, Karin Moser und Wolfram Dorniks Buch zu „Habsburgs schmutzigem Krieg“ gezeigt. Obwohl die Autoren darin mit Clark in etlichen Teilen nicht einig sind, attestierte er den Autoren, eine sorgfältige Untersuchung und bezeichnete das Buch als „bedeutende(n) Beitrag zur Erforschung Österreich‑Ungarns im Ersten Weltkrieg.“79 Ein solcher Respekt ist gegenseitig geschuldet, auch wenn wir mit einer Autorin oder einem Autor nicht einig gehen oder seinen bzw. ihren Ansatz nicht teilen. Nur so ist Erkenntnisfortschritt möglich.

4. Kein Ende? Weltkriegshype bis 2019? Wie zu Beginn meiner Ausführungen gesagt, war 2014 für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie für Medienleute, die sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen, ein Jahr der Extreme. Das galt auch für mich. Allein 75

Wie oft dies der Fall ist, lässt sich häufig aus Danksagungen in Büchern nachlesen. Beispiele sind Chickering, Great War 10–11; Clark, Sleepwalkers xv–xvii; Leonhard, Büchse 1145 –1146 oder Piper, Nacht 11– 12. 76 Vgl. auch das Konzept der induktiven Pragmatik bei Werner, Zimmermann, Vergleich 621. 77 Diesen Tipp verdanke ich meiner akademischen Lehrerin Judit Garamvölgyi. 78 Diesen Tipp verdanke ich meiner Kollegin Marina Cattaruzza. 79 Aussage auf dem Buchcover von Hannes Leidinger, Verena Moritz, Karin Moser, Wolfram Dornik, Habsburgs schmutziger Krieg: Ermittlungen zur österreichisch-ungarischen Kriegführung 1914–1918 (St. Pölten 2014).

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in Wien und Umgebung nahm ich in diesem Jahr vier Termine zu vier unterschiedlichen Themenbereichen wahr, nämlich zu wenig bekannten Aspekten der Geschichte des Ersten Weltkrieges außerhalb Europas auf der Schallaburg, zur Rolle Chinas im Ersten Weltkrieg, zu Völkerrecht und Völkerrechtlern im Ersten Weltkrieg sowie dann zuletzt zur Frage des Weltkriegshypes und des Umgangs mit der Erinnerung an diesen Weltenbrand80. Der Blick auf den Globus hat mich dabei gelehrt, dass die Wahrnehmung des Jahres 1914 nicht in allen Teilen der Welt dieselbe war und ist. In Lateinamerika und etlichen Teilen Asiens spielte und spielt der Erste Weltkrieg eine untergeordnete Rolle, wie diese Weltregionen im Übrigen in Europa eine untergeordnete Rolle in der Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg spielen. Stefan Rinke, Olivier Compagnon und Xu Guoqi haben das 2014 zu Recht in Erinnerung gerufen81. Es war für mich in diesem Jahr auch eine besondere Erfahrung in Wien an einer Konferenz zum Thema des Ersten Weltkrieges teilzunehmen und einer von nur vier Historikerinnen und Historikern zu sein, der nicht aus Asien stammte82. Diese Perspektive war ungewohnt, aber sehr bereichernd. Historikerinnen und Historiker aus Europa sollten sich daher bewusst sein, dass es auch andere als die eigene, häufig nationale Wahrnehmung des und Erinnerung an den Ersten Weltkrieg gibt. Das hat auch Konsequenzen für den Blick auf die kommenden Jahre. Schon in Italien spielte das Jahr 2014 nur eine untergeordnete Rolle – vielleicht mit Ausnahme Südtirols, des Trentino und Triests. 80

Der vorliegende Beitrag resultierte aus letzterem Termin. Bereits erschienen ist Daniel Marc Segesser, Weishenme Zhongguo zai diyi ci shijie dazhan zhong juyou zhongyao zuoyong 为什么中国在第一次世界大战中具有重要作用 [Why China Played an Important Role in the First World War]; in: Wei Gelin 魏格林, Zhu Jiaming 朱嘉明, Zhu Bian 主编 (Hgg.), Yizhan yu Zhongguo: Yizhan bainian huiyi lunwen ji一战与中国:一战百 年会议论文集 [The First World War and China: Collection of Articles Originating from the Conference Held on the Occasion ofthe First World War’s Centenary] (Beijing 2016) 81–106. 81 Stefan Rinke, „Ein monströses Attentat gegen die menschliche Kultur“: Der Kriegsaus bruch 1914 in Lateinamerika; in: Jürgen Angelow, Johannes Grossmann (Hgg.), Wan del, Umbruch, Absturz: Perspektiven auf das Jahr 1914 (Stuttgart 2014) 29 – 41; Stefan Rinke, Im Sog der Katastrophe. Lateinamerika und der Erste Weltkrieg (Frankfurt a. M. 2015); Olivier Compagnon, Latin America; in: Jay Winter (Hg.), The Cambridge History of the First World War, 3 Bde. (Cambridge 2014) Bd. 1, 533–555; Xu Guoqi, Asia; in: Jay Winter (Hg.), The Cambridge History of the First World War, 3 Bde. (Cambridge 2014) Bd. 1, 479 –510. 82 http://ww1-china.univie.ac.at/conference-program/, [27. Oktober 2016]. Das Buch liegt unter dessen vor als Wei Gelin 魏格林, Zhu Jiaming 朱嘉明, Zhu Bian 主编 (Hgg.), Yizhan yu Zhongguo: Yizhan bainian huiyi lunwen ji一战与中国:一战百年会议论文集 [The First World War and China: Collection of Articles Originating from the Conference Held on the Occasion of the First World War’s Centenary] (Beijing 2016). Leider fehlt bisher eine englische Übersetzung, obwohl dies für die Verbreitung der Arbeiten besonders der Kollegen aus China von grösster Bedeutung wäre.

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Das Jahr 2015 hatte dort dann aber eine wesentlich größere Bedeutung83. Das galt auch für den Armeniergenozid und die damit verbundenen Gedenkveranstaltungen84. Auch in Australien und Neuseeland war der 25. April 2015 – der 100. Jahrestag des ersten Einsatzes der ANZACs in Gallipoli – ein Event von enormer Ausstrahlung85. In der Schweiz war die Zimmerwalder Konferenz ein großes Thema86. In China und Japan blieb es hingegen zum Zeitpunkt des 100. Jahrestages der Übergabe der 21 Forderungen sehr ruhig, was angesichts der Spannungen zwischen den beiden Ländern und der ansonsten häufigen politischen Instrumentalisierung geschichtlicher Jahrestage durch nationalistische Hitzköpfe doch einigermaßen erstaunlich war87. 2016 waren der Osteraufstand in Irland88, die Schlachten von Verdun und an der Somme, die Brussilow-Offensive89 oder der Kriegseintritt Rumäniens von zentraler Bedeutung90. In Österreich war der Kaiserwechsel ein Thema.91 Die bereits 1916 Hinweise darauf http://www.unibz.it/de/public/research/zefuer/firstworldwar/default.html, [27. Oktober 2016]; http://www.trentinograndeguerra.it [27. Oktober 2016]. 84 Siehe zum Beispiel http://www.genozid1915.de/DE/veranstaltungen/index.html, [27. Oktober 2016] oder http://www.sfst.ch/typo3/fileadmin/user_upload/dateien/Progr-Ottoman Cataclysm-Oct_2015.pdf, [27. Oktober 2016]. 85 Siehe zum Beispiel http://www.bbc.com/news/world-australia-32246077, [27. Oktober 2016]. 86 Bernard Degen, Julia Richers (Hgg.), Zimmerwald und Kiental: Weltgeschichte auf dem Dorfe (Zürich 2015). 87 Yanzhong Huang, China, Japan, and the 21 Demands; in: The Diplomat vom 24 Januar 2015, online unter http://thediplomat.com/2015/01/china-japan-and-the-21-demands, [27. Oktober 2016]. 88 Der irische Osteraufstand wurde einerseits national und regional thematisiert, andererseits aber auch in eine transnationale und globale Perspektive gestellt. Beispiele für ersteres sind http://www.ireland.ie/#highlights, [27. Oktober 2016], Kevin Jordan, Rebellion in Galway: Easter Rising 1916 (Longford 2016) oder William Henry, Pathway to Rebellion: Galway 1916 (Cork 2016). Beispiele für zweiteres sind https://www.nuigalway.ie/media/ collegeofartssocialsciencescelticstudies/schools/humanities/history/1916-Global-Provisional-Programme(1).pdf, [27. Oktober 2016] oder Keith Jeffrey, 1916: A Global History (London 2015). 89 Siehe dazu: http://www.zmsbw.de/html/aktuelles/57.internationaletagungfuermilitaergeschichteitmgvom18.bis21.april2016intrier; http://somme2016.org oder http://verdun2016. centenaire.org/de/homepage-de, [27. Oktober 2016]. Publikationen sind 14–18: Les textes de la Grande Guerre – Les photographies de Verdun et de la Somme (Paris 2016) oder Nicolas Beupré, Gerd Krumeich, Nicolas Patin, Arndt Weinrich (Hgg.), La Grande Guerre vue d’en face – 1914-1918. Nachbarn im Krieg (Paris 2016); Gerd Krumeich, Antoine Prost, Verdun 1916: Die Schlacht und ihr Mythos aus deutsch-französischer Sicht (Essen 2016); Peter Liddle, The 1916 Battle of the Somme Reconsidered (Barnsley 2016). 90 Siehe dazu: http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/fmi/institut/arbeitsbereiche/ab_janz/Ak tuelles/Tagung-Rumaenienfeldzug.html oder: http://projekt-rumaenienfeldzug.de/?lang=de, [27. Oktober 2016]. 91 Zum Tod von Franz Joseph vor 100 Jahren siehe etwa auch die mediale Berichterstattung in der Zeit: Ärgerliche Vermarktung; in: Die Zeit Österreich 47 vom 10. November 2016, 15 –16. 83

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akute, aber vor allem 1917 und 1918 manifeste, in der Forschung allerdings vielfach unterbeleuchtete Ernährungskrise wurde bisher vor allem in der Schweiz zum Thema92, dürfte aber 2017 möglicherweise auch in anderen Ländern vermehrt diskutiert werden. In diesem letzteren Jahr werden zudem der hundertste Jahrestag der Russischen Revolution(en), die Erinnerung an den Steckrübenwinter sowie an den Kriegseintritt der USA und etlicher weiterer Staaten wie Siam, China oder Brasilien sicherlich neue wissenschaftliche Arbeiten hervorbringen93. Zudem steht eine große Konferenz bevor, die sich mit dem langen Ende des Weltkrieges besonders in der außereuropäischen Welt beschäftigen wird und die damit bereits auf die Themen verweist, die in den Jahren 2018/19 im Zentrum stehen werden94. Dann werden die Friedensschlüsse, die Schaffung des Völkerbundes, die Spanische Grippe und die sozialen Verwerfungen bei Kriegsende95 als Angebot für eine neue Welle der Erinnerung und Analyse zur Verfügung stehen. Die Themen werden Historikerinnen und Historikern wie der Öffentlichkeit also mit Sicherheit nicht ausgehen und nur der politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Kontext der Zukunft wird entscheiden, inwiefern und in welchem Maß ein Thema die wissenschaftliche wie die öffentliche Diskussion bestimmen wird. Dafür sollte sich die Wissenschaft wappnen, durch eigene Forschung, durch eine möglichst intensive Kooperation und durch Forschungsprojekte, die Historikerinnen und Historiker jetzt schon leiten, betreiben oder erst noch eingeben werden.

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Siehe dazu: Patrick Imhasly, Ein Krieg um Brot; in: NZZ am Sonntag vom 31. Juli 2016, 53; Stefan von Bergen, Als die Schweiz letztmals hungerte; in: Berner Zeitung vom 6. August 2016, 18; Samuel Krähenbühl, 1916 führen Nässe und Krieg zu Hunger; in: Schweizer Bauer vom 10. August 2016, 4; Martin Läubli, Ein verhängnisvolles Jahr; in: Der Bund vom 20. August 2016, 27; Stefan Hotz, Kampf um Brot, Kartoffeln und Milch; in: Neue Zürcher Zeitung vom 14. September 2016, 21. 93 Bereits erschienen ist eine erweiterte Neuauflage von Heiko Haumann (Hg.), Die Russische Revolution (Wien – Köln –Weimar 2016). Vgl. auch www.revolution-1917.ch [27. Oktober 2016] und Verena Moritz, 2017 – Österreichische Stimmen zur Russischen Revolution (Salzburg 2017). 94 https://www.volkswagenstiftung.de/veranstaltungen/veranstaltungskalender/veranstdet/ news/detail/artikel/the-long-end-of-the-first-world-war-ruptures-continuities-and-memories/marginal/5006.html, [27. Oktober 2016]. Vgl. auch das in eine ähnliche Richtung, sich allerdings auf Frankreich beziehende Buch von Georges-Henri Soutou, La Grande Illusion: Quand la France perdait la paix 1914–1920 (Paris 2015). 95 Einen Vorgeschmack auf mögliche scharfe Diskussionen boten die Voten zum Thema des schweizerischen Landesgeneralstreiks im Panel „Ordnungsdienst und Landesstreik“ der Tagung “Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg. https://www. infoclio.ch/de/am-rande-des-sturms-das-schweizer-militär-im-ersten-weltkrieg-face-à-latempête-larmée-suisse, [27. Oktober 2016]. Vgl. auch Robert Gerwarth, Die Besiegten: Das blutige Erbe des Ersten Weltkrieges (München 2017).

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5. Schlussfolgerungen Am 31. Juli 1914 schrieb General Dankl in sein Tagebuch: „Gott sei Dank, daß ist der große Krieg!“ 96 Er war froh, sich nun endlich militärisch beweisen zu können. Historikerinnen und Historiker wären heute vielleicht manchmal froh sagen zu können: „Gott sei Dank, der Hype um diesen Weltkrieg ist vorbei!“ Es besteht allerdings die Gefahr, dass auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Medienleuten, die sich intensiv mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen, weitere „grausame“ Jahre mit sehr viel Arbeit bevorstehen. Forscherinnen und Forscher sind gerade auch in der Öffentlichkeit gefragt und das tut ihnen gut. Wie allerdings zu Beginn bereits gesagt, schadet es auch der Gesundheit, besonders wenn sie versuchen, allem gerecht zu werden. Daher drängt sich zum Schluss die Frage auf, wie die Wissenschaft damit umgeht und welche Strategien es gibt, um bei bestmöglichem Output den Verschleiß so klein wie möglich zu halten und dabei trotzdem innovativ zu bleiben. Für mich ergeben sich drei Punkte, die vielleicht selbstverständlich sind, aber trotzdem immer wieder betont werden sollten: Erstens braucht es ein Miteinander in der Forschung und nicht ein Gegeneinander. Eine Aufgabe, wie sie nun ansteht bzw. anstehen dürfte, lässt sich nur in Kooperation erfüllen. Roger Chickering hatte Recht als er für den totalen Krieg – der Begriff stammt aus diesem Konflikt97 – angesichts der vielfältigen Dimensionen des Ersten Weltkrieges eine totale Geschichtsschreibung forderte. Für den oder die einzelne ist das allerdings eine Überforderung. Auch dessen war sich der amerikanische Historiker bewusst. Erforderlich ist daher Kooperation, auch wenn eine solche in einer Zeit, in welcher die Politik das Primat des Wettbewerbs hochhält, nicht einfach ist. Grundvoraussetzung dafür ist der gegenseitige Respekt auf allen Ebenen, die Anerkennung von geleisteter Arbeit und eine Pluralisierung der Perspektiven. Christopher Clark kann hier als Beispiel dienen, denn es gilt anzuerkennen, dass auch andere gute Arbeit geleistet haben und immer noch leisten, selbst wenn nicht in allen Punkten Einigkeit besteht. Historikerinnen und Historiker sollten bereit sein, unterschiedliche Ansätze miteinander zu verknüpfen, um die Gesamtheit des Weltkrieges so nicht aus den Augen zu verlieren. Die Ideen der transnationalen und ÖStA, KA, Nachlass Dankl: B/3/5: Kriegstagebuch, Bd. 1 (31. Juli – 20. September 1914), 1 (31. Juli 1914). 97 Daniel Marc Segesser, Controversy: Total War; in: 1914–1918–online. International Encyclopedia of the First World War, ed. by Ute Daniel, Peter Gatrell, Oliver Janz, Heather Jones, Jennifer Keene, Alan Kramer, and Bill Nasson, issued by Freie Universität Berlin, Berlin 2014-10-08 online unter http://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/controversy_total_war, [27.Oktober 2016]. 96

Wellen der Erinnerung und der Analyse

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Globalgeschichte können hier methodisch nützlich sein, um auch in lokalen, regionalen oder nationalen Kontexten den Blick für das Ganze angesichts der vielen Wellen der Erinnerung und der Analyse nicht zu verlieren. Eine selbstreflexive Methodenkontrolle kann hier zusätzliche Dimensionen der Wahrnehmung generieren und in einem Rückkopplungseffekt auch die eigene Forschung modifizieren98. Zweitens braucht es, wie die deutsche Historikerin Ute Frevert in überzeugender Weise gezeigt hat, Vertrauen, damit Innovation möglich ist. Dieses ist für menschliche Gesellschaften eine zentrale moralische und emotionale Kategorie, gleichzeitig aber auch Teil einer moralischen Ökonomie, derer sich viele Akteure zu unterschiedlichen Zeiten mit ganz eigenen Zielen bedienen99. Peers wie Institutionen der Forschungsförderung sollten es einander entgegenbringen. Archive und Bibliotheken sollten innovative Wege suchen, um das vorhandene Material so gut und unbürokratisch wie möglich den Forschenden zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig sollten letztere denjenigen, die dieses Material hüten und zur Verfügung stellen oder denjenigen, die es in Ausstellungen präsentieren, auch die ihnen zustehende Anerkennung zollen. Drittens sollten wir lernen, unterschiedliche Deutungen, soweit diese empirisch fundiert sind, nebeneinander stehen lassen zu können. Auch denjenigen Argumentationen sollte Gehör geschenkt werden, die im ersten Moment vielleicht nicht gerade einleuchten und die eigene Forschung auf den ersten Blick nicht direkt dem gesetzten Ziel näher zu bringen scheint. Das heißt nicht, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich alles gefallen lassen, aber der Streit sollte um der Argumente und nicht um der Personen willen geführt werden. So dürfte es möglich sein, die hohen Wellen des Erinnerungs- und Analysetsunamis ohne zu große gesundheitliche Schäden zu überstehen.

98 99

Vgl. auch Werner, Zimmermann, Vergleich 636. Ute Frevert, The Moral Economy of Trust: Modern Trajectories (= German Historical Institute London Annual Lecture 2013, London 2014).

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Deutungsmuster und Narrative

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Der Stellenwert des Ersten Weltkrieges in der slowenischen Erinnerungskultur und das Gedenkjahr 2014 in Slowenien Dem Ersten Weltkrieg kommt in der slowenischen Erinnerungskultur eine periphere Rolle zu; er wurde vom Zweiten Weltkrieg, der mit seinen polarisierenden Bruchlinien bis heute für Kontroversen sorgt, völlig überschattet. Das Gedenkjahr 2014 rückte den Ersten Weltkrieg deutlich spürbar in den Fokus der geschichtswissenschaftlichen Forschung und der öffentlichen Auseinandersetzung. Der folgende Beitrag wird zunächst der Frage nachgehen, wieso der Erste Weltkrieg in der slowenischen Erinnerungskultur und dem vorherrschenden slowenischen Geschichtsnarrativ eine periphere Rolle einnimmt. In weiterer Folge sollen Einblicke gewährt werden, welche Aspekte des Großen Krieges in der slowenischen Meistererzählung im Mittelpunkt stehen und wie diese zu einem slowenischen Narrativ über den Ersten Weltkrieg verknüpft und in geschichtswissenschaftlichen Fachkreisen, in Museen und in der Literatur und in Film und Fernsehen behandelt werden. Illustriert werden soll dies insbesondere anhand von Beispielen der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg im Gedenkjahr 2014. Das Ziel dieses Beitrags ist es folglich, die slowenische Perspektive auf den Ersten Weltkrieg, die Perspektive einer kleinen jungen Nation, nachzuzeichnen.

1. Der Erste Weltkrieg in der slowenischen Meistererzählung Der Erste Weltkrieg scheint in der slowenischen Meistererzählung – dieser Begriff sei an dieser Stelle definiert als die „zu einer gegebenen Zeit dominante Erzählweise des Vergangenen“1 – kein zentraler lieu de mémoire2 zu sein. Das verwundert nicht, denn in der slowenischen Erinnerungskultur und Wahrneh Konrad H. Jarausch, Martin Sabrow, ‘Meistererzählung‘ – Zur Karriere eines Begriffs; in: Konrad H. Jarausch, Martin Sabrow (Hgg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945 (Göttingen 2002) 9 –32, hier 17. 2 Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis (Frankfurt/Main 2005). 1

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mung rangiert er scheinbar weit abgeschlagen nach dem Zweiten Weltkrieg, dessen Bruch- und Konfrontationslinien ihre Schatten weit bis in die (politische, kulturelle und tagespolitische) Gegenwart werfen. Die Interpretation von Geschehnissen zwischen 1941 und 1945 (Stichwort: Helden vs. Verräter, Partisanen vs. Domobranzen) ist bis heute Teil des politischen Diskurses, erhitzt die Gemüter und unterteilt die politische Landschaft immer noch in zwei klassische Lager entlang der Koordinaten von links und rechts3. Der Erste Weltkrieg hingegen ist weitestgehend in Vergessenheit geraten. Der Grund dafür ist wohl dem Umstand geschuldet, dass sich die Slowenen nach 1918 in einem völlig neuen Staatsgebilde, dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS, ab 1929 Königreich Jugoslawien) wiederfanden. In diesem neuen Setting war kein Platz für Gedenken an die slowenischen Gefallenen des Ersten Weltkrieges: Die Slowenen hatten – wie auch die anderen Südslawen der Habsburgermonarchie (Kroaten, Bosnier und PrečaniSerben) – für einen Staat gekämpft, den es nach 1918 nicht mehr gab und waren nun Teil eines neuen südslawischen Staat unter serbischer Dominanz, in dem nur Gedenken und Heldenverehrung für die siegreiche serbische Seite stattfand. Ein in Granit gemeißeltes Zeugnis hierfür ist das pompöse Denkmal für den unbekannten Soldaten auf dem Avala nahe Belgrad4. Den Veteranen der ehemaligen k.u.k. Armee wurde vonseiten der serbisch dominierten Staats3

Offensichtlich wird dieser Polarisierungskraft des Zweiten Weltkrieges, wenn man die jährlich wiederkehrenden Kontroversen rund um drei Gedenk- bzw. Feiertage betrachtet, um die jedes Mal dieselben heftigen Debatten geführt werden: 1.) Das Gedenken an die Dražgoška bitka [die Schlacht im oberkrainerischen Dorf Dražgoše] im Januar 1942 zwischen slowenischen Partisanen und der deutschen Okkupationsmacht, die linksgerichtete Politker schon seit jugoslawischen Zeiten als großen moralischen Sieg deuten und feiern, während mittlerweile berechtigte Zweifel an der Richtigkeit der Darstellung der historischen Ereignisse laut geworden sind. 2.) Ebenso fühlen sich konservative Politiker rund um den Nationalfeiertag Dan državnosti am 25. Juni provoziert, wenn in die staatlichen und im Fernsehen übertragenen Feierlichkeiten jugoslawische Symbole (wie Fahne, Stern und Partisanenchor) inkludiert werden. 3.) Andererseits gibt es Proteste aus dem linken Lager und der Partisanenveteranenorganisationen, die sich rund um den Europäischen Gedenktag für die Opfer totalitärer und autoritärer Regime am 23. August provoziert fühlen, weil dieser nämlich auch Gedenken für die Opfer des kommunistischen Totalitarismus inkludiert. Argumentiert wird, es handle sich um Geschichtsrevisionismus, wenn man den jugoslawischen Sozialismus mit Faschismus und Nationalsozialismus gleichsetze und diskreditiere damit den Partisanenkampf gegen Faschismus und Nationalsozialismus. Vgl. dazu auch: Oto Luthar, Breda Luthar, The Monopolization of Memory: The Politics and Textuality of War Memorials in Slovenia since 1991; in: Heinz Fassmann, Wolfgang MüllerFunk, Heidemarie Uhl (Hgg.), Kulturen der Differenz – Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989 (Wien 2009) 195–206. 4 Nacionalni centar za digitalizaciju [Nationales Digitalisierungszentrum], Spomenik neznanom junaku na Avali [Das Denkmal für den unbekannten Soldaten auf dem Avala], http://spomenicikulture.mi.sanu.ac.rs/spomenik.php?id=620, [30. September 2015].

Der Stellenwert des Ersten Weltkrieges in der slowenischen Erinnerungskultur

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führung nicht nur mit Misstrauen begegnet, sondern sie wurden auch offen diskriminiert: So war die Kriegsversehrtenrente bis 1925 für jene Veteranen, die für den „jugoslawischen Staat“ gekämpft hatten, doppelt so hoch wie für die ehemaligen k.u.k. Soldaten. Lediglich die Veteranenselbsthilfeorganisation Zveza bojevnikov [Verband der Kämpfer] nahm sich zwischen 1931 und 1941 der Veteranen und der hinterbliebenen Witwen und Waisen an5. Ein glorifizierendes staatlich gelenktes „Helden“-Gedenken für die slowenischen Kriegsteilnehmer wäre undenkbar gewesen; weshalb in der Nachkriegs- und Zwischenkriegszeit auch keine pompösen Denkmäler – vergleichbar etwa mit italienischen, serbischen, französischen oder deutschen6 – für die slowenischen Gefallenen errichtet wurden, sondern auf Initiative von Privatpersonen oder Gemeinden lediglich recht unscheinbare Gedenktafeln und Bildstöcke (meist an Friedhöfen, Kirchenmauern etc.) entstanden7. Auch im sozialistischjugoslawischen Narrativ nach 1945, in dem die Parole bratstvo i jedinstvo [Brüderlichkeit und Einheit] ausgegeben wurde, hob man den Umstand, dass die südslawischen ‚Brüder‘ im Ersten Weltkrieg (und auch im Zweiten Weltkrieg) einander bekämpft hatten, verständlicherweise nicht hervor. Man fokussierte auf den gemeinsamen Kampf gegen die faschistischen Okkupationsregime. Die einsetzende Heldenverehrung rund um den nicht primär national definierten, sondern alle Ethnien vereinigenden Partisanenkampf eignete sich wunderbar, um die Verbundenheit unter den südslawischen Brüdern zu verstärken8. Man könnte demnach meinen, dass lediglich der jugoslawische Gesamtstaat – sowohl die vorherrschenden Narrative des Ersten als auch des Zweiten Jugoslawiens – die Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg unterdrückt habe und es nach der Selbstständigkeitswerdung 1991 zu einer neuen Beschäftigung mit diesem Teil der eigenen Vergangenheit gekommen wäre. Doch auch 5

Petra Svoljšak, Nekaj utrinkov iz delovanja veteranske organizacije Zveza bojevnikov. ‚Organizacija Bojevnikov je trdna in močna, je zveza src in duš. Je temelj prijateljstva in ljubezni med narodi‘ [Einige Eindrücke aus der Arbeit der Veteranenorganisation Zveza bojevnikov. ‚Die Organisation ist stramm und stark, eine Vereinigung der Herzen und Seelen‘]; in: Prispevki za novejšo zgodovino XLVI/1 (Ljubljana 2006), 277–288, hier: 282– 285 und ausführlich; in: John Paul Newman, Yugoslavia in the Shadow of War. Veterans and the Limits of State Building 1903–1945 (Cambridge 2015). 6 Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden; in: Odo Marquard, Karlheinz Stierle (Hgg.), Identität (München 1979) 255–275. 7 Vgl. Karin Almasy, ‚V spomin žrtvam svetovne vojne‘ – Erinnerungskultur, Gefallenendenkmäler in der Untersteiermark und die Zäsur 1918 für die Slowenen; in: Werner Suppanz, Nicole Goll (Hgg.), Heimatfront: Graz und das Kronland Steiermark im Ersten Weltkrieg (Essen 2016). 8 Siehe dazu detailliert: Miranda Jakiša, Nikica Gilić (Hgg.), Partisans in Yugoslavia. Literature, Film and Visual Culture (Bielefeld 2015).

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die slowenische Eigenstaatlichkeit ab 1991 hat kaum zu einer erhöhten Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg geführt; das offizielle Gedenken scheint sich in der slowenischen Gesellschaft weiterhin auf die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg zu konzentrieren. Anders als der Zweite bietet der Erste Weltkrieg keinen Anlass zu heftigen Debatten oder kontroversen Geschichtsdeutungen. Was Heidemarie Uhl für Österreich konstatierte, scheint auch für Slowenien zu gelten: „Der Erste Weltkrieg ist ein ausverhandeltes historisches Ereignis“ und: „[a]uch für Kontroversen gibt ‚1914–1918‘ – zumindest aus heutiger Sicht – keinen tragfähigen Ansatzpunkt.“ 9 Erst durch das Gedenkjahr 2014 ist der Erste Weltkrieg stärker in den Fokus gerückt. Haben sich einige slowenische Historikerinnen und Historiker natürlich schon früher ausführlich mit Forschungsfragen zum Ersten Weltkrieg auseinandergesetzt10, bot das Gedenkjahr 2014 offenbar den begrüßenswerten Anlass, dieses Thema aus seinem Dornröschenschlaf zu erwecken und eine breitere Öffentlichkeit damit vertraut zu machen. Nachdem nun festgehalten wurde, dass die Position des Ersten Weltkrieges in der slowenischen Meistererzählung insgesamt eine eher periphere ist, soll im Folgenden nun nach ihrer konkreten „stofflichen Seite“ gesucht werden, d. h. welche Ereignisse, Orte und Menschen in der Erzählung über den Ersten Heidemarie Uhl, Der Erste Weltkrieg im Gedächtnis Österreichs und (Zentral-)Europas – Gedächtnistraditionen in (trans)nationaler Perspektive; in: Bundeskanzleramt et al. (Hgg.), 1914–2014. Grundlagenpapier österreichischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Anlass des Gedenkens des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren (Wien 2013) 36–40, hier 37. 10 Um an dieser Stelle nur einige der aktivsten Historikerinnen und Historiker zu Fragen des Ersten Weltkrieges zu nennen: Petra Svoljšak, Soča, sveta reka: italijanska zasedba slovenskega ozemlja (1915 – 1917) [Der Isonzo, geheiligter Fluss: die italienische Okkupation slowenischer Gebiete (1915 – 1917)] (Ljubljana 2003); über den Zerfall und den Übergang in die neue Staatsform 1918 Walter Lukan, Iz črnožolte kletke narodov v zlato svobodo? Habsburška monarhija in Slovenci v prvi svetovni vojni [Vom schwarzgelben Völkerkerker in die goldene Freiheit? Die Habsburgermonarchie und die Slowenen im Ersten Weltkrieg] (Ljubljana 2014), zur Erinnerungskultur Oto Luthar, O žalosti niti besede. Uvod v kulturno zgodovino velike vojne [Von Trauer keine Spur. Einführung in die Kultur des Großen Krieges] (Ljubljana 2013); zu diversen Aspekten der Sammelband Peter Vodopivec, Katja Kleindienst (Hgg.), Velika vojna in Slovenci [Der Große Krieg und die Slowenen] (Ljubljana 2005), zu sozial- und frauengeschichtlichen Fragen zum Ersten Weltkrieg vor allem im slowenischen Küstenland siehe Marta Verginella, Ženske in prva svetovna vojna [Frauen und der Erste Weltkrieg]; in: Branko Šuštar (Hg.), Zgodovina je slastna: kulturna zgodovina hrane; 100 let začetka prve svetovne vojne [Köstliche Geschichte: Die Kulturgeschichte des Essens; 100 Jahre Beginn des Ersten Weltkrieges] (Ljubljana 2014). Für einen guten Überblick aus alltagsgeschichtlicher Perspektive sei auf den Museumskatalog der gleichnamigen Ausstellung verwiesen: Marko Štepec (Hg.), Take vojne si nismo predstavljali (1914–1918) [Einen solchen Krieg haben wir uns nicht vorgestellt (1914–1918)] (Ljubljana 2014). 9

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Weltkrieg im Fokus stehen, denn: „Jede Vergegenwärtigung des Gewesenen trifft aus der nachzeitigen Beobachterposition eine Auswahl aus dem uferlosen Strom des Geschehenen, sie verknüpft und sie trennt; sie definiert Anfang und Ende des Erzählten; sie hebt hervor, und sie lässt aus.“11 Im Folgenden sollen nun also diese „stofflichen“ Komponenten identifiziert und Beispiele ihrer konkreten Thematisierung im Allgemeinen und im Gedenkjahr 2014 im Speziellen gegeben werden. Wenig überraschend sticht die alles überstrahlende Präsenz eines zentralen Erinnerungsortes sofort ins Auge: Das Geschehen an der 1915 durch die Kriegserklärung Italiens entstandenen Frontlinie entlang des Flusses Isonzo (Soča; Soča/Isonzo).

2. Isonzofront zentral Durch den Verlauf dieser Frontlinie mit Italien durch slowenisches Gebiet und der unmittelbaren Betroffenheit großer Teile der slowenischen Zivilbevölkerung vom Kriegsgeschehen stellt die Isonzofront ein emotional besetztes Thema und die zentrale „stoffliche Komponente“ der slowenischen Erzählung über den Großen Krieg dar. Nicht verwunderlich ist in diesem Kontext deshalb, dass sich neben kleinen Privatsammlungen das einzige dauerhaft dem Ersten Weltkrieg verschriebene slowenische Museum in dieser Gegend befindet: das sehr gut besuchte Kobariški muzej in Karfreit (Kobarid, Caporetto, Kobarid).12 Das Museum entstand 1990 aus privaten Sammlungen Einheimischer, übte seine Tätigkeit in der Anfangszeit unter der Schirmherrschaft der Turistično društvo Kobarid [Tourismusverein Kobarid] aus, wurde 1996 zu einer gemeinnützigen GmbH und ist mit dem staatlichen Auftrag betraut worden, die museale Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges sicherzustellen. Diesem Auftrag kommt das Museum ohne „die geringste Spur von Chauvinismus, Parteilichkeit oder Verherrlichung“13 nach. Die Dauerausstellung des Erste-WeltkriegMuseums ist im Wesentlichen eine Isonzofrontausstellung und konzentriert sich auf militärische, strategische und zivile Komponenten dieser Frontlinie und ihres Hinterlandes. Die 12. Isonzoschlacht, die als „Wunder von Karfreit“ in die österreichisch /slowenische Historiographie einging, wird ausführlich behandelt. Trotz aller militärischen Detailverliebtheit gelingt es dem Museum das Grauen von Krieg und die Bedeutung von Frieden zu vermitteln. Zusätzlich Jarausch, Sabrow, Meistererzählung 17. Siehe Internetauftritt des Museums: Kobariški muzej; auf: http://www.kobariski-muzej.si, [30. September 2015]. 13 So Friedrich Waidacher in seiner Rede anlässlich der Preisverleihung des Museumspreises des Europarats 1993, am 11. Mai 1993; auf: http://www.kobariski-muzej.si/das_museum/ preise/, [30. September 2015]. 11

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zur Dauerausstellung wechseln sich Sonderausstellungen zu speziellen Einzelaspekten des Ersten Weltkrieges regelmäßig ab. Für den ‚Gedenkreigen‘ 2014 –2018 sind Sonderausstellungen zu den Kampf- und Lebensbedingungen der italienischen und der habsburgischen Truppen an der Front geplant, ebenso wie ein großes Konzert von Militärorchestren der ehemaligen Kriegsteilnehmerländer zum 100-jährigen Jubiläum der Schlacht von Karfreit 201714. Das Thema der Isonzofront und die geplanten Gedenkaktivitäten und Sonderausstellungen dieses Museums machen übrigens sehr schön deutlich, dass 2014 aus slowenischer Perspektive nicht das zentrale Gedenkjahr war, sondern vielmehr erst einen Reigen wichtiger Jubiläumsjahre eröffnet: So ist zu erwarten, dass den Jubiläumsjahren 1915/2015 (100-jähriges Jubiläum des Kriegseintritt Italiens und damit Eröffnung der Isonzofront), 1917/2017 (Schlacht von Karfreit) und 1918/2018 (Zäsurjahr; Zusammenbruch der Monarchie und Übergang in neue Staatlichkeit) noch größere Beachtung geschenkt werden wird. Der Kriegsbeginn 1914 und das Gedenkjahr 2014 stellen somit lediglich den Anfang dar. Die Fundacija Poti miru v Posočju [Stiftung Weg des Friedens im Sočatal] hat 2012 in Zusammenarbeit mit einigen italienischen Regionen, Städten und privaten Partnern den gut beworbenen 100 km langen Wanderweg Pot miru / Via di pace [Weg des Friedens] ins Leben gerufen. In der malerischen Gegend des Sočatales findet auf diesem Wanderweg entlang des ehemaligen Frontverlaufs eine Auseinandersetzung mit dem blutigen Geschehen vor 100 Jahren statt: Er führt durch das Soča-Tal an Gedenkkapellen, Soldatenfriedhöfen, Beinhäusern und Resten von Schützengräben vorbei bis zur Adria15. An mehreren Standorten wurden Freilichtmuseen mit Informationstafeln eingerichtet, so etwa am Bergkamm Kolovrat, am Gipfel des Mrzli vrh und zwischen den Almen Zaprikraj und Predolina16. Dieser Wanderweg ist damit ein weiterer Mosaikstein der erfolgreichen und nachhaltigen Tourismusentwicklungsstrategie der Gemeinden des Soča-Tales, die die historische Vergangenheit mit den Naturschönheiten des Tales (insbesondere des Nationalparkes Triglav im oberen Soča-Tal) und sportlicher Betätigung zu verknüpfen versucht; schließlich zieht es in erster Linie Wanderer, Naturfreunde und historisch interessiertes Publikum ins Soča-Tal. 14

Detailinformationen wie diese zu den Tätigkeiten und Plänen des Museums verdanke ich Museumsdirektor Jože Šerbec (persönliche Korrespondenz, Dezember 2014). 15 Siehe die digitale Wanderkarte, auch auf Deutsch auf: http://www.potmiru.si/deu/zemljevid, [30. September 2015]. 16 Siehe entsprechende Tourismusinformation auf Deutsch, auf: http://www.dolina-soce. com/de/tal_der_entdeckungen/geschichtlichen_und_kulturellen_sehenswurdigkeiten/, [30. September 2015].

Der Stellenwert des Ersten Weltkrieges in der slowenischen Erinnerungskultur

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Neben Karfreit gibt es aber noch einen anderen zentralen Erinnerungsort der slowenischen Meistererzählung über den Ersten Weltkrieg an der Isonzofront: Doberdob – slovenskih fantov grob [Doberdob – slowenischer Soldaten Grab].

3. Doberdob – Synonym des Grauens Das Hochplateau und die gleichnamige mehrheitlich slowenischsprachige Gemeinde Doberdò (Doberdob, Doberdò del Lago) nahe Monfalcone im heutigen Italien wurde im Zuge der zweiten und weiterer Isonzoschlachten zum Pseudonym für besonders blutige Gefechte und durch ein gleichnamiges Volkslied zum symbolhaften Massengrab slowenischer Soldaten17. Bezeichnenderweise trägt auch der einzige slowenische Erste-Weltkriegsroman diesen Namen, mit dem sein Autor Prežihov Voranc dem Ersten Weltkrieg ein literarisches Denkmal gesetzt hat18. Lovro Kuhar, literarischer Autodidakt aus dem Kärntner Miestal (Pseudonym Prežihov Voranc, 1893–1950), war selbst Kriegsteilnehmer, desertierte 1916 an der Isonzofront und verbrachte daraufhin mehr als zwei Jahre in italienischer Kriegsgefangenschaft. Seine eigenen Erlebnisse an der Front verarbeitete er in diesem – man darf ihn mit Fug und Recht so bezeichnen – zentralen slowenischen Roman über den Ersten Weltkrieg. Termingerecht zum Gedenkjahr 2014 erschien eine slowenische Neuauflage, die in kurzer Zeit wieder ausverkauft war. Der Kriegsroman hat eine komplexe Entstehungsgeschichte, da Voranc ihn zwar bereits in den 1920ern zu schreiben begann, ab 1930 aber als aktiver Kommunist gezwungen war im Exil und im Untergrund zu leben, die Manuskripte dabei mehrfach verloren gingen und er mehrmals neu zu schreiben beginnen musste. Deshalb erschien „Doberdob“ erst 1940 und erlebte infolge zahlreiche Neuauflagen. Inhaltlich und stilistisch kann dieser Roman, der die Perspektive einfacher Soldaten einnimmt, in eine Reihe mit Émile Zolas „La Débâcle“, Henri Barbusse „Le Feu“ und Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ etc. gestellt werden19. Auszug: „Oj, Doberdob /, slovenskih fantov grob. / Kjer smo kri prelivali za svobodo domovine, / kjer smo jih pokopali, slovenske fante.“ [Übersetzung Karin Almasy: Oh, Doberdò, slowenischer Männer Grab. Wo wir Blut für die Freiheit der Heimat vergossen haben, / wo wir sie begraben haben, die slowenischen Männer.]. 18 LovroKuhar [Prežihov Voranc], Doberdob. Vojni roman slovenskega naroda [Doberdob. Ein Kriegsroman des slowenischen Volkes] (Ljubljana 1940) und Ders. Doberdo. Slowenischer Antikriegsroman, dt. Übersetzung von Karin Almasy und Klaus Detlef Olof (Klagenfurt 2008). 19 Ausführlichere Biographie und zur Genese des Romans im kritischen Apparat der Gesamtausgabe: Drago Druškovič, Opombe [Anmerkungen]; in: Prežihov Voranc, Doberdob (Zbrano delo 5) 243–289. Auf Deutsch: Heinrich Placke, Doberdo – Ein Roman des Slowenen Prežihov Voranc / Lovro Kuhar über den I. Weltkrieg an der Isonzo-Front; in: 17

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Voranc verknüpft darin seine autobiographischen Erlebnisse (über die maßlos unterversorgte) Etappe (1. Teil Landsturm und 3. Teil Lebring) und die Isonzofront (2. Teil Doberdob) mit den historischen Ereignissen in Judenburg (4. Teil), wo im Mai 1918 ein Aufstand slowenischer Soldaten losbrach. Für diese Ereignisse soll Voranc gewissenhaft recherchiert und Zeitzeugen- und Archivberichte herangezogen haben, weshalb die allgemeine Einschätzung lautet, Voranc habe auch die Ereignisse in Judenburg, bei denen er selbst nicht dabei war, sehr detailtreu und wahrheitsgemäß geschildert20.

4. Judenburg und subversives Heldentum Gegen Kriegsende brachen aufgrund einer allgemeinen Kriegsmüdigkeit, der unerträglich schlechten Ernährungssituation und dominant werdender nationaler Ideen von Freiheit und Unabhängigkeit in Judenburg, Murau und Bad Radkersburg (Radgona, Bad Radkersburg / Ragona) bewaffnete Soldatenaufstände los, von denen jener in Judenburg der größte slowenische und der erste große im österreichisch-ungarischen Hinterland war21. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, die Anführer rund um Anton Hafner am 16. Mai vor ein Standgericht gestellt, zum Tode verurteilt und das Urteil zwei Stunden später exekutiert. Sie wurden hinter dem Judenburger Friedhof erschossen, an dem noch heute die 1935 errichtete so genannte Jugoslawenkapelle an die Ereignisse erinnert22. 1923 wurden ihre sterblichen Überreste nach Laibach (Ljubljana; Ljubljana) überführt und in ein – von einer Statue des unbekannten prototypischen slowenischen Soldaten, dem „Krainer Janez“, bewachten – Ehrengrab am Friedhof Žale beigesetzt. Die Aufstände in Murau und Bad Radkersburg fanden nach jenem in Judenburg statt, wurden zahlenmäßig von viel weniger Soldaten unterstützt, folglich binnen weniger Stunden niedergeschlagen Thomas Schneider (Hg.), Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues und die Folgen (Göttingen 2014) 61– 84. 20 Vgl. Lojze Ude, Upori slovenskega vojaštva v avstro-ogrski armadi [Die slowenischen Soldatenaufstände in der österreichisch-ungarischen Armee]; in: Zgodovinski časopis XXII/3–4 (1968) 185–205, hier 195 und über Material zum Judenburger Aufstand, die in Voranc‘ Nachlass gefunden wurden und die er für das Kapitel Judenburg herangezogen hat: Druškovič, Opombe 266–282. 21 Vgl. Ivan Nemanič, Upori slovenskih vojakov v maju 1918. Judenburg – Murau – Radgona [Die Aufstände slowenischer Soldaten im Mai 1918. Judenburg – Murau – Radkersburg]; in: Arhivi XXV/1 (2002) 137–143, hier 137. 22 Vgl. Petra Svoljšak, Judenburg: v boj proti vojni [Judenburg: Im Kampf gegen den Krieg]; in: Marjan Drnovšek, Drago Bajt (Hgg.), Kronika XX. stoletja, 1900 – 1940 (Ljubljana 2005) 193–194; Ude, Upori slovenskega vojaštva 196–199 und Nemanič, Upori slovenskih vojakov 142 und N. N., Grobnica Janezov v Judenburgu [Ein Gebeinhaus für die Krainer Janezi in Judenburg]; in: Kronika slovenskih mest, 2/4 (1935) 317–321.

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und die Rädelsführer exekutiert. Den Aufständischen und ihren Anführern ist gemein, dass sie von der Ostfronterfahrung und /oder der russischen Kriegsgefangenschaft geprägt und von nationalen bzw. jugoslawischen Ideen beseelt waren. Im neugegründeten jugoslawischen Königreich boten ihre Biographien das Material, aus ihnen „Helden“ zu machen, die der neuen jugoslawischen Meistererzählung (und im Übrigen auch jener des Zweiten Jugoslawiens nach 1945 und des unabhängigen Sloweniens nach 1991) entsprachen, weshalb sie nicht dem Vergessen preisgegeben wurden. Ähnlich erging es auch anderen „Antihelden“, nämlich Desserteuren aus nationaler oder jugoslawischer Überzeugung wie Ljudevit Pivko23 oder dem bereits erwähnten Prežihov Voranc. Während sie nicht vergessen wurden, geschah genau dies mit den gewöhnlichen habsburgtreuen gefallenen Soldaten nach 1918. Insbesondere der höchst gediente Slawe in der österreichischen Armee, der habsburgtreue Feldmarschall und umstrittener Heeresführer der Isonzoschlachten Svetozar Boroević von Bojna (1856–1920) stellte lange kein Thema der slowenischen wissenschaftlichen oder öffentlichen Auseinandersetzung dar, wurde er doch bereits vor allem während der Zeit des Ersten und Zweiten Jugoslawiens völlig dem Vergessen preisgegeben. Mittlerweile d. h. seit der Selbstständigkeitswerdung Sloweniens wurde diese Forschungslücke aber geschlossen24. Die slowenische Meistererzählung über den Ersten Weltkrieg verfügt demnach nicht über eine militärische ‚Lichtgestalt‘, wie sie etwa Tito für den Zweiten Weltkrieg wurde. Die zentrale politische slowenische Persönlichkeit der späten Kriegs- und vor allem der Umbruchsjahre war sicherlich der Reichsrat-Abgeordnete Anton Korošec (1872 –1940), unter dessen politischer Führung die Transition in die neue Staatlichkeit vollzogen wurde und der zu Recht als wichtigster slowenischer Politiker dieser Zeit gelten darf, schaffte er es doch als einziger Nicht-Serbe bis zum Amt des Ministerpräsidenten des Königreiches SHS25.

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Valentin Pečenko, Marko Štepec, Slovenci in 1. Svetovna vojna 1914–1918 [Die Slowenen und der Erste Weltkrieg] (Ljubljana 2013) Dokumentation 4/5, 00:24:08. 24 Um nur die Monographien zu erwähnen: Dušan Nećak, Božo Repe, O feldmaršalu Svetozarju Boroeviću de Bojni [Über Feldmarschall Svetozar Borojević von Bojna] (Ljubljana 2010) und Miro Simčič, Svetozar Borojević: Med slavo in ponižanjem [Svetozar Borojević: Zwischen Ruhm und Demütigung] (Koper 2011). 25 Vgl. ausführlich zu Anton Korošečʼ politschem Leben: Feliks Bister, ‘Majestät, es ist zu spät‘ Anton Korošec und die slovenische Politik im Wiener Reichsrat bis 1918 (Wien 1995) und Jure Gašparič, SLS pod kraljevo diktaturo: diktatura kralja Aleksandra in politika Slovenske ljudske stranke v letih 1929–1935 [Die SLS unter der Königsdiktatur: Die Diktatur König Aleksanders und die Politik der Slowenischen Volkspartei in den Jahren 1929–1935] (Ljubljana 2007).

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5. Öffentliches Gedenken und museale Thematisierung im Jahr 2014 Das soeben erwähnte Ehrengrab für die Opfer des Judenburger Aufstandes am großen Friedhof Žale in Laibach (Ljubljana; Ljubljana), in das ihre sterblichen Überreste 1923 überführt wurden, wurde 1939 zu einem Beinhaus und einer Gedenkstätte für alle Opfer des Ersten Weltkrieges ausgebaut26. Beschützt wird dieses Ehrengrab symbolträchtig seit 1923 von der Statue eines Kranjski Janez [Krainer Johann] – eines prototypischen slowenischen k.u.k. Soldaten aus dem 17. Krainer Infanterieregiment – die die Veteranenzeitschrift Bojevnik 1931 in einer Bildunterschrift als „Symbol des Leidens und der Erniedrigung der Slowenen im Weltkrieg“27 betitelte. Dieses Denkmal ist zweifelsohne das größte und zentralste für die slowenischen Opfer des Ersten Weltkrieges – bezeichnend dabei nur, dass es zu Beginn nicht als solches geplant war, sondern den Aufständischen von Judenburg geweiht war und erst später umgebaut wurde. Ebendort fand am 9. September 2014 die zentrale staatliche Gedenkveranstaltung des Gedenkjahres 2014 statt: mit Ehrengarde, der gesamten politischen Führungsspitze, zahlreicher ausländischer Delegationen, kulturellem Rahmenprogramm, Kranzniederlegung und einer Festrede des damaligen Staatspräsidenten Borut Pahor28. Mit der Koordination dieser und anderer Gedenkveranstaltungen betraut war das 2013 gegründete Nacionalni odbor za obeležitev 100-letnic 1. Svetovne vojne (2014–2018) [Nationale Komitee für das 100‑jährige Jubiläum des Ersten Weltkrieges], das sich aus Historike-rinnen und Historiker sowie Politikerinnen und Politiker zusammensetzt und das Bewusstsein in der Bevölkerung für die Thematik erhöhen und die aktive Zusammenarbeit mit anderen Ländern verstärken soll. Treibende Kraft hinter dem aktiven Komitee ist seine Vizepräsidentin, die Erste-WeltkriegsHistorikerin Petra Svoljšak29. 26

Nemanič, Upori slovenskih vojakov 142 f. Bojevnik 1/3 (Ljubljana 1931) 1 [Übersetzung Karin Almasy]. 28 Ministrstvo za kulturo, Državna komemoracija v spomin vojakom in civilnim žrtvam I. Svetovne vojne [Staatliche Gedenkveranstaltung für die Soldaten und zivilen Opfer des Ersten Weltkrieges]; in: http://www.mk.gov.si/si/medijsko_sredisce/novica/browse/6/article/12447/6264/a73e63df0cc1b0f0fdc846982e45ccd5/, [30. September 2015] und Video der gesamten Veranstaltung: http://www.rtvslo.si/prva-svetovna-vojna/TVinRAarhiv, [30. September 2015]. 29 Eigener slowenisch-englischer Internetauftritt des Komitees zum Ersten Weltkrieg auf Englisch: Slovenian National Committee for the 100th Anniversary of World War I (2014–2018) – presentation; in: http://www.100letprve.si/en/noga/slovenian_national_committee/, [30. September 2015]. Detailinformationen zur Tätigkeit des Komitees verdanke ich Petra Svoljšak. 27

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Auf musealer Ebene hat es sich kaum ein Museum – ob staatlich oder privat – nehmen lassen, eine eigene kleine Sonderausstellung zum Ersten Weltkrieg zusammenzustellen, wodurch dieses Thema mehr denn je einer breiten Öffentlichkeit präsent gemacht wurde. Um nur einige wenige zu nennen und den Fokus zu verdeutlichen: In einer Zusammenarbeit des Erste-WeltkriegsMuseums Kobariški muzej mit dem Muzej Novejše zgodovine [Museum für Zeitgeschichte] in Laibach (Ljubljana, Ljubljana) entstanden zwei verschiedene Ausstellungen unter demselben Titel: „Take vojne si nismo predstavljali“ [Einen solchen Krieg haben wir uns nicht vorgestellt], die von einer Schwerpunktsetzung auf die Kriegserfahrung der einfachen Soldaten in einer bottomup-Perspektive zeugt und verstärkt auf slowenische Egodokumente zurückgreift, weshalb auch als Ausstellungstitel eine Zeile aus den Aufzeichnungen des Soldaten Ivan Matičič gewählt wurde. Während das Kobariški muzej verstärkt ein ausländisches Publikum anspricht, wendet sich das Zeitgeschichtemuseum eher primär an das slowenische Publikum selbst30. Das Nationalmuseum Narodni muzej Slovenije wählte ebenso eine Zeile aus einem Egodokument als Titel – „Fronte se začenjajo prebujati: Rudolf Cvetko in prva svetovna vojna“ [Die Fronten beginnen zu erwachen: Rudolf Cvetko und der Erste Weltkrieg] und eine einfache Person, durch deren Leben und Augen der Erste Weltkrieg erfahrbar gemacht werden soll. Interessanterweise wählte sie dafür den in Vergessenheit geratenen Hauptmann Rudolf Cvetko, der als Mitglied der österreichischen Fechtmannschaft 1912 in Stockholm eine Silbermedaille im Fechten errang und damit als erster slowenischer OlympiaMedaillenträger gelten darf. Er hinterließ aus seiner Kriegszeit besonders wertvolle Erinnerungen, weil er ein Kriegstagebuch führte, fotografierte und viele Feldpostkarten schrieb, weshalb der Erste Weltkrieg in dieser Ausstellung aus seiner Perspektive erzählt wurde31. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, jede einzelne Ausstellung des Gedenkjahres aufzuführen; erwähnt sei 30

Siehe dazu auf Englisch: Muzej novejše zgodovine, We never imagined such a war; in: http://www.muzej-nz.si/en/pages.php?id_meni=269&id=166, [30. September 2015] und die Ausstellungskataloge: Željko Cimprič (Hg.), Take vojne si nismo predstavljali. Non avremmo mai immaginato una tale guerra. So einen Krieg haben wir uns nicht vorgestellt. We never imagined such a war (Kobarid 2014); Muzej novejše zgodovine Slovenije (Hg.), We never imagined such a war (1914–1918) (Ljubljana 2014). 31 Siehe dazu den gleichnamigen Ausstellungskatalog: Narodni muzej Slovenije (Hg.), Fronte se začenjajo prebujati: Rudolf Cvetko in prva svetovna vojna: razstava ob stoletnici izbruha prve svetovne vojne spremlja sabljaškega mojstra in nosilca olimpijske medalje na njegovi poti skozi vojno vihro. [Die Fronten beginnen zu erwachen. Rudolf Cvetko und der Erste Weltkrieg: die Ausstellung zum hundertjährigen Jubiläum des Kriegsausbruchs begleitet den Fechtmeister und Olympiamedaillenträger auf seinen Weg durch die Kriegswirren] (Ljubljana 2014).

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lediglich noch, dass auch viele kleine Regional- und Privatmuseen das Thema Erster Weltkrieg aufgriffen: Entweder durch einen spezifisch regionalen Fokus (z. B. Krain im Ersten Weltkrieg32) oder durch eine thematisch gewählte Fragestellung. Das Museum der Volksbefreiung in Maribor etwa griff die Hobsbawmʼsche Überlegung auf, dass es sich eigentlich nicht um zwei Weltkriege, sondern um einen einzigen mit einer zwanzigjährigen Pause gehandelt habe, und kontrastierte – erneut unter einem Zitat (dieses Mal der Titel eines Volkslieds: „Oblaki so rdeči“ [Die Wolken sind rot]) als Titel – die beiden Weltkriege miteinander und betont die Kontinuitäten und Folgen des ersten auf den zweiten33. Nachdem nun kurz das Engagement der slowenischen Museen im Gedenkjahr 2014 skizziert wurde, sollen im Folgenden noch einige Worte zur slowenischen Film- und Dokumentarfilmproduktion zum Ersten Weltkrieg verloren werden, da eine noch breitere Öffentlichkeit nicht durch Museen, sondern durch Kino und Fernsehen erreicht werden kann.

6. Der Erste Weltkrieg in Film und Fernsehen Medial sind augenscheinlich große Bemühungen unternommen worden, um das Thema einer breiteren Öffentlichkeit näher zu bringen: Es herrschte 2014 (und es hat den Anschein, dass es zumindest bis 2018 so bleiben wird) kein Mangel an Fernseh-, Radio-, Zeitungs- und Internetbeiträgen, die der staatliche Rundfunk RTV Slovenija gebündelt an einen eigenen virtuellen Sammelplatz für alle relevanten Themen des Ersten-Weltkrieg-Jubiläums zur Verfügung stellt34. Unter all diesen verschiedenen Formaten, meist kurze Nachrichtensegmente, Expertinnen- und Experteninterviews und -gesprächsrunden, Radiobeiträge, Veranstaltungstipps und ähnlichem, stechen zwei besondere Produktionen hervor: Zum einen der erste Spielfilm (eine österreichisch-slowenische Co-Produktion) eines slowenischen Regisseurs zum Ersten Weltkrieg und zum anderen die erste slowenische Dokumentationsreihe zu den Slowenen im Ersten Weltkrieg. Da es sich um die ersten Produktionen ihrer Art und ihres Formats 32

Siehe dazu die exzellente virtuelle Ausstellung zur gleichnamigen Wanderausstellung des Historischen Archivs Ljubljana: Zgodovinski arhiv Ljubljane (Hg.), Kuge, lakote in vojske – reši nas, o Gospod! Kranjska v prvem letu vélike vojne [Pest, Hunger und Heer – Oh rette uns, Herr! Krain im ersten Jahr des Großen Krieges] (Ljubljana 2014) unter: http://sistory.eu/TEI_publikacije/razstave/Kranjska_v_prvem _letu_velike_vojne/, [30. September 2015]. 33 Siehe dazu: Muzej narodne osvoboditve Maribor; auf: http://www.muzejno-mb.si/site/ index.php?option=com_content&view=article&id=406, [30. September 2015]. 34 RTV Slovenija, Svetovna vojna 1914 – 1918. Spletno mesto ob 100. Obletnici začetka 1SV [Der Weltkrieg 1914 –1918. Virtueller Treffpunkt anlässlich des 100jährigen Jubiläums des 1WK]; in: http://www.rtvslo.si/1sv, [30. September 2015].

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handelt – im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg (Stichwort: Genre Partisanenfilm) wurde der Erste Weltkrieg bis dato noch nie in einem abendfüllenden Spielfilm zum Thema gemacht35 – kommt ihnen wahrhaftig ein gewisser Pioniercharakter zu. Der Spielfilm „Gozodovi so še vedno zeleni / Die Wälder sind noch grün“36 erzählt die große Geschichte des Ersten Weltkrieges anhand einer kleinen Geschichte, jener eines einfachen kleinen Soldaten – wie könnte es anders sein – am Schauplatz der Isonzofront auf einem hoch gelegenen entrückten österreichischen Beobachtungsposten. Die für das Genre Kriegsfilm ungewöhnlich stille, an Originalschauplätzen gedrehte Produktion von Regisseur Marko Naberšnik erzählt von der Sprach- und Machtlosigkeit des Kärntner Soldaten Jakob Lindner und seinem Überlebenskampf innerhalb der großen Kriegsmaschinerie. Den Beschuss des Außenpostens hat nur Lindner heil überlebt, der Hauptmann hat ein Bein verloren und Lindner muss allein die Stellung halten und seinen Hauptmann versorgen. Dieser erliegt bald seinen Verletzungen, die durch das Feldtelefon versprochene Hilfe kommt nie. Wassermangel und Alpträume quälen Lindner. Am Ende verlässt Lindner seinen Posten; das Ende wird offengelassen. Finanzierung und ideeller Anstoß für diesen Film kamen aus Österreich (von Co-Produzent Robert Hofferer und Artdeluxe Films), doch Regie und kreative Leitung oblag dem slowenischen Erfolgsregisseur Marko Naberšnik; auch Crew und Schauspieler waren mehrheitlich slowenisch. Die wenigen Worte, die in diesem Film gewechselt werden, fallen im Bemühen um historische Akurratheit auf Deutsch, laut Regisseur eine bewusste Entscheidung, war doch die Kommandosprache der k.u.k. Armee Deutsch37. Der erste slowenische Spielfilm zum Ersten Weltkrieg wurde auf internationalen Filmfestivals gut aufgenommen und konnte einige Preise u. a. in Shanghai gewinnen38. Besonders zu erwähnen ist im Kontext der medialen Aufbereitung des Ersten Weltkrieges auch die im Februar 2014 erstmals ausgestrahlte fünfteilige 35

Vgl. dazu: Silvan Furlan, Bojan Kavčič, Zdenko Vrdlovec et al. (Hgg.), Filmografija slovenskih celovečernih filmov 1931–2010. Filmography of Slovenian feature films 1931–2010 (Ljubljana 2011) und für eine ausführliche Analyse der beiden Produktionen, siehe: Karin Almasy, The rediscovery of a forgotten war. The First World War in Slovene Film and Documentary production; in: Hannes Leidinger (Hg.), Filmische Erinnerung an den letzten Krieg des Habsburgerreiches (Wien 2016, in Druck). 36 Marko Naberšnik, Die Wälder sind noch grün. Gozdovi sp še vedno zeleni (Vojnik 2014). 37 So Marko Naberšnik selbst in einem Interview; auf: http://www.rtvslo.si/prva-svetovnavojna/TVinRAarhiv, min., [30. September 2015]. 38 Siehe dazu den offiziellen Webauftritt des Films unter: http://www.die-wälder.com/, [30. September 2015].

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Fernsehdokumentarreihe „Slovenci in Prva svetovna vojna“ [Die Slowenen und der Erste Weltkrieg] des Historikers und Kustos des Museums für Neuere Geschichte Marko Štepec und des Regisseurs Valentin Pečenko. Die aufwendige in drei Jahren produzierte Dokumentarreihe wurde an Originalschauplätzen gedreht und berücksichtigt große Mengen an Archiv-, Film- und Fotomaterial sowie slowenische Egodokumente zum Ersten Weltkrieg. Durch die Heranziehung slowenischer Quellen und seltenem Filmmaterial ist sie auch für einschlägige Experten zu diesem Thema eine herzhafte Abwechslung und dürfte einiges Neues bzw. einen anderen Blick als die zahlreichen bereits existierenden deutschen, britischen u. a. Dokumentationen über den Ersten Weltkrieg bieten39. Die Themensetzung der fünf Teile ist auch sehr aufschlussreich und verrät etwas über Bekanntes und Neues im slowenischen Themenkanon: Der erste einführende Teil des Dokumentarreigens „Zatišje pred viharjem“[die Ruhe vor dem Sturm] beschäftigt sich mit der Nationsfindung und der Emanzipation der Slowenen in der Habsburgermonarchie. Generell kann man mittlerweile zur Einschätzung kommen, dass das in der Zwischenkriegszeit ausgegebene Ideologem vom „Völkerkerker Habsburgermonarchie“ kaum noch unreflektiert und generisch zu finden ist – so auch nicht in dieser Dokumentation, die stattdessen ein durchaus realistisches, weder national übersteigertes noch romantisch verklärtes Bild von der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Situation des kleinen slowenischen Volkes in der Habsburgermonarchie zeichnet. Teil 3 „Doberdob, slovenskih fantov grob“ [Doberdob, slowenischer Männer Grab] und Teil 4 „Preboj pri Kobaridu“ [Durchbruch bei Kobarid] widmen sich größtenteils sehr detailliert den Ereignissen an der Isonzofront, während Teil 5 „Propad“ [der Zusammenbruch] das letzte Kriegsjahr, den Zusammenbruch der Monarchie und den Übergang in ein neues Staatsgebilde, das Kriegsende und alle sozialen Begleiterscheinungen thematisiert. Auf eine neue Themenschwerpunktsetzung lässt Teil 2 „Krvave galicijske poljane“ [Die blutigen galizischen Schlachtfelder] schließen, da die Ostfront bislang wenig Beachtung fand und nun aber von der slowenischen Historiographie als bedeutender Kriegsschauplatz erkannt wurde.

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Valentin Pečenko, Marko Štepec, Slovenci in 1. Svetovna vojna 1914–1918 [Die Slowenen und der Erste Weltkrieg] (Ljubljana 2013) Presse-Communiqué, nachzulesen unter: http://www.rtvslo.si/sporocila-za-javnost/dokumentarna-serija-slovenci-in-1-svetovnavojna-1914-1918/329499, [30. September 2015].

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7. Neue Forschungsinteressen Die Ostfront stand bislang völlig im Schatten der Isonzofront, ist aber mittlerweile als Desiderat der slowenischen Geschichtsforschung erkannt worden. Umso löblicher auch, dass sich ein Teil der fünfteiligen Dokumentationsreihe ausschließlich damit auseinandersetzt und in der breiteren Öffentlichkeit das Bewusstsein dafür schärft, dass die blutigsten und zahlreichsten Verluste unter den slowenischen Soldaten im Sommer 1914 an der Ostfront und bei der Belagerung von Premissel (Перемишль /Peremyschl, Przemyśl) geschahen: Auch wenn die genaue Zahl der slowenischen Gefallenen bis heute unklar ist, so ist doch bekannt, dass 9/10 aller slowenischen Soldaten an die Ostfront berufen wurden – wenig überraschend starben dadurch auch die Großzahl der slowenischen Soldaten auf den Schlachtfeldern Galiziens und nicht an der viel prominenter diskutierten Isonzofront40. Auch eine einschlägige Konferenz 2014 mit polnischen Historikerinnen und Historiker in Krakau zur gemeinsamen Geschichte der Polen und Slowenen im Ersten Weltkrieg zeugt von diesem neuen Interesse41. Ein weiterer starker Fokus – dieser ist nicht komplett neu, doch erfährt mittlerweile viel Beachtung – ist die Sozial-, Alltags- und Frauengeschichte. Medialer Ausdruck für dieses Interesse ist eine 2015 erschienene 31-minütige TV-Dokumentation über Frauen im Großen Krieg, durch die die Historikerin Petra Svoljšak unter der Regie von Valentin Pečenko führt42. Mit dem Fokus auf den Frauen43 liegt der Schwerpunkt gleichzeitig auf der Heimatfront, auf der schwierigen Versorgungslage, insbesondere in den Städten, auf der Situa40

Pečenko, Štepec, Slovenci 2, 00:11:05.Štepec hat wiederholt versucht, die Öffentlichkeit für dieses Thema zu sensibilisieren, siehe: http://ava.rtvslo.si/predvajaj/marko-stepec/ ava2.174261596/ und http://www.delo.si/zgodbe/nedeljskobranje/prva-vojna-totalna-innepredstavljiva.html, [30. September 2015]. 41 Vgl. dazu das Konferenzprogramm: http://zimk.zrc-sazu.si/sites/default/files/w_galicji_i_ nad_socza_-_zaproszenie-program.pdf, [30. September 2015]. Aus Platzmangel kann an dieser Stelle keine erschöpfende Auflistung anderer Fachkonferenzen des Jahres 2014 gegeben werden, weshalb ich davon absehe und mich auf die Aussage beschränke, dass reges Interesse bestand, einige stattgefunden haben und die finanzielle staatliche Unterstützung relativ gestiegen ist. Den detailliertesten Überblick darüber hat sicherlich die Vizepräsidentin des Nationalen Komitees für das 100‑jährige Jubiläum des Ersten Weltkrieges Petra Svoljšak, von der ich dankenswerter Weise Auskunft darüber erhielt. 42 Valentin Pečenko, Petra Svoljšak, V Fokusu: Ženske v Veliki vojni 1915–1918 [Im Fokus: Frauen im großen Krieg 1915–1918] (Ljubljana 2015). 43 Vgl. dazu das bis 2017 laufende Forschungsprojekt unter der Leitung von Marta Verginella zu Frauen und dem Ersten Weltkrieg (Projektbeschreibung unter: http://www.sicris.si/public/jqm/prj.aspx? lang=slv&opdescr=search&opt=2&subopt=405&code1=cmn&code2= auto&psize=1&hits=1&page=1&count=&search_term=marta%20verginella&id=9316& slng=&order_by=, [30. September 2015].

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tion der Frauen ohne den abwesenden Männern, in den Städten, der Landwirtschaft und der Industrie. Im Kontext der Isonzofront wird mittlerweile dem Leben in Etappe und Hinterland mehr Beachtung geschenkt und nicht mehr nur dem unmittelbaren Frontgeschehen, wie es aktuelle Forschungsthemen einzelner slowenischer Historikerinnen und Historiker wie Sanität, Versorgung, Ernährung und Seelsorge sowie das Schicksal der durch die Evakuierung der betroffenen Gebiete entstandenen slowenischen Binnenflüchtlinge zeigen44. Insbesondere im Laufe der kommenden Gedenkjahre darf deshalb damit gerechnet werden, dass einige bislang weiß gebliebene Flecken der slowenischen Geschichte detailliert aufgearbeitet werden.

8. Conclusio Fasst man die soeben skizzierten Themenbereiche d. h. die „stoffliche Seite“ der slowenischen Erzählung über den Ersten Weltkrieg zusammen, so kann festgehalten werden, dass sich die slowenische Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg stark auf die Isonzofront fokussiert hat und es aller Wahrscheinlichkeit nach auch weiterhin tun wird: Die Geschichte des Ersten Weltkrieges aus slowenischer Perspektive ist (und bleibt wahrscheinlich) primär die Geschichte der Isonzofront, wie es auch Publikationen, Ausstellungen und sonstige Initiativen anlässlich des 100jährigen Erste-Weltkriegs-Jubiläums zeigen. Dennoch haben sich in letzter Zeit einige sehr interessante ‚Nebenschauplätze‘ aufgetan, die einen Shift Richtung Galizien und Ostfront sowie Alltags-, Sozial- und Geschlechtergeschichte versprechen. Was hingegen kaum in die Betrachtungen einfließt, sind Themen des Ersten Weltkrieges, die aus slowenischer Sicht ‚irrelevant‘, weil zu fern sind, wie etwa die Ereignisse an der Westfront oder außereuropäische Kriegsschauplätze. Auch die politische Großwetterlage, die Politik der Großmächte und die Kriegsschuldfrage kommen nur am Rande vor, wahrscheinlich wohl deshalb, weil es ja nie slowenische Entscheidungsträger waren, die Entscheidungen zum weiteren Kriegsverlauf fällen durften. Im Fokus slowenischer Historikerinnen und Historiker sowie Museumskuratorinnen und Museumskuratoren u. ä. steht hingegen das 44 An einer umfassenden Darstellung der Sanität an der Isonzofront arbeitet momentan Walter Lukan, zur Versorgungs- und Ernährungssituation Rok Stergar, zur Frage der Flüchtlinge (darunter spezifisch der weiblichen Flüchtlinge) im Hinterland der Isonzofront Jernej Kosi. [September 2015]. Zu den slowenischen Feldkuraten, siehe: Miha Šimac, Vojaški duhovniki iz slovenskih dežel pod habsburškim žezlom [Die Militärgeistlichen aus den slowenischen Ländern unter dem Habsburger Zepter] (Ljubljana 2014). Dank an dieser Stelle an Jernej Kosi für Auskünfte zur aktuellen Forschungstätigkeit slowenischer Historikerinnen und Historiker.

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Schicksal der kleinen jungen, ‚geschichtslosen‘ Nation der Slowenen während der Krieges. Dieser Perspektive einer kleinen Nation auf historische Ereignisse liegt möglicherweise auch gleichsam die Perspektive des kleinen Individuums näher, weshalb das aktuelle Ausstellungsdesign fast ausschließlich eine solche Erzählposition einnimmt – oder die festzustellende bottom-up-Perspektive auf alltags-, regional- und sozialgeschichtliche Themenstellungen – die große Geschichte des Ersten Weltkrieges erzählt z. B. durch die Augen eines kleinen Soldaten – folgt einfach dem internationalen Trend in der Geschichtswissenschaft hin zu einer solchen Betrachtungs- und Erzählweise. Als Spielball nationaler Verklärung oder nationalistischer Geschichtsdeutung oder gar ‑instrumentalisierung dient der Erste Weltkrieg generell nicht. Dafür liegt dieses „historisch ausverhandelte Ereignis“45 offenbar (emotional und zeitlich) mittlerweile zu fern und bietet – im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg – keine kontroversen Frontlinien, entlang derer noch heute die (slowenische) Welt vermessen werden könnte. Das Gedenkjahr 2014 gab Anstoß für neues lebendiges Interesse und neue Forschungsprojekte zum Ersten Weltkrieg und stellte gewissermaßen den Startpunkt eines ganzen ‚Gedenkreigens‘ dar. Da 1918 aus slowenischer Sicht das viel einschneidendere Zäsurjahr als 1914 darstellte, darf man gespannt sein, wie viel Beachtung dieses Thema in der Scientific community, der musealen Behandlung und der medialen Öffentlichkeit im Gedenkjahr 2018 erfahren und in welcher Form es diskutiert und gedeutet werden wird.

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Uhl, Der Erste Weltkrieg im Gedächtnis 37.

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Gavrilo Princip, Serbien und das Jahr 2014 – Neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder am Ende (doch nur wieder) alte Zuweisungen? 1. Zur Einführung: Alles geklärt oder Fragen über Fragen? Die hundertste Wiederkehr des Ausbruches des Ersten Weltkrieges, der „UrKatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie ihn George F. Kennan bezeichnete, hat erwartungsgemäß eine Flut an neuen Büchern zu diesem Konflikt auf den Markt gebracht. Die verschiedenen Fronten, aber auch Schicksale einfacher Menschen sind dabei Themen gewesen, denen sich Geschichtswissenschaftlerinnen und Geschichtswissenschaftler widmeten. Doch auch die Ursachen und da insbesondere die Julikrise von 1914 selbst sind erneut in den Fokus geraten. Das Zentenarium ist entsprechend ebenso zum Anlass genommen worden, erneut über die Kriegsschuld zu debattieren. Der Diskurs dazu wurde dabei nicht nur von Seiten verschiedener Historikerinnen und Historiker geführt, sondern gerade auch auf der medialen Ebene. Man hätte meinen sollen, dass dazu eigentlich schon alles gesagt und geschrieben worden ist. Die großen Debatten um die Kriegsschuld, namentlich was die deutsche Verantwortung am Ausbruch des Krieges betrifft, wurden schon lange zuvor zum Teil heftig und kontrovers geführt. Man erinnere sich hierzu an die Kontroverse, die Fritz Fischers Buch „Griff nach der Weltmacht“ in den 1960er Jahren ausgelöst hatte. In den folgenden Jahrzehnten ist man jedenfalls zu einem Konsens gekommen, nach welchem einige der Thesen Fischers akzeptiert wurden, darunter eben auch jene vom nicht unerheblichen Anteil der deutschen Verantwortlichkeit vor dem Hintergrund der Juli-Krise 19141. Und dennoch, offensichtlich ist die Frage nach der Kriegsschuld – und das trotz einer dazu bereits vorhandenen Die These Fischers, die Deutschen hätten seit der „Kriegsratssitzung“ vom Dezember 1912 auf die Herbeiführung des Krieges bewusst hingearbeitet, ist dann so doch in der Zwischen zeit widerlegt worden. Zur „Kriegsratssitzung“ vgl. David Fromkin, Europas letzter Sommer. Die scheinbar friedlichen Wochen vor dem Ersten Weltkrieg (München 12005) 116 –119.

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umfangreichen Literatur – immer noch von gewisser Bedeutung und daneben von politischer Brisanz, wie dieser Beitrag im Folgenden noch aufzeigen wird. Das erkennt man nämlich an der Kontroverse, die sich an dieser Frage 2013 und 2014 wieder entzündete. Man könnte sich die Frage stellen, weshalb diese Debatte heute, im 21. Jahrhundert, wieder nötig ist. Hat man denn in den Archiven der verschiedenen am Krieg beteiligten Länder Neues entdeckt, was eine erneute Diskussion rechtfertigen würde? In diesem Zusammenhang wurde dem australischen Historiker Christopher Clark mit seinem Buch „The Sleepwalkers“ (dt. „Die Schlafwandler“) in welchem er einen multiperspektivischen Zugang zu der Kriegsschuldfrage zu unternehmen bemüht ist, große Aufmerksamkeit zuteil. Als Ergebnis seiner Forschungen kommt er zu dem Schluss, dass Deutschland und Österreich-Ungarn nicht mehr oder weniger Schuld (bzw. Verantwortung) am Kriegsausbruch vorzuwerfen sei, als auch Großbritannien oder Frankreich. Alle diese Mächte hätten den „Großen Krieg“ weder gewollt noch geplant, sie seien eben nolens volens wie „Schlafwandler“ hineingeraten. Dezidierter urteilt er jedoch insbesondere über Serbien, dem er durchaus eine sehr große Verantwortung für den Kriegsausbruch unterstellt, dem „Schurken in dem Drama“ (so Volker Ullrich in der ZEIT vom 17.9.2013), welches Clarks Buch entfaltet. Bedeuten dessen Ausführungen damit eine (wenn auch partielle) Exkulpation Deutschlands und Österreich-Ungarns von der Verantwortlichkeit für den Kriegsausbruch? Kann hier die Rede sein von einer Verschiebung der Verantwortlichkeit bzw. einer Abwälzung auf Staaten, wie Russland und Serbien (oder dem Versuch davon), denen zudem in der westlichen Welt (und Presse) wenig Sympathien entgegen gebracht werden? Erklärt gerade dies die so populäre Perzeption von Clarks Buch vor allem in Deutschland, wo es sogar auf den Bestsellerlisten landete? Man könnte auch fragen, ob sich in der Beurteilung der Rolle Serbiens im Jahr 1914 hundert Jahre später überhaupt etwas geändert hat, oder ob hier alles beim Alten geblieben ist. Clark steht mit seiner Darstellung bezüglich Serbiens allerdings nicht alleine da, daneben kann man auch die Werke von Sean McMeekin („July 1914“), von Herfried Münkler („Der Große Krieg“) oder von Margaret MacMillan („The War that ended Peace: The Road to 1914”) stellen. Ihnen allen gemein ist, dass vor allem Serbien als ein Staat erscheint, der den Terrorismus gefördert und unterstützt habe, wobei Vergleiche mit Osama Bin Laden und Al Kaida nicht ausblieben (und dann wohl Serbien entsprechend mit Krieg überzogen werden durfte, dem US-geführten „Krieg gegen den Terror“ analog)2. Es ist auffällig, 2

Vgl. dazu z. B. Herfried Münkler, Der Grosse Krieg. Die Welt 1914–1918 (Berlin 32013) 34 –36, 40 –51; vgl. Margaret MacMillan, The War that ended Peace: The road to 1914

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dass sich die genannten Autorinnen und Autoren (aber nicht nur sie, denn auch in älteren Werken, wie von Hew Strachan oder von John Keegan finden sich ähnliche Zugänge) jedenfalls derselben antiserbischen Stereotype bedienen, wie dies bereits Deutsche und Österreicher vor und bis 1914 getan hatten3. In diesem Beitrag soll es aber nicht nur um geschichtswissenschaftliche Werke gehen, die im Zentenarium des Kriegsausbruches in den wissenschaftlichen Fokus gerückt sind. Aufschlussreich ist ebenso, wie die Medien (hier speziell die deutschen Medien, wie Tages- und Wochenzeitungen) über die neuerliche Kontroverse zum Kriegsausbruch berichteten. Besonders wichtig war dabei, welche Haltung diese Medien (speziell die deutschsprachigen) zu Serbien und serbischen Stimmen zu dieser Debatte einnahmen und wie diese präsentiert wurden: Wurden dabei etwa erneut alte Stereotype von den Serben als „Königsmörder“ und Verbrecher bedient, so wie man es auch vor und nach dem Attentat von Sarajevo 1914 in deutschen und österreichisch-ungarischen Blättern getan hat, wurden serbische Stimmen (pauschal) delegitimiert, oder doch auch berücksichtigt? In diesem Zusammenhang soll ebenfalls zur Diskussion gestellt werden: Welche neuen Erkenntnisse hat das Gedenkjahr 2014 zur Person Gavrilo Princips und der „Mlada Bosna“ („Junges Bosnien“), der er angehörte, zu Tage gefördert? Was war danach nun Princip selbst, ein „Freiheitsheld“, ein „Revolutionär“, ein „jugendlicher, verwirrter Träumer“, ein „Anarchist“ oder schlicht ein „Terrorist“ bzw. damit gar ein Vorläufer Osama bin Ladens? Konnte man daneben Erklärungen für die Rolle und für die Politik Serbiens vor 1914 finden, die über (einseitige) Schuldzuweisung hinausgingen? Oder bleibt am Ende des Jahres 2014 als Ergebnis, dass Serbien allein (bzw. zusammen mit Russland) die Verantwortung /Schuld für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges zukommt, in Kontinuität zu dem Vorwurf, auch für die Kriege der 1990er Jahre verantwortlich zu sein? (New York 2013) 547. Die Passage aus MacMillans Buch, in dem sie den Vergleich zwischen „Mlada Bosna” und Al Kaida macht, ist auch als „Exclusive excerpt“ auf: http:// www.macleans.ca/culture/books/the-war-that-ended-peace-2/, [9. März 2016] nachzulesen. In seiner Rezension zu Clarks Buch schreibt McMeekin u. a.: „He points out that Austrian claims about Serbian complicity in Sarajevo proved essentially correct, although one would never guess this from histories still coloured by the ‘Russian counter-narrative’ of Serbian innocence”, auf: http://www.historytoday.com/blog/2012/11/sleepwalkers-how-europewent-war-1914#sthash.jY2eAKlu.dpuf, [9. März 2016]. Auch McMeekin stellt in seinem Buch „July 1914” den Vergleich zum Krieg der USA gegen Afghanistan her, indem laut McMeekin von Serbien 1914 wie von Afghanistan 2001 eine terroristische Gefahr ausging, und damit für Wien der „casus belli“ gegen Serbien gegeben sei, vgl. Sean McMeekin, July 1914: The Countdown to War (New York 2014) 391. 3 Über Keegan äußert sich z. B. entsprechend kritisch Daniela Schanes, Serbien im Ersten Weltkrieg. Feind- und Kriegsdarstellungen in österreich-ungarischen, deutschen und serbischen Selbstzeugnissen (Frankfurt am Main 2011) 11.

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2. Serbien muss sterbien – wieder einmal? Das österreichische Magazin „profil“ berichtete in seiner online-Ausgabe vom 19. Juli 2014 von einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Unique Research zur Kriegsschuldfrage. Demnach gab eine „Mehrheit der Österreicher“ Serbien die „Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs“4. Dieser Meinung waren 36 % der Befragten, immerhin aber gingen auch 31% von einer Verantwortung Österreich-Ungarns aus, bezeichnend genug, wie man im Artikel weiter erfahren konnte. Vielleicht ebenso bezeichnend ist, dass 25 %, also ein Viertel der Befragten, „dazu keine Angabe machen“ konnte5. Diese Werte sprechen für eine offenbar immer noch weit verbreitete Ansicht, Serbien bzw. „die Serben“ seien hauptverantwortlich für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges6. Dass im heutigen Österreich noch so gedacht wird, mag womöglich mit teils vorhandenen Nachwehen als Folge des Untergangs der alten Monarchie sowie mit damit einhergehenden Ressentiments gegen die Serben zu tun haben. Zu solchen Ergebnissen mögen aber auch neuere geschichtswissenschaftliche Werke beigetragen haben, wie insbesondere das Buch von Christopher Clark, „The Sleepwalkers“7. Sein Buch erfuhr in den Medien, gerade in den deutschsprachigen, eine fast beispiellos zu nennende begleitende Werbekampagne, womit ihm damit schon ein bestimmter Grad an Aufmerksamkeit sicher war. Entsprechend wurde das Buch auch vielfach rezensiert, zumeist positiv. Das hatte seinen Grund in Clarks Beobachtung, Europas Vorkriegssystem sei derart beschaffen gewesen, dass „Krieg der einzige Ausweg war“8. Die Folge daraus: „Die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur.“9 Wie der deutsche Historiker Heinrich August Winkler in diesem Zusammenhang bemerkt, stellt sich in der Folge für Clark auch überhaupt nicht mehr die Kriegsschuldfrage10. Und damit auch nicht die Frage nach einer deutschen Hauptschuld (bzw. Der Artikel ist online einsehbar unter http://www.profil.at/oesterreich/umfrage-mehrheitoesterreicher-serbien-schuld-ausbruch-ersten-weltkriegs-376858, [2. November 2015]. 5 Ebd. Nur zwölf Prozent hielten in derselben Umfrage „Deutschlands Verhalten für ausschlaggebend“. 6 Man könnte daneben auch annehmen, die betreffenden Befragten hätten keine Ahnung von Geschichte oder würden sich zumindest nicht dafür interessieren, jedenfalls was die erwähnten 25 % betrifft. 7 Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog (München 122014). 8 Zit. nach Heinrich August Winkler, Und erlöse uns von der Kriegsschuld, in Zeit On line, No. 32/2014, vom 18. August 2014, 2, auf http://www.zeit.de/2014/32/erster-weltkrieg christopher-clark, [2. November 2015]. 9 Clark, Die Schlafwandler 717. 10 Winkler, Und erlöse uns von der Kriegsschuld 2. 4

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-verantwortung). Gerade dieser Umstand erkläre nach Winkler den so großen Erfolg und „die überwältigende Zustimmung, auf die er in Deutschland, und nur hier, stößt“: „Er [Clark, Anm. d. Verf.] hat ein großes, überwiegend älteres und konservativ gestimmtes bildungsbürgerliches Publikum gefunden, in dem manche ihn geradezu wie einen Erlöser feiern.“11 Vielen gelte er sogar als „Befreier“ von der „nationalen ‚Selbstdemütigung’, der sich Deutschland unterzogen habe“ in Folge der Verbreitung der Thesen Fritz Fischers von der deutschen Herbeiführung nicht nur des Zweiten, sondern auch des Ersten Weltkrieges12. Nicht umsonst hat Winkler seinen Artikel auch ironisch „Und erlöse uns von der Kriegsschuld“ betitelt, der den (Medien-)Rummel um Clark genau auf den Punkt bringt. Viel wichtiger als das ist jedoch, dass Clarks Thesen – im Grunde sei jeder ein bisschen Schuld (aber die Russen und vor allem die Serben am meisten) und keine der vier westeuropäischen Großmächte habe den Krieg eigentlich wirklich gewollt, sondern sie seien wie „Schlafwandler“ in den Konflikt hineingeschlittert – nicht nur weithin gerne angenommen, sondern auch in anderen Werken aufgegriffen wurden. Ein Beispiel dafür ist das Werk von Herfried Münkler, „Der Grosse Krieg“13. Nach Münkler sei die deutsche Politik in der Julikrise auch keineswegs „verantwortungslos“ gewesen14. Eine Anzahl weiterer deutscher Historikerinnen und Historiker griff diesen Ball auf und verkündete, die Kriegsschuldfrage habe sich erledigt15. Das galt freilich alles nur im Hinblick auf die beiden ehemaligen Großmächte Deutschland und Österreich-Ungarn, für Serbien allerdings nicht. Und hier stellt sich die Frage, was man von Clark et. al. zu Serbien, zu Princip und dessen Attentatsmotiven erfahren konnte. Brachten sie Neues zu Tage? Zunächst einmal fällt auf, dass Clarks erstes Kapitel den Titel „Serbische Schreckgespenster“ trägt16. In diesem beschäftigt er sich mit Serbien, was an sich ein lobenswerter Ansatz insoweit ist, als der Erste Weltkrieg mit der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an Serbien eröffnet wurde und Serbien eigentlich in den meisten Überblicksdarstellungen zu diesem Konflikt kaum oder nur kursorisch erwähnt wurde. Was im Übrigen auch für den Stellenwert dieses Landes spricht, den man ihm in der (zumeist) westlichen Geschichtsschreibung zu diesem Krieg einräumte. Doch wer gemeint hat, hier würde er eine objektive Schilderung der Hintergründe und zeithistorischen Umstände Serbiens wiederfinden, vor deren Hintergrund es letztlich zu dem Attentat in 11

Ebd. Ebd. 13 Herfried Münkler, Der Grosse Krieg. Die Welt 1914 –1918 (Berlin 32013). 14 Ders., 38. Vgl. dazu auch kritisch Winkler, Und erlöse uns von der Kriegsschuld 2 f. 15 Vgl. Winkler, Und erlöse uns von der Kriegsschuld 3. 16 Clark, Die Schlafwandler 23. 12

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Sarajevo gekommen ist (das zumal überhaupt nicht von Untertanen Serbiens, sondern solchen Österreich-Ungarns selbst begangen wurde, was nicht oft genug betont werden kann), wird allerdings in der Hinsicht enttäuscht werden. Die Überschrift dieses ersten Kapitels trägt den Titel „Mord in Belgrad“17. Hier nämlich beschreibt Clark nicht etwa das Attentat von 1914 in Sarajevo, sondern er beginnt seine Erzählung mit der Palastrevolte in Belgrad von 1903, als das damalige serbische Königspaar, König Aleksandar Obrenović und seine Frau Draga Mašin sowie weitere Personen aus deren Umfeld einer grausamen Verschwörung mehrerer serbischer Offiziere zum Opfer fielen. Einem mit der serbischen Geschichte wenig vertrauten Leser muss besonders dieses Ereignis als Vorgeschichte des viel später ausgeführten Attentates in Sarajevo erscheinen bzw. er wird vielleicht sogar eine Kontinuitätslinie von dem einen Ereignis zum anderen ziehen. Das umso mehr, wenn Clark seine Erzählung eben mit genau dieser Palastrevolte beginnt. Das Ziehen einer Kontinuitätslinie von der Palastrevolte in Belgrad zum Attentat in Sarajevo ist nun aber nichts Neues. Clark wiederholt hier nur eine Argumentationsweise, wie sie bereits 1914 nach dem Attentat und vor allem während der Julikrise seitens deutscher und österreichisch-ungarischer Politiker und Militärs angewandt wurde. Damit sollte ein Angriff Wiens auf Serbien vor der Öffentlichkeit gerechtfertigt bzw. der so bevorstehende österreichisch-ungarisch-serbische Balkankrieg „lokalisiert“ werden, wie es in Berlin seinerzeit immer wieder zu hören war. An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, einen Blick in die historischen Dokumente zu tun. So wies der deutsche Staatssekretär Gottlieb von Jagow am 12. Juli 1914 den deutschen Botschafter in London Karl Max Fürst von Lichnowsky in einem Telegramm an, auf die britische Öffentlichkeit in bestimmter Weise einzuwirken: „Die Untersuchung des Mordes von Sarajevo läßt immer deutlicher erkennen, dass die geistigen Urheber in politischen und militärischen Kreisen in Belgrad sitzen. Es besteht die Möglichkeit, dass Österreich sich infolgedessen zu ernsteren Maßnahmen gegen Serbien entschliessen und diese zu allgemeinen Komplikationen führen können. Wir wünschen unter allen Umständen Lokalisierung des Konflikt [sic]. Hierzu ist es nötig, dass die öffentliche Meinung in Europa es ihren Regierungen ermöglicht, der Austragung der Differenz zwischen Österreich und Serbien ohne Parteinahme zuzusehen. Es ist daher erforderlich, dass auch in der dortigen Presse schon jetzt eine Stimmung geschaffen wird, die in dem Attentat ebenso wie seiner Zeit die Ermordung des serbischen Königspaares den Ausfluss einer mit dem Kulturgewissen Europas unvereinbaren politischen Verbrechermoral sieht […]. Bitte in diesem Sinne tunlichst auf die dortige Presse einzuwirken, dabei aber sorgfältig alles 17

Ebd.

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vermeiden, was den Anschein erwecken könnte, als hetzten wir die Österreicher zum Kriege.“18 Dass der k.u.k. Außenminister Berchtold just einen Tag nach diesem Telegramm aus Sarajevo vom dort zuständigen Sektionsrat, „der im Auftrage Berchtolds in Sarajevo Belastungsmaterial gegen Serbien sammeln sollte“, dahingehend abschlägig unterrichtet wurde („Material aus Zeit vor Attentat bietet keine Anhaltspunkte für Förderung von Propaganda durch serbische Regierung. […] Mitwisserschaft serbischer Regierungsleitung an Attentat oder dessen Vorbereitung und Beistellung der Waffen durch nichts erwiesen oder auch nur zu vermuten.“), fiel nicht weiter ins Gewicht19. Jagow beließ es nicht nur bei diesem einem Telegramm an Lichnowsky, er schickte ihm noch eines hinterher, worin er Lichnowsky nochmals an die Palastrevolte von 1903 erinnerte sowie an die damalige britische Haltung Serbien gegenüber, welche die Tötung des Königspaares verurteilte – etwas, was Lichnowsky in geeigneter Weise verwerten solle: „[…] Dasselbe System herrscht auch jetzt noch in Serbien, diesselben Kräfte dürften auch in der grosserbischen Agitation wirken.“20 Doch Lichnowsky hatte Bedenken gegenüber einer solchen antiserbischen Politik. Nach ihm sei es schwer, „die gesamte serbische Nation als ein Volk von Bösewichten und Mördern zu brandmarken und ihm dadurch, wie der Lokalanzeiger bestrebt ist, die Sympathien des gesitteten Europas zu entziehen; noch schwerer aber die Serben, wie eine amtliche Persönlichkeit dem Wiener Vertreter des Daily Telegraph gegenüber tut, auf dieselbe Stufe zu stellen mit den Arabern in Ägypten und in Marokko oder mit den Indianern in Mexiko. Es ist vielmehr anzunehmen, dass die hiesigen Sympathien sich dem Serbentum sofort und in lebhafter Form zuwenden werden, sobald Österreich zur Gewalt greift, und dass die Ermordung des hier schon wegen seiner klerikalen Neigungen wenig beliebten Thronfolgers nur als ein Vorwand gelten wird, den man benutzt, um den unbequemen Nachbarn zu schädigen.“21 Der deutsche Botschafter hatte erkannt, worauf die von Jagow beabsichtigte Kampagne zielte, nämlich auf eine Dämonisierung der Serben, um auf diese Weise die Aktionen Wiens (zu denen man Wien ja selber drängte) zu legitimieren. Dass sich der Konflikt nicht zwischen Wien und Belgrad würde Jagow an Lichnowsky, Telegramm, Berlin 12. Juli 1914, Dok. Nr. 43; in: Immanuel Geiss, Julikrise, Bd. 1 (Hannover 1963) 115 f., zit. nach Dario Vidojković, Von Helden und Königsmördern. Das deutsche Serbienbild im öffentlichen Diskurs und in der Diplomatie von 1878 bis 1914 (Wiesbaden 2015) 377. 19 Wiesner an Berchtold, 13. Juli 1914, Dok. Nr. 80; in: Immanuel Geiss, Julikrise, Bd. 1, 154 f., hier 154, zit. nach Vidojković, Von Helden und Königsmördern, FN 904, 377. 20 Zit. nach Vidojković, Von Helden und Königsmördern 378. 21 Lichnowsky an Jagow, Telegramm, London 14. Juli 1914, Dok. Nr. 89; in: Geiss, Julikrise, Bd. 1, 162 f., zit. nach Vidojković, Von Helden und Königsmördern 379.

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lokalisieren lassen, davor warnte schon Lichnowsky. Aber auch der russische Botschafter Swerbejew äußerte sich besorgt über die serbenfeindlichen Tendenzen der deutschen Presse gegenüber dem deutschen Unterstaatssekretär Zimmermann22. An den russischen Außenminister Sazonow schrieb Swerbejew: „Die Verantwortung für Verbrechen von Privatpersonen, noch dazu von unreifen Anarchisten, einer ganzen Nation zuzuschreiben, sei wohl kaum möglich. Deshalb müsse man hoffen, dass die österreichisch-ungarische Regierung nicht nur mit keinerlei Repressalien gegen Serbien und die serbische Nationalität in Bosnien und der Herzegowina vorgehen, sondern auch imstande sein werde, den jetzt in der Monarchie vor sich gehenden antiserbischen Kundgebungen ein Ende zu machen, die zu äusserst unerwünschten Folgen führen könnten.“23 Aber genau das hat Wien gemacht, und hierin hatte es die deutsche Unterstützung, im sogenannten „Blankoscheck“, bekommen. Clark argumentiert heute nicht viel anders, als es etwa Jagow damals tat. Nicht nur ist das, was er „über die Berliner Politik in der Julikrise von 1914 schreibt, […] von einem hohen Maß an Verständnis, ja Sympathie geprägt“24. Clark zeigt diese Sympathie auch für die Vorgehensweise der Donaumonarchie gegenüber Serbien: „Serbiens Freunde wollten Wien nicht einmal das Recht zugestehen, in seine Forderungen an Belgrad auch ein Mittel aufzunehmen, mit dem es den geforderten Gehorsam hätte überwachen und durchsetzen können.“25 Damit meint er die Forderungen, die im Wiener Ultimatum enthalten waren. Für ihn scheint es selbstverständlich zu sein, dass ein größerer Staat wie Österreich-Ungarn von einem kleineren wie Serbien „Gehorsam“ verlangen kann, eine im Übrigen vor dem Hintergrund des postkolonialen Diskurses bezüglich der Qualität der Beziehungen Österreich-Ungarns zu Serbien bemerkenswerte Aussage26. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch Clarks Vergleich mit dem Text des Rambouillet-Abkommens vom März 1999, das der damaligen jugoslawischen Regierung nicht minder ultimativ vorgelegt wurde (und dessen im Vorfeld einkalkulierte Ablehnung durch Belgrad schließlich zum Nato-Krieg führte). In diesem Abkommen wurde u. a. die Einräumung weitgehender Rechte für die Nato auf dem Territorium der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien verlangt: „Verglichen damit waren die Forderungen der österreichischen Note harmlos.“27 In beiden Fällen handelte es sich um bewusst formulierte 22

Vgl. Vidojković, Von Helden und Königsmördern 375 f. Swerbejew an Sasonow, Berlin 2. Juli 1914, Dok. Nr. 13; in: Geiss, Julikrise, Bd. 1, 72 f., hier 73, zit. nach Vidojković, Von Helden und Königsmördern 376. 24 Winkler, Und erlöse uns von der Kriegsschuld 2. 25 Clark, Die Schlafwandler 714. 26 Vgl. dazu Vidojković, Von Helden und Königsmördern 115–121. 27 Clark, Die Schlafwandler 585. 23

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Forderungen, die eine Annahme von vornherein ausgeschlossen hatten (bzw. man hoffte, dass es dazu käme), und in beiden Fällen war Krieg gegen die Serben die Folge. Das Wiener Ultimatum muss dabei vor dem zeithistorischen Kontext und nach damaliger Anschauung beurteilt werden28, und dies haben u. a. Zeitgenossen wie Sir Edward Grey und Winston Churchill auch entsprechend vorgenommen. Und nicht nur sie, überall, außer in Wien und Berlin, zeigten sich die Diplomaten entsetzt über dieses Wiener „Juwel“. Man möchte fragen, warum eigentlich, wenn es denn angeblich so „harmlos“ gewesen sei? Clark zitiert dazu Henry Kissinger, der seines Erachtens „zweifellos Recht“ hatte, wenn er das Rambouillet-Abkommen als „eine Provokation, eine Entschuldigung dafür, mit den Bombardierungen beginnen zu können“ ansah29. Doch genau das war das Wiener Ultimatum vom Juli 1914 auch gewesen, wie die nachfolgenden Ereignisse überdeutlich gezeigt haben. Die weitgehend konziliante serbische Antwortnote auf das Ultimatum beurteilt Clark entsprechend kritisch. Sie ist für ihn „ein Meisterstück diplomatischer Doppeldeutigkeit“, in ihr hätten die Verfasser „eine subtile Mischung aus Zustimmung, bedingter Zustimmung, Ausflüchten und Zurückweisungen“ untergebracht30. Zwar fällt es auch Clark schwer, der Bewunderung Baron Musulins, des Autors der ersten Fassung des Wiener Ultimatums, für die serbische Antwortnote zu widersprechen, doch schließt er sich im Ergebnis der offiziellen Haltung Wiens an31. Auch ansonsten wimmelt es in Clarks „Serbischen Gespenster“-Kapitel logischerweise nur so von Irredentisten, Mördern, Anarchisten, Fanatikern und Nationalisten bzw. fanatischen Nationalisten. So bezeichnet er den serbischen Staatsmann Nikola Pašić als „fanatische[n] Nationalist“32, obwohl er diesen durchaus differenziert und mit einer gewissen Faszination charakterisiert33. Natürlich fehlten auch nicht Hinweise zu dem Programm des serbischen Staatsmannes Ilija Garašanin, dem „Načertanije“ von 1844, was nach Clark die „zentrale politische Blaupause für Serbiens Herrscher“ gewesen sein soll und dessen sich die „nationalistische Propaganda“ bediente34. Das große „Schreckgespenst“, das er damit zeichnet und das später für den Krieg mitverantwortlich gewesen sein soll, ist „Großserbien“35. Man könnte an dieser Stelle fragen, 28

Vgl. dazu Mile Bjelajac, 1914–2014. Zašto revizija? Stare i nove kontarverze o uzrocima Prvog svetskog rata. 217. 29 Zit. nach Clark, Die Schlafwandler 585. 30 Ders., 595. 31 Vgl. ders., 597–599. 32 Ders., 336. 33 Vgl. z. B. ders., ebd., 39–44. 34 Ders., 47. 35 Vgl. ders., 46 –50. Vgl. dazu die Kritik von Bjelajac, 1914–2014. Зашто pевизија? 200. Zu „Großserbien“ und der deutsch-österreichisch-ungarischen Wahrnehmung Serbiens als

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weshalb z. B. die italienische nationale Vereinigungsidee, das „Risorgimento“, nicht gleichfalls schlecht in der Geschichte angeschrieben ist, da es nicht minder irredentistisch ausgerichtet war. Italien vereinte sich schließlich auch erst nach mehreren Kriegen zu einem Nationalstaat. Über die „Mlada Bosna“ („Jungbosnien“) schreibt Clark, dass es sich dabei um eine der „lokalen Gruppierungen panserbischer Aktivisten“ handle36. Außer dass sie „keine einheitliche Organisation“ aufwies, erfährt man sonst freilich nicht viel über diese Organisation. Denn Clark fährt fort, sich gleich mit den Anschlägen der Organisation zu beschäftigen37, wobei die Motive und Hintergründe für die Taten (da benutzt er oft das Wort vom „Selbstmordanschlag“) eher im Dunkeln bleiben und auch nicht gebührend kontextualisiert werden. Es genügt Clark, dass die Attentäter Irredentisten waren und nicht nur das, sie waren auch „Selbstmordattentäter“38, womit er sie in die Nähe von modernen Terrororganisationen rückt (wobei man hier etwa an Al-Quaida denken könnte): „Die Jungen hatten keine schlechten Angewohnheiten. Sie waren aus jenem düsteren, jugendlichen Stoff gemacht, der reich an Idealen, aber arm an Erfahrung ist und aus dem moderne terroristische Bewegungen in erster Linie ihren Nachwuchs rekrutieren.“39 Zur Motivation von Gavrilo Princip und seiner Mitstreiter sagt Clark dann doch etwas, und zwar: „Das Opfer war ein zentrales Motiv, fast schon ein Wahn“40. Die Schriften und Bücher, mit denen sich Princip und seine Freunde befassten, hätten so auch nur von Opfermotiven gewimmelt, was sie auch letztlich zu Selbstmordattentätern werden ließ41. Das klingt zwar recht psychologisierend, andere Motive oder Umstände werden hingegen nicht genannt, wie etwa die Unzufriedenheit und die Revolte über die herrschenden Zustände im österreichisch verwalteten Bosnien und Herzegowina42. So wurde von Benjamin Kállay, dem Reichsfinanzminister und Gouverneur von Bosnien und Herzegowina, eine „bosnische Nation“ und „bosnische Sprache“ propagiert, um serbische Einflüsse einzudämmen. Auch wurden keine Bodenreformen durchgeführt, womit die bosnischen Muslime als Großgrundbesitzer auch nach der Okkupation 1878 weiter eine privilegierte Stellung inne hatten, die bosnisch-serbischen Bauern aber dadurch benachteiligt blieben. In den bosnischen Muslimen erblickte Wien deshalb panslawistischem Staat und „russischem Akteur“ vgl. Vidojković, Von Helden und Königsmördern 262–288. 36 Clark, Die Schlafwandler 71. 37 Vgl. ders., 71 f. 38 Vgl. ders., 81–83. 39 Ders., 82. 40 Ders., 83. 41 Ebd., 83. 42 Vgl. dazu z. B. das Buch von Vladimir Kecmanović, Das ist ПРИНЦИП (Princip) (Beograd 2014) und von Vladimir Dedijer, Sarajevo 1914 (Ljubljana 1966).

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nämlich eine politische Stütze, ebenso aber auch in den katholischen bosnischen Kroaten. Außerdem wurde eine Zensur in den beiden okkupierten Provinzen eingeführt, Zeitungen aus Serbien verboten, Diplome aus Serbien nicht anerkannt und auch gab es lange Zeit Versuche, die Autonomie der Serbisch Orthodoxen Kirche zu beschneiden, um nur ein paar Beispiele aufzuzählen.43 Wie Mile Bjelajac ausführt, könne ohne all das das Entstehen der „Mlada Bosna“ nicht verstanden werden44. Daneben lassen sich aber auch einige Ungenauigkeiten in Clarks Buch finden, von denen im Folgenden aus Platzgründen nur einige Beispiele aufgeführt werden sollen. So sieht er die Palastrevolte von 1903 als Beginn einer politischen „Neuausrichtung“ Serbiens an. Davor sei Serbien unter der Dynastie der Obrenović nämlich österreichfreundlich gewesen, mit Thronantritt durch Petar Karađorđević habe sich das jedoch geändert45. Dabei lässt Clark unbeachtet, dass sich bereits unter König Aleksandar Obrenović, dem späteren Opfer der Palastrevolte, eine Umorientierung der serbischen Außenpolitik angebahnt hatte, aus Enttäuschung über die Haltung Wiens. Das bezog sich z. B. auf den von Wien auf Serbien zunehmend ausgeübten wirtschaftlichen Druck46. Auch erfuhr der wenig austrophile Aleksandar nicht wie erhofft Wiens Unterstützung serbischer Ansprüche in Mazedonien und Kosovo47. Die Hintergründe für den späteren „Schweinekrieg“ zwischen Österreich-Ungarn und Serbien bleiben bei Clark ebenfalls unklar. Wien habe lediglich „drei Ziele“ verfolgt, heißt es bei ihm, nämlich „einen Handelsvertrag mit Serbien abschließen, dafür sorgen, dass serbische Waffenbestellungen weiterhin an österreichische Firmen gingen, und ein hohes Darlehen an Belgrad vergeben.“48 Clark enthält sich hierzu einmal einer Bewertung dieser Ziele. Weshalb eine Einigung zwischen Wien und Belgrad nicht zustande kam, erwähnt er nicht, sondern nur, dass das „Ergebnis […] für Wien ein völliges Fiasko“ war 49. Dass Wien mit diesem Handelsvertrag die serbische Wirtschaft knebeln und Serbien zwingen wollte, weiter von Wien Waffen Vgl. dazu Jelena Milojković-Djurić, Benjamin von Kállay’s Role in Bosnia-Herzegovina 1882–1903: Habsburg’s policies in an Occupied Country; in: Journal of the North American Society for Serbian Studies 14/2 (2000) 211–220, hier 211, 213–218. Vgl. Da zu auch Monika Glettler, Bosnien-Herzegowina in der Habsburgermonarchie: Selbstregulierung oder Intervention?; in: Ungarn-Jahrbuch 22 (1995/96) 217–231, hier 218–227. 44 Vgl. Bjelajac, 1914–2014. Зашто pевизија? 73. 45 Vgl. Clark, Die Schlafwandler 55, auch 25, 66 f. 46 Vgl. Vidojković, Von Helden und Königsmördern 282 f. Vgl. auch Bjelajac, 1914 –2014. Зашто ревизија? 71. 47 Vgl. Michael Boro Petrovich, History of Modern Serbia. 1804–1918, Bd. II (New York – London 1976) 502–504. 48 Clark, Die Schlafwandler 56. 49 Ebd. 43

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zu besorgen, um es damit nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch in fortdauernder Abhängigkeit zu halten, wird nicht gesagt50. Interessant ist auch Clarks Behauptung, dass für Wien das Attentat in Sarajevo „kein Vorwand für einen bereits existierenden Invasionsplan und Krieg“ gewesen sei51. Das ist insoweit interessant, als es bereits in der Zeit seit 1903, also der Palastrevolte in Belgrad, in Wien Planungen für einen Krieg gegen Serbien bzw. auf dem Balkan gegeben hat. Allein für den Zeitraum von 1905 bis 1908 „[t]hree contingency plans for war […] provided for ‚War Case I‘ (Italy), which assumed a simultaneous war against Italy and Serbia-Montenegro; ‘War Case B’, against the Serbian Kingdom alone; and ‘War Case R’, based on a combined Austro-Hungarian-German war against Russia”52. Die Pläne des serbischen Generalstabes dagegen hatten um die Jahrhundertwende nur eine Stoßrichtung vorgesehen, nämlich nach Süden, Richtung Mazedonien und Kosovo53. Clarks Thesen sind nicht unwidersprochen geblieben. Vor allem in Serbien gab es viel Widerstand dagegen (wie wohl auch nicht anders zu erwarten war, wenn man sein Buch gelesen hatte). Aber auch in Deutschland regte sich, neben Winkler, weitere Kritik. So hat sich Annika Mombauer, die „zu den international besten Kennern der Julikrise von 1914“ zählt, zu Schwächen in Clarks mediengehyptem Buch geäußert54. Für Mombauer55 steht fest, dass ohne den deutschen „Blankoscheck“ „gar kein Krieg denkbar gewesen“ sei56, womit sie von Clarks Hauptthese der Schlafwandler aller beteiligten Länder, die in den Krieg irgendwie hineingerieten, deutlich abweicht. Sie räumt ein, dass Clark nicht sage, die Deutschen seien „unschuldig“: „Aber sein Buch ‚Die Schlafwandler‘ wird von vielen Deutschen so verstanden.“57 Es sei natürlich „gut“, dass die Entscheidungsprozesse auch in den übrigen europäischen Hauptstädten während der Julikrise aufgezeigt werden, was Clark zweifellos auch tut (das ist 50

Vgl. Vidojković, Von Helden und Königsmördern 354; Petrovich, History of Modern Serbia 537, 544, 546–550. 51 Clark, Die Schlafwandler 714. 52 Graydon A. Tunstall, Planning für War against Russia and Serbia. Austro-Hungarian and German Military Strategies, 1871–1914 (New York 1993) 56 f., auch 55. Tunstall bringt in seinem Buch auch für die Zeit nach 1908/09, die Balkankriege und für die Zeit der Julikrise entsprechende Beispiele weiterer Kriegsplanungen gegen Serbien. 53 Vgl. Bjelajac, 1914–2014. Зашто pевизија? 71. 54 Oliver Das Gupta, „Deutschland und Österreich sind hauptverantwortlich“; in: SZ vom 28. Juli 2014, 1, auf http://www.sueddeutsche.de/politik/ausbruch-des-ersten-weltkriegesdeutschland-und-oesterreich-sind-hauptverantwortlich-1.2061512, [5. November 2015]. 55 Vgl. das Buch von Annika Mombauer, Die Julikrise. Europas Weg in den Ersten Weltkrieg (München 2014). 56 Mombauer in Das Gupta, „Deutschland und Österreich sind hauptverantwortlich“ 1. 57 Ebd.

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sein multiperspektivischer Blick). Doch die „Bösewichte“ dort wirkten „erst später – als die Mittelmächte die Weichen für den Krieg bereits gestellt hatten“58. Man reagierte also auf zuvor bereits getroffene verhängnisvolle Entscheidungen Wiens und Berlins, und das ist das Entscheidende hier. Damit widerspricht Mombauer auch Clarks These, „wonach alle europäischen Mächte gleich viel Schuld am Kriegsausbruch tragen“. Ihr wäre lieber gewesen, sein Buch sei „50 Seiten länger gewesen, um die verhängnisvolle Dynamik aufzuzeigen, die sich während der Julikrise in Deutschland und Österreich-Ungarn entwickelte“59. Und so kämen auch viele Dokumente bei Clark zu kurz, die dies belegen konnten, wie z. B., dass Wien und Berlin „nach dem Attentat von Sarajevo die Eskalation der Julikrise mit voller Absicht provoziert haben. Diese Krise existierte, weil Wien gegen Serbien Krieg führen wollte und Berlin bereit war, volles Risiko einzugehen. […] Es existieren Beweise ohne Ende.“60 Ähnlich kritisch betrachtet auch die Journalistin Christa Pöppelmann, die zur Julikrise ebenfalls ein Buch geschrieben hat61, Clarks Werk. Pöppelmann bemerkt, dass Clarks Buch „Die Schlafwandler“ „natürlich brillant geschrieben und […] eine Menge wirklich sehr interessanter und diskutierenswerter Fakten und Ansichten“ enthalte – eine Ansicht, der man sich ohne weiteres hier anschließen kann. „Aber ihre [„Die Schlafwandler“, Anm. d. Verf.] Dominanz in den Medien, gewisse Unwuchten in der Darstellung und eine Vermarktungskampagne, die ganz auf eine Neubewertung der Schuldfrage abzielt, machen sie auch höchst problematisch.“62 Pöppelmann weist zu Recht darauf hin, dass es sich bei Clark, gerade trotz seiner Dominanz in den Medien, doch nur „um eine Einzelstimme zum Thema handelt“, auch habe sich ihm „keineswegs der Rest der Wissenschaft – wie das teilweise von den Medien suggeriert wurde – […] vorbehaltlos angeschlossen“63. Auch sie verweist, wie das in diesem Beitrag ebenfalls geschehen ist, auf „die lückenhafte Darstellung“, insbesondere in Bezug auf Deutschland; befremdlich findet Pöppelmann das „überaus weitreichende Verständnis für Österreich einerseits und die große Geringschätzung für die englischen Vermittlungsvorschläge auf der anderen Seite.“64 Befremdlich ist für sie „auch die Tatsache, dass einer Generalabrechnung mit 58

Ebd., 1 f. Ebd., 2. 60 Ebd. 61 Vgl. Christa Pöppelmann, Juli 1914. Wie man einen Weltkrieg beginnt und die Saat für einen zweiten legt (Berlin 2013). 62 Georgios Chatzoudis, „Schulddebatte wie nach 1918“, in L.I.S.A., vom 1. Juli 2014, 2, auf: http://www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/schulddebatte_wie_nach_1918?navid=5020, [5. November 2015]. 63 Ebd. 64 Ebd. 59

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Serbien keine adäquate Kritik am Imperialismus der Großmächte gegenübersteht.“65 Schließlich stellt sie sich die Frage, weshalb Clark es zugelassen hat, dass „sein Buch explizit als Neubewertung der Schuldfrage vermarktet wurde, während er selber in seinem Vorwort – und auch in späteren Interviews – dafür plädierte, dass man nicht die Frage nach der Schuld ins Zentrum stellen sollte, sondern WIE [hervorgeh. i. Orig., Anm. d. Verf.] es zum Krieg kommen konnte.“66 Beachtung finden soll hier auch die Kritik am Serbienbild Clarks, wie es in seinem Buch zum Tragen kommt (und worauf oben bereits hingewiesen wurde), seitens der Historikerin Daniela Schanes, die sich mit Serbien im Ersten Weltkrieg befasst hat67. Die Beschreibung der Serben durch Clark als Volk, „dass der Gewalt eng verbunden war“, sieht Schanes in einem Interview aus dem Jahr 2014 als problematisch an: „Die stereotypen Zuschreibungen wiederholen sich nicht nur in Clarks Buch, sondern wurden in den vergangenen 100 Jahren immer wieder tradiert – in historischen Werken, in der Literatur, in den Medien sowie in der Politik“. Als weiteres Beispiel führt sie John Keegans Buch „Der Erste Weltkrieg: eine europäische Tragödie“ (Hamburg 2000) an, worin die Serben „von Natur aus kriegerisch, und ihre Kriegsführung […] von barbarischer Grausamkeit [kursiv i. Orig., Anm. d. Verf.] gekennzeichnet“ sei68. Dieselbe Zuschreibung lässt sich auch bei Clark finden69. Entsprechend richtig stellt Schanes fest: „Beim Lesen solcher stereotypen Zuweisungen wähnt man sich in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück – die von mir untersuchten Selbstzeugnisse waren voll mit solcherart pejorativen Stereotypen. Auch das Bild des österreichisch-ungarischen Heeres als Kulturbringer findet sich in den Memoiren und Tagebüchern wieder. Man könnte meinen, dass insbesondere die Geschichtsschreibung im 21. Jahrhundert von Verallgemeinerungen und Stereotypisierungen, wie sie in der zeitgenössischen Literatur gang und gebe waren, Abstand nimmt – dem ist aber leider nicht so.“70 So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass man „[s]tereotype Urteile über Serbien bzw. dem gesamten Balkanraum“ „heute immer noch in Presse und Politik“ finden kann, „wenn auch die Formulierungen nicht mehr

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Ebd. Ebd. 67 Vgl. Schanes, Serbien im Ersten Weltkrieg. 68 Georgios Chatzoudis, „Das Balkanbild des Westens hat sich um den Ersten Weltkrieg herum verfestigt“; in: L.I.S.A., vom 30. September 2014, auf: http://www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/das_balkanbild_des_westens_hat_sich_um_den_ersten_weltkrieg_herum_ verfestigt?nav_id=5120, [5. November 2015]. 69 Vgl. z. B. Clark, Die Schlafwandler 72–76. 70 Chatzoudis, „Das Balkanbild des Westens hat sich um den Ersten Weltkrieg herum verfestigt“ 2. 66

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so scharf sind wie zur Zeit des Krieges.“71 Jedenfalls zeige die hartnäckige Verwendung solcher negativer Stereotype eigentlich letztlich, „wie sich die Zuschreibungen von vor 100 Jahren in den Köpfen der Menschen verfestigten“72. Sehen wir uns vor diesem Hintergrund auch solche Werke an, die mit ihrem populärwissenschaftlichen Zugang ebenfalls ein großes Publikum anvisierten. Dazu sollen beispielsweise die von Wolfgang Kruse, Nicolas Beaupré u. a. sowie von Bruno Cabanes und Anne Duménil herausgegebenen Bildbände im Folgenden näher betrachtet werden. Beide können hier als repräsentativ gelten. Die „Tagespost“ schreibt etwa über das von Kruse u. a. herausgegebene Buch, es sei „[w]issenschaftlich solide und gründlich“, das mehrere deutsche Experten zum Thema versammelt73. In der Beschreibung zum Bildband von Cabanes und Duménil heißt es: „Die renommierten, internationalen Autoren garantieren die größtmögliche Objektivität und stellen alle Aspekte des Krieges dar […]“74. Wie zeigen sich diese Bewertungen nun in diesen beiden Büchern? Bemerkenswert ist so, dass es im Vorwort, von Stefan Bergmann verfasst zum Buch von Kruse, Beaupré u. a. zum Ersten Weltkrieg, das von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt (WBG) gemeinsam mit der DAMALS-Redaktion herausgegeben wurde, heißt: „Außer Frage steht, dass die deutsche Führung sowie Österreich-Ungarn mit einer Serie von Ungeschicklichkeiten und Provokationen besonders großen Anteil am Ausbruch des Krieges hatten“75. Provokationen hat es gewiss gegeben, ob man jedoch das österreichisch-ungarische Ultimatum, das sogenannte „Juwel“, als eine „Ungeschicklichkeit“ ansehen will, das mag hier dahingestellt sein. Wichtiger dagegen ist der Hinweis des Historikers Gerd Krumeichs im selben Werk auf eine schon 1909 in Wien gegebene „Blankovollmacht“. Genauer, der deutsche Generalstabschef Helmuth von Moltke erklärte, „[i]n Übereinstimmung mit Wilhelm II.“ seinem k.u.k. Kollegen in einem Schreiben vom 9. Januar 1909: „Für den Fall, dass Österreich-Ungarn Serbien mit Krieg überziehen müsse und deshalb Russland eingreifen sollte, werde Deutschland selbstverständlich Österreich-Ungarn im Sinne des Allianzvertrags militärisch unterstützen.“76 Im Sinne des Allianz71

Ebd. Ebd. 73 Vgl. die Amazon-Seite zu diesem Titel auf: http://www.amazon.de/Der-Erste-WeltkriegWolfgang-Kruse/dp/3534237617, [9. März 2016]. 74 So die Beschreibung auf der Amazon-Seite zu diesem Titel auf: http://www.amazon.de/ Der-Erste-Weltkrieg-Bruno-Cabanes/dp/3806227640, [9. März 2016]. 75 Stefan Bergmann, Ein Sommer fataler Fehler; in: Wolfgang Kruse, Nicolas Beaupré, Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Christian Th. Müller, Andreas Rose, Bernd Ulrich (Hgg.), Der Erste Weltkrieg (Darmstadt 2013) 6. 76 Gerd Krumeich, Das Nahen des Weltkriegs; in: Kruse, Beaupré u. a. (Hgg.), Der Erste Weltkrieg 7–22, hier 17. 72

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vertrags – damit gemeint war der Zweibundvertrag zwischen Berlin und Wien – wäre eine solche Unterstützung sicher nicht gewesen, wenn die Donaumonarchie selber offensiv gegen Serbien vorgegangen wäre. Der Vertrag sah den Bündnisfall nur bei einem unprovozierten Angriff eines anderen Staates auf einen der beiden Vertragspartner vor und war damit ursprünglich defensiv ausgerichtet gewesen. Allerdings hat der Zweibundvertrag seinen defensiven Charakter mit der Zeit verloren und hat sich, wie an diesem Beispiel sehr gut erkennbar, durchaus zu einem Offensivbündnis gewandelt77. Zudem gab schon im Mai 1907 der damalige Reichskanzler Bernhard von Bülow eine entsprechende Erklärung an Wien ab78. In der Beschreibung Serbiens als „unruhigen und beunruhigend expansiven serbischen Staat“ unterscheidet sich Krumeich freilich wenig von der damaligen Wahrnehmung Serbiens, wie sie in Wien oder auch in Berlin vorgenommen wurde79. Über das Attentat zu sprechen kommend, bemerkt Krumeich, dass „[a]ktivistische Gruppen“ „Revolutions- und Attentatspläne“ ausbrüteten, ohne aber näher auf diese einzugehen. Ein Hinweis auf die „Mlada Bosna“ wird hier völlig unterlassen, dafür werden jedoch die „Schwarze Hand“ sowie die „Narodna Odbrana“ als Geheimorganisationen genannt, welche diese „aktivistischen Gruppen“ mit Logistik und Waffen unterstützten: „Wichtig ist, dass diese Geheimbünde wiederum mit radikalen Offizieren des serbischen Militärs verknüpft waren – nicht aber mit der Regierung.“80 Die „sträfliche“ Vernachlässigung der Sicherheitsmaßnahmen den Schutz des Thronfolgers Franz Ferdinands betreffend, erklärt Krumeich damit, dass er „wegen seiner eher friedlichen Gesinnung nicht besonders stark im Visier des serbischen Nationalismus gestanden hatte“81. Die Zahl der Attentäter beziffert Krumeich mit sechs, wobei er hier von den „bosnischen Verschwörer[n]“ spricht82, und damit einmal mehr die Gruppe der Attentäter, auch wenn es sich mehrheitlich um ethnische Serben aus Bosnien und der Herzegowina gehandelt hatte (darum aber um österreichisch-ungarische Untertanen), von Serbien abgrenzt. Im Folgenden stellt Krumeich zu Recht den Willen Wiens zur Abrechnung mit Serbien heraus, wofür das Attentat lediglich ein endlich willkommener Anlass war. Darin hatte Berlin seinen Partner bestärkt, womit Krumeich auch die deutsche Strategie in der Julikrise 1914, den Konflikt nämlich zu „lokalisieren“, als eine „unverantwortlich[e] Bluff Vgl. Jürgen Angelow, Kalkül und Prestige. Der Zweibund am Vorabend des Ersten Weltkrieges (Köln–Weimar–Wien 2000) 478. 78 Vgl. Vidojković, Von Helden und Königsmördern 352. 79 Krumeich, Das Nahen des Weltkriegs 17. 80 Ebd., 24. 81 Ebd. 82 Ebd. 77

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und Erpressungspolitik“ brandmarkte, die letztlich, sich auf das Gröbste verschätzend, in den Großen Krieg mündete83. Wenn man bedenkt, dass es sich bei diesem Werk, in dem Krumeichs Beitrag erschienen ist, um eine populärwissenschaftliche Ausgabe für ein breites interessiertes Zielpublikum handelt, dann erscheinen insbesondere seine Ausführungen zur Rolle Serbiens wichtig, da Krumeich klare Schuldzuweisungen à la Clark et. al. hier unterlässt und damit gerade nicht in dasselbe Horn bläst, Serbien sei doch am meisten schuld (bzw. verantwortlich) an der „Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ und an all ihren schmerzlichen Nachwehen. Zusätzliche Hintergrundinformationen zu den Attentätern und ihren Beweggründen (dazu ließ sich Krumeich im Grunde kaum näher aus) lieferte der Beitrag des französischen Historikers Bruno Cabanes in dem großen Bildband „Der Erste Weltkrieg“84. Bei Cabanes sind es „bosnische Nationalisten“, die es auf den Thronfolger abgesehen und ein „spektakuläres Attentat“ durchgeführt haben. Dazu erhielten die sechs Verschwörer vier Revolver und sechs Bomben85. Cabanes stellt aber auch explizit die Frage, wer die „Mörder“ Franz Ferdinands gewesen seien und was sie „mit ihrer Tat“ bezweckten. Diese Fragen beantwortet er mit der Erwähnung, dass Princip am Morgen des 28. Juni 1914 das Grab des erfolglosen Attentäters Bogdan Žerajićs aufsuchte, der trotzdem „zu den mythischen Widerstandskämpfern für die serbische Sache“ zählte. „Bedeutsam“ ist nach Cabanes auch das Datum des Attentats, da es auf den Jahrestag der Schlacht auf dem Kosovo im Jahre 1389 fiel, die zwar für die Serben letztendlich verloren ging, im Zuge derer aber der Sultan von einem Serben erstochen wurde86. So habe der „Tyrannenmord“ in der Gedankenwelt der Attentäter „als das heiligste und heldenhafteste aller Verbrechen“ gegolten87. Auch über Gavrilo Princip erfahren wir wenigstens ein paar Details, nämlich dass er ein Sohn bosnischer Kleinbauern gewesen sei und 1912 zum Studium nach Belgrad ging. Auch, dass er während der Balkankriege, obgleich er sich freiwillig meldete, von der serbischen Armee aufgrund seiner „schwachen körperlichen Verfassung“ nicht genommen wurde. Zudem erwähnt Cabanes, dass Princip, der „glühende Nationalist“, „Mitglied der Studentenorganisation Mlada Bosna (Junges Bosnien) [kursiv i. Orig., d. Verf.]“ war. Den Besuch Franz Ferdinands in Sarajevo verbanden Princip und seine Genossen mit dem Wunsch, „endlich Taten [zu] sehen“. Die Waffen, sechs Bomben und Vgl. ebd. 25 –29. Bruno Cabanes, 28. Juni 1914. Das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo; in: Bruno Cabanes, Anne Dumenil (Hgg.), Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe (Darmstadt 2013) 25–30. 85 Cabanes, 28. Juni 1914 25f . 86 Ebd., 26. 87 Ebd., 27 f. 83 84

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vier Revolver, für das Attentat erhielten sie von der „Schwarzen Hand“, 1911 gegründet, deren Chef Oberst Dragutin Dimitrijević war88. Insoweit bietet Cabanes zwar einige Informationen mehr, als etwa Krumeich in seinem oben erwähnten Beitrag, doch auch hier bleiben letztlich die genauen Tatmotive und die Hintergründe der „Mlada Bosna“ relativ vage. Bemerkenswert ist dagegen die folgende Bemerkung von Cabanes: „Schon damals gaben viele Serbien die Hauptschuld an den Attentaten.“89 Damit würde suggeriert, dass auch die heutige Betrachtung von derselben Annahme ausgehe, wie dies ja schon damals der Fall gewesen sei. Wichtig ist aber auch hier die Feststellung: „In der Rückschau wird klar, dass die serbischen Behörden zwar involviert, jedoch nicht aktiv beteiligt waren.“90 Dezidiert heißt es dann über das Attentat selbst: „Der Anschlag war das Werk einer kleinen Gruppe junger Männer.“91 Dazu passend wird Georges Clemenceau zitiert, der sich bereits damals kritisch gegenüber einer Schuldvermutung des offiziellen Belgrads äußerte. Es ist wert, seine Gedanken hier wiederzugeben: „Doch das ist höchst ungerecht, denn niemand macht sich die Mühe, den geringsten Beweis anzutreten. Es ist zudem höchst gefährlich, denn die absurde Idee, der Regierung in Belgrad und dem serbischen Volk die Schuld am Attentat zu geben, hätte so schwerwiegende Konsequenzen, dass es gar nicht auszudenken ist…“92 In derselben Weise hatten sich damals übrigens schon sowohl der deutsche Botschafter in London Lichnowsky als auch der russische Botschafter in Berlin Swerbejew geäußert93. Was den weiteren Gang der Ereignisse betraf, nämlich das Wiener Ultimatum an Belgrad und die Julikrise, so stützt sich Cabanes hierzu auf die Arbeit des französischen Historikers Pierre Renouvin aus dem Jahre 1925, dem es gelungen sei, „die unmittelbaren Kriegsauslöser“ darzulegen94. Demnach stand zwar außer Zweifel, dass es Deutschland war, das Österreich-Ungarn zum Krieg gegen Serbien drängte, und damit einen großen Krieg, wenn auch nicht geplant, so doch in Kauf genommen hatte. Ebenfalls den Krieg begünstigend hat er das „[m]it Rückendeckung Deutschlands formuliert[e]“ Ultimatum Wiens betrachtet. Dass die Doppelmonarchie Serbien den Krieg erklärte und mit Kanonen auf Belgrad schießen ließ, ist für Renouvin (und wohl somit auch für Cabanes) von „eher symbolische[m] Charakter“. „Dass die Situation innerhalb weniger Tage umschlägt, ist vor allem Schuld der russischen Regierung“, zu diesem Ebd., 28. Ebd. 90 Ebd. 91 Ebd. 92 Ebd., 28 f. 93 Vgl. Vidojković, Von Helden und Königsmördern 375 –380. 94 Cabanes, 28. Juni 1914 29. 88 89

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erstaunlichen Fazit kommt Cabanes95. Damit verkennt er das zynische Kalkül der deutschen politischen und militärischen Führung, Russland in eben genau diese Lage zu versetzen und zum Ergreifen militärischer Maßnahmen zu provozieren, um selbst als der Angegriffene und nicht als Angreifer dazustehen, was ja das erklärte Ziel u. a. auch Moltkes war96. Somit lassen sich in Werken wie diesen beiden durchaus auch differenzierte Ausführungen insbesondere hinsichtlich der Frage einer serbischen Verantwortlichkeit finden, dennoch sind diese zu knapp gehalten oder es fehlen einfach weitere Hintergrundinformationen, vor allem was die „Mlada Bosna“ anbelangt. Zu dieser Organisation und woraus sie sich speiste, wird der Leser freilich nichts Neues erfahren. Die „Schwarze Hand“ hat hier – so scheint es – einfach das Monopol hinsichtlich des Attentats inne. Vielleicht auch nur deshalb, weil der Name dieser (schon damals nicht wirklich) geheimen Organisation romantischer, gefährlicher, bedrohlicher klingt als „Mlada Bosna“ („Jungbosnien“)? In jedem Fall ist, wenigstens im Beitrag von Cabanes, ebenso die Tendenz einer Verschiebung der Kriegsschuld (oder Verantwortlichkeit daran) zu erkennen, womit er Clark näher steht als etwa Krumeich.

3. Die deutschen Medien und das Zentenarium – Der „gute“ Clark und die „bösen“ Serben Die Erwiderungen von serbischer Seite aus auf die Thesen Clarks, MacMillans, McMeekins, Münklers et. al. verhallten zwar nicht in den deutschsprachigen Medien. Man nahm die serbischen Stimmen durchaus wahr. Nur, und das ist entscheidend, man maß ihnen entweder kein Gewicht bei oder ridikulisierte sie. Kurz, man wischte sie beiseite, denn Serbien – musste wieder sterbien bzw. es war ohnehin ein Pariah-Staat, neuerdings seit den 1990er Jahren, und scheinbar auch immer gewesen. Ein paar wenige Beispiele sollen das hier veranschaulichen, und zwar aus der Jahreswende 2013/14, also in der Zeit nach Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe von Clarks Buch. Die Kontroverse in Serbien begann bereits 2013, nach Erscheinen der ersten Auflage von Clarks Buch. Zur selben Zeit machte man sich in Serbien Gedanken darüber, wie man selber das Zentenarium begehen wollte. In Serbien, aber auch in der Republika Srpska, dem bosnisch-serbischen Landesteil, sieht man Princip durchaus als einen Freiheitskämpfer bzw. als Helden, der sich gegen die fremde Unterdrückung Bosniens gewehrt hat und für eine Vereinigung der Serben eintrat. Dazu ist das bereits erwähnte Buch von Vladimir Kecmanović, „Das ist ПРИНЦИП“ 95 96

Alle Zitate ebd., 30. Vgl. dazu Fromkin, Europas letzter Sommer 269 f.

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recht aufschlussreich. In deutschen Blättern wurde allerdings nicht näher auf die Rolle Princips eingegangen, und so heißt es dann auch recht plakativ in der „WELT“: „Die Serben wollen Princip zum Helden machen.“97 Ist die deutsche öffentliche Meinung, insbesondere durch Clarks Buch, aber darauf geeicht worden, dass es sich bei Princip stattdessen um einen Mörder bzw. um einen Selbstmordattentäter gehandelt habe, dann musste ein solches serbisches Ansinnen doch nur als eine Provokation aufgefasst werden. Die Versuche Serbiens, gegen die (einseitige) Zementierung einer vorgeblich serbischen Kriegsschuld bzw. Verantwortung daran aufzutreten, ließ man entsprechend ebenso wenig gelten. Bezeichnend heißt es dazu wieder in der „WELT“: „Mit Macht will Serbien seine Unschuld beweisen.“98 Aus dieser Überschrift gewinnt man unweigerlich den Eindruck, als wolle Serbien eben „mit Macht“ etwas beweisen, also seine Unschuld, was es aber eigentlich gar nicht könne, weil, so der offenbar suggerierte Konsens, es doch schuldig daran sei. Insgesamt ironisiert dieser Artikel nicht nur den Standpunkt Serbiens zu dieser Frage, sondern auch die Argumente, wie sie etwa vom Regisseur Emir Kusturica vorgebracht wurden99. Kusturicas Bemühungen fügten sich „daher ein in die Belgrader Politik, lieb gewordene geschichtliche Wahrheiten über die Zeiten zu retten“100. Und natürlich „drohen“ serbische Historikerinnen und Historiker dann auch mit dem Boykott einer internationalen Tagung in Sarajevo101. Der „Tagesspiegel“ titelte nicht anders: „Serbien fühlt sich angegriffen“102. Doch was sollte es auch anders tun, möchte man fragen? Wie auch immer, in Serbien hätten sich vor allem „national Gesinnte“ durch Clarks Buch aufgeschreckt gefühlt103. Auch hier wird das Vorlegen eines alten Dokumentes durch Kusturica, das einer serbischen Entlastung dienen solle104 (wofür es jedoch weit bessere Dokumente N.  N., „Die Serben wollen Princip zum Helden machen“; in: Die Welt, vom 18. Dezember 2013, auf: http://www.welt.de/geschichte/article123063914/Die-Serben-wollen-Principzum-Helden-machen.html, [5. November 2015]. 98 Berthold Seewald, Mit Macht will Serbien seine Unschuld beweisen; in: Die Welt, vom 7. Januar 2014, auf: http://www.welt.de/geschichte/article123629275/Mit-Macht-will-Serbien-seine-Unschuld-beweisen.html, [5. November 2015]. 99 Vgl. ebd., 2. 100 Ebd. 101 Ebd. 102 Adelheid Wölfl, Gedenken an den Ersten Weltkrieg. Serbien fühlt sich angegriffen; in: Tagesspiegel, vom 12. Januar 2014, auf: http://www.tagesspiegel.de/politik/gedenken-anden-ersten-weltkrieg-serbien-fuehlt-sich-angegriffen/9320930.html, [5. November 2015]. 103 Ebd., 1. 104 Dabei handelt es sich um einen Brief Oskar Potioreks, damals Gouverneur Bosnien Herzegovinas, an Leon Biliński, damals Wiener Finanzminister, aus dem Jahr 1913. Darin war u. a. die Rede davon, Serbien „unschädlich“ zu machen bzw. dass ein Krieg mit diesem Land „unausweichlich“ sei und man sich darauf vorbereiten müsse, siehe Faksimile dieses Briefes auf: http://www.andricgrad.com/2014/01/andricev-institut-planovi97

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gibt), aufgegriffen und thematisiert. In Serbien hätten einige Zeitungen „mit Euphorie“ darauf reagiert. Weiter wirft diese Zeitung die Frage auf, ob denn nun Gavrilo Princip ein „[n]ationalistischer Held oder Terrorist“ gewesen sei105. Dabei lässt sie einen jungen serbischen Historiker zu Wort kommen, Danilo Šarenac, der eine solche Haltung in Serbien kritisch sieht und nur „den Kopf schütteln kann“106. Denn Šarenac teilt die Euphorie darüber, wie sie in der serbischen Presse zum Ausdruck gekommen ist, nicht. Für ihn sei besagtes Dokument „beinahe irrelevant“. Dennoch, auch er kritisiert Clark, besonders bemängelt er, dass dieser „seinen Terrorismusbegriff nicht ausreichend erkläre“107, ein im Übrigen berechtigter Einwand. Šarenac selbst hält Princip für „einen ‚Idealisten‘“, jedoch nicht für einen „professionellen Killer“, „den man also nicht mit modernem Terrorismus wie Al-Quaida in Verbindung bringen könne“108. Jedenfalls habe die Haltung Serbiens zu Princip letztlich etwas zu tun mit der Bewältigung der jüngsten Geschichte, wozu der „Tagesspiegel“ auch den deutschen Historiker Carl Bethke zu Wort kommen lässt. Diesem zufolge sei nämlich „das Bestreben erkennbar, dass man nicht an den Pranger gestellt werden möchte, aber deswegen verschließt man sich auch einer kritischen Reflexion der Vergangenheit“109. Die Verbindung zu Al-Quaida stellt dann die „WELT“ her, wenn sie titelt: „Selbstmordattentäter lösten Ersten Weltkrieg aus“110. Thomas Schmid, der Autor dieses Artikels, wird dazu sogar noch deutlicher: „Und was damals die Welt erschütterte, muss uns spätestens auf den zweiten Blick bekannt vorkommen. Die den Krieg auslösende Krise im Sommer 1914 wurde von einer Gruppe von Selbstmordattentätern ausgelöst. Diese Organisation, die sich ‚Schwarze Hand‘ nannte, war radikal nationalistisch und pflegte einen Kult von Opfer, Tod und Rache. Sie war – vergleichbar mit al-Quaeda heute – nicht an ein bestimmtes Land gebunden, hatte keinen festen Sitz und operierte supranational.“111

za-pocetak-rata-postojali-13-mjeseci-prije-sarajevskog-atentata/, [10. März 2016]. Wölfl, Gedenken an den Ersten Weltkrieg 1. 106 Vgl. ebd., 1 f. 107 Ebd., 2. 108 Ebd. 109 Ebd. 110 Thomas Schmid, Selbstmordattentäter lösten Ersten Weltkrieg aus; in: Die Welt, vom 9. Januar 2014, auf: http://www.welt.de/geschichte/article112633581/Selbstmordattentaeter-loesten-Ersten-Weltkrieg-aus.html, [5. November 2015]. 111 Ebd., 1. 105

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4. Und Gavrilo Princip? „Selbstmordattentäter“, Terrorist, Mörder, Freiheitsheld und Freiheitskämpfer – immer wieder dreht sich die Debatte auch um eine Person: Gavrilo Princip. Was Clark von ihm hält (aber auch andere), haben wir oben gesehen. Anlässlich des Zentenariums des Ausbruches des Ersten Weltkrieges stellt sich die Frage, ob man sich denn auch biographisch mit Princip selbst näher befasst hat, ist er doch immerhin eine Schlüsselfigur in dem ganzen Drama gewesen. Dazu fällt die Bilanz (und auch der Ertrag) auf geschichtswissenschaftlicher Ebene eher nüchtern aus. An die Figur des Princip haben sich nämlich weniger Historikerinnen und Historiker, als vielmehr Journalistinnen und Journalisten herangewagt. Zu nennen ist hier, neben dem Buch von Vladimir Kecmanović, das Buch von Tim Butcher, „The Trigger. Hunting the Assassin who brought the World to War“112. Trotz des etwas sensationalistischen Titels bemüht sich Butcher um die Schilderung nicht nur der persönlichen Umstände Princips, sondern auch seiner Motive, die ihn schließlich zu seiner Tat führten. Butcher selbst erklärte: „Through my journey I had heard Princip referred to by some as a hero, by others as a terrorist, yet I had come to see him as an everyman for the anger felt by the millions who were downtrodden far beyond the Balkans“113. In Österreich erschien ebenfalls ein Buch, das sich mit Princip beschäftigte, geschrieben von Gregor Meyer114. Meyer wertet hierin die Gesprächsprotokolle des Psychiaters Martin Pappenheims mit Princip während dessen Haft aus, versucht darüber hinaus aber auch ein Porträt Princips und will dessen Motive ergründen. Die genauen Hintergründe des Attentates (und ob nicht doch die „Schwarze Hand“ dahintersteckte), kann (auch allein angesichts dünner Quellenlage115) Meyer ebenso wenig klären, wie wohl das auch sonst niemand vermag. Entscheidend ist, dass zu Princip geforscht wurde, leider aber nicht von Historikerinnen und Historikern. 112

Tim Butcher, The Trigger. Hunting the Assassin who brought the World to War (London 2014). Einige Jahre zuvor veröffentlichte ein ehemaliger Offizier eine Biographie zu Princip: Peter Villiers, Gavrilo Princip. The Assassin who started the First World War (Oxford 2010). 113 Sophie Donnelly, In The Trigger, Tim Butcher goes in search of the man who started WW I – review, in Express, vom 2. Mai 2014, 2, auf: http://www.express.co.uk/entertainment/books/473462/The-Trigger-Hunting-The-Assassin-Who-Brought-The-World-ToWar-by-Tim-Butcher-review, [5. November 2015]. 114 Gregor Meyer, Verschwörung in Sarajevo. Triumph und Tod des Attentäters Gavrilo Princip (St. Pölten – Salzburg –Wien 2014). 115 So Michael Martens in seiner Rezension des Buches „Todesschütze in Sarajevo“ in der FAZ vom 23. Juni 2014, auf http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/gregormayer-verschwoerung-in-sarajevo-todesschuetze-in-sarajevo-13006389.html#/elections, [9. März 2016].

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5. Viel Lärm um Nichts? Gedanken zum Schluss Auf der Konferenz in Wien, veranstaltet Anfang Dezember 2014 u. a. vom „Forum: Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg“, stellte einer der Redner, Peter Pichler, in seinem Vortrag „Krieg und Frieden. Warum und wie die Europäische Union im Gedenkjahr 2014 den Ersten Weltkrieg (ge)braucht“ ein „neues europäisches Narrativ“ fest, „wonach alle ein wenig Schuld hätten, ‚die Schurken aber die Serben‘ seien. Die EU habe ein klares Interesse an einer solchen ‚Meistererzählung‘, wonach sich die Rolle der EU aus der Geschichte ableite.“116 Bemerkenswert dazu scheint denn auch die Schlussaussage von Berthold Seewald in der „WELT“, die für eine solche Neuinterpretation spricht (und die ja nachhaltig von Clarks Thesen unterstützt wird): „So wird das Attentat von Sarajevo auch zum Lackmustest für die Bereitschaft, den Ersten Weltkrieg als europäische Tragödie zu begreifen und nicht als Schlachtfeld der nationalen Geschichte.“117 In ähnlicher Weise hat sich auch der Historiker Carl Bethke geäußert, der darauf verwiesen hat, „dass man in Europa auf allen Seiten eine Distanz zu der traditionellen nationalgeschichtlichen Erzählung gewonnen habe. In Serbien stehe dieser Prozess aber teils noch bevor.“118 Deutschland, Österreich, Ungarn, Frankreich, Großbritannien – sie alle sind heute Mitgliedstaaten der EU. Und in der EU soll für die alten Feindschaften kein Platz mehr sein. Da passt es tatsächlich, wenn jeder dieser Staaten etwas Asche aufs Haupt streut und zugebe, eine gewisse Teilschuld (wohlgemerkt aber keine „Alleinschuld“ oder „Hauptschuld“!) an der „UrKatastrophe des 20. Jahrhunderts“ gehabt zu haben. Immerhin, hat nicht diese letztlich auch zur Gründung der EU geführt? Und was ist aber mit Russland, vor allem was mit Serbien? Nun, diese beiden Staaten sind keine Mitglieder der EU. Da kann man dann auch ganz bequem jede weitere Schuldlasten offenbar auf diese Staaten, die ohnedies (aus verschiedenen Gründen) keine gute Presse haben, abladen. Also wieder: Serbien muss sterbien? Vielleicht. Jedenfalls, wenn man sich einige Überschriften in deutschen Printmedien vergegenwärtigt. Somit scheint eine innereuropäische „Schlafwandler“-Kultur das (politisch-historische) Vermächtnis des Gedenkjahres 1914/2014 zu sein. Und, die Serben wären doch am Ende etwas mehr schuld am Kriegsausbruch als alle anderen. Vielleicht wäre es tatsächlich endlich an der Zeit, sich ernsthafter Zit. nach Martin Beyer, Gedenken und (k)ein Ende – Was bleibt vom Jahr 2014? Das Gedenkjahr 1914/2014 und sein historiografisches Vermächtnis, auf: http://www.hsozkult. de/conferencereport/id/tagungsberichte-5931, [5. November 2015]. 117 Seewald, Mit Macht will Serbien seine Unschuld beweisen 2. 118 Wölfl, Gedenken an den Ersten Weltkrieg. Serbien fühlt sich angegriffen 2 f. 116

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mit der Lage Serbiens und seiner politischen Ziele, aber auch der Gründe für die Entstehung einer Gruppierung, wie der „Mlada Bosna“ auseinanderzusetzen. Gavrilo Princip trat immerhin auch gegen eine imperialistische Okkupationsmacht an, und für die Freiheit. Indem man ihn jedoch allein als „Terroristen“ (oder gar als „Selbsmordattentäter“) abtut, verschliesst man sich auch automatisch der Diskussion z. B. im Sinne der post colonial studies über die Rolle und Ziele von Großmächten, wie Österreich-Ungarn, etwa auf dem Balkan. Ein neues Narrativ muss hier her, aus Platzgründen jedoch kann hier darauf leider nicht weiter eingegangen werden. Aber dieser Beitrag soll zumindest einen Anstoß in diese Richtung liefern. Was kann man in Bezug auf die Geschichtswissenschaften bilanzieren? Haben wir da tatsächlich etwas Neues erfahren? Und wenn ja, was? Übermächtig präsent, möchte man fast sagen, waren Clarks nicht unproblematische „Schlafwandler“, womit die Aufmerksamkeit auf andere, sicher nicht minder interessante oder wichtige Werke etwas in den Schatten gestellt wurde. So hat ja Gerd Krumeich selbst eine interessante Bilanz gezogen119. Und dann war da auch noch der voluminöse Band von Manfried Rauchensteiner zum Ende der Donaumonarchie in diesem Krieg120. Hannes Leidinger, zusammen mit weiteren Mitarbeitern, gab einen Sammelband heraus, der „Habsburgs schmutzigen Krieg“ näher beleuchtete, und dabei u. a. auch die Kriegsverbrechen der k.u. k. Armee u. a. in Serbien und Galizien thematisierte121. Man könnte noch viele weitere interessante Werke aufzählen, die alle ein paar neue Facetten zum Thema Erster Weltkrieg hinzufügten. Insoweit gab es auch Neues zu vermelden. Doch letztlich stellt man sich die Frage, ob nicht 2014 eine Tendenz zu Geschichtsrevisionismus feststellbar ist. Clarks Buch stellt eine solche Revision der bisherigen Meinung nämlich dar. Bislang hat man sich weithin auf den Konsens geeinigt, Deutschland (und daneben Österreich-Ungarn) trügen, wenn nicht die Alleinschuld, so doch die Hauptschuld am Kriegsausbruch. Clark stellt das mit seinen „Schlafwandlern“ jedoch genau in Frage bzw. weist den Serben den meisten Anteil zu. Für eine „europäische Erinnerungskultur“ mögen die Thesen Clarks (aber auch anderer Autoren, wie McMeekin oder MacMillan) da durchaus bequem erscheinen. Nur, ist damit den historischen Gegebenheiten auch tatsächlich gedient? Das mag stark bezweifelt werden. Und, das Gedenkjahr hat auch überdeutlich auf-

Vgl. Gerd Krumeich, Juli 1914. Eine Bilanz (Paderborn – München –Wien – Zürich 2014). Vgl. Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914 –1918 (Wien – Köln –Weimar 2013). 121 Vgl. Hannes Leidinger, Verena Moritz, Karin Moser, Wolfram Dornik, Habsburgs schmutziger Krieg. Ermittlungen zur österreichisch-ungarischen Kriegsführung 1914 –1918 (St. Pölten – Salzburg –Wien 2014). 119

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gezeigt, wie stark in einer solchen „europäischen Erinnerungskultur“ alte pejorative Stereotype und Zuschreibungen noch immer wirksam und auch wirkmächtig sind. Das bezieht sich insbesondere auf Serbien und die Serben. Hier hat sich, leider auch nach hundert Jahren, eben trotz allem nicht viel verändert. So bleibt ein recht gemischtes Gefühl zurück, bei all dem Gedenken.

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Krieg und Frieden als „paradoxe Kohärenz“: Warum und wie die Europäische Union in ihrer Geschichts-, Gedächtnis- und Identitätspolitik den Ersten Weltkrieg (ge-)braucht Wir leben heute im Jahre 2017 in Europa sowie auch global in einer Welt, die sich in grundlegender Weise von jener unterscheidet, in der im Sommer 1914 jener kriegerische Konflikt ausbrach, den wir geschichtlich als Ersten Weltkrieg bezeichnen1. Gerade mit dem zum (Bürger-)Krieg gewordenen Konflikt in der europäischen Ukraine, dem Bürgerkrieg in Syrien und anderen Spannungsfeldern im „Nahen Osten“, den daraus resultierenden Migrationsbewegungen und ihren elementaren Folgen für die Kultur- und Lebensgemeinschaft der Europäischen Union, ist diese bis hin zu ihren politischen und diskursiven Leistungsgrenzen be- und gedrängt, rasche und effektive politische und kulturelle Lösungen zu finden. Ebenso trug die prekäre Lage im EU-Mitgliedsland Griechenland, das nach der Wahl des linksorientierten Politikers Alexis Tsipras‘ zum Regierungschef im Januar 2015 in gewissem Sinne zumindest teils auf „Konfrontationskurs“ mit seinen europäischen Partnerinnen und Partnern einschwenkte, nicht zur Entspannung des Klimas in der Union bei. In dieser Situation der Anspannung, Unklarheit und Prekarität, die die strukturellen Leistungsgrenzen der Union2, aber auch der Nationalstaaten als ihrer 1

Aus dem jüngeren geschichtswissenschaftlichen Diskurs zum Ersten Weltkrieg siehe etwa folgende Beiträge: Volker R. Berghahn, Der Erste Weltkrieg (München 62014); Jay Winter (Hg.), The Cambridge History of the First World War, 3 Bde. (Cambridge 2014); Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914 –1918 (Wien 2013); besondere Aufmerksamkeit erregte sowohl im fachwissenschaftlichen als auch breiteren Diskurs die Monographie von Christopher Clark: Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog (München 2013). 2 Zur Frage nach der theoretischen Erfassung der Struktur der Europäischen Union siehe vor allem folgende Kompendien: Hans-Jürgen Bieling, Marika Lerch (Hgg.), Theorien der europäischen Integration (Wiesbaden ³2012); Antje Wiener, Thomas Diez (Hgg.), European Integration Theory (Oxford ²2009); spezifisch zur Perspektive der Geschichtswissenschaft auf die europäische Integration siehe auch: Peter Pichler, Acht Geschichten über die Integrationsgeschichte. Zur Grundlegung der Geschichte der europäischen Integration als ein episodisches historiographisches Erzählen (Innsbruck 2011).

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Mitgliedseinheiten, „unbarmherzig“ zu Tage treten lässt3, ist die Perspektive des Europäischen notwendig und auch einzufordern, aber ebenso gefährdet. Die zeitgeschichtliche Lage der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsnationen sowie anders strukturierten Kulturkollektiven und der Welt im Zeitalter der Globalisierung überhaupt – grob zu markieren durch das Ende der bipolaren Weltordnung nach 1989 sowie den neuen globalen Konfliktlinien seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA4 – bietet einerseits den Akteurinnen und Akteuren der EU die Möglichkeit, ihre Solidarität, ihre europäische Kooperationskultur und die daraus erwachsenden Fähigkeiten zur Lösung der Probleme und Konfliktlagen zu beweisen5. Zugleich sind diese so massiv, dass die Strukturschwächen der Union deutlich zu Tage treten und die Zukunft in jeder Form offen scheint – sowohl im positiv als auch negativ möglichen Sinn. Im Jahre 2014, als sich diese Situation bereits stark verdichtet und in ihrer historischen „Sättigung“6 größtenteils manifestiert hatte, wurde auch auf Unionsebene des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges hundert Jahre zuvor gedacht. Es stellt sich die Frage, wie Europa (sich zentral manifestierend in den Diskursen der EU) sich angesichts seiner aktuellen zeithistorischen Position sowie seiner Geschichte in längerfristiger Sicht (vor allem seit dem Ende des wirtschaftlichen „Booms“ in den frühen 1970er-Jahren7) im Gedenken an diesen historischen Konflikt positioniert. Gibt es Zusammenhänge zwischen der aktuellen Situation Europas in den Jahren 2014/15 und der von der EU 3

Zur Perspektive der Zeitgeschichte auf das Zusammenspiel zwischen Globalgeschichte, europäischer Geschichte und nationaler sowie regionaler Perspektive siehe: Michael Gehler, Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem. Zwischen Regionalisierung, Nationalstaat, Europäisierung, internationaler Arena und Globalisierung (= Herausforderungen 12, Bochum 2001); überhaupt zu einer zeithistorischen Perspektive auf Europa seit „1989“ in diesem Kontext siehe auch: Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europa in unserer Zeit (München 2012). 4 Vgl. einführend zu den Anschlägen vom 11. September 2001: Bernd Greiner, 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen (München 2011); sowie zum Diskurs in Europa: Helga Embacher, Margit Reiter, Europa und der 11. September 2001 (Wien 2011). 5 Zu einer diskursorientierten bzw. kulturgeschichtlichen Perspektive auf die EU liegen bisher keine umfassenden Synthesen vor; schon älter, aber nach wie vor in diesem Sinne nach Europa überhaupt fragend siehe: Wolfgang Schmale, Geschichte Europas (Wien 2000); theoretisch orientiert siehe wiederum: Pichler, Acht Geschichten; sowie essayistisch philosophisch: Ders., Leben und Tod in der Europäischen Union (Innsbruck 2014). 6 Zu einer Konzeptionalisierung des Begriffs der Sättigung in geschichtsphilosophischer Perspektive siehe: Frank Ruda, Was ist eine geschichtliche Sequenz? Zur philosophischen Analyse von Prozessen der Veränderung; in: Christian Schmidt (Hg.), Können wir der Geschichte entkommen? Geschichtsphilosophie am Beginn des 21. Jahrhunderts (Frankfurt / Main – New York 2013) 219 –240, hier 237 ff. 7 Vgl. hierzu: Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970 (Göttingen 2008).

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betriebenen Geschichts-, Gedächtnis- und Identitätspolitik in Bezug auf die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (Kennan)? Oft wird der Erste Weltkrieg als der erste „totale Krieg“ bezeichnet, sowie als Beginn des „Zeitalters der Extreme“ (Hobsbawm) im 20. Jahrhundert. Diese Topoi sind als Narrative in sich schlüssig und daher auch auf ihre jeweilige Weise „wahr“; ich möchte die Bezugnahme auf die Zeit dieses Globalkonflikts jedoch aus einer anderen Sicht beleuchten – nämlich aus der europäischen, mit der aktuellen Situation Europas und der EU als Handlungsfolie und -kontext ihrer auf den Ersten Weltkrieg bezogenen Politikdiskurse. Hierzu ist es einerseits nötig, überhaupt nach der europäischen Dimension des Kriegs ab 1914 zu fragen, sowie anderseits geboten, die Geschichtspolitik Integrationseuropas der in etwa letzten vier Jahrzehnte – resultierend aus der Realgeschichte dieser Epoche8 – zu bedenken. Folgt man diesen beiden verschränkten Erkenntniszielen, sticht zuerst ins Auge, dass der Erste Weltkrieg – wie auch der Zweite Weltkrieg – in Europa ihren Ursprung nahmen9. Die Waffen „sprachen“ das erste Mal in Europa im Juli 1914. Schon aus dieser Betrachtung wird deutlich, dass es sich zwar um einen „Weltenbrand“ handelte, dieser aber aufs Engste mit unserer heutigen Wahrnehmung der europäischen Geschichte als Geschichte eines kontinentalen Zusammenwachsens nach 1945 verknüpft ist10. Heute erscheint es historisch schlüssig und folgerichtig, dass wir Europäerinnen und Europäer aus der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor 1945 „gelernt hätten“, was sich scheinbar in historischer Weise in der Entstehung vor allem der Europäischen Union ab 1993 mit der Rechtskraft des Vertrags von Maastricht widerspiegle11. Wir Europäerinnen und Europäer leben heute in einem Zusammenhang der „Kontinentalisierung“ (Lützeler), die uns bisher den Frieden sicherte und auch wirtschaftliche Prosperität bescherte. Man kann an der EU Kritik üben, wo man dies in skeptischer Weise für angebracht und richtig hält; doch sind auch die vielen historisch wirksamen Vgl. einführend folgende Werke zur Geschichte der europäischen Integration: Wilfried Loth, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte (Frankfurt/Main 2014); Michael Gehler, Europa. Von der Utopie zur Realität (Innsbruck  – Wien 2014); Anita Pretten thaler-Ziegerhofer, Europäische Integrationsrechtsgeschichte (Innsbruck ³2012); zu einem diskurs- und kulturgeschichtlichen Zugriff siehe ferner wiederum die Angaben in Anm. 5. 9 Zur „Allgemeingeschichte“ siehe wiederum die Beiträge in Anm. 1.; sowie spezifisch auch zu einer „Gesamtgeschichte“ der Weltkriege diskursbestimmend, aber genauso polarisierend: Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus (Frankfurt / Main 41989); sowie den Diskurs fortsetzend: Enzo Traverso, Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914 –1945 (München 2008). 10 Vgl. Anm. 8. 11 Ebd. 8

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Errungenschaften, die mit der Einigung Europas verbunden sind, offensichtlich (die Etablierung eines europäischen Rechts-, Wirtschafts-, Politik-, sowie teils auch Kultur- und Gesellschaftsraums, der sich in der EU, sowie den anderen „Körpern“ der europäischen Integration geschichtlich manifestiert12). Dennoch – gerade die Geschichtswissenschaft als kritische Disziplin sollte nicht zögern, demokratiepolitische oder auch andere „Bauschwächen“ und Strukturprobleme der EU zu benennen und versuchen, Orientierungswissen zur Arbeit an der Lösung jener Probleme hervorzubringen. Es stellt sich angesichts der momentanen, schon lange vorherrschenden Identitäts- und Legitimationsdefizite des europäischen Bauwerks der Union die Frage nach ihrer Geschichts-, Gedächtnis- und Identitätspolitik sowie deren Politikgeschichte selbst13.

1. Der „Startschuss“ zur Geschichts-, Gedächtnis- und Identitätspolitik Integrationseuropas im Jahre 1973 Die EU ist eine immer weiter ausgreifende Gemeinschaft, die sich mit Paul Michael Lützeler als Prozess der europäischen „Kontinentalisierung“ beschreiben lässt14. Europa umfasst heute Diskurse der Politik, der Kultur, der Wirtschaft, des Rechts, der Gesellschaft sowie schließlich auch des Erinnerns, des Gedenkens und der Geschichte sowie Identität15. Diese letzten Zusammenhänge möchte ich tiefer, hinblickend auf eine theoretische Grundlagenreflexion zur begrifflichen und methodischen Erfassung der Beziehung zwischen Aktualgeschichte und Gedächtnis(-politik) zum Thema des Ersten Weltkrieges zu erfassen versuchen. Die EU, vor allem ihre Politikerinnen und Politiker in den europäischen Institutionen, wie dem Europäischen Rat oder dem Europäischen Parlament, betreiben schon seit längerer Zeit, vor allem seit den frühen 1970er-Jahren, eine bewusst designte integrationseuropäische Identitäts- und Geschichtspolitik16. Es liegt auf der Hand: Jede Gemeinschaft, 12

Ebd. Auch zur europäischen Identitätsdebatte sind die Beiträge Schmales sehr erhellend. Vgl. hierzu folgende Monographie: Wolfgang Schmale, Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität (Stuttgart 2008); sowie wiederum: Ders., Geschichte Europas. Schon älter, aber nach wie vor gewinnbringend zur Diskussion der strukturellen Defizite der EU siehe auch: Marcus Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma. Zur Rechtfertigung des Regierens jenseits der Staatlichkeit (Baden-Baden 1999). 14 Vgl. Paul Michael Lützeler, Kontinentalisierung. Das Europa der Schriftsteller (Bielefeld 2007); diesen Diskurs einleitend siehe auch: Ders., Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart (Baden-Baden ²1998). 15 Vgl. Anm. 8. 16 Vgl. vor allem wieder: Schmale, Europäische Identität. 13

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die für sich Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit in breiteren, europäischen sowie globalen Beziehungen beansprucht, muss sich in Zeit und Raum der Geschichte positionieren, um ein Selbstbild von sich entwickeln zu können, das diesem Postulat entsprechen soll. Die Geschichte und die Geschichtspolitik ist demzufolge nichts weniger als eine diskursive und kulturelle „Waffe“ im Kampf um politische Deutungshoheit17. Im integrationseuropäischen Zusammenhang sind die frühen 1970er-Jahre als jene Zeit zu sehen, in welcher auf Seiten der damaligen Integrationsgemeinschaft die bis heute wirksame Geschichts-, Gedächtnis- und Identitätspolitik grundgelegt wurde. Grob umrissen ist die Position der damaligen Europäischen Gemeinschaft durch folgenden Prozess gekennzeichnet: Im Jahre 1973 traten Irland, Dänemark und – vor allem das war ausschlaggebend – Großbritannien der Gemeinschaft bei18. Die „Norderweiterung“ bildete die erste Erweiterung seit der Montanunion zwei Jahrzehnte zuvor19; d. h. die EG erweiterte sich entscheidend, ohne jedoch die institutionelle Struktur anzupassen, indem sie etwa mit mehr an demokratischer Legitimation ihrer Organe versehen worden wäre – was die Geschichte bestimmte20. Zwar hatte der integrationspolitische Diskurs durch den „Haager Gipfel“ von 1969, auf dem wichtige Weichenstellungen für die Zukunft beschlossen wurden (etwa eine vertiefte politische Zusammenarbeit, die Aussicht auf die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die sich anbahnende Erweiterung), wieder Fahrt aufgenommen und man suchte nach Möglichkeiten, sich der neuen Situation anzupassen; doch blieb die Institutionenstruktur weitgehend unverändert21. Zugleich ist dieser Prozess der Erweiterung der Gemeinschaft und die mit ihm verbundenen Legitimations- und Identitätsprobleme im Kontext des Endes des „Booms“ der Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen22. Es kam 17

Grundsätzlich zu diesem Zusammenhang sind vor allem auch die Schriften Aleida Assmanns, die oft auch den europäischen Kontext reflektieren. Vgl. hierzu: Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 633, Bonn 2007); sowie zu Europa: Dies., Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur? Mit einem Vorwort von Hubert Christian Ehalt ( = Wiener Vorlesungen im Rathaus 161, Wien 2012). 18 Zur Geschichte dieser Phase im Überblick siehe: Ziegerhofer-Prettenthaler, Integrationsrechtsgeschichte 122 ff.; Gehler, Von der Utopie zur Realität 123 ff.; Loth, Europas Einigung 163 ff. 19 Zur Begründung der „Montanunion“, der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“, im Jahre 1952 siehe einführend: Ziegerhofer-Prettenthaler, Integrationsrechtsgeschichte 89 ff.; Gehler, Von der Utopie zur Realität 110 ff.; Loth, Europas Einigung 26 ff. 20 Vgl. Anm. 18. 21 Zur Geschichte um den „Haager Gipfel“ 1969 siehe Ebd. 22 Vgl. Anm. 7.

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zum „Ölschock“ von 1973 und die Wirtschaft der Neuner-Gemeinschaft befand sich im Abwärtstrend, der mit zeitweiligen „Hochs“ und „Tiefs“ bis heute anhält. Die Reaktion der Gemeinschaft Europas auf die neue Situation war in kultur- und diskursgeschichtlicher Perspektive bemerkenswert: Am Gipfel in Kopenhagen im Dezember 1973 einigte man sich auf nicht weniger denn ein „Dokument über die europäische Identität“23; dies ist insofern bemerkenswert, als dass dieses Dokument als Startschuss für den identitäts- und geschichtspolitischen Diskurs der europäischen Integration zu betrachten ist. Man wollte sich in der neuen Situation im Europa der frühen 1970er-Jahre als European player der Gedächtnispolitik profilieren. Die Gemeinschaft suchte ihre Existenz auch im Erinnern und in der Geschichte24. Die Geschichte wurde in diesem Diskurs als Mittel wahrgenommen (und durchaus auch instrumentalisiert), um die EG für die Gegenwart der frühen 1970er-Jahre als Gemeinschaft konstituieren zu können. Das Bild dieser gemeinsamen Geschichte blieb im Diskurs noch teils „schwammig“, aber ein Anfang war gesetzt: „[…] Eine nähere Bestimmung der europäischen Identität macht es erforderlich, – das gemeinsame Erbe, die eigenen Interessen, die besonderen Verpflichtungen der Neun und den Stand des Einigungsprozesses in der Gemeinschaft zu erfassen, – den bereits erreichten Grad des Zusammenhalts gegenüber der übrigen Welt und die daraus erwachsenden Verantwortlichkeiten festzustellen, – den dynamischen Charakter des europäischen Einigungswerks zu berücksichtigen. […] In dem Wunsch, die Geltung der rechtlichen, politischen und geistigen Werte zu sichern, zu denen sie sich bekennen, in dem Bemühen, die reiche Vielfalt ihrer nationalen Kulturen zu erhalten, im Bewusstsein einer gemeinsamen Lebensauffassung, die eine Gesellschaftsordnung anstrebt, die dem Menschen dient, wollen sie die Grundsätze der repräsentativen Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit, die das Ziel des wirtschaftlichen Fortschritts ist, sowie der Achtung der Menschenrechte als die Grundelemente der europäischen Identität wahren“25.

In der neuen Situation des Jahres 1973 wurden in der EG mit den Diskursbausteinen vom „gemeinsamen Erbe“ beziehungsweise der „Vielfalt“ jene Formeln aufgegriffen, die den geschichts- und identitätspolitischen Diskurs bis heute prägen26. In einer Zeit, in der die Rolle der EG durch die fehlende Demokratisierung, den wirtschaftlichen Abwärtstrend sowie überhaupt die 23

Vgl. kommentierend: Prettenthaler-Ziegerhofer, Integrationsrechtsgeschichte 119 ff. Grundlegend wieder die Beiträge in Anm. 13 sowie Anm. 17. 25 Dokument über die europäische Identität. Kopenhagen, 14. Dezember 1973; in: Europäische Gemeinschaften (Hg.), Bulletin der Europäischen Gemeinschaften. Dezember 1973, Nr. 12, 131–134. 26 Vgl. Anm. 13 und Anm. 17. 24

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politische Identitätssuche dieser Ära des Kalten Kriegs geprägt war, kamen die Integrationspolitikerinnen und Integrationspolitiker überein, im „gemeinsamen Erbe“ (also der Geschichte!) sowie in der „Vielfalt“ die europäische Identität zu sehen. Dies ist bis heute entscheidend – der Diskurs dieser Prozesse ist für die Situation der Jahre 2014/15, vor allem für das Gedenken an den Ersten Weltkrieg, von großer Bedeutung.

2. Die Situation der Geschichts-, Gedächtnis- und Identitätspolitik Integrationseuropas im Gedenken des Ersten Weltkrieges 2014 /15 Begeben wir uns in die Zeit des hundertjährigen Gedenkens an den Ausbruch des ersten globalen Krieges im Jahre 2014. Der Identitäts- und Geschichtspolitikdiskurs der EU hat sich in diesen über vierzig Jahren integrationseuropäischer Geschichte seit dem Identitäts-Dokument weiterentwickelt, ist aber in vielen Punkten der Grundlegung aus dem Jahre 1973 treu geblieben. Die Situation im gegenwärtigen Europa ist in vielen Aspekten sogar eine Strukturvertiefung jener historischen Lage vor über vier Jahrzehnten. Die EU, aber nicht nur Europa, sondern die Welt im Gesamten, befinden sich in der schwersten wirtschaftlichen Krise seit über achtzig Jahren. Was vor über fünf Jahren als Krise der Finanzwirtschaft begann, ist inzwischen zu nicht weniger denn einer wahren europäischen Sinnkrise geworden27. Die Menschen sehen voller Unbehagen auf die EU, aber auch auf die Zukunft überhaupt, der Esprit des Aufbruchs des „Booms“ nach 1945 scheint endgültig verloren. Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2014 spiegelten diese diskursive und kulturgeschichtliche Lage Europas und der Welt deutlich wider: Die traditionellen Bindungen der Menschen Europas an die Groß- und Volksparteien lösen sich immer stärker auf, Protestbündnisse sowie links- und rechtsextreme Gruppierungen verzeichnen Zulauf. Zugleich haben sich seit dem 11. September 2001, dem folgenden „Krieg gegen Terror“, dem globalen Terrordiskurs allgemein, im Konflikt in der Ukraine, der einen neuen „Kalten Krieg“ zu entfesseln scheint, sowie den Spannungsfeldern in „Nahost“ neue globalpolitische Konfliktlinien aufgetan. In der Binnenperspektive der EU hat sich seit 1973 vor allem mit dem Vertrag von Maastricht sowie dem heute gültigen 27

Vgl. zu diesem Diskurs etwa: Falk Illing, Die Euro-Krise. Analyse der Europäischen Strukturkrise (München 2013); Finn Laursen, The EU and the Eurozone Crisis: Policy Challenges and Strategic Choices (Farnham 2013); spezifisch zur kulturgeschichtlichen Dimension siehe auch: Thomas Risse Solidarität unter Fremden? Europäische Identität im Härtetest (= KFG Working Paper 50, Mai 2013, Berlin o. J.).

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Vertrag von Lissabon mit Rechtskraft seit 2009 Entscheidendes getan28; der Legitimations-, Demokratie- und Identitätsdiskurs Europas ist jedoch nach wie vor virulent. In der Regel spricht man in diesen Zusammenhängen von Defiziten, nämlich von Legitimations-, Demokratie- und Identitätsdefiziten29. Die EU kämpfte auch im Gedenkjahr 2014, in welchem des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges gedacht wurde, um ihre sinnstiftende Rolle in der Geschichte und der Welt. Daher versuchten sich die Politikerinnen und Politiker der EU auch daran, weiterhin eine Meistererzählung zu narrativieren, die die Rolle der EU in der heutigen Welt aus der Geschichte herleitete30. Paradigmatisch hierfür steht die Rede, die die deutsche Bundeskanzlerin Angelika Merkel am 25. Juni 2014, einen Tag vor dem folgenden Gipfel des Europäischen Rats in Belgien, im deutschen Bundestag hielt: „[…] es gibt in diesen Wochen des großen Gedenkjahres 2014 eine intensive Auseinandersetzung mit den Gründen, die zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren geführt haben. Immer wieder steht die Frage im Raum: Was haben wir denn nun aus der Geschichte gelernt? […] Der Europäische Rat, der morgen beginnt, macht die historische Bedeutung der europäischen Einigung noch einmal deutlich. Denn der Europäische Rat wird ungewöhnlich beginnen: Präsident Herman Van Rompuy hat die Regierungschefs dazu eingeladen, im belgischen Ypern gemeinsam des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren zu gedenken.[…] [D]as Versprechen des Glücks des in Frieden und Freiheit vereinten Europas müssen wir für kommende Generationen schützen; das muss die Leitlinie unserer Arbeit für die Bürgerinnen und Bürger sein. Nicht das Recht des Stärkeren wird sich dauerhaft durchsetzen, sondern die Stärke des Rechts; das ist unsere Überzeugung. Sie sichert Frieden, Freiheit und Wohlstand, und das ist heute Europa. Deshalb ist die Europäische Union trotz aller Schwierigkeiten attraktiv und ein gutes Zukunftsmodell. Das Modell des fairen Interessenausgleichs ist nach meiner festen Überzeugung nicht nur für Europa das Zukunftsmodell. Wer nur seine eigenen Belange in den Vordergrund stellt, schadet sich am Ende selbst am meisten“31.

Was lässt sich thematisch aus Merkels Narrativ für die Frage der Suche der EU nach ihrer Identität in der Geschichte, in Zeit und Raum mit Bezug auf das Gedenken des Ersten Weltkrieges schlussfolgern? Hieraus lässt sich ein ganzes Bündel an Aufgaben und Arbeitspunkten erschließen, die insbesondere eine sich als emanzipativ und auch kritisch orientiert verstehende diskurspragmatische Geschichte des Ersten Weltkrieges vor neue Herausforderungen 28

Vgl. hierzu einführend: Ziegerhofer-Prettenthaler, Integrationsrechtsgeschichte 89 ff.; Gehler, Von der Utopie zur Realität 160 ff.; Loth, Europas Einigung 149 ff. 29 Vgl. Anm. 13. 30 Zum Begriff der „Meistererzählung“ siehe den Diskurs im deutschsprachigen Zeitraum einleitend: Konrad Jarausch, Martin Sabrow (Hgg.), Die Historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945 (Göttingen 2002). 31 Rede Angela Merkels im Bundestag, Berlin 25. Juni 2014. Quelle: http://www.bundes regierung.de/Content/DE/Rede/2014/06/2014-06-25-merkel-bt-haushalt.html, [1. Dezember 2014].

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stellt: In der Rede Merkels wird paradigmatisch jener Diskurs fortgeführt, der im Jahre 1973 in Kopenhagen grundgelegt wurde. Die Kanzlerin als eine der mächtigsten Frauen Europas leitete mit all ihrem symbolischen und politischen Kapital die Zukunft der EU direkt aus der Geschichte des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges her32. Und hierbei ist ein erzählerisches Motiv der EUMeistererzählung von existenzieller Bedeutung: das Wechselspiel von Krieg und Frieden. Es geht um die geschichtliche Dialektik der Motive von Krieg und Frieden, die der Diskurs der Kanzlerin in die Daseinsberechtigung der EU in der Gegenwart und Zukunft des Jahres 2014 einflechtet. Der Krieg, der in Europa vor hundert Jahren ausbrach, sei die entscheidende Antithese zur gegenwärtigen Rolle der EU als Garantin des Friedens in wirtschaftlich, politisch und kulturell krisenhaften Zeiten. Kurz, folgt man der Kanzlerin wörtlich, dann ist die EU die zu Realität gewordene Form dessen, was Merkel an den Anfang ihrer Rede stellt – ein Lernen aus der Geschichte33. Dazu kann man sicherlich stehen, wie man es eben für richtig hält. Es stimmt, dass die europäische Integration nach 1945 ursächlich dazu beigetragen hat, Frieden und Wohlstand nach Europa zu bringen34. Dennoch ist es aus meiner Sicht höchst zweifelhaft, gleichsam die ganze Geschichte des 20. Jahrhunderts durch die Brille der identitätsstiftenden Meistererzählung der EU zu fokussieren und diese als schlüssigen Telos der Geschichte zu instrumentalisieren. Die Frage laute daher: Wie kann man eine sich als emanzipativ und kritisch verstehende Geschichte des Ersten Weltkrieges, vor allem in europa-orientierter Perspektive, begründen, wenn sie weder in politischer Instrumentalisierung noch in wissenschaftlicher Beliebigkeit enden soll? Der Beginn der Reflexionen zur Beantwortung dieser Frage kann sich in meinen Augen darin finden, die begriffliche Basis von „europäischer Identität“ in Bezug auf diese geschichtswissenschaftlichen, zugleich geschichtspolitischen Fragen (was im Netzwerk zu denken ist)35 angesichts der Lage Europas im Jahre 2015 zu formulieren. Es geht darum, das zu reflektieren, was gemeinhin als „Lernen aus der Geschichte“ bezeichnet wird, in seiner Identitätsbegrifflichkeit zu durchleuchten36. 32

Zum Begriff des symbolischen Kapitals siehe die „klassische“ soziologische Ausarbeitung bei Pierre Bourdieu: Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen (Frankfurt/Main 1974). Wichtig in diesem Zusammenhang ist natürlich auch Bourdieus „Klassiker“ zur gesellschaftlichen Urteilskraft: Ders., Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (Frankfurt/Main 1982). 33 Der Topos „historia magistra vitae“ ist alt, aber noch immer von diskursiver Relevanz. Schon älter, aber noch immer lesenswert hierzu siehe: Hans-Ulrich Wehler, Aus der Geschichte lernen? Essays (München 1988). 34 Vgl. Anm. 8. 35 Vgl. Am. 13 sowie Anm. 17. 36 Vgl. Anm. 33.

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3. „Diskurspragmatische Projektion“: der Wirklichkeitsbegriff europäischer Identität im Lichte des momentanen Theoriediskurses der Geisteswissenschaften Die Diskussion und Forschung um das Thema der europäischen Identität, welche sich aus dem theoretischen „Epistemenvorrat“ des Cultural Turn seit den späten 1980er-Jahren speiste und deren Perspektive widerspiegelt37, gewann vor allem seit den 1990er-Jahren, noch stärker dann im neuen Jahrtausend mit seinen neuen europa- und globalhistorischen Entwicklungslinien, an Breite und Fahrt38. Damit ist die Forschung zur europäischen Identität, ihrer Geschichte und auch der Politiken, mit denen sie gefördert bzw. überhaupt erst evoziert (in der Theoriesprache des Kulturkonstruktivismus: konstruiert) werden sollte, ein zentraler Strang der Fachdebatte, aber auch der Politik und ihrer europäischen Handlungsfelder39. Wenn man von europäischer Identität spricht, ist es heute vor allem die EU, die sich als deren Trägerin anbietet. Die Geschichte Europas, der europäischen Identität sowie der EU formen heute ein Bündel von Narrativen, die zwar nicht deckungsgleich sind, aber diskursiv und argumentativ aufeinander verweisen und im Netzwerk stehen. Der prägende deutsche Europa- und Kulturhistoriker Wolfgang Schmale fasste im Jahre 2008 den Debattenstand folgendermaßen zusammen: „Angesichts der Kriegsgeschichte des europäischen 20. Jahrhunderts, der Abermillionen Toten, der Völkermorde, des Holocaust und der riesigen materiellen Schäden, versteht es sich geradezu von selbst, dass „Einheit“ so etwas wie ein heiliges Wort darstellt. […] „Europäische Einheit“ steht für ein gelungenes Friedensprojekt, für Wohlstand, für eine Vielzahl von Freiheiten, für Sicherheit, die aus der Allgemeingültigkeit von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten erwächst. Dies erklärt mehr als hinreichend die emotionale Strahlkraft von „Einheit“. Daher erscheint es auf dem Hintergrund der europäischen Geschichte sinnvoll oder sogar logisch, Europäische Identität als eine Identität zu verstehen, die eng an das Paradigma der Einheit gebunden ist und heute aus der politischen Identität namens Europäische Union hervorgehen soll.

37

Vgl. hierzu die Angaben in Anm. 13 sowie Anm. 14; ferner siehe noch aus dem Diskurs der 1990er-Jahre, aber strukturalistisch informierend: Heiko Walkenhorst, Europäischer Integrationsprozess und europäische Identität. Die politische Bedeutung eines sozialpsychologischen Konzepts (Baden-Baden 1999). 38 Siehe hierzu den Diskurs einleitend: Lynn Hunt, Aletta Biersack (Hgg.), The New Cultural History (Berkeley 1989); einführend für den deutschsprachigen Diskurs siehe: Martin Dinges, Neue Kulturgeschichte; in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Konzepte der interkulturellen Kommunikation. Theorieansätze und Praxisbezüge in interdisziplinärer Perspektive (Sankt Ingbert 2004) 201–220. 39 Vgl. Anm. 13 sowie Anm. 17.

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Während Bestimmung und Beschreibung von Vielfalt nicht schwer fallen und höchstens das Ausmaß der Vielfältigkeiten und Vielheiten Probleme bereitet, fehlt allerdings eine eindeutige Definition von „Europäischer Einheit“. Der politische und Verfassungsbegriff „Union“ legt nicht genau fest, was unter Einheit in Bezug auf die EU zu verstehen ist. Alle Welt tut sich leichter zu sagen, wo keine Einheit besteht als positiv festzustellen, was Europäische Einheit heute darstellt oder in der Geschichte vielleicht gewesen war. So werden wesentliche Einheiten wie Europäischer Demos und Europäische Öffentlichkeit regelmäßig als nicht existent diagnostiziert. Vor allem seit den 1980er-Jahren (…) wurde Identität als Kern der Frage herausgestellt: Europäische Identität spielt seitdem die Rolle des „Sesam, öffne Dich!“ „Hätten wir eine Europäische Identität, so wäre die Europäische Einheit gewiss gegeben und würde den Basso continuo der Vielfalt bilden“, so oder ähnlich könnte der Tenor der Überlegungen paraphrasiert werden“40.

Sich speisend aus dem Diskurs der Neuen Kulturgeschichte diagnostizierte Schmale im Jahre 2008 also – Politik und Wissenschaft vernetzt denkend – eine historische Situation, in welcher das Paradigma der „Einheit“ emblematisch für die Geschichte der Union wurde; zugleich steht dieses immer stärker für Europa überhaupt. Dies ist mit all den Problemen und Schwierigkeiten der Traditionsbildung, Legitimation und Durchsetzungskraft verbunden, die der Engsetzung von EG / EU und dem Begriffsraum „Europa“ seit jeher eigen ist41. Was sich seit Schmales Arbeit aus dem Jahre 2008 zuerst „schleichend“, dann in den letzten Jahren immer offensichtlicher und expliziter geändert hat, gerade momentan in rascher Transformationsdynamik zu sein scheint, ist die Theorie, die die Kulturgeschichte, die Geschichts- und Geisteswissenschaften allgemeiner, damit auch den EU-Identitätsdiskurs unterfüttert. War gerade vor allem bei Schmale noch eine „klassische“ kulturkonstruktivistische Theorie begründend und normativ wirksam, die die EU-Identität eben als diskursive Konstruktion konzipierte, daher ein konstruktivistisches Wirklichkeitsverständnis voraussetzt42, so kam der theoretische Konsens des Cultural Turn vor allem seit dem Diskursjahr 2014 zunehmend ins Wanken. Federführend im Diskurs des „Neuen Realismus“ im deutschsprachigen Raum ist der junge deutsche Philosoph Markus Gabriel, der in Bonn lehrt43. Er charakterisiert das Anliegen des Wiedererstarkens des Realismus folgendermaßen:

40 Schmale, Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität 20 f. Hervorhebung im Original. 41 Vgl. Anm. 13 sowie Anm. 14. 42 Vgl. Schmale, Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität. 43 Hierzu den Diskurs einleitend: Markus Gabriel (Hg.), Der Neue Realismus (Berlin 2014); siehe auch folgendes breiter dimensioniertes Werk Gabriels: Ders., Warum es die Welt nicht gibt (Berlin 2015); sowie als dezidierte Polemik gegen den Konstruktivismus: Paul Boghossian, Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus (Berlin 2013).

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„Ich selbst verstehe unter dem „Neuen Realismus“ im Allgemeinen die systematische Anerkennung der Tatsache, dass unsere Gedanken über Reales genauso real sind wie alles andere. […] Realität hängt nicht davon ab, ob etwas in robuste Tatsachen eingebettet ist, sie hängt lediglich von Tatsachen ab. Wendet man diese Grundidee auf die Ontologie an, ergibt sich meines Erachtens eine neue Möglichkeit, Existenz realistisch zu denken. […] Die Pointe dieser Überlegung besteht darin, dass es einen ontologischen Realismus gibt, der anerkennt, dass es sowohl Gegenstandsbereiche gibt, die maximal robust charakterisiert werden müssen, als auch Gegenstandsbereiche, für die dies nicht gilt. Diese Einsicht nenne ich den Neuen Ontologischen Realismus, da dies das Pendant der allgemeinen These ist, dass unsere Einstellungen, Gedanken, kurzum: der menschliche Geist nicht weniger real ist als dasjenige, von dem wir inzwischen wissen, dass es ohne unser Zutun und auch gegen unsere Wüschen genau so ist, wie es nun einmal ist. […] Die hier skizzierte Position beläuft sich also auf einen ontologischen Realismus, der ohne die Annahme eines allumfassenden Bereichs auskommt. Realismus und Pluralismus sind also kompatibel. Insbesondere lässt der neue ontologische Realismus Raum für lokale antirealistische Manöver, verbietet aber deren Ausweitung zum Existenzbegriff als solchen“44.

Dieses Zitat eines jungen (und man könnte meinen: eines noch nach seiner fachlichen Identität suchenden) Philosophen aus der jüngsten Zeit ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert, für den Diskurs der Theorie der Geisteswissenschaften wohl sogar schwerwiegend: Es zeigt an, dass der Cultural Turn – so meine ich – trotz all der Neuerungen und wichtigen Erkenntnisse, die er uns einbrachte45, an seine Grenze stößt, bzw. schon gestoßen ist, und als theoriegeschichtlicher Prozess seinen Zenit überschritten hat46. Das verklammernde Paradigma der Geisteswissenschaften, die seit etwa zwanzig Jahren vor allem auch als Kulturwissenschaften theoretisiert wurden, ist im Umbruch begriffen. Man sucht nach theoretischen Alternativen. Dies betrifft auch die Theoretisierung der Geschichte der europäischen Identität. Im Kern steht dabei die Frage, wie die europäische Identität als geschichtliche Wirklichkeit, als empirischrealer und objektiver Gegenstand der Forschung, oder aber als diskursivkonstruiertes und subjektiv erdachtes Artefakt der Historiographie zu verstehen sei. In der Theorie der Geschichte der europäischen Identität stellt sich die Frage, ob sie realistisch oder konstruktivistisch zu denken sei – in der derzeitigen Diskussion treffen (Neuer) Realismus und (kulturkonstruktivistischer) Antirealismus aufeinander. Die Antwort auf die ontologische Grundlagen Markus Gabriel, Existenz, realistisch gedacht; in: Ders., Neuer Realismus 171–199, hier 192 ff. 45 Für die Geschichtswissenschaft siehe die Beiträge in Anm. 38; allgemeiner siehe: Doris Bachmann-Medick (Hg.), Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Mit einem neuem Nachwort (Reinbek bei Hamburg 52014). 46 Vgl. Anm. 43. 44

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forschungsfrage nach dem Charakter von „Wirklichkeit“ ist wieder offen. In der Debatte ist derzeit aber kein Konsens oder keine Dominanz einer Position abzusehen47. Es macht daher wenig Sinn, sich „endgültig“ für eine Position zu entscheiden; viel sinnvoller erscheint es mir, zu versuchen, beide Theoriestränge als Möglichkeiten eines Spektrums zu sehen, was impliziert, sich in der jeweiligen Forschungssituation immer diskurspragmatisch seinem Gegenstand anzunähern – auch auf der Ebene der Ontologie. Es geht daher auch darum, die Frage der europäischen Identität nicht mehr als die binäre Wahlmöglichkeit zwischen Realität  / Objektivität oder Konstruktion / Subjektivität zu stellen, sondern darum, sich dem Realitätscharakter der Identitätsfrage und seiner Theorie diskurspragmatisch, eingedenk der derzeitigen Lage der Theoriediskussion in ihrer Ambivalenz, anzunähern. Ich schlage hierzu eine neue Methode zur Ermittlung des Realitätscharakters von Identität vor, die ich als diskurspragmatische Projektion bezeichnen möchte. Wenn man sich die Debatte um den Begriff der Wirklichkeit als einen Diskurs imaginiert, der momentan scheinbar nur zwei Entscheidungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt – nämlich sie als polar objektiv-real oder polar subjektivkonstruiert zu sehen –, dann entsteht in der diskurspragmatischen Ausdifferenzierung der Möglichkeiten der Debattenlinie eine begriffliche Projektionssituation des Wirklichkeitsbegriffes, die sich durch folgendes einfaches Diagramm veranschaulichen lässt: A: Begriff der Wirklichkeit

B: Wirklichkeit als „Ding an sich“

 C: Wirklichkeit als „Konstruktion“

Abbildung 1: diskurspragmatische Projektion des Wirklichkeitsbegriffs; Grafik: Peter Pichler. 47

Vgl. Ebd; gerade zur Identitätsprogrammatik und -forschung kann der Beitrag als Ausgangspunkts dienen, den Veit-Michael Bader im Sinne eines „Kritischen Realismus“ bereits 2001 vorlegte: vgl. Veit-Michael Bader, Kultur und Identität: Essentialismus, Konstruktivismus oder Kritischer Realismus?; in: Claudia Rademacher, Peter Wiechens (Hgg.), Geschlecht – Ehtnizität – Klasse. Zur sozialen Konstruktion von Hierarchie und Differenz (Opladen 2001) 145–176.

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Denkt man diskurspragmatisch im Sinne der Möglichkeiten, Realität als „Ding an sich“ oder aber eben als „Konstruktion“ zu betrachten, ergibt sich bei einer integralen Betrachtung nicht nur ein exklusives „Abkanzeln“ der jeweils anderen Position, sondern ein projektives Dreieck, das folgendes anschaulich verdeutlicht: Die Debatte produziert keine binäre Opposition der Betrachtungsvarianten B (Wirklichkeit als „Ding an sich“) oder C (Wirklichkeit als „Konstruktion“), sondern ein Kontinuum einer spektralen ontologischen Möglichkeitsfläche – der diskurspragmatischen Projektionsfläche P, die sich als schraffierte Fläche zeigt. Es wird im Diskurs nicht nur wechselseitig ausschließend gesprochen, sondern es erfolgt ein Verorten im Spektrum, das sich als diese Projektionsfläche zeigt. Die Wirklichkeit ist daher keine binäre Entscheidung, sondern eine jeweilige Verortung, entsprechend der jeweiligen Begrifflichkeit der Theorie (Begriffe wie „Kultur“, „Diskurs“, „Gesellschaft“, „Politik“ oder eben auch der Terminus der „Identität“ usw.), die sich in den Fluss der Debatte der momentanen theoretischen Übergangszeit nach dem Cultural Turn einfügt. Wir haben daher auch die europäische Identität nicht fixierend als „Ding an sich“ oder als „diskursive Konstruktion“ zu definieren, sondern diskurspragmatisch als Sprachhandlung der Geschichtswissenschaft im Paradigmenübergang, bezugnehmend auf den Ersten Weltkrieg, zu verorten. D. h. wenn sich heute die EU auf die Geschichte des Ersten Weltkrieges bezieht, ist es weder der Fall, dass sie ihre Identität als „historisch objektive“ Wahrheit festschreibt, noch, dass sie lediglich eine „Konstruktion“, ganz nach Belieben ihrer Zeit und Diskurse hervorbringt. Emanzipativ sowie kritisch betrachtet und an der Diskurspragmatik der Geschichte sei dem Dokument über die europäische Identität aus dem Jahre 1973 orientiert, ist der erste Weltkrieg ein Element auf der schraffierten Fläche P. Der Erste Weltkrieg, begonnen im Jahre 1914, zu Ende gegangen im Jahre 1918, ist Füllmaterial des historischen Raums, den sowohl Europa, die EU, als auch ihre Mitgliedsstaaten als historische Körper mit vielen Diskursen füllen. Europäische Identität, entworfen mit Bezug auf den Ersten Weltkrieg, ist daher weder ein empirisch-realistisch-objektives „Lernen aus der Geschichte“, das lediglich vorzufindende Wahrheiten als Wirklichkeiten „entdeckt“48, noch eine rein kulturrelativ-diskursiv-konstruktive Beliebigkeit, die nur nach der besseren Geschichte im Kampf der Meinungen schielt49. Sie ist ein Sich-Ein Hierzu aus dem jüngeren Diskurs vor allem: Doris Gerber, Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung (Berlin 2012). 49 Hierzu klassisch: Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa (Frankfurt / Main 1991); in einer narrativistischen Mittelstellung siehe auch: Jörn Rüsen, Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft (Wien 2013). 48

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fügen in höchst komplexe Gegebenheiten der Bezugnahme auf die Geschichte, die mit dem Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918 einen Geschichtsraum füllt, der auch aus ihm historisch erwächst, da er ebenso in Europa seinen Ursprung hatte. Europäische Identität mit Bezug auf den Ersten Weltkrieg besteht daher vor allem in einem Überlappen der historischen Räume der Europa-Begrifflichkeiten: Europäisch-Sein bedeutet hier daher, sich im Kontinuum des Raums, der durch diese Schnittflächen und Konvergenzen aller Diskurse der Projektionsfläche P entsteht, zu verorten. Europäisch ist sowohl, wer und was sich im Raum des Ersten Weltkrieges im Europa von 1914 bis 1918 befand (also auch noch die Kolonialsituation Europas50), als auch die Bürgerinnen und Bürger der EU sowie die übrigen Europäerinnen und Europäer im Jahre 2017 (die sich jedoch in Bezug auf die EU kulturell verorten). Europäisch-Sein im Gedenken des Ersten Weltkrieges bedeutet daher, die kollektive europäische Identität der EU als Friedensraum Europas in den ehemaligen Kriegsraum Europas einzuschreiben – eine Tätigkeit, die mich sehr stark an die Produktion eines antiken oder mittelalterlichen Palimpsests als kulturelle Handlung erinnert51. Es geht um das Motiv und Wechselspiel von Krieg und Frieden. Wie ist daher aus dieser neuen Perspektive der diskurspragmatischen Projektion der Begrifflichkeiten von Wirklichkeit und Identität die Inanspruchnahme der Geschichte des Ersten Weltkrieges seit 2014 durch die EU zu sehen?

4. Krieg und Frieden als „paradoxe Kohärenz“: Wirklichkeit in der Geschichts-, Gedächtnis- und Identitätspolitik der Europäischen Union mit Bezug auf den Ersten Weltkrieg Betrachtet man somit die Bezugnahme der EU auf den Ersten Weltkrieg, weiter oben paradigmatisch und quellenhaft dargestellt an der zitierten Rede Angela Merkels im deutschen Bundestag – also einer Rede vor „nationalem“ Publikum mit gleichsam Europäischer Intention –, wird augenscheinlich, dass es bei der 50

Siehe einführend zum Kolonialismus und seiner Kritik: Benedikt Stuchtey, Die europäische Expansion und ihre Feinde. Kolonialismuskritik vom 18. bis in das 20. Jahrhundert (München 2010). 51 Zur Diskussion der Kategorie des „Raums“ siehe: Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hgg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften (Bielefeld 2008); sowie: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hgg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften (Frankfurt/Main 2006); aufschlussreich zur Metapher des „Palimpsests“ siehe: Roland Kany, Palimpsest. Konjunkturen einer Edelmetapher; in: Jörg Danneberg (Hg.), Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte (Wiesbaden 2009) 177–204.

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EU als kollektiver Agentur, als historischem Subjekt, das immer stärker für ganz Europa steht, nicht darum gehen kann, „objektiv aus der Geschichte zu lernen“. Was daher Angela Merkel in ihrer Rede formuliert hat („Was haben wir denn nun aus der Geschichte gelernt?“) setzt eine epistemische Prämisse voraus, nämlich jene eines realistischen Objektivismus, die nicht auf der Höhe der Zeit ist, daher aus geschichtswissenschaftlicher Sicht abzulehnen ist. Die Geschichtswissenschaft sollte daher nicht diesem normativen Impetus folgen, der darin bestehen würde, eine geschichtswissenschaftliche Erzählung zum Ersten Weltkrieg in europäischer Perspektive zu fokussieren, die für sich Objektivität und Abgeschlossenheit beansprucht. Dies lässt sich als erste Schlussfolgerung aus der Methode der diskurspragmatischen Projektion folgern. Gleichsam ist es ebenso nicht möglich und daher abzulehnen, in einen „absoluten Relativismus“ zu verfallen, das Wissen, das die Geschichtswissenschaft mit Blick auf den Ersten Weltkrieg in europäischer Sicht liefern kann, als reine wissenschaftliche Subjektivität und „Geschmacksfrage“ abzutun, die zugleich auch jegliche politische Bezugnahme der EU auf den Ersten Weltkrieg als bloße Zweckmaßnahme abkanzelt. Ein solcher „totaler“ Subjektivismus negiert gleichsam das Wissenspotential, das – vor allem auch in kritischer und emanzipativer Hinsicht – in der Geschichtswissenschaft und ihrer Forschung zum Ersten Weltkrieg zu Tage tritt. Es ist daher ebenso nicht auf Höhe der Zeit und der momentanen theoretischen Übergangszeit nach dem Cultural Turn, einen reinen Kulturrelativismus, der jede Form Europäischer Identitätsbildung als bloße subjektive Meinung brandmarkt, ins Feld zu führen. Wir sollten uns viel eher in dem komplexen politischen und historischen Netzwerk von Europa zwischen 1914 und 1918 sowie Europa seit dem Jahre 1973 orientieren und positionieren, das den historischen Raum der europäischen Integration darstellt. Er besteht in einem solchen Projektionsraum, wie ich ihn oben als Projektionsfläche P in den Mittelpunkt gestellt habe (siehe Abbildung 1). Wenn man daher die Frage beantworten will, wie die geschichts-, gedächtnis- und identitätspolitische Bezugnahme der EU auf den Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkrieges in den Jahren 2014 /15 aus diskurspragmatischhistorischer und emanzipativer sowie kritischer Sicht der Geschichtswissenschaft zu sehen ist, dann müssen wir zuallererst darauf Rücksicht nehmen, dass wir weder eine vollkommen objektive noch eine vollkommen kulturrelative Antwort formulieren können. Es geht weder darum, die universelle Antwort auf diese Frage zu entdecken, noch die Frage selbst als rein ideologisch motiviert zurückzuweisen. Die Europäische Union braucht und gebraucht daher in ihrer Geschichts-, Gedächtnis- und Identitätspolitik den Ersten Weltkrieg, um eine Form der geschichtlichen Realität zu schaffen, die sich in dem Spektrum

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bewegt, dass ich weiter oben als Projektionsfläche P zu skizzieren versucht habe. Sie füllt den Raum, der in unserer europäischen und globalen Netzwerkkultur nach dem Cultural Turn für den Ersten Weltkrieg als Geschichte zur Verfügung steht, in einer Form, die weder das eine noch das andere Extrem ist; wir brauchen daher eine neue Methode der Kategorisierung der Wirklichkeitsform, die diese Diskurse hervorbringen. Sie finden gleichsam wirklichkeitstheoretisch „zwischen den Stühlen“ statt und machen es daher so schwierig, diese Politik wissenschaftlich zu fassen. Der aktuelle Forschungsbedarf besteht daher weniger darin, den Diskurs der EU zum Ersten Weltkrieg in den Jahren 2014/15 in die binären Kategorien von Objektivität und Konstruktion einzupassen; sondern darin, einen neuen Begriff, hergeleitet aus der Methode der diskurspragmatischen Projektion des Wirklichkeitsbegriffes zu formulieren, der dem Charakter der Spektralität und der diskursiven Raumhaftigkeit der Geschichtswissenschaft als wissenschaftlicher Debatte angemessen ist – einer Debatte, die durch Objektivität und Subjektivität zugleich geprägt ist. Ich schlage daher vor, diesen Charakter von Identität als Wirklichkeit der Geschichte „zwischen den Stühlen“ als eine Form von Wirklichkeit zu fassen, die am ehesten als „paradoxe Kohärenz“ verstanden werden kann: Da die Wirklichkeit der Identität der EU in Bezug auf den Ersten Weltkrieg vor allem darin besteht, den Friedensraum EU in den ehemaligen Kriegsraum Europas einzuschreiben, folgt die Kohärenz der politischen Aussage – ihre Folgerichtigkeit für die Identifikation mit der EU – gerade daraus, dass sie das Paradoxe zur Identität macht. Europa „ist“ heute Frieden, zugleich ist die Vergangenheit des „totalen Krieges“ von 1914 bis 1918 in genau jenem Europa als eine vergangene Zeitschicht und Erzählung ebenso noch gegenwärtig52 – nämlich gegenwärtig als Aussage der Politik heute, die sich vom Krieg abhebt. Daher braucht und gebraucht die EU den Ersten Weltkrieg zugleich in der vollen Breite dieser „paradoxen Kohärenz“: Sie braucht ihn geschichtlich, da der Raum, in dem sie ist, noch durch den Ersten Weltkrieg historisch produziert wurde. Sie braucht ihn daher als Notwendigkeit, um überhaupt sein zu können. Zugleich gebraucht sie ihn ebenso notwendig, da er die Erzählung als Antithese zur Verfügung stellt, der das Sein der Union als Friedensunion ermöglicht. Daher sind Brauchen und Gebrauchen des Ersten Weltkrieges durch die Europäischen Union nicht entgegensetzt, sondern zwei Züge einer Form der europäischen Identität, die man als „paradoxe Kohärenz“ der geschichtlichen Wirklichkeit verstehen kann.

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Zum Begriff der Zeitschicht siehe: Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studie zur Historik (Frankfurt/Main 2000).

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Der Große Vergessene Krieg: der Erste Weltkrieg in modernen russischen Schulbüchern 1. Einleitung In Russland gilt der Erste Weltkrieg als ein „vergessener Krieg“. Dafür gibt es mehrere Ursachen: Nach der Oktoberrevolution 1917 wollte die neue bolschewistische Regierung den „nutzlosen“ „imperialistischen“ Krieg, etwas später auch den schmählichen Brester Frieden, so schnell wie möglich vergessen. In der zweiten Jahrhunderthälfte geriet der Erste Weltkrieg in den Schatten des Zweiten Weltkrieges – oder, wie dieser in Russland genannt wird, des „Großen Vaterländischen Krieges“. Die Oktoberrevolution und der Große Vaterländische Krieg blieben bis 1991 im Kontext sowohl der historischen Forschung als auch des Schul- und Hochschulunterrichts zentrale Ereignisse der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zum Thema Erster Weltkrieg gab es jedoch nur relativ wenige Studien. Nach dem Zerfall der Sowjetunion lebte das Interesse an den militärischen Aktivitäten der russischen Armee im Ersten Weltkrieg wieder auf – wenn auch beschränkt. In der breiten Öffentlichkeit ist die Geschichte der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bis heute wenig bekannt. Zur gleichen Zeit wurde jedoch die Russische Revolution des Jahres 1917, eigentlich ein Ereignis aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, in Russland sehr breit und kontrovers diskutiert. Die Frage, ob diese Revolution positiv oder negativ bewertet werden könne, ist auch heute politisch aktuell. Es ist aber unmöglich, diese Frage zu beantworten, ohne sich mit dem Thema „Russland vor und während des Ersten Weltkrieges“ auseinanderzusetzen. Es entsteht eine paradoxe Situation: Der vergessene Große Krieg ist gleichzeitig ein politisch sehr heikles Thema. Um die Frage nach dem Umgang mit diesem Thema im heutigen Russland zu beantworten, werden wir aktuell eingesetzte Schulbücher untersuchen. Dieses Lehrmaterial gibt wie kein anderes Auskunft über die Interpretation dieses historischen Ereignisses. Ist in den russischen Schulbüchern ein einheitliches Konzept oder wenigstens eine weitgehende Übereinstimmung bezüglich des Ersten Weltkrieges auszumachen? Welche Aspekte des Krieges werden hervorgehoben? Welche

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Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg sind beschrieben? Welche verschiedenen Ansichten gibt es und wie werden diese behandelt? Welchen Einfluss übt die staatliche Geschichtspolitik auf das Bild des Ersten Weltkrieges in den neuesten Schulbüchern aus? Um diese Fragen zu beantworten, studierten wir eine große Anzahl aktueller Geschichtsbücher. Im Rahmen unserer Forschung wurden insgesamt 31 Schulbücher untersucht, die in den Jahren 1995 bis 2014 veröffentlicht wurden. Eine abgesonderte, höchst interessante Quelle ist das „Konzept des neuen Unterrichtkomplexes für Vaterlands-Geschichte“ von 2013, das im Auftrag der Regierung als einheitliche Grundlage für alle neuen Schulbücher erstellt wurde1. Diese Quelle gibt uns auch den Einblick in die moderne russische Geschichtspolitik. Zwei einführende Bemerkungen müssen dabei gemacht werden: Die erste gilt der Struktur des Geschichtsunterrichts in der modernen russischen Schule. In Russland dauert die Schulbildung zehn Jahre, dabei sind die ersten acht (1. bis 9. Klasse) obligatorisch. Der Geschichtsunterricht wird in der 5. Klasse begonnen. Im Laufe von fünf Jahren (5. bis 9. Klasse) studieren die Schulkinder parallel die russische und die allgemeine Geschichte (Weltgeschichte) von den Anfängen der Menschheit bis zu ihrer jüngsten Vergangenheit. Im Rahmen der Oberstufe (10. bis 11. Klasse) wird der gesamte Stoff nochmals wiederholt. So wird der Erste Weltkrieg formell viermal studiert: zweimal im Kontext der Weltgeschichte und zweimal im Kontext der russischen Geschichte. In der Realität gibt es oft recht starke Abweichungen von diesem Lehrplan, die von den Lehrerinnen und Lehrern auf eigene Faust vorgenommen werden, um unnötige Wiederholungen zu meiden. Die zweite Bemerkung betrifft die russische Geschichtspolitik. Während der Sowjetzeit wurde alles, was zum Thema Geschichte veröffentlicht wurde, streng kontrolliert bzw. zensiert. Die Lehrbücher für Geschichte waren unifiziert, ihr Inhalt wurde eingehend geprüft und war von der staatlichen (sowjetischen) Ideologie durchdrungen. Nach der Wende wurde das andere Extrem praktiziert: Eine Anzahl verschiedener Lehrbücher wurde veröffentlicht, jede Schule entschied selbst, welches Lehrbuch sie beschaffen wird. Der jeweilige Inhalt wurde formell vom Bildungsministerium überprüft, tatsächlich aber von niemandem ernsthaft kontrolliert. Die Zahl der Schulbücher stieg rasch, ein buntes Mosaik auf dem Buchmarkt war die Folge dieser Entwicklung. Zum 1

Konzepzija nowogo utschebno-metoditscheskogo kompleksa po otechestwennoj istorii [Konzept des neuen Unterrichtkomplexes für Vaterlands-Geschichte]. Rossijskoje istoritscheskoje obschtschestwo. 31.10.2013, http://rushistory.org/?page_id=1800, [5. März 2015].

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Beispiel wurden 1995 von einem Verlag zwei verschiedene Lehrbücher für russische Geschichte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht – beide waren für die 11. Klasse vorgesehen2. In den letzten zehn Jahren wurde die Geschichtspolitik in Russland jedoch seitens des Staates wieder aktiv betrieben. Das Thema „patriotische Erziehung/ Bildung“ genießt heute eine hohe Priorität. Natürlich wurde auch der Bereich des Schulunterrichts davon beeinflusst. Im Juni 2007 sprach der russische Präsident Wladimir Putin während eines Treffens mit Lehrerinnen und Lehrern von der Notwendigkeit neuer patriotischer Schulbücher für Geschichte3. Ein solches Schulbuch für die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts wurde bald danach vom Autorenkollektiv unter Leitung von Alexandr Filippow und Alexandr Danilow verfasst4. Trotz hoher Auflage genießt er jedoch keine Monopolstellung auf dem Markt. Den zweiten Versuch, Inhalte des Schulunterrichts staatlich zu beeinflussen, bildete das Projekt „einheitliches Schulbuch für Geschichte“. Die Idee wurde zum ersten Mal im Februar 2013 von Wladimir Putin vorgestellt5. Geplant war, das Lehrbuch bis zum Beginn des Schuljahres 2014 / 2015 zu veröffentlichen. Jedoch wurde das Projekt eines einzigen „kanonischen“ Schulbuchs aufgegeben – zu Gunsten einer eher durchführbaren Idee des einheitlichen Konzepts und der begrenzten Anzahl eingesetzter Schulbücher. Im Sommer 2013 wurde diese angedachte, erweiterte Ausgestaltung des Geschichtsunterrichts der Öffentlichkeit zur Diskussion vorgestellt. Es kam zu einer heftigen und kontroversen Debatte, die bis in den Herbst dauerte. Das „Konzept des neuen Unterrichtkomplexes für Vaterlands-Geschichte“ wurde am 30. Oktober 2013 endgültig verabschiedet und soll als Grundlage für neue Geschichtsbücher dienen.

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Wladimir Dmitrenko, Wladimir Schestakow, Wladimir Esakow, Istorija Otechestwa [Geschichte des Vaterlandes]. Für die 11. Klasse (Moskau 1995); Walerij Ostrowskij, Anatolij Utkin, Istorija Rossii. XX wek [Russische Geschichte. XX. Jahrhundert]. Für die 11. Klasse (Moskau 1995). 3 Stenografitscheskij ottschet o wstretsche s delegatami Wserossijskoj konferenzii prepodawatelej gumanitarnych i estestwennychnauk [Stenogramm des Treffens mit den Delegierten der Allrussischen Konferenz der Lehrer für geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Fächer]. President Rossii. 21. Juni 2007, http://kremlin.ru/events/ president/transcripts/24359, [15. September 2015]. 4 Aleksandr Danilow, Aleksandr Filippow (Hgg.), Istorija Rossii 1900–1945 [Russische Geschichte 1900–1945]. Für die 11. Klasse. (Moskau 2009). 5 Konferenzija Obschtscherossijskogo Narodnogo Fronta [Konferenz der Allrussischen Volksfront]. President Rossii, 29. März 2013, http://www.kremlin.ru/transcripts/17767, [5. März 2015].

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2. Ausgangspunkt: Schulbücher der Sowjetzeit Wir werden vieles in modernen russischen Schulbüchern kaum verstehen, wenn wir unseren Blick nicht zuerst auf ihre Vorgänger, die Lehrbücher der Sowjetzeit, werfen. Hier ist notwendigerweise die wichtige Frage zu stellen, ob es zwischen den Geschichtsbüchern vor und nach der Wende klar erkennbare Kontinuitäten gibt. Wie bereits oben erwähnt, war der Inhalt der Schulbücher während der Sowjetzeit weitgehend unifiziert. Daher war es nicht nötig, viele einzelne Veröffentlichungen zu untersuchen. Im Rahmen dieses Abschnitts werden das Schulbuch für Weltgeschichte der Neuzeit (Autorenkollektiv unter Leitung von Wladimir Hwostow, 1976)6 und das Schulbuch für russische Geschichte (Ilja Berchin, Iwan Fedossow, 1982)7 untersucht. Anhand der eingehenden Analyse beider Geschichtsbücher können wir zum Thema Erster Weltkrieg Folgendes feststellen: 1. In beiden Lehrbüchern galt das Jahr 1917 (Oktoberrevolution in Russland) als Grenze zwischen den Epochen sowohl der russischen als auch der Weltgeschichte. Hierdurch wurde der Zeitraum, in dem der Erste Weltkrieg stattfand, in zwei Teile gespalten, verlor an Präsenz und geriet inhaltlich in den Hintergrund. Den revolutionären Ereignissen in Russland wurde viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den Kriegsereignissen. So wurden im HwostowLehrbuch dem Weltkrieg nur 15, der Revolution jedoch ganze 88 Seiten gewidmet. Auch im Schulbuch für Weltgeschichte wurden die Russische Revolution und ihre Auswirkungen auf andere Länder vorrangig behandelt. 2. Der Erste Weltkrieg wurde in den genannten Lehrmitteln als „imperialistisch“ bezeichnet, als ein Machtkampf zwischen rivalisierenden Großmächten, die expansionistische Ziele verfolgten und darum gemeinsame Schuld für den Ausbruch des Krieges tragen. Laut sowjetischen Schulbüchern war der Krieg „aggressiv und ungerecht von beiden Seiten“ (Russland nicht ausgenommen)8. Die Ursachen des Krieges seien komplexer Natur gewesen, zu ihnen zählten u. a. „imperialistische Widersprüche“, eine ungleichmäßige wirtschaftliche Entwicklung, Kampf um Kolonien und Wettrüsten. Es wurde dabei betont, dass der Weltkrieg eine unausbleibliche Folge der Entwicklung des Kapitalismus war. Wladimir Hwostow (Hg.), Nowaja istorija [Neuere Geschichte]. Für die 9. Klasse. (Moskau 1976). 7 Ilja Berchin, Iwan Fedossow, Istorija SSSR [Geschichte der UdSSR]. Für die 9. Klasse. (Moskau 1982). 8 Hwostow, Nowaja istorija 248. 6

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3. Beachtet wurden nicht nur die Kampfhandlungen, sondern auch die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der kriegsführenden Staaten. Drei Themen waren dabei besonders präsent: Militarisierung der Wirtschaft, Anstieg von Kriegsmüdigkeit und Not in den betroffenen Ländern, Verschärfung des Klassenkampfes. Dem letzten Thema wurde aus verständlichen Gründen viel Aufmerksamkeit geschenkt. Im Vordergrund stand die Tätigkeit der linken Sozialisten (Zimmerwalder Konferenz u.s.w.). 4. Merkwürdig ist die Haltung, welche die Verfasser der Lehrbücher zum Thema der interalliierten Beziehungen einnahmen. In beiden Lehrbüchern ist ein Gedanke offensichtlich, der sich wie ein roter Faden durch den gesamten Text zieht: Russland sei im Krieg von seinen westlichen Alliierten verraten und betrogen worden. Dieses „Narrativ des Alliierten Betruges“ („AB-Narrativ“, wie wir es weiter bezeichnen werden) umfasst folgende Thesen: – Nach dem Kriegsausbruch wurde Frankreich nur dank der russischen Offensive in Ostpreußen gerettet. So heißt es im Hwostow-Schulbuch: „Der Sieg der Entente-Armeen an der Marne fand nur dank der Erfolge der russischen Armeen im Osten statt.“9 – Im Sommer 1915, während der großen Offensive der Zentralmächte im Osten, hätten die westlichen Verbündeten Russland im Stich gelassen. „Englische und französische Führung haben wieder nichts gemacht, um Russland zu helfen.“10 Sie verhielten sich an der Westfront bewusst passiv, um das englische und französische Blut auf Kosten russischer Soldaten zu sparen. – Im Sommer 1916 habe Russland wieder einmal seine westlichen Verbündeten gerettet, indem es die Brussilow-Offensive startete. Als Folge dieser Offensive seien die Deutschen genötigt gewesen, ihren Vorstoß bei Verdun „entscheidend zu schwächen“11. Die Brussilow-Offensive wurde in Schulbüchern als ein neues Wort in der Kriegskunst bezeichnet. Dieses „AB-Narrativ“ habe letzten Endes einem Ziel gedient: der Leserin und dem Leser zu zeigen, dass Russland von den Verbündeten betrogen wurde und darum das gute Recht gehabt hätte, seinerseits Separatfrieden zu schließen. 5. Der Friede in Brest-Litowsk wurde als eine Notlösung bezeichnet. Es wurde betont, dass diese keine Alternative hatte und darum „einen weisen und weitsichtigen Schritt der Sowjetregierung“12 darstellte. Hwostow, Nowaja istorija 254. Hwostow, Nowaja istorija 258. 11 Hwostow, Nowaja istorija 261. 12 Berchin, Fedossow, Istorija SSSR 184. 9

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Ergebnisse des Ersten Weltkrieges schildernd, betonten die Verfasserinnen und Verfasser der sowjetischen Schulbücher in erster Linie die unzähligen Opfer und Zerstörungen, die der Krieg den Völkern Europas brachte. Ein Schulkind sollte den Eindruck bekommen, dass die Imperialisten eine große Katastrophe verursacht hatten und nur die Bolschewiken Russland vor noch größeren Verlusten retteten. Zur Rolle Russlands im Krieg gibt es im Text der Schulbücher gewisse Widersprüche. Einerseits wird das Zarenreich als eine imperialistische Macht bezeichnet, die zur Entfesselung des Krieges beitrug und darum für Opfer und Leiden mitverantwortlich war. Andererseits aber macht sich eine Heroisierung Russlands bemerkbar („AB-Narrativ“). Dieser Widerspruch lässt sich leicht erklären: Die staatliche marxistische Ideologie setzte die Definition des Zarenreiches als eine imperialistische Regierung voraus. Ein System, das von den Vätern der Oktoberrevolution 1917 und der Sowjetmacht bekämpft wurde, musste negativ beurteilt werden. Die parallel existierende antiwestliche „patriotische“ Ideologie stellte dem konstant „tückischen“ Westen das konstant „aufrichtige“ Russland gegenüber, zeichnete also ein in bestimmter Hinsicht positives Bild des Zarenreiches. Diese These war auch zur Zeit des Kalten Krieges propagandistisch sehr gefragt. Die beiden ideologischen Linien existierten recht problemlos nebeneinander. Im Großen und Ganzen wurde der Erste Weltkrieg in sowjetischen Schulbüchern als eine tiefgreifende Krise des kapitalistischen Systems dargestellt, welche die Vorbedingungen für den Übergang zum „Zeitalter des Sozialismus“ schuf.

3. Nach der Wende: neue Lehrbücher – alte Motive? In den ersten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion waren die Schulbibliotheken noch überwiegend mit den alten sowjetischen Lehrbüchern ausgestattet. Erst ab Mitte der 1990er Jahre wurden sie weitgehend durch neue Lehrbücher verdrängt. In den meisten Fällen waren die Verfasserinnen und Verfasser gleichzeitig Vertreterinnen und Vertreter der ehemaligen sowjetischen Bildungselite, ins Russische übersetzte ausländische Schulbücher gab es kaum. Wie bereits erwähnt, entstanden zu dieser Zeit Dutzende miteinander konkurrierende Lehrbücher. Zum Thema Erster Weltkrieg finden wir in diesen Texten sehr unterschiedliche Konzepte. Die Ursachen des Konflikts, die Rolle des Russischen Reiches im Ersten Weltkrieg, die Chancen für Russland, den Krieg zu gewinnen, und die Bedeutung des Brester Friedens wurden oft grundverschieden behandelt.

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Beispielsweise meinten Wladimir Dmitrenko, Wladimir Schestakow und Wladimir Esakow in ihrem Lehrbuch für die russische Geschichte (11. Klasse), dass die Bolschewiken „viele vom Lande für den Sieg gemachten Opfer und den Heroismus der Soldaten und Offiziere durchkreuzten“ sowie „Russlands Vergangenheit und Gegenwart preisgaben“13. Die Verfasser des Schulbuches betonten zudem den separaten Charakter des Brester Friedensvertrages und nannten ihn als Grund des Bürgerkrieges und der internationalen Isolierung Russlands. Im gleichzeitig veröffentlichten Geschichtsbuch von Walerij Ostrowskij und Anatolij Utkin (auch vorgesehen für die russische Geschichte der 11. Klasse) wurde der Brester Friede neutral behandelt und als Produkt der objektiven Notwendigkeit bezeichnet14. Im Großen und Ganzen kann man zwei Hauptlinien hinsichtlich der Behandlung des Ersten Weltkrieges zu dieser Zeit herausstellen: eine „neutrale“ und eine „patriotische“. Kennzeichnend für „patriotische“ Konzepte ist die Betonung der herausragenden Rolle Russlands im Krieg. Laut Verfasserinnen und Verfasser hat Russland „durch Aufwand von Millionen Menschenleben den Endsieg der Alliierten gewährleistet“15, russische Armeen hätten zudem „mehrere Male die Westalliierten vor Niederlagen gerettet“16. Russland wurde häufig als unschuldiges Opfer der Aggression bezeichnet, der Erste Weltkrieg als der „Zweite Vaterländische Krieg“ hochstilisiert. In solchen Lehrbüchern existierte auch die oben beschriebene „AB-Narrative“ weiter. Vertreterinnen und Vertreter der neutralen Richtung zogen es vor, jegliche Interpretationen zu vermeiden und nur Fakten wiederzugeben. Als markantes Beispiel kann hier das Schulbuch für „Neueste Geschichte“ von Aleksandr Kreder genannt werden17. Hierzu muss betont werden, dass es keine klare Grenze zwischen beiden Richtungen gab und Übergänge oft fließend waren. Wie oben erwähnt, war die Kontrolle seitens des Bildungsministeriums eher formell und die hauptsächlichen Einflussfaktoren waren die persönlichen Anschauungen der Verfasserinnen und Verfasser. Jedoch können auch bestimmte allgemeine Tendenzen, die in allen Lehrbüchern dieser Zeit präsent sind, herausgearbeitet werden:

Dmitrenko, Schestakow, Esakow, Istorija Otechestwa 117. Walerij Ostrowskij, Anatolij Utkin, Istorija Rossii XX wek 152 ff. 15 Ostrowskij, Utkin, Istorija Rossii XX wek 155. 16 Aleksandr Danilow, Ljudmila Kossulina, Istorija Rossii. XX wek [Russische Geschichte. XX. Jahrhundert]. Für die 9. Klasse (Moskau 1995) 59. 17 Aleksandr Kreder, Noweischaja istorija. XX wek [Neueste Geschichte. XX. Jahrhundert] (Moskau 1996). 13 14

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– Die früher tonangebende Sowjetideologie verschwand aus den Lehrbüchern ganz und hinterließ nahezu keine Spuren. Bei manchen Autoren waren wohl bestimmte Sympathien zu den Bolschewiken erkennbar. Nirgends wurden jedoch die Arbeiterbewegung und der Klassenkampf während des Krieges auch nur annähernd so umfangreich beleuchtet wie in den Geschichts büchern der Sowjetzeit. Niemand sprach mehr vom Gegensatz zwischen den Interessen der „Imperialisten“ und der „Volksmassen“, was zu Sowjetzeit als Binsenwahrheit galt. Die entsprechende marxistische Terminologie wurde nicht mehr verwendet. – Nach wie vor wurde jedoch dem Ersten Weltkrieg nicht viel Raum in den Lehrbüchern geschenkt. So lässt sich feststellen, dass der Erste Weltkrieg nach wie vor im Schatten der Revolution 1917 und des Zweiten Weltkrieges blieb. Sehr bemerkenswert ist hier das Beispiel eines Lehrbuches für rus sische Geschichte, in dem das Kapitel zum Thema Erster Weltkrieg den Titel „Auf dem Weg zum Jahr 1917“ trägt18. – Immer mehr Aufmerksamkeit wurde den Kampfhandlungen (besonders in den Lehrbüchern für Weltgeschichte) und immer weniger der inneren Entwicklung der kriegsführenden Staaten geschenkt. Als Scheitelpunkt kann hier das Geschichtsbuch von Aleksandr Schubin für die 9. Klasse betrachtet werden. Darin sind dem Ersten Weltkrieg insgesamt zehn Seiten gewidmet, davon wurden die nicht zu den Kampfhandlungen gehörenden Aspekte des Krieges in 19 Zeilen thematisiert. Von diesen 19 Zeilen sind wiederum acht der Person Mata Hari gewidmet19. Dies kann dadurch erklärt werden, dass die früher so verbreiteten Themen des Klassenkampfes gestrichen, aber durch keine neuen Inhalte ersetzt wurden. – Die Bedeutung und Ergebnisse des Ersten Weltkrieges wurden in den meisten Lehrbüchern auch ähnlich behandelt: Der Krieg war in erster Linie als eine Katastrophe, eine tiefe Krise dargestellt – wohl nicht des Kapitalismus, aber der existierenden Zivilisation. Aus dem oben Genannten wird ersichtlich, dass die neue Generation an Schulbüchern wohl prinzipiell frei von der Sowjetideologie war, dennoch zeigte sich eine gewisse Kontinuität zu den sowjetischen Lehrbüchern. Am Anfang des 21. Jahrhunderts versuchte das Bildungsministerium etwas Ordnung zu schaffen und die ausufernde Zahl an Schulbüchern zu begrenzen. Es wurde eine „Liste empfohlener Lehrbücher“ veröffentlicht, die auch heute genutzt wird und nach wie vor sehr viele Titel enthält. So bleibt der Schulbuch18 19

Danilow, Kossulina, Istorija Rossii. XX wek 69 ff. Aleksandr Schubin, Nowejschaja istorija sarubeshnych stran [Neueste Geschichte des Auslands]. Für die 9. Klasse (Moskau 2000) 15 ff.

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markt im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts pluralistisch geprägt. Werden jedoch neueste, in den letzten fünf Jahren herausgegebene Geschichtsbücher untersucht, können einige interessante Tendenzen festgestellt werden: Es fällt zuerst auf, dass sich die Lehrbücher für die 9. und 11. Klasse (also für die mittlere und obere Stufe) kaum voneinander unterscheiden. Zugleich gibt es weitreichende Unterschiede zwischen den Schulbüchern für russische und allgemeine Geschichte. Bemerkenswert ist, dass diese beiden Zweige hinsichtlich der Lehrmaterialien kein einheitliches System bilden. Zum Beispiel beziehen sich die Verfasserinnen und Verfasser der Lehrbücher für russische Geschichte fast nie auf die Kenntnisse, die die Schulkinder im Rahmen des Weltgeschichteunterrichts erwarben – oder umgekehrt. Jedes Lehrbuch ist durchaus autonom. In den Schulbüchern für russische Geschichte neigen die Verfasserinnen und Verfasser nach wie vor dazu, den Ersten Weltkrieg als Vorspiel zur Revolution zu behandeln. In Lehrbüchern für Weltgeschichte wird der Krieg jedoch eingehender beleuchtet. Die Texte zum Ersten und zum Zweiten Weltkrieg stehen hinsichtlich ihres Umfanges in den Lehrbüchern für russische Geschichte im Verhältnis 1 zu 5-6, in Lehrbüchern für allgemeine Geschichte im Verhältnis 1 zu 2-3. Außerdem existiert in Lehrbüchern für Weltgeschichte viel seltener das „AB-Narrativ“ – und wenn es im Text doch ein solches gibt, dann in meisten Fällen in wesentlich abgeschwächter Form. Was die neuesten Lehrbücher für russische Geschichte betrifft, so können wir dieses Narrativ fast überall entdecken. Es wird zum Beispiel behauptet, dass 1914 die russische Offensive „Frankreich vor einer Niederlage rettete“ und 1915 der deutsche Vorstoß nur dank der „Untätigkeit der Verbündeten Russlands“ geglückt sei20. Die Brussilow-Offensive wird weiterhin als eines der kriegsentscheidenden Ereignisse und als eine wichtige Neuerung in der Kriegskunst gepriesen. In Schulbüchern für russische Geschichte werden auch noch immer das Heldentum russischer Soldaten und der patriotische Aufschwung betont. Andererseits findet man in neuesten Lehrbüchern kaum noch Versuche, Russland als ein unschuldiges Opfer der deutschen Aggression darzustellen. Zum Konsenspunkt wurde wieder die These einer gemeinsamen Schuld der Großmächte für den Ausbruch des Krieges, Russland nicht ausgenommen: „Die Zarenregierung, wie alle Teilnehmer des Krieges, handelte eigennützig.“21 Übrigens wird immer seltener von „Schuld“ oder „Verantwortung“ gesprochen 20

Aleksandr Danilow, Aleksandr Filippow (Hgg.), Istorija Rossii 1900 –1945 [Russische Geschichte 1900–1945]. Für die 11. Klasse (Moskau 2012) 95. 21 Oleg Wolobuew, Michail Ponomarjow, Wassilij Rogoshkin, Wseobschtschaja istorija [Allgemeine Geschichte]. Für die 11. Klasse (Moskau 2014) 24.

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und immer mehr von Ursachen des Konflikts. Diese Ursachen werden in den meisten Lehrbüchern komplex dargestellt, im Vordergrund aber steht in den meisten Fällen die politische Entwicklung. Mehrheitlich werden in den neuesten Schulbüchern auch die Politik der bolschewistischen Regierung und der Brester Frieden relativ neutral behandelt. Emotional gefärbte Einschätzungen, wie sie vormals üblich waren, weichen von den sachlichen und objektiven Schilderungen ab. Die Verfasserinnen und Verfasser weigern sich, ihre Sympathien zu Anhängern oder Gegnern der Russischen Revolution an den Tag zu legen, was vor 20 Jahren noch relativ üblich war. In den meisten Schulbüchern (besonders für Weltgeschichte) hat die Beschreibung der Kampfhandlungen immer noch Vorrang vor allen anderen Themen. Zu den letzteren zählen in erster Linie die Organisation der Kriegswirtschaft und die zunehmende Kriegsmüdigkeit – Fragen, die noch in den sowjetischen Lehrbüchern in erster Linie behandelt wurden. Die einzige Ausnahme bildet das Schulbuch für die 9. Klasse von Ewgenij Sergeew22, in dem gemäß dem neuesten Stand der Geschichtsforschung gerade wirtschaftliche, innenpolitische, soziale, kulturelle etc. Prozesse vorrangig thematisiert werden. Im selben Lehrbuch wird dem Ersten Weltkrieg ein ebenso wichtiger Stellenwert eingeräumt wie dem Zweiten. Es lässt sich dadurch erklären, dass der Verfasser selbst ein prominenter Forscher ist, der sich intensiv mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt und damit sehr umfassende und differenzierte Kenntnisse zu diesem Ereignis besitzt. Eine gewisse Kontinuität zu den Lehrbüchern der Sowjetzeit zeigt sich nach wie vor in Bezug auf die Schilderung der Konsequenzen des Ersten Weltkrieges. In erster Linie wird in allen untersuchten Materialien betont, dass der Krieg unzählige Opfer und Zerstörungen brachte. Weiter existiert auch die These von der „Krise der Zivilisation“.

4. Das einheitliche Konzept des Geschichtsbuches – ein vorgeschriebener Konsens? Das im Herbst 2013 in seiner (vorläufig) endgültigen Fassung veröffentlichte „Konzept des neuen Unterrichtkomplexes für Vaterlands-Geschichte“ erklärt, dass die Notwendigkeit eines neuen Lehrbuches „in erster Linie durch die Entwicklung der Geschichtswissenschaft“ gegeben ist23. Dabei wird besonderer Wert auf die Einbettung der russischen Historie in die Weltgeschichte und die 22

Ewgenij Sergeew, Wseobschtschaja istorija. Nowejschaja istorija [Allgemeine Geschichte. Neueste Geschichte]. Für die 9. Klasse (Moskau 2011). 23 Konzepzija nowogo utschebno-metoditscheskogo kompleksa 2.

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Kontinuität der Entwicklung des russischen Staates und der russischen Kultur gelegt. Die Verfasser betonen ausdrücklich „die Meinungs- und Beurteilungspluralität“24. Dabei wird in der Einleitung zum Konzept die sogenannte „patriotische Erziehung“ mehrere Male als eine der Hauptaufgaben des Geschichtsunterrichts erwähnt: Die „[p]atriotische Grundlage der Geschichtserzählung muss bei den Jugendlichen den Stolz für ihr Land, das Verständnis seiner Rolle in der Weltgeschichte wachsen lassen. […] Im Schulunterricht sollen das schöpferische Pathos und die positive Einstellung dominieren. Trotzdem sollen die Schüler nicht den Eindruck bekommen, russische Geschichte sei eine ununterbrochene Aneinanderreihung von Triumphen, Erfolgen und Siegen“25. Den Hauptteil des Dokuments (etwa 85 Prozent des Umfangs) bildet der Historisch-Kulturelle Standard (HKS). Das ist eine kurze Inhaltsübersicht des Schulkurses für russische Geschichte. HKS stellt im Großen und Ganzen eine Fakten- und Datenaufzählung dar; die Werteurteile werden von den Verfasserinnen und Verfasser meist vermieden (wahrscheinlich absichtlich). Dennoch kann man aus dem Text einige Schlussfolgerungen ziehen. Der Erste Weltkrieg wird im Kapitel „Russland zur Zeit großer Erschütterungen“ behandelt, das die Zeit von 1914 bis 1921 umfasst26. So wird der Revolution von 1917 ihre ehemalige Grenzstellung genommen (es wird betont, dass „der Erste Weltkrieg als Epochengrenze gilt“27). Der Abschnitt „Russland im Ersten Weltkrieg“ umfasst nur eine halbe Seite. Zum Vergleich: dem Zweiten Weltkrieg wird im HKS ein ganzes Kapitel (6 Seiten) gewidmet. Offensichtlich bleibt der Erste Weltkrieg auch weiterhin im Schatten anderer großer Ereignisse der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Abschnitt „Russland im Ersten Weltkrieg“ besteht aus zwei Absätzen. Im ersten werden die Kampfhandlungen erörtert, im zweiten die innenpolitische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung. Dabei wird den Kriegsereignissen weniger Aufmerksamkeit geschenkt als der inneren Entwicklung Russlands. Im ersten Absatz wird die Brussilow-Offensive hervorgehoben und ein „Massenheroismus der Soldaten“ erwähnt, das „AB-Narrativ“ aber fehlt (dieses wird lediglich hinsichtlich der „Beziehungen mit Verbündeten“ herangezogen)28. Weil der HKS aber nur eine kurze Themenübersicht bildet, darf jedoch kaum vom baldigen Verschwinden dieses tief verwurzelten Narratives ausgegangen werden. 24

Konzepzija nowogo utschebno-metoditscheskogo kompleksa 4. Konzepzija nowogo utschebno-metoditscheskogo kompleksa 9. 26 Konzepzija nowogo utschebno-metoditscheskogo kompleksa 46 ff. 27 Konzepzija nowogo utschebno-metoditscheskogo kompleksa 46. 28 Konzepzija nowogo utschebno-metoditscheskogo kompleksa 47. 25

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Als Folgeerscheinungen des Ersten Weltkrieges werden die „globale Krise der Zivilisation bisher unbekannten Ausmaßes“, der Zerfall der Reiche, Massentod, Seuchen und Hunger aufgelistet. Auch die Diktaturen der Nachkriegszeit bezeichnen die Verfasser des HKS als „eine der Folgen des Krieges“29. Die Folgen der Einführung des „einheitlichen Konzeptes“ sind noch nicht abschätzbar. Es kann lediglich festgestellt werden, dass Form und Inhalt des Dokuments in heutiger Fassung keine straffe Unifizierung der Lehrbücher verlangen. Vieles wird aber von der innenpolitischen Entwicklung in Russland abhängen. Die Geschichte des Ersten Weltkrieges (samt mancher eingenisteter Stereotype) kann hier einen reichen Stoff für Propaganda bieten. So wiederholte zum Beispiel Wladimir Putin in seiner Rede anlässlich der feierlichen Eröffnung des Denkmals für die Helden des Ersten Weltkrieges am 1. August 2014 die Hauptthesen der „patriotischen“ Lehrbücher. Laut dem russischen Präsidenten wurde Russland trotz aller Versuche, Frieden zu erhalten, in diesen Krieg verwickelt. Wladimir Putin betonte, der Erste Weltkrieg solle von einem „vergessenen Krieg“ zu einem Symbol des Mutes und Patriotismus werden. Der Sieg in diesem Krieg sei damals von den Revolutionären „gestohlen“ worden – hier befand sich der russische Präsident in gefährlicher Nähe zur berühmten deutschen Dolchstoßlegende der Nachkriegszeit30. Es ist leicht ersichtlich, dass das „AB-Narrativ“ gut zur antiwestlichen Propaganda passt, wie auch die eventuelle Dolchstoßlegende zum Kampf gegen die innenpolitische Opposition. Wie der Erste Weltkrieg in russischer Politik und den Medien weiter behandelt wird und ob neue Tendenzen auch in Lehrbüchern ihren Ausdruck finden werden, kann man heute nur sehr vage prognostizieren.

5. Fazit In den vorangegangenen Ausführungen wurde die Interpretation der Rolle des Ersten Weltkrieges in modernen russischen Schulbüchern erörtert. Zusammenfassend können folgende Thesen formuliert werden: 1. Im Grunde genommen wird ein kohärentes Bild des Ersten Weltkrieges in russischen Schulbüchern gezeichnet. Erstens bleibt der Krieg nach wie vor eher im Schatten der Revolution von 1917 und des Zweiten Weltkrieges. Es wird betont, dass die Ereignisse zwischen 1914 und 1918 eine herausragende Rolle in der Weltgeschichte gespielt haben, behandelt werden sie aber meistens nur 29 30

Konzepzija nowogo utschebno-metoditscheskogo kompleksa 46. Otkrytije pamjatnika gerojam Perwoj mirowoj wojny [Eröffnung des Denkmals für die Helden des Ersten Weltkrieges] PresidentRossii. 1. August 2014, http://kremlin.ru/events/ president/news/46385, [15. September 2015].

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sehr kurz und oberflächlich. Zweitens besteht eine weitgehende Übereinstimmung bezüglich der (komplexen) Ursachen des Krieges. Drittens thematisiert man in erster Linie die Kampfhandlungen. Neben speziellen Frontereignissen werden die Mobilisierung der Wirtschaft und die Stimmung der Bevölkerung beschrieben. Oft wird der patriotische Aufschwung in Russland sowie das Heldentum russischer Soldaten betont. Schließlich gilt der Erste Weltkrieg vorrangig als eine große Katastrophe von weltgeschichtlicher Bedeutung, als eine Krise der Zivilisation. 2. Trotz wesentlicher Unterschiede lässt sich zwischen den neuesten Lehrbüchern und den Sowjetischen Schulbüchern ein relativ hohes Maß an Kontinuität in Bezug auf die Behandlung des Ersten Weltkrieges feststellen. Fast alle oben genannten Aspekte stammen noch aus der Sowjetzeit. Etwas überspitzt können die Lehrbücher der letzten 20 Jahre hinsichtlich der Thematisierung des Ersten Weltkrieges als „sowjetische Schulbücher minus marxistische Ideologie“ bezeichnet werden. So stammt zum Beispiel das „AB-Narrativ“ klar aus der Sowjetzeit. Dies lässt sich in erster Linie dadurch erklären, dass die Verfasserinnen und Verfasser moderner Lehrbücher ihre Schul- und Hochschulausbildung noch in der Sowjetzeit absolvierten. Außerdem gibt es kaum Anreize, etwas an dem existiernden Muster zu ändern. 3. Bestimmte Themen werden – je nach Schulbuch – unterschiedlich behandelt. In erster Linie geht es um Russlands Rolle im Ersten Weltkrieg. Es herrscht keine einheitliche Meinung darüber, ob die Teilnahme am Krieg nationalen Interessen entsprach, wie hoch die Siegeschancen waren und welche Bedeutung die Kampfhandlungen an der Ostfront für den allgemeinen Verlauf des Krieges hatten. Auch das „AB-Narrativ“ ist, obwohl stark verbreitet, nicht überall präsent. 4. Seit dem Zerfall der Sowjetunion blieb der Einfluss der staatlichen Geschichtspolitik auf das Bild des Ersten Weltkrieges in russischen Schulbüchern eher moderat. Auch im Lehrplan-Konzept aus dem Jahr 2013 wird das Thema weitgehend neutral behandelt. Dennoch ist ein gewisser Einfluss der Politik auf die inhaltliche Ausrichtung der Schulbücher für russische Geschichte im Rahmen einer „patriotischen Erziehung“ feststellbar. Dieser hält sich jedoch in Grenzen – nicht zuletzt weil der Erste Weltkrieg nach wie vor einen eher „vergessenen Krieg“ darstellt. Inwiefern in Zukunft bestimmte Interpretationen für mögliche politische Ziele instrumentalisiert werden können, bleibt abzuwarten.

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Den Krieg im Visier: Weltkriegsarchäologie – ihre Ansprüche, Methoden, Grenzen 1. Die Ansprüche Wenn mit dem Gedenkjahr 2014 der Erste Weltkrieg in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist, dann gilt dies auch und vor allem für die dinglichen Hinterlassenschaften des Krieges, die in vielfältiger Weise und an unterschiedlichen Orten die Zeiten überdauert haben. Denn was wären all die Sonderausstellungen, Schauen und Freilichtmuseen ohne adäquate Ausstellungsstücke. Umso erstaunlicher ist es, wie lange die Tatsache verkannt wurde, dass Artefakte des Ersten Weltkrieges nicht alleine für Militariasammler und Devotionalienjäger sondern auch für die wissenschaftliche Forschung von Bedeutung sind. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Weltkriegsforschung lange Zeit als ausschließliche Domäne von Historikern galt, die sich ihrer Forschung verpflichtet vornehmlich anderweitigem Quellenmaterial widmen: Ihr Aufgabenbereich ist die Auswertung von Schrift- und Bildquellen. Auch deshalb wurden Weltkriegsrelikte als wissenschaftliches Quellenmaterial in der Vergangenheit unterschätzt, oder gar nicht erst als solche wahrgenommen. Die Weltkriegsarchäologie versucht diese Lücke zu schließen, auch wenn unermüdliche Souvenirjäger und Sondengänger die einstigen Frontabschnitte noch immer eifrig auf der Suche nach möglichst gut erhaltenen Kleinfunden und Devotionalien durchkämmen. Welch fatale Folgen diese Unsitte mitunter nach sich zieht, zeigen mehr oder weniger regelmäßig erscheinende Meldungen über Privatpersonen, die durch unsachgemäßes Hantieren mit in den eigenen vier Wänden gehorteter Geschossmunition schwere Verletzungen an ihren Gliedmaßen davontrugen1. Das von Sammlerseite gebetsmühlenartig ins Feld geführte Argument, auch sie würden bergen und damit vor dem Vergessen bewahren, hält einer kritischen Hinterfragung nicht stand. So sind die Beweggründe für ihr fragwürdiges und in der Regel illegales Tun meist persönlicher Natur, ihre Zuletzt: SüdtirolNews.it vom 7. September 2015, http://www.suedtirolnews.it/d/artikel/ 2015/09/07/san-pellegrino-pass-kriegsrelikt-explodiert.html#.VgjcTZfLKK4, [7. September 2015]. 1

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Sicht- und Herangehensweise sind subjektiv und in ihrem Fokus steht das „besondere Fundstück“, gewissermaßen das missing link der eigenen Privatsammlung. Von ausschlaggebender Bedeutung für das Interesse an einem potentiellen Fundobjekt ist dessen Erhaltungszustand und – nicht zuletzt – dessen Sammlerwert. Demgegenüber ist der wissenschaftliche Ansatz der Weltkriegsarchäologie ein grundsätzlich anderer. Das Hauptaugenmerk gilt der historischen Aussagekraft eines Objektes, die sich womöglich auf den ersten Blick (im Gelände, respektive Fundgebiet) gar nicht erschließt. Darüber hinaus geht sie nicht notwendigerweise mit dem Erhaltungszustand eines Gegenstandes einher, weshalb viel potentielles Quellenmaterial – gelangt es einmal in die falschen Hände – für die Forschung und in weiterer Folge für die Allgemeinheit auch heute noch verloren geht. Ganz abgesehen davon ermöglicht es allein die archäologische Methode, fachmännisch geborgene Fundobjekte wissenschaftlich auszuwerten und in einen historischen Kontext zu stellen. Sammlern ist das Wesen eines archäologischen Befundes und Fundes mit entsprechend aufwendiger Dokumentation in der Regel methodisch fremd. Welches sind nun die hauptsächlichen Forschungsziele der Weltkriegsarchäologie? Zweifellos stehen bei den Feldforschungen entlang einstiger Frontabschnitte die Rekonstruktion des Kriegsgeschehens vor Ort, Fragen zur Organisation des Frontalltages, zum individuellen „Soldat sein“ und Kriegserleben des Einzelnen im Fokus. Dazu gesellt sich die weiter unten zu besprechende „Dachbodenarchäologie“, die im Hinterland recherchiert und sich damit dem Kriegserleben abseits der Front annähert. Der Erkenntnisgewinn, den die Archäologie der neueren Weltkriegsforschung beisteuert, bezieht sich also insbesondere auf alltags-, erfahrungs- und erinnerungsgeschichtliche Fragestellungen. Aus dem bisher Dargelegten kristallisieren sich bereits die Ansprüche der Weltkriegsarchäologie heraus. A priori erschließt sie der Weltkriegsforschung durch die Erfassung der dinglichen Hinterlassenschaften eine bisher stark vernachlässigte Quellengattung, deren Auswertung Ergänzungen zu Fragestellungen beispielsweise nach der Rekonstruktion des Kriegsalltages vor Ort liefert. Die Historiografie hat den Kriegsalltag angestoßen durch Forschungsströmungen im englischsprachigen Raum, die „Geschichte von unten“, die Erfahrungen des kleinen Mannes und die Analyse seiner Verhaltens- und Denkmuster zu beleuchten, erstmals vor etwa drei Jahrzehnten auf breiter Ebene in den Blick genommen. Als Grundlagen dienten neu ins Spiel gebrachte Quellengattungen wie Briefe, Tagebücher, Postkarten oder Fotografien. Hier schließt die Weltkriegsarchäologie an, die weiteres, explizit dingliches Quellenmaterial liefert. Dabei ist es von grundlegender Bedeutung, die ins Auge gefassten Baureste

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und beweglichen Objekte nach den streng wissenschaftlichen Kriterien der archäologischen Methode zu erfassen und zu bergen. Geschieht dies nicht, verlieren solche Objekte einen wesentlichen Teil ihres Informationsgehaltes, weil sie buchstäblich aus ihrem historischen Kontext gerissen werden. Hier gilt es einen erklärenden Blick auf das Wesen der Archäologie zu werfen. Archäologie ist eine dezidiert objektbezogene Wissenschaft, die sich generell den dinglichen Hinterlassenschaften einer Epoche widmet, die sie lokalisiert, freilegt, sichert und dokumentiert, die sie in ihrer Verwendung aber auch ihrer Bedeutung erschließt. Im Anschluss daran gilt es, diese Objekte in einen historischen Kontext zu stellen. Dabei ergibt sich die unverzichtbare und für beide Seiten gewinnbringende Verknüpfung mit der Geschichtswissenschaft, die ihrerseits durch den Erkenntnisgewinn im Anschluss an eine Objektauswertung davon profitiert: Es werden die Typologie, die Funktion und die Verwendung der Objekte, der Gebrauchsgegenstände, der persönlichen Habe näher bestimmt, wodurch das abstrakte „Massenphänomen“ Frontsoldat zu einer individualisierten Erfahrung wird. In weiterer Folge können durch den Vergleich von Bildquellen und /oder schriftlichen Aufzeichnungen mit den archäologischen Befunden und Funden Erkenntnislücken geschlossen werden. Dabei liefert die Archäologie den Historikerinnen und Historikern durchaus neue Ansätze und Hilfestellungen für die Auswertung sowohl offizieller Schriftquellen als auch persönlichen Schriftgutes. Eine Grabung aus einer Soldatenunterkunft oder einer Versorgungseinrichtung an der Front fördert etwa unter anderem folgende Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens zutage: Koch- und Essgeschirr, Konservendosen, Besteck, Tierknochen oder Restabfälle. Jede dieser Objektkategorien liefert unverfälschte und unmittelbare Informationen zu den Essgewohnheiten und der Nahrungszubereitung im Fronteinsatz. Restabfälle und Überreste von Proviantdepots geben darüber hinaus Auskunft über die tatsächliche Zusammensetzung der Nahrungsmittel und des Proviants2. Solche Erkenntnisse – und hier kommen die Schriftquellen der historischen Forschung ins Spiel – lassen sich wiederum sowohl mit den Aufzeichnungen von Kriegsteilnehmern vergleichen, in deren Tagebüchern sich des Öfteren Anmerkungen zur Versorgungslage

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Isabelle Brandauer, Die Verpflegungssituation der österreichisch-ungarischen Armee im Gebirgskrieg in den Schriftquellen und die Einsatzmöglichkeiten der Weltkriegs-Archäologie; in: Franco Nicolis, Gianni Ciurletti, Armando De Guio (Hgg.), Archeologia della Grande Guerra – Archaeology of the Great War. Atti del Convegno Internazionale – Proceedings of the International Conference 23.–24.06.2006, Luserna, Trento (Trento 2011) 121–134.

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finden, als auch mit den mitunter diesbezüglich beschönigenden Darstellungen im Schriftgut, das von offizieller Seite erstellt wurde oder aber den theoretisch erarbeiteten Vorgaben für die Truppenversorgung, respektive Verpflegungsrationen etc. Dadurch wird die Archäologie zu einem regelrechten Bindeglied zwischen offiziellem und persönlichem Schriftgut, oder anders formuliert, zwischen Vorschrift und Realität. Zudem dringt sie in bisher unausgeleuchtete Winkel der Überlieferung vor. Dies gilt insbesondere dann, wenn persönliche Gegenstände der Frontsoldaten zu Untersuchungsobjekten werden: Trench art beispielsweise, also Objekte, die von Soldaten aus Kriegsmaterial, aus Munitionsresten oder ähnlichem während der Ruhepausen an der Front als eine Art Freizeitbeschäftigung bzw. Ablenkung gegen die allgegenwärtige Langeweile besonders während der Wintermonate im Hochgebirge hergestellt wurden. Oder aber Gegenstände religiösen Charakters, die ein Licht darauf werfen, was das einzelne Individuum dem lebensbedrohlichen Alltag an der Front als seinen persönlichen Rettungsanker entgegenzusetzen hatte. Dazu gehören aber auch persönlicher Schmuck, Rauchutensilien oder Geräte der Körperpflege, die immer wieder bei Ausgrabungen zum Vorschein kommen3. Durch die Auswertung solcher Fundobjekte gelingt es den Blick weg von der vorgeschriebenen und standardisierten Soldatenausrüstung hin zum individuellen Hab und Gut an der Front zu lenken, mit denen die Soldaten ihr eigenes Schicksal, ihre Ängste und Sorgen verbanden. Die Auseinandersetzung mit derartigem Fundgut führt in weiterer Folge auf die Spur von Einzelschicksalen und die Rekonstruktion ihrer ganz persönlichen Kriegserfahrung. Gelingt dies, oder gelingt dies auch nur im Ansatz, tragen die daraus gewonnenen Erkenntnisse zur Vergangenheitsbewältigung bei, wodurch nicht zuletzt die Erinnerungskultur neue Impulse erfährt. Ganz zu schweigen von jenen Fällen, in denen nicht allein persönliches Hab und Gut geborgen werden kann, das im Zuge einer anschließenden Befundauswertung einem bestimmten Soldaten zugeordnet werden kann, sondern wenn darüber hinaus dessen sterbliche Überreste zum Vorschein kommen. Deren Bergung stellt auch Archäologen vor besondere Herausforderungen4. Dies verdeutlicht allein der Umstand, dass es sich in allen Fällen um die Überreste von Personen handelt, die – wo auch immer – auf einer Vermisstenliste oder einem Beispiele dazu: Harald Stadler, Der Beitrag der Archäologie zur Geschichte des Ersten Weltkrieges in Ostösterreich; in: Nicolis, Ciurletti, De Guio (Hgg.), Archeologia della Grande Guerra – Archaeology of the Great War 67–78, hier Abb. 3–6. 4 Marco Balbi, L’archeologia dei nonni: problemi etici e potenzialità scientifiche dello scavo di resti umani di combattenti della Prima guerra mondiale; in: Nicolis, Ciurletti, De Guio (Hgg.), Archeologia della Grande Guerra – Archaeology of the Great War 219–235. 3

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Gefallenendenkmal namentlich genannt sind. Personen, über deren Schicksal die eigenen Nachkommen bis dato mitunter keine näheren Informationen besitzen. Personen also, die sowohl im kollektiven Gedächtnis ihrer Herkunftsgemeinschaft, als auch im individuellen Gedächtnis ihrer Familie fest verankert sind5. So versteht es sich von selbst, dass in solchen Fällen ein Höchstmaß an methodischer Professionalität gefragt ist und auf jeden noch so kleinen oder noch so unscheinbaren Informationsträger zu achten ist, der womöglich den entscheidenden Hinweis zur Identifizierung eines Verstorbenen liefern kann. In der Folge könnte er von der Vermisstenliste gestrichen werden, die Gebeine und persönlichen Gegenstände den Angehörigen übergeben werden, die damit ein Kapitel ihrer Familiengeschichte nach einem Jahrhundert schließen können. Hier betreibt die Weltkriegsarchäologie nicht allein die Bergung von Überresten eines Individuums und dessen Habseligkeiten, sondern ergräbt und legt vielmehr Erinnerung frei, womit sie eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart schlägt. Gleichermaßen bedeutsam sind die Anstöße der Weltkriegsarchäologie für eine zeitgemäße Erinnerungskultur vor Ort, der sie die notwendige wissenschaftliche Basis liefert. Diese lebt in den allermeisten Fällen von den Überresten und Zeugnissen des Kriegsgeschehens in der Landschaft. So wurden in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt Frontabschnitte freigelegt und zur besseren Veranschaulichung mit rekonstruierten Stellungsbauten ergänzt. Solche Initiativen erfolgten in der Regel auf Betreiben und unter Federführung von interessierten Privatpersonen oder örtlichen Traditionsvereinen. Die Einbeziehung wissenschaftlich geschulter Gewährspersonen war nicht immer gefragt. Und so geschahen die grundsätzlich in Frage zu stellenden Rekonstruktionen nicht selten nach eigenem Gutdünken, oder nach andernorts begutachteten Vorlagen, die kritiklos übernommen wurden und den jeweiligen Initiatoren in ihr Geschichtsbild passten. All diese Faktoren führten letztlich dazu, dass nicht selten ein Ereignisbild des Ersten Weltkrieges vor Ort geschaffen wurde, das von den tatsächlichen Gegebenheiten mal mehr, mal weniger weit entfernt ist. Ähnliches gilt für Sammlungsbestände von Privatpersonen, die der Öffentlichkeit nicht selten als örtliches Weltkriegsmuseum präsentiert werden. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass die Vermittlung des Geschehens einzig auf Grundlage des vorhandenen Bestandes an Sammlerobjekten, nicht aber auf Grundlage einer kulturgeschichtlichen Einordnung der Erinnerungsstücke erfolgt. 5

Siehe dazu: Marion Veith, Bernhard Nicolussi Castellan, Trauer fordert Gewissheit. Über den Umgang mit Gletscherleichen in Archäologie, Zeitgeschichte, Psychologie (= Forschungen zur Gletscherarchäologie 1, Nearchos Beiheft 9, Innsbruck 2011) 5 –108.

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Hier kann die Archäologie einen wertvollen Beitrag zu den sicherlich gutgemeinten Initiativen leisten: durch die Befundung der baulichen Überreste, durch punktuelle Bodeneingriffe und Detailuntersuchungen untertägiger Befunde, durch die systematische Bergung und Dokumentation der vielfach an der Geländeoberfläche verstreuten Kleinfunde.

2. Die Möglichkeiten Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, bedient sich die Weltkriegsarchäologie unterschiedlicher Ansätze. So konzentrieren sich die Forschungen auf verschiedene Terrains: Zum einen und zuallererst handelt es sich dabei um das unmittelbare Frontgebiet, zum anderen aber auch um das Hinterland mit seinen kriegsrelevanten Strukturen wie Gefangenenlager, Lazarette, Nachschubposten oder Versorgungseinrichtungen und ähnliches mehr. Entlang der einstigen Frontlinie gilt das Hauptaugenmerk der Erhebung und Erschließung aller obertägig und /oder untertägig erhalten gebliebenen Baukörper und erfassbaren Geländeeingriffe. Damit einher geht deren Lokalisierung und exakte Verortung. Das betrifft sowohl ganze Frontabschnitte in ihrer Gesamtheit, als auch die einzelnen Befundobjekte innerhalb dieser meist sehr ausgedehnten Bereiche. Dazu zählt eine Vielzahl an unterschiedlichen Strukturen: Geländeterrassierungen, Hüttenreste, Stützmauern, Schutzmauern, Kavernen, Latrinen, Vorratskeller, Laufgräben, Schützengräben, Tal-, Mittelund Bergstationen von Materialseilbahnen, Wegtrassen, Geschützstellungen, Felsunterstände oder Überreste von Stolperfallen oder der Plattformen für die Scheinwerfer zum Ausleuchten des Geländes usw. Ähnliches gilt für die Erhebung und Bergung aller beweglichen, dinglichen Hinterlassenschaften, womit sowohl Oberflächenfunde als auch ergrabene Fundobjekte gemeint sind, die unter die Kategorie der Kleinfunde fallen. Die bisherigen Erfahrungen während der Untersuchungen auf der Anderter Alpe in den Sextener Dolomiten haben gezeigt, dass eine exakte Verortung der einzelnen Streufunde und die damit einhergehende horizontalstratigrafische Kartierung und Auswertung mitunter wertvolle Hinweise zur Funktion von ansonsten nicht näher bestimmbaren Gebäuderesten liefern kann. Auch hat sich gezeigt, dass viele der Kleinfunde aufgrund ihrer Lagerungsbedingungen und des daraus resultierenden schlechten Erhaltungszustandes in ihrer Funktion nur schwer bestimmbar sind. Zudem liefern die Aufsammlungen bzw. Grabungen ein vielfältiges Spektrum an Gegenständen, deren Zuordnung und Verwendungskontexte vielfach erst entschlüsselt werden müssen. Umso wichtiger erscheint eine präzise Dokumentation und Materialbestimmung dieser Objekte, um auf dieser Grundlage zusammen mit Historikerinnen und Historikern oder

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Vertreterinnen und Vertretern anderer Wissenschaftsdisziplinen (Militärhistorikerinnen und Militäristorikern, Ethnologinnen und Ethnologen, Anthropologinnen und Anthropologen etc.), beispielsweise technologische Fragen zu Herstellung, Materialverwendung, Verbreitung, Nutzung und Entsorgung stellen zu können. Ähnlich komplex ist die Detailbefundung einzelner Stellungsbauten oder klar umschriebener Bereiche von Frontstellungen. Erste Hinweise zur Struktur solcher Frontstellungen liefern zwar vereinzelte Planunterlagen (auch in Form von Handskizzen gegnerischer Spähtrupps), die sich in Kriegsarchiven oder privaten Beständen finden, doch bleiben viele Fragen etwa zur tatsächlichen Ausdehnung der Stellungen, deren Bausubstanz, der Vernetzung der einzelnen Stellungsbauten, den Unterschieden in der Bauausführung, der Verwendung einzelner Baukörper und die damit einhergehende Organisation des Stellungsverbandes und ähnliches mehr offen. Manches unterlag der Geheimhaltung, andernorts wurde die Situation nicht festgehalten. Die bestehenden Aufzeichnungen lassen sich durch die archäologische Befundaufnahme gegenprüfen bzw. verifizieren. Abgesehen davon gibt es eine Reihe von Versorgungseinrichtungen, die aus zeitgenössischer Sicht nicht erwähnenswert waren und deshalb nicht aufgezeichnet wurden. Für die heutige Rekonstruktion des Frontalltages spielen sie jedoch eine wichtige Rolle. Gemeint sind etwa die Versorgung mit Trinkwasser, die Unterbringung der Lasttiere, die Waschplätze an Bächen u. a. m. Eine exakte Befundung lässt diesbezügliche Rückschlüsse zu und trägt damit zur Klärung der Kriegsdynamiken vor Ort bei: Welche Baumaterialien wurden etwa für die Errichtung der Unterstände verwendet? Waren es Materialien, die aus dem Hinterland herangeschafft wurden, oder wurden sie vor Ort bzw. in unmittelbarer Umgebung durch das Schlägern von Bäumen gewonnen? Welches sind die Gründe für diesbezügliche Unterschiede: Versorgungsengpässe, ortsgebundene Lösungen, der Kriegsverlauf, die Kriegsereignisse vor Ort? Die Bemühungen der Archäologie abseits des eigentlichen Frontverlaufes im Hinterland sind ähnlicher Natur, widmen sich allerdings, wie bereits erwähnt wurde, anderen Zielobjekten. Aber auch im Falle der dort befindlichen Etappenbereiche, Nachschubstationen und Depots geht es um die Erhebung und Erschließung der erhaltenen Reste inklusive deren Lokalisierung und exakte Verortung und um die Zweck- und Funktionsbestimmung der einzelnen Baukörper. Im Gegensatz dazu umschreibt der Begriff „Dachbodenarchäologie“ Forschungen zu dinglichen Hinterlassenschaften, die sich gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst, wohlbehütet oder vergessen im Besitz von Privatpersonen befinden: Als Erinnerungsstücke an einen Konflikt, der bis heute bewegt,

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als von Generation zu Generation weitergegebene Kuriosa, deren Herkunft mittlerweile womöglich im Dunkeln liegt, als zufällig erhalten gebliebene Gegenstände, die auf welche Weise auch immer die Zeiten überdauert haben. Gleichwohl handelt es sich in allen Fällen um Objekte, die Geschichten erzählen und zur Geschichte des Ersten Weltkrieges gehören6. Für deren Erschließung und Dokumentation sowie Zweck- und Funktionsbestimmung erweist sich der methodische Ansatz der Archäologie als objektbezogene Wissenschaft als zielführend.

3. Die Grenzen Weltkriegsarchäologie ist eine Grenzwissenschaft – und das im wahrsten Sinne des Wortes und in mehrfacher Hinsicht: Wie im Falle der Hochgebirgsfront am Karnischen Kamm im österreichisch-italienischen Grenzgebiet verlaufen die einstigen Frontlinien nicht selten entlang heutiger Staatsgrenzen. Häufig liegen einzelne Befundobjekte wie etwa weitläufige Schützen- oder Laufgräben auf beide Staatsgebiete verteilt, was die Frage der administrativen Zuständigkeit nach sich zieht. Welche Denkmalschutzgesetze gelten in einem solchen Fall? Hinzu kommt, dass der Forschungsstand, aber auch das Interesse der archäologischen Denkmalpflege an Relikten des Ersten Weltkrieges und deren Erhaltung und Erforschung in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich sind und eine länderübergreifende Zusammenarbeit bis dato nur in Ausnahmefällen besteht. Zu den größten Herausforderungen zählen die enorme Ausdehnung der potentiellen Befundgebiete und die streckenweise hohe Dichte an Befundobjekten. Allein die Überreste der einstigen Südwestfront, die sich im Mai 1915 mit der Kriegserklärung Italiens an Österreich-Ungarn aufgetan hat, erstrecken sich über 600 Kilometer Länge von der nördlichen Adria über den Karnischen Höhenzug, die Dolomiten, die Hochebenen um Trient weiter in nordwestliche Richtung hin zum Ortler-Massiv bis an die heutige Schweizer Ostgrenze im Kanton Graubünden. Angesichts solcher Ausmaße wird man sich auf gut definierte Teilbereiche konzentrieren müssen und deren Bestandserhebung Schritt für Schritt in Angriff nehmen, um letztlich diese einzelnen „Puzzleteile“ zu einem großen Ganzen zusammenzufügen, was sich über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, hinziehen wird. Zum jetzigen Zeitpunkt ist dabei vieles Neuland, da die bisherigen Erfahrungswerte relativ gering sind. Weltkriegsarchäologie ist ein sehr junger 6

Harald Stadler, Christian Terzer, Frontarchäologie; in: Hermann J. W. Kuprian, Oswald Überegger (Hgg.), Katastrophenjahre. Der Erste Weltkrieg und Tirol (Innsbruck 2014) 461–478, hier 474 f., Abb. 6.

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Forschungszweig. Erste Untersuchungen ließen sich erst Ende der 1990er-Jahre von der einstigen Westfront im heutigen Frankreich und Belgien vermelden7. Daher tun sich gerade während der Feldforschung vor Ort bei der Erfassung und Befundung der Relikte neue Fragestellungen auf. Entscheidet sich die Archäologie dabei für Bodeneingriffe und fördert, wenn auch nur exemplarisch, untertägig erhaltene Strukturen zutage, zieht dies hohe Folgekosten nach sich. Dies trifft insbesondere für die Überreste im Hochgebirge zu, wo die mitunter extremen Witterungsbedingungen und klimatischen Verhältnisse oberhalb der Waldgrenze eine Erhaltung von Strukturen zu einem kostenintensiven Unterfangen macht, das ständiger Nachbesserungen bedarf. Diese Verhältnisse zusammen mit den topografischen Begebenheiten sind es auch, die die Feldforschung per se immer wieder an ihre Grenzen stoßen lässt. Archäologische Untersuchungen im Hochgebirge unterliegen eigenen Gesetzen. Ihre Durchführung ist stärker als andernorts von den jahreszeitlichen und klimatischen Verhältnissen abhängig. Regionen wie der Karnische Kamm oder die Dolomiten werden erst gegen Ende Juni schneefrei. Bereits Anfang September kann es unter Umständen wieder zu ersten Schneefällen kommen. Daher verbleiben in solchen Untersuchungsgebieten für die Feldforschung vor Ort im Wesentlichen die Monate Juli und August. Vorausgesetzt eine Schlechtwetterfront samt Temperatursturz bis nahe an die Nullgradgrenze macht die Arbeit für Tage hindurch nicht unmöglich. Solche Szenarien lassen den hohen finanziellen Aufwand von Feldforschungskampagnen erahnen. Frédéric Adam, L’archéologie et la Grande Guerre; in: Revue Annuelle d’Histoire Noesis 2 (1999) 29–35; Frédérique Boura, Une tombe de soldats à Saint-Rémy-la Calonne; in: Revue Annuelle d’Histoire Noesis 2 (1999) 71–83; Yves Desfossés, Alain Jacques, Vers une definition et une reconnaissance de l’archéologie de la Première Guerre mondiale; in: Actes des colloques “La Bataille en Picardie, combattre de l’Antiquité au XXème siècle” (Amiens 2000) 203–220; Nicholas J. Saunders, Excavating Memories: Archaeology and the Great War, 1914–2001; in: Antiquity 76 (2002) 291, 101–108; Marc Dewilde, Pedro Pype, Mathieu de Meyer, Frederik Demeyere, Wouter Lammens, Janiek Degryse, Franky Wyffels, Nicholas J. Saunders, Belgium’s new department of First World War archaeology; in: Antiquity 78 (2004) 301; zum derzeitigen Forschungsstand siehe: Yves Desfossés, Alain Jacques, Gilles Prilaux, L’archéologie de la Grande Guerre (Rennes 2008); Andrew Robertshaw, David Kenyon, Digging the Trenches: The Archaeology of the Western Front (Barnsley 2008); Nicholas J. Saunders, Beyond the Dead Horizon: Studies in Modern Conflict Archaeology (Oxford 2012); zu ersten Forschungsan sätze im Hochgebirge entlang der Südwestfront: Christian Terzer, Dem Krieg auf der Spur – Weltkriegsarchäologie an der Dolomitenfront; in: Archäologie in Deutschland 1 (2011) 58– 61; Christian Terzer, Spurensuche. Weltkriegsarchäologie an der Südwestfront; in: Schallaburg Kulturbetriebsges.m.b.H. (Hg.), Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914 –1918. Ausstellungskatalog Schallaburg/Niederösterreich 29. März bis 9. November 2014 (Wien 2014) 386 –391; Rupert Gietl, Christian Terzer, Hubert Steiner, Dokumentation der Hochgebirgsfront des I. Weltkrieges im Pustertal; in: Der Schlern 89 (2015) 7, 4–25. 7

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Ein Aufwand, der zu wesentlichen Teilen auch von der Quantität der dinglichen Hinterlassenschaften beeinflusst wird. Die Rede ist von der Vielzahl an Kleinfunden, bzw. beweglichen Fundobjekten und Oberflächenfunden, die es zu sichern und in weiterer Folge zu lagern, zu konservieren, zu inventarisieren, zu katalogisieren und in ausgewählten Fällen zu restaurieren gilt, um sie im Zuge einer jedenfalls anzustrebenden Auswertung fotografisch und zeichnerisch zu dokumentieren und zu beschreiben. Eine kostenintensive Feldforschung zieht also gezwungenermaßen eine zumindest ebenso kostenintensive Befundund Fundauswertung nach sich. Und dies, obwohl durch die jahrzehntelange Plünderung der Fundgebiete durch Privatsammler und Sondengänger mit einer hohen Verlustrate an aussagekräftigem Fundmaterial zu rechnen ist, das in vielen Fällen ohne Herkunftsangabe in Sammlungen eingeflossen ist und daher der Wissenschaft nicht mehr zur Verfügung steht bzw. ihr Informationspotential verloren hat. All diese Faktoren stellen die Weltkriegsarchäologie vor beachtliche und teils neuartige Herausforderungen, denen mitunter erst zukünftige Forschergenerationen gewachsen sein werden.

4. Fazit Die Archäologie als Teilbereich der Weltkriegsforschung eröffnet aufgrund ihres methodischen Ansatzes neue Blickwinkel auf den Ersten Weltkrieg und seine Erforschung, stellt damit einhergehend neue Fragestellungen in den Raum, schafft neue Perspektiven und liefert neue Erkenntnisse insbesondere für die Erforschung der Alltags-, Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte. Voraussetzung dafür ist eine enge Zusammenarbeit mit der historischen Wissenschaft.

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Neue Quellen und Zugänge zum Ersten Weltkrieg auf dem Balkan am Beispiel Bulgariens 1. Einleitung Bulgarien muss sicherlich als ein besonders markanter „weißer Fleck“ der Forschung zum Ersten Weltkrieg angesehen werden. Diese Vernachlässigung ist umso erstaunlicher, wenn man sich die besondere strategische und militärische Bedeutung Bulgariens für die Mittelmächte und die Entente in Erinnerung ruft: Beide Bündnisse hatten das 1914 neutral gebliebene Land umworben, und der Durchbruch der Entente im September 1918 an der vornehmlich von bulgarischen Truppen gehaltenen Saloniki-Front war immerhin ein wichtiger Faktor für die Niederlage der Mittelmächte und damit das Ende des Ersten Weltkrieges1. Für diese Vernachlässigung bzw. sogar Amnesie innerund außerhalb des Landes gibt es verschiedene Gründe: Nachdem die Erinnerungskultur und Historiographie der Zwischenkriegszeit von irredentistischen Strömungen, Revisionismus und der Kriegsschuldfrage dominiert worden war, veränderte sich ab dem 9. September 1944 die politische Großwetterlage grundlegend2. Die bulgarische Geschichtswissenschaft folgte während der kommunistischen Herrschaft zunächst bedingungslos den Vorgaben aus der Sowjetunion und war somit eindeutig stalinistisch geprägt3. In diesem Geschichtsbild wurde der Erste Weltkrieg stark vereinfacht als imperialistischer Krieg gedeutet, an dem sich eine unverantwortlich handelnde bulgarische Bourgeoisie beteiligt und letztlich zur zweiten „nationalen Katastrophe“ beigetragen Zur bulgarischen Erinnerung und Historiographie zum Ersten Weltkrieg im Überblick vgl. Bernard Lory, La mémoire de la première guerre mondiale en Bulgarie; in: Guerres mondiales et conflits contemporains 228/4 (2007) 37–49 und Oliver Schulz, Commémorer une guerre oubliée? La commémoration de la Première Guerre en Bulgarie; in: Matériaux pour l’histoire de notre temps 113–114 (2014) 42–51. 2 Einen guten kurzen Überblick über die Zwischenkriegszeit liefert Nikolaj Poppetrov, Flucht aus der Demokratie: Autoritarismus und autoritäres Regime in Bulgarien 1919 –1944; in: Erwin Oberländer (Hg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919 –1944 (Paderborn–München–Wien–Zürich 2001) 379–401. 3 Zum Dogmatismus in der bulgarischen Historiographie nach 1944 vgl. Maria Todorova, Bulgaria; in: The American Historical Review 97/4 (1992) 1105–1117, hier 1107. 1

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habe4. Diese Deutung schließt an den Sprachgebrauch des Ersten Weltkrieges und der Zwischenkriegszeit an, als der Erste Weltkrieg u. a. als „allgemeiner europäischer Krieg“ bezeichnet wurde, was suggeriert, dass es sich um einen Krieg handelt, der zwischen den europäischen Großmächten ausgetragen wurde und an dem Bulgarien teilnahm, um eigene nationale Interessen befriedigen zu können5. Das kommunistische Regime sollte bis 1989 vorrangig Themen behandeln, die politisch motiviert waren und als Vorgeschichte des bulgarischen Kommunismus vor dem 9. September 1944 instrumentalisiert werden konnten, wohingegen nicht genehme Aspekte ausgeblendet wurden6. Zu diesen bevorzugten Themen zählten der Soldatenaufstand von 1918, der das Ausscheiden Bulgariens aus dem Krieg endgültig besiegelte und den sich die Kommunisten für die eigene politische Agenda zunutze machten, die Aktivitäten Georgi Dimitrovs während des Ersten Weltkrieges, beispielsweise zugunsten von Kriegsgefangenen oder der Einfluss der Revolution in Russland im Jahr 1917 auf die bulgarischen Soldaten7. Bestimmte Themen wurden tabuisiert, weil sie als politisch-ideologisch bedenklich galten, so der Krieg im Bündnis mit den verhassten Osmanen gegen Russland, das 1877–1878 den Bulgaren die Befreiung von der osmanischen Herrschaft gebracht hatte, oder die Gegnerschaft zu Rumänien, das seit 1944 ebenfalls zum sozialistischen Block unter sowjetischer Vorherrschaft zählte. In letzterem Fall wurde sogar der Zugang zu Vgl. beispielsweise die Darstellung von Tuše Vlahov, Otnošenijata meždu Bălgarija i Centralnite sili po vreme na vojnite 1912–1918 [Die Beziehungen zwischen Bulgarien und den Mittelmächten in der Zeit der Kriege 1912–1918] (Sofija 1957). Zur besonderen Bedeutung von Ereignissen wie dem Soldatenaufstand 1918 in der kommunistischen Historiographie vgl. als ein Beispiel unter vielen Dimităr Tišev, Po văprosa za charaktera i značenieto na vojniškoto văstanie 1918 godina [Zur Frage nach dem Charakter und der Bedeutung des Soldatenaufstands 1918]; in: Voennoistoričeski Sbornik 57/5 (1988) 27–42. 5 Zum Sprachgebrauch und zu den in Bulgarien gängigen Bezeichnungen für den Ersten Weltkrieg vgl. mit Zitaten Lory, Mémoire 38. 6 Der Sofioter Historiker Georgi Markov spricht sogar vom Ersten Weltkrieg als einem „verbotenen Krieg“: Georgi Markov, „Zabravenata“ goljama vojna i osvoboždenieto na Dobrudža [Der „verbotene“ große Krieg und die Befreiung der Dobrudscha]; in: Petăr Bojčev, Volodja Milačkov (Hgg.), Tutrakanskata epopeja i vojnata na Severnija front 1916–1918 godina (Tutrakan 2007) 24–31. 7 In einer Überblicksdarstellung zur bulgarischen Geschichte wird nicht überraschend ein Foto von der Verbrüderung bulgarischer und russischer Soldaten gezeigt: Aleksandăr Fol, Vasil Gjuzelev, Nikolaj Genčev [u. a.], Kratka istorija na Bălgarija [Kurze Geschichte Bulgariens] (Sofija 1983) Bild 113 [zwischen 304 und 305]. Als weitere Beispiele für dem Regime genehme Themen vgl. Elena Evstatieva, Georgi Dimitrov v zaštita na voennoplennicite v Bălgarija po vreme na Părvata Svetovna Vojna [Georgi Dimitrov und sein Einsatz für die Kriegsgefangenen in Bulgarien während des Ersten Weltkrieges]; in: Izvestija na Instituta po Istorija na BKP 28 (1972) 71–93 und Ljubomir Ognjanov, Oktomvri i revoljucioniziraneto na bălgarskata armija [Oktober und die Revolutionierung der bulgarischen Armee]; in: Voennoistoričeski Sbornik 57/1 (1988) 26–44. 4

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bestimmten Archivbeständen verwehrt, um keine politisch-diplomatischen Verwicklungen mit dem rumänischen Nachbarn zu provozieren. Dies betraf beispielsweise den Bestand des „Zentralen Dobrudschaner Nationalrats“, der 1917 in Babadag in der Norddobrudscha gegründet worden war und der bis Ende des Ersten Weltkrieges auf die Angliederung der gesamten Norddobrudscha an Bulgarien hinarbeitete. Nach dem Ersten Weltkrieg verlegte der Rat seinen Sitz nach Varna, wodurch die Akten in das dortige Staatsarchiv gelangten, in kommunistischer Zeit aber aus den genannten politischen Gründen nur mit erheblichen Einschränkungen benutzt werden konnten 8. In dieser einseitig vom Klassenkampf ausgehenden Sichtweise gerät allerdings vollkommen aus dem Blick, warum die bulgarische Armee trotzdem drei Jahre lang unter sehr schwierigen Bedingungen den Kampf fortsetzte und beispielsweise die etwa 300 km lange Saloniki-Front hielt. Die Frage des Nationalismus und des Stellenwerts bulgarischer irredentistischer Forderungen in Makedonien oder in der Dobrudscha geraten in der kommunistischen Interpretation jedenfalls vollkommen aus dem Blick. Die kommunistische Sichtweise auf den Ersten Weltkrieg und seine Akteure wird schließlich auch daran sichtbar, dass Akteure wie der kommandierende General Nikola Žekov oder Ministerpräsident Vasil Radoslav als „Verräter des bulgarischen Volkes“ tituliert wurden9. Auch der Schwenk der Bulgarischen Kommunistischen Partei hin zu einer Form des Nationalkommunismus, der den traditionellen bulgarischen Nationalismus innerhalb bestimmter Grenzen für die Stabilisierung des Regimes nutzbar machen wollte, bewirkte kein grundsätzliches neues Interesse am Ersten Weltkrieg, was allerdings auch nicht wirklich überrascht, handelte es sich doch um eine Niederlage, die ja generell wenig geeignet ist, um einen nationalen Überschwang auszulösen10. In dieser neuen geschichts Information von Archivarin Gergana Plamenova (Staatsarchiv Varna) am 7. August 2015. Beispielsweise ein Vermerk im Findbuch zum Nachlass Nikola Žekov im Zentralen Staatsarchiv in Sofia (Centralen Dăržaven Archiv Sofija, f. 237K) [nachstehend als CDA zitiert]. 10 Todorova, Bulgaria 1107. Zur nationalistischen Komponente im bulgarischen Staatssozialismus vgl. Hannes Grandits, Ulf Brunnbauer, The Ambiguous Nation. Socialist and Post –Socialist Nation – Building in Southeastern Europe in Perspective; in: Hannes Grandits, Ulf Brunnbauer (Hgg.), The Ambiguous Nation. Case Studies from Southeastern Europe in the 20th century (München 2013) 9–41, hier 19 f. und Hans–Joachim Hoppe, Politik und Geschichtswissenschaft in Bulgarien 1968–1978; in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 28 /1 (1980) 243 –286, hier 248. Im Zuge der nationalkommunistischen Wende erwachte aber das Interesse an der “makedonischen Frage” neu, die Stefan Troebst als “kulturellen Code” im bulgarischen kollektiven Gedächtnis ausgemacht hat. Hinzuzufügen ist, dass angesichts der Blockzugehörigkeit – Jugoslawien war zwar kommunistisch, gehörte aber nicht dem sowjetischen Block an – es leichter war, alte nationalistische Feindbilder gegenüber Serbien zu pflegen als beispielsweise gegen das verbündete Rumänien. Zu Makedonien als „kulturellem Code“ vgl. Stefan Troebst, Antisemitismus im „Land ohne Antisemitismus“: Staat, Titularnation und jüdische Minderheit in Bulgarien 1878 –1993; 8 9

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politischen Konjunktur spielte die Tochter von Staats- und Parteichef Todor Živkov, Ljudmila Živkova, eine wichtige Rolle, und einer der Höhepunkte der nationalkommunistischen Welle waren die von ihr organisierten Feierlichkeiten im Jahr 1981, als „1300 Jahre bulgarischer Staatlichkeit“ begangen wurden11. Seit dem Ende des Kommunismus kann freier geforscht werden, was natürlich nicht nur auf die Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg zutrifft12. Seitdem sind bereits einige grundlegende Studien vorgelegt worden, die allerdings in methodischer Hinsicht häufig konventionell und der in ganz Südosteuropa verbreiteten ethnozentrischen und traditionell nationalpädagogischen Historiographie verpflichtet sind13. Fragestellungen aus der internationalen Forschungsdiskussion wurden leider kaum aufgenommen. Auch die Rezeption ausländischer Quellen und Fachliteratur ist leider die Ausnahme geblieben. Während Ivan Petrov in seinem Buch über den Krieg in Makedonien 1915–1918 dies getan hat, seine Studie wegen einer fehlenden Übersetzung und der somit fortbestehenden Sprachbarriere aber international nur einem eingeschränkten Rezipientenkreis zugänglich ist, bleibt die neueste einbändige Überblicksdarstellung über die bulgarische Armee im Ersten Weltkrieg, die 2015 im Zusammenhang mit dem 100. Jahrestag des Eintritts Bulgariens in den Ersten Weltkrieg erschienen ist, methodisch hinter dem Forschungsstand zurück und begnügt sich mit einer nationalen Geschichtsschreibung konventionellen Typs14. in: Mariana Hausleitner, Monika Katz (Hgg.), Juden und Antisemitismus im östlichen Mitteleuropa (Wiesbaden 1995) 109–125, hier 116. 11 Zu Ljudmila Živkova und ihrem Einfluss vgl. Thomas Meininger, A Troubled Transition: Bulgarian Historiography, 1989–1994; in: Contemporary European History 5/1 (1996) 103 –118, hier 104. 12 Für einen Überblick über die bis 1994 erschienene Literatur vgl. Rumjana Charizanova [u. a.] (Red.), Učastieto na Bălgarija v Părvata Svetovna vojna 1915–1918 godina. Bibliografija. [Die Teilnahme Bulgariens am Ersten Weltkrieg 1915–1918] (Sofija 1994). 13 Zur nationalpädagogischen Orientierung der bulgarischen Historiographie vgl. Todorova, Bulgaria 117. 14 Ivan Petrov, Vojnata v Makedonija (1915–1918) [Der Krieg in Makedonien (1915 –1918)] (Sofija 2008). Weitere konventionelle, allerdings auf eine dezidiert bulgarisch-nationalgeschichtliche Perspektive verengte Darstellungen sind: Georgi Markov, Goljamata vojna i Bălgarskata straža meždu Sredna Evropa i Orienta 1916–1919 g. (Sofija 2006); Georgi Markov, Goljamata vojna i bălgarskijat ključ za evropejskija pogreb 1914–1916 (Sofija 1995); Stančo Stančev, Ignat Krivorov, Todor Petrov (Red.), Bălgarskata armija prez Părvata Svetovna Vojna [Die bulgarische Armee im Ersten Weltkrieg] (Sofija 2015). Hier gibt es allerdings auch Abstufungen: Während die Darstellung Petăr Bojčevs zur Schlacht von Tutrakan einerseits eine nationale Heldengeschichte darstellen möchte und mit der namentlichen und nach Herkunftsorten geordneten Erfassung der gefallenen bulgarischen Soldaten eine deutliche faktologische Komponente besitzt, weist seine Studie andererseits auch erhebliche Verdienste auf, da Originalquellen aufgeführt und zitiert werden, so aus

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Abgesehen von Beiträgen Snežana Dimitrovas zur Erinnerungskultur oder Petăr Petrovs zum Europabild in „Balkanski Papagal“ sind es daher vor allem Arbeiten nichtbulgarischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Anregungen der internationalen Methodendiskussion aufgenommen haben15. Zu denken ist hier an die Untersuchung Björn Opfer-Klingers zur bulgarischen Besatzungspolitik in Vardar–Makedonien in beiden Weltkriegen, die Studie Claudia Webers zur bulgarischen Erinnerungskultur 1878–1944, die auch auf das Kriegsgedenken und die Erinnerungskultur eingeht, oder an die militärgeschichtlichen Arbeiten des amerikanischen Historikers Richard Hall16. Eine aktuellen Forschungsansprüchen genügende Gesamtdarstellung zu Bulgarien im Ersten Weltkrieg steht daher noch genauso aus wie die systematische Erforschung zahlreicher Aspekte der Sozial- und Kulturgeschichte Bulgariens im Ersten Weltkrieg. Im Folgenden wird in zwei Schritten stark exemplarisch zunächst auf Quellenbestände eingegangen, die seit dem Ende des Kommunismus auch ausländischen Wissenschaftlern zur Verfügung stehen, und im Anschluss auf mögliche neue Zugänge zur Geschichte Bulgariens im Ersten Weltkrieg. Aufgrund eigener Forschungsinteressen und entsprechender Vorarbeiten bzw. laufender Recherchen wird vor allem auf Beispiele aus Nordbulgarien und vom rumänischen Kriegsschauplatz – insbesondere aus der Dobrudscha – eingegangen17. dem Nachlass des Generals Pantelej Kiselov, der im Historischen Museum in Tutrakan aufbewahrt wird. Vgl. Petăr Bojčev, Tutrakanskata epopeja [Das Epos von Tutrakan] (Tutrakan 22010). 15 Vgl. Snezhana Dimitrova, ‘My War is not Your War’: the Bulgarian Debate on the Great War. ‘The experienced war’ and Bulgarian modernization in the inter-war years; in: Rethinking History 6/1 (2002) 15–34 und Snezhana Dimitrova, ‘Taming the death’: the culture of death (1915–18) and its remembering and commemorating through First World War soldier monuments in Bulgaria (1917–44); in: Social History 30/2 (2005) 175–194; Petăr Petrov, Katerina Gehl, Das bunte Gefieder der bulgarischen Papageien. Das Bild des Westens in der politischen Wandbildkarikatur (1915–1945); in: Petăr Petrov, Katerina Gehl, Klaus Roth (Hgg.), Fremdes Europa? Selbstbilder und Europa–Vorstellungen in Bulgarien (1850–1945) (Berlin–Münster 2007) 212–213. 16 Vgl. Björn Opfer, Im Schatten des Krieges: Besatzung oder Anschluss, Befreiung oder Unterdrückung? Eine komparative Untersuchung über die bulgarische Herrschaft in Vardar–Makedonien: 1915–1918 und 1941–1944 (Münster 2005); Claudia Weber, Auf der Suche nach der Nation. Erinnerungskultur in Bulgarien von 1878–1944 (Münster 2006); Richard C. Hall, Bulgaria’s Road to the First World War (New York 1996); Richard C. Hall, ‘The Enemy is Behind Us‘: The Morale Crisis in the Bulgarian Army during the Summer of 1918; in: War in History 11/2 (2004) 209–219; Richard C. Hall, Bulgaria in the First World War; in: The Historian 73/2 (2011) 300–315; Richard C. Hall, Balkan Breakthrough. The Battle of Dobro Pole 1918 (Bloomington, Ind. 2010). Vgl. außerdem den folgenden Sammelband: Jürgen Angelow (Hg.), Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Perspektiven der Forschung (Berlin 2011). 17 Auch wenn der Zugang zu diesen Quellenbeständen mittlerweile gegeben ist, bleibt die Arbeit in bestimmten bulgarischen Archiven häufig aufgrund der bürokratischen Abläufe immer noch umständlich und zeitintensiv.

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2. Kriegsziele, Nationsbildungsprozesse und Territorialkonflikte am Beispiel der Dobrudscha Die bulgarische Führung ist im Herbst 1915 vor allem deshalb in den Krieg eingetreten, um zuvor verloren gegangene Gebiete wie Makedonien oder die südliche Dobrudscha zurückzugewinnen und das Ideal eines „Großbulgariens“ in den Grenzen des Vorfriedensvertrages von San Stefano (1878) zu erreichen. An dieser Stelle ist zu erkennen, dass die bulgarischen Kriegsziele und die Strategie Bezug auf Entwicklungen nahmen, die lange vor dem Ersten Weltkrieg eingesetzt hatten und von zentraler Bedeutung für die Staats- und Nationsbildung waren. „San Stefano-Bulgarien“ war im Zeitraum 1878 –1944 der Bezugspunkt im politischen Denken und Handeln der bulgarischen Eliten. Da diese Gebiete als Folge des Ersten Weltkrieges wieder verloren gingen und ihre Rückgewinnung wie im Falle Makedoniens 1941 zum Beitritt Bulgariens zu den Achsenmächten führte, ist hier bereits eine Kontinuitätslinie erkennbar, die über den Ersten Weltkrieg hinausführt. In der Frage der im Vergleich zu Makedonien weniger erforschten Süddobrudscha, die bis zum Vertrag von Craiova (1940) zwischen Rumänien und Bulgarien umstritten war, können zudem lange Linien hinsichtlich gewaltsamer Assimilierungspolitik gezogen werden18. Die erste Anlaufstelle in Bulgarien für Forschungen zum Ersten Weltkrieg bleibt natürlich das Staatliche Militärhistorische Archiv in Veliko Tărnovo, dessen Bestände aber nicht nur für traditionelle militärgeschichtliche Untersuchungen – beispielsweise zur Operationsgeschichte – von Belang sind. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen und als Ausgangspunkt für Überlegungen dienen, wie diese Bestände mit denen weiterer Archive verknüpft werden können. Erste Recherchen in den Beständen des Stabes der aktiven bulgarischen Armee, der 3. Bulgarischen Armee und der bulgarischen Etappenverwaltung in der Dobrudscha haben ergeben, dass auch zahlreiche Quellen zur Alltagsgeschichte der bulgarischen Besatzungsherrschaft in neueroberten Gebieten wie der Norddobrudscha enthalten sind. Aus diesen ergibt sich das Bild zahlreicher Konflikte zwischen den deutschen und bulgarischen Verbündeten sowie zwischen deutschen Truppen und bulgarischen Zivilisten19. Diese Konflikte Zu San Stefano und zum Revisionismus als Fixpunkt nach 1918 vgl. Ilčo Dimitrov, Bulgarien in der europäischen Politik zwischen den beiden Weltkriegen (Vorläufige Schluß folgerungen); in: Wolfgang Gesemann, Kyrill Haralampieff, Helmut Schaller (Hgg.), Bulgarische Sprache, Literatur und Geschichte (= Bulgarische Sammlung 1, Neuried bei München 21982 [11980]) 213–220. Zum Stellenwert San Stefanos im bulgarischen Nationalismus vgl. auch Bernard Lory, Quelques aspects du nationalisme en Bulgarie, 1878–1918; in: Revue des etudes slaves 60/2 (1988) 499–505, hier 500. 19 So eine Akte zum Verhältnis zwischen deutschen Truppen und der Zivilbevölkerung in der 18

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entzündeten sich vor allem am Auftreten der deutschen Etappenverwaltung in Constanţa, die die bulgarischen Ansprüche in der Norddobrudscha zurückwies und die verschiedenen Nationalitäten gegeneinander ausspielte, und den als exzessiv empfundenen Requirierungen von Lebensmitteln, die zudem häufig von Gewalt gegenüber Zivilisten begleitet wurden20. Hinzu kam, dass auch das Verhalten des osmanischen Verbündeten in der Dobrudscha ambivalent war: So wurde beispielsweise davon berichtet, dass osmanische Offiziere versuchten, die Muslime in der Dobrudscha für die Sache des Osmanischen Reiches zu gewinnen. Auch die Reise des osmanischen Kriegsministers Enver Pascha 1916 u. a. in die Dobrudscha sorgte für Misstrauen21. Die bulgarische Seite versuchte ihrerseits in Gestalt des „Zentralen Dobrudschaner Nationalrats“, die muslimische Bevölkerung an sich zu binden, indem Veröffentlichungen ins Osmanli übersetzt und an die Herausgabe einer türkischsprachigen Zeitung gedacht wurden. Auch existierte in diesem „Nationalrat“ eine muslimische Sektion22. Dobrudscha, in Makedonien und im Moravagebiet: Korrespondenz über das Verhalten der deutschen Truppen, die Beschlagnahmung von Lebensmitteln und Vieh usw. – Dăržaven Voennoistoričeski Archiv [Veliko Tărnovo] [nachstehend zitiert als: DVIA], f. 740, op. 5, a.e. 259. Zum Problem der von der deutschen Armee mitgenommenen Nahrungsmittel vgl. Korrespondenzen mit den deutschen Truppenteilen über beschlagnahmte und ausgeführte Lebensmittel in der Dobrudscha – , a.e. 306. Einen guten Überblick über die politischen und diplomatischen Aspekte der Dobrudschafrage und die Spannungen zwischen den Mittelmächten liefert Björn Opfer-Klinger, Eine kleine Region spaltet den Vierbund – Die Dobrudscha als Konfliktregion im Ersten Weltkrieg; in: Halbjahresschrift für südost europäische Geschichte, Literatur und Politik 26/1–2 (2014) 38–63. Zur Wahrnehmung der Bulgaren durch die deutschen Verbündeten und zum deutsch–bulgarischen Verhältnis während des Ersten Weltkriegs vgl. Oliver Stein, „Wer das nicht mitgemacht hat, glaubt es nicht.“ Erfahrungen deutscher Offiziere mit den bulgarischen Verbündeten 1915–1918; in: Angelow (Hg.), Weltkrieg 271–287. 20 So beispielsweise in einem Brief der bulgarischen Verwaltung im Bezirk Constanţa an Ministerpräsident Vasil Radoslavov, Constanţa, 29. September 1917 – CDA, f. 313K, op. 1, a.e. 1970, l. 1–4. Aus dem in den Quellen beschriebenen Verhalten der deutschen Militärbehörden ergibt sich das Bild, dass die deutsche Seite überhaupt nicht bereit war, bulgarische Interessen welcher Art auch immer in der Norddobrudscha zu akzeptieren. Genčo Kamburov, Voenno-političeskite protivorečija meždu Bălgarija i Germanija po upravlenieto na Dobrudža prez Părvata Svetovna vojna 1916–1917 g. [Die militärpolitischen Gegensätze zwischen Bulgarien und Deutschland bezüglich der Verwaltung der Dobrudscha im Ersten Weltkrieg 1916–1917]; in: Voennoistoričeski sbornik 38/4 (1969) 34–53, hier 39. Zur Bevorzugung von Rumänen durch die deutschen Behörden für Posten in Verwaltung und Schulwesen vgl. Schreiben des „Zentralen Dobrudschaner Nationalrats“ an den deutschen Bevollmächtigten in Sofia, 9. Februar 1918 – Dăržaven Archiv [nachstehend: DA] Varna, f. 80K, op. 1, a.e. 13, l. 40 – 42. 21 Schreiben des bulgarischen Militärattachés in Konstantinopel an das bulgarische Hauptquartier in Kjustendil, 24. Dezember 1916 – CDA f. 321K, op. 1, a.e. 2486, l. 29–34. 22 Protokolle und Korrespondenzen über die Einrichtung des Rats und seine organisatorische Tätigkeit – DA Varna, f. 80K, op. 1, a.e. 1, l. 41.

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Eine wichtige Rolle kam in diesem Zusammenhang Kirchen- und Schulfragen zu, deren Wert als Träger der Nationsbildung erkannt wurde23. Auch hier mögen einige Beispiele genügen, die die Bedeutung dieses Aspekts verdeutlichen und zeitlich weit über den Ersten Weltkrieg hinausreichen. Anders als in Makedonien war das Verhältnis zwischen der Bulgarisch-Orthodoxen und der Rumänisch-Orthodoxen Kirche von einer relativen Toleranz geprägt. So hatte die rumänische Kirche das bulgarische Exarchat faktisch anerkannt. Bulgarische Priester, die nach 1878 in die Norddobrudscha entsandt worden waren bzw. die der Heilige Synod in Sofia für die bulgarischen Kirchen in Bukarest, Constanţa und Galaţi ernannt hatte, waren von der rumänischen Kirchenverwaltung akzeptiert worden. Dieses Klima der relativen Toleranz, das sich sehr positiv vom Kirchenkampf in Makedonien abhebt, wich erst nach dem 2. Balkankrieg einem Nationalitätenkonflikt, in dem Kirchen und Schulen eine wichtige Rolle spielen sollten24. Während des Krieges gegen Rumänien hatte ein bulgarischer Offizier an Metropolit Josif von Veliko Tărnovo geschrieben, in dessen Zuständigkeit die Feldgeistlichen in der bulgarischen Armee fielen. Der Offizier sprach sich dafür aus, dass bulgarische Priester nicht nur in der Gefechtszone, sondern in der gesamten Norddobrudscha benötigt würden. In seinen Ausführungen betont der Offizier einen aus seiner Sicht trotz der vorherigen rumänischen Herrschaft immer noch bestehenden bulgarischen Charakter der Norddobrudscha und die Dringlichkeit der Entsendung bulgarischer Priester, da die Kirche in ihrer vormaligen Rolle als Instrument „nationalistischer rumänischer Propaganda“ gesehen wurde25. In derselben Angelegenheit schrieb auch der „Zentrale Dobrudschaner Nationalrat“ an den Metropoliten von Ruse und bat dringend um die Entsendung von Priestern, zumal die Feldgeistlichen nicht ausreichten. An der Antwort des Metropoliten von Ruse, dem vorübergehend die Kirchenverwaltung im Bezirk Tulcea zugewiesen worden war, werden die Beschränkungen sichtbar, mit denen die bulgarischen Pläne konfrontiert waren. So waren die bulgarischen Priester deshalb noch nicht entsandt worden, da es an ausreichend 23

So beispielsweise in einem Bericht über den Zustand der bulgarischen Schulen in der Norddobrudscha. Vgl. Bericht des Inspektors der bulgarischen Schulen in der Norddobrudscha an den bulgarischen Ministerpräsidenten und an den bulgarischen Außenminister, Varna, 25. Dezember 1918, CDA f. 177K, op. 7, a.e. 4, l. 1–5. 24 Svetlozar Eldărov, Pravoslavieto na vojna. Bălgarskata pravoslavna cărkva i vojnite na Bălgarija 1877–1945 [Die Orthodoxie im Krieg. Die Bulgarisch-Orthodoxe Kirche und die Kriege Bulgariens 1877–1945] (Sofija 2004) 83 und Svetlozar Eldărov, Bălgarskata pravoslavna cărkva po vreme na Părvata Svetovna vojna (1915 –1918 g.) [Die BulgarischOrthodoxe Kirche während des Ersten Weltkriegs (1915 –1918)]; in: Voennoistoričeski sbornik 66/4 (1997) 20–38, hier 33–34. 25 Brief vom 27. Mai 1917 – DA Varna f. 80K, op. 1, a.e. 12, l. 2–5.

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Geistlichen mangelte. Dies verbitterte die bulgarische Bevölkerung, da gleichzeitig rumänische Priester in ihre Gemeinden in der Norddobrudscha zurückkehren konnten und ein fortbestehender rumänischer Einfluss in der Region befürchtet wurde26. An dieser Stelle werden die praktischen, materiellen und finanziellen Grenzen deutlich, die der bulgarischen Politik in der Norddobrudscha gesetzt waren. Hinzu kam, dass die bulgarische Kontrolle über die Norddobrudscha, die allerdings wegen des deutschen Verbündeten nicht uneingeschränkt war, nur knappe zwei Jahre dauerte und entsprechende Projekte nicht besonders realistisch erscheinen ließ. Es wäre jedenfalls sehr interessant, den Zusammenhang zwischen Kirchen- und Schulpolitik, bulgarischen und rumänischen Nationsbildungsprozessen in der Dobrudscha und auch der Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung des nationalstaatlichen Anspruchs über einen längeren Zeitraum zu untersuchen und die Rolle der Kriege als Katalysatoren zu thematisieren27.

3. Erinnerungskultur Ein letzter Punkt, der hier noch kurz angesprochen werden soll, betrifft die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, die bulgarische Niederlage und den Friedensvertrag von Neuilly-sur-Seine. Hierbei ist von besonderer Bedeutung, dass angesichts weit verbreiteter populärer Geschichtsbilder die Reichweite fachwissenschaftlicher Untersuchungen in der bulgarischen Öffentlichkeit generell mit einem großen Fragezeichen versehen werden muss28. 26

„Zentraler Dobrudschaner Nationalrat“ an den Metropoliten von Ruse, 10. Oktober 1917 – DA f. 80K, op. 1, a.e. 12, l. 6–7 und Metropolit von Ruse an den Präsidenten des „Zentralen Dobrudschaner Nationalrats“, 16. Oktober 1917 – DA f. 80K, op. 1, a.e. 12, l. 8. Vgl. auch Eldărov, 1915–1918 34. 27 In diesen Zusammenhang gehört auch die Wahrnehmung anderer Völker und Nationalitäten in einer längerfristigen Perspektive, so beispielsweise die rumänischen Kriegsgegner in der Dobrudscha und der Vorwurf, Gräueltaten gegen die bulgarische Zivilbevölkerung zu begehen. Vgl. Iljustracija Svetlina 24 (November-Dezember 1916)Nr. 11–12, 12. Die Artikel aus der Zeitschrift „Iljustracija Svetlina“ werden nach PDF-Dateien zitiert, die von der Seite der Digitalen Bibliothek der Nationalbibliothek in Sofia heruntergeladen wurden. Da die Links der auf der Seite gewonnenen Digitalisate leider nicht funktionieren, sei an dieser Stelle auf die Internetadresse der Digitalen Bibliothek verwiesen: http://www.nationallibrary.bg/cgi-bin/e-cms/vis/vis.pl?s=001&p=0038&n=&vis=, [30. April 2016]. Die Zeitschrift „Iljustracija Svetlina“ ist dort über die Rubrik „Продължаващи издания 1878– 1944“ („Periodika 1878–1944“) zu erreichen. Das genannte Beispiel aus der Dobrudscha liefert eine gute Vergleichsmöglichkeit zu den Verhältnissen in Makedonien und Thrakien und dem dortigen Wechsel von bulgarischer und serbischer bzw. griechischer Herrschaft. 28 Roumiana Preshlenova, Freiheit als Verantwortung. Die Historiographie in Bulgarien nach dem Umbruch; in: Alojz Ivanišević, Andreas Kappeler, Walter Lukan, Arnold

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Ein interessanter Aspekt in der bulgarischen Erinnerungskultur bezieht sich darauf, dass es sich im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg größtenteils um eine Erinnerung ohne Raum bzw. ohne Erinnerungsorte handelt, da sich diese mehrheitlich außerhalb der bulgarischen Grenzen befinden wie Bitola, Dojran, der Kajmakčalan oder der Fluss Crna Reka in Makedonien oder Erinnerungsorte des Krieges in Rumänien. In der Zwischenkriegszeit traf dies u. a. auf Tutrakan in der Süddobrudscha (rum. Cadrilater) zu, das erst mit dem Vertrag von Craiova wieder an Bulgarien ging. Die Erinnerung an die siegreiche Schlacht von Tutrakan wurde in Städten in Bulgarien wachgehalten, in denen die an der Schlacht von Tutrakan beteiligten Regimenter stationiert waren29. Hier ergibt sich ein sehr interessanter Forschungsgegenstand, der lokale und regionale Kontexte mit einer internationalen Dimension verknüpft: So könnte an lokalen Beispielen aus der Dobrudscha die Erinnerungskultur als wesentlicher Faktor konkurrierender Nationsbildungsprozesse in einem lokalen Rahmen untersucht werden, indem beispielsweise nach dem Schicksal bulgarischer Denkmäler und Erinnerungsorte unter rumänischer Herrschaft und rumänischer Denkmäler und Erinnerungsorte unter bulgarischer Herrschaft gefragt wird30. In einem sehr interessanten Aufsatz haben Petăr Bojčev und Radoslav Simeonov an Beispielen aus der Norddobrudscha gezeigt, wie bulgarische Denkmäler in rumänischer Zeit zerstört bzw. umgewidmet wurden. Während an der Kirche von Macin das bulgarische Kriegerdenkmal und der dazugehörige Soldatenfriedhof zerstört wurden, wurde an dem Denkmal neben der Kirche in dem Dorf Murfatlar lediglich eine Tafel ausgewechselt und ein Text in Erinnerung an die rumänischen Soldaten angebracht31. In anderen Fällen existieren die Denkmäler Suppan (Hgg.), Klio ohne Fesseln? Historiographie im östlichen Europa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus (Wien–Frankfurt/Main–Berlin 2003) 473–486, hier 479. Zur Konkurrenz für die Geschichtswissenschaft durch populäre Darstellungen und zur Gefahr von Verschwörungstheorien vgl. Ulf Brunnbauer, Kontinuitäten und Wandel. Aktuelle Trends in den postsozialistischen Historiographien Südosteuropas; in: Südostforschungen 61– 62 (2002–2003) 373 –398, hier 376. 29 Deniza Petrova, Der Rumänienfeldzug 1916/17 in der bulgarischen Kriegserinnerungskultur; in: Angelow (Hg.), Weltkrieg 264. 30 Vălčo Radev, Părvite čestvanija na mirnoto vrăštane na Južna Dobrudža v Silistra [Die ersten Feierlichkeiten der friedlichen Rückkehr der Süddobrudscha in Silistra]; in: Milen Kumanov, Petăr Bojčev (Hgg.), 60 godini Krajovski dogovor [60 Jahre Vertrag von Craiova] (Tutrakan 2001) 134–147. In diesem Zusammenhang spielte auch Stefan Karadža als bulgarischer Erinnerungsort wieder eine Rolle: In Silistra wurde ihm ein Denkmal errichtet. Radev, čestvanija 139 –140. 31 Petăr Bojčev, Radoslav Simeonov, Bălgarski voenni grobišta i pametnici v Severna Dobrudža ot vremeto na Părvata svetovna vojna (1916–1918) [Bulgarische Soldatenfriedhöfe und Kriegerdenkmäler aus der Zeit des Ersten Weltkriegs (1916–1918) in der Norddobrudscha]; in: Petăr Bojčev, Stančo Stančev, Todor Petrov, Rumjana Simeonova (Hgg.), Părvata svetovna vojna i săbitijata na dobrudžanskija front [Der Erste Weltkrieg

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zwar noch, sind aber in einem sehr schlechten Zustand und die bulgarischen Bezüge nicht mehr erkennbar, so an einem Denkmal auf dem Soldatenfriedhof in Agighiol (Bezirk Tulcea)32. Dieser Untersuchungsgegenstand könnte leicht auf nicht-militärische Objekte ausgedehnt und nach der Umwidmung von Kirchen und Tilgung des bulgarischen Bezugs gefragt werden, beispielsweise im Falle der Georgskirche in Tulcea (Sv. Georgi bzw. Sf. Gheorghe), die in Quellen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges als bulgarische Kirche bezeichnet und im Jahr 1917 von dem bulgarischen General Kantardžiev besucht wurde33. In der umgekehrten Richtung wäre es interessant zu erfahren, was mit rumänischen Erinnerungsorten passierte, wie etwa dem rumänischen Ehrenmal in Dobrič (Bazargic), die dem Versuch dienten, den Cadrilater in der Zwischenkriegszeit zu rumänisieren34. Ein letzter Aspekt in diesem Zusammenhang betrifft lokale Initiativen, so etwa die Feierlichkeiten zu Ehren des bulgarischen Kämpfers aus der Zeit der „bulgarischen Wiedergeburt“, Stefan Karadža, die von bulgarischen Komitees in der Zeit des Ersten Weltkrieges angeregt wurden35. Und schließlich wären auch die Kontinuitäten irredentistischer Diskurse herauszuarbeiten, indem beispielsweise die Proteste gegen den Frieden von Neuilly und die Ereignisse an der Dobrudschafront] (Tutrakan 2011) 245–256. Bojčev, Simeonov, voenni grobišta 253. Ähnliche Denkmäler sind aus Makedonien bekannt, so beispielsweise jenes, das 1916 von der 5. Bulgarischen Infanteriedivision errichtet wurde. Vgl. Iljustracija Svetlina, September-Oktober 1916, 24 (1916), Nr. 9 –10, 8. Auch am Beispiel Makedoniens kann der Frage nachgegangen werden, wie sich der territoriale Besitzwechsel auf die Erinnerungsorte der jeweils unterlegenen Kriegspartei auswirkte. Zur Rückkehr von Priestern, die von den serbischen Behörden vertrieben wor den waren, vgl. Ebd., Juli 1916, 24 (1916), Nr. 7, 8. Zu Vardar–Makedonien im Ersten Weltkrieg vgl. außerdem Björn Opfer, Das bulgarisch–orthodoxe Exarchat und die Okkupationsverwaltung in Vardar–Makedonien 1915–1918; in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 54/2 (2002) 154–170. 33 Hierzu liegen in den Beständen der Regionalbibliothek Varna Fotos vor. Zur Kirche „Sv. Georgi“ und zur bulgarischen Gemeinde in Tulcea existiert auch eine interessante Beschreibung des bulgarischen Priesters Todor Pandžarov. Vgl. Schreiben Todor Pandžarovs an den Metropoliten von Ruse, 29. März/12. April 1918 – DA Ruse, f. 43K, op. 1, a.e. 610, l. 170–172. 34 In den digitalen Beständen der Regionalbibliothek Dobrič gibt es ein entsprechendes Foto von einem rumänischen Ehrenmal in der Stadt Dobrič (Bazargic), das laut Bildbeschreibung im Jahr 1929 errichtet wurde und als Heldendenkmal an die im Ersten Weltkrieg gefallenen rumänischen Soldaten erinnerte: http://www.libdobrich.bg/files/digital/images/ 48f.jpg und http://www.europeana.eu/portal/record/09431/files_digital_images_48f_jpg. html, [28. April 2016]. 35 Es ging um den 50. Jahrestag des Todestags Karadžas, den der Zentrale Dobrudschaner Nationalrat aus Babadag am 11. August 1918 begehen wollte. Hierfür wurden die National komitees in der Dobrudscha zur Teilnahme aufgefordert. Zugleich sollte dieser Tag ein Nationalfeiertag in der Dobrudscha sein. Vgl. Zentraler Dobrudschaner Nationalrat an die Präsidenten der Dobrudschaner Nationalkomitees, Babadag, 26. Juli 1918 – DA Varna, ČP 413, l. 2. 32

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in der Zwischenkriegszeit mit heute noch existierenden Territorialforderungen verglichen werden, wie sie von der bulgarischen Partei VMRO vertreten werden, die nach der bekannten makedonischen revolutionären Organisation benannt ist und alljährlich einen Kalender herausgibt, der ein „Großbulgarien“ in den Grenzen von San Stefano zeigt und auch die Norddobrudscha mit einschließt, obwohl diese kein Teil von „San Stefano-Bulgarien“ war, sondern aufgrund vornehmlich historischer Argumente gefordert wurde. Ein weiterer wichtiger Forschungsgegenstand, der Erinnerung und Historiographiegeschichte miteinander verknüpft, betrifft die vorherrschenden Geschichtsbilder zum Ersten Weltkrieg. So ist die verklärende Sicht auf die bulgarisch–russischen Beziehungen, die durch die kommunistische Geschichtsschreibung und ihre Betonung der Verbrüderung russischer und bulgarischer Soldaten betont wurde, auf den Prüfstand zu stellen, indem die bis heute vorherrschenden Diskurse und Bilder mit zeitgenössischen Quellen kontrastiert werden. Ein markantes Beispiel ist die Beschießung des Hafens von Varna durch die russische Kriegsmarine im Oktober 1915, die für die kommunistische Historiographie ein politisch-ideologisches Problem darstellte. Diese ist fotografisch dokumentiert und hat auch einen interessanten Niederschlag in den Quellen gefunden, so in dem Bericht einer Augenzeugin aus Varna36. Wenn bestimmte Interpretationen die Gegnerschaft von Bulgaren und Russen während des Krieges als eine Abweichung vom „Normalfall“ der Beziehungen zwischen den beiden slawischen „Brudervölkern“ ansehen, reibt sich diese Sicht an den zeitgenössischen Darstellungen etwa in bulgarischen Zeitungen37. Auch wenn diese aufgrund des Kontexts propagandistisch aufgeladen waren und zudem der Zensur unterlagen, fällt auf, dass die russischen Gegner auffallend negativ dargestellt werden. Nicht nur finden sich Abdrucke von Fotos russischer Soldaten in österreichisch-ungarischer Kriegsgefangenschaft in bulgarischen Zeitungen wieder, dort wird auch von bulgarischer Seite ein zivilisatorischer Unterschied zu den Russen konstruiert38. Diese zeitbedingten Interpretationen würden eine vertiefende Untersuchung über einen längeren Zeitraum verdienen, was in ähnlicher, wenn auch eingeschränkter Form auch auf Rumänien zutrifft, das nach 1944 als Verbündeter im sozialistischen Lager Vgl. Tagebuch von Radka Stojanova – DA Varna, f. 1142, op. 1, a.e. 35, l. 112–114. Vgl. beispielsweise Grigorij Škundin, Moral’no–psichologičeskie aspekty russko–bolgarskogo vooružennogo protivostojanija v Dobrudže 1916 –1917 gg. [Moralische und psychologische Aspekte der bewaffneten russisch-bulgarischen Konfrontation in der Dobrudscha 1916 –1917]; in: Bojčev, Stančev, Petrov, Simeonova (Hgg.), svetovna vojna 71–84. 38 So beispielsweise auf zwei Fotos, die russische Kriegsgefangene vor und nach der Rasur zeigen: Iljustracija Svetlina, Januar 1916, 24 (1916), Nr. 1, 8. 36 37

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ebenfalls mit einem Tabu belegt war. In den zeitgenössischen Darstellungen wird Rumänien u. a. als Prostituierte gezeigt. Dieses Motiv wurde auch für Frankreich und Großbritannien verwendet, beispielsweise in der bulgarischen Satirezeitschrift „Balkanski Papagal“39.

4. Schlussbemerkungen Aus den vorangegangenen Überlegungen, die natürlich nur einige Aspekte betreffen und zudem stark auf eine geographische Region fokussiert sind, dürfte deutlich geworden sein, dass auf der Grundlage der jetzt zugänglichen Quellenbestände in Bulgarien vor allem Möglichkeiten für sozial- und kulturgeschichtliche Untersuchungen gesehen werden, in die der Erste Weltkrieg als Zäsur und Kontinuitätsmarkierung zugleich eingebettet wäre. Entwicklungen an der „Heimatfront“ und die Rolle politischer Gewalt und Fragmentierung in einer längerfristigen Perspektive spielen hier eine wichtige Rolle, zu denken ist hier unter anderem an Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung von rumänischer und bulgarischer Seite gleichermaßen (Komitadschi, Deportation und Internierung bulgarischer und weiterer Zivilisten in die Moldau im 1916, Aktivitäten der „Inneren Dobrudschaner Revolutionären Organisation“ in der Zwischenkriegszeit usw.)40. Die Ansätze für Untersuchungen über Nationsbildungsprozesse, Erinnerung und Historiographie müssten möglichst breit sein und den in Südosteuropa vorherrschenden ethnozentrischen Charakter der Historiographie überwinden, indem im Fall der Dobrudscha die bulgarische und rumänische Perspektive miteinander verschränkt und um weitere Aspekte ergänzt werden, beispielsweise russische Quellen (Verbündeter Rumäniens im Ersten Weltkrieg, Rolle 39 Vgl. Petrov, Gehl, Gefieder 212–213 und Petrov, Gehl, Balkanski papagal. Zum Westen als dem „Anderen“ in der bulgarischen Wahrnehmung vgl. Klaus Roth, „Bilder in den Köpfen“.Stereotypen, Mythen, Identitäten aus ethnologischer Sicht; in: Valeria Heuberger, Arnold Suppan, Elisabeth Vyslonzil (Hgg.), Das Bild vom Anderen. Identitäten, Mentalitäten, Mythen und Stereotypen in multiethnischen europäischen Regionen (Frankfurt a. M. 1998) 21–43. Am Beispiel des 18. und 19. Jahrhunderts: Nadja Danova, Obrazi na gărci i zapadnoevropejci v bălgarskata knižnina prez XVIII–XIX vek [Bilder von Griechen und Westeuropäern in bulgarischen Veröffentlichungen im 18. und 19. Jahrhundert]; in: Nikolaj Aretov (Hg.), Balkanskite identičnosti v bălgarskata kultura [Balkanische Identitäten in der bulgarischen Kultur], T. 4, (Sofija 2003) 92–132. Zur negativen Wahrnehmung Rumäniens vgl. außerdem Diana Michkova, « Alliés – scélérats »: de l’histoire des stéréotypes nationaux des Bulgares à l’endroit de leurs voisins; in: Bulgarian Quarterly (French edition) 2 / 3–4 (1992) 111–112. 40 Zu den Internierungen vgl. einführend Rumjana Simeonova, Sădbata na otvlečenite i internirani dobrudžanci v Moldova (1916–1918 g.) [Das Schicksal der verschleppten und internierten Dobrudschaner in der Moldau (1916 –1918)]; in: Bojčev, Stančev, Petrov, Simeonova (Hgg.), svetovna vojna 215 –224.

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der Komintern in der Zwischenkriegszeit, sowjetischer Einflussbereich nach 1944) oder deutsche (Verbündeter Bulgariens im Ersten Weltkrieg, wirtschaftspolitische Konzeptionen in Südosteuropa, Bedeutung für den Vertrag von Craiova 1940)41. In diesem Zusammenhang geraten weitere Themen in den Blick wie Nationalitäten, die nicht den beiden Titularnationen angehörten (Dobrudschadeutsche, Russen, Ukrainer und Lipovaner, Türken und Tataren) und als Minderheiten von den Nationsbildungsprozessen der Titularnationen (Bulgaren und Rumänen) in besonderer Weise betroffen waren42.

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Zur wirtschaftlichen Durchdringung Bulgariens durch das Deutsche Reich nach dem Ersten Weltkrieg vgl. u. a. Marija Koleva, Germanskata ikonomičeska politika kăm Bălgarija meždu dvete svetovni vojni 1919 –1939 [Die deutsche Wirtschaftspolitik gegenüber Bulgarien zwischen beiden Weltkriegen 1919 –1939] (Sofija 2012). 42 Aus Dokumenten in bulgarischen Archiven geht hervor, dass beispielsweise die Deutschen aus der nördlichen Dobrudscha einerseits Dienst in der rumänischen Armee taten, andererseits aber auch von den Deportationen und Internierungen im Jahr 1916 betroffen waren. Eine vertiefende Untersuchung der verschiedenen Kriegserfahrungen der DobrudschaDeutschen wäre ein besonders interessantes Forschungsthema. Zum Dienst in der rumänischen Armee vgl. die Statistik zur Stadt Babadag, aus der hervorgeht, dass am 18.12.1917, als die Statistik erstellt wurde, u. a. 153 Bulgaren, je 10 Türken und Tataren, 4 Russen sowie ein Lipovaner und ein Deutscher in der rumänischen Armee Dienst taten. Vgl. Statis tische Zeugnisse über die Bevölkerung in der Norddobrudscha, Bezirk Tulcea – DA Varna, f. 80K, op. 1, a.e. 17,l. 20. Zur Deportationserfahrung von Dobrudschadeutschen liegen interessante Berichte aus dem Dorf Ali Anife im Bezirk Dobrič vor, die im Bestand der katholischen Kirchengemeinde Ruse im Staatsarchiv Ruse aufbewahrt werden. Vgl. Vesela Pelova, Radoslav Simeonov, Germanija i Dobrudža – na krăstopăt meždu Chersonska gubernija i Tretija Rajch. Letopisnata kniga na nemskite preselnici ot selo Ali anife, Dobričko po krăstopătištata na Dobrudža i svedenijata za interniraneto im ot rumăncite sled zavzemaneto na Dobrudža (prev. ot nemski ezik) [Deutschland und die Dobrudscha – am Scheideweg zwischen der Gubernija Cherson und dem Dritten Reich. Die Chronik der deutschen Übersiedler aus dem Dorf Ali Anife (Bez. Dobrič) zum Scheide weg der Dobrudscha und Berichte über ihre Internierung durch die Rumänen nach der Eroberung der Dobrudscha (Übersetzung aus dem Deutschen)]; in: Petăr Bojčev, Daniela Ivanova (Hgg.), Dobrudža na krăstopătja na istorijata [Die Dobrudscha am Scheideweg der Geschichte] (Tutrakan 2013) 204–217.

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Das österreichisch-ungarische Nationalitätenproblem und der Erste Weltkrieg Österreich-Ungarn ist bis heute Sinnbild eines Vielvölkerstaates, der wegen gegensätzlicher nationaler Interessen seiner Völker gegen Ende des Ersten Weltkrieges auseinanderfiel. Als den herrschenden Eliten dieser Doppelmonarchie – und ihrer Teile Österreich und Ungarn – angesichts der drohenden Kriegsniederlage die Macht entglitten war, die Völker zusammenzuhalten, gingen diese ihre eigenen Wege. Ende Oktober bis Mitte November 1918 löste sich die Habsburgermonarchie auf und die Landkarte Mitteleuropas änderte sich grundlegend. Die Ursache des Zusammenbruchs wird – neben der militärischen Situation – in den nationalen Konflikten gesehen, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend verstärkten. Hingegen kommt der Nationalitätenkonflikt in Untersuchungen zur diplomatischen Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges nur als eine vieler Ursachen am Rand vor. Dies liegt vermutlich daran, dass der Kriegsausbruch als internationales Ereignis die Gegensätze der europäischen Großmächte weitaus mehr in den Fokus der Betrachtung rückt als innere Ereignisse. Österreich-Ungarns Verhältnis zu Serbien, nicht aber die österreichische und die ungarische Innenpolitik gegenüber der südslawischen Bevölkerung erscheinen so von primärem Interesse.

A. Österreich-Ungarns Weg in den Ersten Weltkrieg In der internationalen Forschung stehen sich zu den Ursachen des Ersten Weltkrieges zwei unterschiedliche Sichtweisen gegenüber. Die eine sieht die Alleinschuld bei Deutschland. Auf ihr baute die Legitimation der harten Friedensbestimmungen des Vertrages von Versailles 1919 auf, und sie bestimmte über Jahrzehnte als These des Hamburger Historikers Fritz Fischer die Diskussion1. Ihr gegenüber steht die These, dass Europa in den Krieg hineingeschlittert sei, den niemand wollte, wie sich der britische Premierminister David Lloyd George in seinen Memoiren ausdrückte2. Diese Interpretation ist in den letzten 1 2

Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht (Düsseldorf 1961). David Lloyd George, War Memoirs 1 (London 1933) 32 ff.

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Jahrzehnten wieder dominanter geworden3 und hat in Christopher Clark ihre Galionsfigur gefunden4. Die Frage, warum es gerade Österreich-Ungarn war, das die ersten Schritte in den Weltkrieg mit seinem Ultimatum und der Kriegserklärung an Serbien gesetzt hat, stellt sich für die These der deutschen Alleinschuld nicht, ist es doch für diese Theorie der deutsche Wille zum Krieg, der die innerlich wie äußerlich geschwächte Doppelmonarchie als ihr Werkzeug instrumentalisierte5. Sie wird aber zentral, wenn Österreich-Ungarn als selbstständig handelnder Akteur betrachtet wird, was für die These, dass keine der Großmächte den großen Krieg wollte, zwingend ist, denn dann trieb die Monarchie niemand aktiv von außen. Der Anlass für diese Schritte war einfach und simpel die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand durch eine von dem serbischen Geheimbund „Schwarze Hand“ ausgehende Verschwörung. Die Ursachen für die Kriegserklärung waren aber komplexerer Natur. Denn dass ÖsterreichUngarn ganz massive Probleme mit Serbien hatte, wurde nicht erst durch das Attentat vom 28. Juni 1914 offenbar, sondern sie waren schon seit langem bekannt. Der Hinweis, dass Österreich-Ungarn „nur“ einen lokalen „3. Balkankrieg“ anstrebte, den großen europäischen Krieg, den Weltkrieg, dabei lediglich in Kauf nahm, ändert nichts daran, diese Bereitschaft zumindest plausibel zu machen. Besonders evident wird eine solche Begründung, weil Österreich-Ungarn im Vergleich zu den anderen europäischen Großmächten – abgesehen von Italien – am schlechtesten auf militärische Auseinandersetzungen vorbereitet war6 und sich die Lokalisierung des Krieges spätestens nach der Übergabe des Ultimatums schnell als illusorisch erwies. Österreich-Ungarn handelte in vollem Bewusstsein, damit einen Flächenbrand auszulösen und ebenso in vollem Bewusstsein, nur sehr ungenügend gerüstet zu sein. Für eine Darstellung der Julikrise gilt es, diesen Widerspruch aufzulösen. Die Antworten werden oft im psychologischen Bereich gesucht, wie Georg Christoph Berger Waldenegg in seiner Untersuchung zur Angst als „entschei Darstellung der Auseinandersetzung mit der „Fischerite orthodoxy“ William Mulligan, The Origins of the First World War (= New Approaches to European History 43, Cambridge 2010) 14–18. 4 Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog (München 11 2013). 5 Fischer, Griff nach der Weltmacht 97. 6 Ausführlich dargelegt bei Günther Kronenbitter, „Krieg im Frieden“. Die Führung der k.u.k. Armee und die Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906–1914 (= Studien zur Internationalen Geschichte 13, München 2003) 145 –148. 3

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dendes Kriegsmotiv“ zeigt7. Das von Karl Kraus stammende Zitat, dass sich Österreich-Ungarn aus Angst vor dem Henker in den Selbstmord rettete, kommentierte der Wiener Historiker Hannes Leidinger: „Die ‚suizidale Stimmungslage‘ verbunden mit der Bereitschaft, die Welt in Brand zu stecken, lässt den ‚Weg in die Katastrophe‘ und den ‚Tod des Doppeladlers‘ solcherart geradezu als ‚erweiterten Selbstmord‘ von gigantischem Ausmaß und mit millionenfachem Leid erscheinen.“8 Für Clark liegt die Ursache hingegen in der weltfremden Hoffnung der Doppelmonarchie auf Entspannung mit Serbien, die Clark gerade in der unmittelbaren Zeit vor dem Attentat wirken sieht9, bedingt durch einen naiven österreichisch-ungarischen Außenminister und durch einen gerissenen serbischen Ministerpräsidenten: „Bei der ersten Begegnung zwischen den beiden [während Nikola Pašićs Besuch in Wien am 3. Oktober 1913] vor dem Mittagessen war Berchtold von Pašićs Liebenswürdigkeit so entwaffnet, dass er es, als das Thema Albanien zur Sprache kam, versäumte, den vollen Ernst der österreichischen Einwände gegen die serbische Besetzung deutlich zu machen. […] Diese geradezu komische Folge von Fehlern und Irrtümern (vorausgesetzt, man kann Bilińskis Erinnerungen ein Jahrzehnt später Glauben schenken) ist zweifellos ein Indikator für die herrschende Unordnung in Österreich, eventuell auch für Berchtolds fast schon schmerzlich höfliche Schüchternheit und Zurückhaltung, aber sie illustriert auch Pašićs berüchtigte Kunst im Ausweichen.“10 Diese Argumentation stützt sich auf Ausführungen Bilińskis, damals gemeinsamer Finanzminister, in seinen 1924 /25 erschienenen Memoiren11. An dem Tag selbst, den Bilińskis ausführlich aus der Retrospektive beschrieb, dem 3. Oktober 1913, hielt der Protokollführer hingegen dessen Ausführungen im gemeinsamen Ministerrat fest: „Was Pašić heute gesagt habe [Serbiens Wunsch auf ein freundliches Verhältnis zu Österreich-Ungarn], sei sicher wahr, denn Serbien brauche Zeit, um sich zu konsolidieren. Daß die Serben für einen späteren Zeitpunkt die Absicht haben, uns unsere südlichen Provinzen streitig zu machen, darüber bestünde Georg Christoph Berger Waldenegg, Selbstmord aus Angst vor dem Tod: Überlegungen zur Beurteilung von Emotionen durch Historiker; in: Patrick Bormann, Thomas Freiberger, Judith Michel (Hgg.), Angst in den internationalen Beziehungen (= Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte 7, Göttingen 2010) 47–70. 8 Hannes Leidinger, Die „Kriegsschuld“; in: Ders., Verena Moritz, Karin Moser, Wolfram Dornik (Hgg.), Habsburgs schmutziger Krieg. Ermittlungen zur österreichisch-ungarischen Kriegsführung 1914 –1918 (St. Pölten – Salzburg –Wien 2014) 25– 49, hier 49. 9 Clark, Schlafwandler 165. 10 Ebd., 141 f. 11 Leon Biliński, Wspomnienia i Documenty, 2 Bde. (Warszawa 1924, 1925). 7

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natürlich kein Zweifel. Wir müssen uns auf diesen großen Kampf vorbereiten und daher ohne Rücksicht auf die allerdings sehr geschwächten Finanzen und die sehr prekäre wirtschaftliche Lage schon heute die Armee entsprechend verstärken.“12 Dieser Meinung trat kein Teilnehmer des Ministerrates entgegen, ja alle, so auch der Außenminister und beide Ministerpräsidenten, betonten diesen Sachverhalt ebenso. Davon, dass ein blauäugiger Außenminister am 28. Juni 1914 jäh aus seinen Träumen gerissen wurde, davon kann keine Rede sein. Ein weiteres Erklärungsmuster sieht die Politik Österreich-Ungarns in der Julikrise als Ergebnis eines Lernprozesses. Es sei zwar möglich gewesen, eigene Interessen – konkret die Schaffung Albaniens – auf diplomatischem Verhandlungsweg zu erreichen, nicht aber, als europäisches Konzert diese Beschlüsse selbst gegen den Zwergstaat Montenegro durchzusetzen. Hier, wie auch im Oktober 1913 gegen Serbien, setzte Österreich-Ungarn auf militante Drohung im Alleingang und hatte Erfolg13. Mit „trial and error“ sei die österreichisch-ungarische Politik auf den Weg der militanten Drohung gelenkt worden, weil die nicht-militante Diplomatie als erfolglos, als „error“ erschien. Hier wird aber ausgeklammert, dass es Österreich-Ungarn in der Julikrise nicht mehr darum ging, Serbien durch Drohung zu etwas zu bewegen. Die Drohung, also das Ultimatum, sollte nur durch die serbische Ablehnung die Rechtfertigung des Krieges sein. Dass sich aber besonders Russland durch Drohungen aus dem Konflikt heraushalten würde, das konnte man in Wien zwar hoffen, aber erwartet wurde es in der Julikrise keineswegs. Wieder andere wenden die ursprünglich Deutschland zugedachte These des Präventivkrieges nun auf Österreich-Ungarn an. Da Russland wegen seines Rüstungsprogrammes kontinuierlich stärker würde, sei ein Krieg je früher, desto besser: „Rather than wait, as the Hungarian Minister President Tisza put it, for the Entente to forge ‚an iron ring around us‘ in the Balkans as a prelude to ‚world war‘, Habsburg leaders chose to act. An immediate, decisive attack on Serbia ironically appeared in the summer of 1914 to offer the best chance to avoid disaster.“14 12

Gemeinsamer Ministerrat vom 3. Oktober 1913, Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie VI: 1908–1914, bearbeitet von Anatol Schmied-Kowarzik (Budapest 2011) 609. Dieser Ministerrat wird ausführlich kommentiert bei Samuel Ruthven Williamson, Austria-Hungary and the Origins of the First World War (= The making of the 20th century, Basingstoke 1991) 151 f. 13 Kronenbitter, „Krieg im Frieden“ 525. 14 Alexander Watson, Ring of Steel. Germany and Austria-Hungary at war, 1914–1918 (New York 2014) 28.

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Diese Erklärung setzt aber voraus, dass Österreich-Ungarn den Krieg als unausweichlich ansah. Dies trifft zwar durchaus auf Franz Freiherr Conrad von Hötzendorf, nicht aber auf die österreichisch-ungarische Außenpolitik von der Annexionskrise 1908 / 09 bis zu den Balkankriegen 1912 /13 zu. Die Außenpolitik war vielmehr bestrebt, nicht in militärische Abenteuer hineingezogen zu werden. Daher müsste eine solche These zuerst klären, ab wann und warum im Juli 1914 der Krieg mit Serbien dann als unausweichlich angesehen wurde. Wenn Österreich-Ungarn in der Julikrise einerseits nicht unter fremdem Diktat und andererseits ebenso wenig überstürzt und in Panik gehandelt hat, dann fehlt bisher eine plausible sachliche Erklärung des österreichisch-ungarischen Handelns in der Julikrise. Nachdem sich die Antwort nicht nur aus den internationalen Beziehungen ergibt, müssen auch die inneren Verhältnisse untersucht werden. Und weil der Konflikt durch das Attentat eines serbischen Gymnasiasten aus Bosnien erfolgte, rückt automatisch das innere südslawische Problem Österreich-Ungarns ins Zentrum der Fragestellung.

1. Die südslawische Frage als internationales Problem Vom Tage der Ermordung des serbischen Königs Aleksandar Obrenović am 11. Juni 1903 an hatte Österreich-Ungarn fundamentale Probleme mit Serbien. Nicht nur weil der neue König Petar I. und die meist von Pašić geführte Regierung eine Politik der Vereinigung aller von Serben bewohnten Gebiete betrieb – und sich damit fundamental gegen Österreich-Ungarn richtete –, sondern besonders auch deswegen, weil hinter dem Rücken der offiziellen serbischen Politik einflussreiche nationalistische und radikale Geheimbünde agierten. Serbien befand sich von nun an auf direktem Konfrontationskurs zur Habsburgermonarchie, der schon 1906 zum sogenannten Schweinekrieg führte, indem Österreich-Ungarn die Ein- und Durchfuhr serbischer Produkte (hauptsächlich Schweine) verbot15. Doch war es nicht diese Richtungsänderung der serbischen Politik selbst, die für Österreich-Ungarn zunehmend zu einem Problem wurde. Dies waren die Forderungen der eigenen südslawischen Bevölkerung nach politischen Veränderungen, die in dem Begriff des Trialismus gefasst werden können. Diese Forderung war nicht neu, erhielt aber ab 1903 eine neue innenpolitische und in Verbindung mit der serbischen Politik auch eine außenpolitische Sprengkraft. 15

Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie V: 1896 –1917, bearbeitet von Éva Somogyi (Budapest 1991) Einleitung, LVI – LX.

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Generell konsolidierte sich Österreich-Ungarn im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts von seinen akuten Krisen; in vielen cisleithanischen Nationalitätenkonflikten wurden Lösungen über Kompromisse in einzelnen Verwaltungseinheiten bis auf die Kronlandsebene gesucht, wie dem Mährischen Ausgleich 1905, dem Ausgleich der Bukowina 1910 und dem Galizischen Ausgleich 1914; die Agitation der ungarischen Opposition gegen die politische Gemeinschaft mit Cisleithanien (Forderung nach Trennung der Wirtschaftsgemeinschaft und nach einer eigenen ungarischen Armee innerhalb des gemeinsamen Heeres) konnte nach deren Wahlsieg 1905 mit ihrer Regierungsverantwortung (1906) überwunden werden. Dieser inneren Beruhigung stand aber der sich ständig verschärfende Konflikt mit den Südslawen gegenüber. Die Südslawen zerfielen in unterschiedliche nationale (Kroaten, Serben und Slowenen) und konfessionelle (katholisch, orthodox, muslimisch) Gruppen, und sie waren administrativ getrennt. 1910 lebten 2,2 Millionen in den cisleithanischen Kronländern Steiermark, Kärnten, Krain, dem Küstenland und Dalmatien, 650.000 in den südlichen Gebieten des engeren Ungarns, 2,3 Millionen im ungarischen Nebenland Kroatien-Slawonien und 1,8 Millionen in den vom gemeinsamen Finanzministerium verwalteten Provinzen Bosnien und der Herzegowina. Zusammen waren dies 7 Millionen Südslawen, die 13,5 % der Gesamtbevölkerung Österreich-Ungarns ausmachten. Durch diese vielfache Zerrissenheit konnten ständig Interessengegensätze zwischen ihnen entstehen, so dass die Politik viele Ansatzpunkte hatte, die einzelnen Gruppen gegeneinander auszuspielen. Dies begann sich 1903 grundlegend zu ändern, als Ante Trumbić am 7. November in einer programmatischen Rede im dalmatinischen Landtag eine neue politische Zielsetzung entwickelte. Dieser sogenannte „Neue Kurs“ sah Änderungen in drei Richtungen an den bisherigen Forderungen vor. Bisher verlangten nur die Kroaten die Ausweitung des Dualismus in einen Trialismus, indem das ungarische Nebenland Kroatien-Slawonien mit dem cisleithanischen Kronland Dalmatien vereinigt werden sollte. So wie in Ungarn die Magyaren sollten die Kroaten im sogenannten „Dreieinigen Königreich“ Kroatien-Slawonien-Dalmatien tonangebend sein. Mit dem Neuen Kurs bezog sich die Forderung nach Gleichberechtigung innerhalb der Habsburgermonarchie auf Kroaten und Serben gleichermaßen. Später konnten auch die Slowenen problemlos einbezogen werden. Die Forderung nach Vereinigung erstreckte sich nun nicht mehr nur auf das Dreieinige Königreich, sondern auch auf andere von Südslawen bewohnte Gebiete, wie Bosnien-Herzegowina und Istrien, später auch die slowenischen Gebiete. Die dritte Änderung war aber die entscheidende. Denn bisher bezogen sich alle Forderungen nur auf eine Reform im Rahmen der Habsburgermonarchie;

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nun aber wurde die Vereinigung bedingungslos angestrebt, notfalls als Einigung außerhalb des habsburgischen Rahmens. Trialismus war von nun an keineswegs mehr als Forderung zu verstehen, sondern nur mehr als Angebot der Südslawen, ihre Vereinigung innerhalb der Monarchie zu vollziehen. Dieser Neue Kurs verbreitete sich in den südslawischen Gebieten Österreich-Ungarns schnell und führte 1905 zur Kroatisch-Serbischen Koalition, die sowohl im cisleithanischen Dalmatien wie im ungarischen Kroatien-Slawonien beheimatet war und damit tatsächlich eine den Dualismus in Frage stellende Kraft war. Zudem gewann dieses Parteienbündnis ab 1906 alle Wahlen in Kroatien-Slawonien. Diese Erfolge des Neuen Kurses dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er keineswegs unumstritten war. Besonders in Cisleithanien und in Bosnien-Herzegowina standen die (kroatischen und slowenischen) katholischen Strömungen und Parteien einer Vereinigung mit den orthodoxen Serben vehement entgegen16. Verkürzt kann gesagt werden, dass es sich um das Ringen der Dominanz des nationalen (jugoslawischen) mit dem religiösen (kroatischen und slowenischen) Prinzip handelte. Die Zeit bis zum Attentat auf Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 war daher ein Machtkampf dieser beiden Richtungen um die Dominanz unter der südslawischen Bevölkerung, der sich aber, wenn die Habsburgermonarchie keine Reformbereitschaft zeigte, zu Gunsten des Jugoslawismus des Neuen Kurses verschieben musste. Und genau deshalb wurde diese innenpolitische südslawische zur außenpolitischen Frage, denn sie verschränkte sich mit dem serbischen Problem. Je stärker die nationale jugoslawische Strömung unter den Südslawen war, desto größer musste der Einfluss Serbiens auf die Südslawen werden, und je stärker dessen Einfluss war, desto mehr beförderte dies wieder diese Strömung.

2. Aehrenthals AuSSenpolitik Diesen Teufelskreis versuchte Außenminister Aehrenthal zu durchbrechen. Nachdem er am 24. Oktober 1906 zum gemeinsamen Außenminister ernannt worden war, war er zunächst bestrebt, die Macht Österreich-Ungarns international durch das sogenannte Sandžak-Eisenbahnprojekt, das die Monarchie mit Saloniki (Thessaloniki; Thessaloniki) verbinden sollte, zu demonstrieren.

16

Marko Trogrlić, Die Südslawische Frage als Problem der österreichisch-ungarischen und internationalen Politik; in: Helmut Rumpler, Harald Heppner, Erwin A. Schmidl (Hgg.), Anatol Schmied-Kowarzik (Red.), Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg 1  /  2  : Die Neuordnung Mitteleuropas ( = Die Habsburgermonarchie 1848  – 1918 XI /1/2, Wien 2016) 965  – 1015, hier 965  –  969.

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Gleichzeitig aber bemühte er sich um eine Beilegung des von seinem Vorgänger Agenor Graf Gołuchowski begonnenen Schweinekrieges mit Serbien ohne eigenen Gesichtsverlust. Dies gelang zwar mit der Einigung auf einen neuen Handelsvertrag, der mit 1. September 1908 provisorisch für ein halbes Jahr in Kraft gesetzt wurde. Die massiven Differenzen mit Serbien in der folgenden Annexionskrise bewirkten aber, dass der Vertrag Ende März 1909 ersatzlos auslief. Schon ab 1907 drängte der gemeinsame Finanzminister István Freiherr Burián von Rajecz darauf, Bosnien-Herzegowina zu annektieren. Dem trat Aehrenthal jedoch vehement entgegen. In einem Memorandum Ende April 1908 riet er davon ab, da dies eine Aufhebung der Berliner Kongressakte von 1878 bedeute und Österreich-Ungarn für die politischen Verwicklungen, die darauf folgen würden, militärisch nicht gerüstet sei. Wenn aber andere den Status quo am Balkan ändern sollten, dann müsse Österreich-Ungarn trotz aller Gefahren zur Annexion Bosnien-Herzegowinas schreiten17. Genau diese Situation trat Ende Juli 1908 ein, als die Jungtürkische Revolution das alte osmanische Herrschaftssystem hinwegfegte. Der „juristische Schwebezustand“18 Bosnien Herzegowinas, von Österreich-Ungarn verwaltet zu werden, aber Teil des Osmanischen Reiches zu sein, wurde nun unhaltbar, und Aehrenthal begann umgehend, die Annexion besonders durch Absicherung gegenüber Russland diplomatisch vorzubereiten19. Zwar war die Annexion nicht die friedliche Selbstverständlichkeit, auf die Aehrenthal hingearbeitet hatte. Die Großmächte Großbritannien und Russland traten vehement gegen diesen Schritt auf ebenso wie das betroffene Osmanische Reich. Ganz besonders aufgebracht war Serbien, das sich in seinen Expansionsmöglichkeiten beschnitten fühlte. Dennoch gelang es, mit massiver deutscher Unterstützung, diesen Konflikt friedlich und als österreichisch-ungarischen diplomatischen Erfolg zu beenden. Dass damit eine „günstige Gelegenheit“ vertan worden war, die serbische Gefahr militärisch und damit dauerhaft entschärft zu haben, wie Generalstabschef Conrad dem Außenminister vorwarf, wies Aehrenthal in seiner Hietzinger Denkschrift vom 15. August 1909 entschieden zurück: „Aber selbst wenn wir den Krieg hätten forcieren wollen, wäre es blos zu einem an Geld und 17

Bemerkungen zur II. Denkschrift des k.u.k. gemeinsamen Finanzministers Freiherrn v. Burián über Bosnien und die Herzegovina [Ende April 1908] – ÖStA, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Kab. Kanzlei, Korrespondenzakten 714/1908. 18 Ferdinand Schmid, Bosnien und die Herzegovina unter der Verwaltung Österreich Ungarns (Leipzig 1914) 25. 19 Gemeinsamer Ministerrat vom 10. September 1908, Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates VI, 203 ff.

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Menschenleben kostspieligen Ein- und Ausmarsch nach Serbien und Montenegro gekommen. An ein Festsetzen in diesen Ländern wäre bei der europäischen Situation nicht zu denken gewesen.“20 Die Denkschrift war aber keineswegs nur eine Rechtfertigung gegen Conrads Kritik. Sie war vielmehr Aehrenthals gesamtpolitisches Programm. Zwar könne nicht geduldet werden, „dass dieser kleine Staat an unserer Grenze einen Attractionsherd bilde“. Er fährt aber dann fort: „Letzteres zu verhindern ist aber mehr eine innere Frage der Monarchie, das heißt, die Entscheidung, wohin das Südslaventhum mit seinen Aspirationen gravitieren wird, wird von der Politik, die wir in Sarajevo und Agram führen werden, abhängen.“21 Die Aufgabe der Außenpolitik sah Aehrenthal dann darin, Serbien an seiner südlichen Grenze entweder durch das Osmanische Reich, oder, sollte sich dieses als zu schwach erweisen, durch Bulgarien und Albanien zu beschäftigen. Aehrenthals Plan war es also, mit Hilfe der Außenpolitik der Politik im Inneren die Ruhe für eine Aussöhnung der Südslawen mit der Monarchie zu verschaffen. Mit dieser Aussöhnung hätte Serbien seinen Einfluss auf die Südslawen verloren, und es wäre damit kein außenpolitisches Problem mehr gewesen. Entsprechend richtete Aehrenthal die Außenpolitik aus. Da er an der Machtkompetenz Konstantinopels zweifelte, den Status quo aus eigener Kraft halten zu können, fuhr er die Doppelstrategie, auf das Osmanische Reich zu setzen, solange es den Balkanraum behaupten konnte; für den Fall aber, dass dies nicht gelänge, sollten Bulgarien und Albanien bereitstehen, Serbien einzuengen22. So stellte sich Österreich-Ungarn zwar nicht hinter die deutsche Politik, die offen das Osmanische Reich zu stützen versuchte, aber auch nicht offen dagegen. Indirekt wurden aber gegen türkisches Interesse Bulgarien und das Zusammenwachsen der albanischen Stämme zu einer Nation gefördert23. Somit gelang es Aehrenthal, das Augenmerk Serbiens von Österreich-Ungarn abzulenken. Nun galt es, den innenpolitischen Teil seiner Strategie umzusetzen. Die Einflussmöglichkeiten des Außenministers auf die innere Politik waren jedoch rechtlich sehr beschränkt. Es war ihm nicht gestattet, sich in die inneren Belange beider Teile der Monarchie einzumischen, besonders restriktiv 20

Geheimes Promemoria Aehrenthals vom 15. August 1909 – ÖStA, KA, Militärkanzlei Seiner Majestät (MKSM), 50-2/1-6/1909, zit. in Österreich-Ungarns Aussenpolitik. Von der bosnischen Krise 1908 bis zum Kriegsausbruch 1914. Diplomatische Aktenstücke des Österreichisch-Ungarischen Ministerium des Äußern 2: 27. Februar 1909 bis 31. August 1910 (Wien – Leipzig 1930) Nr. 1720, 440. 21 Ebd. 22 Ebd., 422 f. 23 Dazu mit Literaturhinweisen Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates VI, Einleitung 118 f.

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formuliert im ungarischen Ausgleichsgesetz24. Nur für die Verwaltung BosnienHerzegowinas war die gemeinsame Regierung zuständig; allerdings wurde sie bis zum Landesstatut vom 17. Februar 1910 durch den gemeinsamen Finanzminister vertreten. Das Landesstatut wies dann der gemeinsamen Regierung die Oberaufsicht zu, dem gemeinsamen Finanzminister die Lenkung der Verwaltung, der aber in der konkreten Umsetzung an die Zustimmung der cisleithanischen und ungarischen Regierung gebunden war25. Im Rahmen seiner sehr begrenzten Einflussmöglichkeiten versuchte Aehrenthal jedoch, die Stellung der Südslawen in der Monarchie aufzuwerten. So schlug er schon im Vorfeld der Annexion vor, dass Franz Joseph nun den Titel eines „Königs von Bosnien“ annehmen solle, womit er einen nicht in dem des österreichischen Kaisers und des ungarischen Königs subsumierten Titel geführt hätte26. In den Diskussionen um das bosnische Landesstatut versuchte er, diesen Provinzen geringe, dennoch durchaus eigenständige Rechte in den gemeinsamen Angelegenheiten einzuräumen27. Aber seine Versuche, den Südslawen mit symbolischen Gesten Gesprächsbereitschaft in ihren Wünschen zu signalisieren, wurden von Cisleithanien und Ungarn rundweg abgelehnt. Besonders Ungarn war nicht bereit, über eine Reform des Dualismus oder gar einen Trialismus nachzudenken. Je stärker die Forderungen der Südslawen nach einer Vereinigung wurden, desto mehr setzte Ungarn auf Härte. Nachdem sich 1905 die Kroatisch-Serbische Koalition gebildet und 1906 die Wahlen zum Sabor gewonnen hatten, führte Ungarn 1907 auf den Strecken der ungarischen Staatsbahn in Kroatien-Slawonien Ungarisch als Verwaltungssprache ein, die zuvor Kroatisch gewesen war. 1908 wurde der Sabor aufgelöst und KroatienSlawonien 1912 unter kommissarische Verwaltung gestellt. Als Aehrenthal am 17. Februar 1912 starb, hatte sich das innenpolitische südslawische Problem keineswegs gebessert, die Zeit der relativen Ruhe vor serbischer Agitation, die Aehrenthal außenpolitisch verschafft hatte, war ungenutzt verstrichen.

3. Der Weg in den neuen auSSenpolitischen Kurs Zwar hielt sein Nachfolger, Leopold Graf Berchtold von und zu Ungarschitz, Fratting und Pullitz, an dieser Politik fest. Nur beschränkte er diese von Anfang an lediglich auf den außenpolitischen Teil. Damit machte sich aber Österreich24

Gesetzartikel XII/1867, § 27. Gesetz- und Verordnungsblatt für Bosnien und die Hercegovina Nr. 19/1910. Siehe dazu auch Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates VI, Einleitung 29 f., 84–88. 26 Gemeinsamer Ministerrat vom 10. September 1908, Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates VI, 208. 27 Ebd., 84 ff. 25

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Ungarn dauerhaft und alternativlos vom Erhalt des Status quo auf dem Balkan oder, wenn dies nicht möglich war, von einer Veränderung, von der zumindest Serbien nicht profitieren durfte, abhängig. Denn ohne innenpolitische Aussicht auf Befriedung der eigenen südslawischen Bevölkerung konnte ÖsterreichUngarn einer kommenden möglichen serbischen Agitation inhaltlich nichts entgegensetzen. Der Teufelskreislauf aus sich verstärkender südslawischer Unzufriedenheit und serbischem Einfluss konnte dann nicht mehr durchbrochen, sondern nur mehr mit Gewalt unterdrückt werden. Gerade in den beiden Balkankriegen hielt Österreich an seinem bisherigen Kurs fest. Bedeutete doch das schnelle Kollabieren des Osmanischen Reiches keineswegs ein Scheitern dieses Weges. In Wien hoffte man auf einen bulgarisch-serbischen Interessengegensatz und setzte auf die Schaffung eines albanischen Staatswesens auf diplomatischem Weg, das Berchtold auf den Londoner Botschafterkonferenzen auch durchsetzen konnte. Zu dessen Erhaltung war Österreich-Ungarn aber zum Krieg bereit. Am 23. April 1913 eroberte Montenegro die nordalbanische Stadt Skutari (Shkodra; Shkodra). Als sich die Großmächte uneins zeigten, wie darauf zu reagieren sei, leitete Österreich-Ungarn im Alleingang militärische Maßnahmen ein. Darauf zog sich Montenegro am 5. Mai wieder aus dem albanischen Gebiet zurück. In der Frage der Aufteilung Mazedoniens trat dann die bulgarisch-serbische Rivalität zutage, auf die Österreich-Ungarn gesetzt hatte. Aber seine Versuche, Bulgariens Forderungen auf Serbien zu konzentrieren, bei Gegensätzen gegenüber anderen aber gesprächsbereit zu sein, stießen in Sofia auf taube Ohren. Ende Juni 1913 überfielen bulgarische Truppen Serbien und Griechenland, brachen aber nicht durch die Stellungen. Das Osmanische Reich und das bisher neutrale Rumänien schlossen sich dem Kampf gegen Bulgarien an. Nach nur einem Monat zerplatzten die großbulgarischen Träume, damit scheiterte aber auch das Aehrenthalsche außenpolitische Konzept und zwar auf zwei Ebenen: Serbien war nun nach Süden saturiert und ungefährdet. Österreich-Ungarn hatte keine Möglichkeit mehr, Serbien von sich abzulenken, sondern zog nun sogar ständig dessen Aufmerksamkeit auf sich. Als Serbien Ende September 1913 auf albanisches Gebiet vordrang und es über einen Monat besetzt hielt, wurde es durch ein Ultimatum Österreich-Ungarns zum Rückzug gezwungen. Zum anderen bedeutete dieser serbische Sieg nicht nur eine Saturierung Serbiens nach Süden, sondern auch einen enormen Prestigegewinn, international, aber für Österreich-Ungarn weit wichtiger, unter seiner südslawischen Bevölkerung. Nicht nur, dass aus Agram und Sarajewo keine „Attraktionsherde“ geworden waren, um die südslawischen Interessen dahin „gravitieren“ zu lassen, wie Aehrenthal in seiner Hietzinger Denkschrift vom 15. August 1909 gemahnt hatte, Belgrad hatte alleine durch den Sieg in beiden Balkankriegen

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an Anziehungskraft gewonnen. Wenn dieser Staat dann auch noch propagandistisch aktiv würde, so befürchteten die zivilen und militärischen Entscheidungsträger der Monarchie, dann gäbe es für ihre Südslawen kein Halten mehr. Somit stellte sich nach dem Zweiten Balkankrieg die Frage, wie die Außenpolitik nach dem Scheitern des Aehrenthalschen Konzepts neu auszurichten sei. Schon im Jahr 1909 war dies aber keine rein außenpolitische, sondern eine massiv von den innenpolitischen Zuständen abhängige Frage, wie Aehrenthal damals sehr klar formuliert hatte. Aber im Gegensatz zu 1909 konnte Österreich-Ungarn 1913 nicht mehr eine Außenpolitik betreiben, die von der Hoffnung getragen wurde, dass eine „richtige“ innere Politik irgendwann schon folgen würde, was Aehrenthal getan hatte. Jetzt mussten Innen- und Außenpolitik miteinander harmonieren, das heißt die Innenpolitik hatte sich den außenpolitischen Zielen anzupassen oder umgekehrt. Weil aber der Außenminister in der Innenpolitik kein Mitspracherecht hatte, mussten Cisleithanien und Ungarn die Außen- mit ihrer Innenpolitik koordinieren. Solange es kein attraktives politisches Angebot an die eigenen Südslawen gab, konnte der einzige Schutz vor der serbischen Propaganda nur in der Demonstration oder nötigenfalls der Anwendung von Macht bestehen, und das nach innen und außen. Somit stand die österreichisch-ungarische Politik nach dem Zweiten Balkankrieg vor der Frage, durch ein Eingehen auf die südslawischen Wünsche zumindest die Chance zu haben, sich aus der Abhängigkeit von Serbien befreien zu können oder auf diese Chance zu verzichten, um den Dualismus zu erhalten. Die Entscheidung fiel im gemeinsamen Ministerrat vom 3. Oktober 1913, an dem Tag, als der serbische Ministerpräsident Pašić in Wien war. Auf dem Programm stand der „gemeinsame Voranschlag für das I. Semester 1914“. Wie üblich schilderte der Außenminister zunächst die außenpolitische Situation der Monarchie. Dass darüber dann aber diskutiert wurde, war zumindest ungewöhnlich. Thema war, wie auf die Verletzung der albanischen Grenze durch Serbien zu reagieren sei. Die sofortige militärische Lösung, die der auch geladene Generalstabschef Conrad beantragte, wurde zwar abgelehnt und stattdessen auf Vorschlag des ungarischen Ministerpräsidenten István Graf Tisza von Borosjenő und Szeged beschlossen, Serbien mittels Ultimatum zum Rückzug zu zwingen. Der militärische Weg sei international nicht zu vermitteln – auch Deutschland gegenüber nicht. Weil sich aber alle Teilnehmer darin einig waren, dass von Serbien weitere Provokationen ausgehen würden, stellte sich auch die Frage, wie einer zukünftigen Provokation begegnet werden sollte. Die Antwort aller Beteiligten war klar und einstimmig: man müsse sich auf eine militärische Auseinandersetzung mit Serbien vorbereiten. Conrad konnte zu Ende dieser Vordiskussion festhalten, „er freue sich darüber, daß der

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friedliche Weg von so kompetenten Stellen als ausgeschlossen hingestellt wird, daß daher nur der gewaltsame erübrigt“28. Entsprechend wurde nun das Militär weiter ausgebaut. War mit dem Wehrgesetz von 1912 die schrittweise Vermehrung des jährlichen Rekrutenkontingents aller Teile der bewaffneten Macht bis 1917 von rund 140.000 auf 220.000 Mann beschlossen worden, wurde es 1914 um weitere 30.000 angehoben29. Zusätzlich wurden weitere Rüstungskredite bewilligt, die bisher konsequent abgelehnt worden waren, und der Bau neuer Schlachtschiffe wurde vorgezogen. Dass mit dieser Entscheidung zur Aufrüstung wegen Serbiens aggressiver Politik auch der Wille zum starren Festhalten an der inneren dualistischen Struktur verbunden war, zeigte sich in einer anderen Angelegenheit. Nach den serbischen Eroberungen Anfang der Balkankriege stellte der Zivil- und Militärgouverneur von Bosnien-Herzegowina, Oskar Potiorek, eine schnell zunehmende Unzufriedenheit unter der serbischen Landbevölkerung der annektierten Provinzen fest. Ursache war, dass Serbien sofort und entschädigungslos das Kmetentum, die osmanische Form der Leibeigenschaft, beseitigte, während im österreichisch-ungarischen Bosnien-Herzegowina dieser Prozess seit Jahrzehnten nur sehr schleppend und für die meist serbischen Kmeten teuer vonstatten ging. Dies veranlasste Potiorek umgehend, ein Programm zur „Vertiefung des Reichsgedanken“30 in diesen Provinzen auszuarbeiten. Die Lage in den annektierten Provinzen sei so ernst, dass jede „noch so belanglose Äußerlichkeit“ ergriffen werden müsse, um die kommende serbische „Wühlarbeit“ durch die bestmögliche emotionale Bindung der Bevölkerung an die Monarchie zu erschweren. Am 5. März 1913 schickte er das Programm dem k.u.k. Kriegsminister Alexander Ritter von Krobatin. Dieser erstattete Franz Joseph über die militärischen Vorschläge am 23. Oktober 1913 einen Vortrag31, während der gemeinsame Finanzminister Biliński beiden Regierungen den zivilen Vorschlag Potioreks mitteilte. An den Vorschlägen Potioreks ist auffallend, dass alle nur „belanglose Äußerlichkeiten“ betrafen. So sollten nun die bosnisch-herzegowinischen Infanterieregimenter und das Jägerbataillon in die Nummerierung des gemeinsamen Heeres aufgenommen werden, die Infanterie außerdem einen Regimentsinhaber und Fahnen erhalten, die in Bosnien-Herzegowina stationierten Truppen sollten statt in Felduniform nun wie in Cisleithanien und Ungarn in Parade28

Gemeinsamer Ministerrat vom 3. Oktober 1913, Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates VI, 610. 29 Ebd., Einleitung 76 f. 30 Hier und im Folgenden Potiorek an Krobatin, 5. März 1913 – ÖStA, KA, Kriegsministerium Präs. 81-22 /2 /1913. 31 Vortrag Krobatins vom 23. Oktober 1913, Ebd., ÖStA, KA, MKSM, 97-1 / 3-8 /1913.

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adjustierung und mit klingendem Spiel aus den Kasernen marschieren etc. Der zivile Vorschlag sah hingegen vor, dass die Zivilbehörden den Zusatz „kaiserlich und königlich“ erhalten sollten, um deren Zugehörigkeit zu ÖsterreichUngarn deutlich vor Augen zu führen. Kein einziger Vorschlag betraf Bereiche, die die Menschen wirklich bewegten, keine Erleichterungen in den Kmetenablösungen, keine Erweiterung der sehr eingeschränkten Rechte des Landtags und keine wie auch immer gestalteten Rechte in den gemeinsamen – pragmatischen wie paktierten – Angelegenheiten, alles eben nur „belanglose Äußerlichkeiten“. Am 10. November 1913 trat der gemeinsame Ministerrat zusammen, um über den von Biliński übernommenen Antrag Potioreks zu beraten, den Landesbehörden den Titelzusatz „kaiserlich und königlich“ zu geben32. Dies geschah also nur einen Monat, nachdem Österreich-Ungarn beschlossen hatte, sich auf einen Krieg gegen Serbien vorzubereiten, mit den Worten des cisleithanischen Ministerpräsident Karl Reichsgraf Stürgkh: „Eine Auseinandersetzung mit Serbien und eine Demütigung desselben sei die Lebensbedingung der Monarchie. Wenn dieselbe heute nicht erfolgen könne, so müsse man sich doch gründlich darauf vorbereiten.“33 In dieser Situation also, als man wegen des serbischen Einflusses auf die Südslawen der Doppelmonarchie keine andere Antwort auf die Provokationen dieses Kleinstaates hatte außer Krieg – und im Wissen, dass dies einen gesamteuropäischen Krieg auslösen könnte –, beschloss der gemeinsame Ministerrat, den Antrag des gemeinsamen Finanzministers nach „Vertiefung des Reichsgedanken“ durch eine „belanglose Äußerlichkeit“ abzulehnen, weil – wie der ungarische Ministerpräsident Tisza formulierte – diese geeignet seien, „Erwartungen und Hoffnungen hervorzurufen, welche mit den gemeinsamen Interessen nicht vereinbar wären“34. Stürgkh stimmte dem Vorschlag Bilińskis zwar – ohne Begeisterung – zu, aber nur, weil dieser damit kein Präjudiz für künftige südslawische Forderungen sei. Ohne größere Diskussion setzte sich die ungarische Ablehnung durch. Der Vortrag Krobatins in den militärischen Agenden wurde zwar vom gemeinsamen Ministerrat zur Kenntnis genommen, aber von Franz Joseph nicht resolviert. Diese Entscheidung, im Inneren kompromisslos am Dualismus festzuhalten, schuf eine Situation, in der Österreich-Ungarn keine Aussicht auf eine friedliche Lösung des inneren südslawischen und damit verbunden auch des äußeren serbischen Problems hatte. In beiden Fällen musste es auf sein Gewaltpotential 32

Gemeinsamer Ministerrat vom 11. November 1913/III, Die Protokolle samen Ministerrates VI, 628 ff. 33 Gemeinsamer Ministerrat vom 3. Oktober 1913, Ebd., 610. 34 Gemeinsamer Ministerrat vom 10. November 1913, Ebd., 628 f.

des gemein-

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setzen. Die logische Folge war die beschleunigte Aufrüstung, die sich in dem Halbjahresbudget I/1914 und dem vor dem Krieg beschlossenen Budget 1914/15 manifestierten. Somit machte sich Österreich-Ungarn in seiner Frage um Krieg und Frieden von Serbiens Entscheidungen abhängig. Und weil niemand an einer weiteren Provokation dieses Staates zweifelte, hatte die Entscheidung, gegenüber den eigenen Südslawen hart zu bleiben, gleichzeitig zur Folge, dass damit ein Krieg gegen Serbien als unausweichlich angesehen wurde. Ebenso klar war, dass dieser kommende lokale Krieg die akute Gefahr in sich barg, ein großer gesamteuropäischer zu werden. Gerade deswegen musste Österreich-Ungarn ja militärisch aufrüsten, denn gegen Serbien alleine hätte seine vorhandene Armee ausgereicht. Es hatte keinen Plan mehr, aktiv den Frieden zu erhalten; diese Entscheidung legte Österreich-Ungarn in die Hände Serbiens und die für einen europäischen Frieden in die Hände der anderen Großmächte. Um es so zu formulieren, die Entscheidungen des gemeinsamen Ministerrates vom 3. Oktober und 10. November 1913 machten deutlich, dass die Lösung des südslawischen Problems der Krieg gegen Serbien sei, dass aber Serbien darüber entschied, wann diese Lösung real umgesetzt werde. Österreich-Ungarns Außenpolitik hatte nun zur Aufgabe, eine möglichst günstige Situation für die kommende Auseinandersetzung zu schaffen. So wurde Albanien – wenn auch indirekt – gefördert35. Gegenüber Deutschland setzte sich die Monarchie vehement dafür ein, Bulgarien für ihr Bündnis zu gewinnen, auch auf Kosten eines Austritts Rumäniens. Dies besprach Thronfolger Franz Ferdinand am 12. und 13. Juni 1914 auf seinem Schloss Konopischt mit dem Deutschen Kaiser Wilhelm II., unmittelbar bevor der Erzherzog zu den Manövern nach Bosnien aufbrach. Beschlossen wurde, dass Österreich-Ungarn seine Position in der Balkanfrage darlegte. Franz von Matscheko erhielt die Aufgabe, ein Memorandum auszuarbeiten. Es war ursprünglich keineswegs dazu gedacht, eine Zustimmung der Deutschen für einen unmittelbaren Krieg gegen Serbien zu erlangen, aber sehr wohl für einen besser gegen Serbien gerichteten Umbau des Bündnissystems am Balkan. Interessant ist, dass es Franz Ferdinand war, der den neuen außenpolitischen Kurs Deutschland vermitteln sollte. Denn er hatte sich bisher stets gegen einen Krieg ausgesprochen, der die Differenzen zu Russland vertiefen würde. Dies zeigt, dass auch er im Juni 1914 aktiv in die Umsetzung dieser neuen Politik eingebunden war. Schließlich galt es, durch ständige Machtdemonstrationen sowohl Serbien wie die eigenen Südslawen einzuschüchtern, um sie von Provokationen abzuhalten, zumindest so lange, wie Österreich-Ungarn brauchte, um sich militärisch 35

Kronenbitter, „Krieg im Frieden“ 430 – 433 sowie gemeinsamer Ministerrat vom 14. Dezember 1913, Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates VI, 640.

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und diplomatisch auf die Auseinandersetzung vorzubereiten. Im Juni 1914 fanden Manöver in Bosnien statt, zu denen Franz Ferdinand nach seinem Gespräch mit Kaiser Wilhelm II. fuhr. Im Anschluss besuchte er am St. Veitstag – Vidovdan –, einem besonderen Feiertag der Serben, auf dringenden Wunsch Potioreks die Landeshauptstadt Sarajewo. Dies hätte eine mehrfache Kraftdemonstration der österreichisch-ungarischen Herrschaft über BosnienHerzegowina sein können. Mit dem Attentat auf Franz Ferdinand misslang sie aber vollkommen, denn die Ermordung des Erzherzogs zeigte nur die Machtlosigkeit der Doppelmonarchie. Auch wenn weder die militärischen noch die diplomatischen Vorbereitungen auch nur halbwegs abgeschlossen waren, der Tag, auf den sich Österreich-Ungarn seit Oktober 1913 vorbereitet hatte, war mit dem Attentat gekommen, die Lösung der südslawischen Frage durch die militärische Auseinandersetzung mit Serbien, die im Ersten Weltkrieg mündete. Zwar lehnte der ungarische Ministerpräsident Tisza im gemeinsamen Ministerrat vom 7. Juli 1914 noch ein unmittelbares Vorgehen gegen Serbien ab, aber letztlich nur, weil Österreich-Ungarn auf diese Auseinandersetzung noch nicht ausreichend vorbereitet war. Bulgarien war noch nicht gewonnen, Rumäniens Stellung noch ungewiss. Wie schon im Oktober 1913 schlug er den Weg über ein Ultimatum vor, diesmal aber nicht, um einen Krieg gegen Serbien zu verhindern, sondern nur, um bessere internationale Bedingungen für die Lokalisierung des Krieges zu erreichen36. Den deutschen Blankocheck im Rücken konnte dann der Weg in den Krieg gegen Serbien mittels eines Ultimatums eingeschlagen werden, und der Ballhausplatz verwandelte sich in eine „Kriegsfabrik“. Dies ist keineswegs die Fischer-These in österreichisch-ungarischem Gewand, nun trage die Doppelmonarchie die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg. Dies ist viel zu verkürzt und klammert sowohl aus, dass die Doppelmonarchie mit dem Ultimatum nur reagierte, Serbien aber agierte. Es klammert ebenso aus, dass es dann wieder die konkreten Reaktionen der europäischen Großmächte waren, die den lokalen Krieg zu einem Weltkrieg werden ließen, denn es hätte durchaus Möglichkeiten der Reaktion gegeben, die nicht in einem Weltkrieg hätten enden müssen. Hier ging es nur darum, den Einfluss des inneren südslawischen Problems Österreich-Ungarns auf dessen Entscheidung zum Ultimatum und zur Kriegserklärung zu analysieren. Es waren die zunehmend radikalen Forderungen nach Vereinigung aller südslawischen Länder, denen Österreich-Ungarn mit seinem starren Festhalten am Dualismus keine 36

Gemeinsamer Ministerrat vom 7. Juli 1914, Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie (1914 –1918), bearbeitet von Miklós Komjáthy ( = Publikationen des ungarischen Staatsarchivs II, Quellenpublikationen 10, Budapest 1966) 142 –148.

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eigene positive Idee entgegensetzen wollte. Um es mit Aehrenthals Worten zu sagen: Die innere Politik in Sarajewo und Agram war nicht geeignet, das Südslawentum mit seinen Aspirationen zur Monarchie gravitieren zu lassen. Dadurch wurden die serbischen Provokationen nicht nur für Franz Ferdinand und seine Frau, sondern für das Habsburgerreich an sich mörderisch, auf die Österreich-Ungarn mit der Kriegserklärung am 28. Juli 1914 ebenso mörderisch antwortete37.

B. Der Zerfall Österreich-Ungarns am Ende des Krieges – Folge nationaler oder sozialer Ursachen? Als der letzte Habsburger Herrscher Karl am 11. November 1918 auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften in Cisleithanien und am 13. November auch in Ungarn verzichtete, gab es seine Doppelmonarchie bereits nicht mehr. Von Ende Oktober bis Mitte November löste sie sich in ihre nationalen Bestandteile auf. Dieses Auseinanderfallen wird bis heute als notwendige Konsequenz der Unzufriedenheit der nichtdeutschen Nationen mit ihren zu geringen Rechten innerhalb Österreich-Ungarns gewertet. Die Entwicklung in Ungarn weist einige markante Differenzen zu derjenigen in Cisleithanien auf, bedingt durch die unterschiedliche politische Struktur beider Teile der Monarchie, die politischen Zielsetzungen ihrer Regierungen, aber auch in der Versorgungslage der Bevölkerung während des Krieges. Da sich zudem gerade in den beiden letzten Kriegsjahren die entscheidenden Prozesse in Cisleithanien vollzogen, konzentriert sich dieser Abschnitt auf diesen Teil der Monarchie. 1. Die Politik der Nationalitätenvertreter während des Krieges Bei keiner der Nationalitäten bestand ihre politische Elite aus einem monolithischen Block, der nur eine bestimmte Richtung vertrat, sondern sie zerfielen in unterschiedliche Strömungen. Mit Ausnahme der Polen forderten aber alle nichtdeutschen Parteien Veränderungen, die ihnen mehr nationale Rechte einräumen sollten. Was sie trennte, war die Frage, inwieweit diese Rechte im Rahmen der Habsburgermonarchie verwirklicht werden sollten. Diese politischen Gruppierungen rangen um die Dominanz innerhalb ihrer Nationalität. 37

Formulierung in Anlehnung an das Fazit von Helmut Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie (= Österreichische Geschichte 1804 –1914, Wien 1997) 573.

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Dabei hing gerade während des Krieges diese Vorherrschaft von äußeren Faktoren wie der militärischen Situation ab. Die nördliche Bevölkerung wurde mehr durch den russischen, die südliche mehr durch den serbischen und italienischen Kriegsschauplatz beeinflusst. Außerdem wirkten sich bestimmte politische Entscheidungen sehr unterschiedlich, teilweise konträr auf die einzelnen Nationalitäten aus, wie für Polen und Ruthenen beispielsweise die ZweiKaiser-Deklaration vom 5. November 1916, mit dem ein polnischer Staat geschaffen wurde oder der Frieden von Brest-Litowsk mit der Ukraine vom 9. Februar 1918. Dennoch lässt sich in Cisleithanien ein Grundmuster der Entwicklung feststellen: Entgegen den Erwartungen und Befürchtungen der Regierung widersetzte sich die Bevölkerung unmittelbar zu Kriegsbeginn nicht den staatlichen Anordnungen. Der Mobilisierung wurde Folge geleistet und wer sich nicht an den patriotischen Demonstrationen beteiligte, verhielt sich zumindest ruhig. Mit den ersten militärischen Misserfolgen bis etwa Mitte 1915 gewannen dann die vehementen Gegner der Habsburgermonarchie an Boden und waren im Untergrund aktiver. So bildete sich zum Beispiel die tschechische Mafia, die Kontakt zum Exil-Widerstand hielt. Dann, von Mitte 1915 bis Anfang 1917, dominierten die loyalen Strömungen und arbeiteten auch gegen die Interessen des Exil-Widerstands. Oft bildeten sich nationale Dachverbände für ein koordiniertes Auftreten. Die Ursache dieses Umschwungs lag in der konsolidierten militärischen Lage Österreich-Ungarns nach der erfolgreichen Offensive der Mittelmächte von Tarnów-Gorlice und der stabilen Situation an der italienischen Front. Diese Situation änderte sich in Österreich zwischen Jänner und Mai 1917 vollständig. Der Umschwung wird anhand zweier Willensäußerungen des Tschechischen Abgeordnetenverbandes deutlich. Am 30. Jänner 1917 bezeugte er in einem Schreiben an Außenminister Ottokar Graf Czernin von und zu Chudenitz seine Loyalität gegenüber der Monarchie, und am 30. Mai 1917 forderte er bei der Eröffnung des Reichsrates die Eigenstaatlichkeit der Tschechen und die Vereinigung mit den in Ungarn lebenden Slowaken – allerdings noch im Rahmen der Habsburgermonarchie. Zwar war das Schreiben vom 30. Jänner dem Tschechischen Abgeordnetenverband vom Außenminister diktiert worden. Auch der Anstoß zur Deklaration vom Mai kam nicht vom Abgeordnetenverband, sondern einem Manifest von 222 tschechischen Schriftstellern. Aber im Jänner waren die Loyalisten noch tonangebend gewesen, während sie im Mai ihren Einfluss bereits eingebüßt hatten. Die entscheidende Frage ist, wie es zu diesem Umschwung kam. Der tschechische Historiker Josef Harma sieht einen Grund für die Radikalisierung der öffentlichen tschechischen Meinung in der militärischen Situation:

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„The year 1917 was also a turning point in the war. The balance of forces was slowly beginning to change on the front lines, especially when, in April 1917, the United States entered the war against the Central Powers. The situation for the Entente forces was temporarily complicated by the advance of Soviet Bolsheviks […].“38 Kann aber das Jahr 1917 in der unmittelbaren Wahrnehmung als militärischer „turning point“ betrachtet werden? Gerade die beiden Russischen Revolutionen wurden von der Entente 1917 keineswegs nur als „vorübergehende Komplikation“ wahrgenommen, und im April 1917 hatten die USA weder eine für den Krieg in Europa notwendige Massenarmee noch waren sie vor Ort. Vielmehr stand zu befürchten, dass sie ihre Ressourcen, statt sie wie zuvor den kriegführenden Ententestaaten zukommen zu lassen, für ihre nun einsetzenden eigenen Kriegsanstrengungen benötigten. Zudem war der Beginn und das Ende des Jahres 1917 durch große militärische Erfolge der Mittelmächte geprägt: die Eroberung fast ganz Rumäniens und der tiefe Durchbruch bei Flitsch -Tolmein (Zwölfte Isonzoschlacht) an der italienischen Front. 1917 wurde keineswegs der militärische Sieg der Entente erkennbar, weder für die nationalen Bewegungen in Österreich-Ungarn noch für den Exilwiderstand in London oder Paris. Ein weiterer Grund für die Erstarkung der nationalen Bewegungen wird in der Politik des neuen Herrschers in Cisleithanien gesehen. Karl beschränkte den Einfluss des seit Kriegsbeginn allmächtigen Militärs auf die Innenpolitik und die Zivilverwaltung, er lockerte die Zensur, berief den Reichsrat ein und begnadigte politische Gefangene. Dies würde dann bedeuten, dass nicht der Druck der nationalen Unzufriedenheit die Rücknahme der restriktiven Maßnahmen bewirkte, sondern umgekehrt, deren Rücknahme die lauter werdende nationale Unzufriedenheit. Es schließt sich also die Frage an, warum Kaiser Karl mitten im Krieg, in dem es um die Mobilisierung aller Kräfte ging, anfing, die Maßnahmen zurückzunehmen, die gerade die Publizität der Unzufriedenheit (besonders der nationalen) verhindern sollten. War es politische Naivität eines unerfahrenen Herrschers oder gab es andere Gründe für diese Politik? 2. Gezeitenwechsel „The second impulse leading to the renewal of political life originated in the social sphere.“, führte Harma weiter an39. Auch der Prager Historiker Ivan Šedivý Josef Harma, The Czech Lands during the First World War (1914–1918); in: Jaroslav Pánek, Oldřich Tůma (Hgg.), A History of the Czech Lands (Prague 2009) 379 –392, hier 386. 39 Ebd. 38

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spricht für die Tschechen von einer Entwicklung „vom sozialen Protest zur nationalen Revolution“40. Das Bild, das hier gemalt wird, stellt die soziale Frage als „Impulsgeber“ oder als „Verbündeten“ der nationalen Frage dar. Trifft dies aber tatsächlich zu, oder wird die „social sphere“ bzw. der „soziale Protest“ nicht von der „nationalen Bewegung“ – sei es von damaligen Politikern oder retrospektiv von der Geschichtsschreibung – vereinnahmt, um den Protest, der in der ersten Hälfte 1917 Cisleithanien zu destabilisieren begann, einem nationalen Widerstand „zugute“ schreiben zu können? Es steht außer Frage, dass Cisleithanien – oder besser die militärische Führung Österreich-Ungarns – massiv auf den geringsten Verdacht nationaler Unzuverlässigkeit reagierte, wie die Auflösung der beiden rein tschechischen k.u.k. Infanterieregimenter Nr. 28 und Nr. 36 1915 (Nr. 28 wurde dann wieder errichtet) und die Verhaftung Karel Kramář‘ am 21. Mai 1915 zeigten, ebenso wie das massive Vorgehen 1914/15 gegen die ruthenische und nach der Wiedereroberung Galiziens 1915 gegen die polnische Zivilbevölkerung wegen angeblicher Unterstützung der Russen. In keiner dieser Fälle konnte aber konkret nationaler Widerstand nachgewiesen werden. Vielmehr zeigen Studien zu den aufgelösten tschechischen Infanterieregimentern, dass Ursache des „Versagens“ dieser Regimenter Fehleinschätzungen der Heeresführung und damit Überforderung der Truppen waren41. War es nicht viel mehr die Militärführung, die mit Hilfe des Arguments der nationalen Unzuverlässigkeit entweder bewusst ihre eigenen Fehler kaschieren wollte oder, wenn ihr dies selbst nicht bewusst sein sollte, keine andere Erklärung für das Versagen ihrer Pläne hatte? Es steht natürlich außer Frage, dass es eine politische Elite gab, die den ganzen Krieg hindurch für die Entstehung ihres Nationalstaates gearbeitet hat, wie der Tscheche Tomáš Garrigue Masaryk oder der Kroate Ante Trumbić in ihrem Exil in London und Paris, dass es ebenso Persönlichkeiten gab, die dieses Ziel in ihrer Heimat betrieben und es wird ebenso wenig bestritten, dass sich in den Massenbewegungen ab 1917 neben sozialen auch nationale Forderungen erhoben wurden, beispielsweise in der slowenischen Deklarationsbewegung. Dies macht aber Soziales und Nationales noch nicht zu einer Einheit. Daraus, dass die Monarchie zu Ende des Krieges in ihre nationalen Bestandteile zerfiel, 40

Kapitelüberschrift in Ivan Šedivý, Der Einfluss des Ersten Weltkrieges auf die tschechische Politik; in: Helmut Rumpler, Harald Heppner, Erwin A. Schmidl (Hgg.), Anatol Schmied-Kowarzik (Red.), Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg 1/2: Die Neuordnung Mitteleuropas (= Die Habsburgermonarchie 1848 –1918 XI/1/2, Wien 2016) 711–734, hier 727. 41 Richard Lein, Pflichterfüllung oder Hochverrat? Die tschechischen Soldaten ÖsterreichUngarns im Ersten Weltkrieg (=  Europa Orientalis 9, Wien – Berlin 2011); Josef Fučík, Osmadvacátníci. Spor o českého vojáka I. světové války 1914 –1918 [Die Achtundzwanziger. Der Streit um den tschechischen Soldaten des Ersten Weltkriegs 1914 –1918] (Praha 2006).

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kann nicht der Schluss gezogen werden, der Protest, an dem sie ab Ende Oktober zerbrach, sei ein nationaler gewesen. Wenn der Protest rein auf soziale Ursachen zurückgeführt werden kann, so ist zwar nicht ausgeschlossen, dass sich nationale Forderungen an diesen Protest anhängten, aber sie wären dann kein notwendiger Bestandteil von ihm. Anhand der Entwicklung in Böhmen, Mähren und Schlesien einerseits und des Gebietes der späteren Republik Österreich andererseits soll untersucht werden, inwieweit auch nationale Unzufriedenheit als Motor der Entwicklung angesehen werden kann, oder ob die nationalen Forderungen in ihrer Stoßrichtung gegen Cisleithanien nur der Destabilisierung der Monarchie durch die sozialen Proteste folgten. Gab es – und wenn ja, warum – Unterschiede in der Versorgungslage dieser beiden Ländergebiete? Sind Unterschiede in der Intensität des sozialen Protestes erkennbar und was waren deren Ursachen? a) Die Versorgungslage 1916 /17 Ganz generell verschlechterten sich im Laufe des Jahres 1916 die sozialen Verhältnisse, ganz besonders aber die Ernährungssituation. Die Ursache liegt aber nicht, wie bisher angenommen, in den sinkenden Ernteerträgen, sondern im Verfall der staatlichen Autorität. Ungarn hatte zwar mit ähnlichen Schwierigkeiten in der Landwirtschaft zu kämpfen wie Cisleithanien, hier war die Ernte aber keineswegs nur rückläufig. So sind die statistisch ausgewiesenen sinkenden Ernteerträge in Cisleithanien selbst Folge der Unfähigkeit der Verwaltung, die Ernte überhaupt statistisch zu erfassen42. Dieser Machtverlust hatte drei Ursachen. Zum ersten wurden in den beiden ersten Kriegsjahren 1914 und 1915 alleine aus Cisleithanien 3,5 Millionen Männer zu den Waffen gerufen und somit dem Arbeitsleben entzogen43. Trotz vermehrtem Einsatz von Frauen schrumpfte, soweit nachweisbar, von Jahr zu Jahr die Anzahl der versicherungspflichtigen Arbeiter der Krankenkassen44. 42

Helmut Rumpler (Hg.), Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg 2. Teilband: Weltkriegsstatistik Österreich-Ungarn 1914–1918. Bevölkerungsbewegung, Kriegstote, Kriegswirtschaft, bearb. Helmut Rumpler, Anatol Schmied-Kowarzik (= Die Habsburgermonarchie 1848–1918 XI/2, Wien 2014), Einleitung 11 f. sowie Anatol Schmied-Kowarzik, Die wirtschaftliche Erschöpfung; in: Helmut Rumpler, Harald Heppner, Erwin A. Schmidl (Hgg.), Anatol Schmied-Kowarzik (Red.), Die Habsburger monarchie und der Erste Weltkrieg 1/1: Die Neuordnung Mitteleuropas ( = Die Habsburgermonarchie 1848  – 1918 XI/1/1, Wien 2016) 485-542, hier 499 ff. 43 Ebd., 504 f. 44 Ebd., 513 – 517 sowie Tamara Scheer, Die Kriegswirtschaft am Übergang von der liberalprivaten zur staatlich-regulierten Arbeitswelt; in: Helmut Rumpler, Harald Heppner, Erwin A. Schmidl (Hgg.), Anatol Schmied-Kowarzik (Red.), Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg 1/1: Die Neuordnung Mitteleuropas ( = Die Habsburgermonarchie 1848 –1918 XI/1/1, Wien 2016) 437 –  484, hier 470  –  477.

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Zum zweiten aber verschlang der Krieg immer mehr Ressourcen. Um diesen Bedarf bestmöglich befriedigen zu können, stieg die Anzahl der behördlich zu bewilligenden Überstunden über elf Stunden pro Tag (die Überstunden bis elf Stunden betrafen nur die Tarifverträge, und sie sind daher staatlich nicht erfasst worden) bis 1917 ganz massiv von 2,7 Millionen 1912 auf über elf Millionen 1917. Zudem konzentrierten sich diese Überstunden nun in der Maschinenindustrie. Wurden 1912 hier 5,7 % aller Überstunden geleistet, waren es 1916 über 90 %. 1917 konzentrierten sich ca. 95 % aller bewilligten Überstunden auf die Škodawerke45. Notwendige Folge war, dass für die Zivilversorgung zunehmend nur ein Minimum eingeplant wurde. Der dritte Grund liegt im Verkehrssystem. Denn damit die Güter an ihr Ziel kommen, müssen sie entsprechend verteilt werden. Dies ist ganz besonders wichtig, wenn schon am Minimum geplant wird, denn gibt es hier Probleme, muss das Minimum notwendig unterschritten werden. Genau dies trat Mitte 1916 mit der Brussilov-Offensive ein. Der tiefe russische Einbruch in die österreichisch-ungarische Front machte die massive Zufuhr von militärischen Einheiten notwendig. Um diese ungehindert fahren zu lassen, wurden die wichtigsten Verkehrsverbindungen für den Zivilverkehr – einschließlich der Belieferung der Rüstungsindustrie – gesperrt. Dieser Offensive folgten die rumänische Kriegserklärung im August 1916 und der vereinte Gegenschlag der Mittelmächte. Bis Jänner 1917 musste daher der gesamte Hinterlandsverkehr über weniger leistungsfähige Nebenstrecken abgewickelt werden. Das Entscheidende dabei war weniger, dass diese Strecken an sich weniger leistungsfähig waren. Zentral war vielmehr, dass nun weniger Züge fahren konnten, es aber nicht ausreichend Stellplätze für das nun zu viel vorhandene „rollende Material“ gab. Da die Hauptstrecken frei bleiben mussten, verstopften sie nun Bahnhöfe, Verladestationen und Wegstrecken. Kurz, es trat ein Verkehrsinfarkt ein. Die verbleibenden Transportkapazitäten konzentrierten sich immer mehr auf die Rüstungsindustrie – schon alleine wegen des kriegsbedingt gestiegenen Bedarfs. Dies erlaubte es bis Jänner nicht, die Städte und von hier ausgehend das Land für den kommenden Winter zu versorgen. Dies war aber notwendig, weil in jedem Winter der Bedarf stieg, die Leistungsfähigkeit der Bahnen aber zurückging. So waren Mitte Februar bis Anfang März 1917, der kältesten Zeit des Krieges, die Vorratslager leer46. Neben dem Nahrungs- traf die Bevölkerung besonders hart der Kohlemangel47. Zwar sprang der Hinterlandsverkehr ab März 1917 wieder stark an. 45

Schmied-Kowarzik, Die wirtschaftliche Erschöpfung 513. Dies ist die Zeit der Russischen Februarrevolution. 47 Schmied-Kowarzik, Die wirtschaftliche Erschöpfung 526 ff. 46

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Dennoch führte die verkehrsbedingt lange Unterversorgung der Zivilbevölkerung mit ihrem besonders extremen Höhepunkt Anfang 1917 zu einem Teufelskreislauf für Cisleithanien, aus dem es nicht mehr herausfand. Cisleithanien hatte – wie auch Ungarn und andere kriegführende Staaten – den freien Handel zu Gunsten einer staatlichen Verteilung der Ressourcen zunehmend eingeschränkt. Zwischen Mai 1916 und Februar 1917 versagte dann aber die Versorgung der Zivilbevölkerung, die damit sich selbst überlassen wurde. Dies hatte zwei Folgen: Erstens die immer stärker werdende Verheimlichung der Ernte durch die ländliche Bevölkerung und zweitens der Beginn einer massiven Streikbewegung. b) Von der Kriegs- zur Schattenwirtschaft Früh und intensiv wurde der Handel von Getreide, Mehl und Brot der staatlichen Kontrolle unterworfen: durch Höchstpreisvorschriften und durch die Reglementierung des gesamten Handels einschließlich der täglichen Pro-KopfRationen der Endverbraucher. Dem Landwirt verblieb von seiner Ernte ein ebenso festgeschriebener Eigenbedarf. Dagegen gab es von Anfang an einen bäuerlichen Widerstand. So versuchten Bauern ihr Getreide an das Vieh zu verfüttern, weil die Preise tierischer Produkte im Gegensatz zu Mehl und Brot nicht durch Höchstpreise gedeckelt worden waren. Dieses Verfüttern wurde im Jänner 1915 verboten und im Mai auch auf „grünes“, also noch nicht reifes Getreide, ausgedehnt48. Trotzdem konnte die staatliche Verwaltung die Zivilversorgung bis Mitte 1916 soweit aufrechterhalten, dass die Rüstungsproduktion nicht darunter litt. Trotz massenweiser Rekrutierungen steigerte sich die Kriegsgüterproduktion und die Streikbewegung blieb schwach49. In der zweiten Jahreshälfte 1916 stieg zwar die Produktion weiter, aber ab September nahmen die Streikbewegungen zu. „Eine niemals früher vorkommende Art von Streikforderung, nämlich jene nach ausreichender Versorgung mit Lebensmitteln“, tauchte 1916 auf 50. Ursache war der generell schlechte Ausgang der Ernte im Herbst 1916 – auch in Ungarn. Zudem ergab sich für die bäuerliche Bevölkerung ein zusätzliches Problem. Mit der Sperrung der wichtigsten Eisenbahnlinien für den Hinterlandsverkehr konzentrierte sich der Transport auf kriegswichtige Güter und die Zivil Verordnung des Ackerbauministers vom 5. Jänner 1915, Reichsgesetzblatt Nr. 5/1915 sowie Verordnung des Ackerbauministers vom 19. Mai 1915, RGBl. Nr. 128/1915. 49 Weltkriegsstatistik 1914 –1918, Tab. 55. 50 Richard Boleslawski, Die Streikbewegung in Österreich während des Krieges im Vergleich zur Friedenszeit; in: Statistische Monatsschrift, 3. Folge I (1919) 146 –160, hier 157. 48

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ernährung. Nachdem aber die Bauern als Selbstversorger keine Nahrung kaufen mussten und es andere Güter schlicht nicht mehr gab, konnte der Landwirt mit dem Geld51, das ihm der Staat zahlte, nichts mehr anfangen; Geld war monatelang für eine der wichtigsten Produzentengruppen nicht gegen Bedarfsgüter eintauschbar. Damit hatte es aber prinzipiell die Sicherheit der Eintauschbarkeit verloren. Es war also besonders ab dem Winter 1916 /17 für einen Landwirt eine Frage, ob er seine Güter, die einen dringenden Bedarf darstellten, gegen Geld tauschen wollte, das schon unter „normalen“ Kriegsbedingungen durch das geringe Warensortiment eine eingeschränkte Funktionsfähigkeit hatte, ihn aber in militärischen oder anderen Krisensituationen komplett einbüßte. Kurz, Geld wurde in der zweiten Hälfte 1916 für die Besitzer von dringend benötigten Versorgungsgütern nahezu bedeutungslos. Daher gingen nun Bauern in sehr verstärktem Ausmaß dazu über, ihre Ernte gegen die von ihnen unmittelbar benötigte Bedarfs- oder gegen wertbeständige Vermögensgüter wie Schmuck zu tauschen. Ursache für den Schleichhandel war daher weniger die größeren Gewinnspannen am Schwarzmarkt gegenüber der regulären Abgabe zu den verordneten Höchstpreisen als vielmehr die Bedeutungslosigkeit des Geldes überhaupt, das die staatlich bestellten Einkäufer zahlten. Somit wurde im Herbst 1916 eine vermutlich nicht nur schlechte Ernte eingefahren, diese versuchten die Landwirte zudem den staatlichen Behörden in weit stärkerem Maße als zuvor zu verheimlichen. Der Schleichhandel ist zwar statistisch nicht erfasst und nur seine Preise für Wien in den 1920er Jahren bis 1916 zurückreichend rekonstruiert worden52. Dennoch scheint er schon zu Anfang des Jahres 1917 eine solche Bedeutung gehabt zu haben, dass im April die Errichtung von lokalen Preisprüfungsstellen angeordnet wurde53, die wesentlich auch Preistreibereigutachten zu erstellen hatten. Im Laufe des Jahres 1917 entstanden 65 dieser Ämter54. Doch mit Repressivmaßnahmen konnte Cisleithanien diesem Phänomen nicht Herr werden. Weil sich die Nichtselbstversorger, wie die nicht landwirtschaft51

Geld verstanden als die österreichisch-ungarische Währung, die Krone, nicht als Geld überhaupt, z. B. in Form von „wertvollen“ Devisen. 52 Felix Klezl, Die Preisentwicklung wichtiger Lebensmittel und Bedarfsartikel in Wien in der Zeit vom Juli 1914 bis Dezember 1920; in: Statistische Monatsschrift, 3. Folge, 3 (1921) 1–16 sowie Ders., Der Generalindex für die Verteuerung der wichtigsten Lebensmittel in Wien vom Juli 1914 bis Ende Dezember 1920; in: Ebd. 17–34. 53 Verordnung des mit der Leitung des Amtes für Volksernährung betrauten Ministers vom 29. April 1917, RGBl. Nr. 199/1917. 54 Statistischer Tätigkeitsausweis der lokalen Preisprüfungsstellen für das zweite Halbjahr 1917 sowie das erste und zweite Halbjahr 1918 – ÖStA, Archiv der Republik (AdR), Sozi ales, 1. Republik, Volksernährung, Zentrale Preisprüfungskommission, Kart. 291, Z. 380 / 1918, 8596 /1918, 696 /1919. Sieben weitere Ämter entstanden 1918 meist in Ostgalizien.

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lich tätige Bevölkerung bezeichnet wurde, über den regulierten Markt nicht ausreichend ernähren konnten, waren sie auf Zukäufe bei den Landwirten angewiesen. Da die Bauern aber kein Geld annahmen, mussten sie mit Gütern zahlen und – sofern sie keine hatten – mussten sie sich diese irgendwie beschaffen. Dies ist der Hauptgrund für den sprunghaften Anstieg der Diebstahlsverbrechen ab 191755. Auf welchem Weg auch immer, der staatlichen Verwaltung wurde von zwei Seiten die Kontrolle und damit die kriegswirtschaftliche Steuerung der Produktion entzogen: einerseits von den Bauern die Lebensmittel, andererseits von den Nichtselbstversorgern die Gegengüter zum Erwerb der schwarz zu erstehenden Lebensmittel. Ein zentrales Tauschgut war Kohle. Es kam auf zwei Wegen in Umlauf: einerseits behielten Kohle fördernde Unternehmen einen Teil ihrer Produktion ein, die sie über Mittelsmänner gegen Lebensmittel für ihre Arbeiter tauschten56. Andererseits müssen sich die Kohlelager der Bahnen sozusagen zu Selbstbedienungsstellen der Bevölkerung, zumindest aber von Bahnangestellten, entwickelt haben. Denn obwohl den Bahnen jährlich immer mehr Kohle zugeführt wurde, litten sie ab 1917 zunehmend unter Kohlemangel. Es ist bezeichnend, mit welchem Verständnis hochrangige Bedienstete der Eisenbahnen den Diebstahl durch Eisenbahner schilderten57. Damit wurde aber der Verwaltung die Verwendung der Kohle in ihrem kriegswirtschaftlichen Interesse entzogen. Die Produktion und ihre Verwendung fanden daher zu einem Teil jenseits der Kontrolle der cisleithanischen Verwaltung statt. Je geringer diese Kontrolle aber war und je weniger die Verwaltung zu verteilen hatte, desto abhängiger war die Bevölkerung von der Schattenwirtschaft. Je abhängiger die Bevölkerung von dieser war, desto mehr entzog sie der Verwaltung wieder die Kontrolle über Produktion und Verteilung. Dieser Teufelskreis wurde 1917 durch zwei Faktoren potenziert. Zum einen führte Cisleithanien eine neue Erfassung der Ernte ein, um zu statistisch sichereren Ergebnissen zu kommen. Dieses System wurde aber zu spät eingeführt und unzureichend umgesetzt58. Somit gelang 55

Weltkriegsstatistik 1914 –1918, Tab. 62. Bericht des Vorstands des Wiener Kriegswucheramts Josef Anton Baumgartens an das Amt für Volksernährung vom 27. April 1918: Informative Bereisung der Kriegswucherämter (Mährisch-Ostrau) – ÖStA, AdR, Bestandsgruppe Soziales, 1. Republik, Amt für Volksernährung, Kriegswucheramt, Kart. 39, Zl. 59757/1918. 57 Besonders hervorgehoben der leitende Sektionschef im Eisenbahnministerium Bruno Enderes, Die österreichischen Eisenbahnen; in: Verkehrswesen im Krieg ( = Carnegie Stiftung für internationalen Frieden, Abteilung Volkswirtschaft und Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Weltkriegs, österreichische und ungarische Serie, Wien  –  New Haven 1931) 32. 58 Toni [Antonia] Kassowitz, Neue Methoden der Erntestatistik; in: Der Oesterreichische Volkswirt 10/1 (1917/18) 35 –38, hier 38. 56

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es nicht, die Herbst-Ernte 1917 auch nur halbwegs zu erfassen und dann zur Verteilung aufzubringen. Folge war die Kürzung der Pro-Kopf-Rationen vom Jänner 191859. Und nicht einmal diese kam voll zur Ausgabe, im Juli 1918 konnte nur rund ein Drittel des rationierten Bedarfs gedeckt werden60. Der zweite Faktor war die erneute Sperre der wichtigsten Verkehrslinien für die Zwölfte Isonzoschlacht, die in einem erneuten Verkehrsinfarkt für den Hinterlandsverkehr mündete. Von nun an hatte der Schleichhandel Österreich vollends im Griff. Obwohl Johann Loewenfeld-Russ seine Darstellung „der Regelung der Volksernährung im Kriege“ reichlich mit statistischen Daten ausgestattet hat, fehlt jeglicher Hinweis auf die Sterbeentwicklung, einen sensiblen Gradmesser sozialer Verhältnisse. Den Einfluss des Hungers auf die Sterbefälle 1918 spart auch Wilhelm Winkler in seinem Werk über die Einkommensverschiebungen aus61. Dies ist alleine deshalb verwunderlich, weil vor dem Erscheinen ihrer Bände die Bevölkerungsbewegung während der Kriegszeit für das Gebiet der Republik Österreich vorlag62, herausgegeben vom Bundesamt für Statistik, dem Amt, in dem Winkler als Bevölkerungsstatistiker tätig war. Betrachtet man dieses Werk aber selbst, so fällt auf, dass es zwar die Sterbefälle der Säuglinge auch monatsweise aufführt, sich bei den über Einjährigen jedoch nur mit Jahresdaten begnügt. Nicht einmal die sonst üblichen Quartalsdaten wurden eingestellt. Außerdem wurden die Militärmatriken, d. h. die im Hinterland gestorbenen Militärpersonen einschließlich der Kriegsgefangenen, hinzugerechnet63. Dass beides, Verteilung der Gestorbenen im Jahr wenigstens in 59

Verordnung des Amtes für Volksernährung vom 16. Jänner 1918, RGBl. Nr. 16/1918. Die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt. Ihr Aufbau und ihr Wirken. Ein Bericht erstattet vom Präsidium (= Abhandlungen aus dem Gebiete der Kriegswirtschaft 2, Wien–Leipzig 1918) Anhang, Diagramme. Die monatliche Versorgung der Nichtselbstversorger betrug im Erntejahr (August–Juli) 1915 /16 zwischen 104.000 und 126.000 t, 1916 /17 zwischen 99.000 und 112.000 t, dann August bis Dezember 1917 zwischen 102.000 und 105.000 t. Mit den ab Jänner gekürzten Rationen sank der Bedarf auf 88.000 bis 102.000 t. Die im Laufe eines Erntejahres einsetzende Steigerung des Bedarfs beruhte auf dem Wechsel von Selbst- zu Nichtselbstversorgern, sobald sie ihre eigene Ernte verbraucht hatten. Zur Ausgabe kamen aber im Jänner 86.000 t. Diese Menge sank bis Juli auf 42.000 t. 61 Johann Loewenfeld-Russ, Die Regelung der Volksernährung im Kriege (= Carnegie Stiftung für internationalen Frieden, Abteilung Volkswirtschaft und Geschichte, Wirtschaftsund Sozialgeschichte des Weltkriegs, österreichische und ungarische Serie, Wien  –  New Haven 1924) sowie Wilhelm Winkler, Die Einkommensverschiebungen in Österreich während des Weltkrieges ( = Carnegie Stiftung für internationalen Frieden, Abteilung Volkswirtschaft und Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Weltkriegs, österreichische und ungarische Serie, Wien  –  New Haven 1930). 62 Die Bewegung der Bevölkerung in den Jahren 1914 bis 1921 ( = Beiträge zur Statistik der Republik Österreich 8, Wien 1923). 63 Ebd., 24 f. 60

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Quartalen wie die reinen Zivilsterbefälle, prinzipiell vorhanden war, zeigt sich an einem Beitrag Wilhelm Heckes, einem Kollegen Winklers, der beides für die Jahre 1917 und 1918 bereits 1920 publiziert hatte, wenn auch nur in wenig aufgeschlüsselten Daten (Quartalsweise Daten nur getrennt in Wien und „übriges Staatsgebiet“, keine Quartalseinteilung der reinen Zivilsterbefälle)64. Dennoch machen diese Daten zumindest für das Gebiet der späteren Republik Österreich klar, dass die Anzahl der Sterbefälle in den ersten drei Quartalen 1918 niedriger war als in den ersten drei Quartalen 191765. Die in den Gesamtjahresdaten gegenüber 1917 deutlich mehr Sterbefälle 1918 gingen auf das IV. Quartal zurück, in dem die Spanische Grippe wütete. Kurz, die ganz massive Unterversorgung der Bevölkerung 1918 spiegelt sich überhaupt nicht in der Bevölkerungsbewegung wider, ganz im Gegensatz zu anderen Zeiten von Versorgungsengpässen. So weist das Gebiet der Republik Österreich, Böhmen und Mähren-Schlesien neben dem IV. Quartal 1918 das I. Quartal 1917 die deutlich meisten Sterbefälle der letzten beiden Kriegsjahre auf, vermutlich die Folge des kalten Februar/März. Es ließe sich trefflich darüber spekulieren, warum Loewenfeld-Russ, Winkler und die vielen anderen österreichischen Beiträger zur Carnegie-Weltkriegsserie dies nicht erörtert haben. Faktum ist, dass sie es nicht taten und dadurch den Blick darauf verstellten, dass staatliche Nahrungsmittelversorgung und die Entwicklung der Sterbefälle in entgegengesetzte Richtungen zeigen. In dem Jahr (Zeitraum Jänner bis September) 1918, in dem die Statistik die Ernte (1917) besonders gering auswies (in Ungarn war sie 1917 bei Brotgetreide besser als 1916) und die staatliche Ernährungsverwaltung komplett versagte, stagnierten oder sanken die Sterbefallzahlen zum erstem Mal im Kriege66. Diese Diskrepanz belegt in aller Deutlichkeit, dass schon zu Beginn 1918 in Cisleithanien der Großteil der Versorgung an der staatlichen Verwaltung vorbei im Schleichhandel erfolgte. Die Sterbefälle in Cisleithanien für 1918 liegen außer für das Gebiet der späteren Republik Österreich nur mehr für Böhmen und Mähren /Schlesien vor, dort allerdings ohne Ausweis der gestorbenen Säuglinge67. Das Verhältnis der Wilhelm Hecke, Die Bevölkerungsbewegung Deutschösterreichs während der Kriegszeit; in: Statistische Monatsschrift, 3. Folge, 2 (1920) 152 –163, hier 156, 161. 65 Bei der Entwicklung der Sterbefälle ist es wichtig, den Einfluss der sinkenden Geburtenrate auszuschließen. Denn das Sinken der Geburtenanzahl hat auch ein Sinken der Anzahl der gestorbenen Säuglinge zur Folge und verzerrt so das Bild auf die Gesamtentwicklung. Weil die Sterblichkeit im ersten Lebensjahr besonders groß war, handelt es sich um eine statistisch relevante Verzerrung. Daher bezieht sich die Analyse auf die Todesfallzahlen nach Abzug der gestorbenen Säuglinge. 66 Hier wie in Folge Weltkriegsstatistik 1914 –1918, Tab. 4. 67 Siehe Anm. 65. 64

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Sterbefälle in den ersten drei Quartalen der beiden letzten Kriegsjahre gegenüber 1914 liegt in Böhmen im Vergleich zum Gebiet des späteren Österreich deutlich darunter (1917 Böhmen 104,6 % von 1914, Österreich 128,8 % und 1918 101,2 sowie 117,2 %). Andererseits sind in den österreichischen Daten die im Hinterland gestorbenen Militärpersonen eingerechnet (was die Sterbefälle um einige Prozentpunkte erhöht), in Böhmen hingegen nicht und die Geburten sanken in Böhmen sehr viel deutlicher (1917 45,2 % von 1914, 1918 42,9 %) als im späteren Österreich (1917 und 1918 jeweils 57,7 %). Insgesamt dürfte die Anzahl der Sterbefälle der über ein Jahr alten Zivilpersonen, die im späteren Österreich in den ersten drei Quartalen 1917 bei ungefähr 140 und 1918 bei 130 % von 1914 lagen, in Böhmen während des gesamten Krieges etwas schwächer angestiegen sein. In Mähren und Schlesien, einem wegen der Kohleförderung am besten versorgten Gebiete, lagen die Sterbefälle noch niedriger als in Böhmen (97,9 und 94,8 %), die Geburten jedoch darüber (49,8 und 46,8 %), so dass hier von einer deutlich geringeren Zunahme der Sterbefälle auszugehen ist. Hier bleibt festzuhalten, dass die kriegsbedingte Einschränkung des Bahnbetriebes eine Unterversorgung der Zivilbevölkerung zur Folge hatte, durch welche die Strukturen des Schleichhandels in der Lebensmittelversorgung etabliert wurden. Durch die Abhängigkeit der Nichtselbstversorger von der Schattenwirtschaft breitete sie sich ständig aus. Die misslungene Erfassung der Herbsternte 1917 und eine erneute Sperre der Hauptverkehrsstrecken für den Hinterlandsverkehr schränkten die staatliche Güterverteilung zugunsten des Schleichhandels derart ein, dass das kriegswirtschaftliche System 1918 sukzessive kollabierte und sich dessen Strukturen im Laufe des Jahres auflösten. Je besser der Schleichhandel den staatlich regulierten Handel ersetzen konnte, desto besser war die Versorgungslage und desto mehr wurden Güter jedoch der kriegswirtschaftlichen Verteilung entzogen. Die Entwicklung der Sterbefälle deutet darauf hin, dass die Versorgung in Mähren und Schlesien am besten gelang (wegen der herausragenden wirtschaftlichen Bedeutung des Mährisch-Ostrauer Kohlereviers), gefolgt von Böhmen (der Kornkammer während des Krieges) und am Schlechtesten vom Gebiet der späteren Republik Österreich (besonders wegen der hohen Bevölkerungskonzentration um Wien), aber abgesehen von diesen wirtschaftlichen Ursachen verlief die Entwicklung überall ähnlich. c) Die Streikbewegung in Cisleithanien während des Krieges 1911 und 1912 gab es ca. 120.000 Streikende. 1913, in dem wegen einer schweren Wirtschaftskrise Arbeitsniederlegungen stark zurückgingen, waren es 40.000 und 1914 bis Ende Juli 30.000. Mit Beginn des Krieges kam die Streik-

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bewegung, bedingt durch Repressivmaßnahmen, zunächst fast gänzlich zum Erliegen; August bis Dezember 1914 legten 3.699 Beschäftigte die Arbeit nieder, im ganzen Jahr 1915 knapp 8.000. Diese Anzahl verdoppelte sich 1916 fast auf 15.00068. Zudem ist im Vergleich beider Jahre auffällig, dass in den normalerweise streikstärksten Monaten März bis August (Frühling und Sommer) nur eine relativ geringe Vermehrung der Arbeitsniederlegungen stattfand (6.617 Streikende 1915 zu 7.885 1916). September bis November (Herbst) waren es dann 1915 254 zu 1.441 Streikenden 1916 und in den Wintermonaten Jänner, Februar und Dezember (die von der Statistik als Einheit zusammengefasst wurden) 1915 1.080 gegen 5.515 im Jahr 191669, vermutlich mit einem deutlichen Schwerpunkt im Dezember. Diese Entwicklung war der Beginn vom „impulse leading to the renewal of political life“. Der Anstieg der Arbeitsniederlegungen 1916 war aber kein allgemeines Phänomen, sondern sie konzentrierten sich auf die Kronländer Niederösterreich (von 277 auf 5.613 Streikende), Mähren (289 : 797) und Schlesien (114 : 1.650). Auffallend ist, dass diese Bewegung in Böhmen sogar leicht rückläufig war (5.810 : 5.453). Dies zeigt aber andererseits, dass in Böhmen das Streikniveau 1915 ohnehin sehr hoch war (¾ aller Streikenden Cisleithaniens). 1915 lag die größte Streiktätigkeit beim Bergbau (5.963, 75 % aller Streikenden), gefolgt von der Textilindustrie (1.541, 20 %), weil hier die – meist – Arbeiterinnen je nach Produktionsmöglichkeiten schnell entlassen und wieder eingestellt wurden, die soziale Situation also besonders unsicher war. Durch die große Krise der Wollbeschaffung brach 1916 mit der Textilindustrie auch deren Streikbewegung ein (1916 280, unter 2 %). Da der Schwerpunkt dieser Industrie – auch während des Krieges – in Böhmen lag70, wurde seine Streiktätigkeit besonders auch durch die Textilindustrie geprägt. Die Zunahme der Arbeitsniederlegungen 1916 fand ganz besonders in der Metallverarbeitung statt (von 52 Streikenden auf 5.300, d. h. um 10.000 %), die ein Zentrum in Niederösterreich hatte, das auch den größten Anstieg an Streikenden verzeichnete. Ein zweites Zentrum war Böhmen, in dem „die

Zu den Streikangaben siehe Weltkriegsstatistik 1914 –1918, Tab. 59, 60, 61. A rbeitseinstellungen und A ussperrungen in Ö sterreich im J ahre 1915 sowie Arbeitseinstellungen und Aussperrungen in Österreich im Jahre 1916; beides in: Soziale Rundschau XVIII/III (1917) 4, 363. 70 Knapp die Hälfte aller Unfälle in der Textilindustrie fanden in Böhmen statt, Weltkriegsstatistik 1914 –1918, Tab. 58. Auch in Mähren gab es eine starke Textilindustrie. Hier war die Streikbewegung 1915 mit 289 Streikenden gering. Die Arbeitsunfälle nahmen 1915 aber zu (von 649 1914 auf 706 1915), während diese in Böhmen von 1.863 auf 1.552 sanken. Dies deutet auf eine bessere Entwicklung als in Böhmen hin und kann daher die Ursache der geringen Streikbewegung in Mähren sein. 68

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Waffenschmiede“ der Monarchie lag, Škoda. Daher ist das hohe Streikniveau Böhmens 1915 mit der relativ intensiven Streikbewegung in der Textilindustrie und das Stagnieren der Anzahl der Streikenden 1916 mit dem Streikrückgang in der Textilindustrie und dem Anstieg in der Metallverarbeitung zu erklären. Der starke Streikanstieg in Mähren und Schlesien lag hingegen in der Zunahme der Arbeitsniederlegungen im Bergbau. Obwohl er schon 1915 die meist bestreikte Branche war, nahmen die Streikenden 1916 nochmals um 45% auf 8.652 zu. Allerdings hatten 1915 nur die Kronländer mit Erzförderung (besonders die Steiermark) hohe Zahlen von Streikenden, 1916 auch Gebiete mit Kohleförderung wie eben Mähren und Schlesien. Somit bleibt zunächst festzuhalten, dass die Unterversorgung der Bevölkerung in der zweiten Hälfte 1916 zu einer wachsenden Unzufriedenheit besonders in der Rüstungsindustrie führte, die zu einer ständigen Zunahme der Streikenden im Laufe des Jahres 1916 führte. Zwar versuchte Cisleithanien durch Einbindung verschiedener wirtschaftlicher und sozialer Vereine und Parteien in Entscheidungsprozesse zu sozialen Themen entgegenzuwirken. So wurde Karl Renner Mitglied im Direktorium des Amts für Volksernährung71. Außerdem wurden im März 1917 Beschwerdekommissionen in den Rüstungsbetrieben errichtet, um Differenzen zwischen Unternehmern und Arbeitern ohne Streik zu schlichten72, und der Reichsrat wurde wieder einberufen. Aber der Verwaltung fehlten die Nahrungsmittelmengen, um die Versorgung auch real umsetzen zu können. Daher gelang es nicht, der Streikbewegung Herr zu werden. Ganz im Gegenteil, sie breitete sich 1917 massiv aus. Für 1917 und 1918 wurden die Streikdaten von unterschiedlichen Institutionen ausgewertet: das Jahr 1917 wurde für ganz Cisleithanien in einem Aufsatz von Richard Boleslawski behandelt und die statistischen Ämter der Österreichischen und der Tschechoslowakischen Republik publizierten die Daten ihrer ehemals cisleithanischen Gebiete für die Jahre 1917 und 191873. Auffallend an den Daten ist, dass die tschechische Statistik 1917 mehr Streikende allein für Margarete Grandner, Kooperative Gewerkschaftspolitik in der Kriegswirtschaft. Die freien Gewerkschaften Österreichs im Ersten Weltkrieg (  = Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 82, Wien  –  Köln  –Weimar 1992) 134. 72 Kaiserliche Verordnung vom 18. März 1917, RGBl. Nr. 122/1917. 73 Boleslawski, Die Streikbewegung; Die Arbeitseinstellungen auf dem Gebiete der Republik Österreich in den Jahren 1917 und 1918; in: Beiträge zur Arbeitsstatistik (= Beiträge zur Statistik der Republik Österreich 9, Wien 1921) 43 – 61; Mitteilungen des Statistischen Staatsamtes der Čechoslovakischen Republik V (1924). Siehe auch Weltkriegsstatistik 1914 –1918, Tab. 59, 61. 71

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die böhmischen Länder ausweist (186.291) als Boleslawski für die gesamte Monarchie (161.234), zu denen aber auch die Streikenden aus dem Gebiet der Republik Österreich gehörten, die mit 88.717 angegeben sind. Ebenso auffallend ist, dass die für „Österreich“ angegebenen Streikenden 1918 auf 84.024 zurückgingen, während sie in den böhmischen Ländern nochmals exorbitant anstiegen (378.082). Allerdings bezog die cisleithanische Statistik, in Folge auch die der Republik Österreich, rein politische Streiks nicht mit ein: „Die politischen Streiks fallen zwar nicht in den Kreis der Statistik, weil sich ihre Ziele und Forderungen nicht auf die Regelung der Arbeitseinstellungen beziehen. Da aber dieser große Ausstand [16. bis 22. Jänner 1918, dessen Forderung ein schneller „Brot“-Frieden mit der Ukraine war] sich insoferne den Lebensmittelstreiks nähert, als er äußerlich durch die Kürzung der Brotquote veranlaßt wurde und sich überdies als eine Etappe in der Machtentwicklung der österreichischen Arbeiterschaft darstellt, erscheint dessen Anführung hier [Einzeldarstellung der bedeutenderen Streiks in den Jahren 1917 und 1918] gerechtfertigt, obgleich er in den tabellarischen Zusammenstellungen nicht aufgenommen werden konnte.“74 Alleine dieser Streik erfasste in Cisleithanien 750.000 Arbeiter, 100.000 von ihnen in Wien. Wenn die tschechischen Zahlen auch die als politisch gewerteten Streiks enthalten, dann erscheint die Anzahl der Streikenden in den böhmischen Ländern mit ca. 380.000 für das ganze Jahr 1918 keineswegs als überdurchschnittlich hoch, so dass auch bis Kriegsende von keiner intensiveren Streikbewegung der böhmischen Länder als im späteren Österreich ausgegangen werden kann. Für das Gebiet der späteren Republik Österreich kann gesagt werden, dass im Jahr 1918 gegenüber 1917 die rein arbeitsrechtlichen Streiks leicht zurückgingen, während politische Streiks massiv zunahmen. Das verweist einerseits auf eine sich zumindest nicht dramatisch verschlechterte soziale Lage der Arbeiter – und korrespondiert so mit der Sterbestatistik –, andererseits auf die Unzufriedenheit mit der politischen Situation, in der der Staat weiterhin Opfer für die Fortsetzung des Krieges forderte, aber unfähig war, auch nur die minimalen Lebensbedürfnisse der Bevölkerung sicherzustellen. Denn die Versorgung fand ja nicht im Rahmen der staatlichen Regelungen statt, sondern im Widerspruch zu ihnen. Die nicht dramatisch verschlechterte soziale Lage der Arbeiter 1918 zeigt daher auch nicht eine Konsolidierung, sondern vielmehr nur den weiteren Machtverfall Cisleithaniens. Die Streikbewegung während des Krieges hing daher einerseits von der Versorgungslage, andererseits von der staatlichen Autorität ab. Bis Mitte 1916 74

Die Arbeitseinstellungen 60.

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scheint das kriegswirtschaftliche System ausreichend funktioniert zu haben, um, im Verein mit staatlichen Machtmitteln, die Arbeitsniederlegungen auf geringem Niveau gehalten zu haben. Dies gelang ab Herbst 1916 anscheinend nicht mehr, weil sich die soziale Lage der Arbeiter dramatisch zu verschlechtern begann. Diese Streikbewegung breitete sich 1917 weiter aus, obwohl mit Reformen gerade im sozialen Bereich gegengesteuert wurde. Da sie aber wirkungslos blieben, verlor Cisleithanien an Autorität mit zwei Folgen: Erstens entfernte sich die gesellschaftliche Praxis immer weiter von den gesetzlichen Bahnen. Zweitens stellte die Unfähigkeit, selbst die rudimentäre Versorgung sicherzustellen, das politische System an sich in Frage. Je ohnmächtiger Cisleithanien wurde, desto intensiver und konkreter wurde über Alternativen nachgedacht, die dann in politischen Forderungen 1917 und nochmals deutlich gesteigert 1918 ihren Ausdruck fanden. 3. Die Ursachen von Österreich-Ungarns Zusammenbruch Ende 1918 Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns vollzog sich auf zwei Ebenen, der wirtschaftlichen sowie der sozialen, und er vollzog sich in zwei Etappen, Mitte 1916 bis Sommer 1917 und Herbst 1917 bis Oktober 1918. Auslöser war ein Kollaps des Hinterlandsverkehrs der Eisenbahnen. Wegen der vermutlich ohnehin schlechten Ernte 1916 und ihrer gegenüber dem Vorjahr gesteigerten Verheimlichung durch die Landwirte, kam es zusätzlich zu Engpässen der Lebensmittelversorgung, besonders in Wien und den dicht besiedelten Rüstungszentren. Dies hatte eine Schattenwirtschaft zur Folge, in der sich zunehmend die Versorgung der Zivilbevölkerung vollzog. Da gerade Arbeiter mit ihren Überstunden kaum die Zeit aufbringen konnten, sich über den sogenannten Rucksackverkehr direkt am Land zu versorgen, weitete sich ab Herbst 1916 eine Streikbewegung aus, in der zunehmend die Forderung nach ausreichender Sicherstellung der Ernährung erhoben wurde. Da die Versuche Cisleithaniens, den Versorgungsschwierigkeiten entgegenzuwirken, weitgehend erfolglos blieben, sich die Ernährungssituation im Gegenteil verschlechterte, weitete sich die Streikbewegung 1917 weiter aus. Mit der misslungenen Erfassung der Herbsternte 1917 und einem erneuten Verkehrsinfarkt wegen der Sperre der Hauptstrecken der Eisenbahnen für die Zwölfte Isonzoschlacht Ende 1917 kam es zu einem Quantensprung im wirtschaftlichen System Cisleithaniens, das sich massiv von einer staatlich gelenkten Kriegswirtschaft zu einer sich selbst organisierenden Schattenwirtschaft verschob und im Laufe des Jahres 1918 immer mehr ausweitete. Weil Geld außerhalb des regulierten Handels seine Funktion als Tauschvermittler eingebüßt hatte, bedeutete diese Verschiebung zur Schattenwirtschaft – wie schon 1917,

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nur jetzt in noch weit stärkerem Maße –, dass sich die Nichtselbstversorger Tauschgüter (weil legal nicht möglich) illegal für ihre schwarz zu erwerbenden Nahrungsmittel beschaffen mussten. Die Eisenbahnen litten trotz großer Zuschübe zunehmend unter Kohlemangel, die Diebstahlsverbrechen nahmen 1917 und nochmals 1918 ganz massiv zu. Die Reduktion der schon zuvor geringen täglichen Mehlquote im Jänner 1918 führte zu einer riesigen Streikbewegung, an der sich in Cisleithanien eine dreiviertel Million Arbeiter beteiligte. Diese Kopfquote kam von Anfang an nicht voll zur Abgabe und betrug im Juli 1918 nur mehr ein Drittel. Trotz lokal schlimmster Hungersnot, das heißt aller, die alternativlos von der öffentlichen Versorgung abhängig waren, scheint sich die Ernährungssituation gegenüber 1917 vielleicht leicht gebessert, zumindest aber – weil die statistischen Sterbedaten alles andere als einheitlich und präzise sind, vorsichtig formuliert – nicht deutlich verschlechtert zu haben. Das gesamte Arbeitssystem passte sich spätestens 1918 den Notwendigkeiten der Schattenwirtschaft an. Die Produktionsausfälle in der Rüstungsindustrie wegen Materialmangels häuften sich, die Arbeitslosigkeit nahm zu, so dass nun Nichtselbstversorger auch die Zeit für die Beschaffung der Tauschgüter und für die aufwendigen Käufe am Land hatten. Wie wenig die staatliche Ernährungsverwaltung 1918 funktionierte, zeigen die zwischen 9. März und 12. Juli 1918 angefertigten Berichte des Vorstands des Wiener Kriegswucheramtes Josef Anton Baumgartens über seine Bereisung aller Kronländer mit Ausnahme Dalmatiens75. Die gesamte staatliche Verwaltung kollabierte zusehends. Unmittelbar vor dem Februar 1917, der als Wendepunkt für Cisleithanien und damit auch für Österreich-Ungarn bezeichnet werden kann, am 31. Jänner 1917, erklärte der tschechische Abgeordnetenverband seine Loyalität gegenüber der Monarchie. Als es am 30. Mai 1917 zu der tschechischen und der südslawischen Deklaration im Reichsrat kam, war die Autorität Cisleithaniens schon stark angeschlagen, es war sozusagen bereits „angezählt“. Die tschechischen wie die südslawischen Forderungen bewegten sich noch ganz im Rahmen der Habsburgermonarchie. Für die Südslawen blieb dies bis Mitte 1918 der Fall, obwohl es mit der Deklaration von Korfu vom 20. Juli 1917 eine konkurrierende Idee der Vereinigung mit Serbien außerhalb der Habsburgermonarchie gab76.

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Nur der Bericht über Klagenfurt konnte nicht gefunden werden, die anderen elf Berichte in – ÖStA, AdR, Bestandsgruppe Soziales, 1. Republik, Amt für Volksernährung, Kriegswucheramt. 76 Trogrlić, Die Südslawische Frage 1009.

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Zwar legte die Forderung nach Vereinigung der Slowaken mit den Tschechen oder die Vereinigung aller Südslawen die Axt an den Dualismus, dennoch stellten die Forderungen damit die Habsburgermonarchie an sich nicht in Frage. Es ist natürlich fraglich, ob dies nur aus taktischen Rücksichten geschah. Klar ist aber, dass beide Abgeordnetenverbände keineswegs die soziale Unzufriedenheit anheizten und nicht versuchten, die soziale Bewegung zu einer Revolution umzugestalten. Auch die tschechische Drei-Königs-Deklaration vom 6. Jänner 1918 diente keineswegs als revolutionäres Fanal. Sie stellte zwar die Vereinigung der Tschechen und Slowaken innerhalb der Habsburgermonarchie in Frage, indem die Habsburgermonarchie schlicht unerwähnt blieb. Es war aber kein explizites Verlangen. Die nationalen Vertretungskörperschaften füllten nur das Autoritätsvakuum auf, das der Machtverlust Cisleithaniens zu hinterlassen begann. So war es auch nicht eine „nationale Revolution“, die am 28. Oktober 1918 die Habsburger Herrschaft in Prag beendete, sondern eine Großdemonstration, die sich spontan bildete, nachdem das Ansuchen des österreichisch-ungarischen Außenministers Gyula Graf Andrássy von Csík-Szent-Király und Kraszna-Horka d. J. um sofortige Friedensverhandlungen bekannt wurde77. Ursache für dieses Schreiben Andrássys vom 27. Oktober war die Einschätzung der cisleithanischen und österreichisch-ungarischen „Entscheidungsträger“, die Ruhe und Ordnung in Cisleithanien nicht mehr aufrecht erhalten zu können78. Aber gerade dieser Schritt Andrássys machte deutlich, dass in Cisleithanien die Regierung nur mehr darüber entscheiden konnte, wann sie den letzten Rest ihrer Macht abgab, und dies war – ungewollt – eben die Bitte um sofortige Friedensverhandlungen gewesen. Mit der Übernahme der staatlichen Gewalt in Prag an diesem 28. Oktober 1918 durch das tschechische Nationalkomitee wurde nur pro forma die alte Habsburger Herrschaft beseitigt. Im Grunde hatte sie schon vorher aufgehört zu existieren. Die Zustände in Prag, ganz Böhmen und überall in Cisleithanien waren chaotisch, in Galizien kam es zu Massakern an Juden79. Angesichts mangelnder staatlicher Gewalt konnten diese Zustände auch leicht sozialrevolutionäre Züge wie in Russland annehmen. Am 6. November kam es beispielsweise im galizischen Tarnobrzeg zur Errichtung einer kommunistischen Bauern Šedivý, Der Einfluss des Ersten Weltkrieges auf die tschechische Politik 734. Lothar Höbelt, Diplomatie zwischen Bündnissicherung und Friedenshoffnung. Die Außenpolitik Österreich-Ungarns 1914 –1918; in: Helmut Rumpler, Harald Heppner, Erwin A. Schmidl (Hgg.), Anatol Schmied-Kowarzik (Red.), Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg 1/2: Die Neuordnung Mitteleuropas ( = Die Habsburgermonarchie 1848–1918 XI/1/2, Wien 2016) 1017 –1094, hier 1092. 79 Zbyněk Anthony Bohuslav Zeman, Der Zusammenbruch des Habsburgerreiches 1914 – 1918 (München 1963) 235 f. 77

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republik80. In Deutschland wurde am 9. November überstürzt die Republik in der Kleinstadt Weimar ausgerufen, um Karl Liebknecht zuvorzukommen, der dies in Berlin für eine „freie sozialistische Republik“ tat. Erinnert sei auch an die bayrische und die ungarische Räterepublik. So stellt sich die Frage, ob die Machtübernahme des tschechischen Nationalkomitees sich konkret möglicherweise weniger gegen die Habsburger Herrschaft richtete, die ohnehin nur mehr eine Chimäre war, sondern vielmehr zum Ziel hatte, die schlicht fehlende staatliche Gewalt Cisleithaniens zu ersetzen. Dann aber kann nicht gesagt werden, dass Cisleithanien am nationalen Prinzip zerbrach, sondern es zerbrach an der Weigerung der Bevölkerung, ihre Unterversorgung zu ertragen, die Cisleithanien nicht beheben konnte. Wir haben keine Entwicklung von einem sozialen Protest zu einer nationalen Revolution vor uns, sondern eine nationale Übernahme der Staatsgewalt aus Angst vor der sozialen Unzufriedenheit. Was hier für die Tschechen ausgeführt wurde, trifft noch stärker auf die anderen (nichtdeutschen) Nationalbewegungen zu, denn sie warteten noch ein wenig länger mit ihrer Übernahme der Staatsgewalt. Ganz unabhängig, wie letztlich die Beziehung von sozialer und nationaler Frage zueinander beurteilt wird, deutlich ist, dass es keine Kontinuität zwischen den nationalen Schwierigkeiten und dem Zerfall der Monarchie gab. Es gibt Brücken zwischen beidem, die sich in den politischen Biographien vieler tschechisch, polnisch, süd- oder jugoslawisch gesinnter Menschen wie auch in gemeinsam vorgetragenen sozialen und nationalen Forderungen wiederfinden. Aber nicht die nationale Frage brachte das Habsburgerreich zu Fall; sie bewirkte aber, dass auf dem Territorium der ehemaligen Habsburgermonarchie als einer Tabula rasa dann Nationalstaaten entstanden.

C. Das Nationalitätenproblem und der Erste Weltkrieg So stehen wir vor einem seltsamen Befund. Während das Nationalitätenproblem in der Frage von Österreich-Ungarns Weg in den Krieg bisher unterbewertet wurde, so wird es bei der Beurteilung seines Zerfalls am Ende des Krieges überbewertet. Beides geschieht aber aus ähnlichen Gründen: man übersieht bei der Analyse der Handlungen der Entscheidungsträger die Ebene unter ihnen, aus der die Motivation für ihre Handlungen zum Erreichen ihrer Ziele hervor80

Piotr Szlanta, Der lange Abschied der Polen von Österreich; in: Helmut Rumpler, Harald Heppner, Erwin A. Schmidl (Hgg.), Anatol Schmied-Kowarzik (Red.), Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg 1/2: Die Neuordnung Mitteleuropas ( = Die Habsburgermonarchie 1848 –1918 XI/1/2, Wien 2016) 813 – 851, hier 850.

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geht. Für den Kriegsausbruch ist dies die innere südslawische Frage, die als Faktor mit in die Beziehungen Österreich-Ungarns zu Serbien hineinspielte. Dabei wird übersehen, dass es genau umgekehrt war. Serbien war ein Faktor, der in das innere Problem hineinspielte, denn es war in letzter Konsequenz die innere südslawische Bedrohung des Dualismus, die Österreich-Ungarns Bereitschaft zum Krieg bewirkte. Für den Untergang sind es die sozialen Bewegungen ab Mitte 1916, die als Zuträger oder Vorreiter erklären sollen, wie es zum „renewal of political life“ – gemeint natürlich der nationalen Politik – kommen konnte. Mit dem Moment aber, als die tschechischen Politiker ihre Loyalitätserklärung vom Jänner 1917 hinter sich gelassen hatten, wird jeder Protest von Tschechen mit nationalem Widerstand gleichgesetzt. Es gibt aber kein Anzeichen dafür, dass dieser Protest in den Gebieten der späteren Republik Österreich – als dem Gebiet der Deutschen der Monarchie – in irgendeiner Weise erkennbar anders verlief, weder in den konkreten – sozialen – Ursachen des Protestes noch in seiner Intensität. Das Bild zeichnet sich vielmehr anders herum: die Monarchie fiel ganz ohne Zutun der nationalen Körperschaften und Gruppen. Vom schnellen Kollaps Cisleithaniens überrascht, mussten diese nationalen Bewegungen dann ab Oktober Staaten errichten, um anderen sozialpolitischen Richtungen zuvorzukommen, zumindest aber, um etwas gegen die chaotischen Zustände zu unternehmen. Insofern ist in beiden Themen, Österreich-Ungarns Weg in den Krieg und sein Zerfall an dessen Ende, das letzte Wort noch nicht gesprochen, und sie bieten weiterhin viel Stoff für Untersuchungen.

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Grundsatzüberlegungen zur Präsentation des Ersten Weltkrieges in Dauerausstellungen – Darstellungsformen im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden und im Musée de la Grande Guerre du Pays de Meaux 1. Gedenkkulturen zum Ersten Weltkrieg im Museum Wir wissen, dass Kriege generell in der Gedenkkultur einen besonderen Stellenwert einnehmen. Sie markieren in vielerlei Hinsicht einen Kontinuitätsbruch und bringen einen Einschnitt für Individuen und Kollektive gleichermaßen1. Der Erste Weltkrieg hatte „in seiner ‚totalen‘ Dimension eine traumatisierende Wirkung, die weiter ging als die Erinnerung, die andere Kriege seit Menschengedenken hinterlassen hatten“, was dazu führte, dass der Krieg im Frieden ungebrochen präsent blieb, „für viele über Jahrzehnte hinweg“2. Nachdem diese Präsenz lange Zeit stark durch die Veteranen geprägt war, die nicht nur klassische Erinnerungswerke verfassten, sondern auch die wissenschaftliche Aufarbeitung des Krieges mitprägten3, zeichnet sich seit einigen Jahren ein Bruch ab. Über 100 Jahre nach Beginn der Kämpfe des Ersten Weltkrieges leben kaum mehr Zeitzeugen, die sich aktiv erinnern können. Die letzten, die als Soldaten im Ersten Weltkrieg gekämpft haben, sind vor einigen Jahren verstorben4. Das führt dazu, dass sich eine von den persönlichen Erinnerungen unabhängige Gedenkkultur etabliert, welche die Bedeutung dieses Krieges, der gerne als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet und Winfried Speitkamp, Einleitung; in: Helmut Berding, Klaus Heller, Winfried Speitkamp (Hgg.), Krieg und Erinnerung. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert ( = Formen der Erinnerung 4, Göttingen 2000) 9 –13, hier 9. 2 Gerd Krumeich, Einleitung: Die Präsenz des Krieges im Frieden; in: Jost Dülffer, Gerd Krumeich (Hgg.), Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918 ( = Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte – Neue Folge 15, Essen 2002) 7–17, hier 17. 3 Man denke hier insbesondere an das Generalstabswerk „Österreich-Ungarns letzter Krieg 1914 –1918“. 4 Vgl. Der letzte Soldat des Kaisers ist tot. APA-Meldung abgedruckt; in: Die Presse vom 31. Mai 2008, 12; Das große Gedenken; in: Wiener Zeitung vom 4. Jänner 2014, 10  –11. 1

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als Vorbedingung für weitere kriegerische Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert, insbesondere für den Zweiten Weltkrieg, gesehen wird, weiterhin verdeutlicht. Wir beobachten derartige Bemühungen schon eine gewisse Zeit und so finden wir etwa heute an den ehemaligen Fronten riesige Freilichtmuseen der kriegerischen Ereignisse. Die zahlreichen für die Nachwelt konservierten Kriegsschauplätze und Gedenkstätten haben zu einer Art „Weltkriegstourismus“ geführt. Der Krieg wird so „nicht als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, sondern bisweilen als nostalgisches Spektakel gesehen“, wie Manfried Rauchensteiner meint5. Vielfach sind diese Stätten aber als Freilichtmuseen für den Frieden konzipiert6. Doch auch im „Hinterland“ wird an den Krieg gedacht – und das nicht nur im „Mega-Gedenkjahr“7 2014. Der Krieg wurde nicht erst dann museumsreif, als niemand mehr darüber erzählen konnte8. Dennoch zeigt sich in den letzten Jahren ein verstärktes Bedürfnis, neue museale Präsentationen zu verwirklichen und das auch in Deutschland, wo der Erste der beiden Weltkriege lange Zeit weit weniger präsent war als etwa in Frankreich. Dort ist er als eine „wichtige Ausprägung der nationalen Identität“9 zu beschreiben, ist „politisch aufgeladen“10 und dementsprechend im Musée de l’Armée in Paris, im Mémorial 5

Manfried Rauchensteiner, Geschichte der Erinnerung. Die Transformation des Ersten Weltkriegs (Vortrag im Rahmen der Tagung Isonzofront 1915 –1917: Die Kultur des Erinnerns 29. September 2005 bis 01. Oktober 2005 in Bovec /Slowenien). 6 Vgl. http://www.sabotin-parkmiru.si [3. November 2015]. 7 Die besonders umfangreiche Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg war aber bei weitem nicht in ganz Europa spürbar; in Österreich und Deutschland fiel die Aufmerksamkeit besonders auf, weil sie im Gegensatz zur bisherigen gesellschaftlichen Befassung mit diesem Krieg stand. In vielen osteuropäischen Staaten war aber kein derartiger Boom zu erkennen. In Warschau gab es 2014 – um ein Beispiel zu nennen – etwa nur eine kleine Fotoausstellung zu diesem Krieg, hier war das Gedenken an den 25 Jahre zurückliegenden „Fall des Eisernen Vorhanges“ viel präsenter. Für einen Überblick zu österreichischen Gedenk kulturen vgl. u. a. Andrea Brait, Cultures de la mémoire de la Premiere Guerre mondiale en Autriche. Le „Jubile“ 1914 /2014; in: Matériaux pour l’histoire de notre temps 113 (2014) 6 –14; Sabine A. Haring, Between the topos of a ‚forgotton war‘ and the current memory boom; in: Bart Ziino (Hg.), Remembering the First World War (London  –  New York 2015) 207–222. 8 Vgl. zur Entwicklung bis zum Zweiten Weltkrieg: Christine Beil, Der ausgestellte Krieg. Präsentationen des Ersten Weltkriegs 1914 –1939 ( = Untersuchungen des Ludwig-UhlandInstituts 97, Tübingen 2004). 9 Gerd Krumeich, Der Erste Weltkrieg im Museum. Das Historial de la Grande Guerre in Péronne und neuere Entwicklungen in der musealen Präsentation des Ersten Weltkriegs; in: Barbara Korte, Sylvia Palatschek, Wolfgang Hochbruck (Hgg.), Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur ( = Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte – Neue Folge 22, Essen 2008) 59 –71, hier 59. 10 Barbara Korte, Sylvia Palatschek, Wolfgang Hochbruck, Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur. Einleitung; in: Barbara Korte, Sylvia Palatschek, Wolfgang Hochbruck (Hgg.), Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur

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de Verdun11 sowie in zahlreichen kleineren Museen und Ausstellungen schon seit vielen Jahren präsent. Diese umfangreiche museale Beschäftigung mit dem Grande Guerre führte zu Diskussionen über die Darstellbarkeit von diesem in Museen und zur Verwirklichung neuer Gestaltungsformen. Wegweisend wirkte hier das Historial de da Grande Guerre in Péronne, das nicht nur für die Fokussierung auf das Leben der Soldaten im Krieg und die Auswirkungen des Krieges auf „das Hinterland“ bekannt wurde, sondern insbesondere für die Durchbrechung klassischer Darstellungsmuster: So finden sich in diesem Museum Uniformen mit diversen anderen Ausrüstungsgegenständen in Bodenvitrinen, die an Gräber erinnern12. Museen, insbesondere historische, können nicht nur als Spiegel des kulturellen Gedächtnisses beschrieben werden, die Ausstellungen zeigen das Funktionsgedächtnis einer Gesellschaft, um mit Aleida Assmann zu sprechen13, und präsentieren (historische) Deutungen – ausgestellt wird nicht die Vergangenheit, sondern von der jeweiligen Gegenwart geprägte, in einem bestimmten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs verortete Bedeutungskonstruktionen. Daher ist insbesondere zu fragen, ob museale Präsentationen auf Veränderungen in der Gesellschaft und speziell auf neue Forschungsergebnisse und -schwerpunkte reagieren. Hierbei ist speziell der Paradigmenwechsel von der klassischen Militärgeschichte hin zu einer „Kulturgeschichte des Krieges“ interessant14. Diese „hat den Menschen im Krieg aufgewertet und die Kriegsdarstellung individualisiert. Das Handeln, Fühlen und Leiden des (einfachen) Kriegsteilnehmers, seine subjektiven Erfahrungen und Erlebnisse sind wichtiger Teil, mitunter sogar Zentrum der historischen Analyse“15, wie Thomas Thiemeyer betont. Neben neuen Forschungsperspektiven ist zu bedenken, dass ( = Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte – Neue Folge 22, Essen 2008) 7–24, hier 7. Dieses wurde in den letzten Jahren renoviert und wurde am 22. Februar 2016 wieder eröffnet. 12 Vgl. zur Konzeption des Museums und den Vorüberlegungen: Hugues Hairy, Das Historial de la Grande Guerre in Péronne; in: Hans-Martin Hinz (Hg.), Der Krieg und seine Museen (Frankfurt  –  New York 1997) 157–162. 13 Vgl. Aleida Assmann, Funktions- und Speichergedächtnis. Zwei Modi der Erinnerung; in: Kristin Platt, Mihran Dabag (Hgg.), Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten (Opladen 1995) 169 –185. 14 Vgl. zu dieser Entwicklung insbesondere: Thomas Kühne, Benjamin Ziemann, Militärgeschichte in der Erweiterung. Konjunkturen, Interpretationen, Konzepte; in: Thomas Kühne, Benjamin Ziemann (Hgg.), Was ist Militärgeschichte? (= Krieg in der Geschichte 6, Paderborn – München –Wien –Zürich 2000) 9 –  46; Anne Lipp, Diskurs und Praxis. Militärgeschichte als Kulturgeschichte; in: Thomas Kühne, Benjamin Ziemann (Hgg.), Was ist Militärgeschichte? ( = Krieg in der Geschichte 6, Paderborn – München –Wien – Zürich 2000) 211– 227. 15 Thomas Thiemeyer, Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Die beiden Weltkriege im Museum ( = Krieg in der Geschichte 62, Paderborn –Wien 2010) 243. 11

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das Zielpublikum von Museen zum Ersten Weltkrieg heute keine Kriegsveteranen und Zeitzeugen mehr sind, sondern die nachfolgenden Generationen. Dies führt dazu, dass sich die Motivation der Besucher ändert: „Sie kommen nicht, weil sie sich per se für Waffen, Militär und Krieg interessieren oder persönliche Erinnerungen an bestimmte Waffen, Uniformen und Schlachten haben, sondern die Ausstellungen müssen den allgemein interessierten Besucher für ihr Thema gewinnen.“16 Dazu kommt eine „Veränderung unserer Freizeitkultur und Erlebnis- bzw. Sehkultur“, welche die Präsentationsformen in Museen generell veränderten und sich freilich auch auf die Militärmuseen auswirkten. „Nicht mehr die bloße Zurschaustellung von Kriegsgerät, Orden und blank polierten Waffen versprach Massenattraktivität“, wie Hans-Ulrich Thamer meint, „sondern das Erinnern an den Krieg und das Erlebbarmachen bzw. die Theatralisierung des Krieges, bis hin zu den fragwürdigen modernen Populärkulturen einer militärischen Heritage-Industrie.“17 Gegenstand der Analyse sind zwei Dauerausstellungen: Jene im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden und jene im Musée de la Grande Guerre du Pays de Meaux. Beide sind nicht Produkt des Gedenkjahres 2014, aber doch recht jung (nämlich 2011 eröffnet), weshalb davon auszugehen ist, dass in die Ausstellungen die neuesten Forschungserkenntnisse und -perspektiven eingeflossen sind, welche die Weltgeschichtsforschung in den letzten Jahren geprägt haben18. Bei diesem Vergleich ist einerseits zu bedenken, dass die nationalen Historiographien trotz der in vielen Staaten nachzuweisenden Entwicklung von der Politik-, über die Wirtschafts- und Sozialgeschichte hin zu einer Kulturgeschichte doch unterschiedlich geblieben sind, was nicht nur mit unterschiedlichen Erfahrungen im und nach dem Krieg zu tun hat, sondern auch mit nationalen Forschungstraditionen, wie Arndt Bauerkämper und Elise Julien betonen19. Außerdem ist bei der Analyse des „hybriden Mediums“ Ausstellung, das durch die Verwobenheit von Objekten, Texten, Bildern und der Ausstellungsarchitektur charakterisiert ist20, zu beachten, dass dieses nicht nur von der Thiemeyer, Fortsetzung 104 f. (Hervorhebung im Original) Hans-Ulrich Thamer, Die Kulturgeschichte der Gewalt im Museum. Ein Konzept und seine Realisierung im Militärhistorischen Museum in Dresden; in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 11/12/63 (2012) 658–668, hier 658. 18 Vgl. zur allgemeinen Entwicklung: Jay Winter, Antoine Prost, The Great War in History. Debates and Controversies, 1914 to the Present (Cambridge 2005) 192–213. 19 Arndt Bauerkämper, Elise Julien: Einleitung; in: Arndt Bauerkämper, Elise Julien (Hgg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918 (Göttingen 2010) 7–28, hier 11. 20 Vgl. Roswitha Muttenthaler, Regina Wonisch, Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen (Bielefeld 2006) 37. 16 17

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Entwicklung der Forschungen zum dargestellten Thema, in dem Fall also zum Ersten Weltkrieg, geprägt ist, sondern es ist auch zu erwarten, dass generelle Trends der Ausstellungsgestaltung und des Diskurses über die gesellschaftlichen Funktionen von Museen auf die Darstellungsformen wirken. Die Entwicklung von Militärmuseen wurde in den letzten Jahren insbesondere durch die zunehmende Erlebnisorientierung von Ausstellungen sowie den Perspektivenwechsel von der Originalität der Objekte hin zu den in Ausstellungen entwickelten Narrationen beeinflusst 21. Werner Schweibenz spricht von einem Paradigmenwechsel vom Museumsobjekt hin zur Museumsinformation – die Hauptfunktion des Museums liege nicht mehr im Bewahren und Vermitteln der Objekte selbst, sondern von Informationen über diese Exponate22. Hugues Hairy, der als Kurator an der Gestaltung des Historial de da Grande Guerre in Péronne beteiligt war, definierte ein historisches Museum etwa als „eine öffentlich ausgestellte, mit Bildern versehene Erzählung“ 23 – deutlicher könnte man nicht ausdrücken, welche Bedeutung der Narration zugeschrieben wird. Nach einer kurzen allgemeinen Vorstellung der beiden Häuser konzentriert sich die Analyse auf zwei Felder, die eine besondere Herausforderung für Kriegsausstellungen darstellen, zumal diese in der Regel nichts mit der Lebenswelt der Besucherinnen und Besucher zu tun haben:24 Einerseits wird eine Objektgruppe, nämlich Waffen und Militaria, in den Blick genommen und andererseits, die Wirkung, die im Krieg durch diese Gegenstände erzielt wird, nämlich Verwundung und Tod.

2. Zwei Dauerausstellungen von 2011 Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden ist in einem Bau untergebracht, der schon vielfach vor der Eröffnung dieses neuen Museums der Darstellung von Militärgeschichte diente. Der Arsenalbau im Zentrum der Dresdner Militärstadt stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und beherbergte 21

Vgl. hier auch Thiemeyer, Fortsetzung 118–124. Werner Schweibenz, Vom traditionellen zum virtuellen Museum. Die Erweiterung des Museums in den digitalen Raum des Internets (= DGI-Schrift Informationswissenschaft 11, Frankfurt am Main 2008) 12–23. 23 Hairy, Das Historial 160. 24 Diese Aussage trifft freilich nicht auf alle Besucherinnen und Besucher zu, denn gerade Militärmuseen werden vielfach auch von Militärpersonen besucht (beispielsweise im Zuge von Aus- und Fortbildungen). Außerdem ist zu bedenken, dass in der mitteleuropäischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, die immer mehr von Migration geprägt ist, zahlreiche Besucher Kriegserfahrungen haben und teilweise aufgrund dieser nach Deutschland oder Frankreich geflohen sind. Auch dies ist bei der Konzipierung von Kriegsausstellungen künftig immer mehr zu bedenken – Waffen sowie Darstellungen zu Verwundung und Tod können traumatisieren bzw. traumatische Erinnerungen hervorrufen. 22

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seit 1897 die Königliche Arsenal-Sammlung, seit 1914 das Sächsische Armeemuseum, ab 1938 das Heeresmuseum der Wehrmacht und seit 1972 das Armeemuseum der DDR. Die Bundeswehr übernahm diesen Bau nach 1990 und plante – nach längeren Diskussionen – die Errichtung einer neuen Einrichtung. Der Bau wurde renoviert und um den sogenannten Libeskind-Keil erweitert, benannt nach seinem Architekten. Seine 30 Meter hohe Spitze weist auf jene Stelle, an der in der Nacht vom 13. Februar 1945 die ersten Bomben der alliierten Luftangriffe in Dresden einschlugen25. Das 2011 neu eröffnete Museum zeigt sich weder als Waffentempel noch als Mahnstätte, wie Thomas Schmid die Kernaussage der Dauerausstellung auf den Punkt bringt26. Von Anfang an war es das Ziel der Arbeitsgruppe, welche das grundlegende Konzept der Ausstellung entwickelte, „neben den klassischen Themen der Operations- und Organisationsgeschichte der Streitkräfte und der Technikgeschichte auch Aspekte der Sozial-, Alltags- und Geschlechtergeschichte [einzubeziehen], um den Besucher mit dem ‚Denken, Handeln, Fühlen und Leiden‘ der Soldaten (aber auch der Zivilisten) zu konfrontieren und die anthropologische Dimension der Gewalt in Krieg und Frieden zu thematisieren.“27 Das Museum hat also den Anspruch, die Verbindung von Krieg und Militär mit der allgemeinen Geschichte zu zeigen sowie den einzelnen Menschen, der Gewalt ausübt oder erleidet, in den Mittelpunkt der Ausstellung zu stellen28. Hierzu wurden auch zahlreiche interaktive Stationen eingebaut, die ein „Nachempfinden“ ermöglichen sollen: An einer kann zum Beispiel ein gepackter Marschtornister ausprobiert werden, an einer Station findet sich eine durch eine Geruchsforscherin entwickelte Nachahmung des „Grabengeruchs im Ersten Weltkrieg“. Im Museum wurden zwei Rundgänge geschaffen: Ein thematischer im Libeskind-Keil beschäftigt sich mit Themen wie „Tiere beim Militär“ oder „Militär und Mode“. Der chronologische Rundgang im Altbau fokussiert auf „bedeutende Ereignisse und Umbruchsituationen“, wobei von einem Hauptweg Kabinette abzweigen, „die sich eingehender der Militärgeschichte des Zeitalters widmen. Vertiefungsräume erschließen Themen wie Ökonomie des Krieges, Militär und Gesellschaft oder Verwundung und Tod.“29 25

Vgl. Matthias Rogg, Der historische Ort; in: Gorch Pieken, Matthias Rogg (Hgg.), Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr. Ausstellungsführer (Dresden 2011) 7–13; Matthias Rogg, Die Architektur; in: Gorch Pieken, Matthias Rogg (Hgg.), Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr. Ausstellungsführer (Dresden 2011) 15 –19. 26 Vgl.: Thomas Schmid, Kein Waffentempel. Aber auch keine Mahnstätte; in: Die Welt vom 15. Oktober 2011, 26. 27 Thamer, Die Kulturgeschichte 663. 28 Vgl.: http://www.mhmbw.de/index.php/ausstellungen, [28. November 2014]. 29 Abschrift in der Ausstellung am 20. Februar 2012.

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Von den drei Abschnitten des chronologischen Rundgangs ist einer dem „Zeitalter der Weltkriege 1914 –1945“ gewidmet. Die beiden Weltkriege werden dabei nur teilweise chronologisch nacheinander dargestellt, was das Verständnis der Kuratoren dieser Epoche als „neue[n] Dreißigjährigen Krieg“30 unterstreicht. Umgesetzt wurde dies immer wieder durch Überblickstexte zu beiden Kriegen (z. B. „Militärtechnik und Taktik im Zeitalter der Weltkriege“) und dann finden sich in der Ausstellung genauere Texte zu jedem der beiden Kriege in Verbindung mit entsprechenden Ausstellungsobjekten. Das ebenfalls 2011 eröffnete Musée de la Grande Guerre du Pays de Meaux, also in jener Stadt, in deren Umgebung die erste Marneschlacht im September 1914 stattfand, ist nur dem Ersten Weltkrieg gewidmet. Das Museum befindet sich in einem Neubau und basiert auf einer privaten Sammlung. Es versteht sich nicht als reines Kriegs- bzw. Militärmuseum, sondern als „Museum für Geschichte und Gesellschaft“, um, wie es auf der Website heißt, „die Prüfungen der Vergangenheit zu entdecken, die Gesellschaft von heute besser zu verstehen und die Welt von morgen aufzubauen“31. In diesem Sinne wird der Erste Weltkrieg nicht als singuläres Ereignis in der Geschichte dargestellt: Gleich zu Beginn der Ausstellung werden die Besucherinnen und Besucher mit einer raumfüllenden Bild-/Video- und Toninstallation konfrontiert, welche ausgehend von der Gegenwart chronologisch rückwärtsgewandt bis ins 19. Jahrhundert Krieg und Gewalt in Europa thematisiert. In der Folge findet sich eine Dauerausstellung, die mit dem Jahr 1870 beginnt und am Ende – nach einer thematisch gegliederten Ausstellung zum Ersten Weltkrieg – auf die Folgen des Kriegsausgangs und weitere kriegerische Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert verweist. Der Hauptteil der Ausstellung besteht aus einer großen Halle, in welcher der Krieg vor allem in einem regionalen Kontext dargestellt wird, und zehn Vertiefungsräumen, in denen Themen wie „Taktik und Strategie“, „Körper und Leiden“ und „Frauen und Gesellschaften“ musealisiert sind.

3. Waffen und Militaria Auch ein noch so modernes Museum zum Ersten Weltkrieg bzw. zu Kriegen generell kann wohl kaum ohne Waffen und Militaria auskommen. Diese Objektkategorie ist ein besonderes Charakteristikum von Militärmuseen, die sonst bestenfalls eine Randerscheinung darstellt, wie etwa in technischen Museen. Bei diesen Objekten stellt sich das von Burkhard Asmuss beschriebene grund30 31

Abschrift in der Ausstellung am 20. Februar 2012. http://www.museedelagrandeguerre.eu/de [10. November 2014].

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legende Problem der „originären Wirkungsmacht von Objekten“, die im Widerspruch zur „Notwendigkeit kritischer Reflexion“32 steht, in besonderer Form. Wie, so fragten Christian Rapp und Peter Fritz, „geht man damit um, dass Ausstellungen Inhalte veredeln, die man eigentlich abwerten will? […] Dass kriegsspezifische Objekte wie Waffen und Uniformen als (gesäuberte und professionell restaurierte) Ausstellungsstücke ihren Zweck überstrahlen?“33 Klar ist, dass sich der Stellenwert dieser Exponate in den letzten Jahr(zehnt)en stark gewandelt hat. Traditionell wurden diese von der Militärgeschichtsschreibung und ebenso in Heeresmuseen als „Mittel zum Töten und zur Destruktion beschrieben und gemäß ihrer Effizienz beurteilt […]. Aber für die Kulturgeschichte des Krieges reicht ihre Bedeutung weit darüber hinaus“, wie Bernd Hüppauf betont. „Für die Kulturgeschichte gibt es nicht die Waffe an sich. Es kann keine ethisch neutrale Waffe geben, die vor ihrem Einsatz gedacht werden müsste.“34 Die Militärmuseen sind in der Folge gefordert, nicht auf die Technologie an sich zu fokussieren, sondern auf die Wirkungen, auch auf die Absichten, die hinter ihrem Gebrauch stehen, und letztlich auf den Zusammenhang mit Emotionen und Werten einer Gesellschaft35. Somit ist gerade in Bezug auf Waffen und Militaria die Kontextualisierung, also die in der Ausstellung auch durch Texte erzeugte Narration, von entscheidender Bedeutung. Wie ist nun der Umgang mit diesen Objekten in den Dauerausstellungen des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr und des Musée de la Grande Guerre? Wenig überraschend ist festzustellen, dass diese Objektkategorie in beiden Museen in großer Stückzahl zu finden ist. Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr schon fast entschuldigend oder verteidigend meint Thamer, dass „auch das MHM […] nicht umhin kommt, das zu zeigen, was klassischerweise zu einem Militärmuseum gehört, obwohl vieles, gerade an Militärfahrzeugen und Panzern aller Herkunft und technischer Entwicklung, im Depot bleibt“36. Militärisches Großgerät findet sich in der Ausstellung in 32

Burkhard Asmuss, Die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums: Vorgeschichte, Kritik und Gegenkritik; in: Jan-Holger Kirsch, Irmgard Zündorf (Hgg.), Zeitgeschichte-online, Thema: Geschichtsbilder des Deutschen Historischen Museums. Die Dauerausstellung in der Diskussion, 2007, http://www.zeitgeschichte-online.de/portals/_rainbow/documents/pdf/dhm_asmuss.pdf [12. Dezember 2009] 11. 33 Christian Rapp, Peter Fritz, Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg. Zum Ausstellungskonzept; in: Schallaburg Kulturbetriebsges.m.b.H. (Hg.), Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914 –1918. Ausstellungskatalog Schallaburg /Niederösterreich 29. März bis 9. November 2014 (Wien 2014) 8 –13, hier 10. 34 Bernd Hüppauf, Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Krieges (Bielefeld 2013) 265 (Hervorhebung im Original). 35 Vgl. Hüppauf, Was ist Krieg? 266. 36 Thamer, Die Kulturgeschichte 666.

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Dresden tatsächlich kaum – über den Umfang von Vitrinen gehen von den Objekten zum Ersten Weltkrieg nur ein Auto, ein Heereswagen und der Korb eines Heißluftballons hinaus. Dennoch kann man dem Museum nicht vorwerfen, dass es nicht die verschiedensten Tötungsgeräte vorstellen würde. Diese finden sich in den Vitrinen zu den verschiedenen Themenkomplexen. So ist etwa im Bereich „Krieg in der Luft“ ein Fliegerpfeil ausgestellt, der als Abwurfmunition diente. Im Ausstellungsbereich „Moderne Waffen und Materialschlachten“ werden auch eine Granate, die mit „Blaukreuz“ gefüllt war, und eine Gasmaske gezeigt. Doch finden sich diese Waffen nicht isoliert – in der gleichen Vitrine werden Fotos von Verwundeten und Toten gezeigt. Ähnlich wurden auch die in der Vitrine zum Thema „Grabenkrieg“ ausgestellten Waffen kontextualisiert: In dieser finden sich unter anderem ein Modell einer deutschen Stellung und ein Feldpostbrief.

Abbildung 1: Vitrine „Grabenkrieg“ (Dresden, © MilHistMuseumBw)

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In Meaux wird hingegen zahlreiches militärisches Großgerät, wie Mörser, Kanonen und auch Fahrzeuge, die während des Krieges zum Einsatz kamen, sehr präsent in der weitläufigen Haupthalle gezeigt. Zu diesen finden sich auch ausführliche technische Erklärungen. Während die meisten Kampfgeräte ohne weitere Hinweise auf deren tödliche Wirkung dargestellt sind, findet sich zwischen einer deutschen 77  mm Feldkanone und einer französischen 75  mm Feldkanone das Gemälde France ! 1914 ! von Léon Réni-Mel: Dieses zeigt einen Soldaten, der offensichtlich gerade im Kampf verwundet wurde. Die Waffen und ihre Wirkung wurden damit an dieser Stelle direkt gegenübergestellt. Allerdings finden sich auch viele Großgeräte ohne eine derartige Kontextualisierung.

Abbildung 2: Feldkanone (Meaux, © Musée de la Grande Guerre du Pays de Meaux  / D.  Pazery)

In beiden Museen wird auf Mannschaftsausrüstungen während des Krieges verwiesen. Der dem Ersten Weltkrieg gewidmete Hauptteil der Dauerausstellung in Meaux, wird durch einen Gang betreten, in dem ein Marsch von Soldaten unterschiedlicher Armeen in Form von uniformierten Figurinen inszeniert wird. Solche finden sich am Ende der Ausstellung wieder, womit die Veränderungen hinsichtlich der Uniformen und Ausrüstungen dargestellt werden. In beiden Bereichen geben Medienstationen detailliert Auskunft über

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die verschiedenen Ausstattungen der Soldaten der einzelnen Armeen. Zahlreiche Uniformen und Ausrüstungsgegenstände finden sich aber auch in anderen Ausstellungsbereichen, wie etwa im Saal „Die Vereinigten Staaten von Amerika“.

Abbildung 3: Mannschaftsausrüstungen des Jahres 1914 (Meaux, © Musée de la Grande Guerre du Pays de Meaux / D. Pazery)

In Dresden ist die Uniformierung der Soldaten ein weit weniger zentral positioniertes Thema. Die in verschiedenen Vitrinen platzierten Ausrüstungsgegenstände werden im Gegensatz zur Ausstellung in Meaux über ausführliche Texte zu jedem Objekt kontextualisiert. So erfährt man etwa aus einem Text zu Stiefeln, dass die Truppen der 1. Armee in diesen im Sommer 1914 zwischen 20 und 50 km pro Tag zurücklegen mussten und dass viele erschöpft zusammenbrachen37. Im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr zeigt sich außerdem der deutliche Versuch, die Faszination der Ausrüstungsgegenstände zu brechen, indem eine deutliche Musealisierung – also ein Herauslösen aus dem ursprünglichen Wirkungszusammenhang – erkennbar ist. So wurde etwa bei der Ausstellung von Ausrüstungsgegenständen eines Soldaten und eines Pferdes auf die übliche Darstellungsform mit Figurinen verzichtet und damit ein höherer Abstraktionsgrad erreicht. 37

Vgl. Objekttext „Stiefel für Mannschaften und Unteroffiziere der Fußtruppen“, Abschrift in der Ausstellung am 13. Juli 2015.

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Abbildung 4: Vitrine zur Ausrüstung im Ersten Weltkrieg (Dresden, © MilHistMuseumBw)

Die Platzierung und Inszenierung der in Meaux gezeigten Waffen weicht von Dresden ab. Zum Beispiel findet man solche im Musée de la Grande Guerre auch in nachgestellten Schützengräben. Der Ausstellungsraum „Ein neuer Krieg“ ist schließlich ganz den waffentechnischen Neuerungen in diesem Krieg gewidmet. Hier wird auf die verschiedenen Waffentypen und auch deren Produktion sehr detailreich eingegangen. Zahlreiche Vitrinen sind einzelnen Waffengattungen gewidmet, wobei viele gleichartige Waffen zur Schau gestellt werden. An vielen dieser Vitrinen sind kleine Monitore angebracht, über welche man sich über viele Bild- und Filmdokumente nicht nur über den technischen Aufbau, sondern auch die Wirkung informieren kann. Auch der Einsatz von Giftgas wird thematisiert, wozu auch Gasmasken ausgestellt sind. Unter den hands-on-Objekten der Ausstellung findet sich schließlich eine Handgranate und an einer Schautafel werden die Besucher aufgefordert, die Entwicklung der Waffenproduktion hinsichtlich der einzelnen Waffengattungen zu schätzen.

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Abbildung 5: Ausstellungsbereich „Ein neuer Krieg“ (Meaux, © Musée de la Grande Guerre du Pays de Meaux / D. De Smets)

Obwohl Waffen und Militaria in Meaux also einen zentraleren Raum in der Ausstellung einnehmen und auch die Entwicklung der Technik genauer thematisiert wird, lässt sich doch festhalten, dass die Wirkung der Waffen in beiden Ausstellungen gezeigt wird – und zwar in Verbindung mit den Kriegsgeräten.

4. Verwundung und Tod In Kriegsdarstellungen wird oft auch unabhängig von der Präsentation von Waffen auf die Ergebnisse deren Einsatzes eingegangen. Kuratorinnen und Kuratoren müssen bei der Gestaltung von Kriegsausstellungen die grundsätzliche Frage stellen, „ob das Unerträgliche und das Grauen des Krieges im Museum gezeigt werden kann und darf“. Hinsichtlich der Darstellung von Verwundung und Tod „erlegen sich die Militärmuseen eine deutliche Zurückhaltung auf, weil sie um die ethischen Grenzen und die emotionale Wirkung der Präsentation von (toten) Körpern wissen. Wenn es um das Zeigen von ver-

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wundeten oder toten Körpern oder Dingen geht, greift man allenfalls auf filmische Darstellungen zurück oder auf Substitute von Menschen und Körperteilen, wie Prothesen oder Moulagen.“38 Der Journalist Andreas Kilb meint aber klar, dass „ein Militärgeschichtsmuseum, das sich um den Anblick des Unerträglichen herumdrückt, […] seinen eigenen Begriff“ verfehlt39. Beide Museen weichen dem Thema nicht aus und zeigen zahlreiche Exponate, die Verwundung und Tod im Krieg verdeutlichen. Neben den bereits erwähnten Hinweisen, die in Verbindung mit der Präsentation von Kriegsgeräten stehen, finden sich im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr die Ausstellungsbereiche „Tod und Gefangenschaft im Zeitalter der Weltkriege“ sowie „Verwundung im Zeitalter der Weltkriege“. In diesem finden sich unter anderem ein Konvolut von amtlichen Todesmeldungen sowie zahlreiche Fotos von gefallenen Soldaten; auch ein Fotoalbum eines Soldaten, der den Tod von Kameraden dokumentiert hat, ist ausgestellt. Hinsichtlich Verwundungen beziehen sich die Objekte abgesehen von einem vergleichenden Schaubild auf den Zweiten Weltkrieg. Das Thema „Tod“ ist aber in vielen weiteren Ausstellungsbereichen präsent – und hierbei geht es nicht nur um gefallene Frontsoldaten: Ein Foto zeigt etwa die Hinrichtung eines Spions durch österreichische Truppen an der Ostfront. Neben der Thematisierung von Verwundung und Tod im chronologischen Rundgang findet sich im Museum in Dresden außerdem noch ein eigener Ausstellungsbereich „Leiden am Krieg“. Die Vitrinenkonstruktion ist so gestaltet, dass man vorab darauf hingewiesen wird, dass in diesem Bereich sterbliche Überreste gezeigt werden. Außerdem sind die Vitrinen mit einem Sichtschutz versehen, sodass man die Exponate nur betrachten kann, wenn man unmittelbar davor steht40. Zu sehen sind in diesen Vitrinen zum Ersten Weltkrieg unter anderem ein Stahlhelm mit einem Einschussloch und eine Moulage einer Gesichtsverletzung. Auch im Museum in Meaux findet sich zum Thema „Körper und Leiden“ ein eigener Ausstellungsbereich. Dieser Vertiefungsraum wird dominiert von einem großformatigen Foto, auf dem das Gesicht eines gefallenen Soldaten zu sehen ist, der halb begraben ist. Dahinter finden sich zahlreiche Hinweise auf den Umgang mit Gefallenen im Krieg. Außerdem werden in mehreren Vitrinen diverse Prothesen ausgestellt, zahlreiche Objekte verweisen auf die 38

Thamer, Die Kulturgeschichte 664. Andreas Kilb, Ein Minenschaf zieht in den Krieg, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ militaerhistorisches-museum-dresden-ein-minenschaf-zieht-in-den-krieg-11492151.html [8. Dezember 2014]. 40 Diese Konstruktion schützt außerdem Kinder, die nicht unvermittelt über diese Exponate stolpern können. 39

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Versorgung von Verletzten direkt an der Front und in Lazaretten im Hinterland. Neben physischen Verletzungen werden auch die durch den Krieg verursachten psychischen Leiden angesprochen. Es ist jedoch anzumerken, dass diese eindrückliche Präsentation nur einen von vielen Vertiefungsräumen darstellt und noch dazu eher am Ende von diesen angesiedelt ist. Aufgrund der Größe der Ausstellung besteht daher die Gefahr, dass einige Besucher ihn gar nicht mehr betreten oder nur mehr kurz.

Abbildung 6: Ausstellungsraum „Körper und Leiden“ (Meaux)

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Das Thema „Tod“ ist noch einmal am Ende der Ausstellung im Musée de la Grande Guerre sehr präsent: Hier finden sich nicht nur Kreuze, welche an einen Friedhof erinnern, sondern auch eine Wandprojektion, welche ein nur teilweise begrabenes Skelett zeigt – eine genaue Beschriftung fehlt, was zeigt, dass es hier nicht um die wissenschaftlich fundierte Beschreibung eines Exponates, sondern um die Vermittlung einer Trauerbotschaft geht, wofür auch die Lichtgestaltung steht.

Abbildung 7: Ende des Ausstellungsrundganges (Meaux, Musée de la Grande Guerre du Pays de Meaux / Yannick Marques)

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5. Transnationale Weltkriegsmusealisierung? Stefan Fuhrer, der als Grafiker schon an vielen großen Ausstellungsprojekten mitgearbeitet hat, betont: „Ausstellen ist immer ein Stück weit Propaganda. Aber man kann sich dem auch entgegenstellen.“41 Nun stellt sich abschließend die Frage, welche Botschaften die Ausstellungen vermitteln – und ob der Vergleich darauf schließen lässt, dass sich transnationale Perspektiven etabliert haben. Oder geht es letztlich doch darum, das große Leid, das der eigenen Nation zugefügt wurde, zu betonen? Handelt es sich um „Propaganda“ für die Eigenen, was automatisch ein othering mit sich bringt? Die Frage nach dem Stand der Musealisierung des Ersten Weltkrieges ist auch hinsichtlich der Konzeption des gerade in Entstehung befindlichen Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel von Bedeutung, das sich eine zeitliche Spanne vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart gesetzt hat 42. Zunächst lässt sich allgemein feststellen, dass sich in beiden analysierten Museen – trotz des Einbezugs von Exponaten von unterschiedlichen kriegsführenden Armeen – keine von nationalen Perspektiven völlig losgelöste Darstellung findet. Dies wird insbesondere durch die inhaltliche Konzentrierung auf die von den jeweils „eigenen“ Soldaten dominierten Frontabschnitte deutlich (so ist beispielsweise in beiden Museen die Südostfront bestenfalls Randthema). Dennoch lassen sich gerade hinsichtlich der zentralen Botschaften der Ausstellungen Parallelen feststellen, die für eine zumindest in Ansätzen vorhandene transnationale Sicht auf den Krieg sprechen: Krieg wird in beiden Museen an vielen Stellen mit menschlichem Leid assoziiert – der militärische Verlauf wird zwar erklärt, steht aber nicht im Zentrum der Darstellung. Waffen finden sich in beiden Museen, doch werden auch die Folgen von deren Gebrauch veranschaulicht – in Dresden ist dieser Aspekt überhaupt zentral. Verwundung und Tod werden in verschiedenen Zusammenhängen angesprochen und auch in eigenen Ausstellungsbereichen thematisiert. Die Botschaften beider Ausstellungen zeigen deutlich, dass man sich nicht als den Krieg und seine Waffen verherrlichende Institution versteht – im Gegenteil: vielmehr finden sich in beiden Einrichtungen Wesensmerkmale von Friedensmuseen.

Gerhard Abel, Stefan Fuhrer, „Diese Ausstellung hat kein Happy End“. Zu Architektur und Grafik-Design der Ausstellung; in: Schallaburg Kulturbetriebsges.m.b.H. (Hg.), Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914 –1918. Ausstellungskatalog Schallaburg /Niederösterreich 29. März bis 9. November 2014 (Wien 2014) 14  –15, hier 14. 42 Sachverständigenausschuss Haus der Europäischen Geschichte: Konzeptionelle Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte, http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/2004_2009/documents/dv/745/745721/745721_de.pdf [14. Juli 2013]. 41

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Eine weitere Besonderheit der beiden Institutionen lässt diesen Schluss zu: Anders als viele Militärmuseen enden die Dauerausstellungen im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr und im Musée de la Grande Guerre nicht in der Geschichte, sondern in der Gegenwart. Sie verweisen darauf, dass Krieg nach wie vor Teil der (europäischen) Wirklichkeit ist. Das Museum in Dresden, das der Zeit nach 1945 eine ganze Ausstellungsebene widmet, thematisiert etwa aktuelle Einsatzgebiete der Bundeswehr und die vielfältigen Aufgaben der Armee bei Auslandseinsätzen. Aber auch im Musée de la Grande Guerre in Meaux, das eigentlich nur dem Ersten Weltkrieg gewidmet ist, findet sich am Ende der Dauerausstellung eine Installation, welche auf viele Krisenherde in Europa und der Welt verweist, beispielsweise auf den Nahen Osten, und auch das Ende der Belagerung Sarajevos im Jahr 1995 wird erwähnt. Davor befasst sich ein ganzer Ausstellungsbereich mit „Siegesillusionen“, wozu auch eine rund neunminütige Dokumentation gezeigt wird, welche die Hoffnungen und Enttäuschungen der einzelnen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg ebenso thematisiert wie die Entwicklungen bis zum September 1939. Die Dokumentation endet mit dem Satz „Es ist keine Rede mehr vom allerletzten Krieg …“43.

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Abschrift in der Ausstellung am 13. August 2014.

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Innenleben einer Ausstellung. „Grenzgang. Das Pustertal und der Krieg 1914  –1918“ des Tiroler Photoarchivs 1. Intro Das Jahr 2014 war auch in Österreich geprägt von einer Vielzahl an Ausstellungen, Vorträgen und Veranstaltungen anlässlich der 100. Wiederkehr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs. Zahllose Publikationen1 sollten das Licht der Welt erblicken. Der Schwerpunkt lag 2014 dabei überdeutlich im östlichen Bereich des Landes. Betrachtet man das Bundesland Tirol (und auch Südtirol), so gab es etwa vereinzelt Präsentationen wie jene des Alt-Kaiserjägerclubs im Kaiserjägermuseum Innsbruck oder lokalspezifisch wie in St. Veit in Defereggen – aber keine der großen Landes-Institutionen2 „ritterte“ bereits 2014 mit der Schallaburg in Niederösterreich oder diversen Landesarchiven um die Besucherscharen der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan). Der totale Fokus wurde im Westen auf das Jahr 2015 und damit auf die Kriegs1

Um nur einige wenige der maßgeblichsten internationalen, österreichischen und Tiroler Publikationen zu nennen, erschienen vor, im und nach dem besagten Jahr „2014“: Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914 (London 22013); Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914 –1918 (Wien – Köln –Weimar 2013); Schallaburg Kulturbetriebsges.m.b.H. (Hg.), Jubel & Elend. Leben mit dem Großen Krieg 1914 –1918. Ausstellungskatalog Schallaburg/Niederösterreich 29. März bis 9. November 2014 (Wien 2014); Michael Forcher, Tirol und der Erste Weltkrieg. Ereignisse, Hintergründe, Schicksale (Innsbruck–Wien 2014); Hermann J. W. Kuprian , Oswald Überegger (Hgg.), Katastrophenjahre. Der Erste Weltkrieg und Tirol (Innsbruck 2014); Nicola Labanca, Oswald Überegger (Hgg.), Krieg in den Alpen. Österreich-Ungarn und Italien im Ersten Weltkrieg (1914 –1918) (Wien – Köln – Weimar 2015). 2 Das Tourismusmuseum in Meran „Touriseum“ veranstaltete zuerst eine Tagung, als Sammelband 2014 erschienen unter: Patrick Gasser, Andrea Leonardi, Gunda BarthScalmani (Hgg.), Krieg und Tourismus im Spannungsfeld des Ersten Weltkrieges /Guerra e Turismo. Nell’Area di Tensione della Prima Guerra Mondiale ( = Tourism & Museum 5, Innsbruck –Wien – Bozen 2014). Die eigentliche Ausstellung folgte 2015; die Tiroler Landesmuseen legten ihre große Schau grundsätzlich erst auf Mai bis November 2015, publikationsmäßig begleitet vom Sammelband: Wolfgang Meighörner (Hg.), Front – Heimat. Tirol im Ersten Weltkrieg (Innsbruck 2015).

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erklärung Italiens im Mai 1915 gerichtet, welche den Südteil des Kronlandes Tirol von heute auf morgen zum direkten Kampfgebiet machte. Was blieb folglich in Tirol vom Jahr 2014? Zum Beispiel die grenzüberschreitende Großausstellung „Grenzgang. Das Pustertal und der Krieg 1914 –1918“ des Tiroler Archivs für photographische Dokumentation und Kunst (TAP) mit dem dazugehörigen Sammelband3.

2. Das Tiroler Photoarchiv Anfang 2011 nahm das damals neu begründete Tiroler Photoarchiv seinen Betrieb auf: in Form eines EU-Interreg-IV-Projekts Italien – Österreich mit seinen Büros in Lienz / Osttirol und Bruneck (Brunico; Brunico) / Südtirol. Die EUFörderung ist mit Ende April 2015 ausgelaufen; derzeit wird der Basisbetrieb in Lienz erfreulicherweise durch das Land Tirol, jener in Bruneck (Brunico; Brunico) durch das Land Südtirol gefördert4. Zunächst galt es 2011, die gesamte Archivstruktur personell, büro- sowie hard- und softwaremäßig aufzubauen; dazu gehörten der anonymisierte LogoWettbewerb, Serveranlage, Datenbank-Entscheidung (für M-Box) sowie Entwicklung der Website, die unter der Adresse www.tiroler-photoarchiv.eu im November 2011 online ging. Parallel konnten bis heute (Stand: Ende 2015) circa 160 Verträge über vereinbarte Schenkungen, Dauerleihgaben oder Werknutzungen abgeschlossen werden, die von einem Foto bis – im Rahmen einer einmaligen Schenkung – zu rund 300.000 Fotos reichen. Der Hauptauftrag lag (und liegt) auf dem Sammeln des Kulturschatzes historischer Fotografien mit dem Schwerpunkt auf dem Bezirk Lienz /Osttirol und dem Südtiroler Pustertal, besonders zwecks Aufbau eines digitalen Archivs. Parallel zum Sammeln, Bewahren und Digitalisieren stand von Anfang an das Präsentieren als Kernauftrag fest – abseits des Web-Portals ging es dabei besonders um das Zeigen des Aufgefundenen in regelmäßigen Ausstellungen5. Martin Kofler (Hg.), Grenzgang. Das Pustertal im Krieg 1914 –1918 ( = TAP-Forschungen 2, Innsbruck 2014). 4 Zur Geschichte und Entwicklung des TAP sowie zu einzelnen Beständen siehe: Martin Kofler, Die Bedeutung des Lichtbildes als „Kulturschatz“. Das Tiroler Archiv für photographische Dokumentation und Kunst (TAP); in: Kulturberichte 2015 aus Tirol und Südtirol. Film und Fotografie (Innsbruck–Bozen 2015) 76 – 81; Ders., Von Georg, Albin und Ila. Die Familiengeschichte Egger-Lienz in bislang unbekannten Lichtbildern; in: Quart Heft für Kultur Tirol 25 (2015) 101–111; ebenfalls: Ders., Fotografien als historische Quelle; in: Michael Forcher, Meinrad Pizzinini (Hgg.), Tiroler Fotografie 1854 –2011 (Innsbruck –Wien 2012) 216 –231. 5 Vor allem: „Frische Luft für alte Ansichten“ (Lienz, 2012 –2014); „Zeittreppen – Eine Bildgeschichte der Stadt Bruneck. Von Grebmer bis Hibler (1861–1932)“ (Bruneck, 2012); „Sonderschau Georg Egger“ (Lienz, 2012); „Volldampf. Die Pustertalbahn 1869 –1918“ 3

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Die Art der Umsetzung dieser Schauen bzw. Vermittlung der Bestände konnte dabei recht unkonventionelle Wege gehen und wurde material- und drucktechnisch wertvollerweise stets von der Firma Durst Phototechnik AG gesponsert, deren Geschäftsführer bzw. Verwaltungsratspräsident Dr. Richard Piock als Vertreter neben jenen der Stadt Lienz und der Stadt Bruneck (Brunico; Brunico) im Trägervereinsvorstand des TAP sitzt, d. h., diesem Gremium als Obmann vorsteht. So bestand erstens für über zwei Jahre (!), 2012 bis 2014, eine Bauzaunausstellung mit rund 200 Laufmetern Mesh-Planen unmittelbar an der stark befahrenen Durchzugsstraße in Lienz. Zweitens kreierte die Lienzer Modeschneiderin Isabella Monitzer 2012 aus über 250 Porträtfotografien des TAP das Unikat eines Kleides, das am Tag der offenen Tür im Tiroler Landhaus in Innsbruck präsentiert wurde. Drittens lief drei Saisonen lang, 2013 bis 2015, äußerst erfolgreich der TAP-Fotofilm „Schlaglicht. Lienz und der Talboden“ im Museum der Stadt Lienz Schloss Bruck, der in rund 25 Minuten über 80 Lichtbilder anwählbar mit Kommentar auf Deutsch  / Italienisch  / Englisch offerierte6. Die erste Foto-Großausstellung des Tiroler Photoarchivs fand im Sommer 2013 in Lienz (Heizhaus von 1870/71), Toblach (Dobbiaco; Dobbiaco) (im ursprünglichen Grand Hotel der Südbahn-Gesellschaft, heute Kulturzentrum / Naturparkhaus) und Bruneck (Brunico; Brunico) (Postplatz  / RAIKA- Galerie) statt und präsentierte die verbindende „Lebensader“, die die Anbindung der Region „an die große weite Welt“ ermöglicht hatte: die historische Pustertalbahn 1869 bis 1918. Hier war zeitraummäßig abgesteckt, dass man einen der Standorte, nämlich Bruneck, bereits 2013 mit dem Ersten Weltkrieg vor Ort „bespielte“ – durch die „Brille“ der technischen Bedeutung des Schienenverkehrs gesehen.

3. Die TAP-Ausstellung „Grenzgang. Das Pustertal und der Krieg 1914 –1918“ (Sommer 2014) Das Gedenken 100 Jahre Erster Weltkrieg bezieht sich zu aller erst auf 1914 und den Kriegsausbruch. Bereits in diesem Jahr war die Tiroler Bevölkerung (Lienz –Toblach – Bruneck, 2013); „Erschließung. Die Nationalparkregion Hohe Tauern Tirol im historischen Lichtbild 1880 bis 1960“ (Matrei in Ost-tirol, 2013 –2014); „Schlaglicht. Lienz und der Talboden“ (Fotofilm, Lienz, 2013 – 2015); „Grenzgang. Das Pustertal und der Krieg 1914 –1918“ (Sillian – Kartitsch – Sexten – Bruneck, 2014); „Kalipè. Ein Photo Parcours durch das Bergsteigerleben von Reinhold Messner“ (Bruneck, 2015); „Durchbruch. Der Bau der Felbertauernstraße 1965/2015“ (Lienz, 2015); „Heimat / Front. Lienz und der Krieg 1914 –1918“ (Fotofilm, Lienz, 2015 /16). 6 Erschienen auf DVD unter dem gleichlautenden Titel „Schlaglicht. Lienz und der Tal boden“ (515116 LNL - MUSIC), Dezember 2015.

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massiv von den Kampfhandlungen betroffen: durch die vielen Einberufungen und die über 10.0007 gefallenen Tiroler Kaiserjäger, Landesschützen und Landsturmangehörigen in den ersten Kriegsmonaten; von den vielen Verwundeten oder in russische bzw. serbische Kriegsgefangenschaft gekommenen gar nicht zu sprechen (genaue quantitative Studien zu den Verwundeten und Gefangenen stehen noch aus); Darunter befanden sich viele Männer aus dem Bezirk Lienz und dem Südtiroler Pustertal, die im August 1914 in rund zweiwöchiger Fahrt in Viehwaggons nach Galizien verfrachtet worden waren. Aufgrund dieser Tatsachen hatte sich das TAP entschlossen, sich dem Ersten Weltkrieg bereits 2014 zu widmen. Es zeigte vom 18. Juli bis zum 28. September desselben Jahres die einzige Ausstellung im Tiroler Raum (und darüber hinaus), die EU-Projekt-immanent derart grenzübergreifend einzig auf die historische Quelle der Fotografie8 setzte, also keinerlei materielle Hinterlassenschaften oder schriftliche Dokumente als Anschauungsobjekte darbot. Dadurch wurde die regionale Entwicklung von vor 100 Jahren, von der jede Familie betroffen gewesen war, durch das Lichtbild emotional fassbar und erfahrbar. Für die große Lichtbild-Schau wählte man den Titel „Grenzgang. Das Pustertal und der Krieg 1914–1918“, der nicht nur auf den Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Italien bzw. die spätere Grenzziehung verwies, sondern besonders auch auf den individuellen Grenzgang jeder/jedes Einzelnen in der damaligen weltpolitischen Entwicklung anspielte: zwischen Kaisertreue und Zweifel, zwischen anfänglicher Euphorie und Ernüchterung, zwischen Hoffnung und Not. Dazu: Wolfgang Etschmann, Die Südfront 1915 –1918; in: Klaus Eisterer, Rolf Steininger (Hgg.), Tirol und der Erste Weltkrieg ( = Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 12, Innsbruck 1995) 27–60, hier 29; Christoph von Hartungen, Die Tiroler und Vorarlberger Standschützen – Mythos und Realität; in: Ebd., 61–104, hier 64. 8 Zum Themenbereich Lichtbild und Österreich-Ungarn 1914–1918 siehe vor allem: Anton Holzer, Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg (Darmstadt 2 2007); auch: Ders., Fotografie in Österreich, Geschichte – Entwicklungen – Protagonisten 1890–1955 (Wien 2013) 47–58; Wolfgang Maderthaner, Michael Hochedlinger, Untergang einer Welt. Der große Krieg 1914 –1918 in Photographien und Texten (Wien 2013); Marcel Atze, Kyra Waldner (Hgg.), „Es ist Frühling, und ich lebe noch“. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs in Infinitiven. Von Aufzeichnen bis Zensieren (St. Pölten –Salzburg –Vienna 2014) 69 –102; zur Südwestfront in der Fotografie etwa: Paolo Seno, 1915 –16. L’album fotografico di Karl Pflanzl. Alpiner Referent sul Monte Nero. Das Fotoalbum von Karl Pflanzl. Alpiner Referent auf dem Krn (Venezia 2013); Arnold Stabinger, Der Luftkrieg in den Dolomiten 1915–1918. La Grande Guerra nei cieli delle Dolomiti (Toblach 2014); Giuseppe Teza, Danilo De Martin, Monte Piana & Monte Piano. Testimonianze fotografiche della Grande Guerra nelle Dolomiti 1915 –1917 dal Piano Hütte al Rifugio Maggiore Angelo Bosi. Fotografische Zeugnisse des Ersten Weltkrieges in den Dolomiten 1915 –1917 von der Piano Hütte bis zur Major Angelo Bosi Hütte (Cortina d’Ampezzo 2015). 7

Innenleben einer Ausstellung

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Natürlich, das sei vorausgeschickt, ist der Erste Weltkrieg der erste Krieg, der größtenteils anhand der (propagandistischen) Fotografien erinnert wird; allerdings muss auf Basis der zentralen Studien des Fotohistorikers Anton Holzer9 gesagt werden, dass der visuelle Blick auf den Ersten Weltkrieg in Österreich und Tirol eine Konstruktion darstellt, die in den vier Kriegsjahren bzw. noch eher in nationalkonservativen Kreisen in den 1920er /1930er Jahren entstand. Jede Generation erschafft demnach ihr eigenes, genuin interessengeleitetes Gedächtnis – wie besonders Oswald Überegger eindrucksvoll aufgezeigt hat10. Als Partner und Veranstaltungsorte konnten vier Gemeinden gewonnen werden: Sillian und Kartitsch in Osttirol sowie Sexten (Sesto; Sesto) und Bruneck (Brunico; Brunico) in Südtirol. Deren Auswahl fußte einerseits auf ihrer Bedeutung /Betroffenheit im Ersten Weltkrieg vor Ort und andererseits auf im TAP vorhandener Foto-Dokumentation zu eben diesen Gemeinden die Jahre 1913/14 bis 1918. Hinsichtlich einer attraktiven Art der Präsentation und zwecks der Erhöhung der kulturtouristischen Anziehungskraft der Schau wählte man folgende Umsetzung: – Aufstellung von Tafeln und Planen im öffentlichen Raum, sprich, im Freien: Damit war man ungebunden, was Innenräume oder Betreuungspersonal betraf und hatte quasi 24 Stunden täglich sieben Tage die Woche „geöffnet“. – Präsentation an den am meisten frequentierten Plätzen in der jeweiligen Partnergemeinde, um die meisten Einheimischen wie Gäste zu erreichen. – Kein Eintrittspreis: Abseits der Nichtumsetzbarkeit eines solchen im Freien sollte diese Schwelle von vornherein ausgespart bleiben. Als Zielpublikum hatte man zum einen die einheimische Osttiroler wie Südtiroler Bevölkerung und zum anderen die Sommer-Touristen im Auge. Für letztere waren auch die Zusatzsprachen Italienisch und Englisch bei den Tafeltexten und Bildunterschriften gedacht. Die Präsentation inmitten der Gemein Neben Holzer, Die andere Front; und Ders., Fotografie in Österreich etwa: Ders., Krieg in Bildern. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg; in: Schallaburg Kulturbetriebsges.m.b.H. (Hg.), Jubel & Elend 254 –259; Ders., Rasende Reporter. Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus (Darmstadt 2014) 105 –115; Ders., Den Krieg sehen. Zur Bildgeschichtsschreibung des Ersten Weltkriegs; in: Ders. (Hg.), Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie (Marburg 2003) 57–70, hier 58, 60. 10 Oswald Überegger, Tabuisierung – Instrumentalisierung – verspätete Historisierung. Die Tiroler Historiographie und der Erste Weltkrieg; in: Geschichte und Region /Storia e Regione 11 (2002) 1, 127–145; Ders., Erinnerungskriege. Der Erste Weltkrieg, Österreich und die Tiroler Erinnerung in der Zwischenkriegszeit ( = Tirol im Ersten Weltkrieg. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft, Innsbruck 92011). 9

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den sollte aber auch Personen erreichen, die sonst den Gang in ein Museum, in eine Ausstellung im „geschlossenen Raum“ aus verschiedensten Gründen scheuen; außerdem ging es nicht nur um Interessierte im Alter von 30 + oder gar 40 +, sondern auch um Schülerinnen und Schüler, weshalb die Laufzeit absichtlich bis Ende September ausgedehnt wurde, um den Schulbeginn abzuwarten. Die inhaltliche Gliederung folgte diesen Grundgedanken hinsichtlich Zielpublikum auf den Fuß: Zwecks Erhöhung des grenzüberschreitenden kulturhistorisch-touristischen Austausches innerhalb des historisch gewachsenen, mit der Grenzziehung 1919 /20 geteilten „Raumes“ Pustertal erfolgte nämlich eine strikte thematische Aufsplittung11 auf die vier Standorte, gemäß ihrem Schicksal sowie ihrer fotografischen Dokumentation in den Beständen des TAP, und nicht eine chronologische Aufteilung oder eine auf einzelne Fotografen, wie Anton Trixl12, fixierte. Um es auf den Punkt zu bringen: Erst wenn alle vier Orte besucht worden waren, hatte man inhaltlich die ganze (!) Ausstellung gesehen. In Ermangelung von Gästebüchern oder zu befragendem Personal konnte aufgrund vielfacher Rücksprache mit den Partnergemeinden sowie besonders aufgrund von direktem persönlichen Feedbacks diese Strategie als Erfolg verbucht werden – und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Akzeptanz und des Interesses von Einheimischen wie Gästen an der Ausstellung als auch in puncto des Besuches der verschiedenen „Grenzgang“-Teile! Abseits bereits existierender TAP-Sonderbestände zu Tirol im Ersten Weltkrieg konnte durch intensives Recherchieren im lokalen Mikrokosmos und in Kombination mit Aufrufen in diversen Medien eine erstaunliche Dichte (auch neuer) bildhafter lokaler / regionaler Dokumentation zusammengetragen werden – einerseits die „Dolomitenfront“ (Karnischer Kamm bis Col di Lana), andererseits auch die „Heimatfront“, also das Hinterland, betreffend. Neben den gängigen, inszenierten Propagandafotos ist das Außergewöhnliche die Entdeckung schnappschussartiger Alltagsfotografien bzw. dokumentarischer Lichtbilder. Im Folgenden werden die vier Standorte kurz hinsichtlich ihres eigentlichen Themas, der Materialwahl und der Dimensionen der Darstellung und Vermittlung vorgestellt: Der Ausstellungsteil in Sillian stand ganz im Zeichen der Mobilisierungen von 1914 und 1915 sowie des Einsatzes der vier regionalen Standschützen Dieses Vorgehen hatte sich bereits im Jahr zuvor 2013 bei der großen Sommer-Ausstellung „Volldampf“ in Lienz, Toblach und Bruneck bewährt. 12 Zu Trixl siehe: Martin Kofler, Markus Wurzer, Sepp Innerkofler und die Fotografien seiner Bergung 1918 von Anton Trixl; in: Tiroler Heimat 78 (2014) 135 –157. 11

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Bataillone Lienz, Sillian, Welsberg und Enneberg. Neben vier Mega-Planen mit je einem Gruppenfoto ebendieser Einheiten (je 2,5 x 7,5 Meter) sowie neun Planen mit ortsbezogenen Panoramaaufnahmen von 1913  /14 (je 1,7 x 3,3 Meter) boten wetterfeste Alu-Dibond-Tafeln einen Überblick über Zusammensetzung und Schicksal der Standschützen bis zum Kriegsende. Das „Herzstück“ stellten vier schwarze hochformatige Plexiglas-Tafeln mit den genauen Namen und Daten der Gefallenen der vier Bataillone dar. In Kartitsch war die Ausstellung dem Thema „Bergfront“ gewidmet. Die erstmalig auf derartigen Höhen ausgefochtenen Kämpfe, die alsbald im Stellungs- und Minenkrieg erstarrten, konnte man dabei via Schützengräben  / Hochgebirgs-Alltagsfotos ebenso ausschnittartig fassen wie die bildhafte Umwandlung des Tiroler Gailtales von einem verschlafenen Gebirgstal in ein wahres Garnisonsareal. Eine „Gesichterfront“ im Ausmaß von rund 30 Metern Länge, die einzig zwei Tiroler Landsturmmänner und zwei Bosniaken zeigte, nahm die Besucherschar in den Bann. Während die rückseitige Phalanx großformatiger Tafeln den Karnischen Kamm und das im Tal liegende Kartitsch porträtierte, ermöglichten Stoffbahnen von knapp 50 Metern Länge nahe der Kirche und des Friedhofs Streiflichter auf Unterstände, Schneetunnel und Stellungsgräben über den Monte Piano hinweg bis ins Gadertal. Was lag näher, als das im Krieg schwer getroffene Sexten (Sesto; Sesto) per se zu einem eigenen Ausstellungsteil zu machen? Der schlicht „Ortsschicksal“ betitelte Abschnitt präsentierte auf Tafeln, die direkt beim „Haus Sexten“, also dem Tourismusbüro, angebracht wurden, zunächst kurz den touristischen Aufschwung und die Blütezeit der Gemeinde bis 1914. Der eigentliche Schwerpunkt lag sodann eindeutig auf den schweren Zerstörungen durch die italienische Artillerie, der Umwandlung des Gebiets in ein Heereslager (mit dem Schwerpunkt Lanzinger Säge) sowie dem beginnenden Wiederaufbau ab dem Frühjahr 1918 und dessen Abschluss in den frühen 1920er Jahren – als das Gebiet längst italienisches Staatsgebiet geworden war. Weil weit über den Regionalraum bekannt und im TAP per Lichtbild perfekt dokumentiert, wurde hier als einziger Einzelperson in der gesamten „Grenzgang“-Schau dem Bergführer und Fremdenverkehrspionier, dem 1915 gefallenen und 1918 exhumierten Standschützen Sepp Innerkofler eine eigene Tafel gewidmet. „Leid & Tod“ waren ständige Begleiter – nicht nur der Soldaten an der Dolomitenfront, sondern auch der Zivilbevölkerung. Aufgrund der Drastik und Tragödien im Laufe der Jahre und der dazu vorhandenen fotografischen Dokumentation hierzu konnte dieses essentielle Thema in Bruneck (Brunico; Brunico) präsentiert werden. Vom Soldatenfriedhof Hochgränten am Karnischen Kamm über Verwundete im „Hotel Weitlanbrunn“ und einzelne Begräbnisse bis hin zum von Denkmälern repräsentierten und schlussendlich

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bestimmten Gedächtnis der Zwischenkriegszeit reichten die 20 zwei mal zwei Meter großen Alu - Dibond -Tafeln der fünf Würfelelemente. Standpunkt war die Wiese linkerhand des Aufgangs zum viel besuchten „Messner Mountain Museum“ auf Schloss Bruneck.

4. Outro: Kein Ende des Gedenkens – was bleibt… und was kommt Eine berechtigte Frage zu jeder Ausstellung ist jene nach der oft beschworenen Nachhaltigkeit. In Bezug auf „Grenzgang. Das Pustertal und der Krieg 1914 –1918“ ist die Dauerhaftigkeit dreigestaltiger Natur: – Der Mitte November 2014 im Haymon Verlag erschienene Sammelband bietet via fundierten Beiträgen und über 250 großteils erstmals veröffentlichten Fotografien die Möglichkeit der Rückschau auf die Sommerausstellung bzw. ist gleichzeitig ein bestehenbleibender Bildband über den Bezirk Lienz und das Südtiroler Pustertal im Ersten Weltkrieg. Besonders hervorgehoben seien bewusst eingestreute, mehrseitige Fotostrecken zu Einzelthemen, die teilweise überhaupt erst durch die Ausstellung ins TAP gekommene, gänzlich neue Sammlungsauszüge enthalten. Manche Aufsätze sind überregional, andere lokal-spezifisch angelegt, wieder andere entstammen den Disziplinen der zeithistorischen Archäologie und Kunstgeschichte oder widmen sich der Erinnerungskultur13. – Mittels eines EU-Kleinprojekts14 konnte die Übergabe der gesamten Ausstellungsmaterialien (ca. 200 abgedruckte Fotos auf über 600 m2 Fläche) an die vier Partnergemeinden bewerkstelligt werden. Dadurch war es möglich, die Alu - Dibond -Tafeln und Mesh-Planen etwa in Kartitsch für ein nächstes, kommunales Ausstellungsvorhaben zum Ersten Weltkrieg „Pro Patria!?“15 2015 weiter zu nutzen – oder sie wurden wie im Falle Sextens gar nicht erst abgebaut und für die Wintertouristen 2014/15 hängengelassen. Die darüberhinausgehende Nutzung steht da und dort derzeit im Raum. – Die aufgrund der Ausstellung „Grenzgang“ erstmals erschlossenen bzw. „gehobenen“, digitalisierten und vertraglich nutzungsmäßig abgesichert verwendbaren Fotosammlungen können anderen Ausstellungsmacherinnen

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Kofler (Hg.), Grenzgang. http://www.rmo.at/8-projekte/10-ausstellung-grenzgang, [30. November 2015]. 15 http://www.kartitsch.at/programm_1_wk_1915/hfrprogramm_1-wk_15.htm, [30. November 2015]. Eine Publikation zur Ausstellung liegt leider nicht vor. 14

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und Ausstellungsmachern16, Genealogie-Forscherinnen und GenealogieForschern sowie Historikerinnen und Historikern dienen. Die kommenden Jahre werden nach wie vor da und dort von den Gedenkinitiativen an den Ersten Weltkrieg geprägt sein; hier ist kein (!) Ende in Sicht. 2016 gibt es u. a. eine Großausstellung des Bildarchivs Austria der Österreichischen Nationalbibliothek anlässlich des 100. Todestages von Kaiser Franz Joseph, welche auf den Einfluss der „visual history“ des Langzeit-Monarchen fokussiert17. 2017 jähren sich der Kriegseintritt der USA bzw. die Oktoberrevolution in Russland zum hundertsten Mal. – 1917 als ein weltweit bestimmendes Jahr für das gesamte 20. Jahrhundert; für das entlegene Pustertal brachte es die „Freiheit“ aufgrund der für die Mittelmächte siegreichen 12. Isonzoschlacht und dem damit zusammenhängenden Rückzug der Italiener von der Dolomitenfront. 2018 ginge es regional-fokussiert bereits um das Chaos zu Kriegsende und die ersten italienischen Schritte hin zur tirolerseits schlussendlich zur Kenntnis genommenen „Zerreißung“ der Landeseinheit. Man wird sehen, was da noch alles kommen wird…

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So geschehen zum Beispiel für die Ausstellung im Südtiroler Landesmuseum für Volkskunde in Dietenheim; buchmäßig dokumentiert unter: Brigitte Strauss, Miriam Bacher, Barbara Taferner (Red.), Höfe ohne Männer. Frauenalltag im Ersten Weltkrieg ( = Beiträge zur Volkskunde, Bruneck 22015). 17 Ausstellung „Der ewige Kaiser. Franz Joseph I. 1830  –1916“, Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, 11. März bis 27. November 2016.

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Abb. 1: TAP-Ausstellungs-Turm in Sillian (Fotograf: Martin Kofler – TAP)

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Abb. 2: Buch-Cover „Grenzgang“

Abb. 3: Propaganda-Aufnahme: K.u.k.-Stellung am Schwalbenkofel/Sextener Dolomiten, Blickrichtung Drei Zinnen, um 1916 (Fotograf: Unbekannt; Sammlung Karl Webhofer – TAP)

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Abb. 4: Alltagsdokumentation: Zwei junge Lienzer Standschützen an der Dolomitenfront im hinteren Gadertal, Aufnahme vom 13. Jänner 1916 (Fotograf: Franz Schneeberger; Sammlung Stadtgemeinde Lienz, Archiv Museum Schloss Bruck – TAP)

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Abb. 5 + 6: „Grenzgang“ beim Sillianer Gemeindeamt (Fotograf: Martin Kofler – TAP)

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Abb. 7 + 8: „Grenzgang“ im Zentrum von Kartitsch (Fotograf: Martin Kofler – TAP)

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Abb. 9 +10: „Grenzgang“ vor dem Tourismusbüro in Sexten (Fotograf: Martin Kofler – TAP)

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Abb. 11+12: „Grenzgang“ gleich neben dem Messner Mountain Museum auf Schloss Bruneck (Fotograf: Martin Kofler – TAP)

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Virtueller Weltenbrand – Das Computerspiel „Valiant Hearts“ und der Erste Weltkrieg 2014 wurde weltweit an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren erinnert. Durch die einhundertjährige Zeitspanne kam diesem Krieg eine gesonderte mediale und öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Zahlreiche Ausstellungen, Gedenkveranstaltungen, Konferenzen, Publikationen und andere Medienproduktionen buhlten um ihre jeweilige Zielgruppe. Dies fiel insbesondere in Ländern wie Deutschland oder Österreich auf, in denen der Erste Weltkrieg – im Gegensatz zu Australien, Belgien, Frankreich oder dem Vereinigten Königreich – als geradezu vergessener Konflikt kaum wahrgenommen und vom Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust als größere Zivilisationsbrüche überdeckt wurde. Aufgrund der hohen medialen Präsenz von Ende 2013 bis Mitte 2014 wurde gar von einem „Trommelfeuer der Erinnerung“ gesprochen1. Bei der Vielzahl klassischer Medienproduktionen zum Ersten Weltkrieg wie Büchern und Filmen sollten Computerspiele nicht vergessen werden. Seit dem Aufkommen von Spielekonsolen und der ersten Verbreitung von Homecomputern in den späten 1970er und 1980er Jahren hat sich die zur Verfügung stehende Technologie stark verändert. Jedes Smartphone stellt heute mehr Rechenleistung bereit als Rechenanlagen jener Zeit. Gleichsam wurden die lange Zeit als stumpfer Zeitvertreib adoleszenter Vereinsamter gescholtenen Computerspiele seit einigen Jahren auch in der deutschsprachigen Welt als wichtige zeitgenössische Medien und Kulturgüter anerkannt2. Nonlineare Erzählstrukturen ermöglichen neue Perspektiven, während wachsender audiovisueller Realismus zu hoher Immersion in das Spielgeschehen führt. Spiele wie die Serie „Assassin’s Creed“ (seit 2007) bemühen sich, den historischen Hintergrund vergleichsweise akkurat widerzugeben. Bei der im letzten Jahrzehnt aufgekommenen Analyse von Computerspielen ist es jedoch zentral, dass es sich wie bei Spielfilmen oder historischen Romanen um Unterhaltungsprodukte 1

Gerhard Hirschfeld in seinem Vortrag zur Präsentation des Buches „Der Erste Weltkrieg 1914 –1918“ am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam, 24. Oktober 2013. 2 Deutscher Bundestag (Hg.), Drucksache 16 /7081: Unterrichtung durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (Berlin 2007) 4.

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handelt. Sie dienen also nicht primär der historischen Bildung oder der Vermittlung sozio-kultureller Zusammenhänge. Vielmehr wollen die meisten Konsumentinnen und Konsumenten von spannenden Geschichten und Charakteren unterhalten werden. Unter solchen Gesichtspunkten ist historische Akkuratesse eher ein Nebenprodukt. Aufgrund der beeindruckenden audiovisuellen Darstellung und des häufig angeführten Anspruchs, auf wahren Begebenheiten zu beruhen, werden hingegen Filme und auch Spiele zunehmend als Quelle genutzt, um Wissen über historische Ereignisse auf unbewusste Weise zu akquirieren. Vermögen es zeitgenössische Computerspiele, den Ersten Weltkrieg adäquat darzustellen? In welchen Genres wird jener Krieg überhaupt visualisiert? Der vorliegende Artikel wendet sich dem 2014 publizierten „Valiant Hearts“ zu, einem von der Spielekritik insbesondere inhaltlich positiv bewerteten Spiel. So schreibt Heiko Klinge von der Zeitschrift „GameStar“: „Selten hat mich ein Spiel so betroffen gemacht. Mit (zumindest auf den ersten Blick) einfacher Comicgrafik lässt es mich den Schrecken des Krieges intensiver erleben als sämtliche Militär-Shooter der vergangenen Jahre.“3 Als Fazit sieht er es als „(…) eine interaktive und deshalb nachhaltig wirkende Geschichtsstunde über eines der schwärzesten Kapitel der Menschheitsgeschichte.“ In der FAZ wird dem Spiel von Lena Bopp attestiert, „(…) mit seinem historischen Hintergrund verantwortungsbewusst (…)“ umzugehen4. Was sind also die Stärken, aber auch die Limitationen jenes interaktiven Umgangs mit dem Ersten Weltkrieg?

1. Computerspiele und der Erste Weltkrieg Der Erste Weltkrieg als erster globaler Krieg bietet mannigfaltige Kriegsschauplätze und zahlreiche neue Technologien:5 Die Einführung des Panzers, Heiko Klinge, Bewegende Story, enttäuschendes Spiel, GameStar vom 24. 06. 2014, http://www.gamestar.de/spiele/valiant-hearts-the-great-war/test/valiant_hearts_the_great_ war,50149,3057238,fazit.html, [10. Juli 2014]. 4 Lena Bopp, Ohne einen einzigen Schuss, FAZ vom 18.06.2014, http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/verdun-computerspiel-valiant-hearts-ohne-einen-einzigen-schuss-12997403. html, [20. Juni 2014]. 5 Die Einschätzung, ob der Erste Weltkrieg der erste – oder gar überhaupt – ein globaler Krieg war, variiert mit der Definition desselben. Bernd Wegner etwa betrachtet erst den Zweiten Weltkrieg als „echten“ Weltkrieg, während Stig Förster schon im 18. Jahrhundert Weltkriege definiert. Doch während im letzteren Fall zwar global gekämpft wurde, jedoch nur von europäischen Mächten, vernachlässigt die Definition Wegners nicht nur die weltweiten Kampfschauplätze des Ersten Weltkrieges, sondern auch die Beteiligung zahlreicher unabhängiger Staaten außerhalb der europäischen Großmächte. Vgl. hierzu: Oliver Janz, 14 – Der große Krieg (Frankfurt/Main 2013) 133 –139; Daniel Marc Segesser, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive (Wiesbaden 2012) 8 –10. 3

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der erfolgreiche Einsatz von U-Booten, sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts schnell entwickelnde Luftstreitkräfte, oder auch die ersten Maschinenpistolen. Im Vergleich beispielsweise zum Zweiten Weltkrieg oder zu zeitgenössischen Konflikten wird der Erste Weltkrieg jedoch in deutlich weniger Computerspielen thematisiert6. Dies liegt nicht zuletzt an der eingeschränkten Wahrnehmung des „Großen Krieges“ auch auf Seiten der Spieleentwicklerinnen und Spieleentwickler, der auf eine durch die Populärkultur transportierte Version des Grabenkrieges an der Westfront reduziert wird: Nach dieser verkürzten Wahrnehmung wurden die Soldaten in ihren Unterständen von Artillerie beschossen und nach dem Angriffsbefehl schließlich von feindlichem Maschinengewehrfeuer im Niemandsland niedergemäht – game over. Betrachtet man den Ersten Weltkrieg ausschließlich aus einer solcherart vereinfachten Perspektive, so verwundert es nicht, dass primär zwei Genres diesen Krieg behandeln: Flugsimulationen und Strategiespiele. Bei Ersteren steht der audiovisuelle Realismus im Vordergrund, definiert durch den jeweiligen Stand der Technik, der von „Red Baron“ (1980) über „Flying Corps“ (1996) bis zu „Rise of Flight“ (2009) reicht. Innerhalb dieser drei Beispiele ist eine Fortentwicklung von einfachster monochromer Vektorgrafik über eine noch detailarme und aufgrund der wenigen verfügbaren Farben überaus bunte 3DGrafik zu sehen, bis hin zu den heute üblichen fotorealistischen Landschaften und den ihren historischen Vorbildern exakt nachgebildeten Cockpits. In „Rise of Flight“ müssen die Maschinengewehre aufgrund von fehlerhafter Munition immer wieder durchgeladen werden, virtuelles Öl aus den offenen Motoren landet auf der Pilotenbrille und schränkt die Sicht ein, und Physik- und Schadensmodelle erhöhen diesen audiovisuellen Realismus. Der Luftkrieg entspricht in den meisten jener Flugsimulationen jedoch der weitverbreiteten Wahrnehmung als heroischer, ritterlicher Zweikampf zwischen „Fliegerassen“ – und weniger der Realität, in der Aufklärungsflüge, Erdkampfunterstützung und zunehmend Bombardierungen den weitaus unglamouröseren Alltag bestimmten7. In Strategiespielen wie „History Line 1914  –1918“ (1992) werden hingegen Einheiten gegeneinander in Stellung gebracht, durchaus ähnlich dem klassischen Schachspiel. Töten und Sterben wirken damit sehr abstrakt: Das Spielfeld besteht in der Regel aus einer Karte aus der Vogelperspektive, auf der Einheitensymbole bewegt werden. Entweder wird auf eine Kampfdarstellung ganz verzichtet, oder sie visualisiert eher die Spielstatistik der zur Verfügung Steffen Bender, Virtuelles Erinnern – Kriege des 20. Jahrhunderts in Computerspielen (Bielefeld 2012) 109. 7 Markus Pöhlmann, harald Potempa, Thomas Vogel (Hgg.), Der Erste Weltkrieg 1914 –1918 (München 2014) 89. 6

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stehenden Kräfte, indem vernichtete Einheiten verschwinden. Nur wenige Ausnahmen wie „To End All Wars“ (2014) bieten überhaupt Szenarien an anderen Kriegsschauplätzen als der omnipräsenten Westfront an. Doch der Erste Weltkrieg war in der Tat ein globaler Krieg, mit Kämpfen in Ost- und Südosteuropa, in den Alpen, im Nahen und Mittleren Osten, in verschiedenen Regionen Afrikas, auf den Weltmeeren und in weiteren Gebieten bis hin zu Tsingtau in China. Ein prominentes Computerspiel-Genre sind generell die sogenannten Egooder First-Person-Shooter, in denen Spielende die Perspektive des Avatars einnehmen, wodurch hohe Immersion erzeugt wird. Es finden sich jedoch nur wenige Vertreter dieses Genres, die den Ersten Weltkrieg behandeln, und diese kämpfen gegen die besagte limitierte Wahrnehmung der Spieleentwicklerinnen und Spielentwickler: Entsprechen massierte Sturmangriffe, die im feindlichen MG- und Artilleriefeuer zusammenbrechen, der einzigen Sichtweise auf den Ersten Weltkrieg, so ergeben sich daraus keine attraktiven Spielkonzepte. Demzufolge kranken Spiele wie das zum Zeitpunkt dieser Publikation weiterhin in Entwicklung befindliche „The Trench 1916“ an der mangelnden Storyentwicklung: Während im Laufe des bisherigen Entwicklungszeitraumes auf der offiziellen Website nach historischen Vorbildern nachgebildete Waffen und Uniformen gezeigt wurden, ist unter der Rubrik „Story“ seit Jahren nur „coming soon“ zu lesen8. Die Alternative des Multiplayer-Ansatzes wie im Shooter „Verdun 1914 –1918“ (2014) hat dafür, trotz akribisch nachgebildeter Uniformen und Waffen, nur recht wenig mit historischen Handlungen gemein; vielmehr handelt es sich um eine genretypische Reduktion auf den Kampf – die Geschichte selbst spielt ebenso wenig eine Rolle wie eine völlig ausgesparte Handlung. Jener Shooter lässt die Spielerin und den Spieler entweder völlig autark an der Front agieren, wobei übliche Befehlsstrukturen und Infanterietaktiken ausgespart werden, oder als Teil eines Vier-Mann-Teams: Solche – heute bei Spezialkräften üblichen – Squads aus unterschiedlich spezialisierten Soldaten waren im Ersten Weltkrieg hingegen unbekannt9. Wie im alten Kinderspiel „Räuber und Gendarm“ sind die beiden Kriegsparteien austauschbar. Der Erste Weltkrieg wird somit zu einer exotischen Kulisse im Vergleich zu den beiden primären Szenarien dieses Genres, dem Zweiten Weltkrieg und dem zeitgenössischen bzw. futuristischen Krieg. 8 Website des Spieles „The Trench 1916“, http://www.thetrench1916.com/index.php?option = com_content& view = article&id =4&Itemid = 9, [20. September 2015]. 9 Die im Verlauf des Stellungskrieges von den deutschen Streitkräften eingeführten Stoßtrupps hatten in der Regel Zugstärke (also 12 und mehr Soldaten); vgl. Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, irina Renz (Hgg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg (Paderborn – München –Wien –Zürich 2014) 869 – 870.

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2. Spezifisches Gamedesign in „Valiant Hearts“ „Valiant Hearts: The Great War“ wurde vom französischen Studio Ubisoft Montpellier entwickelt und am 25. Juni 2014 weltweit und mehrsprachig für verschiedene Plattformen (Windows, PlayStation, Xbox, Android, iOS) publiziert. Der Titel bezieht sich dabei auf das Lied „O Valiant Hearts“ (1919), das die Gefallenen des Krieges ehren sollte10. „Es war von Beginn an eine Herzensangelegenheit“, so der Game Designer Simon Chocquet-Bottani, sich aus persönlichen Gründen diesem an sich sperrigen Thema zu nähern: Für die Familien der Entwickler war der Erste Weltkrieg ein prägendes Ereignis gewesen, dass an die späteren Generationen weitervermittelt wurde11. Als Genre wählte man keinen der üblichen Vertreter wie Strategie oder Flugsimulation (oder gar einen Shooter), sondern ein Puzzle-Adventure. Hierbei muss die Spielerin bzw. der Spieler im Verlauf einer Handlung zahlreiche Rätsel lösen, beispielsweise das Auffinden und Anwenden passender Gegenstände oder die korrekte Bedienung von Mechanismen wie Aufzügen oder Maschinen. Während bei den meisten Spielen über den Ersten Weltkrieg somit eine sorgsam entwickelte Story entweder durch Abwesenheit glänzt oder höchstens künstlich hinzugefügt erscheint, ist sie in „Valiant Hearts“ (2014) ein überaus zentrales Element: Der Deutsche Karl ist mit der Französin Marie verheiratet; zu Kriegsbeginn wird er aus Frankreich ausgewiesen und muss auf deutscher Seite kämpfen. Sein Schwiegervater Emile gerät hingegen alsbald in deutsche Kriegsgefangenschaft. Weitere Akteure sind die belgische Krankenschwester Anna, der US-amerikanische Freiwillige Freddie, dessen Verlobte im Krieg umgekommen war, und nicht zuletzt der alle Spielfiguren miteinander verbindende Hund Walt. Von Beginn an werden damit nachvollziehbare Charaktere in einer emotional berührenden Handlung präsentiert: Bei ihnen handelt es sich nicht um so mächtige wie mutige „Superhelden“, sondern um „Durchschnittsbürger“, in deren Leben der Krieg einbricht. Dementsprechend ist der Krieg für sie keine Bewährungsprobe, der sie nonchalant und mit einem coolen Spruch auf den Lippen begegnen, sondern bedeutet ein aus den Angeln gehobenes Leben aus Angst, Verlust und Tod. Die Spielerin bzw. der Spieler steuert im Verlauf von „Valiant Hearts“ all diese Charaktere, deren Wege sich immer wieder kreuzen. Damit werden nicht nur Figuren, sondern vor allem die Perspektiven auf den Krieg gewechselt, sei es die zwischen „Freund“ und „Feind“, zwischen Soldat 10 11

Interview mit Yoan Fanise (Director von „Valiant Hearts”), Paris, 17. Juni 2014. Interview mit Simon Chocquet-Bottani (Game /Level Designer von „Valiant Hearts”), Paris, 17. Juni 2014.

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und Zivilist, und zwischen den Geschlechtern. Trotz der Comic-Ästhetik ist der Hund unterdessen mehr als nur ein süßes Maskottchen, sondern ein eigenständiger Charakter, für den keine nationalen Zuordnungen gelten. In vielen Spielen, die in Kriegssituationen handeln, ist die kämpferische Handlung für den Protagonisten eine geradezu naturgegebene Selbstverständlichkeit. Kampf und Tod gehen leicht von der Hand, selbst wenn der Spieleheld mal nicht mit einem tonnenschweren Arsenal an Waffen und Munition oder gleich übernatürlichen Superkräften über das Schlachtfeld wandelt12. „Wir wollten keine Superheldengeschichte, sondern normale Leute zeigen, wie sie in einen Krieg hineingeworfen werden“, so die Entwickler:13 Vorgebliche „Heldengeschichten“ gäbe es in Filmen und Games mehr als genug. Doch wie sah die Realität aus? Die Spieleentwickler näherten sich über historische Quellen wie Briefe und Tagebucheinträge den Wahrnehmungen ihrer eigenen Vorfahren an: Dort ging es nicht um den freudig erwarteten Kampf, sondern um die brachliegende Ernte, die Sehnsucht nach den Angehörigen und die Furcht vor Verwundung und Tod14. Dementsprechend liegt der Schwerpunkt im Spiel nicht auf möglichst vielen Kills und der Anhäufung von Tapferkeitsmedaillen, sondern vielmehr auf dem reinen Überleben in einer aus den Fugen geratenen Welt, die ihren hauchdünnen Zivilisationsfirnis abgelegt hat15. Dementsprechend zeigen die Haupt- und Nebencharaktere im Spiel nicht nur kämpferische Entschlossenheit sondern auch menschlich nachvollziehbare Emotionen wie Sehnsucht, Furcht und Verzweiflung. Im Kontext eines Spiels über Krieg, in dem einige der Hauptcharaktere Soldaten sind, ist eine weitere Entscheidung der Gamedesigner bemerkenswert: Die Spielerin, der Spieler tötet keine Gegner direkt. Zwar wirft sie bzw. er beispielsweise Handgranaten in einen Bunker, doch die Gegner entdecken diese und laufen weg, anstatt von der Explosivladung verwundet oder getötet zu werden. Dies mag natürlich nur begrenzt realistisch erscheinen, aber die Entwickler wollten bewusst einen ihrer Meinung nach weit unsinnigeren Ansatz vermeiden:16 In actionorientierten First-Person-Shootern ist es nicht unüblich, dass die Spielfigur gleichzeitig ein Messer, eine Pistole, ein Gewehr, eine Maschinenpistole, ein Scharfschützengewehr und ein Maschinengewehr mit sich führt, einschließlich hunderter Schuss an Munition und Handgranaten. 13 Interview mit Yoan Fanise (Director von „Valiant Hearts”), Paris, 17. Juni 2014. 14 Ebd. 15 Insbesondere in Shootern wird bei virtuell getöteten Gegnern von Kills gesprochen, die der Erhöhung der eigenen Punktezahl dienen, wobei manche Tötungsarten (beispielsweise ein Schleichangriff mit einer Nahkampfwaffe oder ein Kopfschuss) eine höhere Punktebewertung zur Folge haben. 16 Anders als in vielen Filmen gibt es in der Regel kaum eine Möglichkeit, vor einer in einen Kampfgraben oder Raum geworfenen Handgranate wegzulaufen, da der Zeitrahmen bis zur Explosion sehr kurz ist. 12

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„Wir können nicht den Spieler töten lassen und dann behaupten: ‚Nun weißt Du, wie es sich anfühlt, jemanden zu töten.‘ Das geht einfach nicht.“17 Ein solches Ereignis lasse sich nicht in einem Spiel simulieren, wie realistisch das Setting oder die Darstellung auch sei. Spiele könnten und sollten zwar emotional berühren, doch Extremsituationen wie eine Tötungserfahrung seien nicht ansatzweise virtuell „erfahrbar“18. Gleichzeitig werden die Handlungen der Spielerin und des Spielers wie auch der Krieg im Allgemeinen keineswegs verharmlost; die furchtbaren Auswirkungen auf Körper und Seele werden immer wieder thematisiert und auf mannigfaltige Weise veranschaulicht. So werden zahllose Soldaten auf beiden Seiten von gegnerischem Feuer getötet, die Spielerin bzw. der Spieler versorgt immer wieder Verwundete (unterschiedslos ihrer Herkunft), und Ängste und Sehnsüchte spiegeln sich in der Gestaltung der Spielfiguren wie auch in den von ihnen geschriebenen und erhaltenen Briefen. Somit überrascht es nicht, dass auch die Wirkung der Artillerie beeindruckend visualisiert wird: Bei einem nahem Treffer wird der Bildschirminhalt geradezu erschüttert, Soldaten werden zerrissen oder verschüttet – auch dies ein Verweis darauf, dass der Großteil der Verluste durch Artillerieeinwirkung hervorgerufen wurde, im Gegensatz zur populären Wahrnehmung, die mehr auf Maschinengewehre, Gas und Bajonette fokussiert ist19. Ganze Einheiten wurden geradezu ausgelöscht; oft konnten die Toten nicht mehr identifiziert werden20. Die auch heute noch üblichen Erkennungsmarken wurden flächendeckend eingeführt, um die Identifikation und statistische Erfassung der Verluste zu ermöglichen. Jene und viele andere Tatsachen erfährt man durch Artefakte, Alltagsgegenstände, die im Verlauf des Spiels gefunden werden können. Diese erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Spielerinnen und Spieler die Szenarien öfter durchspielen, da sämtliche Artefakte kaum beim ersten Durchgang gefunden werden können. Mit dem Sammeln jener Gegenstände werden auch kurze Texte freigeschaltet, mittels derer die Spielerin und der Spieler Wissenswertes über den Kriegsalltag der Soldaten und Zivilisten lernt, z. B. die Einführung von Erkennungsmarken aufgrund besagter Artilleriewirkung, die Entwicklung von Stahlhelmen zur Reduktion von Kopfverletzungen oder auch die oft furchtbaren hygienischen Bedingungen. Interview mit Simon Chocquet-Bottani (Game/Level Designer von „Valiant Hearts”), Paris, 17. Juni 2014. 18 Ebd. 19 Hirschfeld, Krumeich, Renz (Hgg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg 349. 20 Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora – Geschichte des Ersten Weltkriegs (München 2014) 150  –151. 17

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Stirbt ein Hauptcharakter wird das Spiel kurz vor jener Situation neu gestartet, um unnötige Frustration auf Seiten der Spielerinnen und Spieler zu vermeiden. Manche Spiele – wie die faszinierende Überlebenssimulation „This War of Mine“ (2014)21 – kennen den Perma-Death, d. h. dass eine einmal virtuell gestorbene Spielfigur für den Rest des Spieles ausgeschieden ist und auch durch Laden eines vorherigen Speicherstandes nicht mehr zum Leben erweckt werden kann. Wegen der linearen Erzählstruktur von „Valiant Hearts“ hatte man sich hier für einen anderen Weg entschieden. Ebenso existiert keine fixe Anzahl virtueller Leben wie sie beispielsweise vom Genre der Geschicklichkeitsspiele bekannt sind. Im Verlauf der Geschichte sterben hingegen immer wieder Nebencharaktere. Der Tod begegnet den Spielerinnen und Spielern auf vielfältige Weise: Reihen an unbekannten Soldaten werden durch MG-Feuer oder Artilleriewirkung getötet oder verschüttet. Andere Soldaten werden in ihrem Tod geradezu cineastisch hervorgehoben, beispielsweise, um eine nähere kameradschaftliche Beziehung einer der Hauptcharaktere zum Getöteten zu verdeutlichen. Auf diese Weise wird der Tod aus der Anonymität des Massensterbens herausgelöst und individualisiert. Auch die detaillierte visuelle Gestaltung von „Valiant Hearts“ ist hervorzuheben: In vielen Spielfilmen über den Ersten Weltkrieg scheinen die Protagonisten ihre perfekt gebügelte Uniform direkt aus der Kleiderkammer erhalten zu haben, ganz abgesehen von den frisch gewaschenen und geföhnten Haaren; nur etwas Schmauch oder gar etwas Kunstblut finden sich in vielen Filmszenen dekorativ auf Stirn und Wangen der Helden verteilt22. In „Valiant Hearts“ hingegen werden nicht nur die Uniformen im Spielverlauf immer abgenutzter. Beispielsweise trägt ein sterbender Soldat eine gesprungene Brille, sein Helm ist zerbeult, die Uniform geflickt, zerrissen und voller Schlammspuren. Zudem führt jener Soldat nicht nur eine Signaltrompete bei sich, sondern auch zwei weitere Flöten. Er ist Musiker, und in der Informationsebene werden die Spielerin und der Spieler mit einem weiteren, selten wahrgenommenen Aspekt des Krieges konfrontiert: Krieg bedeutet eben nicht permanente 21

Das ambitionierte Spiel „This War of Mine“ (2015) handelt vom Überlebenskampf einer Gruppe von Zivilisten in einem generischen zeitgenössischen Krieg. Will die Spielerin, der Spieler überleben, muss er sich auf die eine oder andere Weise schuldig machen, beispielsweise durch den Diebstahl von Nahrung von anderen Bedürftigen. Ein Happy End gibt es nicht, vielmehr bestimmen Hunger, Krankheit und andere physische und psychische Belastungen den Spielverlauf. 22 Als Beispiele seien hier die Spielfilme „Merry Christmas“ (Frankreich, Deutschland, Vereinigtes Königreich, Belgien, Rumänien, Norwegen 2005), „Der Rote Baron“ (Deutschland 2008) und „The Lost Battalion“ (USA, Luxemburg 2001) genannt.

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Action, wie er sich in den meisten Kriegsfilmen und auch -spielen darstellt. Vielmehr finden sich lange Zeiträume von Leerlauf, in denen jedoch kaum echte Erholung möglich ist, da die Situation jederzeit wieder kippen kann. Die Soldaten mussten diese Langeweile bekämpfen, jeder mit seiner Methode, sei es mit Karten- oder anderen Spielen, mit Rauchen, Lesen, Schnitzen, Geschichtenerzählen, Musik oder anderen Aktivitäten23. Auch in der generellen Anmutung weicht „Valiant Hearts“ von der heute üblichen, fotorealistischen 3D-Ästhetik ab. In der sich an verschiedene Comicstile anlehnenden visuellen Gestaltung fällt zuvorderst auf, dass die Augen der Erwachsenen nicht zu sehen sind: Haare, Kopfbedeckungen oder Brillengläser verdecken sie. Diese sind nur bei Kindern und Tieren zu sehen. Auch dies ist eine bewusste Entscheidung der Spieledesigner, die weniger auf eine bestimmte Manga-Ästhetik, sondern auf kindliche (und tierische) Unschuld verweisen soll: „Im Krieg macht sich jeder Erwachsene schuldig, wie er sich auch immer verhält – so auch in ‚Valiant Hearts‘.“24 Die Farbgebung ist ebenfalls eine überaus spezielle: Der Kriegsausbruch im Sommer 1914 wird mit frischen, geradezu bunten Farben realisiert, die freundlich erscheinen und höchstens leicht ausgeblichen sind. Doch im Verlauf des Krieges werden die Farben immer monochromer und ausgewaschener, die Farbpalette immer eingeschränkter auf Braun- und Grautöne. 1917 hingegen werden die Farben erneut kräftiger; dann herrschen allerdings grauschwarze Metalltöne und grelles Feuer vor, bis hin zur Kulmination der Geschichte, einer geradezu expressionistischen Kakophonie an Farben und Strukturen, die irreal erscheint und doch nur monströse Wirklichkeiten aus Tod, Vernichtung und zutiefst menschlichen Abgründen abbildet.

3. Wahrnehmungen und Realitäten Das Spiel orientiert sich am Kriegsverlauf an der Westfront und damit auch an tatsächlich stattgefundenen Schlachten zwischen 1914 und 1917. Die Spielerin bzw. der Spieler findet sich somit an der Marne, in Verdun und Ypern, an der Somme oder bei Vimy wieder. Das Spielende wurde nicht auf das Kriegsende im Jahr 1918 gelegt, da sich daraus eindeutige Zuordnungen in „Gewinner“ und „Verlierer“ ergeben hätten25. 1917 hingegen scheint der Krieg endlos zu sein, 23

Bård Mæland, Paul Otto Brunstad, Enduring Military Boredom: From 1750 to Present (Basingstoke 2009) 27. 24 Interview mit Simon Chocquet-Bottani (Game /Level Designer von „Valiant Hearts”), Paris, 17. Juni 2014. 25 Interview mit Yoan Fanise (Director von „Valiant Hearts”), Paris, 17. Juni 2014.

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mit hohen Verlusten auf beiden Seiten. Auf einer weiteren Faktenebene – neben besagten Artefakten – wird jener historische Hintergrund in kurzen Artikeln beschrieben. Die Texte sind knapp gefasst, was die Chance vergrößert, dass sie von der Zielgruppe tatsächlich gelesen werden; in ihrer Kürze sind sie allerdings informativ – auch hier zahlt sich die frühzeitige Kooperation mit Historikerinnen und Historikern der Mission du Centenaire aus; vertiefte Informationen lassen sich zudem durch integrierte Links im Internet abrufen26. Nicht zuletzt werden durch „Valiant Hearts“ wenig bekannte sowie sensible Themen adressiert, die in der generellen populären Erinnerung bisher kaum Raum beanspruchten. Hierzu zählen beispielsweise das an der Westfront kämpfende russische Expeditionskorps, aber auch Rassismus im Umgang mit Soldaten anderer Hautfarbe. Schon zu Beginn von „Valiant Hearts“ werden die Spielenden mit einer solchen Situation konfrontiert; ihre Aufgabe ist es, die Rassisten zu vertreiben, um im Anschluss zu einem schwarzen Soldaten Kontakt zu knüpfen. Die Meutereien im Kontext der Nivelle-Offensive werden ebenso thematisiert wie die strenge Militärgerichtsbarkeit der französischen Streitkräfte. Jene Meuterer wollten durch das Niederlegen der Waffen nicht das Kriegsende erzwingen. Vielmehr waren die Soldaten auch nach den Entbehrungen der vergangenen Kriegsjahre durchaus bereit, weiterzukämpfen und ihre Heimat zu verteidigen. Sie wollten sich hingegen nicht in immer neuen, sinnlos erscheinenden Offensiven verheizen lassen, deren primäre Vorgehensweise aus massiven Sturmangriffen nach einem vorbereitenden Artilleriebombardement bestand27. Es hatte sich jedoch über die Kriegsjahre erwiesen, dass ein gut eingegrabener Gegner auch tagelanges Bombardement überstehen konnte, mit entsprechend hohen Verlusten für die angreifenden Truppen. Die NivelleOffensive ab dem 9. April 1917 sollte eine Entscheidung an der Westfront herbeiführen, aber sie reihte sich mit ihrer überkommenen Taktik doch nur in jene Angriffe ein, die für die Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges als sinnentleerte Menschenschlächterei von großer Bedeutung sein würden28. Nachdem General Petain am 15. Mai 1917 das Oberkommando über die französischen Truppen übernommen hatte, ging er auf viele Forderungen der Meuterer ein, nicht zuletzt, was die Versorgung der Soldaten und die Durchsetzung von Urlaubsansprüchen anging29. Er war davon überzeugt, dass weitere Die Mission du Centenaire de la Première Guerre Mondiale ist die 2012 von der französischen Regierung eingesetzte offizielle Historikerkommission zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. 27 Leonhard, Die Büchse der Pandora 636 – 638. 28 Hirschfeld, Krumeich, Renz (Hgg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg 744 f. 29 Leonhard, Die Büchse der Pandora 639. 26

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Offensiven nur mit besserer Technologie (wie etwa mit Panzern) und deutlich vergrößerter Truppenkontingente (beispielsweise durch die kürzlich davor in den Krieg eingetretenen USA) gelingen könnten. Gleichzeitig wurden 3.427 Beteiligte an den Aufständen verurteilt, 554 davon zum Tode, wovon 49 tatsächlich hingerichtet wurden30. Nach dem Krieg stellte sich der Umgang mit diesen renitenten Soldaten auch und gerade für eine Siegernation schwierig dar. Auch heute wird in der internationalen populären Wahrnehmung der Militärgerichtsbarkeit der Erste Weltkrieg mit dem Zweiten Weltkrieg vermischt. In Steven Spielbergs Filmadaption (2011) von Michael Morpurgos im Ersten Weltkrieg handelnden Jugendbuch „War Horse“ (1984) sind diese Überlagerungen besonders deutlich, beispielsweise wenn zwei deutsche Deserteure sofort standrechtlich erschossen werden; im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg und den Zehntausenden durch nationalsozialistische Standgerichte Ermordeten, wurden während des Ersten Weltkrieges auf deutscher Seite 48 Personen wegen Desertion hingerichtet – deutlich weniger als in den meisten anderen kriegführenden Nationen31. In „Valiant Hearts“ bietet sich der Spielerin und dem Spieler kein Ausweg gegen die Mechanismen eines kriegsbrutalisierten Staates; das Ende des Spiels ist somit auf vielfältige Weise emotional und regt zur Reflektion über Krieg und seine Folgen an: Der Franzose Emile wird vom eigenen Militär hingerichtet und hinterlässt das trauernde deutsch-französische Paar. Das klassische Happy End vieler Spiele wird trotz der geglückten Vereinigung des einst aufgrund des Krieges getrennten Paares gebrochen. Der alleinige Fokus auf die Kämpfe an der Westfront stellt ein weiteres Beispiel verkürzter Populärwahrnehmung des Ersten Weltkrieges dar, was nicht zuletzt für Frankreich, Belgien und Deutschland gilt. Für die britische Wahrnehmung sind es insbesondere die Kämpfe an der Somme und um Passchendaele, für die Kanadier jene bei Vimy, für die Franzosen die Schlachten an der Marne und in Verdun; für die Deutschen ist es ebenfalls die VerdunSchlacht, trotz noch größerer Verluste an der Somme32. Aber auch schon vor dem 6. April 1917, und damit vor dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg, war jener Konflikt ein globaler Krieg: Ausgefochten wurde er unter anderem an den Ost- und Balkanfronten, in den Karpaten, im Nahen und Mittleren Osten sowie in den Alpen, mit weiteren Kämpfen auf hoher See und in den damaligen 30

Hirschfeld, Krumeich, Renz (Hgg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg 710. In Großbritannien wurden mehr als 3.000 Soldaten zum Tode verurteilt. Mindestens 346 Hinrichtungen wurden vollstreckt; Frankreich exekutierte ca. 650 Soldaten, Italien ca. 750, Österreich-Ungarn 737, wobei in den letzten beiden Fällen eine deutliche Dunkelziffer existiert; vgl. dazu Hirschfeld, Krumeich, Renz (Hgg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg 716. 32 Martin Bayer, Nicht nur auf den Feldern Flanderns – Der Erste Weltkrieg als Thema der deutschen und internationalen Geschichtspolitik (Stuttgart 2014) 22. 31

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deutschen Kolonien in Afrika und Südostasien. Millionen von Arbeitern und Soldaten aus den Kolonien wurden mehr oder minder freiwillig verpflichtet, sich an den Anstrengungen der Mächte zu beteiligen, einschließlich der wirtschaftlichen Ausrichtung auf den Kriegsbedarf33. Auch „Valiant Hearts“ spielt ausschließlich an der Westfront, doch die Spieledesigner verweisen mehrfach auf die globale Bedeutung des Krieges. Dies spiegelt sich zum Beispiel in den Soldaten aus Nord- und Westafrika sowie aus Britisch-Indien wider, die immer wieder auftreten. Auf den Fakten- und Artefaktebenen finden sich ebenso Einträge zu den kolonialen Truppen und Arbeitern. Auch die Geschichtsschreibung hatte jene Kriegsbeteiligten lange stiefmütterlich behandelt, da sich kaum direkte schriftliche Quellen finden, sondern eher indirekte (z. B. Tagebucheinträge oder Briefe alliierter Soldaten über indigene Truppen), während die Erinnerungskulturen jener Menschen oft auf mündlicher Überlieferung basiert34. Ein weiterer Aspekt populärer Fehlwahrnehmung, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt, ist der im Ersten Weltkrieg massiv aufkommende Luftkrieg. Kaum eine Dekade nach dem ersten bemannten Motorflug waren die fragilen Flugzeuge zu Kriegsausbruch gerade in der Lage, ihre Piloten zu tragen. Wenige Jahre später waren die immer größer werdenden Flugzeuge mit Offensiv- und Defensivbewaffnung ausgerüstet und auf ihr jeweiliges Einsatzspektrum spezialisiert; die deutschen Piloten Oswald Boelcke und Max Immelmann entwickelten bis heute gültige Grundlagen und Taktiken für den Luftkampf. Die generelle Wahrnehmung basiert hingegen weiterhin auf der damaligen Propaganda: „Join the Royal Air Force and Share their Honour & Glory“35 heißt es da auf zeitgenössischen Rekrutierungspostern. Der „ritterliche“ Kampf „Mann gegen Mann“, „Fliegerass gegen Fliegerass“ wird beschworen. Die wohl bekannteste Figur jenes Kriegsaspektes – und die berühmteste „Marke“ des gesamten Krieges – dürfte Manfred Freiherr von Richthofen sein, der „rote Kampfflieger“. Viel bekannter ist er jedoch als „Roter Baron“ – ein Nachkriegskonstrukt, begründet in der fehlenden Übersetzungsmöglichkeit seines korrekten Titels „Freiherr“ im Englischen36. Jener „Rote Baron“ taucht jedoch in „Valiant Hearts“ nicht auf, im Gegensatz zu zahllosen anderen Computerspielen (s. o.). Vielmehr bildet „Valiant Hearts“ einen weitaus realistischeren Einsatz der Fliegerei ab. Denn die Hauptaufgabe der fliegenden Verbände war lange Zeit 33

Bayer, Geschichtspolitik 17. Santanu Das (Hg.), Race, Empire and First World War Writing (Cambridge 2011) 127– 129. 35 IWM PST 5277, Imperial War Museum, London. 36 Hirschfeld, Krumeich, Renz (Hgg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg 796. 34

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die Aufklärung und Artilleriebeobachtung. In einem Teil richtet die Spielerin bzw. der Spieler ein Geschütz auf Basis der Angaben eines britischen Fliegers aus. Ebenfalls wenig glamourös war ihr Einsatz zur Erdkampfunterstützung. Immer wieder finden sich in „Valiant Hearts“ solche Sequenzen, in denen niedrig fliegende Flugzeuge angreifen. Solche Einsätze waren für beide Parteien hochgradig gefährlich, entsprachen aber, zumal im Verlauf des Krieges, deutlich mehr der Einsatzrealität als jene weiterhin vorherrschende, von Heroisierungen geprägte Wahrnehmung37. Einer der Protagonisten von „Valiant Hearts“ ist der Hund Walt. Die Spielerin, der Spieler rettet ihn mehrfach, und umgekehrt lassen sich diverse Situationen nur mithilfe des Hundes meistern. Die große Anzahl eingesetzter und „verbrauchter“ Tiere reduziert sich nicht auf Pferde als klassische Zug- und Reittiere. Ochsen, Mulis und auch Kamele wurden als Arbeitstiere genutzt, Tauben zur Informationsübermittlung und gar – mithilfe kleiner, um den Körper geschnallter Kameras – zur Luftaufklärung, andere Vögel zur Gasdetektion. Hunde fanden als Wach-, Posten- und Spürhunde Verwendung, als Zug- und Tragtiere (etwa für Munition oder Verpflegung), zur Verlegung von Telegrafenleitungen oder als Meldehund zur Nachrichtenübermittlung, sowie als Maskottchen für die Soldaten38. Selbst mit einer Gasmaske wird der Hund im Spiel ausgestattet – und auch dies hat eine historische Basis, so unglaubwürdig dies manchen Spielerinnen und Spielern erscheinen mag: In der Tat wurden für Pferde, Esel, Kamele und Hunde adaptierte Gasmasken konstruiert. Eigene Hundelazarette kümmerten sich um die Versorgung verletzter Vierbeiner, die als zu verschwendende Ressource viel zu kostbar waren. Auch wenn „Valiant Hearts“ nur an der Westfront handelt, so gelingt es dem Spiel doch, von den üblichen Vereinfachungen Abstand zu nehmen: Der Krieg findet eben nicht nur in Schützengräben statt sondern beispielsweise auch unter der Erde und auch die Etappe oder betroffene Städte tauchen im Spielverlauf auf. Der Minenkrieg stellt ein selten behandeltes Kapitel der Kriegführung dar39. Nicht nur in den Alpen – betroffen von harschesten logistischen und klimatischen Bedingungen –, sondern auch in dafür geeigneten Abschnitten der Westfront wurde ein Teil der Kriegführung unter Tage verlegt. Mehrere Level von „Valiant Hearts“ sind unter der Erde verortet; die schweren Arbeitsund Überlebensbedingungen werden ebenfalls thematisiert wie der gegnerische Herfried Münkler, Der Große Krieg – Die Welt 1914 –1918 (Berlin 2013) 536 –537. Rainer Pöppinghege, Tiere im Ersten Weltkrieg – Eine Kulturgeschichte (Berlin 2014) 75 –77. 39 Eines der wenigen Filmbeispiele ist der australische „Beneath Hill 60“ (2010). 37 38

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Versuch, durch Kontraminen zu verhindern, dass große Sprengladungen zur Explosion gebracht werden können. Die Etappe zeigt sich beispielsweise in einem Lazarett, das in einer einstigen Schule eingerichtet wurde: Betten für die zahlreichen Verwundeten wurden aufgestellt, Schulunterricht findet auf absehbare Zeit nicht mehr statt – solche Folgen für eine Gesellschaft im Krieg werden zu selten in der Populärkultur thematisiert. Das Alltagsleben der Soldaten wird über die Gestaltung des Spiels und nicht zuletzt in den zu erledigenden Aufgaben thematisiert. Die persönliche Hygiene ist zu Kriegszeiten eine andauernde Herausforderung; Läuse und Ratten waren und sind ständige Wegbegleiter des Menschen. Saubere Wäsche blieb oft nur eine Erinnerung an friedlichere Zeiten und die Heimat. Eine der Aufgaben für die Spielerin und den Spieler ist es, einem Soldaten ein Paar saubere Socken zu besorgen, eine andere besteht darin, an einer langen Schlange vorbei an Brot zu gelangen. Bei der Nahrungsmittelversorgung zeigen sich auch nationale Stereotypen: die Deutschen bevorzugen Bier und die von der Spielerin, vom Spieler zubereitete Wurst, bei den Franzosen ist Wein das allgegenwärtige Getränk40. 4. Kritik Bei all den historisch korrekten Darstellungen verwundern hingegen einige wenige Spielinhalte. Hierbei handelt es sich weniger um jene Action-Elemente, in denen die Spielerin bzw. der Spieler vor herabfliegenden, Schatten bildenden Granaten und Bomben ausweichen muss. Hier ist der Unterschied zur Realität eindeutig und wird auch von jugendlichen Spielerinnen und Spielern als reines genretypisches Spielelement verstanden41. Problematischer ist dagegen eine deutsche „Wunderwaffe“, die auf den gestohlenen Entwürfen eines belgischen Ingenieurs basiert: ein mächtiger, mit einem Flammenwerfer bestückter Panzer. Bedenkt man die ansonsten akribisch recherchierte Nähe zur Geschichte des Ersten Weltkrieges, überrascht die Existenz einer solchen Phantasiewaffe. Es bleibt offen, inwieweit mit solchen Spielanteilen die edukativen Anstrengungen relativiert werden: Die meisten Spielerinnen und Spieler werden kaum in der Lage sein, die verbürgten Inhalte von erdachten zu trennen. Wäre es somit nicht vielmehr einfacher – und konsequenter – gewesen, gleich auf solche Phantasieelemente zu verzichten? 40

Andere national konnotierte Stereotypen finden sich in „Valiant Hearts“ weniger: Die männlichen erwachsenen Figuren sind aufgrund des zugrundeliegenden Zeichenstils allesamt recht stämmig gebaut, während zwar der Deutsche Karl blond ist, seine Haarfarbe aber kein nationales Alleinstellungsmerkmal darstellt. 41 Interview mit Spielern von „Valiant Hearts“ (Düsseldorf, 14.11.2014; Köln, 15.11.2014).

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Weitaus problematischer ist die Darstellung des deutschen Ersteinsatzes tödlichen Giftgases am 22. April 1915: An jenem Tag wurde Chlorgas an der Front bei Ypern aus Gaszylindern abgelassen. Dies hatte technische Gründe42, beinhaltete aber auch den Versuch, die Haager Landkriegsordnung so auszulegen, dass der Giftgaseinsatz nach jener Ansicht nicht völkerrechtswidrig war43. In „Valiant Hearts“ wird daraus ein deutscher Angriff mit Gasbomben auf die weiterhin von Zivilisten bewohnte Stadt Ypern. Die Bombardierung einer zivilen Stadt mit einer chemischen Waffe war 1915 nicht nur technisch unmöglich; sie hätte eine weitaus größere Dimension eines Kriegsverbrechens dargestellt. Protagonisten des Luftkriegs wie Giulio Douhet schlugen in den 1920ern exakt dieses Vorgehen vor, um das im Ersten Weltkrieg erlebte millionenfache Sterben an festgefahrenen Fronten zu vermeiden und schnell zu einer kriegsbeendenden Entscheidung zu gelangen44. Die Existenz eines „Bossgegners“ ist hingegen in einer genretypischen Spielmechanik verortet: In vielen levelbasierten Spielen finden sich besonders starke Gegner am Ende eines jeweiligen Spielabschnitts oder auch zum Ende als entscheidender Höhepunkt. Bei „Valiant Hearts“ handelt es sich um den fiktiven preußischen „Baron von Dorf“, der immer wieder die Wege der Spielfiguren kreuzt. Zumindest eine davon, der US-Amerikaner Freddie, hat seine persönliche Rache-Agenda: Beim Beschuss von Paris, durch von Dorf befehligt, wurde seine Verlobte getötet, worauf er sich als Freiwilliger zur Verfügung stellte – die Entgrenzung des Krieges wird somit ebenso angesprochen wie die (hier eher unreflektierte) Propaganda gegen die „barbarischen Hunnen“ oder auch die Präsenz von US-amerikanischen Freiwilligen noch vor offiziellem Kriegseintritt der USA. Jener Spielbösewicht – der Stereotyp eines preußisch-adligen Militaristen – orientiert sich in seiner visuellen Gestaltung mit der totenkopfbewehrten Pelzmütze des Leib-Husaren-Regiments Nr. 1 und dem während des Ersten Weltkrieges an nur fünf Personen verliehenen Großkreuz zum Eisernen Kreuz45 recht offensichtlich an der flamboyanten Erscheinung des Feldmarschalls August von Mackensen. Schließlich kommt es zum Kampf mit jenem Gegner. 42

Hirschfeld, Krumeich, Renz (Hgg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg 519. Art. 23a der Haager Landkriegsordnung von 1907 verbot „die Verwendung von Gift und vergifteten Waffen“ (vgl. Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, Schweizer Bundesrat, https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19070034/index. html, [5. August 2015]. Die deutsche Auslegung argumentierte, dass keine vergiftete Waffe (beispielsweise ein Pfeil oder eine Kugel mit appliziertem Gift) eingesetzt wurde und dass sich das Verbot nur auf das gezielte Vergiften von Wasser, Lebensmitteln und Böden beziehe. 44 Siehe Giulio Douhet, Il Dominio dell’Aria (Roma 1921). 45 Feldmarschall von Mackensen erhielt es allerdings erst am 9. Januar 1917 und somit nach „seinem“ Auftritt in „Valiant Hearts“. 43

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Doch die Spielerin bzw. der Spieler tötet jenen Bösewicht nicht, im Gegensatz zu vielen anderen Spielen oder Filmen, in denen die Ausübung persönlich motivierter Rache als erlösender Schlusspunkt gestaltet ist. Vielmehr wird der besagte Baron nach einem zum Verlust eines Backenzahns führenden Faustkampf in die Kriegsgefangenschaft überführt. Mehr noch, jener Spielaspekt ist nicht der Höhe- und Schlusspunkt des Spiels; letzterer ist weitaus emotionaler und weitreichender als eine Reduktion der Weltgeschichte auf einen individuellen Grimm.

5. Schlussfolgerungen Das Puzzle-Adventure „Valiant Hearts“ (2014) geht im Vergleich zu anderen Spielen über den Ersten Weltkrieg inhaltlich und auch visuell eigene Wege: Es präsentiert sich nicht als ac­tionorientiertes Kriegsspiel in einer hyperrealistischen 3D-Umgebung sondern als interaktive Graphic Novel über den Krieg. Dementsprechend zentral ist die emotional berührend umgesetzte Geschichte mit glaubhaften Charakteren aus verschiedenen Ländern, die von der Spielerin und vom Spieler abwechselnd gesteuert werden. Diese Perspektivenwechsel vermitteln einen erweiterten Blick auf das Kriegserleben in jenen Jahren, ebenso wie die Gestaltung oder Informationen über die von der Spielerin und vom Spieler einzusammelnden Objekte des Alltags. Man merkt „Valiant Hearts“ die intensive Zusammenarbeit mit Historikerinnen und Historikern an; auf diese Weise lässt sich nebenbei viel über jenen globalen Konflikt lernen, jenseits des üblichen Halbwissens und von manifestierten Mythen. In der Tat wollten die Spieledesigner „kein Kriegsspiel produzieren, sondern ein Spiel über Krieg“46, ein Vorhaben, das trotz Genrekonventionen, Actionelementen und notwendiger Vereinfachungen überaus gelungen ist. „Valiant Hearts“ ist dabei kein Vertreter nicht weniger sogenannter Serious Games, denen jeglicher Spielspaß durch den ernsthaften Hintergrund und den zwanghaftedukativen Ansatz abhanden kam, sondern zuvorderst ein unterhaltendes Spiel. Bei diesem verkam die historische Basis nicht zum schmückenden, exotischen Beiwerk, sondern wurde von den Entwicklern ernst genommen. Die frühzeitige Einbindung von Historikerinnen und Historikern zahlte sich aus, nicht zuletzt, um in der populären Wahrnehmung unbekanntere Aspekte oder auch erinnerungskulturell sensible Bereiche zu integrieren. Damit wird ein vollständigeres Bild des Ersten Weltkrieges erzählt, sei es durch das Gamedesign,

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die generelle Gestaltung und die unterschiedlichen Charaktere, aber auch mittels der Artefakt- und Faktenebenen. Natürlich bleibt Raum für Kritik: Manche Segmente verlassen auf eher unnötige Weise die sonst akribische Nähe zur Geschichte; während das Ausweichen von Geschossen und Bomben spieletypisch ist und deshalb akzeptiert werden kann, fällt den meisten Spielerinnen und Spielern in anderen Bereichen sicherlich das Trennen von Fakt und Fiktion ohne das entsprechende Hintergrundwissen schwerer – dies ist umso problematischer, da immer wieder (und zu Recht) auf die historische Realität verwiesen wird. Nichtsdestotrotz ist „Valiant Hearts“ ein Meilenstein in der Möglichkeit, durch ein unterhaltsames Spiel zahllose Fakten über ein eher sperriges Kapitel der Menschheitsgeschichte zu vermitteln und dabei eine berührende Geschichte zu erzählen. Während Spannung vergleichsweise einfach zu erzeugen ist, sind Empathie und Emotionen wie Trauer deutlich komplexer und seltener in Spielen anzutreffen. „Valiant Hearts“ lässt die Spielerinnen und Spieler die Schicksale als authentisch empfundene Charaktere erleben. Es zeigt den Schrecken und die Grausamkeit des Krieges, dargestellt in der auf den Punkt abstrahierenden Ästhetik einer Graphic Novel. Leid, Tod und Verwundung sind allgegenwärtig und atmosphärisch in Szene gesetzt, ohne diese zu ästhetisieren, wie es in vielen zeitgenössischen Medienproduktionen geschieht. So paradox dies erscheinen mag, ist in diesem Spiel über den Krieg dieser keinesfalls ein Spiel.

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Informationen zu den Autorinnen und Autoren Almasy, Karin, Mag. phil. MA, Universitätsassistentin, Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft, Universität Graz, Forschungsgebiete: slowenische & österreichische Geschichte, Kulturgeschichte der Slawen in der Habsburgermonarchie, Nationalisierungsprozesse und die Rolle von Sprache in Nationswerdungsprozessen, Translationsgeschichte. Bachinger, Bernhard, Mag. Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter, Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz, Forschungsgebiete: Geschichte des Ersten Weltkrieges in Südosteuropa, Neuere und Neueste Geschichte Mittel- und Südosteuropas. Brait, Andrea, MMag. Dr., Ass.-Prof. am Institut für Zeitgeschichte und am Institut für Fachdidaktik der Universität Innsbruck, forscht zu Museum Studies, österreichischer und deutscher Geschichte im 20. und 21. Jahrhundert und Geschichtsdidaktik. Kofler, Martin, Mag. Dr. phil., Master of Arts, Leiter des Tiroler Archivs für photographische Dokumentation und Kunst (TAP), Forschungsgebiete: Geschichte Tirols im 19. und 20. Jahrhundert, Österreich und der Kalte Krieg, Geschichte der Fotografie. Lein, Richard, Mag. Dr. phil., Univ. Ass. am Institut für Geschichte (Österreichische Geschichte) an der Karl-Franzens-Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Militärgeschichte, Geschichte Österreich-Ungarns und seiner Nachfolgestaaten, Wirtschaftsgeschichte. Moritz, Verena, Mag. Dr. phil., Historikerin / FWF-Projektleiterin im Österreichischen Staatsarchiv, Forschungsgebiete: Geschichte des Habsburgerreiches, Geschichte Österreichs (1. Republik), Geschichte Russlands /der Sowjetunion, Filmgeschichte, Intelligence Studies.

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Informationen zu den Autorinnen und Autoren

Pichler, Peter, Dr. phil, Historiker, www.peter-pichler-stahl.at. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte der europäischen Integration nach 1945, Zeitgeschichte Europas nach 1945, Theorie und Philosophie der Geschichte, Kulturgeschichte von Heavy Metal. Schmied-Kowarzik, Anatol, Mag. Dr. phil., Mitarbeiter am Institut für Neuzeitund Zeitgeschichtsforschung, Forschungsbereich Geschichte der Habsburgermonarchie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Habsburgermonarchie 1848 –1918; Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn 1867–1918, Mitarbeit an Editionen: Ministerratsprotokolle der Österreichischen Monarchie 1848 –1867; Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867–1918. Schulz, Oliver, Dr. phil., Historiker, Université Blaise Pascal, Clermont-Ferrand, Frankreich, Département d’allemand, Forschungsgebiete: Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Geschichte der internationalen Beziehungen, Geschichte Russlands und Südosteuropas (einschließlich ihrer Beziehungen zu West- und Mitteleuropa), Erster Weltkrieg, Nationalismus- und Antisemitismusforschung, Politische Ideengeschichte, derzeit Arbeit an einer Studie zum ökonomischen Antisemitismus in Europa im 19. Jahrhundert aus transnationaler Perspektive. Segesser, Daniel Marc, PD Dr., ist Studienleiter und Mitarbeiter der Geschäftsführung am Historischen Institut der Universität Bern. Seine Forschungsgebiete liegen im Bereich der globalen Geschichte des Ersten Weltkrieges, der juristischen Zeitgeschichte – speziell zu Diskussionen über die Ahndung von Kriegsverbrechen – sowie der Geschichte Südasiens und Australiens. Terzer, Christian, Mag. Dr., Archäologe, Ausstellungskurator, Museumsberater. Archäologische Forschungsgebiete: Frühmittelalterarchäologie: Keramik und Lavez im Alpenraum, Mittelalterarchäologie: Burgen im Zentralalpenraum, Neuzeitarchäologie: Der Erste Weltkrieg im alpinen Hochgebirge. Vidojković, Dario, Dr. phil., Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter / Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Regensburg, Forschungsgebiete: Geschichte Serbiens und des Balkans, Außenpolitik des deutschen Kaiserreiches, Erster und Zweiter Weltkrieg, der Kalte Krieg, Außenpolitik der USA, Geschichte des Films.

Informationen zu den Autorinnen und Autoren

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Vlasov, Nikolay, Dr., Dozent an der Fakultät für internationale Beziehungen, Sankt-Petersburger Staatliche Universität. Autor von mehr als 40 wissenschaftlichen Publikationen. Forschungsgebiete: Deutschland und Österreich-Ungarn am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, aktuelle Außen- und Sicherheitspolitik der BRD. Walleczek-Fritz, Julia, Mag. Dr. phil., Historikerin und Ausstellungskuratorin, wissenschaftliche Mitarbeiterin eines FWF-Forschungsprojektes zu den Kriegsgefangenen in Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg am Österreichischen Staatsarchiv (Leitung Dr. Verena Moritz), Obfrau des Vereins Forum: ÖsterreichUngarn im Ersten Weltkrieg. Ihre Forschungsgebiete umfassen den Ersten Weltkrieg, Kulturtourismus, historische Migrationsforschung, religiöse Minderheiten, Tiroler Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Wedrac, Stefan, Dr. phil., Historiker, Mitarbeiter am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Lehrbeauftragter am IES Vienna; Publikationen zur österreichisch-italienischen Geschichte, zum Ersten Weltkrieg, zu der Geschichte der Krankenkassen und zur Rechts- und Wissenschaftsgeschichte. Forschungsschwerpunkte: Italienische Geschichte, Geschichte der Habsburgermonarchie, Wissenschaftsgeschichte, Rechtsgeschichte und Geschichte der Krankenversicherung. Wurzer, Markus, Mag. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Geschichte (Zeitgeschichte) an der Karl-Franzens-Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Erster Weltkrieg (Gebirgskrieg, Standschützen, Konstruktion und Wirkweisen von Heldenbildern), Südtiroler im Abessinienkrieg (Erfahrungsgeschichte, Fotografiegeschichte).

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