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German Pages 860 [864] Year 1990
Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer
Gedächtnisschrift für KARLHEINZ MEYER
Herausgegeben von
Klaus Geppert und Diether Dehnicke
w DE
G 1990 Walter de Gruyter • Berlin • New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ClP-Titelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer / hrsg. von Klaus Geppert u. Diether Dehnicke. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1990 ISBN 3-11-012415-7 NE: Geppert, Klaus [Hrsg.]; Meyer, Karlheinz: Festschrift
© Copyright 1990 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, D-1000 Berlin 30. Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, D-1000 Berlin 61.
Vorwort Am 2. November 1988 verstarb in Berlin der Vorsitzende Richter am Kammergericht a. D. Karlheinz Meyer. Mit ihm hat die deutsche Strafrechtspflege eine eindrucksvolle Richterpersönlichkeit und die Strafrechtswissenschaft einen ihrer bedeutendsten Prozessualisten verloren. Seine großen Verdienste um die Strafrechtswissenschaft finden ihren Ausdruck vor allem in seinen Arbeiten als Kommentator und Autor bekannter Standardwerke, aber auch in einer Fülle wichtiger Veröffentlichungen in Zeitschriften, Festgaben und Sammelwerken. Dem ehrenden Gedenken an Karlheinz Meyer ist diese Schrift in Dankbarkeit gewidmet. Sie möge die Erinnerung an diesen kenntnisreichen, scharfsinnigen und belesenen Praktiker, dessen sicheres Judiz und große richterliche Erfahrung durch sein literarisches Werk fortwirken werden, lebendig halten. Die Herausgeber danken den Autoren — Kollegen aus Wissenschaft und Strafrechtspflege, die dem Verstorbenen beruflich oder persönlich besonders verbunden waren — für ihre Mitwirkung sehr herzlich. Dem Verlag Walter de Gruyter sei für seine verlegerische Betreuung ebenfalls herzlich gedankt. Berlin, im Februar 1990
Die
Herausgeber
Zum Gedenken an
KARLHEINZ MEYER FRIEDRICH
AMBS
VOLKER
KREY
CLEMENS AMELUNXEN
ALBERT LORZ
CLEMENS BASDORF
KLAUS LÜDERSSEN
WERNER
BEULKE
HEINZ-RUDOLF
JOACHIM
BOHNERT
HEINZ
WILFRIED HANS
BOTTKE
DAHS
DIETHER ULRICH
DEHNICKE EISENBERG
GERHARD
FEZER
WOLFGANG
FRISCH
MÜLLER
MÜLLER-DIETZ
WERNER
NÖLDEKE
HARRO
OTTO
RAINER
PAULUS
K A R L PETERS REINHARD PETER
RIEGEL
RIEB
KLAUS GEPPERT
KLAUS ROGALL
KARL HEINZ
HANNSKARL
WALTER
GOLLWITZER
JOACHIM PETER
HÄGER
HENTSCHEL
GERHARD INGRID HANS
GÖSSEL
HERDEGEN
HEYLAND
HILGER
SALGER
HANS-JÜRGEN ELLEN
SCHAAL
SCHLÜCHTER
GERHARD
STRATE
HANS-WOLFGANG HERBERT THEO
TREPPE
TRÖNDLE
VOGLER
HORST JANISZEWSKI
ULRICH
WEBER
GERHARD
JUNGFER
JÜRGEN
WOLTER
GÜNTHER
KAISER
Inhalt Dr. jur., Präsident des Kammergerichts a. D., Berlin: Karlheinz Meyer — Leben und Werk
DIETHER DEHNICKE,
1
I. Strafverfahren und Strafverfahrensrecht Leitender Oberstaatsanwalt, Konstanz: Das Legalitätsprinzip auf dem Prüfstand der Rechtswirklichkeit, insbesondere im Bereich der Umweltkriminalität
FRIEDRICH AMBS,
7
Richter am Bundesgerichtshof, Berlin: Strafverfahren gegen der deutschen Sprache nicht mächtige Beschuldigte
19
Dr. jur., o. Professor an der Universität Augsburg: Polizeiliche Ermittlungsarbeit und Legalitätsprinzip
37
Dr. jur., Professor und Rechtsanwalt, Bonn: Die Beschlagnahme von Verteidigungsmaterial und die Ausforschung der Verteidigung
61
Dr. jur., o. Professor an der Universität Hamburg: Zur Struktur des AusschließungsVerfahrens gemäß §§ 138äff StPO . .
81
Dr. jur., o. Professor an der Freien Universität Berlin und Richter am Kammergericht: Die „qualifizierte" Belehrung
93
CLEMENS BASDORF,
W I L F R I E D BOTTKE,
HANS DAHS,
G E R H A R D FEZER,
K L A U S GEPPERT,
H E I N Z GÖSSEL, Dr. jur., o. Professor an der Universität Erlangen—Nürnberg und Vorsitzender Richter am Landgericht München I: Gentechnische Untersuchungen als Gegenstand der Beweisführung im Strafverfahren 121
KARL
Dr. jur., Ministerialdirigent im Bayerischen Staatsministerium der Justiz, München: Das Fragerecht des Angeklagten 147
WALTER GOLLWITZER,
X
Inhalt
Richter am Bundesgerichtshof, Berlin: Zu den Folgen staatsanwaltschaftlicher in der Hauptverhandlung begangener Verfahrensfehler 171
JOACHIM HÄGER,
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe: Aufklärungspflicht — Beweisantragsrecht — Beweisantrag — Beweisermittlungsantrag
G E R H A R D HERDEGEN,
187
H I L G E R , Dr. jur., Ministerialdirigent im Bundesministerium der Justiz, Bonn: Über den „Richtervorbehalt" im Ermittlungsverfahren 209
HANS
Rechtsanwalt, Berlin: Sicherheitsleistung zur Verminderung der Verdunkelungsgefahr?
GERHARD JUNGFER,
227
Dr. jur., o. Professor an der Universität Trier und Richter am Oberlandesgericht Koblenz, Trier: Probleme des Zeugenschutzes im Strafverfahrensrecht 239
VOLKER K R E Y ,
Dr. jur., o. Professor an der Universität Frankfurt: Der gefesselte Angeklagte
K L A U S LÜDERSSEN,
269
Vorsitzender Richter am Kammergericht, Berlin: Zur Aufklärungspflicht bei Wahrunterstellung 285
HEINZ-RUDOLF MÜLLER,
Dr. jur., Richter am Kammergericht, Berlin: Zur Vereinfachung des Rechtsschutzes gegen die Verwerfungsurteile nach § 329 Abs. 1 und 412 StPO 295
WERNER NÖLDEKE,
Dr. jur., Privatdozent an der Universität Würzburg und Richter am Amtsgericht: Beweisverbote als Prozeßhandlungshindernisse 309
R A I N E R PAULUS,
Dr. jur. und Dr. phil. h. c., em. o. Professor an der Universität Tübingen, Münster: „Gericht" und „Richter" — Institution und Persönlichkeit
K A R L PETERS,
331
R I E G E L , Dr. jur., Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz, Bonn: Befugnisse zur Informationsverarbeitung für Zwecke der Strafverfolgung 345
REINHARD
Inhalt
XI
Dr. jur., Professor und Ministerialdirektor im Bundesministerium der Justiz, Bonn: Über Subsidiaritätsverhältnisse und Subsidiaritätsklauseln im Strafverfahren 367
PETER R I E B ,
Dr. jur., Professor an der Universität zu Köln: Der Augenscheinsgehilfe im Strafprozeß
KLAUS ROGALL,
391
Vizepräsident des Bundesgerichtshofes, Karlsruhe: Zur Bedeutung der Teilrechtskraft eines Freispruchs bei der Revision gegen eine Unterbringungsanordnung 413
HANNSKARL SALGER,
Richter am Kammergericht, Berlin: Hinreichender Tatverdacht oder richterliche Überzeugungsbildung für den Strafbefehlserlaß? 427
HANS-JÜRGEN SCHAAL,
Dr. jur., o. Professorin an der Universität Würzburg: Wider die Verwirkung von Verfahrensrügen im Strafprozeß 445
ELLEN SCHLÜCHTER,
Dr. jur., Rechtsanwalt, Hamburg: Die Tragweite des Verbots der Beweisantizipation im Wiederaufnahmeverfahren 469
G E R H A R D STRATE,
Dr. jur., o. Professor an der Universität Gießen: Auslieferung bei drohender Todesstrafe und Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) — Der Fall Soering vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 477
T H E O VOGLER,
Dr. jur., o. Professor an der Universität Regensburg: Menschenwürde und Freiheit im Strafprozeß
J Ü R G E N WOLTER,
493
II. Materielles Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht Dr. jur., o. Professor an der Freien Universität Berlin: Beteiligung an notwendiger Beteiligung am Beispiel der Mietpreisüberhöhung (§ 5 WiStG) 519
J O A C H I M BOHNERT,
Dr. jur., o. Professor an der Universität Mannheim: Gegenwartsprobleme des Vorsatzbegriffs und der Vorsatzfeststellung am Beispiel der AIDS-Diskussion 533
WOLFGANG F R I S C H ,
XII
Inhalt
Dr. jur., Vizepräsident des Bayerischen Obersten Landesgericht i. R., München: Das Strafrecht und die Tiere 567
ALBERT LORZ,
Dr. jur. Dr. h. c., o. Professor an der Universität Bayreuth: Der vorsatzausschließende Irrtum in der höchstrichterlichen Rechtsprechung
HARRO OTTO,
583
Dr. jur., Professor und Präsident des Landgerichtes Waldshut i. R., Waldshut: Verwaltungshandeln und Strafverfolgung — konkurrierende Instrumente des Umweltrechts? 607
H E R B E R T TRÖNDLE,
Dr. jur., o. Professor an der Universität Tübingen: Probleme der Strafvereitelung (§ 258 StGB) im Anschluß an Urheberstraftaten (§§ 106 ff UrhG) 633
ULRICH WEBER,
III. Strafrechtsgeschichte — Kriminalpolitik und Kriminologie — Strafvollzug — Straßenverkehrsrecht AMELUNXEN, Dr. jur., Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf: Der Prozeß des Herzogs von Enghien: Justizmord — Fehlurteil — Staatsnotwehr? 643
CLEMENS
Generalstaatsanwalt beim Landgericht Berlin a.D.: Geschichtliche Entwicklung der Staatsanwaltschaft in Berlin 661
H A N S - W O L F G A N G TREPPE,
*
Dr. jur., o. Professor an der Universität Passau: Brauchen wir eine Wende im Jugendstrafrecht?
W E R N E R BEULKE,
677
Dr. jur., o. Professor an der Freien Universität Berlin: Aspekte des Verhältnisses zwischen „Kriminalpädagogik" und Strafrechtspraxis 699
U L R I C H EISENBERG,
Dr. jur., o. Professor an der Universität Zürich und Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg im Breisgau: Übermittlung und Verwendung von Informationen aus Strafverfahrensakten und -dateien für Forschungszwecke 715
GÜNTHER KAISER,
Inhalt
XIII
Dr. jur., o. Professor an der Universität Saarbrücken: Kriminalprävention zwischen (Resozialisierungs-) Chance und (Kriminalitäts-) Risiko — am Beispiel des § 183 Abs. 3 StGB 735
HEINZ MÜLLER-DIETZ,
*
Richterin am Kammergericht, Berlin: Zulässigkeit der Benutzung von Sichtspionen im Strafvollzug
INGRID HEYLAND,
765
*
Richter am Amtsgericht, Köln: Die Teilnahme am inlädischen Kraftfahrzeugverkehr mit ausländischen Führerscheinen 789
PETER H E N T S C H E L ,
Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz, Bonn: Die obergerichtliche Rechtsprechung im Dienste der Verkehrssicherheit 821
HORST JANISZEWSKI,
IV. Bibliographie Verzeichnis der Schriften von Karlheinz Meyer (zusammengestellt von Klaus Geppert) . . . .
839
Karlheinz Meyer — Leben und Werk DIETHER DEHNICKE
Karlheinz Meyer wurde 1922 in Berlin als Sohn eines Bankkaufmanns und dessen jüdischer Ehefrau geboren. Er wollte eigentlich Maschinenbauer werden, durfte aber aus rassischen Gründen nicht studieren und absolvierte deshalb eine Banklehre. Da er auch in diesem Beruf keine Anstellung bekam, arbeitete er in einer Buchgemeinschaft. Erst das Kriegsende und der Zusammenbruch des NS-Regimes brachten für ihn — den bislang Verfemten — die Befreiung zu eigenverantwortlicher Entscheidung. Im März 1946 begann er das Studium der Rechtswissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität, das er im Juli 1949 mit der 1. Staatsprüfung abschloß. Nach der 2. Staatsprüfung im März 1952 trat er in den Berliner Justizdienst ein. Er arbeitete — seinem Wunsch entsprechend — überwiegend in Strafkammern des Landgerichts, wurde im Juni 1954 zum Landgerichtsrat, im August 1960 zum Kammergerichtsrat und im Februar 1966, also mit 43 Jahren, zum Senatspräsidenten am Kammergericht ernannt. Von Anfang an galt seine Neigung dem Strafrecht. Die Probleme um Schicksal und Willensfreiheit, die uralten Menschheitsfragen nach Schuld und Sühne fesselten, ja faszinierten den jungen Juristen. Gerade weil er transzendentalen Wertvorstellungen gänzlich abhold war und an das Walten einer göttlichen Gerechtigkeit nicht glauben mochte, war für ihn die Aufrechterhaltung der von den Menschen in ihrem Gesetz beschlossenen Ordnung ein zwingendes Gebot praktischer Vernunft. Es erscheint folgerichtig, wenn Karlbein^ Meyer von diesem Ausgangspunkt her (den er selbst als selbstverständlich bezeichnen würde) frühzeitig und mit wachsender Intensität sich der weiteren, für ihn ungleich wichtigeren Frage zuwandte, wie denn und auf welchem Wege und mit welchen Mitteln das Ergebnis — wie auch immer es aussehen mochte — zu erreichen wäre. Für den Rationalisten war der Weg zum Strafprozeßrecht von gewisser Zwangsläufigkeit. Schon frühzeitig ist Karlheinz Meyer mit Besprechungen obergerichtlicher Urteile hervorgetreten. Seine 157 Nummern umfassende Bibliographie weist allein deren 67 aus. Sie zeichnen sich durch Scharfsinn und wache Kritik, aber auch durch die Klarheit und Präzision seiner
2
Diether Dehnicke
Darstellung aus; überwiegend ging es dabei um Verfahrensfragen. Auch die Zahl seiner Rezensionen ist stattlich. Wer Karlheinz Meyer kannte, wird nicht überrascht sein festzustellen, daß sein kritisches Augenmerk zunächst den Arbeiten anderer galt, b e v o r er eigene Arbeiten, dann allerdings auch in rascher Folge, publizierte. 1973 erschien seine Kommentierung des Revisionsrechts (§§ 333 — 358 StPO) in der 22. Auflage des Kommentars von LöweRosenberg-, 1976 in der 23. Auflage, die Kommentierung der Vorschriften über Sachverständige und Augenschein (§§ 72 — 93 StPO), über Zeugen (§§48 — 71 StPO), über Durchsuchung und Beschlagnahme (§§94— l l l n StPO) sowie über die Vernehmung des Beschuldigten (§§ 133 — 136a StPO) und 1977 erneut die Kommentierung des Revisionsrechts sowie des Wiederaufnahmeverfahrens (§§ 333 —373a StPO). Im selben Jahr beteiligte er sich erstmals an der Kommentierung der Strafrechtlichen Nebengesetze in dem Sammelwerk von Erbs-Kohlhaas, eine Arbeit, der er sich besonders zugetan wußte. 1983 veröffentlichte er die völlige Neubearbeitung des Kommentars zur Strafprozeßordnung von Schwär^-Kleinknecht in der 36., 1984 in der 37. und 1987 in der 38. Auflage. Die 39. Auflage von 1989 war nahezu abgeschlossen, als ihm der Tod die Feder aus der Hand nahm. Aber auch anderes fand sein Interesse, wie die Monographie über Demonstrations- und Versammlungsrecht zeigt, 1984 in der 1. und 1986 in der 2. Auflage; ferner die Schrift über das Personenbeförderungsrecht (1986). Sein gewaltigstes Werk ist fraglos die völlige Neubearbeitung der Monographie von Alsberg-Nüse über den „Beweisantrag im Strafprozeß", die Karlheinz Meyer 1983 in der 5. Auflage herausbrachte. Die in- und ausländische Presse preist diese Arbeit als Jahrhundertwerk, lobt die bewundernswerte Akribie, die Überfülle von Informationen, eine nicht mehr zu steigernde Vollständigkeit und die bestechende Übersichtlichkeit, kurzum: d a s Standardwerk über das „Beweisproblem als Zentralproblem des Strafprozesses". Man ist versucht zu sagen, Karlheinz Meyer habe sich mit dieser Arbeit sein eigenes Denkmal gesetzt. Könnte er dies hören oder lesen, würde er sich bestimmt freuen; denn ein gefestigtes Selbstbewußtsein war ihm nicht fremd. Aber er war zu klug, um nicht zu wissen, daß die Arbeit des Juristen, j e d e s Juristen für nicht mehr gilt, als für den Tag und für seine Zeit. Vielleicht war diese Einsicht für Karlheinz Meyer Anlaß zu mancherlei spöttischer Distanz. Dabei mochte er seine Zeitgenossen, denen er sowohl offene Kritik als auch verhaltene Zuneigung entgegenbrachte. Die Zusammenarbeit mit ihm in der Gewissens- und Entscheidungsgemeinschaft der Spruchkörper, denen er angehörte, war für jeden, der dabei sein durfte, täglicher Gewinn. Er suchte die Nähe anderer und
Karlheinz Meyer — Leben und Werk
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fühlte sich in ihrem Kreise wohl. Er war ein geistreicher und amüsanter Gesellschafter, voller Geschichten und Anekdoten, dabei schlagfertig, mit raschem Witz begabt und zuweilen nicht ohne Ironie. Es sollte indes nicht unsere Sache sein, letzten Rätseln dieser nicht einfachen Persönlichkeit nachzuspüren, Chiffren deuten zu wollen, von denen wir nicht wissen, ob Karlheinz Meyer sie selbst für sich hat entziffern können oder ob er sie mitgenommen hat, in der einsamen Stunde seines Todes. Was uns bleibt, die wir ihm in Freundschaft und Respekt begegnet sind, ist dies: Erinnerung und ehrendes Gedenken. Deshalb ist ihm diese Schrift gewidmet.
Teil I Strafverfahren und Strafverfahrensrecht
Das Legalitätsprinzip auf dem Prüfstand der Rechtswirklichkeit, insbesondere im Bereich der Umweltkriminalität FRIEDRICH A M B S
I. Das Legalitätsprinzip als eine der Grundlagen rechtsstaatlicher Strafverfolgung wird in zunehmendem Maße in Frage gestellt. Gesetzgeber 1 , Rechtsprechung 2 und Rechtswissenschaft 3 beschäftigen sich damit, immer weitergehende Ausnahmen v o n diesem Strafverfolgungsprinzip zu schaffen bzw. außergesetzliche Umgehungsbemühungen der Strafverfolgungsorgane und anderer Stellen anzuprangern oder zu rechtfertigen. Baumann hat dem Legalitätsprinzip bereits 1972 einen Grabgesang gewidmet 4 . Das Geflecht v o n verfahrensrechtlichen und materiellrechtlichen Opportunitätsbestimmungen, sogenannter informeller Reaktionen der Strafverfolgungsbehörden, Prozeßabsprachen zwischen den Verfah-
1 2
3
4
z. B. die zeitlich und verfahrensgegenständlich begrenzte Kronzeugenregelung in Art. 4 des Ges. vom 9. 6. 1989 (BGBl. I, 1059). OLG Hamburg NJW 1988, 2630 betr. die Außerkraftsetzung des Legalitätsprinzips durch äußeren Druck — hier: Straftaten in der Hamburger Hafenstraße; BGH NJW 1988, 96. Faller, Verfassungsrechtliche Grenzen des Opportunitätsprinzips im Strafprozeß, in Festschrift für Maunz (1971) S. 69 ff; Hanack, Das Legalitätsprinzip und die Strafrechtsreform, in Festschrift für Gallas (1973) S. 339 ff; Peters, Sozialadäquanz und Legalitätsprinzip, in Festschrift für Welzel (1974) S. 415 ff; Gössel, Überlegungen zur Bedeutung des Legalitätsprinzips im rechtsstaatlichen Strafverfahren, in Festschrift für Dünnebier (1982) S. 121 ff; Rieß, Legalitätsprinzip — Interessenabwägung — Verhältnismäßigkeit, in Festschrift für Dünnebier (1982) S. 149 ff; Hobe, Geringe Schuld und öffentliches Interesse in den §§ 153 und 153 a StPO, in Festschrift für Leverenz (1983) S. 629 ff; Schaff stein, Überlegungen zur Diversion, in Festschrift für Jescheck (1985) S. 337 ff; Hein\», Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis der Bundesrepublik Deutschland, in Festschrift für Jescheck (1985) S. 955 ff; 10. Triberger Symposium des Ministeriums für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten Baden-Württemberg (1989) mit dem Thema: „Ist das Legalitätsprinzip noch zeitgemäß"; Schmidt]ort^ig, Möglichkeiten einer Aussetzung des strafverfolgerischen Legalitätsprinzips der Polizei, NJW 1989 S. 129 ff. Baumann, Grabgesang für das Legalitätsprinzip, ZRP 1972, 273.
8
Friedrich Ambs
rensbeteiligten und dem Gericht u. a. macht die Strafverfolgung zunehmend unkontrollierbarer. Die Geschichte des Legalitätsprinzips in Deutschland ist die Geschichte seiner zunehmenden Einschränkung bzw. seines Zerfalls 4 . Das reine oder ideale Legalitätsprinzip, das der Reichsgesetzgeber mit der Reichsstrafprozeßordnung 1877 in Deutschland einführte, forderte noch die vollständige und lückenlose Strafverfolgung 5 . Dies entsprach der damals vorherrschenden hegelianischen Auffassung von der Absolutheit des Staates. Nach dem heute geltenden instrumentellen Staatsbegriff ist das Legalitätsprinzip als bloße grundsätzliche Verfolgungspflicht zu verstehen, die gesetzlich normierte Ausnahmen zuläßt 6 . Außergesetzliche Ausnahmen von dieser Verfolgungspflicht der Strafverfolgungsbehörden, dem ein Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft entspricht, sind hingegen rechtswidrig. Sie untergraben das Vertrauen der Bürger in die Zuverlässigkeit der Strafverfolgungsorgane. Die Bürger haben auf eigene Gewaltanwendung zu ihrem Schutze als Reaktion auf Straftaten dritter Personen verzichtet und das Gewaltmonopol des Staates anerkannt 7 . Das Legalitätsprinzip ist sowohl im Rechtsstaatsprinzip als auch im Gleichheitssatz verfassungsrechtlich verankert 8 . Es ist daher mehr als nur ein Ordnungsprinzip. Es begründet für die Strafverfolgungsbehörden in erster Linie ein Willkürverbot. Die auf dem Rechtsstaatsprinzip beruhenden Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Interessenabwägung und der effektiven Strafrechtspflege können jedoch im Einzelfall zu dem verfassungsrechtlichen Gebot der Gleichbehandlung in ein Spannungsverhältnis treten und Rechtskonflikte schaffen. Da diese verfassungsrechtlich geschützten Prinzipien alle gleichrangig sind und das Grundgesetz keine Regelung enthält, welchem dieser Prinzipien im Kollisionsfall der Vorrang gebührt, kann der Gesetzgeber unter Beachtung des Rechtsgüterschutzes im Einzelfall Ausnahmen von der Verfolgungspflicht zulassen. Außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle (z. B. §§ 153 ff StPO) ist jedoch ein Verzicht auf die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches verfassungswidrig 8 . Zweckmäßigkeitserwägungen allein können das Legalitätsprinzip nicht außer Kraft setzen. Wesentlich anders würde sich zwar die objektive Rechtslage nicht darstellen, wenn anstelle des Legalitätsprinzips ein gebundenes Opportunitätsprinzip träte, da auch dieser Strafverfolgungsgrundsatz den sel5 6 7 8
Gossel in Festschrift für Dünnebier (1982) S. 121, 126. Gossel in Festschrift für Dünnebier (1982) S. 121, 130. Rieß in Festschrift für Dünnebier (1982) S. 149, 158. BVerfGE 46, 215, 223; 49, 24, 57.
Das Legalitätsprinzip auf dem Prüfstand der Rechtswirklichkeit
9
ben verfassungsrechtlichen Grundsätzen unterliegt 9 . Die Rechtswirklichkeit der Strafverfolgung würde sich jedoch im Falle der Anwendung des Opportunitätsprinzips wesentlich verändern im Sinne einer zunehmenden Schwerpunktbildung bei der Verfolgung besonderer Deliktsbereiche, wie z. B. der organisierten Kriminalität. Weiterhin würde es zu einer Beschränkung der Strafverfolgung in bestimmten Deliktsbereichen wie der Eigentums- und Vermögenskriminalität im Bagatellbereich und zunehmend auch im mittleren Bereich, wie auch zu einer Einschränkung der Strafverfolgung von Betäubungsmittelkonsumenten führen. II. In den Ostblockstaaten hat sich überwiegend das Legalitätsprinzip durchgesetzt. In dreizehn von dreiundzwanzig Mitgliedsstaaten des Europarates findet hingegen das Opportunitätsprinzip Anwendung. In der Bundesrepublik Deutschland ist das Legalitätsprinzip überwiegend verfahrensrechtlich ausgestaltet (§§ 153 ff StPO), in Österreich hingegen materiell-rechtlich. Entsprechendes gilt für das in den §§ 45 und 47 JGG geregelte Subsidiaritätsprinzip. Das Legalitätsprinzip fordert die umfassende und lückenlose Erledigung der Kriminalität durch die Strafverfolgungsorgane 10 . Es erfaßt daher die Strafverfolgung von der Ermittlung strafbarer Handlungen über die Aburteilung bis hin zur Vollstreckung der deswegen ausgesprochenen Sanktionen und der endgültigen Erledigung, unter Einschluß etwaiger Rechtsmittel- und Wiederaufnahmeverfahren 11 . Es begründet für die Staatsanwaltschaft und die Polizei zunächst die Pflicht, bei hinreichendem Anfangsverdacht einer Straftat die zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlichen Ermittlungen unverzüglich durchzuführen bzw. zu veranlassen (§ 152 Abs. 2 SPO). III. Bei sogenannten Vorfeldermittlungen, die von Strafverfolgungsbehörden getätigt werden, um festzustellen, ob überhaupt ein hinreichender Anfangsverdacht einer Straftat zur späteren Einleitung eines Ermittlungsverfahrens vorliegt, findet das Legalitätsprinzip keine Anwen9 10 11
Rieß in Festschrift für Dünnebier (1982) S. 149, 163. Zip/in Festschrift für Peters (1974) S. 487, 493. Gösse/ in Festschrift für Dünnebier (1982) S. 121, 130.
10
Friedrich Ambs
dung. Es steht vielmehr in ihrem Ermessen, ob sie derartige Vorfeldermittlungen überhaupt durchführen wollen. Vorfeldermittlungen berühren nicht selten den Präventivbereich der Polizei, der außerhalb staatsanwaltschaftlicher Zuständigkeit liegt. Gleiches gilt für die Zuständigkeit der Nachrichtendienste im Vorfeldbereich bestimmter Staatsschutzdelikte, deren Aufklärungstätigkeit keinen hinreichenden Anfangsverdacht solcher Straftaten voraussetzt. Eine gesetzliche Regelung dieser sogenannten Vorfeldermittlungen in der StPO, wie sie zur Zeit erwogen wird, wäre wenig sachdienlich. Zwangsmaßnahmen nach der StPO, die in Rechte von Personen eingreifen, sind ohnehin nur zulässig bei mindestens hinreichendem Anfangsverdacht einer Straftat unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Vorfeldermittlungen außerhalb des Präventivbereichs der Polizei und der Zuständigkeit der Nachrichtendienste sind daher auf die Beschaffung auch den Strafverfolgungsbehörden allgemein zugänglicher Tatsachen beschränkt. Vernehmungen von Zeugen nach den Regeln der StPO sind dabei ebensowenig zulässig wie Beschlagnahmen, Durchsuchungen u. a. Die sogenannten informatorischen Befragungen von Personen durch die Polizei im Rahmen ihrer Strafverfolgungszuständigkeit sind häufig unzulässige Umgehungsversuche der für die Vernehmung von Zeugen vorgesehenen Bestimmungen der StPO mit der nicht seltenen Folge eines Verwertungsverbotes 12 . Die StPO ist eine Prozeßordnung und kein allgemeines Regularium für die Beschaffung von Verdachtsgründen zur Aufspürung vermuteter Straftaten. Es besteht keine Notwendigkeit, die Staatsanwaltschaft in weitergehendere Vorfeldermittlungszuständigkeiten einzubinden als bisher üblich, z. B. die Auswertung von Konkursakten. Dies gilt auch für den Einsatz verdeckter Ermittler oder von V-Leuten im Vorfeldbereich eventuell nachfolgender gezielter Ermittlungshandlungen zur Aufklärung einer bestimmten Straftat.
IV. In der Rechtswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland hat sich das Legalitätsprinzip in bestimmten Teilbereichen der Strafverfolgung weitgehend und in zunehmendem Maße verabschiedet. 1. Die Strafverfolgung auf dem Gebiet der Diebstahlskriminalität im Bagatellbereich wie auch im mittelschweren Bereich, gleiches gilt auch für Sachbeschädigungen, ist auf die im Verhältnis zur Gesamtzahl 12
B G H S t . 29 S. 230.
Das Legalitätsprinzip auf dem Prüfstand der Rechtswirklichkeit
11
geringen Anzahl von Fällen beschränkt, bei denen der Täter ohne große Nachforschungen ermittelt wurde. Bei den aufgeklärten Straftaten dieser Art fallen die Kaufhausdiebstähle besonders ins Gewicht. Die Kaufhausdiebe werden in den bekanntgewordenen Fällen zu nahezu hundert Prozent ermittelt. Was in diesem Bereich an Straftaten unbekannt geblieben ist, ergibt zwar eine beträchtliche Dunkelziffer, jedoch keine bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft anfallenden Ermittlungsvorgänge, die sich in einer negativen Strafverfolgungsstatistik niederschlagen. Nicht ermittelt wird jedoch grundsätzlich eine Vielzahl der Täter von Fahrrad- und Mopeddiebstählen, von Diebstählen aus Kraftfahrzeugen und Wohnräumen u. a. Bei den Staatsanwaltschaften in Baden-Württemberg wird schon seit längerer Zeit eine nahezu gleich große Anzahl von Straftaten nicht ermittelter Täter (unbekannt) wie von bekannten Tätern registriert. Bei den nicht aufgeklärten Straftaten handelt es sich überwiegend um Eigentumsdelikte. Da die Beschuldigten, die einer Straftat verdächtigt werden, auch dann zu registrieren sind, wenn gegen sie von vornherein kein Tatverdacht besteht 13 oder der Tatverdacht durch Ermittlungen widerlegt wird, und die überwiegende Anzahl der Strafanzeigen gegen bekanntgewordene Beschuldigte mangels ausreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wird, ergibt sich ein beträchtliches Mißverhältnis zwischen der verhältnismäßig geringen Anzahl der zur Anklage gebrachten oder nach § 153 ff StPO bzw. 45, 47 JGG behandelten Fälle und der tatsächlich begangenen Straftaten. Denn im Gegensatz zu den registrierten Straftaten bekannter Beschuldigter ist bei nahezu allen Strafanzeigen gegen Unbekannt, von einigen mit Hilfe dieser Anzeigen sich anbahnenden Versicherungsbetrugsfallen einmal abgesehen, begründeter Tatverdacht gegeben. In den meisten dieser Fälle sind nach Anhörung des Geschädigten die Ermittlungen damit bereits beendet, da die Feststellung des Täters mit einem im Vergleich zum geschützten Rechtsgut unverhältnismäßig großen Ermittlungsaufwand verbunden wäre. Der Vorgang wird daher von der Polizei zur Registrierung und Einstellung des Verfahrens an die Staatsanwaltschaft abgegeben. Diese Vorgänge werden bei der Staatsanwaltschaft lediglich verwaltet. Diese Verfahrensbehandlung wird dem Legalitätsprinzip unter dem verfassungsrechtlichen Aspekt der Gleichbehandlung nicht mehr gerecht, auch wenn sie letztlich der Ermittlungskapazität der Strafverfolgungsbehörden entspricht. Da es sich dabei um eine durch Ermittlungsschwerpunktbildung bewirkte weitgehende, partielle Untätigkeit der 13
A V des Justizministeriums Baden-Württemberg v o m 12. 1. 1967, Die Justiz 1967 S. 47.
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Friedrich Ambs
Strafverfolgungsbehörden handelt, bedarf es hier einer grundsätzlichen Neuregelung der Strafverfolgungsgrundsätze. Eine Möglichkeit zur Wiederbelebung der Rechtsstaatlichkeit und des Gleichheitsgrundsatzes bei der Strafverfolgung wäre neben der Einführung des Opportunitätsprinzips anstelle des Legalitätsprinzips der von Baumann bereits vorgeschlagene Weg der Verfolgung solcher Taten als Ordnungswidrigkeiten 14 . Dort findet das Opportunitätsprinzip bereits Anwendung. Eine allgemeine Behandlung dieser zahlreichen nicht aufgeklärten Diebstähle nach § 153 StPO würde den Anforderungen an eine rechtsstaatliche Strafverfolgung nicht mehr gerecht werden. Der Widerstand gegen eine derartige Verfahrensweise wegen der hohen Dunkelziffer bei Warenhausdiebstählen ist nicht überzeugend. Die Selbstschutzeinrichtungen der Warenhäuser könnten noch erweitert und verfeinert werden. Die Behandlung und Stigmatisierung ertappter Warenhausdiebe ist im allgemeinen derartig drastisch und nachhaltig, daß sich in nicht wenigen Fällen das Täter—Opfer—Verhältnis ins Gegenteil verkehrt und die Verfahren bei Ersttätern häufig schon deswegen nach §153 StPO eingestellt werden. 2. Eine weitere Schwächung des Legalitätsprinzips bewirken in zunehmendem Maße die auch hier praktizierten und vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich für zulässig erklärten Absprachen zwischen den Verfahrensbeteiligten und dem Gericht im Strafprozeß mit der vom Bundesgerichtshof entwickelten Rechtsfolge eines Revisionsgrundes, wenn sich das Gericht im Urteil nicht an die mit dem Vorsitzenden getroffene Absprache über die vereinbarte Strafhöhe hält, ohne den Verteidiger zuvor darauf hingewiesen zu haben 15 . Solche Absprachen haben grundsätzlich eine für den Angeklagten einträgliche Verkürzung des staatlichen Strafanspruchs zur Folge. Sie stellen die §§ 154, 154 a StPO auf den Kopf. Der Angeklagte legt im Zusammenwirken mit dem Verteidiger in den meisten dieser Fälle vereinbarungsgemäß ein „qualifiziertes Geständnis" ab und erhält eine geringere Strafe 16 . Dafür haben Staatsanwaltschaft und Gericht keinerlei Beweisführungsprobleme mehr. Die Verfahrensdauer wird erheblich abgekürzt und das
14 15 16
BVerfG NStZ 1987 S. 419. BGH NJW 1989 S. 2270. Dies entspricht meinen eigenen Erfahrungen als früherer Leiter der Schwerpunktabteilung für die Verfolgung von Wirtschaftsstrafdelikten bei der StA Mannheim; Schünemann, Die Verständigung im Strafprozeß — Wunderwaffe oder Bankrotterklärung der Verteidigung, NJW 1989 S. 1895; Gatzweiler, Die Verständigung im Strafprozeß — Standortbestimmung eines Strafverteidigers, NJW 1989 S. 1903 mit weiteren Nachweisen.
Das Legalitätsprinzip auf dem Prüfstand der Rechtswirklichkeit
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Urteil rechtskräftig. Alle haben gewonnen. Verloren hat dabei nur das Legalitätsprinzip. Bei diesen einvernehmlichen Verfahrenserledigungen werden in nicht wenigen Fällen dem Gericht sowohl von der Staatsanwaltschaft als auch von dem Verteidiger „zur Erhellung der Verfahrenslage vertrauensvoll" auch sogenannte Hintergrundkenntnisse mitgeteilt. Eine derartige vertrauensvolle Zusammenarbeit läßt sich jedoch nur schwer mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbaren. Es entspricht vielmehr der Unabhängigkeit eines Gerichts, daß ihm zur Entscheidung eines Falles nur gerichtsverwertbare Tatsachen und nicht auch nicht verwertbare Hintergrundkenntnisse unterbreitet werden, auch wenn dies noch so vertrauensvoll geschieht. Es steht zwar außer Zweifel, daß auch der Strafprozeß möglichst prozeßökonomisch und zugleich effizient geführt werden muß. Ein über mehrere Jahre andauernder Strafprozeß in einer schwierigen Wirtschaftsstrafsache wirft nicht nur die Frage nach seiner prozeßökonomischen Vertretbarkeit auf. Rechtsstaatlich vertretbare Absprachen zwischen den Verfahrensbeteiligten über Schuldbekenntnis und Strafe, die dazu dienen, die Verfahrensdauer abzukürzen, müssen daher in engen Grenzen zulässig sein, zumal da sich eine überlange Verfahrensdauer grundsätzlich nur zugunsten des Angeklagten auswirkt. Problematisch ist jedoch der Umfang der Beteiligung der Gerichte an solchen Absprachen und das Maß der Verbindlichkeit solcher Zusagen gegenüber den Verfahrensbeteiligten. Die o. a. Entscheidung des BGH 15 zu dieser Frage löst diese Probleme nicht. Ein Verfahren ähnlicher Art, das „plea bargaining", jedoch mit wesentlich geringerer Gerichtsbeteiligung, wird in den USA praktiziert. Dieses Verfahren entspricht etwa dem Vergleich im Zivilprozeß. Dabei verhandeln Staatsanwalt und Verteidiger des Angeklagten über die Anklage und die Strafe 17 . In einigen Bundesstaaten der USA ist die Beteiligung des Gerichts an diesen Verhandlungen ausdrücklich untersagt. Der größte Ermessensspielraum dabei kommt dem Staatsanwalt zu. Die weit überwiegende Anzahl solcher Vereinbarungen zwischen Staatsanwalt und Verteidiger über das Schuldbekenntnis und die Strafe des Angeklagten, die in den USA als unverzichtbarer Bestandteil einer funktionierenden Strafrechtspflege gehalten werden, werden von den Gerichten akzeptiert 17 . Dies führt gelegentlich dazu, daß die Staatsanwälte dort ihre Anklagen aufblähen, um bei diesen Absprachen durch im voraus einkalkulierte Abstriche mit Hilfe des Verteidigers ein Schuldbekenntnis des Angeklagten zu erwirken, auf das die Staatsanwälte von vornherein abzielten. Ein solches Verfahren entspricht sicher noch 17
Massaro, Das amerikanische plea-bargaining-System — staatsanwaltschaftliches Ermessen bei der Strafverfolgung, StV 1989, S. 454.
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weniger dem deutschen Verständnis von einer fairen Strafverfolgung. So wäre es denn kaum vorstellbar, daß ein deutsches Gericht, im Gegensatz zu einem amerikanischen, das Schuldbekenntnis eines Angeklagten auch dann als ausreichende Beweisgrundlage für eine Verurteilung bewertete, wenn dieser gleichzeitig behauptet, unschuldig zu sein 18 . Es führt jedoch kein Weg an der Erkenntnis vorbei, daß auch hier getätigte Absprachen in Strafprozessen über Umfang des Schuldbekenntnisses und die Strafhöhe sich mit dem Legalitätsprinzip schwerlich vereinbaren lassen. 3. Zunehmende Bedeutung bei der Strafverfolgung Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland gewinnt die sogenannte Diversion. Es handelt sich dabei um eine Verfahrensart, die abweichend von dem normalen Strafverfahren darauf abzielt, Freiheitsstrafen durch informelle Maßnahmen als Reaktion auf bestimmte Straftaten Jugendlicher zu ersetzen 19 . Sie beruht auf der Annahme, Kriminalität entstehe auch durch Kriminalisierung Jugendlicher, d. h. durch Strafverfolgung der jugendlichen Straftäter. Der Verzicht auf formelle Reaktionen durch die Strafverfolgungsbehörden bewirke bei einem bestimmten Täterkreis jugendlicher Straftäter hingegen eine Kriminalprävention. Diese Strategie zur Verhinderung von Strafe und damit auch von neuer Straffälligkeit diene sowohl der Justizentlastung als auch der Entstigmatisierung des Verfahrens und der Rechtsfolgen für jugendliche Straftäter 19 . Die Durchführung des Diversionsverfahrens soll nach Meinung einer Minderheit möglichst aus den Händen der Staatsanwaltschaft und des Gerichts genommen werden. Dieses Mittel zur Bekämpfung der Jugendkriminalität wurde in den siebziger Jahren in den USA entwickelt und fand dort rasche Verbreitung. In der Bundesrepublik Deutschland fand es zwischenzeitlich, wie auch zuvor schon andere aus den USA übernommene Bekämpfungsstrategien gegen Jugendkriminalität, Nachahmung, wobei jedoch einige der entwickelten Diversionsmodelle wenig vertrauenserweckend erscheinen 20 . In den USA hat das Diversionsverfahren schon vor Jahren seinen Höhepunkt überschritten und zwischenzeitlich an Bedeutung verloren. Vorherrschend in der Strafzwecklehre ist dort zur Zeit in Abkehr vom Diversionsgedanken die Lehre von der gerechten Strafe. 18 19
20
Massaro, StV 1989 S. 454, 457 Fn. 25. Heiti%, Neue ambulante Maßnahmen nach dem J G G in Monatsschrift f ü r Kriminologie und Strafrechtsreform 1987 S. 129 ff; ders. Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis der Bundesrepublik Deutschland, in Festschrift für Jescheck (1985) S. 955 ff. Schaffstein in Festschrift f ü r Jescheck (1985) S. 937 ff.
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Diversion, d. h. Umlenkung von Reaktionsweisen auf Straftaten Jugendlicher, wird heute in Deutschland flächendeckend, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität praktiziert. Durch dieses Verfahren wird das Legalitätsprinzip nachhaltig durchbrochen. Seine gesetzliche Verankerung im JGG, die einmal vorgesehen war, ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Als gesetzliche Grundlage hält man die §§ 45 und 47 JGG für ausreichend.
V. Besondere Beachtung muß dem Strafverfolgungsdefizit auf dem Gebiet des Umweltstrafrechts beigemessen werden. Eine Ursache dafür ist die ungenügende Beachtung und Ausgestaltung des Legalitätsprinzips. Verstöße gegen Umweltschutzbestimmungen werden überwiegend zunächst anderen Stellen als der Polizei oder der Staatsanwaltschaft bekannt. Die Strafverfolgungsbehörden sind daher zur Verfolgung von Umweltstraftaten grundsätzlich darauf angewiesen, von den Verwaltungsbehörden entsprechend unterrichtet zu werden, was nur in eingeschränktem Maße geschieht. Bedienstete von Verwaltungsbehörden, die keine Strafverfolgung betreiben, unterliegen grundsätzlich nicht dem Legalitätsprinzip, auch wenn für sie eine gesetzlich normierte Anzeige- oder Unterrichtungspflicht besteht und sie gegebenenfalls sogar zu Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft bestellt worden sind 21 . In zahlreichen strafrechtlichen Nebengesetzen wurden für Sonderbehörden der Verwaltung über die gegenseitige Amtshilfe hinausgehende Unterrichtungspflichten normiert für den Fall, daß sich bei der Durchführung ihrer Aufgaben im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte für Verstöße gegen bestimmte Gesetze, für deren Durchführung eine andere Verwaltungsbehörde zuständig ist, ergeben 22 . Obwohl die Strafverfolgungsbehörden in diesen Bestimmungen nicht ausdrücklich erwähnt sind, ist davon auszugehen, daß diese gesteigerten Unterrichtungspflichten der Verwaltungsbehörden auch gegenüber den Strafverfolgungsbehörden bestehen 23 . Diese Unterrichtungspflichten unterwerfen zwar die in Betracht kommenden Verwaltungsbehörden nicht dem Legalitätsprinzip. In der Rechtswirklichkeit sind jedoch die unterlassenen Anzeigen derartiger Verstöße mitursächlich für das bestehende Ermittlungsdefizit in diesen Bereichen. Entsprechendes gilt für den Bereich 21 22
23
Rieß in LR StPO (24. Auflage) § 152 Rdn. 15. §§ 233 b A F G , 18 A Ü G , 2 a Ges. zur Bekämpfung der Schwarzarbeit, 48 a AusländerG, 313 SGB V, 139 b Abs. 7 und 8 GewO. Ambs in ErbsjKohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze § 233 b A F G Anm. 5.
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des Umweltschutzes. Die damit befaßten allgemeinen und besonderen Verwaltungsbehörden unterliegen grundsätzlich keiner Anzeigepflicht gegenüber den Strafverfolgungsbehörden. Auch der Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Bekämpfung der Umweltkriminalität sieht bedauerlicherweise insoweit keine Änderung vor. Die mit Umweltschutzaufgaben befaßten Verwaltungsbehörden sind mit Anzeigen bei den Strafverfolgungsbehörden sehr zurückhaltend, was zu einem nicht geringen Teil darauf beruht, daß die Amtsträger befürchten, selbst mit einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren überzogen zu werden oder die Behördenleitung Befürchtungen auf politischem Gebiet hegt. Nachdem der Gesetzgeber ersichtlich nicht gewillt ist, etwa eine dem § 6 SubvG entsprechende Anzeigepflicht der Verwaltungsbehörden für Umweltstrafsachen einzuführen, hat Baden-Württemberg durch Erlaß vom 10. 4. 1989, an dem fünf Ministerien beteiligt sind, bei Verdacht schwerwiegender Umweltschutzstraftaten eine Unterrichtungspflicht für die im Erlaß näher bezeichneten Umweltschutzbehörden gegenüber den Strafverfolgungsbehörden angeordnet 24 . Dabei wird je nach dem in Betracht kommenden Tatbestand differenziert zwischen einer absoluten Anzeigepflicht (bei Verdacht einer Straftat nach §§ 330 und 330 a StGB) und einer Anzeigepflicht nach pflichtgemäßem Ermessen (bei Verdacht einer Straftat nach § 304, 311 d, 324 bis 329 StGB sowie nach § 3 0 a BNatSchG). Eine wesentliche Verbesserung des Anzeigeverhaltens dieser Umweltschutzbehörden konnte bisher aufgrund dieses Erlasses nicht festgestellt werden. Dabei ist besonders bemerkenswert, daß in diesem gemeinsamen Erlaß die Unteren Verwaltungsbehörden ausdrücklich als — eingeschränkt — anzeigepflichtige Umweltschutzbehörden benannt werden, obwohl diese Stellen in Baden-Württemberg nach §§ 47 und 48 PolG Bad.-Württ. als Kreispolizeibehörden, ebenso wie Bürgermeister als Ortspolizeibehörden, nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes selbst dann dem uneingeschränkten Legalitätsprinzip unterliegen, wenn es sich dabei um Straftaten handelt, für deren Ermittlungen sie nicht einmal zuständig sind, die ihnen lediglich bekannt wurden 25 . Im Lichte dieser BGH-Rechtsprechung erscheint die Rechtmäßigkeit des o. a. gemeinsamen ministeriellen Erlasses, soweit durch ihn die Anzeigepflicht der Unteren Verwaltungsbehörden in Baden-Württemberg eingeschränkt wird, zumindest fragwürdig und dürfte einer genaueren Rechtsprüfung kaum standhalten. Die Unteren Sonderbehörden, z. B. die Wasserschutzbehörden, trifft hingegen keine gesetzlich geregelte Anzeigepflicht, was sich sehr nachteilig für die Verfolgung 24 25
Gemeinsamer ministerieller Erlaß v o m 10. 4. 1989 Die Justiz 1989 S. 145. BGHSt. 12, 277.
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von Umweltschutzdelikten auswirkt. Teilt eine Sonderbehörde einen Tatverdacht begründenden Sachverhalt eines Umweltschutzdeliktes der allgemeinen Verwaltungsbehörde mit, so wird diese gegenüber den Strafverfolgungsbehörden in dem o. a. Umfang anzeigepflichtig. Die von TejssenjGoet^e vertretene Ansicht 26 , daß unter besonderen Voraussetzungen die allgemeine Unterrichtungspflicht einer Verwaltungs- oder Sozialbehörde durch Einschränkung ihres Ermessensspielraumes auf Null sich bis zu ihrer Unterwerfung unter das Legalitätsprinzip hin entwickeln könne, ist hingegen rechtlich nicht haltbar 27 , so sehr damit auch Ermittlungsdefizite abgebaut werden könnten. Ob hier die Schaffung einer Strafverfolgungszuständigkeit der Umweltschutzbehörden entsprechend der Regelung für die Finanzbehörden in § 386 Abs. 2, 399 ff AO, wie sie ansatzweise bereits in Frankreich besteht, Abhilfe schaffen könnte, muß aufgrund der negativen Erfahrungen über das Anzeigeverhalten dieser Behörden bezweifelt werden. VI.
Die These Baumanns aus dem Jahre 1972, das Legalitätsprinzip in der Bundesrepublik Deutschland sei durchlöchert wie ein Schweizer Käse, entspricht auch heute noch der Rechtswirklichkeit. Über die bereits dargelegten Schwachstellen hinaus wurde es in der öffentlichen Wertschätzung weiterhin gemindert durch die Bemühungen des Gesetzgebers um ein Amnestiegesetz für eine Gruppe ausgesuchter Steuersünder, die Kronzeugenregelung als Ersatz für Fahndungserfolge u. a. Ein wenn auch nur gebundenes Opportunitätsprinzip als Strafverfolgungsmaxime wäre zumindest glaubwürdiger und böte den Staatsanwaltschaften im Rahmen ihrer eingeschränkten personellen Möglichkeiten die Chance zu einer effektiveren Strafverfolgung, insbesondere im Bereich der Schwerkriminalität.
26
27
TejssenjGoethe, Z u r Anzeigepflicht der Sozialbehörden als Kehrseite reduzierter staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsrechte, N S t Z 1 9 8 6 S. 533. SchnappjDühring, Anzeigepflicht der Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen beim Verdacht auf sogenannten A b r e c h n u n g s b e t r u g , N J W 1 9 8 8 S. 738.
Strafverfahren gegen der deutschen Sprache nicht mächtige Beschuldigte* CLEMENS BASDORF
I. Einführung 1. „Die Gerichtssprache ist deutsch" (§ 184 GVG). Sie wird allerdings in zunehmendem Maße von Verfahrensbeteiligten nicht gesprochen und verstanden. Im Jahre 1981 stellte der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs fest, „daß das Sprachproblem durch den Zuzug von Ausländern neue Dimensionen gewonnen hat" 1 . Diese Äußerung hat an Aktualität nichts eingebüßt. Fragen nach verfahrensrechtlichen Folgerungen aus der Unkenntnis der deutschen Sprache stellen sich indes nicht allein bei Ausländern, sondern in gleicher Weise bei fremdsprachig aufgewachsenen Deutschen 2 ; dieser Umstand wird angesichts vermehrten Zuzugs deutschstämmiger Aussiedler verstärkt praktische Bedeutung gewinnen. Für die weiteren Ausführungen sei klargestellt, daß gleichwohl teilweise die generalisierende Verwendung des Begriffs „Ausländer" nicht zu vermeiden ist und daß als Sprachunkundigkeit die Unkenntnis von der deutschen (Gerichts-) Sprache bezeichnet wird. 2. Verfahren unter Beteiligung Sprachunkundiger gehen mit besonderen faktischen Erschwernissen einher. Gelegentlich festzustellende mentalitätsbedingte Schwierigkeiten mit Ausländern haben andere Ursachen als die Sprachunkundigkeit, sind daher bei der gegebenen Thematik zu vernachlässigen. Für die Praxis erheblich ist das Problem der Bewertung von Aussagen, deren Inhalt erst nach Übertragung durch den Dolmetscher bekannt wird; Zwischentöne sind nicht hörbar, unmittelbarer, durch Ansprache herzustellender persönlicher Kontakt kann nicht Zustandekommen, die Grundlagen zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit sind dadurch partiell verkümmert. Dies wird besonders deutlich in * Der Beitrag wurde im Dezember 1989 abgeschlossen. Einzelne spätere Entscheidungen konnten nur noch in Fußnoten berücksichtigt werden. 1 BGHSt. 30, 182, 184. 2
Vgl. BGH, aaO; Sträte, AnwBl 1980, S. 15.
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Strafverfahren mit Angeklagten und Zeugen verschiedener Nationalität, in denen zugleich mehrere Dolmetscher mitwirken; solche Verfahren sind schon zum strafrichterlichen Alltag geworden. Sonst sind es vornehmlich Zeit und Geld, die als Probleme aus der Sprachunkundigkeit im Strafverfahren erwachsen. Die Einschaltung eines Dolmetschers ist regelmäßig kostspielig und langwierig. Sie darf schon daher nicht ohne begründeten Anlaß erfolgen. 3. Der Anspruch des der Gerichtssprache nicht hinreichend mächtigen Angeklagten auf Beiziehung eines Dolmetschers jedenfalls für die mündliche Verhandlung zählt zum vom Völkergewohnheitsrecht umfaßten menschenrechtlichen Mindeststandard 3 . Jenseits davon hat das Bundesverfassungsgericht überzeugend nachgewiesen, daß — entgegen erstem flüchtigem Anschein — verfassungsrechtliche Folgerungen aus der Sprachunkundigkeit eines Beschuldigten für die Verfahrensgestaltung regelmäßig nicht etwa aus Art. 3 Abs. 3 GG zu ziehen sind 4 ; dem Beschuldigten werden nämlich nicht wegen seiner Sprache Rechtsnachteile auferlegt. Vielmehr bringt ihm die Unkenntnis der deutschen Sprache faktische Nachteile, welche auszugleichen nicht das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot gebietet. Ausgleich ist von Verfassung wegen hingegen zu leisten im Rahmen des rechtsstaatlich geforderten fairen Verfahrens, auf dessen Gewährleistung der Beschuldigte einen grundrechtlich gesicherten Anspruch hat (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) 5 . Die verfahrensrechtliche Ausgestaltung der Stellung des sprachunkundigen Beschuldigten trägt der Verfassungsrechtslage — wie vom Bundesverfassungsgericht im einzelnen belegt — im wesentlichen Rechnung. Weitere Garantien begründet dabei insbesondere die als innerstaatliches Recht im Range eines einfachen Bundesgesetzes geltende Europäische Menschenrechtskonvention 6 . 4. Dieser Beitrag beschränkt sich auf die Erörterung von Problemen des Umfangs gebotener Dolmetschereinschaltung und Übersetzung zum Schutze des sprachunkundigen Beschuldigten sowie von Fragen im Zusammenhang mit Dolmetscherkosten und Verteidigung. Probleme des Bußgeldverfahrens müssen ebenso unerörtert bleiben wie Fragen über eine Dolmetscherzuziehung für Privat- oder Nebenkläger. Besondere Probleme bei sprachunkundigen Untersuchungsgefangenen können lediglich angedeutet werden. 3 4 5 6
BVerfG - Kammer NJW 1988, S. 1462, 1464. BVerfGE 64, 135, 156 f; vgl. auch Inger/, Sprachrisiko im Verfahren, 1988, S. 312. BVerfG, aaO, S. 145. Vgl. Kkinknechtj Meyer, StPO, 39. Aufl., Rdn. 3 vor Art. 1 MRK.
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II. Art und Umfang notwendiger Übersetzungen 1. In der Hauptverhandlung gegen einen Angeklagten, welcher der deutschen Sprache nicht mächtig ist, ist — nicht anders als bei vorangehenden Verhandlungen (Haftbefehlsverkündung, Haftprüfung) und Vernehmungen — ein Dolmetscher zuzuziehen (§ 185 Abs. 1 Satz 1 GVG). Er hat - modifiziert lediglich durch § 259 Abs. 1 StPO - dem sprachunkundigen Angeklagten den gesamten Verhandlungsinhalt zu übertragen. Eine auch nur partielle Abwesenheit des danach zuzuziehenden Dolmetschers begründet die Revision nach § 338 Nr. 5 StPO 7 . Dieser — vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobene 8 — Schutz des absoluten Revisionsgrundes ist indes tatsächlich nicht unbeträchtlich relativiert. So greift er nur ein, wenn die Notwendigkeit der Dolmetscherzuziehung zweifelsfrei feststeht. Ist hingegen der Angeklagte „der deutschen Sprache nur teilweise nicht mächtig", bleibt die Mitwirkung des Dolmetschers „dem pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters" überlassen 9 . Die Feststellung einer Überschreitung der Grenzen jenes tatrichterlichen Ermessens — besser vielleicht als Beurteilungsspielraum für den unscharfen Begriff „der deutschen Sprache mächtig" zu bezeichnen — wird selten gelingen. In diesem Bereich, mit dem der Tatrichter in Fällen schon längere Zeit im deutschen Sprachraum lebender Ausländer häufig konfrontiert ist, trifft ihn daher eine besonders hohe Eigen Verantwortung. Jenseits von Überlegungen über Kosten und Zeitverlust, welche mit der Dolmetscherzuziehung nun einmal einhergehen und die namentlich in Bagatellfällen auch nicht gänzlich zu vernachlässigen sein werden, muß er kritisch prüfen, ob die Sprachkenntnisse des Angeklagten dafür ausreichen, daß er sich im sachlich gebotenen Umfang vollständig verständlich machen und alle wesentlichen Teile der Verhandlung auch verstehen kann. Dies hängt im Einzelfall nicht nur vom Umfang der Sprachkenntnisse des Angeklagten ab, sondern auch von der Kompliziertheit der zu erörternden Materie und sicher nicht zuletzt vom sprachlichen und psychologischen Geschick der übrigen Verhandlungsbeteiligten, namentlich aber des Gerichtsvorsitzenden, sich dem nicht sicher sprachkundigen Angeklagten verständlich zu machen und ihn zu verstehen. Praktische Erfahrung zeigt, daß die meisten nur partiell Sprachkundigen primär bestrebt sind, sich unmittelbar verständlich zu machen. Der verantwortungsbewußte Tatrichter muß die dabei gegebene Gefahr der Selbstüberschätzung und hierdurch bedingter Mißverständnisse in Erwägung ziehen. Meist wird 7 8 9
KlemknechtjMejer, aaO, § 338 Rdn. 44. BVerfG, aaO, S. 149. BGHSt. 3, 285; BGH, NStZ 1984, S. 328.
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die Beiziehung eines Dolmetschers bei Verhandlung mit Personen, die außerhalb des deutschen Sprachraums aufgewachsen sind, veranlaßt sein. Häufig wird er aber gegenüber partiell Sprachkundigen nicht zur umfassenden Übertragung gehalten sein, sondern lediglich bei erkannten Verständigungsschwierigkeiten und komplizierteren Erörterungen eingreifen müssen 93 . Regelmäßig keinen Schutz bietet das Revisionsrecht gegen die mangelnde Qualität des Dolmetschers. Seine Auswahl und die Überprüfung der Richtigkeit und Vollständigkeit seiner Übersetzung unterliegen grundsätzlich nicht revisiblem tatrichterlichem Ermessen 10 . Hierbei kann der Tatrichter bei Unkenntnis von der Sprache, in die übertragen wird, wenn die Mängel des Dolmetschers nicht unzulängliche Deutschkenntnisse sind, von der Natur der Sache her — nicht anders als oftmals beim Sachverständigen — sofort an Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit stoßen. Er muß sich weitgehend auf die Zuverlässigkeit des durch Voreid nach § 189 GVG verpflichteten, meist allgemein beeidigten Dolmetschers 11 verlassen. Gleichwohl darf er sich in diesem Bereich nicht außer Pflicht sehen; unverständliche Untätigkeit oder deutlich knappe Erklärungen des Dolmetschers gegenüber dem Angeklagten nach ausführlichen Erörterungen in der Gerichtssprache, eine kurze Wiedergabe ausgiebiger Erklärungen des Angeklagten oder lange Zwiegespräche des Dolmetschers mit dem Angeklagten in dessen Sprache, gefolgt von nur knappen Übertragungen darf er nicht, ohne solche Vorgänge wenigstens zu hinterfragen, einfach hinnehmen. In diesem besonders heiklen Bereich kaum nachprüfbaren Ermessens muß sich der Tatrichter zudem bewußt sein, daß für den sprachunkundigen Angeklagten eine unzulängliche Übertragungsarbeit des Dolmetschers teils ebenso schwer erkennbar ist wie für den Richter selbst, daß es einem gänzlich sprachunkundigen Angeklagten zudem besonders schwer fallen muß, von sich aus — notwendig mit Hilfe eben des Dolmetschers — dessen erkannte Mängel zu beanstanden. Andererseits sind in Strafprozessen auch — verstärkt vielleicht mentalitätsbedingt — häufige und vielfach unberechtigte Angriffe gegen Dolmetscher zu registrieren. Hier echte Anliegen von querulatorischem Vorbringen zu unterscheiden, erfordert ein beträchtliches Fingerspitzengefühl des verantwortlichen Tatrichters. Kaum anders als dieser ist in diesem Bereich
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Vgl. zu diesem Themenkreis jetzt auch BGH, StrV 1990, S. 101 mit Anm. Kühne. Vgl. Kleinknechtj Meyer, aaO, § 185 GVG Rdn. 10; Hürxthal in: Karlsruher Kommentar zur StPO - K K 2. Aufl., § 259 Rdn. 3; jeweils m. w. N. Vgl. zu Problemen der Revisibilität bei Verstößen im Zusammenhang mit der Dolmetschervereidigung: Kleinknechtj Meyer, aaO, § 189 GVG Rdn. 3; Pikart in: KK, 2. Aufl., § 338 Rdn. 80; jeweils m. w. N.
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übrigens auch der Verteidiger des sprachunkundigen Angeklagten gefordert, der in der Verantwortung der Kontrolle eines seinem Mandanten zu gewährenden fairen Verfahrens steht. Letztlich muß aber mit gewisser Resignation folgendes festgestellt werden: Das Ergebnis eines Strafprozesses kann durchaus auch von der Qualität des mitwirkenden Dolmetschers abhängen — wie es für die Sachkunde und Tagesform der Richter, Staatsanwälte, Verteidiger und Sachverständigen nicht anders gilt —. Der wichtige Umstand, ob ein guter oder weniger guter Dolmetscher tätig ist, kann hingegen vom Angeklagten nur ganz begrenzt beeinflußt werden. Die große Bedeutung der Auswahl des Dolmetschers durch den Gerichtsvorsitzenden wird damit deutlich. Eine ausreichende Anzahl qualitativ guter, forensisch erfahrener Dolmetscher jedenfalls in verbreiteteren Fremdsprachen reduziert die beschriebenen Probleme im gerichtlichen Alltag auf ein erträgliches Maß. 2. Schriftliche Eingaben an das Gericht sind in der Gerichtssprache abzufassen. Dies gilt namentlich für fristgebundene Rechtsmittelerklärungen. Andererseits hat sich hierauf auch die Rechtsmittelbelehrung zu erstrecken; dem sprachunkundigen Angeklagten ist widrigenfalls mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 44 Satz 2 StPO) zu helfen 12 . Der Richter wird gleichwohl fremdsprachige Eingaben kaum einmal ganz ignorieren dürfen. Wenn er nicht — z. B. wegen entsprechender vorangegangener Hinweise — voraussetzen kann, daß der Absender die Unbeachtlichkeit unübersetzter Eingaben kennt, muß er ihn zumindest regelmäßig darauf hinweisen. Dabei wird ein Hinweis auf Deutsch ausreichen, sofern naheliegt, daß ein im Inland lebender Ausländer im persönlichen Umfeld für Übersetzung eines Gerichtsschreibens Sorge tragen wird. Prozessuale Fürsorgepflicht und Wahrheitsermittlungsgebot können indes auch gebieten, Übersetzungen von Amts wegen zu veranlassen. Mit deren Eingang sind die Erklärungen dann maßgeblich und wahren auch eine etwa erforderliche Schriftform 13 . Anstelle einer der beiden Verfahrensweisen wird es bei einer fremdsprachigen Eingabe praktisch vielfach ausreichen, einen Dolmetscher zunächst um deren Lektüre und um Inhaltsangabe zu bitten, jene gegebenenfalls in einem Vermerk festzuhalten. Bei „gängigen" Fremdsprachen wird sich hierfür jedenfalls in einem größeren Gericht stets ohne Schwierigkeiten, regelmäßig sogar ohne Erfordernis besonderer Abrechnung, ein Dolmet-
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Vgl. BGHSt. 30, 182; Kieinkmeit/Meyer, aaO, § 184 G V G Rdn. 2; 2. Aufl., § 184 G V G Rdn. 2; jeweils m. w. N. Vgl. BGH bei PJeifferjMiebach, N S t Z 1987, S. 22.
Mayr
in: K K ,
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scher finden14. Vom übermittelten Ergebnis seiner Inhaltskontrolle wird es abhängen, ob danach noch eine genaue Übersetzung oder ein Hinweis an den Absender auf die Unbeachtlichkeit fremdsprachiger Eingaben veranlaßt ist. Die vorgeschlagene Verfahrensweise bietet sich selbstverständlich erst recht an, wenn der Richter die Inhaltskontrolle selbst vornehmen kann, weil er die Fremdsprache ausreichend beherrscht, oder sie von einem anderen zuverlässigen Sprachkundigen vornehmen läßt. 3. a) Das Gericht faßt seine schriftlichen Entscheidungen in der Gerichtssprache ab. Die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren, die keine Gesetzeskraft haben, enthalten in Nr. 181 Abs. 2 eine außerordentlich großzügige Regelung für die Beigabe von Übersetzungen. Sie geht insgesamt zu weit. Für Haftbefehle, Anklageschriften und Urteile bedarf es besonderer Ausführungen. Jenseits davon geht die Regelung in den Richtlinien daran vorbei, daß der im Inland lebende sprachunkundige Ausländer, wie bereits erwähnt, vielfach wegen seiner Einbindung in ein sprachkundiges Umfeld auf eine Übersetzung gar nicht angewiesen ist und daß in diesem Bereich Kosten — namentlich in Bagatellsachen — und Verfahrensverzögerungen durch Übersetzungseinholung vermieden werden sollten. Dabei muß aber gelten, daß eine restriktivere Handhabung bei der Beifügung von Übersetzungen zugleich eine großzügigere Verfahrensweise bei Anwendung der Wiedereinsetzungsvorschriften 15 oder — namentlich bei Ladungen — bei der Frage unentschuldigter Nichtbefolgung nach sich ziehen muß. Besteht zu solcher Großzügigkeit keine Bereitschaft oder will man hierdurch denkbare Verzögerungen von vornherein vermeiden, sollte man sich eher streng an die Richtlinien halten. Schon daher ist die Bereitstellung vorgedruckter Ladungen, Rechtsmittelbelehrungen und in geeigneten Fällen von Formularen in häufig gebräuchlichen Fremdsprachen durchaus sinnvoll. b) Für Haftbefehl und Anklage — wie auch Strafbefehl — sind die besonderen Regelungen in Art. 5 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 3 a MRK zu beachten. Gemeinhin wird hieraus der Schluß gezogen, daß dem in Abschrift auszuhändigenden Haftbefehl (§ 114 a Abs. 2 StPO) wie der zuzustellenden Anklageschrift (§ 201 Abs. 1 StPO) jeweils eine schriftliche Übersetzung beizufügen sei 16 . 14
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Eine entsprechende Verfahrensweise bietet sich weitgehend bei der Kontrolle der Post sprachunkundiger Untersuchungsgefangener an. Vgl. nur BVerfGE 40, 95; 42, 120.
Vgl. nur Klankmcht\Meyer, aaO, § 114 a Rdn. 5; Art. 6 MRK Rdn. 18.
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Im Regelfall wird dem auch Folge zu leisten sein. Jener Standard schriftlicher Übersetzungen ist indes konventionsrechtlich nicht gefordert 17 und nicht unverzichtbar. Viele Beschuldigte sind zudem keine „Schriftmenschen"; sie werden von der Möglichkeit, durch Lektüre des Haftbefehls oder der Anklageschrift konzentriert und in Ruhe die gegen sie erhobene Beschuldigung zu erfahren, keinen Gebrauch machen, und sie legen deshalb gelegentlich keinen Wert auf Abschriften. Zumindest in den Fällen, in denen die Anforderung der schriftlichen Ubersetzung einen sonst vermeidbaren Aufschub verursachen würde, der seinerseits konventionsrechtlich gemäß Art. 5 Abs. 3 Satz 2, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK tunlichst zu vermeiden ist, sollte ein Verzicht auf die Fertigung der Übersetzung erwogen werden. Naheliegend sollte dies nur im Einvernehmen mit einem Verteidiger erfolgen. Beim Haftbefehl ist eine den Anforderungen des Art. 5 Abs. 2 MRK genügende mündliche Unterrichtung über den Anlaß der Verhaftung durch die Regelungen in §§ 114a Abs. 1, 115, 128 StPO in Verbindung mit § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG gewährleistet. Bei der Anklage wird deren mündliche Übersetzung im Rahmen einer richterlichen Anhörung — namentlich in Haftsachen — praktisch in Betracht kommen. Auf die Möglichkeit nur mündlicher Anklageerhebung im beschleunigten Verfahren (§212a Abs. 2 StPO) sei in diesem Zusammenhang verwiesen. Auch ein namens des Angeschuldigten erklärter Verzicht des Verteidigers auf schriftliche Übersetzung, verbunden mit der Zusicherung, unverzüglich im Rahmen einer Verteidigerbesprechung dem Angeschuldigten mit Hilfe eines Dolmetschers die gesamte Anklage zur Kenntnis zu bringen, erscheint praktikabel und dürfte den Anforderungen des Art. 6 Abs. 3 a MRK Stand halten. Jenseits der Fälle, in denen die Haftbefehls- oder — praktisch näherliegend — die Anklageübersetzung zu beträchtlicher Verfahrensverzögerung führen würde, liegt ein gerichtliches Hinwirken auf einen Verzicht hingegen fern, auch aus Kostengründen, die allenfalls zur Vermeidung überflüssiger Doppelübersetzungen, soweit — wie häufig — Haftbefehl und Anklage partiell wortgleich sind, Anlaß geben könnten. Besteht der Beschuldigte trotz nahegebrachten Verzichts auf schriftliche Übersetzung, ist dem in Anlehnung an die strafprozessualen Regelungen Folge zu leisten. Der Beschuldigte wird sich auf hierdurch verursachte unvermeidliche Verfahrensverzögerungen nicht zu seinem Vorteil berufen können; gleichlaufende Verzögerungen gegen von der Notwendigkeit der Übersetzung nicht betroffene Mitbeschuldigte sind
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Vgl. Vogler, EuGRZ 1979, S. 640, 644.
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notfalls durch Abtrennung und gesonderte Verfahrensförderung zu vermeiden. c) Betreffend Strafurteile hat das Bundesverfassungsgericht für den wesentlichen Teilbereich der von einem verteidigten Angeklagten mit der Revision angefochtenen Urteile entschieden, daß von Verfassungs wegen kein Anspruch auf eine Übersetzung besteht 18 . Auch sonstiges Recht, namentlich die Menschenrechtskonvention, steht dem Ergebnis dieser Entscheidung nicht entgegen, das bei Anerkennung folgender Prämissen überzeugt: Zum einen muß die Ausgestaltung des Rechtsmittels der Revision von ihrem Wesen her die aktiven Gestaltungsmöglichkeiten des Angeklagten einschränken, so daß seine Verteidigung in diesem Bereich — insbesondere durch die Formvorschrift des § 344 Abs. 2 (i.V. m. §345 Abs. 2) StPO 19 - weitgehend allein in die Verantwortung des rechtskundigen Verteidigers gestellt ist. Zum anderen ist die Zubilligung der Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle nach § 345 Abs. 2 StPO auch zugunsten des verteidigten Angeklagten eine verfassungsrechtlich nicht geforderte Verfahrensposition, für deren effektive Wahrnehmung besondere Hilfestellungen nicht gefordert sind. Der letztgenannte Punkt und die daran anschließenden Passagen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 20 legen nahe, dem nicht verteidigten sprachunkundigen Angeklagten, der gegen ein Berufungsurteil Revision eingelegt hat, zur effektiven Wahrnehmung der gebotenen Begründung des Rechtsmittels zu Protokoll der Geschäftsstelle jedenfalls bei entsprechendem Begehren eine schriftliche Ubersetzung des angefochtenen Urteils zuzubilligen 21 . In diesen Fällen wird es indes näher liegen, daß der Vorsitzende dem Angeklagten zur Revisionsbegründung in Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO einen Pflichtverteidiger bestellt 22 . Jenseits von dem erwähnten, praktisch im Blick auf die mögliche Verteidigerbestellung besonders seltenen Fall dürfte regelmäßig keine Notwendigkeit bestehen, Strafurteile schriftlich übersetzen zu lassen. Dem berechtigten Informationsbedürfnis des sprachunkundigen Angeklagten wird durch die in § 268 Abs. 2 StPO vorgeschriebene münd18 19 20 21
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BVerfGE 64, 135. Vgl. dazu BVerfGE 63, 45, 70. BVerfGE 64, 135, 156. Für den Bereich der Sprungrevision (§ 335 StPO) dürfte aus den zuvor erwähnten Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts anderes gelten, da der Angeklagte sein Recht hier auch mit der Berufung verfolgen kann. Vgl. Kleinknecbt\Meyer, aaO, § 140 Rdn. 29; Laufhütte in: K K , 2. Aufl., § 140 Rdn. 5; jeweils m. w. N.
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liehe Urteilsbegründung, die ihm vom Dolmetscher zu übersetzen ist, auch unter Berücksichtigung seiner Vorinformation durch Kenntnis des Anklagevorwurfs und Teilnahme an der mündlichen Hauptverhandlung in Dolmetschergegenwart hinreichend Rechnung getragen. Bei rechtskräftigen Urteilen drängt sich dies auf; angesichts der weitgehenden Abkürzungsmöglichkeiten in § 267 Abs. 4 und Abs. 5 StPO versagt gerade hier auch der Hinweis auf angeblich in der Praxis häufige — verfahrensrechtlich ohnehin nicht angreifbare — unzulängliche mündliche Urteilsbegründungen. Aber auch ein berechtigtes Bedürfnis des sprachunkundigen Angeklagten an der Übersetzung eines von ihm mit der Berufung angefochtenen amtsgerichtlichen Urteils dürfte regelmäßig zu verneinen sein: Eine Begründung dieses Rechtsmittels ist nicht obligatorisch (§ 317 StPO). Bei unbeschränktem Rechtsmittel wird vor dem Berufungsgericht nahezu umfassend neu verhandelt; abgesehen von der mündlichen Urteilsbegründung vor dem Amtsgericht ist in § 324 Abs. 1 Satz 2 StPO die Verlesung des angefochtenen Urteils zu Beginn der Berufungshauptverhandlung vorgesehen, die vom Dolmetscher zu übersetzen ist. Für die Frage einer möglichen Beschränkung des Rechtsmittels ist der unverteidigte Angeklagte über den Schuldspruch und die ihn tragenden Feststellungen durch den Verfahrensgang regelmäßig auch ohne Vorbereitung anhand schriftlicher Urteilsgründe ausreichend informiert; ist er — was bei komplizierteren Sachverhalten ohnehin geboten ist — verteidigt, ist jene Frage eher Gegenstand des Gesprächs mit dem Verteidiger als eigener Sachprüfung anhand der schriftlichen Urteilsgründe. Nach Rechtsmitteln anderer Verfahrensbeteiligter wird das Ausgeführte entsprechend wie bei eigenen Rechtsmitteln des sprachunkundigen Angeklagten im selben Verfahrensstadium zu gelten haben. Dem unverteidigten sprachunkundigen Angeklagten müßte im Fall der Revision der Staatsanwaltschaft oder eines Nebenklägers zur effektiven Wahrung seiner Rechte im Rechtsmittelverfahren auf sein Verlangen nicht nur eine schriftliche Übersetzung des angefochtenen Urteils, sondern auch der Revisionsbegründung des Rechtsmittelführers überlassen werden; hier wird indes regelmäßig § 140 Abs. 2 StPO zum Tragen kommen. Dessen Anwendung dürfte auch bei Berufungen der Staatsanwaltschaft in jedem nicht ganz einfach gelagerten Fall geboten sein. Trotz der nahezu umfassenden Ablehnung einer Erforderlichkeit schriftlicher Übersetzung von Strafurteilen für sprachunkundige Angeklagte sind besonders gelagerte Verfahrensgestaltungen denkbar, in denen ein berechtigtes Bedürfnis des Angeklagten auf eine solche Übersetzung doch besteht. So mag es beispielsweise seltene Fälle geben, in denen der Verteidiger für eine wirkungsvolle Revisionsbegründung bei einem komplizierten Sachverhalt auf detaillierte Hinweise seines
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besonders sachkundigen Mandanten angewiesen ist, der hierfür wiederum zuvor die schriftlichen Urteilsgründe gründlich studieren muß. Werden plausible Gründe für einen solchen Ausnahmefall dargetan, sollte sich das Gericht nicht darauf zurückziehen, ein solcher Anspruch bestehe grundsätzlich nicht, sondern es sollte in Kenntnis von der regelmäßig nicht bestehenden Notwendigkeit und ihrer Gründe kritisch, aber aufgeschlossen prüfen, ob Besonderheiten im Einzelfall ein Abweichen von der Regel rechtfertigen 223 .
III. Dolmetscherkosten und Pflichtverteidigerbestellung 1. Die lange streitige Frage, ob Art. 6 Abs. 3e MRK der Belastung des Verurteilten mit den Auslagen der Staatskasse für einen wegen seiner Sprachunkundigkeit zugezogenen Dolmetscher entgegensteht, ist nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Jahre 197823 und seiner Umsetzung im Kostenverzeichnis (KV) zu § 11 GKG in Nr. 1904 Satz 2 im Sinne dauerhafter Unentgeltlichkeit der Zuziehung des Dolmetschers ausgestanden, der zur Übertragung von Erklärungen eingesetzt worden ist, auf deren Verständnis der Angeklagte „zu seiner Verteidigung" (Nr. 1904 Satz 2 KV) bzw., „um ein faires Verfahren zu haben" (EGMR), angewiesen war 24 . Auch die Auslagen des Pflichtverteidigers für einen von ihm zu Vorbesprechungen mit seinem sprachunkundigen Mandanten zugezogenen Dolmetscher sind von der in Art. 6 Abs. 3e MRK normierten Kostenfreiheit erfaßt: Der Pflichtverteidiger wird nach § 97 BRAGO aus der Staatskasse bezahlt. Nach Abs. 2 dieser Vorschrift erhält er seine Auslagen ersetzt; darunter fallen — in den Grenzen des zur sachgemäßen Interessenwahrnehmung Erforderlichen (§ 126 Abs. 1 Satz 1 BRAGO) — seine Dolmetscherauslagen. Wird der kostenpflichtig Verurteilte für die aus der Staatskasse verauslagte Pflichtverteidigervergütung in Anspruch genommen (Nr. 1906 KV) — was gegenüber ^ Vgl. zu diesem Themenkreis jetzt auch OLG Hamm, StrV 1990, S. 101 m. Anm. Kühne. 23 EGMR, EuGRZ 1979, S. 34 = NJW 1979, S. 1091. 24 Vgl. dazu den Sonderfall OLG Stuttgart, Justiz 1984, S. 191. Außerordentlich zweifelhaft ist die Anwendung von Nr. 1904 Satz 2 K V auf — jedenfalls nicht vorschußpflichtige — Kosten für einen im Rahmen der Post- und Besuchskontrolle beim Untersuchungsgefangenen herangezogenen Dolmetscher; vgl. dazu OLG Frankfurt, StrV 1984, S. 427; 1986, S. 24; LG Berlin, StrV 1989, S. 350; Hilger in: Löwe)Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 464a Rdn. 8 m. w. N. - Dazu jetzt: KG, Beschl. v. 19. 3. 1990 - 4 Ws 2/90 - .
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nicht dauerhaft Mittellosen vor Art. 6 Abs. 3 c M R K Bestand hat 25 —, steht Art. 6 Abs. 3e M R K i.V. m. Nr. 1904 Satz 2 K V der Belastung auch mit dem Pflichtverteidiger erstatteten Dolmetscherauslagen entgegen 26 . Aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 3 e M R K ist darüber hinaus auch die Notwendigkeit eines Ersatzes der Kosten für einen Dolmetscher abgeleitet worden, der zur Herstellung des erforderlichen Kontakts zwischen sprachunkundigem Beschuldigtem und seinem ^«¿/Verteidiger herangezogen war 27 . Diese Auffassung findet im geltenden Kostenrecht indes keine klare Grundlage; Anträge von Wahlverteidigern auf Ersatz solcher Dolmetscherauslagen sind bei fehlendem Auslagenerstattungstitel im Blick darauf von der Rechtsprechung häufig abgelehnt worden 28 . Gelegentlich wurde jedoch die Möglichkeit gerichtlicher Bestellung eines Dolmetschers für notwendige Besprechungen mit dem Wahlverteidiger bejaht 29 . Soweit auch der letztgenannte Weg mangels Rechtsgrundlage verneint wurde, hat es die Rechtsprechung teilweise für erforderlich erachtet, daß im Blick auf das Recht des Beschuldigten, sich des Beistands eines Wahlverteidigers zu bedienen (§ 137 Abs. 1 Satz 1 StPO), welches verfassungsrechtlich verbürgt 30 , zudem auch in Art. 6 Abs. 3 c M R K normiert ist, diesem ein Pflichtverteidiger zu bestellen sei, sofern eine effektive Wahlverteidigung am Unvermögen des Beschuldigten scheitern müsse, für den dabei herzustellenden notwendigen Kontakt einen Dolmetscher zu bezahlen. Diese Auffassung vertritt namentlich das Kammergericht in ständiger Rechtsprechung 31 ; sie ist daher in Berlin geläufige Praxis 31 a. 25 26 27
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Vgl. Kleinknecht /Meyer, aaO, § 4 6 4 a Rdn. 1; Art. 6 MRK Rdn. 21 m. w. N. Vgl. O L G München, N J W 1982, S. 2739. Vgl. Vogler, aaO (Fn. 17), S. 643; Strafe, aaO (Fn. 2), S. 1 6 ; / Mayer, ZStW 93 (1981), S. 507, 515; Kühne in: Festschrift für Herbert Schmidt, 1981, S. 33, 38. Vgl. O L G Frankfurt, N J W 1981, S. 533; O L G Düsseldorf, StrV 1986, S. 491. A G Bremen StrV 1984, S. 113; O L G Stuttgart, StrV 1986, S. 491; L G Bremen, StrV 1987, S. 193. So nunmehr auch KG, StrV 1990, S. 171. Vgl. die Nachweise aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei Kleinknecht¡Meyer, aaO, § 137 Rdn. 2. KG, StrV 1985, S. 184; 1986, S. 239. Der 4. Strafsenat konnte sich dabei auf die entsprechende Kommentierung seines Vorsitzenden Karlheinz Meyer berufen — vgl. Kleinknechtj Meyer, aaO, § 140 Rdn. 32; Art. 6 MRK Rdn. 25 —, der sich insoweit der Auffassung seines Vorbearbeiters angeschlossen hatte — vgl. Kleinknecht, StPO, 35. Aufl., § 140 Rdn. 20; § 4 6 4 a Rdn. 17; Art. 6 M R K Rdn. 19 - . Vgl. auch L G Berlin, StrV 1984, S. 237; O L G München, StrV 1986, S. 422; L G Aachen, StrV 1989, S. 148. - Jetzt auch BayObLG, StrV 1990, S. 103. Der Argumentation des Kammergerichts dürfte nunmehr durch K G , StrV 1990, S. 171 (vgl. Fn. 29 a. E., 38 a) der Boden entzogen sein.
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Diese ausländer- und vor allem verteidigerfreundliche Verfahrensweise geht zwar auf Überlegungen zurück, die besonderes Bemühen um eine faire Verfahrensgestaltung erkennen lassen. Das Ergebnis vermag gleichwohl nicht zu überzeugen. 2. a) Nicht zu leugnen ist, daß eine Anwendung des § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO zugunsten eines Ausländers häufiger in Betracht kommt, als wenn ein gleich gelagerter Vorwurf einen Deutschen trifft 32 . Sie kann zum einen schon jenseits sprachbedingter Umstände wegen der Schwere der Tat im Blick auf mittelbare ausländerrechtliche Folgen geboten sein, ferner wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage bzw. mit Rücksicht auf mangelnde Verteidigungsfähigkeit angesichts herkunftsoder mentalitätsbedingter Schwierigkeiten bei der Erfassung relevanter Sachzusammenhänge oder rechtlicher Gegebenheiten. Unzureichende Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen, kann aber gerade auch auf mangelndes Sprachverständnis zurückgehen, beispielsweise wenn es auf das genaue inhaltliche Verständnis unterschiedlicher Aussagen ankommt, die ein Deutscher unmittelbar und damit leichter erfassen und bewerten kann als ein Ausländer, der dabei auf die Vermittlung durch den Dolmetscher angewiesen ist. b) Teilweise wird sogar gefordert, dem sprachunkundigen Beschuldigten stets einen Verteidiger zu bestellen 33 . Dies ist dem geltenden Verfahrensrecht nicht zu entnehmen. Rechtspolitisch mag sogar die weitergehende Forderung diskutabel — finanziell indes wohl schwer durchsetzbar — sein, die notwendige Verteidigung in Strafsachen generell vorzuschreiben. Ebenso rechtspolitisch diskutabel erscheint jene Forderung nach notwendiger Verteidigung für sprachunkundige Beschuldigte, unter Umständen nur auf deren Antrag in Nachbildung zu der insoweit aus der bisherigen Gesetzessystematik ausbrechenden Neuregelung des § 140 Abs. 2 Satz 2 StPO für taube oder stumme Beschuldigte 34 . Jene Norm bereits jetzt analog anzuwenden, verbietet sich hingegen; in Kenntnis der Problematik hat der Gesetzgeber lediglich bislang in den Katalog des § 140 Abs. 1 StPO (in Nr. 4) eingestellte Sonderfälle tiefer greifender Verständigungsschwierigkeiten einer Spezialregelung zugeführt. c) Danach bleiben nach geltendem Verfahrensrecht Fälle, in denen auch ein sprachunkundiger Beschuldigter nicht verteidigt werden muß. Eine 32
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Vgl. die Rechtsprechungs-Ubersicht von Schlothauer in: Bremer u. a., Strafverfahrensrecht, § 140 StPO Rdn. 4e. Lüderssen in: Löwe]Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 140 Rdn. 80, der dies sogar als einhellige Literaturauffassung vorstellt. Vgl. dazu lVertier, NStZ 1988, S. 346; Hamm, NJW 1988, S. 1820.
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präzise Grenzziehung mag im Bereich von Wertungsfragen, wie sie sich bei der Anwendung des § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO weitgehend stellen, schwierig sein. Einfache Lebenssachverhalte aus dem Bereich der Bagatellkriminalität fallen jedenfalls sicher darunter: Beim Anklagevorwurf eines Ladendiebstahls, eines Zechbetrugs oder einer Fundunterschlagung wird ein Ausländer, auch wenn er nicht deutsch versteht, in aller Regel keinen Verteidiger brauchen, sofern er nicht wegen massiver Vorbelastung mit gravierenden Rechtsfolgen zu rechnen hat oder soweit nicht im Einzelfall die Beweislage ungewöhnlich kompliziert ist. Bei einfacher Beweislage und fehlenden oder geringen Vorbelastungen ist die verfahrensrechtliche Lage auch im Bereich mittlerer Kriminalität — beispielsweise in durchschnittlich gelagerten Fällen besonders schweren Diebstahls — nicht anders zu beurteilen. Selbstverständlich kann sich der sprachunkundige — wie jeder andere deutschsprachige — Beschuldigte eines Wahlverteidigers bedienen. Dies tut er indes auf eigenes Kostenrisiko; die hierfür notwendigen Auslagen werden ihm regelmäßig nur im Falle des Freispruchs, eventuell auch bei Verfahrenseinstellung erstattet. Die Vorstellung, um das verfassungsrechtlich verbürgte Recht, sich verteidigen zu lassen, effektiv zu gewährleisten, dürfe der Beschuldigte nicht aus Kostengründen an der Verteidigerwahl gehindert werden, ist zu verwerfen. Sie zöge die umfassende Verpflichtung zur Verteidigerbestellung für arme Beschuldigte auf deren Antrag nach sich. Eine solche Verfahrensweise widerspräche der geltenden strafprozessualen Regelung, die auf die Bedürftigkeit des Beschuldigten bei der Frage notwendiger Verteidigung überhaupt nicht abstellt. Sie ginge auch über die ausdrückliche Einschränkung der Pflichtverteidigerbestellung in Art. 6 Abs. 3 c MRK („wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist") hinweg und ist verfassungsrechtlich nicht gefordert 35 . Wenn das Bundesverfassungsgericht teilweise die Armut des Beschuldigten als ein Kriterium für gebotene Verteidigerbestellung erwähnt hat 36 , ist hieraus nur abzulesen, daß das strafprozessuale System über das rechtsstaatlich mindestens Erforderliche — übrigens auch über die Anforderungen des Art. 6 Abs. 3 c MRK — hinausgeht, wenn die Beiordnung eines Pflichtverteidigers auch unabhängig von der Armut des Beschuldigten vorgeschrieben wird. Danach können Ursache und Ausmaß der Armut eines Beschuldigten oder besonders hohe Kosten für die Wahlverteidigung im konkreten Einzelfall — beispielsweise wegen einer notwendigen Anreise des Beschuldigten zu dem am entfernten Gerichtssitz ansässigen Verteidiger 35 36
Vgl. BVerfGE 68, 237, 255 f. BVerfGE 39, 238, 243; 46, 202, 210 f; 63, 380, 391; 68, 237, 255 f.
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— niemals Anlaß für eine sonst nicht gebotene Beiordnung eines Pflichtverteidigers sein. Im Blick auf hieraus ersichtliche soziale Härten mag es wiederum rechtspolitisch erwägenswert sein, über das geltende — dabei eventuell umzugestaltende — System der Pflichtverteidigung hinaus für Arme eine Verteidigerbestellung im Wege der Prozeßkostenhilfe zu eröffnen. Auf der Basis des geltenden Verfahrens rechts verlangt Art. 6 Abs. 3 e MRK gegenüber dem Risiko für sonstige Verteidigerkosten für damit zusammenhängende Dolmetscher kosten nichts Weitergehendes. Der Beschuldigte darf mit Dolmetscherkosten nicht belastet werden, soweit die Mitwirkung eines Dolmetschers zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens nötig ist. Zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens bedarf es hingegen der Mitwirkung eines Verteidigers nur innerhalb des — mit der Einschränkung in Art. 6 Abs. 3 c MRK korrespondierenden — Anwendungsbereichs des § 140 StPO. In diesen Fällen, in denen eine faire Verfahrensgestaltung die Zuziehung eines Dolmetschers zu Gesprächen mit dem notwendigen Verteidiger gebieten kann, darf der Beschuldigte nach Art. 6 Abs. 3 e MRK nicht mit dem Dolmetscherkostenrisiko belastet werden. Da ihm insoweit jedenfalls in den kritischen Verfahrensstadien (vgl. § 141 StPO) stets ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist — und zwar nach § 142 Abs. 1 Satz 3 StPO regelmäßig der Verteidiger seines Vertrauens —, kann er sich von diesem Risiko befreien, indem sich sein bisheriger Wahlverteidiger unter Niederlegung des Wahlmandats zum Pflichtverteidiger bestellen läßt, dessen Dolmetscherauslagen dann, wie dargelegt, letztlich von der Staatskasse zu tragen sind. Mit dieser strafprozessualen Verfahrensgestaltung ist jedenfalls den Mindestanforderungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention Genüge getan. Jenseits des Anwendungsbereichs des § 140 StPO wird auch ohne Mitwirkung eines Verteidigers den Geboten eines fairen Verfahrens Rechnung getragen. Zu dessen Gewährleistung bedarf es dann auch nicht der Mitwirkung eines Dolmetschers bei Vorbesprechungen mit dem nicht notwendigen Verteidiger. Damit besteht keine Notwendigkeit zur gerichtlichen Beiziehung eines Dolmetschers zu Verteidigergesprächen, erst recht nicht zur Bestellung eines Pflichtverteidigers zur Abwendung des Dolmetscherkostenrisikos 37 . d) Die Nichtbestellung eines Pflichtverteidigers in jenen Fällen entspricht zudem praktischen Anliegen und vermeidet grobe Ungerechtigkeiten. Die fraglichen Entscheidungen sind — bewußt überspitzt formuliert — bestimmt für einen sprachunkundigen Bettelmann, der sein 37
So im Ergebnis auch OLG Frankfurt, N J W 1981, S. 533; LG Koblenz, MDR 1987, S. 431.
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letztes Geld zusammengekratzt hat oder sich Geld borgen konnte, um einen Wahlverteidiger zu bezahlen, mit diesem aber die Verteidigung nicht besprechen kann, weil er jenseits dieser Mittel den dafür unerläßlichen Dolmetscher nicht bezahlen kann. Diesen Beschuldigten wird es in Wirklichkeit kaum geben; er erscheint eher wie ein konstruiertes Phantom. Es liegt auf der Hand, daß derjenige, der es ungeachtet seiner bedrängten finanziellen Verhältnisse für nötig hält und dem es auch gelingt, das Geld für einen Wahlverteidiger aufzutreiben, an darüber hinaus gehenden, regelmäßig beträchtlich geringeren Dolmetscherkosten nicht scheitern wird. Vielfach bedarf es zudem für eine hinreichende Verständigung mit dem Verteidiger noch nicht einmal eines Dolmetschers: Jenseits der — beispielsweise in Berlin in weiten Bereichen faktisch gegebenen — Möglichkeit eigener Fremdsprachenkenntnis als Verteidiger befähigter Rechtsanwälte oder von ihnen angestellter Hilfskräfte kommt gerade in den einfacheren Fällen nicht notwendiger Verteidigung oft eine Sprachmittlung durch eine deutsch sprechende Vertrauensperson des finanziell bedrängten Beschuldigten in Betracht. Tatsächlich führt die besprochene Praxis offensichtlich dazu, daß Rechtsanwälte die Verteidigung eines armen sprachunkundigen Beschuldigten ohne jede Kostenabsicherung übernehmen können; die Bezahlung eines Dolmetschers für Vorbereitungsgespräche mit dem Mandanten — eigentlicher Sinn der praktizierten Beiordnung — fallt nebenbei ab38. Hierin liegt eine offensichtlich ungerechte Besserstellung des sprachunkundigen Beschuldigten gegenüber wirtschaftlich gleich schlecht gestellten, aber deutsch verstehenden Beschuldigten. Besonders deutlich wird das in Strafverfahren, in denen ein sprachunkundiger Ausländer auf der Grundlage jener Praxis den Beistand eines Pflichtverteidigers genießt, während sein ebenfalls ausländischer Mitangeklagter, der aber in Deutschland zur Schule gegangen ist, nicht in diesen Genuß kommt, obgleich er wirtschaftlich möglicherweise noch weit schlechter gestellt ist. 3. a) Als Ergebnis bleibt festzuhalten: Eine Auslegung des geltenden Strafverfahrensrechts, wonach das Risiko für Dolmetscherkosten, die wegen des gebotenen Kontakts mit dem Verteidiger anfallen, dem sprachunkundigen Beschuldigten nur im Falle der Pflichtverteidigerbestellung genommen wird, jene aber auch bei armen Beschuldigten nur in den schwerer wiegenden, von § 140 StPO erfaßten Fällen erfolgt, ist verfassungsrechtlich unbedenklich und genügt den Mindestanforderungen der Menschenrechtskonvention. 38
Es wäre reizvoll zu prüfen, ob wegen Sprachunkundigkeit und A r m u t des Beschuldigten bestellte Pflichtverteidiger überhaupt in jedem Fall Dolmetscherauslagen mitberechnen.
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b) Eine abweichende Regelung, die den Intentionen der Menschenrechtskonvention großzügiger Rechnung trüge, wäre rechtspolitisch diskutabel: Danach könnte entweder jeder Strafverteidiger notwendige Auslagen für Dolmetscher aus der Staatskasse erstattet verlangen; eine solche Regelung — gegen die Kostenargumente sprechen dürften, wenngleich sie vielleicht nicht viel teurer wäre als die Praxis weitgehender Pflichtverteidigerbestellung in diesem Bereich — könnte in die Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte eingestellt werden. Oder jeder Verteidiger könnte für notwendige vorbereitende Gespräche mit seinem Mandanten — naheliegend regelmäßig erst nach Anklageerhebung — die gerichtlich angeordnete Zuziehung eines Dolmetschers auf Staatskosten verlangen; eine solche — wohl etwas weniger kostspielige — Regelung könnte in §185 GVG integriert oder der Vorschrift nachgestellt werden. Erachtet man — über das hier Vertretene hinausgehend — eine solche Verfahrensweise als von Art. 6 Abs. 3 e MRK gefordert, läge nahe zu erwägen, ob sich die letztgenannte Regelung aus einer Gesamtschau von Art. 6 Abs. 3 c und e MRK sowie § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG herauslesen ließe, mithin bereits dem geltenden Recht entnommen werden könnte38". c) Dies müßte erst recht gelten, wenn — anders als hier vertreten — für geboten gehalten wird, das Dolmetscherkostenrisiko beim Kontakt mit dem Verteidiger jedenfalls armen sprachunkundigen Beschuldigten abzunehmen. Die gerichtlich veranlaßte Beiziehung eines Dolmetschers für Kontaktgespräche mit dem Verteidiger scheitert nicht notwendig am Mangel entsprechender Verfahrensvorschriften; eine weite Auslegung der eben erwähnten Normen ließe sie zu. Dies gilt namentlich vor dem Hintergrund, daß auch die Veranlassung schriftlicher Übersetzungen im Strafverfahren ohne spezielle gesetzliche Grundlage erfolgt. Läßt sich aber die sprachliche Hilfe, wenn sie als unerläßlich angesehen wird, nach geltendem Verfahrensrecht auch gewähren, besteht für die — eine gleichheitswidrige Besserstellung gegenüber sprachkundigen Beschuldigten verursachende — Bestellung eines Pflichtverteidigers für sprachunkundige mittellose Beschuldigte keinesfalls Anlaß. IV. Schluß Eingedenk des witzigen, aber auch tiefsinnigen Bonmots „Alle Menschen sind Ausländer — fast überall", kann wohl jeder mit ein wenig
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So nunmehr in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung jedenfalls bei notwendiger Verteidigung K G , StrV 1990, S. 171.
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Phantasie und Sensibilität versuchen, sich in die Situation eines Menschen zu versetzen, der in einem Land, dessen Sprache er nicht versteht, einer Straftat beschuldigt wird und der unter der Drohung mehr oder weniger belastender Bestrafung — möglicherweise gar nach Untersuchungshaft — dort vor Gericht steht, ohne daß er der Verhandlung in der Gerichtssprache folgen könnte. Jeder kann versuchen nachzuempfinden, welche Hilfen er als Beschuldigter in einer solchen Lage erwarten oder vermissen würde. Wenn ein Strafrichter über die Vorgehensweise in einem Verfahren gegen einen sprachunkundigen Beschuldigten und über die Gewährung etwa notwendiger Hilfestellungen zur Überwindung der Sprachbarriere nachzudenken hat, sollte er solche Uberlegungen gelegentlich anstellen. Sie können ihm Entscheidungshilfe und Kontrolle für die Richtigkeit bei der Gesetzesauslegung gewonnener Ergebnisse sein.
Polizeiliche Ermittlungsarbeit und Legalitätsprinzip WILFRIED
BOTTKE
Ein Strafverfahren, das in allen seinen Stadien, also auch und gerade in seinem polizeilichen Ermittlungsabschnitt, die faktische Normgeltung strafbewehrter Verhaltensregeln im Interesse freiheitlich-friedlichen Zusammenlebens aller abzusichern sucht 1 , befördert die kollektive Bereitschaft, die Freiheiten anderer durch zukünftig straftatenfreies Verhalten zu respektieren, nur, wenn es seinerseits dezidiert rechtskonform und durchgängig grundfreiheitenachtend voranschreitet. Es war ein Hauptanliegen der Arbeit von Karlheinz Meyer, die Gebote rechtsstaatlichen Verfahrens zu präzisieren. Es sei daher gestattet, der chronologischen Abfolge polizeilichen Procedierens gehorchend, einige Konsequenzen rechtstreuen Agierens aus dem für die Polizei der Bundesrepublik Deutschland gültigen Legalitätsprinzip zu ziehen; dabei sei ausdrücklich eingeräumt, daß solche Deduktion themabedingt Argumentationsansätze ausblendet, die die Strafprozeßrechtsdogmatik andernorts bedenken muß.
A. Probleme der legalen Begründung eines polizeilich gehegten Anfangsverdachtes und individueller Verdachtszuschreibung In intrikate Problemfelder führt den Interpreten der §§ 163 I, 152 II StPO bereits die Frage, ob und auf welche Weise die Polizei jenseits der legalen Anzeigen Privater oder anderer behördlicher Organe sowie quasi zufalliger eigener Wahrnehmungen den Anfangsverdacht gewinnen kann, der ihr das „Recht zum ersten Angriff und zu strafprozessualen Zwangsbefugnissen — seien es eigene, seien es staatsanwaltliche2
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Vgl. Bottke, Grundlagen des polizeilichen Legalitätsprinzips, in: J u S 1990, S. 81 ff. Die Staatsanwaltschaft und alle Polizeibeamten haben folgende Zwangsbefugnisse: 1. das Recht zur vorläufigen Festnahme, §§ 127 II, 163 b I S. 2 S t P O ; 2. das Recht zur Vornahme erkennungsdienstlicher Maßnahmen, §§ 81 b, 163 b I S. 3 S t P O ; 3. das Recht zur Identifikationsfeststellung, § 163 b StPO.
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Wilfried Bottke
oder ermittlungsrichterliche 3 — eröffnet. Selbst soweit ein Verdacht bezüglich einer Straftat besteht, m u ß dies nicht — auch ansatzweise nicht — gegenüber demjenigen der Fall sein, der v o n Fahndungsmaßnahmen, insbesondere verdeckter oder computergestützter A r t , betroffen und n u r unter Umständen in einer Vielzahl überprüfter Personen erst dank des Einsatzes verdeckter oder computergestützter Mittel zum Tatverdächtig(t)en wird.
I. Grundrechtseingriffslose Gefahrenabwehr Unbestritten ist der Polizei mit dem Schutz der Allgemeinheit oder des einzelnen v o r Gefahren f ü r die öffentliche Sicherheit und O r d n u n g auch die Verbrechensverhütung anvertraut 4 . Soweit sich die informationelle polizeiliche A k t i v i t ä t als Verhütung einer zwar nicht unmittelbar bevorstehenden 5 , jedoch auf G r u n d bestimmter Umstände immerhin schon erkennbaren Gefahr, eine rechtswidrige Straftat w ü r d e begangen werden, begreifen läßt, ist anfangsverdachtsaufdeckende planmäßige
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Die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten haben darüber hinaus folgende Zwangsbefugnisse: 4. die Beschlagnahme nach § 98 I StPO und nach § 111 c I i. V. m. § 111 e I S. 2 StPO; 5. die Durchsuchung nach §§ 102, 103 I S. 1 i.V. m. 105 I S. 1 StPO; 6. die Anordnung körperlicher Untersuchungen nach §§ 81 a II, 81 c V StPO; 7. die Errichtung von Kontrollstellen nach § 111 II StPO; 8. die Schleppnetzfahndung nach § 163 d II S. 1 StPO. Allein der Staatsanwaltschaft stehen folgende Zwangsbefugnisse zu: 9. die Durchsuchung nach § 103 I S. 1 i.V. m. § 105 I S. 2 StPO; 10. die Durchsicht der Papiere des von der Durchsuchung Betroffenen nach § 110 I StPO; 11. die Anordnung der Überwachung und Aufnahme des Fernmeldeverkehrs auf Tonträger (§ 100 a StPO) nach § 100 b I S. 2 StPO. Ermittlungsrichterliche Zwangsbefugnisse sind: 1. Untersuchung anderer Personen als den Beschuldigten (§ 81 c III, V StPO), 2. die Anordnung der Beschlagnahme (§§ 94 ff, 98 StPO und für die Post §§ 99, 100 StPO), er kann auch 3. den Fernmeldeverkehr überwachen lassen (§§ 100 a, 100 b I StPO), 4. Durchsuchungen und Sicherstellungen vornehmen lassen (§§ 102, 103, 105 I, 111 e i l StPO), 5. Kontrollstellen errichten (§111 II StPO), 6. die Fahrerlaubnis vorläufig entziehen (§ 111 a I StPO), 7. Druckerzeugnisse beschlagnahmen (§§ 111 m, n StPO), 8. die Möglichkeit der Untersuchungshaft (§§ 112ff StPO), 9. die einstweilige Unterbringung (§ 126a StPO), 10. das vorläufige Berufsverbot nach § 132 a StPO und 11. sonstige Maßnahmen (§ 132 StPO). Vgl. nur Art. 2, 5 II Nr. 1 BayPAG i. d. F. vom 21. 07. 1983. Anders als konkrete polizeiliche Maßnahmen, wie etwa solche gegen Nichtstörer (Art. 12 I BayPAG), setzt die Aufgabe der Delikts Verhütung keine unmittelbar bevorstehende Gefahr voraus, vgl. Samper, Kommentar zum bayerischen Polizeiaufgabengesetz — PAG —, 17. Aufl., 1987, Art. 2 Rdn. 31. Kniesel, Neue Polizeigesetze contra StPO, in: ZRP 1987, S. 377 ff, S. 381.
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Vorfeldarbeit (z. B. durch Razzien) nach allgemeinen präventivpolizeilichen Grundsätzen bei Beachtung der sonstigen rechtlichen Schranken zulässig. Unbedenklich sind ferner Streifen sowie die gefahrgerechte Beobachtung erfahrungsgemäß Gewalttätigkeiten produzierender Gruppen, wie etwa von zu Fußballspielen anreisender alkoholisierter Fans. Denn es muß der Polizei durch ihren legalen Verhütungsauftrag gestattet sein, sich sachadäquat durch schlicht hoheitliche Maßnahmen auf die Abwehr von hic et nunc schon indizierten Gefahren vorzubereiten, ohne abwarten zu müssen, bis sich die Gefahrenlage zu akuter Realisierungsdrohung zuspitzt.
II. Grundrechtseingriffsrelevante Informationsgewinnung und -Verarbeitung Den „crucial point" erreichen Maßnahmen der Informationsbeschaffung und -speicherung, wenn sie hoheitliche Grundrechtseingriffe darstellen und daher grundsätzlich einer formellgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedürfen. Zwar gehören Datenbeschaffung und -speicherung über kriminalitätsgeneigte Personen und Gegebenheiten in Polizeiakten und Dateien „seit jeher zu selbstverständlichen polizeilichen Aktivitäten" 6 . Zum einen hat die technische Perfektionierung aber das Gewinnen und Horten von Repressiv- und Präventivdaten über kriminalitätsrelevante Umstände auf eine neue Qualitätsstufe gehoben; es macht z. B. einen Unterschied, ob Polizisten Karteikästen manuell führen und auswerten, ohne technische Hilfsmittel Personen beobachten oder ob sie auf die Hochtechnologie moderner Informationsgewinnung oder elektronischer Datensysteme eigener oder gar fremder Provenienz 7 zurückgreifen könn(t)en, die eine ständige perfekte Überwachung und Kontrolle der Bürger ermöglichen. Zum anderen steht seit dem Volkszählungsentscheid des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 15. 12. 19838 bindend fest, daß Art. 2 I GG dem einzelnen ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verbürgt, in dessen Schutz-
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BVerfGE 65, S. 1 ff. Zu nennen ist erstens das polizeiliche Informations- und Auskunftssystem (INPOL, vgl. PDV 100/1.6.3.4) mit dem BKA als Zentralstelle (vgl. § 2 BKAG). Dem BKAINPOL entsprechen Informations- und Auskunftssysteme der Länderpolizeien, vgl. dazu Eisenberg, Kriminologie, 2. Aufl., 1985, § 27 Rdn. 9. BVerfGE 65, S. 1 ff.
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bereich Hoheitsträger nur spezialgesetzlich legitimiert eingreifen dürfen; auch bei Applikation der Übergangs) udikatur des BVerfG 9 verkürzt der seit Ende 1983 verstrichene Zeitraum immer mehr die Spanne, in der grundrechtsrelevante Akte polizeilicher Informationsgewinnung auch oberhalb der Eingriffsschwelle noch auf Herkommen und Unerläßlichkeit als Säulen gewohnheitsrechtlicher Legitimation gestützt werden dürfen. /. Es muß daher selbst bei Gegebensein einer konkreten Gefahr oder eines Anfangstatverdachtes z. B. entschieden werden, ob polizeiliche Observation und Beobachtung bestimmter Personen, die als Kriminelle und individuelle „Tatverdachtszuständige" geargwöhnt werden, stets oder nur unter einschränkenden Kautelen — etwa danach differenzierend, ob die Observation verdeckt oder offen, über einen längeren oder kürzeren Zeitraum erfolgt, — als „Eingriff in die durch Art. 2 I GG garantierte Freiheit des Beobachteten zu qualifizieren ist und daher gesetzlicher Ermächtigung bedarf. Denn entgegen widerstreitender Ansicht genügt die gegebene „langdauernde Übung" der Observation „in Rechtsüberzeugen" 10 jedenfalls nicht, um jedwede Observation auf vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht 11 zu stützen und so das konstitutionelle rechtsstaatliche Postulat spezialgesetzlich verankerter Eingriffsbefugnisse zu unterlaufen. Wäre es anders, hätte z. B. auch die Judikatur des BVerfG zur Ulegimität hoheitlicher Grundrechtseingriffe im vorkonstitutionell anerkannten besonderen Gewaltverhältnis des Strafgefangenen 12 anders ausfallen müssen. a) Wer sich vom Schrifttum eine einhellige Antwort auf die „Eingriffsfrage" erhoffte, sähe sich sogleich enttäuscht. Teils wird die Observation 13 als „ständige, und im allgemeinen unauffällige, Rund-umdie-Uhr Beobachtung von Personen, Objekten oder Vorgängen" 14 sowie erst recht die weniger intensive, weil nicht ständige Beobachtung Vgl. BayVerfGH, DVB1 1986, S. 35 ff; BVerfGE 33, S. 1 ff, S. 12 f; 41, S. 251 ff, S. 267; 51, S. 268 ff, S. 290 ff. 10 Vgl. Krey, Strafverfahrensrecht, Band 1, 1988 Rdn. 488. " Nach h. M. sollen staatliche Einzelbefugnisse durch vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht möglich sein, vgl. BVerfGE 9, S. 338 ff, S. 343; 15, S. 226 ff, S. 233; 22, S. 114 ff, S. 128. Aus der Lit. vgl. Krey, Parallelitäten und Divergenzen zwischen strafrechtlichem und öffentlichrechtlichem Gesetzesvorbehalt, in: Festschr. f. Blau, 1985, S. 123 ff. 12 BVerfGE 33, S. 1 ff. 13 Nach den vom BKA herausgegebenen INPOL-Nachrichten waren im Oktober 1979 rund 5500 Personen von Polizeidienststellen des Bundes und der Länder zur Observation und Beobachtung ausgeschrieben, vgl. Riegel, Probleme der polizeilichen Beobachtung und Observation, in: JZ 1980, S. 224 ff. 14 Zitiert nach Krey, Strafverfahrensrecht, Band I, 1988, S. 192 Rdn. 482. 9
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als eingriffslose Maßnahme dem § 163 StPO subsumiert 15 . Teils werden Beobachtung und Observation als Grundrechtseingriffe eingestuft, die weder durch die präventive noch durch die repressive polizeiliche Aufgabenzuweisung gedeckt seien 16 . Teils wird nur die Observation als derzeit illegaler Grundrechtseingriff beurteilt 17 . b) Es sei nicht bestritten, daß das Illegalitätsverdikt mit der Observation und Beobachtung ein klassisches polizeiliches Mittel der Tatverdächtigenaufdeckung bei gegebenem Tatverdacht aus dem Arsenal polizeilicher Taktiken eliminieren würde, das wegen seiner Unverzichtbarkeit alsbald, sofern sich die Rechtsprechung zu solch rigider Rechtsstaatlichkeit durchränge, von der Legislative relegitimiert werden würde. Und eingeräumt sei, daß weder Beobachtung noch Observation das Recht auf informationelle Selbstbestimmung derart tangieren, wie das computergestützte Horten von Daten, das das Persönlichkeitsprofil des Begroffenen umfassend zeichnen läßt. Gleichwohl sei darauf insistiert, daß es de constitutione lata auch in der Bundesrepublik Deutschland über Art. 2 GG ein Recht, „alleine gelassen zu werden", gibt; das US-amerikanische „right to privacy", das ansonsten weniger extensiv als die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 I GG interpretiert wird, schließt grundsätzlich das „right to be left alone" ein 18 . Wer dies zu Ende denkt, muß zumindest die verdeckte oder offene Observation jedweden Bürgers, sei er „Schon-Tatverdächtigter", sei er „Noch-Tatunverdächtigter", bereits jenseits einer Datenaufzeichnung als Grundrechtseingriff einschätzen und eine Norm einklagen, die der Polizei weiterhin den Einsatz dieses probaten Ermittlungsmittels in einem bereits auf Grund gegebenen Tatverdachts gegenüber Unbekannt anhängigen Verfahren ermöglicht. Erst recht ist diese Forderung zu stellen, wenn und soweit Beobachtung und Observation deliktsprophylaktisch aus zwingenden präventivpolizeilichen Gründen oder zur Aufdeckung anfangsverdachtsloser, jedoch vermuteter Taten außerhalb anhängiger Ermittlungsverfahren eingesetzt werden sollen. Denn zur Aufdeckung oder Verhütung geargwöhnter oder befürchteter Taten 15
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So z. B. Meyer-GossrnrlLön/ejRosenberg, StPO, 23. Aufl., 1978, § 163 Rdn. 17. Vgl. auch Rebmann, Der Einsatz verdeckt ermittelnder Polizeibeamter im Bereich der Strafverfolgung, in: NJW 1985, S. 1 ff, S. 3 f. Vgl. aber nunmehr Rieß/Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl., 1988, § 163 Rdn. 50 ff. Vgl. z. B. Baumann, Forum: Wie reformbedürftig ist die Strafprozeßordnung, in: JuS 1987, S. 681 ff, S. 684. Schenke, Polizei und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 1986, S. 143 ff, Rdn. 70; Kable, Polizeiliche Aufklärungs- und Observationsmaßnahmen, Jur. Diss. Bielefeld 1983, S. 30. Vgl. zum „right to be left alone" als Teil des „right to privacy" Fellmann, The Defendant's Rights Today, Madison/Wisconsin 1976, S. 254 m. w. N.
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jenseits eines bereits gegebenen Anfangs verdachtes scheiden strafprozessuale Kompetenznormen von vorneherein aus. Und schließlich wäre der Einsatz moderner Observationsmittel wie etwa von Richtmikrophonen, Infrarotkameras, Funkpeilgeräten, „Wanzen" und Bild- sowie Tonaufzeichnungsgeräten auch jenseits von Eingriffen in spezielle Grundrechtsbereiche wie z. B. Art. 10, 13 GG auf eine gesetzliche Basis zu stellen. Nota bene: Über die verfassungsgerechtliche Legitimität solch weitgespannter Eingriffsbefugnisse (auch präventivpolizeilicher Art!) im übrigen ist damit nichts gesagt. c) Der Referentenentwurf aus dem Bundesministerium der Justiz für ein Gesetz zu Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensgesetzes — Strafverfahrensänderungsgesetz 1988 (StVÄG-E 1988)19 — versucht in seinen §§ 163 e —163 i Beobachtung, Observation und die damit verbundenen weiteren Maßnahmen auf eine rechtsstaatlichen Erfordernissen genügende gesetzliche Grundlage zu stellen. Nach § 163e kann der Beschuldigte zur Beobachtung einer grenz oder sonstigen polizeilichen Kontrolle ausgeschrieben werden, um die Meldung von (beispielhaft erläuterten) „Umstände(n) des Antreffens" zu ermöglichen. Voraussetzung hierfür sind der auf bestimmte Tatsachen gegründete Verdacht einer erheblichen Straftat sowie die Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, vgl. §§ 163 e, 163 h. Die Maßnahmen sind von dem Richter anzuordnen. Bei Gefahr im Verzug kann die Staatsanwaltschaft Maßnahmen nach § 163 e anordnen (§ 163 i I S. 1), wobei die staatsanwaltschaftliche Maßnahme innerhalb von drei Tagen vom Richter zu bestätigen ist, um gültig zu bleiben (§ 163 i I S. 3 u. 4). Nach § 163 f i.V. m. § 163 i I S. 1 können Richter und bei Gefahr im Verzug auch die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten die Observation des Beschuldigten anordnen, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht einer erheblichen Straftat begründen; einer solchen Anordnung bedarf nur eine Observation, die länger als 24 Stunden dauert oder an mehr als zwei Tagen stattfinden soll (§ 163 f I Nr. 1 u. 2). Gemäß § 163 g dürfen technische Observationsmittel verwendet sowie z. B. Lichtbilder und Bildaufzeichnungen hergestellt werden, ohne daß der Verdacht einer erheblichen Straftat auf bestimmte 19
Abgedruckt mit Auszügen aus der Begründung in: StV 1989, S. 172 ff. Zur Kritik vgl. Crummenerl, Sicherheitsstaat und Strafverteidigung, in: StV 1989, S. 131 ff; Lücke, Zum S t V Ä G '88: Konzeptionslosigkeit als Programm?, in: DRiZ 1989, S. 306; Sträte, Stellungnahme des Strafrechtsausschusses des DAV zum S t V Ä G 1988, in: StV 1989, S. 406 ff; Stellungnahme des Deutschen Richterbundes (DRB) in: DRiZ 1989, S. 305 ff, S. 352 f, S. 396 f; Stellungsnahme der Arbeitsgruppe 2 vom 13. Strafverteidigertag in Köln vom 2 1 . - 2 3 . 4. 1989, in: StV 1989, S. 274ff.
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Delikte verengt wäre. Lediglich das Abhören sowie das Aufzeichnen des nichtöffentlich besprochenen Wortes sind an den Verdacht einer Katalogtat des § 100 a StPO gebunden (§ 163 g I). Besonders geregelt ist das in einer Wohnung nichtöffentlich gesprochene Wort, das nur abgehört und aufgezeichnet werden darf, soweit es im Beisein eines nicht offen ermittelnden Beamten geäußert wird (§ 163 g II S. 1). Nichtrichterlich angeordnete Maßnahmen sind an die innerhalb von drei Tagen zu erfolgende Bestätigung des Richters gebunden (§ 163 i I S. 3). Gegen die — regelungstechnisch komplizierten — Vorschriften des StVÄG-E 1988 sind gravierende Monita zu erheben. Um nur einige zu nennen: Was eine Straftat von erheblicher Bedeutung ist, bleibt der Abwägung im Einzelfall vorbehalten, ohne daß das Gesetz den Kreis der fallrelevanten Umstände definieren würde 20 . Desweiteren ist die keiner richterlichen Bestätigung bedürftige Kompetenz der Polizei nach § 163 g I Nr. 1 abzulehnen; sie ist in einem Ermittlungsverfahren, das unter der durchgängigen Rechtskontrolle der Staatsanwaltschaft steht, ein Fremdkörper. Der in § 163 e II S. 1 zugelassene Lauschangriff auf das in einer privaten Wohnung nichtöffentlich gesprochene Wort ist durch die bloße Anwesenheit eines verdeckten Ermittlers nicht hinreichend legitimiert 21 . Die Benachrichtigung des Betroffenen gemäß § 163 i IV ist wegen der typischerweise fehlenden rechtsbehelflichen Gegenwehrchance des Betroffenen durch das explizite Einräumen nachträglicher Rechtskontrolle (Rechtswidrigkeitsfeststellung) zu ergänzen.
2. a) Wie die polizeiliche Informationserhebung durch Observation, so ist trotz der neuen Gesetzesvorschriften zur ZEVIS-Anfrage (beim Kraftfahrzeugbundesamt mit unmittelbarem Abrufrecht im automatisierten Verfahren nach § 36 StVG 22 ) sowie zur sogenannten Reusenoder Schleppnetzfahndung (nach § 163 d StPO 23 mit der Möglichkeit, bei Personenkontrollen an der Grenze oder bei Kontrollstellen nach 20
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Die in § 163 f genannten zeitlichen Grenzen tragen nicht der Einsicht Rechnung, daß jede Observation (etwa auch die nur für einen Tag in Aussicht genommene) einen spezialgesetzlicher Legitimation bedürftigen Grundrechtseingriff beinhaltet; jede intendierte Lebensüberwachung belastet den Bürger in seiner Grundfreiheit. Intendierte Lebensüberwachung ist etwas anderes als das bloß zufallige Beobachtetwerden. Die Kritik des Deutschen Richterbundes ist abgedruckt in: DRiZ 1989, S. 305 ff, S. 352 f, S. 396 f. Unter ZEVIS-Anfrage versteht man die Abrufung von Fahrzeug- und Halterdaten im automatisierten Verfahren (§ 36 StVG), vgl. dazu Lütkes/Meier/ WagnerjEmmerich, Straßenverkehrsrecht, Stand Oktober 1987, zu § 36 StVG; Rüti/Berr/Berz, Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., 1988, zu § 36 StVG. Zu § 163 d StPO vgl. Baumann, Einige Gedanken zu § 163 d StPO und seinem Umfeld, in: StV 1986, S. 494 ff; Rogall, Frontaleingriff auf die Bürgerrechte oder notwendige Strafverfolgungsmaßnahme?, in: NStZ 1986, S. 385 ff.
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§ 1 1 1 StPO anfallende Daten von Personen mit bestimmten Suchkriterien, vorübergehend zu speichern und zu überprüfen) die computergestütete Ermittlungsarbeit der Polizei bislang überwiegend gesetzlich ungeregelt geblieben. Soweit derartige Fahndungsmittel — wie etwa die sogenannte Rasterfahndung durch vergleichende Überprüfung bestimmter privater oder öffentlicher Datensammlungen nach vorher festgelegten kriminalistischen Merkmalen 24 — in das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen (etwa der datenverglichenen Kunden eines Elektrizitätswerkes und der in einer Gemeinde Gemeldeten) eingreifen, reichen weder ein etwaig gegebener Anfangsverdacht i. S. der §§ 163 I, 152 II, 160 I StPO noch eine Gefahr i. S. präventivpolizeilicher Aufgabenzuweisung hin, um diesen Eingriff zu legalisieren. § 94 StPO versagt selbst bei gegebenem Tatanfangsverdacht und Gefahr im Verzuge als polizeiliche Kompetenznorm, weil den verglichenen Inhabern personenbezogener Daten der Tatverdacht (etwa der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung) trotz der abstrakten Beweisbedeutung nicht individuell-konkret askribiert werden kann 25 . Auch §§ 103 und 110 StPO genügen nicht den durch das BVerfG im Volkszählungsurteil für Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsrecht genannten Anforderungen 26 . Das maschinelle Abgleichen der in verschiedenen Dateien gespeicherten Daten, die sog. Rasterfahndung, soll nach dem Referentenentwurf 1988 (StVÄG 1988) in §§ 98 a—c geregelt werden. Nach § 98 c können Strafverfolgungsbehörden 27 sämtliche zu Strafverfolgungszwecken gespeicherte Daten miteinander ohne Einschränkung abgleichen, wenn die Maßnahme die Aufklärung der Straftat aufgrund tatsächlicher Umstände zu fördern scheint. § 98 a ermöglicht darüber hinaus gegenüber Dritten — sowohl Behörden als auch Privaten — die Anordnung der Übermittlung von Daten und die Abgleichung dieser Daten untereinander und mit Daten, die zur Strafverfolgung erhoben worden waren. Den Gefahren dieser Erweiterung der Kompetenz des § 98 c sucht der Entwurf in zweierlei Weise Rechnung zu tragen: Erstens dürfen strafverfolgungsfremde Daten nur für die in § 98 a I Nr. 1 aufgelisteten Katalogtaten angefordert und abgeglichen werden. Zweitens darf die Maßnahme nur vom Richter — oder bei Gefahr im Verzuge von der Staatsanwaltschaft, deren Anordnung innerhalb von 3 Tagen richterlicher Bestätigung bedarf, — angeordnet werden. Entgegen der Meinung des Deutschen Richterbundes 28 , wonach § 98 a zu eng gefaßt sei, geht § 98 a zu weit: Dritte haben selbst solche Daten, die für die Strafverfolgung
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Zur Rasterfahndung vgl. Riegel, Rechtsproblem der Rasterfahndung, in: ZRP 1980, S. 300 ff; Rogall, Moderne Fahndungsmethoden im Lichte gewandelten Grundrechtsverständnisses, in: GA 1985, S. 1 ff; Simon/Traeger, Rasterfahndung, 1982, Simon/ Traeger, Grenzen kriminalpolizeilicher Rasterfahndung, in: JZ 1982, S. 140 ff. Vgl. RudolpbijSK, StPO, September 1986, Rdn. 51 vor § 94 StPO. Vgl. RudolpbijSK, StPO, September 1986, Rdn. 51 vor § 94 StPO m. w. Nachw. So der im Entwurf mehrfach benutzte Begriff für Polizei und Staatsanwaltschaft, vgl. §§ 481, 482 des Entwurfes; vgl. auch § 163 d I 3 geltende StPO. Vgl. DRiZ 1989, S. 306 ff, S. 308.
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Unwesentliches enthalten können, bereitzustellen. Dies gilt dem Wortlaut nach selbst dann, wenn Private Daten bereitstellen, aus denen sich strafbares Verhalten des Privaten selbst ergeben könnte. § 98 a III S. 2 schließt Risiken für die Selbstbezichtigungsfreiheit nur durch ein Quasi-Verwertungsverbot aus. Darüber hinaus ist § 98 c präzisierungsbedürftig; es sollte klargestellt werden, daß präventiv-polizeiliche Daten keinen „Funktionswandel" erleiden und nur Katalogtaten abgeglichen werden dürfen.
b) Darüber hinaus sind Anlage und Benützung polizeieigener Dateien auf eine rechtsstaatlichen Anforderungen genügende Grundlage zu stellen. Verwaltungsrichtlinien wie die vom Bundesministerium des Innern 1981 für das BKA erlassenen Dateien-Richtlinien29 sowie die parallelen Richtlinien für die Führung kriminalpolizeilicher personenbezogener Sammlungen 30 entbehren gesetzlicher Dignität und vermögen daher nicht, die Fahndungsarbeit mit polizeilichen Informationssystemen wie INPOL und dessen Untergliederungen31 von entgegenstehenden rechtlichen Vorgaben zu befreien; so ist z. B. die nach KpsRi 1.2. mögliche und sinnvolle Anlage von Doppelakten bei Fahndungsersuchen der Staatsanwaltschaft bei polizeilicher „Teil-Aufbewahrung" nach Erledigung des Ersuchens dem Monitum ausgesetzt, sie stehe in Widerspruch zu § 163 II S. 1 StPO, der bei buchstabenstarrer, die staatsanwaltliche Sachleitungsbefugnis wahrender Interpretation mit der Ubersendung aller Unterlagen über Strafverfolgungsdaten an die Staatsanwaltschaft auch ein polizeiliches Zurückbehaltungsrecht an erstellten Duplikaten und deren polizeiautonome Verwaltung als Repressiv- und Präventivdaten excludiere32. Auch hier versucht der StVÄG-E 1988 Rechtssicherheit zu schaffen. Durch die sog. „Öffnungsklausel" des § 478 sollen von der Polizei zum Zwecke der Strafverfolgung erhobene Daten für präventive Aufgaben speicherungs- und verwendungsfähig gemacht werden. Dies ist nicht bedenkenfrei. Zwar würde die bisherige, in den Kps-Richtlinien festgelegte polizeiliche Praxis, zum Zwecke der Strafverfolgung erhobene Daten anschließend für die Gefahrenabwehr zu speichern, auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Die Staatsanwaltschaft verlöre aber ihre Hoheit über die Daten 33 ;
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GMB1 1981, S. 114 ff. GMB1 1981, S. 120 ff. Vgl. dazu näher Merten, Das Abrufrecht der Staatsanwaltschaft aus polizeilichen Dateien, in: N S t Z 1987, S. 11 ff; Rebmann\Schoreit, Elektronische Datenverarbeitung (EDV) in Strafverfolgungsangelegenheiten und Datenschutz, in: N S t Z 1984, S. 2f; Rogall, Moderne Fahndungsmethoden im Lichte gewandelten Grundrechtsverständnisses, in: GA 1985, S. 1 ff; Wiesel, Befriedigend, aber manches fehlt noch, in: Kriminalistik 1986, S. 587 ff; Wolter, Heimliche und automatisierte Informationseingriffe wider Datengrundrechtsschutz, in: GA 1988, S. 49 ff, S. 56 m. w. Nachw. Wolter, Heimliche und automatisierte Informationseingriffe wider Datengrundrechtsschutz, in: GA 1988, S. 49 ff, S. 56 m. Nachw.; vgl. BayVerfGH, DVB1 1986, S. 35 ff. Der DRB weist im übrigen zutreffend darauf hin, daß es sich um keine „Umwidmung" eigener Polizeidaten handelt, sondern um eine Datenübermittlung von der Staatsanwaltschaft an die Polizei — obwohl die Daten schon in Polizeibesitz sind —, die sich
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Wilfried Bottke sie hätte keinen Einfluß auf deren Vernichtung. Eine gesetzliche Einschränkung der Speicherung nach Art der Straftat und eine zeitliche Begrenzung für die Speicherung wäre vorzuziehen.
c) Allgemein formuliert: Jede polizeiliche Erhebung personenbezogener Daten, die nicht mit dem Wissen und Einverständnis des Betroffenen vor oder nach Begründung konkreten Tatanfangsverdachtes erfolgt, tangiert das informationelle Selbstbestimmungsrecht und ist daher zukünftig innerhalb angemessener Zeit auf eine formalgesetzliche Grundlage zu stellen. Weder bloße Aufgabenzuweisungsregeln noch § 34 StGB 34 geschweige denn Topoi wie die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege oder die Unerläßlichkeit, namentlich organisierte Kriminalität unter Einsatz aller modernen Hilfsmittel und verdeckter Fahndungsmethoden zu bekämpfen, ersetzen auch in ihrer Addition nicht die erforderliche spezialgesetzliche Befugnisnorm, mag solches Verdikt auch robuster Routine zuwiderlaufen; der Hinweis, daß auch im übrigen zukünftige Gesetze verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen haben, kann hier nur hinzugefügt, nicht jedoch ausgeführt werden 35 .
3. Vertrauter als die computergestützte Polizeiarbeit ist der Exegese materiellen und formellen Strafrechts die verdeckte polizeiliche Informationsbeschaffung durch den Einsatz von „undercover agents". a) Die Dogmatik materiellen Strafrechts hat diesen Einsatz seit altersher vornehmlich im Hinblick auf die Strafbarkeit eines agent provocateur thematisiert, der einen Kriminalitätsgeneigten zu einer konkreten, strafprozessual leichten Beweises zugänglichen Tat anstiftet oder sich in sonstiger Weise an dessen Tat fördernd beteiligt 36 . Die Lehre formellen Strafrechts hat die polizeiliche Informationserhebung durch Lockspitzeleinsatz zunächst vorwiegend unter dem Aspekt diskutiert, ob und wie die einem Vertrauensmann der Polizei durch den undercover agent übermittelten Erkenntnisse in die Hauptverhandlung eingebracht werden können 37 , zunehmend aber auch bereits den Einsatz von un-
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auch äußerlich manifestieren müßte, z. B. durch das Speichern in anderen, getrennten Dateien. § 34 StGB ist keine Spezialbefugnisnorm und taugt schon deshalb nicht, hoheitlichen Organen in Konfliktsituationen, die erwartbar und daher spezial-gesetzlich regelungsfahig sind, Eingriffsrechte zu vermitteln, vgl. Bottke, Wege der Strafrechtsdogmatik, in: JA 1980, S. 93 ff, S. 95 in Besprechung von Schaff stein, Die strafrechtlichen Notrechte des Staates, in: Gedächtnisschr. f. Schröder, 1978, S. 97 ff. Vgl. dazu Wolter, Heimliche und automatisierte Informationseingriffe wider Datengrundrechtsschutz, in: GA 1988, S. 49 ff. Vgl. dazu statt aller RoxinjLK, StPO, 24. Aufl., § 31 Rdn. 50. Zur V-Mann-Problematik vgl. BerPolizeilicher agent provocateur und Tatverfolgung, in: JuS 1982, S. 416 ff; Bruns, „Widerspruchsvolles" Verhalten des Staates als
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dercover agents kritisiert38. Die Rechtsprechung sieht grundsätzlich trotz einigen Schwankens weder den Einsatz polizeilicher Lockspitzel 39 noch die Verwertung gewonnener Informationen 40 als unzulässig an. Durch die schon angegraute Diskussion samt ihren vielfach hin und her gewendeten Topoi schlägt die hier vertretene Interpretation des polizeilichen Legalitätsprinzips eine noch nicht begangene Argumentationsspur: Deutet man, wie erforderlich, die §§ 163 I, 160 I, 152 II StPO konsequent auch als Kompetenzregeln, die die Polizei nur bei schon gegebenem Tatanfangsverdacht zu repressivem Einschreiten befugen, ist ihr die verdachtsstiftende Deliktsprovokation schon aus strafprozeßrechtlichen Gründen verwehrt. Denn die genannten Normen setzen einen nicht von der Polizei erst produzierten, sondern in Gestalt konkreter Umstände gefundenen Anfangsverdacht, es habe sich eine Straftat ereignet, voraus; sie untersagen damit der Polizei, den Verdacht, der ihre Befugnis zu repressiver Straftataufklärung erst öffnet, tatstimulierend oder -fördernd zu manipulieren. Präventivpolizeiliche Aufgaben und Befugnisse unterspülen diese Kompetenzschranke nicht. Denn jede Tatprovokation, wie z. B. die Frage eines Lockspitzels an einen mutmaßlichen Rauschgiftkonsumenten, ob er „ S t o f f ankaufen wolle, verstrickt den Adressaten staatlicher Tatstimulierung nicht nur in Tatunrecht, in das einzuwilligen bei Rechtsgütern der Allgemeinheit, wie der staatlichen Drogenverkehrshoheit,
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neuartiges Strafverfolgungsverbot und Verfahrenshindernis, insbesondere beim tatprovozierenden Einsatz polizeilicher Lockspitzel, in: NStZ 1983, S. 49 ff; Dencker, Die Zulässigkeit staatlich gesteuerter Deliktsbeteiligung, in: Festschr. f. Dünnebier, 1982, S. 227 ff; Fran^heim, Der Einsatz von Agents provocateur zur Ermittlung von Straftätern, in: N J W 1979, S. 2014ff; Luderssen, Die V-Leute-Problematik ... oder: Zynismus, Borniertheit oder „Sachzwang"?, in: Jura 1985, S. 113 ff; Lüderssen (Hrsg.), V-Leute, Die Falle im Rechtsstaat, 1985; K. Meyer, Anmerkung zu BGH, Urteil vom 23. 5. 1984 — Tatprovozierendes Verhalten polizeilicher Lockspitzel, in: NStZ 1985, S. 134 ff; Rebmann, Der Einsatz verdeckt ermittelnder Polizeibeamter im Bereich der Strafverfolgung, in: N J W 1985, S. 1 ff; Regall, Strafprozessuale Grundlagen und legislative Probleme des Einsatzes verdeckter Ermittler im Strafverfahren, in: J Z 1987, S. 847 ff; Schlegel, Der verführte Dritte, 1985; Schumann, Verfahrenshindernis bei Einsatz von V-Leuten als agents provocateur?, in: JZ 1986, S. 66 ff; Sieg, Die staatlich provozierte Straftat, in: StrV 1981, S. 636 ff; Voller, Der Staat als Urheber von Straftaten: zur Berechtigung des Einsatzes von Lockspitzeln und zur Verwendbarkeit der durch sie geschaffenen Beweise, 1983. Vgl. statt aller zum Einsatz von Lockspitzeln Voller, Der Staat als Urheber von Straftaten: zur Berechtigung des Einsatzes von Lockspitzeln und zur Verwendbarkeit der durch sie geschaffenen Beweise, 1983. Vgl. BGHSt. - GrS - 33, S. 356 ff. Eine knappe Darstellung der jüngsten Rechtssprechungsgeschichte bei Roxin, Strafverfahrensrecht, 21. Aufl., 1989, § 21 B III 4. BGHSt - GrS - 32, S. 115 ff.
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in der Dispositionsmacht des Staates liegen mag. In der Verstrickung liegt auch ein hoheitlicher Eingriff in das Recht jedes Menschen auf straftatenfreie Sozialisation; wenn schon jeder Strafgefangene ein grundrechtlich durch Art. 2 I G G geschütztes Sozialisationsrecht hat, das ihn vor dissozialisierender massenmedialer Verwertung seines kriminellen Werdeganges bewahrt 41 , so hat auch jeder in Freiheit Befindliche kraft Art. 2 I G G ein Grundrecht auf ungestörte Sozialisation, das ihm Freiheit vor ihn dissozialisierender Tatverstrickung durch staatliche Organe verbürgt. Sicher, man darf annehmen, daß staatliche „Verbrechensprophylaxe durch Verbrechensprovokation" 42 als ultima ratio polizeilicher Verbrechensbekämpfung regelmäßig nur gegenüber Personen geübt wird, denen kriminelle Tendenzen bescheinigbar sind. Allein, auch diesem Personenkreis stehen die Unschuldsmaxime des Art. 5 II EuMRK 4 3 , 14 II IPbpR 4 4 sowie Art. 2 1 G G zur Seite - ohne Rücksicht darauf, ob sie „einschlägig" polizeilich vorbekannt sind oder nicht. Akzeptiert man die hier entwickelte These, Tatverdachtschaffung durch polizeiliche Tatprovokation greife wegen ihres dissozialisierenden, den Status eines Tatverdächtigten schaffenden Effektes in den Schutzbereich des Art. 2 I G G , in das Recht auf möglichst ungestörte Sozialisation, ein, so bedarf der tatstimulierende polizeiliche Lockspitzeleinsatz — unbeschadet anderweitiger gravierender Bedenken — zumindest einer spezialgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, die im geltenden Recht mit gutem Grund nicht zu finden ist. Es mag sein, daß solche Deduktion von allzu großer Blauäugigkeit durchwirkt scheint. Die hier vertretene Leseweise der §§ 163 I, 152 II, 160 I StPO und des Art. 2 I G G darf aber darauf hinweisen, daß der tatverdachtsstiftende Einsatz polizeilicher agent provocateur noch die Eingriffsschwere verdeckter und computergestützter Fahndungsarbeit übersteigt. Denn während diese allenfalls Anfangsverdachte aufdeckt und individuelle Tatverdachtszuschreibungen ermöglicht, konstituiert jene mit der Auslösung einer konkreten Tat erst den Tatverdacht. Wer solches Tun in bestimmten Kriminalitätsbereichen, etwa der Betäu-
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BVerfGE 35, S. 202 ff. Vgl. Lüderssen, Die V-Leute-Problematik ... oder: Zynismus, Borniertheit oder „Sachzwang"?, in: Jura 1985, S. 113 ff, in einprägsamer Formulierung. E u M R K = Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II S. 686, S. 953). Eine Ratifikationstabelle findet sich bei FroweinjPeukert, EMRK-Kommentar, 1985, Anhang C, S. 580 ff. IPbpR = Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl. 1973 II S. 1534). Zu den weiteren Vertragsparteien s. BGBl, Fundstellennachweis B, abgeschlossen am 31. Dezember jedes Jahres.
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bungsmitteldelinquenz, für notwendig hält, sollte sich auch zu der legislatorischen Kundgabe solchen Dafürhaltens bekennen. b) Es ist zu begrüßen, daß der StVÄG-E 1988 in seinem § 163 k den Einsatz verdeckter Ermittler durchgängig an die Existenz eines bereits gegebenen Straftatverdachtes von erheblichem Gewicht (vgl. im einzelnen § 163 k I S. 1 Nr. 1 - 4 , S. 2 sowie § 163 k II) bindet; jegliche Tatverdachtsmanipulation und damit erst recht jegliche Tatprovokation ist verdeckten Ermittlern verwehrt. Ferner ist beifallswürdig, daß der Entwurf an der Illegalität und Illegitimität straftatbestandsmäßigen Verhaltens auch in Form etwaig erbetener „Vertrauensbeweise" festhält; lediglich soweit es für den Aufbau oder zur Aufrechterhaltung der dem verdeckten Ermittler verliehenen Legende (§ 1631 I) unerläßlich ist, gestattet § 1631 II urkundendeliktische Handlungen (vgl. § 1631 II S. 1 u. 2). Sodann verdient entschiedene Zustimmung, daß als verdeckte Ermittler gemäß §1631 I nur Beamte des Polizeidienstes eingesetzt werden dürfen; die geargwöhnte Praxis, namentlich im Felde der Betäubungsmittelkriminalität würden Drogenkonsumenten und Kleindealer zu verdeckten Ermittlungsarbeiten herangezogen, hätte bei dieser Interpretation des § 16311 i. V. m. § 163 k keine Grundlage. Und schließlich ist entgegen dem Deutschen Richterbund das Bemühen des Entwurfes zu unterstützen, den Einsatz von verdeckten Ermittlern an die vorherige Zustimmung der Staatsanwaltschaft (§ 163 k IV S. 1) bzw. des Richters (§ 163 k V S. 1) zu binden und den bei Gefahr im Verzug nichtstaatsanwaltschaftlich bzw. nichtrichterlich angeordneten Einsatz der notwendigen Zustimmung binnen drei Tagen seitens der Staatsanwaltschaft bzw. des Richters zu unterwerfen (§ 163 k IV S. 2, V S. 2). Denn verdeckte Ermittlertätigkeit ist typischerweise mit einer durch die Nutzung der Legende verknüpften Täuschung (§ 163 m S. 1) sowie der Gefahr des Abgleitens in Subkultur verknüpft; beidem ist durch strikte staatsanwaltschaftliche bzw. richterliche Rechtskontrolle zu steuern, zumal nur so das Verbot der Deliktsbegehung (vgl. auch § 163 m) im Hinblick auf seine Erfüllung überwachbar wird. Den Preis, daß so manche Deliktsfelder nicht aufklärbar werden, zahlt ein materieller Rechtsstaat bereitwillig. Freilich ist auch mancherlei Kritik angebracht. So ist zu fordern, daß die in § 163 k I S. 1 Nr. 1—4 genannten Kriminalitätsbereiche nicht nur durch das Erfordernis des Verdachtes einer Straftat von erheblicher Bedeutung eingeengt werden. Allzu diffus ist trotz der Voraussetzung bestimmter Tatsachen auch die in § 163 k I S. 2 eröffnete, deliktsfeldsprengende Möglichkeit, bei Gefahr der Wiederholung eines Verbrechens verdeckte Ermittler einzusetzen, zumal so das Tor zur präventiven Tätigkeit geöffnet wird; nicht minder vage ist das in § 163 k II genannte
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Merkmal der „besonderen Bedeutung der Tat". Die Erlaubnis, in einem Strafverfahren die wahre Identität des verdeckten Ermittlers selbst gegenüber der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht geheimzuhalten (§ 1631 III S. 2), erschwert die sachgerechte Beweiswürdigung erlangter Informationen in diesem Verfahren zu Lasten der Verteidigungsbelange des dort Angeklagten und der gerichtlichen Wahrheitsermittlungspflicht, selbst wenn die den Einsatz des verdeckten Ermittlers angeordnet habende Staatsanwaltschaft die Identität des „undercover agent" kennt. Und schließlich wäre §163n III, der die nachträgliche Informierung Betroffener vorschreibt, wegen der typischerweise fehlenden Gegenwehrchance, dem Recht auf ungestörte Sozialisation durch Rechtsbehelf vollzugshindernd zu begegnen, durch die explizite Gestattung nachträglicher richterlicher Feststellung etwaiger Rechtswidrigkeit zu ergänzen.
B. Strafrechtsrelevante Einschränkungen der Pflicht zur Verdachtsaufklärung? I. Einschreitenspflicht und private Gegenbelange a) Während verdeckte und computergestützte Methoden polizeilicher Informationsgewinnung bedenken lassen, ob und wann sie legal einen abstrakten oder gegen einen bestimmten Tatzuständigen gerichteten Anfangsverdacht hervorbringen, verlangt die private Kenntnisnahme von Tatsachen, die auf eine etwaig verübte Straftat hindeuten, nur darüber nachzusinnen, ob auch sie nach dem Legalitätsprinzip des § 163 StPO zu einer durch § 258 a StGB strafbewehrten Aufklärungspflicht führte. Denn jede Grübelei darüber, ob der Polizist bei privater Kenntnisnahme befugt sei, nach § 163 StPO einzuschreiten, ist müßig; der Polizist darf wie jedermann auch außerhalb von Dienststelle und Dienstzeit formlos Anzeige erstatten und sich so „offiziöse" Verdachtskenntnis verschaffen. Der Meinungschor zu der gestellten Pflichtfrage klingt vielstimmig: Eine ältere Ansicht obligiert den Polizisten auch dann zur Strafverfolgung, wenn er außerhalb seiner Diensttätigkeit als Privatmann Verdachtskenntnis erhält 45 . Namhafte Autoren verneinen jede strafbewehrte Pflicht, bei außerdienstlicher Kenntnisnahme tatermittelnd tätig
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So zuletzt Geerds, Tatverdacht und Verfolgungspflicht, in: Gedächtnisschr. f. Schröder, 1978, S. 384 ff, S. 393 ff, S. 399 f m . Nachw. in Anm. 11, S. 393.
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zu werden 46 . Vereinzelt wird der „privat" wahrnehmende Polizist nur beim Verdacht einer nach den §§ 153 ff StPO nicht einstellungsfahigen Tat als strafrechtlich nach den §§ 13, 258 a StGB, 163 I StPO haftender Garant der Pflicht ersten Zugriffs angesehen 47 . Die h. M. differenziert danach, ob an der Aufklärung des privat erfahrenen Tatverdachts ein öffentliches Interesse besteht, das das Interesse des Amtsträgers am Erhalt seiner Privatsphäre überwiegt. Der Katalog der in § 138 StGB genannten Straftaten indiziere nur regelmäßig ein überwiegendes öffentliches Interesse; eine strafbewehrte Pflicht, ermittelnd einzuschreiten, könne bei Angehörigen unzumutbar sein 48 . Die erstgenannte Auffassung übersieht, daß das verdachtskonstituierende Merkmal „zureichender" tatsächlicher Umstände wertender Relativierung zugänglich ist; die grundrechtliche Dignität des Sozialisationsanspruchs, den auch ein Beamter genießt, verbietet, ihn wider den Wertgehalt der Art. 2 I, 6 I GG zur dissozialisierenden Autodestruktion seines sozialen Nahraumes oder gar seiner Familie zu zwingen, etwa dann, wenn der Sohn dem Vater eine Straftat gesteht. Dieser Einwand trifft auch gegenüber den vermittelnden Ansichten zu, unterstellt man, daß das Geständnis eine nicht einstellungsfahige oder besonders schwere Straftat offenbart; die Ungewißheit, ob eine Tat einstellungsfähig ist, sowie die Diffusität überwiegenden öffentlichen Strafverfolgungsinteresses sind evident und in ihrer Unbestimmtheit zumindest als Strafbarkeitskriterien untauglich. Daher sollte die Strafprozeßrechtslehre der tradierten Vorstellung abschwören, daß Amtsträger stets im Dienst und daher allüberall einschreitungspflichtig sind. Als „zureichende" tatsächliche Anhaltspunkte, die zum strafprozessualen Agieren strafbewehrt verpflichten, darf sie nur solche tatsächlichen Umstände einstufen, die der Polizist in Ausübung seines Amtes erfährt; die Befugnis jedes Kenntnisinhabers, als Bürger sich oder einem anderen zuständigen Strafverfolgungsorgan Anzeige zu erstatten und im ersten Fall, quasi nach einer logischen Sekunde, einzuschreiten, bleibt davon unberührt.
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Hinweise bei Anterist, Anzeigepflicht und Privatsphäre des Staatsanwalts, 1968, S. 20 Anm. 7; Krause, Erfüllt die Nichtverfolgung durch den Staatsanwalt bei privat erlangter Kenntnis einer strafbaren Handlung den Tatbestand des § 346 StGB?, in: GA 1964, S. 110ff, S. 118 Anm. 10, SamsonjSK, StPO, September 1986, §258a Rdn. 14. Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO und zum GVG I, 2. Aufl., 1964, Rdn. 398, S. 226 f sowie II, 1967, § 160 Rdn. 7. Vgl. RGSt. 70, S. 251 ff, S. 252; BGHSt. 5, S. 225 ff, S. 229; 12, S. 280 f, OLG Köln NJW 1981, S. 1794 f; Lackner, StGB, 18. Aufl., 1989 § 258 a Anm. 3; Dreher\Tröndle, StGB, 44. Aufl., 1988, § 258 a Rdn. 4; MaurachjSchroeder, Strafrecht BT, 6. Aufl., 1981, S. 327 f, Wagner, Die Rechtsprechung zu den Straftaten im Amt seit 1975 — Teil 3, in: JZ 1987, S. 205 ff, S. 211.
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II. Einschreitenspflicht und öffentliche Belange 1. Ist ein nicht offensichtlich unbegründeter Anfangsverdacht gegeben, so hat der sachlich und örtlich49 zuständige Polizeibeamte bei angemessener Zeit zum sachgerechten Überlegen unverzüglich verdachtsaufklärend und beweissichernd einzuschreiten, ohne seiner Zugriffspflicht durch unangemessenes Zuwarten zuwiderzulaufen. Selbst unverschuldete Arbeitsüberlastung befugt den Polizeibeamten nicht dazu, willkürlich eigenmächtig über seine Kapazitäten zu disponieren und die verdachtsadäquate Aufklärung zu verzögern 50 . Statt die Verdachtsaufklärung zu verschleppen, ist es z. B. bei mehrpersonaler Deliktsbegehung geboten, gegen jeden, bei dem dieselbe Verdachtsintensität besteht, deliktsverfolgend einzuschreiten51. Ferner ist es nicht Sache des Polizeibeamten, bei bloßen Zweifeln an der Richtigkeit einer Strafanzeige jedes Tätigwerden abzulehnen. Und obschon die Gestaltung und Ausweitung der Ermittlungsmaßnahmen zunächst Sache der Polizei ist, darf sie abgeleitete Notkompetenzen nicht bis zu einer „Gefahr im Verzuge" erwarten 52 , sondern hat den vorrangig Zuständigen die Wahrnehmung ihrer originären Befugnisse zu ermöglichen. 2. Fragil wird die Pflicht zum ersten Zugriff, wenn der polizeiliche Repressionsauftrag mit präventivpolizeilichen Belangen der Gefahrenabwehr und der Delikts Verhütung konfligiert 53 .
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Entgegen h. M. (vgl. BayObLG, JZ 1961, S. 453; Lackner, StGB, 18. Aufl., 1989, § 258 a, 2) ist für eine Strafbarkeit nach § 258 a StGB stets auch die örtliche Zuständigkeit erforderlich. Denn anderfalls würde beim Unterlassen eine nicht bestehende Handlungspflicht sanktioniert, vgl. Samson/SK, StPO, September 1986, § 2 5 8 a Rdn. 6. Vgl. BGHSt. 15, S. 18 ff. Allerdings ist pflichtwidriges Unterlassen unverzüglichen ersten Zugriffs nur dann als vollendete Strafvereitelung im Amte strafbar, wenn das Zuwarten zu einer nach rechtlichen Kriterien faßbaren Vereitelung des sofortigen staatlichen Straftatverfolgungsanspruchs führt, etwa zum Verlust eines Beweismittels. Ansonsten ist nur Versuch gegeben, vgl. Samson/SK, StPO, September 1986, § 258 a Rdn. 10 in Kritik der abweichenden Rechtsprechung. Vgl. BVerfG, NStZ 1982, S. 430. Vgl. zur Realität Nelles, Kompetenzen und Ausnahme-Kompetenzen in der StPO, 1980, insb. S. 246 ff. Vgl. allg. zu Konfliktsituationen der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung Dötting, Polizeiliche Ermittlungstätigkeit und Legalitätsprinzip, 1987, S. 285 ff, Görgen, Strafverfolgungs- und Sicherheitsauftrag der Polizei, in: ZRP 1976, S. 59 ff; Rieß, Legalitätsprinzip-Interessenabwägung-Verhältnismäßigkeit, in: Festschr. f. Dünnebier, 1982, S. 149 ff; Ulrich, Die Durchsetzung des Legalitätsprinzips und des Grundrechts der Gleichheit aller vor dem Gesetz in der Praxis der Staatsanwaltschaften, in: ZRP 1982, S. 169 ff.
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a) Derartige Gemengekonflikte sind z. B. bei einer Entführung gegeben, wenn sofortige Straftatverfolgung in Gestalt der Festnahme eines mehrerer Geiselnehmer Leib und Leben der Opfer der Rache der übrigen Entführer aussetzen und so massiv gefährden würde. Daß hier Raum für Maßnahmen der Gefahrenabwehr ist, in dem Verzicht auf sofortige Repression möglich wird, sollte außer Streit stehen 54 ; wer die sofortige Verfolgung jedes Tatverdächtigen den vitalen Interessen Unschuldiger vorordnete, stürzte die Wertordnung des Grundgesetzes, die alle staatliche Machtausübung in den Dienst an der Freiheit des einzelnen stellt, von den Füßen auf den Kopf und müßte, stünde er im Konfliktsfalle unter Entscheidungszwang, der Ohnmacht seines kritischen Wortes durch wohltätiges Aufschieben der Strafverfolgung Tribut zollen. Wer solche Argumentation billigt, darf aus dem Vorrang der polizeilichen Präventivaufgabe auch den Schluß ziehen, die sachkundig(st)en Verwalter dieser Aufgabe, d. h. die Polizeibehörden und ihre Leiter, seien jedenfalls in unaufschiebbaren Eilfallen legitimiert, bei fehlendem Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft sowohl über das Vorliegen einer zugunsten der sicherheitsrechtlichen Schutzaufgabe zu lösenden Kollision als auch über Art und Weise ihrer konkreten Erfüllung zu befinden — bis hin zum Einsatz finalen Rettungs- und Tötungsschusses. § 152 GVG steht solcher Befugung nicht entgegen, da er, an § 161 S. 2 StPO anknüpfend, die Kollision präventiv mit repressiv polizeilichen Pflichten ungeregelt läßt 55 ; den de lege lata gelassenen Freiraum füllen die „Gemeinsame(n) Richtlinien der Justizminister/-senatoren und der Innenminister/-senatoren des Bundes und der Länder über die Anwendung unmittelbaren Zwanges durch Polizeibeamte auf Anordnung der Staatsanwaltschaft" 56 unter prinzipieller Anerkennung der Weisungsfreiheit im Raum polizeilicher Gefahrenabwehr und der besonderen polizeilichen Sachkunde 57 aus, ohne freilich durchgängig zu beachten, daß die Ausübung präventiv polizeirechtlicher Befugnisse auch aus Gesichtspunkten des Sachzusammenhanges in
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Zur Polizeiarbeit bei Entführungen vgl. Samper, Kommentar zum bayerischen Polizeiaufgabengesetz - PAG 17. Aufl., 1987, Art. 43 Rdn. 11. Vgl. Schlechter, Das Strafverfahren, 2. Aufl., 1983, S. 73 Fn. 196 m. Nachw. zum Streitstand. Abgedruckt bei Kkinknechtj Meyer, StPO, 39. Aufl., 1989, als Anlage A der RiStBV, S. 1740 ff. Vgl. Anlage A RiStBV, A. 2. Abs. B II a. E.; vgl. dazu Schäfer ¡Um / Rosenberg, StPO, 23. Aufl., 1979, § 152 GVG Rdn. 13 ff.
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Konfliktslagen nicht der Sachleitungsherrschaft der Staatsanwaltschaft unterwerfbar ist 58 . b) Nicht minder kollisionsträchtig als spektakuläre Geiselfalle sind teils erst drohende, teils schon realisierte massenhafte Deliktsbegehungen im Rahmen von Großdemonstrationen. Einerseits ist die Polizei auch bei öffentlichen Krawallen gehalten, Strafverfolgung nicht zu verschleppen sondern unverzüglich einzuleiten. Andererseits kann der Zugriff auf einzelne deliktische Randalierer die Eskalation von Gewalttaten entzünden; „sotto voce" sei hinzufügt, daß nicht stets die physischtechnische Durchsetzbarkeit polizeilichen Zugriffs ohne erhebliche, unzumutbare Eigenrisiken gesichert ist. Aus dieser Kalamität hat die Polizei nicht die Neufassung des Landfriedensbruches, gültig seit dem 26. 07. 1985, mit der Kriminalisierung des Verbleibens passiv Bewaffneter oder Vermummter in einer gewalttätigen Menschenmenge befreit; auch die Rekriminalisierung des Nichtentfernens trotz polizeilicher Aufforderung „besserte" insoweit nichts 59 . Um so wichtiger ist die Einsicht, daß die Aufstufung ordnungswidrigkeitsrechtlichen zu strafrechtlichem Verhalten die Polizei in Kollisionslagen nicht dazu — sit venia verbo — „verdammt", ohne Rücksicht auf eigene und fremde Verluste sogleich repressiv tätig zu werden; sie darf in Konfliktsituationen präventivtaktischen Aspekten und Nöten Augenmerk und Gehorsam schenken und ihre Delikts- und Täterverfolgung angemessen aufschieben, ohne des illegitimen Verstoßes gegen das Legalitätsprinzip geziehen zu werden. Nach den Vorgaben juristischer Interpretationslehre ist solch restriktive teleologische Deutung des § 163 I StPO zulässig 60 ; das Gesetz, das den Zeitpunkt der Ermittlungsaufgabe nicht expressis verbis regelt, überschärft nicht wertblind das Recht und die Pflicht des ersten Zugriffs zur Pflicht sofortiger Festnahmen und repressiven Furors sondern läßt wohlbedachten Aufschub zu. 3. Trotz der Geschmeidigkeit, die das Legalitätsprinzip zugunsten präventivpolizeilicher Zwänge und höherwertiger Rechtsgüter in Konfliktsituationen beweist, weicht es nicht zugunsten eines verfolgungspflichtlosen „rechtsfreien Raumes" zurück, in dem polizeiliche De-
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Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, 21. Aufl., 1989, § 10 B I 2 C, S. 53; Riiping, Das Strafverfahren, 2. Aufl., 1983, S. 90. Vgl. dazu Baumann, Ein neues ad hoc-Gesetz zu § 125 StGB?, in: StrV 1988, S. 37 ff; Hamm, Vermummung als Straftatbestand?, in: StrV 1988, S. 40 ff; Schreiber, Vom ewigen Landfrieden, in: Kriminalistik 1988, S. 2 ff. Zur teleologischen Interpretation und Reduktion vgl. Laren\, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., 1983, S. 319 ff, S. 381 ff.
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liktsverfolgung aufs Geratewohl eine Kreuzfahrt ins Beliebig-Ungefähre anträte. Zwar unterstehen die Polizeien der Länder im Bereich öffentlicher Sicherheit und Ordnung der Fach- und Dienstaufsicht der jeweiligen Innen Verwaltungen und damit letzlich auch politischer Kontrolle. Wenn es aber richtig ist, daß Bewußtseinswandel im Wort vorbereitet wird, so ist erstens darauf zu beharren, daß es im Bereich sozial relevanten Verhaltens de lege et constitutione lata keinen rechtsfreien Raum gibt 61 , sowie zweitens an die Trivialität zu erinnern, daß die gesetzliche Geltungskraft des Legalitätsprinzips nur durch Normen gleicher Dignität derogiert werden kann; politische Desiderate eines laissez faire schaffen keinen strafrechtsfreien Raum, mögen sie verständlich sein oder mißbilligenswert dünken, Grenzübergänge blokkierende LKW-Fahrer, Hausbesetzer oder Parteispender62 betreffen.
C. Ausblick de lege ferenda Spätestens das Zusammentreffen von Aufgaben der Gefahrenabwehr mit solchen der Strafverfolgung lenkt erneut auf kontroverse Reformwünsche hin, die sich in ihren Tendenzen und Inhalten gegenseitig ausschließen.
I. Die Reformvorschläge 1. Der „Vorentwurf eines Gesetzes zum Verhältnis von Staatsanwaltschaft und Polizei" von 1979 63 , der die von 1975 stammenden „Leitsätze über die Neugestaltung des Verhältnisses Polizei — Staatsanwaltschaft" 64 in einen Gesetzesvorschlag umzusetzen versuchte, beaufgabte die Polizei durch seine §§ 163, 163 a VE, auch ohne Eilkompetenz aus eigenem Recht Straftatverdachte im Bereich der Bagatellkriminalität selbständig zu erforschen, ohne die Staatsanwaltschaft vor dem Ablauf 61 62
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Vgl. zur grundsätzlichen Problematik Bottke, Suizid und Strafrecht, 1982, S. 31. Zur strafrechtlichen Problematik der Parteispendenaffäre vgl. De BoorjPfeifferlSchünemann (Hrsg.), Parteispendenproblematik, 1986 (zugleich mit umfassender Bibliographie S. 185). Teilweise abgedruckt bei Höring, Zukünftige rechtliche Ausgestaltung des Verhältnisses Staatsanwaltschaft — Polizei — aus der Sicht der Polizei, in: Kriminalistik 1979, S. 26 ff. Abgedruckt bei Kuhlmann, Gedanken zum Bericht über das Verhältnis „Staatsanwaltschaft und Polizei", in DRiZ 1976, S. 265 ff, S. 265 Fn. 7. Der Gesamtbericht der Gemeinsamen Kommission der Justiz- und Innenministerkonferenz ist abgedruckt in: Polizei und Justiz, BKA-Vortragsreihe, Bd. 23, 1977, S. 147 ff.
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von 10 Wochen durch Übersendung der Ermittlungs Vorgänge unterrichten zu müssen; grundsätzlich sollte die Polizei erst nach Abschluß der Ermittlungen verpflichtet sein, die Staatsanwaltschaft von sich aus zu informieren. Der Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder von 1977 65 räumte der Polizei zu präventiven Zwecken Befugnisse ein, die z. T. denen in der StPO ähneln, jedoch an minder strenge Voraussetzungen gebunden sind. So begründete § 9 II S. 2 und 3 MEPolG die Möglichkeit, eine Person, die bei einer an einem abstrakt gefahrlichen oder gefährdeten Ort durchgeführten Razzia angetroffen wird, festzuhalten und sie sowie ihre mitgeführten Sachen zu durchsuchen, wenn ihre „Identität auf andere Weise nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann". § 163 b I S. 2 u. 3 StPO fordern demgegenüber, daß die festgehaltene und durchsuchte Person einer Straftat konkret verdächtigt ist. Nichtverdächtige haben gem. § 163 b II S. 2 StPO das Recht, die Durchsuchung ihrer mitgeführten Sache hindernd zu verbieten. In Gemengelagen repressiver und präventiver Tätigkeit läuft dies auf die Extension polizeilicher Autonomie gegenüber staatsanwaltlicher Kontrolle unterworfener Deliktsverfolgung hinaus 66 . 2. Statt die Unabhängigkeit der Polizei von der Staatsanwaltschaft im Bereich der Bagatellkriminalität und in aufgabenkomplexen Situationen gesetzlich festzuschreiben und zu fördern, tendiert das „wissenschaftliche" Schrifttum dahin, die Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft zu erhalten oder sogar die staatsanwaltschaftliche Ermittlungskapazität zu stärken, ohne auch nur Konsens über die divergierenden Organisationsmodelle — Einordnung der Staatsanwaltschaft in die Polizei, Zuordnung von Polizeiteilen in die Staatsanwaltschaft — im grundsätzlichen erreicht zu haben 67 . 65
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ME; abgedruckt samt amtlicher Begründung in: Heise/Riegel Entwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes, 2. Aufl., 1978. Weitere Beispiele in kritischer Betrachtung bei Denninger, Strafverfahren und Polizeibefugnisse, in: Denninger¡Lüderssen (Hrsg.), Polizei und Strafprozeß im demokratischen Rechtsstaat, 1978, S. 300 ff; Fetter, Strafprozeßrecht I, 1986, S. 38 f, Fall 2 Rdn. 92. Vgl. Denninger, Strafverfahren und Polizeibefugnisse, in: Denningerj Lüderssen (Hrsg.), Polizei und Strafprozeß im demokratischen Rechtsstaat, 1978, S. 300 ff; Dölling, Polizeiliche Ermittlungstätigkeit und Legalitätsprinzip, 1987, S. 298 ff; Görgen, Die organisationsrechtliche Stellung der Staatsanwaltschaft zu ihren Hilfsbeamten und zur Polizei, Jur. Diss. Bonn 1973; Gossel, Überlegungen über die Stellung der StA im rechtsstaatlichen Strafverfahren und über ihr Verhältnis zur Polizei; in: GA 1980, S. 325 ff; Kuhlmann, Gedanken zum Bericht über das Verhältnis „Staatsanwaltschaft und Polizei", in: DRiZ 1976, S. 265 ff; Riegel, Neue Aspekte des polizeilichen Befugnisrechts zur Gefahrenabwehr und zur Strafverfolgung, in: JR 1981, S. 229 ff; Rüping, Das Verhältnis von Staatsanwaltschaft und Polizei, in: ZStW 95 (1983), S. 894 ff;
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II. Stellungnahme Die Gegensätzlichkeit der rechtspolitisch verschriebenen Rezepte läßt anraten, mit dem geltenden Recht und dessen Praktizierung zumindest mittelfristig weiterhin in „denkendem Gehorsam" zu leben, statt nicht in all ihren Konsequenzen ausbedachte Reformen zu fordern. So ist z. B. bei hinreichender Sensibilität für sozialwissenschaftlich erhellte psychische Mechanismen durchaus bestreitbar, daß die Staatsanwaltschaft — sei es durch Einbindung in die Polizei, sei es durch eigene Polizeiabteilungen — die Richtigkeit, Fairness und Rechtsstaatlichkeit des Gesamtverfahrens dadurch steigerte, daß sie über die Rechtskontrolle und allgemeine Fachaufsicht hinausgehend generell, auch bei Alltagskriminalität, eigene Ermittlungsarbeit betriebe oder sich in die polizeiliche Tatverdachtsaufklärung verstärkt einschaltete. Denn es läßt sich nach der Inertia-Effekt- 68 sowie der Dissonanztheorie 69 kognitionspsychologisch plausibel behaupten, daß eigene Ermittlungsarbeit oder die verstärkte Einbindung der Staatsanwaltschaft in die polizeiliche Tatverfolgung dem Staatsanwalt, der bei Abschluß des Ermittlungsverfahrens darüber zu entscheiden hat, ob die Ermittlungen genügenden Anlaß zur Anklageerhebung bieten, das Finden einer objektiven, unparteilichen Antwort erschwert: Wer Verdachten nachgeht, ist dazu gedrängt, in seinem Selbst, heuristisch sinnvoll, zunächst die notwendige Probabilitätshypothese zu etablieren und sodann Informationen, die ihr entsprechen, verstärkt zu registrieren, hingegen ihr widersprechende Daten in ihrer Wichtigkeit zu unterschätzen. Zudem ist zu befürchten, daß die Einbindung der Staatsanwaltschaft in den Alltag polizeilicher Ermittlungspraxis Tendenzen zum „Schulterschluß" wecken würde 70 , die der Verpflichtung der Staatsanwälte zur Objektivität, strikten Justizförmigkeit und zur willkürfreien Selek-
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Schult^-Leppin, Staatsanwaltschaft contra Polizei?, in: JURA 1981, S. 521 ff; Seebode, Strafverfolgung nach Polizeirecht?, in: MDR 1976, S. 537 ff; siehe auch Fester, Strafprozeßrecht I, 1986, S. 38 f, Fall 2 Rdn. 87 ff. Vgl. zum sog. „Inertia-Effekt" Ko^ielecki, The Mechanism of Self-Confirmation of Hypothesis in a Probabilistic Situation. International Congress of Psychology, Simposium 25: Heuristic Process of Thinking, Moscow, 1966; Dit^lDowning!Reinhold, Sequential Effects in the Revision of Subjective Probabilities, in: Canad. Journ. Psychol. 21 (1967), S. 381 ff. Vgl. zur Dissonanztheorie Festinger, Theorie der kognitiven Dissonanz, 1978; Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford Univ. Press, 1952. Zum „Superschulterschluß" zwischen Staatsanwaltschaft, Richter und Verteidiger vgl. Schünemann, Die Verteidigung im Strafprozeß — Wunderwaffe oder Bankrotterklärung der Verteidigung?, in: NJW 1989, S. 1895 ff, S. 1901.
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tion abträglich wären; gerade weil die Staatsanwaltschaft anders als die Polizei zum Herausfiltern der weiterer Verfolgung bedürftigen Straftaten und zur Einstellung verdachtsschwacher oder sanktionsunbedürftiger Straftaten durch die §§ 170 II, 153 ff StPO verpflichtet ist, muß ihr Repräsentant auch funktionspsychologisch dazu begabt sein und bleiben, sich möglichst unabhängig von eigenen Vorfestlegungen oder institutionellen Verklammerungen für sachgerechte Selektion zu entscheiden. Und schließlich ist von fachkundiger Seite 71 besorgt auf das „Vakuum" hingewiesen worden, das „in bezug auf die Kontrolle des Ermittlungsverfahrens" durch die Beseitigung der gerichtlichen Voruntersuchung entstanden „und dessen Ausfüllung eine dringlichere der Staatsanwaltschaft zuzuweisende Aufgabe wäre, als das Bemühen sie in die eigentliche ermittelnde Tätigkeit zu integrieren" 72 . Daher sollte die Staatsanwaltschaft im Regelfall nur in besonderen Verfahrenslagen eigenständige Ermittlungen durchführen oder sich in polizeiliche Ermittlungen durch konkrete Einzelfallweisungen einschalten. Sie kann so auch besser als die Polizei glaubwürdiger Ansprechpartner eines Tatverdächtigten sein, der die Erhebung entlastender Beweise begehrt, oder eines Zeugen, der ihr — und nicht der Polizei! — gemäß § 161 a StPO Rede und Antwort zu stehen hat.
Fazit Um die Ergebnisse in wenigen Sätzen zu sammeln: Nimmt man alles zusammen, so hat sich das in den §§ 163 II, 152 II, StPO definierte Legalitätsprinzip in seiner Interpretation und Handhabung durch die Praxis weithin bewährt. Die hier entwickelte Deutung geltenden Rechts und geübter Rechtspraxis zeichnet zwar nicht das Bild ungetrübter Harmonie. Sie kehrt aber mit der integrationspräventiven Funktion der polizeilichen Pflicht, allen Straftatverdachten willkürfrei nachzugehen, ihre tragfähige strafrechtstheoretische Basis heraus. Zugleich schält sie mit der staatsanwaltschaftlichen Kontroll- und Selektionsaufgabe den apokryph in der faktischen Dominanz polizeilicher Ermittlungsarbeit gegenüber bagatellkriminellen Tatverdachten verborgenen legitimieren-
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Vgl. Rieß, Prolegomena zu einer Gesamtreform des Strafverfahrensrechts, in: Festschr. für Schäfer, 1980, S. 155 ff, S. 196; vgl. auch Wolter, Strafverfahrensrecht und Strafprozeßreform, in: GA 1985, S. 49 ff, S. 49: „Der beste Kenner der Materie, Peter Rieß". Rieß, Prolegomena zu einer Gesamtreform des Strafverfahrenrechts, in: Festschr. für Schäfer, 1980, S. 155 ff, S. 196.
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den Grund hervor, der durch das Stereotyp überlasteter Staatsanwälte 73 verhüllt wird. An den Kompetenzen, die das geltende Recht Polizei und Staatsanwaltschaft zuweist, hält sie ebenso fest wie grundsätzlich an den Pflichten, einschließlich der der unverzüglichen staatsanwaltschaftlichen Information durch die Polizei; die legislatorische Bestimmung eines Zeitpunktes, in dem spätestens ein Zwischenbericht geliefert werden müßte, um der Staatsanwaltschaft die Bestimmung des Ermittlungsgegenstandes und das Ansichziehen ihres Einschreitens bedürftiger Sachen zu ermöglichen, wäre zu erwägen. Grundrechtseingriffe, die mit herkömmlichen oder modernen Fahndungsmethoden geläuterter Rechtseinsicht nach verknüpft sind, sind vordringlich auf formalgesetzliche, verfassungskonforme Ermächtigungsgrundlagen zu stellen. Ein so ergänztes Ermittlungsrecht trüge zu einem Verfahren bei, das strafprozessualer Fairness durchgängig beachtet und durch strikt rechtstreues Agieren die allgemeine Rechtstreue stärkt; ein solches Unternehmen ist jede Anstrengung wert.
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Es darf vermutet werden, daß bereits die Staatsanwaltschaft im Jahre 1877 außerstande gewesen wäre, umfassend eigene Ermittlungsarbeit zu leisten.
Die Beschlagnahme von Verteidigungsmaterial und die Ausforschung der Verteidigung HANS D A H S
Die wachsende Anerkennung und Praktizierung des Rechts der Verteidigung auf eigene Ermittlungen 1 einerseits und die zunehmende Praxis der Ermittlungsbehörden, Durchsuchungen und Beschlagnahmen beim Beschuldigten mehrfach 2 vorzunehmen 3 andererseits, hat dem Problem der Beschlagnahme von Verteidigerkorrespondenz und Verteidigungsmaterialien besondere Aktualität verliehen. Bei derartigen Maßnahmen, die sich üblicherweise auf Geschäftsräume, Privatwohnung, Kraftfahrzeuge und Person des oder der Beschuldigten erstrekken (§ 102 StPO), gewinnen die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten nicht selten Zugang zur Korrespondenz zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger einschließlich ihrer Anlagen, Aufzeichnungen des Beschuldigten im Rahmen seiner Verteidigung (insbesondere Entwurf der Einlassung), Korrespondenz mit Dritten, z. B. (potentiellen) Zeugen, Sachverständigen, Behörden und anderen Stellen, bei denen entweder Informationen eingeholt oder die als Gutachter oder amtliche Auskunftsstelle angesprochen werden; ferner gesammelte Publikationen technischer oder wissenschaftlicher Art, Informationsberichte von Beweispersonen, privat eingeholte Gutachten sowie Gegenstände wie Modelle, Materialproben, Vergleichsstücke usw. entsprechender Zweckbestimmung. Insgesamt sind als Verteidigungsmaterialien alle Urkunden und Gegenstände anzusehen, die nach der Tat, die den Gegenstand der Untersuchung bildet, entstanden oder beschafft worden sind, sich im Gewahrsam des Beschuldigten oder eines anderen (potentiell) Verfahrensbeteiligten befinden und zum Zeitpunkt ihrer Auffindung durch die Strafverfolgungsbehörden nicht zu deren Kenntnis bestimmt sind 4 .
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Dazu Dahs, NJW 1985, 1113 m. N. Von Verteidigern salopp „zweiter Durchgang" genannt. Vgl. z. B. den Sachverhalt A G Frankfurt, StrVert 1988, 482. Welp, Gallas-Festschrift, S. 410.
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L Es ist Zeit für den Versuch, ein Modell für den umfassenden Schutz des Verteidigungsmaterials vor Beschlagnahme und der Verteidigung vor prozessualer Ausforschung zu entwerfen. Die Erörterung dieses bisher selten und nur punktuell untersuchten Problemkreises soll in folgende Fragenbereiche gegliedert werden: — Sind Urkunden und Gegenstände, die im Rahmen der Verteidigung erstellt oder beschafft worden sind und sich im Gewahrsam des Beschuldigten oder in die Verteidigung einbezogener Dritter befinden, beschlagnahmefrei? — Dürfen Beweispersonen, die Kenntnisse über beschlagnahmefreies Verteidigungsmaterial haben, darüber als Zeugen vernommen werden? — Unterliegen die aus Verteidigungsmaterial unzulässig gewonnenen Erkenntnise einem Verwertungsverbot? Die hier aufgeworfenen Fragen führen in zwei kontrovers diskutierte Bereiche des Strafprozeßrechts, den besonderen Schutz der Geheimsphäre der Verteidigung und die Beschlagnahmeverbote. Die Beschlagnahmefreiheit von Verteidigungsunterlagen ist in § 97 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 i. V. m. § 53 Abs. 1 Nr. 2 StPO nur fragmentarisch geregelt. Diese Normierung erklärt schriftliche Mitteilungen zwischen Verteidiger und Beschuldigtem sowie Aufzeichnungen über Mitteilungen des Beschuldigten an den Verteidiger sowie die dem Verteidiger vom Beschuldigten oder einem Dritten übergebenen Gegenstände für beschlagnahmefrei 5 . Der gesetzliche Rechtsschutz ist nicht nur hinsichtlich des Schutzgegenstandes eingeschränkt, sondern auch im Hinblick auf den Schutzbereich, weil die geschützten Gegenstände nur dann beschlagnahmefrei sein sollen, wenn sie sich im Gewahrsam eines Zeugnisverweigerungsberechtigten i. S. des § 53 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 a befinden, also insbesondere des Verteidigers. Das bedeutet, daß nach dem Wortlaut der gesetzlichen Regelung z. B. ein Schreiben des Verteidigers an seinen Mandanten nur solange beschlagnahmefrei sein soll, als es noch im Gewahrsam des Verteidigers ist, während es beim Mandanten der Beschlagnahme unterliegt. Dies müßte auch dann gelten, wenn der Verteidiger dem Beschuldigten Unterlagen zur Durchsicht und Überprüfung überläßt, die später vom Mandanten zurückgegeben werden sollen. Der prozessuale Schutz des § 97 StPO lebt erst wieder auf, wenn die Schriftstücke vom Mandanten dem Verteidiger wieder übergeben worden sind 6 . Der 5 6
Vgl. Kleinknecht\Meyer, § 97 Rdn. 36. Vgl. Welp, Gallas-Festschrift, S. 412.
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strafprozessuale Schutz des Schriftverkehrs zwischen Verteidiger und Beschuldigtem vor Beschlagnahme hat also auf dem Weg der Schriftstücke zwischen Verteidiger und Mandant eine Lücke, in die die Staatsanwaltschaft mit einer Beschlagnahme stoßen könnte. Diese Lücke wird von Rechtsprechung und Lehre durch Auslegung dahin geschlossen, daß die gesetzliche Einschränkung der aus § 97 Abs. 2 Satz 1 StPO folgenden Beschlagnahmefreiheit nicht für das besondere Verhältnis zwischen Verteidiger und dem Beschuldigten gelten soll 7 . Diese Vertrauensbeziehung unterscheide sich wegen der besonderen Stellung des Verteidigers zum Beschuldigten von der der anderen in § 53 Abs. 1 Nr. 1 — 3 a aufgeführten Zeugnisverweigerungsberechtigten und habe durch die Vorschrift des § 148 StPO — der als lex posterior und specialis dem § 97 StPO vorgehe 8 — eine besondere gesetzliche Ausgestaltung erfahren 9 mit der Folge, daß der in dieser Norm verankerte Grundsatz des freien Verkehrs zwischen beiden eine Beschlagnahme in aller Regel auch dann verbiete, wenn das betreffende Schriftstück in der Hand des Beschuldigten ist 10 . Zwar ziele der Wortlaut des § 148 StPO — vordergründig betrachtet — nur auf den Verkehr des Verteidigers mit seinem inhaftierten Mandanten; es verstehe sich aber von selbst, daß die Garantie des unüberwachten schriftlichen und mündlichen Verkehrs zwischen Verteidigung und Mandanten erst recht für den in Freiheit befindlichen Beschuldigten gilt 11 , was zudem durch die Formulierung „auch wenn er sich nicht auf freiem Fuß befindet" deutlich werde 12 . Die Rechtslage stellt sich damit zunächst so dar, daß der strafprozessuale Schutz von Schriftstücken und anderen Gegenständen der Verteidigung sowohl dann gewährleistet ist, wenn sie sich in der Hand des Vertei7
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BGH, NJW 1973, 2035 = JZ 1974, 422; BGH, NJW 1982, 2508; BGH, Besohl, v. 12.4. 1978 - StB 92/78 - ; BGH, Beschl. v. 21.6. 1978 - StB 114/78 BGH, Beschl. v. 4. 5. 1988 - StB 15/88 - = StrVert. 1988, 468 (LS); LG Mainz, NStZ 1986, 473; Wtlp, Gallas-Festschrift, S. 417; ders., JZ 1974, 430ff; Rudolphi, Schaffstein-Festschrift, S. 441; LöwelRosenbergjSchäfer, §97 Rdn. 57; KK-Laufhütte, § 97 Rdn. 15; Beulte, Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 210; KMR-Müller, § 97 Rdn. 13; KleinknechtjMeyer, § 97 Rdn. 37. Beulte, S. 210; Specht, NJW 1974, S. 65; Roxin, JR 1974, 117; Welp, Gallas-Festschrift, S. 417; ders., JZ 1974, 424; Schmidt, StrVert. 1989, 421. LG Mainz, NStZ 1986, 473. BGH, NJW 1973, 2035 = JZ 1974, 422; Ausnahmen sind allerdings nach BGH dann möglich, wenn gewichtige Anhaltspunkte dafür sprechen, daß der Verteidiger sich an der Tat beteiligt hat, die dem Beschuldigten zur Last gelegt wird; anderer Auffassung: Lön/ejRosenbergjSchäfer, § 97 Rdn. 58. BGH, NJW 1986, 1183, 1184; LG Mainz, NStZ 1986, 473; AG Frankfurt/Main, StrVert. 1988, 482; Kleinknechtj Meyer, § 97 Rdn. 37; Rieß, JR 1987, 77. Schmidt, StrVert. 1989, 421 f; dies scheinen aber nicht alle Staatsanwaltschaften so zu sehen: Vgl. Sachverhalt bei AG Frankfurt, StrVert. 1988, 482 u. LG Mainz, NStZ 1986, 473.
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digers befinden, als auch wenn sie der Beschuldigte in Gewahrsam hat oder sie auf dem Beförderungsweg zwischen beiden sind 13 . Der Kreis der beschlagnahmefreien Verteidigungsunterlagen ist allerdings eingeschränkt: Der BGH hat zunächst im Jahre 1973 entschieden, daß ein Schriftstück in der Hand des Beschuldigten nur dann beschlagnahmefrei sei, wenn es vom Verteidiger herrühre 14 . Daraus könnte gefolgert werden, daß Unterlagen, die sich der Beschuldigte für seine Verteidigung selbst — und nicht über seinen Verteidiger — erstellt oder beschafft hat, z. B. Sachverständigengutachten, Zeugenaussagen, Behördenauskünfte, fachspezifische Publikationen usw. der Beschlagnahme unterliegen. Die Formulierung des BGH „vom Verteidiger herrührende Schriftstücke" läßt indes offen, ob damit nur Unterlagen gemeint sind, die der Verteidiger selbst bearbeitet hat, oder auch solche, die er quasi als Mittler für die Verteidigung des Beschuldigten angefordert und an den Mandanten weitergegeben hat, ohne diese einer eigenen „Bearbeitung" zu unterziehen. Eine Konkretisierung dieser Frage hat das Landgericht Mainz im Jahre 1986 versucht: Es hat die Auffassung vertreten, der Beschlagnahmeschutz erfasse lediglich die Korrespondenz zwischen Beschuldigten und Verteidiger sowie die im Schriftwechsel in Bezug genommenen und als Anlage beigefügten Schriftstücke, soweit sie sich unmittelbar mit den Vorwürfen befassen; darüber hinaus die handschriftlichen Aufzeichnungen des Beschuldigten, die unmittelbar und erkennbar seiner eigenen Verteidigung dienten 15 . Als entscheidendes Kriterium für die Begrenzung der Beschlagnahmefreiheit wird allein das Vertrauensverhältnis zwischen Klient und Verteidiger herangezogen und gefolgert, außerhalb dieses Vertrauensverhältnisses entstandene Urkunden unterlägen der Beschlagnahme 16 . Dementsprechend würden Urkunden, die bereits vor Begründung des Verteidigungsverhältnisses oder vor Einleitung des Verfahrens entstanden sind wie auch die Korrespondenz des Beschuldigten mit dritten Personen, mit denen er in keinem geschützten Verhältnis i. S. des § 53 Abs. 1 Nr. 1 — 3 a steht, selbst dann der Beschlagnahme unterfallen, wenn sie einen unmittelbaren Zusamnmenhang mit der Verteidigungskorrespondenz aufweisen 17 . Auch die Verteidigerkorrespondenz im engeren Sinne soll dann beschlagnahmefahig
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Rudolph!, Schaffstein-Festschrift, S. 441; Kleinknechtj Meyer, § 97 Rdn. 37; Löwe\RosenbergjSchäfer, § 97 Rdn. 57. BGH, NJW 1973, 2035 = JZ 1974, 421, 422. LG Mainz, NStZ 1986, 473 f; im Ergebnis auch LöwejRosenbergjSchäfer, § 97 Rdn. 57. LG Mainz, NStZ 1986, 473, 474. LG Mainz, NStZ 1986, 473, 474.
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sein, wenn sie sich im Gewahrsam eines Dritten, z. B. eines technischen Sachverständigen oder eines Detektivs, befindet. Entscheidende Kriterien für die Beschlagnahmefreiheit sind danach zum einen die geistige Urheberschaft und zum anderen der Gewahrsamsinhaber. Damit Schriftstücke beschlagnahmefrei sind, müssen geistiger Urheber entweder der Beschuldigte oder sein Verteidiger sein 18 und sie sich im Gewahrsam eines von ihnen befinden. Die Ausdehnung des Beschlagnahmeverbotes auf andere Urkunden und Gegenstände würde zu einer vom Gesetz nicht beabsichtigten Aushöhlung der generellen Beschlagnahmefähigkeit aller Beweismittel führen und damit in unlösbarem Widerspruch zu dem Wahrheitsermittlungsgrundsatz stehen 19 . Die damit umrissene Rechtsfrage, die für die freie und effektive Verteidigung größte Bedeutung hat, muß immer wieder neu durchdacht und beantwortet werden. Auszugehen ist von der richtungweisenden Feststellung des BGH, nach der die Strafprozeßordnung keinen Grundsatz kennt, daß die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müßte 20 . Das hat hier zur Folge, daß die Durchsetzung des Wahrheitsermittlungsgrundsatzes an Geltungskraft einbüßt zugunsten der Beistandsfunktion des Verteidigers und der dadurch bedingten prozessualen Schutzwürdigkeit der zugehörigen Geheimnissphäre. Nach Auffassung des BGH war und ist die „völlig freie Verteidigung" Anliegen des § 148 StPO 21 mit der Konsequenz, daß die Verteidigung von jeder Behinderung und Erschwerung freigestellt und der Anwalt wegen seiner Integrität jeder Beschränkung enthoben sein soll 22 , gleichgültig ob sich sein Mandant auf freiem Fuß oder in Haft befindet. Wenn nun Kriterien aufgezeigt werden sollen, wann bei der Abwägung zwischen Wahrheitsermittlungsgrundsatz und Schutz der Geheimnissphäre zwischen Verteidiger und Beschuldigten Verteidigungsunterlagen im Gewahrsam des Beschuldigten beschlagnahmt werden dürfen, so stellt sich zunächst die Frage, ob das Gewahrsamsmoment, dem das Gesetz bei allen Kategorien der zeugnisverweigerungsberechtigten Personen unterschiedslos ein „starkes Gewicht" 23 beilegt, auch hier eine sinnvolle Abgrenzung schutzwürdiger und nicht schutzwürdiger Kon18 19 20
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LG Mainz, NStZ 1986, 473, 474. LG Mainz, NStZ 1986, 473, 474. BGHSt. 14, 358, 365; BGHSt. 31, 304, 309; übernommen von: Lowe\Rasenberg\Schäfer, Einl. Kap. 14, Rdn. 1; K K - P f e i f f e r , Einl. VIII, Rdn. 117; Peters, Gutachten zum 46. Deutschen Juristentag, Bd. I, Teil 3 A, S. 93; Grünwald, J Z 1966, 489; Kleinknecht, NJW 1966, 1537; Otto, Kleinknecht Festschrift, S. 319; Dünnebier, MDR 1964, 968. BGH, NJW 1973, 2035, 2036 = JZ 1974, 421, 422. BGH, NJW 1973, 2035, 2036 = JZ 1974, 421, 422 unter Berufung auf: Dahs sen., NJW 1965, 84; Creifelds, JR 1965, 3. BGHSt. 19. 374.
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stellationen erlaubt 24 . Es ist zu fragen, ob die Schutzwürdigkeit der Verteidigung des Beschuldigten deshalb gemindert ist, weil nicht sein Verteidiger, sondern er selbst den Gewahrsam hat. Dies kann keinen Unterschied machen, da beide Gewahrsamsinhaber — Verteidiger oder Beschuldigter — zu dem kleinen Kreis gehören, deren Vertrauensverhältnis und Geheimnis Sphäre durch die Strafprozeßordnung geschützt werden soll. Wenn also das Verteidigungsverhältnis i. S. der erweiternden Auslegung des § 148 umfassend geschützt werden soll, so kann es nicht zulässig sein, auf dem Umweg der Gewahrsamsinhaberschaft an Verteidigungsunterlagen doch noch in den geschützten Bereich einzufallen 25 . Sonst müßte der Beschuldigte Schriftstücke, die er von seinem Verteidiger erhalten oder sich selber zusammengestellt hat, vernichten, um sie vor einer Beschlagnahme in Sicherheit zu bringen; der Verteidiger müßte besorgen, durch die Ubersendung von Unterlagen an seinen Mandanten oder mit der Bitte, bestimmte Beweise und Beweismittel selbst zusammenzutragen, diesem zu schaden, weil sie beschlagnahmt werden könnten. Das wäre mit dem Prinzip der freien Verteidigung unvereinbar. Auch das mit Verfassungsrang ausgestattete 26 nemo tenetur-Prinzip 27 begründet den Schutz vor Beschlagnahme für Verteidigungsmaterial im Gewahrsam des Beschuldigten. Die Notwendigkeit, für eine effektive Verteidigung Unterlagen zu erstellen und zu sammeln, steht außer Frage. Würden diese Materialien von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt, so wäre der Beschuldigte nicht mehr Herr seiner Aussagefreiheit 28 . Er würde gezwungen, eigenes, ihn möglicherweise belastendes Wissen gegen seinen Willen den Strafverfolgungsbehörden preiszugeben. Gerade das soll aber durch das Verbot des Zwanges zur Selbstbelastung verhindert werden. Die substantiell freie Verteidigung mit der Wirkung, daß der Verteidiger in dieser seiner Eigenschaft und in Wahrnehmung dieser Aufgabe als Verteidiger des mündlichen und schriftlichen Verkehrs mit dem Beschuldigten bedarf — wie es der BGH postuliert — 29, kann nicht über das in diesem Bereich nicht begründbare und in seiner Bedeutung nicht 24 25 26 27
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Vgl. Welp, Gallas-Festschrift, S. 413 ff; ders., JZ 1974, 424 f. Welp, Gallas-Festschrift, S. 418 f; ders., JZ 1974, 424. BGH, NJW 1973, 2035, 2036 = JZ 1974, 421, 422. Vgl. BVerfGE 56, 37 ff; 65, 1; zutreffend stellt Rogall (Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 59 f) die Mitwirkungsfreiheit als prozessualen Schutz vor unfreiwilliger Selbstbelastung besonders heraus. Dieser Gedanke trägt auch den Anspruch auf Rechtsschutz gegen die unfreiwillige Mitwirkung an der Beweisführung durch eigene Verteidigungsbemühungen; Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, 1987, 144 ff, 155 ff; Schmidt, StrVert. 1989, 421, 422. Vgl. Schmidt, StrVert. 1989, 421, 422. Vgl. Schmidt, StrVert. 1989, 421, 422; s. auch LG Mainz, NStZ 1986, 473, 474.
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entscheidende Argument der differenzierten Gewahrsamsinhaberschaft eingeschränkt werden. Vielmehr ist aus der dargelegten Funktion des §148 StPO, letztlich die Sicherung einer wirksamen und ungehinderten Strafverteidigung zu garantieren, die wiederum ihre Grundlage in dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 2 GG findet, zu folgern, daß Verteidigungsmaterial auch im Gewahrsam des Beschuldigten nicht beschlagnahmt werden darf. Die Garantie der freien Verteidigung besteht nicht nur in der formalen Gewährung eines Verteidigers, sondern auch darin, daß der Betroffene davor geschützt wird, daß die Ermittlungsbehörde seine Entlastungsbemühungen durch regelmäßige oder unregelmäßige Durchsuchungen und Beschlagnahmen des von ihm erarbeiteten oder beschafften Verteidigungsmaterials durchkreuzt 30 . Der Einwand einer Überdehnung und Überinterpretation der Wirkungsweite der spezialgesetzlichen Norm des § 148 StPO greift nicht durch. Bei der Auslegung des § 148 StPO muß auf den Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung abgehoben werden 31 , also die Freistellung der Verteidigung von jeder Behinderung oder Erschwerung, d. h. mit den Worten des BGH die „völlig freie Verteidigung" 32 . Die Vorschrift des § 148 StPO ist somit Ausdruck einer allgemeinen Rechtsgarantie des unüberwachten Verkehrs zwischen Verteidiger und Beschuldigtem 33 . Sie folgt aus dem rechtsstaatlichen Gebot (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 3 b MRK), dem Beschuldigten jederzeit die Möglichkeit einer geordneten und effektiven Verteidigung zu gewährleisten, und zwar auch unter Vermeidung jeden auch nur mittelbaren Zwangs zur Selbstbelastung 34 . Mithin beinhaltet das Verbot inhaltlicher Kontrolle i. S. des § 148 StPO auch die Anerkennung der umfassenden Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit der Vertrauensbeziehung zwischen Verteidiger und Beschuldigtem vor strafprozessualer Ausforschung 35 . §148 StPO konkretisiert damit den aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 2, 3 GG resultierenden Schutz einer effektiven Verteidigung und eines fairen Verfahrens für den Beschuldigten. Darüber hinaus schützt § 148 SPO das Recht des Beschuldigten, sich nicht selbst belasten zu müssen. Bei der Frage des Umfanges 30
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Dahs, Verwertungsverbote bei unzulässiger Beschlagnahme von Tagebuchaufzeichnungen, Verteidigungsunterlagen sowie bei unzulässiger Gesprächsaufzeichnung und Blutprobe in: Wahrheitsfindung und ihre Schranken, Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft des DAV, 1989, S. 122, 137. BGH, NJW 1973, 2035, 2036 = JZ 1974, 421, 422. s. Fn. 21, 22. AG Frankfurt, StrVert. 1988, 482; Schmidt, StrVert. 1989, 421. SK (StPO) Rudolphi, § 97 Rdn. 49; Rogall, aaO. Wtlp, Gallas-Festschrift, S. 417.
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beschlagnahmefreier Verteidigungsunterlagen erscheint die Eingrenzung des Landgerichts Mainz, wonach nur solche Unterlagen beim Beschuldigten beschlagnahmefrei sind, deren geistiger Urheber entweder der Verteidiger oder der Beschuldigte ist und die während des VerteidigungsVerhältnisses entstanden sind 36 , vor dem Hintergrund der hier vertretenen Ausdeutung des § 148 als zu eng. Auch der BGH hat den Kreis der beschlagnahmefreien Unterlagen weiter gezogen. In einem unveröffentlichten Beschluß aus dem Jahre 197837 hat er alle Schriften, die der Vorbereitung eines Verteidigungskonzeptes eines Beschuldigten dienen, als beschlagnahmefrei angesehen. Die Entscheidung läßt darüber hinaus erkennen, daß der BGH dazu neigt, im Zweifel zugunsten der Beschlagnahmefreiheit zu entscheiden, wobei er durchaus der vom Beschuldigten den Urkunden gegebenen Zweckbestimmung erhebliche Bedeutung beimißt. Danach unterliegt es ausschließlich der Entscheidung des Betroffenen, ob er Anlaß sieht, sich zur Vorbereitung seiner Verteidigung mit bestimmten, anderweitig erstellten und von anderen Autoren herrührenden Urkunden auseinanderzusetzen, was zur Beschlagnahmefreiheit seiner diesbezüglichen Aufzeichnungen führt. In gleicher Weise hat der BGH auch hinsichtlich technischer Unterlagen entschieden, die der Angeklagte von einem Rechtsanwalt erhalten und gesammelt hatte 38 . Schließlich hat der BGH 198839 nach der wiederholten Feststellung, daß Aufzeichnungen, die sich ein Beschuldigter zum Zwecke der Verteidigung gemacht hat, von der Beschlagnahme ausgeschlossen sind, dies näher dahin konkretisiert, daß zum Kreis dieser beschlagnahmefreien Unterlagen auch Notizen gehören, die Namen und Ortshinweise von Personen enthalten, die als Entlastungszeugen gekennzeichnet sind. Zwar betraf diese Rechtsprechung jeweils Angeklagte in Untersuchungshaft, aber — wie gezeigt — muß das, was für einen inhaftierten Beschuldigten gilt, erst recht für den nicht inhaftierten gelten. Auch ihm obliegt also bei der Bestimmung seiner Verteidigungsziele die Disposition, welche Schriftstücke und anderen Beweisgegenstände er — in der Regel in Abstimmung mit seinem Verteidiger — zur Vorbereitung oder im Rahmen seiner Verteidigung einsetzt 40 . Die für die Beschlagnahmefreiheit postulierte „Anbindung" der Ermittlungs- und sonstigen Verteidigungsaktivitäten darf indes nicht zu eng gefaßt werden, weil sonst den verfassungsrechtlich-prozessualen 36 37 38 39 40
LG Mainz, NStZ 1986, 473, 474. BGH, Beschl. v. 12. 4. 1978 - 1 StE 2/77 - StB 92/78 - . BGH, Beschl. v. 21. 6. 1978 - 1 BJs 23/77 - 1 StB 114/78 - . BGH, Beschl. v. 4. 5. 1988 - StB 15/88 - ; StrVert. 1988, 468 (LS). Dahs, aaO, S. 136.
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Prinzipien und den zu schützenden Erfordernissen der Praxis nicht Rechnung getragen wird. Dabei ist davon auszugehen, daß der Beschuldigte das Recht hat, die Konzeption seiner Verteidigung souverän zu bestimmen. Hat er einen Verteidiger gewählt oder ist ihm ein Verteidiger von Amts wegen beigeordnet worden, so werden in aller Regel beide gemeinsam die Richtlinien der Verteidigung festlegen wie auch verteidigungsstrategische oder -taktische Ziele bestimmen. In dem so abgesteckten Rahmen wird jeder von beiden die Einzelaufgabe übernehmen, die seiner jeweiligen fachlichen Kompetenz entsprechen oder die aus Zweckmäßigkeitsgründen ihm zugeteilt werden. Das hat zur Folge, daß sowohl der Verteidiger Informationen einholt, z. B. Zeugen befragt, mit Sachverständigen korrespondiert, Auskünfte einholt usw., wie auch der Mandant in gleicher Weise aktiv wird. Nicht selten ist überhaupt nur der Beschuldigte allein in der Lage, aufgrund seines speziellen Wissens auf speziellen Fachgebieten, z. B. Technik, Naturwissenschaft oder Medizin, die für die Verteidigung benötigten Informationen und fachlichen Erkenntnisse zu beschaffen und sachgerecht aufzuarbeiten, um dem erhobenen Vorwurf kompetent und kritisch überzeugend entgegentreten zu können. Dazu wird hier die Auffassung vertreten, daß auch derart von dem Mandanten — freilich unter dem Dach seiner Verteidigung — erarbeitetes oder beschafftes Verteidigungsmaterial — seien es Urkunden oder andere Gegenstände — beschlagnahmefrei sein muß. Es kann auch nicht darauf ankommen, ob z. B. ein Zeuge dem Beschuldigten seinen Wissensstand durch ein von ihm selbst verfaßtes Schriftstück mitteilt — dann wäre geistiger Urheber die Beweisperson und die Urkunde könnte beschlagnahmt werden — oder der Zeuge dem Beschuldigten gegenüber einen mündlichen Bericht gibt, den dieser in einer eigenen schriftlichen Aufzeichnung zusammenfaßt — deren geistiger Urheber somit der Beschuldigte selbst wäre mit der Folge der Beschlagnahmefreiheit! Es kann auch nicht darauf ankommen, ob der Beschuldigte Fotografien von einer Unfallstelle durch einen Fotografen oder zur Rekonstruktion eines Betriebsunfalles ein Maschinenmodell durch einen Modellbauer herstellen läßt oder dies, in der Regel wohl in schlechterer Qualität, selbst ausführt. Die Frage der Beschlagnahmefreiheit darf nicht davon abhängen, ob eine bestimmte Ermittlungstätigkeit des Beschuldigten auf Einzelweisung des Verteidigers und unter seiner ständigen Überwachung durchgeführt wird oder er seinem Mandanten im Rahmen der festgelegten Verteidigungskonzeption einen gewissen Gestaltungsfreiraum zur eigenen Initiative zuweist oder überläßt. An die Stelle des Postulats der geistigen Urheberschaft sollte daher als alleiniges Kriterium der Bezug zum Gegenstand der Verteidigung treten. Damit wäre begriffsnotwendig auch als zeitliche Grenze die Beendigung des den
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Gegenstand des Verfahrens bildenden Verhaltens festgelegt und ausgeschlossen, daß ein Beschuldigter durch die Bezeichnung genuinen Beweismaterials als „Verteidigungsmaterial" die Wahrheitsfindung hindern könnte. Für die Beschlagnahmefreiheit von Verteidigungsmaterial, das der Beschuldigte vor Beauftragung oder Bestellung eines Verteidigers erarbeitet oder beschafft hat, kann auf die Vorschriften der §§ 97 Abs. 1, 148 StPO nicht zurückgegriffen werden. Es ist indes nicht zu bestreiten, daß die Garantie einer freien, von den Strafverfolgungsbehörden unbehinderten Verteidigung inkomplett wäre, wenn bei dem (noch) nicht verteidigten Beschuldigten — und das ist die große Mehrheit — jederzeit unbegrenzt beschlagnahmt und damit seine Verteidigungsanstrengungen durchkreuzt werden könnten. Insoweit muß das Postulat der Beschlagnahmefreiheit unmittelbar auf Art. 20 Abs. 3, Art. 2, 3 GG i. V. m Art. 6 Abs. 3 MRK und den nemo-tenetur-Grundsatz gestützt werden. 41 . Diese Prinzipien würden dann umgangen, wenn den Strafverfolgungsbehörden beim nichtverteidigten Beschuldigten ein ungehinderter Zugang zu sämtlichem Verteidigungsmaterial gestattet würde. Es ist also anzuerkennen, daß alle Gegenstände, insbesondere Urkunden und Schriftstücke, die erkennbar den Zwecken der Verteidigung zu dienen bestimmt sind, sowohl beim Verteidiger als auch beim Beschuldigten beschlagnahmefrei sind und zwar unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt nach Beendigung der Tat und von wem sie erstellt oder beschafft worden sind. Wie allen Rechten und Freiheiten sind auch dem Recht auf Verteidigung und hier speziell der Freiheit vor Beschlagnahme von Verteidigungsmaterial Grenzen des Mißbrauchs und des Ubermaßes gesetzt. So gilt auch hier, daß der Beschuldigte nicht willkürlich sämtliche Gegenstände, die von der Strafverfolgungsbehörde beschlagnahmt werden sollen, als Verteidigungsmaterial deklarieren und damit eine Beschlagnahme verhindern kann 42 . Wie bereits oben erwähnt, müssen die Materialien „erkennbar" geeignet sein, den Zwecken der Verteidigung zu dienen. Diese Erkennbarkeit kann einmal aus der Natur der Sache folgen, z. B. der Aufzeichnung über Aussagen eines Zeugen oder Sachverständigen zum Verfahrensgegenstand, den Fotos der Unfallstelle, Rekonstruktionszeichnungen und -modellen usw. Kennzeichen für die Verteidigungsbestimmung kann aber auch der sachliche oder enge 41
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Dem liegt der vom BVerfG im Zusammenhang mit der Zeugnispflicht entwickelte Rechtssatz zugrunde, daß im Ausnahmefall eine Begrenzung des Zeugniszwanges unmittelbar aus der Verfassung folgt, vgl. BVerfGE 33, 367, 374 f; auch LG Hamburg, NStZ 1983, 182 m. Anm. Dahs; Rogall, aaO. Vgl. KG, NJW 1975, 354, 355; LG Mainz, NStZ 1986, 473, 474; Kleinknecht]Meyer, § 97 Rz. 37.
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örtliche Zusammenhang mit Verfahrensunterlagen, z. B. Anklage und Verteidigerkorrespondenz, sein. Dabei wird nicht verkannt, daß auch genuines Beweismaterial, z. B. Buchhaltungs- und Bankunterlagen, die erkennbar mit dem strafrechtlichen Vorwurf in Zusammenhang stehen, für die Verteidigung wichtig sein können. Das Interesse, über derartiges Material jederzeit im Original zu verfügen, kann allerdings die Beschlagnahmefreiheit nicht begründen; insoweit kommt vielmehr den Strafverfolgungsinteressen und dem Gebot der gerichtlichen Wahrheitsfindung schon nach der Struktur des Strafprozesses Vorrang zu. Auch kann „Verteidigung" im richtig verstandenen Sinne erst einsetzen, wenn der strafrechtlich relevante Vorgang abgeschlossen ist. Der „Rückgriff auf früher entstandenes Beweismaterial ist dem Beschuldigten deshalb nicht verwehrt; er ist lediglich auf die gesetzliche Möglichkeit der Besichtigung der Beweisstücke entweder über seinen Verteidiger gem. § 147 Abs. 1 oder durch von der Strafjustiz gestattete eigene Augenscheinseinnahme beschränkt. Soweit er von genuinem Beweismaterial Fotos, Skizzen oder Kopien zur Auswertung im Rahmen seiner Verteidigung hergestellt hat, sind diese jedenfalls dann beschlagnahmefrei, wenn der Strafverfolgungsbehörde die Originale zur Verfügung stehen 43 . Der Schutzbereich umfaßt daher nicht nur das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem, sondern den Gesamtbereich der Verteidigung. Von dieser Erkenntnis ausgehend muß nun noch die Frage nach der Beschlagnahmefähigkeit von Verteidigungsmaterial beantwortet werden, das sich weder im Gewahrsam des Verteidigers noch des Beschuldigten, sondern im Gewahrsam eines Dritten befindet. Handelt es sich bei diesem Dritten um eine Person, der das berufliche Zeugnisverweigerungsrecht des § 53 Abs. 1 Nr. 1 —3 a zur Seite steht, also zu. B. wie in der Praxis nicht selten einen Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer, vereidigten Buchprüfer und Steuerberater, den der Beschuldigte oder sein Verteidiger als Hilfsperson oder Gutachter herangezogen hat, so kann die Beschlagnahmefreiheit aus § 97 Abs. 1 Nr. 1 — 3 abgeleitet werden. Da der Kreis der Berechtigten durch § 97 Abs. 1 i. V. m. § 53 Abs. 1 Nr. 1—3 a abschließend bestimmt ist, müßte also sämtliches Verteidigungsmaterial beschlagnahmefahig sein, das sich bei anderen Personen, z. B. einem Kfz.-Sachverständigen, technischen Sachverständigen, Detektiv oder Zeugen befindet. Eine Möglichkeit, diese Lücke im Beschlagnahmeschutz zu schließen, könnte in einer erweiternden Auslegung des § 53 a StPO gesehen werden d. h. es müßten z. B. Sachverständige sowie Beweis- oder Auskunftspersonen als Hilfspersonen des
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Dabs, aaO, S. 137.
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Verteidigers qualifiziert werden können. Dies ist für Zeugen und Informationspersonen, insbesondere amtlicher Funktion, schon aus systematischen Gründen ausgeschlossen. Aber auch für Sachverständige, Detektive, Mitarbeiter von Datenbanken u. ä. kommt eine entsprechende Anwendung des § 53 a StPO nicht in Betracht, weil Personen, die für den Verteidiger nur einzelne Aufträge erledigen, damit nicht zu Hilfskräften i. S. des § 53 a werden 44 . Man mag es als ein Gebot verfahrensrechtlicher Fairneß ansehen, derartige Personen nicht mit der Autorität der Strafverfolgungsbehörde über die Verteidigungsbemühungen des Beschuldigten „auszuquetschen", dem steht jedoch das Argument entgegen, daß unter dem Aspekt des umfassenden Ermittlungsauftrages des § 160 auf keine Erkenntnisquelle verzichtet werden darf. Der Strafverteidiger wird hier den Standpunkt zu vertreten haben, daß aus dem oben behandelten Prinzip der Gewährleistung einer substantiell freien und effektiven Verteidigung die Beschlagnahmefreiheit von Verteidigungsmaterial auch auf diesen Bereich ausgedehnt werden muß 45 , zumal die Inanspruchnahme dritter Personen zur Erreichung des Zieles einer sachlich schlüssigen und fachlich kompetenten Verteidigungslinie oftmals unerläßlich ist. Demgegenüber ist kein Verfassungs- oder Verfahrensprinzip ersichtlich, das es den Strafverfolgungsbehörden gebieten würde, Beweismaterial gerade aus den Verteidigungsbemühungen des Beschuldigten zu gewinnen. Ein dahingehendes Recht, das stets mit einer entsprechenden Pflicht korrespondieren würde, erschiene auch unter dem Aspekt der Objektivität von Staatsanwaltschaft und Gericht mehr als problematisch!
II. Mit dem umfassenden Schutz des Verteidigungsmaterials ist der prozessuale Verteidigungsring in bezug auf die gegenständliche Fixierung der Verteidigungsüberlegungen in Schriftstücken, Urkunden und anderen Gegenständen vollständig geschlossen. Das Gesamtproblem des Schutzes des Beschuldigten vor Ausspähung seines Verteidigungskonzeptes durch die Staatsanwaltschaft ist damit allerdings noch nicht gelöst. Die Beschlagnahmefreiheit auch der Verteidigungsunterlagen, die von Dritten (Sachverständigen, Zeugen, Auskunftspersonen usw.) 44
45
KK-Pelchen, § 53 a Rdn. 3; Löwej Rosenbergj Dahs, § 53 a Rdn. 3; KleinknechtjMeyer, § 53 a Rdn. 2; anderer Auffassung für einen Detektiv, der in einer besonders engen Beziehung zur Berufstätigkeit des Verteidigers steht: LG Frankfurt, NJW 1959, 589; zust. KMR-Paulus, § 53 a Rdn. 4. Vgl. Fn. 41.
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für den Beschuldigten erstellt oder zusammengetragen wurden, kann nämlich dann umgangen und entwertet werden, wenn die Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit haben, den betreffenden Dritten als Zeugen über den Inhalt des für den Beschuldigten bestimmten Verteidigungsmaterials zu befragen. Um dies zu verhindern, müßte dem nicht schweigepflichtigen und an sich zeugnispflichtigen Dritten ein partielles Zeugnisverweigerungsrecht zugestanden werden, wenn von ihm Auskunft über den Inhalt der beschlagnahmefreien, von ihm erstellten Unterlagen verlangt wird 46 . Ein solches Zeugnisverweigerungsrecht des Dritten ist eine konsequente Folge des Rechts auf „völlig freie Verteidigung", wie es hier vertreten wird. Es ist nicht nur aus sachlichen Gründen, sondern auch deshalb notwendig, um den Sinn des § 148 StPO, den Schutz der Geheimsphäre innerhalb des Verteidigungsverhältnisses tatsächlich zu realisieren. Denn was nützt ein Beschlagnahmeverbot, z. B. für ein Sachverständigengutachten, wenn der Sachverständige über den Inhalt seiner schriftlichen Ausführungen vor den Strafverfolgungsbehörden aussagen muß? Für den Beschuldigten darf es keine Gefahr darstellen, wenn er, um seine Verteidigungsziele zu verwirklichen, Dritte beauftragt, für seine Verteidigung wichtige Fragen, die er mangels Fachkenntnis nicht selbst beantworten kann, aufzuklären. Wenn der Beschuldigte fürchten muß, daß diese Dritten über ihre Erkenntnisse befragt werden, so ist der Verteidigung faktisch die Möglichkeit genommen, Verteidigungsziele mit Hilfe sachkundiger Dritter zu verfolgen. Damit wäre eine effektive Verteidigung unzulässig eingeengt. Man müßte auch einen Verstoß gegen das nemo-teneturPrinzip annehmen, wenn durch die Befragung Dritter, die legal in das Verteidigungsverhältnis einbezogen wurden, um bestimmte Fragen des Verteidigungskonzeptes zu klären, Einzelheiten, die der Beschuldigte den Strafverfolgungsbehörden nicht zugänglich machen wollte, diesen dann doch bekannt würden. Mit Recht weist Welp draufhin, daß jede Erforschung der Geheimsphäre zwischen Verteidiger und Beschuldigten nicht nur das persönlichkeitsrechtliche Geheimhaltungsinteresse des Beschuldigten beeinträchtigt, sondern zugleich seine prozessuale Position, die durch die Garantie wirksamer Verteidigung und den Schutz seiner Aussagefreiheit bestimmt ist 47 . Demnach muß das Prinzip freier und effektiver Verteidigung als verletzt angesehen werden, wenn die Staatsanwaltschaft sich Informationen aus dem Verteidigungsverhältnis verschafft, die der Beschuldigte nicht herausgeben wollte. Die hier postulierte „Sperre" greift für die Vernehmung eines Sachverständigen indes nicht schon dann Platz, wenn dieser lediglich von 46 47
Vgl. Welp, Gallas-Festschrift, S. 415. Welp, Gallas-Festschrift, S. 416.
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der Verteidigung „angesprochen" worden ist, sondern erst dann, wenn er in die Verteidigungssphäre einbezogen worden d. h. im einzelnen informiert und instruiert worden ist. Die Entscheidung ist an Hand der Umstände des Einzelfalles zu treffen, ohne daß auf diesem Umweg eine Exploration in den gesperrten Bereich hinein erfolgen darf. Allerdings ist einzuräumen, daß die „Sperre" eines Beweismittels für die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte aufgrund früherer Inanspruchnahme durch die Verteidigung nur für den Sachverständigen gelten kann. Der Sachverständige wird dadurch charakterisiert, daß er nicht über eigene tatsächliche Wahrnehmungen verfügt, die zur Aufklärung des Sachverhalts dienen können, der Gegenstand des Verfahrens ist. Er hat vielmehr aus Tatsachen, die mit Hilfe anderer Beweismittel gefunden wurden, aufgrund seiner Fachkunde der Strafverfolgungsbehörde oder dem Gericht Erkenntnisse oder Schlußfolgerungen zu vermitteln; nur im Ausnahmefall hat er die Aufgabe, aufgrund seiner besonderen Sachkunde selbst bestimmte Tatsachen festzustellen 48 . Eben deshalb ist der Sachverständige im Rahmen der erforderlichen Sachkunde auch austauschbar (vgl. § 73). Damit unterscheidet er sich im Hinblick auf das Ziel der Wahrheitsfindung wesentlich vom Zeugen und sachverständigen Zeugen, deren Funktion gerade darin besteht, durch Vermittlung von ihnen wahrgenommener Tatsachen die Aufklärung des zu untersuchenden Sachverhalts zu ermöglichen 49 . Der Zeuge ist deshalb auch nicht austauschbar. Die „Sperre" eines Zeugen, der vom Beschuldigten, dem Verteidiger oder einem beauftragten Dritten zur Sache befragt wurde, für die Straf] ustiz, würde damit — im Gegensatz zum Sachverständigen — zum Ausfall eines Beweismittels führen. Dies müßte folgerichtig auch dann gelten, wenn ein bereits von den Strafverfolgungsbehörden gehörter Zeuge aufgrund einer späteren Befragung durch die Verteidigung zusätzliche Tatsachen bekunden würde. In der Praxis könnte es dann darauf ankommen, ob Verteidigung oder Staatsanwaltschaft „schneller" sind in der Ermittlung von Zeugen und der Intensität ihrer Befragung. Dies ist in einem Strafprozeß, dessen oberstes Prinzip die Ermittlung der materiellen Wahrheit ist, nicht akzeptabel und widerspricht auch dem verfassungsrechtlichen Gebot einer funktionsfähigen und effektiven Strafrechtspflege (Art. 20 Abs. 3 GG) 5 0 . Die „Sperre" eines Beweismittels für Strafverfolgungsbehörden und Gerichte kann daher nur anerkannt werden, soweit es dadurch 48 49 50
LR-Dahs, vor § 72 Rz. 7, 2, 6. LR-Dahs, vor § 48 Rz. 2 ff. SV-Rspr. des BVerfG; vgl. nur E 44, 353, 374; 41, 246, 250; 33, 367, 383.
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nicht zum Ausfall eines Beweismittels kommt, was ausnahmsweise auch bei einem Sachverständigen der Fall sein kann, wenn er für besondere Fragen der allein zur Verfügung stehende Fachkundige ist.
III. Es bleibt die Frage nach den prozessualen Folgen unzulässiger Beschlagnahme von Verteidigungsmaterial und einer Befragung „gesperrter" Personen zu beantworten. Dabei ist zunächst der Fall zu beurteilen, in dem die unzulässig beschlagnahmten Unterlagen oder die Befragung der „gesperrten" Personen im Prozeß unmittelbar als Beweis gegen den Angeklagten verwendet werden sollen. Zu denken ist an ein Verfahrenshindernis. Unmittelbar aus dem Grundgesetz lassen sich Prozeßhindernisse allerdings nicht herleiten, was insbesondere für Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip wegen der Weite und Unbestimmtheit dieses Prinzips 51 gelten soll. Das Verfahrenshindernis setzt i. ü. einen Umstand von solchem Gewicht voraus, daß er dem Verfahren in seiner Gesamtheit entgegensteht 52 . Ein so gewichtiger Grund soll sogar dann nicht vorliegen, wenn die Staatsanwaltschaft das gesamte Verteidigungskonzept des Angeklagten kennt, weil dieser dadurch keines seiner prozessualen Rechte verliere 53 . Da somit rechtswidrig erlangte Beweise kein Verfahrenshindernis darstellen, ist zu postulieren, daß das durch rechtswidrige Beschlagnahme oder Befragung erlangte Material im Prozeß unverwertbar ist 54 . Da das prozessual schutzwürdige Geheimhaltungsinteresse des Beschuldigten sich nach erfolgter Geheimnisverletzung auf das Unterbleiben einer Modifizierung der fraglichen Umstände im Urteil 55 richtet, dürfen die so gewonnenen Beweise bei der Urteilsfindung nicht verwertet werden. Das Interesse des Staates an der Tataufklärung hat hier gegenüber dem Individualinteresse des Beschuldigten an der Bewahrung seiner Rechtsgüter, hier dem Schutz des Verteidigungsverhältnisses vor unerlaubter Ausforschung und der Gewährung eines fairen Verfahrens, zurücktreten. Dieses Ergebnis entspricht der einhelligen Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum, nach der Gegenstände, die entgegen 51 52 53 54 55
Kleinknecht]Meyer, Einl., Rdn. 147/148. B G H , N S t Z 1984, 419. B G H , N S t Z 1984, 419. Vgl. auch Gössel, Anm. zu B G H , N S t Z 1984, 419, 421. Welp, Gallas-Festschrift, S. 411.
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dem Verbot des § 97 StPO beschlagnahmt worden sind, grundsätzlich nicht für die Überzeugungsbildung des Gerichts verwertet werden dürfen 56 . Dieser Grundsatz muß auch für den durch § 148 StPO und die zugrunde liegenden Verfassungsbestimmungen erweiterten Beschlagnahmeschutz gelten. Weiterhin ist die Situation zu beurteilen, in der aufgrund der Beschlagnahme beschlagnahmefreier Unterlagen oder der Befragung „gesperrter" Sachverständiger die Strafverfolgungsbehörden durch die Verwertung der auf diese Weise erhaltenen Informationen weitere Beweise zu Lasten des Beschuldigten ermitteln. Können diese Beweise in den Prozeß gegen den Beschuldigten eingebracht werden? Diese Frage betrifft das Problem, ob dem Beweisverbot eine Fernwirkung auch auf diejenigen selbständigen Beweismittel zukommt, für deren Erlangung der Beweisverbotsverstoß ursächlich war. Die Problematik ist in Rechtsprechung und Lehre höchst umstritten, und es kann hier der Meinungsstand nur kurz skizziert werden. Die Befürworter einer Fern Wirkung der Beweis verböte 57 , die sich insoweit an die sog. „fruit of the poisonous tree doctrine" des USRechts anlehnen, kämen auch hier zu dem Ergebnis, daß die mittelbar durch den Beweisverbotsverstoß ermittelten Beweise nicht in dem Prozeß verwertet werden dürften. Als Hauptargument der Befürworter einer Fernwirkung wird angeführt, daß ohne ein umfassendes Verwertungsverbot der Zweck der Beweiserhebungsverbote in der Praxis vereitelt werden würde 58 . Darüber hinaus wird ein Verstoß gegen die Achtung der Menschenwürde befürchtet, deren prozeßrechtliche Ausformung das Verwertungsverbot darstelle und die niemand deshalb verliere, weil er einer Straftat verdächtig ist 59 . Schließlich sehen die Befürworter einer Fernwirkung einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip, wenn eine Straftat nur mit Mitteln aufgeklärt werden kann, die der Rechtsstaat nicht erlaubt 60 . Eine andere Auffassung lehnt grundsätzlich eine Fernwirkung eines VerwertungsVerbotes ab 61 . Als Gründe werden dafür angeführt, daß durch eine Fernwirkung die Wahrheitserforschung im gesamten Strafverfahren und damit auch das Legalitätsprinzip lahmgelegt würde, der 56
57
58 59 60 61
BGHSt. 18, 227; 25, 168; LöwejRosenberg\Schäfer, § 97 Rdn. 103; KleinkmcbtjMeyer, § 97 Rdn. 46. LG Hannover, StrVert. 1986, 521, 522; Dencher, Verwertungsverbot im Strafprozeß, 1977, S. 78 ff; Grünwald, StrVert. 1987, 472; den., JZ 1966, 500; Otto GA 70, 294 f. Grünwald, JZ 1966, 500; Otto, GA 70, 294 f. LG Hannover, StrVert. 1986, 522. LG Hannover, StrVert. 1986, 522. BGHSt. 34, 362, 364 f; OLG Stuttgart, NJW 1973, 1041 f; Alsberg/Nüse¡Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 1983, S. 486; Gössel, Strafverfahrensrecht, 1977, S. 183; KleinknechtjMeyer, § 136 a Rdn. 31; LöwejRosenbergjSchäfer, Einl. Kap. 14, Rdn. 49.
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Schuldgrundsatz Gleichheit und Gerechtigkeit erheblich tangiert wären und schließlich die hypothetische Kausalität zwischen Verfahrensfehler und späterer Überführung des Beschuldigten nur schwer feststellbar sei 62 . Nach dieser Auffassung könnten mittelbar gewonnene Beweise im Prozeß verwendet werden. Eine Mittelmeinung schließlich trifft die Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen einer Fernwirkung nach den Umständen des Einzelfalles 63 . Eine Fernwirkung wird dann bejaht, wenn zum Nachteil des Beschuldigten in grober Weise gegen Recht und Gesetz verstoßen wurde, oder wenn die Aufklärung von verhältnismäßig leichten Straftaten in Rede steht 64 . Der Streit kann hier nicht entschieden werden. Es soll nur angemerkt werden, daß es bei der Frage, ob dem Beweiserhebungsverbot eine Fernwirkung zukommt, letztlich um die Abwägung von mit Verfassungsrang ausgestatteten Wertungsprinzipien geht. Auf der einen Seite der Schutz des Beschuldigten aus dem Rechtsstaatsprinzip, der sich in § 148 StPO konkretisiert hat, auf der anderen Seite die Effektivität der Strafrechtspflege. Keine dieser Grundsätze kann generell und absolut gelten, weil dann der andere völlig zurücktreten müßte. Die Frage, welcher Rechtsgrund überwiegt, kann daher nur unter Abwägung der Umstände des Einzelfalles gelöst werden, weil nur so den unterschiedlichen Verfassungswerten gerecht zu werden ist. Dabei ist zu beachten, daß die Appellfunktion der Beweiserhebungsverbote an die Strafverfolgungsbehörden, auf bestimmte Beweiserhebungsmethoden zu verzichten, ins Leere laufen würden, wenn diese Methoden zwar verboten sind, aber ihre u. U. prozeßentscheidenden Ergebnisse indirekt doch verwertet werden dürften. Eine solche „Belohnung" der sich verbotener Ermittlungsmethoden bedienenden Strafverfolgungsbehörden würde dem Sinn der Beweiserhebungsverbote zuwiderlaufen. Auf der anderen Seite sind aber auch Aufgabe und Wirkung der Strafrechtspflege zu gewichten. Sie hat die Aufgabe, Straftaten zu ahnden mit der Wirkung, daß die Bevölkerung sich in dem Rechtsstaat sicher fühlt und das Gewaltmonopol des Staates anerkennt. Diese Bejahung des Rechtsstaates durch die Bevölkerung nimmt immer dann ab, wenn tatsächlich überführte Täter aufgrund von Verfahrensdefiziten nicht verurteilt werden können, besonders, wenn es sich um schwerwiegende Straftaten oder gefährliche Täter handelt. Dagegen steht wiederum, daß es ein 62 63
64
BGHSt. 34, 362, 364; BGH, NStZ 1984, 275. BGHSt. 29, 244, 249 ff; KK-Boujong, § 136 a Rdn. 42; Lbwe\Rostnberg\Hanack, § 136 a Rdn. 66f; Maiwald, JuS 78, 384f; Rogall, ZStW 91, 39f; SK (StPO) Rogall, § 136a Rdn. 94 f; Wolter, NStZ 1984, 277 f. Maiwald, JuS 78, 384 f; Wolter, NStZ 1984, 277 f.
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Wesensmerkmal des Rechtsstaates ist, die Verurteilung des Straftäters nicht um jeden Preis zu wollen. Zur Verteidigung des Rechtsstaates sind die Strafverfolgungsbehörden aber gerade dann aufgerufen, wenn besonders gefahrliche Täter die Rechtsgüter der Bürger gefährden. Deshalb kann auch nicht jede Mißachtung von Verfahrensvorschriften dazu führen, daß mittelbar erlangte Beweise überhaupt nicht verwertet werden dürfen. Die Grenzen für eine Verwertbarkeit solcher Beweise müssen allerdings sehr eng gezogen werden, damit nicht der rechtsstaatliche Sinn der Beweiserhebungsverbote aufgehoben wird. Zu tolerieren ist eine mittelbare Verwertung nur dann, wenn es um die Ahndung der Verletzung von hohen Rechtsgütern oder den Schutz vor besonders gefährlichen Straftätern geht. Als Entscheidungshilfe könnte hier eine Anlehnung an den Katalog der Straftaten in § 100 a StPO dienen 65 . So muß also die Frage, ob die durch die Beschlagnahme beschlagnahmefreier Unterlagen oder Befragung „gesperrter" Sachverständiger mittelbar erlangten Beweise im Prozeß gegen den Beschuldigten verwendet werden dürfen, der Beurteilung im Einzelfall vorbehalten bleiben.
IV.
Fazit: Unterlagen, die der Verteidigung zu dienen bestimmt sind, unterliegen nicht der Beschlagnahme, gleichgültig, ob sie sich beim Verteidiger, beim Beschuldigten oder einem Dritten befinden. Dies folgt aus dem spezialgesetzlich in § 148 StPO geregelten und im Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes verankerten Recht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung, insbesondere auf Wahrung der Geheimsphäre seines Verteidigungsverhältnisses so wie dem nemo-teneturPrinzip. Entsprechendes muß auch für den unverteidigten Beschuldigten gelten. Darüber hinaus ist in konsequenter Fortsetzung, aber auch zum Schutz des Rechtes auf effektive Verteidigung zu postulieren, daß Dritten, die in das Verteidigungsverhältnis einbezogen wurden, ein unmittelbar aus Art. 20 Abs. 3, Art. 23 GG abgeleitetes Zeugnisverweigerungsrecht über das in diesem Zusammenhang gewonnene Wissen
65
So Maiwald,
JuS 78, 385.
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zugestanden wird. Eine rechtswidrige Beschlagnahme oder Befragung Dritter hat zur Folge, daß die daraus unmittelbar erlangten Beweise nicht verwertet und das Urteil nicht darauf gestützt werden darf. Über die „Fernwirkung" dieses Beschlagnahmeverbotes ist unter Abwägung der widerstreitenden Rechtsprinzipien nach den Umständen des konkreten Falles zu entscheiden.
Zur Struktur des Ausschließungsverfahrens gemäß §§ 138äff StPO G E R H A R D FEZER
I. Das Stfukturproblem §§ 138 c, 138 d StPO regeln das Verfahren über die Ausschließung des Verteidigers nur lückenhaft. So sieht § 138 c Abs. 2 StPO zwar vor, daß die Entscheidung über die Ausschließung durch einen Strafsenat des O L G bzw. des BGH 1 einer Vorlage durch das Strafgericht bzw. eines Antrages durch die StA bedarf, aber es ist nicht näher geregelt, welchen Inhalt der Vorlagebeschluß bzw. der Antrag 2 haben muß. Diese Regelungslücke führt zu den Folgefragen, welche verfahrensrechtlichen Auswirkungen ein irgendwie unvollständiger oder auch ein „unschlüssiger" Antrag hat, insbesondere welche Befugnisse oder Verpflichtungen dem Strafsenat in solchen Fällen zukommen und welche Entscheidungsmöglichkeiten er hat. Was die Tatsachengrundlage für die Ausschlußgründe betrifft, so beschränkt sich § 138 d Abs. 4 Satz 2 StPO auf die Regelung, daß der Umfang der Beweisaufnahme durch das Gericht bestimmt wird. Offen bleibt, in welchen Fällen eine Beweisaufnahme geboten ist, insbesondere welche Bedeutung die in dem Antrag angeführten Beweismittel haben. Offen bleibt auch, ob sich die Beweisaufnahme auf einen im Antrag nicht angeführten Ausschließungsgrund beziehen darf oder muß. Es ist unschwer zu erkennen, daß alle diese offenen Fragen im wesentlichen das Verhältnis zwischen dem vorlegenden (beantragenden) Organ und dem entscheidenden Organ der Strafrechtspflege betreffen. Damit ist aber die — bislang nicht ganz geklärte — Frage nach der Struktur des Ausschließungsverfahrens angesprochen.
1 2
Im folgenden ist aus Vereinfachungsgründen nur von „Strafsenat" die Rede. Im folgenden werden aus Vereinfachungsgründen Vorlagebeschluß und Antrag im Begriff „Antrag" zusammengefaßt.
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II. Strukturvergleich mit dem reformierten Anklageprozeß Die Möglichkeit eines Verteidigerausschlusses ist zur Sicherung einer geordneten Strafrechtspflege, insbesondere zur Gewährleistung einer funktionsfähigen Verteidigung für den Beschuldigten, geboten 3 . Es ist daher folgerichtig, daß die Ausschließung keine Ermessensentscheidung darstellt. Nach §§ 138 a Abs. 1, Abs. 2, 138 b StPO „ist" der Verteidiger auszuschließen, wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen. Das bedeutet nicht nur, daß der Strafsenat, der gem. § 138 c Abs. 1 StPO die Entscheidungskompetenz hat, in seiner Entscheidung gebunden ist. Vielmehr sind auch die StA und das Gericht, bei dem das Strafverfahren anhängig ist, verpflichtet, gem. § 138 c Abs. 2 StPO den Antrag auf Ausschließung zu stellen bzw. einen entsprechenden Vorlagebeschluß zu erlassen, wenn aus ihrer Sicht die Ausschließungsvoraussetzungen vorliegen. Die Verpflichtung zur Verfahrenssicherung kann nicht auf das von einem Antrag bzw. einer Vorlage abhängige entscheidungsbefugte Gericht beschränkt bleiben, sie muß vielmehr auch die antrags- bzw. vorlagebefugten Organe der Sträfrechtspflege treffen, sonst würde der Zweck der Regelung nicht erreicht werden können. Die antragsbefugten und die entscheidungsbefugten Organe der Strafrechtspflege nehmen also gemeinsam, nur mit unterschiedlichen Funktionen, die Aufgabe der Verfahrenssicherung wahr. Zwingend geboten ist diese Funktionsteilung nicht. Es ließe sich denken und wurde im Gesetzgebungsverfahren auch vorgeschlagen 4 , daß das Strafgericht selbst (mit oder ohne Antrag der StA) die Entscheidungskompetenz hat. Das würde bedeuten, daß das Gericht aufgrund entsprechender Anhaltspunkte von Amts wegen überprüft, ob ein Ausschließungsgrund vorliegt. Das wäre — soweit ein Antrag der StA nicht notwendig ist — ein inquisitorisches Verfahren: Dasselbe Organ der Strafrechtspflege, das auf einen Verdacht hin eine Untersuchung durchführt, trifft auch die Entscheidung. Nun hat aber der Gesetzgeber die Entscheidungskompetenz einem bisher mit der Sache nicht befaßten Gericht anvertraut, sie dem Prozeßgericht also genommen, da dies aus der Sicht des Verteidigers als befangen angesehen werden kann. Außerdem sollte auf diese Weise vermieden werden, daß das Verhandlungsklima vor dem erkennenden Gericht belastet werden und insbesondere der Eindruck entstehen könnte, das erkennende Gericht wolle sich eines
3 4
BT-Drucks. 7/2526, S. 10 f. Vgl. BT-Drucks. 7/2526, S. 12; Ulsenheimer, GA 1975, 119f; Waller, DRiZ 1974, 181 f; Holtz, JR 1973, 366.
Zur Struktur des Ausschließungsverfahrens gemäß §§ 138 a ff StPO
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unbequemen Verteidigers entledigen 5 . Der Kompetenz Verlagerung wurde eine gewisse „Befriedungsfunktion" beigemessen 6 . Diese Funktionsteilung ändert indes an der gemeinsamen Aufgabenerfüllung und Verpflichtung der beteiligten Organe der Strafrechtspflege nichts. Daraus ergeben sich erste Anhaltspunkte für die Grundstruktur des AusschließungsVerfahrens: Mit dem Antragserfordernis ist ein „akkusatorisches" Element 7 in das Verfahren hineingekommen, das aber lediglich formaler Natur ist. Der Strafsenat darf zwar nur auf Antrag hin tätig werden, aber angesichts seiner eigenen Prüfungsverpflichtung ist er vom Inhalt des Antrags unabhängig. Diese Verfahrensstruktur hat nicht nur eine Ähnlichkeit mit der Struktur des reformierten Anklageprozesses, sie ist vielmehr mit ihr zwangsläufig identisch. Der Gesetzgeber der Reichsstrafprozeßordnung hat (nach dem Vorbild der einzelstaatlichen Prozeßordnungen) in Abkehr vom Inquisitionsprozeß eine Funktionsteilung zwischen StA und Gericht eingeführt, weil nur so die Unbefangenheit und Neutralität des entscheidenden Organs gewährleistet werden konnte 8 . Der Anklagegrundsatz wurde dabei der Form, nicht dem Inhalt nach verwirklicht, d. h. eine gerichtliche Wahrheitsfindung ist zwar ohne Antragstellung nicht möglich, die Geltung des Amtsaufklärungsgrundsatzes für das gerichtliche Verfahren bedeutet jedoch, daß das Gericht an die in der Anklageschrift genannten Tatsachen und Beweismittel nicht gebunden ist. StA und Gericht sind — trotz der Funktionsteilung — ein und demselben Ziel, der Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet 9 . Die Einzelausgestaltung der Anklageerhebung und des Zwischenverfahrens ergibt sich folgerichtig aus dieser Verfahrensstruktur: Der Anklageschrift kommt die Funktion zu, durch Beschreibung der „Tat" den Gegenstand für das gerichtliche Verfahren festzulegen. Angesichts des das gerichtliche Verfahren prägenden Amtsaufklärungsgrundsatzes sind weitere Angaben in der Anklageschrift, vor allem was die genannten Beweismittel und Beweistatsachen betrifft, für das Gericht nicht bindend. Folgerichtig ist auch, 5 6 7 8
9
BT-Drucks. 7/2526, S. 22. BT-Drucks. 7/2526, S. 12, 22. In dieser Richtung bereits Rieß, JR 1976, 207 f. Vgl. z. B. Eh. Schmidt, Einführung in die Geschichte der Deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl., 1964, S. 328 und in Festschrift für Kohlrausch, 1944, S. 278; zusammenfassend Zimmermann, Freiheit und Gebundenheit der Staatsanwaltschaft bei der Anklageerhebung, 1988, S. 57 ff. Alle staatlichen Organe im Strafverfahren sind dem Ziel der materiellen Wahrheit verpflichtet: C.J. A. Mittermaier, Die Gesetzgebung und Rechtsübung über Strafverfahren nach ihrer neuesten Fortbildung, 1856, S. 302 ff; Zachariä, Handbuch des deutschen Strafprocesses, Bd. 1, 1861, S. 39 ff; Sundelin, Die Staatsanwaltschaft in Deutschland, 1860, S. 14 ff; Motive zur RStPO, bei Hahn, Materialien zur Strafprozeßordnung, 2. Auflage, 1885, S. 152 f; Zimmerman (Fn. 8), S. 60.
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daß das Gericht im Zwischenverfahren einzelne Beweiserhebungen nicht nur anordnen darf, sondern ggf. anordnen muß. Aus dieser Grundstruktur ergeben sich dann im einzelnen die Folgerungen für alle Detailfragen, die mit unvollständigen oder inhaltlich nicht überzeugenden Anklageerhebungen zusammenhängen. Darauf wird im einzelnen zurückzukommen sein (s. u. IV.). Dieser Strukturvergleich ergibt für das Ausschließungsverfahren: Das Antragserfordernis hat auch hier nur formale Bedeutung; es führt zu einer Aufteilung der Funktionen auf zwei denselben Grundsätzen verpflichtete Strafverfolgungsorgane. Es ist daher strukturell zwingend (nicht nur „naheliegend" 10 ), daß der Antrag auf Ausschließung die Funktion hat, den Gegenstand des gerichtlichen Ausschließungsverfahrens festzulegen, daß insoweit also die Regelung des § 200 Abs. 1 StPO entsprechend anwendbar ist. Die weitere Funktion der Anklageschrift, durch die Angaben der Beweismittel und die Wiedergabe der wesentlichen Ermittlungsergebnisse das Gericht und den Angeklagten über die Beweissituation zu unterrichten, kommt dem Ausschließungsantrag ebenfalls zu, der insoweit aber — angesichts des Amtsaufklärungsgrundsatzes — den Strafsenat genausowenig bindet wie die Anklageschrift das Strafgericht. Angesichts dieser formalen Strukturgleichheit ist allerdings noch darauf hinzuweisen, daß eine inhaltliche Identität der Prüfungstätigkeit des Gerichts im Zwischenverfahren und des entscheidenden Gerichts im Ausschließungsverfahren nur hinsichtlich des Verdachtsgrades des hinreichenden Tatverdachts („in einem die Eröffnung des Hauptverfahrens rechtfertigenden Grade verdächtig") besteht: Prüfungsgrundlage und Prüfungsmaßstab sind im Zwischenverfahren und im Ausschließungsverfahren insoweit dieselben. Die Anwendung des Maßstabes des in §138a StPO zuerst genannten „dringenden Tatverdachts" 11 kennzeichnet dagegen nicht die inhaltliche Prüfung im Zwischenverfahren, sondern eher etwa die Prüfung der Voraussetzungen der Untersuchungshaft. Auf diesen Unterschied hinsichtlich der inhaltlichen Prüfung kommt es jedoch nicht an. Entscheidend ist, daß auch bei der Anwendung des Maßstabes des dringenden Tatverdachts eine Funktionsteilung zwischen dem beantragenden und dem entscheidenden Strafverfolgungsorgan stattfindet, daß insbesondere die Verdachtsprüfung von diesen beiden Organen nach jeweils demselben Maßstab und 10 11
So etwa Rieß, JR 1976, 207. Auch nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollte „in erster Linie" an den schwersten Verdachtsgrad angeknüpft werden (vgl. BT-Drucks. 7/2526, S. 21 und Fe%er, JR 1990, 79). Diese Vorstellung war während des Gesetzgebungsverfahrens indes nicht unbestritten: vgl. Waller, DRiZ 1974, 179; Ulsenheimer, GA 1975, 110 f.
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auf der Grundlage des vom antragstellenden Organ vorgelegten (und vom Gericht u. U. zu ergänzenden) Materials vorgenommen wird. Der einzige Unterschied gegenüber der inhaltlichen Prüfung im Zwischenverfahren liegt in der Größe der Wahrscheinlichkeit und u. U. in der erforderlichen Breite des Tatsachenmaterials12. Im folgenden kann daher der inhaltliche Unterschied des Prüfungsmaßstabes („dringender" oder „hinreichender" Tatverdacht) vernachlässigt werden. III. Die Entscheidung über die Ausschließung Aus der grundsätzlichen formalen Strukturgleichheit zwischen dem Zwischenverfahren und dem Ausschließungsverfahren sind zunächst Folgerungen zu ziehen, was den Charakter der jeweiligen Entscheidung betrifft. Aus der Verfahrensstruktur der StPO ergibt sich für das Zwischenverfahren folgendes: Das Gericht prüft und entscheidet, ob die Voraussetzungen für die Eröffnung des Hauptverfahrens vorliegen oder nicht. Im letzteren Fall lautet die Entscheidung folgerichtig, daß die Eröffnung abgelehnt wird, und nicht etwa, daß ein Antrag der StA zurückgewiesen wird. Denn die StA macht mit der Anklageerhebung nicht etwa ein „Recht" oder einen „Anspruch" geltend, über dessen Vorliegen das Gericht zu entscheiden hätte. Mit der Anklageerhebung kommt sie vielmehr ihrer Verpflichtung nach, einem Straftatverdacht nachzugehen und bei einer entsprechenden Verurteilungsprognose den Beschuldigten anzuklagen. Bejaht das Gericht aufgrund eigener Prüfungsverpflichtung das Vorliegen dieser Voraussetzungen, leitet es mit dem Eröffnungsbeschluß das Verfahren in das nächste Stadium über, andernfalls lehnt es diese Überleitung ab; ein „Antrag" der StA ist folgerichtig nicht Gegenstand der Entscheidung. So gesehen versteht es sich von selbst, daß es im Zwischenverfahren keine Entscheidung gibt, mit der eine Anklage als „unzulässig" zurückgewiesen wird. Soweit sonst bei der Abweisung einer Klage bzw. bei der Zurückweisung oder Verwerfung eines Antrags zwischen Zulässigkeit und Begründetheit unterschieden wird, setzt dies voraus, daß ein Kläger bzw. Antragsteller ein Recht im gerichtlichen Verfahren geltend macht und daß es sinnvoll ist, die Entscheidung über diesen materiellen Anspruch vom Vorliegen bestimmter Sachurteilsvoraussetzungen oder Prozeß Voraussetzungen abhängig zu machen 13 . Die Trennung zwischen Prozeßentscheidung und Sachentscheidung soll 12 13
Vgl. BGHSt. 36, 133, 136 mit Anm. Fe^er, JR 1990, 79. Vgl. Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl., S. 318; Schumann, in: Stein/ Jonas]Leipold, ZPO, 20. Aufl., Einl. Rdn. 311.
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vor allem verhindern, daß die Rechtskraft der Entscheidung den geltend gemachten Anspruch erfaßt, wenn wegen Fehlens einer Prozeßvoraussetzung über diesen Anspruch materiell gar nicht entschieden werden konnte 14 . Im strafprozessualen Zwischenverfahren, wo das Gericht zu prüfen hat, ob der von der StA bejahte hinreichende Tatverdacht vorliegt oder nicht, hat die Unterscheidung zwischen „unzulässig" und „unbegründet" keinen Sinn. Wenn nach Auffassung des Gerichts die Prozeßvoraussetzungen nicht vorliegen, bedeutet dies, daß eine Verurteilungswahrscheinlichkeit nicht besteht, genauso, wie wenn das dem Angeklagten in der Anklageschrift vorgeworfene Verhalten materiell-rechtlich nicht strafbar ist oder wenn nach Auffassung des Gerichts die Tat nicht nachweisbar ist 15 . Die Ablehnung der Eröffnung ist folgerichtig immer eine Sachentscheidung. § 211 StPO schützt den Beschuldigten davor, in derselben Sache mit einem unveränderten Anklagevorwurf überzogen zu werden. Auf das Verteidigerausschließungsverfahren übertragen bedeutet dies: Auch hier entscheidet der Strafsenat nicht über einen „Antrag", sondern darüber, ob die Ausschließungsvoraussetzungen vorliegen oder nicht. Richtigerweise wird in einer negativen Entscheidung die Ausschließung des Verteidigers abgelehnt 16 und nicht etwa ein Antrag „zurückgewiesen" oder „verworfen" 17 . Der Strafsenat entscheidet auch hier nicht über irgendeinen „Anspruch" der antragstellenden StA oder des vorlegenden Gerichts, sondern in Funktionsteilung mit diesen beantragenden Organen, ob die Voraussetzungen für eine die Durchführung des Strafverfahrens regelnde Entscheidung, nämlich die Ausschließung des Strafverteidigers, vorliegen. Die Ablehnung der Ausschließung ist immer eine Sachentscheidung, eine besondere Zulässigkeitsprüfung geht, genauso wie bei der Entscheidung im Zwischenverfahren, ins Leere. Daß eine solche Entscheidung über die „Zulässigkeit" im Hinblick auf die Rechts kraftfrage auch nicht geboten wäre, wird im einzelnen noch zu zeigen sein.
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Schumann (Fn. 13), Einl. Rdn. 311, 326; Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 9. Aufl., §§ 31 I, 54 I; vgl. auch Grrnsky, ZZP 80 (1967), 59 ff, 70 ff. Paulus, in: KMR, 7. Aufl., §204 Rdn. 1 i.V. m. §203 Rdn. 7 - 1 0 ; Rieß, in Uwe) Rosenberg, 24. Aufl., § 203 Rdn. 1 4 - 1 6 . Vgl. OLG Köln, NJW 1975, 460; LR-Liiderssen, §138d Rdn. 30; KMR-Müller, § 138 d Rdn. 7 ff. So aber die überwiegende Praxis der Oberlandesgerichte; vgl. OLG Karlsruhe, JR 1976, 205; OLG Düsseldorf, NStZ 1983, 185; JZ 1986, 408; weitere Nachweise bei Rieß, NStZ 1981, 332 Fn. 77 ff. Für Unzulässigkeit bei völlig fehlendem Antrag: KMR-Müller, § 138d Rdn. 1.
Zur Struktur des Ausschließungsverfahrens gemäß §§ 138äff StPO
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IV. Folgerungen für Einzelprobleme Auf der Grundlage dieser grundsätzlichen Strukturerwägungen können auch alle weiteren zum Teil umstrittenen Einzelfragen endgültig geklärt werden. 1. Verfahrensrechtliche Behandlung unvollständiger oder mangelhaft begründeter Antragsschriften Enthält ein Ausschließungsantrag der StA oder ein Vorlegungsbeschluß des Prozeßgerichts nicht die entsprechend § 200 StPO gebotenen Angaben, so hat der Vorsitzende des Strafsenats sie zurückzugeben mit der Anregung der Ergänzung bzw. Verbesserung durch das antragstellende Organ 18 . Mit der Verpflichtung beider — in Funktionsteilung arbeitender — Organe der Strafrechtspflege, eine Ausschließung des Verteidigers herbeizuführen, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen, wäre es nicht vereinbar, wenn das Gericht einen unvollständigen Ausschließungsantrag ohne weiteres „zurückweisen" würde. Zur Nachbesserung gezwungen werden kann das antragstellende Organ jedoch nicht 19 . Legt es den Antrag unverändert wieder vor, dann muß der Strafsenat entscheiden (in besonders gelagerten Fällen nach eigenen Beweiserhebungen i. S. d. § 202 StPO, dazu nachstehend). Ist in der Antragsschrift das strafbare Verhalten des Verteidigers überhaupt nicht oder so ungenau beschrieben, daß es von anderen vergangenen oder künftigen Verhaltensweisen nicht unterschieden werden kann, dann ist der Verfahrensgegenstand nicht mehr hinreichend bestimmt 20 . Die Voraussetzungen für die Ausschließung können daher nicht festgestellt werden, so daß die Ausschließung abzulehnen ist 21 . Daß in dieser Situation der Antrag als „unzulässig" zurückgewiesen werden müßte 22 , ist nicht etwa deswegen geboten, um das Entstehen einer Rechtskraftwirkung zu verhindern. Ein später auf ein konkretes Verhalten gestützter Ausschließungsantrag wird immer einen anderen Verfahrensgegen-
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Vgl. für das Zwischenverfahren: LR-Rieß, §200 Rdn. 56; KMR-Paulus, §200 Rdn. 63; KleinknechtjMeyer, 39. Aufl., § 200 Rdn. 26. Vgl. für das Zwischenverfahren: LR-Rieß, § 200 Rdn. 56; a. A. KMR-Paulus, § 200 Rdn. 63. Dasselbe würde gelten, wenn im Antrag das Strafverfahren, von dessen Mitwirkung der Verteidiger ausgeschlossen werden soll, nicht konkret benannt ist. Vgl. für das Zwischenverfahren: LR-Rieß, §200 Rdn. 57; KMR-Paulus, §200 Rdn. 64. So aber Rieß, JR 1976,208 f (nur für diese Situation) und die überwiegende Auffassung der Oberlandesgerichte (s. Fn. 17).
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stand gegenüber einem Antrag haben, dem jede konkrete Sachverhaltsschilderung fehlt. Fehlen in der Antragsschrift Angaben zu den „gesetzlichen Merkmalen" der Straftat bzw. zu den „anzuwendenden Strafvorschriften", wird also das dem Verteidiger zur Last gelegte Verhalten strafrechtlich nicht eingeordnet, dann berechtigt dieser Mangel nicht zur Ablehnung der Ausschließung23. Vielmehr hat der Strafsenat selbst das in der Antragsschrift geschilderte tatsächliche Verhalten strafrechtlich zu würdigen. Denn seine Auffassung ist dafür maßgebend, ob aus materiellrechtlicher Sicht ein Ausschließungsgrund vorliegt. Kann der Strafsenat dieses Verteidigerverhalten unter keinen ausschließungsrelevanten Tatbestand einordnen, ist also der Antrag „unschlüssig" (wie leider öfter formuliert wird24), dann muß die Ausschließung abgelehnt werden. Können jedoch die Strafbarkeitsvoraussetzungen nur deswegen nicht angenommen werden, weil etwa für einzelne Merkmale (z. B. für den subjektiven Tatbestand) tatsächliche Angaben in der Antragsschrift fehlen, dann stellt sich allerdings die Frage, ob der Strafsenat nicht durch eigene Nachforschungen versuchen muß, die Lücke auszufüllen. Soweit dies durch die Auswertung der dem Antrag beigefügten 25 Ermittlungsakten oder durch einzelne Beweiserhebungen (dazu nachstehend) geschehen kann, ist der Strafsenat dazu verpflichtet 26 . Sind im Ausschließungsantrag keine Beweismittel genannt, die den späteren Nachweis der Strafbarkeitsvoraussetzungen ermöglichen sollen, dann berechtigt dieser Mangel ebenfalls nicht dazu, die Ausschließung ohne weiteres abzulehnen27. Erst wenn das beantragende Organ eine Ergänzung der Antragsbegründung nicht vornehmen will und sich aus den beigefügten Unterlagen (Ermittlungsakten) eine Nachweismöglichkeit nicht entnehmen läßt, sind die Voraussetzungen für die Ausschließung zu verneinen, weil dann eine Verurteilungsprognose nicht möglich ist 28 . 23
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Vgl. für das Zwischenverfahren: LR-Rieß, § 2 0 0 Rdn. 58 i.V. m. Rdn. 17ff; KMRPaulus, § 200 Rdn. 64 i. V. m. Rdn. 56; Treier, in: Karlsruher Kommentar, 2. Aufl., § 200 Rdn. 23. Vgl. O L G Karlsruhe, J R 1976, 207; O L G Düsseldorf, NStZ 1983, 185; J Z 1986, 408. Vgl. für das Zwischenverfahren: KMR-Paulus, § 2 0 2 Rdn. 4 ff; LR-Rieß, §202 Rdn. 1 ff. A. A. O L G Karlsruhe, J R 1976, 207 (eine Aufklärungspflicht bestehe nur im Rahmen eines „schlüssigen" Antrags). Vgl. für das Zwischenverfahren: LR-Rieß, § 200 Rdn. 58 i. V. m. Rdn. 32; KMRPaulus, § 200 Rdn. 64 i.V. m. Rdn. 56. Vgl. für das Zwischenverfahren: LR-Rieß, § 200 Rdn. 58; Kleinknechtj Meyer, § 203 Rdn. 2; KK-Treier, § 204 Rdn. 4 i. V. m. § 203 Rdn. 5.
Zur Struktur des Ausschließungsverfahrens gemäß §§ 1 3 8 ä f f StPO
2. Entscheidungsgrundlage
(Aktenübersendung
und einzelne
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Beweiserhebungen)
Der Strafsenat trifft seine Entscheidung auf der Grundlage des Beweismaterials, das bereits dem antragstellenden Organ vorlag (ggf. ergänzt durch eigene Beweiserhebungen und andere aus der mündlichen Verhandlung gewonnene Erkenntnisse), und unter Anwendung desselben Maßstabes. Aus der Verfahrensstruktur, die das Antragserfordernis nur der Form und nicht dem Inhalt nach verwirklicht, ergibt sich daher zwingend, daß das antragstellende Organ verpflichtet ist, dem Strafsenat sämtliche entscheidungsrelevanten Unterlagen zur Verfügung zu stellen 29 . Da der Strafsenat gem. § 138 d Abs. 4 Satz 2 StPO eine eigenständige Prüfungspflicht hat, darf er sich ferner nicht damit begnügen, nur die in der Antragsschrift genannten Beweistatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen 30 . Er muß sich selbst und unabhängig vom antragstellenden Organ ein Urteil bilden, ob auf der Grundlage der bisherigen Ermittlungen eine Verurteilungswahrscheinlichkeit bejaht werden kann oder nicht 31 . Er kann und muß ggf. die Nach weisbar keit auf andere Beweistatsachen und Beweismittel stützen als die StA. Nur ein anderes strafbares Verhalten (als in der Antragsschrift genannt) darf der Strafsenat nicht berücksichtigen, da dies ein anderer Verfahrensgegenstand wäre (s. o. II.) 32 . Dieser Verpflichtung muß auch das Gericht des Zwischenverfahrens nachkommen 33 , das über die Eröffnung des Hauptverfahrens zu beschließen, also eine — im Hinblick auf die endgültige Wahrheitsfindung aufgrund der Hauptverhandlung — eher vorläufige Entscheidung zu treffen hat. Das (gleich strukturierte) Ausschließungsverfahren kann jedoch mit einer unmittelbar belastenden Entscheidung für den Angeklagten und den Verteidiger enden, so daß der Strafsenat seine eigenständige Prüfungsverpflichtung auch in tatsächlicher Hinsicht besonders ernst nehmen muß. Im übrigen hätte auch eine unberechtigte Ablehnung der Ausschließung unmittelbar belastende Folgen: Die Ausschließungsmöglichkeit kann ihre verfahrenssichernde Wirkung nicht 29
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Wie gem. § 199 Abs. 2 Satz 2 StPO die StA dem Gericht des Zwischenverfahrens; zur strukturellen Bedeutung dieser Vorschrift vgl. Zimmermann (Fn. 8), S. 148 f. Da in der Rechtsprechung gelegentlich die Prüfungspflicht des Strafsenats zu eng gesehen wird (vgl. z. B. OLG Karlsruhe, JR 1976, 207), ist es angebracht, Inhalt und Bedeutung des § 138 d Abs. 4 Satz 2 StPO mit Hilfe struktureller Erwägungen klarzustellen. Rieß, NStZ 1981, 332. Insoweit wäre ein neuer Ausschließungsantrag erforderlich (anders offenbar BGHSt. 36, 133, 137 mit insoweit abl. Anm. Fester, JR 1990, 79). Denkbar wäre auch, daß in ein laufendes Ausschließungsverfahren ein neuer Ausschließungsgrund über eine Art „Nachtragsantrag" i. S. d. § 266 StPO eingeführt wird. Vgl. KMR-Paulus vor § 199 Rdn. 17.
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entfalten, wenn ein eigentlich auszuschließender Verteidiger dennoch weiter im Verfahren mitwirkt. Aus der eigenständigen Aufklärungspflicht des Strafsenats ergibt sich weiter, daß dieser u. U. verpflichtet ist, selbst einzelne Beweise zu erheben. Auch hier ist wieder auf die Strukturparallele zu verweisen: Die in § 202 StPO normierte Verpflichtung des Gerichts des Zwischenverfahrens steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Amtsaufklärungspflicht gem. §§ 155 Abs. 2, 244 Abs. 2 StPO 34 . Einzelne Beweiserhebungen sind — wie im Zwischenverfahren auch — dann geboten, wenn durch sie ein bisher angenommener hinreichender Tatverdacht beseitigt werden kann oder — umgekehrt — ein nach Auffassung des Strafsenats noch nicht vorhandener Verdacht begründet werden kann. Die Beschränkung auf einzelne Beweiserhebungen ergibt sich — wie in § 202 StPO auch 35 — aus der grundsätzlichen Funktionsteilung, die mit dem formalen Antragsprinzip verbunden ist: Einem Tatverdacht nachzugehen und Beweise zu sammeln, ist grundsätzlich Aufgabe des antragstellenden Organs (im Falle des hinreichenden Tatverdachts also der StA), nicht des entscheidungsbefugten Strafsenats. Erachtet der Strafsenat umfangreichere Ermittlungen für notwendig, wird er den Antrag „informell" zurückgeben. Weigert sich das antragstellende Organ, diese vorzunehmen, ist die Ausschließung abzulehnen 36 . Aus alledem ergibt sich für eine zu beobachtende Tendenz in der Rechtsprechung der Strafsenate, „unschlüssige" Ausschließungsanträge ohne weiteres zurückzuweisen, und zur generellen Zurückhaltung gegenüber eigenen Beweiserhebungen 37 : Die Gerichte werden insoweit der ihnen obliegenden Verantwortung hinsichtlich der Aufklärung der tatsächlichen Grundlage für eine Ausschließungsentscheidung nicht immer gerecht. 3. Notwendigkeit
der mündlichen Verhandlung
§ 138 d Abs. 1 StPO schreibt für die Entscheidung über die Ausschließung mündliche Verhandlung zwingend vor 38 . In der Rechtsprechung der Strafsenate der Oberlandesgerichte hat sich in beträchtlichem Um34
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LR-Rieß, §202 Rdn. 1; vgl. auch Rieß, NStZ 1981, 332 betr. das Ausschließungsverfahren. Vgl. LR-Rieß, § 202 Rdn. 3f; Kleinknecht ¡Meyer, § 202 Rdn. 1. Vgl. für das Zwischenverfahren: LR-Rieß, § 202 Rdn. 3; KMR-Paulus, § 202 Rdn. 5 i.V. m. §204 Rdn. 1. Vgl. die Nachweise bei Rieß, NStZ 1981, 328, 332. LR-Lüderssen, § 1 3 8 d Rdn. 3; KMR-Müller, § 138 d Rdn. 1; a. A.: KK-Laufhütte, § 138 d Rdn. 1; Kleinknecht ¡Meyer, § 138 d Rdn. 1, jeweils m. w. N. aus der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte.
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fang die Praxis entwickelt, dann ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, wenn der Antrag auf Ausschließung für „unzulässig" gehalten wird 39 . Das Erfordernis einer gesonderten Zulässigkeitsüberprüfung scheint geradezu deshalb für notwendig erachtet zu werden, damit in bestimmten Fällen auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichtet werden kann. Nur hat sich bereits gezeigt, daß die Kategorien der Zulässigkeit und Begründetheit eines Antrags von vornherein der Prüfung und Entscheidung im Ausschließungsverfahren nicht angemessen sind. Man kann daher auch nicht argumentieren 40 , daß § 138 d Abs. 1 StPO einen zulässigen Antrag voraussetze und daß es allgemeinen Prinzipien der StPO entspreche, daß über die Zulässigkeit schriftlich entschieden werden könne, auch wenn für die Sachentscheidung mündliche Verhandlung vorgesehen sei. Zum einen ist jede Entscheidung im Ausschließungsverfahren eine „Sachentscheidung", und zum anderen enthält § 138 d Abs. 1 StPO eben gerade keine abweichende Regelung 41 für bestimmte Fälle. Diese Bestimmung läßt auch dann keine Ausnahme zu, wenn aufgrund des Antrags und der schriftlichen Unterlagen von vornherein klar ist, daß eine Entscheidung zugunsten des Verteidigers ergehen wird. Daß in manchen Fällen der Sache nach eine mündliche Verhandlung überflüssig ist, mag sein. Dies müßte jedoch den Gesetzgeber veranlassen, § 138 d Abs. 1 StPO zu ändern. Die Gerichte dürfen diese zwingende Verfahrensnorm nicht eigenmächtig „aufweichen" 42 . 4. Beschränkte Rechtskraft der ablehnenden
Entscheidung
Es ist allgemeine Auffassung, daß die Entscheidung des Strafsenats, mit der eine Ausschließung abgelehnt wird, eine lediglich beschränkte Rechtskraftwirkung hat 43 : Eine Wiederholung des Ausschließungsverfahrens ist nur zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden. Das ist im Ergebnis zutreffend, bedarf aber noch der Begründung. Die Beschränkung der Rechtskraftwirkung kann nur mit der Besonderheit des gerichtlichen Erkenntnisprozesses und der Entscheidungsgrundlage im Ausschließungsverfahren gerechtfertigt werden: Das Gericht stellt keine Tatsachen fest, sondern prüft einen Verdacht, prognostiziert also lediglich eine künftige endgültige Wahrheits39
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Vgl. die Nachweise aus der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte bei Rieß, NStZ 1981, 328 (Tabelle 1), 332 Fn. 77 ff; OLG Karlsruhe, JZ 1976, 207; OLG Düsseldorf, NStZ 1983, 183; OLG Bamberg, AnwBl 1980, 33; OLG Bremen, StV 1981, 139. Wie etwa Rieß, JR 1976, 208 (vgl. auch in NStZ 1981, 332). Wie z. B. §§ 206 a, 322, 349 Abs. 1 StPO. Ebenso im Ergebnis LR-Lüderssen, § 138 d Rdn. 3f; a. A. Rieß, JR 1976, 209. KMR-Müller, § 138 d Rdn. 10; KK-Laufhütte, §138d Rdn. 18; Kleinknecht]Meyer, § 138 d Rdn. 15.
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findung. Angesichts der Begrenztheit des Prüfungsauftrags und der Vorläufigkeit der Tatsachenbeurteilung wäre ein Verbot — i. S. d. vollen Rechtskraftwirkung — unangemessen, spätere neue tatsächliche Erkenntnisse oder Beweismittel in einem neuen Verfahren noch zu berücksichtigen. Eine solche Wertung liegt auch dem § 211 StPO zugrunde 44 , der für das strukturgleiche Zwischenverfahren die Beschränkung der Rechtskraftwirkung angesichts der Verfahrensstruktur folgerichtig normiert. Ob für das Ausschließungsverfahren auf § 211 StPO zurückgegriffen wird oder eine Beschränkung der Rechtskraftwirkung aus der parallelen Besonderheit des Verfahrens hergeleitet wird, ist eine zweitrangige Frage. Im einzelnen folgt aus der Beschränkung der Rechtskraftwirkung: Soweit durch die Schilderung des tatsächlichen Verhaltens in der Antragsschrift der Gegenstand des Ausschließungsverfahrens festgelegt wird, kann wegen desselben Verhaltens ein neues Ausschließungsverfahren nur im Hinblick auf neue Beweistatsachen und/oder Beweismittel durchgeführt werden. Ist die Ausschließung abgelehnt worden, weil die antragstellende Strafverfolgungsbehörde keine konkreten Beweistatsachen oder Beweismittel vorlegen konnte, dann sind später benannte Tatsachen und Beweismittel immer „neu", so daß ein neues Verfahren möglich ist. Ob die Ablehnung der Ausschließung in solchen Fällen mangelhafter Antragsbegründung (fälschlicherweise) als „unzulässig" oder „unbegründet" eingeordnet wird, spielt für die Frage der Rechtskraftwirkung also keine Rolle 45 . Von der Rechtskraftwirkung erfaßt wird nur der jeweilige „Verfahrensgegenstand" des Ausschließungsverfahrens, also das in der Antragsschrift geschilderte konkrete Verhalten des Verteidigers, in dem ein Ausschließungsgrund erblickt wird. Wegen eines anderen Verhaltens ist jederzeit ein neues Ausschließungsverfahren möglich, auch wenn es nach der materiell-rechtlichen Einordnung denselben Ausschließungsgrund darstellt. Ist die Antragsschrift in dem Sinne mangelhaft, daß eine konkrete Schilderung des Verteidigerverhaltens überhaupt fehlt, und muß deswegen die Ausschließung abgelehnt werden, so ist überhaupt keine Rechtskraftwirkung möglich. Jede spätere Konkretisierung des Verteidigerverhaltens berechtigt also zu einem neuen Ausschließungsverfahren. Auch hier ist es nicht notwendig, eine solche ablehnende Entscheidung als „unzulässig" einzustufen, um — offenbar im Anschluß an allgemeine Verfahrensprinzipien 46 — eine Rechtskraftwirkung zu verhindern. 44 45 46
Vgl. LR-Rieß, § 211 Rdn. 1; K K - 7 W , § 211 Rdn. 1; Loos, JZ 1978, 592, 600. A. A. Rieß, JR 1976, 208. Vgl. z. B. RosetibergjSchivab, Zivilprozeßrecht, 14. Aufl., § 134 I 2 c; Ule, Verwaltungsprozeßrecht, § 54 I; Redekerjv. Oerzen, VwGO, 9. Aufl., § 107 Rdn. 4.
Die „qualifi2ierte" Belehrung K L A U S GEPPERT
Der Begriff der sogenannten „qualifzierten" Belehrung findet sich derzeit (noch) in keinem einschlägigen Stichwort- oder Sachverzeichnis der gängigen StPO-Kommentar- und Lehrbuchliteratur; die Bezeichnung — sie wird, soweit ersichtlich, zum ersten Mal von Schünemann1 benutzt — hat sich in der Strafrechtspraxis offenbar noch nicht durchgesetzt. Um so bekannter ist der Praxis freilich die Problematik einer solchen besonderen, eben: „qualifizierten" Belehrung im Bereich der Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechte. Die Tatrichter scheinen ein solches Erfordernis freilich weitestgehend negieren zu wollen, und die Revisionsgerichte pflegen dieser heiklen Frage auszuweichen und sie offenzulassen, wo immer es geht. Eben um Notwendigkeit und Risiken einer solchen „qualifizierten" Belehrung ging eines der letzten Fachgespräche, das ich mit Karlheinz Meyer — dessen Gedenken diese Schrift gewidmet ist — in den Räumen des Kammergerichtes in Berlin führen durfte. Nach Erscheinen der 38. Auflage des von ihm (seit der 36. Auflage alleinverantwortlich) bearbeiteten „Kleinknecht/Meyer", in der er die Frage der „qualifizierten" Belehrung erneut offengelassen (.zwischen den Zeilen' freilich nach wie vor eher abgelehnt) hatte 2 , hatte ich ihn gefragt, wann er sich in dieser für die Praxis so wichtigen Frage entscheiden werde. Er denke, gab er mir damals zur Antwort, über diese „heikle" Frage noch nach. Der große Prozessualist und erfahrene Richter konnte die Frage nicht mehr beantworten; in der (posthum veröffentlichten) 39. Auflage blieb es insofern bei seiner bisherigen Position.
' MDR 1969, 102. 38. Auflage (1987), § 136 Rdn. 9. Insofern hat sich Karlheinz Meyers diesbezügliche — deutlich skeptische — Position seit 1978 (siehe insofern seine Kommentierung in der 23. Auflage des „LövejRosenberf: § 136 StPO Rdn. 63) über 1983 (vgl. Alsberg\Nüse\Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Auflage 1983, S. 496) bis zu seinem Tode (vgl. KleinknechtjMeyer, StPO, 39. Auflage 1989, § 136 Rdn. 9) nicht geändert.
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Beim Erfordernis einer qualifizierten Belehrung geht es um die Frage, ob die Belehrung, wie sie beispielsweise nach §§ 136 I S. 2 (mit 163 a III S. 2 und IV S. 1) und 243 IV S. 1 StPO 3 vor der Vernehmung eines Beschuldigten oder gemäß §§ 52 III S. 1 und 55 II vor einer Zeugenvernehmung in allgemein-üblicher („normaler") Form zu erfolgen hat, unter bestimmten Voraussetzungen nicht in besonderer Weise erteilt werden muß. Eine solche besondere („qualifizierte") Belehrung wurde und wird im Schrifttum — zunächst vereinzelt 4 und allmählich in verstärktem Umfang 5 — insbesondere dort gefordert, wo es bei einer früheren (Beschuldigten- oder Zeugen-) Vernehmung zur Verletzung einer Belehrungspflicht gekommen ist und der Verstoß gegen diese gesetzlich vorgeschriebene Belehrungs- oder Hinweispflicht im Hinblick auf die (gemeint: frühere) Aussage der betreffenden Aussageperson zu einem Beweisverwertungsverbot führt. Die Forderung nach einer qualifizierten Belehrung beruht nunmehr auf der Erkenntnis, daß ein Belehrungsfehler im Einzelfall natürlich auch nachträglich geheilt werden kann — etwa durch die spätere Erklärung des Beschuldigten/ des Zeugen, er sei auch ohne entsprechende Belehrung zur Aussage entschlossen gewesen und würde in jedem Falle ausgesagt haben; bei diesem — eher seltenen — Fall spricht man übrigens gelegentlich von einer „qualifizierten" Zustimmung. Nachträgliche Heilung eines früheren Belehrungsfehlers wird in der Praxis freilich vor allem dadurch erreicht, daß man den Beschuldigten oder den Zeugen seine frühere Aussage einfach wiederholen läßt; dabei ist nur Sorge dafür zu tragen, daß er (wenigstens) nunmehr vor seiner (erneuten) Aussage ordnungsgemäß belehrt wird. Dies ist freilich leichter gesagt als getan; denn fraglich ist jetzt, wann bei dieser Sachlage ordnungsgemäß belehrt ist: schon dann, wenn die betreffende Aussageperson lediglich in der gebräuchlichen Form darauf hingewiesen wird, daß es ihr „nach dem Gesetz freistehe, 3 4
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Paragraphen ohne Angabe eines Gesetzes sind im folgenden solche der StPO. So vor Schünemann MDR 1969, 101 ff schon Grünwald JZ 1968, 754; vgl. ferner Otto GA 1970, 301 (mit Fn. 59), Petry, Beweisverbote im Strafprozeß (1971), S. 115, Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß (1977), S. 75 (mit Fn. 238) und S. 82 (mit Fn. 265) sowie Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst (1977), S. 190f und S. 218. Siehe aus neuerer Kommentar- und Lehrbuchliteratur insofern vor allem LR-Hanack, StPO (24. Auflage), Rdn. 56, KK-Boujong, StPO (2. Auflage 1987), Rdn. 29 - je zu § 136 - und SK-Rogall, StPO (1987), Rdn. 178 vor § 133 sowie Roxi», Strafverfahrensrecht (21. Auflage 1989), S. 152 und Gössel, Strafverfahrensrecht I (1977), S. 189. So die Formulierung von Karlheinz Meyer (in Alsberg! Näse/ Meyer, Beweisantrag, S. 496): in der Sache mit Bezug auf Eb. Schmidt NJW 1968, 1217.
Die „qualifizierte" Belehrung
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sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen" (so die „normale" Belehrung des § 136 I S. 2), oder aber erst dann, wenn z. B. der Beschuldigte zusätzlich darauf aufmerksam gemacht wird, daß die frühere Aussage unverwertbar ist und auch bei nunmehrigem Schweigen des Beschuldigten unverwertbar bleibt („qualifizierte" Belehrung)? Es liegt auf der Hand, daß vor allem rechtsunkundige Aussagepersonen ohne eine solche zusätzliche Belehrung nur allzuschnell bereit sein dürften, eine frühere — unbelehrt zustandegekommene — Aussage im resignierenden Fehlglauben zu wiederholen, Schweigen habe jetzt ja doch keinen Sinn mehr. Vor diesem psychologischen Hintergrund kommt es bei den meisten Beschuldigten/Zeugen entscheidend darauf an, ob sie bei ihrer nachgeholten Belehrung unmißverständlich und deutlich darauf hingewiesen werden, daß die frühere Vernehmung in rechtsfehlerhafter Weise zustandegekommen ist und demzufolge auch dann nicht verwertet werden darf, wenn die betreffende Aussageperson sich nunmehr dafür entscheidet, von ihrem gesetzlichen Schweigerecht Gebrauch zu machen. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat sich dieser psychologischen Erkenntnis freilich verschlossen und die Notwendigkeit einer solchen qualifizierten (Beschuldigten-) Belehrung in seinem umstrittenen Beschluß vom 30. April 1968 (BGHSt. 22, 129 ff) eindeutig verneint 7 ... und sich trotz zunehmender gegenteiliger Stellungnahmen im Schrifttum seither, soweit ersichtlich, nicht mehr ausdrücklich zum Erfordernis einer qualifizierten Belehrung geäußert 8 . Diese Zurückhaltung überrascht um so mehr, als neuerdings vermehrt Entscheidungen des Bundesgerichtshofes bekannt werden, in denen dieser die gesetzlich zugestandene Entschließungsfreiheit bestimmter Aussagepersonen ersichtlich ernstnimmt und nach Form, Inhalt und Intensität an die entsprechende Belehrung — unsicher, ob strengere, so doch jedenfalls — recht strenge Anforderungen richtet 9 . Es scheint demnach an der Zeit zu sein, darüber nachzudenken, weshalb denn unsere Tatrichter
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1 StR 625/67 = JZ 1968, 750 ff (ablehnend Grünwald S. 752 ff) = MDR 1968, 682 ff (ablehnend Schümmann MDR 1969, 101 ff) = NJW 1968, 1388 ff (ablehnend Fincke NJW 1969, 1014 ff). Eine Ausnahme macht insofern allenfalls der Beschluß vom 18. 9. 1987 — 3 StR 398/ 87 = NStZ 1988, 85 = Strafverteidiger (StV) 1988, 45: dazu nachfolgend unter 11/2(2).
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Siehe insofern vor allem BGH (5 StR 99/89) JZ 1989, 912 (zur Belehrung eines zeugnisverweigerungsberechtigten Angehörigen) sowie BGH (4 StR 201/89) MDR 1989, 924 (zur Belehrung über ein Zeugnisverweigerungsrecht vor Exploration der angehörigen Zeugin durch einen psychologischen Sachverständigen).
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(üblicherweise) nicht in der beschriebenen Weise „qualifiziert" belehren und weshalb unsere Obergerichte solches tatrichterliches Unterlassen nicht als rechtsfehlerhaft beanstanden. II. Die Suche nach Erklärung dieses Mankos soll mit einem Blick in amtliche Geset^esmaterialien beginnen — dies freilich nicht in der Erwartung, die Lösung unseres Problems nun quasi ,frei Haus' in den Kommissionsprotokollen zur Reichs-StPO von 1877 geliefert zu bekommen, wohl aber in der Hoffnung, mehr „zwischen den Zeilen" aufschlußreiche Hinweise entdecken zu können. Diese Hoffnung hat in der Tat nicht getrogen: 1. So finden wir in den einschlägigen Materialien %ur Reichs-Strafprozeßordnung, die zum 1. Februar 1877 in Kraft treten sollte 10 , a) um mit dem Zeugenbeweis zu beginnen, bezüglich eines Zeugnisverweigerungsrechtes angehöriger Zeugen schon in den Motiven zum Entwurf einer StPO (1874) das Bekenntnis 11 , „daß es vorzuziehen sei, lieber auf ein Beweismittel zu verzichten, als einen nahen Angehörigen des Beschuldigten der Versuchung auszusetzen, zu Gunsten des letzteren einen Meined zu leisten".
Solche zeugnisverweigerungs-„freundliche" Einstellung finden wir auch noch in den Protokollen jener aus 28 Mitgliedern bestehenden „Reichsjustizkommission", die ab November 1874 statt des Reichstagsplenums die Detailberatung der sog. „Justizgesetze" (GVG, StPO und ZPO) begann. So beantragte der Abgeordnete Schwär^ insbesondere, § 42 des damaligen Entwurfes (er entsprach dem § 52 StPO heutiger Zählweise) dahin zu erweitern, daß die bezeichneten angehörigen Zeugen „vor jeder Vernehmung" über ihr Zeugnisverweigerungsrecht zu belehren seien; zur Begründung führte er wörtlich aus 12 : „Wenn man im Gesetz anerkenne, daß gewisse Personen das Recht der Zeugnisverweigerung haben, so müsse man auch dafür sorgen, daß dieses Recht in der Praxis zur Wahrheit werde. Persönlich sei er zwar der Ansicht, daß der Entwurf bei richtiger Handhabung bereits zu der Übung führen müsse, welche er beantrage; allein es gebe Richter und Staatsanwälte, welche in der Berechtigung zur Zeugnisverweigerung eine 10
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Zur parlamentarischen Entstehungsgeschichte der R-StPO samt den amtlichen Materialien (nebst Fundstellen) der einzelnen Etappen siehe Geppert, Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren (1979), S. 100 ff. Zitiert nach Hahn, Die gesamten Materialien zur Strafprozeßordnung und dem Einführungsgesetz zu derselben, Band I (1885), S. 106. Nach Hahn, Materialien Bd. I, S. 581.
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Schädigung der Justiz erblicken und welche daher den Entwurf anders verstehen könnten."
Diese Besorgnis eines Rechtspolitikers aus dem Jahre 1874 kommt uns auch mehr als 100 Jahre später bekannt vor. Trotz mehrfacher parlamentarischer Versuche, den Gesetzeswortlaut doch wieder zu entschärfen, beharrte die Kommission bei ihrer Formulierung „vor jeder Vernehmung ... zu belehren"; sonst würde das erwähnte Recht „illusorisch" werden 13 . Bei dieser Gesetzesfassung blieb es auch bis zur Schlußabstimmung im Reichstag und bis zum heutigen Tag. Eine andere Frage ist freilich, ob die Praxis diesen zeugnisverweigerungsfreundlichen Trend des damaligen Gesetzgebers in der Folgezeit auch tatsächlich umgesetzt hat. b) Was die Vernehmung des Beschuldigten angeht, fällt zunächst einmal auf, daß der Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare/prodere" der Sache nach eigentlich schon damals anerkannt war. So sprechen bereits die Motive zu § 123 des StPO-Entwurfes von 1874 (der Vorgängervorschrift zum heutigen § 136 StPO) bezüglich der Vernehmung des Beschuldigten von einem „freiwillig dargebotenen Untersuchungsmittel" und nachdrücklich davon, es könne „nicht gefordert werden, daß der Beschuldigte gegen seinen Willen zu seiner Uberführung beitrage" 14 . Auf eine entsprechende ausdrückliche Belehrungspflicht, wie sie damals beispielsweise § 43 der braunschweigischen Strafprozeßordnung vorgeschrieben hatte, verzichtete man hingegen; wörtlich insofern die Motive zu diesem frühen Entwurf 15 : Denn eine ausdrückliche gesetzliche Belehrungspflicht „erweckt den Anschein, als solle auch die sittliche Pflicht zur Angabe der Wahrheit verneint werden, und sie kann leicht den Beschuldigten veranlassen, mit jeder Auslassung zurückzuhalten, dadurch aber seiner eigenen Sache zu schaden, weil man häufig geneigt sein wird, das Schweigen, wenn auch das Gesetz dem Beschuldigten das Recht hierzu nicht streitig macht, zu seinem Nachteil zu deuten."
Daher konnten sich die Motive zunächst nur zu der recht nebulösen Gesetzesformulierung durchringen, daß die Vernehmung dem Beschuldigten „Gelegenheit zu seiner Rechtfertigung und zur Beseitigung der gegen ihn sprechenden Verdachtsgründe geben" soll. Man beließ das Problem der Belehrung damit bewußt im Halbdunkel und machte aus dem Kompromißcharakter dieser Entscheidung gar keinen Hehl.
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So der abschließende Bericht der Kommission (zitiert nach Hahn, Materialien Bd. I, S. 1543). Nach Hahn, Materialien Bd. I, S. 138. aaO S. 139.
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Dank der Initiative einiger fortschrittlicher Abgeordneter der Reichsjustizkommission 16 gelang es in der Folgezeit immerhin, dem eigens beim Namen genannten Grundsatz „nemo tenetur ..." etwas mehr gerecht zu werden und eine entsprechende Belehrungspflicht im Gesetz dadurch deutlicher zum Ausdruck zu bringen, daß „der Beschuldigte zu befragen {ist), ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern solle". Zur Begründung für diese Verdeutlichung kann man lesen 17 : „Mit der richterlichen Autorität sei es schlecht vereinbar, wenn der Richter unter dem Schein der Berechtigung v o m Angeschuldigten A n t w o r t auf die Anschuldigung fordere, während der Beschuldigte einfach die A n t w o r t ablehnen könne. Deswegen solle die beantragte Belehrung des Angeschuldigten der Vernehmung zur Sache vorangehen."
Bei dieser alles andere als klaren Gesetzesformulierung ist es bis zur Schlußabstimmung geblieben; es ist also dabei geblieben, daß der Beschuldigte vor seiner richterlichen Vernehmung lediglich „zu befragen (ist), ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle". Eben dieser reichlich unklare Gesetzesbefehl hat denn auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu jenen unbefriedigenden Zuständen geführt, 2. die das Strafpro^eßänderungsgeset% vom 19. Dezember 1964 (StPÄG 1964J18 endgültig zu beseitigen sich vorgenommen hat. Wie bekannt, hat § 136 I S. 2 hier seine bis heute gültige Fassung erhalten. Mit der neuen Formulierung („ist darauf hinzuweisen, daß es ihm (dem Beschuldigten) nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen") sollte besser als zuvor sichergestellt werden, daß der Beschuldigte sich seiner Entschließungsfreiheit, auszusagen oder folgenlos nicht aussagen zu müssen, voll bewußt ist 19 . Zudem hat das — zum 1. April 1965 in Kraft getretene — StPÄG 1964 die Rechtsstellung von Beschuldigten und Zeugen dadurch gestärkt, daß es in Erweiterung des bis dahin geltenden Rechts nach Maßgabe des neuen § 163 a nunmehr auch Staatsanwaltschaft und Polizei zu entsprechender Belehrung verpflichtet hat (§ 163 a III S. 2, IV S. 2 und V). Es besteht nicht der allerleiseste Zweifel, daß der Gesetzgeber des Jahres 1964 insoweit ganz bewußt die rechtsstaatlichen Belange von Aussagepersonen stärken und erweitern wollte und dabei ebenso bewußt gewisse Einschränkungen der Aufklärungsmöglichkeiten in Kauf genommen hat. Dafür liefert nicht zuletzt die Entstehungsgeschichte dieser neuen/neugefaßten §§ 136, 163 a und 243 beredten 16
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Siehe die entsprechende Diskussion in der ersten Lesung (nach Hahn, Materialien Bd. I, S. 700 ff). So der Abgeordnete Her^-Eysoldt (nach Hahn, Materialien Bd. I, S. 701). BGBl. I/S. 1067 ff; amtliche Begründung: Bundestagsdrucksache IV/178. BT-Drucksache IV/178 (S. 18).
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Beweis 20 . Denn nachdem Dahs auf dem 30. Deutschen Anwaltstag (1959) beklagt hatte, daß insbesondere der Beschuldigte über sein Schweigerecht nicht hinreichend unterrichtet werde, und der Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer sich diese Klage zu eigen gemacht hatte, war vor allem der Deutsche Richterbund diesen Vorschlägen mit Vehemenz entgegengetreten: Würden diese Vorschläge Gesetz, so würde die staatliche Wahrheitsermittlungs- und Aufklärungspflicht nachhaltigen Schaden leiden; nicht zuletzt gegen eine geplante neue (ausführlichere!) Belehrungsformel führte der Deutsche Richterbund in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf einer StPONovelle wörtlich aus 21 : „Der Richter dürfe nicht genötigt werden, der Überführung des tatsächlich Schuldigen durch solche Belehrungen (gemeint waren Belehrungen über die verschiedenen Möglichkeiten prozessualen Verhaltens) geradezu entgegenzuwirken, diese Überführung unter Umständen sogar zu verhindern."
Diese Befürchtungen kommen uns bekannt vor; mit eben solchen Argumenten wurde schon vor gut 100 Jahren eine deutlichere Festschreibung der Belehrungspflicht im Gesetz verhindert. Wie wir alle wissen, hat sich der Gesetzgeber des Jahres 1964 — diesen (ebenso alten wie neu vorgebrachten) Bedenken zum Trotz — ganz bewußt für eine neue Belehrungsformel entschieden, die deutlicher sein sollte als die bisherige. Wie sich gezeigt hat, ist freilich auch diese neue Belehrungsformel noch immer nicht deutlich genug. III. Nach anfänglicher Unsicherheit steht die Form der Belehrung im „Normal/all" der Vernehmung, wie im übrigen für die „Belehrung" über Zeugnisverweigerungsrechte ebenso gilt wie für den „Hinweis" über die Aussagefreiheit eines Beschuldigten 22 , grundsätzlich außer Streit. Anerkannter Standard prozessualen Vorgehens ist insoweit: Nach wie vor schreibt das Gesetz eine bestimmte Form oder gar eine feste Formel der Belehrung nicht vor. Auch die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV), die die Aus- und Durch20
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Eindrucksvoll dokumentiert und nachzulesen bei Eberhard Schmidt N J W 1968, 1209 (1213 ff). Zitiert nach Eberhard Schmidt NJW 1968, 1214. Das Gesetz spricht seit alters her beim Zeugen von „Belehrung" (§§ 52 III S. 1 und 55 II), bei Beschuldigten hingegen vom „Hinweis" (§§ 136 I S. 2 und 243 IV S. 1). In dieser neutralen Formulierung „Hinweis" vermute ich den Respekt des Gesetzes/ Gesetzgebers vor der freien Entschließung des Beschuldigten, sehe ich dessen bewußte Anerkennung als Rechtssubjekt (ähnlich Schorn JR 1967, 204).
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führung von Amtsgeschäften im Bereich der Strafverfolgung ansonsten nur allzu oft (zu) rigoros reglementieren, begnügen sich insoweit mit dem Hinweis, die Belehrung des Beschuldigten bzw. des Zeugen sei „aktenkundig" zu machen 23 . In einer freilich vereinzelt gebliebenen Entscheidung 24 hat der Bundesgerichtshof sogar noch nach Inkrafttreten der neugefaßten §§ 136 I S. 2 und 243 IV S. 1 den Gebrauch der alten Formel (— zu befragen, „ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle") zugelassen, wenn sie dem Beschuldigten nach Lage des Falles nur hinreichende Klarheit über seine Aussagefreiheit verschafft habe. Nach allem, was über den Hintergrund dieser bewußt nebulösen Formel bekannt ist, ist dies heute freilich keine gute Empfehlung mehr; die Tatrichter wären besser beraten, die alte Formel nun wirklich nicht mehr zu gebrauchen. Heute wird im Bereich der Beschuldigtenvernehmung allenthalten der Gebrauch der neuen Gesetzesformel (— darauf hinzuweisen, „daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen") empfohlen 25 , gelegentlich mit der Ergänzung, daß der Beschuldigte auch Antworten auf einzelne Fragen verweigern dürfe 26 . Ungeachtet dessen wird übereinstimmend betont, daß die jeweiligen Vernehmungspersonen in der Wahl ihrer Belehrungsworte grundsätzlich frei und demzufolge auch nicht an den Wortlaut der neuen Gesetzesformel gebunden sind 27 . Einem Beschuldigten ist also — ich meine sogar: möglichst mit den eigenen Worten der Vernehmungsperson — unmißverständlich und klar zum Ausdruck zu bringen, daß er frei wählen kann, ob und inwieweit er sich zur Sache äußert oder nicht. Maßgeblich ist so gesehen immer der Verständnishorizont des Belehrungsempfangers. Wenn die Ausübung eines Zeugnis- oder Aussageverweigerungsrechtes ein höchstpersönliches Recht ist, muß entsprechend auch die Belehrung darüber gewissermaßen höchstpersönlich erfolgen, d. h. ganz individuell auf die jeweilige Aussageperson abgestellt sein 28 . Daher hat jede Vernehmungsperson und nicht zuletzt der vernehmende Richter bei jeder Belehrung mit neuer Sorgfalt darauf zu achten, daß der betreffende Zeuge das Für und Wider seiner Aussagebereitschaft abwägen und 23
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Vgl. Nr. 45 I und 65 S. 1 RiStBV (abgedruckt u. a. bei KleinknechtjMeyer, Anhang 14). NJW 1966, 1718 f. Ähnlich früher schon OLG Hamm JMB1 NRW 1966, 95 f. So etwa Kleinknecht/Meyer, § 136 Rdn. 8. So KK-Treier, § 243 Rdn. 37. So neuerdings ausdrücklich auch BGH StV 1984, 405; in dieser Richtung auch LRHanack, § 136 Rdn. 23 und LR-Gollwit^er, § 243 Rdn. 67 sowie nachdrücklich schon Eberhard Schmidt NJW 1968, 1216. Siehe insofern auch Karl Peters StV 1984, 406.
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jeder Beschuldigte seine Aussageentscheidung selbstverantwortlich treffen kann. Wir Juristen müssen uns dabei immer wieder vor Augen halten, daß rechtsunkundige Laien mit unserer Fachsprache nicht so ohne weiteres klarkommen und sehr oft individueller Verdeutlichung der abstrakten Gesetzessprache bedürfen. Macht die Vernehmungsperson diesbezüglich Fehler und/oder bemerkt sie im Verlauf der Vernehmung, daß der betreffende Beschuldigte/Zeuge die frühere Belehrung nicht voll verstanden hat, muß die Belehrung in nunmehr verständlicher Form nachgeholt werden 29 .
IV. Was wir bislang in Erfahrung gebracht haben, spricht eher für als gegen das Erfordernis einer „qualifizierten" Belehrung. So hat insbesondere der Blick in die Entstehungsgeschichte der einschlägigen Belehrungsvorschriften ein doppeltes gezeigt: zum einen, daß der StPOGesetzgeber von 1877 (jedenfalls) die Notwendigkeit einer Beschuldigten-Vernehmung eher im Halbdunkel lassen wollte, und zum andern, daß eben dies zu korrigieren sich rund 100 Jahre später das StPÄG von 1964 vorgenommen hat. Was zwecks Gewährleistung individueller Aussagefreiheit im „Normalfall" einer Vernehmung recht ist, sollte unter den besonderen Voraussetzungen eines früheren Belehrungsfehlers speziell für die „qualifizierte" Belehrung im übrigen nur billig sein. Vor diesem Hintergrund wollen wir im folgenden eine genauere Bestandsaufnahme machen und dabei — zunächst beschränkt auf den Bereich der Beschuldigtenvernehmung — nach Sachverhaltsgestaltungen suchen, in denen sich die Problematik einer „qualifizierten" Belehrung stellt; ohne Anspruch auf Vollständigkeit insofern nur zu den wichtigsten hier denkbaren Konstellationen: 1. Gewissermaßen entdeckt wurde das Erfordernis einer qualifizierten Belehrung im Zusammenhang mit der Verletzung der Belehrungspflicht nach § 136 I .5". 2. Ob es sich dabei um eine richterliche oder nur um eine staatsanwaltschaftliche/polizeiliche Beschuldigten Vernehmung aus dem Bereich des Vorverfahrens handelt, spielt dabei keine Rolle mehr, seit das StPÄG von 1964 nach Maßgabe von § 163 a III S. 2 und IV S. 2 die entsprechende Belehrung auch für Polizei und Staatsanwaltschaft zur gesetzlichen Pflicht gemacht hat: 29
Vgl. LR-Gollwit^er,
§ 243 Rdn. 76.
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a) Es begann mit dem Beschluß des Bundesgerichtshofes vom 30. April 1968 (BGHSt. 22, 129 ff) 30 . Ausweislich des Leitsatzes hatte der 1. Strafsenat in diesem Beschluß, für den er im Schrifttum nur Kritik erfahren hat, ein Geständnis, das der Angeklagte vor der Polizei nach ordnungsgemäßer Belehrung (§§163a IV, 136 I S. 2 StPO) abgelegt hat, auch dann für verwertbar erklärt, wenn der Angeklagte in einer früheren Vernehmung durch Polizei oder Staatsanwaltschaft inhaltsgleiche Angaben o h n e Belehrung gemacht hatte. Was der Senat in dieser Entscheidung zur Unverwertbarkeit der — unbelehrt zustandegekommenen — früheren Einlassung des Beschuldigten gesagt hat 31 , soll uns nicht interessieren; uns interessiert im Augenblick anderes: Der Senat bestätigte damals nämlich die beweismäßige Verwertbarkeit des in der zweiten Aussage enthaltenen, d. h. des hier wiederholten Geständnisses, das der Angeklagte nach ordnungsmäßiger Belehrung und damit „in Kenntnis seines Schweigerechtes" gemacht hatte ... und zwar erklärtermaßen ungeachtet dessen, daß der Angeklagte „vorher geglaubt haben sollte, zur Aussage verpflichtet zu sein" (aaO S. 134). Im Gegensatz zum vorlegenden OLG Karlsruhe sah der Bundesgerichtshof also keinen Anlaß, an der Ordnungsmäßigkeit der zweiten Belehrung — wohlgemerkt: die eine „normale" und nicht etwa eine „qualifizierte" gewesen war! — zu zweifeln. Was der Senat diesbezüglich freilich zur Begründung angeführt hat, vermag entweder nicht zu überzeugen oder geht schlicht am Problem vorbei: (1) Daß ein fortwirkender seelischer Zwang den Beschuldigten gehindert habe, von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen, wenn er vorher eine ihn belastende Aussage gemacht habe, könne „in dieser Allgemeinheit nicht anerkannt werden; erfahrungsgemäß (sei) der Widerruf eine häufig zu beobachtende Tatsache" (S. 134 f).
Dieser Hinweis liegt völlig neben der Sache 32 , geht es hier doch nicht um den Widerruf eines Geständnisses, sondern um ein — zu wiederholendes — neues Geständnis. Statt dessen hätte man eine Antwort des Senates auf die viel interessantere und psychologisch allein maßgebliche Frage erhofft — nämlich: Bleibt ein Beschuldigter, der — im vorliegenden Fall: wenige Stunden zuvor — unbelehrt ein Geständnis abgelegt hat und dieses Geständnis vor einer zweitvernehmenden Person — nebenbei: von der der Beschuldigte annehmen darf, daß sie die Niederschrift des ersten Geständnisses sehr wohl kennt! — wieder30
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Zu weiteren Fundstellen dieser Entscheidung samt den ablehnenden Stellungnahmen im Schrifttum dazu siehe die Nachweise in obiger Fn. 7 ... und was im übrigen durch das (kurze Zeit später veröffentlichte) Urteil des 4. Strafsenates vom 31. Mai 1968 (4 StR 19/68 = BGHSt. 22,170 ff) insoweit bestätigt wurde. Wie hier Schünemann MDR 1969, 103.
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holt, ohne zusätzliche Erläuterung in Wahrheit nicht in dem Irrtum befangen, er könne sein erstes Geständnis doch nicht mehr aus der Welt schaffen?! Dazu verlor der Senat kein Wort. (2) Neben der Sache liegt damit auch der weitere Hinweis des Bundesgerichtshofes, es seien „besondere Umstände", wie er sie in einem Beschluß aus dem Jahre 1951 (bei Daliinger MDR 1951, 658) im Bereich des § 136a als psychologische Weiterwirkung einer staatlicherseits unzulässigerweise herbeigeführten Zwangssituation „ausnahmsweise" anerkannt habe, im konkret zu entscheidenden Falle nicht ersichtlich (aaO S. 135).
Dieser Hinweis überzeugt allein schon deshalb nicht, weil der Senat — und zwar weit über die in Bezug genommene Entscheidung aus dem Jahre 1951 hinaus — schon damals im Bereich von § 136 a spätere Aussagen eines Beschuldigten auch dann für unverwertbar gehalten hat, wenn ihr Inhalt durch das Fortwirken eines gegen denselben Beschuldigten im gleichen Verfahren zuvor ausgeübten unzulässigen Druck beeinflußt worden ist 33 . Demzufolge kommt es auch im Bereich von § 136 a nicht auf „besondere Umstände", sondern maßgeblich darauf an, ob der fortwirkende Druck — so in der Konstellation des § 136 a — oder aber die fortwirkende Fehlvorstellung — so vorliegend — die freie Entscheidung des Beschuldigten, ob er aussagen und welche Aussagen er machen will, beeinträchtigt hat. (3) Unter Hinweis auf Karl Peters lehnt der Senat drittens eine qualifizierte Belehrung deshalb ab, weil sonst „ein ungeschickter oder gar bestochener Beamter das ganze Verfahren lahm legen" könnte (aaO S. 135).
Zu Unrecht nimmt der BGH hier die strafprozessuale Autorität von Karl Peters in Anspruch. Bei der in Bezug genommenen Äußerung 34 geht es um das Problem der sog. „Fernwirkung" (Stichwort: Lehre von den „fruits of poisonous trees"), d. h. um die (höchst umstrittene) Frage, ob ein Beweisverbot Fernwirkung derart entfaltet, daß auch das mit Hilfe eines verbotswidrig erlangten Beweismittels erlangte weitere Beweismittel unverwertbar wird 35 . Für die Problematik einer qualifizierten Belehrung gibt dieser Hinweis K. Peters' überhaupt nichts her, könnte doch die Fernwirkung des früheren Beweisverbotes in Fällen wie den uns beschäftigenden schlicht und allein eben durch eine „qualifizierte" Belehrung beseitigt werden 36 . 33 34
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So der Leitsatz der einschlägigen Grundsatzentscheidung BGHSt. 17, 364 ff. Vgl. Karl Peters, Strafprozeß (2. Auflage 1965), S. 283 f sowie derselbe, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages 1966, Band I („Beweisverbote im deutschen Strafverfahren"), S. 156 und S. 160. Weiterführend zur Problematik der „Fernwirkung" von Beweisverboten siehe LRKarl Schäfer, StPO (24. Auflage), Einleitung Kap. 14: Rdn. 46 ff. So die berechtigte Kritik auch von Schünemann MDR 1969, 103.
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(4) Der Bundesgerichtshof beklagt dann weiter die „weitreichenden, geradezu sonderbaren Folgen einer unterlassenen Belehrung", die dazu führen könnten, daß ein in der Hauptverhandlung wiederholtes Geständnis „trotz vorschriftsmäßiger Belehrung allein deshalb unverwertbar sein (könnte), weil der Angeklagte sich im Vorverfahren ohne ordnungsgemäße Belehrung zur Tat bekannt hat" (aaO ebenfalls S. 135).
Wie man sieht, dreht sich die Argumentation des Senats ersichtlich im Kreise. Daher nochmals: Unverwertbar ist die spätere Aussage nur bei — erneuter — unkorrekter Belehrung; nur was in diesem Zusammenhang „ordnungsgemäße — nichtordnungsgemäße" Belehrung ist, darüber geht der Streit. Insofern zeigt sich in der ablehnenden Haltung des Bundesgerichtshofes gegenüber dem Erfordernis einer „qualifizierten" Belehrung unübersehbar dessen Sorge, eine qualifizierte Belehrung würde eine wichtige Beweisquelle zu weitgehendem Versiegen bringen. (5) Fehl geht schließlich die Bemerkung des Bundesgerichtshofes, die prozessualen Rechte eines Beschuldigten seien — ergänze: auch ohne qualifizierte Belehrung — nicht zuletzt deshalb ausreichend gewahrt, weil die freie Beweiswürdigung (§ 261 StPO) es dem Richter erfnögliche, „den Wahrheitsgehalt unterschiedlicher Aussagen des Angeklagten unter Beachtung seiner psychologischen Situation zutreffend zu bewerten" (aaO S. 135/136).
Abgesehen davon, daß genau diesen Hinweis des Bundesgerichtshofes auf die Möglichkeit besonders kritischer tatrichterlicher Würdigung der ohne Belehrung zustandegekommenen Aussagen ein bekannter Verteidiger vor dem Hintergrund seiner forensischen Erfahrung als „reine Theorie" bezeichnet hat 37 : Mit dieser offenbar zu strafprozessualer Beruhigung gedachten Bemerkung hat der Bundesgerichtshof verkannt, daß es beim Problem der qualifizierten Belehrung nicht um die Wahrheitsfrage, sondern um die ihr vorgelagerte Frage geht, ob nämlich ein bestimmtes Beweismittel der freien richterlichen Beweiswürdigung überhaupt erst zugänglich gemacht werden darf. b) Nach alledem überrascht es nicht, daß die Entscheidung BGHSt. 22, 129 ff im Schrifttum von Anfang an heftig attackiert wurde 38 . Im übrigen waren es nicht nur vereinzelte Stimmen, wie es sie immer wieder gibt 39 , sondern vermehrt auch die Autoren einschlägiger Standard-Kommentare und -Lehrbücher, die vermehrt und verstärkt nach 37 38
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So Sieg MDR 1984, 725. So neben Grünwald JZ 1968, 752 ff insbesondere Schünemann MDR 1969, 101 ff und Fincke NJW 1969, 1014 ff. Siehe insofern zusätzlich zu den bereits in obiger Fn. 4 genannten befürwortenden Stimmen schon Bauer, Die Aussage des über sein Schweigerecht nicht belehrten Beschuldigten (Diss. jur. Göttingen 1972), S. 178 ff sowie aus neuerer Zeit erneut Grünrvald JZ 1983, 719 mit Fn. 19, Dmgeldey JA 1984, 414 mit Fn. 109, Geppert, Oehler-Festschrift (1985), S. 339 sowie Fe^er JZ 1989, 348.
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einer qualifizierten Belehrung verlangten 40 . Das Erfordernis einer qualifizierten Belehrung wurde dabei nicht nur aus einer Art von Ingerenzhaftung abgeleitet, derzufolge der Staat einen von seinen Organen verursachten (hier: Belehrungs-)Fehler durch eine zusätzliche Belehrung gewissermaßen wieder zu korrigieren habe 41 . Maßgeblicher Grund für die Forderung nach einer qualifizierten Belehrung war und ist immer wieder die Überlegung, daß der Beschuldigte ohne eine derartige zusätzliche Information im Irrtum befangen bleiben könne, seine frühere — belastende — Aussage ohnehin nicht mehr ausräumen zu können. Indem die Belehrungspflicht dem Schutz und der Gewährleistung der Aussagefreiheit zu dienen bestimmt ist, ist sie nicht nur fürsorgliche — oder gar nur noble — Geste der jeweiligen Vernehmungsperson, sondern nachdrücklich notwendiger Bestandteil eines rechtsstaatlich fairen Verfahrens und damit von verfassungsrechtlichem Gewicht (Art. 20 III GG; Art. 6 I MRK) 4 2 . Auch und gerade dieser Aspekt des rechtsstaatlichen Fairneß-Gedankens drängt zu einer „qualifizierten" Belehrung. c) Dezidierte Gegner der vom Bundesgerichtshof abgelehnten qualifizierten Belehrung gab es — soweit ersichtlich — im Schrifttum nicht; es hat sich keine Stimme gemeldet, die die Position des Bundesgerichtshofes gegen die Angriffe der Literatur nachdrücklich verteidigt hätte 43 . Gleichwohl blieb alles beim alten: Vom Bundesgerichtshof in Sachen „qualifizierter" Belehrung nicht zur Umkehr gezwungen, scheint die tatrichterliche Praxis auch nach früheren Belehrungsfehlern weiterhin nur in „normaler" Form belehren zu wollen. Der Bundesgerichtshof selbst hat bislang offenbar keine Gelegenheit gehabt, vielleicht auch: noch keine Gelegenheit genommen, sich erneut zur Frage einer qualifizierten Belehrung zu äußern und sich selbst der literarischen Angriffe zu erwehren. Daran wird sich im übrigen so lange nichts ändern, wie der Bundesgerichtshof ausweislich seiner ebenso bekannten wie um-
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Siehe insofern KK-Boujong Rdn. 29, LR-Hanack Rdn. 56 — je zu § 136 — sowie SKRogall, Rdn. 178 vor § 133 sowie Roxi«, Strafverfahrensrecht (21. Auflage 1989), S. 152 und Gösse/, Strafverfahrensrecht I (1977), S. 189. Vgl. insofern vor allem Schünemann MDR 1969, 103. So schon Schorn JR 1967, 203 und so vor allem schon Eh. Schmidt NJW 1968, 1209 und 1214 f; vgl. auch SK-Rogall, Rdn. 110 ff vor § 133 und Schlächter, Das Strafverfahren (2. Auflage 1983), Rdn. 35.3 (S. 34 f). So an sich nachdrücklich auch BGHSt. 25, 325 (330), dort freilich zu § 243 IV StPO. Mit deutlicher Sympathie für die Position des Bundesgerichtshofes freilich — wie schon einleitend bemerkt (obige Fn. 2) — Karlheinz Meyer (zuletzt in der 39. Auflage, Rdn. 9 zu § 136).
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strittenen Entscheidung BGHSt. 31, 395 ff 44 davon ausgeht, daß eine außerhalb der Hauptverhandlung unterlassene Belehrung kein Beweisverbot nach sich zieht. Wer dieser — u. a. auch von Karlheinz Meyer zu Recht heftig angegriffenen 45 — Rechtsansicht (mit der ich mich an anderer Stelle kritisch auseinandergesetzt habe46) folgt, für den stellt sich verständlicherweise die Frage einer qualifizierten Belehrung überhaupt nicht. Es ist freilich zu hoffen, daß diese höchst fragwürdige Entscheidung BGHSt. 31, 395 ff höchstrichterlich möglichst bald korrigiert und zugleich damit die ebenso verfehlte Entscheidung BGHSt. 22, 129 ff mitverbessert wird. 2. Mit nachdrücklicher Billigung des Schrifttums47 hat der Bundesgerichtshof freilich schon Jahre zuvor die soeben vermißte Kehrtwende (jedenfalls partiell) bei der für die Hauptverhandlung geltenden Hinweispflicht des § 243 IV S. 1 vollzogen. In BGHSt. 25, 325 ff 48 hatte der 1. Strafsenat das Scheinargument von der bloßen „Ordnungsvorschrift" unmißverständlich als „methodisch veraltet" verworfen und statt dessen maßgeblich auf den „Vorsorglichkeits- und Fürsorgecharakter" der Belehrungspflicht abgestellt. Demzufolge wurde ein revisibles Beweisverbot bei einem Verstoß gegen § 243 IV S. 1 immer dann bejaht, „wenn der Hinweis erforderlich war, um den Angeklagten über seine Verteidigungsmöglichkeiten zu unterrichten und er — ersichtlich gemeint: bei ordnungsgemäßer Belehrung nach Lage der Dinge — die Aussage zur Sache verweigert hätte" (aaO S. 331). Wer dieser Rechtsansicht folgt und im übrigen schon bei Verletzung einer im Vorverfahren vorgeschriebenen Belehrungspflicht nach einer „qualifizierten" Belehrung verlangt hat, wird dies konsequenterweise auch nach Verletzung der Hinweispflicht nach Maßgabe des § 243 IV S. 1 tun. Zu Recht fordert das Schrifttum daher vermehrt auch für diese
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Beschluß vom 7. 6. 1983 - 5 StR 409/81 = JZ 1983, 716 (Anm. Grümvald S. 717 ff) = NJW 1983, 2205 = MDR 1983, 857 (Anm. Sieg MDR 1984, 725 f) = NStZ 1983, 565 (Anm. Karlheinz Meyer S. 566 f) = JR 1984, 340 (Anm. FeZer S. 341 ff) = StV 1983, 494. NStZ 1983, 566 f. Oehler-Festschrift (1985), S. 336 ff. Siehe schon Haitack JR 1975, 340, Dencker MDR 1975, 359, Hegmann NJW 1975, 915 sowie Seelmann JuS 1976, 157. Vgl. heute nur Kleinknecht] Meyer Rdn. 39, LR-Gollmt^er Rdn. 108, KK-Treier Rdn. 55 und KMR-Paulus, StPO (7. Auflage), Rdn. 25 ff - je zu § 243. Beschluß vom 14. Mai 1974 - 1 StR 366/73 = NJW 1974, 1570 = MDR 1974, 765 = JR 1975, 339.
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Konstellation nach einer über die „normale" Belehrung hinausgehenden zusätzlichen Information des Beschuldigten 49 . Der Bundesgerichtshof selbst hatte vor dem Hintergrund seiner Entscheidung (nochmals: Anerkennung eines Beweisverbotes) freilich keine Veranlassung, in BGHSt. 25, 325 ff zur Frage einer qualifizierten Belehrung Stellung zu beziehen50, geschweige denn sich insoweit von seiner eigenen — ablehnenden — Haltung in BGHSt. 22, 129 ff zu distanzieren. Gleichwohl scheint hier im Bereich des § 243 IV S. 1 die Chance noch am größten, einen der fünf Senate des Bundesgerichtshofes zur Anerkennung einer qualifizierten Beschuldigten-Belehrung zu bringen: (1) So wurde schon in einem Beschluß des 4. Senates aus dem Jahre 197051 obiter dictu ausgeführt, daß das zeitweise Schweigen eines Angeklagten schon deshalb einem Beweisverbot unterfallen müsse, weil sonst „die in § 243 IV S. 1 StPO vorgeschriebene Belehrung unvollständig und für einen Angeklagten irreführend" wäre; denn wären negative Schlußfolgerungen aus dem zeitweisen Schweigen zulässig, müßte der Richter „fairerweise" sonst auch „dahin belehren, daß in Fällen, in denen ein Angeklagter früher irgend etwas zur Sache gesagt hat, sein Schweigen in der Hauptverhandlung gefahrlich sei und zu seinem Nachteil gewertet werden könne". (2) Noch interessanter ist in diesem Zusammenhang eine — freilich ebenfalls nicht entscheidungstragende — Äußerung des 3. Strafsenates in seinem Beschluß vom 18. September 198752. Auch hier stand ein
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So fordern eine „qualifizierte" Belehrung speziell nach einem Verstoß gegen die Hinweispflicht des §243 IV S. 1 (u. a.) Grünwald J Z 1968, 752 ff und Schünemann MDR 1969, 101 ff sowie Fester JuS 1978, 107 mit Anm. 34, Gossel, Strafverfahrensrecht I (1977), S. 189, Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 151 f und KMR-Paulus, StPO (7. Auflage), § 243 Rdn. 27; in dieser Richtung offenbar auch Schlüchter, Strafverfahren, Rdn. 464 (S. 478). BGHSt. 22, 129 ff offenbar auch hier folgend demgegenüber LR-Gollwit^er, §243 Rdn. 70 mit Anm. 127. Keine Stellungnahme findet sich insofern bei Kleinknechtj Meyer und bei KK-Treier — je zu § 243 StPO. Immerhin fallt in dieser Entscheidung die Strenge des 1. Strafsenates auf, wenn wir dort lesen können (BGHSt. 25, 329 f), daß § 243 IV S. 1 in seiner neuen Fassung (1) ganz bewußt das Ziel im Auge gehabt habe, „dem Angeklagten die Verteidigungsmöglichkeiten besser — gemeint: als vor dem StPÄG von 1964 — (zu) verdeutlichen" und (2) „eventueller Benachteiligung (des Angeklagten) auf Grund von Unkenntnis" vorzubeugen. Beschluß vom 15. 10. 1970 - 4 StR 326/70 - mitgeteilt bei Daliinger MDR 1971, 18. Beschluß vom 18. 9. 1987 - 3 StR 398/87 - NStZ 1988, 85 = Strafverteidiger 1988, 45.
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Verstoß gegen die Belehrungspflicht des § 243 IV zur Rede. Ohne den Angeklagten über das ihm zustehende Schweigerecht belehrt zu haben, hatte der Vorsitzende ihn in der Hauptverhandlung aufgefordert, sich schon bei Verlesung der Anklageschrift durch Gesten, durch Kopfnikken oder Kopfschütteln zu den einzelnen Anklagepunkten zu bekennen oder den Vorwurf abzustreiten; erst nachdem dies geschehen war, war der Angeklagte nach § 243 IV S. 1 belehrt worden. Bei solcher Sachlage vermochte der Senat nicht auszuschließen, daß der Angeklagte zunächst an seine Aussagepflicht geglaubt hat und sich — wenigstens zu einzelnen Anklagepunkten — nicht geäußert hätte, wenn er schon vor den von ihm verlangten konkludenten Einlassungen ordnungsgemäß belehrt worden wäre. Was in diesem Sinn freilich unter „ordnungsmäßiger" Belehrung zu verstehen sei, dazu hat sich der Senat zwar nicht ausdrücklich geäußert; immerhin aber hielt er es — und allein das verdient, vorliegend besonders betont zu werden — in der Sachverhaltsschilderung für erwähnenswert, daß der Vorsitzende den Angeklagten bei der (nachträglichen) Belehrung nicht darauf aufmerksam gemacht hatte, „daß die frühere durch das Kopfnicken gemachte Aussage als unverwertbar angesehen werden könne". Wollte der 3. Strafsenat mit dieser Bemerkung ein vorsichtiges Zeichen setzen? etwa hin zu einer qualifizierten Belehrung? 3. Nur folgerichtig ist es, wenn die Anhänger einer qualifizierten Belehrung diese auch in der Konstellation des § 254 fordern. Bekanntlich kann über ein zu richterlicher Niederschrift erklärtes Geständnis in der späteren Hauptverhandlung der Beweis nach Maßgabe des § 254 (konsequenterweise) nur dann geführt werden, wenn der Angeklagte vor seiner richterlichen Vernehmung nach § 136 I S. 2 belehrt wurde 53 . Dient demnach ein nach § 254 I im Wege des Urkundenbeweises zu verlesendes richterliches Geständnisprotokoll (nur) dazu, ein früheres, — unbelehrt zustandegekommenes — Geständnis fehlerfrei zu wiederholen, ist die Verlesbarkeit des neuen richterlichen Protokolls von einer zuvor in „qualifizierter" Form erfolgten Belehrung abhängig 54 . 4. Eine andere Frage ist freilich, ob das Erfordernis einer „qualifizierten" Belehrung auch auf die Situation nach einer vorangegangenen informa-
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Vgl. KK-Mayr Rdn. 7, LR-Gollmt^er Rdn. 6 sowie KMR-Paulus Rdn. 8 - je zu § 254; so auch schon nachdrücklich Eberh. Schmidt N J W 1968, 1218. So zu Recht schon Grünwald J Z 1968, 754 und so zunächst auch KK-Mayr, StPO (1. Auflage 1982), § 254 Rdn. 7 (letzter Satz); ohne Angabe von Gründen verzichtet Mayr in der 2. Auflage (aaO) auf die Forderung nach einer qualifizierten Belehrung.
Die „qualifizierte" Belehrung
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torischen Befragung55 übertragen werden darf, wie es vor einigen Jahren das Amtsgericht Berlin-Tiergarten56 mit Billigung einzelner Autoren im Schrifttum57 getan hat. So hat das AG Tiergarten für Fälle vorausgegangener — wichtig: zulässiger! — informatorischer Befragung die Rechtsansicht vertreten, der vernehmende Polizeibeamte hätte dem Beschuldigten vor der erst-verantwortlichen Beschuldigtenvernehmung ausdrücklich erläutern müssen, „daß er sich nunmehr erstmalig verantwortlich zu den gegen ihn erhobenen Beschuldigungen äußern könne, ohne an das in der informatorischen Befragung Gesagte gebunden zu sein". Daran ist — das sei zunächst zugegeben — natürlich richtig, daß es für den Vernommenen psychologisch ersichtlich keinen Unterschied ausmacht, ob er bei einer „informatorischen" oder einer förmlichen „Vernehmung" nicht belehrt wurde; es bleibt in jedem Fall der Druck der bereits erfolgten Einlassung, die ihn bindet und belastet. Ungeachtet dessen sind sehr wohl rechtliche Unterschiede vorhanden, die dagegen sprechen, eine qualifizierte Belehrung auch nach informatorischer Vorbefragung verlangen zu müssen. Ich habe dies an anderer Stelle ausführlich dargelegt und begründet 58 (und mit dieser meiner Rechtsansicht in der Literatur nachdrückliche Zustimmung gefunden 59 ). Ich möchte mich nicht wiederholen, sondern darf kurz zusammenfassen: Als im Gesetz zwar nicht geregeltes, doch von ihm vernünftigerweise vorausgesetztes „Herumfragen" im Vorfeld eines Anfangsverdachtes dient die sogenannte informatorische Befragung im wesentlichen dazu, ein grobes Bild darüber zu gewinnen, ob wirklich der Verdacht einer Straftat besteht und wer als Beschuldigter oder als Zeuge in Betracht kommt. Derart informatorische Befragungen/Anhörungen führen den bloß informatorisch Befragten noch nicht in die prozessuale BeschuldigtenRolle und begründen demzufolge auch noch keine entsprechende Belehrungspflicht (welche denn?). Freilich darf das informatorische Befra-
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Weiterführend dazu Geppert, Notwendigkeit und rechtliche Grenzen der „informatorischen Befragung" im Strafverfahren, Oehler-Festschrift (1985), S. 323 ff; siehe auch Gerling, Informatorische Befragung und Auskunftsverweigerungsrecht (Bochum 1987) und Lühr Polizei 1985, 43 ff. Siehe auch den zusammenfassenden Überblick bei SKjStPO-Rogall, Rdn. 42ff vor § 133 und LR-Rieß, § 163a Rdn. 15 ff. Urteil vom 15. 12. 1982 - (294) 67 Ls 139/82 = Strafverteidiger 1983, 277 f. So zunächst vor allem ter Veen Strafverteidiger 1983, 293 ff; ihm folgend auch Lühr Polizei 1985, 46 und Gerling aaO (o. Fn. 55), S. 154 f. Unentschieden insofern LRHanack, § 136 Rdn. 56 mit Anm. 111. Oehler-Festschrift (1985), S. 339 ff. So vor allem von Kleinknecbt]Meyer, Einleitung Rdn. 79 und SKjStPO-Rogall, Rdn. 47 vor § 133; so wohl auch Roxin Strafverfahrensrecht, S. 158, KMR-Paulus, Rdn. 71 vor § 48 und LR-Rieß, § 163 a Rdn. 21.
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gen nicht dazu mißbraucht werden, Belehrungspflichten zu umgehen; der legitime Anwendungsbereich für informatorische Befragungen ist nur das Vorfeld eines Verdachtes, wo sich dieser nach Lage der Dinge (Beweise; Inkulpationsverhalten der Strafverfolgungsorgane) noch nicht auf eine bestimmte Person gerade als beschuldigte bezieht. Handelt es sich in diesem strengen Sinn eindeutig nur um bloß informatorische Befragung, ist eine Belehrung nicht erforderlich und demzufolge der gedankliche Inhalt der informatorischen Äußerungen — im Wege des Vorhalts an den später als Beschuldigter Vernommenen oder notfalls durch Vernehmung der Verhörsperson als Zeugen vom Hörensagen — beweisrechtlich voll verwertbar. Damit aber erübrigt sich auch eine „qualifizierte" Belehrung; sie wäre nur angebracht, wo der Inhalt der informatorischen Befragung einem Beweisverwertungsverbot unterliegt. Einen Beschuldigten „qualifiziert' etwa dahin belehren zu wollen, die von ihm früher gemachte Äußerung könne sehr wohl gegen ihn verwertet werden, gibt nicht nur keinen Sinn; eine solche „Belehrung" wäre sogar ausgesprochen bedenklich. Vernehmungspersonen ist bei der Belehrung äußerste Zurückhaltung zu empfehlen 60 ; sie sollten durch die Art und Weise ihrer Belehrung insbesondere den Eindruck zu vermeiden suchen, in unstatthafter Form auf die Entschließungsfreiheit der jeweiligen Aussageperson einwirken zu wollen. 5. Ist bei der Vernehmung eines Beschuldigten gegen die zwingende Vorschrift des § 1 3 6 a verstoßen worden, ist die derart gewonnene Aussage selbstverständlich unverwertbar (§ 136 a III S. 2). Dies hindert freilich nicht, den Beschuldigten erneut — und zwar diesmal auf rechtmäßige Weise — zu vernehmen ... sofern nur sichergestellt ist, daß die die Erstvernehmung ermöglichende unzulässige Willensbeeinträchtigung nicht mehr fortwirkt. Dies entspricht im übrigen gefestigter Judikatur auch des Bundesgerichtshofes 61 und ist auch im einschlägigen Schrifttum allenthalben anerkannt 62 . Fraglich ist nur, wie eine solche Fortwirkung im Bereich des § 136 a zu beseitigen ist und welchen revisionsmäßigen Darlegungspflichten ein Beschwerdeführer insofern nachkommen muß: Im Schrifttum mehren sich die Stimmen, die auch hier den Anwendungs- und Wirkungsbereich einer „qualifizierten" Belehrung erkannt 60 61
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Vgl. KK-Boujong Rdn. 12 und LR-Hanack Rdn. 24 - je zu § 136. Siehe insofern vor allem BGHSt. 15, 187 ff, BGH St. 17, 364 ff und 27, 355 ff sowie aus jüngster Zeit BGHSt. 35, 328 ff und BGH NStZ 1988, 419 ( = dazu Geppert, Jura-Kartei, StPO § 136 a/5). Siehe statt vieler LR-Hanack Rdn. 65, KK-Boujong Rdn. 40 und Kleinknecht]Meyer Rdn. 30 - je zu § 136 a.
Die „qualifizierte" Belehrung
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haben und zwecks zweifelsfreier Beseitigung einer fortwirkenden Willensbeeinträchtigung mit Recht eine zusätzliche Belehrung des Beschuldigten dahin fordern, daß die frühere Aussage auf Grund der unstatthaften Vernehmungsmethode nicht verwertet werden dürfe 63 . Die Haltung des Bundesgerichtshofes demgegenüber scheint diesbezüglich ebenfalls klar — nämlich: § 136 a disqualifiziere grundsätzlich nur diejenige Vernehmung, bei welcher das verbotene Mittel eingesetzt worden sei; spätere Aussagen blieben, sofern nur ordnungsgemäß zustandegekommen, voll verwertbar. Unter besonderen Umständen, die im Einzelfall darzulegen seien, könne sich der früher ausgeübte unzulässige Druck freilich auf spätere Aussagen auswirken. Dabei legt der BGH ausweislich einiger neuerer Entscheidungen diesbezüglich durchaus keine besonders strengen Maßstäbe an; auffallig ist nur das ersichtliche Bemühtsein des Bundesgerichtshofes, den Ausdruck „qualifizierte Belehrung" zu vermeiden ... obgleich eine solche der Sache nach hier im Bereich des § 136 a eigentlich auch vom Bundesgerichtshof anerkannt ist. Bezeichnend ist insofern erst jüngst das Urteil des 3. Strafsenats vom 24. August 198864, in dem der Senat seine Rechtsprechung zur Fortwirkung einer früheren Täuschung bestätigt. Auch hier wird zwar kein Wort zu einer wie immer gearteten „qualifizierten" Belehrung verloren, wohl aber der Mißerfolg der beschwerdeführenden Staatsanwaltschaft abschließend damit begründet, deren Revision habe nicht dargelegt, daß die zweitvernehmende Richterin dem Beschuldigten „über den vorgeschriebenen Wortlaut der Belehrung hinaus ... die Bedeutung seiner (gemeint: durch Täuschung erlangten früheren) Aussage und seiner Aussagefreiheit erklärt habe" (BGHSt. 35, 332 unten). Der Senat läßt hier unmißverständlich erkennen, daß mit einer zusätzlichen Belehrung die Fortwirkung des früheren Verfahrensfehlers hätte beseitigt werden können.
6. Schließlich spielt der Gedanke einer „qualifizierten" Belehrung vermehrt eine Rolle bei der Fortwirkung eines unzulässigen Vorhalts; die Parallelen zu Vernehmungsfehlern nach Maßgabe von § 1 3 6 a liegen insofern auf der Hand:
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So schon Dencker, Verwertungsverbote (o. Fn. 4), Anm. 238 auf S. 75 und so später §136a vor allem Schlechter, Strafverfahren, Rdn. 99 (S. 104 ff) und LR-Hanack, Rdn. 65; vgl. dazu jüngst auch Fezer JZ 1989, 349 sowie Geppert, JK, StPO § 136a/ 5 und JR 1988, 473. Unentschieden insofern Alsberg] Nuse) Meyer, Beweisantrag, Anm. 432 auf S. 485. 3 StR 129/88 - BGHSt. 35, 328 ff = JZ 1989, 347 (mit Anm .Feiger S. 348 f) = NStZ 1989, 35 = StV 1988, 468 = NJW 1989, 842 = dazu auch Hassemer JuS 1989, 763.
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Was beweismäßig nicht verwertet, im Fall des Urkundenbeweises beispielsweise nicht „verlesen" werden darf, darf bekanntlich auch nicht im Wege des bloßen Vernehmungsbehelfes „vorgehalten" werden. Im Anschluß an die überwiegende Meinung im Schrifttum65 hat auch der Bundesgerichtshof in zwischenzeitlich gefestigter Rechtsprechung66 anerkannt, daß ein unzulässiger Vorhalt auch die Aussage unverwertbar macht, zu deren Erlangung der Vorhalt eingesetzt wurde. Man spricht insofern von der „Nahwirkung" des Vorhalts, um diese Konstellation von der strafprozessualen Problematik der sogenannten „Fernwirkung" von Beweisverboten (Lehre von den „fruits of the poisonous trees") zu unterscheiden67. Freilich kann auch ein solcher Verfahrensfehler geheilt werden, eben beispielsweise durch Wiederholung der früheren Einlassung, wobei jedoch für eine ordnungsmäßige Belehrung Sorge zu tragen ist. Damit stehen wir wiederum vor der gleichen — umstrittenen — Frage, wann nämlich in diesem Sinn vor der Wiederholungsvernehmung eine „ordnungsgemäße" Belehrung erteilt worden ist. Altbekanntes wiederholt sich: a) Ausweislich zahlreicher neuerer — jeweils zu § 100 a (Überwachung des Fernmelde Verkehrs) ergangener — Entscheidungen68 bleibt der Bundesgerichtshof bei seiner Linie, wie sie zu § 136 a entwickelt wurde und ich sie im Vorangegangenen skizziert habe. Alle befaßten Senate vermeiden sorgfältigst den Hinweis auf eine besondere Belehrung; im Gegenteil, gelegentlich beruft man sich obiter dictu sogar ausdrücklich auf jene frühe Grundsatzentscheidung BGHSt. 22, 129 ff, wo das Er-
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Statt vieler: KleinknechtjMeyer, § 250 Rdn. 28 und § 252 Rdn. 12, KK-Mayr, § 249 Rdn. 49 und § 252 Rdn. 1 sowie LR-Gollmt^er, § 249 Rdn. 86; eindeutig überholt ist insofern Eberhard Schmidt NJW 1968, 1218. Siehe auch hier statt vieler: BGHSt. 27, 355 (357); 32, 68 (70); 33, 347 (353) und 35, 32 (34) - je zu § 100 a; überholt ist insofern BGH NJW 1951, 206. Siehe Wolter NStZ 1984, 276. - Dieses treffende Bild von den „Früchten des vergifteten Baumes" will zum Ausdruck bringen, daß (bzw. ob) schlechterdings alle von einem verbotenen Baum (= dem rechtswidrig erlangten Beweis) gewonnenen Früchte ( = die Anschlußbeweise) vergiftet und damit ungenießbar (= beweisrechtlich unverwertbar) sind. Dazu näher auch Jescheck, Beweisverbote im Strafprozeß, 46. Deutscher Juristentag 1966, Band I/Teil 3 B, S. 13 ff. Siehe diesbezüglich vor allem die grundlegende Entscheidung BGHSt. 27, 355 ff (2 StR 334/77) = NJW 1978, 1390. Vgl. ferner (1) BGHSt. 31, 304 ff (4 StR 640/82) = NJW 1983, 1570 = MDR 1983, 590 = StV 1983, 230 = dazu auch Geppert, JK, StPO § 100 a/3; (2) BGHSt. 32, 68 ff (3 StR 136/83) = NStZ 1984, 275 (mit Anm. Wolter S. 276 ff) = NJW 1985, 2772 = JZ 1985, 387; (3) BGHSt. 33, 347 ff (2 StR 279/85) sowie schließlich (4) BGHSt. 35, 32 ff (4 StR 333/87) = NStZ 1988, 142 (mit Anm. Dörig S. 143 ff) = NJW 1988, 1223 = dazu auch Pennack JA 1988, 299 f.
Die „qualifizierte" Belehrung
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fordernis einer qualifizierten Belehrung erst- und bislang auch letztmalig ausdrücklich abgelehnt worden war 69 . Statt dessen unterwirft man einem fortbestehenden Beweisverbot nur diejenigen späteren Aussagen, die noch von dem unzulässigen früheren Vorhalt beeinflußt worden sind; eine solche Kausalität festzustellen und abschließend zu beurteilen, sei allein Aufgabe des Tatrichters und im übrigen an Hand ganz unterschiedlicher Kriterien (z. B. Zeitspanne zwischen den einzelnen Vernehmungen; unmittelbarer Zusammenhang zwischen Vorhalt und Aussage; Überführungsbedeutung des unzulässigerweise vorgehaltenen Beweismittels; immerhin auch: Belehrung über das Schweigerecht als solches, freilich nur in „normaler" Form) nach Lage des Einzelfalles zu entscheiden. Immerhin stellt der 2. Strafsenat in seinem Leitbeschluß vom 22. Februar 1978 fest', daß eine solche Fortwirkung unzulässiger früherer Vorhaltungen auch dann nicht ausgeschlossen werden könne (BGHSt. 27, 357 f), „wenn der Betreffende vor der Vernehmung auf das Recht, nicht aussagen zu müssen, gemäß §§ 136 I, 163 a IV StPO belehrt worden ist. Auch bei einer freiwilligen Aussage ist ein Beschuldigter nicht mehr frei in seiner Entschließung, ob und wie er zu einzelnen Punkten sich einlassen soll, die ihm ... vorgehalten werden".
b) Um solche Überlegungen prozeßfest(er) zu machen, vertreten demgegenüber vereinzelte Stimmen im Schrifttum die Ansicht, einer Fortwirkung des unzulässigen Vorhaltes könne letztlich nur durch eine Belehrung (auch) über die Unverwertbarkeit der unzulässigerweise gewonnenen Kenntnisse begegnet werden 70 . Dieser Forderung schließe ich mich nachdrücklich an. Sie ist auch und gerade in den beiden letztgenannten Konstellationen (§§ 100 a und 136 a) ein Gebot rechtsstaatlicher Beweisführung.
V.
Letztlich den gleichen Schwierigkeiten und Problemen begegnen wir im Bereich der Zeugenvernehmung1^. Bei einem ersten Blick in einschlägige Entscheidungen und literarische Stellungnahmen scheint man hier — 69 70 71
So beispielsweise BGHSt. 27, 355 (359) und zuletzt auch BGHSt. 35, 32 (34). So vor allem Wolter NStZ 1984, 277 und Ddrig NStZ 1988, 143. Dem gleichzustellen ist insofern die Glaubwürdigkeitsuntersuchung von Zeugen. Bekanntlich ist eine solche Untersuchung (einschließlich der dafür notwendigen Exploration) durch den Sachverständigen nur mit Einwilligung des Betroffenen/ seines gesetzlichen Vertreters zulässig (LR-Dahs, § 81 c Rdn. 8). Während die h. M. im Schrifttum aus rechtsstaatlicher Fürsorglichkeit für eine entsprechende generelle
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nicht zuletzt beim angehörigen Zeugen (§ 52) — insgesamt etwas strenger auf die Wahrung der Aussagefreiheit zu achten als beim Beschuldigtenbeweis. Äußerungen zu einer bewußt „qualifizierten" Belehrung nach früherem Belehrungsfehler fehlen freilich auch hier, und zwar nicht nur bei der Rechtsprechung, sondern überraschenderweise weitgehend auch im Schrifttum. Vor dem Hintergrund meiner vorangegangenen Ausführungen kann ich mich gleichwohl kürzer fassen; ich darf meine Überlegungen im wesentlichen auf drei Konstellationen beschränken: 1. Wird ein angeböriger Zeuge, dem nach § 52 I ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht, entgegen dem zwingenden Gebot des § 52 III S. 1 nicht belehrt, führt dies grundsätzlich zur Unverwertbarkeit der Aussage 72 . Freilich ist auch hier anerkannt, daß eine Heilung dieses beweisrechtlichen Mangels bis zum Urteil möglich ist. Dafür reiche aber — wie wir im Anschluß an einschlägige Entscheidungen des Reichsgerichtes 73 und des Bundesgerichtshofes 74 in den Kommentaren übereinstimmend lesen können 75 — die bloße Nachholung der Belehrung nicht aus; vielmehr sei der frühere Fehler erst behoben, wenn der Zeuge auf entsprechende Befragung erklärt habe, daß er auch nach Belehrung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht keinen Gebrauch gemacht hätte. Eher zweitrangig ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Aussage bei derartiger — wenn man will: „qualifizierter" — nachträglicher Zustimmung sicherheitshalber wiederholt werden muß 76 oder ob
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Belehrungspflicht freilich auch bei »/V^Z-zeugnisverweigerungsberechtigten Personen eintritt (LR-Dahs aaO Rdn. 5), lehnt der BGH dies bislang mit der Begründung ab, bei »«-¿/-zeugnisverweigerungsberechtigten Personen fehle es an einer besonderen Konfliktslage und überhaupt an jeglicher Risikobelastung (BGHSt. 13, 398/99). Bei zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen folgt die entsprechende Belehrungspflicht aus dem Gesetz (§§ 81 c II S. 2/2. Halbsatz 52 III), wie auch vom BGH anerkannt wird; vgl. BGHSt. 13, 394 (399) und erst jüngst BGH StV 1989, 419 (dazu Geppert, JK, StPO § 81 c/1). Siehe insoweit statt vieler: LR-Dahs, Rdn. 53, KK-Pelchen Rdn. 39 und Kleinknechtj Meyer Rdn. 32 — je zu § 52: mit weiteren Nachweisen. So wohl schon RGSt. 25, 262; ebenso RG JW 1928, 1306 (hier: Nr. 2). Siehe diesbezüglich vor allem die Entscheidung des Großen Strafsenates in BGHSt. 12, 235 (242) sowie BGHSt. 20, 234 f; vgl. auch BGH (VI ZR 202/83) NJW 1985, 1470 f. Vgl. insofern LR-Dahs Rdn. 52, KleinknechtjMeyer Rdn. 31, KMR-Paulus Rdn. 32 und KK-Pelchen Rdn. 36 — je zu § 52; vgl. auch Alsberg! Nüsej Meyer, Beweisantrag, S. 487 und Grünwald JZ 1966, 495. Was einzelne Autoren fordern (vgl. W. Schmid JZ 1969, 761 und KMR-Paulus, § 52 Rdn. 32) und RGSt. 25, 262 (264) immerhin empfohlen hat.
Die „qualifizierte" Belehrung
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dies nicht erforderlich ist 77 . Statt dessen hätte vielmehr interessiert, worauf denn diese „nachträgliche" Belehrung inhaltlich gerichtet sein muß. Dazu äußern sich jedoch weder die genannten Autoren noch die von ihnen in Bezug genommenen obergerichtlichen Entscheidungen. Insbesondere ist nicht ersichtlich, ob die Belehrung den Hinweis auf die Unverwertbarkeit der früheren Aussage enthalten, mit anderen Worten: ob auch hier in „qualifizierter" Form belehrt werden muß. Wer eine solche „qualifizierte" Belehrung im Bereich des Beschuldigten-Beweises gefordert hat, wird dies konsequenterweise auch hier tun. Mag das Zeugnisverweigerungsrecht insbesondere des angehörigen Zeugen auch nicht von verfassungsrechtlichem Gewicht sein; die psychologische Situation ist beim angehörigen Zeugen, der den beschuldigten Angehörigen früher — unbelehrt! — belastet hat und sich nunmehr an diese Aussage gekettet fühlt, nicht prinzipiell anders als beim Beschuldigten. Mit vereinzelten Stimmen in der Literatur plädiere ich demzufolge auch im Rahmen des § 52 III für eine „qualifizierte" Belehrung 78 . Auch das Zeugnisverweigerungsrecht des angehörigen Zeugen, das diesen vor dem Gewissenskonflikt bewahren will, einerseits als Zeuge die Wahrheit sagen zu müssen, andererseits aber einen beschuldigten Angehörigen durch die wahrheitsgemäße Aussage nicht belasten und damit zu strafrechtlicher Verurteilung beitragen zu müssen79, erhält seinen vollen Sinn und seine volle Wirksamkeit erst durch die Belehrung 80 ; in den Worten des Großen Strafsenates 81 : „Ein Recht, das man nicht kennt, kann man nicht ausüben." Soweit man im übrigen anerkennt, daß das Zeugnisverweigerungsrecht für angehörige Zeugen (zumindest auch) der Wahrheitsfindung dient 82 , spricht für das Erfordernis einer qualifizierten Belehrung schließlich auch dieser Aspekt. 2. Ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht des § 55 II (Auskunftsverweigerungsrecht bei Gefahr eigener Verfolgung) begründet nach der — vom 77 78
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Vgl. LR-Dabs Rdn. 52 und Kleinknecht\Meyer Rdn. 31 - je zu § 52. So vor allem Rogall, Der Beschuldigte (o. Fn. 4), S. 231 (die hier in Anm. 8 in Anspruch genommenen Belege tragen diese Forderung freilich nicht); so wohl auch Petry, Beweisverbote (o. Fn. 4), S. 115 (denn die Ausführungen ab S. 111 gelten den „Rechtsbelehrungen gegenüber Zeugen und Beschuldigten") sowie Dencher, Beweisverbote (o. Fn. 4), der in Anm. 238 auf S. 75 diesbezüglich von einer „verallgemeinerungsfahigen Begründung" spricht. Dazu vor allem BGHSt. 12, 235 (239 ff) und BGHSt. 22, 35 ff; grundlegend und weiterführend insoweit vor allem Rengier, Die Zeugnisverweigerungsrechte im geltenden und künftigen Strafverfahrensrecht (1979), S. 8 ff. Ausführlich dazu Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, S. 244 ff. BGHSt. 12, 235 (238). So mit beachtlichen Gründen vor allem Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte (o. Fn. 79), S. 63 ff.
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Bundesgerichtshof trotz heftiger Angriffe aus dem Schrifttum 83 bis heute noch nicht aufgegebenen — sogenannten „Rechtskreistheorie" (BGHSt. 11, 213 ff) kein revisibles Beweisverwertungsverbot. Wer dieser höchst fragwürdigen Rechtsansicht folgt 84 , für den macht eine „qualifizierte" Belehrung im Bereich des § 55 verständlicherweise keinen Sinn. Erachtet man die Rechtskreistheorie freilich schon im Ansatz für verfehlt 85 und nimmt man demzufolge auch bei einem Verstoß gegen § 55 II ein grundsätzlich revisibles Beweisverbot an, stellt sich unter dem Aspekt nachträglicher Heilung des früheren Belehrungsfehlers wiederum die Frage nach dem Inhalt der nachträglichen Belehrung. Die Frage stellen heißt sie auch vorliegend im Sinne einer „qualifizierten" Belehrung konsequentereise bejahen zu müssen86 — dies nicht zuletzt deshalb, weil auch das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 ein Ausfluß des rechtsstaatlichen Grundsatzes ist, daß niemand gezwungen werden dürfe, gegen sich selbst auszusagen87. Nebenbei: Selbst von Anhängern der hier abgelehnten „Rechtskreistheorie" wird nicht in Abrede gestellt, daß eine Aussage, die jemand in einem gegen einen anderen gerichteten Strafverfahren als Zeuge unter Verletzung der Belehrungspflicht des § 55 II gemacht hat, in einem gegen ihn als Beschuldigten geführten späteren Strafverfahren nicht verwertet werden darf 88 . Unter diesen Voraussetzungen wird durch die Verwertung der früheren Einlassung gewiß der vielzitierte „Rechtskreis" des nunmehr Angeklagten und damit dessen rechtsstaatliche Verteidigungsinteressen („nemo tenetur ...") berührt. Eine Heilung des früheren Belehrungsfehlers ist auch hier möglich — nach hier vertretener Rechtsansicht freilich wiederum nur nach „qualifizierter" Belehrung über die Unverwertbarkeit der früheren „Zeugen"-Aussage.
3. Eine „qualifizierte" Belehrung ist nach hier befürworteter Ansicht schließlich überall dort erforderlich, wo eine Auskunftsperson im Vorfeld eines Verdachts — vorausgesetzt insofern also: in zulässiger Weise,
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So damals schon Eb. Schmidt JZ 1958, 596 ff; Rudolphi MDR 1970, 93 ff und Hanack J Z 1971, 127; einschlägige Nachweise aus neuerer Zeit, je mit weiteren Belegen, bei KMR-Paulus, § 244 Rdn. 503 f, Roxi», Strafverfahrensrecht, S. 148 und Schlüchter, Strafverfahren, Rdn. 494.2 (S. 517). Zustimmung insofern bei KK-Majr, § 252 Rdn. 7 und Kleinknechtj Meyer Rdn. 17, LR-Dahs Rdn. 21 f und KK-Pelchen Rdn. 19 - je zu § 55. Zusammenfassend insofern erst jüngst Geppert JURA 1988, 312 f. Ebenso Petry, Beweisverbote (o. Fn. 4), S. 113 ff und Schlüchter, Strafverfahren, Rdn. 494.2 (S. 518 oben). So ausdrücklich BVerfGE 38, 105 (113). Vgl. insofern OLG Stuttgart NStZ 1981, 272f (unter Hinweis auf den offenbar unveröffentlichten BGH-Beschluß vom 22. 10. 1980 - 2 StR 612/80) sowie BayObLG N J W 1984, 1246. Dem zustimmend insofern auch KleinknechtjMeyer, § 55 Rdn. 17 sowie Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 149 f und Schlüchter, Strafverfahren, Rdn. 465; ebenso schon Grünwald J Z 1966, 499 mit Anm. 97.
Die „qualifizierte" Belehrung
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d. h. ohne Verletzung einer gesetzlichen Belehrungspflicht (welcher denn?) — informatorisch befragt wurde und später in der Rolle z. B. des angehörigen Zeugen von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht. Auch und gerade hier muß die nachträgliche Belehrung in „qualifizierter" Form erfolgen und den zwischenzeitlich in die Zeugenrolle Hineingewachsenen darüber informieren, daß die früheren (eben nur informatorisch erlangten) Äußerungen nicht verwertet werden dürfen. Von dem Erfordernis einer „qualifizierten" Belehrung sind aber nur solche Äußerungen im Vorfeld eines Verdachtes erfaßt, die gewissermaßen amtlicherseits zum Ermittlungsgegenstand veranlaßt wurden; nicht erfaßt (weil insofern eben keinem Beweisverbot unterliegend) sind hingegen alle jene früheren Äußerungen, die wie beispielsweise Spontanäußerungen, Strafanzeigen oder Hilferufe einschließlich der diese Äußerungen begleitenden Erläuterungen gewissermaßen aus Eigeninitiative der erst später zum Zeugen gewordenen Person entstanden sind und von hier aus auch nicht der zeugenmäßigen Wahrheitspflicht unterstanden haben. Dies ist durchaus kein Widerspruch zu dem, was ich im Vorangegangenen zur — dort, wie erinnerlich, abgelehnten — „qualifizierten" Belehrung nach informatorischer Befragung/Anhörung eines späteren Beschuldigten ausgeführt habe. Der rechtliche Unterschied ist in der Existenz einer Vorschrift wie derjenigen des § 252 begründet, die es mit diesem Inhalt bekanntlich nur für den Zeugen und nicht für den Beschuldigten gibt. Auch dazu habe ich mich literarisch bereits geäußert, so daß ich — insofern nur wiederholend — zusammenfassen darf 89 : Dem Schrifttum folgend hat auch der Bundesgerichtshof dem § 252 über seinen Wortlaut hinaus ein allumfassendes Beweisverbot des Inhalts entnommen, daß es bei späterer (berechtigter) Zeugnisverweigerung schlechterdings unzulässig ist, die frühere Aussage in irgendeiner Form — durch Vorhalt ebensowenig wie durch Vernehmung (jedenfalls) ««¿/richterlicher Verhörspersonen — zu nutzen; die Streitfrage, ob die Vernehmung richterlicher Verhörspersonen vom Verbot des § 252 nicht erfaßt sein soll (so der BGH in ständiger Rechtsprechung), spielt im legitimen Anwendungsbereich informatorischer Befragung/Anhörung erfahrungsgemäß keine Rolle. Ungeachtet dessen bleiben gleichwohl Äußerungen gegenüber Privatpersonen vom Verbot des § 252 ebenfalls ausgenommen. Wohl aber hat der Bundesgerichtshof in seiner im Schrifttum allenthalben mit Zustimmung aufgenommenen Grundsatzentscheidung BGHSt. 29, 230 ff den Anwendungsbereich des §252 auf solche informatorischen Befragungen/
89
Siehe insofern vor allem Geppert, Oehler-Festschrift (1985), S. 328 ff sowie denselben in JURA 1988, 363 ff; Zustimmung vor allem durch SKjStPO-Rogall, Rdn. 47 vor § 133. Zur „informatorischen" Befragung eines (späteren) Zeugen siehe auch Lühr Polizei 1985, 47 ff.
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Klaus Geppert
Anhörungen erweitert, bei denen das jeweilige Strafverfolgungsorgan im Hinblick auf ein — nur mögliches — in Gang zu setzendes Ermittlungsverfahren auf die spätere Beweisperson gewissermaßen in amtlicher Initiative zugegangen war: für die durch § 252 geschützte Gewissens- und Konfliktslage des Zeugen sei es ohne maßgebliche Bedeutung, ob die frühere Aussage — vielleicht voreilig und/oder ohne Kenntnis eines Weigerungsrechtes abgegeben — im Rahmen einer förmlichen „Vernehmung" geschah oder noch im Vorfeld des Verdachts im Rahmen einer bloß informatorischen Befragung. Im Gegenteil; das Schutzbedürfnis eines Zeugen sei im Bereich informatorischer Befragung eher noch größer als später.
Von hier aus zurück zur „qualifizierten" Belehrung: Auch Äußerungen im Rahmen einer bloß informatorischen Befragung — jedenfalls wenn sie amtlicherseits initiiert sind — unterliegen dem Beweisverbot des § 252, wenn die betreffende Person später als Zeuge von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht. Eine Belehrung des späteren Zeugen, soll sie diesem wirklich eine konfliktsfreie Entscheidung ermöglichen, auszusagen oder doch besser nicht aussagen zu wollen, muß daher ebenfalls in qualifizierter Form erfolgen, d. h. sie muß den Zeugen darüber informieren, daß seine frühere Äußerung nicht verwertet werden darf.
VI.
Ich komme zum Schluß meiner Ausführungen und darf zusammenfassen: Auch die Durchsicht einzelner Verfahrensgestaltungen, bei denen ein früherer (meist: Belehrungs-) Fehler durch eine nachfolgende „qualifizierte" Belehrung zwecks Wiederholungsvernehmung geheilt werden kann, hat keine weiteren Argumente gegen das Erfordernis eines solchen zusätzlichen Hinweises gebracht. Nicht zuletzt aus Gründen rechtsstaatlicher Fürsorglichkeit ist eine echte Wahlfreiheit, auszusagen oder nicht auszusagen, nach alledem nur dann gewährleistet, wenn die betreffende Aussageperson auch weiß und verinnerlicht hat, daß sie auf eine frühere Einlassung nicht „festgenagelt" bleibt. Wir Fachleute dürfen einfach nicht verkennen, daß juristische Laien — mögen sie im Einzelfall vielleicht sogar reichliche „Gerichtserfahrung" besitzen — sich nicht ohne weiteres von der Vorstellung befreien können, die gegenübersitzende amtliche Vernehmungsperson dürfe ein Beweismittel gegebenenfalls selbst dann nicht beweismäßig verwerten, wenn das entsprechende Vernehmungsprotokoll fein säuberlich in den auf dem Tisch liegenden Ermittlungsakten abgeheftet ist. So gesehen gilt die Forderung nach einer „qualifizierten" Belehrung als auch verfassungsrechtlich gebotener Verfahrensstandard auch dort, wo die betreffende Aussageperson ihr Zeugnisverweigerungs- oder Schweigerecht bereits kennt. Insofern gilt im Sonderfall „qualifizierter" Belehrung nichts
Die „qualifizierte" Belehrung
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prinzipiell anderes als bei „normaler" Erfüllung der Belehrungspflicht. Wie unter Hinweis auf die parlamentarische Entstehungsgeschichte (zur Erinnerung: „vor jeder Vernehmung ... zu belehren"!) schon RGSt. 2, 192 (193) klargestellt hat 90 , wirkt eine Belehrung nicht in ein späteres Verfahrensstadium fort; das Gesetz setzt gewissermaßen die Unkenntnis der jeweiligen Aussageperson voraus und verpflichtet jede Verhörsperson von neuem zu gesetzlicher Belehrung 91 . Diese Fürsorglichkeit des Gesetzes hat gerade im Fall „qualifizierter" Belehrung ihren guten Sinn. Es kann freilich nicht in Abrede gestellt werden, daß die Anerkennung einer „qualifizierten" Belehrung der hier geforderten Art in der Praxis oft und vielleicht sogar sehr oft dazu führen mag, daß die solchermaßen belehrte Aussageperson nunmehr schweigt und damit nichts zur Aufklärung beiträgt. Daher ist denn auch die Skepsis der „Praktiker" vor einer qualifizierten Belehrung unverkennbar von der Sorge getragen, Möglichkeiten der Sachverhaltsaufklärung würden empfindlich beeinträchtigt und die ebenfalls rechtsstaatlich gebotene Wahrheitsfindung könne leiden. Diese berechtigte Sorge will ich gar nicht verharmlosen, und ich will die Forderung nach einer qualifizierten Belehrung auch nicht mit der Überlegung bekräftigen, auch eine qualifizierte Belehrung diene der Wahrheit, weil ein schweigender Zeuge/ Beschuldigter wenigstens nicht lügt. Es ist jedoch der Versuchung zu widerstehen, eine ganz bewußt getroffene Entscheidung des Gesetzgebers, der die Praxis schon im vergangenen Jahrhundert (bei Einführung der genannten Schweigerechte nebst gesetzlicher Belehrungspflicht!) und rund 100 Jahre später (bei Erweiterung bzw. Verdeutlichung der gesetzlichen Belehrungspflicht durch das StPÄG 1964) zugegebenermaßen ablehnend gegenüberstand, gewissermaßen auf kaltem Wege — eben durch Ablehnung einer qualifizierten und durch Sichabfinden mit einer gewissermaßen nur „halbherzigen" Belehrung — wirkungslos zu machen. Hier werden unverkennbar Nachhutsgefechte geliefert! Daher bleibt es dabei: Wer a sagt (und Zeugnisverweigerungsbzw. Schweigerechte einführt, die Belehrung darüber allen Vernehmungspersonen zur gesetzlichen Pflicht macht und die Nichterfüllung dieser Belehrungspflichten durch ein Beweisverwertungsverbot absichert), muß auch b sagen ... und die Forderung nach einer „qualifizierten" Belehrung mitunterschreiben! Eine ganz andere Frage ist freilich, unter welchen Voraussetzungen die Nicht- oder Schlechterfüllung der hier geforderten qualifizierten 90 91
Nachdrücklich bestätigt insofern durch BGHSt. 13, 394 (399). Höchst bedenklich insofern Dencker (MDR 1975, 361), der diesbezüglich meint, das Gesetz verlange keine „leere Förmelei".
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Belehrung revisionsrechtlich gerügt werden kann. Selbstverständlich kann die Verletzung auch einer qualifizierten Belehrungspflicht mit der Verfahrensrüge nur dann erfolgreich gerügt werden, wenn das Urteil auf diesem Fehler „beruht" (§ 337). Wann dies der Fall ist, wann im vorliegenden Zusammenhang insbesondere von einer Kenntnis der betreffenden Aussageperson auszugehen ist und wie vor allem in diesen Fällen gewissermaßen die Beweislast verteilt ist, über diese und weitere damit zusammenhängende Fragen besteht ebenfalls heftiger Streit; ihn darzustellen, wäre einen eigenen Beitrag wert. Im übrigen will ich diese meine Aufforderung an die Tatrichter, in den genannten Fällen in „qualifizierter" Form zu belehren, kriminalpolitisch nicht dadurch entwerten, daß zugleich die Möglichkeiten entwickelt und gewissermaßen mitgeliefert werden, sich dieser Pflicht ohne Schaden für die Revisionsinstanz entziehen zu können.
Gentechnische Untersuchungen als Gegenstand der Beweisführung im Strafverfahren K A R L HEINZ GÖSSEL1
A. Die möglichen Inhalte gentechnischer Untersuchungen und ihre strafverfahrensrechtliche Bedeutung Die Berücksichtigung gentechnischer Untersuchungen im Strafverfahren setzt zunächst die Darstellung der Art solcher Untersuchungen und ihrer Ergebnisse voraus; erst danach läßt sich beurteilen, welche Bedeutung gentechnischen Untersuchungen im Strafverfahren in allen seinen Abschnitten zukommen kann (u. II, III); ist auch diese Frage beantwortet, kann zur rechtlichen Zulässigkeit de lege lata und de lege ferenda (u. B, C, D) Stellung genommen werden. I. Genomanalyse und genetische Fingerabdrücke als verfahrensrelevante gentechnische Untersuchungen 1.
Begriffsbestimmungen
Der Begriff „gentechnische Untersuchungen" wird hier als Oberbegriff für solche Untersuchungen verwendet, denen insbesondere die Genomanalyse und die Herstellung sogenannter „genetischer Fingerabdrücke" zugeordnet werden; sonstige — mir bislang unbekannte — gentechnische Untersuchungen strafverfahrensrechtlicher Relevanz sind nicht Gegenstand der folgenden Erörterungen. In der Literatur wird die Hersellung genetischer Fingerabdrücke nicht selten als eine besondere Art der Genomanalyse betrachtet 2 . 1
2
Die vorliegende Untersuchung beruht weitgehend auf einer schriftlichen Stellungnahme, die ich am 12. 10. 1988 vor dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages abgegeben habe. Jedoch wurden nunmehr verfassungsrechtliche Fragen verstärkt berücksichtigt und ebenso das Ergebnis eines Besuchs beim Max-Planck-Institut für Psychiatrie in Martinsried, bei der ich über die Technik des genetischen Fingerabdrucks von Herrn Dr. Epplen reiche Belehrung erfahren durfte, für die ich mich auch an dieser Stelle bedanken möchte. S. Catenhusen/Neumeister (Hrsg.) in: Chancen und Risiken der Gentechnologie, Dokumentation des Berichts der Enquete-Kommission „Gentechnologie" an den Deutschen Bundestag, 1987, Abschnitt C, Nr. 6.2.3.6.1., S. 175.
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Karl Heinz Gössel
Unabhängig von der etwa verschiedenen Technik beider Verfahren erscheint eine getrennte Betrachtung beider Untersuchungen jedoch schon wegen der durchaus unterschiedlichen Aussageinhalte notwendig. 2. Genomanalyse Unter Genomanalyse versteht man „die Bestimmung von erblichen Merkmalen mittels gentechnischer Methoden" 3 , die am Ende einer heute auch zeitlich nicht absehbaren Entwicklung zu einer für jedes Individuum je besonderen „Genkarte" führen soll, die, einer geologischen Karte vergleichbar, die gleichsam „erbmorphologische Struktur" der individuellen Persönlichkeit aufzeigt und erkennbar macht. Dabei werden sog. Proteinradikale in ihrer Zusammensetzung und Folge einschließlich ihrer Mutationen und sonstigen Defekte dargestellt, die jedem Menschen unverwechselbar und einzigartig zukommen und monogen bestimmte Erbkrankheiten, u. U. sogar sonstige bestimmte Krankheitsanfälligkeiten und bestimmte Dispositionen zu bestimmten Krankheiten, erkennen lassen, wie z. B. Hämophilie, Immun-MangelSyndrome, Störungen im Zentralnervensystem und Nierenschrumpfung aufgrund des Lesch-Nyhan-Syndroms, geistiger Verfall aufgrund der Tay-Sachsschen Erkrankung 4 , aber auch genetisch bedingte individuelle Reaktionsweisen auf exogene Faktoren wie z. B. Lungeninsuffizienz bei Zigarettenrauch und Smog oder die Entstehung von Arteriosklerose bei bestimmten Ernährungsweisen 5 . In ihrem derzeit noch nicht erreichbaren Endstadium wird diese als unverwechselbar bezeichnete genetische Kennkarte des Individuums die gesamten biologischen Grundlagen der Individualität einer konkreten natürlichen Person enthalten; sie dürfte überdies allerdings schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch zur eindeutigen Personenidentifizierung geeignet sein 6 . 3. Genetischer
Fingerabdruck
Bei der Herstellung des genetischen Fingerabdrucks bleiben die jeweiligen Inhalte der auf der „Genkarte" erkennbaren und kartierten genetischen Informationen außer Betracht. Zum Verständnis des „Fingerabdruckverfahrens ist zu berücksichtigen, daß die menschliche Erbsubstanz (Genom) in zwei gegeneinander versetzten spiralförmigen 3 4 5 6
SternberglLieben, „Genetischer Fingerabdruck" und § 81 a StPO, NJW 1987, 1242. Tabelle auf S. 182 des in Fn. 2 erwähnten Berichts. Tabelle S. 158 des in Fn. 2 erwähnten Berichts. Istel, Genomanalyse, in: Biotechnik-Gentechnologie-Reproduktionsmedizin, Der Bürger im Staat 1987, S. 217, 219.
Gentechnische Untersuchungen als Gegenstand der Beweisführung
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DNS-Strängen angeordnet ist, in denen die vier Bausteine A, C, G und T ( = die Basen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin) in bestimmter Weise zueinander in sich wiederholender Weise angeordnet sind. Auf den DNS-Strängen gibt es bestimmte Abschnitte, auf denen sich häufig wiederholende Folgen der jeweils gleichen Bausteine (z. B. GAGAGAGAGAGAGAGA ...) befinden, ohne daß diese Abschnitte und Sequenzen nach derzeitigem Kenntnisstande irgendwelche Erbinformationen enthielten; solche Abschnitte werden „Mini-Satelliten" genannt 7 . Ein genetischer Fingerabdruck wird dadurch hergestellt, daß der DNS-Strang jeweils bei Auftauchen einer bestimmten — repetiven — Bausteinsequenz auf hier nicht näher interessierende Weise durchtrennt wird. Dabei erhält man Strangteile unterschiedlicher Länge, die durch die Abstände zwischen den jeweiligen Schnittpunkten bedingt sind, die auch von der Länge der repetiven Sequenzen und damit von deren Anzahl abhängig sind. Bei einer räumlichen Zuordnung dieser Streifen ergeben die unterschiedliche Streifenlänge und auch die Zahl der repetiven Sequenzen ein bestimmtes Muster, das für jeden Menschen (abgesehen von eineiigen Zwillingen) verschieden ist; die Übereinstimmung zweier derartiger Muster erlaubt den Schluß darauf, daß das jeweils für die Untersuchung verwendete DNS-Material von derselben Person stammt, und zwar mit signifikant höherer Wahrscheinlichkeit als beim „klassischen" Fingerabdruck von der Fingerbeere. Damit ist der genetische Fingerabdruck ebenso wie die zuvor erwähnte Genomanalyse zur Identifikation hervorragend geeignet, erlaubt aber im Gegensatz zu dieser keinerlei Rückschlüsse auf irgendwelche biologischen, persönlichen oder sonstigen Eigenschaften des Trägers des jeweils untersuchten Erbguts 8 . 4.
Untersuchungsmaterial
Zur Durchführung der Genomanalyse und zur Herstellung der genetischen Fingerabdrücke reichen beliebige Körperzellen deshalb aus, weil „das gesamte genetische Material in allen Körperzellen enthalten ist" 9 , so z. B. in den Blut-, Samen- und Eizellen, Haarwurzel- und Hautzellen, aber auch in den Mundschleimhautzellen des Menschen. 7
8
9
Vgl. dazu S. 11 des in Fn. 2 erwähnten Berichts, Abschnitt B 2. 3.; Keller, Die Genomanalyse im Strafverfahren, NJW 1989, 2289; Jung, Zum genetischen Fingerabdruck, MSchrKrim 1989, 103. Vgl. z. B. Jung und Keller wie Fn. 7, ferner Epplen und Wuermeling in: Genomanalyse und Menschenwürde, Referate und Protokolle der Tagung vom 2. Juni 1989 in München, Forum der Landtagsfraktion der bayer. SPD, 1989, 6 ff und 30 f. Abschnitt C in Nr. 6.2.2.4. S. 145 des in Fn. 2 erwähnten Berichts; ähnlich Istel aaO (Fn. 6).
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Karl Heinz Gössel
II. Strafverfahrensrechtliche Bedeutung 1.
Anwendungsbereich
Gentechnische Untersuchungen lassen sich im Strafverfahren in vielfacher Weise für die Ermittlung und Aburteilung, kurz, zum Beweis von Straftaten einsetzen: a) Uberragende Bedeutung können sie bei der Täterermittlung gewinnen. Die herkömmliche Fingerabdruckmethode ist zwar nach wie vor ein sicheres Identifizierungsmittel, aber deshalb doch nur recht begrenzt erfolgreich, weil der erfahrene Straftäter sehr wohl zu verhindern weiß, seine Fingerabdrücke am Tatort zu hinterlassen. Anders dagegen bei Körperzellen: insbesondere bei Gewaltverbrechen wird der Täter nicht nur Haut- und Haarwurzelzellen hinterlassen, sondern auch Blut- und u. U. auch Samenzellen, so daß die Genomanalyse und auch der genetische Fingerabdruck die Feststellung der Identität des Straftäters möglich machen werden. b) Neben der Täteridentifizierung ist der Einsatz der Genomanalyse (aber nicht des genetischen Fingerabdrucks) auch zur Feststellung oder zum Ausschluß von Strafbarkeitsvoraussetzungen und sogar von Verfahrensvoraussetzungen möglich. So erscheint es z. B. denkbar, den Ausschluß oder die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit etwa dadurch nachzuweisen, daß ein zum geistigen Verfall führender Gendefekt 10 im Wege der Genomanalyse festgestellt wird, womit über die Voraussetzungen der Verhängung von Strafe und u. U. von schuldunabhängigen Maßregeln der Besserung und Sicherung entschieden wird, auch im selbständigen Sicherungsverfahren nach §§ 413 ff StPO; Entsprechendes gilt für die Feststellung der Verhandlungsfähigkeit. Es ist darüber hinaus denkbar, daß zum 1/orsat^ausschluß führende Wahrnehmungsstörungen durch die Genomanalyse nachgewiesen werden können: so etwa aufgrund der auch zum Verlust der Sehkraft führenden Tay-Sachsschen Erkrankung. Eine besondere Bedeutung kann die Genomanalyse bei der Rechtfertigung der Tötung werdenden menschlichen Lebens gewinnen: die Voraussetzungen der eugenischen Indikation werden sich regelmäßig durch die Genomanalyse feststellen oder ausschließen lassen, und dies ist ebenfalls bei der medizinischen Indikation (genetisch bedingte Gefahrdung der Gesundheit der Mutter durch die Schwangerschaft) denkbar, jedoch wird sich in diesen Fällen das von dem Hamburger Biologen 10
Etwa die schon vorher erwähnte Tay-Sachssche Erkrankung, s. S. 182 des in Fn. 2 erwähnten Berichts.
Gentechnische Untersuchungen als Gegenstand der Beweisführung
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Mull entwickelte Verfahren zur Feststellung von Erbkrankheiten aus den Fingerabdrücken (sog. dermatoglyphisches Verfahren) anwenden lassen. Selbst die überwiegend zivilrechtlich bedeutsame Vaterschaftsfeststellung kann im Strafverfahren von Bedeutung werden: so bei der Unterhaltspflicht im Verfahren wegen Verletzung der Unterhaltspflicht nach § 170 b StGB und u. U. auch für die strafbare Verletzung von Fürsorgeoder Erziehungspflichten nach §§ 170 d, 174 (hier insbesondere Abs. 1 Nr. 3) StGB. Gleiches gilt für die Feststellung der leiblichen Abstammung bei Strafausschließungsgründen zu Gunsten von Angehörigen (z. B. bei der Strafvereitelung nach § 258 Abs. 6 StGB), beim Entschuldigungsgrund des Handelns in einem entschuldigenden Notstand zu Gunsten eines Angehörigen (§ 35 StGB) und endlich bei der Feststellung des Antragserfordernisses bei Straftaten zum Nachteil von Angehörigen (z. B. bei Haus- und Familiendiebstahl nach § 247 StGB). c) Denkbar ist schließlich auch der Einsatz der Genomanalyse bei Opfern von Straftaten und bei Zeugen. So ist der Verteidigungsvortrag denkbar, nicht der Faustschlag des Beschuldigten habe zur Beeinträchtigung der Sehfahigkeit des Opfers geführt, sondern eine genetisch bedingte Erkrankung des Opfers: ähnlich läßt sich auch die Glaubwürdigkeit eines Zeugen durch den Vortrag beeinträchtigen, dieser leide an genetisch bedingtem geistigen Verfall oder aber auch an genetisch bedingten Wahrnehmungsstörungen, die es als ausgeschlossen erscheinen ließen, daß der Zeuge den Täter gesehen oder gehört haben könne. 2. Die Zulässigkeit gentechnischer Untersuchungen im Strafverfahren im allgemeinen Bei der Frage, ob Genomanalyse und genetischer Fingerabdruck im Strafverfahren eingesetzt werden können oder sollen, lassen sich drei Problemkreise unterscheiden: a) Einmal die Gewinnung der zur Durchführung dieser gentechnischen Untersuchungen benötigten Körperzellen direkt von dem Betroffenen (Beschuldigter, Zeuge) durch körperliche Untersuchung einschließlich körperlicher Eingriffe, aber auch unabhängig von solchen Untersuchungen auf sonstige Weise, etwa durch Spurensicherung am Tatort und (zum Vergleich) an Gegenständen des Beschuldigten (Blutspuren im Taschentuch, Haarwurzelzellen z. B. im Kamm), b) zum andern die Durchführung der gentechnischen Untersuchungen aus den dazu gewonnenen Körperzellen und
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c) endlich die Verwertung der aus den gewonnenen Körperzellen erstellten Genomanalyse oder genetischen Fingerabdrücke zum Nachweis z. B. des Täterverhaltens oder der sonst oben a erwähnten verfahrensrechtlich relevanten Tatsachen. III. Gentechnische Untersuchungen und Beweisrecht 1. Streng- und
Freibeweis
Wie sich aus den obigen Darlegungen unter A II 1 ergibt, können gentechnische Untersuchungen vor allem zur Feststellung solcher Tatsachen eingesetzt werden, welche die Voraussetzungen der Strafbarkeit und der strafrechtlichen Sanktionen betreffen: die Identität des Beschuldigten und die Begehung einer tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Tat durch ihn wie auch das Vorliegen von Strafausschließungsgründen. Solche Tatsachen dürfen bekanntlich nur im Wege des sog. „Strengbeweises" zur Urteilsgrundlage gemacht werden, also nur in den Formen der gesetzlich zugelassenen Beweismittel (Zeugen- und Sachverständigenbeweis; Urkunden- und Augenscheinsbeweis) und unter den dafür jeweils vorgesehenen gesetzlichen Voraussetzungen. Dies gilt nicht nur für gentechnische Untersuchungen des Beschuldigten, sondern auch für solche von Zeugen: so kann bei der Feststellung von strafbegründend wie straferschwerend wirkenden gesundheitlichen Defekten durch eine Genomanalyse u. U. bewiesen werden, daß solche Beeinträchtigungen erblich bedingt und nicht vom Beschuldigten herbeigeführt worden sind. Aber auch bei der Feststellung von Verfahrensvoraussetzungen (ist das bestohlene Opfer ein antragsberechtigter Abkömmling des Beschuldigten? Ist der Beschuldigte genetisch bedingt verhandlungsunfahig?) können gentechnische Untersuchungen klärend eingesetzt werden, hier allerdings im Wege des sog. Freibeweises. So ist bei der Bedeutung der rechtlichen Zulässigkeit solcher Untersuchungen im Strafverfahren neben der Berücksichtigung der verschiedenen unter A II 2 genannten Stadien (Zellgewinnung als Grundlage gentechnischer Untersuchungen; Durchführung der Untersuchungen; Verwertung der Untersuchungsergebnisse) zudem die formale Beweisführung im Verfahren des Strengoder Freibeweises zu berücksichtigen. 2.
Beweismittelcharakter
Gentechnische Untersuchungen lassen sich in den numerus clausus der Beweismittel deshalb nur schwer einordnen, weil sie mit keinem der bekannten Beweismittel vollständig erfaßt werden können. Sie
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lassen sich dem sog. „Sachbeweis" zurechnen, mit dem in der Praxis eine „bedeutende und anerkannte Kombination von Sach- und Personalbeweis" bezeichnet wird, „die letztlich vom Sachverständigen dominiert wird" 11 . Trotz seiner Unverzichtbarkeit läßt sich dieser Sachbeweis aber in das System der StPO gleichsam nur „mit Ächzen und Stöhnen" wie in ein Prokrustesbett einpassen. Soll mittels des genetischen Fingerabdrucks etwa die Identität des Beschuldigten mit dem Täter vor Gericht bewiesen werden, so werden die dazu notwendige Untersuchung und auch deren Ergebnis durch Sachverständigengutachten in das Verfahren eingeführt; jedoch ist auch die Einführung durch Urkundenbeweis durch Verlesen des Gutachtens einer öffentlichen Behörde nach § 256 Abs. 1 StPO möglich, u. U. in der von § 256 Abs. 2 StPO vorgesehenen spezifischen Verbindung mit dem Sachverständigenbeweis 12 . Damit allein läßt sich dieser Beweis aber noch nicht ordnungsgemäß führen: daß Körperzellen des Beschuldigten am Tatort gefunden und daß diese dem Sachverständigen zur Untersuchung vorgelegt wurden, wird ein Beamter der Spurensicherung als Zeuge auszusagen haben, wie ein weiterer Zeuge darüber zu hören sein wird, daß beim Beschuldigten im Wege der (nicht notwendig körperlichen) Durchsuchung oder körperlichen Untersuchung Körperzellen gefunden oder entnommen wurden und ebenfalls dem Gutachter zum Vergleich mit den am Tatort gefundenen Körperzellen vorgelegt wurden. Schließlich ist es denkbar, daß das verwendete Zellmaterial überdies im Wege des Augenscheins in das Verfahren eingeführt wird wie auch die vom Sachverständigen u. U. angefertigten mikroskopischen Aufnahmen etc. Daß dabei sachliche Überschneidungen zwischen mehreren der genannten Beweismittel möglich sind und sich daraus Schwierigkeiten hinsichtlich der jeweiligen Einführungsart (Verlesen von Gutachten, Betrachten von Augenscheinsobjekten, Vernehmung des Gutachters auch als Zeuge) und auch hinsichtlich der Vereidigung der personalen Beweismittel (Zeuge, Sachverständiger) insbesondere im Hinblick auf ihren Zusammenhang mit den sachlichen Beweismitteln (Unterscheidung zwischen Sachverständigengutachten, Augenscheinsund Urkundenbeweis) ergeben, dürfte offensichtlich sein, und ebenso offensichtlich sind die sich deswegen im Hinblick z. B. auf die Belehrungspflicht stellenden Probleme. Das alles spricht dafür, die Zulässigkeit gentechnischer Untersuchungen neu zu regeln, aber nicht etwa 11 12
l ^ - D a h s vor § 72 Rdn. 11. Zu den dadurch bedingten Komplikationen z. B. hinsichtlich Ablehnung und Vereidigung insbesondere unter Berücksichtigung des Unterschiedes zwischen Behördenund Privatgutachten s. Gössel, Behörden und Behördenangehörige als Sachverständige vor Gericht, DRiZ 1980, 363.
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isoliert, sondern im Zusammenhang mit einer längst überfälligen Neuregelung des Beweisrechts, mindestens aber des Beweismittelrechts — dies um so mehr, als es zudem an notwendigen Rechtsgrundlagen für eine Vielzahl anderer (z. T. praktizierter!) Ermittlungshandlungen (z. B. elektronische Überwachung etwa durch sog. „bumper-beeper" an Kraftfahrzeugen 13 fehlt. Im folgenden sollen nunmehr die einzelnen Stadien der hier in Betracht kommenden gentechnischen Untersuchungen (Genomanalyse; genetischer Fingerabdruck) in ihrer rechtlichen Zulässigkeit erörtert werden.
B. Die Zulässigkeit der Gewinnung von Körperzellen als Grundlage gentechnischer Untersuchungen Nach dem System der StPO ist hier einmal zu unterscheiden die Gewinnung solcher Zellen durch körperliche Untersuchung des Beschuldigten (§ 81 a StPO) von dessen körperlicher Durchsuchung und der Durchsuchung der Wohnung und anderer Räume des Beschuldigten (§ 102 StPO), zum andern aber die Gewinnung des betreffenden Materials durch körperliche Untersuchung anderer Personen als des Beschuldigten (z. B. Tatopfer) nach § 81 c StPO von der Durchsuchung des Körpers oder der Räumlichkeiten solcher Personen (§ 103 StPO). Durchsuchung und Untersuchung sind schließlich zu unterscheiden von den in § 81 b StPO aufgeführten Maßnahmen (Abnahme von Fingerabdrücken, Vornahme von Messungen, fotographische Aufnahmen). Im Freibeweisverfahren (soweit zulässig, s. dazu oben A III 1, ist die Gewinnung von Körperzellen auch auf eine beliebige andere Weise 14 zulässig.
I. Die Gewinnung von Körperzellen des Beschuldigten, die von dessen Körper getrennt sind /. Der erste Anlaß zur Gewinnung von Körperzellen (Blutspuren, Haarwurzeln) wird sich am Tatort bieten. Soweit es dabei um Körperzellen des Beschuldigten geht, sind diese vom menschlichen Körper abgetrennt und kommen somit als Gegenstände in Betracht, die als 13
14
Eingehend dazu Lisken, Neue polizeiliche Ermittlungsmethoden im Rechtsstaat des Grundgesetzes, DRiZ 1987, 184. Ist diese allerdings mit Eingriffen in Rechte der Betroffenen verbunden, ist deren Einwilligung erforderlich.
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Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein können 15 ; sie können folglich nach § 94 Abs. 1 StPO sichergestellt werden. Befinden sich derartige Körperzellen etwa an der Kleidung des Opfers oder sonst im Gewahrsam dieser oder einer anderen Person, so ist auch eine Beschlagnahme nach § 94 Abs. 2 StPO möglich. Während die formlose Sicherstellung (fehlender Gewahrsam, freiwillige Herausgabe) durch jedes Strafverfolgungsorgan in formloser Weise erfolgen darf, dürfen Beschlagnahmen grundsätzlich nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die Staatsanwaltschaft oder deren Hilfsbeamte nach § 98 Abs. 1 StPO (nach Klageerhebung mit der Vorlagepflicht nach Abs. 3 an den zuständigen Richter binnen drei Tagen) angeordnet werden. Zu diesem Zweck darf nach §§ 102, 103 StPO auch eine Durchsuchung angeordnet werden, die im Grundsatz ebenfalls nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzug aber auch durch die Staatsanwaltschaft oder deren Hilfsbeamte angeordnet werden darf (§ 105 StPO). Jedoch betrifft die Durchsuchung zur Verfolgung von Tatspuren nur solche Gegenstände, die nicht der Beschlagnahme unterliegen 16 , wie z. B. Fußspuren. Körperzellen des Beschuldigten können indessen auch am Körper z. B. des Tatopfers oder der sonst als Zeugen in Betracht kommenden Personen vorhanden sein, so z. B. Hautzellen unter den Fingernägeln, Blutspritzer und Samenflüssigkeit. Dazu werden regelmäßig der mindestens teilweise unbekleidete Körper oder normalerweise unbekleidete Körperteile in Augenschein genommen werden müssen, was zwar nicht im Wege der Durchsuchung nach § 103 StPO, wohl aber durch körperliche Untersuchung nach § 81 c StPO geschehen kann, indessen nur bei solchen Personen, die als Zeugen in Betracht kommen, was jedoch regelmäßig der Fall sein wird. Auch zur Anordnung dieser Maßnahmen ist grundsätzlich nur der Richter befugt, bei Gefahrdung des Untersuchungserfolges regelmäßig aber auch die Staatsanwaltschaft und deren Hilfsbeamten nach Maßgabe des § 81 c Abs. 5 StPO mit der sich aus Abs. 3 Satz 3 ergebenden Einschränkung. Endlich kann sich auch die Notwendigkeit ergeben, Körperzellen des Beschuldigten zu einer vergleichenden gentechnischen Untersuchung der am Tatort aufgefundenen Körperzellen und denen des verdächtigten Beschuldigten zu verwenden. Zu diesem Zweck ist die Gewinnung von Körperzellen z. B. im Hause des Beschuldigten auch an den nicht getragenen Kleidungsstücken oder an sonstigen im Eigentum des Beschuldigten stehenden Gegenständen denkbar: so das mit Haaren oder dem Blut des Beschuldigten bedeckte Hemd oder die 15 16
LR24-G. Schäfer § 94 Rdn. 8. LR24-C. Schäfer § 102 Rdn. 23.
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Samenzellen enthaltende Unterwäsche. Wie schon bei Zeugen, so ist auch insoweit die Gewinnung von Körperzellen im Wege der Sicherstellung nach § 94 Abs. 1 StPO und der Beschlagnahme nach § 94 Abs. 2 StPO zulässig, zu deren Vornahme eine Durchsuchung nach §102 angeordnet werden kann. Zu den genannten Zwecken ist auch die Durchsuchung der Person des Beschuldigten (die Bezeichnung als „Verdächtiger" in § 102 StPO ist historisch bedingt) zulässig, worunter indessen lediglich die Durchsuchung der am Körper getragenen Kleidung und die Besichtigung seines Körpers einschließlich der natürlichen Körperöffnungen zu verstehen ist 17 , nicht aber die Entnahme von Körperzellen aus dem Körper: Blut-, Mundschleimhaut- oder Samenspuren, die sich auf der Oberfläche des Körpers oder in dessen natürlichen Öffnungen befinden, dürfen ebenso wie abgetrennte Haare im Wege der Durchsuchung gewonnen werden. Zur Anordnungsbefugnis gilt das bisher Ausgeführte (s. §§ 98, 105 StPO). 2. Wie jede in bestimmte Rechte eingreifende Maßnahme, so dürfen auch Beschlagnahme, Durchsuchung und körperliche Untersuchung nur angeordnet werden, wenn sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerecht werden, was allerdings in den bisher behandelten Fällen regelmäßig zu bejahen sein wird. Erst recht ist die Gewinnung von Körperzellen ohne Rechtsbeeinträchtigung (freiwillige Herausgabe, kein Gewahrsam) zulässig, weil in diesen Fällen gar keine Maßnahmen angeordnet worden sind, die rechtswidrig sein könnten: im übrigen werden die genannten Körperzellen auch wie bei den schon bisher üblichen und nach allgemeiner Ansicht rechtlich zulässigen kriminaltechnischen Untersuchungen (z. B. Blutgruppenfeststellung) gewonnen werden können. Wird so die Frage eines Verbots der Gewinnung von Beweismitteln durch die soeben genannten Maßnahmen regelmäßig praktisch nicht bedeutsam werden, so erscheint es indessen nicht gänzlich undenkbar, daß ein etwaiges Verbot der Verwertung der Ergebnisse gentechnischer Untersuchungen schon die Durchführung solcher Untersuchungen und auch die Gewinnung der dazu benötigten Körperzellen verbietet. Die frühere Annahme, ein Beweisverwertungsverbot habe die Verletzung eines Beweisgewinnungsverbotes zur Voraussetzung, ist inzwischen der Erkenntnis gewichen, daß nicht selten auch zulässigerweise gewonnene Beweismittel nicht verwertet werden dürfen: so z. B. die in einem zulässigerweise hergestellten Protokoll enthaltene Zeugenaussage der Ehefrau des Beschuldigten nach der Geltendmachung des Zeugnisver17
LR24-G. Schäfer § 102 Rdn. 34.
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Weigerungsrechts (§ 250 Satz 2 und § 252 StPO). Jedoch kann umgekehrt von einem Verwertungsverbot auch schon ein Beweisgewinnungsverbot ausgehen: wenn von vornherein klar ist, daß der an sich zulässige Beweis vor Gericht nicht verwertet werden darf, so erscheint es unverhältnismäßig 18 , zur Gewinnung eines später nicht verwertbaren und also nutzlosen Beweismittels möglicherweise sogar in Grundrechte der Rechtsunterworfenen einzugreifen. Davon wird indessen erst unten C II und D die Rede sein. II. Die Gewinnung von Körperzellen unmittelbar aus dem Körper der je betroffenen Peson Sind am Tatort Körperzellen (Haut, Haar, Blut etc.) sichergestellt worden, so kann z. B., wie bereits erwähnt (oben I 1), die Anwesenheit des Beschuldigten am Tatort dadurch bewiesen werden, daß ein Vergleich des genetischen Fingerabdrucks, der aus den am Tatort aufgefundenen Körperzellen gewonnen wurde, mit einem solchen „Abdruck" aus den Körperzellen des Beschuldigten ergibt, daß die am Tatort aufgefundenen Körperzellen notwendig solche des Beschuldigten sind. Um diesen Vergleich zu ermöglichen, müssen Körperzellen unmittelbar am oder aus dem Körper des Beschuldigten gewonnen werden. Auch bei sonstigen Feststellungen (monogen bestimmte Erbkrankheiten zur Bestimmung sonstiger Voraussetzungen der Strafbarkeit oder des Strafverfahrens, s. oben A II 1 b) kann zur Erstellung einer Genomanalyse die Gewinnung von Körperzellen an oder aus dem Körper der betroffenen Person geboten sein, jedoch ohne gleichzeitige Notwendigkeit eines Vergleichs zweier Genomanalysen. 1. Die Gewinnung von Körperteilen
aus dem Körper des
Beschuldigten
Werden Körperzellen als natürliche Bestandteile entnommen, so liegt stets ein körperlicher Eingriff vor 19 , der nach § 81 a StPO grundsätzlich auch ohne Einwilligung des Beschuldigten zulässig ist 20 . Weil aber Körperzellen das gesamte genetische Programm enthalten, reicht schon die völlig schmerz- und verletzungslose Gewinnung von Zellen der Mundschleimhaut durch eine bloße Mundspülung aus 21 , so daß die 18 19 20
21
Vgl. Sternbergj Lieben N J W 1987, 1243 f aaO (Fn. 3). LR2*-Dahs § 81 Rdn. 22. § 81 b StPO dürfte als Rechtsgrundlage für die Gewinnung von Körperzellen ausscheiden. So der Bericht in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 14. 9. 1988, S. 34 über die diesbezüglichen Forschungsergebnisse am St. Mary's Hospital in London.
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Verhältnismäßigkeit des Eingriffs an sich außer Frage steht. Die Entnahme von Blutproben nach den Regeln der ärztlichen Kunst ist in § 81 a StPO ausdrücklich als zulässiger körperlicher Eingriff genannt; und auch die Entnahme von Haaren einschließlich der Haarwurzeln dürfte von § 81 a StPO gedeckt sein. Die von D^end^alowski für zulässig gehaltene Gewinnung von Samenflüssigkeit dagegen dürfte nur mit Einwilligung des Betroffenen zulässig sein: die zwangsweise Entnahme etwa durch Masturbation oder durch Manipulation an den Samenbläschen vom Mastdarm her 22 erscheint entwürdigend und wird deshalb auch dann, wenn andere, etwa der Blutprobenentnahme vergleichbare, Entnahmemethoden nicht zur Verfügung stehen, nicht für zulässig erachtet werden können. Die Anordnungsbefugnis steht auch hier grundsätzlich nur dem Richter zu, bei Gefahrdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung auch der Staatsanwaltschaft und deren Hilfsbeamten (§ 81 a Abs. 2 StPO). Indessen braucht auf die zwangsweise Entnahme aller möglichen Körperzellen zu Zwecken der Genomanalyse deshalb nicht eingegangen zu werden, weil mit der Gewinnung von Mundschleimhaut-, Blut- und Haarwurzelzellen zulässige Gewinnungsmöglichkeiten in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen, die auch zwangsweise wahrgenommen werden können. Wenn auch der Beschuldigte nicht zur Selbstbelastung gezwungen werden kann und also auch nicht zu einer aktiven Mitwirkung, so stehen doch mit der zwangsweise möglichen Blut- und Haarwurzelentnahme ausreichende Methoden zur Körperzellenentnahme zur Verfügung 23 . Allerdings ist auch hier zu beachten, daß eine etwaige Unverwertbarkeit der Ergebnisse gentechnischer Untersuchungen auch die (an sich nach § 81 a StPO zulässige) Gewinnung von Körperzellen ausschließlich zum Zwecke solcher Untersuchungen unzulässig machen kann (s. dazu oben I 2). 2. Die Gewinnung von Körperteilen
aus dem Körper anderer
Personen
Wie schon beim Beschuldigten, so stellt die Gewinnung von Körperzellen aus dem Körper anderer Personen ebenfalls einen körperlichen Eingriff dar. Solche Eingriffe sind nach § 81 c StPO indessen bei anderen Personen als dem Beschuldigten grundsätzlich nur mit deren Einver22 23
Die körperliche Untersuchung, Lübeck 1971, S. 64. Die insoweit gegenteilige Auffassung von Arthur Kaufmann in: Genomanalyse und Menschenwürde aaO (Fn. 8), S. 22 f, würde nicht nur jeden körperlichen Zwangseingriff unmöglich machen, sondern auch die Berücksichtigung der meisten vom Täter am Tatort hinterlassenen Spuren verbieten und damit die Verbrechensaufklärung in weltweit beispielloser Weise behindern. Im übrigen ist in diesen Fällen eine aktive Mitwirkung zu verneinen, s. dazu u. E I 1.
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ständnis möglich, jedoch gestattet § 81 c Abs. 2 Satz 1 StPO als einzige Ausnahme die Entnahme von Blutproben. Ob daneben die schon weit einfachere Mundspülung mit dem Zweck der Gewinnung von Mundschleimhautzellen und die Gewinnung von Haarwurzelzellen ebenfalls nach § 81 c StPO erlaubt sind, was mit dem Wortlaut der Vorschrift jedenfalls nicht vereinbar erscheint, dürfte aus doppeltem Grunde praktisch bedeutungslos sein: einmal reicht die zwangsweise vornehmbare Blutprobenentnahme schon aus, und zum andern wird der Hinweis auf die Möglichkeit dieses Eingriffs (Blutprobenentnahme) regelmäßig schon zur Einwilligung in die genannten leichteren Eingriffe (z. B. Mundspülung) führen. Soweit allerdings Körperzellen zur Feststellung von Verwandtschaftsbeziehungen durch eine Genomanalyse entnommen werden (oben A II 1 b, c), wird dem Betroffenen ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO zur Seite stehen, das ihn auch dazu berechtigt, die Entnahme von Körperzellen zu verweigern (§ 81 c Abs. 3 Satz 1 StPO). Weil dies in einer Vielzahl von Fällen zutreffen wird, erscheint der Anwendungsbereich des § 81 c StPO insoweit doch recht begrenzt. Im übrigen ist auch hier wieder zu bedenken, daß eine etwaige Unverwertbarkeit der Genomanalyse auch die an sich nach § 81 c StPO zulässigen Eingriffe unzulässig machen kann (oben I 2). Anordnungsbefugt (Abs. 5) ist grundsätzlich der Richter, bei Gefährdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung regelmäßig auch die Staatsanwaltschaft und deren Hilfsbeamten (Ausnahme: Abs. 3 Satz 3); die Anordnung unmittelbaren Zwangs indessen ist allein dem Richter vorbehalten (§ 81 c Abs. 6 Satz 2 StPO).
C. Die Durchführung gentechnischer Untersuchungen mittels der jeweils gewonnenen Körperzellen I. Die Regelung der StPO Ausdrückliche Bestimmungen über die Art der Untersuchung und die Behandlung der mittels Durchsuchung, Untersuchung oder körperlichen Eingriffs gewonnenen Körperzellen sind in der StPO nicht enthalten. Lediglich § 81 a Abs. 1 StPO läßt die körperliche Untersuchung (Satz 1) und auch körperliche Eingriffe (Satz 2) zu dem Zwecke zu, Tatsachen festzustellen, die für das Verfahren von Bedeutung sind; bei der Gewinnung von Körperzellen aufgrund der übrigen genannten Vorschriften wird allenfalls der Zweck der Auffindung von Beweismitteln genannt (§§ 94, 102 StPO) oder der der Auffindung bestimmter Spuren oder Folgen von Straftaten (§ 81 c Abs. 1 StPO).
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Karl Heinz Gössel
1. Körperzellen des Beschuldigten, die nicht durch körperliche Eingriffe gewonnen wurden, können als potentielle Beweismittel Gegenstände der Sicherstellung und Beschlagnahme sein, wie bereits oben (B 11) dargelegt wurde. Die Auswertung dieser Körperzellen in den anerkannten Beweismittelformen z. B. des Augenscheins- und des Sachverständigenbeweises können aber vom Gesetz kaum als unzulässig angesehen werden, wenn die betreffenden Körperzellen gerade wegen ihrer potentiellen Beweismittelbedeutung sichergestellt oder beschlagnahmt werden dürfen. § 94 StPO dürfte daher neben der ausdrücklich angeordneten Sicherstellungs- oder Beschlagnahmebefugnis zudem auch die Befugnis zur Auswertung mittels gentechnischer Untersuchungen gewähren. Gleiches dürfte für die Gewinnung von Körperzellen aus dem Körper des Beschuldigten nach § 81 a StPO gelten: die Befugnis zu körperlichen Eingriffen zur Feststellung von verfahrensbedeutsamen Tatsachen (s. dazu B II 1) umfaßt auch die Befugnis zu eben dieser Feststellung, auf welche Weise auch immer, also auch durch gentechnische Untersuchungen. 2. Die Blutprobenentnahme bei anderen Personen als denen des Beschuldigten (s. B II 2) ist nach der Neufassung des § 81 c Abs. 2 StPO im Jahre 1953 nicht mehr, wie derzeit in Abs. 1 des § 81 c StPO, auf Zeugen (sog. Zeugengrundsatz) und auf die Ermittlung von Tatspuren oder -folgen (sog. Spurengrundsatz) beschränkt 24 . Daraus ist zu schließen, daß mit der nicht mehr an bestimmte Zwecke gebundenen und insoweit grundsätzlich unbeschränkten (anders z. B. in den Fällen des § 52 StPO) Befugnis zur Blutprobenentnahme auch die Befugnis zur Auswertung der Blutprobe selbst im Wege gentechnischer Untersuchungen gegeben ist; Entsprechendes gilt für gentechnische Untersuchungen zur Feststellung der Abstammung, allerdings nur zu diesem vom Gesetz in § 81 c Abs. 2 StPO ausdrücklich genannten Zweck.
II. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Durchführung gentechnischer Untersuchungen Wenn auch die StPO ihrem Wortlaut nach der Durchführung gentechnischer Untersuchungen nicht entgegenstehen dürfte, so folgt allein daraus doch keineswegs schon deren rechtliche Zulässigkeit. Bedenkt man, daß etwa mit gentechnischen Untersuchungen die biologischen Grundlagen der Individualität der einzelnen Rechtsunterworfenen festgestellt werden können, so wird der verfassungsrechtlichen Prüfung 24
LR Zi -Dahs § 81 c Rdn. 24.
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unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der persönlichen Intimsphäre und insbesondere des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung besondere Bedeutung zukommen. Diese Probleme stellen sich indessen vor allem bei der Frage der Verwertung der Ergebnisse gentechnischer Untersuchungen im Strafverfahren, also bei deren Einführung in die Hauptverhandlung zu dem Zwecke, sie zur Urteilsgrundlage zu machen. Deshalb sollen die verfassungsrechtlichen Fragen dort (unten D) im Zusammenhang erörtert werden; jedoch können die dort gefundenen Ergebnisse schon zur — strafprozessualen — Unzulässigkeit der Durchführung gentechnischer Untersuchungen führen, worauf unten D näher eingegangen werden wird.
D. Die Verwertung gentechnischer Untersuchungen durch Einführung in das Strafverfahren I. Die StPO und das allgemeine Persönlichkeitsrecht als mögliche Quellen etwaiger Verwertungsverbote 1. Daß bestimmte Beweise im Strafverfahren unzulässig sind und nicht zum Nachteil des Beschuldigten verwertet werden dürfen, ist inzwischen ebenso allgemein anerkannt wie die Auffassung, daß ein derartiges Beweisverwertungsverbot nicht von der vorhergehenden Verletzung von Beweiserhebungsverboten abhängig ist. Die Rechtsprechung zu den Beweisverboten ist allerdings alles andere als klar und eindeutig, teilweise sogar widersprüchlich 25 , und sie leidet überdies nach meiner Überzeugung vor allem darunter, daß der Bundesgerichtshof die Leitlinien des Bundesverfassungsgerichts teilweise nicht einmal zur Kenntnis nimmt 26 . Weil bisher gentechnische Untersuchungen als Gegenstand der Beweisführung im Strafverfahren unbekannt waren, ist es verständlich, daß die StPO keinerlei Vorschriften über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Ergebnisse solcher Untersuchungen enthält. Es erscheint indessen fraglich, ob die Verwertung der Ergebnisse solcher Untersuchungen im Strafverfahren und auch diese selbst verfassungsrechtlich zulässig sind. 25
26
Vgl. Gössel, Kritische Bemerkungen zum gegenwärtigen Stand der Lehre von den Beweisverboten, NJW 1981, 649 und: Überlegungen zu einer neuen Beweisverbotslehre, NJW 1981, 2217. Vgl. z. B. BGHSt. 31, 304 und dazu Gössel, Verfassungsrechtliche Verwertungsverbote im Strafverfahren, JZ 1984, 361; ausdrücklich anders aber erfreulicherweise nunmehr BGHSt. 36, 167, 173.
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2. In Betracht kommt ein verfassungsrechtliches Verwertungsverbot wegen einer möglichen Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Das von Art. 2 Abs. 1 GG gewährte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wird im verfassungsrechtlichen Schrifttum wie auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als ein Auffangtatbestand verstanden, der neben den in Art. 2 Abs. 2 ff GG benannten Freiheitsrechten auch unbenannte Freiheitsrechte wie das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Verfassungs wegen garantiert 27 . Dieses mit Grundrechtsschutz ausgestattete Persönlichkeitsrecht soll „im Sinne des obersten Konstitutionsprinzips der ,Würde des Menschen' (Art. 1 Abs. 1 GG) die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen ... gewährleisten, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen" 28 . Dieses aus Art. 2 Abs. 1 i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitete Grundrecht konnte zwar von der Rechtsprechung „nicht abschließend umschrieben" werden, wohl aber sind einzelne seiner „Ausprägungen jeweils anhand des zu entscheidenden Falles herausgearbeitet worden", so insbesondere die „als Schutzgüter des allgemeinen Persönlichkeitsrechts" anerkannte „Privat-, Geheim- und Intimsphäre, ... das Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person ..., das Recht am eigenen Bild und am gesprochenen Wort" 29 und neuerdings auch das „Recht auf ,informationelle Selbstbestimmung' " 3 0 (Näheres dazu unten IV).
II. Die Wirkungen des Selbstbezichtigungsverbots Dem Persönlichkeitsrecht wird u. a. „das Verbot der Selbstbezichtigung im Strafprozeß " zugeordnet 31 , welches jede Verpflichtung des Beschuldigten zur aktiven Mitwirkung an seiner Überführung ausschließt, weshalb er insbesondere „nicht zu Tests, Tatrekonstruktionen, Schriftproben ... gezwungen werden" darf 32 . Wie bei der zwangsweisen Abnahme von Lichtbildern und Fingerabdrücken, aber auch bei der zwangsweisen Blutentnahme, ist aber die Gewinnung des für gentech-
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28 29 30 31 32
BVerfGE 54, 148, 152f; Ericbsen in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, Freiheitsrechte, 1989, § 152 Rdn. 24. Vgl. BVerfGE 54, 148, 153 und Erichsen § 152 Rdn. 52 aaO Fn. 27. BVerfGE 54, 148, 153 f. BVerfGE 65, 1, 43. Vgl. BVerfGE 56, 37, 43. BGHSt. 34, 39, 46.
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nische Untersuchungen benötigten Zellmaterials nicht von aktiver Mithilfe wie bei Tests, Schrift- und Sprechproben abhängig, so daß insoweit eine Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts ausscheidet 33 . III. Die Wirkungen des Schutzes der Privatsphäre Daneben beinhaltet der Schutz des Persönlichkeitsrechts die Beachtung bestimmter Persönlichkeitssphären, in die der Staat entweder niemals 34 oder nur bei überwiegenden Interessen der Allgemeinheit eingreifen darf 35 . Nach der Dreisphärentheorie des Bundesverfassungsgerichts sind Eingriffe in den nach Art. 19 Abs. 2 GG „absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung" ausnahmslos unzulässig 36 , während solche Eingriffe in die Privatsphäre außerhalb des Kernbereichs zulässig sind, „die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots getroffen werden" 37 . Außerhalb des geschützten Privatbereichs, etwa „im geschäftlichen Verkehr", sollen dagegen gewisse Äußerungen der Persönlichkeit aus dem Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG „herausfallen", wenn bei solchen Äußerungen der „objektive Gehalt... so sehr im Vordergrund" steht, „daß die Persönlichkeit" des Betroffenen „nahezu vollends dahinter zurücktritt" 38 . 1. Privatsphäre
und gentechnische
Untersuchungen
Versucht man die Zulässigkeit gentechnischer Untersuchungen und die Verwertung ihrer Ergebnisse unter diesem Gesichtspunkt zu beurteilen, so ergeben sich insbesondere deshalb Schwierigkeiten, weil die Abgrenzung der verschiedenen Sphären erhebliche Schwierigkeiten bereitet und zudem ungeklärt erscheint, wie sich die Wesensgehaltsgarantie durch Art. 19 Abs. 2 GG (s. auch § 79 Abs. 3 GG) insbesondere zum Schutz der Privatsphäre verhält 39 . 33 34 35 36 37 38 39
Entgegen Arthur Kaufmann, s. dazu oben II 2 a und Fn. 23. Schmitt Glaeser, in: Handbuch des Staatsrechts Bd. VI (Fn. 27), § 129 Rdn. 36. Vgl. die Nachweise bei Maun^j Durig, Grundgesetz Band II, Art. 19 Abs. 2, Rdn. 4 ff. BVerfGE 34, 238, 245. BVerfGE 34, 238, 246. BVerfGE 34, 238, 247. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich darauf, die Zulässigkeit gentechnischer Untersuchungen nach der derzeitigen Rechtsprechung zu beurteilen; die außerordentlich lebhafte verfassungsrechtliche Diskussion zur Bestimmung des Privatsphärenschutzes hat noch nicht zur Herausbildung einer auch nur überwiegend anerkannten Meinung geführt und kann schon aus Raumgründen hier nicht einmal ansatzweise berücksichtigt werden; Näheres dazu vgl. z. B. bei Schmitt Gläser in: Handbuch des Staatsrechts (wie Fn. 27), § 129, Rdn. 14.
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a) In einigen Entscheidungen setzt das Bundesverfassungsgericht den Kernbereich der Privatsphäre mit dem Wesensgehalt des Art. 19 Abs. 2 GG gleich und hält deshalb hier jeden Eingriff für ausnahmslos verboten 40 , worin zugleich eine Konsequenz jener verfassungsrechtlichen Rechtsprechung zu erblicken ist, welche die Existenz eines absoluten Wesensgehalts bei jedem Grundrecht anerkennt (sog. absolute Wesensgehaltstheorie): „Der Wesensgehalt eines Grundrechts darf nach dem klaren Wortlaut des Art. 19 Abs. 2 GG ,in keinem Falle' angetastet werden; die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein solcher Eingriff ausnahmsweise trotzdem zulässig sei, ist gegenstandslos" 41 . Bundesgerichtshof und Bundesverwaltungsgericht und ebenso Teile der verfassungsrechtlichen Literatur sind indessen für eine „relative" Bestimmung des Wesensgehalts eingetreten, wie dies in einem Gutachten des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1952 besonders prägnant dargelegt wurde: „Ein Grundrecht wird durch einen gesetzlichen Eingriff dann in seinem Wesensgehalt angetastet, wenn durch den Eingriff die wesensmäßige Geltung und Entfaltung des Grundrechts stärker eingeschränkt würde, als dies der sachliche Anlaß und Grund, der zu dem Eingriff geführt hat, unbedingt und zwingend gebietet" 42 . Besonders bemerkenswert erscheint indessen, daß das Bundesverfassungsgericht zwar einerseits in der zitierten Entscheidung den relativen Theorien insbesondere in der vom BGH vertretenen Form entschieden entgegengetreten ist 43 , aber andererseits den Wesensgehalt selbst relativiert hat, indem es die „ .Antastung des Wesensgehalts' eines Grundrechts" von den „zu regelnde(n) Lebensverhältnis(sen)", der „tatsächlich getroffene^) Regelung und" den „gesellschaftlichen Anschauungen hierüber sowie" dem „rechtlich geläuterte(n) Urteil über die Bedeutung" abhängig gemacht hat, „die das Grundrecht nach der getroffenen Einschränkung noch für das soziale Leben im ganzen besitzt" 44 , und später hat das Bundesverfassungsgericht den Wesensgehalt eines Grundrechts „aus seiner besonderen Bedeutung im Gesamtsystem der Grundrechte" zu ermitteln versucht, und eine Einschränkung „nur aus besonders
40 41
42
43
44
Z. B. BVerfGE 32, 373, 379; 34, 238, 245. BVerfGE 7, 377, 4 1 t ; vgl. ferner die Nachweise Maun^jDürig, Grundgesetz Band II, Art. 19 Abs. 2 Rdn. 3 ff. BGHSt. 4, 375, 377; ähnlich BVerwGE 47, 330, 357 f; zu den verschiedenen relativen Wesensgehaltstheorien im Schrifttum s. MauxjDürig Art. 19 Abs. 2 Rdn. 4, 10 ff (Fn. 41). BVerfGE 7, 377, 411: „... der Auffassung des Bundesgerichtshofs (vgl. etwa BGHSt. 4, 375 ...) kann sich das Bundesverfassungsgericht nicht anschließen, weil sie geeignet ist, den Wesensgehalt der Grundrechte zu relativieren". BVerfGE 2, 266, 285.
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gewichtigen Gründen" für möglich gehalten 45 , wobei es allerdings unklar erscheint, ob diese Einschränkungsmöglichkeit auch für den Wesensgehalt (dies legt der Zusammenhang der Äußerungen aaO jedoch näher) oder nur für den sonstigen Grundrechtsbereich gelten soll. In seiner Entscheidung vom 14. 9. 1989 hat sich das BVerfG in seinem die Entscheidung tragenden Votum 46 eindeutig zur relativen Theorie bekannt: schon eine „enge Verknüpfung zwischen dem Inhalt der Aufzeichnungen und dem Verdacht der außerordentlich schwerwiegenden strafbaren Handlung 47 verbietet ihre Zuordnung zu dem absolut geschützten Bereich persönlicher Lebensgestaltung, der jedem staatlichen Zugriff entzogen ist" 48 . Wollte man den relativen Theorien folgen, so könnte ein absolutes Eingriffsverbot in das Persönlichkeitsrecht nicht anerkannt werden; demzufolge wäre auch eine Abgrenzung des Kernbereichs der Persönlichkeit von der sonstigen Intimsphäre aufzugeben, was allerdings mit neueren BGH-Entscheidungen nicht zu vereinbaren wäre, die ausdrücklich einen „schlechthin unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung" 4 9 anerkennen und Eingriffe darin für absolut verboten halten 50 . Darin zeigt sich eine Parallelität zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: hatte der BGH zunächst den Standpunkt der relativen Theorien vertreten, so stellt er sich in den soeben erwähnten Entscheidungen auf den Boden der absoluten Theorie, während das Bundesverfassungsgericht ebenso gegenläufig in einigen Entscheidungen den Standpunkt der absoluten Theorie einnimmt, in anderen dagegen den der relativen. b) Trotz ihrer Widersprüchlichkeit kann nicht ausgeschlossen werden, daß diese Rechtsprechung die Existenz eines Kernbereichs der Persönlichkeitssphäre anerkennt, die auch aufgrund der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG jedwedem staatlichen Eingriff verschlossen ist. Dafür spricht auch, daß sich die Rechtsprechung auch zu einer (sonst unverständlichen) Abgrenzung des Kernbereichs von der sonstigen Privatsphäre bemüht hat, wobei entscheidend auf das Merkmal des „Sozialbezugs" abgestellt wurde. In seiner Entscheidung vom 14. 9. 1989 hat 45 46
47 48
49 50
BVerfGE 22, 189, 219. BVerfG NStZ 1990, 89; die Heranziehung von Tagebuchaufzeichnungen des Beschuldigten wurde bei Stimmengleichheit der befürwortenden und der ablehnenden Stimmen als zulässig bejaht. Es handelt sich um Mord. BVerfG NStZ 1990, 89, 90; dagegen aber mit weitaus überzeugender Argumentation das Votum der einen — absolut verbotenen — Eingriff in das Persönlichkeitsrecht bejahenden vier Richter. BGHSt. 36, 167, 173. BGHSt. 31, 296
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das BVerfG in seinem die Entscheidung tragenden Votum 51 schon die schriftliche Niederlegung eigener Gedanken als Entlassung „aus dem" vom Beschuldigten „beherrschbaren Innenbereich" angesehen 52 , indessen kaum überzeugend, weil damit der Schutz der Intimsphäre auf die anderen unzugänglichen Vorgänge im Innern des Menschen beschränkt bliebe, dieser Bereich aber als faktisch unzugänglich keinen rechtlichen Schutz benötigen würde. Demgegenüber hat das BVerfG in früheren Entscheidungen dem geschützten Kernbereich einen weiteren Raum zugewiesen. Zum ersten Male hatte sich das Gericht mit dieser Frage zu befassen, als es dazu Stellung nehmen mußte, ob die Strafbarkeit der männlichen Homosexualität einen unzulässigen gesetzgeberischen Eingriff in die absolut geschützte Intimsphäre darstelle. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei den der rechtlichen Regelung zugänglichen Sozialbereich von dem jeglicher rechtlicher Regelung entzogenen Kernbereich der Persönlichkeit unterschieden und dabei die geschlechtliche Betätigung dem Sozialbereich zugewiesen 53 und deshalb die damals noch geltenden Strafdrohungen gegen die männliche Homosexualität für verfassungsgemäß erklärt. Unter Heranziehung dieser Grundsätze hat auch das Bayerische Oberste Landesgericht einen Eingriff in den Kernbereich verneint, als ein Zeuge in einem Strafverfahren wegen verbotener Ausübung der Prostitution in einem Sperrbezirk (§ 184 a StGB) gegen eine Prostituierte aussagen sollte 54 . Legt man diese Rechtsprechung zugrunde, so ist folglich der Sozialbezug das maßgebende Kriterium zur Abgrenzung der absolut vor jedem staatlichen Eingriff geschützten Intimsphäre von dem sonstigen Privatbereich, in den bei überwiegenden Strafverfolgungsinteressen eingegriffen werden darf. Würde die Ermittlung des Sachverhalts oder dessen Verwertung als Urteilsgrundlage einen Eingriff in den Bereich beinhalten, in dem der jeweils Betroffene ohne Sozialbezug lebt oder handelt, so wäre dies absolut unzulässig mit der Folge eines Beweisverwertungsverbots; allerdings führt dies aber zu der kaum überzeugenden Konsequenz, „gerade intimste zwischenmenschliche Beziehungen" wegen ihres notwendigen Sozialbezugs „aus der engeren Intimsphäre heraustreten" zu lassen55. S. Fn. 46. BVerfG NStZ 1990, 89, 90 - dagegen zu Recht das Votum der einen Verfassungsverstoß bejahenden Richter, s. Fn. 46. 53 BVerfGE 6, 389, 433; der Kernbereich wird schon bei jedem Kontakt zur Außenwelt verlassen, so bei Gesprächen (BVerfGE 33, 367, 377), durch einen Brief (BVerfGE 35, 35, 39) oder eine andere Form der Kommunikation {Vogelgesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, 1987 S. 43). 54 BayObLG N J W 1979, 2624. 55 Benda, Privatsphäre und „Persönlichkeitsprofil" in: Festschrift für Geiger, Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung, 1974, S. 23, 30. 51
52
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c) Daß dieser Stand der verfassungsrechtlichen Diskussion eine klare und eindeutige Grundlage zur Entscheidung über die verfahrensrechtliche Zulässigkeit der gentechnischen Untersuchung biete, läßt sich demgemäß leider nicht feststellen. 2. Die Vereinbarkeit gentechnischer Untersuchungen des Beschuldigten wie auch anderer Personen mit dem verfassungsrechtlichen Schuttj der Privatsphäre Von dieser schwankenden Grundlage aus soll gleichwohl die Zulässigkeit gentechnischer Untersuchungen (also Genomanalyse und genetischer Fingerabdruck) im Strafverfahren zu beurteilen versucht werden. a)
Genomanalyse
Ob die Genomanalyse als ein Eingriff in den absolut geschützten Intimbereich (Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 Satz 1, Art. 19 Abs. 2 GG) zu beurteilen sein wird, ist einmal weitgehend abhängig von der faktischen Bedeutung und Erscheinungsweise dieser Methode. Soweit auf diese Weise die biologischen Grundlagen der Individualität eines bestimmten Menschen insbesondere auch hinsichtlich seiner genetisch bedingten Abweichungen von der Normalität ermittelt werden, so scheint ein schwerwiegenderer Eingriff in den Kernbereich der Intimsphäre allerdings kaum denkbar, so daß auch nach der relativen Wesensgehaltstheorie ein absolut verbotener Eingriff angenommen werden muß und auch ein Eingriff in den innersten sozialbezugsfreien Kernbereich der Persönlichkeitssphäre 56 . Schon von dieser faktischen Voraussetzung ist das Urteil der Verfassungswidrigkeit der Genomanalyse im Strafverfahren abhängig, woraus allerdings noch keine Schlüsse auf die etwaige Verfassungswidrigkeit der Genomanalyse in anderen Bereichen als denen des Strafverfahrens gezogen werden können; so wird die Verfassungsmäßigkeit der Genomanalyse insbesondere dann zu bejahen sein, wenn der Betroffene dem z. B. zur ärztlichen Heilbehandlung zustimmt. Die Einwilligung des Beschuldigten im Strafverfahren allerdings dürfte in entsprechender Anwendung des § 136 a Abs. 3 StPO unbeachtlich sein. Sollte allerdings die Genomanalyse nach ihren derzeitigen Möglichkeiten — dafür spricht die bisher noch fehlende Fähigkeit zur Erstellung einer auch nur annähernd vollständigen Genkarte — keinen Eingriff 56
In diesem Zusammenhang bedürfte auch die Frage noch näherer Klärung, ob die bisher in so weit fast bedenkenlos angeordnete Untersuchung nach § 81 c StPO zur Klärung der Schuldfähigkeit des Beschuldigten nicht schon einen unerlaubten Eingriff in den Kernbereich der Persönlichkeitssphäre enthält.
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in den Kernbereich beinhalten oder würde ein solcher Eingriff nach den relativen Wesensgehaltstheorien (s. oben 1 a) bestimmt, so kann sie nach der Schaffung einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage verwertet werden. Ein etwaiges verfassungsrechtliches Verwertungsverbot würde allerdings auf die Erstellung der Genomanalyse selbst zurückwirken und diese als unzulässig erscheinen lassen (s. dazu auch oben B I 2). b) Genetischer
Fingerabdruck
Nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft und Technik ist es indessen nicht möglich, aus dem genetischen Fingerabdruck irgendwelche Informationen über die Persönlichkeit des je Betroffenen außer seiner Identität zu erlangen. So lange diese Unmöglichkeit besteht, erscheint eine Beeinträchtigung des Kernbereichs des Persönlichkeitsrechts ebenso ausgeschlossen wie eine solche der Privatsphäre außerhalb des Kernbereichs. Indessen setzt dies die Verläßlichkeit der jeweils angewendeten Verfahren voraus, die derzeit wohl noch bezweifelt wird 57 . Jedoch hat das LG Berlin die Verwertung des genetischen Fingerabdrucks bereits für zulässig erachtet, dabei indessen die Bedeutung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung (dazu sogleich unten IV) verkannt 58 .
IV. Die Wirkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach ausgesprochen, es widerspreche „der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen ... Mit der Menschenwürde wäre es nicht zu vereinbaren, wenn der Staat das Recht für sich in Anspruch nehmen könnte, den Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren ,.." 59 . In seinem Urteil vom 15. 12. 1983 (sog. Volkszählungsgesetzurteil) hat das Bundesverfassungsgericht diesen Aspekt des Schutzes der Menschenwürde zu einem 57
58
59
Vgl. Stänke, Genetischer Fingerabdruck und § 81 a StPO, N J W 1987, 2914; s. auch FAZ vom 7. 6. 1989, Nr. 129, S. N 1: „Genetische Fingerabdrücke umstritten". N J W 1989, 787; gänzlich unabhängig von einer gesetzlichen Grundlage ist der genetische Fingerabdruck in den USA in einer Entscheidung des District Court of Appeal (5. Distrikt) des Staates Florida (Andrews v. Florida) vom 20. 10. 1988 anerkannt worden, allerdings ohne die Problematik einer Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts zu erkennen. BVerfGE 27, 1, 6.
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weiteren unbenannten Freiheitsrecht verdichtet. Aus dem Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit hat es ein verfassungsmäßiges Recht auf informationelle Selbstbestimmung abgeleitet. Hiernach setzt die „freie Entfaltung der Persönlichkeit... unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Dieser Schutz ist daher von dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 G G umfaßt. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu besitmmen" 60 ; und selbst anonyme statistische Erhebungen von Daten, die durch ihre Zusammenführung zur Erstellung von Persönlichkeitsprofilen der Bürger führen, sind für unzulässig erklärt worden 6 1 . 1. Verwertung gentechnischer Untersuchungen des Beschuldigten
Daß die Genomanalyse und die damit letztlich erstrebte „kartographische" Erfassung der biologischen Grundlagen des Individuums das Recht beeinträchtigt, selbst über die Preisgabe persönlicher Daten zu bestimmen, dürfte evident sein. Aber auch die noch nicht zur Kartierung geeignete Erfassung persönlicher Daten etwa über Anlagen, Erbkrankheiten etc. dürfte dieses Recht beeinträchtigen; Gleiches gilt aber auch für sonstige persönlichkeitsbezogene Daten wie insbesondere genetische Fingerabdrücke und selbst für die (allerdings auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage — § 81 b StPO — beruhenden 62 ) Anfertigung von Lichtbildern und herkömmlichen Fingerabdrücken. Es wäre indessen verfrüht, schon deshalb die Erstellung der Genomanalyse für verfassungswidrig zu halten. Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, daß das Recht auf informationelle Selbstbestimmung „nicht schrankenlos gewährleistet" sei63. Auch personenbezogene Informationen stellen nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „ein Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden" könne, weshalb „der Einzelne Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen" müsse 64 . Solche Einschränkung wird auch zur Wahrung der nach dem Rechtsstaats60 61 62 63 64
BVerfGE 65, 1, 43. BVerfGE 65, 1, 53. LG Berlin NStZ 1989, 488. BVerfGE 65, 1, 43. BVerfGE 65, 1, 44.
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Karl Heinz Gössel
prinzip notwendigen Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung 65 als zulässig zu erachten sein. Sie bedürfte allerdings, worauf das Bundesverfassungsgericht zu Recht hingewiesen hat, einer „gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben" muß, wobei zusätzlich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist 66 . Nahezu das Gleiche folgt aus dem Schutz des Privatlebens in Art. 8 der MRK. a) Rieß hat allerdings die Auffassung vertreten, daß insoweit „die vorhandenen Regelungen der StPO, namentlich die §§ 160, 161 und 163 die erforderliche Rechtsgrundlage" darstellten 67 . Dem ist indessen entgegenzuhalten, daß diese Vorschriften lediglich die generelle Aufgabe von Staatsanwaltschaft und Polizei normieren, strafbare Handlungen zu erforschen und zu diesem Zweck Ermittlungen vorzunehmen und — § 160 Satz 1 StPO — „von allen öffentlichen Behörden Auskunft" zu „verlangen". Daraus aber ergeben sich keinerlei auch nur in etwa vorhersehbare, konkrete Eingriffsbefugnisse, insbesondere keine vorhersehbaren Beschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, weshalb §§ 160, 161 und 163 StPO den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Voraussetzungen einer Beschränkung dieses Rechts keineswegs genügen. Wenn Rieß überdies ausführt, „in den §§ 160, 161 und 163" StPO könne „eine echte Eingriffsermächtigung nicht gesehen werden" 68 , so kommt er damit der hier vertretenen Auffassung sehr nahe, wonach die §§ 160, 161 und 163 StPO keine Rechtsgrundlage für Einschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und die damit verbundenen Eingriffe in dieses Recht darstellen 69 . b) Wie sich aus den vorstehenden Darlegungen zu 1. ergibt, enthält die StPO auch sonst keine dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entsprechende gesetzliche Ermächtigung zum Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die allgemeinen Eingriffsbefugnisse der §§ 81 a, 81 c, 94, 102, 103 StPO sprechen zwar von 65 66 67 68 69
BVerfGE 32, 373, 381. BVerfGE 65, 1, 44. LR 2> -Rieß § 160 Rdn. 9. LR™-Rieß § 160 Rdn. 6. Daß ausnahmsweise Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung trotz fehlender Eingriffsbefugnis z. B. nach § 34 StGB rechtmäßig sein können, ist eine andere Frage und überwiegend anerkannt (vgl. Dreher/Tröndle StGB44 § 34 Rdn. 24); allerdings wird § 34 StGB damit nicht etwa selbst zu einer konkreten Befugnisnorm, so schon Gössel, über die Rechtmäßigkeit befugnisloser strafprozessualer rechtsgutsbeeinträchtigender Maßnahmen, JuS 1979, 162; LR24-Rieß § 160 Rdn. 4.
Gentechnische Untersuchungen als Gegenstand der Beweisführung
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der Feststellung verfahrenserheblicher Tatsachen, von deren Bedeutsamkeit als Beweismittel, lassen damit jedoch weder die Art der mit der Genomanalyse zu gewinnenden persönlichen Daten erkennen noch deren Nutzbarkeit und Verwendungsmöglichkeit, wie es das Bundesverfassungsgericht für eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ausdrücklich verlangt 70 . Sofern also die Genomanalyse nicht aus anderen rechtlichen Gesichtspunkten unheilbar unzulässig sein sollte, muß zur Zulässigkeit ihrer Vornahme und zur Verwertung ihrer Ergebnisse eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage geschaffen werden, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen in der Weise entspricht, wie sie das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsgesetzurteil 71 näher dargelegt hat. Weil auch die Herstellung und Verwertung genetischer Fingerabdrücke das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung beeinträchtigt, wäre auch insoweit eine gesetzliche Grundlage notwendig 72 . Begrenzungen sollten insbesondere durch Angabe der verfolgbaren strafverfahrensrechtlichen Zwecke (Identitätsfeststellung, Feststellung von Strafbarkeitsvoraussetzungen und auch Verfahrensvoraussetzungen — soweit nicht absolut 73 verboten — beim Beschuldigten auch ohne dessen Einwilligung, bei sonstigen Personen nur mit deren Einwilligung; Zulässigkeit ausschließlich zur Strafverfolgung und Verbot der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen) vorgesehen werden. Darüber hinaus sollte die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit schon durch den Gesetzgeber sichergestellt werden, indem die Genomanalyse etwa in den Fällen für unzulässig erklärt wird, in denen die jeweiligen Ermittlungszwecke schon durch einfachere Verfahren erreicht werden können (z. B. Täterüberführung durch herkömmliche Fingerabdrücke); auch sollte die sofortige Vernichtung der Ergebnisse gentechnischer Untersuchungen solcher Beschuldigter gesetzlich vorgesehen werden, bei denen diese Untersuchungen den Tatverdacht entfallen lassen. Die Wahrung der Verhältnismäßigkeit durch eine dem Richter übertragene Beurteilung sollte dabei tunlichst schon deshalb vermieden werden, weil dies zur Rechtsunsicherheit führen würde und es mindestens fraglich erscheint, ob der Gesetzgeber auf diese Weise seinen Verpflichtungen zur Rechtsklarheit und denen aus dem Gewaltenteilungsprinzip nachkommen würde.
70 71 72 73
BVerfGE 65, 1, 45. BVerfGE 65, 1. A. A. wohl L G Berlin N J W 1989, 787. S. oben III 1.
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Karl Heinz Gössel
2. Verwertung der Ergebnisse gentechnischer
Untersuchungen anderer
Personen
a) Hier kann grundsätzlich nichts anderes gelten: Sollte die Genomanalyse eine Beeinträchtigung des als absolut geschützt angesehenen Kernbereichs der Persönlichkeit darstellen, besteht grundsätzlich (es sei denn, man folgt den relativen Theorien, s. oben III 1) keine Verwertungsmöglichkeit, weshalb auch diese Untersuchung selbst unzulässig wird; erblickt man darin indessen lediglich einen Eingriff, der durch überwiegende Interessen der Allgemeinheit gerechtfertigt werden kann, so besteht Verwertbarkeit im Rahmen einer noch zu schaffenden gesetzlichen Grundlage, die auch im Hinblick auf die bisher nur sehr beschränkten Eingriffsmöglichkeiten zur Gewinnung des benötigten Zellmaterials (oben B II 2) notwendig erscheint. Indessen dürfte die Einwilligung der betroffenen Person hier anders zu beurteilen sein als die Einwilligung des Beschuldigten. Während es nicht möglich ist, diesen zum bloßen Objekt des Strafverfahrens durch Offenbarung der biologischen Grundlagen seiner Individualität zu machen, auch nicht mit dessen Einwilligung, wird man die freiwillige Offenbarung solcher Daten anderer Personen als des Beschuldigten für zulässig halten dürfen. b) Genetische Fingerabdrücke indessen dürften wie beim Beschuldigten nach Schaffung einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage (zu der derzeit beschränkten Eingriffsmöglichkeit nach § 81 c StPO s. oben B II 2) zulässig erstellt und verwertet werden dürfen.
Das Fragerecht des Angeklagten WALTER GOLLWITZER
I. Das Fragerecht im System der StPO 1. Das Recht, die Personen zu befragen, deren Bekundungen auf die Urteilsfindung Einfluß haben können, gehört — ebenso wie etwa das Antragsrecht — zu den vielgestaltigen Einwirkungsbefugnissen, die dem Angeklagten eine sachgerechte Verteidigung ermöglichen sollen 1 und die ihn in ihrer Gesamtheit als Subjekt des Verfahrens ausweisen. Das Fragerecht ist eine der notwendigen verfahrensrechtlichen Konkretisierungen des abstrakt wenig griffigen Rechts auf Verteidigung, das zu den bestimmenden Strukturprinzipien der StPO zählt. Diese gewährleistet nicht nur das Recht des Beschuldigten auf einen Verteidiger (vgl. §§ 137 StPO ff), sondern auch sein Recht auf eine selbstverantwortlich geführte eigene Verteidigung im materiellen Sinn 2 . Gemeint ist vor allem die Befugnis, sich gegen die erhobene Anschuldigung zu wehren, am Verfahren, nicht zuletzt bei der Aufklärung des Sachverhalts, aktiv mitzuwirken, belastende Beweise zu entkräften, eigene Beweismittel einzuführen und den eigenen Standpunkt zu den erhobenen Vorwürfen und zur Verfahrensgestaltung so zur Sprache zu bringen, daß er vom Gericht bei der jeweiligen Entscheidung mit berücksichtigt wird. Dieses Recht auf wirksame Verteidigung hat seinen Niederschlag in vielen Einzelregelungen der StPO gefunden. Es wird als solches auch ausdrücklich anerkannt, wie § 338 Nr. 8 StPO, unbeschadet des Streits um seine Tragweite als absoluter Revisionsgrund 3 , zeigt. 2. Das Fragerecht des Angeklagten hat zugleich Bedeutung für die erschöpfende Sachaufklärung. Es kann in der auch im Interesse der Wahrheitsfindung kontradiktorisch ausgestalteten Hauptverhandlung 1
2 3
Alsberg GA 63 (1916/17) 99 betrachtet es als das nach dem Antragsrecht wichtigste Parteirecht. Vgl. Schroeder NJW 1987, 301. Dazu etwa ter Veen StrVert. 1983, 167; LörnjRosenberg]Hanack § 338 Rdn. 124ff. Auf die revisionsrechtlichen Probleme beim Fragerecht kann aus Raumgründen nicht eingegangen werden.
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Walter Gollwitzer
dazu beitragen, daß die Beweismittel unter jedem Blickwinkel ausgeschöpft, einseitige Darstellungen korrigiert und im Hinblick auf ihren Beweiswert getestet werden. Fragen sind ein wirksames Aufklärungsmittel, das, richtig angewandt, zur Behebung von Erinnerungsfehlern und Korrektur einseitiger Darstellungen ebenso beitragen kann wie zur Aufdeckung von Widersprüchen oder sonstiger Umstände, die für die Beurteilung des Wahrheitsgehalts einer Aussage oder der Glaubwürdigkeit eines Zeugen wichtig sind. Objektiv können Fragen des Angeklagten — von diesem gewollt oder ungewollt — der Wahrheitsfindung dienlich sein. Dies darf aber nicht den Blick dafür verstellen, daß das Fragerecht dem Beschuldigten primär zu seiner besseren Verteidigung eingeräumt ist. Er ist nicht verpflichtet, an der Sachaufklärung mitzuwirken, und braucht sein Fragerecht nicht aktiv zu diesem Zweck einzusetzen. Er kann von Fragen absehen, wenn er glaubt, daß dies seiner Verteidigung förderlich ist, auch wenn er dadurch eine unter Umständen nur ihm mögliche Aufklärung vereitelt. Auf die Grenzen, die andererseits dem Mißbrauch des Fragerechts durch die Ausrichtung des Prozesses auf die Wahrheitsfindung gesetzt sind, ist an späterer Stelle einzugehen. 3. Das Fragerecht des Angeklagten ist unabhängig vom Recht auf Beistand durch einen Verteidiger und dessen Verfahrensbefugnissen. Daß der Verteidiger die aus seiner Sicht gebotenen Fragen kraft eigenen Rechts stellt, hindert den Angeklagten nicht, daneben sein eigenes Fragerecht auszuüben und seinen Fragen unter Umständen auch eine andere Zielrichtung zu geben. Gleiches gilt für das Verhältnis zum Fragerecht der Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter nach § 67 Abs. 1 JGG. Eine Einschränkung ergibt sich allerdings daraus, daß der Angeklagte Fragen, die bereits beantwortet wurden, nicht ohne triftigen Grund erneut stellen darf. Diese Einschränkung gilt aber auch bei Fragen anderer Verfahrensbeteiligter. Das Fragerecht des Angeklagten ist kein nur persönlich ausübbares Recht. Er kann sich in seiner Ausübung durch seinen Verteidiger vertreten lassen. Soweit die StPO vorsieht, daß eine Verhandlung ohne Angeklagten nur bei Anwesenheit eines nach § 234 StPO zur Vertretung schriftlich ermächtigten Verteidigers durchgeführt wird (vgl. § 329 Abs. 1, § 411 Abs. 1 StPO), geht sie davon aus, daß seine Verfahrensrechte, also auch sein eigenes Fragerecht, von dem dazu besonders ermächtigten Verteidiger wahrgenommen werden. < Ein Sonderfall des Fragerechts in (auftragsloser) Vertretung des Angeklagten findet sich im Beweissicherungsverfahren (§ 285 ff StPO). In diesem können die Angehörigen des Angeklagten ohne Vollmacht in seiner Vertretung auftreten (§ 286 Abs. 1 StPO) und dabei für ihn das Fragerecht ausüben.
Das Fragerecht des Angeklagten
149
II. Verankerung im heutigen Verfassungsrecht und im Völkervertragsrecht 1. Die Stellung des Angeklagten als Verfahrenssubjekt mit eigenen Verteidigungsrechten ist das Ergebnis der mit der Abkehr vom Inquisitionsprozeß eingeleiteten Neustrukturierung des Strafverfahrens im vergangenen Jahrhundert. Bestimmend für sie war die Hinwendung zum Akkusationsprinzip, das den Mängeln des als wenig tauglich empfundenen alten Verfahrenssystem abhelfen sollte, bestimmend war aber auch das geänderte verfassungsrechtliche Vorverständnis vom Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat. Strafverfahrensrecht ist in seinen Grundzügen immer auch angewandtes Verfassungsrecht in einem für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger besonders sensiblen Bereich. Es ist kennzeichnend für die Stellung, die die Rechtsordnung dem Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft einräumt. Tritt sie ihm doch im Strafverfahren notwendigerweise mit einer Machtfülle gegenüber, die die Gefahr in sich birgt, daß der Betroffene zum bloßen Objekt wird, das das Verfahren zur Feststellung seiner Schuld zu erdulden hat. Eine solche Verfahrensstruktur wäre im Widerspruch mit einer Staatsverfassung, die sich als Gemeinschaft gleicher, freier und selbstverantwortlicher Bürger versteht und die in Erkenntnis der Gefahren einer schrankenlosen Machtausübung dem Einzelnen auch in Grenzsituationen Rechte gegenüber der Gemeinschaft zuerkennt, die diese beachten muß, wenn sie gegen ihn vorgehen will. 2. Das Recht auf Verteidigung bei Verfolgung wegen einer Straftat gehört nach heutiger Auffassung zu den Menschenrechten. Der Betroffene, für den ungeachtet des auslösenden Tatverdachts die Unschuldsvermutung 4 spricht, ist hinsichtlich seiner Verfahrensbefugnisse so zu stellen, wie wenn er unschuldig in das Verfahren gezogen worden wäre 5 . Er muß die Möglichkeit haben, sich zur Wehr zu setzen, wenn staatliche Organe ihn wegen einer ihm angelasteten Straftat zur Verantwortung ziehen wollen. Menschenrechte sind nach heutiger Auffassung Abwehr- und Schutzrechte. Sie verpflichten den Staat, der sie anerkennt, sie nicht zu verletzen und seine Ordnung so zu gestalten, 4
5
Vgl. Art. 6 Abs. 2 MRK. Art. 14 Abs. 2 IPBR; nach unserem Verfassungsrecht folgt sie — ebenso wie der Grundsatz im Zweifel für den Angeklagten — schon daraus, daß Grundrechtsschutz und Rechtsstaatsprinzip Eingriffe des Staates nur bei vollem Nachweis der Schuld zulassen, vgl. BVerfGE 74, 358; Meyer FS Tröndle (1989) 61 ff. Dies ist nicht neu. So weist etwa Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht (1928) 27 darauf hin, daß der Prozeß dem Umstand Rechnung tragen müsse, daß man nicht vorher wisse, ob er sich gegen einen Schuldigen oder Unschuldigen richte, man also den Bürgschaften der Unschuld das erste Wort lassen müsse nach dem römisch rechtlichen Gedanken: Caventum ne respectu nocentis innocens patiatur.
150
Walter Gollwitzer
daß sich in ihr diese Rechte entfalten können. Das Strafverfahren muß deshalb dem Beschuldigten einen hinreichenden Spielraum und angemessene rechtliche Befugnisse zur aktiven eigenen Verteidigung eröffnen. Das Grundgesetz erwähnt das Recht auf Verteidigung nicht ausdrücklich. Aus den dort verbürgten Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip folgt aber der Verfassungsrang dieses Rechts. Der Schutz der Menschenwürde verbietet es, den Beschuldigten zum bloßen Objekt des gegen ihn geführten Verfahrens zu machen 6 . Sein Anspruch auf Behandlung als Prozeßsubjekt und damit auch sein Recht auf aktive Verteidigung folgt schon aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1 GG. Aus der Pflicht zur Achtung seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), seinem Persönlichkeitsrecht, seinen nicht beliebig einschränkbaren Freiheitsrechten (Art. 2 GG) und den rechtsstaatlichen Grundsätzen wird hergeleitet, daß seine Stellung im Verfahren so zu regeln ist, daß er auf Gang und Ergebnis des Verfahrens so wirksam Einfluß nehmen kann 7 , daß ihm eine effektive Verteidigung möglich ist. Dies ist eine Grundvoraussetzung seines Rechts auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren, das das Bundesverfassungsgericht 8 den Freiheitsgrundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip entnimmt. Es sieht darin sowohl ein Verfahrensgrundrecht als auch ein vom Grundgesetz vorgegebenes konstituierendes Prinzip des Strafverfahrens. Ein wichtiger Teilaspekt des Verteidigungsrechts, das für alle Verfahren wichtige Recht auf Gehör, wird durch Art. 103 Abs. 1 GG noch besonders gewährleistet, obwohl es sich bereits aus den allgemeinen Verfassungsgrundsätzen ergibt 9 . Das Fragerecht des Beschuldigten ist ein wesentlicher Bestandteil des Verteidigungsrechts. Es wäre zu eng, wollte man es als bloßen Unterfall des Rechts auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) behandeln 10 . Das Recht, Zeugen und Sachverständige zu befragen, um ihr Sachwissen in einem für die Verteidigung günstigen Sinn ausschöpfen oder belastende Äußerungen widerlegen zu können, reicht über die durch Art. 103 Abs. 1 GG gewährleisteten Informations- und Erklärungsrechte 11 hinaus. Dies zeigt sich auch darin, daß es sich nicht in der formalen Fragebefugnis erschöpft. Sie wäre für sich allein weitgehend wertlos, wenn mit ihr nicht das Recht auf Antwort korrespondieren würde. Soweit Beweis6 7 6
9 10 11
BVerfG stand. Rechtspr, etwa E 63, 322/377. Etwa BVerfGE 26, 66/71; 38, 105/111; 46, 202/210; 65, 171/175; 63, 332/337. BVerfGE 24, 401; 25, 361; 37, 148; 57, 274; 70, 297; vgl. etwa Niemölkr\Schuppert AöR 107 (1982) 387/397; Rüping JZ 1983, 663. Zur Ableitung vgl. etwa Maun^jDürigjSchmidt-Aßmann Art. 103 Abs. 1 Rdn. 9. So etwa Trechsel EuGRZ 1987, 153. Vgl. Bonner Kom.\Rüping Art. 103 GG Rdn. 11; Maun^jDürigl Schmidt-Aß mann, Art. 103 Abs. 1 Rdn. 27.
Das Fragerecht des Angeklagten
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personen dem Gericht gegenüber zur wahrheitsgemäßen Antwort verpflichtet sind, sind sie es auch bei Fragen des Angeklagten.
3. a) Das Recht auf Verteidigung wird auch durch völkerrechtliche Konventionen garantiert. Die keine Rechtsverbindlichkeiten begründende Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. 12. 1948 spricht es in Art. 11 Abs. 1 mit an. Art. 6 Abs. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (MRK) vom 4. 11. 1950 und Art. 14 Abs. 3 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPBR) vom 19. 12. 1966 führen es dagegen ausdrücklich unter die für ein faires Verfahren unerläßlichen Mindestrechte 12 auf, die die Vertragsstaaten einem Angeklagten gewähren müssen. b) Im Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, sehen beide Konventionen ein Grunderfordernis eines fairen, die Waffengleichheit hinsichtlich der Verteidigungsrechte wahrenden Verfahrens (Art. 6 Abs. 3 Buchst, d MRK; Art. 14 Abs. 3 Buchst, e IPBR). Das weitergehende Recht auf Gegenüberstellung, wie es der sonst wohl als Vorbild für Angeklagtenrechte dienende 6. Zusatzartikel zur Verfassung der USA gewährleistet 13 , wurde von den Konventionen nicht übernommen. Diese verstehen Zeuge nicht im technischen Sinn des jeweiligen nationalen Rechts 14 . Belastungszeuge ist zumindest jeder, der unmittelbar vor Gericht gegen den Angeklagten verwertbare belastende Angaben macht 15 , das kann auch ein Sachverständiger oder Mitangeklagter sein 16 . Soweit das Recht verbürgt wird, unter gleichen Bedingungen wie bei den Belastungszeugen die Ladung und Vernehmung von Entla12
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So Frowein\Peukert EMRK-Kommentar, Art. 6 Rdn. 119; Vogler IntKomEMRK Art. 6 Rdn. 467. Wegen der Divergenz zwischen dem gleichermaßen maßgeblichen englischen und französischen Wortlaut der MRK könnte zweifelhaft sein, ob Art. 6 Abs. 3 MRK Beispiele der zu einem fairen Verfahren gehörenden Rechte oder aber unerläßliche Mindestrechte aufzählt. Dieser garantiert seit 1791 dem Angeklagten u. a. das Recht „... to be confronted with the witnesses against him, to have compulsory process for obtaining witnesses in his favor..." EKMR EuGRZ 1987, 151 (autonome Auslegung); vgl. EGMR EuGRZ 1987, 147 (Unterpertinger). Ob Belastungszeuge auch die Person ist, deren Wahrnehmungen durch ein anderes Beweismittel in die Hauptverhandlung eingeführt werden, ist strittig, vgl. etwa Vogler IntKomEMRK Art. 6 Rdn. 559; Mehner Die Vernehmung von Verhörspersonen im deutschen Strafprozeß (1975) 118 ff je mit Nachw. zum Streitstand. Gurad^e EMRK Art. 6 Rdn. 35; Peukert EuGRZ 1980, 247/266; Vogler IntKomEMRK Art. 6 Rdn. 551; EGMR EuGRZ 1986, 127 (Bönisch) ließ dies offen, da er Verstoß gegen faires Verfahren bejahte. Zur Beweismitteleigenschaft des Mitangeklagten vgl. SK-Rogall Vor § 133, 123 ff.
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stungszeugen zu erwirken, schließt dies das Recht zur Befragung dieser Zeugen mit ein. Beide Konventionen sind insoweit vom anglo-amerikanischen Rechtsdenken, vor allem den dortigen Vorstellungen vom Parteiprozeß mit Kreuzverhör und dem aus dem Fair-trial-Grundsatz hergeleiteten Gebot der Waffengleichheit beeinflußt 17 . Sie gehen als selbstverständlich davon aus, daß der anwesende Angeklagte oder sein Verteidiger die von ihnen beigebrachten Entlastungszeugen selbst befragen dürfen. Nur bei den Belastungszeugen wurde deshalb eine besondere Festschreibung des Fragerechts für erforderlich gehalten. Im übrigen ist strittig, ob Fragerecht und Ladungsrecht absolut oder nur relativ in dem durch die Waffengleichheit gebotenen Ausmaß gewährt werden 18 . Anders als § 240 Abs. 2 StPO garantieren die Konventionen das Fragerecht nur als Recht der Verteidigung insgesamt. Es muß also dem Angeklagten nicht notwendig persönlich eingeräumt sein. Die Europäische Kommission für Menschenrechte 19 folgert aus der Alternative „oder stellen zu lassen", daß dem Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K genügt ist, wenn der Angeklagte oder sein Verteidiger in irgend einem Abschnitt des Verfahrens die Möglichkeit zu Fragen an die Zeugen erhält 20 . Diese alternative Fassung, die sich auch in Art. 14 Abs. 3 Buchst, e IPBR findet, zeigt ferner, daß nach den Konventionen das Fragerecht nicht notwendig in der Form der unmittelbaren Befragung gewährt werden muß. Es genügt, wenn die Fragen mittelbar über den Vorsitzenden gestellt werden können. Im übrigen gewährleisten sie Ladungsund Fragerecht nicht unbegrenzt, sondern nur in dem für Waffengleichheit und Wahrheitsfindung erforderlichen Umfang. Die Ausgestaltung überlassen sie weitgehend dem nationalen Recht 21 , das aber immer daran gemessen wird, ob es in seiner Gesamtheit, also auch hinsichtlich des Fragerechts, den Erfordernissen eines fairen, die Waffengleichheit wahrenden Verfahrens genügt. c) Die Bundesrepublik Deutschland hat beide Konventionen ratifiziert 22 . Sie sind — anders als bei einem Teil der anderen Konventions-
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Geppert Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren (1979) 244 ff; Frowetn/Peukert EMRKKom. Art. 6 Rdn. 55; 60; Vogler IntKomEMRK Art. 6 Rdn. 518; EGMR EuGRZ 1976, 235 (Engel); Nowak CCPR-Kom. Art. 14 Rdn. 52. So EGMR mit abw. Meinung Treehsel EuGRZ 1987, 153. Nachfolgend nur als Kommission bezeichnet. Vogler IntKomEMRK Art. 6 Rdn. 552 mit Nachw. Frowin!Peukert EMRKKom Art. 6 Rdn. 138; Vogler IntKomEMRK Art. 6 Rdn. 571, 573. BGBl. II 1952 S. 686; 1973 S. 1534.
Das Fragerecht des Angeklagten
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Staaten 23 — nach Maßgabe der Vorbehalte und der Ratifikationsgesetze 24 zu innerstaatlichem Recht geworden. Nach der vorherrschenden Meinung gelten sie als einfaches Bundesrecht. Die in ihnen formulierten materiellen Rechte verpflichten die Bundesrepublik zwar völkerrechtlich auch hinsichtlich ihrer künftigen Gesetzgebung, sie sind aber nach vorherrschender Auffassung innerstaatlich nicht gesetzesfest. Zumindest in der Detaillierung der Vertragstexte sind sie keine durch Art. 25 GG mit Vorrang ausgestattete allgemeinen Regeln des Völkerrechts. Sie haben auch nicht den Rang von innerstaatlichem Verfassungsrecht, selbst wo ein Teil ihrer Garantien inhaltlich mit innerstaatlichem Verfassungsrecht übereinstimmt 2 5 . Als einfaches Bundesrecht sind sie unmittelbar anzuwenden, wobei zugunsten des Angeklagten weitergehendes innerstaatliches Recht unberührt bleibt (vgl. Art. 60 M R K ; Art. 5 Abs. 2 IPBR). Widersprechendes früheres Recht ist durch sie aufgehoben 2 6 , späteres Recht ist so auszulegen, daß es die durch sie entstandenen völkervertraglichen Verpflichtungen nicht verletzt; bei einer gewollten Abweichung wäre es aber innerstaatlich wirksam 2 7 .
4. Das Fragerecht des Angeklagten ist in dem Recht eingeschlossen, Belastungszeugen gegenübergestellt zu werden, das Art. VII Abs. IX Buchst, c Nato-Truppenstatut den Angehörigen der Stationierungsstreitkräfte einräumt 2 8 . Die Auswirkungen dieses Rechts auf die Verwertbarkeit kommissarischer Vernehmungen ist strittig 2 9 . Die Gegenüberstellung, die wie bei § 58 StPO Identifizierungs- oder Vernehmungsgegenüberstellung 3 0 sein kann, wird hier als Verteidigungsmittel gegen Beschuldigungen garantiert. Der Belastungszeuge soll seine Aussage in Gegenwart des Beschuldigten — also unter psychologisch erschwerten Umständen — wiederholen. Dieser erhält dadurch eine günstige Position für seine Verteidigung. Er kann sich unmittelbar zu der Aussage äußern, die Bekundungen und die Glaubwürdigkeit des
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Die Staaten, bei denen die MRK ohne Transformation ins innerstaatliche Recht nur völkerrechtliche Verbindlichkeit hat, sind in der Aufstellung über die unterschiedliche innerstaatliche Umsetzung bei Frowem/Peukert EMRKKom. Einf. Rdn. 6 aufgezählt. Vgl. etwa das Ratifikationsgesetz zum IPBR vom 15. 11. 1973. BVerfGE 74, 358/378; Kleinknecht\Meyer MRK Vorbem. Rdn. 3 mit weiteren Nachweisen zum Meinungsstand. Die Konventionen haben Vorrang als lex posterior. Vgl. BVerfGE 74, 358/378; KleinknecbtjMeyer MRK Vorbem. Rdn. 4. Dies entspricht dem 6. Amendment zur Verfassung der USA, vgl. Fn. 13. Zum Streit um dessen Tragweite vgl. BGHSt 26, 18; Alsberg! Nüsej Meyer 260; KleinknechtjMeyer § 251 Rdn. 1 je mit weit. Nachw. Zu den Begriffen vgl. LöwejRosenbergjDahs § 58 StPO Rdn. 12.
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Zeugen hinterfragen und auf Ergänzungen, Präzisierungen und gegebenenfalls Änderungen der Aussage hinwirken. Ohne das Fragerecht wäre die Gegenüberstellung als Verteidigungsmittel wenig wert. III. Die Ausgestaltung des Fragerechts im Einzelnen 1. a) Die StPO regelt das Fragerecht ausdrücklich nur für die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung, dem wegen § 261 StPO für die Verteidigung wohl wichtigsten Teil des Verfahrens. In dieser ist der Angeklagte nach § 240 Abs. 2 StPO berechtigt, Fragen an Beweispersonen und Mitangeklagte zu stellen, wobei den Mitangeklagten auch die Personen gleichstehen, die an der Hauptverhandlung mit Angeklagtenbefugnissen teilnehmen (vgl. §§ 433, 444 StPO). Die Zeugen sind, soweit sie kein Verweigerungsrecht haben, zur Beantwortung aller zulässigen Fragen des Angeklagten verpflichtet. Verweigern sie unberechtigt die Auskunft, muß das Gericht mit den Zwangsmitteln des § 70 StPO gegen sie vorgehen 31 . b) Das Fragerecht wird dem Angeklagten in § 240 Abs. 2 StPO als selbständiges Verteidigungsrecht gewährt, das er, unabhängig von den für ihn auftretenden Personen, nach eigenem Belieben einsetzen kann. Es hängt nicht davon ab, ob und wie er seine anderen Verteidigungsrechts ausübt. Er verliert es vor allem nicht dadurch, daß er von seinem Recht, zur Anklage zu schweigen (§ 243 Abs. 4 StPO), Gebrauch macht 32 oder daß er sich weigert, vorher die Beweisstücke vorzulegen, auf die sich seine Frage bezieht. Der Vorsitzende hat auch kein Recht zur Vorzensur der Frage unter dem Blickwinkel ihrer Entscheidungserheblichkeit 33 . Bei Zweifel an der Zulässigkeit einer Frage kann er das Gewollte jedoch durch Rückfragen klären. Der Angeklagte muß sein Recht, Beweispersonen zu fragen, zwar grundsätzlich von sich aus geltend machen. Er erhält das Wort dazu auf Verlangen. Aus der Fürsorgepflicht und dem Gebot eines fairen Verfahrens kann sich aber die Pflicht des Vorsitzenden ergeben, einem Angeklagten ohne Verteidiger bei der Befragung nach § 257 StPO auf diese Befugnis hinzuweisen, etwa, wenn er sie ersichtlich nicht kennt. c) Als Adressaten der Fragen kommen nach §240 Abs. 2 StPO alle vom Gericht vernommenen Auskunftspersonen (im weiten Sinn) in Betracht, also Zeugen, Sachverständige, Mitangeklagte. Zwischen Be31
Vgl. LömjRosenbergjDabs § 70 Rdn. 4.
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BGH StrVert. 1985, 2. BGH StrVert. 1984, 60; 1985, 4; 1987, 239.
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Das Fragerecht des Angeklagten
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lastungszeugen und Entlastungszeugen wird — anders als in Art. 6 Abs. 3 Buchst, d MRK, Art. 14 Abs. 3 Buchst, e IPBR - nicht unterschieden. Die bei einem Parteibetrieb des Verfahrens zur Sicherung der Waffengleichheit wichtige Unterscheidung entspricht nicht dem System der StPO. Danach müssen von Amts wegen alle Zeugen geladen werden, die zur Aufklärung des Sachverhaltes beitragen können, ganz gleich, ob von ihnen eine Aussage zu Lasten oder zu Gunsten des Angeklagten zu erwarten ist. Der Angeklagte kann grundsätzlich im gleichen Umfang wie die anderen Verfahrensbeteiligten alle in der Hauptverhandlung gehörte Personen fragen, unabhängig davon, auf wessen Betreiben sie beigezogen worden sind und ob ihn die Aussage be- oder entlastet. Bei einer Hauptverhandlung gegen mehrere Angeklagte ergibt sich jedoch eine Einschränkung daraus, daß jeder Mitangeklagte — ebenso wie andere Verfahrensbeteiligte — keine Einwirkungsbefugnis auf Verfahrensvorgänge hat, bei denen auszuschließen ist, daß eigene Verteidigungsinteressen auch bei weitester Auslegung berührt werden. Allerdings genügt für das Fragerecht bereits die (potentielle) Möglichkeit der Verwendbarkeit der Antwort für Zwecke der eigenen Verteidigung. Der Grundsatz des § 261 StPO, wonach der Inhalt der ganzen Hauptverhandlung zur Urteilsgrundlage gegen jeden Mitangeklagten wird, hat zur Folge, daß er auch von jedem Mitangeklagten für die eigene Verteidigung ausgeschöpft werden darf. Dies schließt es aus, daß das Gericht das Fragerecht schon ex ante auf die Fälle begrenzt, in denen es selbst ein Betroffensein erkennt. Dem Angeklagten muß offen bleiben, durch Fragen zu klären, ob er das Wissen einer in der Hauptverhandlung vernommenen Beweisperson in einer dem Gericht nicht ersichtlichen Beziehung für seine eigene Verteidigung nützen kann 34 . Ein Mitangeklagter jedoch, der nicht aufzuzeigen vermag, daß seine Frage auch der eigenen Verteidigung dient, hat bei Beweispersonen, die ausschließlich zu einem ihm nicht zur Last gelegten Vorgang ausgesagt haben und deren Glaubwürdigkeit für ihn keine Rolle spielt, kein Fragerecht. In solchen Fällen, in denen der jeweilige Mitangeklagte nach § 231 c StPO von der Teilnahme an der Verhandlung der ihn nicht betreffenden Verfahrensvorgänge beurlaubt werden könnte, läßt sich ein Fragerecht auch nicht aus übergeordneten Prozeßgrundsätzen herleiten. Das von der Verfassung garantierte Recht auf Verteidigung ist ebensowenig berührt wie das Recht auf ein faires Verfahren; denn diese Rechte werden dem Angeklagten nur für die gegen ihn selbst erhobenen
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Vgl. Gollmt^er,
FS Sarstedt (1981) 19 ff.
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Anschuldigungen gewährt, wie Art. 6 Abs. 1 M R K , Art. 14 Abs. 1 IPBR verdeutlichen. d) Das Fragerecht des § 240 StPO ist als Recht unter den in der mündlichen Verhandlung Anwesenden konzipiert. Es besteht gegenüber den Personen, die im Wege des Personalbeweises in der Hauptverhandlung vernommen werden. Nur die in der Verhandlung präsenten Zeugen sind nach der an die formale Verfahrensstellung anknüpfenden vorherrschenden Meinung 35 Adressaten des Fragerechts, auch wenn sie als Zeugen vom Hörensagen über Wahrnehmungen anderer Personen berichten, die vom Gericht nicht als Beweismittel herangezogen werden. Aus dem Fragerecht des § 240 Abs. 2 StPO läßt sich kein Anspruch auf Vernehmung jener Personen in Gegenwart des Angeklagten herleiten 36 . Das Anwesenheitsrecht umschließt zwar das Fragerecht, das Fragerecht begründet umgekehrt jedoch kein von der Verfahrensordnung nicht vorgesehenes Recht auf Anwesenheit. Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K und wohl auch der gleichlautende Art. 14 Abs. 3 Buchst, e IPBR stellen, wie der sie bestimmende Grundgedanke der Waffengleichheit und die Verknüpfung mit dem Ladungsrecht für Entlastungszeugen zeigen, nach der vorherrschenden Meinung ebenfalls auf die formale Zeugenrolle und damit auf den in der Verhandlung präsenten Zeugen ab 37 . Auch nach ihnen scheitert der Beweis durch Zeugen vom Hörensagen nicht schon grundsätzlich daran, daß der Angeklagte die Person nicht fragen kann, die die eigentliche Wahrnehmung gemacht hat und daß insoweit auch sein Ladungsrecht unter Umständen leerläuft. Die Kommission hält es für zulässig, daß sich das Gericht bei entsprechender sonstiger Beweislage mit der nur Indizbedeutung zukommenden Anhörung eines Zeugen von Hörensagen begnügt 38 . Die Erörterung der hier bestehenden Differenzierungen und Streitfragen, die die ganze V-Mann Problematik einschließen, verbietet sich aus Raumgründen. Das Fragerecht des § 240 StPO schränkt nach der Systematik der StPO den Urkundenbeweis nicht ein, wenn die Vernehmung der Person, auf deren Wahrnehmung es eigentlich ankommt, ausnahmsweise durch
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38
Etwa BGHSt. 17, 388. Die Aufklärungspflicht kann dies dagegen fordern. BGHSt. 17 388; Lohr Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozeß (1972) 173 ff; Peukert E u G R Z 1980, 247; Tiedemann MDR 1963, 458; Kleinknecht jMeyer Art. 6 M R K Rdn. 22; aA B G H J R 1969, 305; Grünwald J Z 1966, 494; FS Dünnebier (1982) 359; Zerschmiß N J W 1972, 799. Vgl. Geppert Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafverfahren (1979) 243; Frowin/Peukert EMRKKom. Art. 6 Rdn. 73 ff: 137; Vogler IntKomEMRK Art. 6 Rdn. 556 ff.
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Verlesung eines Protokolls über eine frühere Aussage ersetzt werden darf (§§ 251 ff StPO) 39 . Dies ist unter dem Blickwinkel des Fragerechts problemlos, wenn der Angeklagte mit der Verlesung einverstanden ist (§ 251 Abs. 1 Nr. 4; Abs. 2 Satz 1 StPO) oder wenn er oder sein Verteidiger rechtlich die Möglichkeit hatten, der kommissarischen Vernehmung beizuwohnen und dort ihre Fragen zu stellen, wobei unerheblich ist, ob sie dies auch tatsächlich getan haben 40 . Im übrigen führt die Beschränkung des Fragerechts auf die präsenten Zeugen dazu, daß der Angeklagte Fragen, die er hinsichtlich des Inhalts oder des Zustandekommens der verlesenen Aussage hat, durch andere Verteidigungsrechte geltend machen muß. Kann er sie nicht zum Gegenstand eines Beweisantrags machen, muß er sie im Rahmen seiner Erklärungsrechte (etwa § 257 StPO) an das Gericht herantragen, das dann im Rahmen seiner Aufklärungspflicht darüber zu befinden hat, ob sie Anlaß zu einer nochmaligen Einvernahme des Zeugen oder zu weiteren Beweiserhebungen geben 41 . Die vorherrschende Meinung beurteilt die Rechtslage nach Art. 6 Abs. 3 Buchst, d MRK nicht anders. Sie schließt die Verwendung schriftlicher Aussagen nicht aus 42 . Dies ist unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit meist auch unbedenklich; die Problematik des Auseinanderklaffens zwischen formellen und materiellen Beweismittel wird dadurch aber nicht erschöpft. Die Kommission hat es als ausreichend erachtet, wenn der Angeklagte sich in der Hauptverhandlung zu den in seiner Gegenwart verlesenen Protokollen äußern konnte 43 . Sein Fragerecht und sein Recht auf ein faires Verfahren können dagegen konventionswidrig beeinträchtigt sein, wenn er im Gegensatz zur Anklagevertretung in keinem Abschnitt des Verfahrens eine effektive Möglichkeit zu Fragen hatte 44 . Auf die vielschichtigen Probleme, die von den europäischen Organen bisher eher pragmatisch mit dem Ziel eines Ausgleichs zwischen den praktischen Verfahrensbedürfnissen und der Sicherung eines insgesamt fairen Verfahrens gelöst wurden, kann 39
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43 44
Wenn ein Beweisverbot die Verwertbarkeit ausschließt (vgl. etwa BGHSt. 26, 332), entfallt das Problem. Vgl. Frowein/Peukxrt EMRKKom. Art. 6 Rdn. 58. Daß die Erheblichkeitsprüfung durch das Gericht nur bei Fragen an den präsenten Zeugen entfallt, entspricht auch sonst dem System des Beweisrechts, vgl. §§ 244, 245 StPO. BGH NStZ 1985, 376; Peuhert EuGRZ 1980, 266; Vogler IntKomEMRK Art. 6 Rdn. 555, 562; Kleinknecht]Meyer Art. 6 MRK Rdn. 22. Vogler IntKomEMRK Art. 6 Rdn. 555 mit Nachw. EGMR NJW 1987, 3068 (Unterpertinger: Verlesung der polizeilichen Aussagen von Angehörigen, die in der Verhandlung das Zeugnis verweigerten und die deshalb vom Angeklagten nicht befragt werden konnten); vgl. Vogler IntKomMRK Art. 6 Rdn. 552; Hock ÖJZ 1985 366.
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im Rahmen dieses Überblicks nicht eingegangen werden. Soweit eine Befragung nachholbar ist, spricht vieles dafür, einem Angeklagten, der früher keine Fragemöglichkeit hatte, das Recht einzuräumen, nach Verlesung der Aussage seine Fragen vorzutragen und dann diese, sofern erheblich, dem Vernommenen entweder in der Hauptverhandlung oder, wenn dies nicht durchführbar ist, bei einer neuen kommissarischen Einvernahme zu stellen. e) Andere Verfahrensbeteiligte kommen als Adressaten der Fragen nach § 240 Abs. 2 StPO nicht in Betracht. Aus dieser Vorschrift läßt sich nicht das Recht des Angeklagten herleiten, die Mitglieder des erkennenden Gerichts oder den Staatsanwalt 45 oder den Verteidiger eines Mitangeklagten mit Anspruch auf Antwort zu befragen. Glaubt er, daß diese Personen für seine Verteidigung wichtige Tatsachen bekunden können, muß er durch einen entsprechenden Beweisantrag zu erreichen suchen, daß sie als Zeugen vernommen werden und dann in dieser Eigenschaft auch von ihm befragt werden können. Auch sonst dürfte der Angeklagte nur in Ausnahmefallen befugt sein, an die genannten Personen — grundsätzlich wohl über den Vorsitzenden — Fragen zu richten, die diese zu beantworten haben. Aus dem Recht auf Verteidigung läßt sich höchstens punktuell bei besonderen Verfahrenslagen eine durch das Fragerecht zu aktualisierende Auskunftspflicht dieser Personen herleiten. Die Auskunft in der Hauptverhandlung muß für die Wahrnehmung besonderer Verfahrensrechte unerläßlich sein. Zu denken wäre etwa an Fragen an ein Mitglied des Gerichts, die klären sollen, ob in seiner Person ein vom Angeklagten vermuteter, ihm aber nicht sicher bekannter Ausschließungsgrund (Verwandtschaft mit Verletzten usw.) besteht 46 . Aus der Pflicht zur fairen Verhandlungsführung, die hier mit der sogen. Fürsorgepflicht weitgehend identisch ist, kann sich ferner die Pflicht des Vorsitzenden ergeben, Fragen des Angeklagten zum Verfahrensgang und zur Verfahrensgestaltung zu beantworten, so, wenn dieser den Sinn einer Belehrung oder eines Hinweises nicht verstanden hat oder um Klarstellung der Bedeutung eines Verfahrensvorgangs bittet. Solche nicht der Beweismittelgewinnung oder -Überprüfung dienenden Rückfragen des Angeklagten sind im Gerichtsalltag nicht ungewöhnlich. In der Regel werden sie wohl nur als problematisch empfunden, wenn sie nicht auf sachliche Informationsgewinnung über das unmittelbare Verfahrensgeschehen abzielen, sondern angemaßte, in Wirklichkeit nicht bestehenden Befug-
45 46
Vgl. Kleinknecht j Mejer § 240 Rdn. 1 mit weit. Nachw. Vgl. § 24 Abs. 3 StPO: Anspruch auf Namhaftmachung der zur Mitwirkung berufenen Richter; auch aus §§ 222 a, 222 b StPO kann sich ein Auskunftsanspruch ergeben.
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nisse wahrnehmen sollen oder bewußt prozeßstörend eingesetzt werden. Dann wird die Frage nach der Rechtsgrundlage aktuell. Da § 240 StPO nicht einschlägig ist, besteht kein Frage- und Auskunftsrecht des Angeklagten, wenn es nicht ausnahmsweise aus dem Verteidigungsrecht und dem Recht auf ein faires Verfahren hergeleitet werden kann.
f ) § 240 StPO geht grundsätzlich davon aus, daß der anwesende Angeklagte die in seiner Gegenwart vernommenen Beweispersonen selbst unmittelbar befragen kann. Dies zeigen die Ausnahme für den Mitangeklagten in § 240 Abs. 2 StPO 47 und die Sonderregelung für die Einvernahme jugendlicher Zeugen in § 241 a StPO. Soweit der Angeklagte nicht zur unmittelbaren Befragung befugt oder wegen eines zeitweiligen Ausschlusses, etwa für die Dauer der Einvernahme nach § 247 StPO, dazu nicht in der Lage ist, kann er sein Fragerecht mittelbar über den Vorsitzenden ausüben, indem er diesen ersucht, die Fragen für ihn zu stellen. Eine inhaltliche Einschränkung des Fragerechts liegt in der Beschränkung auf die mittelbare Form nicht. Lediglich bei der Formulierung der Frage hat der Vorsitzende einen gewissen Spielraum. Er ist nicht an die Wortwahl des Angeklagten gebunden, den Sinn der Frage darf er jedoch nicht verändern. Die Beschränkung auf das mittelbare Fragerecht ist mit Art. 6 Abs. 3 Buchst, d MRK, Art. 14 Abs. 3 Buchst, e IPBR vereinbar, weil für diese eine der beiden Formen genügt 48 . Werden in der Hauptverhandlung Zeugen nicht in Gegenwart des zeitweilig entfernten Angeklagten vernommen, so kann er bei Wiederteilnahme sein Fragerecht nachholen, sobald er über den wesentlichen Inhalt der Aussage unterrichtet ist (etwa § 247 Satz 4 StPO). Fragen, die ein Angeklagter aus diesem Anlaß an den Vorsitzenden stellt, etwa um zu erkunden, ob der Zeuge sich zu einem ihm wichtig erscheinenden Punkt, den der Vorsitzende nicht erwähnte, geäußert hat, betreffen die Beweiserhebung. Da der Vorsitzende die Unterrichtung auf die aus seiner Sicht wesentlichen Inhalte der Zeugenaussage beschränkt, besteht immer die Möglichkeit, daß der Angeklagte aus der Sicht seiner Verteidigung auch andere Umstände für wichtig hält. Sein Anspruch, zu erfahren, ob und was der Zeuge hierzu ausgesagt hat, folgt aus seinem Recht auf Verteidigung 49 . Solche Fragen lassen sich als eine Vorstufe des Fragerechts nach § 240 Abs. 2 StPO verstehen. Je nach ihrer Beantwortung durch den Vorsitzenden knüpft sich daran der Antrag, den Zeugen zu den betreffenden Punkt entweder selbst befragen zu können 47
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Auf die strittige Frage, ob der Vorsitzende auch die unmittelbare Befragung gestatten darf, soll hier nicht eingegangen werden. Der Ausschluß ist nach MRK zulässig, vgl. Peukert EuGRZ 1980, 266. Mitunter ist auch das dazu gehörende Recht auf Gehör, Art. 103 Abs. 1 G G berührt.
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oder aber, wenn auch insoweit die Anwesenheit des Angeklagten ausgeschlossen werden muß, daß der Vorsitzende die Frage stellt. Bei der Unterrichtung nach Beendigung einer selbstverschuldeten Abwesenheit nach § 231 Abs. 2, § 231 b Abs. 2 StPO gilt im wesentlichen Gleiches. Hier kann allerdings das Fragerecht leerlaufen, weil die ohne Angeklagten verhandelten Verfahrenssteile nicht wiederholt werden müssen und die Beweispersonen, über deren wesentliche Aussagen der Angeklagte unterrichtet wird, bereits nach § 248 StPO entlassen sein können 50 . g) Wenn die ganze Hauptverhandlung ohne den Angeklagten durchgeführt wird, fragt es sich, ob der befugt oder unbefugt ferngebliebene Angeklagte ein mittelbares Fragerecht hat. Darf er von außen mit dem Verlangen in die Hauptverhandlung hineinwirken, daß der Vorsitzende bestimmte Fragen an die dort gehörten Beweispersonen stellt? Das Fragerecht des § 240 StPO ist ein Recht unter den Anwesenden der Hauptverhandlung. Dort soll es als kontradiktorisches Element durch die unmittelbare Konfrontation des Befragten mit den Fragenden die Transparenz des Beweiserhebungsvorgangs und damit die Erkenntnismöglichkeiten fördern. Die Fragen verlieren an Wirkung, wenn sie ohne Anknüpfung an konkrete Verfahrensergebnisse vom nicht teilnehmenden Angeklagten auf Verdacht antizipatorisch gleichsam ins Blaue hinein gestellt werden. Völlig wertlos für Verteidigung und Sachaufklärung sind auch solche Fragen nicht. Die Verfahrensordnung muß sie in dieser Form jedoch nur dort zulassen, wo sie dem Angeklagten bessere Frageformen versperrt, weil er an der Verhandlung aus ihm nicht anzulastenden Gründen nicht teilnehmen darf. In diesen Fällen kann ihm die Befugnis zum Fragen nicht gänzlich genommen werden. Hat er dagegen durch eigenes, schuldhaftes prozeßwidriges Verhalten sich der ihm offenen Verteidigungsmöglichkeit selbst begeben, so braucht die Verfahrensordnung — ähnlich wie beim Recht auf Gehör — die selbstverschuldete Unmöglichkeit zur Ausübung des an sich bestehenden Fragerechts nicht notwendig durch Einräumung von Ersatzformen kompensieren. Den weniger weitgehenden Verbürgungen des Fragerechts durch Art. 6 Abs. 3 Buchst, d MRK, Art. 14 Abs. 3 Buchst, e IPBR ist ohnehin genügt, wenn der Angeklagte bei prozeßordnungsgemäßen Verhalten dieses Recht selbst oder durch seinen Verteidiger ausüben kann. Je nach Anlaß der Verhandlung ohne Angeklagten wird deshalb zu unterscheiden sein: 50
Vgl. unten Abschn. III 1 g; h.
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Der befugt fernbleibende Angeklagte, der nach § 233 StPO vom Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden ist, kann zu Protokoll der richterlichen Einvernahme, die nach § 233 Abs. 3 StPO an die Stelle seiner Einvernahme in der Hauptverhandlung tritt, nicht nur wirksame Anträge, wie Beweisanträge stellen 51 , sondern auch sein Fragerecht dadurch ausüben, daß er darum ersucht, bestimmte Fragen an Zeugen oder Sachverständige, eventuell auch an Mitangeklagte, zu richten. Auf die Beantwortung dieser Fragen, die bei Vorlesen des Protokolls in die Hauptverhandlung eingeführt werden, hat der Vorsitzende ebenso hinzuwirken wie auf die Beantwortung der unmittelbar in der Hauptverhandlung gestellten Fragen. Für andere Fälle des Ausbleibens dürfte dies nicht gelten. Soweit die Durchführung der Hauptverhandlung davon abhängt, daß für den ferngebliebenen Angeklagten ein vertretungsberechtigter (§ 234 StPO) Verteidiger anwesend ist, geht die StPO nach ihrer ganzen Konstruktion davon aus, daß dieser die Fragen stellen kann, die der Angeklagte für nötig erachtet. Eine Notwendigkeit, dem freiwillig ferngebliebenen Angeklagten zur Sicherung seiner Verteidigungsrechte einen Ersatz für das nicht ausübbare persönliche Fragerecht zu gewähren, besteht nicht. Desgleichen begibt sich ein unbefugt ausbleibender oder sich unbefugt entfernender Angeklagter dadurch selbst jeder Möglichkeit zur Wahrnehmung der an seine Anwesenheit anknüpfenden Verteidigungsrechte. Bleibt er trotz Belehrung über die Zulässigkeit einer Verhandlung in seiner Abwesenheit (§§ 232, 329 Abs. 2 StPO) unentschuldigt aus oder entfernt er sich eigenmächtig aus der laufenden Hauptverhandlung (§ 231 Abs. 2 StPO), so hat allein er zu vertreten, wenn er seine Fragebefugnis nicht wahrnehmen kann. Die im Bagatellsachen nach § 232 Abs. 3 StPO verlesbare Niederschrift über eine frühere richterliche Einvernahme hat nicht die Ersatzfunktion der Niederschrift nach § 233 Abs. 3 StPO. Dies folgt schon daraus, daß sie nicht zu dem Zweck herbeigeführt wurde, die Einvernahme des Angeklagten in der Hauptverhandlung zu ersetzen. Etwaige in ihr aufgenommene Fragen gelten ebensowenig als in der Hauptverhandlung gestellt wie die in ihr enthaltenen Anträge 52 . Gleiches dürfte trotz der unterschiedlichen Ausgangslage für Äußerungen zur Anklage nach § 231 a Abs. 1, § 231 b Abs. 1 StPO gelten, wenn die Protokolle darüber in der Hauptverhandlung verlesen werden. Diesen Äußerungen hat der Gesetzgeber nicht wie bei § 233 StPO die Funktion eines vollen Ersatzes der Vernehmung in der Hauptverhandlung beigelegt. Sie müssen nicht zu
51 52
HM, vgl. etwa Kleinknechtj Meyer § 232, 13. Vgl. Gollwitz FS Tröndle (1989) 465 ff.
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diesem Zwecke herbeigeführt worden sein. Bei § 231 b StPO muß nicht einmal eine richterliche Vernehmung vorliegen, während § 231 a StPO zwingend vorsieht, daß ein Verteidiger die Rechte des Angeklagten in der Hauptverhandlung wahrnimmt 53 . Eine andere, davon unabhängige Frage ist, daß das Gericht die ihm auf irgend eine Weise bekannt gewordenen Fragen des Angeklagten aufgreifen und den Beweispersonen von Amts wegen stellen muß, wenn seine Aufklärungspflicht dies nahelegt. b) Zeitlich ist die Ausübung des Fragerechts in die Ordnung des Verfahrensganges eingebunden. Es darf nicht unter deren Verletzung zur Unzeit ausgeübt werden. Wie die §§ 68, 69, 72 StPO zeigen, werden die Zeugen und Sachverständigen zunächst vom Vorsitzenden im Zusammenhang vernommen. Erst dann erhalten die beisitzenden Richter und die anderen Verfahrensbeteiligten Gelegenheit zu Fragen nach § 240 Abs. 2 StPO. Die Reihenfolge wird vom Vorsitzenden kraft seiner Prozeßleitungsbefugnis (§ 238 Abs. 1 StPO) bestimmt. Aus besonderem Anlaß kann er Abweichungen von der üblichen Reihenfolge und Zwischenfragen zulassen. Für das Kreuzverhör (§ 239 StPO) gilt grundsätzlich nichts anderes. Auch hier beginnt das Fragerecht des Angeklagten erst nach Abschluß der Vernehmung durch Staatsanwalt und Verteidiger. Das Fragerecht des Angeklagten endet nicht schon mit dem Abschluß der eigentlichen Vernehmung, sondern erst mit der formellen Entlassung des Zeugen oder Sachverständigen nach § 248 StPO. Daß Staatsanwalt und Angeklagter vor der Entlassung zu hören sind, soll ihr Fragerecht sichern 54 . Ein nach § 247 StPO entfernter Angeklagter hat dieses Anhörungsrecht ebenfalls; denn die Anordnung der Entfernung umfaßt nicht diesen Verfahrensvorgang. Bei einer Verhandlung ohne Angeklagten nach §§ 231 a, 231 b StPO entfallt dagegen auch das Anhörungsrecht. Erst wenn der Angeklagte an der Hauptverhandlung wieder teilnimmt, lebt es wieder auf. Es gilt aber nicht rückwirkend für bereits entlassene Beweispersonen. Hält der Angeklagte eine nochmalige Befragung eines entlassenen Zeugen für notwendig, muß er unter der für die Aktualisierung der Aufklärungspflicht notwendigen Darlegung der Erheblichkeit der Frage die Wiederholung der Beweisaufnahme beantragen, über die das Gericht unter Berücksichtigung seiner Aufklärungspflicht nach pflichtgemäßem Ermessen zu befinden hat. Mit einem Beweisantrag, der nur unter den Voraussetzungen des § 244 Abs. 3, 4 StPO abgelehnt werden 53
Zur Zulässigkeit von Verhandlungen ohne Anwesenheit des Angeklagten nach der MRK vgl. Frömern\Peukert EMRKKom Art. 6 Rdn. 66 ff; EKMR EuGRZ 1978, 314
(Ensslin u. a.).
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So etwa RGSt. 46, 198.
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könnte, ist die nochmalige Herbeiholung eines bereits entlassenen Zeugen nur zu erreichen, wenn er für ein neues Beweisthema benannt werden kann, also für eine Tatsache, eventuell auch eine relevante Indiztatsache, auf die sich die frühere Einvernahme nicht erstreckt hat. 2. Für Beweisaufnahmen außerhalb der Hauptverhandlung regelt die StPO das Fragerecht des Angeklagten oder Beschuldigten nicht ausdrücklich. Bei richterlichen Beweiserhebungen gewährt sie dem Angeklagten grundsätzlich ein Teilnahmerecht (vgl. §§ 168 c, 168 d, 223, 224 StPO). Hieraus wird heute allgemein gefolgert, daß der bei der Vernehmung anwesende Angeklagte und sein Verteidiger im gleichen Umfange und unter den gleichen Voraussetzungen wie in der Hauptverhandlung das Recht haben, Fragen an die vernommenen Beweispersonen zu stellen 55 . Andernfalls wäre das Anwesenheitsrecht wenig wert. Zudem fallt ins Gewicht, daß die Niederschriften über diese richterlichen Einvernahmen unter Umständen 56 in der Hauptverhandlung als Beweismittel die Einvernahme der Beweisperson ersetzen dürfen. Dem anwesenden Angeklagten werden deshalb grundsätzlich die gleichen Verteidigungsrechte wie bei der Einvernahme in der Hauptverhandlung eingeräumt. Ist dem Angeklagten die persönliche Teilnahme nicht möglich, gestattet die hier zulässige freiere Verfahrensgestaltung, daß an die Stelle der unmittelbaren Befragung Ersatzformen treten. Einem in Haft befindlichen Angeklagten, dem die Teilnahme an der Einvernahme verwehrt wird, weil die Voraussetzungen des § 168 c Abs. 4, § 224 Abs. 2 StPO vorliegen, wird, vor allem wenn auch sein Verteidiger verhindert ist, nicht verwehrt werden können, Fragen an die Beweisperson schriftlich einzureichen. Bei der Einvernahme müssen sie dann vom vernehmenden Richter gestellt werden. Die Rechtsprechung 57 läßt die Einreichung schriftlicher Fragen zu Recht auch sonst bei kommissarischen Vernehmungen zu. Der Vorsitzende muß solche Fragen, sofern sie zulässig sind, an den ersuchten Richter weiterleiten. Das erkennende Gericht darf über ihre Zulässigkeit nicht in der Hauptverhandlung vorab verhandeln 58 . Werden sie dem ersuchten Richter vom Angeklagten unmittelbar zugeleitet, muß dieser die (zulässigen) Fragen stellen. Art. 6 Abs. 3 Buchst, d MRK, Art. 14 Abs. 3 Buchst, e IPBR würden bei isolierter Betrachtung dazu nicht unbedingt zwingen, da es nach ihnen genügt, wenn das Fragerecht von der Verteidigung in einem anderen Verfahrensabschnitt ausgeübt werden kann. Sollte dies aller55 56 57 58
Löwe/Hasenbergl Rieß § 168 c Rdn. 30; 31. Vgl. §§ 251, 253 StPO. Vgl. etwa BGH bei Holt^ MDR 1978, 460; 1983, 796; 1984, 444. BGH StrVert. 1983, 353; Schoreit MDR 1983, 619.
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dings später nicht mehr möglich sein und das Beweismittel trotzdem gegen den Angeklagten verwendet werden, kann die Gesamtwürdigung eine Verletzung des Fragerechts der Konventionen ergeben 59 . Bei Zeugeneinvernahmen im Ausland wird ebenfalls die Befugnis des Angeklagten anerkannt, dem Gericht, das die Einvernahme angeordnet hat, einen Katalog von Fragen zu übermitteln, die im Ausland durch den Vernehmenden gestellt werden sollen 60 . Wieweit er diese Fragen auch unmittelbar dem ersuchten ausländischen Richter oder der an dessen Stelle zuständigen Amtsperson mit Anspruch auf Beachtung zuleiten kann, richtet sich primär nach dem Recht des Vernehmungsorts. Ob der Angeklagte sich dabei in einem Konventionsstaat auf Art. 6 Abs. 3 Buchst, d MRK, Art. 14 Abs. 3 Buchst, e IPBR berufen kann, hängt davon ab, ob diese in dem betreffenden Staat unmittelbar innerstaatliche Rechte begründen und ob sie auch bei isolierten Beweisaufnahmen im Rahmen der Rechtshilfe anwendbar sind 61 .
IV. Inhalt und Grenzen des Fragerechts 1. Das Fragerecht wird weder in der StPO noch durch die Konventionen 62 unbegrenzt gewährleistet. Wie § 241 Abs. 2 StPO zeigt, deckt es keine ungeeigneten und nicht zur Sache gehörenden Fragen. Es kann auch nicht weiterreichen wie die Auskunftspflicht des Befragten.
a) Die innere Grenze, an der die Zulässigkeit des Inhalts einer Frage zu messen ist, ergibt sich aus dem Zweck des Fragerechts. Es soll den Verfahrensbeteiligten ermöglichen, zur Wahrung ihrer Verfahrensinteressen, dem Angeklagten also zur Wahrung seines Verteidigungsinteresses, das Wissen der Beweispersonen voll auszuschöpfen. Wegen des kontradiktorischen Spannungsverhältnisses zwischen den Fragenden soll es gleichzeitig die bessere Aufklärung des Sachverhalts fördern. Es deckt also nicht Fragen, die hierfür ungeeignet sind, weil sie verfahrensfremde Zwecke verfolgen oder weil sie durch die Art der Befragung 59 60
61
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Vgl. E G M R N J W 1987, 3068 (Unterpertinger); dazu Frominj Peukert Art. 6 Rdn. 137. Die Rechtsprechung hat dies schon früher für zulässig erachtet, vgl. BayObLGSt. 1950/51, 113. Vgl. oben II, 2. Die Organe des ersuchten Staates entscheiden zwar nicht selbst über eine Anschuldigung in Sinne von Art. 6 Abs. 1 M R K , sie müssen aber trotzdem wohl Art. 6 Abs. 3 Buchst, d M R K beachten; dazu Vogler I n t K o m E M R K Art. 6 Rdn. 554. Vgl. Frowin)Peukert E M R K K o m Art. 6 Rdn. 138, (Spruchpraxis der Kommission läßt Ablehnung der Fragen zu, wenn nach der Überzeugung des Gerichts die zu erwartende Antwort für die Wahrheitsfindung unerheblich ist).
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erreichen wollen, daß das Wissen des Befragten nicht voll ausgeschöpft, sondern verfälscht oder irreführend dargeboten wird. Es ist an sich selbstverständlich, daß aus dem Verteidigungsrecht des Angeklagten nur das Recht auf Fragen hergeleitet werden kann, die sachlich mit seiner Verteidigung gegen den ihm zur Last gelegten Vorwurf zusammenhängen. Fragen mit einer anderen Zielsetzung, etwa um den Zeugen zu beleidigen oder Propaganda für etwas zu machen, werden durch kein legitimes Verteidigungsinteresse gerechtfertigt. Gleiches gilt für Fragen, die jeden Sachbezug zu den verfahrensgegenständlichen Vorwürfen oder den Sachverhalt vermissen lassen, über den die Beweisperson Auskunft geben kann. Hier dürfen die Grenzen allerdings nicht zu eng gezogen werden. Das Fragerecht wird zu dem Zweck eingeräumt, das Wissen der präsenten Beweispersonen in jeder Richtung voll auszuschöpfen, damit kein verfahrensrelevanter Umstand übersehen wird. Es soll ermöglichen, auch bisher unbekannten Tatsachen und Zusammenhängen nachzuspüren und ihre Verfahrensrelevanz aufzuzeigen. Deshalb muß auch nach Tatsachen gefragt werden können, die im Umfeld der angeklagten Tat liegen oder denen eine indizielle Bedeutung für eine entscheidungserhebliche Tatsache zukommen kann. Aus den gleichen Erwägungen ist es unzulässig, eine Frage als unbehelflich zurückzuweisen, weil sie dem Gericht in einer vorweggenommenen Prüfung des zu erwartenden Antwort als nicht entscheidungserheblich erscheint 63 . Im übrigen umfaßt das Fragerecht grundsätzlich die Generalfragen des § 68 StPO 64 . Der Angeklagte ist also auch zu Fragen berechtigt, die unabhängig vom zu untersuchenden Sachverhalt die Beweisperson selbst betreffen, weil sie Rückschlüsse auf ihre Glaubwürdigkeit und die Zuverlässigkeit ihrer Angaben zulassen 65 . Dies öffnet einen weiten Raum, in dem die Verteidigungsinteressen des Angeklagten, die Wahrheitsfindung und die Belange eines vernünftigen Zeugenschutzes oftmals kollidieren müssen. Die Abgrenzung obliegt primär dem Gesetzgeber (vgl. etwa §§ 68, 69, 241 a, 247, 406 f StPO, §§ 171 b, 172 GVG). Soweit Regelungen fehlen, muß das Gericht die widerstreitenden Interessen selbst zum Ausgleich bringen. Bei der Gewichtung nur einseitig vom Täter/Opferverhältnis auszugehen, wäre allerdings ein Fehlschluß. Denn ob der fragende Angeklagte Täter oder ein in das Verfahren verstrickter Unschuldiger ist, soll ja erst die Beweisaufnahme klären. Auf die Einzelheiten dieses sehr vielschichtigen Problemkreises kann im Rahmen dieses Überblicks nicht eingegangen werden. 63 64 65
BGH NStZ 1984, 133; 1985, 183; Müller DRiZ 1987, 472. LöivefRosenberg!Dahs § 68 Rdn. 16. Vgl. etwa BGHSt. 23, 244; 32, 115/128.
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Grenzen bestehen auch für die Art und Weise, mit der das Fragerecht ausgeübt wird. So sind Fragen unzulässig, die ohne jeden ersichtlichen Grund zum wiederholten Male das Gleiche wissen wollen. Unzulässig sind auch Fragen, die nicht unvoreingenommen nach dem Wissen der Beweisperson forschen, sondern die, gewollt oder ungewollt, darauf abstellen, ihr eine bestimmte Antwort in den Mund zu legen (Suggestivfragen) oder sie zu verwirren. In diesen und ähnlichen Fällen hat die zu Recht auf den Einzelfall abstellende Rechtsprechung die Zurückweisung auch an sich sachbezogener Fragen gebilligt. Die Wiederholung solcher Fragen in einer zulässigen Form oder ihre Umformung durch den Vorsitzenden wird dadurch nicht ausgeschlossen. In diesen oder vergleichbaren Fällen wird das Fragerecht nicht zu dem Zweck eingesetzt, zu den allein es die Prozeßordnung einräumt. Das von der Verfahrensordnung gewährleistete (legitime) Verteidigungsinteresse rechtfertigt keinen Mißbrauch. Es ist durch den Verfahrenszweck begrenzt und gestattet kein den Zielsetzungen des Prozesses gegenläufiges Verhalten. Der Angeklagte, der nichts zu seiner Belastung beizutragen braucht, ist berechtigt, sein Fragerecht nur insoweit auszuüben, als er sich davon ein für seine Verteidigung günstiges Ergebnis verspricht. Es steht ihm also frei, ob er mit eigenen Fragen zur vollen Erschließung des Wissens einer Beweisperson beitragen will. Es ist zulässig, wenn er dies unterläßt, weil er sich mehr davon verspricht, wenn eine unvollständige oder schiefe Darstellung nicht zurechtgerückt wird. Die Grenze der legitimen Verteidigung wird aber überschritten, wenn das Fragerecht aktiv dafür eingesetzt wird, die Wahrheitsfindung zu erschweren oder zu vereiteln. b) An seine äußeren Grenzen stößt das Fragerecht, wenn der Befragte zur Auskunft nicht verpflichtet ist. Zwei Fallgruppen lassen sich hier unterscheiden: Bei der einen ist bereits die Frage als solche schlechthin unzulässig, bei der anderen darf die Frage zwar gestellt werden, sie läuft aber sanktionslos leer, wenn der Befragte die Antwort verweigert. Dieser Unterschied hat Bedeutung für das Zurückweisungsrecht des Vorsitzenden. Während bei der ersten Gruppe schon die Frage als solche nicht zuzulassen ist, weil die Antwort ohne Rücksicht auf das Verhalten der Auskunftsperson nicht zum Gegenstand der Vernehmung gemacht werden darf, bleibt bei der zweiten Gruppe die Frage zunächst zulässig. Erst wenn feststeht, daß der Befragte die Antwort befugt verweigert, ist jeder Versuch einer weiteren Befragung als unzulässig zu unterbinden. In die erste Gruppe fallen vor allem Fragen, denen ein absolutes, der Disposition der Auskunftsperson entzogenes Beweisverbot entgegensteht, bei denen also schon von Anfang an feststeht, daß die Antwort
Das Fragerecht des Angeklagten
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nicht in das Verfahren eingeführt und verwertet werden darf. Welche Beweisverbote diese Wirkung haben, ist jeweils an Hand ihrer Zielsetzung zu prüfen. Auf die vielfach streitigen Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. Erwähnt sei jedoch, daß ein solches Verbot auch aus § 68 Satz 2 StPO hergeleitet wird, wenn dem Zeugen vom Vorsitzenden gestattet worden ist, seinen Wohnort nicht anzugeben. Die von § 68 a StPO nur in Ausnahmefallen zugelassenen Fragen werden ebenfalls als unzulässig angesehen, wenn sie nach der Sachlage als nicht unerläßlich erscheinen 66 . In die zweite Gruppe fallen vor allem Fragen an Mitangeklagte. Diese können zwar befragt werden, wie § 240 Abs. 2 StPO zeigt, sie sind aber nicht zur Antwort verpflichtet. Ihr Schweigerecht gilt auch gegenüber Fragen der Verfahrensbeteiligten. Zeugen, die hinsichtlich bestimmter Tatsachen ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO haben, dürfen an sich ebenfalls befragt werden. Erst wenn sie von diesem Recht Gebrauch machen, scheiden sie insoweit als Adressat weiterer Fragen aus. Gleiches gilt bei Personen, die sich auf ein Zeugnisverweigerungsrecht nach den §§ 52 bis 54 StPO berufen. Steht allerdings bereits fest, daß sie von diesem Recht Gebrauch machen, so ist für Fragen kein Raum mehr; schon die erste dies mißachtende Frage ist unzulässig.
V. Beschränkung und Entzug des Fragerechts 1. Die StPO gibt dem Vorsitzenden in § 241 Abs. 2, § 241 a Abs. 3 StPO nur die Befugnis, einzelne, bereits gestellte Fragen als ungeeignet und nicht zur Sache gehörend zurückzuweisen. Im Zweifel oder bei Anrufung gegen die Verfügung des Vorsitzenden entscheidet darüber das Gericht (§ 238 Abs. 2, § 242 StPO). Eine weitergehende Einschränkung des Fragerechts, vor allem den zeitweiligen oder endgültigen Entzug bei konstantem Mißbrauch, sieht sie nicht ausdrücklich vor. Nur beim Kreuzverhör ermächtigt § 241 Abs. 1 StPO den Vorsitzenden, daß er demjenigen die Befugnis zur Vernehmung entzieht, der sie mißbraucht. Es herrscht heute weitgehende Übereinstimmung 67 , daß das Fragerecht als solches dem Angeklagten nicht völlig genommen werden kann. Strittig ist aber, ob und wieweit das unmittelbare Fragerecht bei 66 67
Löwe j Hasenbergl Dahs § 68 a KleinknechtlMeyer § 241
Vgl.
Rdn. 7 mit weit. Nachw. Rdn. 6 mit weit. Nachw.
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Mißbrauch für weitere Fragen entzogen 68 oder auf Formen der mittelbaren Ausübung beschränkt werden darf. Es ist einfach, dies mit dem Gegenschluß aus § 241 Abs. 1 StPO, dem Hinweis auf die Entstehungsgeschichte und der Erwägung zu verneinen, daß keine Möglichkeit besteht, das hochrangig garantierte Recht auf Verteidigung durch Fragen über den Wortlaut der StPO hinaus einzuschränken 69 . Es fragt sich jedoch, ob die gesetzliche Regelung wirklich als abschließend zu betrachten ist oder ob man aus dem Grundgedanken, daß die StPO mit allen Einzelregelungen ein sinnvolles Prozessieren sichern will, nicht herleiten kann, daß der Vorsitzende kraft seiner gegenständlich nicht beschränkten Prozeßleitungsbefugnis Mißbräuchen auch dort entgegenwirken darf, wo das Gesetz dies nicht ausdrücklich vorsieht. Er darf verhindern, daß die Hauptverhandlung durch Ausnutzung formell bestehender Befugnisse für prozeßfremde oder prozeßfeindliche Zwecke zu einem der Wahrheitsfindung, den Belangen der betroffenen Beweispersonen und dem Ansehen der Rechtspflege gleichermaßen abträglichen Possenspiel entartet. Aus der Sicht eines sinnvollen Prozessierens wäre es keine sachgerechte Lösung, den Vorsitzenden darauf zu beschränken, die ad infinitum gestellten Fragen eines Angeklagten, der ersichtlich nichts mehr sachlich erforschen kann und will, zunächst zuzulassen, sie jedesmal einzeln als unzulässig zurückzuweisen und sich dies dann jeweils noch vom Gericht bestätigen zu lassen. Dies spricht dafür, aus dem Leitungsrecht des § 238 Abs. 1 StPO und dem Grundgedanken des § 241 StPO die Befugnis herzuleiten, die Fortsetzung eines offensichtlich gewordenen Mißbrauchs des Fragerechts zu unterbinden 70 . Auch bei anderen Verteidigungsrechten des Angeklagten wird dies ohne ausdrückliche Regelung für zulässig gehalten 71 , so etwa bei einem Mißbrauch des Ladungsrechts nach § 220 StPO 72 , oder des Beweisantragsrechts 73 , oder des Erklärungsrechts nach § 257 StPO oder des letzten Wortes nach § 258 StPO 74 . Ein Teil des Schrifttums und die Rechtsprechung 75 billigen deshalb, wenn dem Angeklagten bei ersichtlichem Mißbrauch das Recht zu 68
65 70 71
72 73 74 75
Da Beschränkungen der Form der Ausübung des im Kerne fortbestehenden Fragerechts mitunter als partieller Entzug bezeichnet werden, besteht die Gefahr eines Streits um Worte. Etwa RGSt. 38, 58; Miebach DRiZ 1977, 140; ter Veen StrVert. 1983, 167. Vgl. Miebach DRiZ 1977, 140; KK-Treier § 241 Rdn. 5; Kleinknechtj Meyer § 240 Rdn. 9. Vgl. etwa RüpinglDomseifer JZ 1977, 417; Weber GA 1975, 289; KleinknechtjMeyer Einl. Rdn. 111. K G JR 1971, 338 mit zust. Anm. Peters. Vgl. etwa BGHSt. 29, 151, ferner Löm\Rosenberg\Gollrvit%er § 244 Rdn. 206. Vgl. Löwe]RosenbergjGollmt^er § 258 Rdn. 42. BGH StrVert 1983, 139 mit Besprechung ter Veen StrVert. 1983 167; Kleinknecht/Meyer § 241 Rdn. 6 mit weit. Nachw.
Das Ftagerecht des Angeklagten
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weiteren unmittelbaren Fragen ent20gen und er auf Ersatzformen verwiesen wird, etwa, daß er die Fragen vorher dem Vorsitzenden mitteilt oder die Fragen mittelbar über ihn stellt. Er kann selbst dann sein Fragerecht noch in einer Form ausüben, die der Gesetzgeber beim Mitangeklagten oder jugendlichen Zeugen zum Schutze anderer Rechtsgüter (Zeuge, Wahrheitsfindung) ohnehin vorschreibt. Das Argument, daß bei einer solcher Beschränkung die Wahrheitsfindung beeinträchtigt würde 76 , dürfte bei einer nur den Mißbrauch verhindernden Beschränkung des Fragerechts ebensowenig durchgreifen wie das Argument, daß dadurch die Verteidigungsinteressen unzulässig behindert würden. Ein Mißbrauch liegt ja nur vor, wenn das Fragerecht gerade nicht mehr im Interesse der Sachaufklärung, sondern zu ihr gegenläufigen oder prozeßfremden Zwecken eingesetzt und dadurch das legitime Verteidigungsinteresse überschritten wird. Die Schwierigkeiten liegen hier allerdings im Tatsächlichen. Um eine auf Mißbrauch gestützte Beschränkung mit der erforderlichen Sicherheit feststellen und begründen zu können, müssen der Vorsitzende und das angerufene Gericht zu der Überzeugung kommen, daß der Angeklagte keine zulässigen Fragen zu dem jeweiligen Beweisvorgang mehr stellen kann und daß seine weiteren Fragen nur noch der Prozeßverschleppung oder der Störung der Verhandlung, der Verunsicherung oder Verunglimpfung des Zeugen oder einem pressewirksamen Schaueffekt dienen sollen. Die geforderte Wertung künftigen Prozeßverhaltens ist schwierig und wird nicht immer mit der gebotenen Sicherheit getroffen werden können. Sie ist aber grundsätzlich möglich, zumal das vorangegangene Prozeßverhalten des Angeklagten eine gewichtige Indizwirkung hat, die bei der Gesamtwürdigung des Verhaltens ins Gewicht fallen muß, so wenn er trotz Belehrung, Abmahnung und Zurückweisung fortfährt, unzulässige Fragen zu stellen. Der Schluß vom festgestellten Prozeßverhalten und sonstigen Indizien auf die vom Angeklagten mit der Ausübung einer Verfahrensbefugnis verfolgte prozeßfremde Absicht wird dem Gericht ja auch sonst abverlangt, etwa, wenn es beurteilen muß, ob ein nach Ansicht des Gerichts nicht weiterführender Beweisantrag nur zur Prozeß Verschleppung (§ 244 Abs. 3 StPO) gestellt worden ist. Meist wird das Gericht die Feststellung, daß der Angeklagte keine sachdienlichen Fragen mehr hat und mit weiteren Fragen nur noch unzulässige Zwecke verfolgen will, nur für einen bestimmten Beweisvorgang, etwa die Einvernahme von Zeugen zu einen bestimmten Sachverhalt, gewinnen können. Es kann dann nur insoweit die weitere Ausübung des Fragerechts unterbinden oder durch Ausschluß
76
Ter Veen StrVert. 1983 168.
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der Unmittelbarkeit beschränken. Bei einem neuen Beweisvorgang besteht es dann wieder unbegrenzt. Bei einem konstanten Mißbrauch sind aber auch darüber hinausreichende Einschränkungen denkbar. So dürfte es zulässig sein, einem Angeklagten, der allen vorangegangenen Abmahnungen zum Trotz fortfahrt, seine Fragen in einer unzulässigen Form zu stellen, für das weitere Verfahren aufzugeben, daß er sie nur mittelbar über seinen Verteidiger oder den Vorsitzenden einbringt. Eine solche partielle Beschränkung beeinträchtigt die Verteidigung schon deshalb nicht unangemessen, weil sie das sachbezogene Fragerecht des Angeklagten im Kerne gar nicht antastet, sondern nur die Form seiner Ausübung betrifft. Dies gilt für die Beschränkung auf die mittelbare Form der Fragestellung über den Vorsitzenden ebenso wie für den partiellen „Entzug" des Rechts zu weiteren Fragen. Auch dieser hindert den Angeklagten nicht, neue sachbezogene Fragen an das Gericht heranzutragen, sei es über seinen Verteidiger oder selbst im Rahmen einer Erklärung nach § 257 StPO oder bei seiner Anhörung nach § 248 StPO. Sachbezogene Fragen muß das Gericht dann ungeachtet der nur den Mißbrauch einschränkenden Anordnung weitergeben. Ein absoluter Entzug des Fragerechts, der in der ersatzlosen Unterbindung jeder Fragemöglichkeit zu sehen wäre, liegt insoweit nicht vor 77 . Daß ein vollkommener Entzug des Fragerechts mit dem verfassungsrechtlich verbürgten Verteidigungsrecht ebenso unvereinbar wäre wie mit den Garantien in Art. 6 M R K , Art. 14 IPBR, braucht nicht wiederholt zu werden.
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KMR-Paulus § 240 Rdn. 3.
Zu den Folgen staatsanwaltlicher in der Hauptverhandlung begangener Verfahrensfehler JOACHIM H Ä G E R
„Die Staatsanwaltschaft ist ein dem Gericht gleichgeordnetes Organ der Strafrechtspflege, ... ist nicht Partei im Strafprozeß. Das gilt auch für die Hauptverhandlung, in der ein Verteidiger mitwirkt. Denn der Staatsanwalt ist verpflichtet, den Richter in seinem Ringen um die Erforschung des wirklichen Sachverhalts und um die richtige Rechtsanwendung zu unterstützen." Mit diesen Worten umschreibt Karlheinz Meyer1 die Stellung der Staatsanwaltschaft, insbesondere ihre Aufgabe in der Hauptverhandlung. Auf diese Definition wird mehrfach zurückzukommen sein, wenn hier zweifelhafte oder aktuell gewordene Fallkonstellationen unter dem Gesichtspunkt erörtert werden, welche Folgen es hat, daß die Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung Verfahrensfehler begeht oder solche in das Hauptverfahren hineinträgt. Dabei soll das Augenmerk auch darauf gerichtet werden, ob es sich jeweils um einen allein von der Staatsanwaltschaft begangenen Verfahrensfehler handelt oder ob das prozeßordnungswidrige staatsanwaltschaftliche Verhalten mit der Begehung eines Verfahrensfehlers durch das Gericht einhergeht.
I. Mit der Anklageschrift zusammenhängende Fehler Durch eine mängelbehaftete Anklageschrift können revisionsrelevante Verfahrensfehler in verschiedener Weise in das Hauptverfahren getragen werden. 1. Zunächst sei die formell bedeutsamste Konstellation erwähnt, wenngleich sie nicht akut problematisch ist. Schwerwiegende, funktionsbeeinträchtigende Mängel der Anklageschrift, seil, des Anklagesatzes, werden zu entsprechenden Mängeln des Eröffnungsbeschlusses und
1
KleinknechtjMejer,
StPO, 39. Aufl. 1989, Rdn. 1 und 8 vor § 141 GVG.
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Joachim Häger
begründen ein Prozeßhindernis 2 . Mängel, deren Gewicht unterhalb dieser Schwelle des funktionellen Mangels liegt, können mit der Revision nicht geltend gemacht werden 3 . In allen Fällen des funktionellen Mangels kann durch einen gerichtlichen Hinweis — sei es im Eröffnungsbeschluß, in einem nachfolgenden (zuzustellenden) Beschluß oder förmlich in der Hauptverhandlung — der Mangel mit Wirkung für das weitere Verfahren beseitigt werden. Solche Mängelbeseitigung findet ihre Grenze allein dort, wo vom Vorliegen einer wirksamen Anklage schlechthin nicht gesprochen werden kann, wo keine oder eine nichtige Anklage vorliegt 4 . 2. Eine singuläre Folge einer fehlerhaft gefaßten Anklageschrift kann in der Befangenheit der Schöffen 5 bestehen. Zwar sagt Meyer, daß die nach § 31 Abs. 1 StPO geltenden Gründe für die Befangenheit der Schöffen nicht weiter gehen als bei den Berufsrichtern 6 . Jedoch bedarf dies einer Ergänzung unter dem Gesichtspunkt, daß — zur Einhaltung der Grundsätze der Unmittelbarkeit und der Mündlichkeit — den Schöffen die vollständige Anklageschrift nicht zur Kenntnis gebracht werden darf, weil grundsätzlich zu besorgen ist, daß sich die Eindrücke, die die Schöffen aus verschiedenen Quellen gewinnen, derart vermengen könnten, daß sie sich ihre Überzeugung nicht mehr allein aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung bilden würden 7 . Jedoch wäre es realitätsfern zu verkennen, daß die Schöffen gelegentlich Schwierigkeiten haben, überhaupt den Prozeßgegenstand, also die konkreten Vorwürfe gegen den Angeklagten zu überschauen, wenn ihnen jede schriftliche Fixierung dieses Gegenstandes verschlossen bleibt. Dies gilt namentlich in Wirtschaftsstrafsachen 8 , aber auch in allgemeinen Strafsachen mit mehreren Punkten, gar mehreren Angeklagten bei wechselnden Beteiligungen. Jedenfalls muß es für zulässig erachtet werden, den Schöffen
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Die Nomenklatur zur Umschreibung dieser Fälle ist uneinheitlich. Vgl. Löwe\RosenbergjRieß, StPO, 24. Aufl. 1 9 8 7 - 1 9 8 9 , §200 StPO Rdn. 5 2 - 5 8 , § 2 0 7 StPO Rdn. 5 5 - 5 9 . Kleinknecht]Meyer, § 200 StPO Rdn. 27; RGSt. 31, 100. LöwelRotenberg!Gollwityr, § 243 StPO Rdn. 58; KMR-Paulus, StPO, Stand August 1988, § 2 0 0 StPO Rdn. 5 8 - 6 0 . Zum Ganzen nunmehr Schlächter, JR 1990, 10, U f f unter besonderer Berücksichtigung der Fälle fortgesetzter Handlung. Dies findet regelmäßig eine Spiegelung in einer Verletzung des § 261 StPO. Die entsprechende Verfahrensrüge ist zwar insofern besonders probat, als sie nicht — wie § 338 Nr. 3 StPO — die Durchführung des Ablehnungsverfahrens voraussetzt, andererseits aber mit der Hürde der Beruhensfrage versehen. Kleinknecht]Meyer, § 31 StPO Rdn. 2; a. A. Hanack, JR 1967, 229. H. M. und einhellige Rspr.; vgl. LöwejRosenberg]Gollwit^er, § 261 StPO Rdn. 31 m. N. Kubsch, DRiZ 1984, 190; Schaal, Mitteilungen des Deutschen Richterbundes, Berlin, 1983 Nr. 5 S. 11.
Folgen staatsanwaltschaftlicher Verfahrensfehler in der Hauptverhandlung
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nach Verlesung des Anklagesatzes diesen in Schriftform auszuhändigen 9 . Was sie gehört haben und hätten stenographieren können, kann ihre Befangenheit nicht deshalb begründen, weil es ihnen — zur Erhöhung des gesetzlich gewollten Verständnisses des Verfahrensgegenstandes — auch schriftlich vorgelegt wird. Ungeachtet dessen kann der Grundsatz, daß den Schöffen das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen nicht bekannt gemacht werden darf, dadurch verletzt werden, daß die Staatsanwaltschaft in den — alsdann verlesenen — Anklagesatz Partien aufgenommen hat, die allein in das wesentliche Ermittlungsergebnis gehören. Anknüpfungspunkt ist eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 195410. Danach ist zu unterscheiden zwischen einerseits Tatsachen, mögen sie auch nur die Tat näher kennzeichnen, und andererseits einer Darstellung der Ermittlungen, der Einlassung des Beschuldigten, einem Hinweis auf Schlüsse hieraus und einer vorweggenommenen Würdigung der vorläufigen Ermittlungen. Oft werden in diese Entscheidung allzu große Hoffnungen der Revisionsführer gesetzt. Umfangreiche und komplizierte Sachverhalte, in denen die Staatsanwaltschaft die Erfüllung von Straftatbeständen findet, sind regelmäßig nicht in wenigen Sätzen zu schildern. Der Revisionshinweis auf die zweistellige Seitenzahl des Anklagesatzes geht deshalb für sich genommen meist ins Leere. Es kommt darauf an, ob der Anklagesatz lediglich tatsächliche Angaben enthält, die bei der Art der vorgeworfenen Begehungsweise den Anklagevorwurf erst verständlich machen sollen, oder ob der Anklagesatz Ausführungen oder Wendungen enthält, die auf eine Würdigung des bisherigen Verfahrensergebnisses hinauslaufen 11 . Auch die Mitteilung von Hilfstatsachen des Beweises muß in diesem Zusammenhang als unschädlich erachtet werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß mit Umfang und Kompliziertheit einer Sache auch die Unterschiede zwischen Haupttatsachen und Indizien schwinden. Ebenfalls nach den genannten Grundsätzen zur Abgrenzung dessen, was zulässigerweise (noch) im Anklagesatz stehen kann, von dem, was seinen Platz allein im wesentlichen Ermittlungsergebnis hat, lassen sich diejenigen Fälle lösen, in denen der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft anläßlich der Verlesung des Anklagesatzes — etwa versehentlich
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Besonders weit gehend Schreiber, Festschrift für Hans Welzel, 1974, S. 941 ff: Gleichstellung von Berufsrichtern und Schöffen. Erstaunlich ist, daß in Schrifttum und Rspr. die Aushändigung des bloßen Anklagesatzes nicht gesondert angesprochen wird, vielmehr allenthalben nur die Aushändigung der kompletten Anklageschrift als unzulässig bezeichnet wird; vgl. LöwejRotenberg!Gollwit^er, § 261 StPO Rdn. 31 m. N. BGH NJW 1954, 483 f. BGH, Urteil v. 19. März 1985 - 5 StR 210/84 - .
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— weitergehende Texte verliest, die nicht einmal formell Teil des Anklagesatzes sind, so wenn statt aus der zugelassenen Anklage aus einem früheren Anklageentwurf der Anklagesatz verlesen wird, der in verschiedener Hinsicht umfangreicher ist. Der Bundesgerichtshof 12 hat in einem solchen Fall, in dem die Befangenheit der Schöffen und eine Verletzung des § 261 StPO geltend gemacht worden waren, auf viele Besonderheiten des Einzelfalles, dabei wesentlich darauf abgestellt, daß es — nach der durch den Vorsitzenden schließlich erfolgten Verlesungsunterbrechung und Hinweiserteilung — auch für die Schöffen klar zutage lag, daß es lediglich um eine Konkretisierung des Anklagevorwurfs, nicht aber um eine Vorwegfeststellung entscheidungserheblicher Tatsachen ging. Damit hat der Bundesgerichtshof das Gewicht vor allem auf den vorläufigen Charakter der Anklageschrift gelegt. Dies ist ein interessanter zusätzlicher Gesichtspunkt, der im konkreten Fall deshalb Verwendung finden konnte, weil der Vorsitzende offenbar eindeutige Hinweise insbesondere an die Adresse der Schöffen gerichtet hatte. Immerhin legt dieser neue Aspekt die Erwägung nahe, ob der Vorsitzende durch einen entsprechenden eindeutigen Hinweis die Befangenheit der Schöffen etwa auch dann beseitigen kann, wenn der verlesene Anklagesatz neben behaupteten Tatsachen und Hilfstatsachen auch Elemente der Beweiswürdigung enthält. Es wird wohl auf die Umstände des Einzelfalles, insbesondere die Wesensart und den Umfang der überschießenden Mitteilungen sowie auf den Inhalt der Erklärungen des Vorsitzenden ankommen. Keineswegs ist den Gerichten zu empfehlen, auf diese Brücke zu vertrauen. Enthält der Anklagesatz Partien, die — weil beweiswürdigend — fehl am Platze sind und deshalb die Unbefangenheit der Schöffen gefährden würden, so sollte die Anklageschrift an die Staatsanwaltschaft mit der Anregung einer Neufassung zurückgeleitet werden und bei Beharren der Staatsanwaltschaft die Zustellung der Anklage durch eine beschwerdefahige Entscheidung des Vorsitzenden abgelehnt werden 13 . 3. Auch in anderem Zusammenhang besteht grundsätzlich die Möglichkeit, daß eine Befangenheit der Schöffen dadurch herbeigeführt wird, daß ihnen zur Kenntnis gebracht wird, in welcher Weise die Staatsanwaltschaft das Ergebnis ihrer Ermittlungen bislang gewürdigt hat. Typisch dafür ist die Situation, in der während laufender Hauptverhandlung — auf entsprechenden Antrag — über die Haftfrage zu 12
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BGH, Urteil v. 30. März 1983 - 2 StR 173/82 - ; Hinweise in gleicher Richtung finden sich auch in B G H , Beschluß v. 8. September 1982 - 3 StR 241/82 (S) - . Die zuletzt genannte Möglichkeit wird vielfach deshalb übersehen, weil sie nicht hinreichend davon getrennt wird, daß das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens nicht „vorläufig" ablehnen darf.
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entscheiden ist. Hat beispielsweise die bisherige Beweisaufnahme den Angeklagten entlastende Momente ergeben und stellt deshalb der Verteidiger einen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls, so ergibt sich die Frage, wie das Gericht bei der Bewertung des Tatverdachts die — nach Aktenlage, seil, auch nach Darstellung im wesentlichen Ermittlungsergebnis der Anklage — zu erwartende Belastungen des Angeklagten durch die künftig noch in die Hauptverhandlung einzuführenden Beweismittel verwerten kann, ohne die Schöffen befangen zu machen. Für die Entscheidung des Gerichts empfiehlt sich in solchen Fällen — als die sauberste Lösung — stets die Entscheidung außerhalb der Hauptverhandlung, also ohne die Schöffen, was ohne weiteres zulässig14 und jederzeit ohne Verzögerung möglich ist. 4. Unterbleibt die Verlesung des Anklagesatzes, so kann auf diese Verletzung der Vorschrift des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO die Revision nach § 337 StPO gestützt werden15. Immerhin ist in Ausnahmefallen möglich, daß das Urteil auf diesem Verfahrensfehler nicht beruht16. Festzuhalten ist jedoch, daß es sich in diesen Fällen zumindest nicht allein um einen vom Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft begangenen Verfahrensfehler handelt, daß vielmehr das Gericht nicht auf die Verlesung hingewirkt hat. Entsprechendes gilt, wenn der Anklagesatz verspätet, d. h. insbesondere nach der Einlassung des Angeklagten verlesen wird 17 ; denn in diesen Fällen wird einer der Zwecke der Verlesung des Anklagesatzes verfehlt. Dazu gehört, dem Angeklagten vor seiner Belehrung nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO und seiner etwaigen Aussage zur Sache (noch einmal) den gegen ihn erhobenen Vorwurf vor Augen zu führen. Besondere Probleme bilden die Punktesachen. Meyer18 und andere Autoren19 vertreten die Ansicht, daß auch in diesen Fällen die Verlesung des Anklagesatzes immer im ganzen erfolgen müsse, daß eine stückweise Verlesung unzulässig sei. Zwar wird es sich empfehlen, auch in solchen Fällen für alle Vorwürfe gebündelt die Reihenfolge Verlesung des Keine Vorschrift gebietet, über in der Hauptverhandlung gestellte Anträge zur Haftfrage auch in der Hauptverhandlung zu entscheiden. OLG Hamburg, MDR 1973, 69 m. Anm. Stadie, behandelt ein Scheinproblem: Die dort vom LG Hamburg ohne die Schöffen getroffene Haftentscheidung erfolgte außerhalb der Hauptverhandlung. 15 Zuletzt BGH NStZ 1984, 521. 16 Fn. 15. 17 Klemknechtj Meyer, § 243 StPO Rdn. 13; LömjRosenberg/GoHmitzer, § 243 StPO Rdn. 107; RGSt. 23, 310. 18 KleinknechtjMeyer, § 243 StPO Rdn. 13. 19 LöwejRonnherg\Gollwit^er, § 243 StPO Rdn. 5; KK-Treier, StPO, 2. Aufl. 1987, § 243 StPO Rdn. 4. 14
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Anklagesatzes — Einlassung des Angeklagten — Beweisaufnahme einzuhalten. Eine Abweichung von diesem Einheitsprinzip erscheint jedoch — entgegen der zitierten herrschenden Meinung — mit dem Gesetz (§§ 243 Abs. 3 und 4, 244 Abs. 1 StPO) vereinbar. Alle Zwecke der Verlesung des Anklagesatzes und der gesetzlichen Folge der anschließenden Verfahrensschritte werden auch dann erfüllt, wenn die Einzelfälle stationsweise behandelt werden. Anderes ergibt sich nur dann, wenn die Einzelfalle — etwa in der Beweislage — miteinander verzahnt sind. Dabei liegt ein besonderes Risiko darin, daß eine Vernetzung der Einzelfälle möglicherweise im frühem Stadium der Hauptverhandlung noch nicht erkennbar ist, sich vielmehr erst im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung ergibt. II. Das Fehlen eines Schlußvortrages Das Plädoyer des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft ist in der Regel derjenige Abschnitt der Hauptverhandlung, in dem die Anklagebehörde, wenngleich nicht mehr Herrin des Verfahrens, wieder ganz in den Vordergrund tritt. Um so mehr mag es zunächst Erstaunen wecken, daß das Unterbleiben des staatsanwaltlichen Schlußvortrags nicht etwa ein rein theoretisches Problem, sondern Gegenstand vieler Entscheidungen — und dabei in seinen rechtlichen Folgen umstritten — ist. Die Vorschrift des § 258 Abs. 1 StPO sagt insoweit nur, daß der Staatsanwalt zu seinen Ausführungen und Anträgen das Wort erhält, begründet also keine Pflicht zur Wahrnehmung dieser Gelegenheit. Doch ist mit Meyer auf Grund der eingangs dieses Beitrags näher geschilderten prozessualen Stellung der Staatsanwaltschaft im Offizialverfahren eine Rechtspflicht des Sitzungsvertreters anzunehmen, einen Schlußvortrag zu halten, dabei das Verhandlungsergebnis in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zusammenfassend zu würdigen sowie einen bestimmten Antrag zu stellen 20 . Nicht etwa handelt es sich hierbei um eine lediglich innerdienstliche, aus Nr. 138, 139 RiStBV fließende Verpflichtung 21 . Mit der Anerkennung dieser Pflicht ist jedoch noch nicht entschieden, welche Rechtsfolgen es hat, wenn der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft keinen Schlußvortrag hält, ob dies insbesondere die Revision 20
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Kleinknecht]Meyer, § 258 StPO Rdn. 9, 10; BGH bei Holt^ MDR 1984, 798; noch offen gelassen in BGHSt. 19, 377, 378. So aber Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Nachtrag, 1967, § 258 StPO Rdn. 7; SchütK, NJW 1963, 1589.
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begründet. Meyer sagt, daß ohne den Schlußvortrag der Staatsanwaltschaft die Verhandlung nicht fortgesetzt werden dürfe und daß die Weiterführung der Verhandlung, nachdem der Staatsanwalt den Schlußvortrag verweigert hat, einen Revisionsgrund darstelle 22 . Dem kann nicht generell zugestimmt werden; es wird vielmehr zwischen den in Betracht kommenden Fällen zu differenzieren sein. Wird dem Staatsanwalt das Wort nicht gewährt, so begründet der darin liegende gerichtliche Verstoß gegen § 258 Abs. 1 StPO die Revision nach § 337 StPO, wobei die Beruhensfrage fast nie zu verneinen sein wird. Gibt das Gericht der Bitte des Staatsanwaltes um Gewährung einer Pause oder einer Unterbrechung der Hauptverhandlung zwecks Vorbereitung des Plädoyers nicht statt, verweigert der Staatsanwalt daraufhin den Schlußvortrag und geht das Gericht danach zu den nächsten Verhandlungsabschnitten über, so ist je nach den Umständen § 258 Abs. 1 StPO durch das Gericht verletzt; denn zur Gewährung des „Wortes" gehört jedenfalls in dieser prozessualen Situation die Gewährung der Gelegenheit entsprechender Vorbereitung. Umfang und tatsächliche wie rechtliche Kompliziertheit der Sache sowie die Dauer der vom Staatsanwalt begehrten Unterbrechung sind dann gegeneinander abzuwägen. Darüber hinaus kann jedoch nicht generell angenommen werden, daß ohne den Schluß Vortrag der Staatsanwaltschaft die Verhandlung nicht fortgesetzt werden dürfe 23 — mit der Folge, daß ein Verstoß hiergegen die Revision begründen würde 24 . So liegt es etwa, wenn der Staatsanwalt trotz genügender Vorbereitungszeit das Plädoyer verweigert und wenn auch die gerichtliche Anregung dienstaufsichtlicher Maßnahmen erfolglos bleibt. Wollte man im Schlußantrag des Staatsanwaltes eine „Urteilsvoraussetzung schlechthin" 25 finden, so wäre dafür wohl ein greifbarer gesetzlicher Anhaltspunkt, den § 258 Abs. 1 StPO gerade nicht hergibt, zu verlangen, zumal die Strafprozeßordnung überall dort, wo sie einen Antrag zur Voraussetzung des weiteren (Teil-)Verfahrens macht, das Antragserfordernis ausdrücklich konstituiert. Würde man den Schlußantrag zur Voraussetzung eines Urteils machen, so könnte der Staatsanwalt durch sein Weigerungsver-
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Kleinknecht ¡Meyer, § 258 StPO Rdn. 10 und 33; ebenso LöwejRosenberg}Gollmt^er, § 258 StPO Rdn. 16, 54, 56; KMR-Paulus, § 258 StPO Rdn. 9 und 35; OLG Düsseldorf NJW 1963, 1167; OLG Zweibrücken OLGSt. StPO §258 Nr. 1. KK-Hürxtbal, § 258 StPO Rdn. 8. Zu diesem Ergebnis gelangt auch Bohnert, Beschränkungen der strafprozessualen Revision durch Zwischenverfahren, 1983, S. 112 ff, 115, von seinem grundsätzlich anderen Ausgangspunkt, wonach nur vom Gericht begangene Verfahrensfehler die Revision begründen können. BGH, Urteil v. 23. April 1974 - 5 StR 41/74 - hat die Frage dahingestellt gelassen. Löwe/Holenberg!Gollmt^er, § 258 StPO Rdn. 16.
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halten jede von ihm für notwendig gehaltene Fortsetzung der Beweisaufnahme — jenseits des Beweisantragsrechts — erzwingen 26 . Erhält der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft gemäß § 258 Abs. 1 StPO das Wort zu Ausführungen und Anträgen, so kann es unter dem Gesichtspunkt eines revisiblen Rechtsfehlers nicht darauf ankommen, was er ausführt. Insbesondere kann es nicht Voraussetzung des Verfahrensfortgangs sein, daß der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft in seinem Schlußvortrag, wie es seine Pflicht ist, einen bestimmten Antrag stellt 27 . Wenn er die Sache für noch nicht urteilsreif hält und deshalb statt eines Urteils weitere Beweiserhebung, auch Aussetzung der Verhandlung oder vorläufige Verfahrenseinstellung nach Vorschriften der §§ 153 ff StPO beantragt 28 , so hatte er doch das Wort nach § 258 Abs. 1 StPO. Unschädlich ist es schließlich, wenn der Staatsanwalt bei seinem Schlußvortrag — etwa versehentlich — in einer Punktesache einen Fall unerörtert läßt oder sonst die Anklage nicht ausschöpft. Daß die Strafprozeßordnung keineswegs voraussetzt, daß der Schlußvortrag auch die Schuldfrage, gar die Straffrage behandelt, zeigen die Fälle, in denen der Staatsanwalt — pflichtgemäß und doch ohne Beschränkungswirkung für die Urteilsfindung — ein Einstellungsurteil oder einen Freispruch beantragt. Wenn nach Stellung der Schlußanträge wieder in die Beweisaufnahme eingetreten wird und die Staatsanwaltschaft danach nicht ausdrücklich erneut Stellung nimmt, greifen zusätzliche Gesichtspunkte ein. Betrifft die erneute Beweisaufnahme allein einen von zwei Mitangeklagten, so besteht für den Staatsanwalt keine Veranlassung, auch seinen Schlußantrag gegen den anderen Mitangeklagten zu wiederholen 29 . Ferner kann nach den Umständen des Einzelfalles das Verhalten des Sitzungsvertreters dahin aufzufassen sein, daß er bei seinem bereits gestellten Antrag und den ihn tragenden Ausführungen verbleibe 30 . Auch wird das Beruhen des Urteils auf dem Unterlassen einer erneuten Stellungnahme regelmäßig dann auszuschließen sein, wenn die erneute Beweisaufnahme — etwa bei bloßer Stellung und Ablehnung von Beweisanträgen der Verteidigung — für den Staatsanwalt erkennbar unergiebig war, so daß ausgeschlossen werden kann, daß der Staatsanwalt seinen Antrag geändert hätte, wenn er zu einer ausdrücklichen Erklärung veranlaßt worden wäre 31 . 26
27
28 29
30 31
K K - H ü r x t h a l , § 2 5 8 StPO Rdn. 8; A G Bad Oldesloe M D R 1976, 776, III. KK-Härxthal, § 258 StPO Rdn. 8; Löwe\Rosenberg\Gollmt?er, § 258 StPO Rdn. 16; a. A . KMK-Pauius, § 258 StPO Rdn. 9; vgl. auch BGHSt. 19, 377, 378. Dazu - das Ergebnis offen lassend - B G H bei Holt^ M D R 1984, 798. BGH, Urteil v. 21. Oktober 1975 - 5 StR 431/75 - , insoweit in B G H S t . 26, 2 1 8 nicht wiedergegeben. BGH, Urteil v. 23. April 1974 - 5 StR 41/74 - . BGH, Urteil v. 12. Mai 1981 - 5 StR 188/81
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III. Der verhinderte Staatsanwalt Zumal das Thema des befangenen bzw. ausgeschlossenen Staatsanwaltes in allerjüngster Zeit von Pfeiffer32 und von Tolksdorß3 jeweils ausführlich behandelt worden ist, sollen hier lediglich drei Einzelprobleme aus diesem Zusammenhang angesprochen werden, die den als Zeugen vernommenen bzw. zu vernehmenden Staatsanwalt betreffen. 1. Heute ist anerkannt, daß die weitere Mitwirkung des als Zeuge vernommenen Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft die Revision nicht ohne weiteres begründet, daß vielmehr mancherlei Ausnahmen bestehen. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit das NichtVorliegen dieser Ausnahmen entweder zur Begründung der Gesetzesverletzung im Sinne des § 337 StPO erforderlich ist oder aber der Beruhensfrage im Sinne des § 337 Abs. 1 StPO zuzurechnen ist. Da alle tatsächlichen Voraussetzungen eines Verfahrensfehlers durch den Revisionsführer vorgetragen werden und bewiesen sein müssen, ein Vortrag zur Beruhensfrage dagegen nicht erforderlich ist, hat die entsprechende Zuordnung erhebliche praktische Bedeutung für das Revisionsverfahren. Die Rechtsprechung hat insofern eine bemerkenswerte Entwicklung genommen. Das Reichsgericht erklärte es für ausnahmslos unstatthaft, daß der als Zeuge vernommene Staatsanwalt anschließend wieder die Funktion des Sitzungsvertreters wahrnimmt. Zur Begründung wurde angeführt, daß solches der gesetzlichen Stellung des Staatsanwaltes widerspreche. Es sei „geradezu ausgeschlossen", daß der als Zeuge vernommene Staatsanwalt in den Schlußausführungen in objektiv unbefangener Weise die Glaubwürdigkeit der Zeugen und das Gewicht ihrer Aussagen erörtern könne, wenn seine eigene Person und seine eigenen Aussagen in Frage stünden34. Freilich ging das Reichsgericht nicht so weit, in einem Verstoß gegen diese Regeln den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO zu finden35, was Meyer als wenig folgerichtig bezeichnet 36 . Vielmehr nahm das Reichsgericht stets einen Revisionsgrund nach § 337 StPO an und prüfte entsprechend die Beruhensfrage, übrigens mehrfach mit negativem Ergebnis 37 .
32
33 34
35 36
37
Pfe'ffer> Zur Ausschließung und Ablehnung des Staatsanwaltes im geltenden Recht, Festschrift für Kurt Rebmann, 1989, S. 359 ff. Tolksdorf, Mitwirkungsverbot für den befangenen Staatsanwalt, 1989. So grundlegend RGSt. 29, 236; ferner RG J W 1925, 1403 und 1933, 523; GA 67, 436 und 71, 92; Recht 1926, 225 Nr. 717; L Z 1926, Sp. 832. So ausdrücklich R G J W 1924, 1761, 1762 und GA 71, 92, 93. Alsberg!NüsejMeyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl. 1983, S. 178; Löwe/ Rosenberg!Meyer, 23. Aufl. 1976, vor § 48 StPO Rdn. 25. So in den Fällen R G GA 71, 92, 93; R G J W 1924, 1762, 1763 und J W 1933, 523.
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Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs knüpft an die vom Reichsgericht entwickelten Grundsätze an. Jedoch sind zweierlei kontinuierliche Linien einer Fortentwicklung zu erkennen. Die eine Linie betrifft die zunehmende Anerkennung von Ausnahmen gegenüber dem Grundsatz der Unzulässigkeit der weiteren Mitwirkung des zeugenschaftlich vernommenen Staatsanwaltes. Zunächst wurde als Ausnahme der Fall anerkannt, daß der Staatsanwalt bloß über einen rein technischen, mit seiner Tätigkeit als Sachbearbeiter notwendig verbundenen Vorgang vernommen worden war und er die von ihm bekundeten Vorgänge nicht selbst zu würdigen brauchte 38 . Dies wurde auf die Fälle erweitert, in denen der Aussagegegenstand nicht in unlösbarem Zusammenhang mit dem im übrigen zu erörternden Sachverhalt steht und Gegenstand einer abgesonderten Betrachtung und Würdigung sein kann 39 . Die andere Linie stellt sich als Verlagerung der sich innerhalb des § 337 StPO ergebenden Probleme dar. Wurden die Ausnahmen zunächst noch weitgehend unter dem Gesichtspunkt der Beruhensfrage behandelt 40 , so werden sie heute ständig der Frage zugeordnet, ob überhaupt eine Verletzung des Gesetzes vorliegt 41 . Dabei ist es nur eine sprachliche Konsequenz, daß das NichtVorliegen der beachtlichen Ausnahmen als positive Voraussetzung eine Verhinderung des Staatsanwaltes und ggf. eines Verfahrensfehlers formuliert wird 42 . Auf dieser Grundlage kann allein aus der Tatsache, daß der als Zeuge vernommene Staatsanwalt weiterhin Sitzungsdienst geleistet, gar den Schlußvortrag gehalten hat, noch kein Vorliegen eines Verfahrensfehlers abgeleitet werden. Ein solcher kann vielmehr erst nach Ausschließung aller in Betracht kommenden Ausnahmen angenommen werden. Dies hat Einfluß auf die nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO an das Revisionsvorbringen zu stellenden Anforderungen und den entsprechenden Beweis. Das NichtVorliegen derjenigen Umstände, die eine der genannten Ausnahmen begründen würden, muß vorgetragen und bewiesen sein, wenn eine entsprechende Rüge Erfolg haben soll. Es muß hingenommen werden, daß dies zu hohen Anforderungen führt, wenn etwa mehrere Angeklagte wegen verschiedener Taten verurteilt worden sind 38 39
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BGH St. 14, 265, 267 m. N. der früheren Rspr. BGHSt. 21, 85, 90; kritisch dazu Hanack, JR 1967, 229, 230; zuletzt BGHR StPO § 24 Staatsanwalt 3 mit ausdrücklicher Skepsis gegenüber der ständigen Rspr. BGHSt. 14, 265, 268; vgl. auch BGH bei P f e i f f e r und Miebach NStZ 1984, 14f und BGH, Urteil v. 6. Mai 1976 - 2 StR 709/75 - . BGHSt. 21, 85, 89; BGH, Urteil v. 18. Mai 1976 - 5 StR 529/75 - ; BGH, Urteil v. 20. Juli 1976 - 1 StR 327/76 - ; BGH NStZ 1983, 135; zuletzt BGHR StPO § 24 Staatsanwalt 2. Z. B. BGH, Urteil v. 18. Mai 1976 - 5 StR 529/75 - ; BGH StV 1989, 240; zuletzt BGHR StPO § 24 Staatsanwalt 2.
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und neben dem zeugenschaftlich gehörten Staatsanwalt weitere Staatsanwälte mitgewirkt, insbesondere den Schlußvortrag untereinander aufgeteilt haben 43 . 2. Wie die Staatsanwaltschaft als hierarchisch strukturierte Behörde ihre Informationen intern fließen läßt, ist der Revision regelmäßig nicht zugänglich. Das gilt zunächst bei Wechsel des Sitzungsvertreters, zudem für das Verhältnis zwischen mehreren gleichzeitig anwesenden Sitzungsvertretern (§ 227 StPO). Unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Tätigkeit eines wegen zeugenschaftlicher Vernehmung verhinderten Staatsanwaltes kommt es immer nur darauf an, ob und inwieweit dieser in der Hauptverhandlung durch Erklärungen, Stellungnahmen und Anträge nach außen auftritt und damit das Gericht beeinflussen kann. Seine Anwesenheit am Sitzungsplatz der Staatsanwaltschaft und seine Kommunikation allein mit den weiteren Sitzungsvertretern ist insofern bedeutungslos. Nicht etwa kann angenommen werden, daß der verhinderte Staatsanwalt seine persönliche Disqualifizierung durch die interne Weitergabe von Informationen an andere Staatsanwälte auf diese überträgt 44 . Wenn Schlächter ein ähnliches Ergebnis aus der Verteilung der „Verantwortung" unter den Staatsanwälten herleitet 45 , so ist dem mit der Maßgabe zuzustimmen, daß jeder Staatsanwalt in dem obigen Sinne die „Verantwortung" für die von ihm abgegebenen Äußerungen trägt. Abzulehnen ist dagegen jede Konstruktion, die darauf hinauslaufen würde, daß der wegen zeugenschaftlicher Vernehmung verhinderte Staatsanwalt mit vermeintlich neuen Rechten ausgestattet würde. Dies gilt insbesondere für den Vorschlag Doses, daß der hinzutretende Sitzungsvertreter „seine Befugnisse" auf den verhinderten Staatsanwalt „übertragen" solle 46 . Auch Unterschiede in Dienstrang oder Dienstalter sind hier nicht fruchtbar zu machen 47 . Kraß gesagt, könnte sonst der erste Beamte der Staatsanwaltschaft durch eine Kompetenzübertragung die Verhinderung des vernommenen Staatsanwaltes beliebig beseitigen. Auch eine Wiederholung der von dem verhinderten Staatsanwalt gestellten Anträge durch einen anderen Staatsanwalt genügt nicht, um den zunächst geschehenen Verfahrensfehler wirkungslos zu machen 48 . 3. Ein neuer Aspekt der Probleme um den Staatsanwalt als Zeugen ist durch eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1987 49 43 44 45 46
47 48 49
BGH, Urteil v. 25. Oktober 1983 - 5 StR 736/82 - . A. A. Tolksdorf (Fn. 33), S. 117—120, mit Bedenken insbes. gegen das „Soufflieren". Schlächter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rdn. 66.2 (S. 65). Dose, NJW 1978, 349, 353; BGH, Urteil v. 25. Oktober 1983 - 5 StR 736/82 bezeichnet solche Übertragung als bedenklich. So aber Dose (Fn. 46). BGHR StPO § 24 Staatsanwalt 2. BGHR StPO § 58 Abs. 1 Anwesenheit 1.
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eröffnet worden, nämlich der Gesichtspunkt des § 58 Abs. 1 StPO. In dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall waren zunächst ein Zeuge und später der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft zeugenschaftlich zum gleichen Beweisthema vernommen worden. Der Bundesgerichtshof bestätigt in der genannten Entscheidung zunächst die ständige Rechtsprechung, daß § 58 Abs. 1 StPO nur eine Ordnungsvorschrift ist, auf deren Verletzung die Revision nicht (unmittelbar) gestützt werden kann, daß die ermessensfehlerhafte Anwendung der Vorschrift die Revision jedoch dann begründen kann, wenn zugleich gegen andere Vorschriften, insbesondere die Pflicht zur Wahrheitserforschung verstoßen worden ist. Der alsdann vom Bundesgerichtshof ausgesprochene Rechtssatz, daß der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft von der Bestimmung des § 58 Abs. 1 StPO nicht ausgenommen ist, ist — soweit ersichtlich — zuvor in der Rechtsprechung nicht zu finden. Meyer50 stimmt ihm in aller Knappheit zu. Die praktischen Auswirkungen dieser Anwendung des § 58 Abs. 1 StPO auf den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft werden vom Bundesgerichtshof freilich erheblich beschränkt. Danach wäre Voraussetzung für eine erfolgreiche Rüge, daß das Gericht „durch die Anwesenheitszulassung" des Staatsanwaltes während der Anhörung des Angeklagten zur Sache und der Vernehmung des Zeugen gegen die Pflicht zur Wahrheitserforschung verstoßen hätte. Wie der Bundesgerichtshof weiter ausführt, genügt dazu nicht ohne weiteres, daß beide Zeugen zu demselben Beweisthema gehört werden sollten. Vielmehr kommt es darauf an, ob Grund zu der naheliegenden Besorgnis bestand, der als Zeuge vernommene Staatsanwalt werde seine Aussage nach dem von dem Vorzeugen Bekundeten richten und hierdurch würden seine Angaben nicht mehr der Wahrheit entsprechen. Trotz dieser Einschränkungen sind gegen diese vom Bundesgerichtshof eingeleitete und von Meyer gebilligte Entwicklung Bedenken anzumelden. Weder historische noch wortlautorientierte Auslegung sprechen dafür, daß zu den in § 58 Abs. 1 StPO gemeinten Zeugen der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft zählt, wenn er denn ausnahmsweise in die Rolle eines Zeugen gerät; denn die Strafprozeßordnung enthält keine Regelungen dieser Doppelrolle. Zur Beschreibung der Stellung der Staatsanwaltschaft ist zurückzugreifen auf die eingangs dieses Beitrags zitierten Worte Meyers, wonach die Staatsanwaltschaft ein dem Gericht gleichgeordnetes Organ der Strafrechtspflege ist. Ihr Anwesenheitsrecht und ihre Anwesenheitspflicht ergeben sich aus § 226 StPO. Zu erinnern ist an die Worte des Reichsgerichts, wonach der Zeuge
50
Kleinknecbt] Meyer, § 58 StPO Rdn. 3.
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unter der Botmäßigkeit des Gerichtes steht, der Staatsanwalt dagegen zu selbständiger Mitwirkung berufen ist 51 . Aus dieser eigenartigen hoheitlichen Stellung läßt sich wohl ein Argument dafür herleiten, daß der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, wenn er ausnahmsweise in die Zeugenrolle gerät, nicht der Vorschrift des § 58 Abs. 1 StPO unterfallt. Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß die entsprechenden Rechte nur der Staatsanwaltschaft als Behörde, nicht aber dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung zukämen. In der Verhandlung ist der Sitzungsvertreter Repräsentant seiner Behörde und mit allen ihr in der Hauptverhandlung zustehenden Rechten und Pflichten versehen. Der Vergleich mit den Rechten anderer Verfahrensbeteiligter liefert zusätzliche Argumente. Der Nebenkläger ist nach § 397 Abs. 1 Satz 1 StPO, auch wenn er als Zeuge vernommen werden soll, was fast ausnahmslos der Fall ist, zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung berechtigt. Der Bundesgerichtshof rechtfertigt ein Zurückbleiben der Rechte des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft in diesem Punkt gegenüber den Rechten des Nebenklägers damit, daß der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft im Gegensatz zum Nebenkläger ersetzt werden kann. Indes erscheint es naheliegend, darauf abzustellen, daß der Nebenkläger sich jederzeit — insbesondere auch dann, wenn er nicht im Sitzungssaal anwesend ist — durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen kann (§ 378 Satz 1 i. V. m. § 397 Abs. 1 Satz 2 StPO). Angesichts dessen, daß es in erster Linie um die Wahrnehmung prozessualer Rechte geht, dürfe die Unterscheidung zwischen Ersetzung und Vertretung hintanstehen können. Die Anwendbarkeit des § 58 Abs. 1 StPO auf den als Zeugen zu hörenden Verteidiger ist zwar umstritten 52 . Man wird jedoch anzunehmen haben, daß seine Rechte und Pflichten als Rechtspflegeorgan der Ordnungsvorschrift des § 58 Abs. 1 StPO vorgehen 53 und daß für den Sitzungsstaatsanwalt kaum Minderes gelten kann. Für den Sachverständigen, der auch als Zeuge vernommen werden soll, gilt nach heute einhelliger Ansicht § 58 Abs. 1 StPO nicht 54 . Zudem sprechen mehrere verfahrenspraktische Gesichtspunkte gegen die Anwendung des § 58 Abs. 1 StPO auf den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft. Je umfangreicher und komplizierter die Strafsache ist, desto sachdienlicher ist die Mitwirkung des ermittelt habenden und 51 52 53
54
RGSt. 29, 236, 237. Löwe\Rosenherg\Gollrvityer, § 243 StPO Rdn. 28 m. N. Wie Fn. 52; im Erg. ebenso LöwejRosenhergjDahs, vor § 48 StPO Rdn. 31; Kleinknecht/ Meyer, vor § 48 StPO Rdn. 18 und § 243 StPO Rdn. 8. Löwe ¡ Hasenbergl Dahs, § 80 StPO Rdn. 9 m. N.
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sachkundigen Staatsanwaltes als Sitzungsvertreter in der Hauptverhandlung 55 . Allem Anschein nach korreliert damit die Häufigkeit der beweisantraglichen Benennung eben dieses Staatsanwaltes als Zeuge. Bislang konnten die Gerichte eingedenk der Rechtsprechung zum als Zeuge vernommenen Staatsanwalt ihr Augenmerk darauf richten, ob der (ggf. neben weiteren Staatsanwälten wirkende) Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft nach seiner zeugenschaftlichen Vernehmung seine nunmehr begrenzten Befugnisse einhielt. Naheliegenderweise haben die Gerichte auch die in Betracht kommende zeugenschaftliche Vernehmung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft — insbesondere in Großverfahren bei sehr früh gestellten Beweisanträgen auf zeugenschaftliche Vernehmung des sachbearbeitenden Staatsanwaltes — bis zu dem Hauptverhandlungszeitpunkt hinausgeschoben, in dem die Erforderlichkeit der Vernehmung dieses Staatsanwaltes sicher beurteilt werden kann, und damit den sachkundigen Staatsanwalt der Hauptverhandlung lange erhalten. Die Anwendung des § 58 Abs. 1 StPO auf den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft verlegt den kritischen Zeitpunkt weit nach vorne, ohne daß sicher gesagt werden könnte, wo dieser liegt. Es besteht nämlich große Unsicherheit darüber, ab welchem Grad der Konkretisierung der Zeugenrolle die Vorschrift des § 58 Abs. 1 StPO greift, ab wann also eine Person Zeuge im Sinne der genannten Regelung ist. In Betracht kommen theoretisch der Zeitpunkt der Benennung in einem Beweis- oder Beweisermittlungsantrag, (schwer greifbare) Konkretisierungen durch das bisherige Beweisergebnis, schließlich Beschlüsse oder Ladungsverfügungen des Gerichts 56 . Bei alledem kommt folgende praktische Schwierigkeit hinzu. Hat der Staatsanwalt als Zeuge ausgesagt, so kann das Gericht die Bedeutung seiner Aussage — insbesondere unter dem Gesichtspunkt seiner nunmehrigen Verhinderung — unschwer beurteilen. In der Situation, nach § 58 Abs. 1 StPO entscheiden zu müssen, ob der Staatsanwalt als Zeuge zu einem bestimmten Beweisthema zu hören sein wird, hat das Gericht in frühem Stadium der Hauptverhandlung regelmäßig nur unvollständige Anhaltspunkte und ist auf eine entsprechend unsichere Prognose der Verfahrensentwicklung angewiesen. Schließlich spricht der Bundesgerichtshof in der genannten Entscheidung 57 von der gerichtlichen „Anwesenheitszulassung" des betreffenden Staatsanwaltes während der Vernehmung eines Zeugen. Indes sind die Befugnisse des Gerichts äußerst begrenzt, soweit es darum geht, 55
56 57
Geier, Urteilsanmerkung, LM Vorb. zu § 48 StPO (Zeuge) Nr. 2; KK-Pelchen, vor § 48 StPO Rdn. 11; Hanack, JR 1967, 229, 230; BGHSt. 21, 85, 90. Vgl. BGHSt. 3, 386. BGHR StPO § 58 Abs. 1 Anwesenheit 1.
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darauf Einfluß zu nehmen, welcher Staatsanwalt als Sitzungsvertreter in der Hauptverhandlung auftritt. Nach herrschender Meinung hat das Gericht einzig die Möglichkeit, beim Leiter der Staatsanwaltschaft eine Entscheidung nach § 145 Abs. 1 G V G anzuregen58. Selbst wenn § 58 Abs. 1 StPO auch für den Staatsanwalt gilt, erscheinen erhebliche Zweifel angebracht, ob diese Vorschrift dem Gericht die Kompetenz verleiht, einen Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft aus dem Saal zu weisen. Erneut ist an die eingangs dieses Beitrags zitierten Worte Meyers zu erinnern. Nur bei Annahme solcher Kompetenz könnte die Anwesenheit des Staatsanwaltes dem Gericht als „Zulassung" zugerechnet werden.
IV. Schlußbemerkung Vorstehend konnten nur einige der denkbaren staatsanwaltlichen Verfahrensfehler aus der Hauptverhandlung angesprochen werden. Folgende ausgespart gebliebene, besonders markante Fallgruppen seien unter dem Gesichtspunkt der etwaigen Bewirkung gerichtlicher Fehler immerhin erwähnt. Verstöße gegen § 226 StPO lösen den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO aus. Geht man mit der herrschenden Meinung davon aus, daß eine in den Begriffen des § 24 Abs. 2 StPO gedachte „Befangenheit" des Staatsanwaltes mit der Revision nicht geltend gemacht werden kann 59 , so bleibt lediglich die Frage, ob eine solche „Befangenheit" des Staatsanwaltes eine Befangenheit der Richter auslösen kann. Wohl läßt sich in allen Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft mit dem Gericht unter Ausschließung der Verteidigung über eine „Absprache" des Ergebnisses der Hauptverhandlung Gespräche führt, eine Befangenheit der Richter erkennen 60 . Daneben stehen die Fälle, in denen das Gericht, insbesondere der Vorsitzende, auf verfahrensfehlerhaftes Verhalten des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft nicht wie geboten reagiert, insbesondere nicht den Staatsanwalt in seinem prozeßordnungswidrigen Tun hindert 61 . In derartigen Fällen wird eine Befangenheit der Berufsrichter nur äußerst selten anzunehmen sein. Der mit Verfassungsrang ausgestattete, in jüngster Zeit in den Vordergrund gerückte und gar zu einem autonomen revisionsrechtlichen Instrument gemachte Gesichtspunkt des Gebotes eines
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Lött/ejRosenberg\ Wendisch, vor § 22 StPO Rdn. 14 und zuletzt Pfeiffer (Fn. 32), S. 366 f je m. N. Zuletzt Pfeiffer (Fn. 32), S. 375 f und Tolksdorf {Fn. 33), S. 123 ff je m. N. Z. B. B G H , Urteil v. 21. März 1984 - 2 StR 634/83 - ; B G H N S t Z 1985, 37. Z. B. B G H , Urteil v. 30. März 1983 - 2 StR 173/82 - .
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fairen Verfahrens 62 wird bei Betrachtung von Verfahrensfehlern in der Hauptverhandlung stets auf das Gericht als Träger der revisionsrechtlich bedeutsamen Entscheidungen zurückführen, ist dieses doch als Herr des Hauptverfahrens für die Einhaltung des Verfahrensrechts selbständig verantwortlich. In Einzelfällen wird sich gar der Gedanke fruchtbar machen lassen, daß das Gericht auch gegenüber der Staatsanwaltschaft eine Fürsorgepflicht hat 63 . Überschaut man danach jedenfalls summarisch die Verfahrensfehler, die die Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung begehen kann, so ergibt sich folgendes Bild: Mit einer einzigen Ausnahme führen wohl alle Fehler der Staatsanwaltschaft — bei unterschiedlichsten rechtlichen Konstruktionen — zu Verfahrensfehlern, die auch solche des Gerichts sind 64 . Die einzige Ausnahme bildet die unzulässige Mitwirkung des verhinderten Staatsanwaltes. Dieses Phänomen kann wohl nur damit erklärt werden, daß die Bestimmung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft allein Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Selbstorganisation und daher eine Insel alleiniger Verantwortlichkeit der Staatsanwaltschaft im gerichtlich beherrschten Hauptverfahren ist.
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Dazu zuletzt BGHSt. 36, 210 und 305. Alsberg!NüsejMeyer (F n - 36), S. 399 m. N.; Pfeiffer (Fn. 32), S. 366 f. Dies korrespondiert — bei aller Unterschiedlichkeit des Ansatzes und mit der genannten Ausnahme — in gewisser Weise mit der Ansicht Bohnerts (Fn. 24).
Aufklärungspflicht — Beweisantragsrecht — Beweisantrag — Beweisermittlungsantrag GERHARD
HERDEGEN
I. 1. Aufklärungsgebot (Instruktionsmaxime, Ermittlungs- oder Untersuchungsgrundsatz — § 244 Abs. 2 StPO) und Beweisantragsrecht (§ 244 Abs. 3 bis 6; § 245 StPO) gingen verschlungene Pfade, sind das Ergebnis einer Entfaltung aus keimhaften Ansätzen. Der heute erreichte Stand kann und wird nicht das „letzte Wort" sein. Auf neue Herausforderungen und neue Einsichten werden neue Antworten gegeben werden müssen. Unser Thema ist nicht die weitere Entwicklung des Instrumentariums zur Gewinnung des Stoffes, aus dem der Richter jene Lebenskonkreta nachformt, für die von der Strafprozeßordnung der Begriff „Tat" (§ 264 Abs. 1) verwendet wird und aus dem auch Aussagen über den, der etwas „tat", erlangt werden sollen. Wir befassen uns mit Tendenzen der Regression, mit Versuchen, den Bereich des Beweisantrags zugunsten des Beweisermittlungsantrags zu beschneiden. Die Vorteile einer Reduktion scheinen auf der Hand zu liegen: Die Möglichkeiten zu abstrakter, vorweggenommener Beweiswürdigung nehmen zu; § 244 Abs. 6 StPO gilt nicht (was stattdessen gilt, ist eine noch immer unterschiedlich beantwortete Frage) 1 ; die revisionsgerichtliche Kontrolle der Handhabung des Beweisantragsrechts ist aus verschiedenen Gründen effektiver als die Kontrolle der Beachtung des Aufklärungsgebots. Weil der Beweisermittlungsantrag die Aufklärungspflicht des Gerichts anspricht, in ihren Rahmen gehört, ist es erforderlich, zuerst auf Entwicklung und Stand der Instruktionsmaxime und auf ihr Verhältnis zum Beweisantragsrecht einzugehen. 2. Die Opposition vieler Tatrichter gegen das Beweisantragsrecht läßt sich auf zwei Gründe zurückführen, zwischen denen ein Zusammenhang besteht. Der eine Grund erwächst aus forensischer Erfahrung: Das Beweisantragsrecht wird nicht selten mißbraucht, der Beweisantrag als 1
Vgl. A/sbergjNüsejAiejer, Der Beweisantrag im Strafprozeß 5. Aufl. (1983) S. 89 f; K K 2. Aufl. § 244 Rdn. 54; Abschnitt I. 6. des Textes.
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Gerhard Herdegen
Mittel der Verfahrensverzögerung, der Verfahrenssabotage, des Aushandelns von Prozeßlagen und Prozeßergebnissen eingesetzt. § 244 Abs. 3 StPO ermöglicht tatsächlich oder scheinbar (das ist eine nicht zuletzt von der Beherrschung der Regeln, die Alsberg „Kampfesregeln" nennt 2 , abhängige Alternative) nur unzulänglich die Abwehr des Mißbrauchs. Die Instrumentalisierung des Beweisantrags zu Zwecken, die jenseits des berechtigten Verteidigungsinteresses liegen und die (tatsächliche oder vermeintliche) Unzulänglichkeit des Reaktionspotentials lassen das Beweisantragsrecht als ein die Effektivität der Strafrechtspflege gefährdendes Element erscheinen. Der andere Grund liegt in der Vernachlässigung der Frage, wie es zur Ausformung des Beweisantragsrechts in der Judikatur des Reichsgerichts kam. Wer dieser Frage nachgeht, wird feststellen, daß die Strafsenate des Reichsgerichts anhand des Anschauungsmaterials, das die ihnen unterbreiteten Fälle boten, sehr rasch zwei Einsichten erlangten. Die eine ging dahin, daß der Angeklagte in aller Regel unzulässig in seiner Verteidigung beschränkt wird, wenn das Tatgericht annimmt, es könne die Aussage eines vernommenen Belastungszeugen für so überzeugend halten, daß es einer davon abweichenden Aussage eines vom Angeklagten benannten Entlastungszeugen von vornherein keinen Glauben zu schenken und ihn deshalb gar nicht erst anzuhören brauche (RGSt. 1, 189, 190). Die andere Einsicht ging dahin, daß der Grundsatz der freien Beweiswürdigung die vollständige Erfüllung der Pflicht, die materielle Wahrheit zu erforschen, voraussetzt. Daraus folge, sagte das Reichsgericht, „insbesondere auch", daß ein vom Angeklagten über wesentliche Punkte in zulässiger Weise angetretener Beweis zu erheben sei (RGRspr. 6, 453, 454). Die eine Einsicht verschaffte dem Erfahrungssatz Geltung, daß — von Ausnahmen abgesehen — der Wert eines Beweismittels erst beurteilt werden kann, wenn der Beweis erhoben worden ist, daß infolgedessen dem erhobenen Beweis nicht der Vorzug vor dem beantragten Gegenbeweis oder Beweis des Gegenteils gegeben werden darf 3 . Die andere Einsicht trägt dem Wechselspiel der Beweisprinzipien 4 Rechnung: Die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit und die Befugnis zur freien Beweiswürdigung sind aufeinander bezogen, aber nicht in dem Sinne, daß die Befugnis die Pflicht bemessen darf, sondern in dem Sinne, daß die Ausübung der Befugnis dort nicht gebilligt werden kann, wo sie (möglicherweise) zu einem Vorurteil führt, weil das Bemühen um die adaequatio von res und intellectus vorzeitig endete. 2 3 4
Alsberg) Niisej Meyer aa° s- IXAlsberg/Nüse/Meyer aa® S. 411. Kunert GA 1979, 401; Herdegen NStZ
1984, 97.
Aufklärungspflicht/Beweisantragsrecht/Beweisantrag/Beweisermittlungsantrag 1 8 9
Der Richter rekonstruiert den Tatvorgang in Gestalt von Vorstellungsinhalten, die er im Urteil darlegt, und er würdigt, was er selbst rekonstruiert hat. Die Qualität seiner Wertung hängt von der Qualität des Objekts der Wertung ab. Wer Freiheit des Richters schon bei der Rekonstruktion fordert, verzichtet auf eine entscheidende Sicherung der Qualität der Wertung 5 . Nicht erst bei der Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme droht die Gefahr, daß, um die Dinge konsonant zu machen, Kontraindizien unterschätzt oder vernachlässigt werden. Sie droht schon bei der Sammlung des Beweisstoffes. Es ist bemerkenswert, daß schon im Laufe des zur StPO hinführenden Gesetzgebungsverfahrens erkannt wurde, daß — wie der Referent bei der zweiten Beratung im Plenum des Reichstags formulierte — „eine freie Beweiswürdigung kaum denkbar ist, wenn man sich darauf einlassen will, dem Gericht nachzulassen, daß es den Umfang der Beweise bestimme. Es ist Sache der Parteien, welche Beweise sie dem Richter vorführen. Die Parteien haben zu ermessen, ob und inwieweit sie glauben, in der Vermehrung der Beweismittel eine Unterstützung ihres Begehrens sich zu verschaffen" 6 . Aus diesen Erwägungen heraus wurde in die Erstfassung der StPO (§ 244 Abs. 1) die Bestimmung aufgenommen, daß „die Beweisaufnahme auf die sämtlichen vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen sowie auf die anderen herbeigeschafften Beweismittel zu erstrecken" sei. Diese Bestimmung, die allerdings nicht für Verhandlungen vor den Schöffengerichten und für Berufungsverhandlungen vor den Landgerichten in Übertretungs- und Privatklagesachen galt, ermöglichte den Verfahrensbeteiligten eine „autonome Beweisvorführung" 7 .
3. Die Einsicht, daß zwischen erhobenen und beantragten Beweisen Chancengleichheit bestehen, grundsätzlich davon ausgegangen werden muß, daß (in der Anklage aufgestellte) Behauptungen, die des Beweises bedurften, durch den Beweis des Gegenteils widerlegt oder durch den Beweis von Kontraindizien entkräftet werden können, daß sich infolgedessen einem Beweisbegehren nicht ein „alea iacta est" entgegensetzen läßt, führte nicht nur zum Verbot der Beweisantizipation 8 , sondern zur Ausgestaltung des gesamten Beweisantragsrechts. Denn mit der Regel trat die Frage nach den Ausnahmen, von denen schon in RGSt. 1, 189 (190) die Rede war, auf den Plan. Die Frage lautete: Welche Ableh5
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Kunert aaO S. 413: „Etwas überspitzt könnte man geradezu sagen: Je freier die Würdigung, desto gebundener muß die Präsentation der Beweismittel sein." Hahn, Materialien zur StPO 2. Aufl. S. 1900. Köhler NJW 1979, 348. Judikatur in Auswahl: RGSt. 46, 383, 384; 47, 100, 105; 63, 329, 332; BGHSt. 35, 159, 164 f; BGH NJW 1966, 1524; BGH StV 1986, 418, 419.
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nungsgründe gibt es, die dem Verbot der Beweisantizipation nicht widersprechen oder die zwar mit diesem Verbot nicht völlig zu vereinbaren, aber aus Gründen eines geordneten Verfahrensablaufs hinzunehmen sind? So kam es zwangsläufig und folgerichtig zu einem Katalog von Ablehnungsgesichtspunkten. Diesen Katalog übernahm der Gesetzgeber erstmals mit Gesetz vom 28. 6. 1935 (RGBl. I S. 844) — unter Beschränkung seiner Geltung auf Verhandlungen vor den Gerichten, bei denen die Berufung allgemein ausgeschlossen war — und erneut mit Gesetz vom 12. 9. 1950 (BGBl. S. 455). Die Regelung, die wir im geltenden Recht finden, ist eine Widerspiegelung des Katalogs. Unser Beweisantragsrecht wurde praktiziert, längst bevor es Eingang in das Gesetz fand. Es ist eine Schöpfung der Rechtsprechung. 4. Die Erkenntnis, daß das Verbot der Beweisantizipation das Kernstück des Beweisantragsrechts ist, weil in den Grenzen seiner Geltung jeder Beweisantrag zur Beweiserhebung führen muß und infolgedessen nur für Ablehnungsgründe Raum bleibt, die zum Verbot nicht in einem logischen Widerspruch stehen oder die es aus normativen Erwägungen begrenzen, hätte auch Bedeutung für die Pflicht des Gerichts zur Aufklärung der Sache von Amts wegen erlangen können, ja erlangen müssen. Diese Pflicht, in unserem Verständnis „das alles beherrschende Prinzip des Beweisrechts der Strafprozeßordnung und darüber hinaus des ganzen Strafverfahrens" 9 , wird offensichtlich entwertet, wenn das Tatgericht sie mit der Berufung auf eine schon gewonnene Überzeugung auf die Seite schieben kann. Auch das „Wechselspiel der Beweisprinzipien" verlangt, daß die Erforschung der Wahrheit von Amts wegen nicht mit dem Argument, die Überzeugung sei bereits gefestigt, verkürzt wird. Das Reichsgericht ließ lange Zeit die Verkürzung zu. Seine inkonsequente und sich nur langsam wandelnde Judikatur kann nicht damit erklärt werden, daß das Gebot, „zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind" (§ 244 Abs. 2 StPO), in der Strafprozeßordnung des Jahres 1877 keinen eindeutigen Ausdruck gefunden hatte. Denn von Anfang an stand außer Frage, daß in den Vorschriften, die das Gericht bei der Untersuchung der Tat zu einer selbständigen Tätigkeit berechtigten und verpflichteten und ihm aufgaben, nicht nur auf Antrag, sondern auch von Amts wegen Zeugen und Sachverständige zu laden und andere Beweismittel herbeizuschaffen (StPO 1877 § 153 Abs. 2 und § 243 Abs. 3), eine Pflicht des Gerichts zur eigenen Sachaufklärung begründet worden war 10 . Es ' Alsberg) Nüse ¡Meyer aa° S- 19RGSt. 6, 135, 136; 47, 417, 423; RG JW 1916, 1026 Nr. 1; Alsberg/Nüse/Meyer aaO S. 20 Anm. 6.
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waren nicht akzeptable Argumente, die dazu führten, daß Aufklärungsrügen von Angeklagten, die ihr Aufklärungsverlangen nicht in einem Beweisantrag artikuliert hatten, aber auch von Staatsanwaltschaften und Verwaltungsbehörden, erfolglos blieben. Das Reichsgericht vertrat entweder den Standpunkt, es sei Sache des nicht überprüfbaren tatrichterlichen Ermessens, ob ein Beweismittel beigezogen werde (RG J W 1902, 579 Nr. 22) oder es behandelte die Prognose des Tatgerichts, weitere Ermittlungen könnten das zu seiner Überzeugung feststehende Beweisergebnis nicht beeinflussen, als eine „rein tatsächliche Erwägung". Sie müsse, so meinte das Reichsgericht, selbst dann hingenommen werden, wenn das Tatgericht infolge eines Irrtums eine Beweiserhebung unterließ, die „außerordentlich nahe lag" 11 . Eine verallgemeinernde Aussage findet sich in RGSt. 13, 158, 161: „Die konkrete Art, wie das richterliche Ermessen im Sinne der vorbezeichneten Prozeßnormen (gemeint sind § 153 Abs. 2 und § 243 Abs. 3 StPO 1877) waltet, ist an sich nicht geeignet, einen Revisionsgrund abzugeben." Auf diesem Standpunkt konnte das Reichsgericht nicht verharren. Wohl zuerst in Entscheidungen, die sich mit Aufklärungsrügen der Staatsanwaltschaft oder eines Nebenklägers zu befassen hatten, führte es aus, daß der Tatrichter verpflichtet sei, das Sachverhältnis in allen nach der Anklage wesentlichen Beziehungen aufzuklären, daß für diese Pflicht das Verhalten der Verfahrensbeteiligten ohne jede Bedeutung sei und daß es für sie keine Rolle spiele, ob das Beweismittel bereits bekannt (und herbeigeschafft), nur den Akten zu entnehmen oder erst ausfindig zu machen ist 12 . Aber noch immer waren Aufklärungsrügen zum Scheitern verurteilt, wenn das Tatgericht sich mit der Aufklärungsbedürftigkeit eines Umstands ausdrücklich befaßt und sie verneint hatte 13 . Es mag sein, daß die der Bedeutung des Aufklärungsgebots entsprechende Behandlung reiner Aufklärungsrügen von Angeklagten deshalb lange auf sich warten ließ, weil sie Beschränkung der Verteidigung (§ 338 Nr. 8 StPO) rügen konnten, wenn ein von ihnen gestellter Beweisantrag abgelehnt worden war. Endlich, im Jahre 1928, hatte die Aufklärungsrüge einer Angeklagten auf Grund eines Gedankengangs des Revisionsgerichts Erfolg, der sich mit der Frage des Zusammenhangs von klärungsbedürftiger Tatsache (Beweisthematik), Urteilsfeststellungen und Beweiswürdigung des Tatgerichts befaßte (RG J W 1928, Vgl. RGSt. 6, 135, 136; 13, 158, 161; RG J W 1916, 1026 Nr. 1. Vgl. RGSt. 41, 269, 272; 47, 417, 425; RG J W 1928, 2988 Nr. 22 m. Anm. 1929, 859 Nr. 18 m. Anm. Alsberg. " Vgl. RGSt. 47, 417, 425; Alsberg J W 1929, 859. 11
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Reling;
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1506 Nr. 22 m. Anm. Alsberg). Weitere Entscheidungen folgten 14 , die der Rechtsposition der Prozeßbeteiligten gerecht wurden. Aus der Pflicht des Gerichts zur Sachaufklärung von Amts wegen erwächst für sie ein Beweiserhebungsanspruch 15 , dessen Erfüllung keineswegs richterlichem Ermessen überantwortet ist. Er kann auch nicht ohne weiteres durch „rein tatsächliche Erwägungen" illusorisch gemacht und der revisionsgerichtlichen Kontrolle entzogen werden. Schon aus diesem Anspruch folgt, daß die Frage nicht lauten kann und niemals lauten konnte: „Wie soll für das Gericht noch Anlaß bestehen können, den Sachverhalt weiter aufzuklären, wenn es bereits die volle Überzeugung von der Schuld des Angeklagten erlangt hat?" 16 Die Frage, die zu stellen ist, geht dahin, ob das Tatgericht von einer be- oder entlastenden Tatsache (noch) nicht überzeugt sein durfte, weil eine von ihm unberücksichtigt gelassene tat- oder täterbezogene Aufklärungsmöglichkeit vorhanden war, deren Benutzung den Schuldvorwurf möglicherweise widerlegt, abgeschwächt, in Frage gestellt oder als begründet erwiesen hätte. Von dieser Fragestellung geht der Bundesgerichtshof in Fortführung und Fortentwicklung des letzten Standes der reichsgerichtlichen Judikatur aus 17 . Auf Grund einer den Formerfordernissen (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO) genügenden Aufklärungsrüge prüft er die (potentielle) Erheblichkeit einer unterbliebenen weiteren „Erforschung der Wahrheit" mit einem ins Blickfeld des Tatgerichts getretenen oder für das Tatgericht erkennbaren Beweismittel „aus seiner Sicht der Dinge" (BGH NStZ 1985, 324, 325 = bei Holt^ MDR 1985, 629) 18 . Die „Dinge" sind die nicht aufgeklärten Tatsachen (Umstände, Möglichkeiten) und das Bestehen oder Nichtbestehen eines relevanten Zusammenhangs zwischen ihnen, der Beweiswürdigung des Tatgerichts und seinen Feststellungen (BGH aaO). Für die Beurteilung der Relevanz sind zwei Maßstäbe „im U m l a u f : Der eine fordert weitere Aufklärung schon dann, wenn auch nur die „entfernte Möglichkeit" einer sich auf das Verfahrensergebnis auswirkenden Änderung der durch die bisherige Beweisaufnahme begründeten Vorstellungen von dem zu beurteilenden Sachverhalt in 14
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In Auswahl: RGSt. 67, 97; RG JW 1931, 2030 Nr. 19 m. Anm. Alsberg; 1933, 2217, 2219 m. Anm. Wegner; 1937, 1359 Nr. 81 und 1360 Nr. 82. So mit Recht Karlheinz Meyer entgegen Alsberg in Alsberg/Näse/Meyer aaO S. 21. Noch 1929 hielt Reichsanwalt Schneiden/in diese Fragestellung für berechtigt. Vgl. Alsberg\Nüse\Meyer aaO S. 22. Nachweise: K K aaO Rdn. 20. Vgl. BGHSt. 36, 159, 164 f; BGH NStZ 1983, 34; 1985, 420; BGH StV 1989, 467; BGH NStE §244 Nr. 13; BGHR StPO §244 Abs. 2 „Aufdrängen 1/Beweisantrag vor der Hauptverhandlung".
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Betracht kommt 1 9 . Nach dem anderen Maßstab ist weitere Beweiserhebung geboten, wenn dem Tatrichter Umstände oder Möglichkeiten bekannt oder erkennbar sind, „die bei verständiger Würdigung der Sachlage begründete Zweifel an der Richtigkeit der erlangten Überzeugung wecken müssen", falls ein noch nicht ausgeschöpftes Beweismittel vorhanden ist oder ausfindig gemacht werden kann. Mit der „verständigen Würdigung" ist die Beweisprognose des lebenserfahrenen, die Sach- und Beweislage sorgfältig abwägenden Richters gemeint 2 0 .
5. Die Maßstäbe differieren. Macht man mit der Formel ernst, daß die Pflicht zur Sachaufklärung von Amts wegen weitere Beweiserhebungen gebietet, wenn auch nur die entfernte Möglichkeit einer Änderung der durch die bisherige Beweisaufnahme begründeten Vorstellungen in Frage kommt, dann wird das im Beweisantragsrecht geltende Verbot der Beweisantizipation nicht eingeschränkt, sondern erweitert: Nicht immer läßt sich, wenn es um die Bedeutung einer indiziellen Tatsache geht, die entfernte Möglichkeit ausschließen, daß die Dinge sich nach einer Beweiserhebung anders darstellen als bei nur abstrakt-gedanklicher Würdigung einer Beweisbehauptung, der die Überzeugungskraft erwiesener Fakten fehlt 21 . Wann kann auf Grund „sicherer Lebenserfahrung" von vornherein gesagt werden, es bestünde nicht einmal die entfernte Möglichkeit, daß ein dubioses Beweismittel etwas zur Sachaufklärung beizutragen vermag? Als völlig ungeeignet kann es wohl nur in Fällen abqualifiziert werden, in denen dem Beweismittel in Anwendung allgemeingültiger Erfahrungssätze, nicht aber auf Grund einer Würdigung konkret-individueller Umstände, jeder Beweiswert abgesprochen werden kann. Wann dürfte, falls nicht solche Sätze den Inhalt des Anwendungs- und Auswertungswissen bilden, sondern Sachkunde in individueller Ausformung und auf individuellem Niveau, schon auf Grund der Anhörung eines Sachverständigen die entfernte Möglichkeit verneint werden, daß die Anhörung eines weiteren Sachverständigen ein anderes Beweisergebnis erbringen wird? Wann kann unter Berufung auf eigene Sachkunde des Gerichts die wenigstens entfernte Möglichkeit, daß Fachexperten zu einer anderen Ansicht kommen, in Abrede gestellt werden, wenn die zu beantwortende Frage etwas mehr als allgemeines Erfahrungswissen verlangt? Wir brauchen den Faden nicht fortzuspinnen. Endet die Zulässigkeit einer Beweisantizipation schon dort, wo „entfernten Möglichkeiten" Rechnung ge" BGHSt. 23, 176, 188; 30, 131, 143; BGH NStZ 1983, 376, 377; 1985, 324, 325; BGH (4 StR 714/80) bei HoItz MDR 1981, 455. Vgl. auch BGHSt. 10, 116, 118. 20 BGH NJW 1951, 283; BGH NStZ 1985, 324, 325; OLG Hamm NStZ 1984, 462; BayVerfGH NStE § 244 Nr. 42; Herdegen NStZ 1984, 97, 98. 21 Vgl. RGSt. 1, 225, 227.
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tragen werden muß, dann wird man kaum Anlaß haben, die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 StPO, die — weil es das Gesetz so will — den Geltungsbereich des Verbots der Beweisantizipation abstecken und damit das Beweisantragsrecht selbst als eine lästige Fessel anzusehen, die Tatgerichte der Willkür von Advokaten ausliefert. Man wird und darf diese Ablehnungsgründe aus der Überlegung heraus zur Anwendung bringen, daß die Vorschrift des § 244 Abs. 3 StPO eine gesetzgewordene Explikation der richterlichen Aufklärungspflicht (ob von Amts wegen oder auf Antrag) darstellt 22 und deshalb die Frage nach „entfernten Möglichkeiten" in aller Regel sich erübrigt, wenn auf den Katalog dieser Bestimmung zurückgegriffen werden kann. Und man wird und kann in aller Regel die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 4 StPO anwenden, die das Verbot der Beweisantizipation im Hinblick auf Besonderheiten des Sachverständigenbeweises reduzieren: Sachverständige sind (in fast allen Fällen) fungible Beweismittel und es muß — um keinen von ihnen zu diskriminieren — fingiert werden (falls nicht einer der in § 244 Abs. 4 S. 2 Halbs. 2 StPO genannten Gründe der Abqualifikation vorliegt), daß jeder aus dem Kreise derjenigen, deren Sachkunde im Einzelfall gefragt ist, sie besitzt. Würde § 244 Abs. 3 StPO aufgehoben (der Aufhebung des § 244 Abs. 4 StPO wird, soweit ich sehe, von den Kritikern des Beweisantragsrechts nicht das Wort geredet), wäre es zumindest fraglich, ob die Ablehnungsgründe, die von dieser Vorschrift genannt werden, wie in der Judikatur des Reichsgerichts als adäquate Antwort auf die Sachproblematik angesehen und weiterhin angewendet werden dürften. Käme an Stelle dieser Gründe die nicht mehr durch sie konkretisierte Formel von den „entfernten Möglichkeiten" unmittelbar zur Anwendung, wäre — wie ich darzulegen versucht habe — für die Verfechter einer Harmonisierung von Inquisitionsmaxime und Beweisantragsrecht nichts gewonnen. Es sei denn, § 244 Abs. 6 StPO entfiele. Aber eine solche Amputation des Beweisantragsrechts, die nicht einmal aufrecht erhielte, was die StPO in ihrer Erstfassung (in § 243 Abs. 2) bot, braucht nicht diskutiert zu werden. Sie ist für ein Verfahrensrecht, das den Angeklagten in seiner Personwürde achtet, indiskutabel. Auch von den Begründungserfordernissen eines Gerichtsbeschlusses, der einen Beweisantrag ablehnt, läßt sich nichts wegnehmen: Der Antragsteller muß Gründe erfahren, mit denen er sich auseinandersetzen kann und die es ihm ermöglichen, sich auf die durch die Entscheidung über sein Begehren entstandene Prozeßlage einzustellen. Das Revisionsgericht muß in die Lage versetzt werden, den Erwägungen nachzugehen, auf denen 22
Engels GA 1981, 21, 22; Mattern. Die Wahrunterstellung im Strafprozeß (1933) S. 10; Wessels JuS 1969, 1, 4; K K aaO Rdn. 21.
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die Weigerung des Tatgerichts zur Beweiserhebung beruht. Selbst wenn es die Vorschrift des § 244 Abs. 3 StPO nicht gäbe, müßte das Tatgericht in rationaler, intersubjektiv diskutierbarer Begründung darlegen, weshalb es trotz der Pflicht zur Beweisaufnahme, wenn auch nur die entfernte Möglichkeit einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch relevanten Modifikation des Beweisergebnisses besteht, die beantragte Beweiserhebung unterlassen hat.
6. Auch der Maßstab, der nicht auf „entfernte Möglichkeiten" abstellt und den Umfang der vom Aufklärungsgebot geforderten „Erforschung der Wahrheit" von der Beweisprognose des lebenserfahrenen, die Sachund Beweislage sorgfaltig abwägenden Richters abhängig macht, von seinen begründeten Zweifeln angesichts bekannter oder erkennbarer Umstände und Möglichkeiten und seiner vernünftigen Einschätzung dessen, was eine Beweiserhebung an (indiziellen) Fakten und für die Beweiswürdigung erbringen kann, darf das Verbot der Beweisantizipation nicht ignorieren. Immer wieder wird in der neueren Judikatur — mag sie eine Formel verwenden oder nicht — darauf hingewiesen, daß auch im Rahmen der Aufklärungspflicht die Vorwegnahme des Beweisergebnisses nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig sein kann 23 . Negiert man eine Verletzung des Verbots nur, wenn auch die entfernte Möglichkeit einer sich auf die Sachentscheidung auswirkenden Beeinflussung der Beweislage durch die in Betracht kommende Beweiserhebung ausgeschlossen werden kann, genügt der abstrakt-gedankliche, das Unwahrscheinliche einbeziehende Zweifel, um Ermittlungen von Amts wegen auszulösen (vgl. 5.). Stellt man auf den sorgfaltig abwägenden Richter ab, ist weitere Aufklärung nur geboten, wenn sich für das Tatgericht aus der Gesamtheit der die Abwägung bestimmenden Umstände begründete, faktengestützte Zweifel ergeben müssen 24 . Der Richter ist zwar ein individueller Zweifler, aber die Zweifel, um die es hier geht, sind weder eine Frage des Ermessens, noch von „rein tatsächlichen Erwägungen". Es geht um normativ gebotene, bei „verständiger Würdigung der Sachlage" (BGH N J W 1951, 283) sich einstellende Zweifel. Der Umgang mit ihnen muß unter der prospektiven Eigenkontrolle des Tatgerichts stehen. Schon sie verlangt, daß die Ablehnung eines Antrags auf sachverhaltsaufklärende Tätigkeit, der die Umstände (Möglichkeiten) nennt, um die es dem Antragsteller geht und — wenn sonst dunkel bliebe, was getan werden könnte, um einen Aufklärungseffekt zu erzielen — das Beweismittel 23
24
In Auswahl: RGSt. 67, 97, 98 f; RG J W 1931, 2030 Nr. 19 m. Anm. Alsberg; BGHSt. 36, 159, 165; BGH N J W 1966, 1524; BGH (4 StR 714/80) bei Holt^ MDR 1981, 455. BGHSt. 36, 159, 165; BGH NStZ 1985, 324, 325; BayVerfGH NStE § 244 Nr. 42.
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(oder den Weg, der zu ihm führt) aufzeigt, mit Gründen versehen wird. Von „Gründen" kann aber keine Rede sein, wenn das Tatgericht nur behauptet, „die Aufklärungspflicht gebietet keine Beweiserhebung", oder wenn es lediglich seine Antizipation verlautbart: „Selbst wenn der Beweis gelingen sollte, vermöchte er (nach Überzeugung des Gerichts) das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht zu beeinflussen". Eine solche „Begründung" dient nicht der Eigenkontrolle. Sie kann zwischen dem Antragsteller und dem Gericht nicht diskutiert werden, trägt nichts zur Aufhellung der Prozeßlage bei und ist für das Revisionsgericht nichtssagend. Aber die Praxis begnügt sich weitgehend mit Begründungen dieser Art, und die Revisionsgerichte tolerieren sie 25 . Geht man den Dingen auf den Grund, dann bemerkt man, daß häufig die unzulängliche Ablehnung nicht nur verbal die erste Stufe der reichsgerichtlichen Judikatur (vgl. unter I. 4.) widerspiegelt, sondern daß sie auch in der Sache Ausdruck des Beharrens auf dieser Stufe ist. Die Ablehnung eines Antrags auf Beweiserhebung, der die Voraussetzungen eines Beweisantrags (vgl. dazu II. 1.) nicht erfüllt, eines sog. Beweisermittlungsantrags 26 , muß sich mit den für und gegen eine Beweistätigkeit des Gerichts sprechenden Umständen auseinandersetzen. Sie muß den argumentativ akzeptablen (intersubjektiv einsehbaren) Nachweis erbringen, daß die in der Antragsablehnung liegende Antizipation unbedenklich, infolgedessen rechtlich zulässig ist (vgl. BGHSt. 36, 159, 165). Es scheint mir eine sekundäre Frage zu sein, ob man für die Ablehnung eines Beweisermittlungsantrags einen Gerichtsbeschluß fordert oder ob man sich mit einer Entscheidung des Vorsitzenden und der Möglichkeit, gegen sie das Gericht anzurufen (§ 238 Abs. 2 StPO), begnügt. Die Formalisierung so oder so ergibt sich aus den soeben behandelten inhaltlichen Begründungserfordernissen und aus dem mit der Aufklärungspflicht des Gerichts korrespondierenden Beweiserhebungsanspruch (I. 4.) 27 . Auf der Grundlage des geltenden Rechts kann es nicht fraglich sein, daß ein Beweisermittlungsantrag in aller Regel aus den Gründen, die zur Ablehnung eines Beweisantrags berechtigen, abgelehnt werden kann 28 . Aber der auf den lebenserfahrenen, die Sach- und Beweislage sorgfaltig abwägenden Richter abstellende Maßstab gestattet es, über den Kreis dieser Gründe hinauszugehen. Doch wird es im Falle des Hinausgehens — wenn die Beweisthematik nicht nur vage umschrieben ist — eines besonderen argumentativen Aufwands bedürfen, um den 25 26 27 28
KK KK Vgl. KK
aaO Rdn. 54. aaO Rdn. 52. dazu die in Anm. 1 genannte Literatur m. w. N. aaO Rdn. 54.
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Nachweis erbringen zu können, daß die in der Antragsablehnung liegende Antizipation hingenommen werden kann. Fragen wir auch am Schlüsse dieses Abschnitts, wie die Rechtslage wäre, wenn das geltende Recht die Gründe für die Ablehnung eines Beweisantrags nicht abschließend aufzählen würde und nur den Satz enthielte: „Es bedarf eines Gerichtsbeschlusses, wenn ein Beweisantrag abgelehnt werden soll" (so StPO 1877 § 243 Abs. 2). An den argumentativen Erfordernissen und damit an der Argumentationslast des Tatgerichts würde sich weder im Falle des Beweisantrags noch im Falle des Beweisermittlungsantrags etwas ändern, weil diese Erfordernisse sich aus dem Verbot der Beweisantizipation und aus der funktionellen Bedeutung der ablehnenden Entscheidung ergeben. Der Schluß liegt nahe, daß sich, wie in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, wieder ein Kreis von Ablehnungsgründen herauskristallisieren würde, die für sich in Anspruch nehmen dürften, daß sie von Rechts wegen mit dem Verbot der Beweisantizipation nicht kollidieren oder die zulässigen Antizipationen festlegen. Mit Recht sagte schon Graf Dohna im Jahre 1944, ob man die zulässigen Ablehnungsgründe im Stile des § 244 Abs. 3 (und des Abs. 4) StPO ausdrücklich nominiere oder den Umfang der Beweisaufnahme nur unter das Aufklärungsgebot (§ 244 Abs. 2 StPO) stelle, laufe „im wesentlichen auf das gleiche hinaus"29. 7. Die aufgezeigten sachlogischen Zusammenhänge werden von denen, die dem Beweisantragsrecht den Abschied geben möchten, häufig übersehen oder in ihren Konsequenzen unterschätzt. Es wird insbesondere verkannt, daß die Streichung der Ablehnungsgründe das Recht, Beweisanträge zu stellen, den sich schon aus dem Ermittlungsgrundsatz ergebenden Beweiserhebungsanspruch und die Argumentationslast des Gerichts fortbestehen lassen würde. Mit dem Wegfall der Ablehnungsgründe entfiele nur ein Stück Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Weil die schon aus dem Prinzip der materiellen Wahrheit folgende Rechtslage nur unzulänglich bedacht wird, glaubt man, daß dieses Prinzip Beweisantizipationen unter bloßer Berufung auf die schon gewonnene Überzeugung zulasse, werden in der Praxis Beweisermittlungsanträge als unzulässig abgelehnt, weil sie den für Beweisanträge geltenden Kriterien nicht entsprechen, geht man davon aus, daß die Kontrolle der Erfüllung der Aufklärungspflicht nur eine Ermessenskontrolle sei. Auf der anderen Seite werden die „Realien" verbrämt. Man unterstellt, daß Richter, die ihrer Aufgabe völlig gerecht werden, die Instruktionsmaxime handhaben und das ihnen Mögliche tun, um einen optimalen Grad der 29
Das Problem der vorweggenommenen Beweiswürdigung im Strafverfahren. Festschrift für Kohlrausch (1944) S. 319, 334.
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adaequatio von res und intellectus zu erreichen. Diese idealtypische Betrachtung entspricht nicht dem forensischen Alltag. Die Praxis hält sich sehr oft nicht an die Kriterien der „entfernten Möglichkeit" oder des die Sach- und Beweislage sorgfaltig abwägenden Richters, und sie trägt den Begründungserfordernissen nicht Rechnung, die sich aus diesen Kriterien, dem Verbot der Beweisantizipation und dem Beweiserhebungsanspruch ergeben. Man wird ihr nicht vorwerfen können, daß sie es wider besseres Wissen tut. Die Linie der Revisionsgerichte ist unklar, die Ansichten in der Literatur divergieren. Das Fazit unserer Darstellung der Zusammenhänge kann nur lauten: Das geltende Beweisantragsrecht mit seinem Katalog der Ablehnungsgründe, mit der Formalisierung der einen Beweisantrag ablehnenden Entscheidung, mit den argumentativen Qualitäten, die diese Entscheidung aufweisen muß und mit der aus allem resultierenden Dichte der Kontrolle durch die Revisionsgerichte ist unverzichtbar. Das Prinzip der materiellen Wahrheit ist nicht auf dem Stande, der es als akzeptabel erscheinen ließe, den Katalog der Ablehnungsgründe preiszugeben.
II. 1. De lege lata versucht man, tatsächlichem oder vermeintlichem Mißbrauch des Beweisantragsrechts auf verschiedene Weise zu begegnen. Zwei der Wege, die in der Annahme eingeschlagen werden, daß sie methodisch gangbar und rechtlich zulässig sind, wollen wir betrachten. Der eine zielt auf „Anreicherung" der Ablehnungsgründe, die § 244 Abs. 3 StPO nennt, durch eine Generalklausel, der andere auf „Herabstufung" von Beweisanträgen, die zwar den formellen Erfordernissen genügen, denen aber gewisse substantielle Mängel angelastet werden, in Beweisermittlungsanträge und — wie man präsumiert und praktiziert — deren „Erledigung" mit dem Satze, daß „nach Überzeugung des Gerichts kein Anlaß zu der begehrten Beweiserhebung besteht". 2. Die Generalklausel soll es ermöglichen, dem „groben Mißbrauch einer verfahrensrechtlichen Befugnis" entgegenzutreten. Beweisanträge, die mit dem Etikett der mißbräuchlichen Rechtsausübung versehen werden können, sollen als unzulässig ablehnbar sein. Es scheint, daß man sich auf sicherem Boden bewegt. Rechte können zweckfremd, funktionswidrig gebraucht werden, und im Privatrecht zögert man nicht zu sagen: „Le droit cesse oü Tabus commence." Man überträgt diese Maxime ins Strafprozeßrecht. Darf man das ohne weiteres tun? Karlheinz Meyer, der hervorragende Interpret des Strafverfahrensrechts, hat sich mit dieser Frage befaßt. Seine kluge, besonnene Antwort soll
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hier wörtlich wiedergegeben werden: „Jedoch ist zu bedenken, daß der Versuchung, Rechte zu mißbrauchen, nicht nur Prozeßbeteiligte, sondern auch Richter ausgesetzt sind. Gegen den die obergerichtliche Rechtsprechung beherrschenden Gesichtspunkt, daß das Verteidigungsinteresse des Angeklagten so im Vordergrund steht, daß Verfahrensverzögerungen infolge Mißbrauchs von Verteidigungsrechten eher hingenommen werden können als Fehlurteile, die ihren Grund im Mißbrauch von Ablehnungsrechten haben, läßt sich ernsthaft nichts einwenden." 30 Ich habe diesen Sätzen und der Auffassung, daß man prozessualem Rechtsmißbrauch nur mit Vorschriften begegnen kann, „die an eindeutig umschriebene äußere Sachverhalte anknüpfen", wenig hinzuzufügen. Von einer generellen, mit vagen normativen Begriffen umschriebenen Mißbrauchsklausel würde vor allem die Gefahr ihres Mißbrauchs zum Zwecke der „Bewältigung" nur lästiger oder unbequemer Prozeßhandlungen drohen 31 . Wer einer solchen Klausel das Wort redet, unterschätzt wohl auch den argumentativen Aufwand, den ihre korrekte Handhabung erfordern würde. Zu leicht verleitet eine solche Klausel zur Gefühlsjurisprudenz und zur Verwischung der Grenze von Recht und moralisierenden Erwägungen. 3. Wenden wir uns der Herabstufungspraxis zu, die dem Begriff des Beweisantrags neue Aspekte abgewinnt, um den Bereich seiner Effizienz zu beschneiden. Das Reichsgericht hat immer wieder betont, daß sich der Beweisantrag nur durch formale Erfordernisse auszeichne, daß er sozusagen ein Sprachgebilde mit gewissen Eigentümlichkeiten sei. Er enthalte „das Verlangen, über bestimmte Tatsachen durch Benutzung bestimmter Beweismittel Beweis zu erheben", so oder ähnlich drückte es sich in einer Vielzahl von Entscheidungen aus 32 . Der Bundesgerichtshof hat diese (als Realdefinition gedachte) Umschreibung übernommen, in manchen seiner Entscheidungen die „bestimmte Tatsache" durch die „Behauptung einer bestimmten Tatsache" ersetzt und dann und wann auch darauf hingewiesen, daß es sich um Behauptungen handeln müsse, die dem die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betreffenden Beweisstoff zuzuordnen sind 33 . Auf sprachlicher Ebene ist auch die Unterscheidung von Beweisantrag und Beweisermittlungsantrag 30 31
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JR 1980, 219, 220. Vgl. BGH NStZ 1986, 371; BGH (3 StR 567/87) bei HoiiZ MDR 1988, 629; OLG Düsseldorf J Z 1986, 408. In Auswahl: RGSt. 49, 360, 361; 64, 432; RG J W 1924, 1251 Nr. 5; 1932, 3095 Nr. 45; 1933, 450 Nr. 41. In Auswahl: BGHSt. 1, 29, 31; 6, 128, 129; 30, 131, 142; BGH JR 1951, 509; BGH NStZ 1981, 309, 310; BGH N J W 1983, 126, 127; 1987, 2384; 1988, 1859; BGH StV 1989, 237.
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vollzogen worden. Dem Ermittlungsantrag wurde und wird jedes Begehren zugerechnet, das vom Gericht ein Tätigwerden verlangt, mit dem ein unmittelbarer oder mittelbarer Aufklärungseffekt erzielt werden soll, das aber nicht in der Form eines Beweisantrags vorgebracht werden kann, weil der Antragsteller eine bestimmte Tatsache nicht zu behaupten oder ein bestimmtes Beweismittel nicht anzugeben vermag 34 . a ) Das Reichsgericht hat die formalen Kriterien gegenüber Versuchen verteidigt, die darauf hinausliefen, (sichere oder feste) Kenntnis des Antragstellers von der behaupteten Tatsache oder seine (sichere) Erwartung, daß der Beweis gelingen werde, zu Merkmalen des Beweisantrags zu machen. RG JW1924,1251 Nr. 5: „Ob der Antragsteller die unter Beweis gestellten Tatsachen bereits kannte oder nur vermutete oder für wahrscheinlich hielt, macht keinen Unterschied. In zahlreichen Fällen werden Prozeßbeteiligte ... kein sicheres Wissen von den Tatsachen haben, für die sie Beweis erbieten. Sie werden auf Äußerungen dritter Personen, Schlußfolgerungen, Vermutungen angewiesen sein." RG J W 1932, 3095 Nr. 45: „Es kann dem Angeklagten nicht verwehrt sein, sich für eine Tatsache auch solcher Beweismittel zu bedienen, für deren Wissen von ihr er nur Anhaltspunkte, aber keine feste Kenntnis hat. Ein Verteidiger, der sich solcher Beweismittel nicht bediente, würde sogar seine Pflichten verletzen." RG J W 1933, 450 Nr. 41: „Das selbständige Recht des Verteidigers zur Stellung von Beweisanträgen ist keineswegs auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen er selbst von dem Erfolg der Beweiserhebung überzeugt ist; er hat vielmehr das Recht und dem Angeklagten gegenüber sogar die Pflicht, die Erhebung von Beweisen auch dann zu beantragen, wenn er nur... einen Erfolg zugunsten des Angeklagten nicht für ausgeschlossen hält." RG HRR 1941, 526: „Es ist nicht nötig, daß aus dem Beweisantrag hervorgeht, der Antragsteller sei von der Wahrheit der behaupteten Tatsache überzeugt und er erwarte zuversichtlich ein günstiges Ergebnis von der Beweiserhebung. Es genügt vielmehr die Bezeichnung einer bestimmten Tatsache und eines bestimmten Beweismittels." In der reichsgerichtlichen Judikatur findet sich von ihrem Anbeginn an auch die Aussage, daß der Antragsteller nicht verpflichtet ist, den Stand seines Wissens zu offenbaren, seine Informationsquelle zu nennen oder darzulegen, weshalb ein von ihm benannter Zeuge zum Beweisthema etwas bekunden kann 35 . b) Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs spaltete sich. Uberwiegend setzte sie, oft in fast wörtlicher Anlehnung, die Linie des Reichs34 35
Vgl. BGHSt. 30, 131, 142; K K aaO Rdn. 52. RGSt. 1, 51, 52; RG J W 1924, 1251 Nr. 5; 1928, 2252 Nr. 52; 1932, 3095 Nr. 45; RG HRR 1936, 1029.
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gerichts fort 36 . Paradigmatische Argumentationsmuster finden sich in BGH N J W 1983, 126, 127: Das Tatgericht hatte ein Beweisbegehren mit der Begründung zurückgewiesen, nach der bisherigen Beweisaufnahme seien für die unter Beweis gestellten Behauptungen nicht die geringsten Anhaltspunkte vorhanden. Darüber hinaus habe der Verteidiger auf Befragen keine Informationsquelle genannt. Die Behauptungen entbehrten jeder tatsächlichen Grundlage, seien „ins Blaue hinein" aufgestellt und könnten daher nicht Gegenstand eines Beweisantrags sein. Es liege nur eine Beweisanregung vor, der das Gericht nicht nachgehe, weil es sich von Ermittlungen nichts verspreche. Das Revisionsgericht sagte dazu: „Einem Aufklärungsbegehren geht die Eigenschaft eines Beweisantrags nicht schon deshalb ab, weil die bisherige Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Beweisbehauptung ergeben hat und der Antragsteller seine Informationsquelle verschweigt. Auch eine gänzlich neue Beweisbehauptung, für die sich im bisherigen Beweisergebnis keinerlei Hinweise oder Anknüpfungstatsachen finden, kann Gegenstand eines Beweisantrags sein. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Antragsteller bereit oder imstande ist, eine Informationsquelle zu nennen. Zum einen trifft ihn keine Verpflichtung, seine Informationsquelle offenzulegen. Zum anderen darf er auch das behaupten, was er lediglich vermutet oder für möglich hält." Aber diese auf der Linie der Tradition liegende und aus ihr das Fazit ziehende Auffassung wurde in anderen Entscheidungen nicht geteilt. c) Wenn ich es recht sehe, begann die divergierende Rechtsprechung mit einem Urteil des dritten Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 17. 10. 1973, 3 StR 248/71 (bei Schwerin StV 1981, 631, 634). Aus der Erklärung des Verteidigers, daß er eine „höchstwahrscheinliche Behauptung" aufgestellt habe und aus Überlegungen zu der Frage, wie der Verteidiger zu seiner Behauptung gekommen sei, zog der Senat den Schluß, daß „ersichtlich an eine bloße Möglichkeit" eine „Vermutung" geknüpft wurde. In der weiteren Argumentation wird das schon Gesagte lediglich rhetorisch überhöht: „Bei der in die Form einer höchstwahrscheinlichen Behauptung gekleideten Annahme" handele es sich „ersichtlich um die bloße Vermutung einer... recht entfernt liegenden Möglichkeit". Die Konklusion lautet: „Der auf die Erkundung dieser Möglichkeit gerichtete Antrag stellt sich daher als eine bloße Beweisanregung, also als ein Beweisermittlungsantrag dar, den die Strafkammer nicht nach § 244 Abs. 3 StPO hätte bescheiden müssen." Dieser Gedankengang machte Schule. Auf ihn bezog sich der zweite Strafsenat in einer am 31. Juli 1980 ergan-
36
In Auswahl: BGHSt. 21, 118, 125; BGH N J W 1983, 126, 127; BGH NStZ 1981, 309, 310; BGH StV 1983, 185; BGH, Urt. v. 13. 11. 1958, 4 StR 386/58.
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genen Entscheidung 37 . Er repetierte, daß es sich „bei einer in die Form einer bestimmten Behauptung gekleideten Annahme um die bloße Vermutung einer Möglichkeit handeln kann mit der Folge, daß sich der auf die Erhellung dieser Möglichkeit gerichtete Antrag nur als Beweisanregung, demnach als Beweisermittlungsantrag darstellt". Sieht man genauer hin, dann bemerkt man, daß der zweite Strafsenat deshalb von der „bloßen Vermutung einer Möglichkeit" spricht, weil seiner Meinung nach die Beweisthematik zu vage umschrieben, eine bestimmte Tatsache nicht behauptet war. Mithin hätte es genügt zu sagen, daß das Beweisbegehren deshalb nicht als Beweisbehauptung angesehen werden kann, weil es dem Bestimmtheitsgrundsatz 38 nicht entspricht. Aber in diesem Punkte wollte sich der Senat nicht festlegen. Den Ausweg sah er in der Übernahme von Thesen, die sich nicht auf eine argumentative Begründung, sondern auf Wortzauber stützten, der die traditionelle Rechtsprechung, die schon mit RGSt. 1, 51 begonnen hatte, völlig ignorierte. In weiteren Entscheidungen 39 blieb der dritte Strafsenat auf dem eingeschlagenen Pfade. Er gestattete dem Tatgericht, ein Beweisbegehren, das als Beweisantrag gedacht und formuliert war, als einen Beweisermittlungsantrag anzusehen, „wenn es davon überzeugt war, daß es sich in Wirklichkeit nur um eine bloße Vermutung handele". Etwas mehr als die Überzeugung des Tatgerichts verlangte der Senat allerdings in einem Urteil vom 27. 2. 1985 (3 StR 501 / 84). Er führte aus: Lediglich ein Beweisermittlungsantrag liege vor bei einem Beweisbegehren, das „ n a c h w e i s b a r ohne Tatsachengrundlage" sei, in dem etwas behauptet werde, was der Antragsteller nur „aus der Luft" gegriffen habe, das sich deshalb als „bloße Vermutung" erweise. d) Inzwischen war der fünfte Strafsenat in einem Urteil vom 6. 12. 1983 (5 StR 677/83) 40 zu einer abweichenden Ansicht gekommen: Das Tatgericht dürfe (Hilfs-)Beweisanträge nicht mit der Begründung, daß der Antragsteller die Beweisbehauptungen aus der Luft gegriffen habe, weil keine Anhaltspunkte dafür bestünden, daß die benannten Zeugen die Behauptungen bestätigten, als Beweisermittlungsanträge behandeln. Ein Beweisantrag erfordere nur die Behauptung einer bestimmten Tatsache. Die Grundlagen für seine Behauptung brauche der Antragsteller nicht zu nennen. Wenn das Tatgericht meint, er habe etwas „aufs Geratewohl" behauptet, könne es ihn „nach seinen Wissensquellen oder den Gründen für seine Vermutungen fragen". Erst wenn es auf seine Frage „keine plausible Antwort" erhält, kann das Tatgericht den Antrag „je nach 37 38 39
40
B G H G A 1981, 228 = M D R 1980, 987 (bei Holt$. Vgl. dazu K K aaO Rdn. 44, 45. B G H , Beschl. v. 12. 2. 1981, 3 StR 333/80 (bei Scbwenn StV 1981, 631, 634); Beschl. v. 18. 2. 1981, 3 StR 269/80 (bei Strafe StV 1981, 261, 264). StV 1985, 311 m. Anm. Schuld
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Sachlage entweder als Beweisermittlungsantrag behandeln oder... wegen Verschleppungsabsicht ablehnen". Inspirator für den Gedankengang des 5. Strafsenats war Karlheinz Meyer. Weil, so hat er ausgeführt 41 , der Beweisantrag nicht zu den Wissens-, sondern zu den Vorstellungsäußerungen gehöre, erfordere er nicht die Erklärung eigenen Wissens. Wer einen Beweisantrag stelle, wolle dem Gericht nicht notwendig nur das beweisen, was für ihn schon bewiesen sei. Er könne Beweiserhebung auch über Tatsachen verlangen, die er zwar nicht kennt, die er aber vermutet oder wenigstens für möglich hält. Wer in den Anforderungen weitergehe, mute dem Antragsteller Ermittlungen zu, die er nicht vorzunehmen brauche, vielfach nicht vornehmen könne. Lasse man nicht genügen, daß hinter einer Beweisbehauptung nur die „bloße Vermutung einer Möglichkeit" steht, verkürze man die Rechte der Prozeßbeteiligten, insbesondere des Angeklagten, in einer ungerechtfertigten und im Interesse der Sachaufklärung nicht vertretbaren Weise. Aber für eine Vermutung müsse es „irgendwelche tatsächliche Grundlagen" geben. „Ins Blaue hinein" werde im Strafprozeß weder von Amts wegen noch auf Antrag Sachaufklärung betrieben. Bezweifle das Gericht, daß der Antragsteller Anhaltspunkte für die von ihm behaupteten Tatsachen habe, dürfe es ihn nach seiner Wissensquelle oder den Grundlagen für seine Vermutungen fragen. Könne er sie nicht nennen oder weigere er sich, sie anzugeben, dürfe daraus der Schluß gezogen werden, daß er die Beweisbehauptung „aus der Luft gegriffen", „aufs Geratewohl aufgestellt" habe. Wenn es sich aber so verhalte, gehe es dem Antragsteller nur darum, ermitteln zu lassen, ob seine grundlose Vermutung vielleicht doch zutrifft. Er habe nicht einen Beweisantrag, sondern einen Beweisermittlungsantrag eingebracht. e) Die vom dritten und fünften Strafsenat des Bundesgerichtshofs für zulässig gehaltene „Herabstufung" eines Beweisantrags in einen Beweisermittlungsantrag kraft Überzeugung des Tatgerichts, kraft eines argumentativ geführten Nachweises (der sich in der Praxis in aller Regel in der Konstatierung erschöpft, daß die Beweisbehauptung durch keinerlei Anhaltspunkte gestützt werde) oder kraft mangelnder Plausibilität der Antwort des Antragstellers auf die Frage nach seinen Wissensquellen oder nach „den Gründen für seine Vermutungen" (vgl. c und d), erschien und erscheint auch manchen Tatgerichten unter drei Aspekten als eine vorzügliche Lösung: Sie gestatte es, wie man meint, so gut wie schrankenlos zu antizipieren. Sie befreie vom Katalog der Ablehnungsgründe, entbinde insbesondere von der Anwendung des schwer zu handhabenden Ablehnungsgrundes der Prozeßverschleppung. Nach vollzogener Herabstu41
In AlsbergjNüsej Meyer aaO S. 43 ff.
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fung genüge es, so glaubt man, die Frage, ob das Aufklärungsgebot eine Beweiserhebung fordere, schlicht und einfach zu verneinen. f ) Den tatrichterlichen Bestrebungen, im Hinblick auf das bisherige Beweisergebnis konstatieren zu können, ein Beweisbegehren, das den formellen Erfordernissen eines Beweisantrags genügt, sei als Beweisermittlungsantrag zu behandeln, ist vom zweiten Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Fortführung der in BGHSt. 21,118 (125) und in N J W 1983, 126 (127) eingeschlagenen Linie auch in den letzten Jahren — aus grundsätzlichen Erwägungen oder wegen unzulänglicher Argumentation des Tatgerichts — eine Absage erteilt worden 42 . Aber der Senat hat durch zwei Manifestationen Vewirrung hervorgerufen. Die eine lautet: „Freilich liegt kein Beweisantrag vor, wenn der Antragsteller nur Vermutungen äußert, von denen er hofft, daß die Nachforschungen darüber zu seinen Gunsten sprechende Aussagen ergeben" (NJW 1987, 2384). Diese Bemerkung darf nicht als Hinwendung zur „Vermutungs-Rechtsprechung" (vgl. c) verstanden werden. Sie betrifft den (auslegungsfahigen) Erklärungstatbestand des Beweisbegehrens. Kommt in ihm nur eine Vermutung zum Ausdruck, hat der Antragsteller die Beweistatsache nicht behauptet. Ich kann nur hoffen, daß die Bemerkung nicht zum Anlaß für Interpretationskünste zum Nachteil von Antragstellern wird. Im Vordergrund der Entscheidung, in der sie sich findet, steht ganz und gar die Bekräftigung des Rechtssatzes: „Es kann dem Antragsteller nicht verwehrt sein, auch solche Tatsachen unter Beweis zu stellen, die er lediglich für möglich hält oder vermutet." Die zweite Aussage, die verwirrte und Kritik hervorrief, steht in einem Urteil, das den Ablehnungsgrund der Prozeßverschleppung betrifft 43 . Weil, so heißt es in diesem Urteil, der Fall „außergewöhnlich" war, habe das Tatgericht das Recht und die Pflicht gehabt, den Angeklagten danach zu fragen, welche Anhaltspunkte er dafür angeben kann, daß gerade der im Beweisantrag benannte „Kazim" aus Instanbul — einer von vielen, die in dieser Stadt diesen Namen haben —, derjenige sei, der als Zeuge in Betracht komme, und es habe, als es auf seine wiederholte Frage keine Antwort erhielt, ihr Ausbleiben als eine für Verschleppungsabsicht sprechende indizielle Tatsache ansehen dürfen. Es war nicht nötig, die Berechtigung des Tatgerichts zu Fragen (und Vorhalten) aus „außergewöhnlichen" Umständen des Falles abzuleiten. Wenn der Ablehnungsgrund der Prozeßverschleppung zur Diskussion steht, muß der Antragsteller Gelegenheit erhalten, sich zu den vom Tat-
42
43
Vgl. StV 1986, 418; NJW 1987, 2384 = JR 1988, 387 m. Anm. Welp; NJW 1988, 1859 = NStZ 1988, 324 m. Anm. Julius S. 468 = StV 1988, 185 m. Anm. Schwerin S. 370; StV 1989, 237; 1989, 378. Zu NJW 1987, 2384 vgl. auch Julius MDR 1989, 116. StV 1989, 234 m. Anm. Michalke und (S. 380) Frister.
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gericht als Indizien der Verschleppungsabsicht angesehenen Fakten zu äußern. Deshalb darf ein Hilfsbeweisantrag wegen Prozeß verschleppung nicht erst in den Urteilsgründen abgelehnt werden 44 . Die Gelegenheit, sich mit der Auffassung des Gerichts auseinanderzusetzen, kann der Antragsteller auch schon vor der Entscheidung über den Beweisantrag bekommen. Er erhält damit eine Chance. Ob er sie nutzt oder nicht nutzt, ist seine Sache. Aber das Gericht kann aus einem beredten Schweigen Folgerungen ziehen. Nichts anderes ist im „Kazim-Fall" geschehen. „Kazim" ist ein in Istanbul häufig vorkommender Name. Er kann sehr leicht, z. B. anhand eines Telefon- oder Adreßbuchs, komplettiert werden. Der Verdacht, daß der Angeklagte eine solche Komplettierung vorgenommen hatte, lag nicht fern, weil er stets angab, er kenne Kazim nicht. Die Fragen (und Vorhalte) des Gerichts waren Ausdruck eines solchen Verdachts. Er wurde durch das Ausbleiben einer Erklärung des Angeklagten verstärkt. In seinem Verhalten konnte das Tatgericht ein Indiz für Prozeßverschleppung sehen. g) In der Rechtsprechung bahnt sich Konkordanz an. Der dritte Strafsenat hat seine frühere „Vermutungs-Rechtsprechung" (vgl. c) aufgegeben. Sein Urteil vom 31. März 1989 45 hatte sich mit einer „eingeschliffenen" tatgerichtlichen Argumentation zu befassen: Aus dem Ergebnis vollzogener Ermittlungen (hier: aus Bekundungen der im Beweisantrag benannten Zeugin im Ermittlungsverfahren) wird gefolgert, für die Annahme, daß die Beweisperson („auch nur ansatzweise") relevante Angaben machen werde, fehlten „jegliche Anhaltspunkte". Infolgedessen sei das Beweisbegehren nur „scheinbar" ein Beweisantrag. In Wirklichkeit handele es sich um einen „verdeckten Beweisermittlungsantrag". Der dritte Strafsenat fand jedoch „Anhaltspunkte" und folgerte, daß über das Beweisbegehren nicht mit der Erwägung hinweggegangen werden durfte, die Beweisbehauptung sei nur eine „haltlose Vermutung". Der Senat greift den Rechtssatz auf, der in vielen Entscheidungen formuliert worden ist: Es kann einem Antragsteller nicht verwehrt sein, „auch solche Tatsachen unter Beweis zu stellen, deren er sich nicht sicher ist oder nicht sicher sein kann". Für einen Beweisantrag nicht ausreichend sei nur die „aufs Geratewohl geäußerte, haltlose Vermutung".
4. In der Tat bedarf die Frage der Beantwortung, ob das den Begriff des Beweisantrags mitbestimmende Merkmal des Behauptens nur „die Funktion erfüllt, die sprachliche Form für den Gegenstand des Beweisbegehrens festzulegen" 46 . Ich meine, daß es nicht nur um die 44 45 46
K K aaO Rdn. 87. NStZ 1989, 334 = StV 1989, 287. So Schuld S t V 1 9 8 5 . 3 1 2 -
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assertorische Form gehen kann. Wer etwas behauptet, erklärt damit auch (in Gestalt einer kontextualen Implikation), daß er für den von ihm geäußerten Satz Gründe habe. Fehlt ihm in Wahrheit jede faktische oder argumentative (aus Fakten, „Anhaltspunkten" abgeleitete) Grundlage, ist seine Äußerung keine „Behauptung" im Sinne des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs 47 . Die „aufs Geratewohl" gemachte, „aus der Luft gegriffene" assertorische Aussage kann auch im Beweisantragsrecht nicht als „Behauptung" gelten. Ich stimme Karlheinz Meyer zu: Eine solche Aussage vermag das Verlangen nach Beweiserhebung nicht zu rechtfertigen (vgl. 3 d). Man sollte sie nicht als „(bloße) Vemutung" bezeichnen. Mit diesem Wort ist die Rechtsprechung leichtfertig umgegangen. Es eignet sich nicht zur Diskriminierung von Beweisbehauptungen. Nach Popper besteht selbst unser naturwissenschaftliches Wissen nur aus Vermutungen 48 . Gemeint ist damit hypothetisches Wissen. Auch die Beweisbehauptung kann in aller Regel nicht mehr als eine Hypothese oder Vermutung sein, eine Annahme, die nicht völlig einer faktischen (argumentativen) Grundlage entbehrt. Wenn das Tatgericht meint, daß ihr diese Basis fehlt, muß es für seinen Verdacht den Nachweis erbringen, weil das Beweisantragsrecht vom Antragsteller nur die Form einer assertorischen Aussage verlangt. Im Gegensatz zu Karlheinz Meyer bin ich der Ansicht, daß die Argumentationslast nicht durch Fragen nach den „Wissensquellen" oder den „Grundlagen für seine Vermutungen" auf den Antragsteller überwälzt werden kann. Der Vorhalt von Fakten, die nach Meinung des Tatgerichts als Indizien für Prozeßverschleppung in Betracht kommen, und die Frage nach den Wissensquellen sind verschiedene Dinge. Im einen Falle gewährt das Gericht rechtliches Gehör zur faktischen Prämisse der von ihm erwogenen rechtlichen Konklusion, im anderen Falle will es eine Prämisse erst gewinnen, und darf bei seinem Bemühen nicht verkennen, „daß auch eine Beweisbehauptung, für die sich im bisherigen Beweisergebnis keinerlei Hinweise oder Anknüpfungstatsachen finden, Gegenstand eines Beweisantrags sein kann" (BGH N J W 1983, 126, 127). Das Recht, Beweisanträge zu stellen, ist ein autonomes Recht, das sich nicht nur durchsetzen soll, wenn dem Gericht eine Beweiserhebung angebracht erscheint. Der Antragsteller braucht die Ausübung dieses Rechts weder von sich aus noch auf Befragen zu rechtfertigen 49 . Wer ihm nicht Verschleppungsabsicht vorwerfen will oder kann, aber dennoch von ihm verlangt, daß er erkläre, wie er zu seiner Beweisbehauptung ge-
47 48 49
Vgl. Hist. Wörterbuch d. Phil. Bd. 1 Sp. 816 und Bd. 4 Sp. 265. Auf der Suche nach einer besseren Welt (1984) S. 224. Vgl. RG J W 1924, 1251 Nr. 8; BGH NStZ 1981, 309, 310; BGH N J W 1983, 126, 127.
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kommen ist, tritt für einen neuen Ablehnungsgrund ein, den man als Ablehnungsgrund der „nicht plausiblen Antwort" (auf die bedenkliche Frage nach der berechtigten Wahrnehmung des Rechts, Beweisanträge zu stellen) bezeichnen kann. Es handelt sich um einen Ablehnungsgrund contra legem — ein um wesentliche Voraussetzungen verkürztes Substitut der Prozeßverschleppung (vgl. BGH StV 1985, 311). Bei diesem Substitut muß angenommen werden, daß der Antragsteller sein Beweisbegehren „ernsthaft" gemeint hat. Infolgedessen soll es „seinem Wesen nach ein Beweisermittlungsantrag sein" 50 . Das ist inkonsequent. Wer „aufs Geratewohl" Beweiserhebung verlangt, hat keine Anhaltspunkte für eine Beweishypothese. Von ihr kann auch beim Beweisermittlungsantrag nicht abgesehen werden. Sie ist die Grundlage für die Kriterien weiterer Aufklärung (vgl. I. 4.). Wird eine „Beweisbehauptung" als eine „ins Blaue hinein" gemachte Assertion entlarvt, kann eine Umwandlung oder „Herabstufung" des Beweisantrags in einen Beweisermittlungsantrag nicht in Betracht kommen. Sie ist auch unter dem Aspekt des Ermittlungsgrundsatzes ohne Interesse. Denn eine „Behauptung", für die es keine Gründe gibt, ist eine Konklusion ohne Prämisse, nur als psychisches Phänomen diskutierbar. Der allein vom Gericht zu erbringende Nachweis, daß der Antragsteller „ins Blaue hinein", „aufs Geratewohl" eine Beweisbehauptung formuliert und zum Gegenstand eines Beweisantrags gemacht habe, ist nicht leicht zu führen. Immer muß der Tatrichter mit der Möglichkeit rechnen, daß das Revisionsgericht „aus seiner Sicht der Dinge" (vgl. I. 4.) Anhaltspunkte findet, die er übersehen hat. Immer läuft er auch Gefahr, daß das Revisionsgericht der Auffassung ist, die tatrichterliche Argumentation sei mit dem Verbot der Beweisantizipation nicht zu vereinbaren 51 . Noch ein Wort zur Prognose des Antragstellers: F,r braucht keineswegs vom Gelingen des beantragten Beweises auszugehen. Nicht einmal seine skeptische Prognose, sondern erst die sichere Erwartung, daß die Beweiserhebung nichts zu seinen Gunsten erbringen wird, gestattet, wenn das Gericht diese Erwartung teilt, die Antragsablehnung. Das ergibt sich aus dem Ablehnungsgrund der Prozeßverschleppung und seinen Voraussetzungen.
50 51
AlsbergjNüsejMeyer aaO S. 46 Anm. 69. Vgl. BGHSt. 36, 159, 165; B G H N S t Z 1989, 334; B G H StV 1989, 378, 379.
Über den „Richtervorbehalt" im Ermittlungsverfahren HANS HILGER
I. Einleitung Das Thema dieses Beitrages ist bisher in der Literatur — soweit ersichtlich — nur selten angesprochen worden 1 , obwohl neuere Regelungen 2 und Gesetzentwürfe 3 zum Strafverfahrensrecht die Zulässigkeit besonderer Ermittlungsmaßnahmen zunehmend und ohne Rücksicht auf die damit verbundenen Probleme an eine richterliche Anordnung (Erlaubnis) knüpfen. Die Problematik, deren Schwierigkeit im Rahmen dieses Beitrages nur angedeutet werden kann, betrifft die sensible Frage der Abgrenzung der Aufgaben und Befugnisse von Staatsanwaltschaft und Richter und damit die staatsanwaltschaftliche Verfahrensherrschaft im Ermittlungsverfahren; sie dürfte deshalb auch bei der geplanten Gesamtreform des Strafverfahrensrecht 4 zu erörtern sein. II. Untersuchung A.
Bestandsaufnahme
1. Eine Erörterung der Problematik erfordert zunächst eine nähere Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes und eine Bestandsaufnahme de lege lata. Schon eine kursorische Durchsicht der §§ 48 bis 1
2 3
4
Vgl. Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe (1976); Nelles, Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozeßordnung (1980); Meyer, Zur Anfechtung der durch Vollzug erledigten Maßnahmen der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren, FS K. Schäfer (1980), 119; Welp Zwangsbefugnisse für die Staatsanwaltschaft (1976); ders., Die strafprozessuale Überwachung des Postund Fernmeldeverkehrs (1974); S K - R u d o l p h i , StPO, Vor § 94 Rdn. 74 ff; s. auch LRDahs, StPO, 24. Auflage, § 81 a Rdn. 70 m. w. N. Vgl. § 163 d Abs. 2. Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1989 — vgl. hierzu Hilgendorf ¡Schmidt wistra 1989, 208 ff; StrVert. 1989, 172; s. zur Problematik auch Rogall GA 1985, 1 ff; Wolter GA 1988, 49 ff, 129 ff sowie StrVert. 1989, 358 ff. Vgl. hierzu Engelhard, FS Rebmann (1989), 45 ff.
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Hans Hilger
170 StPO zeigt, daß die Zulässigkeit zahlreicher Maßnahmen im Ermittlungsverfahren von einer richterlichen Entscheidung abhängig ist. Diese Maßnahmen weisen nach Art, Bedeutung und Wirkung erhebliche Unterschiede auf und die Herbeiführung der erforderlichen richterlichen Entscheidung ist nicht einheitlich ausgestaltet; hinzu kommen in mehreren Fällen spezielle flankierende Verfahrenssicherungen. Die Untersuchung sollte sich daher auf alle Maßnahmen erstrecken, die im Ermittlungsverfahren zugunsten oder zulasten des Beschuldigten und/ oder anderer Verfahrensbeteiligter getroffen werden können und deren Zulässigkeit grundsätzlich eine — wie auch immer gestaltete — richterliche Zustimmung erfordert, ausgenommen richterliche Entscheidungen im Recht der Verteidigung (z. B. §§ 138 Abs. 2, 141 Abs. 3, 4, 148 a) und Zustimmungen zu verfahrensbeendigenden Verfügungen (§§ 153 Abs. 1, 153 a Abs. 1, 153 b Abs. 1, 153 e Abs. 1), die eigenen Gesetzen folgen 5 . 2. Auszugehen ist davon, daß die Staatsanwaltschaft kraft ihrer Leitungsbefugnis (§ 161) grundsätzlich die im Vorverfahren notwendigen (§ 160) Maßnahmen anzuordnen hat; eine nachgeordnete Anordnungsbefugnis der Polizei ergibt sich aus § 163 Abs. 1. Dies bedarf bei den einzelnen Maßnahmen grundsätzlich keiner erneuten Erwähnung 6 . Als schwächste Form des „Richtervorbehaltes" könnte man danach schon die Möglichkeit einer nachträglichen Anrufung des Richters gegen eine zunächst allein von der Staatsanwaltschaft zu treffende Entscheidung ansehen. Sie ist ausdrücklich 7 vorgesehen: bei Maßregeln (zur Haft vgl. II A 5) gegen Zeugen und Sachverständige, die sich bei staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen pflichtwidrig verhalten (§§ 51, 70, 77,161 a Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1). Auch über die Rechtmäßigkeit einer Vorführung des Beschuldigten zur staatsanwaltschaftlichen Vernehmung entscheidet auf Antrag des Beschuldigten das Gericht (§ 163 a Abs. 3 Satz 3). Ähnliches gilt bei Maßnahmen gemäß § 163 b zur Feststellung der Identität, die von der Staatsanwaltschaft und den Beamten des Polizeidienstes getroffen werden; denn eine hierzu festgehaltene Person ist unverzüglich dem Richter vorzuführen (§§ 163 b, 163 c Abs. 1 Satz 2). 3. Ein echter Richtervorbehalt mit Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft und ihrer Hilfsbeamten findet sich bei der Anordnung körperlicher 5
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Vgl. z. B. Kleinknecht!Meyer, StPO, 39. Auflage, § 138 Rdn. 13; LR-Rief \ § 153 Rdn. 2, 39. S. aber z. B. §§ 1 1 1 1 Abs. 2, 159 Abs. 2, 161 a Abs. 2. Zur nachträglichen richterlichen Überprüfung staatsanwaltschaftlicher Anordnungen analog § 98 Abs. 2 vgl. die Nachweise in den Fn. 9, 51.
Über den „Richtervorbehalt" im Ermittlungsverfahren
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Untersuchung/Blutprobe des Beschuldigten (§ 81 a Abs. 2) oder anderer Personen (§ 81 c Abs. 5, eingeschränkt durch den ausnahmslosen Richtervorbehalt des § 81 c Abs. 3 Satz 3 sowie durch § 81 c Abs. 6 Satz 2), Beschlagnahme (§ 98 Abs. 1 Satz 1), Durchsuchung (§ 105 Abs. 1 Satz 1, eingeschränkt durch § 105 Abs. 1 Satz 2), Kontrollstelle (§111 Abs. 2), Anordnung von Sicherheitsleistung und sonstige Maßnahmen zur Sicherstellung der Strafverfolgung und Strafvollstreckung (§ 132 Abs. 2) sowie Kontrollfahndung (§ 163 d Abs. 2) 8 . Überwiegend (§§ 81 a, 81 c, 105, 111, 132) ist keine richterliche Bestätigung vorgesehen, falls die Eilkompetenz in Anspruch genommen wird 9 . Erfolgt eine Beschlagnahme ohne richterliche Anordnung (§ 98 Abs. 1 Satz 1), so soll binnen drei Tagen die richterliche Bestätigung beantragt werden, wenn bei der Beschlagnahme weder der davon Betroffene noch ein Angehöriger anwesend war oder wenn gegen die Beschlagnahme ausdrücklich Widerspruch erhoben wird; der Betroffene kann jederzeit richterliche Entscheidung beantragen (§ 98 Abs. 2 Satz 1, 2). Schließlich bedarf die Anordnung einer Kontrollfahndung (§ 163d) mit Hilfe der Eilkompetenz einer nachträglichen richterlichen Bestätigung. Ein verhältnismäßig kompliziertes System enthalten die Regelungen zur Sicherstellung von Verfalls- und Einziehungsgegenständen. Für die Beschlagnahme (§ 111c) und den Arrest (§ 111 d) gilt der Richtervorbehalt mit Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft und zusätzlicher Eilkompetenz ihrer Hilfsbeamten zur Beschlagnahme (§ 111c Abs. 1) beweglicher Sachen (§ 111 e Abs. 1). Die Beschlagnahme durch die Staatsanwaltschaft bedarf der richterlichen Bestätigung, ausgenommen die Beschlagnahme beweglicher Sachen (§ 111 e Abs. 2 Satz 1, 2). Der Betroffene kann in allen Fällen richterliche Entscheidung beantragen (§ l l l e Abs. 2 Satz 3). Die Beschlagnahme eines periodischen Druckwerks oder eines gleichstehenden Gegenstandes (§ 74 d StGB) darf nur der Richter anordnen; für die Beschlagnahme eines anderen Druckwerks oder sonstigen Gegenstandes im Sinne des § 74 d StGB besteht eine Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft, jedoch bedarf deren Anordnung 8
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Zu besonderen Kompetenzproblemen vgl. z. B. LR-Dahs24 § 81 a Rdn. 52, 53; § 81 c Rdn. 51; LR-C. Schäfer24 § 98 Rdn. 30, 31; § 105 Rdn. 10, 11, 39, 40; § 111 Rdn. 15ff; LR-lVendisch2* § 132 Rdn. 7 ff; L R - R i e f * § 163 d Rdn. 43 ff. Zu den umstr. Fragen der nachträglichen richterlichen Überprüfung vgl. z. B. LRDabs» § 81 a Rdn. 70ff m. w. N.; LR-G. Schäfer24 § 98 Rdn. 47 ff, 74ff; § 111 Rdn. 18, 32; LR- Wendisch1* § 132 Rdn. 11; L R - R i e f * § 163d Rdn. 45 ff, 84; Kleinknecht\ Meye^ §98 Rdn. 23; SK-Rudolphi Vor §94 Rdn. 80 ff; s. auch RießjThym GA 1981, 201; Meyer (Fn. 1) 119 ff; Schnarr MDR 1987, 1 ff; BGH St. 35, 363; 36, 30 m. w. N.; BGH NStZ 1989, 189; BGH Rpfleger 1989, 341; BGH NJW 1989, 2636; BGH NStZ 1989, 538.
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der richterlichen Bestätigung (§ l l l n Abs. 1). Schließlich regelt § 1 1 1 1 für den Fall einer Notveräußerung sichergestellter Gegenstände Kompetenzen der Staatsanwaltschaft und ihrer Hilfsbeamten, zum Teil als Eilkompetenzen, und das Recht des Betroffenen, gegen deren Anordnungen gerichtliche Entscheidung nach Maßgabe des § 161 a Abs. 3 zu beantragen ( § 1 1 1 1 Abs. 2, 6). 4. Ein Richtervorbehalt mit Eilkompetenz allein der Staatsanwaltschaft gilt für die Anordnung der Leichenöffnung und der Ausgrabung einer Leiche (§ 87 Abs. 4 Satz 1), die Postbeschlagnahme (§ 100 Abs. 1), Telefonüberwachung (§ 100 b Abs. 1), Gebäudedurchsuchung bei anderen Personen zur Ergreifung des Beschuldigten (§§ 103 Abs. 1 Satz 2, 105 Abs. 1 Satz 2), und die Vermögensbeschlagnahme bei Staatsschutzdelikten (§ 443 Abs. 2 Satz 1, 2) 10 . W i r d eine Postbeschlagnahme, eine Telefonüberwachung oder eine Vermögensbeschlagnahme nach § 443 durch den Staatsanwalt angeordnet, so ist eine richterliche Bestätigung herbeizuführen (§ 100 Abs. 2, § 100 b Abs. 1, § 443 Abs. 2). Als besondere verfahrensrechtliche Sicherung findet sich bei der Postbeschlagnahme, daß die Öffnung der ausgelieferten Gegenstände dem Richter zusteht, der sie bei Gefahr im Verzug der Staatsanwaltschaft übertragen kann (§ 100 Abs. 3 Satz 1 , 2 ) . 5. Ausnahmslos richterlicher Anordnung bedürfen folgende Maßnahmen: Unterbringung des Beschuldigten zur Beobachtung in einem Krankenhaus (§ 81 Abs. 3), körperliche Untersuchung zeugnisverweigerungsberechtigter Personen ohne Einwilligung des gesetzlichen Vertreters (§ 81 c Abs. 3 Satz 3), Ordnungsgeld, Haft oder unmittelbarer Zwang gegen eine Untersuchung grundlos verweigernde Personen (§ 81 c Abs. 6 Satz 1, 2), Beschlagnahme nach § 97 Abs. 2 Satz 3, Abs. 5 Satz 2 (Teilnahmeverdacht) im Pressebereich (§ 98 Abs. 1 Satz 2), Haft gegen die sich bei einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung pflichtwidrig verhaltenden Zeugen (§§ 51, 70, 161 a Abs. 2 Satz 2), vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ l i l a Abs. 1 Satz 1) und Verhängung eines vorläufigen Berufsverbotes (§ 132 a Abs. 1 Satz 1). Eine Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft ist — abgesehen von der Führerscheinbeschlagnahme (§ 94 Abs. 3) — nicht vorgesehen. Schließlich sind hier die sonstigen richterlichen Haftentscheidungen (z. B. §§ 114 Abs. 1, 116 Abs. 1, 119 Abs. 6 Satz 1) und die A n o r d n u n g der einstweiligen Unterbringung (§ 126 a Abs. 2) zu nennen. Der grund-
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Vgl. auch UK-Dahs24 § 87 Rdn. 27; LR-G. SchüfetM § 100 Rdn. 4; LR-GösseP* § 443 Rdn. 3 ff.
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sätzliche Richtervorbehalt 11 wird jedoch eingeschränkt durch die Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft und Vollzugsbeamten für vorläufige Vollzugsmaßnahmen (§119 Abs. 6 Satz 2) und die Freilassungskompetenz der Staatsanwaltschaft (§ 120 Abs. 3 Satz 2). 6. Die richterliche Zuständigkeit ist in den genannten Fällen nicht einheitlich geregelt. Überwiegend (vgl. z. B. §§ 81 a, 81 c, 98, 100 a, 105, 111, 125, 163 d) entscheidet der Ermittlungsrichter (§§ 162, 169), im Falle des § 81 das Gericht der Hauptsache (§ 81 Abs. 3) und in den Fällen der §§ 161 a Abs. 3 Satz 1, 163 a Abs. 3 Satz 3 grundsätzlich das Landgericht (§ 161 a Abs. 3 Satz 2, § 163 a Abs. 3 Satz 3). 7. Die meisten der Richtervorbehalte sind neueren Datums 12 . Für klassische Maßnahmen finden sich jedoch schon in der StPO i. d. F. vom 1. Februar 1877 (RGBl. 253) Richtervorbehalte (vgl. a. F. der §§ 81, 87, 98, 100, 105, 114, 116), die zum Teil der heutigen Ausgestaltung weitgehend entsprechen. De lege ferenda sind im StVÄG 198913 Richtervorbehalte vorgesehen für die Anordnung der Rasterfahndung, bestimmte hergebrachte Fahndungsmaßnahmen (z. B. die Öffentlichkeitsfahndung mit Hilfe der Medien), die längerfristige Observation, die sog. „Polizeiliche Beobachtung" sowie den Einsatz bestimmter technischer Mittel und Verdeckter Ermittler. B. Bedeutung und
Notwendigkeit
1. In den Materialien zur StPO finden sich nur wenige Hinweise über Bedeutung und Notwendigkeit des Richtervorbehalts. Die Kommission ging als selbstverständlich davon aus, daß „ein Eingriff in die Person oder in die Vermögensrechte" grundsätzlich „nur dem Richter zustehe" 14. Gleiches sollte grundsätzlich für die „Sicherheit der Wohnung" gelten 15 . Da manche Ermittlungsmaßnahmen unverkennbar geeignet seien, tief in die persönlichen Rechte Betroffener einzugreifen, sei es geboten, durch das Erfordernis richterlicher Prüfung und Anordnung besonderen Schutz gegen unberechtigte Verletzungen dieser Rechte zu gewähren 16 . In diesem Zusammenhang darf allerdings nicht übersehen 11
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13 14
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Die Festnahmebefugnis nach § 127 Abs. 2 könnte als Eilkompetenz eigener Art angesehen werden. §§ 81 a, 81c, 100 b, 111, I l l a , l i l e , l l l n , 132, 132a, 161a, 163a, 163c, 163 d,443; zur Entstehungsgeschichte der Vorschriften vgl. bei LK-Dahs2'*, LR-G. Schäfer24, LRIVendisch2*, LK-Hanack?\ L R - R i e f 4 , L R - G ö s s e t . Vgl. Fn. 3. Hahn, Die gesamten Materialien zur Strafprozeßordnung und dem Einführungsgesetz, Bd. I (1880), Bd. II (1881), 628. Hahn (Fn. 14) 644. Vgl. auch Hahn (Fn. 14) 125 bis 128, 1527 bis 1529.
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werden, daß der Staatsanwaltschaft — wohl bedingt durch ein erhebliches Mißtrauen des Gesetzgebers gegenüber diesem Amt 1 7 — eine wesentlich schwächere Stellung als heute eingeräumt und der Richter in die Sachverhaltsaufklärung vor der Hauptverhandlung wesentlich stärker eingebunden war 18 . Auch die Regelungen neueren Datums 19 sehen, diesem Konzept grundsätzlich folgend, richterliche Entscheidungen vor, wobei als Begründung gilt, es handele sich um gewichtige, tiefer wirkende Eingriffe in geschützte Rechtspositionen Betroffener 20 . Dies erscheint schon auf den ersten Blick unter strafprozessual-systematischen und dogmatischen Gesichtspunkten vertretbar, soweit es sich um der Beschlagnahme/ Durchsuchung entsprechende Maßnahmen, um Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit oder in die Freiheit des Betroffenen handelt. Hinzu kommt, daß solche Maßnahmen zu schwerwiegenden Eingriffen in nicht nur einfach-rechtlich, sondern durch das Grundgesetz geschützte Positionen führen können 21 . 2. Dennoch stellt sich die Frage, ob der Richtervorbehalt in den geregelten und vorgesehenen Fällen unbedingt (in der vorgesehenen Form) erforderlich 22 oder wenigstens sinnvoll ist und ob ggf. die Ausgestaltung vereinheitlicht werden sollte. Hier sind zunächst die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu untersuchen. a ) Diese sind eindeutig, soweit das Grundgesetz in Art. 13 Abs. 2 GG vorschreibt, daß Durchsuchungen von Wohnungen nur durch den 17
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22
Vgl. LR-AT. Schäfer21, Einl. Kap. 13 Rdn. 3 bis 9. Die Beamten der Staatsanwaltschaft wurden sogar als „oft untergeordnete Subalterne" bezeichnet — Hahn (Fn. 14) 643. Z. B.: gerichtliche Voruntersuchung; keine Pflicht von Beschuldigten und Zeugen, zu staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen zu erscheinen; Durchsicht von Papieren bei Durchsuchungen (§ 110 a. F.) nur durch den Richter. Die Teilnahme eines Richters an der Leichenschau (§ 87 a. F.) bezweckte eine Verbesserung der Beweissicherung und -verwertbarkeit; Hahn (Fn. 14) 621. Zu Einzelheiten vgl. auch L R - R i e ß * , § 161 a Rdn. 1; § 163 a Rdn. 1 bis 3, 47; LR-*. SchäferEinl. Kap. 5 Rdn. 25 bis 31; Kap. 13 Rdn. 3 bis 9. Vgl. Fn. 12. Vgl. z. B. L R - Z W , § 81 a Rdn. 52 ff; LR-C. Schäfer24, § 100 Rdn. 4; § 100 b Rdn. 2; § 111 Rdn. 15; § 111 a Rdn. 40; § 111 n Rdn. 1; LR-Hanactf* § 132a Rdn. 9; zu § 87 und § 161 a BTDrucks. 7/551 S. 64 und 73; zu § 111 BTDrucks. 8/1482 S. 10; zu § 163 d BTDrucks. 10/5128 S. 7; krit. hierzu Nelles (Fn. 1) 47. Vgl. Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, 2; 5 Abs. 1 Satz 1, 2; 10 Abs. 1; 11; 12 Abs. 1 Satz 1; 13 Abs. 1 Satz 1; 14 Abs. 1 Satz 1; 104 Abs. 2 GG; zur Grundrechtsrelevanz von Maßnahmen nach den §§ 81 b, 110, 131, für die kein Richtervorbehalt gilt, vgl. Nelks (Fn. 1) 47; Batike StrVert. 1986, 120 ff; s. auch Amelung JZ 1987, 737 ff; Dähn JA 1981, 7; Roxin, Strafverfahrensrecht, 21. Auflage, 186. Zu Zweifeln der Länder, die bzgl. § 163 d eine Anordnungskompetenz der Staatsanwaltschaft forderten, vgl. BTDrucks. 10/5128 S. 7.
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Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet werden. Entsprechendes gilt für Freiheitsentziehungen; über deren Zulässigkeit und Fortdauer hat nach Art. 104 Abs. 2, 3 GG der Richter zu entscheiden, bei jeder nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung ist unverzüglich eine richterliche Entscheidung herbeizuführen, und speziell in Strafsachen ist jeder Festgenommene spätestens am Tage nach der Festnahme dem Richter vorzuführen, der ggf. einen Haftbefehl zu erlassen oder die Freilassung anzuordnen hat. Daraus ergibt sich, daß der Gesetzgeber bei der einfach-rechtlichen Regelung von Wohnungsdurchsuchungen (vgl. §§ 102, 103) und freiheitsentziehenden Anordnungen (vgl. §§ 81, 81 c, 112 ff, 126 a, 161 a) grundsätzlich einen Richtervorbehalt vorzusehen hat, der allenfalls durch eine Eilkompetenz durchbrochen werden darf, und bei nichtrichterlichen Haftanordnungen die nachträgliche Herbeiführung einer richterlichen Bestätigung unverzichtbar ist. b) Im übrigen finden die in Betracht kommenden Grundrechte, nämlich das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Leben und körperliche Unversehrtheit, Meinungs- und Pressefreiheit sowie Freiheit der Berichterstattung, Postgeheimnis, Freizügigkeit, Berufswahl und -ausübung sowie Eigentum, ihre Ausgestaltung und Grenzen in den allgemeinen Gesetzen, ohne ausdrückliche grundgesetzliche Bestimmung, daß eine richterliche Entscheidung für Einzeleingriffe in diese Grundrechte auf der Grundlage der allgemeinen Gesetze notwendig sei (vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 3, Art. 5 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2 Satz 1, Art. 11 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 Satz 2, Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG). Daraus könnte im Hinblick auf Art. 13 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 2, 3 GG - im Umkehrschluß — gefolgert werden, daß der Verfassungsgeber in diesen Fällen einen Richtervorbehalt für Einzeleingriffe jedenfalls nicht als zwingend erforderlich angesehen hat. Eine andere Bewertung könnte sich jedoch über Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ergeben. Danach steht jedem der Rechtsweg offen, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. Dies ist die einen wirksamen Rechtsschutz des Bürgers bezweckende verfassungsrechtliche Gewährleistung der vom Gesetzgeber effektiv auszugestaltenden Möglichkeit 23 , einen Richter anzurufen, wenn durch einen Hoheitsakt in ein Individualrecht des Einzelnen eingegriffen wird.
23
BVerfGE 57, 22; 51, 284; 49, 256; 44, 305; 40, 273; 37, 153; BVerfG NStZ 1984, 229; vgl. auch Lorenz A ö R B d - 1 0 5 ( 1 9 8 0 ) 623 ff; Frohn, Rechtliches Gehör und richterliche Entscheidung (1989) 28 ff, 162 ff.
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Man könnte nun die Auffassung vertreten, es genüge im Hinblick auf die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, wenn der Gesetzgeber, abgesehen von den durch Art. 13 Abs. 2, Art. 104 Abs. 2, 3 GG erfaßten Fällen, grundsätzlich die Regelung einer staatsanwaltschaftlichen Grundkompetenz zur Anordnung von Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren vorsehe, verknüpft mit der Notwendigkeit der richterlichen Bestätigung oder wenigstens der Möglichkeit der Anrufung des Richters. Es könnte sogar möglicherweise die Auffassung vertreten werden, der Garantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG könne dadurch genügt werden, daß in der Hauptverhandlung die Rechtmäßigkeit der Anordnung und Ausführung der Maßnahme — ggf. mit der Folge eines VerwertungsVerbotes bei schwerwiegenden Mängeln 24 — zu prüfen sei 25 ; im übrigen gewähre, jedenfalls wenn es nicht zur Hauptverhandlung komme oder wenn der Betroffene nicht Beschuldigter sei, § 23 EGGVG oder § 98 Abs. 2 (analog angewendet) gegen grundrechtsrelevante Maßnahmen ausreichenden Rechtsschutz 26 . Problematisch könnte diese Auffassung jedoch deshalb sein, weil Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG auch beinhaltet, daß die formal vorzusehende gerichtliche Kontrolle einer tatsächlichen wirksamen Ausgestaltung 27 bedarf, die es insbesondere verhindert, daß schwerwiegende, unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, die nachträglich durch Entscheidung zur Hauptsache nicht mehr beseitigt werden können 28 . Irreparable Entscheidungen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten können, müssen soweit wie möglich ausgeschlossen werden. Nur überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, die Rechtsschutzgarantie einstweilen zurückzustellen, um ausnahmsweise unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des Gemeinwohls rechtzeitig einzuleiten 29 . Die Gefahr solcher (weitgehend) irreparabler Nachteile könnte jedoch bestehen, wenn der Staatsanwaltschaft die Grundkompetenz zur Anordnung grundrechtsrelevanter Eingriffe, verknüpft mit einer richter-
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25
26
27 28 29
Vgl. dazu z.B. UK-K. Schäfer2*, Einl. Kap. 14 Rdn. 13ff; K K - P f e i f f e r , StPO, 2. Auflage, Einl. VIII Rdn. 117 ff; KleinknechtjMeyer39 Einl. Rdn. 55 ff; L R - Z W § 81 a Rdn. 74 ff; LR-G. Schäfer24 § 98 Rdn. 36, 37; § 111 Rdn. 35. Zu diesem Ansatz vgl. (überwiegend krit.) LR-^T. Schäfer24 Einl. Kap. 8 Rdn. 15; LRDahs* § 81 a Rdn. 70; Dörr NJW 1984, 2258; s. auch BVerfG NStZ 1984, 228, 229; OLG Frankfurt StrVert. 1989, 96. Vgl. - neben Fn. 25 - auch L R - K . S c h ä f e r 1 * , Einl. Kap. 10 Rdn. 11 ff; LRG. Schäfer**, § 98 Rdn. 47 ff; § 111 Rdn. 32; K K - L a u f l ü t t e 1 , § 98 Rdn. 21, 22; Kleinknechtj Meyer39, § 23 EGGVG Rdn. 2, 10. Vgl. Fn. 23; Seifert jHornig-Antoni, GG, 3. Auflage, Art. 19 Rdn. 16. Vgl. BVerfGE 46, 179; 69, 228; Frohn (Fn. 23) 37, 162. Vgl. BVerfGE 51, 284.
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liehen „Nachprüfung" zugebilligt würde. Die nachträgliche Kontrolle durch den Richter könnte zwar — bei entsprechender Ausgestaltung einer solchen Regelung — zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anordnung und zu einem Verwertungsverbot bzgl. des Untersuchungsergebnisses führen, in vielen Fällen aber nicht zur Beseitigung des Eingriffs selbst und aller unmittelbaren oder mittelbaren Folgen. Dies zeigt sich insbesondere bei körperlichen Eingriffen, weil die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit selbst nicht mehr zu beseitigen wäre. Bei der Postbeschlagnahme könnten die Briefe zwar zurückgegeben werden, die (unbefugte) Kenntnisnahme vom Inhalt jedoch bliebe. Auch eine (diskriminierende) Durchsuchung an einer Kontrollstelle wäre nicht mehr ungeschehen zu machen. Das Problem stellt sich allerdings heute schon bei den Eilkompetenzen, insbesondere z. B. bei den §§ 81 a Abs. 2, 81 c Abs. 5, die — im Einzelfall möglicherweise schwerwiegende — körperliche Eingriffe mit Hilfe einer Eilkompetenz zulassen30; dahinter steht der erwähnte Gedanke, daß trotz der grundsätzlichen Garantie eines effektiv wirkenden Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG die Gefahr irreparabler Folgen jedenfalls hingenommen werden muß, wenn dies im Hinblick auf die Unverzichtbarkeit einer Eilmaßnahme im Einzelfall unvermeidlich ist. Gibt es aber, wie §§ 81 a, 81 c zeigen, selbst bei Eingriffen in das hohe Rechtsgut auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1) kein undurchbrochenes Prinzip des Richtervorbehalts, so wäre aus rein verfassungsrechtlicher Sicht wohl auch eine gesetzgeberische Lösung vertretbar31, die von einer Grundkompetenz der Staatsanwaltschaft zur Anordnung der Maßnahme ausgeht und dem Betroffenen die Möglichkeit der Anrufung des Richters vor dem Beginn der Wirkung oder dem Vollzug der Maßnahme zubilligt, soweit nicht der Wirkungsbeginn bzw. der Vollzug z. B. wegen der Gefahr von Ermittlungsdefiziten eilbedürftig ist. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer solchen Lösung 32 könnte durch folgende Erwägung gestützt werden: der Verfassungsgeber hätte — neben der Garantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG - eine Regelung wie in Art. 13 Abs. 2, 104 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 30
31
32
Sogar ohne Regelung einer wenigstens nachträglichen richterlichen Kontrolle; s. aber Fn. 9, 51. Unbeschadet der Vorgaben durch Art. 13 Abs. 2, 104 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3; vgl. auch Welp (Fn. 1, 1976) 10 ff, 13, 25. Sie könnte nicht nur in den unter II A 2 genannten Fällen, sondern auch bei Maßnahmen z. B. nach den §§ 81 a bis 81 c, 87 Abs. 2, 3, 94 ff, 111, 111 a, 111 c, 111 d, 132, 132a, 443 (vgl. II A 3 bis 5) von Interesse sein. Denkbar wäre insbes. eine Lösung über eine aufschiebende Wirkung der Anrufung — vgl. § 81 Abs. 4 Satz 2. Wegen weiterer Einzelheiten, insbesondere zur strafprozessualen Wertung vgl. unten II B 3 b.
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GG auch für möglicherweise irreparable Eingriffe (z. B. in das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder für entsprechende Fälle) treffen können, wenn er insoweit — wie dort — ein Primat des Richtervorbehalts, nur durchbrochen für Eilfälle, hätte regeln, also die Möglichkeit einer Grundkompetenz der Staatsanwaltschaft hätte ausschließen wollen. c) Es drängt sich allerdings die Frage auf, ob dies auch für tataufklärende „Geheimmaßnahmen" gelten kann, etwa für die Telefonüberwachung (§ 100 a), die Kontrollfahndung (§ 163 d) oder für die Rasterfahndung, die dem Beschuldigten nicht erkennbare, längerfristige Observation, die sog. „Polizeiliche Beobachtung", die verdeckte Aufnahme des nicht öffentlich gesprochenen Wortes durch Tonaufzeichnungsgeräte, oder den Einsatz Verdeckter Ermittler gegen bestimmte Personen, Maßnahmen, die als Eingriffe in den höchstpersönlichen Lebensbereich (Art. 2 Abs. 1 GG) zu werten sein dürften 33 und zu irreparablen Beeinträchtigungen bei den Betroffenen führen können (z. B.: Ausforschung höchstpersönlicher Lebensbereiche des Betroffenen; Bekanntwerden dieser Erkenntnisse, etwa infolge entspr. Fragen an Zeugen bei deren Vernehmung). Hier ist das oben skizzierte Konzept nicht realisierbar, weil dem Betroffenen naturgemäß Anordnung und Vollzug der Maßnahme nicht mitgeteilt werden 34 und grundsätzlich (jedenfalls zunächst) verborgen bleiben sollen. Die Situation wäre zwar teilweise vergleichbar mit einer Anordnung auf der Grundlage einer staatsanwaltschaftlichen Eilkompetenz, weil richterlicher Rechtsschutz erst nach dem Vollzug möglich, auf die nachträgliche Feststellung einer eventuellen Rechtswidrigkeit begrenzt wäre und Folgen einer rechtswidrigen Anordnung oder Ausführung (allenfalls) über ein Verwertungsverbot beseitigt werden könnten. Ein wesentlicher Unterschied wäre aber, daß eine richterliche Überprüfung auf Veranlassung des Betroffenen bei Regelung einer staatsanwaltschaftlichen Grundkompetenz im Hinblick auf die besondere Natur der Maßnahme vor Vollzug in aller Regel nicht möglich, die durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistete Effektivität des richterlichen Rechtsschutzes also grundsätzlich in Frage gestellt, nämlich weitgehend auf Null reduziert, und nicht nur durch eine Eilkompetenz durchbrochen wäre. Soll aber der Anspruch des Bürgers aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG auf wirksam ausgestalteten richterlichen 33
34
Vgl. SK-Rudolphi Vor § 94 Rdn. 13 ff, insbesondere Rdn. 39 ff; s. auch Wolter (Fn. 3) 358 ff. Entsprechendes gilt für allgemeine Fahndungsmaßnahmen mit erheblicher Außenwirkung, insbesondere wenn sie sich an die Öffentlichkeit richten; vgl. dazu Bottke StrVert. 1986, 120 ff.
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Rechtsschutz nur ausnahmsweise wegen überwiegender öffentlicher Belange zurücktreten dürfen 35 , so muß in solchen Fällen, in denen bei staatsanwaltschaftlicher Anordnungskompetenz eine rechtzeitige Anrufung des Richters durch den vor der Anordnung nicht einmal gehörten 36 Betroffenen in aller Regel ausgeschlossen wäre, diese verschlossene Anrufung durch eine gesetzliche Vorverlagerung der richterlichen Prüfung und Entscheidung, nämlich eine grundsätzliche richterliche Anordnungskompetenz, ausgeglichen werden 37 . Nur so könnte dem auf das verfassungsrechtliche Risiko hinweisenden Argument begegnet werden, durch eine grundsätzliche Anordnungskompetenz der Staatsanwaltschaft bei dem Betroffenen jedenfalls zunächst verborgen bleibenden Maßnahmen werde Art. 19 Abs. 4 Satz 1 für diese Fälle praktisch ausgehöhlt 38 . d) Folgt man diesen Erwägungen, auf Grund deren es sich empfiehlt, zur Ausschaltung eines verfassungsrechtlichen Risikos nicht nur in den von Art. 13 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 GG erfaßten Fällen (a), sondern im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG auch bei den oben (c) genannten „Geheimmaßnahmen" 39 einen grundsätzlichen Richtervorbehalt vorzusehen, allenfalls durchbrochen durch eine Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft, so dürfte im übrigen einer einfachrechtlichen Regelung einer Entscheidungskompetenz der Staatsanwaltschaft für sonstige, grundsätzlich offene Ermittlungsmaßnahmen mit Eingriffscharakter — wie sie oben (II. B. 2. b — a. E.) aus verfassungsrechtlicher Sicht skizziert wurde — wohl auch nicht das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), soweit es die Rechtsbindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung beinhaltet 40 , entgegenstehen. 3. Aus strafprozessualer Sicht ergeben sich jedoch weitere Beurteilungskriterien. 35 36
37 38
39 40
Vgl. BVerfGE 51, 284; 69, 228. Vgl. auch § 33 Abs. 4 und zum rechtlichen Gehör allgemein LR-A'. SchäferEinl. Kap. 13 Rdn. 83 bis 102. S. auch Wolter (Fn. 3) 364. Vgl. Fn. 34. Der Gesetzgeber hat sich bei den §§ 100 a, 163 d aber nicht wegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, sondern wegen der Bedeutung des Eingriffs für einen Richtervorbehalt entschieden - vgl. BTDrucks. V/1880 S. 12, BTDrucks. 10/5128 S. 7 - und zu § 163 d darauf verwiesen, daß der hier vorgesehene Richtervorbehalt nicht präjudiziell für das StVÄG sei. S. auch Welp (Fn. 1, 1974) 92 (zu § 100 a auf Überraschungswirkung der Maßnahme und Effektivität des Rechtsschutzes abstellend); Rogall NStZ 1986, 391 (zu § 163 d); Wolter (Fn. 3) 141. Zur Verpflichtung des Gesetzgebers, die Rechtsschutzgarantie verfahrensrechtlich zu sichern, vgl. Loren% (Fn. 23) 642. Vgl. Fn. 34. Vgl. Seifert/Hornig Art. 20, Rdn. 9; s. auch Welp (Fn. 1, 1976) 10 ff.
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a) Die vorstehend ( I L A . ) aufgeführten Regelungen zeigen, daß die StPO verfassungsrechtlich Gebotenes weitgehend durch eigenständige, in ihre Systematik eingepaßte Verfahrensnormen umgesetzt hat 41 . Dabei mußten nicht nur verfassungsrechtliche Vorgaben, sondern auch Zwecke des Strafverfahrens sowie prozeßrechtliche Besonderheiten berücksichtigt und Lösungen gefunden werden-, die sowohl verfassungsrechtlichen als auch strafprozessualen Ansprüchen genügen. Dies zeigt sich z. B. in der Regelung zahlreicher, abgestufter Eilkompetenzen (s. o. II. A. 3., 4.) oder in der Einräumung einer staatsanwaltschaftlichen Grundkompetenz mit der Möglichkeit der Anrufung des Richters (II. A. 2.). Es kann davon ausgegangen werden, daß die einzelnen, z. T. komplizierten Regelungen letztlich das Ergebnis einer schwierigen, durch verfassungsrechtliche Vorgaben geprägten Abwägung zwischen gegensätzlichen oder jedenfalls nicht gänzlich vereinbaren Rechtspositionen und Interessen, insbesondere der staatsanwaltschaftlichen Herrschaft über das Ermittlungsverfahren, der Notwendigkeit einer Sicherung der Effektivität der Ermittlungen 42 und schutzwürdiger prozessualer und außerprozessualer Gegeninteressen der von Maßnahmen Betroffenen sind. Bei einer ersten Betrachtung und Wertung könnte angenommen werden, daß die Regelungen — jedenfalls u. a. (vgl. aber II. B. 3. b) — der Grundlinie folgen: aa) bei weniger tiefgreifenden Maßnahmen die staatsanwaltschaftliche Erstkompetenz beizuhalten, bb) bei stärker oder in bedeutendere Rechte eingreifenden Maßnahmen zwar den Richtervorbehalt vorzusehen, der Gefahr von Verzögerungen und Ermittlungsdefiziten jedoch — den Betroffenen überraschende nichtrichterliche Fehlentscheidungen in Kauf nehmend — durch Eilkompetenzen zu begegnen, die wiederum eingeschränkt sind bei schwerwiegenden Eingriffen (II. A. 4), und cc) schließlich richterliche Alleinkompetenzen bei Maßnahmen im Bereich besonders schutzwürdiger Rechtsgüter zu regeln. b) Auf diesem Hintergrund ist unter strafprozessualen Gesichtspunkten zu prüfen, ob die für einen Teilbereich unter rein verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten wohl vertretbare Lösung einer weitergehenden Kompetenz der Staatsanwaltschaft (s. o. II. B. 2. b — a. E.) eine brauchbare Alternative bietet. Die unter II. A. 2. genannten Regelungen folgen weitgehend diesem Konzept 43 ; so ist z. B. die Anrufung des Richters (§§ 161 a Abs. 3 Satz 1, 41 42 43
Vgl. auch Neumann ZStW 101 (1989), 53 ff; LR-Ä\ Schäfer», Einl. Kap. 13 Rdn. 88 ff. Vgl. auch Neumann (Fn. 41) 61. Vgl. LR-Ä«/ 4 § 161 a Rdn. 51 ff, 59; 163 a Rdn. 67 ff; krit. Welp (Fn. 1, 1976) 10 ff, 25, 28, 29.
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163 a Abs. 3 Satz 3) schon gegen die Androhung der Vorführung, also vor deren Vollzug zulässig 44 . Entsprechendes gilt für § 1111. Dagegen wäre eine Grundkompetenz der Staatsanwaltschaft, verbunden mit der Befugnis des Betroffenen, vor dem Beginn der Wirkung bzw. dem Vollzug der Maßnahme den Richter anzurufen, soweit nicht der Wirkungsbeginn bzw. der Vollzug wegen der Gefahr von Ermittlungsdefiziten eilbedürftig ist, bei Maßnahmen z. B. nach den §§ 81 a, 81c, 87, 94ff, 111, l i l a , 111c, 111 d, 132, 132a, 443 (Fn. 32) 45 unter Berücksichtigung strafprozessualer Erfordernisse problematisch. Ein solches Anrufungsverfahren würde nämlich die Justiz erheblich belasten, weil es durch die Information des Betroffenen von der Anordnung der Maßnahme erheblichen Personal-, Arbeits- und Kostenaufwand sowie Verfahrensverzögerungen verursachen würde. Entscheidend dürfte aber letztlich sein, daß solche Maßnahmen häufig beschleunigt angeordnet sowie alsbald nach der Anordnung wirken bzw. vollzogen werden müssen 46 , die Staatsanwaltschaft aber nicht nach Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet wäre 47 , vor einer Anordnung rechtliches Gehör zu gewähren und in vielen Fällen — wenn sie die Anordnung treffen dürfte und würde — aus den in § 33 Abs. 4 Satz 1 genannten Gründen auch nicht gewähren könnte. Anordnung, Wirkung und Vollzug der Maßnahmen überraschen also häufig den Betroffenen, so daß es auch hier (ähnlich wie unter II. B. 2. c erörtert) im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geboten erscheint, zur Wahrung der Effektivität der Rechtsschutzgarantie die richterliche Kontrolle vorzuverlagern 48 . Die Gewährung nachträglichen richterlichen Rechtsschutzes bei generell primärer Anordnungskompetenz der Staatsanwaltschaft wäre im Hinblick darauf, daß der Betroffene häufig vor Anordnung, Wirkungsbeginn und Vollzug nicht gehört würde, unzulänglich; sie könnte maßnahmebedingte — möglicherweise ungerechtfertigte — Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht oder nur unzulänglich beseitigen. Der Richtervorbehalt ist also nicht nur wegen der erheblichen Eingriffstiefe 44 45
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KleinknechtjMeyer» § 161 a Rdn. 21; § 163 a Rdn. 22. Soweit der Richtervorbehalt nicht ohnehin wegen Art. 13 Abs. 2 Satz 1 GG geboten ist - vgl. z. B. L R - D a h f * § 81 a Rdn. 53. Vgl. auch Amelung (Fn. 1) 32, 62; Nelles (Fn. 1) 52; Welp (Fn. 1, 1976) 10 ff, 14; LRWendiscP* § 132 Rdn. 8; § 81 Abs. 4 Satz 2 ist ein Ausnahmefall. Art. 103 Abs. 1 GG betrifft das Verfahren vor Gericht; vgl. Seifert)Hornig (Fn. 27) Art. 103 Rdn. 4; Maun^\Dürig\Schmidt-Assmann, GG (1989), Art. 103 Rdn. 56; LRK. Schäfer24 Einl. Kap. 13 Rdn. 93; a. A. Rieß FS Rebmann (1989) 395 Rdn. 48 m. w. N. Die umstr. Frage, ob sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 GG) ein „Anspruch" auf rechtliches Gehör ableiten läßt (vgl. Maun^/Düng/Schmidt-Assmann aaO), soll hier im Hinblick auf § 33 Abs. 4 Satz 1 offen bleiben. Vgl. Amelung (Fn. 1) 32; Nelles (Fn. 1) 51 bis 54, 175, s. auch 247 ff; SIC-Rudolphi Vor § 94 Rdn. 75; Welp (Fn. 1, 1976) 10 ff, 12, 14; LorenZ (Fn. 23) 642; BGHSt. 35, 363; s. auch Krekeler NJW 1977, 1417.
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bestimmter Ermittlungsmaßnahmen erforderlich (s. o. II. B. 3. a), sondern insbesondere ein durch strafprozessuale Notwendigkeiten bedingter präventiver richterlicher Rechtsschutz 49 . Diesem Konzept widerspricht nicht die Zulassung zahlreicher Eilkompetenzen (vgl. II. A. 3., 4.). Sie stellen das Prinzip der Vorverlagerung der richterlichen Kontrolle nicht grundsätzlich in Frage, sondern sind als Ausnahmekompetenzen gedacht, die verhindern sollen, daß durch zeitraubende Einholung richterlicher Entscheidungen die Erfolgsaussichten einzelner strafprozessualer, grundrechtsrelevanter Ermittlungsmaßnahmen erheblich beeinträchtigt werden 50 . Zu prüfen bleibt, ob gegen die Richtigkeit dieser Erwägungen spricht, daß bei Maßnahmen nach den §§ 81 b, 110, 131, 163 b kein ausdrücklicher Richtervorbehalt geregelt ist 51 . Auch solche Grundrechtseingriffe 52 können — von Staatsanwaltschaft bzw. Polizei angeordnet und vollzogen — den Betroffenen überraschen. Will man die Abweichung in der Kompetenzregelung nicht als systemwidrig hinnehmen, so bieten sich folgende Erklärungen für eine Rechtfertigung als vertretbare Ausnahme an: Zum Teil handelt es sich um weniger schwerwiegende Eingriffe 53 . Zum Teil erscheint ein Richtervorbehalt verzichtbar, soweit der Maßnahme bereits eine richterliche Entscheidung vorausgegangen ist (§§ 110, 131 — Durchsuchungsanordnung bzw. Haftbefehl), im Falle des § 163 b wäre eine richterliche Primärkompetenz kaum praktikabel 54 . c) Gegen eine verstärkte Einschaltung von Richtervorbehalten, nämlich über das gemäß Art. 13 Abs. 2, 104 Abs. 2, 3 GG Unerläßliche hinaus, insbesondere bei den unter II. B. 2. c genannten Maßnahmen, könnte nun aus rein strafprozessualer Sicht insbesondere geltend gemacht werden, diese richterlichen Primärkompetenzen — widersprächen der Herrschaft der Staatsanwaltschaft über das Ermittlungsverfahren, diese jedoch sei in erster Linie Garant für Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit dieses Verfahrensabschnitts, setze die Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und trage
49
50 51
52 53
54
Vgl. Fn. 48; s. auch Fn. 57; dung: Meyer (Fn. 1) 129.
LR-Rieß2"
§ 162 Rdn. 1, 2, 44, 45; krit. bzgl. der Begrün-
SK-Rudolphi, Vor § 94 Rdn. 77 und § 98 Rdn. 9; Nelles (Fn. 1) 69 ff, 246 ff; Amelung (Fn. 1) 62, 63 (auch zum probl. Vorrang der Eilkompetenz in der Praxis). Zur nachträglichen richterlichen Kontrolle vgl. L R - D a h P , § 81 b Rdn. 22; LRG. Schäfer2*, § 110 Rdn. 17, 18; LR-WendiscP\ § 131 Rdn. 2 5 f f (§§ 115, 115a); LRIiief \ § 163 b Rdn. 46 ff; Botthe StrVert. 1986, 120 ff.
Vgl. Nelles (Fn. 1) 47. Vgl. aber Nelles (Fn. 1) 47; s. auch Krekeler (fn. Vgl. KleinknechtjMeyer39, § 163 b Rdn. 21.
48) krit. zu § 110.
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223
die Verantwortung für eine zuverlässige Wahrheitserforschung im Rahmen der Verfassung und der Prozeßordnung, — verlagerten systemwidrig richterliche Entscheidungen in den Kernbereich des Ermittlungsverfahrens und seien mit der durch die Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung (§§ 178 bis 197 a. F.) eingeleiteten Entwicklung nicht vereinbar, denn in weiten Bereichen werde die Sachleitungsbefugnis im Ermittlungsverfahren wieder auf den Richter übertragen, — führten zu überflüssigen und gefährlichen Verzögerungen sowie zu einer erheblichen Mehrbelastung der Richter, — seien Ausdruck eines unberechtigten Mißtrauens des Gesetzgebers gegenüber der Staatsanwaltschaft, — seien bei den unter II. B. 2. c genannten unterschiedlich tief wirkenden Maßnahmen auf solche zu beschränken, die den bisher mit Richtervorbehalt versehenen Eingriffen von ihrer Intensität her entsprächen, nämlich auf schwerste Eingriffe in den Kern verfassungsrechtlich geschützter Bereiche. Insoweit ist zu bedenken: aa) Eine gewisse Friktion zwischen der Stellung der Staatsanwaltschaft 55 im Ermittlungsverfahren und einer Beschneidung ihrer Kompetenzen durch Richtervorbehalte ist wohl nicht zu bestreiten. Die Staatsanwaltschaft ist ein dem Gericht gleichgeordnetes Organ der Rechtspflege und ebenso wie das Gericht Recht und Gesetz verpflichtet. Es ist davon auszugehen, daß sie in einem Rechtsstaat die geltenden Normen korrekt und fair anwendet. Dennoch entspricht es dem hergebrachten System der StPO, dem Richter die Kontrolle über die Rechtmäßigkeit bestimmter Maßnahmen der Staatsanwaltschaft zuzuweisen 56 . Wird diese Kontrolle, um ihre Effektivität zu gewährleisten, in Form einer richterlichen Primärkompetenz vorverlagert, so führt dies nicht erst zu dieser Friktion, sondern verdeutlicht sie nur. Durch diese Vorverlagerung wird allerdings der richterliche Einfluß auf den Ablauf des Ermittlungsverfahrens verstärkt, der Richter in die Gestaltung und Verantwortung für die Sachverhaltsaufklärung stärker eingebunden. Es ist jedoch auch zu fragen, ob es nicht rechtsstaatlicher ist, durch eine frühzeitig ansetzende richterliche Kontrolle problematische Auswirkungen von nicht ausschließbaren Fehlentscheidungen im Ermittlungsverfahren weitgehend von vornherein zu vermeiden, als zu versuchen, sie ggf. nachträglich (soweit möglich) zu beseitigen (vgl. II. B. 2. c sowie unten). Nicht selten dürfte es bei der Anordnung von
55 56
Vgl. hierzu Odersky, FS Rebmann (1989), 343 ff. Vgl. auch OLG Frankfurt StrVert. 1989, 97; Benfer NJW 1981, 1246.
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Ermittlungsmaßnahmen mit Eingriffscharakter schwierig sein, sachgerecht zu verfahren, weil in die Rechte der Beteiligten ohne ausreichende Aufklärung des Sachverhalts, unter Umständen aufgrund einseitiger Sachdarstellung eingegriffen werden muß. Hier soll die frühzeitige Einschaltung des Richters und der damit verbundenen Garantien des richterlichen Verfahrens gewährleisten, daß die Interessen auch der nicht oder nicht ausreichend gehörten Beteiligten soweit möglich berücksichtigt und insbesondere die gesetzlichen Voraussetzungen und Grenzen derartiger Eingriffe genau beachtet werden 57 . Fehlentscheidungen bei der Anordnung von Ermittlungsmaßnahmen können äußerst problematische Folgen haben. Beispielhaft sei darauf verwiesen, daß eine sog. „Geheimmaßnahme" (vgl. II. B. 2. c), etwa der Einsatz eines Verdeckten Ermittlers (obwohl die Einsatzvoraussetzungen fehlen), erhebliche „Zufallsfunde" erbringen kann, etwa Ermittlungsansätze oder Beweise bzgl. bisher unbekannter Straftaten. Diese zufallig sich ergebenden Ermittlungsansätze oder Beweise können dann zu (weiteren) überführungsgeeigneten Beweisen führen. Die Erkenntnisse wären nicht gewonnen worden, wenn der Verdeckte Ermittler nicht eingesetzt worden wäre. Der Einsatz wäre aber möglicherweise unterblieben, wenn ein Richter auf der Grundlage des Vorbringens der Staatsanwaltschaft, nach deren Vorprüfung, das Vorliegen der gesetzlichen Einsatzvoraussetzungen (noch einmal) geprüft hätte. In solchen Fällen würde sich mit aller Schärfe die Frage von Verwertungsverboten einschließlich der Problematik der „Fernwirkung" 5 8 stellen. bb) Eine Argumentation unter Hinweis auf die durch Art. 1 Nr. 57 des 1. StVRG abgeschaffte gerichtliche Voruntersuchung 5 9 erscheint schon deshalb verfehlt, weil sie verkennt, daß die richterliche Entscheidung mit der früheren gerichtlichen Voruntersuchung nicht vergleichbar ist, da sie auf die Kontrolle der Zulässigkeit der Maßnahme begrenzt ist 60 . Außerdem dürfte die Neuregelung von Richtervorbehalten für die unter II. B. 2. c genannten Maßnahmen nicht als Rückentwicklung, sondern als
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Vgl. BVerfGE 9, 97; Fe^er Strafprozeßrecht I (1986) 2 Rdn. 93 ff, 8 Rdn. 61 ff; Welp (Fn. 1, 1974) 92, (Fn. 1, 1976) 29; Amelung J Z 1987, 745; Nelles (Fn. 1) 53; nur am Rande sei in diesem Zusammenhang auf die Unabhängigkeit des Richters (Art. 97 Abs. 1 G G ) im Gegensatz zur Weisungsbindung des Staatsanwaltes (§ 146 G V G ) verwiesen. Vgl. Kleinknecht\Meyer39, Einl. Rdn. 57; §100a Rdn. 23; Reichert-Hammer JuS 1989, 446 ff; Rogali N S t Z 1988, 385 ff; s. auch: „Wahrheitsfindung und ihre Schranken" DAV Schriftenreihe A G Strafrecht (1989) ( - alle m. w. N.). Vgl. LR-ÄT. Schäfer2\ Einl. Kap. 13 B I. Vgl. L R - R i e f * § 162 Rdn. 44, 45; Nelles (Fn. 1) 175; Benfer N J W 1981, 1246.
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eine konsequente Weiterentwicklung unter Berücksichtigung der bereits bestehenden Richtervorbehalte und ihrer Notwendigkeit zu werten sein. Sie wäre deshalb auch nicht Ausdruck des Mißtrauens des Gesetzgebers. cc) Richtig ist, daß Richtervorbehalte im Ermittlungsverfahren zu Mehrbelastungen führen können. Schwerwiegenden Verzögerungen kann jedoch durch die Einräumung sachgerechter Eilkompetenzen begegnet werden. dd) Die Forderung nach einer Beschränkung neuer Richtervorbehalte auf schwerste Eingriffe in den Kern verfassungsrechtlich geschützter Bereiche verkennt schließlich, daß die Notwendigkeit eines Richtervorbehaltes nicht nur von der Eingriffstiefe einer Maßnahme abhängt, sondern insbesondere durch die Überraschungswirkung der Maßnahme, das Fehlen vorherigen rechtlichen Gehörs und die damit zusammenhängende Notwendigkeit einer Sicherung der Effektivität des Rechtsschutzes bedingt ist (s. o. II. B. 2. c, 3. b). III. Ergebnis Aus der Bestandsaufnahme und den Überlegungen zu II. kann abgeleitet werden: /. Die Regelung grundsätzlicher „Richtervorbehalte" zur Anordnung strafprozessualer Grundrechtseingriffe im Ermittlungsverfahren (ggf. ergänzt durch Eilkompetenzen für Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten) dürfte nicht nur wegen der Schwere der Eingriffe, sondern insbesondere im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Garantie der Effektivität des zu gewährenden Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) unumgänglich sein. Sie ist jedenfalls der Gewährung nachträglichen Rechtsschutzes vorzuziehen. 2. Spätestens im Rahmen einer Gesamtreform des Strafverfahrensrechts sollten die geltenden Regelungen insbesondere wegen ihrer komplizierten, zum Teil erheblich unterschiedlichen Ausgestaltung überprüft und soweit möglich vereinheitlicht werden: — dabei sollte die Gewährung eines einheitlichen und effektiven nachträglichen Rechtsschutzes gegen Maßnahmen, die aufgrund von Eilkompetenzen angeordnet wurden, gesetzlich umfassend geregelt werden 61 ; — in diesem Zusammenhang sollte auch geprüft werden, inwieweit zur Zeit bestehende staatsanwaltschaftliche Anordnungsbefugnisse im Hinblick auf Art. 19 GG aufrechterhalten werden können. 61
Zu einzelnen Reformvorschlägen vgl. u. a. Rieß ZRP 1981, 101 (über den RefE des BMJ zur Verbesserung des Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Zwangsmaßnah-
men); RießjThym GA 1981, 189 ff; Amelung (Fn. 1) 39, 62 ff; ders. NJW 1979, 1687 ff; Fe%er Jura 1982, 18 ff; Roxi» (Fn. 21) 190.
Sicherheitsleistung zur Verminderung der Verdunkelungsgefahr? G E R H A R D JUNGFER
I. Das Problem Bemühungen der Verteidigung, die Verhaftung des Mandanten zu verhindern bzw. seine Entlassung zu erreichen, konzentrieren sich häufig auf die „Kompromißebene" der Haftverschonung unter Auflagen (§116 StPO): Man läßt die Frage des „dringenden Tatverdachts" dahinstehen und legt dar, jedenfalls fehle es an einer Fluchtgefahr und — in den relativ seltenen1 Fällen, wo dies angenommen wird — an einer Verdunkelungsgefahr. In den Fällen, wo der Haftbefehl lediglich wegen Fluchtgefahr gerechtfertigt ist, kann die Frage einer Kaution erörtert werden. Es ist sehr naheliegend, eine solche auch in den Fällen anzubieten, wo (auch) Verdunkelungsgefahr angenommen wird. Die Frage, ob eine Sicherheitsleistung eine geeignete Maßnahme zur Herabminderung der Verdunkelungsgefahr sein kann, ist äußerst umstritten. II. Der Meinungsstand Karlheinz Meyer hat die Auffassung vertreten, die Sicherheitsleistung sei keine gesetzlich vorgesehene und auch keine geeignete Maßnahme zur Herabminderung der Verdunkelungsgefahr 2 . Das Kammergericht hatte erstmalig im Jahre 1989 diese Frage zu entscheiden. Der 4. Strafsenat, Meyer's alter Senat, ist dieser Ansicht gefolgt 3 . Dieser Auffassung war Meyer nicht immer: Kleinknecht hatte den Standpunkt vertreten, das Gesetz gehe davon aus, daß die Sicherheitsleistung nur im Falle des Abs. 1 zulässig sei, 1
2 3
Gebauer, Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Deutschland, 1987, S. 68. In KleinknechtjMeyer, StPO, 39. Aufl. 1989, § 116, Rdn. 16. K G JR 1990, 34 (Beschluß vom 23. 06. 1989 - 4 Ws 57/89).
Bundesrepublik
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wie namentlich § 124 StPO zeige. Sie sei aber im Falle des Abs. 2 nicht ausgeschlossen, auch in manchen Fällen geeignet, die konkrete Verdunkelungsgefahr erheblich zu vermindern; § 124 StPO müßte dann analog angewendet werden 4 . Bei der Fortführung des Kommentars mit der 36. Auflage (1983) übernahm Mejer diese Auffassung 5 und behielt sie in der 37. Auflage (1985) bei 6 , wobei er im Vorwort ausführte, der Kommentar sei nicht nur gründlich überarbeitet, sondern auf weiten Strecken neu geschrieben worden. Erst mit der 38. Auflage (1987) tritt die oben beschriebene und in der 39. Auflage (1989) beibehaltene Änderung der Kommentierung ein 7 . Hiermit einerseits, mit der sich 1989 anschließenden Entscheidung des 4. Strafsenates des Kammergerichtes andererseits ist die bis dahin bestehende Mindermeinung, eine Sicherheitsleistung sei im Bereich der Verdunkelungsgefahr nicht zulässig, so stark geworden, daß sich heute zwei gleichgewichtige Lager gegenüberstehen. Ich bin überzeugt, daß es in Karlheinz Meyer's Sinne ist, wenn die Ehrung seiner Persönlichkeit als eines großen Strafverfahrensrechtlers auch darin besteht, sich mit einer seiner strafverfahrensrechtlichen Auffassungen kritisch auseinanderzusetzen. Karlheinz Meyer's Werk zeigt das Strafverfahrensrecht als eine lebende Rechtsordnung, deren Vitalität sich durch die Begegnung und den Austausch der wissenschaftlichen Meinungen zeigt. Er selbst hat immer wieder — zum Teil heftig 8 , manchmal sehr heftig 9 — in die wissenschaftliche Diskussion eingegriffen. Die Argumente im einzelnen: 1. Die Gegner einer Sicherheitsleistung beim Haftgrund der Verdunkelungsgefahr argumentieren auf zwei Ebenen: a) Die Ebene des einfachen Gesetzes, der StPO: Es wird gesagt, eine Sicherheitsleistung lasse sich zwar im Rahmen von § 116 Abs. 2 Satz 2 StPO im Begriff „namentlich" unterbringen. Da aber der Vergleich mit § 124 Abs. 1 StPO ergäbe, daß der Verfall 4
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9
So zuletzt in StPO, 35. Aufl. 1981, § 116, Rdn. 21, zur Entwicklung der Kleinknecht'sehen Kommentierung siehe unten III., 1. b). Rdn. 21. Rdn. 21. 38. Aufl. Rdn. 16; 39. Aufl. Rdn. 16. Siehe beispielhaft die Anmerkung zu BGHSt. 32, 44 in JR 1984, 173: „Die Entscheidung fordert in mehrfacher Hinsicht zum Widerspruch heraus ... ist in der Rspr. ohne Beispiel und sollte kein Beispiel werden." So z. B. in der Anmerkung zu BGH JR 70, 347, 348: „Der BGH wird... nicht erwarten können, daß die Rechtsprechung der anderen Gerichte seiner Auffassung folgt, wenn sie den Sinn und Zweck des Gesetzes so weit verfehlt wie in der hier abgedruckten Entscheidung."
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der Sicherheit nur für den Fall der Flucht geregelt sei, handele es sich im Falle der Verdunkelung um eine gesetzlich nicht vorgesehene Maßnahme. Eine analoge Anwendung von § 124 Abs. 1 StPO scheitere bereits daran, daß die Annahme einer ungewollten Gesetzeslücke äußerst zweifelhaft sei und bereits, zumindest bei der letzten Gesetzesänderung, die gegebene Kontroverse bekannt gewesen sei. Die analoge Anwendung scheitere aber auch an den in der Vorschrift aufgestellten Voraussetzungen für den Verfall der Sicherheit. Den Erfolg einer Verdunkelungshandlung festzustellen, stoße auf erhebliche Schwierigkeiten. Ferner spreche für diese Auffassung der Wortlaut des § 123 Abs. 1 und 3 StPO. Diese Gesichtspunkte seien auch maßgebend für die Auslegung des §116 Abs. 2 StPO. Zwar sei die Bestimmung weit gefaßt, daraus könne jedoch nicht gefolgert werden, daß auch die Auferlegung einer Sicherheit zur Minderung der Verdunkelungsgefahr zulässig sei, weil § 124 Abs. 1 StPO nicht entsprechend angewandt werden könne: Wenn es nach geltendem Recht nicht möglich sei, eine Sicherheit bei Verstößen des Beschuldigten gegen Anweisungen für verfallen zu erklären, so sei eine solche Sicherheitsleistung nicht sinnvoll. Auch verbiete sich eine entsprechende Anwendung von § 124 Abs. 1 StPO: Wenn der Staat bei ihm hinterlegtes fremdes Geld für sich in Anspruch nehmen wolle, müsse er wegen des erheblichen Eingriffs in die Rechte des Beschuldigten eine eindeutige gesetzliche Grundlage haben. Die gebe es nicht, weil § 124 StPO den hier zu entscheidenden Fall nicht regele 10 . Auch wird gesagt, die Maßnahme sei ungeeignet 11 .
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Neben der erwähnten Auffassung von Meyer, Fn. 2 u. 7 und den Bedenken Kleinknechts, Fn. 4 u. 6, K G aaO; OLG Frankfurt NJW 1978, 838 (allerdings mit der Einschränkung, die Sicherheitsleistung komme hier „grundsätzlich" nicht in Betracht); unter Berufung hierauf Roxin, Strafverfahrensrecht, 21. Aufl. 1989, S. 202: Sicherheitsleistung „i. d. R." nicht; noch offen gelassen von OLG Frankfurt NJW 1977, 1975, 1976; sehr zweifelnd in Bezug auf die Zulässigkeit Tiedemann, NJW 1977, 1977; Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts 1986, S. 171; Eb. Schmidt, Nachtrag zu Teil II des Lehrk. zur StPO, 1967, § 116 Rdn. 11. Lobe-Alsberg, Die Untersuchungshaft, Kommentar, 1927, Vorbemerkung zu §§ 117 bis 120, Ziff. 2: „Es liegt auch in der Natur der Sache, daß eine Untersuchungshaft, die dazu dienen soll die Verdunkelungsgefahr abzuwenden ... vollzogen werden muß, um ihren Zweck zu erreichen, und daß dieser Zweck durch andere, nur mittelbar wirkende Mittel nicht erreicht werden kann"; — allerdings für die damalige Rechtslage, bei der es (damaliger § 117 StPO) nur eine Verschonung von der Untersuchungshaft gab beim Haftgrund der Fluchtgefahr und als Minderungsmittel nur die Sicherheitsleistung; Meyer aaO.
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b) Auf der Ebene des Grundgesetzes wird gesagt, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei verletzt, da es zu einer Doppelsanktion komme; im Gegensatz zum Verfallsgrund der Flucht werde hier der Beschuldigte nicht nur wieder inhaftiert, sondern er verliere auch die Kaution. Rechtsstaatliche Bedenken ergäben sich auch noch aus dem Umstand, daß schon ein geringfügiger Verstoß gegen Auflagen zur Verminderung der Verdunkelungsgefahr zur Invollzugsetzung des Haftbefehls und zum Verfall der gesamten Sicherheit führen könne; einen teilweisen Verfall sehe das Gesetz nicht vor 12 . Ähnlich werden Bedenken erhoben: Es stelle sich die Frage, ob eine einschlägige richterliche Verfallordnung im Haftverschonungsbeschluß als Ausdruck einer Vereinbarung von Beschuldigtem und Haftrichter und folglich als bedingter Grundrechtsverzicht zu deuten ist. Es wird gefragt, ob in dem streng öffentlich-rechtlichen, nämlich hoheitlich geregelten deutschen Strafverfahren bei der Anwendung prozessualer Zwangsmittel „Vereinbarungen von Beschuldigtem und Strafverfolgungsbehörde bzw. Gericht zulässig sind" 13 . Die analoge Anwendung des § 124 StPO sei auch im Hinblick auf den massiven Grundrechtseingriff (Art. 14 GG!) zumindest zweifelhaft 14 . 2. Die Befürworter der Möglichkeit einer Sicherheitsleistung im Bereich der Verdunkelungsgefahr halten dem entgegen: a) Auf der Ebene des einfachen Gesetzes, der StPO: Es bestehe eine Lücke, der Gesetzgeber habe eine ausdrückliche Beschränkung der Sicherungsmöglichkeiten in Kenntnis der Kontroverse nicht nomiert, § 124 StPO sei analog anzuwenden. Die Interessenlage sei gleich; daß die Beweislage in den beiden Fallgruppen ungleich sei, könne nicht entscheiden. Es handle sich auch um ein geeignetes Mittel 15 . b) Auf der Ebene des Grundgesetzes wird gesagt, es handele sich um eine Maßnahme pro reo et pro libertate 16 . Es entspreche dem Gebot eines effektiven Schutzes des Grundrechtes der persönlichen Freiheit
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16
Siehe dazu OLG Frankfurt, NJW 1978, 838, 839 (1. Sp.). Tiedemann, aaO, vgl. auch KG, aaO, S. 35 (r. Sp.). Tiedemann, aaO. OLG Hamburg MDR 1974, 595; siehe auch schon in NJW 1966, 1329; siehe auch Müller in KMR, StPO, 7. Aufl., §116a, Rdn. 1; Wendisch in LR, StPO, 24. Aufl., § 116 Rdn. 18; Kleinknecbtjjanischowsky, Das Recht der Untersuchungshaft, 1977, Rdn. 200; Schmidt-Hieber, Verständigung im Strafverfahren, 1986, Rdn. 119. OLG Hamburg, aaO.
Sicherheitsleistung zur Verminderung der Verdunkelungsgefahr?
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(Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), die Möglichkeit der Haftverschonung gegen Sicherheitsleistung für den gesamten Anwendungsbereich des § 116 StPO zu eröffnen 17 .
III. Zulässigkeit und Eignung der Sicherheitsleistung 1. Die Ebene des einfachen Gesetzes, der StPO: a)
Ausgangspunkt
Das Kammergericht stellt fest, da es in dem von ihm zu entscheidenen Fall nicht um die Auferlegung einer Sicherheit, sondern um den Verfall derselben ginge, müsse der Ausgangspunkt aller Überlegungen § 124 Abs. 1 StPO sein18. In ähnlicher Weise argumentieren alle Gegner der Sicherheitsleistung, auch für die Frage der Auferlegung derselben von § 124 Abs. 1 StPO ausgehend19. Bereits dieser Eingangsüberlegung ist entgegenzuhalten: § 124 StPO enthält eine alte Regelung 20 . § 116 StPO ist durch das StPÄG 1964 und das Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung von 1972 in der jetzigen Form Gesetz geworden 21 . Bevor man daher von dem alten Gesetz ausgehend das neue interpretiert, ist eine Besinnung auf den Grund der Reform und ihre Ausgestaltung im Gesetz notwendig: Das StPÄG 1964 hatte das Ziel, im Haftrecht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu verwirklichen. In der Einleitung zur Begründung der Regierungsvorlage heißt es: Es „will § 112 Abs. 2 den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Rechtssatz ausdrücklich einführen... Um die Untersuchungshaft einzuschränken, erweitert der Entwurf die Möglichkeiten, den Vollzug der Untersuchungshaft durch weniger einschneidende Maßnahmen abzuwenden. Er geht mit seinem § 116 — im Anschluß an § 117 des geltenden Rechts — davon aus, daß nicht selten trotz des Bestehens der Voraussetzungen des Haftbefehls der Zweck der Untersuchungshaft anstatt durch deren Vollzug, durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden kann. ... Während die Aussetzung des Vollzugs der Haft bisher nur zulässig ist, wenn der Haftbefehl lediglich wegen Fluchtverdachts gerechtfertigt ist, ermöglicht der Entwurf die Aussetzung gegen weniger einschneidende Maßnahmen auch in Fällen, in denen die Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr gerechtfertigt ist." 22
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Boujong in KK, StPO, 2. Aufl., 1987, § 116, Rdn. 19. KG, aaO, S. 34 (1. Sp.). KG, aaO, S. 35 (1. Sp.) und Fn. 10. Früher (vor dem StPÄG 1964) § 122 StPO, siehe Kaiser u. a., Leitfaden zur kleinen Strafprozeßreform, 1965, S. 8. Kaiser, aaO, S. 7, 8; Diemer-Nicolaus, Das geänderte Haftrecht, N J W 1972, 1692. BT-Drucksache IV, 178, S. 10.
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Die weitere Beratung des Regierungsentwurfes hat diese Zielsetzung unverändert Gesetz werden lassen 23 . An dieser Zielsetzung hat auch das Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung von 1972 keine Änderung vorgenommen 24 . Dies ist der Ausgangspunkt. Er bereits legt nahe, nicht mit dem alten Gesetz das neue zu interpretieren, sondern mit dem neuen Gesetz das alte. Im einzelnen: b) Zur
Geset^esgeschichte
Zur Frage, ob eine ungewollte Gesetzeslücke vorliegt oder nicht, überzeugt die Argumentation mit der Gesetzesgeschichte weder in der Form wie sie von den Befürwortern (hier OLG Hamburg 25 ) einer Sicherheitsleistung vorgenommen wird, noch in der, wie sie das die Gegner der Sicherheitsleistung (hier das OLG Frankfurt und das Kammergericht 26 ) tun: Ausgangspunkt der Überlegungen der drei Oberlandesgerichte ist, daß die Kontroverse zum Zeitpunkt der Neufassung des Haftrechtes 1964, zumindest bei der Änderung des § 116 StPO im Jahre 1972, bekannt war. Ohne auf die inhaltlichen Begründungen beider Positionen hierzu eingehen zu müssen, wird man schon alleine aus dem Umstand, daß mehrere Oberlandesgerichte aus ein und demselben von ihnen festgestellten Sachverhalt entgegengesetzte Schlüsse ziehen, entnehmen, daß das Argument beliebig austauschbar ist, also keine Erkenntnisqualität hat. Unabhängig hiervon ist freilich der Ausgangspunkt bereits gänzlich fraglich. Ich habe kein Argument dafür gefunden, daß der Gesetzgeber bei der Regelung von § 116 StPO an die Kontroverse dachte: §116 StPO, wie ihn das StPÄG 1964 eingeführt hat, entsprach, abgesehen von Abs. 3, den Regierungsentwürfen von 1960 und 196227. Angesichts der Gesetzeslage, die eine Haftverschonung im Falle der Verdunkelungsgefahr zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, gab es zu diesem Problem auch noch keine kontroverse Diskussion in Rechtsprechung oder Literatur. In der Regierungsvorlage vom 07. 02. 196228, im schriftlichen Bericht des Rechtsausschusses vom 01. 03. 196329 und 23
24 25 26 27 28 29
Für alle: Kleinknecbt, Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung ... JZ 1965, 113 ff, 114. Diemer-Nicolaus, aaO, S. 1693 (r. Sp.). Fn. 15. Fn. 10 und 3. Eb. Schmidt, aaO (Fn. 10), Rdn. 1. BT-Drucksache IV, 178. x» BT-Drucksache IV, 1020.
Sicherheitsleistung zur Verminderung der Verdunkelungsgefahr?
233
im schriftlichen Bericht vom 22. 06. 196430 findet sich keinerlei Hinweis auf diese Frage. An solchen Hinweisen fehlt es auch in den grundsätzlichen Aufsätzen, die zum Inkrafttreten des StPÄG 1964 erschienen sind 31 . Es wird einheitlich über die Möglichkeit weniger einschneidener Maßnahmen gesprochen. Es wird nicht erwogen, ob die Sicherheitsleistung dazugehöre oder nicht dazugehöre. Dabei ist von besonderer Bedeutung die umfangreiche Einführung, die Kleinknecht in das Gesetz gegeben hat, weil er sich „das Attribut, Vater dieses Gesetzes zu sein, gefallen lassen" 32 muß. Hier findet sich bei der Erläuterung des neuen Rechtes lediglich der Hinweis, das Gesetz gehe davon aus, nicht selten könne der Zweck der Untersuchungshaft anstatt durch den Vollzug auch durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden. „Dabei macht das Gesetz grundsätzlich keinen Unterschied danach, ob der Haftbefehl durch Fluchtgefahr oder allein durch Verdunkelungsgefahr... gerechtfertigt ist." Unter der Rubrik „Art der Maßnahme" findet sich lediglich der Hinweis, daß der Gesetzgeber als Ersatzmittel bei der Fluchtgefahr unter anderem die Sicherheitsleistung nimmt. In unmittelbarem Anschluß daran wird ausgeführt, für den Fall, daß der Haftbefehl wegen Verdunkelungsgefahr gerechtfertigt sei, führe Abs. 2 „ein besonderes Beispiel an" 33 . Von Bedeutung ist auch der Umstand, daß sich der einzig erhebliche Änderungsvorschlag, der dem § 116 StPO in der Form der Regierungsentwürfe von 1960 und 1962 entgegengesetzt wurde, der Vorschlag des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer war, die Streichung des Abs. 2 Satz 2 vorzuschlagen, „weil es sich dabei nur um eine entbehrliche Aufzählung einiger Beispiele handelt und gerade diese Beispiele als bedenkliche Einschränkungen der Rechte des Beschuldigten erscheinen" 34 . Dies war die Richtung der Diskussion, nicht eine Begrenzung der Möglichkeiten. Zwar führt Kleinknecht dann in der 25. Auflage des Kommentars im Jahre 1965, erstmalig das neue Gesetz kommentierend, aus, die Sicherheitsleistung sei nur im Falle der Fluchtgefahr zuläsig, wie die §§ 123 Abs. 3, 124 Abs. 1 StPO zeigen würden 35 . Ein Jahr später gibt es dann die erste Gerichtsentscheidung zu der Fragestellung
30 31
32
33 34 35
z» BT-Drucksache IV, 2378. Kleinknecht, aaO (Fn. 23), Dahs sen. NJW 1965, 81 ff; Gollwitw DRiZ 1964, 393 ff; Kanka MDR 1965, 245 ff. Rieß, Das Strafprozeßänderungsgesetz 1964, in Strafverfahren und Rechtsstaat, Festschrift für Theodor Kleinknecht zum 75. Geburtstag, 1985, S. 355. aaO (Fn. 23), S. 118. Eh. Schmidt, aaO (Fn. 10), Rdn. 1. 4) D. a. E.
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Gerhard Jungfer
(ohne Kleinknecht zu zitieren, die andere Auffassung vertretend 36 ) und im Jahre 1967 dann die mit Kleinknecht identische Ansicht von Eb. Schmidt mit dem bloßen Hinweis auf § 124 StPO, Kleinknecht zitierend 37 . Nun ist zwar die Kontroverse da; daß gleichwohl die nun folgende weitere Änderung von § 116 StPO keine Bedeutung für die Fragestellung hat, ergibt sich aus zwei Tatsachen: Einmal hat die Änderung von § 116 StPO im Jahre 1972 nichts mit der hier interessierenden Frage zu tun; § 116 Abs. 2 StPO hat seit seiner Einführung durch das StPÄG 1964 bis zum heutigen Tage einen unveränderten Wortlaut. Es wurde bei § 116 StPO lediglich im Hinblick auf die Änderung von § 112 a StPO eine entsprechende Änderung des Abs. 3 vorgenommen 38 . Hierin den Willen des Gesetzgebers zu sehen, entweder das eine oder das andere zu regeln, geht nicht an. Zum anderen: Gerade der „Vater dieses Gesetzes" ändert seine Kommentierung: Beispielsweise heißt es in der 31. Auflage (1974), es „erscheint zweifelhaft", ob die Sicherheitsleistung zur Abschwächung des Haftgrundes eine zulässige Maßnahme ist. Das Gesetz gehe davon aus, daß sie nur im Falle des Abs. 1 zulässig sei, es erfolgt dann der Verweis auf die §§ 123 und 124 StPO sowie: „Eine einzelne Anweisung nach §116 durch Stellung einer Kaution zu sichern, setzt eine starke Ausweitung des § 124 durch Analogie voraus; allenfalls könnte an eine Art „Vertragsstrafvereinbarung" gedacht werden. Gegen beide bestünden Bedenken" 39 . Gemildert wird diese Auffassung dann in der 32. Auflage (1975), wo der Gedanke an eine Vertragsstrafvereinbarung ohne die Hinzufügung von Bedenken als allenfalls denkbar bezeichnet wird 40 . Ebenso dann die 33. Auflage (1977)41. Ein Wandel tritt mit der 34. Auflage (1979) ein: Nunmehr geht Kleinknecht davon aus, daß das Gesetz eine Sicherheitsleistung nur im Falle des Abs. 1 als zulässig ansehe, fügt aber hinzu, „aber sie ist im Fall des II nicht ausgeschlossen... Sie ist auch in manchen Fällen geeignet, die konkrete Verdunkelungsgefahr erheblich zu vermindern. § 124 muß dann analog angewendet werden." 42 Dies bleibt dann so in der 35. Auflage (1981), in
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OLG Hamburg NJW 1966, 1329. Eb. Schmidt, aaO (Fn. 10) a. E. Diemer-Nicolaus, aaO (Fn. 21). 6) D. 6) D. Rdn. 21. Rdn. 21.
Sicherheitsleistung zur Verminderung der Verdunkelungsgefahr?
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der 36. Auflage (1983) fortgeführt von Karlheinz Meyer, in der 37. Auflage 43 . Über den Wandel ist vorstehend berichtet 44 . Die beiden zuletzt angeführten Umstände verbieten es, zu argumentieren, der Gesetzgeber hätte in Ansehung der Kontroverse allen Anlaß gehabt, eine eindeutige Regelung zu treffen, wenn er etwas anderes gewollt hätte. Die Kontroverse bestand erst nach 1964; das Gesetz von 1972 hat im Bereich der Kontroverse nichts geregelt. Der maßgebliche Ministerialbeamte, der das Gesetzgebungsvorhaben von Anfang bis Ende begleitet hat 45 , spricht sich nach anfanglicher anderer Auffassung für die analoge Anwendung von § 124 StPO aus: Es kann nicht angenommen werden, daß er dies gegen einen etwa ihm bekannten Willen des Gesetzes tut; es muß vielmehr davon ausgegangen werden, daß er sich im Einklang mit dem Gesetz sieht. c) Die Lücke Es hat sich ergeben: Es besteht kein Anhaltspunkt dafür, daß der Gesetzgeber die Sicherheitsleistung bei der Einführung von § 116 Abs. 2 StPO ausgeschlossen hat. Der Zweck des StPÄG 1964 und die Gesetzentwicklung bestätigten dies. Wer im Hinblick auf § 124 StPO sagen wollte, es handele sich hier nicht um eine Lücke, vielmehr bestehe zwischen § 116 Abs. 2 und § 124 StPO eine ausdrückliche und gewollte Kontrastregelung, muß angesichts dieses Befundes den Beweis hierfür erbringen. Solange dies nicht geschieht, bis heute fehlt es hieran, gilt, daß in § 116 Abs. 2 StPO als weniger einschneidende Maßnahme auch die Sicherheitsleistung geregelt ist. Da § 124 StPO nur den Verfall bei der Fluchtgefahr regelt, existiert eine Lücke. d) Die Lückenschließung Die Schließung dieser Lücke auf der bloßen einfach-gesetzlichen Vergleichsebene zwischen den §§116 Abs. 2 und 124 StPO scheitert in der Tat an all den Überlegungen, die zuletzt das Kammergericht angestellt hat 46 . Schließlich gelangt man dann zum Ergebnis, daß für die Sicherheitsleistung kein Verfall geregelt sei und daß eine solche Sicherheitsleistung ohne Sinn sei und deshalb in § 116 Abs. 2 StPO nicht geregelt sein könne. 43 44 45 44
Fn. 4, 5, 6. II. Rieß, aaO (Fn. 32). Fn. 3 und oben II., 1. a.
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Gerhard Jungfer
2. Die grundgesetzliche Ebene a)
Ausgangspunkt
Die Reform, dies ist dargelegt 47 , zielte auf die Verwirklichung eines Verfassungsgrundsatzes. Da nichts eine bewußte Kontrastregelung beweist, ist das Gesetz im Sinne dieses Gesetzgebungszieles auszulegen. Da sich ferner ergeben hat, daß der Gesetzgeber die Sicherheitsleistung im Rahmen des § 116 Abs. 2 StPO nicht ausgeschlossen hat, ergibt sich, daß im Sinne des Gesetzeszieles, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Geltung zu bringen, § 116 Abs. 2 StPO Ausgangspunkt für die Auslegung von § 124 StPO ist und nicht umgekehrt: § 124 StPO muß dementsprechend, um den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des effektiven Schutzes des Grundrechtes der persönlichen Freiheit, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, gerecht zu werden, in verfassungskonformer Auslegung analog angewandt werden. Umgekehrt: Eine Auslegung, die von § 124 StPO ausgehend § 116 Abs. 2 StPO in einer Weise einengt, daß dort unter den anderen Maßnahmen jedenfalls die Sicherheitsleistung nicht verstanden werden könne, verstößt gegen den Verfassungsgrundsatz. b) Über die Kritik hinaus, die die Aufnahme des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in die StPO erfahren hat 48 , braucht sich die hier gefundene Lösung nicht der Kritik auszusetzen, es handele sich um eine unkontrollierbare Übertragung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in das Strafprozeßrecht. Es geht hier nur um eine Auslegung, die aufgrund der bereits durch das StPÄG 1964 in das Gesetz aufgenommenen Verhältnismäßgkeitsprüfung erfolgt. c) Diesem Ergebnis stehen auch nicht Bedenken aus Art. 14 GG entgegen. Es geht ja hier zunächst um die Möglichkeit der Haftverschonung, wobei gerade vorausgesetzt wird, daß eine Verfallssituation nicht eintritt, sonst hätte die Sicherheit keinen Sinn. Sollte die Verfallssituation später doch eintreten, so beruht dies auf einem Verschulden des Beschuldigten, der diese Folge jedenfalls bedingt vorsätzlich in Kauf genommen hat und freiwillig auf sein Eigentum verzichtet. d) Dem Ergebnis steht auch nicht der Gedanke entgegen, es handele sich um eine Doppelsanktion: Ein prinzipieller Unterschied zum Verfall der 47 48
III., l.a. Eb. Schmidt, Der Strafprozeß, NJW 1969, 1137, 1141; siehe auch Meyers Warnung, JR 1984, 173, 174, vor der Flucht aus den Regeln der StPO in die verfassungsrechtlichen Generalklauseln.
Sicherheitsleistung zur Verminderung der Verdunkelungsgefahr?
237
Sicherheit im Falle der Flucht ist nicht zu erkennen. Auch bei der Flucht kommt es in aller Regel zu dieser Doppelsanktion, da der in Gang gesetzte Haftbefehl in der Mehrzahl der Fälle zur Verhaftung führt 49 . e) Bei dieser Lösung kommt es auch auf die Bedenken bezüglich der Zulässigkeit von „Vereinbarungen" bei der Anwendung prozessualer Zwangsmittel nicht an. Da die Möglichkeit der Sicherheitsleistung sich, wie bei der Fluchtgefahr, aus dem Gesetz ergibt, ist sie auch ebenso zulässig.
f) Der Sicherheitsleistung im Bereich der Verdunkelungsgefahr kann auch die Eignung nicht abgesprochen werden. Soweit die mangelnde Eignung daraus entnommen wird, daß eine Verfallsregelung nicht zur Verfügung stehe, vermeidet die hier gefundene Lösung gerade dieses Problem. Im übrigen: Die Sicherheitsleistung an sich ist „die alte „Wedde", eine Vertragsstrafe für den Bruch des Versprechens. Der dafür drohende Verlust der Sicherheit und das damit eintretende Übel soll einen psychischen Zwang auf den Willen des Angeschuldigten ausüben, sich so zu verhalten, daß der Verfall nicht eintritt" 50 . Dieser Gedanke der Sicherheitsleistung gilt nicht nur für die Verhinderung der Flucht, sondern auch für die Verhinderung der Verdunkelung: Es ist kein Grund ersichtlich, warum nicht ein Beschuldigter, bei dem der Gesetzgeber sogar davon ausgeht, er würde durch die Hinterlegung einer Sicherheit nicht fliehen, nicht auch sonst durch die Hinterlegung einer Sicherheit im Sinne bestimmter Auflagen beeinflußt werden soll und kann. g) Schließlich stehen auch die Befürchtungen nicht entgegen, wonach nicht genau festzustellen sei, wann der Verfall eintrete und so unter Umständen schon ein geringfügiger Verstoß zum Verlust von Freiheit und gesamter Sicherheit führen könne, einen teilweisen Verfall kenne das Gesetz nicht. Hier ist zunächst daran zu erinnern, daß § 116 Abs. 2 StPO in der Ausgestaltung als Ermessensvorschrift gerade Gestaltungsfreiheit gibt. Dies hat zur Folge, daß der Richter im Haftverschonungsbeschluß präzise beschreiben kann, wann die Sicherheit verfällt 51 . Er kann auch die einzelnen Ersatzmaßnahmen kombinieren.
49
Dies sieht auch OLG Frankfurt N J W 1978, 838, 839. aaO (Fn. 11), Vorbem. vor § 117 bis 120, Ziff. 1.
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Lobe-Alsberg, Boujong, aaO (Fn. 17), Rdn. 19.
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IV. Ergebnis Ausgangspunkt zur Lösung der Frage, ob die Sicherheitsleistung ein zulässiges und geeignetes Mittel zur Herabminderung der Verdunkelungsgefahr sein kann, ist § 116 Abs. 2 StPO und nicht § 124 StPO. §116 Abs. 2 StPO schließt nach dem Gesetzeszweck, etwas anderes ist nicht bewiesen, die Gestellung einer Sicherheit in diesem Falle nicht aus. Um dem Sinn des Gesetzes gerecht zu werden, muß diese Sicherheit beim Verstoß gegen die Auflage auch verfallen. Es ist deshalb § 124 StPO erweiternd auszulegen und nicht — von § 124 StPO aus — § 116 Abs. 2 StPO einengend.
Probleme des Zeugenschutzes im Strafverfahrensrecht* VOLKER
KREY
Einleitung I. Bis vor kurzem war das Strafverfahrensrecht im wesentlichen vom Spannungsverhältnis „Erforschung der Wahrheit" versus „Schutz der Rechte des Beschuldigten" geprägt. Demgemäß galt als eine der Hauptaufgaben, wenn nicht gar als die Hauptaufgabe eines rechtsstaatlichen Strafprozesses die Gewährleistung dieses Schutzes einschließlich der Garantie umfassender Verteidigerbefugnisse1. Seit der Anerkennung des Verbrechensopfers als eines Verfahrensbeteiligten mit eigenen strafprozessualen Rechten durch das Opferschutzgesetz von 19862 kam zu jenen strafprozessualen Aufgaben eine weitere hinzu, nämlich der Schutz der berechtigten Interessen des Verletzten3. Erst in jüngster Zeit beginnt man, als weitere wesentliche Aufgabe eines rechtsstaatlichen Strafprozesses den Zeugenschut£ anzuerkennen: Neuerdings mehren sich die Untersuchungen zur allgemeinen Problematik des Schutzes der Rechte und berechtigten Interessen von Zeugen im Strafverfahrensrecht4 — während vorher weitgehend nur das Spezialproblem des Schutzes von V-Männern (sowie von under-coveragents bzw. verdeckten Ermittlern) genügende Beachtung gefunden hatte5. * Der Beitrag — unter Mitarbeit von Ass. Rolf Pohl, Trier entstanden — beruht auf einem Vortrag, den Verf. am 18. 1. 1990 in der Deutschen Richterakademie Trier gehalten hat. 1 Dazu m. w. N. Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 1, Rdn. 530 ff, 575 ff; 752 f, 776 ff. 2 BGBl. I, 2496. 3 Siehe u. a.: Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 2, 1990, Rdn. 136ff m. w. N.; Rieß/Hitger, NStZ 1987, 145, 153 ff. 4 Dazu für alle: Gommolla, Der Schutz des Zeugen im Strafprozeß, 1986; Rebmannj Schnarr, NJW 1989, 1185 ff. 5 Nachweise u.a. bei Kleinknecht] Meyer, StPO, 39. Aufl. 1989, §96 Rdn. 12 f, §163 Rdn. 34, § 244 Rdn. 66, § 250 Rdn. 4f, § 251 Rdn. 33.
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II. Im vorliegenden Beitrag geht es in erster Linie darum, einen aus rechtsstaatlicher Sicht unbefriedigenden Befund aufzuzeigen, nämlich die weitgehende Vernachlässigung des Zeugenschut^es in St PO und GVG. Bei näherer Analyse dieser Kodifikationen, aber auch der Rechtsprechung hierzu drängt sich der Eindruck auf: Wahrheitsfindung und Beschuldigtenschutz werden vielfach zu einseitig auf Kosten der Zeugen verfolgt. Eine umfassende Untersuchung unseres Themas würde eine eigene, große Monographie erfordern; demgemäß muß es hier mit einer weniger prätentiösen Einführung in die Problematik sein Bewenden haben. Dabei werden Spezialfragen des Schutzes jugendlicher Zeugen ganz, solche des Schutzes von V-Männern (sowie von under-coveragents bzw. verdeckten Ermittlern) weitestgehend ausgeklammert; auch das Verbrechensopfer als Zeuge ist nicht eigentlicher Gegenstand dieser Abhandlung. Vielmehr steht im Mittelpunkt unseres Interesses der Bürger, der — ohne Verletzter der Straftat zu sein — als Zeuge fungiert.
Erster Teil: Zeugenschutz als Verfassungsgebot in der Rechtsprechung von BVerfG und BGH I. BVerfG, Beschluß des 2. Senats v. 08.10.1974 — Zeugenanwalt —6 In dieser Entscheidung finden sich wichtige Ausführungen zur Stellung des Zeugen im Strafprozeß und zu seinem Anspruch auf Schutz seiner Grundrechte; dabei hebt das Gericht namentlich hervor: Ungeachtet seiner prozessualen Funktion als Beweismittel dürfe der Zeuge „von den anderen Verfahrensbeteiligten nicht als bloßes Objekt eines rechtsstaatlich geordneten Verfahrens behandelt werden"; das verbiete das „Recht des Zeugen auf ein faires Verfahren". Der „durch Art. 2 1 i. V. m. Art. 1 I GG grundrechtlich geschützte Persönlichkeitsbereich des Zeugen" sei den Einwirkungen des Verfahrensrechts und seiner Anwendung durch die Verfahrensbeteiligten entzogen. Der Zeuge habe einen „Anspruch auf angemessene Behandlung und Ehrenschutz". Sein „Recht, etwaige Verfehlungen geheimzuhalten", sei ein Persönlichkeitsrecht7.
6 7
BVerfG E 38, 105 ff. S. 114, 115, 117.
Probleme des Zeugenschutzes im Strafverfahrensrecht
241
Das BVerfG betont dann das aus Art. 1 I GG abzuleitende Recht des Bürgers auf „aktive Teilnahme an dem ihm zukommenden Rechtsschutz" 8 und legt dazu dar: „Die einem fairen Verfahren immanente Forderung nach verfahrensmäßiger Selbständigkeit des in ein justizförmiges Verfahren hineingezogenen Bürgers bei der Wahrnehmung ihm eingeräumter prozessualer Rechte und Möglichkeiten gegenüber anderen Verfahrensbeteiligten gebietet es, auch dem Zeugen grundsätzlich das Recht zuzubilligen, einen Rechtsbeistand seines Vertrauens zu der Vernehmung hinzuzuziehen, wenn er das für erforderlich hält, um von seinen prozessualen Befugnissen selbständig und seinen Interessen entsprechend sachgerecht Gebrauch zu machen" 9 .
Auf den hier anerkannten „Zeugenanwalt" wird die Darstellung unten (Dritter Teil, III) zurückkommen. II. BVerfG, Beschluß des 2. Senats v. 26. 05.1981 — Anonymer „Zeuge vom Hörensagen" —10 In dieser Entscheidung betont das Gericht unter Hinweis auf Art. 2 II GG zum Zeugenschutz: „Öffentliche Interessen können es ... gebieten, das Wissen um den Aufenthalt eines Zeugen geheimzuhalten und dadurch sein persönliches Erscheinen in der Hauptverhandlung oder eine sonstige gerichtliche Vernehmung zu verhindern, um eine dem Zeugen drohende Lebensgefahr abzuwenden ... Ähnliches gilt, wenn die Freiheit des Zeugen als Folge seiner Preisgabe ernstlich gefährdet ist"".
III. BGH, Urteil des 2. Strafsenats v. 16. 06.1983 — Aussageverweigerung des gefährdeten Zeugen —12 Der BGH hebt hier die „Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber Zeugen" hervor und stellt dazu fest: „Der Tatrichter ist zur Anwendung von Zwangsmaßnahmen gegen einen Zeugen (§ 70 StPO) nicht verpflichtet, wenn ernsthaft zu befürchten ist, daß der Zeuge durch eine wahrheitsgemäße Aussage in Lebensgefahr gerät, und ausreichende Schutzmöglichkeiten nicht ersichtlich sind".
Auch hierauf wird die Darstellung zurückkommen (unten, Dritter Teil, II). 8 9 10 11 12
S. 114. S. 112. BVerfG E 57, 250 ff. S. 284 f. NStZ 1984, 31, 32.
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Zweiter Teil: Überblick über die Vorschriften zum Schutz von Zeugeninteressen in StPO und GVG StPO und GVG enthalten zahlreiche Bestimmungen zum Schutz der Rechte und der berechtigten Interessen von Zeugen; von ihnen seien namentlich genannt: I. Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrecht; Eidesverweigerungsrecht und Vereidigungsverbot (§§ 52, 252; 55; 63; 60 Nr. 2 StPO) Diese Vorschriften sind als grundsätzlich gelungene Regelung zu bewerten: 1. § 52 mit § 252 StPO a) § 52 StPO bietet wegen der in Abs. 3 angeordneten Belehrungspflicht i. V. m. dem heute allgemein anerkannten Verwertungsverbot bei Verletzung dieser Pflicht 13 einen effektiven Schutz des Zeugen vor der „Zwangslage, seinen Angehörigen belasten oder die Unwahrheit sagen zu müssen" 14 . b) Im übrigen wird § 52 StPO durch § 252 StPO ergänzt: Verweigert der Zeuge erst in der Hauptverhandlung die Aussage (§ 52 StPO), so dürfen Protokolle über frühere Vernehmungen des Zeugen nicht im Wege des Urkundsbeweises durch Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführt werden (§ 252 StPO). Darüberhinaus ergeben Sinn und Zweck dieser Vorschrift ein weitergehendes Verwertungsverbot: Grundsätzlich darf seine frühere Aussage auch nicht mittels Vernehmung der seinerzeitigen Verhörspersonen (Polizeibeamte, Staatsanwälte) als „Zeugen vom Hörensagen" in die Hauptverhandlung eingeführt und verwertet werden 15 . — Dies weitergehende Verwertungsverbot läßt sich m. E. nicht im Wege der Gesetzesauslegung des § 252 StPO begründen, da der mögliche Wortsinn des Gesetzes allein das Verlesungsverbot normiert, also den Urkundenbeweis betrifft. Vielmehr handelt es sich bei jener Extension des § 252 StPO auch zu einem grundsätzlichen Verbot 13 14 15
KleinknechtjMeyer, § 52 Rdn. 32. Pelchen in: Karlsruher Kommentar (KK), StPO, 2. Aufl. 1987, § 52 Rdn. 1. Geppert, Jura 1988, 306 ff; Kleinknechtj Meyer, § 252 Rdn. 13, 14 m. w. N.
Probleme des Zeugenschutzes im Strafverfahrensrecht
243
des Rückgriffs auf „Zeugen vom Hörensagen" um Geset^esanalogie (als „teleologisch begründete Überschreitung des Wortsinns des Gesetzes") 16 - . Das dargelegte weitergehende Verwertungsverbot erfahrt indes bekanntlich durch die Rechtsprechung für den Ermittlungsrichter eine Ausnahme: Über den Inhalt einer Aussage, die der Zeuge bei einer früheren richterlichen Vernehmung nach Hinweis auf sein Zeugnisverweigerungsrecht gemacht hat, darf durch Vernehmung des Richters Beweis erhoben werden 17 . Bei dieser im Schrifttum vielgeschmähten Judikatur handelt es sich keineswegs um Rechtsfindung contra legem 18 als Mißachtung einer nach ratio und Gesetzestext klaren Regelung. Vielmehr erscheint jene Rechtsprechung als kriminalpolitisch plausible — wenn nicht gar gebotene — sinnvolle Beschränkungjener Extension. Denn ohne die Ausnahme für Richter würde der Strafrechtsschutz gegenüber Taten im engsten Familienkreis wegen §§ 52, 252 StPO mangels Beweisbarkeit weitestgehend leerlaufen 19 . Die Judikatur entwertet auch keineswegs den Aspekt des „Übereilungsschutzes", der hinter § 252 StPO stehen soll 20 : Gegenüber richterlichen Vernehmungen ist kein absoluter Übereilungsschutz durch absolute Unverwertbarkeit bei späterer Zeugnisverweigerung erforderlich. 2. § 55 StPO Diese Vorschrift ist sachgerecht und durch die in Abs. 2 statuierte Belehrungspflicht auch effektiv. Zwar begründet der Verstoß hiergegen nach der Rechtsprechung kein Verbot, die Aussage zum Nachteil des Angeklagten zu verwerten, und keinen Revisionsgrund für ihn 21 — was ich durchaus für einleuchtend halte, weil § 55 StPO nicht dem Schutz des Angeklagten und auch 16 17
18 15
20 21
Zur Terminologie Krey, ZStW 1989, 838, 842 f m. w. N. So u. a. BGHSt. 13, 394ff; 21, 218f; 26, 281, 284; 32, 25, 29. Aus dem Schrifttum zustimmend u. a.: KleinknechtjMeyer, § 252 Rdn. 13, 14; Kühne, Strafprozeßlehre, 3. Aufl. 1988, Rdn. 563. 2; Mayr in: KK, § 252 Rdn. 22 ff. Abweichend freilich die h. L.; siehe für alle Fe^er, Strafprozeß II, 1986, 15/68 ff; Hanack, JZ 1972, 236, 238; Roxi», § 44 B III 1; kritisch auch Gollwit^er in: Löwe/Rosenberg (LR), StPO, 24. Aufl. § 252 Rdn. 7. Als solche wäre sie freilich unzulässig {Krey, ZStW 1989, 838, 861 ff). In aller Regel wird von dem Zeugnisverweigerungsrecht des § 52 StPO spätestens in der Hauptverhandlung Gebrauch gemacht; vielfach sind die einzigen Beweismittel Angehörige als Zeugen. Dazu BGHSt. 10, 77, 78; Mayr in: KK, § 252 Rdn. 1. Dazu BGHSt. 11, 213 (GS); zustimmend und m. w. N. etwa KleinknechtjMeyer, § 55 Rdn. 17; a. A. etwa Fe^er aaO, 15/51; ders. JuS 1978, 235 ff.
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nicht, zumindest nicht primär, der Wahrheitsfindung dient, sondern den Schutz des Zeugen bezweckt 22 —. Jene Judikatur beeinträchtigt den Zeugenschutz aber deswegen nicht, weil der Verstoß gegen § 55 II in einem späteren Strafverfahren gegen den nichtbelehrten Zeugen zu einem Verwertungsverbot führt 23 . 3. §§ 63, 60 Nr. 2 StPO Beide Bestimmungen bieten für ihren Normbereich einen angemessenen Zeugenschutz, wobei zu § 60 Nr. 2 StPO hervorgehoben sei, daß der Begriff des „Beteiligten" hier weit auszulegen ist 24 . Allerdings soll nicht verschwiegen werden, daß ein Verstoß des Gerichts gegen § 60 Nr. 2 StPO materiellrechtlich den Zeugen keineswegs vor der Bestrafung wegen Meineids bewahrt, sondern nur strafmildernd zu berücksichtigen ist (§ 154 II StGB) 25 .
II. Absehen von der Verpflichtung des Zeugen zur Wohnortangabe, § 68 S. 2 StPO Auf diese Regelung wird unsere Abhandlung zurückkommen (unten, Dritter Teil, IV), und zwar unter Einbeziehung der §§ 200 I S. 2, 222 StPO. An dieser Stelle sei nur auf das u. U. erhebliche Revisionsrisiko hingewiesen, das bei einem Zeugenschutz gemäß § 68 S. 2 StPO besteht, wenn der Tatrichter aus der Sicht des Revisionsgerichts rechtsfehlerhaft gehandelt hat: 1. Entscheidet der Vorsitzende gemäß § 68 S. 2 StPO zugunsten des Zeugen, indem er ihm gestattet, seinen Wohnort nicht anzugeben, und haben der Angeklagte bzw. sein Verteidiger jene Entscheidung erfolglos nach § 238 II StPO beanstandet26, so können sie eine Verletzung des § 68 S. 2 StPO i. V. m. § 338 Nr. 8 StPO im Wege der Revision rügen 27 . Entscheidet der Vorsitzende aber gegen den Zeugen, d. h. besteht er auf der Angabe des Zeugenwohnorts (§ 68 S. 1, 2 StPO), so kann diese 22 23 24 25 26
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Kleinknechtj Meyer, § 55 Rdn. 1 m. w. N. pro und contra. Kieinknechtj Meyer, § 55 Rdn. 17 (h. M.). Kieinknechtj Meyer, § 60 Rdn. 11, 12; Pelden in: K K , § 60 Rdn. 13. Dazu m. w. N. Krey, Strafrecht BT, Bd. 1, 7. Aufl. 1989, Rdn. 562. Siehe Kleinknechtj Meyer, § 68 Rdn. 11 mit § 238 Rdn. 22; Pelchen in: K K , § 68 Rdn. 7; Treier in: K K , § 238 Rdn. 17. BGHSt. 23, 244, 245. — Andere stellen auf die Aufklärungsrüge (Rüge der Verletzung des § 244 II StPO) ab; so etwa: Dabs in: LR, § 68 Rdn. 19; Kleinknecht]Meyer, § 68 Rdn. 17, 18.
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Entscheidung nicht mit der Revision angegriffen werden — und zwar auch nicht bei erfolgloser Beanstandung gemäß § 238 II StPO — 28. Wenn also ein Revisionsrisiko grundsätzlich nur bei einer großzügigen Handhabung des § 68 S. 2 StPO zugunsten von Zeugen entsteht, so ist dies einem effektiven Zeugenschutz gewiß nicht zuträglich! 2. § 68 S. 2 StPO strahlt auf §§ 240 II, 241 II StPO aus: Soweit der Vorsitzende gemäß § 68 S. 2 StPO dem Zeugen die Wohnortsangabe ersparen darf, kann er Fragen der Prozeßbeteiligten (§ 240 II StPO) an den Zeugen nach dessen Wohnort gemäß § 241 II StPO zurückweisen 29 . Auch hier ist aber bei einer rechtsfehlerhaften Handhabung des § 68 S. 2 und damit zugleich des § 241 II StPO das einseitige Revisionsrisiko zu betonen: Hat der Vorsitzende Fragen von Prozeßbeteiligten (§ 240 II StPO) rechtsfehlerhaft gemäß § 241 II StPO zurückgewiesen, und haben der Angeklagte bzw. sein Verteidiger dies gemäß § 238 II (bzw. § 242 StPO) erfolglos beanstandet, so können sie den Verstoß gegen §§ 240 II, 241 II i. V. m. § 338 Nr. 8 StPO mit der Revision rügen 30 . Werden dagegen Fragen an den Zeugen, die der Vorsitzende zum Schutz seiner Rechte gemäß § 241 II StPO zurückweisen dürfte oder gar müßte, rechtsfehlerhaft zugelassen und damit Rechte des Zeugen verletzt, so ist dieser Verfahrensfehler (grundsätzlich) nicht revisibel 31 — und zwar auch nicht nach erfolgloser Beanstandung gemäß § 238 II (bzw. § 242) StPO. III. Fragen nach entehrenden Tatsachen oder Vorstrafen, § 68 a StPO Auch hier ist wieder das einseitige Revisionsrisiko zu beklagen: Stellt der Vorsitzende solche Fragen unter Verstoß gegen § 68 a StPO oder läßt er sie rechtsfehlerhaft entgegen § 241 II i. V. m. § 68 a StPO zu, so ist diese Mißachtung der Rechte des Zeugen nicht revisibel32 — gleichgültig, ob nach § 238 II StPO das Gericht ohne Erfolg angerufen wurde. Sind dagegen Fragen des Angeklagten bzw. seines Verteidigers an den Zeugen (§ 240 II StPO) vom Vorsitzenden zu Unrecht nach § 241 II 28 25 30 31
32
Pelchen in: KK, § 68 Rdn. 10. Dahs in: LR, § 68 Rdn. 9; Paulus in: KMR, 7. Aufl., § 68 Rdn. 17. BGH NStZ 1982, 158 f; Kleinknecht/Meyer, § 241 Rdn. 23. KleinknechtjMejer aaO; Pelchen in: KK, § 68 Rdn. 10 i. V. m. 'Freier in: KK, § 241 Rdn. 9. Dahs in: LR, § 68 a Rdn. 9.
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i. V. m. § 68 a StPO zurückgewiesen worden und haben der Angeklagte bzw. sein Verteidiger auch erfolglos das Gericht angerufen (§ 238 II bzw. § 242 StPO), so kann jener Verstoß gegen §§ 68 a, 240 II, 241 II StPO nach § 338 Nr. 8 StPO auf Revision zur Aufhebung des Urteils führen 33 . Dieses erhebliche Revisionsrisiko verdeutlicht trefflich der Beschluß des BGH v. 14. 01. 1982, der eine solche Aufhebung zum Gegenstand hatte und in dem es heißt 34 : „Wird eine Frage, deren Beantwortung dem Zeugen zur Unehre gereichen könnte, als ungeeignet zurückgewiesen, obwohl sie zur Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit notwendig ist, so kann eine hierauf gestützte Verfahrensrüge zur Aufhebung des Urteils führen... Unerläßlich i. S. des § 6 8 a StPO ist eine Frage immer dann, wenn sie zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist".
Damit läuft der Zeugenschutz nach §§ 68 a, 241 II StPO weitgehend leer.
IV. Zurückweisung von Fragen, §§ 240 II, 241 II StPO Das erhebliche, zudem einseitige Revisionsrisiko für den Fall einer Anwendung dieser Bestimmungen Schuf% berechtigter Zeugeninteressen hat die Darstellung bereits aufgezeigt (oben, II 2, III); dieser Befund verdeutlicht, daß von jenen Vorschriften kaum ein effektiver Zeugenschutz zu erwarten ist.
V. Entfernung des Angeklagten gemäß § 247 S. 2 StPO (2. Alternative) 1. Diese Vorschrift erfaßt %wei
Fallgruppen:
a) Bei der Vernehmung des Zeugen in Gegenwart des Angeklagten besteht die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für seine Gesundheit deswegen, weil der Zeuge „den Anblick des Angeklagten nicht erträgt", was vor allem bei den Opfern von Sexualdelikten in Betracht kommt 35 , ferner etwa bei Angehörigen von Verbrechensopfern. Das Gesetz hat dabei in erster Linie schwere psychische Beeinträchtigungen 33 34 35
Dahs aaO; BGH NStZ 1982, 170. BGH aaO. Kleinknecht]Meyer, § 2 4 7 Rdn. 12; Mayr in: K K , § 2 4 7 Rdn. 11; RießjHilger, 1987, 145, 150.
NStZ
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im Auge, die bei einer Konfrontation mit dem Angeklagten in der Hauptverhandlung beim Zeugen auftreten können 36 . b) Weiterhin gestattet § 247 S. 2 StPO es auch, „dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die Kenntnis des Angeklagten vom Aussehen und der Person des Zeugen diesen in Lebens- oder Leibesgefahr bringen kann" 37 . — Insoweit hat die vor der Neufassung des § 247 S. 2 StPO durch das Opferschutzgesetz von 1986 ergangene Rechtsprechung, § 247 StPO bei behördlich geheimgehaltenen Zeugen anzuwenden, wenn nur so ihre Vernehmung in der Hauptverhandlung erreichbar war 38 , jedenfalls für einen wesentlichen Teilbereich eine gesetzliche Grundlage gefunden39. — 2. Das Mißliche am Zeugenschutz nach § 247 S. 2 StPO ist nun, daß diese Vorschrift, wie auch § 247 S. 1 StPO, unmittelbar nur den Ausschluß des Angeklagten während der Vernehmung des Zeugen gestattet. Zur Vernehmung in diesem Sinne gehören dabei nicht: — die Verhandlung und Entscheidung über die Vereidigung des Zeugen; — seine Vereidigung selbst; — die Verhandlung über die Entlassung des Zeugen 40 . a) Freilich hat die Judikatur zu § 247 S. 1 StPO entschieden 41 : „Bei Gefahr der Enttarnung oder bei Gefährdung eines Zeugen erstreckt sich die in entsprechender Anwendung des § 247 S. 1 StPO angeordnete Entfernung des Angeklagten bei der Vernehmung des Zeugen auf dessen Vereidigung (im Anschluß an BGHSt. 32, 32)."
Zur Begründung führt der BGH aus: „In Fällen der vorliegenden Art würde der Zweck der Maßnahme vereitelt, wenn man zwar den Ausschluß des Angeklagten während der Vernehmung zuließe, es jedoch als unerläßlich ansähe, daß bei der Vereidigung der Zeuge und der Angeklagte zusammentreffen".
Entsprechend läßt sich für § 247 S. 2 StPO feststellen: In analoger Anwendung dieser Vorschrift kann der Angeklagte auch von der Anwesenheit bei der Vereidigung des Zeugen ausgeschlossen werden, 36 37 38 39 40
41
KleinknechtjMeyer aaO. Kleinknecht j Meyer und RießjHilger aaO. BGHSt. 32, 32 f. RießjHilger aaO. Kleinknechtj Meyer, § 247 Rdn. 6 - 1 0 m. w. N.; BGH NJW 1985, 1478f = NStZ 1985, 136; BGH NJW 1986, 267 = NStZ 1986, 133; BGH NStZ 1986, 133 f; BGH NStZ 1987, 519 u. NStZ 1988, 469. BGH NJW 1985 aaO. So auch u. a. Kleinknechtj Meyer, § 247 Rdn. 9, 10.
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„wenn bei einer Vereidigung des Zeugen in Gegenwart des Angeklagten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für die Gesundheit des Zeugen besteht".
b) Dagegen erlauben § 247 S. 1 und 2 StPO es nach gan^ h. M. nicht, die
Verhandlung
über die Vereidigung des Zeugen" und die „Verhandlung über
seine Entlassung' unter Ausschließung des Angeklagten durchzuführen 42 . Ein Verstoß hiergegen bedeutet einen absoluten Revisionsgrund nach §§ 230, 338 Nr. 5 StPO 43 . Zum Schutze gefährdeter Zeugen hat der BGH jedoch festgestellt 44 : „Die Strafkammer war nicht gehindert, die Hauptverhandlung in einer Art und Weise zu gestalten, die ein Zusammentreffen der Angeklagten mit dem Zeugen vermied. Sie war nicht gehalten, die Angeklagten in Gegenwart des Zeugen über den Inhalt der in ihrer Abwesenheit gemachten Aussage zu unterrichten, und sie war auch nicht verpflichtet, ihnen eine unmittelbare Befragung des Zeugen zu ermöglichen (BGHSt. 22, 289 [296] = N J W 1969, 703). Demgemäß hätte das Gericht während der Verhandlung über die Frage der Vereidigung den Zeugen abtreten lassen können."
c) Demgemäß kann sich jedenfalls dann, wenn §247 S. 2 StPO in unmittelbarer Anwendung die Ausschließung des Angeklagten bei der Vernehmung eines Zeugen und in analoger Anwendung die Ausschließung des Angeklagten bei der Zeugenvereidigung erlaubt, weil jede Kenntnis des Angeklagten vom Aussehen und der Person des Zeugen diesen in Leibes- oder Lebensgefahr bringen würde, folgendes Szenario entwikkeln: Erstens: Das Gericht ordnet die Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungssaal „während der Vernehmung des Zeugen X Y " an; vorher sind die Prozeßbeteiligten zu hören (§ 33 I StPO). Der Gerichtsbeschluß ist zu begründen (§ 34 StPO) 45 und gemäß § 35 I S. 1 StPO zu verkünden. Zweitens: Nach der Zeugenvernehmung wird der Angeklagte — nach Abtreten des Zeugen, da ja jedes Zusammentreffen mit dem Angeklagten zu vermeiden ist —
42
43 44 45
BGH N J W 1985, 1478 f = NStZ 1985, 136; BGH N J W 1986, 267 = NStZ 1986, 133; BGH NStZ 1988, 469. Siehe Anm. 42. BGH N J W 1985, 1478, 1479; ebenso Kleinknecht\Meyer, § 247 Rdn. 8. Mayr in: KK, § 247 Rdn. 13; Begründung: i. S. des § 34 StPO „durch ein Rechtsmittel anfechtbar" sind Gerichtsbeschlüsse auch dann, wenn sie „auf Revision hin geprüft werden können" (Kleinknechtj Meyer, § 34 Rdn. 2 m. w. N.). Zur Revisibilität fehlender Begründung siehe auch BGH NStZ 1987, 84 f: „Fehlt bei einem Gerichtsbeschluß nach § 247 StPO eine ausdrückliche Begründung, so ist der unbedingte Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO nicht gegeben, wenn mit Sicherheit festgestellt werden kann, daß die sachlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift vorgelegen haben und vom Gericht nicht verkannt worden sind."
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wieder zugelassen und gemäß § 247 S. 4 StPO durch den Vorsitzenden „von dem wesentlichen Inhalt dessen unterrichtet, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist". Dabei ist dem Angeklagten eine ergänzende Befragung des Zeugen gestattet (§ 240 I, II StPO). Indes ist das Gericht nicht verpflichtet, ihm eine unmittelbare Befragung des Zeugen zu ermöglichen: „Ist nach den Umständen die Entfernung des Angeklagten während der ganzen Vernehmung eines Zeugen geboten, so liegt darin notwendigerweise auch der Ausschluß einer unmittelbaren Befragung des Zeugen durch den Angeklagten im persönlichen Gegenüber und ist die Ausübung des Fragerechts nach § 240 StPO durch den Angeklagten zwangsläufig nur noch in der Weise möglich, daß er nach seiner Rückkehr in den Gerichtssaal und seiner Unterrichtung über die Aussage des Zeugen seine Fragen stellt und diese Fragen dann in seiner — erneuten (sc. 1.) — Abwesenheit an den wieder herbeigerufenen Zeugen gerichtet werden" (BGH)46.
Drittens: Die Verhandlung über die Vereidigung des Zeugen muß dann wieder in Anwesenheit des Angeklagten erfolgen 47 — wobei das Gericht vorher den Zeugen abtreten lassen durfte bzw. (Fürsorgepflicht!) mußte. Viertens: Die eigentliche Vereidigung des Zeugen geschieht dann wieder analog § 247 S. 2 StPO in Abwesenheit des Angeklagten. Fünftens: Bei der Entscheidung des Vorsitzenden über die Entlassung des Zeugen (§ 248 S. 1, 2 StPO) muß der Angeklagte wieder anwesend sein. 3. Alles in allem erweist sich ein zeugenschützendes Vorgehen nach § 247 S. 2 StPO als vielfach ungemein kompliziertes Verfahren, bei dem es im übrigen sehr leicht zu Verfahrensfehlern kommt, und zwar gemäß §§ 230, 338 Nr. 5 StPO zu absoluten Revisionsgründen48. Vernachlässigt das Gericht demgegenüber diesen Zeugenschutz, so geht es grundsätzlich kein Revisionsrisiko ein. VI. Verlesung von Protokollen gemäß § 2511 Nr. 3, 4 StPO anstelle der Zeugenvernehmung 1. § 2511 Nr. 3 StPO a ) Aus kriminalpolitischer Sicht ist diese Vorschrift in fast schon grotesker Weise mißlungen: Sie anerkennt nur einen einzigen Grund, der es dem Zeugen „unzumutbar" machen kann, in der Hauptverhandlung zu erscheinen, nämlich „die große Entfernung". 46 47
48
BGHSt. 22, 289, 296. Dieser wird dabei über die Antworten des Zeugen auf seine (Angeklagter) Fragen nach § 240 II StPO informiert. Vgl. für alle Kleinknechtj Meyer, § 247 Rdn. 19 m. w. N.
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Angesichts der Entwicklung der Verkehrsmittel hat dieser Aspekt indes erheblich an Bedeutung verloren, was die praktische Relevanz des § 251 I Nr. 3 (und des § 223 II) StPO stark reduziert 49 . b) Im übrigen wird § 251 I Nr. 3 StPO schon nach seinem Normtext („unter Berücksichtigung der Bedeutung seiner Aussage") durch die richterliche Aufklärungspflicht (§ 244 II StPO) begrenzt; zudem betont der BGH den Ausnahmecharakter des § 251 I Nr. 3 StPO als Abweichung vom Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 250 StPO 50 : Für den gemäß § 251 IV StPO erforderlichen Gerichtsbeschluß, der nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten ergeht (§ 33 I StPO) und zu begründen ist 51 , hebt der BGH hervor 52 : „Will das Gericht von dieser Vorschrift (§ 251 I Nr. 3 StPO) Gebrauch machen, so wird es indes unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters alle im einzelnen Falle in Betracht kommenden Gesichtspunkte in umfassender Würdigung sorgfaltig abwägen und in dem Beschluß, der die Verlesung anordnet, darlegen müssen, von welchen Erwägungen es sich dabei hat leiten lassen".
Wie sehr die Interessen des Zeugen bei dieser Abwägung zurücktreten können, verdeutlichen beispielsweise das Urteil des BGH v. 17. 05. 1956 (Anreise aus Toronto in Kanada) 53 und das Urteil des Gerichts vom 10. 03. 1981 (in den USA zur Verbüßung einer kurzfristigen Freiheitsstrafe inhaftierter Zeuge) 54 . c) Was das Revisionsrisiko einer zeugenfreundlichen Handhabung des § 251 I Nr. 3 StPO angeht, sei nur soviel gesagt: (1) Beruft sich der Tatrichter zu Unrecht auf § 2511 Nr. 3 StPO, so sind diese Vorschrift und zugleich § 250 StPO verletzt, was mit der Revision gerügt werden kann (§ 337 StPO) 55 . Auf den ersten Blick ist die revisionsgerichtliche Kontrolle dabei nur beschränkt. Der BGH geht nämlich davon aus, der Tatrichter entscheide über die Anwendbarkeit des § 251 I Nr. 3 StPO nach pflichtgemäßem Ermessen, so daß das Revisionsgericht lediglich prüfe, ob bei der Ermessensausübung ein Rechtsfehler unterlaufen sei56. Auf den zweiten Blick freilich sieht die Kontrollintensität des BGH schon ganz anders aus; denn ein solcher Rechtsfehler soll bereits vorliegen, wenn der Tatrichter den „Rechtsbegriff der Unzumutbarkeit" zu weit ausgelegt 49 50 51 52 53 54 55 56
BGHSt. 9, 230 ff; Mayr in: KK § 251 Rdn. 9. BGHSt. 9, 230, 231. Kleinknecht\Meyer, § 251 Rdn. 37, 38. BGH aaO. BGHSt. 9, 230. BGH NStZ 1981, 271. BGH aaO (Anm. 53, 54); Gollwifiyr in: LR, § 251 Rdn. 88. BGH NStZ 1981, 271.
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habe 57 — diese Formel nun erlaubt eine sehr strenge revisionsgerichtliche Kontrolle. (2) Revisibel ist weiterhin das Fehlen des gemäß § 251 IV StPO erforderlichen Beschlusses58, zudem das Fehlen einer Begründung für diesen Beschluß 59 . (3) Schließlich sei noch daran erinnert, daß gemäß § 251 IV S. 4 StPO gegebenenfalls über das Nachholen einer unterbliebenen Vereidigung des Zeugen zu befinden ist: Wenn die zu verlesende Aussage (§ 251 I Nr. 3 StPO) nicht beeidigt ist, hat der Tatrichter gemäß §§ 59 ff StPO zu prüfen, ob Grund gegeben ist, den Zeugen nachträglich vereidigen zu lassen, wobei § 251 IV S. 4 StPO die Ausnahmen der §§ 60 ff StPO nicht erweitert 60 . Zur Entscheidung über jene Nachholung der Vereidigung bedarf es eines Gerichtsbeschlusses, für den § 64 StPO gilt. Verstöße hiergegen sind revisibel61. d) Resümee: Das Revisionsrisiko bei der Anwendung des § 251 I Nr. 3 StPO ist erheblich; und insgesamt ist diese Vorschrift als Instrument des Zeugenschutzes gänzlich unbefriedigend. 2. § 2511 Nr. 4 StPO Diese Vorschrift könnte ein effektives Mittel des Zeugenschutzes darstellen — und zugleich entscheidend dazu beitragen, daß in der tatrichterlichen Praxis das rechtsstaatliche Beschleunigungsgebot62 endlich ernster genommen werden dürfte —.
Indes tragen die höchstrichterliche Judikatur und die Strafprozeßwissenschaft dafür Sorge, daß § 251 I Nr. 4 StPO jene sinnvolle Doppelfunktion nur allzu unzulänglich erfüllen kann: a) Zum einen läßt die ganz h. M. diese Vorschrift in weitem Umfang dadurch leerlaufen, daß sie ihre Anwendbarkeit schlechthin durch die in § 244 II StPO verankerte gerichtliche Aufklärungspflicht begrenzt; dazu stellt der BGH lapidar fest 63 : 57 58 59
60 61 62
63
aaO. BGH NStZ 1988, 283; Klemknechtj.Meyer, § 251 Rdn. 42. KlemknechtjMeyer, § 251 Rdn. 42; BGH NStZ 1986, 325. - Auf einem solchen Fehler beruht das Urteil allerdings dann nicht, „wenn allen Beteiligten der Verlesungsgrund bekannt gewesen wäre" (KlemknechtjMeyer aaO m. w. N.; BGH aaO). Gollwitz in: LR, § 251 Rdn. 83. Gollwit^er aaO, Rdn. 93. Dazu näher und m. w. N. Krey, Strafverfahrensrecht, Bd. 1, 1988, Rdn. 121 ff, 125 f, 130, 135 ff, 151 ff; ders. Strafverfahrensrecht, Bd. 2, 1990, Rdn. 247 f. BGH NStZ 1988, 37; ebenso u. a. BGH NStZ 1988, 283; RießjHilger, NStZ 1987, 145, 151.
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„Der Verlesung der Niederschrift über die frühere richterliche Vernehmung eines Zeugen mit Einverständnis der Verfahrensbeteiligten (§251 I Nr. 4 StPO) darf die dem Gericht in § 244 II StPO auferlegte Pflicht, die Wahrheit zu erforschen, nicht entgegenstehen."
b) Zum anderen läßt die h. M. es zu, daß der Angeklagte und sein Verteidiger, die einem Vorgehen des Gerichts gemäß § 2511 Nr. 4 ihr Einverständnis erteilt hatten, eben dies Procedere später mit der Revision mittels Aufklärungsrüge (Rüge der Verletzung des § 244 II StPO) angreifen können 64 : Der Zulässigkeit einer solchen Revision des Angeklagten oder seines Verteidigers stehe ihr Einverständnis mit dem Verfahren des Gerichts in der Hauptverhandlung nicht entgegen, und zwar weder unter dem Aspekt von Treu und Glauben noch unter dem der I f e rWirkung65. c) Jener erstgenannte Standpunkt — a) — ist nicht zweifelsfrei, der letztgenannte — b) — erscheint sogar als durchaus anfechtbar; hierauf wird die Darstellung unten (Dritter Teil, V) zurückkommen. VII. Ausschluß der Öffentlichkeit 1. § 171b GVG Das Erstaunliche an dieser zeugenschützenden Bestimmung ist, daß der Tatrichter, der von ihr einen „zeugenfreundlichen" Gebrauch macht, gemäß § 171 b III GVG i. V. m. § 336 S. 2 StPO kein Revisionsrisiko eingeht66. 2. § 172 Nr. 1 GVG („Gefährdung
der öffentlichen
Ordnung)
Diese Formel erfaßt auch den Fall der Gefahrdung von Leib oder Leben des Angeklagten oder eines Zeugen durch andere Personen bei wahrheitsgemäßer Aussage in öffentlicher Verhandlung, zudem den solcher Gefährdung für Informanten, über deren Person und Tätigkeit der Zeuge aussagen soll 67 . Das Revisionsrisiko ist nach dem bereits wiederholt hervorgehobenen, dem Zeugenschutz nicht förderlichen „typischen Strickmuster" einseitig verteilt: 64 65
66 67
Soweit ersichtlich unstrittig. Vgl. u. a. Kleinknecht\Meyer, 76 ff.
% 337
Rdn. 47 m. w. N.;
Sax in: KMR,
Einl. X Rdn. 74 ff,
Kleinknecht\Meyer, § 171 b GVG Rdn. 12; Mayr in: KK, § 171 b GVG Rdn. 7. BGHSt. 30, 193, 194 a. E.; KleinknechtjMeyer, § 172 G V G Rdn. 5 m. w. N.
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Bei rechtsfehlerhafter Ermessensentscheidung zum Nachteil des Zeugen, d. h. bei Verhandlung ohne Ausschluß der Öffentlichkeit, ist § 338 Nr. 6 StPO (absoluter Revisionsgrund) nach Sinn und Zweck des Gesetzes nicht anwendbar. Dieser absolute Revisionsgrund greift nur ein, wenn die Öffentlichkeit in gesetzeswidriger Weise beschränkt worden ist, dagegen nicht, wenn zu Unrecht öffentlich verhandelt wurde 68 . Denn § 338 Nr. 6 StPO hat lediglich die Funktion, dem Interesse der Allgemeinheit an einem öffentlichen Gerichtsverfahren zu dienen 69 . Allenfalls kommt bei öffentlicher Hauptverhandlung trotz gesetzlich gebotenem Ausschluß der Öffentlichkeit ein relativer Revisionsgrund (§ 337 I StPO: das Urteil muß auf der Gesetzesverletzung „beruhen") in Betracht70.
Bei rechtsfehlerhafter Ermessensentscheidung des Tatrichters gemäß §172 Nr. 1 GVG zum Vorteil des Zeugen, also bei ermessensfehlerhaftem Ausschluß der Öffentlichkeit seinem Schuts^, liegt demgegenüber der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO vor.
VIII. §§ 176, 177, 178 GVG 1. Die Sitzungspolizei nach § 176 GVG dient u. a. auch dem Schut£ von Zeugen vor grob Verfahrens widrigen Angriffen 71 ; sie erstreckt sich dabei — anders als §§ 177, 178 GVG — auch auf den Verteidiger, den Staatsanwalt sowie die beisitzenden Berufsrichter und die Schöffen 72 : Auch ihnen kann der Vorsitzende gemäß § 176 StPO, soweit erforderlich, beispielsweise „Ermahnungen und Rügen erteilen, ungebührliches Verhalten untersagen, u. U. auch das Wort entziehen" 73 . 2. Die effektiveren Maßnahmen und Sanktionen nach §§ 177, 178 GVG zum Schutz von Zeugen sind demgegenüber nicht gegen Verteidiger, Staatsanwälte und Richter sowie Schöffen zulässig, was Konfliktverteidigern bei dem von Ihnen häufig inszenierten „Drama" des Rollentausches
68
69 70 71 72 73
BGHSt. 10, 202, 206 f; 23, 82, 85; 23, 176, 178; zustimmend u. a.: Hanack in: LR, § 338 Rdn. 105; KleinknechtjMeyer, § 338 Rdn. 47; Pikart in: KK, § 338 Rdn. 84. Abweichend u. a.: Fe^er, StPO II, 1986, 14/130, 131; Roxin, § 45 C II 2 m. w. N. BGHSt. 23, 85. Dazu Kleinknechtj Meyer aaO. Kleinknechtj Meyer, § 176 GVG Rdn. 10. aaO. Schäfer in: LR, § 176 GVG Rdn. 10, 28. - Vgl. auch Krey, StPO Bd. 1, Rdn. 740 ff, 750 m. w. N. und Schäfer aaO, Rdn. 16 ff, 22 ff zur Frage einer zwangsweisen Entfernung des Verteidigers aus dem Sitzungssaal. —
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— bei dem sie versuchen, aus Zeugen die eigentlichen „Angeklagten" zu machen, und zwar oft in außerordentlich anstößiger Weise —
eine weitgehende „Narrenfreiheit" sichert.
IX. Ausschluß des Akteneinsichtsrechts des Angeklagten und Einschränkungen des Akteneinsichtsrechts des Verteidigers im Ermittlungsverfahren (§ 147 II StPO) Diese Regelung dient u. a. auch dem Zeugenschutz, was Verf. bereits an anderer Stelle dargelegt hat 74 ; darauf sei hier verwiesen. Nach Akteneinsicht des Verteidigers könnten freilich Pressionsversuche bzw. Racheaktionen gegen Belastungszeugen durch den Beschuldigten bzw. seine Angehörigen oder Kumpanen drohen, da der Verteidiger grundsätzlich zu einer umfassenden Information des Beschuldigten berechtigt ist 75 . Um dieser Gefahr zu begegnen, wird man von jenem Grundsatz Ausnahmen machen müssen: Die Befugnis des Verteidigers, dem Beschuldigten vom Akteninhalt mündlich und/oder durch Kopien Kenntnis zu geben, entfallt insoweit, als zu befürchten ist, der Beschuldigte wolle die Information über den Akteninhalt zu verfahrensfremden Zwecken — etwa für Racheaktionen bzw. Einschüchterungsversuche gegenüber Belastungszeugen —
mißbrauchen. Auch dies hat Verf. bereits an anderer Stelle näher ausgeführt 76 .
X. Kein Anwesenheitsrecht des Beschuldigten und seines Verteidigers bei polizeilicher und staatsanwaltlicher Zeugenvernehmung (§§ 161a, 163a V, 168c - e contrario - StPO) Diese Rechtslage 77 wird zwar vielfach beklagt, indes zu Unrecht. Sie erscheint nämlich im Hinblick auf Verfassungsprinzipien wie Beschleunigungsgebot und Zeugenschut% als durchaus sachgerechte und verfassungskonforme Regelung. 74 75 76 77
Krey, StPO Bd. 1, Rdn. 594 ff, 613, 614. Krey aaO, Rdn. 601 ff m. w. N. Krey aaO, Rdn. 6 0 2 - 6 1 4 m. w. N. Dazu Krey, StPO Bd. 1, 1988, Rdn. 578, 591, 782.
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XI. §§ 168 c V S. 2, 2241 S. 2 StPO: Keine Benachrichtigung des Verteidigers bei „Gefahrdung des Untersuchungserfolges" 1. Die „Gefährdung des Untersuchungserfolges" kann zum einen in der zeitlichen Verzögerung liegen, die eine Benachrichtigung zur Folge haben würde — ein in der Praxis „nicht häufiger" Fall78 —.
Darüber hinaus nimmt die h. A. eine solche „Gefahrdung" aber zu Recht auch an, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, „daß der Zeuge mit Nachdruck zu einer Falschaussage angehalten werden soll" 79 : Die Gegenmeinung 80 erscheint erstens sachwidrig und beläßt zweitens den § § 1 6 8 c V S. 2, 2241 S. 2 StPO keinen nennenswerten Anwendungsbereich. 2. Erscheint der Verteidiger allerdings trotz unterbliebener Benachrichtigung bei der richterlichen Zeugenvernehmung, weil er auf andere Weise (Indiskretion) Kenntnis erlangt hat, so steht ihm gleichwohl ein Anwesenheitsrecht zu 81 . Hieran gibt es nach geltendem Recht nichts zu deuteln (§§ 168 c II, III, 224, 247 - e contrario - StPO). 3. Der Verstoß gegen § 168 c V 1 StPO hat ein revisibles Verwertungsverbot zur Folge, sofern „der Beschuldigte oder sein Verteidiger der — gegebenenfalls auch mittelbaren — Einführung und Verwertung des Vernehmungsergebnisses (Verlesen der Niederschrift, Vernehmung der Verhörsperson, Vorhalt) vorher widerspricht" 82 .
XII. §§ 54, 96 StPO — Geheimhaltung von Namen, Anschrift und Aufenthalt eines Zeugen durch die Polizei zum Schutz von Leib oder Leben des Zeugen oder seiner Angehörigen — /. § 96 StPO begrenzt die Amtshilfepflicht (Art. 35 I GG) der Behörden gegenüber den Strafverfolgungsorganen und ergänzt der Sache nach § 54 StPO 83 . Dabei deckt der Begriff des „Staatswohls" i. S. des § 96 78 79 80 81 82 83
Müller in: KK, § 168 c Rdn. 17. BGHSt. 29, 1, 3; 32, 115, 129 (GS); Klemknechtj Meyer, § 168c Rdn. 5; Müller aaO. Fetter, StPO I, 1986, 3/79 m. w. N.; Welp, JZ 1980, 134ff. BGHSt. 32, 115, 129 m. w. N.; Welp aaO. Hilger, NStZ 1989, 283; BGH NStZ 1989, 282 f. Kleinknecht] Meyer, §96 Rdn. 1; Krej, StPO Bd. 2, 1990, Rdn. 442 m. w. N.;Roxm, § 34 C II 1 b; Rudolphi in: SK-StPO, § 96 Rdn. 2; Schäfer in: LR, § 96 Rdn. 1, 3; Welp in: Gallas-Festschrift 1973, S. 423. Abweichend: Laufhütte in: KK, §96 Rdn. 1; H. Müller in: KMR, § 96 Rdn. 1.
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StPO auch die Begründung einer Sperrerklärung der obersten Dienstbehörde damit: andernfalls seien Leib oder Leben eines Zeugen ernstlich
gefährdet
M. a. W.: § 96 StPO erlaubt es, behördliche Akten oder andere amtlich verwahrte Schriftstücke gegenüber der Strafjustiz zu sperren, wenn anderenfalls die Identität und/oder der Aufenthalt eines Zeugen preisgegeben und aufgrund dieser Preisgabe ernstliche Gefahren für Leib oder Leben des Zeugen zu besorgen wären. 2. In analoger Anwendung gilt § 96 StPO für die Versagung behördlicher Auskünfte gegenüber der Strafjustiz, und zwar namentlich dann, wenn das Gericht von der Polizei Auskunft über Namen, Anschrift und Aufenthaltsort von behördlich geheim gehaltenen Zeugen (insbesondere von V-Männern, under-cover-agents, verdeckten Ermittlern) fordert 85 . Eine Auskunftsverweigerung analog § 96 StPO wegen drohender Nachteile für das „Staatswohl" ist dabei jedenfalls dann geboten, wenn ernstlich zu besorgen ist, daß der Zeuge durch die Offenbarung seines Namens, seiner Anschrift und/oder seines Aufenthalts in Leibes- oder Lebensgefahr gerät 86 . Dasselbe gilt naturgemäß bei entsprechender Gefahrdung von Angehörigen des Zeugen (z. B. durch Racheakte gegen seine Familie). 3. Liegt eine derartige Sperrerklärung der obersten Dienstbehörde gemäß § 96 StPO (analog) vor, so ist das Gericht hieran gebunden, es sei denn, jene Erklärung ist nicht begründet oder offensichtlich rechtsfehlerhaft 87 . Eine danach bindende Sperrerklärung stellt stets auch ein Beschlagnahmehindernis dar 88 . 4. Resümee: § 96 StPO erlaubt es in unmittelbarer bzw. analoger Anwendung der Polizei, Zeugen die Geheimhaltung ihrer Identität auch gegenüber dem Gericht zuzusichern, und zwar jedenfalls „in dem zum 84 85
86 87
88
BGHSt. 33, 83, 90 f; Krey, StPO Bd. 2 aaO, Rdn. 444; Schäfer aaO, Rdn. 28. BVerfG E 57, 250, 282; BGHSt. 30, 34, 35 f; 32, 115, 123 a. E. (GS); Krey aaO, Rdn. 445, 447 ff; Schäfer aaO, Rdn. 18,19 m. w. N.; abweichend: Herdegen, NStZ 1984, 97, 100; Kleinknechtj Meyer, § 96 Rdn. 13. BGHSt. 33, 83, 90 f; Krey, StPO Bd. 2 aaO, Rdn. 445. BVerfG E 57, 250, 288; BGHSt. 32, 115, 125 (GS); Kleinknechtj Meyer, § 96 Rdn. 10; Rudolphi aaO, Rdn. 14. Fet>er, StPO I, 8/20 f; Kähne, Strafprozeßlehre, 3. Aufl. 1988, Rdn. 248 a. E.; Laufhütte in: KK, § 96 Rdn. 3; H. Müller in: KMR, § 96 Rdn. 2. — Nach a. A. ist eine Beschlagnahme von Behördenakten schlechthin unzulässig; so u. a.: Kleinknechtj Meyer, § 96 Rdn. 2 m. w. N. pro und contra; Rudolphi in: SK-StPO, § 96 Rdn. 8. -
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Schutz vor Leibes- und Lebensgefahren erforderlichen Maße" (BGH)m. Das gilt nicht nur für „V-Männer vor ihrem Einsatz" 90 , sondern auch für sonstige Zeugen, etwa für einen Rentner, der zufallig Zeuge einer tödlich verlaufenden „Abrechnung" unter Zuhältern geworden ist, und der zunächst nur anonym mitteilt, er könne bei Zusicherung „absoluter Geheimhaltung seiner Identität" bei der Polizei aussagen. 5. Wird die Identität eines Zeugen gemäß § 96 StPO (analog) geheimgehalten, so kann das Gericht auch nicht mittels Vernehmung von Polizeibeamten, die Namen, Anschrift und/oder Aufenthalt des Zeugen kennen, jene Identität lüften. Denn insoweit wird gemäß § 54 StPO i. V. m. § 61 BBG bei Bundesbeamten bzw. i. V. m. § 39 BRRG und den entsprechenden Normen der LBGe bei Landesbeamten die Aussagegenehmigung für jene Polizeibeamten durch den Dienstherrn begrenzt.
6. Wie mir scheint, dient eine nicht zu restriktive Anwendung der dargelegten Möglichkeiten, Zeugen geheimzuhalten, — und zwar nicht nur V-Männer, sondern gerade auch Normatbürger, die zu Recht Angst vor Rache haben, etwa bei Taten von gewalttätigen Demonstranten, von Rockern etc. —
nicht nur den Grundrechten der betroffenen einzelnen Zeugen, sondern letztlich auch der Gewährleistung einer effektiven Strafrechtspflege: Der anonyme Hinweis eines Bürgers, dessen Identität das Gericht nicht erfahrt, auf die Person eines Gewaltverbrechers ist jedenfalls dann, wenn er (Hinweis) die Polizei auf die richtige Spur und damit zum Auffinden weiterer Beweismittel führt (Beute, Tatwerkzeug, Fingerabdrücke etc.), möglicherweise ein viel wertvolleres Beweismittel als etwa ein sonstiger, namentlich bekannter Zeuge 91 . Die Gerichte sollten daher Vertraulichkeitszusagen der Polizei an gefährdete Zeugen nicht unnötig erschweren. Und alle Strafverfolgungsorgane sollten sich nicht zu einseitig auf die V-Mann-Problematik konzentrieren, sondern sich stärker als bisher darum bemühen, auch den Gefahrdungen von Normalbürgern als Zeugen ausreichend gerecht zu werden. Und namentlich sollten Polizei, StA und Strafgerichtsbarkeit ernstlich an Leib oder Leben gefährdete Zeugen nicht mit dem oft unzureichenden
89 90 91
BGHSt. 33, 83, 91. BGH aaO. Gut gesehen von BGH aaO, S. 88, 89.
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„Schutz" gemäß § 172 Nr. 1 GVG (Ausschluß der Öffentlichkeit), § 247 StPO (Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungssaal) und/oder §68 S. 2 StPO (Erlaubnis an den Zeugen, seinen Wohnort nicht anzugeben) „abspeisen" — es sei denn, dieser „Schutz" ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geeignet, die Gefahr für den Zeugen abzuwenden. Dritter Teil: Regelungslücken im gesetzlichen Zeugenschutz I. Keine ausdrückliche Ausnahme von der Erscheinungspflicht im Falle der Gefahr für Leib oder Leben des Zeugen Der folgende Fall soll diese Problematik verdeutlichen: Die Prostituierte P ist eine der Belastungszeugen in einem Strafverfahren gegen den Zuhälter Z wegen Menschenhandels (§ 181 StGB), Zuhälterei (§ 181 a StGB) u. a. Kurz vor dem Termin zur Hauptverhandlung erhält die P von einem überraschend aus der U-Haft entlassenen „Kollegen" des Z die glaubhafte Drohung, sie werde „kalt gemacht", falls sie vor Gericht erscheine: Man werde sie „erwischen", und wenn es Monate dauere. Die P teilt diese Drohung unverzüglich telefonisch dem Gericht mit und erklärt definitiv, sie werde nicht kommen; um nicht „vorgeführt" (§ 51 I S. 3 StPO) zu werden, taucht sie unter.
Eine ausdrückliche Ausnahme von der Erscheinungspflicht für Zeugen (§§ 51, 161 a StPO) sieht das Gesetz selbst für den Fall nicht vor, daß der Zeuge durch sein Erscheinen in Leibes- oder Lebensgefahr gerät. Doch wird bei verfassungskonformer Auslegung des § 51 II StPO eine „genügende Entschuldigung" i. S. dieser Vorschrift in Betracht kommen 92 , wobei bei P auch das Erfordernis der „Rechtzeitigkeit" der Entschuldigung gewahrt ist. Freilich ist mit Rebmann/Schnarr93 eine gesetzliche Klarstellung in § 51 StPO zu fordern, zumal Rechtsprechung und Lehre zu diesem Problem sehr unergiebig sind. II. Keine ausdrückliche Regelung des Aussageverweigerungsrechts von Zeugen bei ernstlicher Gefahr für Leib oder Leben im Falle einer wahrheitsgemäßen Aussage 7. Die StPO enthält eine Vielzahl von Aussageverweigerungsrechten (§§ 52 ff StPO); nur einen Fall regelt sie mit Bedacht nicht, obwohl die 92
93
Dahs in: LR, § 51 Rdn. 14; Molketin, DRiZ 1981, 385; RebmannlSchnarr, NJW 1989, 1185, 1190; siehe auch: BGH NStZ 1984, 31, 32; BVerfG E 57, 250, 284 f. aaO.
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Problematik hinreichend bekannt ist: den des Zeugen, dem man vor seiner Vernehmung sehr überzeugend angedroht hat, für den Fall einer wahrheitsgemäßen Aussage werde er getötet (bzw. gefoltert, furchtbar zusammengeschlagen o. ä.). Allerdings hat der BGH (2. Strafsenat) in seinem bereits erwähnten Urteil v. 16. 06. 1983 - oben, Erster Teil, III mit Anm. 12 - entschieden: Wegen der Fürsorgepflicht des Gerichts könne dieses, „wenn es ernsthaft befürchten müsse, daß ein Zeuge durch wahrheitsgemäße Aussage in Lebensgefahr geraten würde, und wenn es keine ausreichenden Schutzmöglichkeiten sehe, nicht verpflichtet sein, durch Anwendung von Zwangsmaßnahmen je nach dem Verhalten des Zeugen dessen Gefahrenlage zu verschärfen oder eine Falschaussage hervorzurufen. Ob diese Voraussetzungen vorlägen, müsse der Tatrichter nach pflichtgemäßem Ermessen prüfen und entscheiden"94.
2. Dieses Urteil ist in mehreren Punkten unbefriedigend: Erstens stellt der BGH allein auf ernstliche „Lebensgefahr" ab, während auch ernstliche Leibesgefahr (von gewisser Erheblichkeit) genügen muß 95 . Zweitens betont der BGH lediglich die mangelnde Verpflichtung des Tatrichters, nach § 70 StPO vorzugehen, während es grundsätzlich wegen Art. 2 II S. 1 GG bereits an seiner Berechtigung fehlt, diese Zwangsmaßnahmen zu verhängen 96 . Drittens fehlt es an einer genügenden Begründung des Gerichts für seinen Standpunkt; denn immerhin wird hier ja ein von der StPO nicht geregeltes Zeugnisverweigerungsrecht „geschaffen", und zwar praeter oder gar contra legem. Wie mir scheint, handelt es sich bei der Anerkennung eines Zeugnisverweigerungsrechts für den Fall emstlicher Gefahr für Leib oder Leben des Zeugen um gesetzesergänzende Lükkenfüllung, die sich auf Art. 2 II S. 1 GG i. V. m. § 34 StGB sowie einem Erstrecht-Argument aus § 55 StPO stützen kann 97 . Viertens ist jenes Zeugnisverweigerungsrecht auch bei ernstlicher Gefahr für Leib oder Leben von Angehörigen (i. S. des § 52 I StPO) des Zeugen gegeben (analog § 55 StPO). Fünftens läßt der BGH bezeichnenderweise die Frage der Belehrungspflicht des Richters über jenes Zeugnisverweigerungsrecht offen; m. E.
94
95 96 97
BGH aaO; ebenso bzw. weitergehend u. a.: Dahs in: LR, § 70 Rdn. 5; Kiemknecht j Meyer, 5 70 Rdn. 5; Molketin aaO; Paulus in: KMR, § 70 Rdn. 8; Peichen in: KK, § 70 Rdn. 5; RebmannjSchnarr aaO; Roxin, § 26 B II (vor 1). Wie Verf. u. a.: Dahs und Kleinknecht j Meyer aaO. Ebenso Roxin aaO. Auf § 34 StGB rekurrieren u. a. Dahs, Kleinknecht/Meyer und Roxin aaO; letzterer nennt noch § 55 StPO analog.
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sprechen insoweit gute Gründe für eine analoge Anwendung des § 55 II StPO, d. h. eine Belehrungspflicht bei Bestehen deutlicher Anhaltspunkte für die Zeugengefährdung. 3. Ergebnis: Bereits de lege lata hat der Zeuge das Recht, die Aussage zu verweigern, wenn die ernstliche Gefahr besteht, er oder ein Angehöriger werde bei wahrheitsgemäßer Aussage in Lebensgefahr oder in eine nicht unerhebliche Leibesgefahr geraten, und wenn jene Gefahr nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anders abwendbar ist. Über dieses Zeugnisverweigerungsrecht ist der Zeuge gegebenenfalls zu belehren (§ 55 II StPO analog); jedenfalls sprechen dafür gute Gründe. III. Keine genügende Regelung des Instituts des Zeugenanwalts 1. § 406f I, II StPO: Zeugenanwalt für den Verletzten Nur für das Straftatopfer enthält § 406 f StPO eine gesetzliche Regelung des Zeugenanwalts (Rechtsanwalt als Zeugenbeistand). 2. Fehlen einer Normierung für Zeugen, die nicht Verletze sind In seinem bekannten Beschluß v. 08. 10. 1974 hat das BVerfG (2. Senat) aus seinen eingangs zitierten Feststellungen zur Rechtsstellung des Zeugen — oben, Erster Teil, I mit Anm. 6 bis 9 —
für das Institut des Zeugenanwalts den Schluß gezogen 98 : „1. Der Ausschluß eines Rechtsbeistandes des Zeugen von der Zeugenvernehmung verstößt im allgemeinen gegen das im Rechtsstaatsprinzip enthaltene Recht auf ein faires Verfahren. Er ist nur dann mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar, wenn er unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen, wirksamen Rechtspflege erforderlich ist. 2. Ist der Zeuge danach berechtigt, einen Rechtsanwalt seiner Wahl als Rechtsbeistand hinzuzuziehen, kann dieser nur auf Grund gesetzlicher Regelung von der Vernehmung zurückgewiesen werden. Die NichtÖffentlichkeit des Verfahrens steht seiner Anwesenheit nicht entgegen."
a) In den Entscheidungsgründen stellt das BVerfG besonders auf die Rolle des Zeugen als eines potentiellen Beschuldigten ab und verweist dabei auf § 55 StPO". Daraus darf indes nicht der Schluß gezogen werden, grundsätzlich habe nur der Zeuge Anspruch auf Erscheinen mit einem Rechtsanwalt 98 99
BVerfG E 38, 105 (Leitsätze). S. 112—115.
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als Zeugenbeistand, für den nach den Umständen ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO in Frage komme. Zum einen nämlich geben die Leitsätze jenes B l/ir/G-Beschlusses für eine derartige Einschränkung nichts her. Zum anderen finden sich, was entscheidender ist, in den Gründen Ausführungen, die ganz allgemein auf Rechte bzw. rechtlich geschützte Interessen des Zeugen und die vielfach gegebene Notwendigkeit, sich für ihre Wahrnehmung und zur Abwehr von Angriffen des Rechtsbeistandes eines Anwalts bedienen, abstellen. Das BVerfG hebt hier u. a. §§ 68 a, 241 II, 247 StPO, §§ 171 b, 172 GVG hervor 100 . b) Freilich fügt das BVerfG einschränkend hinzu 101 : „Das Rechtsstaatsprinzip zieht jedoch einem allgemeinen Recht des Zeugen auf Rechtsbeistand Grenzen. Es wäre mit dem Postulat der Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen, wirksamen Rechtspflege nicht vereinbar, den Rechtsbeistand des Zeugen in allen Fällen ohne Einschränkungen zuzulassen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt vielmehr eine Abwägung zwischen dem Anspruch des Zeugen und dem öffentlichen Interesse an der Effizienz des Strafprozesses und ähnlicher Verfahren, die die Behörden und Gerichte unter Abwägung aller persönlichen und tatsächlichen Umstände des Einzelfalles vorzunehmen haben. Für die Hinzuziehung eines Rechtsbeistandes bedarf es daher stets einer besonderen rechtsstaatlichen Legitimation, die sich in unterschiedlicher Ausprägung aus der jeweiligen besonderen Lage des Zeugen, insbesondere aus den ihm im eigenen Interesse eingeräumten prozessualen Befugnissen bei der Erfüllung der allgemeinen staatsbürgerlichen Zeugenpflichten ergibt."
c) Diese Ausführungen nun sind in zweierlei Hinsicht sehr unbefriedigend: Erstens sind sie von bedenklicher Unschärfe, und zwar namentlich durch den Rekurs auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zweitens erscheint die Formel von der Notwendigkeit einer „besonderen rechtsstaatlichen Legitimation für die Hinzuziehung eines Zeugenanwalts" verfehlt. Vielmehr wird man bei verfassungskonformer Anwendung des § 3 BRAO im Hinblick auf die Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber dem Zeugen schon de lege lata postulieren müssen: Grundsätzlich hat jeder Zeuge das Recht, mit einem Rechtsanwalt als Zeugenbeistand zu gerichtlichen Vernehmungen zu erscheinen; „besondere Gründe" hierfür braucht er weder darzulegen noch sind sie überhaupt erforderlich. Nur ausnahmsweise mag der Aspekt der anders nicht möglichen „Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Rechtspflege" jenes Recht beschränken 102 . 100 101 102
S. 117. S. 117 a. E., 118. Dazu BVerfG aaO, S. 105 (Leitsatz 1).
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Das Recht auf Beistand durch einen Rechtsanwalt haben dabei auch Polizeibeamte als Zeugen103. d) Die Rechtsstellung des Zeugenanwalts kann hier nicht näher dargelegt werden; insoweit muß es mit dem Hinweis auf die Ausführungen von Karlheinz Meyer hierzu104 sein Bewenden haben. IV. Probleme der Verpflichtung des Zeugen zur Wohnortangabe - § 68 S. 1, 2 mit §§ 200, 222 StPO 1. Keine Geltung des § 68 StPO für polizeiliche
Vernehmungen
§§ 68, 163 a V StPO ergeben eindeutig, daß „das Fehlen der in § 68 StPO genannten Personalangaben in einer polizeilichen Vernehmungsniederschrift nicht schon für sich allein die Unverwertbarkeit der Niederschrift für das gerichtliche Verfahren begründet" 105 . 2. Keine Verpflichtung %ur Wohnortangabe bei Poli^eibeamten, Staatsanwälten und Strafrichtern, die als Zeugen über im Dienst gemachte Bekundungen aussagen a) Praxis § 200 I S. 2 und § 222 StPO Bei den vorgenannten Amtsträgern als Zeugen ist es üblich, in der Anklageschrift bei der Angabe der Beweismittel statt ihrer Privatanschrift die Dienststelle anzugeben, z. B.: KOK Boris Bäcker, Polizeipräsidium
Trier'106.
Entsprechend wird in der Praxis in der Regel bei der Namhaftmachung von Zeugen gemäß § 222 verfahren107. Jene Praxis ist auch legal: Zum einen stellt sie Gewohnheitsrecht dar, das Vorrang vor einem etwaig abweichenden Gesetzestext (§ 222 I S. 1 StPO: „Wohn- oder Aufenthaltsort") besitzt. Zum anderen ist jene Praxis auch sachgerecht und entspricht der ratio legis der §§ 200, 222 StPO; dazu führt das OLG Celle zutreffend
103
104 105 106 107 108
In Rheinland-Pfalz hat die Innenverwaltung Polizeibeamten z. B. in Prozessen, wo der erwähnte „Rollentausch" durch Konfliktverteidiger (dazu oben, Zweiter Teil, VIII 2) zu erwarten war, „Zeugenanwälte" gestellt — was vielfach zu einem deutlich angemesseneren Umgang der Verteidiger mit den Zeugen führte. Klemknechtj Meyer, Rdn. 11 vor § 48 m. w. N. BGH St. 33, 83, 85; Kleinknecht\Meyer, § 68 Rdn. 2 m. w. N. Vgl. Krey, StPO, Bd. 2, 1990, Rdn. 27 Anm. 35. OLG Celle NJW 1988, 2751, 2752. aaO.
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Bei der Ladung von Polizeibeamten als Zeugen an ihrer Dienststelle sei dem Zweck des § 222 StPO genügt, sofern die Angabe der Dienststelle anstelle des Ortes der Privatwohnung „keine Zweifel an der Identität des Zeugen lasse" — wovon (grundsätzlich) auszugehen ist —; denn jene Dienststellenangabe „ermögliche den Beteiligten die ordnungsgemäße Vorbereitung der Hauptverhandlung". Der Wohnort der Polizeibeamten sei für diese Vorbereitung „völlig ohne Belang". Demgemäß werde seit jeher in der Praxis die Wohnung der ermittelnden Polizeibeamten nicht in die Akten aufgenommen, sondern statt dessen ihre Dienststelle.
Diese Praxis ist weiterhin auch im Hinblick auf die erforderliche Aussagegenehmigung des Dienstherrn für Amtsträger (§ 54 StPO i. V. m. § 61 BBG bzw. § 39 BRRG) sinnvoll. Sie ist schließlich auch deswegen zu billigen, weil Polizeibeamte anders als der Privatmann kraft ihrer amtlichen Strafverfolgungstätigkeit nicht etwa nur gelegentlich, sondern ständig mit einer Zeugenrolle rechnen müssen, d. h. bei Angabe ihrer Privatanschrift nach §§ 200, 222 StPO ständig der Gefahr von Belästigungen, Telefonterror u. ä. ausgesetzt wären 109 . Die Vereinbarkeit jener Praxis mit Sinn und Zweck der §§ 200, 222 StPO nun bedeutet: Auch wer den hier vertretenen Rückgriff auf Gewohnheitsrecht (oben im Text nach Anm. 107) ablehnen würde, käme nicht zur Annahme unzulässiger Gesetzeskorrektur, sondern zur Bewertung der dargelegten Praxis als erlaubter und m. E. auch gebotener „teleologischer Reduktion"110. b) Keine Verpflichtung %ur Wohnortangabe gemäß § 68 S. 1 StPO für Poli^eibeamte, Staatsanwälte und Richter als Zeugen Nach h. M. können diese Amtsträger, wenn ihnen Belästigungen drohen, statt ihres privaten Wohnortes ihre Dienststelle angeben: Damit sei die Verpflichtung zur „Wohnortangabe" gemäß § 68 S. 1 StPO erfüllt; eines Rückgriffs auf § 68 S. 2 — dessen Anwendung ohnehin (grundsätzlich) mehr als die Gefahr bloßer Belästigungen erfordere 1 " —
bedürfe es hier nicht 112 . Dem ist mit der Maßgabe zuzustimmen, daß es nicht auf die konkrete Gefahr von Belästigungen ankommt, sondern
109 110
111
112
Hierzu u. a. Rebmann\Schnarr, NJW 1989, 1185, 1188. Zur teleologischen Reduktion als Mittel der gesetzesergänzenden Lückenfüllung vgl. m. w. N. Krey, ZStW 1989, 838, 867. Dahs in: LR, § 68 Rdn. 10; Kleinknecht/Meyer, § 68 Rdn. 12; Leineweber, MDR 1985, 635, 637; a. A. OLG Celle NJW 1988, 2751, 2752. Dahs in: LR, § 68 Rdn. 6; KleinknechtjMeyer, § 68 Rdn. 8; Leineweber aaO, S. 637 a. E., 638; Paulus in: KMR, § 68 Rdn. 10; Rebmann¡Schnarr aaO; a. A. OLG Celle NJW 1988, 2751.
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allein auf den Aspekt abstrakter Belästigungsgefahr für jene Amtsträger 113 . M. a. W.: Polizeibeamte, Staatsanwälte sowie Strafrichter, die als Zeugen über im Dienst gemachte Bekundungen aussagen sollen, dürfen grundsätzlich die in § 68 S. 1 StPO geforderte Angabe ihres Wohnortes durch die Angabe ihrer Dienststelle ersetzen. Insoweit ist § 68 StPO gewohnheitsrechtlich eingeschränkt. Die am Ol. Ol. 1979 in Kraft getretene Neufassung dieser Vorschrift (Einfügung des jetzigen S. 2 114 ) hat daran nichts geändert, da sie insoweit keinen nach Wortlaut und Sinn hinreichend klaren Bruch mit der alten gewohnheitsrechtlichen Praxis darstellt. Zudem entspricht die hier vertretene Ansicht auch der ratio legis der Wohnortangabe (§ 68 S. 1 StPO) — in erster Linie dient sie zur Vermeidung von Personenverwechselungen (Identitätsfeststellung)115, allenfalls in zweiter Linie geht es darum, die Einholung von Erkundigungen (Beurteilung der Glaubwürdigkeit) zu ermöglichen116 —.
Dazu betont Leineweber zu Recht 117 : Im übrigen stellt die Angabe der Dienststelle „eine mit dem Wohnort vergleichbare, weil ebenso sichere wie schnell auffindbare Adressenangabe dar. Identität und ladungsfähige Anschrift sind dadurch in voller Weise gewährleistet, ebenso die Möglichkeit der Prozeßbeteiligten, zur Existenz, Persönlichkeit und Glaubwürdigkeit des Zeugen Stellung zu nehmen und entsprechende Beweisanträge zu stellen. Beweisführung und Überzeugungsbildung bleiben insofern erhalten."
Daß die Differenzierung zwischen jenen Amtsträgern und Privatpersonen auch sachgerecht ist, wurde bereits oben gezeigt 118 . 3. § 68 S.1 StPO: Zum Begriff des „Wohnortes" Hier halte ich es mit der h. A., die besagt 119 : „Wohnort" i. S. jener Vorschrift ist nur die politische Gemeinde (z. B. Köln, München etc.), in der der Zeuge wohnt; dagegen erfaßt dieser Begriff nicht die Postanschrift im übrigen. Zwar wird im Schrifttum vielfach die Angabe der genauen postalischen Anschrift verlangt 120 . Diese Ansicht geht aber über das vom Gesetz geforderte hinaus. 113 114 115 116 117 118 119 120
Ebenso z. B. RebmannjSchnarr aaO. Dazu Leineweber, Kriminalistik 1979, 38. Kleinknecht jMeyer, § 68 Rdn. 1. Überbetonung dieses Aspektes bei BGH St. 32, 115, 128 (GS). MDR 1985, 635, 637 a. E., 638. IV 2 a mit Anm. 109. OLG Celle NJW 1988, 2751; Dabs in: LR, § 68 Rdn. 6; Pelchen in: KK, § 68 Rdn. 5. KleinknechtjMeyer, § 68 Rdn. 8; Paulus in: KMR, § 68 Rdn. 10.
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Jene h. A. entspricht dem Gesetzestext, wird durch den Aspekt des Zeugenschutzes geboten und widerspricht auch nicht der ratio legis der Verpflichtung zur Wohnortangabe 121 : Falls einmal an der Identität des Zeugen Zweifel bestehen oder es — ausnahmsweise — zur sachgerechten Verteidigung auf weitere Angaben ankommen sollte, hilft § 68 S. 3 StPO. 4. §68 S. 2 StPO Durch die dargelegten Einschränkungen des § 68 S. 1 StPO für Polizeibeamte sowie Staatsanwälte und Strafrichter, zudem durch die Gleichsetzung des „Wohnorts" i. S. des § 68 StPO mit politischer Gemeinde sind die vielfach dahingehend geäußerten Bedenken, die Ausnahmevorschrift des § 68 S. 2 StPO sei zu eng gefaßt, weitgehend entschärft. Gleichwohl bleibt ein Unbehagen: Zum einen nämlich sind die hier vertretenen Standpunkte, die zu dieser „Entschärfung" führen, ja sehr strittig. Zum anderen droht die Gefahr, daß § 68 S. 2 StPO weitgehend durch § 222 StPO leerlaufen könnte, was hier nicht mehr vertieft werden kann — insoweit muß der Hinweis auf das Urteil des BGH v. 10. 01. 1989 (1. Senat) 122 genügen.
V. Zur Problematik des § 2511 Nr. 4 StPO - Anschluß an: Zweiter Teil, VI 2 — An dieser Stelle muß es mit den folgenden Thesen sein Bewenden haben: 1. Die Gesichtspunkte Beschleunigungsgebot, Zeugenschut% und u. U. auch berechtigte Interessen des Angeklagten könnten für folgende zeitgemäße Deutung des § 251 I Nr. 4 StPO sprechen, der ich zuneige: Diese Vorschrift stellt eine partielle gesetzliche Anerkennung von Absprachen im Strafverfahren dar. Eine derartige Einigung ist keineswegs durch § 244 II StPO i. V. m. der Aufklärungsrüge so begrenzt, daß man sagen könnte: Das Vorgehen nach § 251 I Nr. 4 StPO stehe stets unter dem „Damoklesschwert" der Aufklärungsrüge (Rüge der Verletzung des § 244 II StPO mit der Revision). 121 122
OLG Celle aaO. NStZ 1989, 237, 238 m. w. N.; siehe Krey, StPO Bd. 2, 1990, Rdn. 557 f.
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Vielmehr greift diese Rüge angesichts des Einverständnisses Gericht/ StA/Angeklagter und Verteidiger jedenfalls dann, wenn dem Angeklagten ein Verteidiger (§ 138 I StPO) als Organ der Rechtspflege beistand, nur ein, wenn ein schwerer und evidenter, mithin willkürlicher Verstoß des Tatrichters gegen seine Wahrheitsermittlungspflicht vorlag.
2. Was die Zulässigkeit der Aufklärungsrüge durch den Angeklagten oder seine Verteidiger angeht, sprechen die Verfahrensprinzipien Treu und Glaubenni (Verbot des widersprüchlichen Verhaltens, Verwirkung) und das Prinzip der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege124 für die folgende These, die mir entgegen der ganz h. M. einleuchtend (zumindest erwägenswert) erscheint: Durch das Einverständnis mit dem Procedere nach § 251 I Nr. 4 StPO haben StA, Angeklagter — jedenfalls dann, wenn ein Verteidiger als Organ der Rechtspflege anwesend war — und Verteidiger grundsätzlich das Recht verloren, mit der Aufklärungsrüge jenes Procedere anzugreifen. Anderenfalls könnte sogar arglistig eine solche Rügemöglichkeit erschlichen werden. Zwar könnten die Revisionsgerichte solchen Aufklärungsrügen, die trotz seinerzeitigen Einverständnisses erhoben werden, vielfach den Erfolg versagen, indem sie solche Rügen als unbegründet verwerfen, und zwar mit der Argumentation: Die Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung habe sich dem Gericht angesichts des allseitigen Einverständnisses i. S. des § 2511 Nr. 4 StPO „nicht aufgedrängt"125.
Doch ist diese „Lösung" letztlich ein Notbehelf. Vierter Teil: Ausblick Ein letzter Punkt, der hier nicht mehr behandelt, sondern nur noch erwähnt werden kann, ist die „Hypertrophie des Unmittelbarkeitsgrundsatzes" auf Kosten des Zeugenschutzes: Auch in Strafverfahren wegen Gewaltdelikten muß beispielsweise ein Zeuge, der bereits vor der Polizei, der StA und dem Ermittlungsrichter ausgesagt hat, anschließend noch in der Hauptverhandlung erster Instanz zur Sache 123
124
125
Dazu u. a.: BVerfG E 32, 305, 308 f; jescheck, JZ 1952, 400, 403 (a. E.); Krey, StPO Bd. 2, 1990, Rdn. 260; Schmid, Die „Verwirkung" von Verfahrensrechten im Strafprozeß, 1967, S. 297 ff; kritisch u. a.: Sax in: KMR, Einl. X, Rdn. 74 ff, 76, 77, 80 (siehe auch Kleinknecht ¡Meyer, § 337 Rdn. 47 m. w. N.). BVerfG E 33, 367, 383; ständige Rspr.; Krey aaO, Rdn. 2 6 1 - 2 6 3 m. w. N. Kritisch u. a.: Hassemer, Strafverteidiger 1982, 275 ff, 279 f; Roxin, § 1 B II a. E. Zu diesem Gesichtspunkt des „Sich-Aufdrängens" vgl. etwa KleinknechtjMeyer, § 244 Rdn. 80, 81.
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bekunden, gegebenenfalls dann erneut in der zweiten Tatsacheninstanz (Berufung), ganz abgesehen von der immer neuen Verpflichtung %um Erscheinen und %ur Aussage in Fällen von Vertagungen und erneuter Hauptverhandlung nach Zurückverweisungen durch die RevisionsinstanHier wird vielfach gegenüber verängstigten Zeugen unter verfassungsrechtlich bedenklicher Mißachtung ihrer Grundrechte der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz überspannt — was die geltende StPO freilich verlangt. Insoweit muß der Gesetzgeber Abhilfe schaffen 126 .
126
Vgl. u. a. Baumann in: Klug-Festschrift Bd. 2, 1983, S. 459, 465; Krey, StPO Bd. 1, 1988, Rdn. 585.
Der gefesselte Angeklagte K L A U S LÜDERSSEN
Was macht ein Verteidiger, dem der Vorsitzende Richter vor Beginn der Hauptverhandlung mitteilt, der Angeklagte — ein paar Räume entfernt auf seine Vorführung wartend — lehne es ab, sich fesseln zu lassen? Er zuckt mit den Achseln. Wie aber reagiert er, wenn ihn der Vorsitzende Richter auffordert, er möge seinem Mandanten doch gut zureden? Er weist diese Zumutung zurück und riskiert den Verlust des favor iudicis. In fliegender Eile versucht er, die Rechtsgrundlage für die Fesselung des Angeklagten zu rekapitulieren. Der Aufsatz, den gelesen zu haben sich der Verteidiger jetzt — es ist eine wahre Geschichte — sehnlich wünscht, wird hier präsentiert. Er beginnt mit der Wahrnehmung eines Trilemmas. Die Hauptverhandlung findet nicht statt. Die Hauptverhandlung findet ohne Angeklagten statt. Der Angeklagte wird gewaltsam gefesselt. Für welches Übel soll man sich entscheiden? Bei der spontanen Reaktion — gesetzt, sie stellt sich überhaupt ein — kann es sicher nicht bleiben. Die systematische Betrachtung der rechtlichen Vorschriften 1 ergibt das folgende:
I. Der Angeklagte ist in Untersuchungshaft: 1. Für den in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten ist § 119 StPO Ausgangspunkt der Überlegungen. Absatz 5 erlaubt die Fesselung 1
Mit Ausnahme der Untersuchungshaftvollzugsordnung müssen die übrigen auf diesem Gebiet ergangenen Verwaltungsvorschriften außer acht bleiben. Das ist sehr bedauerlich; die schwer entwirrbare Mischung aus Wiederholung von Gesetzestexten, Abänderung von Gesetzestexten und zusätzliche, auf eindrucksvolle Weise in die Details gehenden Belehrungen ist eine Herausforderung gleichermaßen an die Lehren von der Rechtsgeltung, die Verwaltungslehre und Organisationssoziologie und — wegen ihrer mittelbaren Wirkungen — auch an die Richterpsychologie und -Soziologie. Illustrandi causa wird im Anhang diesem Aufsat^ abgedruckt die „Gemeinsame Rundverfügung an alle Beamten des einfachen Dienstes und alle Justizhelfer bei den Gerichten und Justizbehörden in Frankfurt am Main, Betr.: Vorführung von Untersuchungs- und Strafgefangenen, insbesondere Anordnung der Fesselung und Entfesselung."
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des Angeklagten unter anderem dann (Ziff. 2), wenn er zu fliehen versucht oder wenn bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles, namentlich der Verhältnisse des Beschuldigten und der Umstände, die einer Flucht entgegenstehen, die Gefahr besteht, daß er sich aus dem Gewahrsam befreien wird. Danach scheint eine „einfache" Fluchtgefahr des Angeklagten zu genügen. Einschränkend wird allerdings verlangt, daß die Fesselung nicht generell, sondern lediglich in bestimmten Einzelfallen angeordnet werden darf 2 . Begründet wird dies damit, daß die Fesselung als starker Eingriff in die Bewegungsfreiheit des Betroffenen an besonders strenge Voraussetzungen geknüpft ist, die in § 119 Abs. 5 Satz 1, Ziff. 2 StPO abschließend aufgeführt sind und daß diese Vorschrift eine „Würdigung der Umstände des Einzelfalles" erfordert 23 . Daß die Einzelfallbetrachtung in § 119 Abs. 5 Satz 1 Ziff. 2 StPO sich auf konkrete Anlässe und nicht allein auf die Person des Betroffenen erstrecken soll, ist nicht selbstverständlich, im Ergebnis aber zutreffend. Im übrigen besteht, worauf das LG Koblenz hingewiesen hat, kein unabweisbares Bedürfnis für eine generelle Regelung der Fesselung durch den Richter. Denn die erforderlichen Maßnahmen können im Wege der Notkompetenz angeordnet werden (§119 Abs. 6 Satz 2 StPO). Soweit durch die Notwendigkeit einer nachträglichen Genehmigung (§119 Abs. 6 Satz 3 StPO) eine Mehrbelastung des Richters entsteht, ist dies eine Folge der Kompetenzzuweisung 2b , die nicht dadurch aufgefangen werden darf, daß zu Lasten des Betroffenen generell die Fesselung angeordnet wird. Weigert ein Untersuchungsgefangener sich, sich Fesseln anlegen zu lassen, erhebt sich die Frage des unmittelbaren Zwangs. Die Voraussetzungen, unter denen Bedienstete der JVA gegen Untersuchungsgefangene zur Anwendung unmittelbaren Zwangs greifen dürfen, ist in § 178 Abs. 1 StVollzG in Verbindung mit §§ 94 bis 101 StVollzG unter Verweis auf die für den Strafvollzug geltenden Vorschriften geregelt. Diese Vorschriften über die Anwendung unmittelbaren Zwangs, nach Auffassung von KoepseP „sehr präzise formuliert", bedürfen keiner näheren Erläuterung. Auch das Fesseln ist ein „Hilfsmittel der körperlichen Gewalt" (§ 95 Abs. 3 StVollzG). Von Bedeutung ist hierbei insbesondere § 96 StVollzG, der den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs im Rahmen des Strafvollzuges regelt. Ebenso sieht Nr. 64 Untersuchungshaftvollzugsordnung in Abs. 1 erster Satz am Ende vor, daß die Fesselung eines Gefangenen nur zulässig ist, wenn die Gefahr durch
2 21 2b 3
KK-Boujong, Rdn. 73 zu § 119; Kleinknecht]Meyer, Rdn. 41 zu § 119. LG-Koblenz, StV 1983, 467; OLG Oldenburg, NJW 1975, 2219. LG Koblenz aaO. In: SchmndjBöhm, StVollzug, Rdn. 3 zu § 94.
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keine andere, weniger einschneidende Maßnahme abgewendet werden kann. Nr. 64 Untersuchungshaftvollzugsordnung wiederholt insofern lediglich den in § 119 Abs. 5 StPO am Ende normierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. 2. Die Zuständigkeit ist in § 119 Abs. 6 Satz 1 StPO geregelt. Die Fesselung wird danach vom Richter angeordnet. Wer das ist, ergibt sich aus den §§ 125 und 126 StPO. Zuständig ist danach zunächst einmal der Haftrichter. Mit Anklageerhebung geht das Verfahren in die Zuständigkeit des Gerichts über. Nun ist der Vorsitzende des mit der Sache befaßten Gerichts zuständig für die Anordnung der Fesselung 4 . Daneben sieht § 119 Abs. 6 Satz 2 StPO eine Eilzuständigkeit vor. In dringenden Fällen sind Staatsanwalt, Anstaltsleiter (gemeint ist wohl der Leiter der Untersuchungshaftanstalt) oder auch „ein anderer Beamter, unter dessen Aufsicht der Verhaftete steht", genannt. Nach Satz 3 bedürfen die in Satz 2 genannten Personen der Genehmigung des Richters. In der entsprechenden Ziffer der Untersuchungshaftvollzugsordnung (Nr. 64 Abs. 3) ist das nicht wiederholt. Hier ist lediglich von anderen Beamten die Rede. Allerdings verweist § 64 Abs. 3 auf Nr. 62 Abs. 3. Danach liegt die Anordnungskompetenz beim Richter. In dringenden Fällen — hier wird wiederum auf die Nr. 5 verwiesen, die seinerseits auf §119 Abs. 6 Satz 2 und 3 StPO verweist — können besondere Sicherungsmaßnahmen, zu denen auch die Fesselung gehört, von dem Staatsanwalt, dem Anstaltsleiter oder einem anderen Beamten, unter dessen Aufsicht der Gefangene steht, vorläufig angeordnet werden. Nr. 62 Untersuchungshaftvollzugsordnung und § 119 Abs. 6 Satz 2 StPO sind insoweit identisch. Die Untersuchungshaftvollzugsordnung (Nr. 62 Abs. 3 und Nr. 64 Abs. 3) ist allerdings präziser als § 119 Abs. 6 Satz 3 StPO. Die Genehmigung des Richters, von der dort die Rede ist, kann, worauf die Untersuchungshaftvollzugsordnung zutreffend abstellt, nur eine nachträgliche sein. Diese ist allerdings, und insofern geht die Untersuchungshaftvollzugsordnung wiederum über die StPO hinaus, unverzüglich einzuholen. Allerdings wird § 119 Abs. 6 Satz 3 StPO dahingehend interpretiert, daß die Genehmigung, dem Zweck der Bestimmung entsprechend, unverzüglich einzuholen sei 5 . Die Eilkompetenz des § 119 Abs. 6 Satz 2 StPO gibt den dort genannten Beamten die Befugnis aus eigenem Recht, in eigener Verantwortung und, soweit ein Ermessen stattfindet, nach ihrem Ermessen zu entscheiden 6 . Damit ist auch das Ende der Eilkompetenz markiert. Vorläufige Maßnahmen 4
5 6
Wendisch in: Löwe-Rosenberg, 24. Aufl., Rdn. 132 zu § 119; OLG Düsseldorf, NJW 1982, 1471. Vgl. LR-Wendisch, Rdn. 145 zu § 119. Vgl. LR-Wendisch, Rdn. 142 zu § 119.
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nach § 119 Abs. 6 Satz 2 StPO dürfen nicht mehr angeordnet werden, sobald die alleinige Zuständigkeit des Richters eingetreten ist und der Richter Entscheidungen auch für dringende Fälle treffen kann. Dies ist, bezogen auf die Situation in der Hauptverhandlung, dann der Fall, wenn der Angeklagte in den Gerichtssaal verbracht worden ist. Dieser Zeitpunkt läßt sich auch anders fixieren: sobald die Zuständigkeit des Vorsitzenden für sitzungs-polizeiliche Maßnahmen nach §178 GVG eröffnet ist, endet in jedem Fall die Eilkompetenz der sonstigen in § 119 Abs. 6 Satz 2 StPO genannten Personen. Lediglich in wenigen Einzelfallen ist vorstellbar, daß die Eilzuständigkeit dann wieder auflebt — wenn nämlich der Vorsitzende des Gerichts nicht in der Lage ist, die erforderlichen Maßnahmen anzuordnen. Dies wird beispielsweise dann der Fall sein, wenn eine Verhandlungspause stattfindet oder das Gericht sich zur Beratung zurückgezogen hat und der Angeklagte sich so verhält, daß eine Fesselung notwendig wird. In diesem Fall ist es auch den sonstigen Personen gestattet, vorläufige Maßnahmen anzuordnen. Im Zusammenhang mit der Genehmigung des Richters sind problematisch die Fälle, in denen die sonstigen in § 119 Abs. 6 StPO genannten Personen die Fesselung anordnen, diese Maßnahme aber aufgehoben wird, bevor die Genehmigung des Richters eingeholt wird. Für diesen Fall wird die Auffassung vertreten, daß die nachträgliche Genehmigung nicht einzuholen, der Richter aber über die Maßnahme in Kenntnis zu setzen ist 7 . Dem gefesselten Inhaftierten sollte allerdings die Möglichkeit gegeben sein, eine richterliche Entscheidung mit der Behauptung zu beantragen, die Anordnung des Beamten sei rechtswidrig gewesen 8 . Noch weiter geht Kleinknecht'*, der die Auffassung vertritt, der Richter müsse von Amts wegen kontrollieren und auch in den hier interessierenden Fällen zum Ausdruck bringen, daß er die Maßnahme billige oder sie ablehne. Für diese Auffassung — also eine generelle Prüfungspflicht auch bei erledigten Maßnahmen — spricht, daß § 119 StPO die in Eilkompetenz getroffenen Maßnahmen — ohne Ausnahme — der Genehmigung des Gerichts unterwirft. Freilich ist die Situation eigentlich nicht anders als etwa bei einer in Eilkompetenz angeordneten Beschlagnahme. Dort aber ist die Initiative des Betroffenen in jedem Fall Voraussetzung für den Rechtsschutz (§ 98 Abs. 2 Satz 1 u. 2 StPO). Noch schwächer wiederum ist der Rechtsschutz bei der Durchsuchung: Nachträglicher Rechtsschutz (also nach abgeschlossener Durchsuchung) 7 8 9
Vgl. LR-Wendisch, aaO, Rdn. 146 zu § 119. Vgl. LR-Wendisch aaO, Rdn. 146 zu § 119. Der Vollzug der Untersuchungshaft, JZ 1953, 531, 531, 532.
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soll überhaupt nicht möglich sein, sofern sich das Rechtsmittel nicht gegen die Art und Weise der Durchsuchung richtet 10 . Die Frage ist also, ob bei der abgeschlossenen und erledigten „Fesselung" eher zur Durchsuchung als zur Beschlagnahme eine Parallele zu ziehen ist. Die Fesselung ist ein starker Eingriff in die Bewegungsfreiheit des Betroffenen 11 , ist deshalb der Beschlagnahme jedenfalls näher als der Durchsuchung. Hinter dem Rechtsschutz bei der Beschlagnahme sollte also der Rechtsschutz bei der Fesselung keineswegs zurückbleiben. In Wahrheit geht die Fesselung aber noch über die Beschlagnahme hinaus, weil sie unmittelbar körperlich wirkt. Daher ist der Aufforderung von Kleinknecht der Vorzug zu geben 12 . 3. Die Rechtsmittel gegen die Fesselung eines Untersuchungsgefangenen sind in zweifacher Richtung von Bedeutung. Einmal geht es um die Frage, welche Rechtsbehelfe dem Untersuchungsgefangenen zur Verfügung stehen, um eine aus seiner Sicht ungerechtfertigte Fesselung aufheben zu lassen (a); zum anderen ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang ein Urteil mit der Revision angefochten werden kann, die sich auf Verstöße im Zusammenhang mit der Fesselung stützt (b). a) Bei den Rechtsmitteln gegen die Fesselung ist einerseits nach der Art der angefochtenen Maßnahme, andererseits danach zu differenzieren, welcher Beamte die Anordnung getroffen hat. Die Dienstaufsichtsbeschwerde nach Nr. 75 Abs. 2 Untersuchungshaftvollzugsordnung greift nicht ein, da die Anordnungskompetenz des Richters besteht. Eine Ausnahme ist lediglich in dem Fall denkbar, daß die in § 119 Abs. 6 Satz 2 StPO genannten Personen in Eilkompetenz entscheiden. In diesem Fall ist die nachträgliche Genehmigung des Richters einzuholen. Hebt der Richter die belastende Maßnahme auf, erübrigen sich Rechtsmittel. Hebt der Richter die Maßnahme — hier die Fesselung des Angeklagten — nicht auf, steht dem Untersuchungsgefangenen das Rechtsmittel der Beschwerde zu 13 . Die Beschwerde richtet sich dann nach §§ 304, 305 und, was die weitere Beschwerde betrifft, nach § 310 StPO. Problematisch ist die Beschwerde, wenn die Untersuchungshaft endet oder — etwa im Falle einer eintägigen Hauptverhandlung — die Maßnahme (hier: Fesselung) sich erledigt hat. In diesen Fällen soll eine 10
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Vgl. die Nachweise bei Bremer, Schlothauer, Taschke, Weider, Die Rechtsprechung zum Strafverfahrensrecht, Rdn. 2 zu § 23 EGGVG. Vgl. LG Koblenz und OLG Oldenburg, jeweils aaO. Karlheinz Meyer hat sich ihr aber im Kommentar nicht angeschlossen, s. Rdn. 48 zu §119. Vgl. Wendisch in Löwe-Rosenberg aaO, Rdn. 154 zu § 119; KleinknechtjMeyer, Rdn. 49 zu § 119.
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Beschwerde grundsätzlich hinfällig werden 14 . Die Beschwerde soll nur dann wirksam bleiben, wenn die Entscheidung fortwirkt 15 . Diese Meinung liegt ganz auf der Linie der sonstigen Tendenz, Rechtsmittel gegen erledigte strafprozessuale Zwangsmaßnahmen nach deren Erledigung als unzulässig zu betrachten 16 . b) Bei der Revision stellen sich zwei gleichsam spiegelbildlich gegenüberstehende Fragen: einmal bedarf der Erörterung, wie zu entscheiden ist, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung gefesselt bleibt (aa), und zum anderen stellt sich die Frage, was gilt, wenn der Vorsitzende des Gerichts die Anordnung der Vorführung des Angeklagten unterläßt, sofern dieser sich weigert, gefesselt zur Hauptverhandlung zu erscheinen (bb). aa) §119 Abs. 5 Satz 2 StPO ist bereits vom Reichsgericht 17 als Sollvorschrift eingestuft worden 18 . Die Folge ist, daß die Revision nur dann auf eine Verletzung des § 119 Abs. 5 Satz 2 StPO gestützt werden kann, wenn in der Fesselung eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung liegt 19 . Aber auch dann, wenn man in § 119 Abs. 5 Satz 2 StPO nicht lediglich eine Ordnungsvorschrift sieht 20 , bedarf es einer Prüfung der Beruhensfrage dahingehend, ob die Fesselung den Angeklagten in seinen Verteidigungsmöglichkeiten eingeschränkt hat. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Fesselung verhindert, daß der Angeklagte sich auf die Verhandlung konzentrieren konnte, nicht in der Lage war, sich Notizen zu machen, Zeugen zu befragen oder sich etwa mit seinem Verteidiger zu besprechen. Unabhängig von der Frage, wie man §119 Abs. 5 Satz 2 StPO einordnet — als Ordnungsvorschrift oder als weitergehende Vorschrift —, empfiehlt es sich, einen Gerichtsbeschluß gemäß § 238 Abs. 2 StPO herbeizuführen. Der BGH 21 hat zwar die Auffassung vertreten, die Fesselung des Angeklagten sei eine Maßnahme, gegen die eine 14
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Wendisch in Löwe-Rosenberg, aaO, Rdn. 156 zu § 119; BVerfGE 9, 161, Kleinknecht\ Meyer, Rdn. 49 zu § 119. Vgl. Wendisch, aaO mit weiteren Nachweisen. Vgl. zu Durchsuchung und Beschlagnahme etwa BVerfG wistra 1984, 221 sowie die Übersicht bei RießjThym, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Zwangsmaßnahmen, G A 1981, 189; vgl. ferner O L G Nürnberg, NStZ 1986, 575; Übersicht ferner bei Strafe, Grundechtsschutz — Rechtsschutzlücken im Ermittlungsverfahren, in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des D A V (Hrsg.), Der Bürger im Ermittlungsverfahren — staatliche Eingriffe und ihre Abwehr, S. 9 ff. RGSt. 44, 306. Ebenso BGH, N J W 1957, 271. Vgl. BGH, N J W 1957, 271. So offenbar Wendisch, aaO, Rdn. 162 zu § 119. N J W 1957, 271.
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Entscheidung des Gerichts (nach § 238 Abs. 2 StPO) nicht beantragt werden könne 22 . Diese Meinung ist mittlerweile indessen zu Recht aufgegeben. Karlheinz Meyer hat hier in überzeugender Weise die Diskussion unter vollständiger Anwendung von Literatur und Rechtsprechung strukturiert, zusammengefaßt, und ihr zugleich neue Akzente gegeben: „Der Begriff Sachleitung stimmt mit dem der Verhandlungsleitung nach I überein. Die früher vielfach übliche, aber an Abgrenzungsschwierigkeiten leidende ... Unterscheidung zwischen formeller Leitung der Verhandlung (die allein die äußere Gestaltung des Verfahrens betrifft) und Sachleitung i. e. S ist mit Recht überwiegend aufgegeben worden... Denn auch bei der formellen Verhandlungsleitung kommen Maßnahmen in Betracht, die den Angeklagten oder andere Prozeßbeteiligte beschweren. Die Anrufung des Gerichts setzt demnach nicht eine bestimmte Art von Anordnungen oder Maßnahmen des Vorsitzenden voraus, sondern nur, daß der Prozeßbeteiligte, der sich an das Gericht wendet, schlüssig dartut, daß die Anordnung ihn beschwert..." 23 . Im übrigen ist auch diese Position nur effektiv, wenn die Fesselung als Maßnahme der äußeren Verhandlungsleitung mit der Revision unter dem Gesichtspunkt einer unzulässigen Beschränkung der Verteidigung angegriffen werden kann 24 . Dann ist gemäß § 338 Nr. 8 StPO ein Beschluß des Gerichts erforderlich 25 . Selbstverständlich ist auch jenseits des § 338 Nr. 8 StPO die Möglichkeit eröffnet, Anordnungen, welche die Verteidigung beschränken, der Prüfung durch das Revisionsgericht zu unterwerfen 26 . Allerdings ist dann zunächst eine Anrufung des Gerichts erforderlich 27 . bb) Nun zu den Fällen, in denen der Angeklagte ablehnt, sich gefesselt vorführen zu lassen. Keine Schwierigkeiten treten auf, wenn es bisher keine Hauptverhandlung gegeben hat. In diesem Fall schreibt § 230 Abs. 1 StPO vor, daß eine Hauptverhandlung gegen den ausgebliebenen Angeklagten nicht stattfindet; § 230 Abs. 2 StPO eröffnet zugleich die Möglichkeit, die Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung zu erzwingen, nämlich durch die Vorführung des (inhaftierten) Angeklagten. 22
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Ebenso Kleinknecht ¡Jamschowsky, Das Recht der Untersuchungshaft, München 1977, Rdn. 352; Kleinknecht, Strafprozeßordnung, 35. Auflage, München 1981, Rdn. 4 zu §238. KleinknechtjMeyer, StPO, 39. Auflage, Rdn. 12 zu § 238. So BGH, NJW 1957, 271. Vgl. zusammenfassend LR-Hanack, Rdn. 129 zu § 338. Vgl. LR-Hanack, Rdn. 129 zu § 338. Vgl. LR-Hanack, Rdn. 280 zu § 337; Ausnahme: (zusammenfassend LR-Gollmts^er, Rdn. 45 zu § 238) der Angeklagte hat keinen Verteidiger und kennt sein Beanstandungsrecht nicht.
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Schwieriger sind die Fälle, in denen die Hauptverhandlung gegen den (inhaftierten) Angeklagten begonnen hat und der Angeklagte sich weigert, gefesselt an einer Fortsetzungsverhandlung teilzunehmen oder sich bei dem Verbringen zur Fortsetzungsverhandlung fesseln zu lassen. Rechtsprechung und der überwiegende Teil der Literatur 28 halten § 231 StPO in diesem Fall für unanwendbar und stehen insoweit auf dem Standpunkt, von einem eigenmächtigen Ausbleiben des Angeklagten könne in diesem Fall keine Rede sein, weil das Gericht die Pflicht und die Macht habe, die Anwesenheit des Angeklagten an Gerichtsstelle durch Vorführung sicherzustellen. Küper29 hat überzeugend dargelegt, weshalb diese Auffassung unzutreffend ist. Der erste Einwand gegen die Rechtsprechung des BGH und die Auffassung des überwiegenden Teils der Literatur geht dahin, daß der Begriff der „Eigenmacht" inhaltlich verändert wird 30 . Zum anderen trifft das Gesetz hier keine Unterscheidung zwischen dem inhaftierten und dem nicht inhaftierten Angeklagten. Wenn gegenüber dem inhaftierten Angeklagten eine „Priorität des Zwanges zur Anwesenheitssicherung" 31 bestünde, müßte dies auch gegenüber dem nicht inhaftierten Angeklagten gelten; oder, anders ausgedrückt, es müßte generell eine Subsidiarität des Abwesenheitsverfahrens angenommen werden. Es mag zwar für das Gericht faktisch leichter möglich sein, die Anwesenheit des inhaftierten Angeklagten in der Hauptverhandlung zu erzwingen, die faktische Verschlechterung der Zugriffsmöglichkeiten auf den nicht inhaftierten Angeklagten ändert aber nichts daran, daß auch ein inhaftierter Angeklagter „eigenmächtig" der Hauptverhandlung fernbleiben kann. Schließlich ist es — aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen — unzulässig, die „Machtposition" und das körperliche Befinden des inhaftierten Angeklagten anders einzustufen als die des nicht inhaftierten Angeklagten 32 . § 231 Abs. 2 StPO gibt für eine solche Differenzierung nichts her. Im Ergebnis bedeutet dies, daß auch dem inhaftierten Angeklagten die Möglichkeiten gegeben ist, „eigenmächtig" der Hauptverhandlung fernzubleiben und zwar allein dadurch, daß er den Wunsch und den Willen äußert, der Verhandlung fernzubleiben oder an der Verhandlung nicht gefesselt teilzunehmen oder sich nicht gefesselt zur Hauptverhandlung vorführen zu lassen.
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Vgl. die Nachweise bei Kleinknechtj Meyer, Rdn. 15 zu § 231. Zum Begriff des „eigenmächtigen Ausbleibens" in § 231 Abs. 2 StPO, N J W 1974, 2218 ff. und: Zwangsvorführung eines inhaftierten Angeklagten, N J W 1978, 251 ff. Küper N J W 1978, 252 f. Küper, aaO, 252. Vgl. im einzelnen Küper, N J W 1978, 253 f.
Der gefesselte Angeklagte
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Die entscheidende Frage ist also, wie es revisionsrechtlich zu beurteilen ist, wenn das Gericht die Weigerung des Angeklagten akzeptiert, sich nicht gefesselt vorführen zu lassen oder gefesselt an der Hauptverhandlung teilzunehmen, und deshalb nach § 231 Abs. 2 verfahrt. Die Entscheidung muß sich hierbei — die sonstigen tatbestandlichen Voraussetzungen des § 231 Abs. 2 StPO als gegeben unterstellt — an verschiedenen Maximen orientieren. Einerseits ist die Anwesenheit des Angeklagten ein wichtiges Element für die Sachaufklärung; für den Regelfall geht das Gesetz von der Anwesenheit des Angeklagten — und zwar in seinem Interesse — aus. Auf der anderen Seite gebieten es die Autonomie des Angeklagten und die ihm im Verfahren zukommende Subjektrolle, daß man seinen erklärten Willen berücksichtigt. An anderer Stelle 33 habe ich die Autonomie des Angeklagten mit Blick auf seinen Wunsch untersucht, an der Hauptverhandlung bei Erörterung eines ihn belastenden Gutachtens teilzunehmen. Die dort angestellten Überlegungen gelten mutatis mutandis für den Wunsch des Angeklagten, nicht gefesselt an der Hauptverhandlung teilzunehmen, bzw. nicht gefesselt zur Hauptverhandlung vorgeführt zu werden. Denn auch hier geht es im wesentlichen um einen Konflikt sozusagen innerhalb der Autonomie des Angeklagten. Die Abwägung kann nicht pauschal vorgenommen werden, sondern nur von Fall zu Fall.
II. Der Angeklagte ist zugleich
Strafgefangener:
1. Anknüpfungspunkt ist hier § 36 StVollzG. Danach kann Urlaub, Ausgang oder Ausführung das Mittel sein, die Teilnahme an der Hauptverhandlung zu ermöglichen. Die Grenze ist jeweils die Entweichungsoder Mißbrauchsgefahr im Sinne des § 11 Abs. 2 StVollzG. Dort ist ganz allgemein von der Gefahr die Rede, daß der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen könnte. Was das spezielle Zwangsmittel der Fesselung angeht, so ist es in § 88 Abs. 2 Ziff. 6 und in § 88 Abs. 4 StVollzG geregelt. Insofern gilt das zur Fesselung des Untersuchungsgefangenen Gesagte entsprechend. Aus der Vorschrift des § 88 Abs. 4 StVollzG geht allerdings eindeutig hervor, daß über die Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 StVollzG hinaus in erhöhtem Maße Fluchtgefahr bestehen muß.
33
Becker- Toussaintjde Boorj Go/dscbmidtj Lüderssenj Moog, Aspekte Begutachtung im Strafverfahren (1981), S. 62 ff.
der psychoanalytischen
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2. Eigenartige Probleme schafft sich die Rechtsprechung gelegentlich bei dem Versuch, den Widerstand des aus der Strafhaft vorgeführten Angeklagten gegen die Fesselung abzufangen. Das demonstriert am besten die folgende Passage aus dem Protokoll einer Sitzung des Amtsgerichts Frankfurt am Main: „Der Wachtmeister M. teilt mit, daß der Angeklagte sich weigere, sich zur heutigen Hauptverhandlung vorführen zu lassen, da er es ablehnt, gefesselt zur Hauptverhandlung zu erscheinen. Der Vertreter der Amtsanwaltschaft beantragt, die heutige Hauptverhandlung zu vertragen, und den Erlaß eines Haftbefehls gem. § 230 II StPO.
Die Verteidiger widersprechen diesem Antrag. — b. u. v. — 1. Die heutige Hauptverhandlung wird vertagt. 2. Neuer Termin von Amts wegen. 3. Gegen den Angeklagten ergeht Haftbefehl gem. § 230 II StPO."
In diesem Haftbefehl heißt es demgemäß: „Es besteht gegen ihn Haftgrund des § 230 Abs. 2 StPO, weil der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung am 23. 06. 1986 dem Hauptverhandlungstermin unentschuldigt ferngeblieben ist. Seine Weigerung, sich gefesselt vorführen zu lassen, stellt keinen Entschuldigungsgrund dar.".
Natürlich haben die Verteidiger Beschwerde eingelegt und sie damit begründet, der Zweck des Haftbefehls gem. § 230 Abs. 2 StPO liege erkennbar darin, durch die Verhaftung sicherzustellen, daß der Angeklagte zum neuen Termin erscheine. Bei einem Angeklagten, der sich in Haft befinde, sei diese Maßnahme offensichtlich überflüssig, damit mangels Erforderlichkeit unverhältnismäßig 34 ; ein Haftbefehl gegenüber jemandem, der in Haft sei, finde daher keine gesetzliche Grundlage in § 230 Abs. 2 StPO. Bei einem in Haft befindlichen Angeklagten ergehe die Ladung zum Termin auf Grund des § 216 Abs. 2 StPO und dabei werde regelmäßig auch die Vorführung angeordnet 35 . Eine Warnung, wie sie in § 216 Abs. 1 gegenüber dem auf freien Fuß befindlichen Angeklagten vorgesehen sei, erfolge im Rahmen dieser Ladung selbstverständlich nicht. Fehle diese Warnung, so seien Zwangsmaßnahmen nach § 230 Abs. 1 unzulässig 36 . Was im vorliegenden Falle festzustellen gewesen wäre — daß nämlich die Ladung des Angeklagten keine Warnung gemäß § 216 enthalten habe (freilich wäre sie auch überflüssig gewesen, da er vorgeführt wurde und sich in Haft befand) —, sei ein weiterer systematischer Hinweis darauf, daß ein Haftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 nur gegenüber jemanden ergehen könne, der sich nicht in Haft 34
35 36
Gollmt^er, in: Löwe-Rosenberg, 24. Aufl., § 230 Rdn. 19. Vgl. LR-Gollait^er § 214 Rdn. 12. OLG Celle, NdSRpfl. 1963, 238; Treier, in: Karlsruher Kommentar, LR-Gollwittyr, § 216 Rdn. 15.
Vgl. dazu
§ 2 3 0 Rdn. 9;
Der gefesselte Angeklagte
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b e f i n d e . D e r H a f t b e f e h l sei i m k o n k r e t e n Fall a u c h v o l l k o m m e n sinnlos. S o l a n g e d e r A n g e k l a g t e in H a f t sei, b r a u c h e m a n g a n z o f f e n s i c h t l i c h k e i n e n H a f t b e f e h l , u m i h n z u r H a u p t v e r h a n d l u n g v o r f ü h r e n zu k ö n n e n . B e f i n d e sich d e r A n g e k l a g t e n i c h t m e h r in H a f t , g e b e es keine gesetzliche G r u n d l a g e d a f ü r , i h n zu fesseln (am R a n d e w e r d e h i e r a u s d r ü c k l i c h d a r a u f h i n g e w i e s e n , daß die gesetzlichen V o r a u s s e t z u n g e n einer Fesselung g e m ä ß § 8 8 S t V o l l z G i m k o n k r e t e n Fall e i n d e u t i g n i c h t g e g e b e n w a r e n ) . D i e M a ß n a h m e , die i m E r g e b n i s das E r s c h e i n e n des A n g e k l a g t e n in d e r H a u p t v e r h a n d l u n g v e r h i n d e r t habe, sei d a m i t g e r a d e entfallen. D e r H a f t b e f e h l des A m t s g e r i c h t s F r a n k f u r t v o m ... stelle sich d a m i t als d e r v o m G e s e t z nicht g e d e c k t e V e r s u c h dar, den A n g e k l a g t e n z u r H i n n a h m e d e r i h n e x t r e m belastenden F e s s e l u n g zu b e w e g e n . D i e A n t w o r t des G e r i c h t s : „Der Beschwerde gegen den Haftbefehl vom ... wird nicht abgeholfen, da die Fesselung des Angeklagten zu Recht angeordnet war und seine Weigerung, sich fesseln zu lassen, grundlos erfolgt ist, insbesondere nicht ersichtlich ist, wieso dies eine ihn extrem belastende Maßnahme darstellt." Hätte das G e r i c h t w o h l a n d e r s entschieden, w e n n i h m d e r v o r l i e gende Aufsatz bekannt gewesen wäre? Eine bange Frage.
44E-I/1-1487/76
Anhang
Gemeinsame Rundverfügung an alle Beamten des einfachen Dienstes und alle Justizaushelfer bei den Gerichten und Justizbehörden in Frankfurt am Main Betr.: Vorführung von Untersuchungs- und Strafgefangenen, insbesondere Anordnung der Fesselung und Entfesselung Aus gegebenem Anlaß erinnern wir an die bei der Vorführung von Untersuchungsund Strafgefangenen zu beachtende Rechtslage. 1. Vorführung von Untersuchungsgefangenen a) Zum Aufgabenbereich des Justizwachtmeisterdienstes gehört auch der Sitzungsund Ordnungsdienst (§ 1 a der Dienstordnung für den einfachen Justizdienst ( = JWDO), abgedruckt im Justizministerialblatt ( = JMB1. 1970 S. 493). Der Sitzungs- und Ordnungsdienst umfaßt a) den Dienst in den Terminen und Sitzungen — auch außerhalb der Gerichtsstelle — einschließlich des Vollzugs sitzungspolizeilicher Maßnahmen nach den Weisungen des Vorsitzenden, bei dessen Abwesenheit oder Behinderung erforderlichenfalls aus eigenem Entschluß, b) die Vorführung des Gefangenen zu Terminen und Sitzungen, sofern sie nicht nach den ergänzenden Bestimmungen des Landes Hessen (EBGTV) zu der Gefangenentransportvorschrift (GTV) erfolgt, c) die Bewachung der vorgeführten oder auf besondere Anordnung zu beaufsichtigenden Personen innerhalb der Justizgebäude,
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Klaus Liiderssen d) die Aufrechterhaltung der Ruhe, Ordnung und Sicherheit in den Justizgebäuden. Nach dem Gesetz dürfen dem Verhafteten (Untersuchungsgefangenen) nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die der Zweck der Untersuchungshaft oder die Ordnung in der Vollzugsanstalt erfordert (§119 Abs. 3 Strafprozeßordnung ( = StPO). Der Verhaftete darf jedoch gefesselt werden, wenn 1. die Gefahr besteht, daß er Gewalt gegen Personen oder Sachen anwendet, oder wenn er Widerstand leistet, 2. er zu fliehen versucht, oder bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles, namentlich der Verhältnisse des Beschuldigten und der Umstände, die einer Flucht entgegenstehen, die Gefahr besteht, daß er sich aus dem Gewahrsam befreien wird, 3. die Gefahr der Selbstmorde oder der Selbstbeschuldigung besteht und wenn die Gefahr durch keine andere weniger einschneidende Maßnahme abgewendet werden kann (§119 Abs. 5 Satz 1 StPO). Die danach erforderlichen Maßnahmen ordnet der Richter an (§ 119 Abs. 6 StPOj. Das ist im Vorverfahren der Amtsrichter, der den Haftbefehl erlassen hat oder dem die Zuständigkeit übertragen worden ist (§ 126 Abs. 1 StPO), nach Erhebung der öffentlichen Klage der Vorsitzende des mit der Sache befaßten Gerichts. Trifft der Richter in Verbindung mit dem Aufnahmeersuchen an die Vollzugsanstalt keine besonderen Anordnungen, so ist davon auszugehen, daß die von allen Ländern einheitlich erlassene Untersuchungshaftvollzugsordnung (UVollzO) vom 10. 2. 1953 in der Fassung vom 1. März 1973 für den Untersuchungshäftling gelten soll. Dies stellt auch Nr. 2 Abs. 2 Satz 2 UVollzO klar. Danach ist allein der Richter für die Anordnung zuständig, ob ein Untersuchungshäftling gefesselt oder ungefesselt zu einem Termin (gleichgültig, ob es sich z. B. um einen Haftprüfungstermin oder um eine Hauptverhandlung handelt) vorzuführen ist. Die Anordnung, den Untersuchungshäftling gefesselt vorzuführen, kann der Richter dem vorführenden Beamten mündlich erteilen. Im Interesse einer klaren und eindeutigen Sachlage wird der Richter die Anordnung der Fesselung regelmäßig in dem Vorführungsbefehl schriftlich niederlegen. Bei Zweifeln wird eine klärende Rückfrage bei dem zuständigen Richter angebracht sein. Wenn der zuständige Richter die Fesselung weder gegenüber dem vorführenden Beamten unmittelbar noch in dem Vorführungsbefehl angeordnet hat, ist der Untersuchungshäftling ungefesselt vorzuführen. In dringenden Fällen kann auch der Staatsanwalt, der Anstaltsleiter oder ein anderer Beamter, also auch der Justizwachtmeister, unter dessen Aufsicht der Verhaftete steht, vorläufige Maßnahmen t r e f f e n (§119 Abs. 6 Satz 2 StPO). Ein dringender Fall wird regelmäßig nach einem Fluchtversuch gegeben sein. Sollte bei Übernahme des Untersuchungsgefangenen in der Vollzugsanstalt von Seiten des übergebenden Vollzugsbeamten darauf hingewiesen werden, daß Anhaltspunkte für eine bevorstehende Flucht vorhanden sind (z. B.: ein gerade gescheiterter Ausbruchsversuch aus der Haftanstalt), und hat der zuständige Richter die Fesselung nicht angeordnet, wird es dringend geboten sein, den zuständigen Richter zu befragen und dessen Anordnungen entgegenzunehmen. Ordnet der zuständige Richter trotzdem die Fesselung nicht an und droht aber auf dem Wege von der Haftanstalt ¡>um Termin ein Fluchtversuch des Untersuchungshäftlinges, muß der vorführende Beamte aus eigenem Entschluß tätig werden. Ordnet der vorführende Beamte aus eigenem Entschluß die Fesselung an, so muß er die Genehmigung des zuständigen Richters nachträglich einholen (§119 Abs. 6 Satz 3 StPO). Zur Aufhebung von Maßnahmen (z. B. der Fesselung), die der Richter angeordnet hat, ist der Beamte nicht befugt. Hat der Richter die Vorführung des
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Untersuchungsgefangenen in Fesseln angeordnet, so muß der Beamte den Untersuchungsgefangenen gefesselt vorführen und darf ihm erst dann die Fesseln abnehmen, wenn der Richter die entsprechenden Anordnung dazu gegeben hat. Zwar soll der Untersuchungsgefangene bei der Hauptverhandlung grundsätzlich ungefesselt sein (§ 119 Abs. 5 Satt^ 2 StPO). Ob dem gefesselten vorgeführten Untersuchungsgefangenen aber im Einzelfall die Fesseln abzunehmen sind, hat allein der Richter entscheiden. Der Gefangene ist deshalb im Verhandlungssaal oder im Vernehmungszimmer solange gefesselt \u halten, bis der Richter die eindeutige Anweisung gibt, dem Gefangenen die Fesseln abzunehmen. Bei Zweifeln des vorführenden Beamten ist eine klärende Rückfrage bei dem zuständigen Richter angebracht. Die Vorführung ist erst beendet, wenn der Untersuchungsgefangene wieder in die Haftanstalt zurückgebracht worden ist. Ist von dem Richter die gefesselte Vorführung angeordnet worden, so muß der Gefangene auch gefesselt zurückgeführt werden. Die Fesseln werden dem Gefangenen also nur dann abgenommen, wenn während der Verhandlung, Vernehmung oder zu irgendeinem anderen Zeitpunkt eine ausdrückliche Weisung des Richters erteilt worden ist, die Fesseln dem Gefangenen abzunehmen. Aber auch wenn der Richter die Entfesselung angeordnet hat, kann es in dringenden Fällen geboten sein, daß der vorführende Beamte eine vorläufige Maßnahme, auch die Anordnung der Fesselung, selbst trifft, so z. B., wenn der Gefangene zu fliehen versucht oder Gewalt gegen Personen und Sachen anzuwenden droht. Für diese vorläufige Maßnahmen hat der Beamte ebenfalls die Genehmigung des zuständigen Richters nachträglich einzuholen. b) Verfahren bei der Ausantwortung eines Untersuchungsgefangenen: Bei der Ausantwortung von Untersuchungsgefangenen durch die Justizvollzugsanstalt ( = JVA) Ffm. I erhält der übernehmende Beamte einen Vordruck VG 31, der auf der Vorderseite von der JVA bereits ausgefüllt ist. Dieser Vordruck (vgl. Anlage) ist von dem vorführenden Wachtmeister dem Richter, der die Vorführung angeordnet hat, auszuhändigen. Aus dem Vordruck ist ersichtlich, in welcher Sache der Gefangene einsitzt und ob Überhaft notiert ist. Die JVA legt großen Wert darauf, daß der Richter nach Beendigung des Termins die auf der Rückseite gewünschten Angaben macht und den Vordruck dem Wachtmeister zur Weiterleitung an die JVA wieder aushändigt. Nur so wird gewährleistet, daß die JVA unverzüglich über den Ausgang des Termins unterrichtet wird. Die Justizwachtmeister im Vorführungsdienst werden deshalb angehalten, sich bei der Ausantwortung des Untersuchungsgefangenen den ausgefüllten Vordruck VG 31 von der JVA aushändigen zu lassen. Der Anstaltsleiter hat den Bediensteten der JVA eine entsprechende Weisung erteilt. Der vorführende Beamte übergibt den Vordruck dem Richter, nimmt ihn nach dem Termin wieder entgegen und händigt ihn bei der Ablieferung des Untersuchungsgefangenen der JVA wieder aus. Die Richter sind entsprechend unterrichtet. c) Vorführung mehrerer Gefangener: Bei der Vorführung mehrerer Gefangener soll für jeden Inhaftierten ein Justizwachtmeister abgestellt werden, damit jeder Wachtmeister nur einen Gefangenen zu beaufsichtigen hat. d) Vorführung weiblicher Gefangener: Um möglichen Verdächtigungen und Anschuldigungen zu begegnen, ist ein weiblicher Untersuchungsgefangener stets von zwei Wachtmeistern vorzuführen, sofern nicht weibliche Justizwachtmeister zur Vorführung zur Verfügung stehen.
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Klaus Lüderssen
e) Verhalten bei Aufhebung oder Außervollzugsetzung eines Haftbefehls: Eine aus der Untersuchungshaft vorgeführter Untersuchungsgefangener ist grundsätzlich wieder in die Haftanstalt zurückzuführen. Wird in dem Termin, zu dem die Vorführung erfolgte, der Haftbefehl aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt, ist der Untersuchungsgefangene sofort frei lassen und darf gegen seinen Willen nicht mehr in die Haftanstalt zurückgebracht werden. Das darf auch nicht zur Abwicklung von Formalitäten geschehen. Ist jedoch Überhaft notiert, worüber sich der vorführende Wachtmeister schon bei der Aus-antwortung durch Einsichtnahme in den ihm ausgehändigten Vordruck VG 31 überzeugen muß, ist der Gefangene auch gegen seinen Willen wieder der Haftanstalt zurückzuführen. f) Besonderheiten bei der Vorführung von Ausländern: Es kommt häufig vor, daß gegen einen wegen einer Straftat in Untersuchungshaft befindlichen Ausländer auch Abschiebehaft verhängt ist (§16 AuslG). Um zu verhindern, daß die Abschiebehaft bei Aufhebung des wegen der Straftat erlassenen Haftbefehls in der Hauptverhandlung oder im Haftprüfungstermin nicht mehr vollzogen werden kann, weil der Häftling an Ort und Stelle in dem Termin entlassen worden ist, verfügen die Richter (bei dem AG Ffm. die Richter der Abt. 41 —44) bei Anordnung der vorläufigen Abschiebehaft die Übersendung einer Ausfertigung des Beschlusses nicht nur an die Ausländerpolizei und die Justizvollzugsanstalt, sondern auch zusätzlich zu der betreffenden Strafakte, damit auch hier die bestehende Abschiebehaft ersichtlich ist. Um die gegenseitige Unterrichtung zu gewährleisten, erfragt die für die Verfahren nach § 16 AuslG zuständige Geschäftsstelle (Abt. 41—44) bei der Justizvollzugsanstalt (Aufnahmegeschäftsstelle) das Geschäftszeichen des Strafverfahren, soweit es nicht ohnehin bekannt ist. Sofern sich also in den Strafakten keine Unterlage über eine bestehende Abschiebehaft befindet, muß auch ein ausländischer Untersuchungsgefangener bei Aufhebung oder Außer-Vollzugsetzung des Haftbefehls entlassen werden. Bei einer Vorführung eines ausländischen Untersuchungsgefangenen ist es daher regelmäßig angebracht, daß der Wachtmeister sich bei dem Gericht nach einer etwaigen Abschiebehaft erkundigt. 2. Vorführung von Strafgefangenen
(z. B. als Zeuge, Partei oder Beschuldigter)
a) Für die Zeit bis zum 31. Dezember 1976 gilt folgendes: Bei Strafgefangenen ist für die Anordnung der Fesselung der Leiter der Vollzugsanstalt zuständig (Nr. 175 Abs. 2, Nr. 176 Abs. 1 Nr. 10 der Dienst- und Vollzugsordnung vom 1. 12. 1961 in der seit 1. 7. 1972 geltenden Fassung (JMB1. 1971 S. 282 ff, 881 f, 1972 S. 214 f). Bei Gefahr im Verzug (z.B. Fluchtversuch) können auch andere Bedienstete, z. B. auch der vorführende Wachtmeister, diese Maßnahme anordnen. In diesem Fall ist aber die Entscheidung des Anstaltsleiters, im Rahmen einer Hauptverhandlung die des Vorsitzenden des betreffenden Gerichts, unverzüglich herbeizuführen. b) Für die Zeit nach dem 31. 12. 1976 ändert sich an der Zuständigkeit und an den Befugnissen zur Fesselung von Strafgefangenen im Ergebnis nichts. Am 1.1.1977 wird das Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung — Strafvollzugsgesetz ( = StVollzG) (Bundesgesetzblatt 1976, S. 581 ff) mit den hier interessierenden Teilen in Kraft treten. Nach § 88 Satz 1 StVollzG können gegen einen Gefangenen besondere Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden, wenn nach seinem Verhalten oder auf Grund seines seelischen Zustandes in erhöhtem Maße Fluchtgefahr oder die Gefahr von Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen oder die Gefahr des Selbstmordes
Der gefesselte Angeklagte
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oder der Selbstverletzung besteht. Als besondere Sicherungsmaßnahme ist nach § 88 Abs. 2 Nr. 6 StVollzG die Fesselung zulässig. Bei einer Ausführung, Vorführung oder beim Transport ist die Fesselung nur dann zulässig, wenn aus anderen Gründen als denen des Abs. 1 in erhöhtem Maße Fluchtgefahr besteht (§ 88 Abs. 4 StVollzG). Diese Sicherungsmaßnahme ordnet der Anstaltsleiter an (§ 91 Abs. 1 S. 1). Bei Gefahr im Verzuge können auch andere Bedienstete der Anstalt diese Maßnahme anordnen (§ 91 Abs. 1 S. 2 StVollzG). Die Entscheidung des Anstaltsleiters ist unverzüglich einzuholen. Den Justizwachtmeistern oder Justizaushelfern, die nicht im Strafvoll^ugsdienst tätig sind, gibt das Gesetz über die Anwendung eines unmittelbaren Zwanges bei Ausübung öffentlicher Gewalt ( = UZwG) vom 11. 11. 1950 in der Fassung vom 4. 9. 1974 (GVB1. 1974 S. 361 (366)) das Recht zur Anwendung unmittelbaren Zwangs durch Fesselung, wenn der mit der Vorführung beauftragte Bedienstete seinen Auftrag nicht anders durchführen kann (z. B. im Fall eines Fluchtversuchs) (vgl. §§ 2, 3, 8 UZwG). 3. Vorführungen auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft oder der Amtsanwaltschaft: Auch bei der Vorführung von Untersuchungs- oder Strafgefangenen auf Ersuchen der Staats- oder der Amtsanwaltschaft ist gemäß den Ausführungen zu Nr. 1 und 2 dieser Rundverfügung zu verfahren. Entgegen der bisherigen Fassung von Nr. 3 der Rundverfügung, die insoweit aufgehoben wird, gehen die Befugnisse des Richters oder Anstaltsleiter zur Anordnung der Fesselung nicht auf den die Vorführung anordnenden Staatsanwalt oder Amtanwalt über. Dieser kann die Anordnung der Fesselung durch den zuständigen Richter oder Anstaltsleiter allerdings — was von ihm aktenkundig zu machen ist — fernmündlich einholen und diese Anordnung dann an den vorführenden Beamten weitergeben. Nach erfolgter Vorführung dürfen die Fesseln des Gefangenen erst auf Anweisung des die Vorführung anordnenden Staatsanwalts oder Amtsanwalts abgenommen werden. Ebenso ist beim Wiederanlegen der Fesseln nach Erledigung des Vorführungszwecks zu verfahren. 4. In allen Fällen zu Ziff. 1 bis 3 dieser Verfügung bleiben die Vorschriften über Notwehr und Notstand (§§ 32 bis 35 Strafgesetzbuch) unberührt. Frankfurt am Main, den 18. Mai 1976 Der Präsident des OLG in Vertretung
Frankfurt am Main, den 19. Mai 1976 Der Generalstaatsanwalt
Zur Aufklärungspflicht bei Wahrunterstellung HEINZ-RUDOLF MÜLLER
Die Frage, ob das Gericht verpflichtet ist, den Antragsteller darüber zu informieren, daß die zunächst in einem abgelehnten Beweisantrag als wahr unterstellte Beweistatsache in der Urteilsberatung und folglich auch in den Urteilsgründen als unerheblich behandelt wird, ist nach wie vor äußerst umstritten 1 . Die Diskussion zu dieser Problematik ist durch eine Entscheidung des BGH vom 18. 2. 1982 - 2 StR 798/81 - wieder aufgelebt 2 . Der BGH fordert einen entsprechenden Hinweis dann, wenn es naheliegt, daß der Angeklagte wegen der Wahrunterstellung davon absieht, Beweisanträge zu einem Thema zu stellen, das mit der als wahr unterstellten Tatsache im Zusammenhang steht und das — im Gegensatz zu dieser Tatsache — für die Entscheidung möglicherweise von Bedeutung ist. Überwiegend hat das Schrifttum — mehr zurückhaltend die Rechtsprechung — diese Entscheidung auch zur Begründung einer entsprechenden Hinweispflicht herangezogen 3 . Zu Unrecht. So beliebt das Institut der Wahrunterstellung bei den Tatrichtern ist, so berüchtigt ist es bei den Verteidigern. Einig ist man sich nur, daß aus prozeßökonomischen Gründen auf dieses „Orakel der Pythia" auch
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Kleinknecbt] Meyer, Strafprozeßordnung, 39. Aufl., § 244 Rdn. 70; Gollwit^er in LöweRosenberg, StPO 24. Aufl., § 244 Rdn. 264 ff; Herdegen in Karlsruher Kommentar (KK), StPO 2. Aufl., § 244 Rdn. 89 mit weiteren Rechtsprechungs- und Literaturhinweisen; Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rdn. 553.4; Roxin, Strafverfahrensrecht, 21. Aufl. 1989, § 43 C II 1 b dd. BGHSt. 30, 383 = MDR 1982, 509 = StV 1982, 253 = N J W 1982, 1602 = LM Nr. 4 zu § 244 II und III StPO 1975 mit Anm. Mösl. Fn. 1; Bringewat, „Grundfragen der Wahrunterstellung zum Strafprozeß" MDR 1986, 353; Fe^er, Juristischer Studienkurs 1986 Fall 12 Rdn. 1 2 1 - 1 3 2 ; Peters, Strafprozeß 4. Aufl. 1985, § 38 IV 1 g Fall 42 a. E. meint, BGHSt. 30, 383 habe mit Recht die bisherige Ansicht modifiziert und in dem dort entschiedenen Fall die Hinweispflicht bejaht; Paulus, KMR-StPO 7. Aufl. 1989, §244 Rdn. 448; BGH vom 2. 11. 1982 5 StR 308/82 bei Pfeiffer]Miebach NStZ 1983, 357; OLG Hamm NStZ 1983, 522; OLG Celle NStZ 1986, 91 mit weiteren Hinweisen = StV 1986, 423 mit Anm. Tenckboff.
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im Interesse des Angeklagten nicht verzichtet werden könne 4 . Um der Wahrheitsfindung willen darf die Ansammlung des Tatsachenmaterials nicht schrankenlos sein 5 . Das schützt natürlich nicht vor bissiger Kritik, die von „irreführend", „nicht ganz lupenrein", „notwendiges Übel" bis hin zu „gefahrlich", „bedenklich", „fragwürdig", „schädlich" und „überflüssig" reicht 6 . Erst kürzlich hat Volk1 in einer Anmerkung den Versuch des Landgerichts, sich „aus den Fesseln der Wahrunterstellung zu befreien", einen „linguistischen Kraftakt" und die Bewertung einer als wahr unterstellten Aussage einen „rabulistischen Trick" genannt. Es ist deshalb verständlich, wenn die Prozeßbeteiligten zur Wahrunterstellung eine Art Haßliebe entwickelt haben. Das Gericht schätzt die Möglichkeit, Beweisanträge ohne den schwierigen Begründungszwang — zunächst — zu „erledigen", fürchtet aber die gegebenenfalls notwendig werdende Auseinandersetzung in den Urteilsgründen. Die Verteidigung kann zunächst einen Erfolg verbuchen, weil sie das Gericht zwingt, nicht bewiesene für den Mandanten günstige Tatsachen bei der Urteilsfindung zugrunde zu legen; jedoch wird sie über die endgültige Bewertung bis zur Urteilsverkündung im unklaren gelassen. Vorerst wird man wohl mit diesem Rechtsinstitut und seiner Problematik leben müssen; denn die von Grünwald8 unter Hinweis auf Unklarheiten und Fehlentscheidungen de lege ferenda empfohlene Beseitigung dieses Ablehnungsgrundes für Beweisanträge dürfte in absehbarer Zeit nicht zu verwirklichen sein. Was nun bei der Wahrunterstellung zunächst im einzelnen zu beachten ist, haben Schrifttum und Rechtsprechung herauszuarbeiten versucht, wobei in grundsätzlichen Fragen überwiegend auch Ubereinstimmung erzielt wird. Auf die bekannte „resignierende Pilatus-Frage" nach der Wahrheit soll hier nicht näher eingegangen werden 9 . 4
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Dahs, Handbuch des Strafverteidigers (1983), Rdn. 555; Schröder, „Die Ablehnung von Beweisanträgen aufgrund von Wahrunterstellung und Unerheblichkeit" NJW 1972, 2105 ff (2109); Alsberg/NüsejMeyer (ANM), Der Beweisantrag im Strafprozeß 5. Aufl., S. 652; Seibert, „Beweisanträge" NJW i960, 20: „... ein probates Mittel für den geplagten Tatrichter". Willms, „Zur Problematik der Wahrunterstellung", Festschrift Schäfer 1980, S. 275 ff (277). Tenckboff, Die Wahrunterstellung im Strafprozeß, 1980, S. 21—23 mit weiteren Nachweisen. BGH NStZ 1989, 129 mit Anm. Volk. Grüntvald, „Die Wahrunterstellung im Strafverfahren", Festschrift Richard M. Honig, 1970, S. 53 ff (68). Grundlegend und eingehend hierzu: Tetickhoff (Fn. 6), S. 95 ff; Krauß, „Das Prinzip der materiellen Wahrheit im Strafprozeß, Festschrift Schaffstein, 1975, S. 411 ff; Spendel, „Wahrheitsfindung im Strafprozeß" JuS 1964, 465 ff; Gutmann, „Die Aufklä-
Zur Aufklärungspflicht bei Wahrunterstellung
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Der Streit, ob die als wahr unterstellte Tatsache feststehe, als erwiesen gelte, ob eine Beweis- und Entscheidungsregel vorliege oder ob sie dem Urteil als unwiderlegt zugrunde gelegt werden müsse, ist weitgehend terminologischer Art 10 . Auszugehen ist in jedem Fall davon, daß dem Antragsteller zugesichert wird, die als wahr unterstellte Tatsache bei der Beweiswürdigung als wahr zu behandeln 11 . Es ist weiterhin allgemein anerkannt, daß die Aufklärungspflicht Vorrang hat; die Wahrunterstellung ist deshalb immer nur ein „Aushilfsweg". Ein Verstoß dagegen könnte für die Staatsanwaltschaft Anlaß sein, die Aufklärungsrüge zu erheben. Schließlich sind die behaupteten Tatsachen in ihrem wirklichen Sinn ohne jede Einengung, Verschiebung, Änderung oder Modifizierung als wahr zu behandeln, wobei nicht der Wortlaut, sondern Sinn und Zweck des Antrages maßgebend sind. Die Wahrunterstellung muß der Beweisbehauptung kongruent sein. Allerdings braucht das Gericht aus den als wahr unterstellten Indiztatsachen nicht die vom Antragsteller gewünschten Schlüsse zu ziehen. Das ist eine Frage der freien Beweiswürdigung 12 . Die eigentliche Problematik ergibt sich aber aus der Formulierung des Gesetzes, daß nur eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO). Die Frage der Erheblichkeit läßt sich, namentlich bei Indiztatsachen und in umfangreichen Verfahren, abschließend erst nach Beendigung der Beweisaufnahme sachgerecht beurteilen. Eine frühere Entscheidung in der Hauptverhandlung mit dem Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit könnte dem Grundsatz der unzulässigen Beweisantizipation widerspre-
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rungspflicht des Gerichts und der Beweiserhebungsanspruch der .Parteien' im Prozeß" JuS 1962, 369 ff; Schneider, „Wahrheitsbegriff und Rechtswissenschaft" JuS 1973, 204. Tenckhoff (Fn. 6), S. 28, 38, 63, 116; ANM (Fn. 4), S. 675/676; Gollmt^er (Fn. 1) § 244 Rdn. 238, Fn. 662 m. w. Nachw. ANM (Fn. 4), S. 676; Tenckhoff (Fn. 6), S. 28, 30: „Eine Willenserklärung des Gerichts". KleinknechtjMeyer (Fn. 1); Herdegen (Fn. 1), Rdn. 90 — 92, 94 jeweils m. w. Nachw.; Peters (Fn. 3), Fall 43; DahsjDahs, Die Revision im Strafprozeß, 4. Aufl., Rdn. 172; BGH NJW 1961, 2069 (2070); OLG Celle NStZ 1986, 91 = StV 1986, 423: „Die Wahrunterstellung einer Indiztatsache, aus der ein prozeßentscheidender Schluß gezogen werden soll, bedeutet nämlich nichts weiter als die Zusage des Gerichts, die für wahr genommene Beweistatsache bei der endgültigen Würdigung der Beweise nach Abschluß der Beweisaufnahme nach § 261 StPO zugunsten des Angeklagten zu erwägen in der Voraussicht, daß sie sich nicht als prozeßentscheidend erweisen wird"; BGH bei Pfeiffer!Miebach NStZ 1987, 218 Nr. 9; BGH NStZ 1989, 129 = N J W 1989, 1045; BGH bei Pfeiffer).Miebach: NStZ 1983, 357 Nr. 23; NStZ 1984, 211 Nr. 13, 14, 15; NStZ 1985, 206 Nr. 13; BGH bei Miebach NStZ 1988, 212 Nr. 12.
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chen. Deshalb kann die Wahrunterstellung nicht zugleich die Zusage umfassen, die behauptete Tatsache bleibe für die Urteilsfindung erheblich. Der BGH sieht es folgerichtig als ausreichend an, wenn zur Zeit der Beschlußfassung nicht auszuschließen ist, daß die vorgebrachte Tatsache die Entscheidung in irgendeiner Weise zu beeinflussen vermag 13 . Ob das der Fall ist, muß der abschließenden Urteilsberatung vorbehalten bleiben. An dieser Auffassung ist, entgegen Schröder und DahsjDahs festzuhalten 14 . Letztere halten es für bedenklich, in den eindeutigen Wortlaut der Vorschrift („... eine erhebliche Behauptung ...") den tiefgreifenden Vorbehalt der nur vorläufigen und jederzeit abänderbaren Beurteilung des Gerichts „hineinzuinterpretieren". Andernfalls müßte das Gericht bei jeder Wahrunterstellung der entsprechenden Beweistatsache eine „Entscheidungserheblichkeit" zu einem Zeitpunkt zusichern, in dem die — endgültige — Entscheidung noch gar nicht ansteht. Die Erheblichkeit kann deshalb nur potentiell sein 15 . Wird danach dem Gericht für die Urteilsberatung zugestanden, einen Wechsel in der Beurteilung der Erheblichkeit dahin vorzunehmen, daß die behauptete Tatsache ihre Bedeutung inzwischen für die Entscheidung verloren habe, so soll nach überwiegender Meinung im Schrifttum das Gericht verpflichtet sein, die Prozeßbeteiligten über den Auffassungswandel zu unterrichten. Zur Begründung wird auf den Gesichtspunkt des „fair trial" (Art. 6 Abs. 3 MRK; Art. 20 Abs. 3 GG), des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und auf eine entsprechende Anwendung des § 265 StPO verwiesen 16 . Die Heranziehung verfassungsrechtlicher Grundsätze ist bereits von Meyer kritisiert worden 17 . Es ist allgemein anerkannt, daß es einen übergeordneten Verfassungsgrundsatz gibt, wonach der Angeklagte und die anderen Prozeßbeteiligten ein faires Verfahren beanspruchen können. Auf diesen darf zurückgegriffen werden, wenn das Gesetz dem verfassungsrechtlichen Anspruch nicht genügt. In diesem Zusammen-
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BGH GA 1972, 272/273 unter Berufung auf RGSt. 65, 322; OLG Celle NStZ 1986, 91; Herdegen (Fn. 1), Rdn. 89; KleinknechtjMeyer (Fn. 1); ANM (Fn. 4), S. 657; Tenckhoff (Fn. 6), S. 35 erblickt darin eine Aufweichungstendenz gegenüber dem Gesetzeswortlaut; Willms (Fn. 5), S. 278 spricht von einem „Kunstgriff. Schröder (Fn. 4); DahsjDahs (Fn. 12), Rdn. 273. ANM (Fn. 4), S. 658; Herdegen, KK, § 244 Rdn. 89. Vgl. Fn. 3; Schlächter (Fn. 1); Roxin (Fn. 1); DahsjDahs (Fn. 12), Rdn. 273; Dahs (Fn. 4); Gollrvit\er (Fn. 1), Rdn. 255; Hamm, „Früherkennung richterlicher Beweis Würdigung", Festgabe für Karl Peters, 1984, S. 175 — 178; SarstedtjHamm, Die Revision in Strafsachen, 5. Aufl., Rdn. 286. BGH JR 1984, 171 ff mit Anm. Meyer und Rspr.-Hinweisen.
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hang rügt Meyer zu Recht eine „Flucht in verfassungsrechtliche Generalklauseln" und weist im übrigen darauf hin, daß es der Rechtsprechung in den „vergangenen 100 Jahren ohne erkennbare Mühe gelungen ist, mit § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO auszukommen". Eine richtige Handhabung des Gesetzes macht auch für die hier erörterte Frage eine Berufung auf verfassungsrechtliche Grundsätze unnötig. In der Hauptverhandlung — namentlich in umfangreichen und komplexen Verfahren — werden von Amts wegen, auf Antrag oder Anregungen eine Fülle von Beweisen erhoben und Tatsachen festgestellt, über deren Entscheidungserheblichkeit vor der Urteilsverkündung nichts gesagt wird, meistens auch gar nichts gesagt werden kann. Die durch Wahrunterstellung in den Prozeß eingeführten Tatsachen können vernünftigerweise nicht anders behandelt werden. Immerhin erreicht der Antragsteller für seine behauptete Tatsache eine Bindung des Gerichts, ohne daß der geforderte Beweis erhoben wird. Mehr ist dem Gesetz auch nicht zu entnehmen. Eine Verpflichtung des Gerichts, eine Vorabentscheidung über seine Meinung zu den durch Wahrunterstellung eingeführten Tatsachen bekanntzugeben, bedeutet für Raackeli eine „durch nichts gerechtfertigte Privilegierung, die in unser Prozeßsystem einfach nicht hineinpaßt". Im übrigen kann der Antragsteller durch einen erst in der Urteilsbegründung bekanntgegebenen Bewertungswechsel überhaupt nicht überrascht sein; denn Wahrunterstellungen müssen den Verteidiger hellhörig machen, sie sind ein „Alarmzeichen". Eine Verurteilung kann immer nur trot^ einer Unterstellung, niemals aufgrund einer Unterstellung ergehen 19 . Daß die beiden Ablehnungsgründe der Wahrunterstellung und Bedeutungslosigkeit auch eng miteinander verknüpft sind, zeigt die Behandlung der Wahrunterstellung in einem Hilfsbeweisantrag. Erfolgt diese zu Unrecht, weil die behauptete Tatsache in Wirklichkeit unerheblich ist, so führt das nicht zur Aufhebung des Urteils. Der Antragsteller wird in der Hauptverhandlung nicht durch eine unrichtige Begründung irregeführt und deshalb in seinen Verteidigungsmöglichkeiten auch nicht beeinträchtigt 20 .
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Raacke, „Wahrunterstellung und Erheblichkeit" N J W 1973, 495. Sarstedt\Hamm (Fn. 16), Rdn. 286 Fn. 546; Sarstedt, „Der Beweisantrag im Strafprozeß" D A R 1964, 307 ff (312); O L G Celle N S t Z 1986, 91/92. Sarstedt (Fn. 19), S. 312; O L G Karlsruhe, Die Justiz 1977, 357; für Willms (Fn. 5), S. 279/280 entpuppen sich derartige Ablehnungsgründe als ein „bloßes Ungeschick", wenn den behaupteten Tatsachen gar keine W i r k u n g beigemessen wird; ANM (Fn. 4), S. 660 hält eine Wahrunterstellung f ü r unzulässig, wenngleich unschädlich.
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Es stellt sich nun die weitere Frage, ob durch die eingangs erwähnte Entscheidung des BGH 2 1 tatsächlich ein Wandel hinsichtlich einer Aufklärungspflicht auch in der Rechtsprechung eingetreten ist. Die für O L G Hamm 2 2 zwar grundsätzlich bestehende Hinweispflicht entfiel aber, weil es nicht ersichtlich war, daß der Verteidiger ... weitere ... bedeutsame Beweisanträge gestellt hätte. Das O L G Celle 23 spricht von einem „Ausnahmefall", der sich „nicht verallgemeinern" lasse. Der B G H 2 4 selbst äußert sich noch vorsichtiger. Wörtlich heißt es in dieser Entscheidung: „Der Tatrichter hat trotz Wahrunterstellungen in der Hauptverhandlung im Urteil Bedeutungslosigkeit der betreffenden Beweisbehauptungen angenommen, ohne zuvor einen entsprechenden Hinweis zu geben. Ein solcher Hinweis ist indessen regelmäßig nicht geboten (BGH GA 1972, 272; B G H N S t Z 1981, 96). Ein Ausnahmefall, wie ihn der 2. Strafsenat in BGHSt 30, 383 angenommen hat, liegt hier nicht vor". Diese Zurückhaltung ist auch verständlich. Die Formulierung „wenn es naheliegt" ist — da unscharf — für den Tatrichter kaum verwertbar. Woher soll dieser wissen, ob der Antragsteller überhaupt noch in der Lage ist, weitere Beweismittel zu benennen? 25 Wie soll der Tatrichter die Prozeßbeteiligten unterrichten? 26 Mit einem bloßen Hinweis wäre es nicht getan. Das Gericht hätte damit den ursprünglichen Grund der Wahrunterstellung zurückgenommen und wäre verpflichtet gewesen, den dann noch nicht erledigten und gewissermaßen wiederaufgelebten Beweisantrag zu bescheiden 27 . Es ist das Verdienst von Meyer28, wohl als erster auf die fehlerhafte Begründung der fraglichen Entscheidung des B G H hingewiesen zu haben: „Der Fehler des tatrichterlichen Urteils lag in einer lückenhaften Beweiswürdigung; aus diesem Grunde ist es im Ergebnis zu Recht aufgehoben worden". Bei der dort gegebenen Sachlage — nicht in Einklang zu bringende unterschiedliche Angaben der Zeugin über den Tatzeitpunkt — hätte die Strafkammer, was der B G H selbst noch ausdrücklich betont, „von sich aus im Urteil darauf eingehen müssen". 21 22 23 24
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Fn. 2. NStZ 1983, 522. NStZ 1986, 91. Bei PfeifferjMiebach NStZ 1983, 357 Nr. 25 (Urt. v. 2. 11. 1982 -
Gollwit^er (Fn. 1), Rdn. 255. Raacke (Fn. 18). Hanack JZ 1972, 116. ANM (Fn. 4), S. 659 Fn. 58.
5 StR 308/82 - ) .
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Immerhin bemerkt auch Mösl29, daß der Senat nicht auf die weitere Frage einzugehen brauchte, ob die in dieser Form durchgeführte Wahrunterstellung den Beweisantrag in seinem vollen erkennbaren Sinn erschöpft hat und insoweit ein weiterer Rechtsfehler vorlag. Ebenso sieht Herdegen30 den Rechtsfehler des Tatgerichts nicht im Bereich der Wahrunterstellung. Es ist deshalb davon auszugehen, daß gerade diese — in der Begründung fehlerhafte — Entscheidung des BGH am wenigsten geeignet ist, die überwiegend im Schrifttum 31 geforderte Hinweispflicht zu begründen. Wenn in diesem Zusammenhang Meyer32 einen Vertrauensschutz für die Verfahrensbeteiligten auf die Einhaltung der Zusage der Erheblichkeit mit dem Satz verneint „... denn worauf sie vertrauen können, müssen die Verfahrensbeteiligten der Rechtsprechung des BGH entnehmen und nicht der von ihr abweichenden Meinung des Schrifttums ...", so ist das nicht nur „wirklich recht hübsch formuliert" 33 , sondern sollte auch beachtet werden. Der Vorwurf Tenckhoffs, Meyer vernachlässige „allzu sehr neuere Entwicklungstendenzen", erscheint mir recht voreilig erhoben; denn die erwähnte Entscheidung des BGH gibt dafür nichts her. Soweit darin die bisherige BGH-Rechtsprechung als „brüchig geworden" angesehen wird und sich „ein Trend zu noch weitergehender Anerkennung des Vertrauensschutzes abzeichnen" soll, wäre der BGH aufgerufen, alsbald ein klärendes Wort zu sprechen 34 . Die Befürchtung, ohne eine Hinweispflicht würden Verfahrensverzögerungen dadurch eintreten 35 , daß nach Bekanntgabe einer Wahrunterstellung eine „verantwortungsbewußte Verteidigung" zusätzliche Beweisanträge stellen werde, vermag ich nicht zu teilen. Sie wird durch die Erfahrungen der Praxis nicht bestätigt 36 . Während meiner langjährigen Tätigkeit in einer großen Strafkammer, einschließlich Schwurgericht, habe ich nie erlebt, daß nach einer Wahrunterstellung zu den dort genannten Tatsachen weitere Beweisanträge gestellt wurden. Schon gar nicht war eine „Überflutung des Gerichts mit Beweisanträgen" zu
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Fn. 2. Herdegen, „Bemerkungen zum Beweisantragsrecht" NStZ 1984, 342 Fn. 142. Fn. 1 u. Fn. 3; Tenckhoff, Anm. zu OLG Celle StV 1986, 424 Fn. 33 m. weit. Literaturhinw. ANM (Fn. 4), S. 659 Fn. 58. Tenckhoff (Fn. 31). Tenckhoff (Fn. 31). DahsjDahs (Fn. 12) Rdn. 273; Tenckhoff (Fn. 6), S. 133/134 und StV 1986, 427; Schröder (Fn. 4). ANM (Fn. 4), S. 659 Fn. 58.
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verzeichnen37. Genau das Gegenteil war der Fall, entsprechende Beweisanträge wurden nicht mehr gestellt. Das mag daran gelegen haben, daß die Verteidiger entweder nicht verantwortungsbewußt handelten, weil sie das Alarmsignal einer Wahrunterstellung unbeachtet ließen, ihnen keine weiteren Beweismittel mehr zur Verfügung standen oder sie die Wahrunterstellung bereits als Erfolg verbuchten in der Hoffnung, der Tatrichter werde bei der Bewertung der als wahr unterstellten Tatsachen Fehler machen. Diese Haltung ist im Ergebnis durchaus legitim. Der Tatrichter ist nämlich verpflichtet, bei einer Verurteilung sein Augenmerk besonders auf die Beweiswürdigung unter Berücksichtigung der als wahr behandelten Tatsache zu richten. Wenn es nämlich „naheliegt", daß der Angeklagte wegen der Wahrunterstellung davon absieht, Beweisanträge zu einem Thema zu stellen, das mit der als wahr unterstellten Tatsache im Zusammenhang steht und das für die Entscheidung möglicherweise von Bedeutung sein kann, dann „liegt es auch nahe", daß die Urteilsgründe sich im Rahmen der Beweiswürdigung mit der Wahrunterstellung auseinanderzusetzen haben38. Die Urteilsgründe müssen der Wahrunterstellung kongruent sein39. Geschieht das nicht, nur lückenhaft oder wird gar die Wahrunterstellung durch Verfalschen des Inhalts nicht eingehalten, liegen materiellrechtliche und verfahrensrechtliche Mängel vor 40 . Die Rechtsprechung hat diese Pflicht des Gerichts, sich gegebenenfalls mit der als wahr unterstellten Beweistatsache auseinanderzusetzen, immer mehr betont41. Wird die Wahrunterstellung richtig gehandhabt, dürfte es keinen „Ausnahmefall" geben, der eine entsprechende Hinweispflicht begründen könnte. Die Rechte des Antragstellers sind damit auch unter dem Gesichtspunkt eines „fairen Verfahrens" durchaus gewahrt. Zu Unrecht befürch-
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Hamm (Fn. 16), S. 175; Sarstedt/Hamm (Fn. 16) Rdn. 286 Fn. 546; Sarstedt (Fn. 19). Vgl. Fn. 12, BGH bei Pfeiffer!Miebach; BGHSt. 28, 310; BGH NStZ 1988, 212 Nr. 12 führt aus: „Da nur erhebliche Tatsachenbehauptungen als wahr unterstellt werden dürfen, erwächst dem Gericht aus der Wahrunterstellungszusage zugleich die Pflicht, sich in der Beweiswürdigung des Urteils mit den als wahr unterstellten Tatsachen jedenfalls dann auseinanderzusetzen, wenn es sich dazu gedrängt sehen muß". Herdegen (Fn. 1) § 244 Rdn. 92/93. OLG Celle JR 1985, 32 mit Anm. Meyer; Herdegen (Fn. 1) § 244 Rdn. 93; BGH StV 1982, 185 mit Anm. Jungfer, für den „bestimmte Fehler tatrichterlicher Urteile eine gewisse Wiederholungsintensität besitzen" und der hinsichtlich der Sachrüge — zu Recht — auf die in erheblichem Maße lückenhaften Feststellungen hinweist. Vgl. Fn. 12 und Fn. 38, insbesondere BGH bei Miebach NStZ 1988, 212 Nr. 12.
Zur Aufklärungspflicht bei Wahrunterstellung
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tet deshalb Gollwit^er eine „Verkürzung der Verteidigungsmöglichkeiten" 42 . Treffend bemerkt Meyer:43 „Er (der Antragsteller) steht dabei übrigens immer noch besser als in dem Fall, daß das Gericht den Beweis erhebt und nicht nur unterstellt, daß er gelungen wäre. Denn auch dann erfahrt der Antragsteller nichts darüber, ob das Gericht die Beweistatsache für beweiserheblich hält; er wird aber im Gegensatz zu der Antragsablehnung unter Wahrunterstellung sogar darüber im unklaren gelassen, ob das Gericht von der Wahrheit ausgehen will oder nicht. Wer das ändern will, muß das Gericht verpflichten, den Prozeßbeteiligten vor der Urteilsverkündung Gelegenheit zu geben, zu dem Ergebnis der Urteilsberatung Stellung zu nehmen".
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Fn. 1, § 244 Rdn. 255 Fn. 724. ANM (Fn. 4), S. 659/660.
Zur Vereinfachung des Rechtsschutzes gegen die Verwerfungsurteile nach §§ 329 Abs. 1 und 412 StPO WERNER NÖLDEKE
I. Bekanntlich können der Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl ebenso wie seine Berufung gegen ein Urteil des Amtsgerichts durch Prozeßurteil ohne Verhandlung zur Sache verworfen werden, wenn er bei Beginn der Hauptverhandlung trotz ordnungsgemäßer Ladung weder erscheint noch in zulässiger Weise vertreten wird und sein Ausbleiben auch nicht genügend entschuldigt ist (§§ 412, 329 Abs. 1 StPO). Gegen die Verwerfung des Einspruchs kann der Angeklagte bei dem Amtsgericht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen (§§ 412, 329 Abs. 3, 46 Abs. 1 StPO). Er kann aber auch Berufung oder Sprungrevision einlegen. Gegen die Verwerfung seines Wiedereinsetzungsantrages und der Berufung kann er sich wiederum mit der sofortigen Beschwerde (§ 46 Abs. 3 StPO) bzw. mit der Revision zur Wehr setzen. Darüber hinaus kann er Berufung und Revision mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung verbinden (§§ 315 Abs. 2, 342 Abs. 2 StPO). Das geschieht häufig, wenn nicht klar ist, welcher Rechtsbehelf erfolgversprechender ist, zumal das Gesetz den Verzicht auf den Wiedereinsetzungsantrag fingiert, wenn der Angeklagte nur Berufung oder Revision einlegt (§§ 315 Abs. 3, 342 Abs. 3 StPO). Es kommt daher in der Praxis nicht selten vor, daß Amts-, Land- und Oberlandesgericht in insgesamt vier Entscheidungen prüfen müssen, ob ein Einspruch zu Recht verworfen worden ist. Ähnliches gilt für die Rechtsbehelfe des Angeklagten gegen die Verwerfung seiner Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO. Neben dem Wiedereinsetzungsantrag (§ 329 Abs. 3 StPO) steht ihm hier statt der Wahl zwischen Berufung und Revision nur die Revision zur Verfügung. Die praktische Erfahrung zeigt, daß der Angeklagte trotz dieses aufwendigen drei- bzw. zweigleisig und überwiegend zweistufig angelegten Rechtsschutzsystems in Wirklichkeit nur unvollkommen gegen fehlerhafte Verwerfungsurteile geschützt ist.
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II. Im folgenden soll dargelegt werden, daß ein eingleisiger Rechtsschutz in Form der Berufung und gegebenenfalls der Revision gegen die Verwerfung des Einspruchs nach § 412 StPO und allein der Revision gegen die Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO den Interessen sowohl des Angeklagten an der Wahrung des rechtlichen Gehörs als auch der Justiz an einer wirksamen und zügigen Überprüfung der Verwerfungsurteile besser gerecht werden würde.
III. Die drei wesentlichen Ursachen für das Ungenügen des geltenden Rechtsschutzes sind darin zu sehen, daß (1) der Angeklagte häufig nicht in der Lage ist, den für ihn jeweils günstigsten Rechtsbehelf auszuwählen und ihn formgerecht einzulegen und zu begründen, (2) die verschiedenen Rechtsbehelfe nicht immer auf klar voneinander abgrenzbare Beschwerdepunkte zugeschnitten sind und (3) das Revisionsgericht auf entsprechende Verfahrensrüge die entscheidende Frage der genügenden Entschuldigung nicht auf selbst ermittelter Tatsachengrundlage beantworten darf, weil es nach der herrschenden Rechtsprechung 1 an die hierzu von dem Tatrichter getroffenen Feststellungen gebunden sein soll. Hierzu ist im einzelnen zu bemerken: 7. Bei der Rechtsmittelbelehrung klafft eine bedenkliche Lücke. Ausgerechnet für den ohnehin schwierig zu handhabenden Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 329 Abs. 3 StPO hat der Gesetzgeber keine Belehrungspflicht vorgesehen. Eine solche Belehrung ist gesetzlich nur für den Wiedereinsetzungsantrag gegen das Abwesenheitsurteil in Bagatellsachen (§§ 232, 235 Satz 2 StPO) und gegen die Beschlüsse des Tatgerichts geregelt, durch die Berufungen oder Revisionen als unzulässig verworfen werden dürfen (§§ 319 Abs. 2 Satz 3, 346 Abs. 2 Satz 3 StPO). § 35 a StPO schreibt eine Belehrung über Anfechtungsmöglichkeiten und die dafür geltenden Fristen und Formen nur für Entscheidungen vor, die durch befristete Rechtsmittel, wie etwa Berufung und Revision, angefochten werden können, nicht aber für den Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung. Dieser ist kein Rechtsmittel, weil er nicht zur Überprü1
S. Fn. 18.
Vereinfachung des Rechtsschutzes gegen Verwerfungsurteile
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fung der Sachentscheidung im übergeordneten Rechtszug führt. Für den Angeklagten, der mit seinem Wiedereinsetzungsantrag an den Zulässigkeitsvoraussetzungen scheitert, ist diese feinsinnige dogmatische Unterscheidung nur ein schwacher Trost, wenn er sich nun endgültig und möglicherweise zu Unrecht verurteilt sieht, weil er nicht zugleich Berufung oder Revision eingelegt hat. Nach der herrschenden Meinung 2 soll daher der Angeklagte in entsprechender Anwendung der §§ 235 Satz 2, 319 Abs. 2 Satz 3 und 346 Abs. 2 Satz 3 StPO auch in den Verwerfungsurteilen nach §§ 412, 329 Abs. 1 StPO über sein Wiedereinsetzungsrecht belehrt werden. Auch die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren schreiben in Nr. 142 Abs. 3 Satz 2 eine derartige Belehrung vor. Nirgends ist jedoch die Belehrung des Angeklagten auch darüber vorgeschrieben, daß er den Wiedereinsetzungsantrag mit der Berufung bzw. der Revision verbinden kann und daß die Einlegung von Berufung und Revision ohne Verbindung mit dem Wiedereinsetzungsantrag als Verzicht auf den letzteren gilt (§§315 Abs. 3, 342 Abs. 3 StPO). Auch wird dem Angeklagten nicht erklärt, in welchen Fällen eine derartige Verbindung für ihn nützlich sein könnte. Einigkeit besteht andererseits darüber, daß die Wirksamkeit des gesetzlich fingierten Verzichts nicht von einer vorangegangenen Rechtsbehelfsbelehrung abhängt 3 . Selbst wenn der Angeklagte aber in den Verwerfungsurteilen eine über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinausgehende, verhältnismäßig vollständige Rechtsbehelfsbelehrung erhält, was, wenn ich das richtig sehe, in Berlin der Fall ist, so erfahrt er zwar, daß die Wochenfrist für den Wiedereinsetzungsantrag ab Zustellung des Verwerfungsurteils läuft (§ 329 Abs. 3 StPO) und daß er die Tatsachen, aus denen sich die genügende Entschuldigung seines Ausbleibens in der Hauptverhandlung ergeben soll, beispielsweise durch Urkunden und eidesstattliche Versicherungen von Zeugen glaubhaft machen muß. Jeder Praktiker weiß aber, wie viele Wiedereinsetzungsgesuche daran scheitern, daß der Angeklagte meint, er könne sein Entschuldigungsvorbringen durch eigene (eidesstattliche) Erklärungen glaubhaft machen, obwohl seine eidesstattliche Erklärung unzulässig ist und die schlichte Erklärung nur ausnahmsweise ausreicht, wenn er dartut oder sonst ersichtlich ist, daß ihm eine anderweite Glaubhaftmachung unmöglich ist 4 . Als weiterer Unsicherheitsfaktor kommt hinzu, daß noch immer umstritten ist, unter 2
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Kleinknechtj Meyer, Hinweis auf Art. Kleinknechtj Meyer KleinknechtjMeyer
StPO 39. Aufl., § 3 5 a Rdn. 3; Schräder NStZ 1987, 447 unter 19 Abs. 4, 103 G G . (Fn. 2) § 342 Rdn. 3 mit Nachweisen. (Fn. 2) § 45 Rdn. 9.
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welchen Voraussetzungen der Antragsteller die Glaubhaftmachung noch in der Beschwerdeinstanz nachholen kann 5 . Während das Abwesenheitsurteil nach § 232 Abs. 4 StPO dem Angeklagten nur durch Übergabe zugestellt werden darf, ist bei den Verwerfungsurteilen nach §§ 329 Abs. 1 und 412 StPO auch die Ersatzzustellung etwa durch Niederlegung bei der Post zulässig. Es kommt nicht selten vor, daß der Angeklagte ohne Verschulden erst nach Ablauf der Wochenfrist für den Wiedereinsetzungsantrag Kenntnis von dem Inhalt des Verwerfungsurteils erhält. Nun muß er ohne weitere Belehrung wissen, daß er auch gegen die Versäumung dieser Frist Wiedereinsetzung beantragen kann und dabei, falls das nicht ersichtlich ist, die tatsächlichen Gründe vortragen und glaubhaft machen muß, aus denen sich für die Beantwortung der Frage der Einhaltung der Wochenfrist ergibt, wann das der Kenntnisnahme entgegenstehende Hindernis weggefallen ist. Bei alledem ist zu berücksichtigen, daß der Angeklagte, der sich gegen die Verwerfungsurteile wehrt, keineswegs immer anwaltlich vertreten ist. Das Wiedereinsetzungsverfahren bereitet aber auch dem in Strafsachen nicht gerade spezialisierten Anwalt erfahrungsgemäß nicht selten erhebliche Schwierigkeiten. 2. Die Verwerfungsurteile kann der Angeklagte mit der Begründung angreifen, die allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen hätten nicht vorgelegen, er sei nicht ordnungsgemäß geladen worden, wozu auch der Hinweis auf die Folgen des Ausbleibens nach § 323 Abs. 1 Satz 2 StPO gehört, er sei zu Beginn der Hauptverhandlung erschienen oder wirksam vertreten gewesen oder sein Ausbleiben sei genügend entschuldigt. Außer Streit ist lediglich, daß der Angeklagte mit der Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts, das seinen Einspruch gegen den Strafbefehl verworfen hat, alle diese Voraussetzungen für den Erlaß des Verwerfungsurteils durch das Landgericht nachprüfen lassen kann. Dabei kann er unbeschränkt neue Tatsachen und Beweismittel vorbringen 6 . Von selbst versteht sich auch, daß das Fehlen der allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen für die Verwerfungsurteile nicht mit dem Wiedereinsetzungsantrag, sondern nur mit der Revision bzw. der Berufung gerügt werden kann. Das dürfte auch für die Fragen gelten, ob der Angeklagte erschienen oder wirksam vertreten war 7 . Schwieriger zu beantworten ist, in welchen Fällen der Angeklagte den Streit darüber, ob sein Ausbleiben genügend entschuldigt war, 5 6 1
Vgl. die Nachweise bei Kleinknecht/Meyer (Fn. 2) § 45 Rdn. 7. BayObLG N J W 1953, 1196; KleinknechtjMeyer (Fn. 2) § 4 1 2 Rdn. 12 mit Nachweisen. Ruß in Karlsruher Kommentar, StPO 2. Aufl., § 329 Rdn. 22; zur Frage der wirksamen Vertretung vgl. auch O L G Düsseldorf StV 1985, 52.
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wahlweise im Wiedereinsetzungs- oder im Rechtsmittelverfahren austragen kann. Daß diese Frage nicht immer leicht zu beantworten ist, hat der Gesetzgeber selbst eingeräumt, indem er in §§ 315 Abs. 2, 342 Abs. 2 StPO die gleichzeitige Einlegung von Rechtsbehelf und Rechtsmittel für den Fall des Mißerfolges des Wiedereinsetzungsantrages als statthaft ansieht. Dennoch geht die herrschende Meinung 8 offenbar aus Gründen der Prozeßökonomie davon aus, daß sich das Rechtsmittel der Revision 9 und der Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung grundsätzlich ausschließen. Danach darf der Angeklagte den Antrag auf Wiedereinsetzung nicht auf Tatsachen stützen, die das Berufungsgericht bereits in seinem Urteil als zur Entschuldigung nicht genügend gewürdigt hat. Diese Einschränkung ist sinnvoll. Der Tatrichter wird selten geneigt sein, sein Verwerfungsurteil zu beseitigen, wenn lediglich die Würdigung von ihm bereits erörterter Tatsachen angegriffen wird. Dagegen wird er in der Regel zu einer Wiedereinsetzung bereit sein, wenn der Angeklagte neue Tatsachen vorträgt und glaubhaft macht, aus denen sich ergibt, daß sein Ausbleiben genügend entschuldigt war. Ob das tatsächliche Entschuldigungsvorbringen rechtlich zutreffend gewürdigt worden ist, kann daher nur mit der Revision überprüft werden. Auch neue Beweismittel für bereits gewürdigte Tatsachen werden im Wiedereinsetzungsverfahren nicht zugelassen 10 . Auf sie kann sich der Angeklagte ebenfalls nur mit der Revision (Aufklärungsrüge) berufen. Dagegen kann der Angeklagte das Wiedereinsetzungsgesuch auf die Behauptung stützen, das Berufungsgericht habe ihm bei der Urteilsverkündung bekannte Tatsachen, die es hätte würdigen müssen, einfach übergangen 11 . Diesen Fehler kann er aber auch mit der auf die Aufklärungsrüge gestützten Revision rügen. In diesen Fällen überschneidet sich also der Anwendungsbereich von Wiedereinsetzung und Revision. Heftig umstritten ist schließlich die Frage, wie der Angeklagte, der nicht oder nicht ordnungsgemäß zur Berufungshauptverhandlung geladen worden ist, gegen das Verwerfungsurteil vorgehen kann. Die herrschende Meinung 12 bewilligt ihm in derartigen Fällen Wiedereinsetzung in entsprechender Anwendung der §§ 329 Abs. 3, 44, 45 StPO. Eine Analogie ist nach dieser Auffassung erforderlich, weil der nicht ordnungsgemäß geladene Angeklagte zwar im Rechtssinne nicht aus-
OLG Düsseldorf StV 1985, 52; K G JR 1976, 425, 426 mit Rechtspr. nachweisen. * Für die Berufung stellt sich die Frage nicht, weil mit diesem Rechtsmittel die Verwerfung des Einspruchs uneingeschränkt überprüft werden kann, s. Fn. 6. 10 K G GA 1974, 116; OLG Koblenz VRS 83, 211. 11 Vgl. Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, StPO 24. Aufl., § 329 Rdn. 118. 12 BGH MDR 1987, 336, 338 NStZ 1987, 239 und die Nachweise bei Gollmt^er (Fn. 11) §329 Rdn. 117. 8
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bleiben könne, er aber als zu Unrecht als säumig Angesehener nicht schlechter behandelt werden dürfe als der schuldlos Säumige. Dabei ist weiter umstritten, ob die Wiedereinsetzung zu versagen ist, wenn der Angeklagte die Unkenntnis vom Termin zumindest mitverschuldet hat 13 . Schlüchteru hält bei fehlendem Verschulden des Angeklagten den Wiedereinsetzungsantrag, sonst aber nur die Revision für zulässig. Der Bundesgerichtshof, einige Oberlandesgerichte und ein Teil der Lehre gestehen dem Angeklagten die Wahl zwischen der Revision und dem Wiedereinsetzungsantrag zu 15 . Nach wieder anderer Meinung ist grundsätzlich allein die Revision statthaft und eine entsprechende Anwendung der Wiedereinsetzungsvorschriften nur ausnahmsweise zulässig, wenn gegen das Urteil die Revision, wie etwa in § 55 Abs. 2 Satz 1 JGG, nicht vorgesehen ist 16 . Schließlich hält das Oberlandesgericht Karlsruhe allein einen „Antrag auf Gegenstandslosigkeit" für angebracht 17 . Nach alledem ist die Frage erlaubt, welcher Verteidiger oder gar Angeklagter sich in diesem Meinungswirrwarr noch zurechtfinden soll. Es ist verständlich, daß die Betroffenen in der Praxis in aller Regel Rechtsbehelf und Rechtsmittel sicherheitshalber gleichzeitig einlegen. Gerichte und Staatsanwaltschaft werden dadurch unnötigerweise belastet und die Verfahren nicht unerheblich in die Länge gezogen. 3. Entscheidend gegen die Wirksamkeit des geltenden mehrgleisigen Rechtsschutzes spricht der Umstand, daß nach der ganz herrschenden Rechtsprechung 18 sowie nach der Auffassung eines Teils der Lehre 19 das Revisionsgericht bei der Prüfung, ob das Ausbleiben des Ange-
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Bejahend etwa: OLG Stuttgart Justiz 1973, 28 und Dittmar NJW 1982, 209, 211; verneinend: OLG Frankfurt NStZ 1986, 279 und OLG Hamm NStZ 1982, 521, jeweils mit ablehnender Anm. Meyer NStZ 1986, 280 u. 1982, 523 unter Hinweis auf § 235 Satz 1 Halbs. 2 StPO. Das Strafverfahren, 2. Aufl. Rdn. 685.4; vgl. dazu die ablehnende Anmerkung Meyer in NStZ 1986, 280, der zu Recht darauf hinweist, daß die Wahl des richtigen Rechtsmittels für den Angeklagten nicht von der Bewertung seines eigenen Verhaltens abhängen dürfe. BGH MDR 1987, 336, 338; Gollmt^er (Fn. 11) § 329 Rdn. 117 u. 99 m. w. Nachw. OLG Düsseldorf NStZ 1987, 523, OLG Saarbrücken MDR 1987, 695; K G JR 1984, 78 u. 1976, 425 mit abl. Anm. Wendisch ebendort S. 426; Kleinknecht/Meyer (Fn. 2) § 329 Rdn. 41; KMR\Paulus, StPO 7. Aufl., § 328 Rdn. 61. JR 1981, 129 mit abl. Anm. Wendisch ebendort S. 131. BGHSt. 28, 384, 386 ff sowie die Rspr. nachw. bei Gollwit^er (Fn. 11) §329 Rdn. 100 ff; teilweise abweichend, aber ohne einheitliche Linie: OLG Frankfurt NJW 1974, 1152; OLG Koblenz OLGSt §329 I Nr. 6 u. 8; OLG Karlsruhe VRS 33, 35, 36; OLG Hamburg JZ 1963, 480, 481. Kleinknecht!Meyer (Fn. 2) § 337 Rdn. 17 u. § 329 Rdn. 48; Alsberg\Nüse\Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl., S. 159 f, aber auch S. 156 f; KMRjPauIus (Fn. 16) § 329 Rdn. 70 u. § 337 Rdn. 24; Preiser GA 1965, 366.
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klagten genügend entschuldigt war, an die hierzu in dem Verwerfungsurteil festgestellten Tatsachen ausnahmslos gebunden sein soll; es darf sie danach weder durch eigene ersetzen noch ergänzen. Die Möglichkeit des Freibeweises soll dem Revisionsgericht nur eröffnet sein, wenn der Angeklagte mit der Aufklärungsrüge behauptet, der Tatrichter hätte sich aufgrund besonderer Umstände zu zusätzlichen Ermittlungen gedrängt sehen müssen. Aber auch wenn die in diesem Fall ausnahmsweise zulässige freibeweisliche Nachprüfung durch das Revisionsgericht ergibt, daß die Aufklärungsrüge begründet ist, soll es die Frage der genügenden Entschuldigung nicht auf selbst ermittelter Tatsachengrundlage entscheiden dürfen. Vielmehr soll es das angefochtene Urteil nach den allgemeinen Grundsätzen des Revisionsrechts aufheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverweisen 20 . Die Tatsache, daß es sich bei den Verwerfungsurteilen um reine Prozeßentscheidungen handelt, die keine Feststellungen zur Schuld- und Straffrage enthalten, hindert den Bundesgerichtshof nicht daran, die tatsächlichen Grundlagen des Verwerfungsurteils für den Revisionsrichter als vergleichbar bindend anzusehen, wie es für ihn die tatsächlichen Feststellungen zur Schuld- und Straffrage in einem Sachurteil sind. Er begründet das damit, daß nur der Tatrichter darüber befinden könne, ob das tatsächliche Entschuldigungsvorbringen des Angeklagten genügend sei; dabei handele es sich nicht nur um die „wertungsfreie Wiedergabe förmlicher Geschehensabläufe", sondern um eine Würdigung, bei der dem Tatrichter ein gewisser Beurteilungsspielraum zustehen müsse; das Revisionsgericht habe auf eine zulässige Verfahrensrüge nur zu prüfen, ob dem Tatrichter bei der Beurteilung der tatsächlichen Umstände Rechtsfehler unterlaufen seien, er etwa den Begriff der genügenden Entschuldigung verkannt oder an ihn zu strenge Anforderungen gestellt habe. Zieht man die Grenzen des revisionsrichterlichen Nachprüfungsrechts derart eng, so zeigen sich bedenkliche Lücken im Rechtsschutz. Teilt der Angeklagte, der ohne sein Verschulden am Erscheinen im Termin gehindert wird, den Hinderungsgrund nicht vorher dem Gericht mit, so wird er, falls er nicht an den Formalien scheitert, mit einem Wiedereinsetzungsantrag Erfolg haben. Denn es kommt für die genügende Entschuldigung nicht darauf an, daß er sich rechtzeitig entschuldigt hat, sondern allein darauf, daß er entschuldigt ist. Gefahrlich wird es ausgerechnet für den Angeklagten, der kurz vor der Verhandlung durch Krankheit, Unfall, Verkehrsstau, Autopanne oder sonstige Zufalle am Erscheinen gehindert wird und der sich anständigerweise darum
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bemüht, diesen Entschuldigungsgrund dem Gericht noch rechtzeitig vor dem Termin etwa durch Anruf bei der Geschäftsstelle des Gerichts, über seinen Anwalt, durch Telegramm oder auf sonstige (meist unvollkommene) Weise mitzuteilen. Zahlreiche Beispiele aus der Rechtsprechung 21 zeigen, daß in derartigen Fällen das Entschuldigungsvorbringen häufig als ungenügend angesehen wird. Das Gericht darf zwar ein Verwerfungsurteil nicht erlassen, wenn es nur Zweifel an der Richtigkeit des Entschuldigungsvorbringens hegt. Es muß vielmehr davon überzeugt sein, daß der Entschuldigungsgrund nicht zutrifft 22 . Andererseits ist es zu weiteren Ermittlungen und zur Erhebung von Beweisen im Freibeweisverfahren nur verpflichtet, wenn sich dafür konkrete Möglichkeiten anbieten und das sofort geschehen kann 23 . Derartige Ansatzpunkte sind in den geschilderten Fällen oft nicht vorhanden, weil der Angeklagte nicht zu erreichen ist, weil es einen behandelnden Arzt noch nicht gibt oder das Gericht ihn noch nicht kennt oder weil der Verteidiger oder die sonst für den Angeklagten sprechenden Personen die näheren Umstände der Verhinderung nicht genauer darlegen können. Gewinnt der Tatrichter daraufhin, etwa unter Hinweis auf frühere Verschleppungsversuche 24 , die Überzeugung, das Entschuldigungsvorbringen sei unwahr und daher ungenügend, so hilft es dem Angeklagten nichts mehr, wenn er nachträglich den Verhinderungsgrund anhand von detaillierten Attesten, eidesstattlichen Versicherungen von Zeugen, Fahrplänen oder sonstigen Urkunden einleuchtend darlegen kann. Denn sein Wiedereinsetzungsgesuch ist unzulässig, weil er es nicht auf denselben Entschuldigungsgrund stützen kann, den der Tatrichter in dem Verwerfungsurteil bereits als ungenügend gewürdigt hat. Auch die Revision bleibt erfolglos. Die Aufklärungsrüge scheitert daran, daß der Tatrichter naheliegende Möglichkeiten der weiteren Aufklärung nicht hatte. Die der Beurteilung der genügenden Entschuldigung zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen des Tatrichters darf das Revisionsgericht auch dann weder durch eigene ersetzen noch ergänzen, wenn inzwischen alles dafür spricht, daß der Tatrichter sich geirrt hat. Demgegenüber wird in der Literatur 25 bereits seit den zwanziger Jahren die in jüngster Zeit wohl zur herrschenden Lehre gewordene 21 22 23 24 25
Vgl. etwa die Nachw. bei Busch J Z 1963, 457, 460. Kleinknecbt] Meyer (Fn. 2) § 329 Rdn. 21 f. Kleinknechtj Meyer (Fn. 2) § 329 Rdn. 19 f. RG GA 71 (1927), 166. Gollwit^er, (Fn. 11) §329 Rdn. 1 0 0 - 1 0 4 ; Hanack in Löwe-Rosenberg, StPO 24. Aufl., § 337 Rdn. 92, allerdings noch zweifelnd, soweit es nicht nur um die Überprüfung, sondern um die Ergänzung der tats. Feststellungen geht; KMR\Müller, StPO 7. Aufl., § 412 Rdn. 12; Eb. Schmidt, StPO Nachträge zu II (1967) § 329 Anm. 5; Hobendorf
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Auffassung vertreten, das Revisionsgericht sei auf entsprechende Verfahrensrüge hin dazu verpflichtet, im •Freibeweisverfahren die tatsächlichen Feststellungen des Tatrichters zur Frage der genügenden Entschuldigung nachzuprüfen und gegebenenfalls zu ergänzen. Für die Richtigkeit dieser Auffassung sprechen folgende Gesichtspunkte: a) Aus § 337 Abs. 1 StPO folgt, daß das Revisionsgericht nur an die tatsächlichen Feststellungen des Tatrichters zum Schuld- und Rechtsfolgenausspruch gebunden ist. Diese Bindung ist dadurch gerechtfertigt, daß diese Feststellungen in der Hauptverhandlung ausschließlich nach den Regeln des Strengbeweises nach § 243 ff StPO zu treffen sind. Die öffentliche, unmittelbare, mündliche und an das formale Beweisantragsrecht gebundene Beweisaufnahme gewährleistet die größtmögliche Qualität der Beweisergebnisse. b) Dagegen ergibt sich aus §§ 344 Abs. 2 Satz 2, 352 Abs. 1 StPO, daß das Revisionsgericht die Tatsachen zu überprüfen hat, die der Angeklagte zur Begründung einer Verfahrensrüge anführt. Die allein prozessual erheblichen Tatsachen hat das Revisionsgericht ausschließlich im Wege des Freibeweisverfahrens zu überprüfen und gegebenenfalls zu ergänzen. Dabei kann es insbesondere auf den gesamten Akteninhalt zurückgreifen sowie telefonische oder schriftliche Auskünfte von Zeugen, Sachverständigen und Verfahrensbeteiligten einholen. Auch für den Freibeweis gilt die Pflicht zur Aufklärung und zur Gewährung des rechtlichen Gehörs 26 . An die Würdigung und Feststellung allein prozessual erheblicher Tatsachen durch den Tatrichter ist das Revisionsgericht selbst dann nicht gebunden, wenn der Tatrichter die Feststellungen ausnahmsweise nicht im Frei-, sondern im Strengbeweis getroffen hat 27 . Das schließt natürlich nicht aus, daß das Revisionsgericht dem Tatrichter bei der Würdigung insbesondere von Zeugenaussagen folgt, bei denen es entscheidend auf den persönlichen Eindruck von dem Beweismittel ankommen kann. In aller Regel ermittelt der Tatrichter die tatsächlichen Grundlagen für die Entscheidung über das Entschuldigungsvorbringen des Angeklagten aber auch nur im Freibeweisverfahren aufgrund von ärztlichen Attesten und sonstigen Urkunden, telefonischen und schriftlichen Auskünften sowie aufgrund des Akteninhalts. Diese Beweiswürdigung kann das Revisionsgericht ohne weiteres überprüfen und gegebenenfalls durch eigene Ermittlungen ergänzen.
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G A 1979, 414, 424f; Busch J Z 1963, 457, 4 6 0 f f ; Alsberg A n m . zu R G J W 1931, 1495 u n d 1930, 67; Beling, D t s c h . Strafprozeßrecht (1928), S. 414 f. Kleinknecht\Meyer (Fn. 2) § 244 Rdn. 6 - 9 . Alsberg! Nüsej Meyer (Fn. 19) S. 156 f.
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c) Soweit die Gegenmeinung 28 die revisionsrichterliche Nachprüfung von prozessualen Entscheidungen des Tatrichters, die auf einer Bewertung von Tatsachen beruhen, unter Berufung auf einen hierbei nur dem Tatrichter zustehenden Beurteilungs- oder Ermessensspielraum auf eine rein rechtliche Kontrolle einschränkt, setzt sie sich in Widerspruch zu den oben unter a) und b) dargelegten Grundsätzen. Die Anwendung eines derartigen Beurteilungs- oder Ermessensspielraums wird daher von der heute herrschenden Lehre 29 zu Recht abgelehnt. Noch weniger gerechtfertigt erscheint es, dem Tatrichter einen „gewissen Beurteilungsspielraum" für die Entscheidung zuzubilligen, ob die festgestellten Tatsachen das Ausbleiben des Angeklagten genügend entschuldigen, ob ihm also bei Abwägung der persönlichen Hinderungsgründe gegenüber der öffentlichen Pflicht zum Erscheinen und der Bedeutung der Sache billigerweise zuzumuten war, sich zur Hauptverhandlung einzufinden 30 . Diese Abwägung kann und muß das Revisionsgericht in vollem Umfang nachprüfen. d) Die Gegenmeinung muß sich auch den Vorwurf mangelnder Folgerichtigkeit gefallen lassen. Hat das Revisionsgericht auf die erfolgreiche Aufklärungsrüge des Angeklagten ein Verwerfungsurteil aufgehoben und an die Vorinstanz zurückverwiesen, weil es meint, die für die Frage der genügenden Entschuldigung lückenhafte Tatsachengrundlage des angefochtenen Urteils nicht ergänzen und selbständig würdigen zu dürfen, so müßte der Tatrichter nach den allgemeinen Grundsätzen des Revisionsrechts zunächst die offen gebliebene Verfahrensfrage der genügenden Entschuldigung prüfen und entscheiden 31 . In der Praxis wird dieser Schritt jedoch einfach übersprungen und sogleich in der Sache selbst entschieden 32 . e) Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat sich Ende 1985 33 — wenn nicht alles täuscht — von der zuletzt noch Mitte 1979 durch den 2. Strafsenat 34 bestätigten Rechtsprechung abgesetzt und deutlich auf 28
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BGHSt. 28, 384, 387; OLG Frankfurt NJW 1970, 959; OLG Hamburg J Z 1963, 480, 481; RG JW 1930, 67, 68; Kleinknecht] Meyer (Fn. 2), § 337 Rdn. 17; KMRjPaulus (Fn. 16) § 337 Rdn. 23 f; Alsberg/Nüse/Meyer (Fn. 19) S. 158 ff. Vgl. etwa Ruß (Fn. 7) § 329 Rdn. 10; Schäfer in Löwe-Rosenberg, StPO 24. Aufl., Einl. Kap. 11 Rdn. 34; Herdegen in Karlsruher Kommentar, StPO 2. Aufl., § 244 Rdn. 6 a. E.; Willms, Wesen und Grenzen des Freibeweises in Ehrengabe für Bruno Heusinger, 1968, S. 393, 408 ff; Busch JZ 1963, 457, 461; Alsberg JW 1930, 67, 68; zweifelnd Hanack (Fn. 25) § 337 Rdn. 90, 92. So aber wohl BGHSt. 28, 384, 387 unter Hinweis auf RGSt. 66, 150, 151. Vgl. Hohendorf GA 1979, 414, 421. Kleinkmcht] Meyer (Fn. 2) § 329 Rdn. 50. MDR 1987, 336 = NStZ 1987, 239. BGHSt. 28, 384, 387.
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die herrschende Lehre zubewegt. Das BayObLG hatte die Sache dem 1. Senat vorgelegt, um klären zu lassen, ob das Revisionsgericht an die tatsächlichen Erkenntnisse des Tatrichters in einem Verwerfungsurteil nach § 329 Abs. 1 StPO darüber gebunden sei, ob der Angeklagte zur Berufungsverhandlung ordnungsgemäß geladen worden ist. Der 1. Senat hat zwar die Vorlagevoraussetzungen nach § 121 Abs. 2 GVG verneint. In einem obiter dictum hat er gleichwohl ausgeführt, daß seiner Meinung nach das Revisionsgericht an die fraglichen tatsächlichen Feststellungen des Tatrichters darüber, wo der Angeklagte im Zeitpunkt der Ladung wohnte — unabhängig davon, ob diese Feststellungen im Frei- oder im Strengbeweis getroffen worden seien — wegen der überragenden Bedeutung des rechtlichen Gehörs des Angeklagten nicht gebunden sei; vielmehr biete sich an, daß das Revisionsgericht auf eine entsprechende Rüge des Angeklagten (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), wie das auch sonst bei prozessual erheblichen Tatsachen der Fall sei, die Voraussetzungen der ordnungsgemäßen Ladung im Wege des Freibeweises überprüft, notfalls ergänzt und selbständig würdigt. Außerdem weist der 1. Senat darauf hin, daß der Bundesgerichtshof auf die Revision des Angeklagten gegen ein Abwesenheitsurteil nach § 231 Abs. 2 StPO wegen der elementaren Bedeutung des Rechts auf Anwesenheit ebenfalls selbständig nachprüft, ob der Angeklagte das rechtliche Gehör dadurch verwirkt hat, daß er eigenmächtig ausgeblieben ist 35 . Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Die gleichen Erwägungen gelten jedoch zwanglsäufig für die revisionsrichterliche Prüfung sämtlicher Voraussetzungen des Verwerfungsurteils, also auch für die Frage, ob der Angeklagte ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben war. f ) Nur ein einziges Argument der Gegenmeinung läßt sich nicht widerlegen. Wenn der Revisionsrichter auf eine entsprechend § 344 Abs. 2 StPO erhobene Verfahrensrüge die Voraussetzungen des Verwerfungsurteils selbständig voll nachprüfen kann, so darf er dabei auch solche Tatsachen berücksichtigen, die dem Tatrichter weder bekannt noch erkennbar waren. Für diese Fälle hat der Gesetzgeber jedoch ersichtlich das Wiedereinsetzungsverfahren vorgesehen (§§412 Satz 1, 329 Abs. 3 StPO). Die umfassende Prüfungsbefugnis des Revisionsgerichts macht den Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung daher überflüssig36. 35 36
BGH bei Pf/M NStZ 1984, 209. BGHSt. 28, 384, 388; KG GA 1973, 29; Meyer in Löwe-Rosenberg, § 337 Rdn. 92; Hanack (Fn. 25) § 337 Rdn. 92.
StPO 23. Aufl.,
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IV. Aus dieser richtigen Erkenntnis darf jedoch nicht der falsche Schluß gezogen werden, das Revisionsgericht sei eben doch an die nur prozessual erheblichen tatsächlichen Feststellungen in dem Verwerfungsurteil gebunden. Aus den bisherigen Darlegungen ergibt sich vielmehr, daß der Rechtsschutz gegenüber den Verwerfungsurteilen durchschaubarer, zügiger und wirksamer wird, wenn man de lege ferenda auf das überflüssige Wiedereinsetzungsverfahren verzichtet und so vom mehrgleisigen zum eingleisigen Rechtsschutz gelangt. 1. Da die Verwerfung des Einspruchs gegen den Strafbefehl durch das Amtsgericht nach § 412 StPO in dem Berufungsverfahren ohnehin uneingeschränkt nachgeprüft wird, ist hier das Wiedereinsetzungsverfahren schon heute überflüssig. Schafft man es ab, so sollte in einfach gelagerten Fällen das Berufungsgericht nach dem Vorbild des § 349 Abs. 4 StPO dazu befugt sein, das Verwerfungsurteil zugunsten des Angeklagten durch — soweit die Große Strafkammer entscheidet, einstimmigen — Beschluß, also ohne Durchführung einer Hauptverhandlung, unanfechtbar aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen 37 . Darüber hinaus sollte das Berufungsgericht die Möglichkeit haben, in Anlehnung an § 349 Abs. 2 StPO ersichtlich erfolglose Berufungen auf Antrag der Staatsanwaltschaft (einstimmig) durch Beschluß zu verwerfen. Diese Beschlüsse müßten jedoch im Hinblick auf die Bedeutung des rechtlichen Gehörs begründet werden und für den Angeklagten mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar sein. Die verbleibenden zweifelhaften Verwerfungsurteile werden in der Hauptverhandlung überprüft. Dabei ermittelt das Berufungsgericht die maßgeblichen Tatsachen grundsätzlich im Freibeweisverfahren. Verbleibende Zweifel wirken sich zugunsten des Angeklagten aus. 2. Die Revision gegen die Urteile nach § 329 Abs. 1 StPO richtet sich nach den allgemeinen Regeln. Insbesondere stehen dem Revisionsgericht die Erledigungsarten durch Beschluß nach § 349 StPO zur Verfügung. Die Richtigkeit der Tatsachen, auf die der Angeklagte seine Verfahrensrüge stützt (§§ 344 Abs. 2 Satz 2, 352 Abs. 1 StPO), prüft das Revisionsgericht unter Beachtung der Beweiskraft des Sitzungsprotokolls (§ 274 StPO) im Freibeweisverfahren. Der Angeklagte hat keine Beweislast. Anders als im Berufungsverfahren gehen verbleibende
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BGH NStZ 1989, 487.
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Zweifel hier jedoch entsprechend der herrschenden Meinung 38 zu seinen Lasten. Der gegenteiligen Ansicht des Oberlandesgerichts Stuttgart 39 kann nicht gefolgt werden. In dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall konnte im Freibeweisverfahren nicht geklärt werden, ob die Behauptung des Angeklagten zutraf, eine Benachrichtigung über die Niederlegung der Ladung zur Berufungsverhandlung sei in seinem Briefkasten nicht vorzufinden gewesen. Daß im Berufungsverfahren über die Wirksamkeit der Verwerfung des Einspruchs gegen den Strafbefehl der Grundsatz in dubio pro reo gilt, ist deshalb gerechtfertigt, weil im Strafbefehlsverfahren der Angeklagte grundsätzlich ohne vorherige gerichtliche Anhörung (§ 407 Abs. 3 StPO) aufgrund der Aktenlage verurteilt worden ist, während er sich im Regelfall der Verwerfung seiner Berufung durch Sachurteil bereits in der Hauptverhandlung im ersten Rechtszug gegen den Anklagevorwurf verteidigen konnte. Der Hinweis des Oberlandesgerichts auf die Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo durch den Bundesgerichtshof bei der revisionsrichterlichen Überprüfung der Eigenmächtigkeit des Fernbleibens des Angeklagten im Falle des Abwesenheitsurteils nach § 231 Abs. 2 StPO ist aus dem gleichen Grund nicht stichhaltig. Denn auch bei § 231 Abs. 2 StPO geht es um den Schutz des Anwesenheitsrechts des Angeklagten in der Hauptverhandlung des ersten Rechtszuges. Schließlich liegt auch keine der Ausnahmen vor, die in Rechtsprechung und Literatur etwa dann gemacht werden, wenn der vorgeschriebene urkundliche Nachweis der Ladung zur Hauptverhandlung durch die Justizorgane nicht erbracht werden kann 40 . Die durch den Wegfall des Wiedereinsetzungsverfahrens zu erwartende Mehrbelastung der Revisionsgerichte ist im Hinblick auf das wenig aufwendige Freibeweisverfahren als gering zu veranschlagen und stünde jedenfalls in keinem Verhältnis zur Entlastung der Amts- und Landgerichte. Der entscheidende Vorteil des eingleisigen Rechtsschutzes läge darin, daß er durchschaubarer, zügiger und wirksamer wäre.
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BGHSt. 16, 167; Kleinkmcht\Meyer (Fn. 2) § 352 Rdn. 6; Pikart In Karlsruher Kommentar, StPO 2. Aufl., § 352 Rdn. 13; kritisch Hanack (Fn. 25) § 337 Rdn. 76. NStZ 1989, 91. Vgl. die Nachw. bei Hanack (Fn. 25) § 337 Rdn. 76 Fn. 129.
Beweisverbote als Prozeßhandlungshindernisse RAINER PAULUS
Thema ist nicht eine rechtsinhaltliche Legitimierung 1 , sondern die prozeßlogische Struktur der Beweisverbote als „Prozeßhandlungs"Hindernisse. Aus ihr erhellt, daß — etablierter Dogmatik zuwider — BeweisirA^««gxverbote nicht Grund, sondern (selbstverständliche) Folge von Yicvieisperwertungsvcrhottn sind und daß ihre Fernwirkung nicht faktisch-kausal, sondern nur (prozeß-)rechtlich begründbar ist 2 .
I. Begriff der „Prozeßhandlung" Der Ertrag wissenschaftlicher Bemühungen um einen Begriff der „Prozeßhandlung" ist bemerkenswert gering geblieben; der. Streit um ihn ist — ungelöst — „gewissermaßen zum Stillstand gekommen" 3 . Die Auffassung, der Terminus „Prozeßhandlung" bezeichne einen für alle Verfahrensarten gültigen einheitlichen „prozessualen Grundbegriff' 4 , der als solcher durchaus notwendig und fruchtbar sei 5 , erweist sich bei näherem Zusehen als unhaltbar. Angesichts methodisch verfehlter Ansatzpunkte darf nicht verwundern, daß „beinahe jede Arbeit ' Dazu näher Verf., KMR-Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 1990, Rdn. 80 vor § 48 und §244 Rdn. 483 ff, 5 1 2 - 5 2 2 . 2 Beide — hier näher zu begründenden — Ergebnisse habe ich bereits anderweitig ausgeführt (zuletzt: Rechtsdogmatische Bemerkungen zum Urkundenbeweis in der Hauptverhandlung des Strafverfahrens, JuS 1988, 873, 875 f (sub Il.l.a). 3 Baumgärtel, Neue Tendenzen der Prozeßhandlungslehre, ZZP 87 (1974), S. 121. Vgl. auch Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rdn. 130; Gössel, Überlegungen zur Zulässigkeit im Strafverfahren etc., H. Kaufmann-GedS 1986, S. 977, 984. 4 Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen, 1950, S. 82. Ähnlich Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 90 Fn. 3; Sauer, Allg. Prozeßrechtslehre, 1951, S. 130; Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, Teil I, 2. Aufl. 1964, Rdn. 94 Fn. 204. Vgl. auch R. Bruns, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. 1979, Rdn. 99: Prozeßhandlungen als „kleinste Verfahrenseinheiten". 5 Niese (o. Fn. 4), S. 82; Baumgärtel (o. Fn. 3), S. 2 ff; Baumann, Grundbegriffe und Verfahrensprinzipien des Strafprozeßrechts, 3. Aufl. 1979, S. 138 ff, 142; Schlüchter (o. Fn. 3), Rdn. 130. — A. M.: Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 3. Aufl. 1982, § 23 I; Dencker, Willensfehler bei Rechtsmittelverzicht und Rechtsmittelzurücknahme im Strafprozeß, 1972, S. 18 ff.
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Rainer Paulus
über Prozeßhandlungen ... mit der Aufstellung eines eigenen Prozeßhandlungs-Begriffs" beginnt6 und bezweifelt wird, ob es einen einheitlich-konturierten Begriff der „Prozeßhandlung" überhaupt gebe7. 1. Herkömmliche
Definitionsversuche
a) Deduktiv aus dem „Wesen" des Prozesses abgeleitet ist nach der ältesten8, im zivilprozessualen9 Schrifttum10 aber noch immer ganz überwiegend vertretenen Prozeßrechtstheorie der Prozeß ein — öffentlich-rechtliches — Rechtsverhältnis, d. h. die Gesamtheit der prozessualen Rechtsbeziehungen zwischen den Verfahrensbeteiligten11. Antithetisch
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Niese (o. Fn. 4), S. 82. Sax, KMR (o. Fn. 1), Einl. X 1; Grunsky (o. Fn. 5), § 23 I. Begründet von Bülow, Die Lehre von den Proceßeinreden und Proceßvoraussetzungen, 1868 (vgl.S. 1: „Verhältnis gegenseitiger Berechtigung und Verpflichtung, d. h. ein Rechtsverhältnis"), und Kohler, Der Prozeß als Rechtsverhältnis, 1888, zurückgehend auf die Scheidung von mat. Recht (subj. Anspruch) und Prozeßrecht (actio) bei Windscheid, Die Actio des röm. Zivilrechts vom Standpunkt des heutigen Rechts, 1856. Zum Ganzen Simshäuser, Zur Entwicklung des Verhältnisses von mat. Recht und Prozeßrecht seit Savigny, 1965. Gleiches gilt für die ältere strafproz. Literatur: Birkmeyer, Dt. Strafprozessrecht, 1898, S. 5 („ein öffentliches, in fortschreitender Entwicklung begriffenes Rechtsverhältnis zwischen Gericht und Parteien ..."); v. Kries, Lehrb. des Dt. Strafprozeßrechts, 1892, § 2 I (S. 4 f ) ; Ulimann, Lehrb. des Dt. Strafprocessrechts, 1893, S. 10; Bennecke, Lehrb. des Dt. Reichs-Strafprozeßrechts, 1895, S. 6; Rosenfeld, Der Reichs-Strafprozeß, 4./5. Aufl. 1912, S. 28 f. — Ähnlich neuerdings Dimitrijevic, Handlungsbegriff und Rechtsverhältnis im Strafverfahren, K. Peters-FS 1974, S. 253, 258 ff; mit Einschränkungen auch Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Aufl. 1968, S. 116, und Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, § 16 I. Nikisch, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. 1952, § 4 II 1; Schönke\Schröder\Niese, Lehrb. des Zivilprozeßrechts, 8. Aufl. 1956, § 2 I; Blomeyer, Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. 1985, § 11 II; SchönkejKuchinke, Zivilprozeßrecht, 9. Aufl. 1969, § 4 1, II; Stein/Jonas/Pohle, Kommentar zur ZPO, 19. Aufl. 1972, Einl. E II 1; Stein/Jonas/Schumann, Kommentar zur ZPO, 20. Aufl. 1980 ff, Einl Rdn. 228 m. w. Nachw. in Anm. 1; Rosenberg!Schwab, Zivilprozeßrecht, 14. Aufl. 1986, § 2 1 1 ; Jauernig, Zivilprozeßrecht, 22. Aufl. 1988, § 32 III; Nakano, Das Prozeßrechtsverhältnis, ZZP 79 (1966), S. 99, 105 ff. Weitere Nachw. in Fn. 11. Nach heute h. M. in der Zivilprozeßliteratur i. S. eines dreiseitigen Rechtsverhältnisses sowohl zwischen Gericht und Parteien als auch den Parteien untereinander. Vgl. Blomeyer, Pohle, Schumann, Rosenberg]Schwab, alle aaO (Fn. 10); Wach, Handb. des dt. Civilprozeßrechts, 1. Bd. 1885, § 4 V; Zöller ¡Vollkommer, Zivilprozeßordnung, 15. Aufl. 1987, Einl. II 1. Ebenso Ulimann u. v. Kries, aaO (Fn. 9), sowie Henkel (o. Fn. 9), S. 114 (einschränkend für das Strafverfahren). — A. M. (Rechtsverhältnis nur zwischen Gericht und Parteien): Hellwig, System des dt. Zivilprozeßrechts, Teil 1, 1912, § 138 II; Nakano (o. Fn. 10), S. HOff; ähnlich Peters (o. Fn. 9), § 16 II (zum Strafprozeß). — Wiederum a. M. (Rechtsverhältnis allein zwischen den Parteien): Kohler (o. Fn. 8), S. 6 ff.
Beweisverbote als Prozeßhandlungshindernisse
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zu dieser rechtskonstruktiven Methode hat J. Goldschmidtn in empirischphänomenologischer, „moralinfreier"13 Sicht den in der Strafprozeßlehre14 nunmehr herrschenden Begriff der Rechtslage15 als „Inbegriff von prozessualen Aussichten, Möglichkeiten, Lasten und Befreiungen von Lasten einer Partei"16 entwickelt und den Prozeß als einen dynamischen17, von Prozeßlage zu Prozeßlage sich fortentwickelnden Vorgang charakterisiert18. Auf dieser Grundlage werden „Prozeßhandlungen" als Akte definiert, die den Prozeß als „Rechtsverhältnis" bzw. als „Prozeßlage" gestalten19. Eine Kritik jener beiden Gegenpositionen muß, was Einzelheiten angeht, Bezug nehmen auf anderweitige Literatur20 und als wesentliches Ergebnis konstatieren, daß derzeit keine von ihnen mehr ihrem jeweiligen methodischen Ansatz gemäß puristisch vertreten wird, sondern daß die „statische" Theorie des „Prozeßrechtsverhältnisses" stark modifiziert worden ist durch Anerkennung der unbestreitbaren Dynamik des Prozesses21, und daß umgekehrt auch die „Prozeßlagendoktrin" heute die Verbindlichkeit rechtlicher Maßstäbe für die Bewertung pro12 13 14
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Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925. Goldschmidt, (o. Fn. 12), S. 292. Niese (o. Fn. 4), S. 57 ff; Eb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 5 0 - 5 6 ; Foth, Reines Prozeßrecht, Diss. 1953, S. 30 ff; Henkel (o. Fn. 9), S. 114 f; Sax, KMR (o. Fn. 1), Einl. I 2; ders., Das unrichtige Sachurteil als Zentralproblem der allg. Prozeßrechtslehre, ZZP 67(1954) S. 21, 23 f. Besser, weil eben „rechtsfrei" verstanden, wäre die Bezeichnung „prozessuale Lage" (vgl. Sax [o. Fn. 14], S. 22 Anm. 6) oder „Prozeßlage". Goldschmidt (o. Fn. 12), S. 259. Goldschmidt (o. Fn. 12), S. 227 ff. Vgl. zur Gegenauffassung etwa Hasenbergl Schwab (o. Fn. 10), § 2 I 2: „Der Prozeß als Ganzes ist ein Rechtsverhältnis, die einzelnen Stadien der Prozeßführung sind Rechtslagen". Vgl. z. B. Niese (o. Fn. 4), S. 24 ff, 5 7 - 8 0 u. pass.; Foth (o. Fn. 14), S. 30 ff; Eb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 5 0 - 5 6 ; Henkel (o. Fn. 9) S. 114f; Sax, KMR (o. Fn. 1), Einl. I 1; ders. (o. Fn. 14), S. 22 ff; Kleinknecht\Meyer, StPO, Kommentar, 39. Aufl. 1989, Einl. 2. In diesem Sinn z. B. Goldschmidt (o. Fn. 12), S. 363, 498; Niese (o. Fn. 4), S. 85; Eb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 203; KleinknechtjMeyer (o. Fn. 18), Einl. 95; BayObLG MDR 1976, 165. — Für das zivilproz. Schrifttum vgl. Arens, Willensmängel bei Parteihandlungen im Zivilprozeß, 1968, S. 38; Rosenbergj Schwab (o. Fn. 10), § 63 V; Zöllerj Stephan (o. Fn. 11), Anm. II vor § 128; ThomasfPut^o, ZPO, 15. Aufl. 1987, Einl. III 1 J a u e r n i g (o. Fn. 10), § 30 I. Gegen die Lehre vom „Prozeßrechtsverhältnis" vgl. die in Fn. 12 und 19 angeführte Literatur. Zur Kritik der „Rechtslagentheorie" s. die Nachw. in Fn. 10 sowie Konten, Rechtsverhältnisse zwischen Prozeßparteien, 1976, S. 113 ff, 121 ff. Worauf schon Bülow (o. Fn. 8), S. 2 f (Prozeß als „stufenweise vorwärtsschreitendes, sich von Schritt zu Schritt entwickelndes Rechtsverhältnis") hingewiesen hatte. Vgl. auch Glaser, Handb. des Strafprozesses, Bd. I, 1883, S. 3 (Prozeß als „Vorgang"), und Beling, Dt. Reichsstrafprozeßrecht, 1928, S. 102 („der Prozeß ist Tätigkeit, kein ,Verhältnis*").
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zessualer Vorgänge durchweg anerkennt: ein Indiz dafür, daß beide Grundauffassungen sich möglicherweise gar nicht gegenseitig ausschließen, sondern einander ergänzen. Diese Vermutung verdichtet der Befund, daß beide Prozeßauffassungen den Prozeß lediglich in seinen verschiedenen Erscheinungsformen erfassen: als „Prozeßrechtsverhältnis" ausgehend von einer konstruktiven — als rechtliche Einheit jedoch nicht begründbaren — Zusammenfassung der Vielzahl Prozeßrecht lieh geregelter Situationen, die den Verfahrensbeteiligten22 entstehen können, als „Prozeßlage" aber anknüpfend allein an das seinsmäßige Prozeßgeschehen. Daraus sind jedoch keine zureichenden inhaltlichen Merkmale für einen Begriff der „Prozeßhandlung" ableitbar. Dies zeigen schon die völlig kontroversen Ergebnisse, zu denen jene beiden Ansätze — bemerkenswerterweise querbeet und nicht getrennt nach den Grundauffassungen — geführt haben. Strittig ist z. B., ob Prozeßhandlungen „das prozessuale Geschehen unmittelbar beeinflussen" müssen23 oder ob mittelbare Einwirkungen genügen24, ob unter Prozeßhandlungen nur willensgemäße Auslösungen prozessualer Wirkungen25 fallen oder alle verfahrenserheblichen Verhaltensweisen26, insbesondere auch Realakte27 und beweisrelevante Wissensbekundungen (Aussagen)28, ob es
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Dazu unten Fn. 3 0 - 3 2 . Sax, KMR (o. Fn. 1) Einl. X 1. Vgl. auch RGZ 160, 241, 242; Siegert, Prozeßhandlungen, ihr Widerruf und ihre Nachholung, 1929, S. 4, 23, 24; Baumgärtel (o. Fn. 3), S. 78; Baur, Richtermacht und Formalismus im Verfahrensrecht, in: Summum ius summa iniuria, 1963, S. 97, 114; Henkel (o. Fn. 9), S. 30. RGZ 77, 324, 329; Sauer, Grundlagen des Prozeßrechts, 2. Aufl. 1929, S. 167, 168 Fn. 3; Stein/Jonas/Pohle (o. Fn. 10), Anm. XI 1 c Fn. 134 vor § 128; Rotenberg)Schwab (o. Fn. 10), § 63 IV. Peters (o. Fn. 9), § 32 II 2; Roxi», Strafverfahrensrecht, 21. Aufl. 1989, § 22 A I („wie z. B. Strafantrag, Anklage, Haftbefehl, Anordnung der Hauptverhandlung, Urteil, Rechtsmitteleinlegung"). H. M.; vgl. etwa Goldschmidt (o. Fn. 12), S. 457 ff, 512; Baumann (o. Fn. 5), S. 140; Kleinknecht/Meyer (o. Fn. 18), Einl. Rdn. 95; Peters (o. Fn. 9), § 32 II 2, 9 (beschränkend auf „die proz. Rechtssphäre berührende Akte"); Dencker (o. Fn. 5), S. 21 Fn. 51; w. Nachw. in Fn. 27. Z. B. Öffnen der Saaltüren als Herstellung der Öffentlichkeit (Beling [o. Fn. 21], S.) 163; - a. M.: Peters [o. Fn. 9], § 32 II 2), Aktenvorlage (BGHSt. 26, 384; zu § 69 OWiG vgl. BayObLG MDR 1976, 165), Befragungen und Vernehmungen (Beling, aaO); Eb. Schmidt [o. Fn. 4], Rdn. 219; Henkel [o. Fn. 9], S. 237 Anm. 9; Peters [o. Fn. 9], § 32 II 9), Belehrungen und Benachrichtigungen durch den Vorsitzenden {Eb. Schmidt [o. Fn. 4], Rdn. 225 m. weit. Beisp.). Allg. bejahend: Beling (o. Fn. 21), S. 163, Henkel (o. Fn. 9), S. 236, und Sax, KMR (o. Fn. 1) Einl. X 1 (je m. Hinw. auf unmittelbare Beeinflussung richterl. Überzeugungsbildung); Sauer (o. Fn. 4), S. 40; Eb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 202 Anm. 358. Generell verneinend : Peters (o. Fn. 9), §32 II 8; Roxin (o. Fn. 25), § 22 A I, KleinknechtjMeyer (o. Fn. 18), Einl. Rdn. 95; Zipf, Strafprozeßrecht, 2. Aufl. 1977, S. 92.
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Prozeßhandlungen durch Unterlassen gebe 29 und ob als Prozeßhandlungssubjekte nur Prozeßbeteiligte im engeren Sinn 30 in Betracht kommen 31 oder auch Dritte 32 . Der entscheidende Einwand freilich richtet sich gegen die Methodik jener Begriffsbildung. Rechtsbegriff sind weder „sachlogisch" noch aus einer „Natur der Sache" begründbar: es ist fehlerhaft, den Begriff der „Prozeßhandlung" als vorgegeben in den Raum zu stellen und — in der Denkweise empirischer Wissenschaften — erst dann (kreisschlußverdächtig) zu untersuchen, was er bedeute, insbesondere dabei dem Gesichtspunkt der „Handlung" zentrale Bedeutung beizumessen 33 , gar den Prozeßhandlungsbegriff praeter legem aus dem allgemeinen Handlungsbegriff abzuleiten 34 . Vielmehr ist rechtsinhaltlich zu beantworten, ob die Bildung eines Begriffs der „Prozeßhandlung" überhaupt sinnvoll ist und ggf. welche Merkmale ihn prägen. b) Ein zweiter Versuch geht dahin, das für eine „Prozeßhandlung" sinngebende Begriffsmerkmal teleologisch-funktional von dem mit ihr verfolgten Zweck bzw. erstrebten Ziel her zu bestimmen und diese in der Gewinnung eines Urteils35, teils sogar eines das materielle Recht verwirklichenden Sachurteils 36 , zu sehen. Auch diese Maßstäbe erweisen sich als untauglich: aa) Bereits empirisch-statistisch enden keineswegs alle Strafverfahren mit einem Urteil. Die weitaus meisten werden (prozeßförmig) auf andere Weise erledigt, etwa nach dem Opportunitätsprinzip (§§ 153 ff, 383 II 29
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H. M.; vgl. Baumgärtel (o. Fn. 3), S. 28 (dort m. w. Nachw. in Anm. 147); Jauerttig (o. Fn. 10), § 30 IV. - A. M.: Siegert (o. Fn. 23), S. 21; Sax (o. Fn. 14), S. 23 Anm. 9. Dazu gehören nach h. M. nur Richter, Ankläger (Staatsanwalt, Privat- und Nebenkläger), Beschuldigte (einschließlich Nebenbeteiligte gem. §§ 431, 442 II, 444 StPO) und Verteidiger, grundsätzlich aber nicht Zeugen und Sachverständige (BVerfG NJW 1975, 103, 104; Eb. Schmidt [o. Fn. 4], Rdn. 76; Peters [o. Fn. 9], § 16 IV 1). RGZ 77, 324, 329; Eb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 222; Schlüchter (o. Fn. 3), Rdn. 164. Etwa Anzeigeerstatter, Strafantragsteller (vgl. Peters [o. Fn. 9], § 16 IV 1; Sax, KMR [o. Fn. 1] Einl. X 1) oder Beweispersonen (Beling [o. Fn. 21], S. 163; Kleinknechtj Meyer [o. Fn. 18], Einl. Rdn. 95; Riiping, Das Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, S. 15). Vgl. z. B. Stein\Jonas\Pohle (o. Fn. 10), Anm. X 2 vor § 128; Baumgärtel (o. Fn. 3), S. 22 ff. So aber Siegert (o. Fn. 23), S. 18, 24; Roeder, Die Begriffsmerkmale des Urteils im Strafverfahren, ZStW 79 (1967), S. 250, 259 f. RGZ 56, 331, 334; Goldschmidt (o. Fn. 12), S. 124, 288, 289 Anm. 1494; Eb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 202 (Prozeßhandlungen seien Handlungen der Prozeßbeteiligten, „die die dynamische Entwicklung des Prozesses von einer Lage zur anderen mit dem Ziel auf Verwirklichung und Gewinnung eines Urteils bewirken und die durch ihre Urteilsbezogenheit zu einer Sinneinheit zusammengeschlossen werden"). Niese (o. Fn. 4), S. 126; Sax (o. Fn. 14), S. 23, 40; Eb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 230, 235; Baumgärtel (o. Fn. 3), S. 87 f, 93; Henchel, Prozeßrecht und materielles Recht, 1970, S. 33.
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StPO, 47 OWiG) oder durch Entscheidungen nach §§ 170 II, 204 StPO. Beschränkt man in Erkenntnis dessen die Funktion von „Prozeßhandlungen" auf die „Fortentwicklung"37 oder „Gestaltung"38 des Verfahrens, ist der darin liegende Kreisschluß evident: den Prozeß gestaltende Akte seien Prozeßhandlungen, wenn sie den Prozeß gestalten (können und dazu bestimmt sind). Auch rechtlich ist das (Sach-)Urteil weder innerprozessuales noch ideales („metaphysisches") Ziel des Strafverfahrens. Denn gegen die h. M., Verfahrensrecht bezwecke die „Verwirklichung des materiellen Rechts"39 durch „Bestrafung Schuldiger und Schutz Unschuldiger"40 in einem auf materieller „Wahrheit und Gerechtigkeit"41 gründenden Urteil, ist einzuwenden: Daß „materielles Recht verwirklicht" werde, ist zunächst kein prozeßrechtliches Gebot, sondern ein solches der — als hypothetische Imperative strukturierten — Straf normen: „Wer einen Straftatbestand verwirklicht, soll bestraft werden". Derart präventive Rechtsgüterschutzfunktion hat zwar auch das Prozeßrecht (gesetzgeberische „Primärwertung"42); denn „Strafrecht ohne Strafprozeß ist 37 38
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Siegert (o. Fn. 23), S. 60. RGZ 77, 324, 329; BayObLG MDR 1976, 165; Sauer (o. Fn. 4), § 9 II 2; den. (o. Fn. 24), S. 168 f; Stein/Jonas! Pohle (o. Fn. 10), Anm. XI 1 c vor § 128; Zöllerl Stephan (o. Fn. 11), Anm. B II 1 vor § 128; Jauernig (o. Fn. 10), § 30 IV; w. Nachw. bei Baumgärtel (o. Fn. 3), S. 58 Anm. 378. v. Grolmann, Grundsätze der Criminalrechts-Wissenschaft, 4. Aufl. 1825, § 422; Ahegg, Lehrb. des gemeinen Criminal-Prozesses, 1833, S. 3; Mittermaier, Die Lehre vom Beweise im deutschen Strafprozesse, 1834, S. 1; Köstlin, Der Wendepunkt des deutschen Strafverfahrens im 19. Jahrhundert, 1848, S. 18; Zachariae, Handb. des deutschen Strafprozesses, Bd. I, 1. Abt., 1861, S. 38; Geyer, Lehrb. des gemeinen deutschen Strafproceßrechts, 1880, S. 3; Glaser (o. Fn. 21), S. 276 f; v. Kries (o. Fn. 9), S. 1; Vargha, Das Strafprozessrecht, 2. Aufl. 1907, S. 35; Beling (o. Fn. 21), S. 25; R. v. Hippel, Der Deutsche Strafprozeß, 1941, S. 3; Sauer (o. Fn. 24), S. 615; Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. (hrsg. von E.Wolf) 1963, S. 281; Niese (o. Fn. 4), S. 31; Sax (o. Fn. 14), S. 43; Eh. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 20, 24; Henkel (o. Fn. 9), S. 17, 84; P f e i f f e r , Karlsruher Kommentar zur StPO (KK), 2. Aufl. 1987, Einl. Rdn. 1; BVerfG N J W 1966, 243, 1259 u. 1703; 1972, 2216 u. stand. Rspr. - Im Zivilprozeß: RGZ - GrS - 158, 55; BGHZ 10, 350, 359; Gaul, Zur Frage nach dem Zweck des Zivilprozesses, AcP 168 (1968), S. 27, 53, 59; Stein!Jonas (Pohle (o. Fn. 10), Einl. C I; Fn- 10)> § 1 HI 1. RosenbergjSchwab Kleinschrod, Grundzüge der Theorie von Beweisen in peinlichen Sachen, ACrR IV (1802), 3. Stück, S. 44 ff; 96; Geyer (o. Fn. 39), S. 3; 1Vach, Das Recht der Zeugnisverweigerung, GS 66 (1905), S. 1, 3; Beling (o. Fn. 21), S. 27; Kohlrausch, Strafprozeßordnung und GVG, 24. Aufl. 1936, S. 7; Eh. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 21; Henkel (o. Fn. 9), S. 88. Hinweis auf das Wahrheitspostulat z. B. bei RGSt. 72, 156; Ahegg (o. Fn. 39), S. 40; Geyer (o. Fn. 39), S. 4; Eh. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 20, 329; Jescheck, Der Strafprozeß — Aktuelles und Zeitloses, J Z 1970, 201, 204; Krause, Grenzen richterlicher Beweiswürdigung im Strafprozeß, K. Peters-FS 1974, S. 323, 328. Verf., KMR (o. Fn. 1), § 244 Rdn. 5.
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ein Messergriff ohne Klinge und Strafprozeß ohne Strafrecht eine Klinge ohne Messergriff' 43 . Jedoch verschafft angesichts des Opportunitätsprinzip der Legalitätsgrundsatz (§ 152 II StPO) den materiellrechtlichen Imperativen nur beschränkt Geltung im prozessualen Raum, und selbst im Rahmen des Legalitätsprinzips ist eine materiell-rechtliche Sachentscheidung vielfach eingeschränkt oder sogar gehindert z. B. durch Beweisverbote, Prozeßhindernisse, das Verbot der reformatio in peius (§§ 331, 358 II, 373 II StPO) oder die nur begrenzte Anfechtbarkeit des Urteils mit der Revision (§§ 337 StPO): Wahrheitserforschung (§§ 160 I, 244 II StPO) „nicht um jeden Preis" 44 , sondern nur unter bestimmten, weiteren schutzwürdigen Interessen45 Rechnung tragenden „justizförmigen" Voraussetzungen (legislatorische „Sekundärwertung" 42 ). bb) Das Ziel des Strafverfahrens ist vielmehr pro^eßspe^ifisch, vom materiellen Recht also unabhängig, zu formulieren: In formeller (innerprozessualer) Hinsicht ist es die „justizförmige" Entscheidung ( = wahre, d. h. rechtsrichtige „Aussage" 46 ) der Staatsanwaltschaft bzw. des Gerichts über den „Prozeßgegenstand", also darüber, ob die Prozeßvoraussetzungen bestehen (§§ 170; 203, 204; 205; 206 a; 260 III StPO) und ggf. der Beschuldigte eine Straftat wahrscheinlich (§§ 170; 203, 204 StPO) bzw. überzeugungssicher (§§ 260 I, 261 StPO) begangen hat oder (möglicherweise) nicht und welches bei bewiesener Tat die materiell (§§ 3 8 - 7 6 a StGB) oder formell (z. B. §§ 153ff, 383 II StPO) im Einzelfall rechtsrichtige, „angemessene" (strafrechtliche) Folge dieser Tat sei47. — In staatsrechtlicher Beziehung ist Verfahrensziel — bei gegebenen Prozeßvoraussetzungen — die „justizförmige" Entscheidung der Staatsanwaltschaft bzw. des Gerichts, ob die Unschuldsvermutung widerlegbar (§§ 170; 203, 204 StPO) bzw. widerlegt (§§ 260 I, 261 StPO) sei48. Das 43
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Mommsert, Römisches Strafrecht, 1899, Vorwort S. VII. Vgl. auch Mittermaier (o. Fn. 39), S. 1: „Nur in der Gewissheit, dass Niemand darauf rechnen darf, dem Arme der strafenden Gerechtigkeit und den verwirkten Strafen seines Unrechts sich entziehen zu können, liegt das sicherste Mittel, welches den zum Verbrechen Entschlossenen von der Begehung der Verbrechen abhalten kann und die Sicherheit der bürgerlichen Gesellschaft garantiert". ' BGHSt. 14, 358, 365; 31, 304, 309. Vgl. unten zu II 3 b. Näher Verf., KMR (o. Fn. 1), Rdn. 4 vor § 33 und § 244 Rdn. 4. Vgl. die tendenziell ähnlichen Auffassungen, Prozeßziel sei die Entscheidung über die Anklage, die Klagebehauptung, den geltend gemachten Strafanspruch (z. B. RGSt. 4, 355, 357; Bennecke [o. Fn. 9], S. 129; Birkmeyer [o. Fn. 9], S. 63; Vargha [o. Fn. 39], 5. 1; Rosenfeld, Dt. Strafprozeßrecht, Bd. I, 1926, S. 18, 26; Baumann [o. Fn. 5], S. 13, 15) oder die „Verdachtsklärung" ( K r a u f i , Der Grundsatz der Unschuldsvermutung im Strafverfahren, in: Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1971, S. 153, 171). Näher Verf., KMR (o. Fn. 1), § 244 Rdn. 3 0 3 - 3 1 0 .
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ist der Fall nur dann, wenn alle tatsächlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit gerichtlichen Prozeßhandelns überhaupt und für die Anwendung materiell-rechtlicher Strafvorschriften prozeßförmig rechtsrichtig festgestellt sind (prozessualer Wahrheitsbegriff 49 ), und zwar unabhängig davon, ob diese Feststellungen der Realität entsprechen (ontologische Wahrheit) oder nicht: rechtlicher Maßstab für ein „Fehlurteil", ein „unrichtiges Sachurteil" sind nicht die Wirklichkeit (das Sein, eine außerprozessuale „materielle" Rechtslage) bzw. die hypothetischen Imperative des materiellen Rechts, sondern die kategorischen Imperative 50 des Verfahrensrechts. Prozeßziel kann also nur die Rechtsstaatlichkeit („Justizförmigkeit") der Durchführung des Verfahrens und die Rechtsrichtigkeit (in den Grenzen der „Vertretbarkeit") seines abschließenden Ergebnisses sein. c) Die verbreitete Formel schließlich, Prozeßhandlungen charakterisiere, daß sie „nach Voraussetzungen und Wirkungen vom Prozeßrecht geregelt" seien 51 , beruht auf einem Kreisschluß: Prozeßhandlungen seien nach Prozeßrecht zu beurteilende Handlungen mit der Folge, daß für sie Prozeßrecht gelte. Zudem läßt sie offen, welcher Art die „Wirkungen" sein müssen. Verlangt man „typische" (prozessuale) Wirkungen 5 2 , etwa unmittelbare Beeinflussung des prozessualen Geschehens 53 , blieben „atypische" prozessuale Folgen begründungslos ausgespart und es würde übersehen, daß schon methodisch eine nur typologische Argumentation der rechtlichen Begriffsbildung nicht genügt. Daß jene Formel indessen einen richtigen Kern aufweist, wird nunmehr die Lösung, wie „Prozeßhandlungen" prozeßdogmatisch einzuordnen sind, zeigen. 2. „Pro^eßhandlungen"
als Konkretisierungen
von
Pro^eßrechtsnormen
a) LösungsansatDa es einen außerrechtlichen Begriff der „Prozeßhandlung" nicht gibt, müssen die ihn konstituierenden Merkmale rechtsinhaltlicher Natur sein. Daraus folgt negativ, daß das Kriterium 49 50 51
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53
Verf. (o. Fn. 2), S. 874 (sub I 1 a). Radbruch (o. Fn. 39), S. 281. Siegert (o. Fn. 23), S. 4, 22, 24; Niese (o. Fn. 4), S. 83, 85; Eb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 203; Peters (o. Fn. 9), § 32 I; Gössel, (o. Fn. 3), S. 978; den., Strafverfahrensrecht, 1977, § 193 I; Bruns (o. Fn. 4), Rdn. 100 b; ThomasjPut^o (o. Fn. 19), Einl. III 1; Jauernig (o. Fn. 10), § 30 IV; ähnl. BGHZ 49, 384, 386. So Baumgärtel (o. Fn. 3), S. 87 f (typische Wirkung einer Prozeßhandlung sei „die Gestaltung der Prozeßentwicklung und die Einwirkung auf das Urteil"). Vgl. auch Lent, Zivilprozeßrecht, 6. Aufl. 1955, § 29 IV: Zu ihrer Unterscheidung von „Nebenwirkungen" sei zu fragen, „welche Wirkung die primäre, charakteristische, nicht wegzudenkende und welche nur aus der anderen abgeleitet, sekundär, begrifflich entbehrlich ist". Sax, KMR (o. Fn. 1) Einl. I 1.
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der „Handlung", weil rechtlich nicht vorgegeben, ohne entscheidende Bedeutung ist, und positiv, daß an die prozessualen Normen des (einfachen) Verfahrensrechts und des Verfassungsrechts anzuknüpfen ist, die überhaupt erst die spezifischen Förmlichkeiten bestimmen, in bzw. unter denen die Überprüfung, ob die Unschuldsvermutung widerlegbar sei, stattfinden darf 54 . Prozessuales Handeln ist daher nichts anderes als nur eine von mehreren Möglichkeiten der Konkretisierung solcher prozessualer Normen; ein nur zeitlicher und räumlicher Zusammenhang eines Aktes oder Vorgangs mit einem Strafverfahren genügt deshalb nicht. b) Folgerungen: Zu den „Prozeßhandlungen" gehören auch Realakte, soweit sie in Konkretisierung prozessualer Normen erfolgen, wie z. B. das Öffnen der Türen des Sitzungssaals als Herstellung der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung (§ 169 GVG), Platzzuweisung in der Hauptverhandlung zur Gewährleistung hinreichender Verteidigungsmöglichkeiten 55 , gesetzlich vorgeschriebene Aktenvorlagen 56 , Benachrichtigungen (z.B. §§ 168 c V, 224 StPO), Unterrichtungen (z.B. §§ 231 a II, 231 b II, 247 S. 4 StPO) und sonstige Hinweise (z. B. § 265 StPO), Belehrungen (z. B. §§ 33 a; 136 I 2, 243 IV 1; 52 III, 55 II; 63 StPO), Entgegennahme von Aussagen (als Teil von Vernehmungen bzw. der Gewährung rechtlichen Gehörs) sowie überhaupt alle Anordnungen der Sachleitung i. S. des § 238 II StPO, Erscheinen des Angeklagten in der Hauptverhandlung (§ 230 StPO), Erscheinen einer Beweisperson sowie Erstattung der Aussage 57 und Eidesleistung 58 . — Prozeßrechtlich falsch gestellt ist die Frage, ob Prozeßhandlungen auch durch Unterlassen möglich seien 59 ; entscheidend ist allein, ob durch die Unterlassung eine Verfahrensnorm prozeßordnungsgemäß konkretisiert worden ist 60 oder nicht 61 . — Gleichgültig ist, ob die Normkonkretisierung unmittelbar oder nur mittelbar auf das Verfahren einwirkt und ob überhaupt sie eine solche „Wirkung" hat. Allenfalls didaktischen Wert 62 hat daher die
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Vgl. unten zu II 3. Verf., KMR (o. Fn. 1) Rdn. 42 vor § 226 m. Nachw. Vgl. o. Fn. 27. Dazu die Nachweise o. Fn. 28. Im Rahmen ihrer allg. Zeugen- bzw. Sachverständigenpflichten (§§ 161 a l l ; 48, 51, 70; 77; 59, 79 StPO). Vgl. die Nachweise o. Fn. 29. Etwa Unterlassen unzulässiger Fragen (§§ 68 a, 241 II StPO) oder Beweiserhebungen (vgl. § 244 III 1 StPO). Im Sinn einer Gesetzesverletzung durch Nichtanwendung einer Rechtsnorm (vgl. § 337 II StPO). Krit. auch Sauer (o. Fn. 4), S. 141; ders. (o. Fn. 24), S. 175; Sax, KMR (o. Fn. 1) Einl. X 3; ders. (o. Fn. 14), S. 24 Anm. 11.
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gängige Unterscheidung 63 zwischen „Erwirkungs-" und „Bewirkungshandlungen". — Ob ein Pro^eßbeteiligter (i. e. Sinn) oder ein Dritter64 eine Prozeßnorm konkretisiert, ist gleichfalls ohne Belang. Im übrigen entzöge bzgl. Dritter sich vernünftiger Einsicht, weshalb die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts (§§ 52 ff StPO), ein Antrag nach § 238 II StPO (etwa bei Fragen i. S. der §§ 68 S. 2, 68 a StPO) durch einen Zeugen oder die Beschwerdeeinlegung gem. § 181 GVG durch einen mit einem Ordnungsmittel nach § 178 GVG in der Hauptverhandlung belegten Zuhörer keine „Prozeßhandlungen" sein sollten. — Prozeßnormen werden prinzipiell „angewandt" auch dann, wenn dies nicht willentlich^, sondern nur zufällig geschieht oder auf einen Willensmangel zurückgeht 66 . — Prozeßhandlung ist insbesondere auch jede (prozedurale) Beweiserhebung (im Streng- und Freibeweis) gem. §§ 160, 244 II StPO und (rational-wertende) Beweis Verwertung durch Begründung (§§ 34, 268 II, 267 StPO) von Tatverdacht (§§ 152 II, 160 I, 170 I; 203, 207; 112 I etc. StPO) und Überzeugung (§261 StPO) als Grundlage prozessualer Entscheidungen i. e. Sinn, von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens bis hin zum Urteil.
II. Bewertung von „Prozeßhandlungen" 1. Differenzierung
^wischen materiell- und prozeßrechtlichen
Wertungen
Zweifelsfrei richtig angesichts der verschiedenen Ziele ( = Zwecke, Werte), die materielles Recht und Verfahrensrecht verfolgen, ist es, wenn demgemäß seit /. Goldschmidt67 und W. Sauer68 die Prozeßrechts-
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Im Anschluß an Goldschmidt (o. Fn. 12), S. 364, 456, 509, teilt die h. M. - vgl. z. B. Niese (o. Fn. 4), S. 89 ff; Eb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 2 1 3 - 2 2 6 ; Henkel (o. Fn. 9), S. 236; Peters (o. Fn. 9), § 32 II 6; Baumann (o. Fn. 5), S. 140; Schlächter (o. Fn. 3), Rdn. 135; Gessel (o. Fn. 51), S. 160; Roxin (o. Fn. 25), § 22 A II - die Prozeßhandlungen ein in Erwirkungshandlungen ( = auf Herstellung einer anderen Prozeßhandlung, zumeist einer richterl. Entscheidung i. e. Sinn, gerichtet, insbes. Anträge) und Bewirkungshandlungen ( = alle anderen Akte, die unmittelbar aus sich selbst heraus den Prozeß gestalten). Vgl. o. Fn. 3 0 - 3 2 . Zutr. Dencker (o. Fn. 5), S. 21 Anm. 51. Zur prinzipiellen Unanfechtbarkeit und Unwiderruflichkeit prozessualer Erklärungen (dazu auch u. Fn. 111) vgl. Sax, KMR (o. Fn. 1) Einl. X 2 4 - 3 6 . Goldschmidt (o. Fn. 12), S. 367 ff. Sauer (o. Fn. 4), S. 518 ff; ders. (o. Fn. 24), S. 105 ff, 227 ff; ders., Jur. Methodenlehre, 1949, S. 518 ff.
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dogmatik unterscheidet zwischen spezifischen Wertkategorien des materiellen Rechts („rechtmäßig — rechtswidrig") und des Prozeßrechts („beachtlich — unbeachtlich"; „gültig — ungültig"; „wirksam — unwirksam"; „zulässig — unzulässig"; „begründet — unbegründet"), die, grundsätzlich voneinander unabhängig, als Maßstäbe rechtlicher Bewertung faktischer Vorgänge (funktional) jeweils nur innerhalb „ihres" jeweiligen (materiellen bzw. prozessualen) „Raumes" gelten. Dabei werden die prozessualen Begriffspaare „gültig — ungültig" und „wirksam — unwirksam" 69 meist zusammengefaßt unter den Kategorien „beachtlich — unbeachtlich" 70 ; die Werturteile „zulässig" ( = formell gestattet) und „begründet" ( = inhaltlich gerechtfertigt) werden den — „beachtlichen" 71 — „Erwirkungshandlungen" zugewiesen 72 , während für „Bewirkungshandlungen" es prinzipiell nur darum gehe, ob sie „beachtlich" seien oder nicht 73 . Ob die in notwendiger Bewertungsverschiedenheit gründende Selbstverständlichkeit, daß auch ein und dasselbe Geschehen, je nach seinem konkreten Funktionszusammenhang, einmal nur materiellrechtlich, das andere Mal ausschließlich prozeßrechtlich zu beurteilen ist, es rechtfertigt, solche Vorgänge in eine Kategorie der „doppelfunktionellen" Prozeßhandlungen 74 einzubinden, darf dahinstehen 75 .
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Diese auf Sauer (o. Fn. 68, aaO) zurückgehende Unterscheidung wurde übernommen z. B. von Baumann (o. Fn. 5), Kap. 4 I 4 a, und Peters (o. Fn. 9), § 33 II. H. M.; vgl. z. B. Hb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 235, 238, 241. „Unbeachtlich" ist eine „Prozeßhandlung, die keinerlei Wirksamkeit (Gültigkeit) besitzt, daher im Fortgang des Verfahrens als nicht vorhanden angesehen werden muß" (Henkel [o. Fn. 9], S. 240). Teilweise wird angenommen (dazu auch Gösse! [o. Fn. 3], S. 983), diese Kategorie gelte für „Erwirkungshandlungen" (o. Fn. 63) nicht (Goldschmidt [o. Fn. 12], S. 370 f; Niese [o. Fn. 4], S. 94 f; Foth [o. Fn. 14], S. 54 ff; Eb. Schmidt [o. Fn. 4], Rdn. 235 m. Anm. 435). Foth (o. Fn. 14), S. 57 f; Eb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 235; Henkel (o. Fn. 9), S. 240 f; Peters (o. Fn. 9), § 33 II 3, 4; Gössel (o. Fn. 3), S. 978; ähnl. Beling (o. Fn. 21), S. 168, 169. Foth (o. Fn. 14), S. 64 f; Eb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 241; Henkel (o. Fn. 9, S. 239 f. Niese (o. Fn. 4), S. 46 ff, 135 ff; ders., Narcoanalyse als doppelfunktionelle Prozeßhandlung, ZStW 63 (1951), S. 199, 215 ff; Foth (o. Fn. 14), S. 30 ff; Eh. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 3 5 - 3 7 , 6 5 - 6 7 ; Henkel (o. Fn. 9), S. 238. Vgl. auch Peters (o. Fn. 9), § 32 II 10: „doppelwirksam". — In Betracht kommen insbes. proz. Zwangsmaßnahmen zur Sicherstellung einer Person oder von Beweismitteln für die Untersuchung, die regelm. zugleich Eingriffe in materiell-rechtliche, oft sogar grundrechtlich geschützte Rechtsgüter darstellen — z . B . §§ 112ff StPO (Art. 2 II GG, § 239 StGB), §§ 81 a, 81 c StPO ( Art. 2 II GG, § 223 StGB), §§ 94 ff StPO (Art. 14 GG, §§ 242, 249 StGB), §§ 102 ff StPO (Art. 13 GG, § 123 StGB), §§ 100 a, 100 b StPO (Art. 10 GG, § 201 StGB) —, deren Pro^eßordnungsmäßigkeit aber jeweils zugleich materiell-rechtlicher Rechtfertigungsgrund ist. Dogmatische Problemfälle sind erst diejenigen mit „pathologischer Doppelfunktion" (Niese [o. Fn. 4], S. 56), d. h. nur materiell
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2. Notwendige Einheitlichkeit der prozessualen
Wertung
a ) U n r i c h t i g indessen ist die a l l g e m e i n e A u f f a s s u n g , die v e r s c h i e d e n e n p r o z e s s u a l e n W e r t u n g e n — „(un)beachtlich", „ ( u n ) g ü l t i g " , „ ( u n w i r k sam", „(un)zulässig", „ ( u n ) b e g r ü n d e t " — seien v o n u n t e r s c h i e d l i c h e r Qualität. In W i r k l i c h k e i t b e d e u t e n sie, p r o z e s s u a l richtig v e r s t a n d e n , alle das gleiche: w i e n u r eine m a t e r i e l l r e c h t l i c h e R e c h t m ä ß i g k e i t ( R e c h t s w i d r i g k e i t ) , so gibt es a u c h v e r f a h r e n s r e c h t l i c h n u r eine Prozeßordnungsmäßigkeit ( P r o z e ß o r d n u n g s w i d r i g k e i t ) , n ä m l i c h die r e c h t s f e h l e r f r e i e (bzw. r e c h t s f e h l e r h a f t e i. S. des § 3 3 7 II S t P O ) K o n k r e t i s i e r u n g prozessualer K a n n - , Soll- oder M u ß Vorschriften76, w o n a c h bestimmte H a n d l u n g e n v e r f a h r e n s r e c h t l i c h e r l a u b t ( = „zugelassen") b z w . s o g a r g e b o t e n o d e r v e r b o t e n , d e r P r o z e ß o r d n u n g also g e m ä ß sind o d e r n i c h t 7 7 . P r o z e ß h a n d l u n g e n sind also stets bereits für sich ( p r o z eß-)geset%-
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rechtswidrige Handlungen, vor allem Straftaten — z. B. strafbare Pflichtverletzungen (i. S. des § 359 Nr. 3 StPO) durch ein Justizorgan (etwa nach §§ 336, 331, 332 StGB) oder einen Dritten (z. B. strafbare Geheimnisoffenbarung i. S. des § 203 StGB im Rahmen verfahrensrechtlich zulässiger Aussagen gem. §§ 53 I, 53 a StPO) —, die nicht auch prozessuales Recht verletzen. Krit. z. B. Sendler, Die Verwertung rechtswidrig erlangter Beweismittel im Strafprozeß usw., Diss. 1956, S. 69; Sax, KMR (o. Fn. 1) Einl. X 4; Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß, 1977, S. 23 f. So i. E. auch Beling (o. Fn. 21), S. 82, 168. Für ihn ist „grundlegend" nur die Unterscheidung zwischen „Zulässigkeit" und „Wirksamkeit" (S. 168). Aber auch diese Einschränkung ist nicht sachgerecht. Belings Hinweise (aaO S. 169 Anm. 1, 203) auf die Verletzung von „Sollvorschriften" (dazu Verf., KMR [o. Fn. 1], § 337 Rdn. 1 7 - 1 8 und NStZ 1986, 521, 522 sub III 1 a) und auf Untersuchungshandlungen eines örtlich unzuständigen Gerichts (§ 20 StPO) als Beispiele „unzulässiger", aber „wirksamer" Prozeßhandlungen lassen unberücksichtigt, daß hier allein auf Grund besonderer Zusatzerwägungen (Verfahrenspraktikabilität bzw. Prozeßökonomie) des Gesetzgebers jedenfalls an sich fehlerhafte Handlungen prozessual ohne Sanktion bleiben und ihre Ergebnisse als prozeßordnungsgemäß gelten sollen (vgl. unten zu II 2 b). Verdeutlicht am Beispiel des Beweisantrags: Er ist das — als typische „Erwirkungshandlung" (o. Fn. 63) verstandene — „beachtliche", „wirksame", „erlaubte", „zugelassene", rechtlich „begründete" Begehren eines dazu Legitimierten, das Gericht möge zur Wahrheitserforschung (§ 244 II StPO) über bestimmt bezeichnete Tatsachen durch Gebrauch bestimmt bezeichneter Beweismittel Beweis erheben; es ist nach §§ 337, 353 I StPO prozessual durchsetzbar, damit verfahrensrechtlich geschützt. Prozeßordnungswidrig wäre es und seine Ablehnung bliebe prozessual sanktionslos, würde den Antrag ein dazu nicht Befugter einbringen oder griffe ein Ablehnungsgrund (§§244 I I I - V , 245 II 2, 3 StPO) ein. Die übliche Wertung, der (zulässige) Beweisantrag sei ersterenfalls auch „begründet", im zweiten Fall aber „unbegründet" (vgl. z. B. Gössel [o. Fn. 3], S. 986), ist in Wahrheit die Bewertung der gerichtl. Entscheidung („Aussage") über diesen Beweisantrag als pro^eßordnungsgemäß („rechtsrichtige Aussage": Ablehnung z. B. „zulässig", weil das Gesetz die mit dem Antrag erstrebte neue „Prozeßlage" mißbilligt) oder pro^eßordnungsa/idrig („rechtsfehlerhafte Aussage": Ablehnung z. B. „unzulässig", weil das Gesetz die begehrte neue „Prozeßlage" wünscht). Dem steht nicht entgegen, daß die rechtsfehlerhafte Zulassung eines
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mäßig ( = „beachtlich", „wirksam", „gültig", „zulässig", „begründet") oder (prozeß-)gesei^widrig ( = „unbeachtlich", „unwirksam", „ungültig", „unzulässig", „unbegründet"). Daß dies in bestimmten Fällen ausdrücklicher Feststellung durch justizielle Entscheidung bedarf, beruht auf weitergehenden Bedürfnissen etwa nach Rechtssicherheit oder Rechtsklarheit 78 . b) Ebenfalls kraft legislatorischer „Sekundärwertung" 79 gibt es „Prozeßhandlungen", die zwar prozeßgesetzwidrig und daher an sich prozessual „unbeachtlich" etc. sind (gesetzgeberische „Primärwertung" 79 ), aber — im Interesse z. B der Verfahrenswirtschaftlichkeit oder Rechtssicherheit — prozeßrechtlich gleichwohl als ordnungsgemäß („wirksam", „gültig", „zulässig", „begründet") gelten80 und (nur) deshalb im weiteren Verfahren „beachtlich" bleiben. Diese Fiktion prozessualer Rechtswirksamkeit kommt zu etwa der gesetzwidrigen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 46 II StPO), der fehlerhaften Eröffnung des Hauptverfahrens (§210 I StPO) oder der unrichtigen Entscheidung des Revisions- und Beschwerdegerichts in letzter Instanz, insbesondere aber auch dem nicht oder nicht ordungsgemäß angefochtenen, rechtsfehlerhaften tatgerichtlichen Urteil 81 , es sei denn, diese Mängel überwiegen den „Sekundärwert" so stark, daß dessen Verwirklichung außer Verhältnis stünde zu anderen Werten (insbesondere der „materiellen Gerechtigkeit") mit der Folge, daß diese Akte wieder als prozeßordnungswidrig (etwa i. S. der „Primärwertung") und damit als von sich aus unwirksam 82 — oder jedenfalls mit Rechtsbehelfen anfechtbar 83 — zu behandeln sind.
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— i. S. des § 244 III 2 — V StPO — prozeßordnungswidrigen Beweisantrags, weil für die durch das Beweisantragsrecht geschützte Wahrheitsfindung und Verteidigung i. d. R. unschädlich, prozessual nicht sanktioniert ist. Z. B. Klarstellung der ordnungsgemäßen Gerichtsbesetzung nach §§ 27, 28 (§§ 22, 23, 24 I) bzw. §§ 222 a, 222 b StPO oder der Rechtsposition des Nebenklägers (§ 395 StPO) gem. § 396 II StPO; Interesse der Prozeßbeteiligten, ihr weiteres Prozeßverhalten sachgemäß gestalten zu können bei Zurückweisung von Fragen (§§ 241 II, 241 a II, 238 II StPO) oder Ablehnung von Beweisanträgen (§ 244 VI StPO); Gesichtspunkt der Rechtskraft bei Verwerfung eines unzulässigen Rechtsmittels bzw. Rechtsbehelfs (§§ 319 I, 322 I; 346 I, 349 I; 368 I; 46 I StPO). Vgl. o. Fn. 42. Es handelt sich um „ein Opfer, das die Logik dem praktischen Bedürfnis bringt" {Niese [o. Fn. 4], S. 101; vgl. auch Goldschmidt [o. Fn. 12], S. 501 f). Vgl. auch die gesetzl. Rügepräklusionen der §§ 6 a, 16, 222 b; 25 I 1, II; 217 II, 218 S. 2 StPO. Etwa „nichtige" Eröffnungsbeschlüsse (dazu Verf., KMR [o. Fn. 1] § 207 Rdn. 3 5 - 3 8 ) oder Urteile (RGSt. 40, 273; 75, 59; BGH NStZ 1984, 279 m. w. Nachw.; näher Roeder [o. Fn. 34], S. 250ff; Eb. Schmidt [o. Fn. 4], Rdn. 2 5 2 - 2 6 3 ; Henkel [o. Fn. 9], S. 2 5 7 - 2 5 9 ; Sax, KMR [o. Fn. 1] Einl. X 7 - 1 7 ; Peters [o. Fn. 9], § 55 I). Vgl. die Wiederaufnahmegründe der §§ 359, 362 StPO.
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3. Bedeutung prozessualer
Förmlichkeiten
a) Prozeß:^/ ist, wie ausgeführt, eine rechtsstaatlich-justizförmige Entscheidung über den „Prozeßgegenstand" (formell), also darüber, ob die — verfassungsrechtlich vorgegebene — Unschuldsvermutung widerlegt sei oder nicht (materiell-staatsrechtlich). Mittel dazu84 sind die das Verfahren konstituierenden prozessualen Formen85. Ihre Beachtung ist notwendige und hinreichende „rechtliche Bedingung für die Anwendung des Strafgesetzes"86 oder einer sonstigen verfahrensabschließenden, Rechtsfrieden87 schaffenden Entscheidung. Von — im übrigen wertneutralen — Regelungen rein verfahrenstechnischer Zweckmäßigkeit abgesehen, gilt seit jeher und überall für Art und Qualität von Verfahrensförmlichkeiten der Wertmaßstab: Strafprozeßrecht ist „angewandtes Verfassungsrecht"88, eine Ausprägung jeweiligen staatlichen Selbstverständnisses89. Reine Zweckmäßigkeit als prozessuales Gestaltungsprinzip war selbst dem gemeinrechtlichen Inquisitionsprozeß fremd; er kannte vielfaltige Vorkehrungen im Interesse zuverlässiger Wahrheitserforschung und zum Schutz des Inquisiten. Bürgerschutz gegen obrigkeitliche Willkür, Ersetzung der — angeblichen — Regellosigkeit des Inquisitionsprozesses durch „schützende Formen" war erklärtes Anliegen des liberalistisch-„reformierten" Prozesses90. Daß demgegenüber
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Sauer (o. Fn. 24), S. 49 ff. Eb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 22 (m. w. Nachw. dort Anm. 49); Vollkommer, Formenstrenge und prozessuale Billigkeit, 1973, S. 39 f (m. w. Nachw. dort in Anm. 1). Glaser (o. Fn. 21), S. 279. Verf., KMR (o. Fn. 1) § 244 Rdn. 302 m. Nachw. BVerfGE 32, 373, 383; BGH St. 19, 325, 330. Mitteis, Die Rechtsidee in der Geschichte, 1957, S. 399 Anm. 1; Baur (o. Fn. 23), S. 115; vgl. bereits Ahegg (o. Fn. 39): die Form sei „selbst etwas Wesentliches, weil sie die zeitgemäße Gestaltung ist, in welcher die Wahrheit zum Vorschein kommen soll ...". Henke, Darstellung des gerichtl. Verfahrens in Strafsachen, 1817, S. 102; Mittermaier, Handb. des peinlichen Processes usw., Bd. 1, 1810, S. 6 ff; ders., Das System der Nichtigkeit wegen Verletzung von Formvorschriften im Strafproceße usw., GS 2 (1850), S. 292, 297; Zacbariae (o. Fn. 39), S. 145, 146; ders., Die Gebrechen und die Reform des deutschen Strafverfahrens, 1846, S. 123 ff; Köstlin (o. Fn. 39), S. 86; Geyer (o. Fn. 39), S. 3 f, 445; Vargha (o. Fn. 39), S. 35; w. Nachw. bei Vollkommer (o. Fn. 85), S. 39 f Anm. 1. Vgl. auch Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (hrsg. von E. Forsthoff, Bd. 1, 1951), Buch VI Kap. 2 S. 109 (die Förmlichkeiten „vermehren ... sich in dem Verhältnis der Bedeutung, die man ... der Ehre, dem Vermögen, dem Leben und der Freiheit der Bürger beimißt") und v. Ihering, Geist des röm. Rechts, II 2, 5. Aufl. 1898, S. 471 („Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit").
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totalitäre Systeme zur Auflockerung prozessualer Formen tendieren, liegt in der Natur der Sache9'. b) Wenn die heutige Prozeßrechtsdogmatik ebenfalls die Funktion prozessualer Förmlichkeiten92 für die Wahrheitsfindung („materielle Gerechtigkeit") und damit den Schutz Unschuldiger betont93, ist ihre Bedeutung damit nicht erschöpft. Ein großer Teil davon ist im Interesse der Rechtssicherheit (Gleichförmigkeit des Prozedierens, Vertrauensschutz, Bestandskraft von Entscheidungen) zu beachten (z. B. Organisations- und Zuständigkeitsnormen zur Bestimmung des gesetzlichen Richters94, Vorschriften über bestimmte Formen95 und Fristen96), u. U. auch zum Nachteil des Beschuldigten. Wieder andere dienen der Verfahrenseffi^ienPro^eßökonomie und Beschleunigung91'. Eine vierte Gruppe schützt außerpro^essuale Interessen, namentlich die „Beweisverbote"98. Schließlich gibt es die bereits erwähnten rein formal-ordnungsrechtlichen, rechtsstaatlich neutralen Ordnungsvorschriften. c) Diese verschiedenen, nicht selten einander widerstreitenden, dennoch angemessen zu berücksichtigenden Werte hat — in der Regel kompromißfahig99 — der Gesetzgeber in die Gestaltung des Strafverfahrens, für das eine zeitlos gültige Form fehlt 100 , einzubringen unter dem Gesichtspunkt, einen „gesunden Ausgleich zwischen der Notwendigkeit, dem Verfahren um der Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung 91
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Zur Rechtspolitik etwa des Nationalsozialismus unter diesem Gesichtspunkt vgl. Eb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 22 (mit Anm. 52); Baur (o. Fn. 23), S. 115; Vollkommer (o. Fn. 85), S. 36 f. - Insbes. Eb. Schmidt (aaO Rdn. 22, 23; ferner: Materielle Rechtskraft — materielle Gerechtigkeit, J Z 1968, 681 ff) war es, der vor dem historischen Hintergrund polizeistaatlicher Erfahrungen immer wieder den hohen Wert rechtsstaatlich-prozessualer Formen betont hat. Vgl. etwa §§ 57, 69 I 1; 240; 244 I I I - V , 245 II 3; 250 S. 2 StPO; Gewährleistungen wirksamer Verteidigung in formeller (§§ 137 ff StPO) und materieller Hinsicht (§§ 230, 231; 168c, 201, 213, 2 1 5 - 2 1 9 ; 222, 224, 228, 240, 136 I 2, 243 IV 1, 257, 265, 320, 324 StPO) sowie des rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG; §§ 33, 33 a StPO u. v. a.). Ahegg (o. Fn. 39), S. 92; Baur (o. Fn. 23), S. 104 ff, 107, 115; Eb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 22, 23. Art. 101 I 2 GG, § 16 GVG. Z. B. Mündlichkeit, Schriftform, (eigenhändige, dazu RGZ - GrS - 151, 82, 85 f) Unterzeichnung (§§ 168 a III 3, 271 I 1, 275 II; 172 III 2, 345 II, 366 II, 390 II StPO), Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle (§ 306 I, 314 I, 341 I, 345 II, 366 II StPO). Vor allem Handlungs- und Erklärungsfristen (§§45, 172 I, II 1; 311 II 1, 314 I, 319 II, 341 I, 345 I, 346 II, 349 III 2, 409 I 1 Nr. 7, 439 II 1, 463 c II StPO) sowie prozeßlagenabhängige Ausschlußfristen von unbestimmter Dauer (o. Fn. 81). Einzelnachweise bei Verf., KMR (o. Fn. 1) Rdn. 39 vor § 226. Näher Verf., KMR (o. Fn. 1) Rdn. 7 9 - 8 2 vor § 48 und § 244 Rdn. 5 1 2 - 5 2 1 , 531. Baur (o. Fn. 23), S. 100 ff. Näher Sax, KMR (o. Fn. 1) Einl. II („Wandel des Strafprozeßrechts und Rechtsstaatsprinzip").
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willen eine Ordnung durch Formgebung zu schaffen" und zugleich „dem Verfahren die Elastizität und die Fähigkeit der Anpassung an die Bedürfnisse des Einzelfalls zu sichern"101. In den verfassungsrechtlichen Grenzen seiner „Gestaltungsfreiheit" muß er am Maßstab des Rechtsstaatsprinzips abwägen, ob und in welchem Umfang er der Rechtssicherheit durch abstrakt-generelle Normierung jenen schützenswerten Interessen Rechnung tragen und durch solche Formzwänge im konkreten Einzelfall Einbußen an materieller Gerechtigkeit, möglicherweise sogar die Verurteilung Unschuldiger102, in Kauf nehmen darf 103 . Rechtsstaatlichkeit bedeutet hier Verhältnismäßigkeit104: weder materielle Gerechtigkeit noch formale Rechtssicherheit (einschließlich der damit verfolgten an sich legitimen Interessen) „um jeden Preis", sondern Möglichkeit einer Korrektur jener legislatorischen „Sekundärwertung"105, wenn mit der Anwendung abstrakt-genereller Regeln eintretende Folgen im Einzelfall außer Verhältnis106 stünden zu Nachteilen für andere rechtlich — insbesondere grundgesetzlich — anerkannte Interessen. d) Die Abwägung zwischen (abstrakt-genereller) Rechtssicherheit und (konkreter) materieller Gerechtigkeit (Billigkeit) im Einzelfall muß der Grundsatz leiten: Soll die gesetzliche Regelung (auch) die Verwirklichung des materiellen Rechts sichern (insbes. Vorschriften zwecks zuverlässiger Wahrheitserforschung107 oder über Rechtsmitteleinlegung108), 101
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BVerfG N J W 1981, 1719, 1723. Ähnl. Geyer (o. Fn. 39), S. 4; Sauer (o. Fn. 24), S. 51 f; Henkel (o. Fn. 9), S. 90. Vgl. bereits Moser, Von dem wichtigen Unterschied des würklichen und förmlichen Rechts, in: Patriotische Phantasien, Bd. IV, 1780 (Ausg. 1858), Abh. X X X , S. 116: „Es ist besser, daß ein einzelner Mann traure, als daß man alles in Gefahr setze". Ferner Beling, Grenzlinien zwischen Recht und Unrecht in der Ausübung der Strafrechtspflege, 1913, S. 16: der Schaden für die Allgemeinheit durch Ausfall der Strafjustiz sei gegenüber den möglichen, an sich unerwünschten Leidenszufügungen gegen Einzelne das größere Übel. Schließlich BVerfGE 2, 380, 403: Rechtssicherheit sei „von so zentraler Bedeutung für die Rechtsstaatlichkeit, daß um ihretwillen die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Entscheidung in Kauf genommen werden muß". Dabei zeigt das gegenwärtige Strafverfahrensrecht eine Tendenz der Abwendung vom Formalismus hin zum Materialen (vgl. Engisch, Form und Stoff der Jurisprudenz, F. v. Hippel-FS 1967, S. 67; Vollkommer [o. Fn. 85], S. 45). Verf., KMR (o. Fn. 1) Rdn. 28 u. 30 vor § 226. Vgl. o. Fn. 42. Allg. zum Verhältnismäßigkeitsprinzip vgl. Verf., KMR (o. Fn. 1) § 244 Rdn. 1 2 - 1 4 . Vgl. o. Fn. 92. Vgl. RGZ - GrS - 138, 53, 56: Wiederholung der (zivilprozessualen) Berufung innerhalb der Berufungsfrist auch dann zulässig, wenn die zunächst eingelegte Berufung unzulässig war, da der Gesetzgeber insoweit die Grenze zwischen Rechtssicherheit (Bedürfnis, das Verfahren abzuschließen) und Gerechtigkeit (Bedürfnis nach Durchsetzung des materiellen Rechts) nur durch die Rechtsmittelbefristungen gezogen habe.
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kann trotz Verstoßes gegen die formale Norm wegen übergewichtiger Gesichtspunkte der Gerechtigkeit die entsprechende Prozeßhandlung in concreto (prozeß-)rechtsrichtig sein und umgekehrt109; dient die Vorschrift aber anderen Zwecken (wie insbesondere die Beweisverbote110), ist sie grundsätzlich ius strictum, ihre Nichtbeachtung läßt in der Regel eine — rechts wirksame — Prozeßhandlung nicht entstehen111. III. Beweisverbotsbegründende Wirkung prozessualer „Unwert"-Urteile 1. Rechtliche
Nichtigkeit
Faktisches Geschehen, vor allem prozeßbezogenes Verhalten, das eine Verfahrensnorm nicht oder nicht rechtsfehlerfrei konkretisiert und das auch nicht kraft gesetzgeberischer „Sekundärwertung" als prozeßordnungsgemäß gilt112, ist prinzipiell kein konstitutives Element im Aufbau gesetzlich geordneten Verfahrens. Es ist faktisch zwar vorhanden, rechtlich aber „als" Prozeßhandlung nicht existent113, also nichtig und folglich 109
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Wegen vorrangigen Sachaufklärungsinteresses (§ 244 II StPO) kann im Einzelfall die Ablehnung eines Beweisantrags trotz gegebenen förmlichen Ablehnungsgrunds (z. B. nach § 244 III 2 StPO) prozessual fehlerhaft sein (BGHSt. 10, 116, 118; 23, 176, 187; im einzelnen Verf., KMR [o. Fn. 1] § 244 Rdn. 2 3 4 - 2 3 8 ) . Vgl. oben zu II 3 b. Willensmängel bei Prozeßhandlungen (vgl. auch o. Fn. 66) sind im Rechtssicherheitsinteresse (vgl. RGSt. 57, 83: „... die im öffentlichen Interesse zu fordernde Sicherstellung eines geordneten Fortgangs des Verfahrens ...") prinzipiell unbeachtlich, berühren die Wirksamkeit der Prozeßhandlung also nicht, es sei denn, daß ausnahmsweise „überwiegende Gründe der Gerechtigkeit den Vorrang vor dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit beanspruchen müssen" (BGHSt. 17, 14 = JR 1962, 290 m. Anm. Eb. Schmidt = JZ 1963, 226 m. Anm. Oehler): so etwa auch bei offensichtlichen (kein Vertrauensschutz!) Schreibversehen (diese dürfen selbst in Hauptverhandlungsprotokollen und Urteilen „berichtigt" werden) oder wenn die Prozeßhandlung (z. B. ein Anerkenntnis nach § 307 ZPO) von einem Wiederaufnahmegrund betroffen ist (RGZ 150, 392, 397; 153, 65, 69 = J W 1937, 544 m. Anm Jonas; 156, 70, 80 ff; BGHZ 12, 284, 285; 35, 73 = ZZP 73, 448 m. Anm. Baumgärtel; N J W 1982, 2193; BAG N J W 1966, 76; BSG FamRZ 1963, 237 m. Anm. Bosch). Umgekehrt sind von außerprozessualen Bedingungen (Schmid, Bedingte Prozeßhandlungen im Strafprozeß?, GA 1982, 99 ff) abhängig gemachte Prozeßhandlungen unwirksam (Schmid, aaO S. 105 f). Vgl. oben zu II 2 b. Diese Fiktion entfallt bei anderweitiger gesetzlicher Bestimmung (z. B. § 8 IV RpflG) oder unter den oben zu II 2 b a. E. angeführten Voraussetzungen (vgl. auch Kleinknechtj Meyer [o. Fn. 18], Einl. Rdn. 104 m. Hinw. auf §§ 44, 46 VwVfG). Beling, Die Beweisverbote als Grenzen der Wahrheitserforschung im Strafprozeß, 1903, S. 31; ders. (o. Fn. 21), S. 202; Benneckej Beling, Lehrb. des Dt. Strafprozeßrechts, 1900, S. 328 (als „pro non factum" anzusehen); Dit^en, Dreierlei Beweis im Strafverfahren, 1926, S. 16 („Die Erhebung verbotener Beweise steht... unter Androhung
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Prozeßrecht lieb für das (weitere) Verfahren als Grundlage erneuter „Prozeßhandlungen" unbeachtlich 114 , d. h. „unverwertbar" 115 . Ihr fehlt der erst durch (ordnungsgemäße) Normkonkretisierung entstehende Rechtswert. Dieser Mangel (das Un-Recht, die Rechts-Widrigkeit) ist insofern etwas „an sich Nichtiges"116.
2. Formelle Reichweite der Nichtigkeit a) An anderer Stelle 117 , worauf ich verweise, ist dargetan, daß Beweis verschaffungs- bzw. Beweisir^»«gjverbote ( = Mittel) in Beweisverwertungsve,rboten ( = Zwecke) wurzeln 118 und daß, genau besehen, alle derartigen Beweis(erhebungs- und -verwertungs-)verbote „Verwertungsverbote" sind mit der Folge prozessualer Nichtigkeit als Beweis mittel (unzulässige Zeugen, Sachverständige, Urkunden, Augenscheinsobjekte) bzw. Bcweisergebnisse (Aussagen- und Urkundeninhalte, Sachbeschaffenheiten). Die Frage der h. M. 119 , ob und ggf. unter welchen (weiteren) Voraussetzungen 120 die Verletzung eines Beweisder Nichtigkeit"). So i. E. auch Roeder (o. Fn. 34), S. 261—263: „Nicht-Prozeßhandlungen". 114 Es „bewirkt" keine neue „Rechtslage" (Eb. Schmidt [o. Fn. 4], Rdn. 251), es kann keine prozessualen Folgen auslösen (Sax, KMR [o. Fn. 1] Einl. X 6). — Zutr. Beling (o. Fn. 21), S. 168: „Soweit ... eine Prozeßhandlung mit dem Anspruch auftritt, fortan ... beachtet zu werden und die Rechtsordnung ihr diese Beachtung nicht zugesteht, ist sie .unwirksam'; .wirksam' ist sie, soweit ihr Rechtswirkungen von der Rechtsordnung beigelegt werden". Vgl. auch Peters (o. Fn. 9), § 33 II 2: „wirksam" sei eine Prozeßhandlung, „wenn sie im Prozeß Rechtsfolgen auslöst, wenn sie bewirkt, daß sich der Prozeß fortentwickelt, daß sich ihr neue Prozeßakte anschließen und der dem Prozeß zugrunde liegende Vorgang seiner prozessualen Gestaltung zugeführt wird". ,,s Niese (o. Fn. 4), S. 101, 142; ders. (o. Fn. 74), S. 221; Foth (o. Fn. 14), S. 65; Eb. Schmidt (o. Fn. 4), Rdn. 109; Henkel (o. Fn. 9), S. 240. ,"3 Niese (o. Fn. 4), S. 101. 1,7 Verf. (o. Fn. 2), S. 876 sub II 1 a bb. 118 Betings (o. Fn. 113) These (S. 5, 30 f), jede unzulässige Beweisgewinnung begründe ein Verwertungsverbot, ist deshalb umzukehren. 1,9 Zusammenfassend: Fe^er, Strafprozeßrecht, 1986, 16/31—48; Rogall, Hypothetische Ermittlungsverläufe im Strafprozeß, NStZ 1988, 385, 386 ff; Verf., KMR (o. Fn. 1) § 244 Rdn. 4 9 6 - 5 2 2 . 120 Etwa: Revisionsbegründete Verfahrensfehler (BGHSt. GrS - 11, 213: „Rechtskreistheorie"; Schlächter [o. Fn. 3], Rdn. 4 . 1 - 3 und JR 1984, 519, 520); Abgrenzung zu „Beweisregelungen" bzw. „Ordnungsvorschriften"; (endgültige) Vereitelung des Normschutzzwecks (Grünwald JZ 1966, 489 ff; Rudolpht MDR 1970, 97 ff; Gössel NJW 1981, 2217 ff); das Strafverfolgungsinteresse überwiegendes Individualschutzinteresse des Beschuldigten („Abwägungslehre"; vgl. Rogall [o. Fn. 118], S. 389, 391 f und ZStW 91 [1979], S. 1, 29 ff; Wolter NStZ 1984, 276 ff) und umgekehrt (vgl. die Rspr.Hinweise auf die Gefahr einer Verfahrenslahmlegung durch Fernwirkung in BGHSt. 22, 129, 135; 27, 355, 358; 28, 122, 128; 32, 68, 71; 34, 362, 364 f; BGH NStZ 1988,
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erhebungsverbots ein Verwertungsverbot nach sich ziehe, stellt sich nicht, und es darf angesichts dieses Fehlansatzes nicht verwundem, daß hierfür „allgemeine Grundsätze ... bisher nicht gefunden worden" sind121. b) Die Diskussion, ob beweisverbotswidrig gewonnenen (= nichtigen) Beweisergebnissen Fernwirkung insofern zukomme, daß nicht nur sie selbst122, sondern auch die mit ihrer Hilfe gewonnenen weiteren — im übrigen an sich prozessual zulässigen123 — Beweismittel bzw. -ergebnisse prozessual unverwertbar (= nichtig) seien124, hat sich festgefahren mit (je für sich nicht von der Hand zu weisenden) Pro-Argumenten der Achtung rechtsstaatlicher und rechtsethischer Prinzipien, der Umgehung und Aushöhlung von Beweisverboten einerseits, und (ebenfalls an sich gewichtigen) Contra-Aspekten kriminalpolitischer Bedürfnisse125 sowie der Schwierigkeit des Kausalitätsnachweises auf der anderen Seite126. aa) Die Fernwirkungsproblematik, nach Dünnebier127 das „schwierigste Problem der Beweisverbote", ist, wie ausgeführt, nicht zureichend lösbar mittels Kriterien 128 , die ein Beweismittel bzw. -ergebnis — für sich und ohne Rücksicht auf die Reichweite des ein anderes Beweismittel betreffenden Verwertungsverbots — als prozessual unzulässige (nichtige) Erkenntnisquelle zu qualifizieren bestimmt sind. Ausscheiden müssen insbesondere in der Literatur dominant angestellte Erwägungen
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142; OLG Stuttgart N J W 1973, 1941, 1942); „generalpräventive" Wirkung auf Justizorgane (Dencker [o. Fn. 75], S. 65 u. pass.); Berücksichtigung „hypothetischer Ermittlungsverläufe" (Rogall [o. Fn. 119], S. 391 f). Kleinknecht]Meyer (o. Fn. 18), Einl. Rdn. 55. Insbesondere: Unter Verstoß gegen § 136 a I, II StPO erlangte Aussage; Inhalt einer die Intimsphäre (BGHSt. 34, 39, 43 ff) oder Art. 10 GG mangels Voraussetzungen der §§ 100 a, 100 b StPO (BGHSt. 27, 354, 358; 32, 68, 70 f; 35, 32, 34 f) verletzenden Tonbandaufnahme. Daher keine Frage der „Fernwirkung", sondern eines unmittelbar „reprobierten" (BGHSt. 25, 165, 170 m. Hinw. auf Eb. Schmidt) Beweismittels (i. w. S.), wenn z. B. auch bei späterer Aussage eines zunächst unter Verstoß gegen §§136 I 2, 243 IV 1 bzw. § 136 a I, II StPO Vernommenen dessen Entschließungsfreiheit, sich einzulassen oder zu schweigen, jener Verfahrensfehler noch fortwirkend beeinträchtigt (BGHSt. 17, 364, 367 f; 22, 129, 133 f; 32, 68, 71; 35, 32, 34; 35, 328, 332; BGH NStZ 1988, 142). § 1 3 6 a III 2 StPO taugt, weil ambivalent, nicht als Lösungsansatz (zutr. Dencker [o. Fn. 75], S. 78; Rogall ZStW 91 [1979], 1, 39); die Vorschrift läßt offen (a. M.: OLG Stuttgart N J W 1973, 1941, 1942), woZu die unter Verstoß gegen § 136 a I, II StPO zustande gekommenen „Aussage" nicht „verwertet" werden darf. Vgl. die Rspr.-Nachw. o. Fn. 120. Vgl. auch die Zusammenstellung der Argumente in BGHSt. 29, 244, 248 m. Nachw. MDR 1964, 967 Fn. 27. Vgl. die o. Fn. 120 angeführten Gesichtspunkte.
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hypothetischer Kausalität zwischen dem (nichtigen) früheren und einem späteren Beweismittel in dem Sinn, daß Fernwirkung nur dann entfalle, sofern letzteres auch prozeßordnungsgemäß hätte erlangt werden können 129. Zwar trifft dieses Argument nicht der Einwand, daß (zutreffend) ein solcher Kausalitätsnachweis kaum einmal sicher zu führen sei 130 ; denn beweisverbotsbegründend sind Verfahrensfehler bereits bei fehlender Überzeugung des Justizorgans von ihrer Nichtexistenz 131 , Fernwirkung wäre mithin in aller Regel zu bejahen 132 . Dies wiederum hätte aber zur untragbaren Konsequenz, daß Erkenntnisse aus unverwertbaren Beweisergebnissen auch nicht rein faktisch — wie unstreitig statthaft bei prozessual nicht existentem Privatwissen oder prozeßhandlungsmäßig unverwertbarer Kenntnis des Inhalts einer Urkunde i. S. des § 252 StPO — Anstoß zur Fragestellung (keine Vorhalte!) bei Vernehmungen oder Forschung nach weiteren Beweismitteln und deren Gewinnung auf Grund jeweils „eigenständigen Erkenntnisvorgangs" 133 sein dürften 134 . bb) Daß eine „allgemeine Regel ... sich nicht aufstellen" lasse 135 , um Beweisverbots-Fernwirkung zu begründen, trifft nicht zu. Das Lösungsprinzip ist erarbeitet. Es lautet: Fernwirkung hat ein prozessual
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So aber z. B. Grünwald JZ 1966, 489, 500 u. StV 1987, 472 Fn. 9; Schlächter JR 1984, 519, 520; Wolter NStZ 1984, 276, 277; Rogall (o. Fn. 118), S. 392 u. ZStW 91 (1979), 1, 33 f; Reichert-Hammer JuS 1989, 446, 450. Vgl. auch OLG Köln NJW 1979, 1216, 1217. So jedoch BGHSt. 25, 171; 32, 68, 71; 34, 362, 364 f m. Anm. Feyr JZ 1987, 937, Grünwald StV 1987, 470 u. Seebode JR 1988, 427 sowie Bespr. Geppert JK 1987 StPO § 136 a/3, Hassemer JuS 1988, 409, Kramer Jura 1988, 520, Wagner JR 1989, 34 f u. Reichert-Hammer JuS 1989, 446; OLG Stuttgart NJW 1973, 1941, 1942. Näher Verf., KMR (o. Fn. 1), § 244 Rdn. 345-346. Enger z. B. Schlächter, Wolter u. Rogall (alle aaO Fn. 129): keine Fernwirkung, wenn das weitere Beweismittel (überwiegend bzw. höchstwahrscheinlich auch legal gewonnen worden wäre. BGHSt. 27, 355, 358. Daher verneint i. E. richtig die Rspr. eine Fernwirkung in diesen Fällen (BGHSt. 27, 355, 358; 32, 68, 70 f; 34, 362, 364; BGH NStZ 1988, 142 m. Anm. Dörig; OLG Stuttgart NJW 1973, 1941, 1942; Hamburg MDR 1976, 601). - Trotz abweichender Begründung stehen die zu § 7 III G 10 ergangenen, ebenfalls i. E. zutr. Entscheidungen BGHSt. 29, 244, 251 u. OLG Köln NJW 1979, 1216, 1217 nicht entgegen, da sie auf Erkenntnisse aus unzulässigen Abhörmaßnahmen gestützte Durchsuchungsanordnungen (= Prozeßhandlungen) betreffen (dazu sogleich u. zu bb). — Die Behauptung, bzgl. weiterer Beweismittel hätten Verwertungsverbote wieder die „Wirkung" eines Beweisverbots (so z. B. Henkel [o. Fn. 9], S. 271; vgl. schon Kleinschrod, ACrR 1 [1799], 2. Stück, S. 67, 86: sei ein Geständnis nichtig, „so muß eben dies von allen Folgen und Wirkungen desselben behauptet werden"), läßt offen, ob das eine faktische und/oder rechtliche Kausalität bedeute. BGHSt. 29, 244, 249.
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unverwertbares (nichtiges) Beweismittel bzw. -ergebnis stets, wenn es rechtlich als Grundlage einer Prozeßnormkonkretisierung ( = Prozeßhandlung)136 verwertet wird 137 . Dann folgt Fernwirkung aus der prozessual unzulässigen Primär-Erkenntnisquelle notwendig und ohne weiteres138, entgegen allgemeiner Auffassung also nicht zusätzlich begründungsbedürftig.
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Vgl. o. zu I 2 b am Ende. So auch i. E. die Rspr. Vgl. insbes. zu Vorhalten ( = Prozeßhandlungen, weil Vernehmungsbehelfe): BGHSt. 27, 355, 358; 32, 68, 71; 35, 32, 34; BGH NStZ 1988, 142. Zu Durchsuchungsanordnungen s. BGHSt. 29, 244 u. OLG Köln NJW 1979, 1216 (o. Fn. 134). Stimmenvergleichsgutachten unter Verwendung unzulässiger heimlicher Tonbandaufnahme: BGHSt. 34, 39, 43 ff. So i. E. auch Beling (o. Fn. 21), S. 202: Prozessual unwirksam sei ein Verhalten, „wenn es als Bedingung für ein nachfolgen sollendes Verhalten gedacht, dafür rechtlich nicht genügt, so daß das dennoch nachfolgende Verhalten prozeßordnungswidrig sein würde".
„Gericht" und „Richter" — Institution und Persönlichkeit — K A R L PETERS
I. Die Sprache des Gesetzes 7. Der Grundsatz der Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt wird in der Gesetzgebung teils institutionell, teils persönlichkeitsbezogen ausgesprochen. In § 1 GVG heißt es: „Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt". Diese institutionell ausgerichtete Formulierung, die den Verfassungen der deutschen Einzelstaaten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entspricht, findet sich auch in einzelnen Länderverfassungen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, so Art. 63 I Berliner V., Art. 135 I Brem. V., Art. 62 S. 1 Hamb. V., Art. 36 I Schleswig-Holstein. L. S. Dagegen formulieren Art. 102 Weimarer Verfassung 1 und Art. 97 I GG 2 persönlichkeitsgerichtet: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen". Dem folgen § 25 RiG und die meisten Landesverfassungen der Bundesrepublik Deutschland, so Art. 65 II Baden-Württemberg, Art. 85 Bayern, Art. 126 II Hessen, Art. 39 III Niedersachsen, Art. 113 Saarland. Den Persönlichkeitsbezug führt Art. 121 RheinlandPfalz weiter, nach dem der unabhängige Richter nicht nur an Verfassung und Gesetz, sondern auch an sein Gewissen gebunden ist. Die beiden Formulierungsarten sprechen verfassungsrechtlich einund dasselbe aus 3 . Die Institutionsbezogenheit ist die ältere historisch begründete Sprachweise. Die Trennung der Gewalten in der nachabsolutistischen Zeit rückte vor allem die staatliche Aufgabenverteilung
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Zur Weimarer Verfassung vgl. Gerhard AnschütDie Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 (Berlin 1929), zu Art. 102 Anm. 1. Zum Grundgesetz vgl. Mam^Därig, Grundgesetz Art. 97 In der Kommentierung wird unterschieden: die sachliche Unabhängigkeit der Gerichte (Anm. 13, 15—44) und die persönliche Unabhängigkeit der Richter (Anm. 45 — 69). Die Unabhängigkeit der Gerichte ist nur gewährleistet, wenn die Richter unabhängig sind. Daher wird die Bestimmung über die Unabhängigkeit der Gerichte ergänzt durch Bestimmungen über die Unabhängigkeit des Richters. § 1 G V G wird ergänzt durch das Deutsche Richtergesetz.
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auf verschiedene Organe in den Blickwinkel. Monarch, Parlament, Regierung, Verwaltung und Gericht stehen nebeneinander, wobei die Unabhängigkeit der Gerichte von den anderen Staatsorganen und ihre bloße Bindung an Recht und Gesetz ein Wesenselement einer auf Recht und Gerechtigkeit ausgerichteten Gerichtsbarkeit war. Erst nachdem die Teilung der Gewalten eine selbstverständliche Grundlage des Verfassungslebens und der politischen Wirklichkeit geworden war, war Raum für die Persönlichkeitsumschreibung. Die Verschiebung von der Unabhängigkeit des Gerichts auf die Unabhängigkeit des Richters trug der Erkenntnis Rechnung, daß das staatliche Handeln von Personen getragen wird, denen eine verfassungsbegründete Rechtsstellung zukommt. In der Verschiedenheit der Wortwahl kommt ein Umschwung des Denkens von Abstrakt-Sachlichem zum Individuell-Persönlichen zum Ausdruck 4 . Der auffallende Umstand, daß von den erwähnten Landesverfassungen gerade vier norddeutsche Länder (Bremen, Hamburg, Berlin, Schleswig-Holstein), zu denen noch Nordrhein-Westfalen 5 hinzugezählt werden kann, die institutionelle Formulierung beibehalten haben, legt die Frage nahe, ob auch das Sprachempfinden der verschiedenen Gegenden der Bundesrepublik eine gewisse Rolle spielt. Die Frage mag auf sich beruhen. Wichtig ist jedoch die Feststellung, daß das Denken von der Persönlichkeit her einen neuen Zugang zu einem allgemein anerkannten Verfassungsgrundsatz eröffnet. 2. Die mit dem Gerichtsverfassungsgesetz gleichzeitig verkündeten Prozeßordnungen (StPO, ZPO), die trotz vieler Änderungen und Ergänzungen noch heute die prozessualen Grundlagen bilden, bedienen sich im Kern der institutionellen Umschreibung. Es wird auf das Gericht, die Staatsanwaltschaft abgestellt. Dort, wo es auf die persönliche Situation des Beteiligten ankommt, wie bei dem Ausschuß und der Ablehnung von Gerichtspersonen (§§ 22 ff StPO, §§ 41 ff ZPO) ist von dem Richter die Rede. Nur er als Einzelpersönlichkeit ist von der Mitwirkung ausgeschlossen. Den Richter als Einzelpersönlichkeit betreffen die Bestimmungen über Beratung und Abstimmung (§§ 192 ff GVG, § 263 StPO). Zuweilen bedeutet der Begriff Richter nicht mehr
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Hier zeigt sich, daß auch in unserer Zeit die Idee von Rechtspflege und Richter sich wandelt. Grundlegend zu den Wandlungsprozessen Wilfried Küper, Die Richteridee der Strafprozeßordnung und ihre geschichtlichen Grundlagen (1967). Der Abschnitt über die Rechtspflege ist in der Verfassung von Nordrhein-Westfalen nur kurz gehalten. In Art. 72 I heißt es: „Die Gerichte urteilen im Namen des deutschen Volkes". Die richterliche Unabhängigkeit wird nicht ausdrücklich behandelt. Art. 73 regelt die Richteranklage und damit mittelbar die Unabhängigkeit des Richters.
„Gericht" und „Richter" — Institution und Persönlichkeit
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als eine Umschreibung des Organs (Amtsrichter, Haftrichter). Entscheidend bleibt, daß das Urteil Sache des Gerichts ist. Daran ändert auch nichts, daß der Berufsrichter das schriftliche Urteil unterschreibt (§ 275 II StPO, § 315 ZPO). Kennzeichnend für die Gesetzesauffassung ist vor allem die Regelung der Beweiswürdigung. Für sie ist die institutionelle Überzeugung des Gerichts maßgeblich (§ 261 StPO, § 286 ZPO). Auch Ermessensentscheidungen werden dem Gericht zugeschrieben (vgl. § 244 StPO).
II. Sinn und Grenzen des Sprachgebrauches „Das Gericht entscheidet, das Gericht ist der Überzeugung" bringt zum Ausdruck, daß nicht ein einzelner Mensch über den anderen urteilt, sondern die staatliche Macht, die der Gerechtigkeit verpflichtet ist und die Recht und Rechtssicherheit gewährleistet. Das „Richte nicht, damit Du nicht gerichtet wirst", berührt den am Urteilsspruch Beteiligten nicht, da das Urteil trotz seiner Anteilnahme nicht sein Urteil ist, sondern das Urteil der durch den Richter verkörperten rechtsprechenden Gewalt. Diese Grundauffassung ist im Richter unseres Rechtskreises tief verwurzelt. Es ist kaum denkbar, daß der deutsche Richter in der Entscheidung zum Ausdruck bringt „Ich bin der Ansicht" oder „Ich halte es für Recht". Es wird das versachlichende Wort „Gericht" gebraucht. Sind an einer Entscheidung mehrere Richter beteiligt, so verschwinden in dem alle umfassenden Begriff „Gericht" die einzelnen, selbst wenn der eine oder andere eine andere Ansicht teilt. Der Strafrichter, der in einer Kammer oder einem Senat anderer Ansicht war und entgegen der Mehrheit den Angeklagten für nicht überführt oder gar für unschuldig hält, geht in der nach außen hin erscheinenden Einheit auf. Als Berufsrichter unterschreibt er das von ihm nicht gebilligte Urteil. Dem entspricht, daß in der alltäglichen Rechtsprechung dem Urteil kein Sondervotum beigegeben wird. Die besondere Regelung des § 30 II BVerfGG entspricht der Stellung des Verfassungsgerichts als Verfassungsorgan neben der Gesetzgebung sowie der der Verfassungsgerichtsbarkeit zugewiesenen Aufgabe. Es soll nicht nur ein konkreter Fall entschieden werden, sondern das Verfassungsrecht geklärt und weitergeführt werden. Für das Rechtsverständnis und die Weiterentwicklung des Rechts kommt auch Mindermeinungen eine zukünftige Bedeutung zu. Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Verfassungsgerichts können ebenso fruchtbar sein wie parlamentarische Auseinandersetzungen. Ob das Sondervotum in der allgemeinen Gerichtsbar-
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keit aus anderen Gründen seinen Sinn hat, ist damit noch nicht entschieden. Der Ausspruch des „So ist es!" ohne Hinweis auf die abweichende Meinung hat seinen Grund in Autoritätsvorstellungen. Die Entscheidung soll nicht als ein fragwürdiger Kompromiß erscheinen. Dabei wird in Kauf genommen, daß „Überzeugung" und „Ermessen" subjektive, menschliche Verhaltensweisen sind, auf denen die Gerichtsentscheidung beruht. Dieser realitätsfremden Institutionalisierung persönlichkeitsgebundener Akte ist sich der Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts nicht bewußt geworden. Er fand sich durch die Sprache der Verfassung bestätigt. Die Lehre vom Ermessen 6 und von den objektiv-subjektiven Elementen der Beweis Würdigung 7 sowie die Psychologie des Verfahrens und der Verfahrensbeteiligten ist erst später entfaltet worden 8 . Seit der Weimarer Verfassung ist gegenüber der Institution der sie tragende Richter in den Blickwinkel verstärkt hereingerückt. Ginge es nur um die Frage der sprachlichen Ausbesserung, so würde es sich kaum lohnen, viele Worte zu verlieren. Entscheidend ist vielmehr, daß die Ergänzung der institutionellen Betrachtungsweise und die Berichtigung fragwürdiger Formulierungen das Tor zu neuen Problemstellungen und den daraus zu ziehenden Folgerungen eröffnet.
III. Der Richter und seine Verantwortlichkeit 7. Soweit das Gericht aus einem Richter besteht, ist die Verantwortlichkeit des Entscheidenden klar und eindeutig. Besteht der Gerichtskörper aus mehreren Richtern, so kann die Verantwortlichkeit der einzelnen Richter überdeckt sein. Der Entscheidung eines Kollegiums können übereinstimmende oder sich widersprechende Uberzeugungen zugrundeliegen. In einem mit mehreren Richtern besetzten Spruchkörper stehen aufgrund der Beratung mehrere subjektiv gewonnene Uberzeugungen nebeneinander. Stehen sie in Widerspruch zueinander, so werden die jeweiligen Überzeugungen summiert und je nach der gesetzlich vorgeschriebenen Abstimmungsquote der Entscheidung zugrundegelegt. Ist die Abstimmung geheim, ist eine Stimmabgabe nicht 6
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Eine Übersicht über die ältere Ermessenslehre gibt meine Arbeit: Die kriminalpolitische Stellung des Strafrichters bei der Bestimmung der Strafrechtsfolgen (1932), § 2. In dieser Schrift ist der auf die Persönlichkeit des Richters bezogene Titel Ausdruck der subjektiven Bestimmtheit des Ermessens. Zum Grundsatz der objektiv-subjektiven Beweiswürdigung mein Strafprozeß (4. Aufl. 1985), S. 298 ff. Zusammenfassend Roland Graßberger, Psychologie des Strafverfahrens (2. Aufl. 1968).
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durch ein eigenes zu den Akten zu nehmendes Votum 9 belegbar, so bleibt im Dunkeln, wer welcher Überzeugung und Meinung war. Was §§ 261 StPO, 286 Z P O als Uberzeugung des Gerichts ausgeben, ist in Wirklichkeit ein vom Gesetz konstruierter Rechnungsvorgang, dessen Ergebnis durch die richterlichen Unterschriften bestätigt wird. Dieses System schützt die beteiligten Richter vor nachträglichen Vorwürfen. Das hat seine positive und seine negative Seite. Es verhindert ungerechtfertigte Belästigungen der Richter, aber auch ein Zurverantwortungziehen für Willkürhandlungen und sonstiges fehlerhaftes Verhalten 10 . Das System erschwert aber auch Urteilsberichtigungen. Würde bekannt sein, daß ein Richter den im Urteil niedergelegten Sachverhalt für unrichtig hielt, könnten sich durchaus Folgerungen für ein Uberprüfungsverfahren ergeben, etwa bei der Verwerfung der Revision durch Beschluß wegen offensichtlicher Unbegründetheit (§ 349 II StPO) oder bei der Verwerfung eines Wiederaufnahmeantrags im Zulässigkeitsabschnitt (§ 368 II StPO). Um hierhin zu glangen, wäre nicht einmal die Zulassung eines Sondervotums notwendig; vielmehr würde es genügen, an entscheidenden Punkten das Stimmverhältnis anzugeben 11 . Einem solchen Gedankengang könnte freilich der Hinweis auf den Autoritätsverlust der Entscheidung entgegengehalten werden. Ein solcher Einwand wäre aber nicht stichhaltig. Kann es die Rechtsgemeinschaft wirklich nicht vertragen, wenn die Unsicherheit eines Rechtsspruchs offen zutage tritt, also die Wirklichkeit offenbar wird? „Das Gericht hat entschieden" bedeutet nach der heutigen Rechtsauffassung, daß der Richter mit seiner von der gesetzlichen Mehrheit übrstimmten Überzeugung verschwindet. So bestimmt § 195 G V G , daß kein Berufsoder ehrenamtlicher Richter, der in einer vorhergehenden Frage überstimmt worden ist, bei der nachfolgenden Frage die Stimmabgabe verweigern darf. Das bedeutet im Strafverfahren, daß ein Richter, der bei der Abstimmung über die Schuldfrage für die Nichtschuld gestimmt
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Zum Sondervotum eingehend unter Hinweis auf die verschiedenen Meinungen (ablehnend für die Tatsacheninstanz) Lome/Rosenberg, Strafprozeßordnung und Gerichtsverfassung Großkommentar (23. Aufl. Bd. 6 1979), zu § 4 3 D R i G Rdn. 5 ff. Wenn heute immer wieder der Vorwurf erhoben wird, nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Systems seien die einzelnen Richter, soweit sie sich des Rechtsbruchs schuldig gemacht haben, nicht zur Verantwortung gezogen worden, so liegt das nicht nur an der üblichen Betrachtung des Verhältnisses Recht und Richter, sondern auch an dem die richterliche Persönlichkeit überdeckenden System der Prozeßordnungen.
" Von einem solchen System der Offenheit sind auch Einwirkungen auf die Wiederaufnahmepraxis im allgemeinen zu erwarten, da es die Problematik der Sachverhaltsfeststellung verdeutlicht.
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hat, sei es daß er den Angeklagten nicht für überführt, sei es, daß er den strafrechtlichen Tatbestand aus Rechtsgründen für nicht erfüllt hält, bei der Abstimmung über das Strafmaß und sonstige Rechtsfolgen mitstimmen muß. Er muß sich nach dem Gesetz der Mehrheit beugen. §195 GVG erfaßt den Persönlichkeitszwiespalt nicht. Seine Lösung ist technisch, nicht menschlich. Daß es für den hier zur Erörterung gestellten strafverfahrensrechtlichen Vorgang auch eine andere Lösung gibt, erweist das österreichische Recht. Danach kann der Richter, der für das „Nichtschuldig" gestimmt hat, sich der weiteren Abstimmung zur Straffrage enthalten (§ 22 Öst. StPO). Seine (nicht abgegebene) Stimme wird dann der für den Angeklagten günstigsten Meinung zugezählt. Diese Lösungsmöglichkeit habe ich in meinem Strafprozeßlehrbuch von der 1. Auflage (1952) S. 92 bis zur 4. Auflage (1984) S. 114 erörtert, ohne daß sich die Gemüter darüber erregt hätten 12 . Es wird nicht gesehen, daß ein solches gesetzliches Hinweggehen über — ich möchte sagen — elementare Persönlichkeitsrücksichten wie bei § 195 GVG die Grundhaltung des Richters mitprägt und sein Verantwortlichkeitsempfinden beeinträchtigt. Von dem überstimmten Richter wird unter Umständen verlangt, daß er, etwa weil er Berichterstatter oder sonst an der Reihe der Urteilsabfassung ist, das Urteil zu begründen hat. Das bedeutet, er muß etwas begründen, was er für falsch hält. Manche sehen darin einen Beweis besonderer juristischer Fähigkeiten. Grotesk wird es freilich, wenn der überstimmte Richter, der die Urteilsbegründung niedergeschrieben hat, sich rühmt, wie revisionssicher ihm das gelungen ist. Es ist für den von der Unschuld des Angeklagten überzeugten oder die Verurteilung nicht für hinreichend gesichert haltenden Richter, wenn er sein Amt menschlich wahrnimmt, nicht besonders erfreulich, die so überzeugend dargestellte Gegenmeinung mitunterschreiben zu sollen (§§ 275 StPO, 315 I ZO). Nur durch den Trick eines Urlaubsantritts kann er sich dem entziehen. Die These, die Unterschrift beurkunde nur die von der Gerichtsmehrheit beschlossenen Entscheidungsergebnisse, ist eine juristische Krücke, die der Außenstehende sich kaum begreiflich machen kann 13 . 2. § 195 GVG ist ein Beispiel institutioneller Fremdbestimmung innerhalb eines Gerichtskörpers. Es gibt daneben gesetzlich bestimmte oder durch Wissenschaft und Rechtsprechung entwickelte Fremdbestimmung durch ein anderes Gericht. So ist der neu entscheidende Richter 12
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Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit § 195 G V G in Lehre und Praxis hingenommen wird. Die Problematik wird nicht einmal gesehen. Zur Unterschriftsproblematik vgl. mein Lehrbuch (4. Aufl.), S. 114.
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nach Aufhebung des Urteils an die Rechtsauffassung des Revisionsgerichts gebunden. Diese Bindung steht in einer Parallele zur Bindung an das Gesetz. Sie ist sachgeboten. Sie führt auch nicht zu Persönlichkeitsproblemen, soweit es sich in dem Revisionsurteil um Berichtigung von echten Rechtsfehlern oder um die Gewährleistung der Rechtseinheit bei üblichen Auslegungsmöglichkeiten handelt. Der Persönlichkeitsbereich des neu entscheidenden Richters wird erst dort berührt, wo Grundüberzeugungen oder Gewissensinhalte betroffen werden 14 . Das führt in die noch später zu erörternde Überzeugungs- und Gewissensproblematik hinein. Ein anderes Feld ist die Bindung des neu entscheidenden Richters an die Sachverhalts- und Rechtsfeststellungen des früher entscheidenden Richters. Hier kann es zum Widerstreit der durch die Beweiswürdigung entstehenden Überzeugungen kommen. Die Frage ist vor allem, wessen Beweiswürdigungsüberzeugung muß der später entscheidende Richter zugrundelegen. Kann er selbständig entscheiden? Ist er gezwungen, seine Überzeugung zurückzudrängen und unter Umständen zu einer Mischüberzeugung, zu einer doppelpersonalen Ansichtsbildung zu gelangen? Solche Fälle können bei der Teilrechtskraft 15 entstehen. Der über die auf die Strafzumessung beschränkte Berufung entscheidende Richter kommt aufgrund der zur Strafzumessung durchgeführten Beweisaufnahme zu dem Ergebnis der Nichtschuld des Angeklagten, oder er sieht den vom Erstrichter festgestellten Tatablauf zwar im Ergebnis gleich, aber in den für die Strafzumessung maßgeblichen Umständen verschieden. Die vorherrschende Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum sieht den zweiten Richter an den rechtskräftig gewordenen Urteilsteil gebunden. Das bedeutet, daß der neu entscheidende Richter zu einem in sich aufgespaltenen „Halbrichter" wird. Er muß gegen seine Überzeugung entscheiden. Die Frage drängt sich auf, ob ein derartig unter Zwang stehender Urteiler wirklich noch ein freier, unabhängiger Richter und
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Keine Bindung bewirken die gelegentlich von den Revisionsgerichten gegebenen Hinweise. Sie sind Ratschläge, Anregungen, Empfehlungen, zuweilen auch Belehrungen. Sie wollen verhindern, daß das Urteil des Tatrichters demnächst erneut aufgehoben wird. Diesem durchaus guten Sinn steht aber die Frage gegenüber, ob ein solches Verfahren wirklich dem verfassungsrechtlichen Richterbild entspricht. Den Hinweisen liegt doch wohl ein behördliches Denken von „oben" nach „unten" zugrunde, wie es in dem üblicherweise gebrauchten Begriff „Obergerichte" zum Ausdruck kommt. Wir sprechen auch von „höchstrichterlicher" Rechtsprechung. In Wirklichkeit stehen die Richter mit verschiedenen Funktionen nebeneinander. Zu den Problemen der Teilrechtskraft vgl. BGHSt. 7, 283; 10, 71; 24, 274; 28, 119. Zur Auffassung von Karlheinz Meyer vgl. KleinknechtjMeyer, Strafprozeßordnung (39. Aufl. 1989), Einl. Rdn. 184 ff.
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nicht nur eine rechtsprechende Maschine ist. Die Antwort hängt davon ab, ob und inwieweit die Rechtsprechung eine Angelegenheit einer Institution oder eine von selbständigen Persönlichkeiten ist. Andere Lösungsmöglichkeiten sind durchaus denkbar. Ich selbst vertrete die Auffassung, daß die Teilrechtskraft nur eine bedingte Wirkung 1 6 hat. Sie steht unter der Voraussetzung, daß im weiteren Verfahren sie nicht der Gerechtigkeit und der entgegengesetzten Auffassung des neu entscheidenden Richters wesentlich widerstrebt. Ein weiteres Beispiel für einen Konflikt zwischen Bindung und persönlicher Überzeugung ist das Wiederaufnahmeverfahren. Dabei geht es um die Frage, inwieweit der neu entscheidende Richter bei der Entscheidung über die Zulassung oder Begründetheit des Wiederaufnahmeantrages an die Wertungen der Richter des Grundurteils gebunden ist, sofern die neu behaupteten Tatsachen oder neu beigebrachten Beweismittel nicht die sonstige Beweislage betreffen. Man denke an den Fall, daß im Wiederaufnahmeantrag belastende Teile eines Urteils herausgebrochen werden. Es wird der Beweis für die Unglaubwürdigkeit mehrerer Zeugen oder die Fehlerhaftigkeit kriminalistischer Untersuchungen dargetan; in dem angefochtenen Urteil sind jedoch noch andere, vom Grundurteil als glaubwürdig erachtete Zeugen oder noch andere Indizien vorhanden. Der neu entscheidende Richter hält das Grundurteil im Hinblick auf das neue Vorbringen für erschüttert, weil ihm die restliche Beweiswürdigung nicht genügt. Ist er jedoch gezwungen, die Restbeweiswürdigung der früheren Richter zugrundezulegen, müßte er den Wiederaufnahmeantrag scheitern lassen. Rechtsprechung 17 und ein Teil des Schrifttums 18 halten den neuen Richter für gebunden, die früheren Wertungen außerhalb des Themenbereichs des Wiederaufnahmeantrags beizubehalten. Die entgegengesetzte Meinung der selbständigen Beurteilung 19 durch den neuen Richter ist im Vordringen. Eine Zwischenlösung 20 , die sowohl der Persönlichkeit des neuen Richters als auch den Interessen des Verurteilten gerecht wird, ist zu suchen. Sie muß dem neu entscheidenden Richter die Möglichkeit geben, ein Urteil, das auf Grund seiner Erkenntnisse für ihn unvertretbar ist,
Nähere Begründung in meinem Lehrbuch (4. Aufl. 1985), S. 4 9 7 - 5 0 1 . " Maßgeblich für die Rechtsprechung BGHSt. 19, 365. 18 Kleinknechtj Meyer, Strafprozeßordnung, § 368 Rdn. 9, § 370 Rdn. 4; KMR (7. Aufl.), §368 Rdn. 11. " Löwe/RosenbergjGössel, Strafprozeßordnung (24. Aufl.), § 359 Rdn. 141 ff, § 368 Rdn. 23, § 370 Rdn. 21 f; Klaus Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens (1983), S. 325. 20 K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß Bd. 3 (Wiederaufnahmerecht), 1974, S. 99 ff. 16
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jedenfalls dann zu einer neuen Beurteilung zu stellen, wenn ein vermutlich Unschuldiger bestraft worden ist. Seine Verantwortung kann ihm nicht dadurch abgenommen werden, daß er darauf verwiesen wird, die Wertung des früheren Richters zu übernehmen, wobei es unter Umständen durchaus fraglich ist, wie der frühere Richter nach dem Kenntnisstand des späteren Richters die noch unangetastet gebliebenen Indizien gewertet hätte. 3. Die institutionelle und die persönlichkeitsbezogene Auslegung kann zu verschiedenen Sachlösungen führen, ohne daß dadurch der Richter in seinem persönlichen Kern betroffen wird. Das soll an der Frage gezeigt werden, wie zu entscheiden ist, wenn nach Aufhebung des Urteils durch das Revisionsgericht und nach Zurückweisung der Sache an eine andere Kammer oder ein anderes Gericht (§ 354 II StPO) in dem nunmehr zuständigen Spruchkörper infolge neuer Geschäftsverteilung oder Versetzung der oder die Richter tätig sind, die an dem aufgehobenen Urteil mitgewirkt haben. Nach der institutionellen Auffassung, die der BGH vertritt, ist der Spruchkörper, an den verwiesen worden ist, auch in dieser Besetzung zum Richter berufen 21 . Es besteht für die Beteiligten (Staatsanwalt, Privatkläger, Nebenkläger und Angeklagter) auch kein allgemeines, sondern nur ein besonders zu begründendes Ablehnungsrecht. Nach der persönlichkeitsbezogenen Auslegung ist jeder frühere Richter in der neuen Verhandlung ausgeschlossen. Sie geht davon aus, daß der vernünftige Grund der Verweisung an einen anderen Spruchkörper nur darin liegen kann, daß die Sache unvoreingenommen von anderen Richtern, unter Umständen sogar in einem anderen Klima, geprüft werden soll. Nicht das Gericht als Institution, sondern die Richter als mit allen menschlichen Regungen versehen entscheiden. Die Rechtsprechung des BGH ist für den der rechtsprechenden Gewalt unterworfenen Laien kaum verständlich zu machen. Die hier vertretene Meinung macht den für alle Beteiligten immer unerfreulichen Ablehnungskämpf entbehrlich. Im Falle der Vergeblichkeit der Ablehnung vermeidet sie beim Angeklagten das Gefühl, einem voreingenommenen Richter gegenüberzustehen, und beim Richter das Empfinden, es mit einem unbotmäßigen Angeklagten zu tun zu haben.
21
BGHSt. 21, 142. Eingehend zu dem Problem der Mitwirkung des früheren Richters: Karlheinz^ Meyer, in: LöwejRosenberg, Strafprozeßordnung (23. Aufl.), § 354 Rdn. 57 — 60; Hanack, in: LöwejRosenberg (24. Aufl.), § 3 5 4 Rdn. 57 — 60; dort auch eingehende Angaben zur Rechtsprechung und zum Schrifttum. Meine Meinung habe ich in meinem Lehrbuch (4. Aufl.) S. 148 dargelegt.
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Karl Peters
4. Die persönlichkeitsbezogene Kennzeichnung der richterlichen Tätigkeit macht einen doppelten Bezug deutlich: Amt und Person (Mensch). Daraus ergibt sich eine zweifache Verpflichtung. Die eine besteht gegenüber dem Träger jeder staatlichen Gewalt (Volk und Staat), die andere gegenüber dem Träger der vorstaatlichen und über das Volk hinausgehenden Macht, die für den gläubigen Menschen Gott ist. Dieses doppelte Unterworfensein funktioniert reibungslos, sofern Recht, Gesetz und Anordnung mit den vorrechtlichen (ethischen) übereinstimmen. Zum inneren Konflikt kommt es jedoch in den Fällen, in denen nach dem sorgfaltig prüfenden Urteil in schwerwiegender Weise die ethische Ordnung durch den von ihm geforderten Spruch verletzt wird. Diese Auseinandersetzung findet im Gewissen statt 22 . So sehr die Gewissensentscheidung ein subjektiver Akt ist, ist sie an eine objektive Ordnung gebunden. Sie setzt Abwägungen des Für und Wider voraus. Sie muß Voreingenommenheiten, persönliche Wünsche und Ziele zurückdrängen. Diese zweifache Bindung kommt in Art. 121 der Rheinl.-Pfalz. Verf. zum Ausdruck. Geschichte und Gegenwart lehren die Notwendigkeit des Herausarbeitens des Konfliktes zwischen Amt und Gewissen im Richteramt. Die in Art. 4 GG gewährleistete Gewissensfreiheit gilt auch für den Richter in seinem Amt. Ist die Rechts- und Gesetzesordnung als ganzes mit dem Gewissen eines Amtsträgers nicht mehr vereinbar, liegt die Lösung in dem Amtsverzicht. Entstehen Konflikte nur in Einzelfällen, so bedarf es des Ausgleichs zwischen dem rechtlichen Gebot und der für den Richter gültigen Ordnung. Das vom Recht und Gesetz Gebotene fordert vom Richter das zu tun, was ihm ethisch verboten ist. Der Richter kann als rechtlich und sittlich gebundene Person weder das eine noch das andere tun. Daraus ergibt sich das Recht auf Selbstablehnung. Der Einwand „wenn das alle tun ..." schlägt nicht durch. Sollten wirklich alle Richter Recht und Gesetz nicht mehr tragen, so wäre das ein Zeichen der Unhaltbarkeit und des Überholtseins des betreffenden Gesetzes. Die Gefahr eines Mißbrauchs der Berufung auf das Gewissen zu Zwecken persönlicher Ziele ist wie bei jedem verfassungsmäßig gewährten Recht niemals auszuschließen. Aber: Ist ein solches Mißtrauen einem geschlossenen und übersehbaren Kreis von Personen, die den Richtereid geleistet haben, wirklich berechtigt?
22
Zum Problem der Gewissensfreiheit des Richters vgl. mein Lehrbuch (4. Aufl. 1985), S. 111 ff. Das Thema „Das Gewissen des Richters und das Gesetz" hat mich bereits 1950 beschäftigt. Der damalige Beitrag zur Ebers-Festschrift ist in: K. Peters, Strafrechtspflege und Menschlichkeit, herausgegeben von W. Küper und Kl. Wasserburg (1988), S. 237 abgehandelt worden.
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IV. Gefährdete Unabhängigkeit So aufschlußreich es auch sein mag, auf die Begrenzung der persönlichen Freiheit in einzelnen prozessualen Situationen hinzuweisen, so ist es notwendig, auf allgemeine Gefahrdungen der richterlichen Unabhängigkeit aufmerksam zu machen. Gerade wenn man bemüht ist, das Handeln des Gerichts als Handeln von Menschen in den Vordergrund zu rücken, dürfen die Gefährdungen, denen der Richter in menschlicher Hinsicht ausgesetzt ist, nicht unberücksichtigt bleiben. Sie seien nur kurz angedeutet. /. Der gesellschaftliche Druck, ständige Publikationen, Demonstrationen und Drohungen können eine erhebliche Belastung der freien Ausübung der rechtsprechenden Gewalt durch den Richter werden. So sehr der Richter sachliche Kritik hinnehmen muß und sich durch überhitzte Äußerungen Betroffener nicht beunruhigen sollte, so sehr kann die Ausübung von gesellschaftlichen Machtpositionen das Handeln des Richters in seiner Substanz berühren. 2. So gut wie unbeachtet geblieben ist die uns selbstverständlich gewordene Gerichtsstruktur. Sie entspricht den Ansprüchen der staatlichen Gewaltenteilung. Sie hindert oder erschwert den Einfluß justizfremder staatlicher Gewalten. Sie bedeutet einen nicht zu unterschätzenden Wall gegen staatliche Einmischung in die Rechtspflege. Aber dennoch muß die Frage aufgeworfen werden, ob die menschlichen Gegebenheiten im Hinblick auf die Wahrung der Unabhängigkeit des Richters hinreichend in Rechnung gestellt wird 23 . Ist wirklich der „Richter auf Probe" unabhängig? Ist wirklich der Richter, über den in regelmäßigen Abständen von dem „Vorgesetzten" Zeugnisse geschrieben werden, unabhängig? Ist wirklich der Richter, der „befördert" werden und nach einer Hilfsrichtertätigkeit (drittes Staatsexamen!) in eine „gehobenere Position" aufsteigen will, unabhängig? Solche Fragen stellen heißt, das Menschliche strukturell zu berücksichtigen. Änderungen sind von heute auf morgen nicht möglich. Jedoch sollte man über solche Bedenken nicht einfach hinwegsehen. Die Frage ist, was man dem System der „Richterlaufbahn" (vom Richter auf Probe bis zum höchsten Richter) entgegenstellen kann. Zur Diskussion wäre etwa das System eines einheitlichen Richtertums, bei vorheriger Bewährung in nichtrichterlichen Berufen. So einfach das hingeschrieben ist, so schwer ist eine solche Vorstellung zu verwirklichen. Die Folgerungen bis in die Einzelheiten der Gerichtsverfassung und der Prozeßordnungen müßten überdacht werden. 23
Zweifel habe ich auch in meinem Lehrbuch (4. Aufl.), S. 114 ausgedrückt.
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3. Inwieweit die Rechtspflege in Unabhängigkeit verwirklicht wird, hängt von der Freiheit des Richters ab. Freiheit bedeutet die Möglichkeit des Wirkens, losgelöst von Zwängen. Zwänge können sich von außen aufdrängen, sie können aber auch von innen her wirken. Es ist der Mensch selbst, der das Maß seiner Freiheit mitbestimmt. Freiheit wird nicht nur gewährt, sondern auch selbst geformt. Die rechtsprechende Tätigkeit ist wie alles menschliche Handeln subjektiv, d. h. persönlichkeitsbestimmt. Der Richter setzt seine Persönlichkeit ein, um das ihm aufgegebene objektive Ziel: Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit zu erreichen. Er gelangt jedoch nur zum Ziel, wenn er die sachgebotene Voraussetzung erfüllt. Kurz gefaßt, kann man sie mit Wissen und Weisheit umschreiben. Zum Wissen des Berufsrichters im Strafverfahren gehören nicht nur die juristischen Kenntnisse, sondern auch die Beherrschung der kriminologischen und kriminalistischen Gegebenheiten, die Kenntnis der Aussagepsychologie und das Bewußtsein der menschlichen Irrtumsmöglichkeiten. Zum notwendigen Wissen gehört auch das Verstehen und Begreifen der vor ihm stehenden Menschen. Das Wissen um ihre Gesundheit und Krankheit, um ihre Freiheit und Gebundenheit macht erst das Begreifen und die Beurteilung ihres Tuns und Unterlassens möglich. Wo das Wissen fehlt, erfolgt der richterliche Akt in Voreingenommenheit und in mangelnder Selbstkritik. Der Spruch ist alsdann Ausfluß der Gebundenheit an sich selbst. Weisheit bedeutet das ausgleichende Überschauen der Fülle des zur Wahrheits- und Rechtsfindung Beigebrachten. Ob der Wille zum Erwerb der notwendigen Kenntnisse und zum Selbstbeherrschen vorhanden ist, ist nicht zuletzt Ausfluß eines ethisch begründeten Verantwortlichkeitsbewußtseins. Beim ehrenamtlichen Richter kann das Wissen nicht vorausgesetzt werden. Der Berufsrichter muß ihm die Fragen des Einzelfalls und die Lösungsmöglichkeiten aufzeigen. Der Berufsrichter hat die Aufgabe, dem ehrenamtlichen Richter zu helfen, vorhandene Voreingenommenheiten und unkritisches Denken beiseite zu schieben. Wie der Berufsrichter hat dann der ehrenamtliche Richter aus seiner Persönlichkeit heraus nach objektiver Prüfung den subjektiven Schluß, den subjektiven Überbau hinzuzufügen. Die so leicht ausgesprochene Unabhängigkeit der Rechtspflege ist in Wirklichkeit ein Vorgang höchst komplizierter staatlicher, gesellschaftlicher, struktureller und persönlicher Gegebenheiten.
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V. Zukunftsfragen Sowohl die institutionelle Betrachtungsweise als auch die persönlichkeitsbezogene Formulierung sichert verfassungsmäßig die Unabhängigkeit der Rechtspflege. Jedoch bringt, wie aufgezeigt wurde, die Bezugnahme auf die Richterpersönlichkeit weitreichende Folgerungen für die Gerichtsverfassung und den Prozeß mit sich. Es führt zu einem Wandel des Richterbildes. Damit ändern sich Strukturen und Vorstellungen. Es ergeben sich Forderungen an Gesetzgebung und Rechtsprechung. In dem einen oder anderen kann schon die Rechtsprechung einen Wandel herbeiführen. Der Gesetzgeber könnte auch Einzelpunkte verändern. Die grundlegenden Unterschiede der beiden Betrachtungsweisen lassen sich aber nur im Rahmen einer Gesamtreform 24 von Gerichtsverfassung und Prozeß in die Tat umsetzen. Erforderlich wäre auch ein tiefgreifendes gesellschaftliches und juristisches Umdenken 25 . Die Folgerungen würden vor allem eine Änderung der richterlichen Berufung herbeiführen. Notwendig wäre es zu überlegen, ob heute nicht die richterlichen Funktionen überdehnt sind. Wie auch immer zukünftige Lösungen aussehen, verhindert muß die „Verbeamtung" des Richters werden, weil sie den „souveränen" Richter in eine Abhängigkeit bringt, die die für sein Amt höchstpersönliche Verantwortung mindert.
24
25
Zu den Problemen einer Gesamtreform vgl. Hans A. Engelhard, Ist eine große Strafprozeßreform notwendig?, Festschrift für Kurt Rebmann (1989), S. 45 ff. In diesem Zusammenhang dürfen auch die ethischen Aspekte nicht übersehen werden. Vgl. § 7 meines Lehrbuchs (Strafverfahrensrecht und Ethik). Die ethischen Grundlagen des Richterberufes betonte bereits vor 60 Jahren Wilhelm Sauer, Lehrbuch der Rechtsund Sozialphilosophie (1929).
Befugnisse zur Informationsverarbeitung für Zwecke der Strafverfolgung REINHARD RIEGEL
I. Vorbemerkung Zur Erfüllung der (unter Leitung der Staatsanwaltschaft erfolgenden) Aufgabe, Straftaten zu erforschen und die zur Aufklärung erforderlichen Beweise zu erheben (§§ 152 Abs. 2, 160, 163 StPO), sind vielfache informationelle Eingriffsmaßnahmen notwendig. Je nach Umfang und Schwierigkeit des betreffenden Verfahrens fallen hierbei viele personenbezogene Informationen an. Daß diese Informationen irgendwie beund verarbeitet, gesichtet, bewertet, gerastert, überprüft usw. werden müssen, leuchtet ein. Auch ist das Ausmaß der anfallenden Informationen oft so groß, daß sie nicht (mehr) nur „normal" automatisiert sondern zunehmend in speziellen Spurendokumentationssystemen (SPUDOK), in denen buchstäblich jede Spur registriert wird, bearbeitet werden 1 . Die Polizei verfügt seit langem über ein umfangreiches und weit verästeltes Bund-Länder-Informationssystem, in dem ganz überwiegend personenbezogenen Daten verarbeitet werden, die aus strafverfahrensrechtlichen Ermittlungen stammen 2 . Bei weitem nicht so fortgeschritten aber doch zunehmend automatisiert sind auch die allgemeinen (mehr Registraturfunktion darstellenden) Aktennachweise der Staatsanwaltschaften sowie die verschiedenen Spezialdateien für besondere Sachgebiete (z. B. für Wirtschaftsdelikte oder in Staatsschutzsachen) und/oder Ermittlungskomplexe 3 . Aus dem 1
2
3
Zur technischen Charakterisierung von SPUDOK's vgl. Riegel, Bundespolizeirecht, 1985, S. 30 f. Zu kriminalpol. Spurensammlungen in Strafverfahren näher MeyerGoßner, NStZ 1982, 553 ff. Näher zur pol. Informationsverarbeitung und dem Verhältnis zur staatsanwaltschaftlichen Leitungsbefugnis Riegel (Fn. 1), S. 28 ff, 31 f. Zur Informationsverarbeitung bei den Staatsanwaltschaften u. a. OLG Frankfurt, NJW 1989, 47 f m . Anm. Simitis, NJW 1989, 21 f = CR 1989, 505 ff m. Anm. Riegel. Zu den Bestrebungen, die staatsanwaltschaftlichen Register zu umfassenden Informationssystemen auszubauen vgl. Bay. Landesdatenschutzbeauftragter (LDSB), 10. TB, LT-Drucks. 11/ 9224, S. 25. Speziell zum Einsatz von PC's in Großverfahren
346
Reinhard Riegel
Nebeneinander der verschiedenen Systeme ergeben sich viele Doppelspeicherungen. Sie unterliegen unterschiedlichen (überwiegend innerdienstlichen) Regelungen. Die rechtlichen Grundlagen für die Informationsverarbeitung sind jedoch alles andere als klar. Diesem Aspekt und den daraus resultierenden Problemen soll hier näher nachgegangen werden. II. Sachstand 1. Allgemeines a) Der Begriff informationelle Befugnisse Unter Befugnissen zur Informationsverarbeitung sind alle Bestimmungen zu verstehen, die das Erheben oder Sammeln von personenbezogenen Informationen und deren weitere Vor- und Bearbeitung, also Speicherung in Daten, Übermittlung, Auswertung (z. B. durch Rasterung), Berichtigung, Löschung usw. somit den weiteren Umgang mit Informationen allgemein betreffen. Es wird also nicht die enge, dem geltenden BDSG und auch dem Novellierungsentwurf 4 zugrundeliegende Definition zum Ausgangspunkt genommen, nach der Verarbeitung von Daten lediglich die weitere Befassung betrifft. Die Datengewinnung, insbesondere die Erhebung, wird dort anders als in den neuen DSGen in Bremen, Hessen und NRW (vgl. je § 2 Abs. 1 Nr. 1) zu unrecht ausgeklammert. Dieser von Anfang an gerügte restriktive Ansatz steht auch im Widerspruch zum Volkszählungsurteil — VZU — des BVerfG 5 . Ausgehend von dem nach dem VZU gebotenen und auch den vorgenannten Landesdatenschutzgesetzen zugrunde liegenden weiten Ansatz wird sich zeigen, daß es etliche Bestimmungen in der StPO gibt, die — in welchem Präzisionsgrad auch immer — die Erhebung von Informationen gestatten. Es wird sich jedoch auch zeigen, daß hinsichtlich aller sich an die Erhebung anschließender (nicht immer notwendiger) Verarbeitungsaspekte mit ganz geringen Ausnahmen das große Schweigen herrscht. Andererseits finden in zunehmend großem Umfang informationelle Maßnahmen statt, für die es gänzlich, also selbst für die Erhebung, an Rechtsgrundlagen fehlt 6 .
4 5 6
der STA'en vlg. Wickern, CR 1989, 72 ff; vgl. außerdem den Sachstandsüberblick des DRiB in DRiZ 1989, 26 ff. Art. 1 der BR-Drucks. 618/88 bzw. BT-Drucks. 11/4306. Näher Riegel, Datenschutz in der Bundesrepublik Deutschland, 1988, S. 43 f. Dazu, daß diese Situationsschilderung weitgehend auch für das Polizeirecht zutrifft, näher Riegel (Fn. 5), passim; ders., Polizei- und Ordnungsrecht des Bundes und der Länder, Textslg. m. Einführung und erläuternden Hinw., Einf. Rdn. 116 ff, 121 ff.
Befugnisse zur Informationsverarbeitung für Zwecke der Strafverfolgung
b) Der Grundsatz der informationellen
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Selbstbestimmung
Nach den Ausführungen des BVerfG im VZU ist aus Art. 2 Abs. 1 i.V. mit Art. 1 GG ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung abzuleiten. Dies bedeutet inhaltlich, daß jedermann prinzipiell die Befugnis zusteht, über die Freigabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu befinden. Dieses somit verfassungskräftige Recht darf nur im überwiegenden Allgemeininteresse und nur auf der Grundlage verfassungsgemäßer gesetzlicher Regelung, die den rechtsstaatlichen Geboten der Normenklarheit und Verhältnismäßigkeit entsprechen muß, eingeschränkt werden. Normenklarheit ist dabei so zu verstehen, daß jedermann abstrakt aus dem Gesetz entnehmen können muß, „wer was wann bei welcher Gelegenheit" über ihn weiß bzw. wissen darf. Dies gilt, wie bereits aus der vom BDSG bewußt abweichenden Terminologie des BVerfG im VZU folgt, grundsätzlich für alle Phasen der Informationsverarbeitung und unabhängig davon, ob sie in Dateienoder in anderer (insbesondere Akten-) Form stattfindet 7 . In jedem Fall — so das BVerfG im VZU — darf das informationelle Selbstbestimmungsrecht nur soweit eingeschränkt werden, wie „es zum Schutze öffentlicher Interessen unerläßlich ist" 8 . Speziell für das Landesrecht sei ergänzend darauf hingewiesen, daß es in NRW bereits seit der Verfassungsänderung von 1978 im Zusammenhang mit dem Erlaß des Landes-DSG ein ausdrückliches Grundrecht auf Datenschutz gibt in Form des Art. 4 Abs. 2 der LV. Im übrigen wurde das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nunmehr in § 1 Abs. 1 des neuen DSG-NW zusätzlich einfachrechtlich wiederholt, wie dies vorher bereits je in § 1 der neuen Landes-DSGe von Bremen und Hessen geschehen war. Hingewiesen sei schließlich auch auf Art. 2 Abs. 2 der Saarl. LV i. d. F. von 1985. 2. Informationelle Befugnisse nach Strafverfahrensrecht wesentliche Inhalt der Regelungen
und der
Folgende (nach Maßnahmengruppen geordnete) Bestimmungen sind hier zu nennen: a) Vernehmung von Personen, insbesondere von Zeugen §§ 48 bis 70 StPO regeln für das Strafverfahren sehr detailliert, wer von der allgemeinen Bürgerpflicht zur Zeugenaussage befreit sein bzw. diese verweigern kann, welche Folgen die rechtswidrige Aussagever7 8
BVerfGE 65, 1, 42 ff und E 67, 100, 142 f sowie E 78, 77 f = N J W 1988, 2031. BVerfGE 65, 1 44; ebenso E 67, 100, 143 (Hervorhebung v. Verf.).
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Reinhard Riegel
Weigerung nach sich zieht, wann ein Zeuge ggf. mit Anwendung von unmittelbarem Zwang vorgeführt werden kann usw. Zum Schicksal, zur Art und Weise sowie zum Umfang der weiteren Verarbeitung dieser Informationen und insbesondere zur Frage, ob, unter welchen Voraussetzungen und welche Informationen auch über den Zeugen selbst verarbeitet werden (sei es in einer Kartei/Datei bei der Staatsanwaltschaft, sei es in einer polizeilichen Datei oder in beiden) und an wen diese Erkenntnisse ggf. weiter übermittelt werden dürfen, findet sich dagegen weder bei den genannten Bestimmungen noch sonstwo eine gesetzliche Aussage. Statt dessen kann man z. B. in Ziff. 2.2.10 der Richtlinien über Kriminalpolizeiliche personenbezogene Sammlungen (KpS) und Ziff. 4.2.10 der sog. Dateienrichtlinien für das BKA 9 oder den im wesentlichen inhaltsgleichen Parallelregelungen in den Bundesländern nachlesen, wann durch die Polizei personenbezogene Informationen über Zeugen in welchen Dateien des INPOLSystems und/oder Akten verarbeitet werden. Was mit den auf Grund der §§ 48 ff StPO gewonnenen Informationen geschieht/geschehen darf (einschließlich der Voraussetzungen für Ubermittlungen, Pflichten zur Löschungsüberprüfung etc.), ergibt sich für die Polizeibehörden ebenfalls aus diesen oder ergänzenden polizeiinternen Vorschriften, nicht dagegen aus der StPO und ganz überwiegend auch noch nicht einmal aus den Polizeigesetzen, die im übrigen nicht der richtige Standort für diese Regelung sind. Einzige Ausnahmen mit z. T. erheblichen Unterschieden: §§ 27 ff Brem PolG und §§ 25 a ff RPPVG und einige parallele Regelungen in Landespolizeiorganisationsgesetzen 10 sowie — je seit 1990 — die neuen Informationsbefugniskataloge im Hess SOG, NW PolG und im SPolG. Außerdem sind die Zentralstellenbefugnisse des BKA nach §§2—4 BKAG zu nennen; diese geben aber nur die Befugnis zur zentralen Speicherung, ersetzen jedoch keinesfalls die im Strafverfahrensrecht erforderlichen materiellen Grundbefugnisse und sind im übrigen selbst höchst defizitär 11 . Dasselbe gilt natürlich für die auf Landesebene vergleichbaren Regelungen über Zentralstellenbefugnisse des jeweiligen LKA (für NRW vgl. § 13 Abs. 2 NW POG). Auch enthält die StPO nichts über die Zulässigkeit der recht häufigen Ausschreibung von Tatverdächtigen, Beschuldigten, Zeugen oder gar anderen Personen, wie sog. Hinweisgeber i. S. der vorgenannten RichtFür das BKA je in Kraft seit 1. 3. 1981, abgedruckt in GMB1. 1981, S. 1 1 4 f f , 120 ff sowie bei Riegel (Fn. 6) unter C II 2.2 und 2.3. Für NRW vgl. auch Rd. Erl. des IM v. 10. 2. 1981, MB1. S. 192 bzw. v. 7. 5. 1982,. MB1. S. 1003. 10 Hierzu vgl. Riegel (Fn. 6, Textslg.), Synopt. Übersichtstabellen. " Näher Riegel (Fn. 1), Erl. zu §§ 2 - 4 B K A G ; teilweise a. A. Ahlf, Polizeiliche Kriminalakten in BKA-Forschungsreihe, 1988, vgl. hierzu jedoch die Rezension von Riegel, D Ö V 1988, 847 f. 9
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linien in der Fahndungsdatei des INPOL-Systems usw. Die §§ 39 ff RiStBV sind als innerdienstliche Vorschrift kein Ersatz; dies ungeachtet der Tatsache, daß ihnen derartige „Feinheiten" wie vorstehend angedeutet nicht zu entnehmen sind: die Ausschreibung wird einfach vorausgesetzt. Einzig §§ 2 Abs. 2 und 3 Pers AuswG sowie § 9 PaßG regeln die Ausschreibung von Personen in der Gren^fahndungsdatei, aber nur für den Fall der Paßversagung. Dabei wird die Brisanz dieser Regelungslücken um so größer, je mehr man sich vom Tatverdächtigen oder Beschuldigten entfernt. Denn dann geht es jeweils um Personen, die in die Strafaufklärung einbezogen werden aus übergeordneten Gesichtspunkten, obwohl sie nicht verantwortlich sind für die Straftat. Und genau dies ist der offenbar unaufhaltsame Weg der Informationsverarbeitung, wie noch näher zu zeigen sein wird. b) Durchsuchung
und
Beschlagnahme
§§ 98ff StPO regeln schwerpunktmäßig Befugnisse %ur Durchsuchung und Beschlagnahme (zu dem für diesen Abschnitt der StPO eigentlich atypischen § 100 a über die Telefonüberwachung s. nachstehend) beim Tatverdächtigen oder Beschuldigten sowie in engen Grenzen auch bei sog. anderen Personen. Der Befund ist hinsichtlich informationeller Regelungen im hier verstandenen Sinn und in Übereinstimmung mit den Forderungen des VZU nicht anders als vorstehend. Jedoch mit einer kleinen Ausnahme: § 108 enthält eine Verwertungsregelung für Zufallsfunde; sie erschöpft sich allerdings in pauschaler Nutzungsmöglichkeit. In welcher Weise und Umfang welche personenbezogenen Erkenntnisse, die unter Einsatz der genannten Befugnisse gewonnen wurden, weiter verarbeitet werden dürfen, ergibt sich bisher nicht aus der StPO. c)
Identitätsfeststellung
Zu nennen sind: §§ 81 a—c, 163 b und c sowie 111 StPO, soweit er auf die vorgenannten Regelungen Bezug nimmt. Hier sei nicht auf die in letzter Zeit verstärkt diskutierte Zulässigkeit und Grundlage für den sog. genetischen Fingerabdruck eingegangen. Dieser wirft sicherlich erhebliche datenschutzrechtliche Spezialfragen auf. Das aber sind Sonderprobleme, wie sie sich im Zuge technologischer Neuerungen immer wieder stellen und dann gelöst werden müssen: entweder durch Interpretation der bestehenden Regelungen oder Schaffung neuer, ggf. auch befugnisausschließender Regelung 12 . Meines 12
Hierzu u. a. Sternberg-Lieben, NJW 1987, 1242 ff. Wie immer man dazu stehen mag: schwerlich wird sich behaupten lassen, daß der Gesetzgeber bei der lang zurücklie-
350
Reinhard Riegel
Erachtens reichen jedoch die §§ 81 a und/oder b StPO als klare gesetzliche Grundlage i. S. des VZU nicht aus und der Gesetzgeber wäre bei der anstehenden Novellierung der StPO gut beraten, hier eine eindeutige Entscheidung zu treffen. Doch geht es hier vor allem um die allgemeine rechtliche Wertung der vorstehenden Bestimmungen unter dem hier im Vordergrund stehenden Aspekt: Auch insoweit fallt das Ergebnis negativ aus wie in den vorangegangenen Fällen. Zwar enthalten §§ 163 b und c sowie auch §§ 81 a—c StPO einige Hinweise über Art und Weise der Erhebung. § 163 c Abs. 4 postuliert sogar eine der in der StPO höchst seltenen Löschungspflichten hinsichtlich der Unterlagen über Nichttatverdächtige. Aber für alles, was mit den bei solchen Maßnahmen anfallenden Informationen in der Praxis seit Jahren weiter geschieht, enthält die StPO auch nicht den Ansatz einer Regelung: — Speicherung in örtlichen, regionalen und bundesweiten polizeilichen Dateien; — sog. E- und D-Gruppen mit personenbezogenen Hinweisen in der Personendatei des INPOL-Systems; — evtle L-Gruppe über Merkmale zur Personenbeschreibung (die zu unterscheiden sind von den sog. personengebundenen Hinweisen wie gewalttätig, Waffenträger, Rauschgiftkonsument etc. in den vorgenannten Dateien); — prinzipiell parallele Speicherung im Aktennachweis des BKA; aus Letzterem häufig Übermittlungen bundesweit, wofür immerhin rudimentäre Grundlagen in § 2 Abs. 1 Nr. 2 und 7 BKAG zu sehen sind — und weltweit über Interpol, wofür es überhaupt keine klaren gesetzlichen Grundlagen gibt 13 . Letzteres fehlt auch für die Speicherungen in den (z. T. schon auf Landesebene zentralen) Dateien/ Karteien der Staatsanwaltschaften.
genden Formulierung der — allenfalls! — als Rechtsgrundlagen in Betracht kommenden §§ 81 a und/oder b StPO auch nur annähernd an Maßnahmen dieser Art gedacht haben kann. Daher erscheint die Berufung auf diese Bestimmung als ausreichende Rechtsgrundlage von vornherein mehr als mißlich. In diesem Sinne wohl auch Bundesbeauftragter für den Datenschutz BfD, 11. TB, S. 48 f u. 105 ff sowie Hess. LDSB, 17. TB, S. 21 ff u. 72 f und Wellbrock, CR 1989, 204 ff. Keinesfalls sollte man es sich so leicht machen wie der Bayerische LDSB im 10. TB aaO (Fn. 3), S. 52. „Jedenfalls zur Zeit" keine Bedenken gegen die Durchführung genetischer Fingerabdrücke auf der Basis von § 81 a StPO hat LG Berlin, NJW 1989, 787 f trotz Hinweises auf die Auffassung des Rechtsausschusses des DBT, wonach diese Untersuchungsmethode ohne spezielle gesetzliche Grundlage unzulässig und § 81 a demnach nicht ausreichend ist, vgl. Stellungnahme v. 9. 11. 1988 zum Bericht der EnqueteKommission „Chancen und Risiken der Gen-Technologie". 13
Vgl. Riegel (Fn. 1), S. 34 ff, 48 f u . 10 ff.
Befugnisse zur Informationsverarbeitung für Zwecke der Strafverfolgung
351
Die „Grundlagen" für alles vorstehend Genannte und Mehr sind wiederum überwiegend in den polizeilichen Richtlinien, Dateierrichtungsanordnungen, Meldediensten usw. zu finden. Dies alles ist kein Ersatz für gebotene gesetzliche Regelungen in der StPO (und ggf. ergänzend im Polizeirecht). d) Die
Kontrollstellenbefugnisse
Die bei der Novellierung 1978 in die StPO eingefügte besondere Kontrollstellenbefugnis gem. §111 stellt insofern eine Besonderheit für das Strafverfahren dar, als sie Befugnisse gegenüber dem Jedermann gestattet und sich somit vom prinzipiellen Ausgangspunkt der StPO, nämlich dem Tatverdacht, vollkommen löst 14 : ein Schritt, der mit § 163 d noch erheblich ausgedehnt wurde. Im Gegensatz zu letzterer Bestimmung war und ist § 111 aber primär gedacht für die Abschichtung der Spreu vom Weizen. § 111 ist eine Kontrollbefugnis vor jeder Art von Speicherung beim ersten Zugriff unter den dort genannten Voraussetzungen durch offene Personenüberprüfung, ggf. auch einschließlich — aber auch nicht mehr! — der Abfrage der Personendaten in der Fahndungsdatei des INPOLSystems. Woraus aber wird die Zulässigkeit für die (an sich verständliche) Anfertigung umfangreicher Kontrollisten abgeleitet, die dann evtl. in Sonder- oder Spurenakten/-dateien verwendet und mit allen möglichen anderen Dateien abgeglichen werden und dann Grundlage für weitere Maßnahmen sind 15 ? Auch hierzu schweigt die StPO. e)
Telefonüberwachung
Demgegenüber zeigen die Bestimmungen zur Telefonüberwachung nach Strafverfahrensrecht gem. §§ 100a—101 StPO immerhin erste Ansätze für detailliertere Regelung datenverarbeitender Art. Außer den Voraussetzungen zur Erhebung in § 100 a werden — in weitgehender Ubereinstimmung mit dem entstehungsgeschichtlich gleichzeitigen und inhaltlich parallelen Gesetz zu Art. 10 GG 16 — in § 100 b Abs. 4 und 5 die Pflichten zur Beendigung der Informationserhebung und zur 14
15
16
Näher Meyer, Kommentar zur StPO, 39. Aufl. 1989, Erl. zu § 111 sowie vor allem Kurth, NJW 1979, 1377 ff, 1381. Näher Riegel, Einführung der Schleppnetzfahndung, CR 1986, 138 ff, 142. Auch aus den Erl. bei Meyer aaO (Fn. 14), Rdn. 12 ist eindeutig zu entnehmen, daß diese Vorschrift nur die — offen! — durchzuführenden Kontrollen deckt, nicht aber eine sich evtl. anschließende Datenverarbeitung, jedenfalls soweit es über die bloße Abfrage in der Fahndungsdatei geht. Näher Riegel in Erbs-Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze Nr. G 10; ders. speziell unter rechtspolitischen Aspekten in ZRP 1987, 431 ff.
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Vernichtung der Unterlagen geregelt. Das umfaßt natürlich auch die Löschung der hieraus gespeicherten Daten 17 . In § 101 wird zusätzlich die Unterrichtung des Betroffenen postuliert. Darüber hinaus aber, also für Art und Weise sowie Ort und Umfang der Verarbeitung der durch Maßnahmen auf Grund § 100 a gewonnenen Informationen, fehlen wiederum nähere Vorschriften. Unabhängig davon sollte über die Weite der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 100 a Satz 1 vielleicht um so mehr nachgedacht werden, je mehr die Neigung wächst, in Novellierungsentwürfen für neue Befugnisse pauschal an § 100 a anzuknüpfen! In diesem Zusammenhang sei ergänzend auf folgendes hingewiesen: Das Poli^eirecht enthält keine spezielle Befugnis zur Telefonüberwachung für Zwecke der Gefahrenabwehr. Die Generalklausel ist aber hier mit Sicherheit nicht, zumindest nicht mehr, anwendbar. Dies resultiert auch daraus, daß kein Polizeigesetz das Grundrecht nach Art. 10 GG als einschränkbar zitiert, wie es Art. 19 Abs. 1 GG aber erfordern würde 18 . Die einzige — frühere — Ausnahme, das Brem PolG (dort § 51 c i. d. F. 1983), ist mit der Novellierung von 1983 entfallen (die jetzt einschlägige Bestimmung, § 9, enthält keinen Hinweis mehr auf Art. 10 GG). Weitere Ausführungen erübrigen sich somit. Doch sollte nicht vergessen werden, daß damit auch jede Nutzung von Informationen, die aus Maßnahmen auf Grund § 100 a StPO gewonnen wurden, für Zwecke der Gefahrenabwebr auszuscheiden hat, solange die StPO keine § 3 Abs. 2 bzw. § 7 Abs. 3 Gesetz zu Art. 10 GG vergleichbare Verwertungsmöglichkeit vorsieht. Alles andere wäre ein eklatanter Verstoß gegen das geltenden Polizei- und Strafverfahrensrecht. f ) Behördliche
Auskünfte
Von besonderer Bedeutung ist die Auskunftsregelung nach § 161 S. 1 StPO. Dies aus mehreren Gründen: zum einen wegen des aus heutiger Sicht problematischen generalklauselartigen Charakters; zum andern weil § 161 (ohne daß genauer differenziert würde zwischen Satz 1 und Satz 2, die doch gänzlich verschiedene Inhalte haben!) seit Jahren neben § 163 stereotyp als Grundlage für die so alte wie unhaltbare „Schwellentheorie" angeführt wird, wonach informationelle Eingriffe „minderer Art" hier ihre Rechtfertigung finden sollen (näher u. zu IV. 2). 17
18
Zu den evtl. Ausnahmen hiervon, allein Gerichtsakten betreffend, Meyer Rdn. 7 zu § 100 a. Näher Riegel aaO (Fn. 16), Vorbem. 3. m. w. Nachw.
(Fn. 14),
Befugnisse zur Informationsverarbeitung für Zwecke der Strafverfolgung
353
§ 161 S. 1 verpflichtet alle öffentlichen Stellen zu Auskünften auf Fragen, die nach Auffassung der Staatsanwaltschaft (i. d. R. durchgesetzt durch die ermittelnde Polizeibehörde) für die Strafaufklärung von Bedeutung sind. Hiernach ist die angefragte Stelle ggf. auch dazu verpflichtet, „Ermittlungen jeder Art" (sie!) für die Staatsanwaltschaft durchzuführen. Das kann von einer einfachen Einzelauskunft bis zur Übermittlung aller vorhandenen Informationsbestände nach geeigneter Vorwahl oder Umsortierung usw. zu Zwecken des Abgleichs oder ähnlichen weiteren Schritten gehen. Entsprechende Anforderungen zu Rasterfahndungen werden demgemäß u. U. ebenfalls hierauf gestützt 19 . Dies ist also einer der Eingriffe „minder schwerer Art" im vorgenannten Sinn für die Schwellentheoretiker! § 161 enthält jedoch im Gegensatz zu anderen Regelungen, speziell solchen über Berufsgeheimnisse wie §§68 ff SGB X oder §30 AO usw. 20 keinerlei Präzisierung und erst recht keine Hinweise wie — wo — welche Informationen, die auf diese Weise erhoben wurden, weiter verarbeitet werden dürfen. Nach dem apodiktischen Wortlaut („jeder Art") könnte sogar zweifelhaft sein, ob wenigstens der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. Der allzu früh verstorbene führende Kommentator der StPO Meyer ging — anders als wohl manchmal die Praxis — zu Recht schon immer davon aus, daß diese Beachtung selbstverständlich ist. Schließlich handelt es sich um einen Verfassungsgrundsatz 21 . Aber letztlich ist dies ein schwacher Trost angesichts des Umfangs, der Vielgestaltigkeit und des steten Ausbaus der polizeilichen Informationsverarbeitung zu Zwecken der Strafverfolgung. Von „bereichsspezifisch, präzise und amtshilfefest" in den Worten des BVerfG im VZU kann hier jedenfalls nicht annähernd die Rede sein 22 . Dies im Gegensatz zu verschiedenen der genannten speziellen Regelungen, aber auch z. B. §§ 30, 35, 36 und 41 StVG. g) Massendatenverarbeitung
durch
Schleppnet^fahndung
Gleichzeitig mit der Verabschiedung des Paß- und PersAuswG wurde im Frühjahr 1986 der nicht zu Unrecht als Schleppnet^fahndung apostrophierte § 163 d StPO als neue Ermittlungsbefugnis für Strafverfahren der in § 163d genannten Art beschlossen. 19
20 21
22
Ausführlich Riegel, Rechtsprobleme der Rasterfahndung, ZRP 1980, 300 ff; vgl. auch u. zu 2 a. Hierzu Riege! (Fn. 5), S. 53 ff. Vgl. Meyer (Fn. 14), Rdn. 9 zu § 161. Zur Problematik der Anwendung von § 161 S. 1 und evtl. neu zu definierenden Grenzen zumindest im Verhältnis zu den Nachrichtendiensten vgl. Riegel, Informationelle Zusammenarbeit der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden, CR 1986, 343 ff, 417 ff, 419 m. w. Nachw. BVerfGE 65, 1, 46.
354
Reinhard Riegel
Unabhängig von den verschiedenen Problemen einer Vorschrift über Massen-Datenverarbeitung im allgemeinen und § 163d im besonderen 23 ist diese Bestimmung die erste und bisher einzige, die — die Voraussetzungen der Erhebung, — den Rahmen von Art und Weise der Verarbeitung und weiteren Nutzung der hierbei angefallenen Informationen, — die Übermittlung bzw. deren Ausschluß (Umkehrschluß aus Abs. 4: Verwendung nur für Strafverfahren, insoweit allerdings unbegrenzt), — den Nachbericht als Folgepflicht personenbezogener Informationsverarbeitung regelt. Genau dies ist andererseits ein Problem, das im Laufe des im Eiltempo durchschrittenen Gesetzgebungsverfahrens auch zu Recht diskutiert wurde: Muß aus dieser ersten Regelung über Informationsverarbeitung zu Zwecken der Strafverfolgung nicht e contrario geschlossen werden, daß „im übrigen" keine Datenverarbeitung stattfinden darf, bevor nicht entsprechende Regelungen, die ja spätestens seit dem VZU erforderlich sind, erlassen wurden? Das wurde natürlich sofort verneint, weil nicht sein kann, was nicht sein darf und weil sonst i. d. Tat wesentliche Staatsaufgaben, nämlich die Strafverfolgung, nicht mehr erfüllt werden könnten 24 . Letzteres ist gleichzeitig die entscheidende Begründung für die Zubilligung der Fortsetzung eines an sich rechtswidrigen Zustandes während der Übergangszeit. Die Frage ist nur, wie lange und in welchem Umfang. h)
Steckbrief
Bei diesem Überblick sind noch §§ 131 und 457 StPO zu nennen. Hiernach kann unter den dort genannten Voraussetzungen für Zwecke der Strafverfolgung ein Steckbrief erlassen werden. Dies ist ein besonderer und „uralter" Fall der Informationsübermittlung an jedermann außerhalb von Dateien. 3.
Zwischenergebnis
Das Strafverfahrensrecht enthält — von geringen und auf sehr spezielle Fälle begrenzten Ausnahmen abgesehen — kaum Ansätze für Regelungen über Informationsverarbeitung. Überwiegend sind allenfalls für die 23
24
Hierzu außer den Erl. bei Meyer (Fn. 14) und zu § 163 d s. die kritischen Ausführungen bei Kühl, NJW 1987, 737 ff, 738 f u . Riegel, CR 1986, 138 ff; vgl. andererseits Rogall, NStZ 1986, 385 ff. Näher Riegel aaO (Fn. 23), 146 f.
Befugnisse zur Informationsverarbeitung für Zwecke der Strafverfolgung
355
Erhebung Grundlagen vorhanden, die dann aber oft wegen ihrer generalklauselartigen Formulierung aus heutiger Sicht und im Lichte des VZU erheblichen Präzisierungsbedarf aufweisen. Was fehlt, ist vor allem eine geschlossene gesetzliche Regelung der allgemeinen Grundvoraussetzungen der täglich stattfindenden Informationsverarbeitung. Gerade die Einfügung von § 163 d hat dies deutlich gemacht. Im Poli^eirecht ist, nebenbei bemerkt, die Situation nicht viel besser. Da aber bei den Polizeibehörden der absolute Schwerpunkt der (insbesondere automatisierten) Informationsverarbeitung liegt und dort vor allem Informationen zur Gefahrenabwehr weiter verarbeitet werden, die aus Strafverfolgungsmaßnahmen stammen, wiegt dies noch schwerer. Darüber hinaus fehlen aber weitgehend generell klare gesetzliche Grundlagen über die Vielzahl besonderer Fahndungsmaßnahmen, die die Praxis seit Jahren kennt und die mit z. T. erheblichen Eingriffen in das informationelle Selbstbestimmungsrecht verbunden sind. In welch großem Umfang dies der Fall ist, sei nunmehr dargestellt.
III. Wichtige Aspekte der Informationsverarbeitung in der Praxis ohne ausreichende gesetzliche Grundlagen 1. Maßnahmen der
Informationserhebung
Unter diesem Gesichtspunkt sind vor allem — mit Ausnahme der in §§ 100 a—101 geregelten Telefonüberwachung — alle heimlichen Maßnahmen zu nennen, mit denen Daten zur Überführung des (vermuteten) Täters gesammelt werden und für die es „von Anfang bis Schluß" an gesetzlichen Grundlagen i. S. des VZU fehlt. Da es sich um heimliche, also ohne Kenntnis des Betroffenen und damit gegen seinen Willen durchgeführte Aktionen handelt, ist das Fehlen gesetzlicher Grundlagen besonders gravierend. Ohne auf Besonderheiten der Maßnahmen einzugehen, die jeweils einen eigenen Beitrag erforderten, seien angeführt 25 : a) Die gezielte polizeiliche Observation, ein häufiges und besonders intensives Mittel zur Informationsgewinnung. Hier werden zunehmend auch technische Mittel zur möglichst großen (Massen-)Datengewinnung eingesetzt (z. B. Videokameras). Ist letzteres der Fall, ist die Ausdehnung der Erhebung von Informationen auf den Jedermann faktisch programmiert. 25
Zum Nachfolgenden näher die vom Verf. bearbeiteten Stichwörter in Münchener Rechtslexikon m. w. Nachw.
356
Reinhard Riegel
Im Strafverfahrensrecht gibt es hierfür keine generelle Regelung. Man stützt sich letztlich auf § 163 StPO (hierzu s. u. IV.2). Seit neuestem enthält jedoch das VersG i. d. F. v. Art. 3 d. G. v. 9. Juni 1989 (BGBl. I, S. 1059) eine Spezialbestimmung für die Anfertigung von Bild- und Tonaufzeichnungen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte von Annahme rechtfertigen, daß erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung entstehen. Die Aufzeichnungen können dann für Zwecke der Strafverfolgung genutzt werden (§ 12 a Abs. 1 Nr. 1 und § 19 a). Hier dürften die Alternativvorschläge von § 8 b VE MEPolG Pate gestanden haben, die wiederum auf § 13 AE PolG zurückgehen. Jedenfalls, ohne daß hier näher auf den Inhalt der neuen Bestimmung eingegangen werden soll, ist dies zumindest eine Klarstellung mit möglichem Eingrenzungseffekt der bisherigen, ungeregelten und damit prinzipiell unberechenbaren Praxis! Auf die Einbeziehung des zunehmend umstrittenen und obsoleten Begriffs der öffentlichen Ordnung für polizeiliche Eingriffsbefugnisse hätte man freilich besser verzichtet. Andererseits ist diese Regelung ein weiteres Beispiel für die normative Kraft des Faktischen, das seit langem durch die Praxis vorgegeben war. b) Polizeiliche
Beobachtung
Auch die unter Nutzung der Fahndungsdatei im INPOL-System durchgeführte Polizeiliche Beobachtung (PB), eingesetzt vor allem zur Verfolgung schwererer Delikte, zielt trotz einiger neuerer verwaltungsmäßiger Restriktionen weit über den Tatverdächtigen oder Störer sowie die erweiternden Voraussetzungen der Inanspruchnahme des Nichtstörers hinaus. Denn bei der PB sollen grundsätzlich auch Informationen über Begleit- oder Kontaktpersonen (ein stets schwierig eingrenzbares Fahndungskriterium) gewonnen werden. Diese Maßnahme ist allerdings insofern wesentlich weniger intensiv als die Observation, als sie beschränkt ist auf die Fälle, in denen eine Abfrage in der polizeilichen Fahndungsdatei erfolgt. Je öfter letztere jedoch durchgeführt wird (z. B. an der Grenze, an Kontrollstellen nach § 111 StPO, bei jeder beliebigen Personenkontrolle), desto mehr verringert sich dieser Unterschied. Besonders problematisch wird es, wenn auch allgemeine Straßenverkehrskontrollen zum Anlaß solcher Anfragen genommen werden, ggf. vom Straßenrand aus unter Nutzung des Kfz-Kennzeichens und der Gewinnung der Halterdaten aus dem Zentralen Verkehrsinformationssystem gem. §§ 35 ff StVG 26 .
26
Vgl. Riegel, Der unbescholtene Bürger als Objekt sicherheitsbehördlicher Informationsverarbeitung, DVB1 1987, 325 ff, 327, 329 f; ders., Zum Einfluß von Informationsverarbeitung und Datenschutz auf die öffentliche Verwaltung, VOP 1989, 156 ff.
Befugnisse zur Informationsverarbeitung für Zwecke der Strafverfolgung
357
Die „Grundlage" dieser Maßnahme für Zwecke der Strafverfolgung befindet sich bisher ausschließlich in der berühmten PDV 384.2 i. V. m. polizeilichen Dateierrichtungsanordnungen, nicht jedoch in der StPO. c) Ausschreibung
im Polizeilichen
Informationssystem
Selbst die „normale" und täglich hundertfach bundes- oder landesweit erfolgende Ausschreibung %ur Fahndung oder Aufenthaltsermittlung im Polizeilichen Fahndungsbestand ist rechtlich nicht unproblematisch (wenn auch in der Sache durchaus vertretbar und heute wohl unerläßlich). Sie findet in der StPO keine Grundlage. Die Nr. 39 ff RiStBV sind kein Ersatz und regeln im übrigen nur die Ausschreibung selbst, keinesfalls aber die viel problematischeren Fragen der weiteren Informationsverarbeitung und nicht einmal die Inhalte der Ausschreibung! Nirgends, auch nicht im Polizeirecht, sind gesetzliche Grundlagen über die Voraussetzungen zur Ausschreibung und deren Inhalte ersichtlich (vgl. auch oben II.2 a). Aus § 10 e VE MEPolG folgt zwar immerhin, daß es so etwas wie einen polizeilichen Fahndungsbestand gibt. Auch in § 3 a PersAuswG sowie § 17 PaßG wird dieser Begriff vorausgesetzt. Er wird aber nirgends definiert, obwohl man sich über seinen Umfang und das Problem der schleichenden Ausdehnung durchaus streiten kann. Gegenwärtig ergibt sich der Inhalt der polizeilichen Fahndungsausschreibung jedenfalls allein aus der Lektüre der betreffenden Dateierrichtungsanordnung im jeweiligen Stand. Das ist mißlich. d)
Rasterfahndung
Sie ist ein inzwischen schon klassisches Instrument für Massendatenverarbeitung, bei der noch stärker als bei § 163 d StPO und der Polizeilichen Beobachtung der konkrete Verdacht am Ende, nicht am Anfang der Maßnahme steht. Die Maßnahme findet ihre „Grundlage" für Beschreibung der Struktur, der Voraussetzungen usw. für Zwecke der Strafverfolgung bisher allein in Ziff. 5.9 der Dateienrichtlinien des BKA und der entsprechenden Richtlinien der Länder 27 . Für das Poli^eirecht wurde ein Vorschlag des Verf. inzwischen im wesentlichen in § 29 Brem PolG, § 25 d RP PVG und jüngst in § 44 in Hess SOG, § 31 NW PolG und § 37 SPolG übernommen 28 . Er liegt auch § 10 f VE MEPolG zugrunde. Der große Rest ist Schweigen. 27 28
Vgl. die Fundstelle bei Fn. 9. Vgl. Riegel aaO (Fn. 19).
358
Reinhard Riegel
e) Der Einsat% von V-heuten und verdeckten
Ermittlern
Beides sind heimliche Mittel zur Aufklärung schwererer Delikte insbesondere im Bereich der Rauschgift-, Terrorismus- und Bandenkriminalität. Ihre prinzipielle Zulässig- und Vertretbarkeit erscheint heute weitgehend unbestritten 29, sofern der Einsatz wirklich auf Schwerkriminalität begrenzt bleibt. Die Probleme sind jedoch im einzelnen vielgestaltig und betreffen nicht nur den (auch) gesetzestheoretischen Aspekt verfassungsmäßiger Rechtsgrundlagen für Erhebung und weitere Verarbeitung der so gewonnenen Informationen. Vielmehr sind mit diesen Maßnahmen auch vielschichtige psychologische, kriminalistische und zwischenmenschliche Aspekte der Auswahl, Führung und des Schutzes der jeweils in dieser Form eingesetzten Personen verbunden. Immerhin haben Innen- und Justizministerkonferenz es auf gemeinsame Richtlinien gebracht, die wenigstens verwaltungsmäßig einige dieser Fragen regeln 30 . Das ist besser als gar nichts. Aber es reicht — nicht nur sub specie VZU — bei weitem nicht aus. Auch deshalb nicht, weil die Richtlinien die Probleme der Informationsverarbeitung vollkommen ausklammern. 2. Zur Praxis der Informationsverarbeitung für Zwecke der im allgemeinen
Strafverfolgung
Nach allem zu II und vorstehend zu 1 Gesagtem kann es hier bei folgendem zusammenfassenden Urteil sein Bewenden haben: Zwar enthält die StPO für verschiedene klassische Maßnahmen der Strafverfolgung mehr oder weniger detaillierte Regelungen über Informationsgewinnung, darüber hinaus in einigen wenigen Fällen auch über die Zweckbindung bzw. die Grenzen der Übermittlung an andere Stellen oder weitere Verwertung für andere Strafverfahren (s. o. 1). Doch fehlt es — mit Ausnahme von § 163 d — an jeglichem Ansatz für einen gesetzlichen Rahmen der Voraussetzungen, Inhalte und Grenzen der (weiteren) Informationsverarbeitung. Das gilt nicht nur für die Verarbeitung in Fahndungs-, Falldateien etc. verschiedenster Art sondern selbst für die Verarbeitung in Registraturdateien. Diese Gesetzeslücke ist darüber hinaus besonders problematisch für die zunehmend eingesetzten Spezialdateien (s. o. I) und die Nutzung von PC's für bald jedes einzelne 29
30
Vgl. die Nachw. aus der Rechtspr. des BVerfG und des BGH in dem v. Verf. bearbeiteten Stichwort V-Mann aaO (Fn. 25) sowie BVerfG NJW 1987, 1874. Gemeinsame Richtlinien „über den Einsatz verdeckter Ermittler" bzw. „über die Inanspruchnahme von Informanten und den Einsatz von Vertrauenspersonen (V-Personen)" im Rahmen der Strafverfolgung vom 24./26. 9. bzw. 17. 10. 1985, abgedruckt bei Riegel aaO (Fn. 6, Textslg.) unter C III 6 u. 7.
Befugnisse zur Informationsverarbeitung für Zwecke der Strafverfolgung
359
Ermittlungsverfahren. Was letzteres im Unterschied zur bisher klassischen manuellen Verarbeitung an Zuwachs von stets beliebig und in allen gewünschten Verknüpfungen auswertbaren Informationen bedeutet, ist weder meß- noch kontrollierbar! Besonders gravierend aber erscheint, daß die Praxis darüber hinaus eine Vielzahl äußerst sensibler Maßnahmen kennt, für die es noch nicht einmal die Spur einer Regelung gibt, wie sie für andere Maßnahmen wenigstens hinsichtlich der Erhebung und z. T. darüber hinaus besteht (s. vorstehend 1). All diese (bereits jeweils für sich betrachtet empfindlichen) Lücken und damit datenschutzrechtlichen Bedenken werden kumuliert und potenziert durch den regen aber ebenfalls ungeregelten Informationsaustausch mit anderen Stellen im In- und Ausland. Hierauf ist anschließend einzugehen. 3. Informationsübermittlung a) Der Grundsatz der informationellen
an andere
Stellen
Gewaltenteilung
(i. G.)
Die i. G. ist eine Folge der staatlichen Aufgabenverteilung und ein wichtiger Teilaspekt des informationellen Selbstbestimmungsrechts. Der Grundsatz wurde vom BVerfG im VZU erstmals expressis verbis anerkannt 31 . Er besagt, daß Informationen, die im konkreten Einzelfall über einen Bürger erhoben wurden, prinzipiell an den Erhebungszweck, wie er sich in der Erhebungsnorm manifestieren muß, gebunden sind. Die Datenübermittlung an andere Stellen kann daher nicht die Regel, sondern muß die Ausnahme sein. Das bedeutet, daß der Gesetzgeber bei der Formulierung von Übermittlungsvorschriften als Grundlage für die Durchbrechung des Prinzips der i. G. restriktiv verfahren sollte. Dabei kommt es natürlich u. a. auf die Sensibilität der Informationen sowie darauf an, welche Stelle die Informationen mit welchen Befugnissen für welchen Zweck erhoben hat. Mittlerweile wurde der Grundsatz der i. G. vom BVerfG weiter präzisiert und insbesondere klargestellt, daß für das Datenschutzrecht ein eigener, funktioneller Behördenbegriff ausschlaggebend ist: Hiernach ist auch innerhalb einer Behörde für die Frage der Datenzweckbindung und der Zulässigkeit von Übermittlungen danach zu differenzieren, welche Aufgabe die jeweilige Stelle hat 32 . Auf den organisationsrechtlichen Behördenbegriff (z. B. Gemeinde oder Landrats31 32
BVerfGE 65, 1, 46, 61 f, 63, 69. BVerfG NJW 1988, 959. Zu dieser Forderung nach dem funktionellen Behördenbegriff schon Riegel, Datenschutz bei den Sicherheitsbehörden 1980, S. 23 f; ders. (Fn. 5), S. 56 ff.
360
Reinhard Riegel
amt) kommt es also nicht an. Dasselbe muß prinzipiell auch für die Polizei- und Strafverfolgungsbehörden sowohl untereinander (z. B. zwischen den verschiedenen Arten von Polizei im Verhältnis von Bundesund Landesebene aber auch je nach schwerpunktmäßiger Zuständigkeit innerhalb der jeweiligen Ebene) als auch erst recht im Verhältnis zu anderen Behörden gelten. Dies ist bei den nachfolgenden Ausführungen zu berücksichtigen. b)
Probleme
Wie vielfaltig und schon abstrakt kaum mehr überschau-, geschweige denn kontrollierbar die Informationsströme zwischen den Strafverfolgungsbehörden und anderen Stellen sind bzw. sein können, hat Verf. an anderer Stelle für den Bereich des Staatsschutzes am Beispiel einer gewalttätig verlaufenden Demonstration in einem Schaubild aufgezeigt 33 . Die dort festgehaltenen Informationsströme betreffen aber nur den Informationsaustausch anläßlich eines konkreten strafprozessualen Ermittlungsfalles. Daneben finden natürlich in vielfaltiger Weise mehr oder weniger Einzelfallübermittlungen statt. So z. B. bei Anfragen von Nachrichtendiensten im Zusammenhang mit deren, also nachrichtendienstlichen Ermittlungen. Für diese und viele andere Ubermittlungen gibt es in der StPO überhaupt keine und im Polizei- und Nachrichtendienstrecht des Bundes und der Länder nur vereinzelt gesetzliche (überwiegend generalklauselartige) Grundlagen. Für letzteren Fall sei auf die Generalklauseln in verschiedenen Landesverfassungsschutzgesetzen (z. B. Art. 4 Abs. 3 Bay, enger je § 6 Brem und RP sowie §§4, 4 a NRW-VerfSchG) und im Polizeirecht auf §§ 33 Brem PolG und 25 c RP PVG sowie — schon detaillierter — jüngst §§ 44 h—m Hess SOG, 2 6 - 3 0 NW PolG und 3 2 - 3 7 SPolG hingewiesen 34 . Das BKAG erwähnt dagegen ohnehin nur Übermittlungen von und an Polizei- und Strafverfolgungsbehörden (§§ 2—4). Dies sollte eigentlich zum Umkehrschluß zwingen! (Daß in der Praxis ein reger Informationsaustausch mit den Nachrichtendiensten erfolgt, großenteils sogar unmittelbar über NADIS, ist bekannt!) Außerdem können die polizeirechtlichen Grundlagen prinzipiell nur Informationen aus Maßnahmen der Gefahrenabwehr umfassen, nicht dagegen solche aus Strafverfolgungsmaßnahmen, sofern sich aus der StPO nichts Gegenteiliges ergibt. Letzteres ist aber bisher nicht der Fall. 33 34
Vgl. Riegel (Fn. 5), S. 82 u. 83. Vgl. Riegel, Informationelle Zusammenarbeit der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden, CR 1986, 343 ff, 345.
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c) Informationsübermittlung
an ausländische
361
Stellen
Allgemein besonders regelungsbedürftig ist auch die Frage, unter welchen Voraussetzungen und von wem (Polizei, Staatsanwaltschaften, Nachrichtendienste, weitere Stellen) Informationen, die aus Strafverfolgungsmaßnahmen stammen, an ausländische Sicherheitsbehörden übermittelt werden dürfen. Hierfür reicht das IRG eben nicht aus, denn die Rechtshilfe ist nur ein ganz kleiner — aus datenschutzrechtlicher Sicht allerdings ebenfalls nicht zufriedenstellend geregelter — Teil dessen, was an personenbezogenen Informationen aus Strafverfahren tagtäglich an Interpol, an ausländische Poli^eidienststellen und an ausländische Nachrichtendienste übermittelt wird 35 . Dasselbe gilt für Art. 3 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut: diese Regelung stellt für sich allein keine tragfähige Grundlage für Übermittlungen dar und betrifft im übrigen nur einen exklusiven Empfangerkreis 36 . Das scheint manchmal vergessen zu werden, wenn man die vielfaltige Berufung auf diese Bestimmung näher untersucht. Wie sehr aber gerade beim grenzüberschreitenden Informationsaustausch die schutzwürdigen Belange beeinträchtigt und nationalrechtliche Kautelen unterlaufen werden können, läßt sich einer Analyse des Verf. über den Stand des Informations- und Datenschutzrechts im Ausland, speziell auch im Strafverfahren, entnehmen 37 . Also bedarf es hierfür klarer und restriktiver Regelungen. Diese müssen bereits bei der Frage ansetzen, ob überhaupt und unter welchen Voraussetzungen die nationalen Polizeibehörden Informationen aus Strafverfolgungsmaßnahmen zu Zwecken der Gefahrenabwehr und vorbeugenden Straftatbekämpfung in ihren Dateien weiter verarbeiten und dann ggf. auch an andere Stellen übermitteln dürfen nach Abgabe der Angelegenheit an die zuständige Staatsanwaltschaft. Außerdem ist eine Reihe grundsätzlicher Aspekte beim Stand des jeweiligen ausländischen Datenschutzrechts zu berücksichtigen. Hierfür wird aus Platzgründen auf anderweitige Ausführungen verwiesen 38 .
35
36 37
38
Näher Riegel (Fn. 1), S. 10 ff; ders., Probleme des Datenschutzes bei internationaler Rechtshilfe und informationeller Zusammenarbeit der Polizeibehörden, BayVBl 1985, 135 ff. Näher Riegel aaO (Fn. 34), 349. Riegel, Grenzüberschreitende Informationsverarbeitung u. Datenschutz bei den Sicherheitsbehörden, CR 1987, 311 f, 446 f, 614 f; ders., speziell zur Situation im Rahmen der EG, Auf dem Weg zur europäischen Informations- und Technologiegemeinschaft, DSWR 1989, 36 ff und 65 ff sowie ders., Europäische Gemeinschaften und Datenschutz, ZRP 1990, 132 ff je m. w. Nachw. Riegel aaO (Fn. 35 und 37).
362
Reinhard Riegel
IV. Die „Rechtfertigung" des gegenwärtigen Auseinanderklaffens von Recht und Praxis und die rechtsstaatliche Lösung des Dilemmas 1. Der Rückgriff auf das allgemeine a) Gefährdung der
Datenschut^recht?
Rechtseinheit
Mit diesem Rückgriff würde für das Strafverfahren die durch die StPO vorgegebene und gewollte Rechtseinheit auf der Grundlage von Art. 74 Nr. 1 GG in wichtigen Elementen gefährdet. Gem. § 7 Abs. 2 BDSG wären nämlich für die Strafverfolgungsbehörden der Länder die jeweiligen (untereinander und im Verhältnis zum BDSG erhebliche Unterschiede aufweisende) LandesDSGe zur Lückenfüllung für die Grundlagen zur Informationsverarbeitung einschlägig. Für die Strafverfolgungsbehörden des Bundes gälte dagegen das BDSG. Daß dies von vornherein mißlich wäre, erscheint evident. Dies unabhängig von der Frage, ob der Landesgesetzgeber überhaupt die Befugnis hat, Regelungen für die Speicherung personenbezogener Daten durch Staatsanwaltschaft und Gerichte im Zusammenhang mit strafprozessualen Ermittlungsverfahren zu erlassen 39 . b) Notwendigkeit
bereichsspe^ifischer
Lösung
Nach dem VZU ist grundsätzlich nur noch eine bereichsspezifische Lösung im Rahmen der StPO selbst möglich, denn für Informationen, die überwiegend heimlich und/oder mit der Möglichkeit zwangsweiser Durchsetzung gewonnen werden, wie es für die Strafverfolgung der Fall ist, bedarf es „bereichsspezifischer und präziser Regelungen". Dies sowohl für die Informationsgewinnung als auch für die weiteren Schritte der Verarbeitung. Das ist inzwischen wohl auch weitgehend unbestritten 40 und bedarf daher keines weiteren Nachweises über die Ausführungen zu I und II hinaus. § 45 BDSG verweist ohnehin auf das vorrangige bereichsspezifische Recht und führt zutreffend für die Strafverfolgung u. a. Bestimmungen der StPO sowie des BZRG an (§ 45 Nr. 2 u. 3 BDSG). Die beiden letztgenannten Gründe und die bereits in einigen Landespolizeigesetzen und im BKAG vorgezeichnete Entwicklung spre-
39
40
Hierzu vgl. auch Hess. DSB, 16. TB 1987, S. 38 sowie OLG Frankfurt, N J W 1989, 47 = CR 1989, 505 ff (unter II.3) m. Anm. Riegel. A. A. vielleicht noch Rebmann, jedenfalls auf dem Stand seiner Ausführungen in N J W 1985, 1 ff.
Befugnisse zur Informationsverarbeitung für Zwecke der Strafverfolgung
363
chen auch und erst recht für eine bereichsspezifische Lösung als Grundlage für Informationsverarbeitung durch Polizei- und Strafverfolgungsbehörden. Der VE MEPolG dient ebenfalls diesem Zweck. 2. Die Schwellentheorie:
„Spe^iallösung" für das
Strafverfahren?
a) Die Geburt der Theorie Mit Beginn der breiteren Diskussion über die Rechtsgrundlagen für die Polizeiliche Beobachtung und die Rasterfahndung etwa ab 1978 (also wiederum lange vor dem VZU) wurde die inzwischen berühmtberüchtigte Schwellentheorie erfunden 41 und für die Praxis schnell hoffähig und beliebig anwendbar gemacht. Motto: Weil nicht sein kann was nicht sein darf, nämlich strafprozessuale Eingriffe erheblicher und zunehmender Art ohne die erforderliche Rechtsgrundlage. Eingriffe „minderer Art" sollen hiernach von der Aufgabenklausel des § 163 StPO umschlossen sein. Dies war von vornherein abwegig einerseits, unzureichend andererseits. — Abwegig und abenteuerlich, weil es bei Maßnahmen der genannten und ähnlichen Art, wie zu III beschrieben, beim besten Willen nicht angeht, von solchen minderer Art zu sprechen. Handelt es sich doch hier gerade um die Maßnahmen, die mit ehernen Grundprinzipien des Strafverfahrens- (und auch des Polizei-) rechts aufräumen und den Zugriff auf den Jedermann eröffnen. Außerdem kennt die StPO keine Befugnisgeneralklausel. Darüber kann auch die immer wieder anzutreffende kumulative Zitierung von §§161 und 163 StPO in die Grundlagen der Schwellentheorie nicht hinweghelfen, denn dort geht es um spezifische Auskunftsrechte gegenüber Behörden und Weisungsbefugnisse gegenüber der Polizei 42 . — Unzureichend deshalb, weil die Schwellentheorie nur die Maßnahme als solche und bezogen allein auf die Erhebungsqualität betrifft, nicht aber die mindestens ebenso wichtigen, u. U. viel weiter reichenden Fragen der nachfolgenden Informationsverarbeitung, Übermittlungen etc. erfaßt (s. o. III. 3).
41
42
S. o. II. 1 b zu § 161. Zu den Lit.-Nachw. vgl. u. a. Warner, Die negative Rasterfahndung, 1985, S. 165 ff. Vgl. demgegenüber erfreulich klar in der bewußten Nichterwähnung Meyer (Fn. 14), Rdn. 1 zu § 163. Dort erfolgt ebenfalls zu Recht die Charakterisierung dieser Bestimmung als Aufgabenklausel, zu deren Erfüllung es jeweils spezieller Befugnisse bedarf. Damit wird der Schwellentheorie eine klare Absage erteilt.
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Reinhard Riegel
b) Die rechtsstaatlich
saubere Lösung
Inzwischen weiß man, daß die Schwellentheorie, auf die sich der Bundesjustizminister für die Dauer der Übergangszeit allerdings nolens volens weiterhin beruft, keine Lösung ist und es rechtsstaatlich betrachtet nie war. Sie war und ist nichts anderes als ein äußerst dürftiges Feigenblatt. Daher wird seit der 10. Leg.-Periode kurz nach dem VZU fleißig gearbeitet an einem Entwurf für die umfassende Novellierung der StPO durch einen detaillierten Katalog von Regelungen zur Informationsverarbeitung von der Erhebung bis zur Übermittlung, von der Registratur- bis zur Aktenerschließungsdatei usw. 43 . Außerdem soll zu Recht ein — hier allerdings nicht näher interessierendes — Justizmitteilungsgesetz 44 in den Bundestag eingebracht werden, mit dem die bisherigen Verwaltungsregelungen über die Mitteilungen in Straf- und Zivilsachen abgelöst und auf gesetzliche Füße gestellt werden könnten. Die nunmehr wohl unerschütterliche Einigkeit über den richtigen Weg in formaler Hinsicht reicht natürlich für eine inhaltlich rechtsstaatliche Lösung allein nicht aus. Vielmehr bedarf es der Befriedung in materieller Art. D. h. vor allem, daß es bei der anstehenden Gesetzgebung nicht darum gehen kann, lieb gewonnene Praktiken ohne sorgfältige Abwägung fest zu schreiben oder gar zu erweitern und somit ein weiteres Kapitel in der ohnehin langen Geschichte der normativen Kraft des Faktischen und der Kapitulation des Gesetzgebers vor der Exekutive zu schreiben 45 . Nunmehr muß statt dessen genau geprüft werden, was evtl. Wildwuchs und daher zurückzustutzen oder ganz zu tilgen ist und bis wohin der offenbar unvermeidliche Weg der Abkehr von den klassischen Eingriffsvoraussetzungen des konkreten Tatverdachts gehen soll 46 . Ohnehin muß schon jetzt gesagt werden, daß nur noch Schadensbegren^ung möglich sein wird. Zu weit und zu lange hat man die Technik dem Recht vorauseilen lassen. 43
44 45
46
Vgl. zu den bisherigen Entwürfen u. a. die kritische Stellungnahme der Konferenz der DSB v. 24./25. 11. 1986, abgedruckt bei DSK Rheinland-Pfalz, Tätigkeitsbericht 1986/87, LT-Drucks. 11/710, S. 79ff; vgl. auch BfD, 9. TB, S. 19f, 10. TB, S. 22 und (Stand Nov. 1988) 11. TB, S. 20 sowie Schapper, Kriminalitätsbekämpfung und Datenschutz in: Polizeiführungsakademie (Hrsg), Seminarband 51/1988 (Verhältnis Staatsanwaltschaft: Polizei), S. 141 ff, 153 ff. Vgl. BfD 10. TB, S. 23. Wie dies bei dem von der IMK im Frühjahr 1986 beschlossenen VE MEPolG ausdrücklich hervorgehoben wird, vgl. Riegel (Fn. 34), 346 f. Allgemein zu diesem Problem Riegel, Zur Interdependenz von Recht und Wirklichkeit, RiA 1986, 265 ff; ders., aaO (Fn. 26, Einfluß). Zur Kritik hieran, die ebenso für das Parallelproblem im Polizeirecht gilt, vgl. die Nachw. zu Fn. 26.
Befugnisse zur Informationsverarbeitung für Zwecke der Strafverfolgung
365
Bei dieser Schadensbegrenzung sollten insbesondere auch zwischenzeitlich gewonnene Erfahrungen mit dem nicht gerade glücklichen § 163 d StPO einerseits und den Exzessen in der praktischen Anwendung des § 111 StPO andererseits47 genutzt werden zu konkretisierenden Überlegungen, Formulierungen usw. Dann wären derartige Ausuferungen schon vom Wortlaut der betreffenden Bestimmungen künftig ausgeschlossen und würden nicht nur von good-will-Erklärungen abhängen 48 .
47
48
Hierzu vgl. beispielhaft die sehr berechtigte Kritik des BGH im Beschluß v. 30. 9. 1988, NJW 1989, 114 = MDR 1989, 176 sowie BT-Drucks. 11/ 31330; vgl. weiter die Diskussion im Innenausschuß des DBT v. 30. 1. 1989, Prot. Nr. 39 S. 26 ff i. V. m. Anl. 9 zu Ziff. 2. Um Auswüchse wie dort jeweils kritisiert bzw. geschildert zu verhindern wäre natürlich eine klar eingrenzende Formulierung vorzuziehen, wenn schon führende Interpretationen wie die von Meyer (Fn. 14), Rdn. 12 zu § 111 m. w. Nachw., die an sich auf die Notwendigkeit restriktiver Handhabung hinweisen, nichts fruchten. Vgl. auch die Verbesserungsvorschläge bei den Nachw. zu Fn. 43 sowie die Ausführungen unter III.
Über Subsidiaritätsverhältnisse und Subsidiaritätsklauseln im Strafverfahren PETER R I E S S
I.
Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs darf nach § 100 a Abs. 1 Satz 1 StPO, von den weiteren Voraussetzungen abgesehen, nur angeordnet werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts des Beschuldigten auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Diese Wendung kennzeichnet die Ermittlungsmaßnahme der Fernmeldeüberwachung als eine solche, die gegenüber anderen Ermittlungsmaßnahmen nur nachrangig, also subsidiär zulässig ist; sie steht als — in dieser Formulierung und in ihrem Kontext derzeit alleiniger — Prototyp einer ausdrücklichen Subsidiaritätsklausel 1 . Jedoch enthält, wie in einer Bestandsaufnahme zu zeigen sein wird 2 , das Strafverfahrensrecht auch an anderen Stellen ähnlich strukturierte Subsidiaritätsklauseln oder — ohne explizite Formulierung — aus dem dogmatisch-systematischen Zusammenhang ableitbare Subsidiaritätsverhältnisse. Mit einem ganzen Bündel verschiedenartig abgestufter Subsidiaritätsklauseln — teilweise nach dem Vorbild des § 100 a Abs. 1 Satz 1 StPO, teilweise aber auch in anderen Zusammenhängen — wartet der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts — Strafverfahrensänderungsgesetz 1989 (StVÄG 1989) auf 3 , bei dem im Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags 4 die Beschlußfassung der Bundesregierung über einen
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Die Bezeichnung „Subsidiaritätsgrundsatz" für die Formulierung beispielsweise bei Kleinknechtj Mejer, StPO, 39. Aufl., 1989, § 100 a Rdn. 7; K K - L a u f b ü t t e , StPO, 2. Aufl., 1987, § 100 a Rdn. 7; S K - R u d o l p h s , StPO, 1986, § 100 a Rdn. 13; Roxin, Strafverfahrensrecht, 21. Aufl., 1989, § 3 4 C IV 3 b; Schlücbter, Das Strafverfahren, 2. Aufl., 1983, Rdn. 349; Welp, Die strafprozessuale Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs, 1974, S. 67 f. Näher unten III. S. im einzelnen, auch zum Stand des Entwurfs mit Nachw. unten V bei Fn. 52. Der Beitrag wurde Mitte Januar 1990 abgeschlossen.
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Regierungsentwurf zwar noch aussteht, aber in absehbarer Zeit in Aussicht gestellt ist 4a . Wenn dieser Entwurf oder ein Regelungskonzept vergleichbarer Art 4b Gesetz wird, erlangen Subsidiaritätsklauseln und Subsidiaritätsverhältnisse im Strafverfahrensrecht eine gesteigerte Bedeutung. Das kann zu Auslegungs- und Anwendungsproblemen führen. Zu ihrer Lösung erscheint größere Klarheit über ihre Struktur, ihre Leistungsfähigkeit, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihr Verhältnis zu verwandten, aber davon abzugrenzenden Erscheinungen wünschenswert. Mit dem nachfolgenden Beitrag soll dem Phänomen der Subsidiarität im Strafverfahren in einer eher allgemeinen Form nachgegangen werden, freilich auch in der Erwartung und Absicht, daß die dabei gewonnenen Erkenntnisse für die Auslegung konkreter Subsidiaritätsverhältnisse und -klausein fruchtbar gemacht werden können.
II. Subsidiaritätsklauseln beschreiben, orientiert man sich an § 100 a StPO, mit dem die ganz herrschende Auffassung diese Bezeichnung verbindet, eine besondere Zulässigkeitsvoraussetzung für einen strafprozessualen Grundrechtseingriff. Nun hängt die Zulässigkeit von Prozeßhandlungen, namentlich von Ermittlungsmaßnahmen mit Eingriffscharakter, stets von in unterschiedlichem Umfang konkretisierten tatbestandlichen Voraussetzungen ab. Subsidiaritätsverhältnisse müssen daher mit Hilfe einer Begriffsbestimmung jedenfalls von strukturell oder funktionell verwandten Zulässigkeitsvoraussetzungen abgegrenzt werden. Näher untersucht werden soll danach die allgemeine Struktur von Subsidiaritätsverhältnissen und -klausein. Erst nach einer Bestandsaufnahme des geltenden Rechts und auf deren Grundlage soll der Frage nach den Funktionen von Subsidiaritätsverhältnissen innerhalb des Strafverfahrens nachgegangen werden 5 . 1. Subsidiaritätsverhältnisse und -klausein können folgendermaßen definiert werden: Ein Subsidiaritätsverhältnis liegt vor, wenn die Zulässigkeit einer Prozeßhandlung, namentlich einer Ermittlungsmaßnahme, dergestalt in 4a 4b
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Vgl. Information recht des Bundesministeriums der Justiz Nr. 2/1990 v o m 17. 1. 1990. Etwa die dem E S t V Ä G 1989 teilweise entnommenen Vorschläge in Art. 4 des Entwurfs des Bundesrates eines Gesetzes zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität ( O r g K G ) , BR-Drucks. 74/90. S. dazu näher unten IV.
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eine Relation zu anderen, dem gleichen Zweck dienenden Prozeßhandlungen gesetzt ist, daß sie gegenüber diesen anderen Prozeßhandlungen unter bestimmten Voraussetzungen, den Subsidiaritätsbedingungen, nur nachrangig zulässig ist. Eine Subsidiaritätsklausel ist eine Norm, die dieses Subsidiaritätsverhältnis explizit bestimmt. Diese Begriffsbestimmung ist nicht a priori vorgegeben. Sie stellt den Versuch dar, eine bestimmte, im Strafverfahrensrecht in verschiedenen Zusammenhängen vorkommende Struktur in der Erwartung begrifflich auszugliedern, daß damit für Auslegung und systematische Erfassung ein Erkenntnisgewinn erreicht werden kann. Die Definition ist zunächst einmal weit gefaßt; ihr entscheidendes Element ist ein Rangverhältnis zwischen mehreren Prozeßhandlungen, die vergleichbaren Zwecken dienen. Logisch dürften Subsidiaritätsverhältnisse die Struktur von Regel-Ausnahme-Verhältnissen aufweisen; auf die Besonderheiten wird noch zurückzukommen sein 6 . 2. Subsidiaritätsverhältnisse und Subsidiaritätsklauseln unterscheiden sich durch dieses Rangverhältnis von Alternativverhältnissen und Alternativklauseln, bei denen mehrere Prozeßhandlungen (Ermittlungsmaßnahmen) unter gleichen Voraussetzungen zulässig sind, ohne daß der Nachrang einer Prozeßhandlung bestimmt ist 7 . Freilich ist der Wortlaut nicht immer maßgebend; als Alternativklauseln formulierte Regelungen können dann verdeckte Subsidiaritätsklauseln sein, wenn sich der Vorrang der einen und damit der Nachrang der anderen Handlung aus übergeordneten, beispielsweise verfassungsrechtlichen Grundsätzen ergibt 8 Subsidiaritätsverhältnisse im Sinne der hier vorgeschlagenen Definition liegen begrifflich auch nicht vor, wenn bei mehreren dem gleichen Zweck dienenden Prozeßhandlungen einige von engeren Voraussetzungen abhängig sind als die anderen, so beispielsweise, wenn eine strafprozessuale Ermittlungshandlung schon bei Vorliegen des sog. Anfangsverdachtes (§ 152 Abs. 2 StPO), eine andere aber erst bei Vorliegen der erhöhten Verdachtsschwelle des durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdachts zulässig ist oder den Verdacht spezieller, katalogartig beschriebener Straftaten voraussetzt 9 . Allerdings kann eine derartige
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S. näher unten IV 2. Die gleiche Situation ist dann gegeben, wenn zwar unterschiedliche Voraussetzungen für die verschiedenen Prozeßhandlungen vorliegen, im konkreten Einzelfall aber die Voraussetzungen für alle erfüllt sind. Ein Beispiel bildet das Verhältnis von Vorführungs- und Haftbefehl bei unentschuldigtem Ausbleiben; dazu näher unten III 4. Beispiele sind etwa das Verhältnis der Durchsuchung nach § 102 StPO, bei der der Anfangsverdacht (§ 152 Abs. 2 StPO) reicht, aber auch erforderlich ist (vgl. LR-
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Konkurrenz mehrerer Prozeßhandlungen faktisch einem Subsidiaritätsverhältnis nahekommen, und zwar immer dann, wenn zunächst nur die großzügigeren Voraussetzungen der einen Maßnahme vorliegen, durch deren Anwendung aber erwartet werden kann, die Grundlagen für die Zulässigkeit der anderen Maßnahme zu gewinnen, also etwa einen Anfangsverdacht zu einem auf bestimmte Tatsachen gegründeten oder einem dringenden Verdacht zu verdichten. 3. Alle Subsidiaritätsverhältnisse werden durch drei Elemente gekennzeichnet, die in ihrem Zusammenwirken das jeweilige Subsidiaritätsverhältnis konkretisieren: den Bezugspunkt der Subsidiarität, die konkurrierenden Prozeßhandlungen und die Subsidiaritätsbedingungen. a) Bezugspunkt oder Gegenstand der Subsidiarität ist der gemeinsame Zweck, zu dessen Erreichung die konkurrierenden, in einem Subsidiaritätsverhältnis stehenden Prozeßhandlungen in Betracht kommen. Im Beispiel des § 100 a Abs. 1 Satz 1 StPO ist Bezugspunkt die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten, in der Subsidiaritätsklausel des § 116 Abs. 1 StPO ist es die Erreichung des Zwecks der Untersuchungshaft. b) Konkurrierende Pro^eßhandlungen (Maßnahmen) in einem Subsidiaritätsverhältnis sind diejenigen, die zur Erreichung des Bezugspunktes geeignet sind und von denen mindestens eine gegenüber den übrigen als subsidiär erscheint. Dabei muß notwendigerweise die jeweils subsidiäre Prozeßhandlung eindeutig bestimmt oder bestimmbar sein. Nicht unerläßlich ist es dagegen, daß auch die vorrangigen Maßnahmen im einzelnen bezeichnet werden; es genügt sie allgemein zu umschreiben. So wird beispielsweise in § 100 a Abs. 1 Satz 1 StPO der subsidiären Maßnahme der Fernmeldeüberwachung der Bereich der konkurrierenden Prozeßhandlungen global mit „auf andere Weise" gegenüber gestellt 10 . In der durch § 116 geregelten Subsidiaritätssituation ist der Vollzug der Untersuchungshaft die subsidiäre Maßnahme; die mit ihr konkurrierenden vorrangigen Maßnahmen werden generalisierend als „weniger einschneidende Maßnahmen" gekennzeichnet und in § 116 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 StPO regelbeispielhaft umschrieben.
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G.Schäfer, StPO, 24. Aufl., 1984ff, § 1 0 2 Rdn. 14 mit Nachw. der großzügigeren Gegenmeinung), zur Kontrollstellenanordnung (§111 StPO) oder einer Kontrollfahndung (§ 163d StPO), bei denen sowohl eine gesteigerte Verdachtsschwelle als ein Deliktskatalog normiert sind. Dabei ist im Schrifttum umstritten, ob mit der Formulierung „auf andere Weise" ein Vorrang aller, also auch der im konkreten Fall den Beschuldigten belastenderen Maßnahmen gemeint ist (so z. B. LR-G. Schäfer (Fn. 9), § 100 a Rdn. 13; S K - R u d o l p h ! (Fn. 1), § 100 a Rdn. 13; Welp (Fn. 1), S. 67 f mit krit. Würdigung), oder nur der weniger belastenden (so z. B. Schlächter (Fn. 1), Rdn. 349). Auf die Frage soll hier nicht näher eingegangen werden.
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c) Subsidiaritätsbedingungen sind die Gesamheit derjenigen Umstände, bei deren Vorliegen die subsidiäre Maßnahme zulässig ist. Die Subsidiaritätsbedingung kann mehrere miteinander verbundene oder voneinander unabhängige Elemente enthalten, mehr oder minder exakt bestimmt oder global umschrieben sein. So enthält § 100 a Abs. 1 Satz 1 StPO als wohl voneinander unabhängige 11 Subsidiaritätsbedingungen, daß der Gegenstand des Subsidiaritätsverhältnisses (Erforschung des Sachverhalts oder Ermittlung des Aufenthalts des Beschuldigten) mit den konkurrierenden Maßnahmen (auf andere Weise) entweder aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre 12 . Subsidiaritätsbedingung beim § 116 StPO ist der Umstand, daß die Erwartung nicht hinreichend begründet erscheint, der jeweilige Zweck der Untersuchungshaft 13 könne durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden. Sieht man in §141 StPO eine Subsidiaritätsklausel, so besteht die Subsidiaritätsbedingung (für die gerichtliche Bestellung eines Verteidigers) darin, daß der Beschuldigte im Falle der notwendigen Verteidigung keinen Verteidiger wählt. III. Eine Bestandsaufnahme des geltenden Strafverfahrensrechts zeigt eine Reihe von Regelungen, bei denen teilweise der Subsidiaritätscharakter offen zu Tage liegt, teilweise mit Hilfe der Auslegung oder aus dem systematischen Gesamtzusammenhang eindeutig erschließbar ist. Neben zweifelhaften Fällen begegnen auch solche, in denen trotz darauf hindeutender Fassung kein (echtes) Subsidiaritätsverhältnis besteht. Im einzelnen ergibt sich, ohne daß eine lückenlose Erfassung der in Betracht kommenden Phänomene beabsichtigt ist, folgendes Bild: 1. Eine generelle, wenn auch in ihren Konturen wenig präzise Subsidiaritätsklausel läßt sich für alle strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen, die einen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Sphäre des einzelnen enthalten, aus dem Verhältnismäßig!?,eitsprin^ip ableiten, das dem Rechtsstaatsgedanken entspringt und Verfassungsrang besitzt 14 . In " Vgl. aber auch (zur Problematik der scharfen begrifflichen Trennung) unten V 3 . 12 Zur Interpretation s. unten V 3. 13 Wobei die Absätze 1 bis 3 des § 116 StPO bei den unterschiedlichen Haftgründen Differenzierungen enthalten, auf die es im vorliegenden Zusammenhang nicht ankommt. 14 Über Wurzeln und Reichweite des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vgl. aus dem strafprozessualen Schrifttum statt vieler, jeweils mit Nachw. der verfassungsrechtl. Rechtspr., LR-/T. Schäfer (Fn. 9), Einl. Kap. 6 Rdn. 10; Kiemknecht] Meyer (Fn. 1), AöR 107 Einl. Rdn. 20; S K - R u d o l p h i (Fn. 1), Vor § 94 Rdn. 68 f; NiemöUerjSchuppert, (1982) 484 ff.
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einer seiner Ausprägungen 15 gebietet es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, daß unter mehreren Maßnahmen diejenige zu wählen ist, die bei gleicher Erfolgseignung den Betroffenen am wenigsten belastet (Grundsatz des mildesten Mittels)16. Dieses weitgespannte und wegen seiner Weite nur recht abstrakt formulierbare verfassungsrechtliche Subsidiaritätsverhältnis für die „Eingriffskomponente" des Strafverfahrens ist für Detailfragen sperrig und nur wenig operationalisierbar, weil es eine einzelfallbezogene Abwägung anhand sehr allgemeiner Maßstäbe erfordert. Jedenfalls gilt, daß im Strafverfahrensrecht mit Verfassungsrang ein Subsidiaritätsverhältnis zu beachten ist — und sich kraft seines Verfassungsranges möglicherweise auch gegenüber präziseren konkurrierenden Subsidiaritätsbedingungen durchzusetzen vermag 17 —, bei dem Bezugspunkt der Subsidiarität das konkrete Ermittlungsziel ist, bei dem als konkurrierende Maßnahmen alle in der konkreten Situation gleichermaßen erfolgversprechenden in Betracht kommen und bei dem als Subsidiaritätsbedingung das Maß der konkreten Beeinträchtigung durch die zu treffende Maßnahme entscheidend ist. Allerdings hat die Vagheit der Kriterien ebenso wie die ebenfalls verfassungsrechtlich legitimierte Berücksichtigung gegenläufiger Interessen18 zur Folge, daß bei der Anwendung im konkreten Fall den Strafverfolgungsbehörden erhebliche Beurteilungsspielräume eröffnet sind19. Die Existenz dieser verfassungsrechtlichen Subsidiaritätsklausel ersetzt daher auch innerhalb des von ihr erfaßten Bereichs nicht präzisere, weil kleinräumigere und damit genauere Subsidiaritätsklauseln. 2. Eindeutige Subsidiaritätsklauseln finden sich im geltenden Recht in § 100 a Abs. 1 Sat% 1 StPO (Überwachung des Fernmeldeverkehrs), § 112a Abs. 2 StPO (Subsidiarität des Haftgrundes der Wiederholungs15
A u s dem Verhältnismäßigkeitsprinzip w e r d e n üblicherweise (vgl. z. B. S K - R u d o l p h i (Fn. 1), V o r § 9 4 Rdn. 7 0 f f ) die G e b o t e der Geeignetheit, der Angemessenheit ( Ü b e r m a ß v e r b o t ) und der Erforderlichkeit abgeleitet; die Erforderlichkeit setzt v o r aus, daß kein gleich geeignetes milderes Mittel v o r h a n d e n ist. Mit dem Subsidiaritätsgedanken ist n u r der letzte A s p e k t v e r b u n d e n , so daß sich das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht im Grundsatz der Subsidiarität erschöpft.
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Vgl. u. a. K K - P f e i f f e r (Fn. 1), Einl. Rdn. 30; KleinknechtjMeyer (Fn. 1), Einl. Rdn. 20; LR-Ä". Schäfer (Fn. 9), Einl. K a p . 6 Rdn. 1 0 ; LR-Rieß, § 1 6 0 Rdn. 4 0 ; S K - R u d o l p h i (Fn. 1), V o r § 9 4 Rdn. 72.
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Die hier nicht im einzelnen zu untersuchende Frage dieses Konkurrenzverhältnisses stellt sich beispielsweise dann, w e n n spezielle Subsidiaritätsklauseln zur Folge haben w ü r d e n , daß die im konkreten Einzelfall belastendere M a ß n a h m e etwa nach der Formel „auf andere Weise" den V o r r a n g haben w ü r d e .
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Vgl. mit Nachw., auch zum Topos funktionstüchtiger Strafrechtspflege, LR-/T. Schäfer (Fn. 9), Einl. K a p . 6 Rdn. 12. Vgl. die Nachw. bei LR-ÄT. Schäfer (Fn. 9), Einl. K a p . 6 Rdn. 1 3 a. E.
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gefahr nach einer zu vollstreckenden Haft nach § 112 StPO) und §116 (Subsidiarität des Vollzugs der Untersuchungshaft nach Haftverschonungsauflagen). Eine klare Subsidiarität im Verhältnis zwischen (nur subsidiärer) richterlicher Bestellung eines Verteidigers und der vorrangigen Verteidigerwahl normiert auch § 141 StPO; der subsidiäre Charakter des bestellten und der Vorrang des gewählten Verteidigers wird noch durch die in § 143 StPO getroffene Regelung verstärkt, wonach die Verteidigerbestellung bei Wahl eines Verteidigers zurückzunehmen ist 20 . Subsidiär ist ferner nach § 132 StPO bei Ausländern die Beschlagnahme von Beförderungsmitteln gegenüber der Anordnung der Sicherheitsleistung nach § 132 Abs. 1 und deren Befolgung sowie nach § 163 b Abs. 1 Sat% 2, 3 StPO wohl auch das Festhalten eines Verdächtigen sowie Durchsuchung bei ihm und seine erkennungsdienstliche Behandlung gegenüber anderen Maßnahmen der Identitätsfeststellung 21 . 3. Mehrfach finden sich modifizierte und eher atypische Subsidiaritätsklauseln22. a) Eine vom Verhalten des Betroffenen abhängige Subsidiarität regelt § 111 m Abs. 4 StPO im Zusammenhang mit der Beschlagnahme von Druckwerken. Da der Betroffene die Beschlagnahme dadurch abwenden kann, daß er die beanstandeten Partien von der Vervielfältigung und Verbreitung ausschließt, erscheint die Beschlagnahme nach § 111 m Abs. 1 StPO als subsidiär gegenüber dem „freiwilligen" Verzicht des Betroffenen auf Vervielfältigung und Verbreitung 23 . b) Eine ähnliche Subsidiarität hat sich in der Rechtspraxis durch das Institut der Auskunft oder Herausgabe von Fotokopien von Geschäftsunterlagen Abwendung einer Durchsuchung und/oder Beschlagnahme
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Zu den (im einzelnen umstrittenen) Möglichkeiten einer Pflichtverteidigerbestellung neben einem Wahlverteidiger, die am Grundsatz der Subsidiarität nichts ändern, s. LR-Lüderssen (Fn. 9), § 141 Rdn. 36 ff mit Nachw. Zur problematischen Frage des Verhältnisses der einzelnen in § 163 b Abs. 1 Satz 2, 3 StPO genannten Maßnahmen untereinander s. mit Nachw. Ui-Rieß (Fn. 9), § 163 b Rdn. 36. Die Regelung in § 111 a Abs. 1 Satz 2 StPO, nach der von der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis ausnahmsweise bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen ausgenommen werden können, die aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip abgeleitet wird (LRG. Schäfer (Fn. 9), § 111 a Rdn. 24 a. E.), steht zwar mit Subsidiaritätsüberlegungen im Zusammenhang, dürfte aber wohl nicht als eine echte strafprozessuale Subsidiaritätsklausel zu interpretieren sein. Vielmehr verlagert sie eine materiell-strafrechtliche Regelung (§ 69 a Abs. 2 StGB) in die korrespondierende prozessuale vorläufige Sicherungsmaßnahme. Vgl. zum zwingenden Charakter des § l l l m Abs. 4 StPO LR-G. Schäfer (Fn. 9), § 111m Rdn. 24.
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entwickelt 24 . In diesen Fällen wird dem an sich zur schriftlichen Auskunft nicht verpflichteten 25 privaten Geschäftsunternehmen anheim gestellt, die Beschlagnahme und die zur Auffindung der zu beschlagnahmenden Gegenstände dienende Durchsuchung durch die Erteilung schriftlicher Auskünfte mit den erforderlichen Unterlagen abzuwenden. Die die Annahme einer Subsidiarität rechtfertigende Besonderheit dieser Fallgruppe gegenüber der Beweismittel- und Einziehungsbeschlagnahme von Sachen 26 liegt darin, daß es hier nicht auf die Substanzsicherung ankommt, sondern nur auf die Gewinnung der in der Substanz verkörperten Information 27 . Der Gesetzgeber hat diese in der Praxis entwickelte Abwendungsbefugnis indirekt dadurch gebilligt, daß er im neuen § 1 7 a ZSEG 28 einen Entschädigungstatbestand für den damit verbundenen Aufwand geschaffen 29 und dabei ausdrücklich die Befugnis anerkannt hat, durch Auskunfterteilung die Pflicht zur Herausgabe „entsprechend einer Anheimgabe der Strafverfolgungsbehörde abzuwenden". Spätestens mit der gesetzlichen Anerkennung wird man bei Beschlagnahme zum Zwecke der Informationserlangung die Abwendungsbefugnis als milderes Mittel und daher — Erfolgseignung der Anheimgabe vorausgesetzt — Durchsuchung und Beschlagnahme ihr gegenüber als subsidiär ansehen müssen 30 . 4. Trotz des auf eine Alternativklausel hindeutenden Wortlauts enthält § 230 Abs. 2 StPO, der gegen den auf Ladung zur Hauptverhandlung unentschuldigt ausbleibenden Angeklagten die Vorführung oder die Untersuchungshaft anzuordnen vorschreibt, wie allgemein anerkannt ist 31 , eine aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip abzuleitende Subsidiaritätsklausel 32 . Denn Untersuchungshaft nach § 230 Abs. 2 StPO darf nur dann angeordnet werden, wenn der Vorführungsbefehl nicht ausreichend erscheint, um das persönliche Erscheinen des Angeklagten zur 24 25 26 27
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Vgl. näher LR-C. Schäfer (Fn. 9), § 94 Rdn. 50; SK-Rudolphi (Fn. 1), § 94 Rdn. 23 ff. LR-Rieß (Fn. 9) § 161 Rdn. 13. Vgl. dazu näher unten III 9 a. Vgl. zu den Besonderheiten Rieß, Festg. für Peters zum 80. Geburtstag, 1984, S. 121 f, 125 ff. In der Fassung von Art. 14 Abs. 17 des Poststrukturgesetzes vom 8. 6. 1989 — BGBl. I 1026; vgl. dazu Schnigula, JurBüro 1989, 899 ff. Vgl. zur früheren, kontrovers beurteilten Rechtslage ausführlich LR-C. Schäfer (Fn. 9), §95 Rdn. 15 ff. So schon nach bisherigem Recht z. B. SK-Rudolphi (Fn. 1) § 94 Rdn. 23 mit weit. Nachw. KleinknechtjMeyer (Fn. 1), § 230 Rdn. 19; l,K-Gollwit^er (Fn. 9), § 230 Rdn. 27 f, jeweils mit weit. Nachw. Ob sich dies schon aus der Reihenfolge der Nennung beider Maßnahmen in der Vorschrift ergibt (so LR-Gollmts^er, aaO) erscheint nicht unzweifelhaft.
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neuen Hauptverhandlung sicherzustellen, und ein Haftbefehl ist in einen Vorführungsbefehl umzuwandeln, wenn sich nach seinem Erlaß herausstellt, daß die Vorführung ausreicht33. 5. Als Subsidiaritätsverhältnis läßt sich auch die Konkretisierung und Einschränkung des Grundsatzes der unmittelbaren Zeugenvernehmung in den §§ 250 bis 256 StPO dergestalt interpretieren, daß das Vernehmungssurrogat durch Verlesung von Niederschriften und sonstigen schriftlichen Äußerungen in der Hauptverhandlung nur subsidiär zulässig ist. Bezugspunkt der Subsidiarität ist in diesem Fall die Wahrheitserforschung nach § 244 Abs. 2 StPO; als konkurrierende Prozeßhandlungen erscheinen einerseits die unmittelbare Zeugenvernehmung, andererseits die Einführung schriftlicher Unterlagen über frühere Vernehmungen, während die §§ 251 Abs. 1, 2, 253, 245 und 256 StPO eine Mehrzahl unterschiedlicher und teilweiser alternativer Subsidiaritätsbedingungen enthalten. 6. Auch das in § 335 StPO näher geregelte Verhältnis von Sprungrevision und Berufung kann, wenn auch in einem sehr weit verstandenen Sinne, als Subsidiaritätsverhältnis gedeutet werden, wenn mehrere Rechtsmittelführer ein Rechtsmittel ergreifen und über die Rangfolge von Berufung und Revision zu entscheiden ist. Bezugspunkt der Subsidiarität ist hier die nur in einer Form mögliche Rechtsmittelüberprüfung; konkurrierende Prozeßhandlungen sind Berufung und Revision. Die Subsidiaritätsbedingung wird von § 335 Abs. 3 Satz 1 StPO dahingehend bestimmt, daß eine zulässige Berufung eines anderen Rechtsmittelberechtigten vor der Revision den Vorrang hat, diese also gegenüber der Berufung so weit und so lange subsidiär ist, wie sie den gleichen Entscheidungsgegenstand für das Rechtsmittelgericht betrifft. 7. Bei der nach § 170 StPO zu treffenden Abschluß Verfügung der Staatsanwaltschaft tauchen Fragen des Subsidiaritätsverhältnisses in mehrfacher Hinsicht auf. Nicht als Subsidiarität läßt sich freilich das Verhältnis der beiden Absätze der Vorschrift insoweit interpretieren, als die Staatsanwaltschaft bei hinreichendem Tatverdacht die öffentliche Klage zu erheben, bei Fehlen eines solchen aber einzustellen hat; hier handelt es sich um die Beschreibung von einander ausschließenden Entscheidungsalternativen. Dagegen ließe sich aus dem im § 170 Abs. 1 StPO verwendeten Begriff des „genügenden Anlasses" dann ein Subsidiaritätsverhältnis entnehmen, wenn man in dieser Formulierung einen Vorrang der Einstellung nach dem § 153ff, insbesondere des Vorgehens nach § 153 a StPO, 33
O L G K ö l n , J M B 1 N W 1959, 114.
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vor der Klageerhebung sehen wollte 34 . Doch erscheint diese Interpretation weiterer Diskussion und Klärung bedürftig, wobei namentlich die (bei den einzelnen Vorschriften möglicherweise unterschiedlich zu bewertenden) Einstellungsvoraussetzungen der §§ 153 ff StPO in ihrer Funktion als Subsidiaritätsbedingungen einer genaueren Untersuchung bedürften35. Bei der Form, in der die öffentliche Klage erhoben wird, besteht nach der Neufassung des § 407 Abs. 1 StPO ein Subsidiaritätsverhältnis mit Vorrang des Straflefehlsverfahrens vor der Anklageerhebung 36 . Hier geht die Subsidiaritätsbedingung (§ 407 Abs. 1 Satz 2) dahin, daß — wenn Zuständigkeitsgrenzen und Sanktionserwartung ausreichen — eine Anklage voraussetzt, daß eine Hauptverhandlung erforderlich erscheint37. 8. Ein Subsidiaritätsverhältnis enthält auch das verbreitete Schema der Anordnungskompetenz für strafprozessuale Zwangsmaßnahmen die unter grundsätzlichem Richtervorbehalt stehen38, für den Fall der Eilbedürftigkeit39. Hier reicht die nichtrichterliche Anordnung bei „Gefahr im Verzuge" aus40. Diese liegt immer dann vor, wenn der jeweilige Maßnahmenzweck durch die Einschaltung des an sich zuständigen Richters gefährdet werden würde 41 . Die Subsidiaritätsbedingung be34
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Vgl. dazu LR-Rieß (Fn. 9), § 170 Rdn. 19, wo diese Auslegung als möglich bezeichnet wird; sowie RegEntw. StVÄG 1987, BT-Drucks. 10/1313, S. 35, wo aus der Formulierung „genügender Anlaß" ein Vorrang der Anwendung des § 153 a StPO vor der Erhebung der öffentlichen Klage (durch Strafbefehlsantrag) hergeleitet wird. K K R. Müller (Fn. 1), § 170 Rdn. 8 verneint generell und ohne nähere Begründung das Vorliegen des „genügenden Anlasses", wenn die Voraussetzungen der § 153 ff StPO vorliegen. Die Frage hängt damit zusammen, ob und wieweit man in den Einstellungsvoraussetzungen der §§ 153 ff StPO eine Ermessenseinräumung sieht oder ihnen (bei Anerkennung erheblicher Unbestimmtheit der verwendeten Rechtsbegriffe) zwingenden Charakter beilegt; vgl. dazu mit weit. Nachw. LR-Rieß (Fn. 9), § 152 Rdn. 50; § 153 Rdn. 35 f; § 153 c Rdn. 8; § 154 Rdn. 19. LR-Coj.fi/ (Fn. 9), §407 Rdn. 43 f; RegEntw. StVÄG 1987, BT-Drucks. 10/1313, S. 34; Rieß\Hilger, NStZ 1987, 204. Zu den Einzelheiten vgl. LR-Gössel (Fn. 9), § 407 Rdn. 45. Zur Bedeutung des Richtervorbehalts s. mit weit. Nachw. den Beitrag von Hilger, Über den Richtervorbehalt im Ermittlungsverfahren, in dieser Gedächtnisschrift, S. 209 ff. Entsprechende Überlegungen gelten für die Tätigkeit des Richters als sog. Notstaatsanwalt nach § 165 StPO sowie die unmittelbare Einschaltung des Ermittlungsrichters durch die Polizei nach § 163 Abs. 2 Satz 2 StPO (dazu näher LR-Rieß (Fn. 9), § 163 Rdn. 91). Gleichbedeutend die z. B. in § 81 c Abs. 5 und § 87 Abs. 4 StPO verwendete Formulierung „Gefahrdung des Untersuchungserfolgs durch Verzögerung". Vgl. statt vieler näher mit weit. Nachw. KleinknechtjMeyer (Fn. 1), § 98 Rdn. 6f; LRG. Schäfer (Fn. 9), § 98 Rdn. 35; SK-Rudolphi (Fn. 1), § 98 Rdn. 10 f.
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steht hier darin, daß die Entscheidung des an sich zuständigen Strafverfolgungsorgans aus zeitlichen Gründen nicht rechtzeitig herbeigeführt werden kann. 9. In einigen Fällen ergibt eine nähere Analyse, daß keine Subsidiaritätsverhältnisse vorliegen, obwohl der Wortlaut dies zu ergeben scheint. a) Trotz des darauf hindeutenden Wortlauts des § 94 Abs. 2 StPO ist die Beschlagnahme nicht subsidiär gegenüber der freiwilligen Herausgabe bei Gegenständen, die wegen ihrer Substanz als Beweismittel in Betracht kommen 4 2 . Denn nach einhelliger Meinung 4 3 kann ein Gegenstand auch dann förmlich beschlagnahmt werden, wenn der Gewahrsamsinhaber zur freiwilligen Herausgabe bereit ist. b) Auch der die Zulässigkeit der körperlichen Untersuchungen von Nichtbeschuldigten regelnde § 81 c Abs. 2 Sat% 1 StPO dürfte trotz der Verwendung der Formulierung, daß diese Maßnahme nur zulässig sei, wenn sie „zur Erforschung der Wahrheit unerläßlich ist", nicht als Subsidiaritätsklausel zu verstehen sein, weil sich die konkurrierenden Prozeßhandlungen und die Subsidiaritätsbedingung nicht hinreichend klar und vor allem nicht sinnvoll bestimmen lassen. Als Subsidiaritätsvorschrift müßte die Unerläßlichkeitsformel dahin verstanden werden, daß körperliche Eingriffe bei Nichtbeschuldigten im dort genannten Umfang gegenüber allen anderen in Betracht kommenden Ermittlungsmaßnahmen nachrangig wären, ein Rangverhältnis, das unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit weder durch die Schwere der in Betracht kommenden Maßnahme noch durch die Nichtbeschuldigteneigenschaft des Betroffenen sachlich gerechtfertigt werden kann. Mit der ganz herrschenden Meinung 44 wird man daher in der Unerläßlichkeitsvoraussetzung nur eine Regelung sehen können, die die Maßnahme nur dann ausschließt, wenn sie ein Ermittlungsergebnis zusätzlich bestätigen soll. Ebenso wie bei der Verwendung in anderen Zusammenhängen 4 5 kennzeichnet das Wort „unerläßlich" hier keinen Nachrang, sondern meint eine besonders sorgfaltig zu prüfende sachliche Notwendigkeit 46 . 42
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Anders zu beurteilen ist der Fall, daß die Beschlagnahme nur dazu dienen soll, die in der Substanz verköperte Information zu gewinnen; vgl. dazu oben III 3 b. Vgl. LR-C. Schäfer (Fn. 9), § 94 Rdn. 26; SK-Rudolphi (Fn. 1), § 94 Rdn. 19, beide mit weit. Nachw. LR-Dahs (Fn. 9), § 81 c Rdn. 26 mit weit. Nachw.; Kleinknechtj Meyer (Fn. 1), § 81 c Rdn. 20; KK-Pelchen (Fn. 1), § 81 c Rdn. 5; strenger KMR-Paulus, StPO, 7. Aufl., 1981, § 81 c Rdn. 21; Alternativkommmentar (AK-) StPO - Wassermann, 1988, § 81 c Rdn. 11. S. § 68a Abs. 1; § 1 5 4 c ; § 1 6 3 c Abs. 1; § 231 a Abs. 1 Satz 1 und § 231 b Abs. 1 Satz 1 StPO. Offenbleiben kann, o b die im Referentenentwurf des S t V Ä G 1988 (vgl. unten Fn. 52)
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c) Ebenfalls nicht subsidiär ist trotz des mißverständlichen Wortlauts des § 168d Abs. 2 Sat% 1 StPO die Befugnis des Beschuldigten, im Ermittlungsverfahren bei richterlichen Augenscheinseinnahmen unter Hinzuziehung von Sachverständigen eigene Sachverständige laden zu lassen47. Denn nach einhelliger Meinung 48 hat der vom Beschuldigten zu diesen richterlichen Ermittlungshandlungen gestellte oder geladene Sachverständige die Befugnisse nach § 168 d Abs. 2 Satz 2 StPO unabhängig davon, ob ein vorgängiger Antrag auf richterliche Ladung erfolgt und abschlägig beschieden worden ist. IV. Nach der Bestandsaufnahme läßt sich feststellen, daß die StPO von einem Geflecht von unterschiedlich strukturierten Subsidiaritätsverhältnissen durchzogen ist. Sie stehen in unterschiedlichen Funktionszusammenhängen, haben einen verschiedenartigen sachlichen Geltungsgrund und lassen sich nach zwei in ihrer Grundbedeutung verschiedenartigen Grundtypen differenzieren. 1. a) Eine verbreitete Funktion von SubsidiaritätsVerhältnissen ist darin zu sehen, als Ausfluß des Verhältnismäßigkeitsprin^ips Grundrechtseingriffe zu minimieren. Die in der gesetzgeberischen Bewertung als regelmäßig durchschnittlich belastender eingeschätzten Maßnahmen werden als subsidiär gegenüber anderen bezeichnet. Eindeutig in dieser Funktion erscheinen die Subsidiaritätsverhältnisse in § 100 a (Fernmeldeüberwachung), § l l l m (Abwendung der Beschlagnahme), §116 (Haftverschonung), §132 (Beförderungsmittelbeschlagnahme), § 163 b (Identitätsfeststellung), § 230 (Vorführungsbefehl) sowie die Subsidiarität der Durchsuchung und Beschlagnahme gegenüber der Auskunft und Herausgabe von Unterlagen. Auch die Subsidiarität der Verteidigerbestellung vor der Verteidigerwahl (§§ 141, 143 StPO) dürfte dieser Gruppe zuzurechnen sein. Denn die Befugnis zur eigenverantwortlichen Wahl des Verteidigers ist
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bei der Öffentlichkeitsfahndung in dem vorgeschlagenen § 131 b Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 und Abs. 4 Satz 3 StPO vorgenommene Verwendung des Wortes „unerläßlich" ebenso zu interpretieren wäre, da in diesem Zusammenhang nunmehr eine echte Subsidiaritätsklausel verwendet wird (vgl. unten Fn. 57, 58). Für den Fall der unmittelbaren Ladung durch den Angeklagten zur Hauptverhandlung (§ 220 StPO) ergibt schon der Wortlaut, daß keine Subsidiarität gegenüber dem Ladungsantrag an den Vorsitzenden (§ 219) vorliegt. Die auf Subsidiarität deutende Fassung des § 220 Abs. 1 Satz 1 wird durch Satz 2 („Hierzu ist er auch ohne vorgängigen Antrag befugt") ihrer Bedeutung entkleidet. Vgl. L R - R i e ß (Fn. 9), § 168 d Rdn. 11 ff mit weit. Nachw.
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mindestens Ausfluß seiner allgemeinen Handlungsfreiheit. Macht das Gesetz die Mitwirkung eines Verteidigers zur Pflicht (§ 140 StPO), so ist die Aufforderung an den Beschuldigten, einen Verteidiger zu wählen, der geringere Eingriff in seine Handlungsfreiheit als dessen hoheitliche Bestellung und deshalb nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip vorzuziehen 49 . b) Kaum in diesen Zusammenhang einordnen läßt sich dagegen die Subsidiarität des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr gegenüber dem Vollzug der Untersuchungshaft aus anderen Gründen (§ 112 a Abs. 2 StPO), denn für den Betroffenen ist die auf § 112 a StPO gestützte Haftanordnung kein wesentlich schwerwiegenderer Eingriff als die Haft nach einem der anderen Haftgründe. Man wird deshalb im § 1 1 2 a Abs. 2 StPO in erster Linie den Ausdruck des gesetzgeberischen Bemühens zu sehen haben, den Ausnahmecharakter des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr zu verdeutlichen 50 . c) In erster Linie als Ausfluß des (mindestens normativen) Ausnahmecharakters der jeweiligen Sonderregelung läßt sich das Subsidiaritätsverhältnis der nichtrichterlichen Anordnungsbefugnis bei Gefahr im Verzuge bei grundsätzlichem Richtervorbehalt sowie der Durchbrechungen des Grundsatzes der unmittelbaren Zeugenvernehmung in den §§ 250 ff StPO und wohl letztlich auch bei der Subsidiarität der Sprungrevision gegenüber der Berufung verstehen. In diesen (und vergleichbaren) Fällen ist die Festlegung von Subsidiaritätsbedingungen eine Konsequenz der legislatorischen Entscheidung für ein Regel-Ausnahme-Verhältnis, denn ein solches kann nicht anders als durch Aufstellung einer Rangfolge und die Normierung der für die Ausnahme maßgebenden
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Daran ändert sich im Grundsatz auch nichts durch die Regelung in § 142 Abs. 1 Satz 2, 3 StPO, durch die dem Beschuldigten ein Einfluß auf die Auswahl des zu bestellenden Verteidigers gewährleistet wird. Denn trotz dieser Möglichkeit bleibt der Handlungsspielraum des Beschuldigten größer, wenn er ohne Einschaltung des Richters und frei von den Versagungsmöglichkeiten, die § 142 Abs. 1 StPO eröffnet, seinen Verteidiger unmittelbar wählt. Vgl. zur Subsidiarität näher LR-Wendisch (Fn. 9), § 1 1 2 a Rdn. 58 ff; KK-Boujong (Fn. 1), § 1 1 2 a Rdn. 24. Das Schrifttum behandelt, soweit ersichtlich, auch soweit es sich mit § 1 1 2 a StPO ausführlicher auseinandersetzt, den Grund für die Subsidiarität kaum. Der den Absatz 2 erstmals in der Gesetz gewordenen Form vorschlagende Gesetzentwurf des Bundesrates (BT-Drucks. VI/3248, S. 4) stellt darauf ab, daß neben einer vollzogenen Untersuchungshaft nach § 1 1 2 StPO eine solche gemäß § 1 1 2 a „nicht erforderlich" sei; in der Stellungnahme der Bundesregierung (aaO, S. 8) wird darauf hingewiesen, daß es sich um eine „außergewöhnliche strafprozessuale Maßnahme" handle, die „im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 G G nur vertretbar" erscheine, „wenn sie durch andere Maßnahmen nicht zu ersetzen sei". Im Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages (BT-Drucks. VI/3561) wird diese Frage nicht behandelt.
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Umstände normiert werden; dadurch wird aber zugleich ein Subsidiaritätsverhältnis begründet. 2. a) Das ist an sich, da alle Subsidiaritätsverhältnisse zugleich als Regel-Ausnahme-Verhältnisse interpretiert werden können, bei den aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip abgeleiteten Subsidiaritäten bei Zwangsmaßnahmen logisch nicht anders. Umgekehrt lassen sich wohl auch alle Regel-Ausnahme-Verhältnisse als Subsidiaritätsverhältnisse deuten. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen liegt damit nicht im konstruktiv dogmatischen Bereich, sondern in der legislatorischen Motivlage oder in der Motivlage dessen, der im Wege der Auslegung zur Annahme einer Subsidiarität gelangt. Bei einer Subsidiaritätsklausel vom Typ des § 100 a Abs. 1 Satz 1 StPO steht die Absicht am Anfang, die in Betracht kommende Maßnahme wegen ihrer Eingriffsschwere möglichst nur hilfsweise nach als weniger belastend eingeschätzten Maßnahmen einzusetzen; die Umsetzung führt als Konsequenz zu einer Struktur, die sich auch als Regel-Ausnahme-Verhältnis interpretieren läßt. Bei Subsidiaritätsverhältnissen in der beispielhaft durch die §§ 249 bis 256 StPO gekennzeichneten Art dominiert die gesetzgeberische Absicht, eine bestimmte Regel (im Falle des § 249 StPO das Unmittelbarkeitsprinzip) aufzustellen und die aus Sachgründen gebotenen Ausnahmen zu normieren; in diesen Fällen führt die intendierte Aufstellung eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses in ihrer Konsequenz zu einer Struktur, die sich umgekehrt wie im ersten Fall auch als Subsidiaritätsverhältnis interpretieren läßt. b) Die Unterschiede zwischen beiden Gruppen erscheinen in ihrem materiellen Gehalt bedeutsam; sie sollten auch terminologisch zum Ausdruck gebracht werden. Es bietet sich an, bei der ersten Gruppe (Typ § 100 a Abs. 1 Satz 1 StPO) von Subsidiaritätsverhältnissen im engeren Sinne und bei der zweiten Gruppe der Regel-Ausnahme-Verhältnisse von solchen im weiteren Sinne zu sprechen. Differenziert man dahingehend, so stellen die Subsidiaritätsverhältnisse im engeren Sinne wohl fast ausnahmslos spezielle Ausprägungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Grundrechtseingriffen dar, während diejenigen im weiteren Sinne ein breiteres Feld verschiedener Situationen abdecken. 3. Teilweise mag man darüber streiten, ob Phänomene des ersten oder zweiten Typs (oder Mischformen) vorliegen. Zweifelhaft ist auch, ob sich mit dieser Dichotomie alle Subsidiaritätsverhältnisse vollständig erfassen lassen. Der Vorrang des Strafbefehlsverfahrens vor der Anklage kehrt ein an sich traditionell normativ bestehendes Regel-AusnahmeVerhältnis, das den Strafbefehl als eine vom Leitbild des Strafverfahrens abweichende besonderen Verfahrensart erscheinen läßt, aus wohl vor-
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wiegend justizökonomischen Gründen sein Gegenteil um 51 . Sieht man in der Formel vom „genügenden Anlaß" eine Subsidiaritätsaussage für die Klageerhebung gegenüber der Ermessenseinstellung, insbesondere bei der Anwendung des § 153 a StPO, so wären wohl insoweit neben auch hier auszumachenden justizökonomischen Überlegungen materiellstrafrechtliche Tendenzen anzunehmen, die mit der Subsidiarität der strafrechtlichen Sanktion und damit kriminalpolitisch mit der „ultimaratio-Funktion" des Strafrechts im Zusammenhang stehen. V.
Eine neue Dimension erhält die Verwendung von Subsidiaritätsklauseln durch den Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 198952. Dieser Entwurf, den insgesamt zu behandeln nicht das Ziel dieses Beitrags ist, soll im Anschluß an das sog. Volkszählungsurteil des BVerfG 53 und im Hinblick auf die neuere verfassungsrechtliche Entwicklung über das Verhältnis von Aufgabenzuweisung und Eingriffsermächtigung 54 präzisere Rechtsgrundlagen für die strafprozessuale Ermittlungstätigkeit schaffen sowie die Verwendung personenbezogener Informationen aus Strafverfahren und ihre Verarbeitung und Nutzung in Dateien gesetzlich regeln. 1. Während nach der (noch) geltenden Rechtslage Subsidiaritätsklauseln und -Verhältnisse zwar nicht ganz selten, aber doch eher punktuell, in unterschiedlichen Funktionszusammenhängen und aus verschiedenen Entstehungsschichten der StPO stammend begegnen, unternimmt es dieser Entwurf, ein System von aufeinander abgestimmten ausdrücklichen Subsidiaritätsklauseln als bewußtes Regelungskonzept einzusetzen, und zwar vorrangig mit dem Ziel, belastende Eingriffe der Strafverfolgungsbehörden zu minimieren. Dabei begegnen drei unterschiedliche Subsysteme: 51 52
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Vgl. Begr. RegEntw. StVÄG 1987, BT-Drucks. 10/1313, S. 12 f. Veröffentlicht ist derzeit (Ende Januar 1990) lediglich der Referentenentwurf (StrVert. 1989, 172ff; zu diesem u.a. Hilgendorf-Schmidt, wistra 1989, 208ff; Wolter, StrVert. 1989, 358 ff) nach dem Stand vom 3. 11. 1988. Der derzeit in Vorbereitung befindliche Regierungsentwurf weicht in zahlreichen Details davon ab; seine endgültige Fassung steht nicht fest. Für die hier allein zu behandelnden mehr grundsätzlichen Fragen der Subsidiaritätsklauseln und ihres gegenseitigen Verhältnisses erscheint es vertretbar, auf die noch nicht feststehenden Einzelheiten zu verzichten. Vergleichbare Subsidiaritätsklauseln für Rasterfahndung, Einsatz technische Mittel, Verdeckte Ermittler und Polizeiliche Beobachtung auch im Entwurf OrgKG (Fn. 4 b), durchweg allerdings in „weicherer" Form. BVerfGE 65, 1 ff. Vgl. zu dieser Problematik mit weit. Nachw. L R - R i e ß (Fn. 9), § 160 Rdn. 4 ff; § 163 Rdn. 39 ff.
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a) In generalklauselartiger Form wiederholt und präzisiert ein neu einzuführender § 160 Abs. 4 StPO die aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abzuleitende allgemeine Subsidiarität 55 bei mehreren Ermittlungshandlungen beliebiger Art dahingehend, daß bei (voraussichtlich) gleicher Erfolgseignung die (voraussichtlich) weniger beeinträchtigende Maßnahme den Vorrang hat. b) In Anknüpfung an die Formulierung in § 100 a Abs. 1 Satz 1 StPO operiert der Entwurf bei einer Reihe von Einzelmaßnahmen mit speziellen Subsidiaritätsklauseln im engeren Sinne, die hinsichtlich der Subsidiaritätsbedingungen in dreifacher Form differenzieren. Es wird darauf abgestellt, ob andere Maßnahmen aussichtslos sind 56 , ob sie aussichtslos oder wesentlich erschwert sind 57 , oder ob sie erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert sind 58 , wobei das Verhältnis dieser drei Elemente noch der näheren Erörterung bedarf 59 . Der Gegenstand der Subsidiarität wird in diesem System zwar teilweise unterschiedlich bezeichnet, doch liegt dies vorwiegend daran, daß einzelne in Betracht kommende Eingriffe schon von ihrem Ansatz her eine engere Zielsetzung haben, auf die terminologisch zurückgegriffen werden kann 60 . Tendenziell besteht hier insoweit Ubereinstimmung, als auf den (jeweiligen) Aufklärungserfolg abgestellt wird. Regelmäßig werden die konkurrierenden Maßnahmen generalisierend mit der dem § 100 a Abs. 1 Satz 1 StPO entlehnten Wendung „auf andere Weise" bezeichnet.
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Vgl. oben III 1. Für den Fall des Einsatzes Verdeckter Ermittler bei Verbrechen auch ohne das Vorliegen von Wiederholungsgefahr und außerhalb des Vorliegens der generellen Voraussetzungen (zusätzliche Voraussetzung soll sein, daß die besondere Bedeutung des Falles den Einsatz gebietet). Für die Fälle (1) der Ermittlung von Zeugen unter Inanspruchnahme v o n Publikationsorganen mit Abbildung des Zeugen, (2) Aufzeichnung des im Beisein eines nicht offen ermittelnden Beamten in einer Wohnung nicht öffentlich gesprochenen Wortes sowie (3) polizeiliche Beoachtung, Observation und Einsatz technischer Mittel gegen Nichtbeschuldigte. Für die Fälle (1) der Rasterfahndung, (2) der Öffentlichkeitsfahndung mit Hilfe v o n Publikationsorganen nach einem Beschuldigten auch mit Abbildungen, (3) der Ermittlung von Zeugen unter Inanspruchnahme v o n Publikationsorganen ohne Abbildung, (4) der Polizeilichen Beobachtung, Observation und des Einsatzes technischer Mittel gegen Beschuldigte sowie (5) des Einsatzes Verdeckter Ermittler. Vgl. unten V 3. So z. B. bei den Subsidiaritätsklauseln bei Fahndung und Aufenthaltsermittlung, w o diese Begriffe verwendet werden. Im übrigen wird die Wendung „Aufklärung (der Straftat)" und überwiegend kumulativ „Ermittlung des Aufenthaltsortes (des Täters)" verwendet.
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c) Eine dritte Gruppe von Subsidiaritätsklauseln, die vorwiegend im Zusammenhang mit Regelungen über die Akteneinsicht und Verarbeitung von Daten in Dateien verwendet wird, hat die Struktur von RegelAusnahme-Verhältnissen, also von Subsidiaritätsklauseln im weiteren Sinne. Einer meist „datenschutzfreundlicheren" Grundsatzregelung wird eine zusätzliche weitergehende Maßnahme unter Subsidiaritätsbedingungen als Ausnahme nachgeschaltet. Hierzu gehört bei der Rasterfahndung die Zulässigkeit der Übermittlung nichtaufklärungsrelevanter Daten, die Akteneinsicht statt der Auskunft sowie die Sperrung anstelle der Löschung an sich löschungsreifer in Dateien gespeicherter Daten. Als Subsidiaritätsbedingungen wird hier durchgehend der Begriff des „unverhältnismäßigen Aufwands" verwendet, in einigen Fällen ergänzt durch die (alternative) Voraussetzung, daß die an sich vorrangige Maßnahme nicht ausreicht. 2. Das mit dem Entwurf des StVÄG 1989 vorgelegte Konzept eines ganzen Bündels von Subsidiaritätsklauseln, das den Anspruch erhebt, ein in sich plausibles und konsistentes System darzustellen, wirft sowohl rechtspolitische als auch Auslegungsfragen auf. Zu den ersteren gehört, ob es überhaupt sinnvoll und geboten ist, im Umfang der Entwurfsvorschläge zur Begrenzung der Eingriffsintensität Subsidiaritätsklauseln vorzusehen oder ob darin nicht eine zu starke Einschränkung des Prinzips der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens 61 liegt, ferner, ob, wenn man den Ansatz grundsätzlich bejaht, die graduell abgestuften Subsidiaritätsbedingungen dem Schweregrad der jeweiligen Maßnahme entsprechen. Diese vorwiegend rechtspolitischen Fragen können nicht isoliert behandelt werden, sondern sie würden eine Gesamtwürdigung des Entwurfs erfordern, die nicht in der Absicht dieses Beitrags liegt. Auf sie soll deshalb nachfolgend nicht weiter eingegangen werden. Kurz zu erörtern, weil für das Verständnis von Subsidiaritätsklauseln von allgemeiner Bedeutung, sind aber zwei besonders problematische Auslegungsfragen, nämlich der Begriffsinhalt der verwendeten Subsidiaritätsbedingungen und das Verhältnis konkurrierender Subsidiaritätsklauseln. 3. a) Unter Einbeziehung des vorhandenen § 100 a Abs. 1 Satz 1 StPO verwendet der Entwurf für Maßnahmen mit Eingriffscharakter als Subsidiaritätsbedingung die Formeln, daß die Erreichung des (jeweiligen) Ermittlungsziels auf andere Weise „aussichtslos", „aussichtslos oder wesentlich erschwert" oder „erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert" sei. Zwischen den erfolgsorientierten Be61
Vgl. dazu Rieß, Prozeßmaximen und Ermittlungsverfahren, Festsch. für Rebmann, 1989, S. 381, 396 f.
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griffen „aussichtslos" und „erheblich weniger erfolgversprechend" besteht offensichtlich ein graduelles Verhältnis dergestalt, daß die zweite Formulierung ein deutlich geringeres Maß an fehlender Erfolgswahrscheinlichkeit der vorrangigen Maßnahme verlangt. Aussichtslosigkeit der Aufklärung durch andere Ermittlungsmaßnahmen wird entweder dann gegeben sein, wenn bei einer Gesamtwürdigung der Situation des jeweiligen konkreten Einzelfalles andere Ermittlungsmaßnahmen gänzlich fehlen oder wenn ihr Einsatz offenkundig keinen mit der subsidiären Maßnahme vergleichbaren Erfolg erwarten läßt; es muß bei realistischer Betrachtungsweise als fast ausgeschlossen erscheinen, daß das Ermittlungsziel ohne den (gegebenenfalls zusätzlichen) Einsatz der subsidiären Maßnahme erreicht werden kann. Soweit in der bisherigen Interpretation des § 100 a Abs. 1 Satz 1 StPO Aussichtslosigkeit auch schon angenommen wird, wenn die Erfolgsaussichten der Fernmeldeüberwachung mit hoher Wahrscheinlichkeit erheblich höher zu veranschlagen sind 62 , dürfte das nach der Verwendung des Begriffs „erheblich weniger erfolgversprechend" an anderer Stelle des Gesetzes nicht mehr uneingeschränkt aufrechtzuerhalten sein 63 . Als erheblich weniger erfolgversprechend wird man die Aufklärung auf andere Weise dann anzusehen haben, wenn — wobei es wiederum auf die konkrete Ermittlungssituation ankommt — (mindestens) aufgrund kriminalistischer Erfahrungen bei Unterlassen der subsidiären Maßnahme ein deutliches Aufklärungsdefizit prognostiziert werden kann, wobei eine ex-ante-Beurteilung zugrundzulegen ist. Dabei dürfen allerdings die in Betracht kommenden Ermittlungsmaßnahmen nicht isoliert betrachtet werden; die Subsidiaritätsbedingung ist auch dann erfüllt, wenn der zusätzliche Einsatz der subsidiären Maßnahme den Aufklärungserfolg wesentlich erhöhen würde 64 . Denn die generalklauselartige Bezeichnung der konkurrierenden Maßnahmen als „auf andere Weise" hat zur Folge, daß nicht die Erfolgswahrscheinlichkeit der Aufklärung allein durch andere Maßnahmen, sondern die ohne die subsidiäre Maßnahmen zu vergleichen ist; „auf andere Weise" bedeutet nichts anderes als ohne die subsidiäre Maßnahme 65 . 62
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So z.B. L R - G . S c h ä f e r (Fn. 9), § 1 0 0 a Rdn. 13; KleinknechtfMeyer (Fn. 1), § 100a Rdn. 7; wohl auch S K - R u d o l p h i (Fn. 1), § 100 a Rdn. 13. Zu bedenken ist dabei, daß der Entwurf bei § 100 a StPO Anpassungsänderungen vorschlägt, die Aussichtslosigkeitsformulierung aber unverändert beibehalten will. A. A. möglicherweise SK.-Rudolphi (Fn. 1), § 100 a Rdn. 13 (grundsätzlich erst zulässig, wenn alle anderen Aufklärungsmöglichkeiten vergeblich ausgeschöpft). Insoweit ungenau z. B. Welp (Fn. 1), S. 67, 89, der von der Aussichtslosigkeit aller anderen Ermittlungshandlungen spricht. So ist aber der Umfang der konkurrierenden Maßnahmen in § 100 a StPO und in den neu vorgeschlagenen Subsidiaritätsklauseln gerade nicht bezeichnet.
Subsidiaritätsverhältnisse und Subsidiaritätsklauseln im Strafverfahren
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b) Problematischer als die Auslegung dieser unzweifelhaft am Ermittlungserfolg orientierten, prognostisch zu beurteilenden und graduell abgestuften Merkmale ist der begriffliche Inhalt des Merkmals „wesentlich erschwert" zu bestimmen, bei der auch die Kommentierungen zu § 100 a StPO eine gewisse Ratlosigkeit erkennen lassen 66 . Sicher erscheint zunächst, daß vom Gesetzeswortlaut her (weil anderenfalls die Alternativität der Voraussetzungen keinen Sinn ergäbe) die wesentliche Erschwernis der Aufklärung nicht mit der Erfolgsprognose (aussichtslos oder weniger erfolgversprechend) gleichgesetzt werden kann. Im systematischen Zusammenhang des neuen Regelungskonzeptes ist wohl auch auszuschließen, die wesentliche Erschwerung jedenfalls in erster Linie mit dem anderenfalls erforderlichen Ermittlungsaufwand 67 zu begründen, weil der Entwurf insoweit bei anderen Subsidiaritätsklauseln die ausdrückliche Subsidiaritätsbedingung des „unverhältnismäßigen Aufwands" verwendet und folglich auch hier hätte verwenden können, wenn dies entscheidend sein sollte. Der Begriff der wesentlichen Erschwernis wäre also sensu strictu mit Merkmalen aufzufüllen, die weder den voraussichtlichen Erfolg noch den Ermittlungsaufwand betreffen; ob sich solche in hinreichendem Maße finden lassen, erscheint so unzweifelhaft nicht. Die bisherigen Auslegungsbemühungen haben insoweit vielfach die zeitliche Verzögerung bei (ausschließlicher) Verwendung der anderen Maßnahmen hervorgehoben 68 . Das mag im Einzelfall eine taugliche Abgrenzung ermöglichen, wenn sich wohl auch unter dem Postulat der schleunigen Ermittlung 69 die Zuordnung des Zeitfaktors zum Ermittlungserfolg ebenso gut vertreten ließe. 66
Vgl. KleinknechtjMeyer (Fn. 1), § 100 a Rdn. 7; LR-G. Schäfer, (Fn. 9), § 100 a Rdn. 13; K K - L a u f h ü t t e (Fn. 1), § 100a Rdn. 7; S K - R u d o l p h i (Fn. 1), § 100a Rdn. 13; Welp (Fn. 1), S. 67 Fn. 106. Die Gesetzgebungsmaterialien (RegEntw., BT-Drucks. V/1880 und schriftl. Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. V/2930) sind nicht sehr ergiebig. Auf S. 7 des RegEntw. wird lediglich ausgeführt, daß die Überwachung des Fernmeldeverkehrs erst zulässig sei, „wenn andere Wege der Sachaufklärung fehlen oder nur unter erheblich größeren Schwierigkeiten gangbar wären", beispielhaft wird auf die Auskunft nach § 12 FAG hingewiesen, falls diese „ohne unverhältnismäßig größeren Arbeits-, Zeit- oder Kostenaufwand möglich" sei.
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Die gegenwärtige Auslegung des Merkmals in § 100 a StPO (Nachw. in Fn. 66 und — zusammenfassend — Schlächter (Fn. 1) Rdn. 349) anerkennt den Aufwand mit Unterschieden im einzelnen in eher engen Grenzen, schließt ihn aber nicht völlig aus, während die Kosten nach ganz überwiegender Meinung keine Rolle spielen dürfen. Die (spärlichen) Hinweise und Beispiele in den Gesetzesmaterialien (s. oben, Fn. 66) deuten darauf hin, daß dem Gesetzgeber wohl eine großzügigere Interpretation vorgeschwebt hat. So z.B. Kiemknecht]Meyer (Fn. 1), § 100a Rdn. 7; L R - G . S c h ä f e r (Fn. 9), § 100a Rdn. 13; Schlächter (Fn. 1), Rdn. 349. Vgl. dazu LK-Rieß (Fn. 9), § 160 Rdn. 38.
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c) Die praktische Bedeutung dieser Auslegungsproblematik darf allerdings nicht überschätzt werden. Da Abgrenzungsprobleme vor allem zwischen der erfolgsorientierten Subsidiaritätsbedingung (aussichtslos bzw. erheblich weniger erfolgversprechend) und dem Erschwernismerkmal bestehen, wäre sie nur dann groß, wenn für bestimmte Maßnahmen, was derzeit nicht vorgesehen ist, die Erschwernisvoraussetzung alleinige Subsidiaritätsbedingung wäre. Soweit — wie beispielsweise in §100a StPO und der Mehrzahl der neu vorgeschlagenen Fälle — die erfolgsorientierte und die erschwernisorientierte Subsidiaritätsbedingung alternativ zur Verfügung stehen, ist es für die Zulässigkeit der Maßnahme letztlich gleichgültig, ob die sie begründenden Umstände schwerpunktartig der einen oder der anderen Alternative zugeordnet werden können. Bezweifelt man die Möglichkeit einer trennscharfen Abgrenzung der beiden Subsidiaritätsbedingungen, so muß man allerdings annehmen, daß die alleinige Verwendung der erfolgsbezogenen Subsidiaritätsbedingung restriktiver interpretiert werden muß als die Fälle, in denen zusätzlich die Erschwernisbedingung verwendet wird. Bei den derzeit vorgeschlagenen Subsidiaritätsbedingungen ergibt sich dann trotz der Unschärfe in den begrifflichen Bestimmungen eine graduelle Gesamtreihenfolge 70 , die in der Rangordnung (1) „aussichtslos" (2) „aussichtslos oder wesentlich erschwert" und (3) „erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert" verläuft 71 . 4. a) Betreffen mehrerre Subsidiaritätsklauseln, die jeweils die konkurrierenden Maßnahmen generalklauselartig in der Form „auf andere Weise" bezeichnen, den gleichen Subsidiaritätsgegenstand und ist bei beiden die Subsidiaritätsbedingung identisch, so taucht ein Konkurren problem mit der Gefahr der gegenseitigen Blockade auf, an einem konkreten Beispiel verdeutlicht: Sind sowohl die Ermittlungsmaßnahme A als auch die Ermittlungsmaßnahme B nur zulässig, wenn die Aufklärung „auf andere Weise" aussichtslos wäre, so müßte bei der Prüfung der Zulässigkeit der Maßnahme A erwogen werden, ob der Aufklärungserfolg auch mit der Maßnahme B erreicht werden könnte, was ihre Zulässigkeit voraussetzt. Hierbei wäre auch für die Maßnahme B zu untersuchen, ob die Aufklärung auf andere Weise aussichtslos wäre und bei dieser Prüfung stieße man notwendig auf die Frage, ob nicht die Maßnahme A den Erfolg erreichen könnte. Die vom Gesetz vor70
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Eine ähnliche Einheitsbetrachtung zur Klausel in § 100 a StPO schon bei Rudolphi, Festsch. für Schaffstein, 1975, S. 436. Da nach allen vorliegenden Vorschlägen die Subsidiaritätsbedingung „erheblich weniger erfolgversprechend" nicht allein verwendet wird, braucht nicht auf die (schwierige) Frage eingegangen zu werden, wie sie in eine solche Rangordnung einzuordnen wäre.
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geschriebene Prüfung würde notwendigerweise zirkulär. Von der theoretischen Fragestellung her taucht dieses Problem bei allen Subsidiaritätsklauseln auf, die bei gleichem Subsidiaritätsgegenstand und übereinstimmender Subsidiaritätsbedingung eine generalklauselartige Verweisung auf konkurrierende Maßnahmen enthalten, also beispielsweise auch bei der Subsidiaritätsbedingung „erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert". Als für die Praxis bedeutsam stellt es sich freilich um so mehr, je stringenter die Subsidiaritätsbedingung formuliert ist; es läßt sich (mindestens in der Regel) um so besser umgehen, je breitere Beurteilungsspielräume durch die Subsidiaritätsbedingung für den Rechtsanwender eröffnet werden. b) Bei der (noch) geltenden Gesetzesfassung stellt sich dieses Problem deshalb nicht, weil § 1 0 0 a Abs. 1 Satz 1 StPO derzeit die einzige Subsidiaritätsklausel dieser Art enthält. Bei Verwirklichung der Entwurfsvorschläge würde sich die Lage ändern, weil mehrfach gleichartige Subsidiaritätsbedingungen vorgesehen sind, freilich ganz überwiegend in der Form, daß die weichen Subsidiaritätsklauseln „erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert" miteinander konkurrieren, bei denen schon eine Erhöhung der Aufklärungswahrscheinlichkeit durch zusätzliche Verwendung den Einsatz gestatten würde. Es wird ferner nicht eben wahrscheinlich sein, daß im konkreten Einzelfall gerade die durch Subsidiaritätsklauseln dieser Art eingeschränkte Ermittlungsmaßnahmen sowohl unter dem Gesichtspunkt des zu erwartenden Aufklärungserfolgs als auch des Umfangs der Erschwernis von gleichem Gewicht sind. Aber auch wenn die Problematik von vorrangig theoretischer Relevanz sein dürfte, muß eine dogmatisch einwandfreie Lösung beschrieben werden können. c) Insofern bedarf es eines materiellen Maßstabs, aus dem sich eine Vorrangreihenfolge zwischen den gleichlautenden (und in konkreto gleichgewichtigen) Subsidiaritätsklauseln ableiten läßt. Da die hier in Frage stehenden Subsidiaritätsklauseln materiell ihre Grundlage im Verhältnismäßigkeitsprinzip finden, ist die Konkurrenz unter Rückgriff auf dieses oder auf dessen Präzisierung 72 im neu einzufügenden § 160 Abs. 4 StPO aufzulösen. Danach hat diejenige Maßnahme den Vorrang, durch die im konkreten Einzelfall der gleiche Erfolg mit „voraussichtlich" weniger beeinträchtigenden Mitteln erreicht werden kann. Sollte auch dieser Maßstab nicht zu einer Klärung führen, so wird man wegen des Grundsatzes der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens die Wahl zwischen den Maßnahmen — und gegebenenfalls auch deren
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S. näher oben III 1 und V 1 a.
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kumulierten Einsatz — in das pflichtgemäße Ermessen der Strafverfolgungsbehörden zu stellen haben. 5. In seiner theoretischen (dogmatischen) Konstruktion erweist sich das durch den Entwurf des StVÄG 1989 vorgeschlagene System der subsidiären Staffelung von Eingriffsmaßnahmen 73 , faßt man das Ergebnis der bisherigen Überlegungen zusammen, als folgendermaßen aufgebaut:
a) Vorrangig und im Grundsatz uneingeschränkt zulässig 74 sind Ermittlungsmaßnahmen ohne Subsidiaritätsklausel, wie beispielsweise Vernehmungen, Auskunftsersuchen, kriminalistische Untersuchungen, Spurenauswertung sowie die Auswertung von anderen Erkenntnissen, über die die Strafverfolgungsbehörden verfolgen. Sie stehen lediglich unter der eher vagen Subsidiaritätsbedingung des § 160 Abs. 4 StPO, nach der bei gleicher Erfolgswahrscheinlichkeit die (voraussichtlich) konkret stärker beeinträchtigten Maßnahmen subsidiär sind. b) Weitere, enumerativ aufgezählte Maßnahmen stehen unter einem dreifach gestaffelten Subsidiaritätsverhältnis, wobei jeweils die mit der „weicheren" Subsidiarität den Vorrang vor den mit der engeren haben: Maßnahmen die schon zulässig sind, wenn die Aufklärung auf andere Weise erfolgversprechend oder wesentlich erschwert wäre, haben den Vorrang vor denjenigen, bei denen die Aufklärung auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert erscheinen muß, diese wiederum vor denjenigen, bei denen die anderweitige Aufklärung „aussichtslos erscheint". Für eine etwa notwendig werdenden Vorrangbestimmung innerhalb der jeweiligen Subsidiaritätsgruppe ist zunächst das Maß der Erfolgswahrscheinlichkeit maßgebend, äußerstenfalls ist — unter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und seiner Konkretisierung in § 160 Abs. 4 StPO — auf die konkrete Schwere der Beeinträchtigung abzustellen. 6. Die auf den ersten Blick besorgniserregende Kompliziertheit dieses Subsidiaritätssystems wird in der praktischen Anwendung durch mehrere Faktoren gemildert. Bei einzelfallbezogener Anwendung reduziert sich der Kreis der konkret in Betracht kommenden Maßnahmen, unter denen abzuwägen sein wird, regelmäßig auf wenige; ferner eröffnet die überwiegend verwendete Subsidiaritätsbedingung „erheblich weniger erfolgversprechend oder wesentlich erschwert" den Strafverfolgungs73
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Unerörtert bleiben hierbei, obwohl sie die Gesamtbeurteilung wesentlich mit beeinflussen, die die Ermittlungsmaßnahmen mit Eingriffscharakter mit begrenzenden Regelungen der Verdachtsschwellen sowie deliktbezogene Begrenzungen. Vorbehaltlich der Unzulässigkeit, die sich aus anderen Ausprägungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips (s. oben, Fn. 16) ergeben kann.
Subsidiaritätsverhältnisse und Subsidiaritätsklauseln i m Strafverfahren
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behörden beträchtliche Beurteilungsspielräume. Schließlich sind die unter Subsidiaritätsbedingungen stehenden Ermittlungsmaßnahmen wohl weiterhin Ausnahmeerscheinungen, die einen breiten Bereich uneingeschränkt zulässiger Standardmaßnahmen ergänzen und keineswegs zum regelmäßigen Repertoire strafprozessualer Sachverhaltsaufklärung gehören. Dennoch dürfte die Grenze dessen in Sicht kommen, was unter dem auch verfassungsrechtlichen Gebot der Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Strafrechtspflege75 und der Maxime der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens76 sinnvoll normierbar ist.
VI. Die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung lassen sich wie folgt zusammenfassen: Unter dem Begriff des Subsidiaritätsverhältnisses lassen sich im Strafverfahrensrecht verschiedenartige Phänomene einordnen. Sie werden durch den Bezugspunkt der Subsidiarität, die konkurrierenden Prozeßhandlungen und die Subsidiaritätsbedingungen näher bestimmt. Ihrer Struktur nach erscheinen alle Subsidiaritätsverhältnisse als Regel-Ausnahme-Verhältnisse. Subsidiaritätsverhältnisse im engeren Sinne liegen vor, wenn das gesetzgeberische Motiv für ihre Schaffung in der Betonung des Ausnahmecharakters der subsidiären Prozeßhandlung liegt und sich daraus als sekundäre Folge ein Regel-Ausnahme-Verhältnis ergibt. Solche Subsidiaritätsverhältnisse im engeren Sinne wurzeln regelmäßig im Verhältnismäßigkeitsprinzip. Der Entwurf eines StVÄG 1989 versucht diese bisher eher punktuellen und zufalligen Subsidiaritätsverhältnisse und -klausein zu einem in sich konsistenten System weiterzuentwickeln mit dem Ziel, dadurch den Einsatz von Ermittlungsmaßnahmen zu begrenzen, mit denen nach Einschätzung des Gesetzgebers besonders schwerwiegende Eingriffe in den grundrechtlich geschützten Bereich verbunden sind. Die dabei verwendeten Formulierungen, Stufungen und Abgrenzungen ermöglichen, wenn auch teilweise mit nicht unbeträchtlichem argumentativen Aufwand, eine sinnvolle Auslegung 77 , allerdings bleiben einige, für die Praxis wohl wenig relevante Abgrenzungsprobleme.
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76 77
Vgl. zu diesem Postulat mit weit. Nachw. KleinknechtjMeyer (Fn. 1), Einl. Rdn. 18; LR-A". Schäfer (Fn. 9), Einl. Kap. 6 Rdn. 13. Vgl. oben Fn. 61. Die Untersuchung der kriminalpolitischen Stimmigkeit war nicht Gegenstand dieser Arbeit.
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Peter Rieß
Subsidiaritätsklauseln können grundsätzlich geeignete Mittel zur Staffelung der Zulässigkeit von Eingriffsbefugnissen sein; sie bergen allerdings die Gefahr, daß sie das Ermittlungsverfahren übermäßig komplizieren, dessen Flexibilität gefährden und damit den Grundsatz seiner freien Gestaltung beeinträchtigen. Sie sollten deshalb nur zurückhaltend, beschränkt auf besonders schwerwiegende Maßnahmen und in einer möglichst eindeutigen Terminologie eingesetzt werden. Rechtspolitisch überzeugend sind sie, angesichts der mit ihnen verbundenen Probleme, nur dann, wenn die Eingriffsschwere der für subsidiär erklärten Maßnahmen dies als unerläßlich erscheinen läßt. O b der Entwurf des StVÄG 1989 dem in allen Punkten entspricht, erscheint nicht unzweifelhaft.
Der Augenscheinsgehilfe im Strafprozeß K L A U S ROGALL
I.
1. Die schillernde Figur des Augenscheinsgehilfen 1 beansprucht seit jeher die Aufmerksamkeit des Prozessualisten. Auch Karlhein'.j Meyer, dessen Andenken dieser Beitrag gewidmet ist, hat sich in seinem Werk mit dem Augenscheinsgehilfen befaßt und die Problematik in gewohnt scharfsinniger Weise durchleuchtet 2 . In dem von ihm betreuten grundlegenden Werk über den „Beweisantrag im Strafprozeß" 3 führt Karlheinz Meyer aus, daß das erkennende Gericht grundsätzlich und ohne Beschränkung auf Fälle tatsächlicher oder rechtlicher Verhinderung befugt sei, auch nichtrichterliche Beweispersonen zu beauftragen, die Besichtigung eines Beweisgegenstandes vorzunehmen und über das Ergebnis zu berichten. Solche Beweispersonen würden als „Augenscheinsgehilfen" in Anspruch genommen. Der Beweisvorgang, der in der Heranziehung und der nachfolgenden Vernehmung der Beweisperson bestehe, sei indessen kein Augenscheinsbeweis. In Ermangelung besonderer strafprozessualer Bestimmungen sei es sachgerecht und geboten, auf die Beauftragung des Augenscheinsgehilfen die Vorschriften über den Sachverständigenbeweis und auf dessen Bericht die Vorschriften über den Zeugenbeweis anzuwenden 4 . In dieser Auffassung hat Karlheinz Meyer die Unterstützung der h. L. 5 gefunden.
' Zum Begriff des Augenscheinsgehilfen vgl. einstweilen Schmidhäuser ZZP 72 (1959), 365 (397): Augenscheinsgehilfe ist die „ohne besondere Sachkunde aussagende ersetzbare Beweisperson." Kritisch zum Terminus „Augenscheinsgehilfe" Robert, Der Augenschein im Strafprozeß (1974), S. 22: „Die betreffende Person hilft ja nicht bloß beim Augenschein mit, sondern besorgt ihn anstelle des Richters allein." 2 Vgl. etwa LoaejRosenbergj Meyer, StPO 23. Aufl. (1976), §86 Rdn. 3 ff; Klemknechtj Meyer, StPO, 39. Aufl. (1989), § 86 Rdn. 4. 3 Alsberg) Nüsej Meyer, D e r Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl. (1983), S. 225 ff. 4 AaO, S. 226, 227 f. 5 Vgl. statt aller Löwej Rosenbergj Dahs, StPO, 24. Aufl. (1988), § 86 Rdn. 5; AK-StPO/ Kirchner (1988), § 86 Rdn. 3; KK-StPO¡Pelchen, 2. Aufl. (1987), § 86 Rdn. 4; Kramer Jura 1983, 113 (120 f); Rüping, Das Strafverfahren, 2. Aufl. (1983), S. 59; Robert (Fn. 1), S. 22 f; Schmidhäuser ZZP 72 (1959), 395 ff. Aus zivilprozessualer Sicht vgl.
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Klaus Rogall
2. Die breite Übereinstimmung in der Behandlung des Augenscheinsgehilfen vermag allerdings nicht darüber hinwegzutäuschen, daß die Anerkennung dieser Rechtsfigur Grundfragen des Beweisrechts berührt, die gerade im Bereich des Augenscheinsbeweises6 dringend der Aufhellung bedürfen. Schon die Einordnung des Augenscheinsgehilfen in die Nomenklatura der (Streng-)Beweismittel bereitet Schwierigkeiten. Mit Recht wird auf den von Karlheinz Meyer durchaus nicht verkannten Umstand hingewiesen, daß der Augenscheinsgehilfe im Gesetz als besonderes Beweismittel nicht vorgesehen ist7. Es handelt sich bei diesem um eine „außergeset^liche Rechtsfigur"8, deren Einsatz zu einer „apokryphen Form des Augenscheinersattes"9 führt. Dementsprechend vielfaltig sind auch die Bezeichnungen, mit denen man den Augenscheinsgehilfen versehen hat. So wird er als „Beweismittler"10, als „gerufener"11, „gezogener"12 oder „sachverständig instruirter"13 Zeuge oder sogar als „Quasisachverständiger"14 angesehen. Hinter diesen Bezeichnungen verbirgt sich der Streit über die Rechtsnatur des Augenscheinsgehilfen. Ist er nun Zeuge15, Sachverständiger16 oder Beweismittel eigener Art 1 7 mit der dann unausweichlichen Folge, daß je nach der gegebenen Lage
SteinlJonaslSchumannlLeipold, ZPO, Bd. II, 19. Aufl. (1972), Vor §72 Anm. III 3 b); Rosenberg/Schivab, ZivilprozeßR, 14. Aufl. (1986), S. 742. Erschöpfende Nachweise zum Streitstand bei Wenskat, Der richterliche Augenschein im deutschen Strafprozeß (1988), S. 224 Fn. 5 - 7 . 6 Näher dazu Wenskat, Der richterliche Augenschein aaO (Fn. 5). 7 Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. (1983), Rdn. 526 Fn. 424 a; Holenberg/Schwab aaO, S. 742. Über die Vorschrift des § 81 d StPO, die insoweit eine Ausnahme bildet, wird noch zu sprechen sein. 8 Dtppel, Die Stellung des Sachverständigen im Strafprozeß (1986), S. 19. 9 Schulz StV 1983, 341 (345). 10 Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage (1925), S. 434, 435 Fn. 2288; Henkel, StrafverfR, 2. Aufl. (1967), S. 226. Robert (aaO, S. 21), spricht von einem „Augenscheinsvermittler". " RG J W 1931, 2813 m. Anm. Kern; Stein, Das private Wissen des Richters (1893), S. 70; Mayer, Festschrift f. Mezger (1954), S. 455 (464 Fn. 2). Eb. Schmidt, StPO Bd. II (1957), Vor § 72 Rdn. 18. 12 Kohler, Der Prozeß als Rechtsverhältnis (1888), S. 29; Alsberg J W 1930, 714. 13 RG Rspr. 3 (1881), 544 (545). 14 Hegler AcP 104 (1909), 151 (157); ähnlich Planck, Lehrbuch des deutschen Civilprozesses, Bd. 2 (1891), S. 160 Anm. 31: „Laiengutachten". 15 Vgl. etwa Roxin, StrafverfR, 21. Aufl. (1989), S. 177; Gössel, StrafverfR (1977), S. 244; AK-StPO¡Schreiber (1988), Vor § 72 Rdn. 32, 36; KMK-Paulus, StPO (Stand: 1989), Vor § 72 Rdn. 52, 53; Henkel aaO, S. 226; Jessnit^er, Der gerichtliche Sachverständige, 8. Aufl. (1980), S. 30 f; Pieper ZZP 84 (1971), 1 (11). 16 Schlüchter aaO, Rdn. 526 Fn. 424 a; Eb. Schmidt aaO, Vor § 72 Rdn. 21, § 86 Rdn. 8, 9; s. a. Schmidhäuser ZZP 72 (1959), 395 ff, 396 f. 17 Goldschmidt aaO, S. 434 ff; Lent ZZP 60 (1936/37), 9 (44).
Der Augenscheinsgehilfe im Strafprozeß
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die sachnächsten Prozeßrechtsnormen auf ihn angewendet werden müßten 18 ? Dieser Streit ist nicht lediglich ein Streit um Worte. Jede der vorgeschlagenen Lösungen erweckt nämlich unter dem einen oder anderen Gesichtspunkt Bedenken 19 . Die „Zeugenlösung^' läßt außer Acht, daß der Augenscheinsgehilfe im gerichtlichen Auftrag schon mit der Verpflichtung tätig wird, zutreffende Wahrnehmungen zu machen. Für diese weitergehende Verpflichtung paßt die Eidesformel des Zeugen (§ 66 c StPO) nicht. Ebensowenig ist erkennbar, auf welche Weise die Beweisperson in ihre Zeugenstellung einrückt und worauf ihre Pflicht zum Tätigwerden beruht. Weitere Probleme ergeben sich schließlich im Beweisantragsrecht. Die Einordnung als Zeuge hätte hier zur Folge, daß ein Beweisantrag, der auf den Einsatz eines Augenscheinsgehilfen gerichtet wäre, nur unter den engen Voraussetzungen des § 244 III S. 2 StPO abgelehnt werden könnte 20 . Bei der „Sachverständigenlösung' wiederum führt kein Weg daran vorbei, daß der Augenscheinsgehilfe im Regelfall nicht sachkundig ist oder daß es doch auf eine etwaige Sachkunde nicht ankommt. Damit wird jedoch ein wichtiges materielles Element des Sachverständigenbegriffs preisgegeben und der Akzent einseitig auf den gerichtlichen Auftrag verlagert 21 . Die Behandlung des Augenscheinsgehilfen als Beweismittel eigener Art mißachtet schließlich den numerus clausus der Beweismittel 22 und läuft auf die Bildung eines praeter legem geschaffenen Sonderrechts hinaus 23 . 3. Die aufgezeigten Bedenken wiegen durchaus schwer. Es fragt sich aber, ob sie nicht von den Bedürfnissen der Praxis einfach beiseite geschoben werden. In vielen Fällen ist das Gericht ja schon aus tatsächlichen Gründen nicht in der Lage, einen Augenschein einzunehmen wie etwa bei der Besichtigung einer Steilwand, eines Dachfirstes oder eines unter Wasser gelegenen Schiffswracks 24 . In anderen Fällen mögen es Rechtsgründe sein, die einer unmittelbare Augenscheinseinnahme durch das Gericht entgegenstehen. Einem solchen Fall begegnet man
Dies ist die direkte Konsequenz der Einordnung des Augenscheinsgehilfen als Beweismittel sui generis. " Treffend dazu Schul% StV 1983, 345. 20 Näher Schuld StV 1983, 345. 21 Kennzeichnend dafür Schlächter aaO, Rdn. 526 Fn. 424 a; Eh. Schmidt aaO, Vor § 72 Rdn. 21. 22 S. dazu Kowall MDR 1977, 978 f; ders., N J W 1978, 2535; ders., SK-StPO (Stand: 1988), Vor § 133 Rdn. 13. 18
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Schulz StV 1983, 345.
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Einzelne Beispiele bei
Alsberg] Nuse) Meyer aaO,
S. 226.
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Klaus Rogali
in § 81 d StPO, der bestimmt, daß die körperliche Untersuchung einer Frau, die das Schamgefühl verletzen kann, einer Frau oder einem Arzt übertragen wird. Sowohl die Frau als auch der Arzt, auf dessen Sachkunde es nicht ankommt, werden hier als Augenscheinsgehilfen angesehen25, was die gesetzliche Anerkennung dieser Rechtsfigur impliziert. Andere Fälle schließlich sind (vermeintlich) so einfach gelagert, daß das Gericht von einer eigenen Besichtigung Abstand nimmt, obwohl es dazu an sich in der Lage wäre 26 . Es leuchtet ein, daß man auch hier das Gericht nicht auf den umständlichen Weg der unmittelbaren Augenscheinseinnahme verweisen will 27 . Und so scheint es nach Auffassung von keinem Geringeren als Max Alsberg fast „aussichtslos, gegen das Institut des gerufenen Zeugen anzukämpfen" 28 . Doch kann es an dieser Stelle nicht darum gehen, das Institut des Augenscheinsgehilfen zugrundezurichten. Vielmehr soll mit der vorliegenden Untersuchung der Versuch unternommen werden, die Einordnung des Augenscheinsgehilfen in das System unseres Strafprozesses aufzuhellen und die auf ihn anwendbaren Rechtsregeln zu ermitteln. Vielleicht bestätigt sich dabei der Satz Karlheinz Meyers, daß „sich tatsächlich alle Beweisvorgänge, selbst wenn sie auf den ersten Blick aus dem Katalog der strafprozessualen Beweismittel herauszufallen scheinen, durchaus in ihn einordnen lassen29.
II. 1. Weder die Problematik noch die Praxis des Einsatzes von Augenscheinsgehilfen sind neu. Die ältere Literatur hat sich mit ihnen ausführlich befaßt. Es verdient festgehalten zu werden, daß anfanglich die
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LöwejRotenberg!Dahs aaO, § 81 d Rdn. 6 m. w. N. Zu einem Beispielsfall, der in diesen Zusammenhang gehört, obwohl § 81 d StPO in concreto nicht unmittelbar anwendbar war, vgl. LG Trier NJW 1987, 722. Einschlägig sind etwa Fälle, in denen zu prüfen war, ob ein Fenster zu schmal ist, um einen Menschen durchzulassen (RGSt 14, 276), ob man von einer bestimmten Stelle das Herannahen eines Zugs bemerken kann (RGSt 47, 100) oder ob man bestimmte Vorgänge in einem Zimmer von außen überblicken kann ( R G JW 1925, 796; BGH StV 1987, 4f). Zum Ganzen auch Mannheim JW 1928, 1308. Dies ist allerdings nicht unbestritten. Die unmittelbare Wahrnehmung durch das Gericht fordern z. B. Ziegler, Zweckmäßigkeitstendenzen in der höchstrichterlichen Auslegung des Beweisrechts im Strafverfahren (1969), S. 122 f; Kessler, Die tatsächliche Grundlage des Sachverständigengutachtens (1974), S. 121; Wenskat aaO, S. 238, 242. JW 1931, 1608, 1609. Alsberg!Nüse ¡Meyer aaO, S. 168 f.
Der Augenscheinsgehilfe im Strafprozeß
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Kritik an diesem Rechtsinstitut überwog. So hielt es schon Mittermaier® für eine „tadelnswürdige Sitte, wenn Inquirenten durch Gerichtsunterbediente den Augenschein in den sogenannt minderbedeutenden Fällen vornehmen lassen". Diese tadelnswerte Sitte wurde nun allerdings in der partikularen Gesetzgebung teilweise legalisiert, und zwar in dem Sinne, daß in weniger wichtigen Fällen ein nichtrichterlicher Beamter mit der Vornahme einer Besichtigung beauftragt werden konnte 31 . Die entsprechende Regelung hat jedoch keine Aufnahme in die RStPO gefunden. Die Motive32 begründen dies wie folgt: „Da dem von einem nichtrichterlichen Beamten aufgenommenen Protokoll eine Beweiskraft für das Strafverfahren nicht beigelegt werden kann, so würde ein Antrag der gedachten Art in Wahrheit nur dahin gehen können, sich durch Besichtigung von der Beschaffenheit einer Oertlichkeit oder eines anderen Gegenstandes Kenntniß zu verschaffen, um demnächst hierüber mündlich Zeugniß ablegen zu können. Ob eine derartige Beweiserhebung statthaft oder zweckmäßg sei, kann dahingestellt bleiben; sie würde aber, wenn sie vorkommt, nach den Grundsätzen vom Zeugniß, nicht nach denen vom Augenschein zu beurtheilen sein."
Die Motive lassen also offen, ob eine Beweiserhebung (!) durch Augenscheinsgehilfen überhaupt zulässig ist. Es wird aber deutlich, daß schriftliche Äußerungen der Augenscheinsgehilfen jedenfalls nicht als Augenscheinsprotokoll (§§249 I S. 2, 224, 225, 86, 168, 168 a StPO) Verwendung finden sollen 33 . Die Beweiserhebung selbst wird aber, sofern sie zur Durchführung gelangt, den „Grundsätzen vom Zeugenbeweis" unterstellt. Eine Augenscheinseinnahme halten die Motive dagegen nicht für gegeben, eine Folge des Umstandes, daß der Augenschein in den Motiven als eine richterliche Handlung aufgefaßt wird 34 . 2. Die Ansicht, daß der Augenscheinsgehilfe als Zeuge zu behandeln ist, hat das RG in einem Sonderfall frühzeitig bestätigt. Es führt in Rspr. 3 (1881), 544ff aus, daß die Einnahme eines richterlichen Augenscheines im Ermessen des Gerichts stehe. Dem Gericht stehe es deshalb auch frei, von der Augenscheinseinnahme abzusehen und „einen Zeugen mit Besichtigung der Localitäten zu beauftragen und denselben hierüber
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Die Lehre vom Beweise im deutschen Strafprozesse (1834), S. 170. Mittermaier erkannte dabei aber durchaus an, daß die Angaben der Beweisperson Zeugniswert haben. S.a. Glaser, Beiträge zur Lehre vom Beweis im Strafprozeß (1883), S. 376ff mit Anm. 268. SächsStPO Art. 173 III, BadStPO § 83 II, WürttStPO Art. 169 III. Vgl. dazu auch Wenskat, S. 236 Fn. 1. Vgl. Hahn, Die gesammten Materialien zur Strafprozeßordnung und dem Einführungsgesetz zu derselben vom 1. Februar 1877, 1. Abt., 2. Aufl. (1885), S. 122. S. dazu Glaser, Handbuch des Strafprozesses I (1883), S. 656 Fn. 3; Hegler AcP 104 (1909), 159 Fn. 23. AaO, S. 121 f.
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Klaus Rogali
zu vernehmen" 35 . Die Besonderheit des Falles lag darin, daß die Aussageperson bereits Zeuge war und ihr nur aufgegeben wurde, sich für die weitere Vernehmung durch Besichtigung der Örtlichkeiten besser zu informieren. Dieser Fall ist für den Augenscheinsgehilfen mindestens untypisch; daß auch bei der zweiten Vernehmung des Zeugen eine Zeugenvernehmung vorlag, ist nicht ernstlich zu bestreiten 36 . Dennoch ist die Entscheidung des RG später stets für die Zulässigkeit eines Einsatzes von Augenscheinsgehilfen und für deren Vernehmung als Zeugen ins Feld geführt worden 3 7 . Daß die -ßG-Entscheidung Kritik hervorrufen mußte, versteht sich fast von selbst. John38 hat gegenüber dem RG auf das Unmittelbarkeitsprinzip hingewiesen und ausgeführt, daß das Gericht abgesehen vom Fall der kommissarischen Einnahme des Augenscheins (§§ 224, 225 StPO) verpflichtet sei, den Augenschein selbst einzunehmen: „Das erkennende Gericht soll durch die Augen des Richters sehen" 39 ! Es geht nicht an, „einen Hin% oder Kun% nach der betreffenden Ortlichkeit als Zeugen schicken", eine Maßnahme, bei der die Anwesenheitsrechte der Verfahrensbeteiligten notwendigerweise verkürzt würden 38 . Diese Bemerkungen fohns haben die Problematik erstmals in ihrer dogmatischen Dimension und ihrer rechtspolitischen Bedeutung näher beleuchtet. Sie verweisen auf das Unmittelbarkeitsprinzip und seine Implikationen für die Augenscheinseinnahme. Die Auffassung Johns hat sich freilich nicht durchsetzen können. Widerspruch ist ihm schon durch v. Kries40 zuteil geworden, der betont hat, daß das Unmittelbarkeitsprinzip im Bereich der Augenscheinseinnahme nicht gelte. Das Verfahren nach den §§ 224, 225 StPO stelle nicht den einzigen „Ersatzweg" für die Kenntnisnahme durch das erkennende Gericht dar. Das Fehlerhafte der ÄG-Entscheidung liegt für v. Kries aber darin, daß der Zeuge durch das Gericht zur Augenscheinseinnahme verpflichtet worden ist: „Eine solche Auflage kennt die Prozeßordnung nicht (und) es wird dem Zeugen (mithin) etwas zugemutet, wozu er nicht verpflichtet ist und wozu er sich vielleicht nur der Autorität des Gerichts gegenüber entschließt" 41 . V. Kries hat diesen
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RG Rspr. 3 (1881), 544 f. Zu dieser Ansicht vermag sich Hegler (AcP 104 [1909], 161 Fn. 30) nur mit Mühe durchzuringen. Vgl. dazu Mannheim, Festgabe für Frank Bd. II (1930), 315 (331 ff). Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich nebst Einführungsgesetz Bd. I (1884), S. 718 ff. John aaO., S. 718 f, 722. ZStW 6 (1886), 88 (198 f). Ablehnend auch Hegler AcP 104 (1909), 158 Fn. 20. V. Kries ZStW 6 (1886), 199.
Der Augenscheinsgehilfe im Strafprozeß
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für die Beurteilung des Augenscheinsgehilfen ganz wesentlichen Punkt leider nicht weiterverfolgt; er beklagt später nur, daß man „für die Unmittelbarkeit bei den sachlichen Beweismitteln vollkommen das Verständnis verloren habe", ohne sich einer Beweisaufnahme durch Augenscheinshilfe entgegenzustellen 42. 3. Die Lehre hat den Einsatz eines Augenscheinsgehilfen im folgenden einhellig gebilligt; zur Begründung wird im wesentlichen angeführt, daß beim Beweis durch Augenschein der Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht gelte 43 . Diese rein formale Begründung ist in der Grundsatzentscheidung des RG in RGSt. 47, 100 durch eine Argumentation aus der Natur des Augenscheinsbeweises ergänzt worden 44 . Während der Zeugenbeweis grundsätzlich nicht durch andere Beweismittel ersetzbar sei, lägen die Dinge beim Augenscheinsbeweis anders. Bei ihm gehe es um die Feststellung eines gegenwärtigen Zustandes oder um den Nachweis einer Erscheinung, die sich — wie etwa beim Experiment — jederzeit wiederholen lasse. Es liege weder eine Gebundenheit an die Wahrnehmung einer bestimmten Person noch an die Wahrnehmung der Mitglieder des Gerichts vor; deshalb sei das Beweismittel des Augenscheins durch andere Beweismittel ersetzbar. Als derartige Ersatzmittel kämen „Abbildungen oder Zeichnungen sowie Zeugen oder Sachverständige, denen aufgegeben wird, sich ihrerseits von dem Zustand oder der Erscheinung zu unterrichten, und die dann vor dem Gericht über ihre Wahrnehmungen auszusagen haben", in Betracht 45 . Das RG sah dabei vom Verbot der Beweisantezipation ab und stellte die Einnahme des Augenscheins in das pflichtgemäße Ermessen des Tatrichters4Ä. Dieser sei, wenn er die Wahrheit oder Unwahrheit der Parteibehauptung nach dem Verhandlungsergebnis noch nicht sicher feststellen könne, „vor dem Gesetze verpflichtet, den Augenschein in einer gesetzlich zulässigen Form einzunehmen, oder andere geeignete Beweise zu erheben" 47 .
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v. Kries, Lehrbuch des Deutschen Strafprozeßrechts (1892), S. 410 f. Bennecke\Beling, Lehrbuch des Deutschen Reichs-Strafprozessrechts (1900), S. 255; Beling ZStW 38 (1917), 612 (623 f); den., JW 1925, 796; Alsberg JW 1930, 714; den., JW 1931,1492,1493; den., JW 1931,1608,1609; früher schon Geyer, in: v. Holtendorf/, Handbuch des deutschen Strafprozeßrechts (1879), S. 225. Abw. nur Mannheim, Festgabe für Frank Bd. II (1930), S. 331 ff; den., JW 1928, 1308 f; den., JW 1931, 1040; kritisch, aber im Ergebnis wie die h. M. Gerland, Der Deutsche Strafprozess (1927), S. 229 Fn. 326. Vgl. zum folgenden Text RGSt. 47, 106. RGSt. 47, 106. RGSt. 47, 108. RGSt. 47, 108.
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Mit dieser Entscheidung war der Augenscheinsgehilfe in seiner strafprozessualen Existenz endgültig anerkannt. In JW 1931, 281348 bestätigte das RG den Zeugencharakter des Augenscheinsgehilfen. Die später unrealisiert gebliebene Reformgeset^gebung sah die Möglichkeit vor, dem Zeugen zur Vorbereitung seiner Aussage die strafbewehrte Verpflichtung aufzuerlegen, Nachforschungen und Prüfungen anhand seiner Bücher oder anderer Aufzeichnungen oder die Besichtigung einer Sache oder Örtlichkeit vorzunehmen 49 . Dies mag als Indiz dafür gewertet werden, daß der Augenscheinsgehilfe zu einer Institution avanciert war. Zwar geriet RGSt. 47, 100 in das Kreuzfeuer der Kritik, doch bezog sich diese Kritik nicht auf die Anerkennung des Augenscheinsgehilfen, sondern auf die praktisch völlige Preisgabe des Verbots der Beweisantezipation im Rahmen des Augenscheinsbeweises 50 . Nur Mannheim hat sich der h. L. entgegengestellt und insbesondere gerügt, daß die Zuverlässigkeit der Beweiserhebung und der Reproduktion des Beweisergebnisses in der Hauptverhandlung beim Einsatz eines Augenscheinsgehilfen nicht gewährleistet sei 51 . Gefolgschaft ist ihm jedoch bei dieser Kritik versagt geblieben. 4. In der Rechtsprechung des BGH hat die Rechtsfigur des Augenscheinsgehilfen alsbald Anerkennung gefunden 52 . Die Begründung folgt im
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Mit zust. Anm. von Kern. Vgl. dazu Art. 70 Nr. 32 des Entwurfs eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch 1930, der folgenden § 69 a 1 vorsah {Materialien zur Strafrechtsreform Bd. 7 [1954], S. 16, 57): „Bildet den Gegenstand der Vernehmung eine Auskunft, die der Zeuge voraussichtlich an der Hand seiner Bücher oder anderer Aufzeichnungen zu geben hat, so kann dem Zeugen die Pflicht auferlegt werden, die für die Auskunft erforderlichen Nachforschungen und Prüfungen vorher vorzunehmen. Ebenso kann, wenn den Gegenstand der Vernehmung eine Auskunft bildet, die sich auf eine Sache oder auf eine Örtlichheit bezieht, dem Zeugen die Pflicht auferlegt werden, sich durch eine Besichtigung der Sache oder der Örtlichkeit auf die Aussage vorzubereiten" (Hervorheb. vom Verf.). Die Regelungsmaterie entspricht, wie erinnerlich sein wird, dem Sachverhalt von RG Rspr. 3 (1881), 544 ff. Vgl. etwa Beling JW 1925, 796; Alsberg JW 1930, 714; Gerland GS 69 (1906), 194 (288 f). Das RG hat dieser Kritik in der Sache später nachgegeben, vgl. RG JW 1930, 714; JW 1930, 933 jeweils mit Anm. Alsberg; RG JW 1930, 3417; JW 1931, 1040 mit Anm. Mannheim. Zur Entwicklung s. a. BGHSt. 8, 177 (179 ff). JW 1928, 1308 f; ders., Festgabe für Frank Bd. II (1930), S. 332 f; den., JW 1931, 1040. BGHSt. 22, 347 = LM Nr. 27 zu § 244 III StPO m. Anm. Kohlhaas; BGH NStZ 1983, 86 = MDR 1983, 595 m. Anm. Sieg; BGH bei Pfeiffer!Miebach NStZ 1985, 206; BGH BGHR StPO § 244 Abs. 5 - Augenschein 2/Tatrekonstruktion - ; BGH BGHR StPO § 244 Abs. 2 - Aufdrängen 2/Fernsehfilm zur Tatzeit - ; s. a. BGHSt. 33, 217 m. Anm. Danckert NStZ 1985, 469. Aus der Rechtsprechung vgl. ferner OLG Hamm VRS 34 (1968), 61; OLG Koblenz VRS 45 (1973), 48; OLG Frankfurt
Der Augenscheinsgehilfe im Strafprozeß
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wesentlichen den von RGSt. 47, 100 aufgestellten Maximen und orientiert sich demgemäß an der Austauschbarkeit des AugenscheinsbemisesS3. So ist es für den BGH „rechtlich unbedenklich, daß Beweismittler über einen von ihnen eingenommenen Augenschein aussagen" 54 . Dieser vom BGH aufgestellte Rechtssatz ist von der Literatur insoweit nicht angegriffen worden 55 . Nur der Umfang, in dem der BGH einen Austausch von Beweismitteln zuläßt, hat Ablehnung hervorgerufen 56 . Der Augenscheinsgehilfe gilt damit de lege lata als zulässige, wenn auch apokryphe Rechtsfigur 57 .
III. 1. Die bisherige Untersuchung hat die vielfältigen Probleme plastisch hervortreten lassen, die mit der Anerkennung der Rechtsfigur des Augenscheinsgehilfen verbunden sind. Diese Probleme betreffen nicht nur die Frage, wie die Beweismittelqualität des Augenscheinsgehilfen zu beurteilen ist, sondern beziehen sich vor allem auch auf den Vorgang der Beweisaufnahme, die mittels des Augenscheinsgehilfen durchgeführt werden soll. Hier bedarf — nicht zuletzt im Hinblick auf das Beweisantragsrecht — der Klärung, welche Art der Beweisaufnahme gegeben ist. Die bisherigen Überlegungen kranken daran, daß man die Probleme nur sektoral aufbereitet hat. In nur ungenügender Weise ist etwa die mit der Art der Beweisaufnahme zusammenhängende Frage erörtert worden, ob eine Rechtspflicht des Augenscheinsgehilfen zum Tatigwerden besteht und wie diese gegebenenfalls begründet werden kann. Viel zu wenig ist auch der abschließende Charakter der strafprozessualen Beweismittel berücksichtigt worden. Hierauf gilt es im folgenden besonders Bedacht zu nehmen.
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VRS 58 (1980), 369; OLG Köln NStZ 1987, 341; BayObLG bei Rüth DAR 1967, 294; LG Trier N J W 1987, 722. BGHSt. 22, 347 ff; BGHSt. 27, 135 ff; BGH NStZ 1983, 86. BGHSt. 27, 135, 136 = JR 1978, 118 m. Anm. Gollwit^er. Kritisch nur SMZ StV 1983, 345. Vgl. zur Kritik Hanack J Z 1970, 561 ff; Peters JR 1970, 105; KK-StP OjHerdegen, § 244 Rdn. 62; Roxin aaO, S. 290 f; Sehn/z StV 1983, 341 ff. Zur Antikritik vgl. BGH NStZ 1983, 86. Der Streit beschränkt sich folglich auf die Frage, wie der Augenscheinsgehilfe in den Kreis der Beweismittel einzuordnen und welchen Verfahrensvorschriften er im einzelnen zu unterwerfen ist.
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2. Ausgangspunkt aller Überlegungen muß sein, daß die Wissensvermittlung durch Augenscheinsgehilfen auf einem doppelaktigen Geschehen beruht. Der Augenscheinsgehilfe hat zunächst Wahrnehmungen in bezug auf das Augenscheinsobjekt zu machen und alsdann dem Auftraggeber (in der Regel also dem Gericht) 58 über diese Wahrnehmungen zu berichten. Dieses doppelaktige Geschehen, das der Feststellung von Tatsachen dient, ist Beweiserhebung, also ein Vorgang, mit dem sich das Gericht über das Vorliegen eines bestimmten Lebenssachverhalts Gewißheit verschaffen will (Beweisaufnahme) 59 . Zur Gewinnung der richterlichen Überzeugung darf sich das Gericht aller zulässigen Erkenntnisquellen bedienen. Die Art und Weise der Beweisaufnahme folgt dabei den für die strafprozessualen Beweis verfahren 60 aufgestellten Regeln. Diese ist im Strengbeweisverfahren auf die hierfür zugelassenen Beweismittel beschränkt. Als Beweismittel kennt die StPO nur Zeugen (§§ 48 ff StPO), Sachverständige (§§ 72 ff StPO), Augenschein (-sobjekte, §§ 86 ff StPO) und Urkunden (§§249 ff StPO) 61 . Alles, was der Richter zur Gewinnung seiner Überzeugung verwendet, muß und darf nur aus dem Kreis dieser Beweismittel geschöpft sein 62 . Weil das Gesetz den Umgang mit den einzelnen Beweismitteln unterschiedlich regelt, bedarf es zur Gewährleistung der „Justizförmigkeit" des Verfahrens 63 der genauen Feststellung, um welches Beweismittel es sich jeweils handelt 64 . Grundsätzlich folgt jedes Beweismittel ausschließlich den eigenen Regeln, auch wenn es neben oder im Verbund mit anderen Beweismitteln auftritt 65 . Etwas anderes gilt nur, wenn es als „Beweisbehelf' Bestandteil der Beweisaufnahme mit einem anderen Beweismittel ist 66 . Jedes Beweis-
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Auch Polizei und Staatsanwaltschaft können „Augenscheinsgehilfen" einsetzen. Für die zu erörternden Fragen ist es einstweilen unerheblich, ob insoweit von einem „Augenscheinsbeweis" zu sprechen wäre und welche Regeln für die Einnahme des Augenscheins und die Reproduktion erlangten Wissens in der Hauptverhandlung gelten. Zum Bgriff der Beweisaufnahme vgl. statt aller LövejRosenbergjGollwit^er, § 244 Rdn. 9; Gössel, StrafverfR, S. 179. S. dazu Tobbens, Der Freibeweis und die Prozeßvoraussetzungen im Strafprozeß (1979), S. 1 ff. Vgl. RGSt. 55, 348 (349); BGH NJW 1961, 1486 (1487); Alsberg! Nüse/Meyer aaO, S. 165 ff; KMR-Paulus, §244 Rdn. 49 ff, 53 ff, 57 ff; KK-StPO¡Herdegen, §244 Rdn. 12; Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst (1977), S. 31; ders., MDR 1977, 979; Krause Jura 1982, 225 (227). Alsberg/Nüse/Meyer, S. 168. Vgl. Krause Jura 1982, 228; KK-StPO¡Herdegen, § 244 Rdn. 12. Eb. Schmidt, StPO, Bd. II, Nachtrag I (1966), Vor § 244 Rdn. 2. BGHSt. 33, 221 = NStZ 1985, 468 mit Anm. Danckert. K K - S t P O / Ä r ^ < » , §244 Rdn. 12; Alsberg! Nüsej Meyer, S. 168 f.
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mittel ist daher im vorbezeichneten Sinne selbständig61. Dies gilt es bei der nachfolgenden Analyse, die zwischen den beiden Phasen der Beweiserhebung unterscheidet, zu bedenken. 3. Die erste Phase der Beweiserhebung besteht darin, daß der Augenscheinsgehilfe aufgrund eines gerichtlichen Auftrages den Beweisgegenstand besichtigt. a) Die beweisrechtliche Einordnung dieses Vorganges bereitet dann keine Schwierigkeiten, wenn die Wahrnehmung des Beweisgegenstandes68 eine besondere Sachkunde erfordert. In diesen Fällen wird die Beweisperson nämlich als Sachverständiger tätig. Die beiden Minimalvoraussetzungen des Sachverständigenbegriffs, Sachkunde und gerichtlicher Auftrag 69 , sind eindeutig erfüllt. Insoweit hat es auch keinen Sinn, den Begriff des Augenscheinsgehilfen ins Spiel zu bringen. Dieser setzt definitionsgemäß voraus, daß für Wahrnehmung und Aussage keine besondere Sachkunde erforderlich ist. Bei den von einem Sachverständigen ermittelten Zusat^tatsachen10 ist mit der h. M. zwar davon auszugehen, daß deren Ermittlung und Weiterleitung nicht in das Gutachten fällt 71 , doch macht es wegen der engen Beziehung zur Gutachtertätigkeit wenig Sinn, den Sachverständigen in dieser Beziehung als Augenscheinsgehilfen zu behandeln. Nur wenn der Auftrag sich — was kaum anzunehmen ist — allein auf die Ermittlung von „Zusatztatsachen" gerichtet haben sollte, liegt eine Situation vor, bei der es auf den gutachterlichen Sachverstand nicht mehr ankommt. Hier wird die Beweisperson trotz ihrer (in concreto irrelevanten) Sachkunde definitionsgemäß als Augenscheinsgehilfe tätig 72 . Der Umstand, daß die h. L. dem Sachverständigen bei seinem Bericht über Zusatztatsachen eine Zeugenrolle zuweist, korrespondiert mit der Rubrizierung des Augenscheinsgehilfen unter den Zeugenbegriff 73 . Für die zweite Phase der Beweiserhebung ist diese Einordnung durchaus
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BGHSt. 33, 221. Dagegen kommt es nicht darauf an, ob das Aufsuchen des Ortes, an dem sich der Beweisgegenstand befindet, ein bestimmtes Sachwissen (z. B. eine Taucherausbildung) erfordert. Denn dabei geht es noch nicht um Augenscheinseinnahme. Vgl. statt aller Roxi«, StrafverfR, S. 177; Schlächter, Das Strafverfahren, Rdn. 480. S. hierzu etwa BGHSt. 13, 1 (3f); 18, 107 (108 f); Kleinknechtj Meyer, § 79 Rdn. 11. Der Sachverständige soll dann Zeuge und als solcher auch zu vernehmen und zu vereidigen sein, vgl. BGH NStZ 1982, 256; NStZ 1986, 323; Roxi» aaO, S. 182; KKStPO¡Pelchen, Vor § 72 Rdn. 5; a. A. Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. (1985), S. 371. Im Falle des § 81 d StPO wird der Arzt, wenn es auf seine Sachkunde nicht ankommt, als reiner Augenscheinsgehilfe tätig. Vgl. zur h. L. oben I Fn. 4f, 15; zur dogmatischen Entwicklung s. o. II.
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plausibel 74 . Für die hier zu untersuchende erste Phase ist die Behandlung des Augenscheinsgehilfen als Zeuge jedoch fragwürdig. Zum Begriff des Zeugen gehört, daß die Beweisperson in einem nicht gegen sie selbst gerichteten Strafverfahren Wissensbekundungen über wahrgenommene Tatsachen gegenüber einem Strafverfolgungsorgan macht, ohne zugleich durch eine andere Verfahrensrolle aus der Zeugenstellung verdrängt zu werden 75 . Auch zum Zeugen gehören damit — ähnlich wie beim Sachverständigen — zwei Grunderfordernisse: das Vorhandensein von Tatsachenwissen und die Einbeziehung des Zeugen in den Prozeß durch ein Strafverfolgungsorgan nach prozessualen (§§ 48 ff StPO) Regeln 76 . Daraus ergibt sich, daß der Augenscheinsgehilfe, solange er auftragsgemäße Wahrnehmungen noch nicht gemacht hat, kein Zeuge sein kann. Er soll vielmehr erst Zeuge werden. Man könnte ihn infolgedessen allenfalls als „testis designatus" bezeichnen. Das allein vermag aber nicht die unmittelbare Anwendung der Vorschriften über den Zeugenbeweis zu rechtfertigen. Sowenig der Augenscheinsgehilfe vor Besichtigung des Beweisgegenstandes Zeuge sein kann, sowenig kann er — das sei zur Klarstellung nochmals betont — als Sachverständiger eingeordnet werden. Denn es fehlt voraussetzungsgemäß an der erforderlichen Sachkunde oder es kommt jedenfalls nicht auf eine solche an. Diejenigen Auffassungen, die für eine Anwendung von Vorschriften über den Sachverständigenbeweis plädieren, haben dies auch nicht verkannt 77 . Bevor jedoch über eine entsprechende Anwendung der §§ 72 ff oder §§ 48 ff StPO gestritten wird, ist zu prüfen, ob nicht eine andere Beurteilung des Beweisaufnahmevorganges in der ersten Phase der Beweiserhebung möglich ist. Eine Einordnung als Form der Augenscheinseinnahme ist bisher offenbar daran gescheitert, daß die StPO unter „Augenscheinseinnahme" nur die Einnahme des richterlichen Augenscheins versteht 78 . Dieser Hinweis kann Richtigkeit für sich jedoch nur insoweit beanspruchen, als es um die besonderen Vorschriften über die Augenscheinseinnahme geht, die die StPO enthält und deren Ziel es ist, besondere Sicherungsvorkehrungen im Hinblick auf eine mögliche Protokollverlesung in der Hauptver-
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S. u. 4. Vgl. RGSt. 52, 289; Gossel, S. 198; Schlücbter Rdn. 477; Löwej Rosenberg! Dabs, Vor § 48 Rdn. 1; Alsberg!NäsejMeyer, S. 171. Zum Prozessualen im Zeugenbegriff vgl. KMR-Paulus, Vor §48 Rdn. 18. „Quasisachverständiger" vgl. nur Hegler AcP 104 (1909), 160. S. a. Kessler aaO, S. 175 m. w. N. Vgl. Alsberg! NäsejMeyer a a ° . S. 223; Dahn JZ 1978, 640 (641); Motive bei Hahn aaO, S. 121 f. Umfassend zur Augenscheinseinnahme lVenskat aaO. (Fn. 5); Robert aaO (Fn. 1).
Der Augenscheinsgehilfe im Strafprozeß
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handlung zu treffen (§§ 86, 224, 225, 249 I S. 2 StPO). Begriffliche Bedeutung haben diese Regelungen nicht. Vielmehr zeigt das Vorhandensein von Vorschriften über den richterlichen Augenschein gerade, daß es auch Formen des nichtrichterlichen Augenscheins gibt 79 . Mithin ist der richterliche Augenschein nur eine Form des Augenscheins*®. Bei einer Augenscheinseinnahme durch das erkennende Gericht ist der Augenschein unmittelbar. Wird der Augenschein dagegen durch einen beauftragten oder ersuchten Richter oder durch eine andere Beweisperson eingenommen, so handelt es sich um einen mittelbaren Augenscheinsbeweis; entsprechendes gilt, wenn der Richter sich durch Zeichnungen, Fotos etc. über den Beweisgegenstand instruiert 81 . Auch beim Einsat£ eines Augenscheinsgehilfen liegt deshalb eine mittelbare Augenscheinseinnahme vor, bei der der Richter sich die Wahrnehmungen des Gehilfen zu eigen macht. Dabei gilt strukturell an sich nichts anderes als beim Einsatz mechanischer „Sichthilfen". Daß es freilich erforderlich ist, den Beweismittler zusätzlich als Zeugen oder Sachverständigen zu vernehmen, steht auf einem anderen Blatt. An dem Charakter des Primärvorganges als einer Form der mittelbaren Augenscheinseinnahme ändert sich dadurch jedenfalls nichts 82 . Wichtigste Konsequenz dieser Auffassung ist, daß Beweisanträge auf Besichtigung eines Beweisgegenstandes durch einen Augenscheinsgehilfen nicht nach § 244 III, IV StPO, sondern nach § 244 V StPO, also als Anträge auf Einnahme eines Augenscheins, zu behandeln sind 83 . Da die für die kommissarische Augenscheinseinnahme gesetzten Sicherungen (§§ 86, 168, 168 a, 168 d, 224, 225 StPO) beim Einsatz eines Augenscheinsgehilfen nicht eingreifen, ergeben sich allerdings für die Ablehnung von Beweisanträgen Besonderheiten. So muß es möglich sein, mit einem weiteren oder erneuten Beweisantrag einen Gegenbeweis gegen die erfolgte Augenscheinseinnahme seitens eines Augenscheinsgehilfen zu führen. Dieser Antrag, der eine zutreffende Wahrnehmung durch den Augenscheinsgehilfen in Frage stellt, könnte nicht als unzulässiger Antrag auf Wiederholung der Beweiserhebung betrachtet werden; ihm müßte vielmehr bei pflichtgemäßer Ausübung des richterlichen Ermessens im Rahmen des § 244 V StPO stattgegeben werden 84 .
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Eb. Schmidt aaO, § 86 Rdn. 9. Zutreffend Peters aaO, S. 413; Robert, S. 21. Peters S. 413; Hanack JZ 1970, 563 m. w. N.; BGH BGHR StPO § 244 Abs. 5 Augenschein 2/Tatrekonstruktion —. Ebenso Hanack JZ 1970, 543; Peters S. 413; Kessler, S. 120f. Abw. Wenskat, S. 241; Scbul^ StV 1983, 345. Ausführlich dazu Schuld StV 1983, 345 ff, 347, 348.
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b) Kann als geklärt gelten, daß die Besichtigung eines Beweisgegenstandes durch einen Augenscheinsgehilfen als mittelbare Augenscheinseinnahme zu qualifizieren ist, muß nunmehr geprüft werden, welchem rechtlichen Regime dieser Vorgang unterliegt. Diese Frage stellt sich deshalb, weil das Gesetz über die Durchführung einer Augenscheinseinnahme und deren Erforderlichkeit ebensowenig eine Bestimmung trifft wie über die Behandlung des Augenscheinsgehilfen 85 . Bei einer näheren Betrachtung des Problemkomplexes wird erkennbar, daß es sich genau genommen um eine doppelte Fragestellung handelt. Zunächst ist die Aufmerksamkeit darauf zu richten, ob der Einsatz eines Augenscheinsgehilfen und damit der Übergang von einer unmittelbaren zu einer mittelbaren Form der Beweisaufnahme überhaupt prozeßordnungsgemäß ist. Bejaht man diese Frage, bleibt zu klären, welchen Regelungen der Einsatz des Augenscheinsgehilfen im einzelnen zu unterstellen ist. aa) Uber die Zulässigkeit eines Einsatzes von Augenscheinsgehilfen schweigt die StPO sich aus. Der Versuch Alsbergs8 s - 143 ff; Rasch] Sassenberg (Fn. 65), S. 72; Schorsch, Die sexuellen Deviationen und sexuell motivierte Straftaten, in: Ven^laff (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, 1986, S. 292 ff (293 f); KentlerjSchorsch (Fn. 36), S. 109 ff; zusammenfassend Rössner (Fn. 34), S. 7 f. Vgl. Fn. 37 und 39. Zu den einschlägigen therapeutischen Möglichkeiten Leygraf, Alkoholabhängige Straftäter: Zur Problematik der Unterbringung nach § 64 StGB, Fortschr. Neurol. Psychiatr. 1987, 231 ff; Penners, Zum Begriff der Aussichtslosigkeit einer Entziehungskur nach § 64 Abs. 2 StGB, 1987; Baur, Der Vollzug der Maßregeln der Besserung und Sicherung nach den §§ 63 und 64 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt, Diss. Münster 1988, S. 174 ff, 191 ff.
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gnose im Sinne jener Vorschrift rechtfertigen können — mag auch nach bestimmten analytischen Vorstellungen der — gewiß problematische — Gedanke einer jahrzehntelangen „Behandlung" sich nicht von vornherein verbieten 70 . Darüber aber, auf wie lange bei vorausschauender Betrachtung des Einzelfalls die mutmaßliche Dauer einer Behandlung im Rahmen des §183 III veranschlagt werden darf, werden sich schwerlich allgemeine zeitliche Regeln aufstellen lassen 71 . Vielmehr wird der zeitliche Rahmen einer nach § 183 III in Betracht kommenden Heilbehandlung entscheidend von zwei Umständen abhängen: dem Persönlichkeitsbild und der psychogenetischen Struktur der Delinquenz des Täters sowie der darauf zugeschnittenen Therapieform. Beides kann erheblich variieren. So sind neben den während der Gesetzgebungsgeschichte zur Diskussion gestellten Kurzverfahren je nach konkreter Konstellation auch mehrjährige psycho- und gruppentherapeutische Behandlungen — nicht zuletzt auf analytischer Grundlage — in Betracht zu ziehen 72 . In der einschlägigen Literatur wird denn auch gar nicht so selten über Therapien mit vier- oder gar sechsjähriger Dauer berichtet 73 . Das kann angesichts der tiefgreifenden psychischen Pesönlichkeitsstörung, aus der letztlich exhibitionistische Handlungen vielfach resultieren, nicht weiter überraschen. Insofern erschiene auch eine mehr oder minder starre Fünfjahresgrenze — wie sie etwa Schall in Anlehnung an die gesetzliche Höchstdauer der Bewährungszeit (§ 56 a I StGB) vorzuschweben scheint 74 — problematisch, weil sie die in der Regelung angelegte und sachlich gebotene therapeutische Flexibilität zu sehr einengen könnte. Dementsprechend hat der BGH zu Recht die Auffassung (der Vorinstanz) zurückgewiesen, daß nach „fast sechsjähriger Therapie weitere Rückfalle" nicht mehr geduldet werden könnten, und dieser Ansicht entgegenhalten, „daß die vor der Verurteilung bereits durchgeführte Heilbehandlung der Anwendung des § 183 Abs. 3 StGB dann nicht entgegensteht, wenn in der Zukunft ein Erfolg ihrer Fortsetzung zu erwarten ist" 75 . Die Frage, ob überhaupt und gegebenenfalls nach welcher Art von Therapie Aussichten auf eine rückfallverhindernde Heilung bestehen, wird sich allerdings vielfach ohne Sachverständigengutachten nicht zureichend beurteilen lassen. 70
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„Zur Methode der Psychoanalyse" Böllinger, Delinquenten, 1979, S. 18 ff. So zutr. Rössner (Fn. 34), S. 9. Rössner (Fn. 34), S. 8 f. Vgl. Fn. 65 und 67. Schall (Fn. 58), S. 399. BGHSt. 34, 153.
Psychoanalyse und die Behandlung von
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3. Mit dem Problem der Therapiedauer steht auch das des Therapieerfolgs in Zusammenhang. Im Grunde lassen sich beide Aspekte nicht streng voneinander trennen. Die Frage, wann im Einzelfall eine Behandlung beendet werden kann, beantwortet sich" ja gerade danach, was als Therapieziel anzusehen ist. Nahe läge es — vor allem unter kriminalpräventivem Vorzeichen —, als Erfolg den Ausschluß jeglichen weiteren Rückfalls zu definieren 76 . Doch würde eine solche pauschale und schematische Betrachtungsweise weder dem Personenkreis der behandlungsbedürftigen Exhibitionisten noch der § 183 III immanenten Verschränkung von therapeutischer und strafrechtlicher Prävention gerecht werden. Vielmehr wird man hier in einer mehrfachen Weise differenzieren müssen 77 : Ausgangspunkt muß zunächst einmal der Umstand sein, daß nach jener Vorschrift weitere exhibitionistische Handlungen — möglicherweise — „erst nach einer längeren Heilbehandlung" nicht mehr zu erwarten sind. Damit werden Rückfalle während der Dauer der Therapie in Kauf genommen. Dies wurde bereits im Rahmen der Gesetzgebungsgeschichte als sachlich notwendige Konsequenz der erweiterten Aussetzungsregelung erkannt 78 und wird in der Rechtsprechung gleichfalls so gesehen 79 . Dementsprechend hat etwa der BGH ausgeführt, § 183 III wolle einem Täter, „bei dem im Zeitpunkt der Urteilsfindung noch akute Wiederholungsgefahr besteht", die Möglichkeit geben, „sich in Freiheit einer Heilbehandlung zu unterziehen" 80 . Daraus folgt eine Herabsetzung der nach § 56 I an eine günstige Zukunftsprognose zu stellenden Anforderungen in dem Sinne, daß gegebenenfalls erst eine längere Therapie keinen Rückfall mehr erwarten läßt. Dies erfordert für eine die Aussetzung nach § 183 III rechtfertigende Prognose zum einen die begründete Erwartung, „daß sich der behandlungsbedürftige Täter überhaupt einer Heilbehandlung unterziehen wird" 81 . Mangelnde Therapiebereitschaft wird daher in aller Regel gegen eine positive Prognose im Sinne der Vorschrift sprechen 82 . „Außerdem ist als Behandlungserfolg anzustreben, daß der Täter nicht nur Straftaten nach § 183, sondern exhibitionistische Handlungen überhaupt unterlassen wird, weil eine so differenzierte Prognose, ob mit 76
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Zu den Schwierigkeiten der Erfolgsbeurteilung und -messung vgl. nur Eisenberg (Fn. 19), § 42 Rdn. 4f; Kaiser (Fn. 19), § 114. Im Anschluß an Rössner (Fn. 34), S. 9 f. BT-Dr. VI/3521, S. 56. Vgl. OLG Stuttgart MDR 1974, 685; OLG Düsseldorf NStZ 1984, 263; BGHSt. 34, 150. NJW 1980, 649. BT-Dr. VI/3521, S. 55. BGHSt. 34, 152.
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künftigen exhibitionistischen Handlungen andere Personen belästigt werden oder nicht, unmöglich ist" 83 . Dies bedeutet aber auch, daß eine bereits vor der Verurteilung begonnene, aber bisher erfolglos gebliebene Therapie jedenfalls dann einer Strafaussetzung „nicht entgegensteht, wenn in der Zukunft ein Erfolg ihrer Fortsetzung zu erwarten ist" 84 . Die Begehung weiterer exhibitionistischer Handlungen während der Bewährungszeit zeigt eben regelmäßig nicht, daß sich im Sinne des § 56 f Nr. 1 die der Strafaussetzung zugrundeliegende Erwartung nicht erfüllt hat 85 . Nur wenn eine Heilbehandlung von vornherein gar nicht begonnen oder als aussichtslos endgültig abgebrochen worden ist, ohne daß die Möglichkeit einer chancenreichen Alternative bestünde, könnte ein erneuter Rückfall für eine ungünstige Prognose sprechen. In diese Richtung gehen auch die Erwägungen des OLG Düsseldorf 86 , wenngleich sie nicht unerheblicher Modifikationen bedürfen. Die einschlägige Formulierung des OLG, eine erneute exhibitionistische Straftat könne erst dann „das Scheitern der Prognose anzeigen", wenn die Heilbehandlung „abgebrochen oder ohne Erfolg zu Ende gebracht worden ist", engt die Möglichkeiten einer für § 183 ausreichenden günstigen Prognosestellung zu sehr ein. In Anlehnung an therapeutische Erfahrungen empfiehlt es sich, zwischen Therapiefortschritten und Erreichung des Therapieziels zu unterscheiden. Gerade bei langwierigen und nicht nur zeitlich aufwendigen Heilverfahren, die die Festigung der Persönlichkeit und die Identitätsbildung anstreben, entspricht schrittweises Vorgehen der Regel. Dementsprechend setzen sich die Therapeuten vielfach Nah- oder Zwischenziele, auf denen dann weitere Behandlungsschritte aufbauen können 87 . Demnach kann von einem ersten Therapieerfolg schon dann gesprochen werden, wenn die Häufigkeit oder Intensität exhibitionistischen Verhaltens abnimmt. Auf einer vergleichbaren Ebene liegt die medizinisch gebräuchliche Unterscheidung zwischen Teil- und Vollrehabilitation. In dem vom BGH entschiedenen Fall 88 hat der Täter nach Ablauf der bisherigen Behandlung nicht mehr vor Kindern, sondern nur noch vor Frauen exhibitioniert. Dies ist fraglos ein Fortschritt im therapeutischen Sinne. Dem korrelieren in gewissem Sinne Definition und Verständnis des Erfolges unter kriminalpräventivem Vorzeichen. Zwar ist bis heute in 83 84 85
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BT-Dr. VI/3521, S. 56. BGHSt. 34, 153. Vgl. SchönkelScbröderILenckner (Fn. 24), § 183 Rdn. 11; Dreher/TriadU Rdn. 11; Lackner (Fn. 24), § 183 Anm. 6 a bb). NStZ 1984, 263. Rössner (Fn. 34), S. 10. BGHSt. 34, 150.
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der kriminologischen Evaluationsforschung umstritten, was im einzelnen als „Erfolg" prophylaktischer oder resozialisierender Maßnahmen anzusehen ist 89 . Aber unabhängig davon, wie man den „Erfolg" einer Sanktion oder Maßnahme inhaltlich bestimmen mag, dürfte wohl darüber Einigkeit bestehen, daß zwischen Rückfalligkeit im bisherigen (oder gar noch gesteigerten) Umfange und uneingeschränkt strafrechtslegaler Lebensführung ein mehr oder minder breites Spektrum existiert, dessen einzelne Entwicklungsstufen ein unterschiedliches Maß an Annäherung an eine völlige Bewährung des Täters zu erkennen gibt. Dies läßt sich an den drei Kriterien der Rückfallgeschwindigkeit, -häufigkeit und -intensität (Tatschwere) veranschaulichen. Die Zahl der Rückfalle kann abnehmen, die Intervalle zwischen den einzelnen Straftaten können größer werden, die Begehungsweise oder Tatausführung kann gleichfalls eine abschwächende oder weniger gefährliche Tendenz erkennen lassen. In allen diesen Fällen kann gleichfalls von Fortschritten i. S. der kriminalrechtlichen Prävention gesprochen werden, weil dann das sozialschädliche oder -gefährliche Verhalten des Täters die Rechtsgemeinschaft, namentlich die weiteren Tatopfer weniger belastet 90 . Ein Beispiel dafür bildet wiederum der vom BGH entschiedene Fall 91 : Exhibitioniert der Täter nur mehr vor Frauen und nicht mehr vor Kindern, so ist jedenfalls eine Gruppe von potentiellen Straftatopfern weggefallen — wie immer man die aus exhibitionistischen Handlungen resultierenden psychisch-seelischen Opferfolgen bei Kindern einerseits und bei Frauen andererseits jeweils einzuschätzen hat 92 . 4. Große praktische Bedeutung kommt im Kontext sowohl therapeutischer als auch strafrechtlicher Prävention der Art, Ausgestaltung und Leistungsfähigkeit der in Betracht kommenden Heilverfahren zu. Dieser Aspekt, der sich bereits auf die Fassung der Prognoseklausel ausgewirkt hat 93 , spielt ja eine wesentliche Rolle für die Bestimmung von Therapiedauer und -ziel. Praktische Erfahrungen, aber auch theoretische 85
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Vgl. Kaiser, Erfolg, Bewährung, Effizienz, in: Kaiser) KernerjSackjSchellhoss (Fn. 19), S. 89 ff; ders., Kriminologie (Fn. 19), § 1 1 4 Rdn. 5, 10 f; Eisenberg (Fn. 19), §42 Rdn. 4 f; Kury, Die Behandlung Straffälliger, Bd. 1, 1986, S. 109 ff. Vgl. Schall (Fn. 58), S. 398; Rössner (Fn. 34), S. 10. BGHSt. 34, 150. Daß man insoweit nicht mit generellen Wertungen operieren darf, sondern daß hier auch und gerade situative Momente sowie weitere Umstände — wie etwa Möglichkeiten zur und Fähigkeit der persönlichen Erlebnisverarbeitung — Opferreaktionen beeinflussen können, zeigen die Extrembeispiele der Frau, die das — objektiv harmlose — Verhalten des Täters aus Angst und einem Bedrohtheitsgefühl heraus als aggressive Handlung mißdeutet, und des Kindes, das den sexuellen und schamverletzenden Gehalt des Vorgangs gar nicht erfaßt. BT-Dr. VI/3521, S. 55 f.
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Einsichten haben ergeben, daß die Bandbreite erfolgversprechender und zugleich angemessener Behandlungsmethoden ungeachtet der Weiterentwicklung medizinischer und psychiatrisch-psychologischer Möglichkeiten begrenzt ist 94 . Abstrakt betrachtet wäre zwar an eine ganze Reihe von Therapieformen zu denken: — zum einen an eher symptomorientierte Heilverfahren wie etwa direkte aversive Verhaltenstherapien, medikamentöse Behandlung (z. B. mit Androcur), stereotaktische Gehirnoperationen am sexuellen Triebzentrum und Kastration (operative Entfernung der Geschlechtsdrüsen); — zum anderen an persönlichkeitsstabilisierende und -fördernde Arten psychotherapeutisch-sozialpädagogischer Heilbehandlung. Fraglos unterliegen vornehmlich die symptomorientierten Behandlungsmethoden erheblichen Bedenken, die teils die Erfolgsaussichten, teils die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs betreffen. Triebdämpfende oder gar -beseitigende Formen der Behandlung können im Einzelfall zwar durchaus präventive Wirkungen entfalten, indem sie weiteres exhibitionistisches Verhalten zurückdrängen oder gar verhindern. Sie setzen jedoch nur an der äußeren Symptomatik, indessen nicht an der Persönlichkeitsstörung selbst an, die dann unaufgearbeitet bleibt. Vor allem aber stellen stereotaktische Gehirnoperationen und die Kastration sich als irreversible verstümmelnde Eingriffe dar, die — jedenfalls im Blickwinkel der geringen Sozialschädlichkeit exhibitionistischer Handlungen — nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zu ihrem Anlaß und den vom Täter für die Rechtsgemeinschaft ausgehenden Gefahren stehen 95 . Daher wird in erster Linie eine psychotherapeutische-sozialpädagogische Heilbehandlung in Betracht zu ziehen sein, die dann freilich auch in aller Regel mehr Zeit beansprucht. Dieser Gesichtspunkt erscheint denn auch für die Behandlungsbereitschaft und Therapiemotivation bedeutsam, die ja vom Gesetz für eine günstige Prognose vorausgesetzt werden. Dementsprechend kann der Umstand, daß ein Täter ein symptomorientiertes Heilverfahren, gar noch einen der angedeuteten chirurgischen Eingriffe ablehnt, für sich allein schwerlich die Feststellung mangelnder Therapiebereitschaft rechtfertigen. Denn diese Bereitschaft kann sich vernünftigerweise und von Rechts wegen nur auf solche Heilverfahren beziehen, die erfolgversprechend, angemessen und dem Betroffenen auch zumutbar sind. Wenn ein Täter — wie im Fall des BGH 96 — es ablehnt, sich einer
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Vgl. die Nachw. in Fn. 65. So zutr. Rössner (Fn. 34), S. 11. BGH St. 34, 151.
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Androcur-Behandlung zu unterziehen, dann kann daraus per se noch nicht auf eine generelle Therapieverweigerung geschlossen werden. Nur wenn ein behandlungsbedürftiger Täter sich dann auch noch der in seinem Fall sexualwissenschaftlich indizierten psychotherapeutischen Heilbehandlung endgültig verweigern würde, müßte das Gericht zu einer ungünstigen Prognose kommen 97 . 5. Haben die Auseinandersetzungen mit diesen Fragen in der neueren Literatur und Rechtsprechung weitgehende Klärung (und Übereinstimmung) gebracht, so besteht kein Konsens hinsichtlich des weiterreichenden Problems, in welchem Umfange § 183 III von den Voraussetzungen des § 56 befreit. Zum einen geht es hier um die generalpräventiven Grenzen, die der Topos „Verteidigung der Rechtsordnung" der Aussetzung von Freiheitsstrafen ab sechs Monaten zieht (§ 56 III). Zum anderen steht die Geltung der sachlichen und zeitlichen Schranken, die § 56 II hinsichtlich der Aussetzung von Freiheitsstrafen von über einem Jahr Dauer errichtet, in Rede. Herrschende Lehre und Praxis halten insoweit nach wie vor an der Auffassung fest, daß § 183 III lediglich von den Anforderungen dispensiere, die nach § 56 I an eine günstige Kriminalprognose zu stellen sind. Dies hat zwangsläufig zur Folge, daß die prognoseunabhängigen Kriterien der allgemeinen Strafaussetzungsregelung in vollem Umfange auch auf exhibitionistische Täter anzuwenden sind 98 . Dieser Auffassung hat, soweit ersichtlich als einziger, Rössner widersprochen 99 . Nach seiner Ansicht ist bei der Anwendung des § 183 III weder für die Berücksichtigung generalpräventiver Aspekte im Sinne des § 56 III Raum noch kommt ein Rückgriff auf die besonderen Voraussetzungen des § 56 II in Betracht. Sie fußt letztlich auf der These, daß § 183 III eine Sonderregelung für die Strafaussetzung bei exhibitionistischen Tätern darstellt, die den Rückgriff auf die allgemeinen Vorschriften über die Strafaussetzung ausschließt. Danach entfaltet jene Regelung eine Sperrwirkung im Hinblick auf § 56 II und III. Begründet wird der Ausschluß generalpräventiver Gesichtspunkte mit dem aus § 183 III abgeleiteten Grundsatz, daß Therapie Vorrang
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Vgl. Rössner (Fn. 34), S. 11 f. Zu den Konsequenzen mangelnder Therapiebereitschaft und Therapierbarkeit Hobe (Fn. 34), S. 79 ff. Zur Anwendbarkeit des § 56 III: BGHSt. 34, 151 f; Schall (Fn. 58), S. 400; SK-Horn (Fn. 24), § 183 Rdn. 16; SchönkelSchröderILenckner (Fn. 24), § 183 Rdn. 10; Dreherj Tröndle (Fn. 24), § 183 Rdn. 11; Lackner (Fn. 24), § 183 Anm. 6 a aa); zur Anwendbarkeit des § 56 II: BGHSt. 28, 360 = NJW 1980, 649; Schall, S. 400 f; LK-Laufhütte, § 183 Rdn. 14; SK-Horn, § 183 Rdn. 16; SchönkelSchröderILenckner, § 183 Rdn. 10, 14; Lackner, § 183 Anm. 6 b. Rössner (Fn. 34), S. 12 f.
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vor vollstrecktet Freiheitsstrafe genieße. Dieses Ergebnis entspreche auch der kriminalpolitischen Zielsetzung der Spezialregelung, „deren Grundlage vor allem die deutlich reduzierte Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit exhibitionistischen Verhaltens ist. Generell ist es ausgeschlossen, hier einen begleitenden Therapieversuch als ein Zurückweichen vor dem Verbrechen zu verstehen, das die Gesinnung in der Bevölkerung erschüttern könnte. Die Bevölkerung ist an einer Bestrafung praktisch nicht interessiert" 100 . Was das Verhältnis des § 183 III zu § 56 II anlangt, so begreift Rössner jene Regelung als „einen klar umrissenen typisierten Fall" dieser Vorschrift 101 . Er erblickt also in der lex specialis bereits eine Konkretisierung der besonderen Anforderungen, die die lex generalis an die Strafaussetzung stellt. Hiernach liegen bei dem meist konfliktbelasteten, zwanghaft handelnden und persönlichkeitsgestörten Exhibitionisten schon per se die besonderen Umstände der Tat und Persönlichkeit des Täters vor, die § 56 II voraussetzt. Demzufolge ist es weder rechtlich möglich noch wäre es auch kriminalpolitisch sinnvoll, den Rückgriff auf diese Vorschrift zu gestatten. Ob nach Entstehungsgeschichte und Fassung des § 183 III eine solche, an sich sympathisch wirkende weite Auslegung gerechtfertigt ist, erscheint zweifelhaft — so kriminalpolitisch bestechend und dogmatisch elegant sie auch erscheinen mag. Die — insoweit freilich keineswegs ganz eindeutigen — Materialien scheinen dafür zu sprechen, daß seinerzeit eher eine Herabsetzung der Anforderungen an eine günstige Prognose als eine Befreiung von den weiteren Voraussetzungen des § 56 intendiert war 102 . Horstkotte sprach sich jedenfalls in diesem Sinne aus 103 . Der Wortlaut des § 183 III ist eindeutig prognosebezogen. Allerdings gibt das Fehlen einer ausdrücklichen Bezugnahme auf § 56 selbst für die Auslegung nicht allzu viel her. Ebensowenig wird man aus dem Umstand, daß der Gesetzgeber lediglich eine fakultative und keine obligatorische Aussetzungsregelung getroffen hat, zwingende Schlüsse in der einen oder anderen Richtung ziehen können. Zwar wirft eine Kann-Vorschrift allemal die Frage auf, welche Gesichtspunkte außer den die Regelung selbst tragenden noch in die Ermessensausübung einfließen dürfen 104 . Aber es kann wohl kein Zweifel daran bestehen, daß der Tatrichter in aller Regel gehalten ist, von der Möglichkeit der Strafaussetzung Gebrauch zu machen, wenn eine Therapie
100 101 102 103 104
Rössner (Fn. 34), S. 13. Rössner (Fn. 34), S. 13. Vgl. BT-Dr. VI/3521, S. 55 f; Horsthotte, Prot. (Fn. 28), S. 1778. Horstkotte, JZ 1974, 90 (Fn. 28). Vgl. etwa Lackner (Fn. 24), § 46 Anm. VI 1.
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auf ambulanter Basis Erfolg verspricht und der Täter behandlungsbereit ist 105 , um damit die zugleich kriminalpräventiv sinnvollere Alternative zu ergreifen 106 . Freilich: Wäre die Grundthese Rössners zutreffend, dürften eigentlich auch die zeitlichen Schranken (also die Zweijahresgrenze) des § 56 II, die ja ein absolutes Limit für die Strafaussetzung bedeuten, im Falle des § 183 III nicht gelten — mögen auch (Gesamt-)Freiheitsstrafen von über zwei Jahren bei exhibitionistischen Tätern in Anbetracht des geringen Unwertgehalts solcher Handlungen kaum denkbar sein. Indessen ist diese Kontroverse bei sachgerechter Auslegung des §183 III theoretisch wie praktisch wohl nur von geringer Bedeutung. Bei exhibitionistischen Handlungen, die ohnehin nur einen geringen Unrechtsgehalt aufweisen, dürften in aller Regel Gesichtspunkte der sog. Integrationsprävention einer Strafaussetzung nicht entgegenstehen 107 . Es erscheint schwerlich vorstellbar, daß das allgemeine Vertrauen in die Selbstbehauptungs- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung darunter leiden soll, daß einem zu exhibitionistischen Handlungen neigenden Täter — den man ohnehin schon vielfach als krank beurteilt — die Möglichkeit einer Heilung auf Kosten der Strafvollstreckung eröffnet wird. Insoweit ist denn auch der These Rössners beizupflichten, daß es wohl kein (rechtlich) relevantes gesellschaftliches Interesse an der Strafverbüßung solcher Täter gibt 108 . Aber auch das Vorliegen der von § 56 II vorausgesetzten besonderen Umstände in der Tat und Persönlichkeit des Täters dürfte bei einem solchen Personenkreis unschwer zu begründen sein. Namentlich eine zur Gesamtstrafenbildung führende Häufung exhibitionistischer Handlungen kann ein gewichtiges Indiz für die Therapiebedürftigkeit des Täters bilden. Würde man in solchen Fällen die Existenz der Voraussetzungen des § 56 II verneinen, würde man gerade einem Personenkreis die Behandlungschancen nehmen, bei dem Gesichtspunkte mittel- bis langfristiger therapeutischer und strafrechtlicher Prävention besonders nachhaltig für eine Heilbehandlung sprechen. Auch hier müssen natürlich die der Sonderregelung des § 183 III zugrundeliegenden Intentionen zugunsten des Täters in die Waagschale fallen 109 . In letzter Konsequenz dürfte also die h. M. trotz Anwendung des § 56 III und II regelmäßig zu demselben Ergebnis wie Rössner gelangen.
105 106 107 108 105
Vgl. Lackner (Fn. 24), § 183 Anm. 6 a aa/. Rössner (Fn. 34), S. 12 f. Vgl. auch Schall (Fn. 58), S. 400. Rössner (Fn. 34), S. 13. Vgl. Schall (Fn. 58), S. 401 f.
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Unterschiede blieben dann wohl auf extrem gelagerte Ausnahmefalle beschränkt, in denen man möglicherweise ohnehin zögern würde, dem Täter eine im Sinne des § 183 III günstige Prognose zu stellen.
VII. 1. Die Fragen, die § 183 III aufwirft, betreffen nicht allein Voraussetzungen und Anwendungsbereich jener Norm — wie wichtig das immer für die einschlägige gerichtliche und therapeutische Praxis sein mag. Vielmehr drängt sich die weitergehende Überlegung auf, ob und inwieweit der Grundgedanke, der jener Regelung innewohnt, für ein umfassenderes kriminalpolitisches Präventionskonzept fruchtbar gemacht werden könnte. Liegt es nicht nahe, in § 183 III eine Art Modell zu erblicken, das entwicklungs- und erweiterungsfähig ist? Existieren nicht noch andere Gruppen von Straftätern und Delikten, bei denen während eines überschaubaren Zeitraumes Rückfälle hingenommen werden könnten, weil ambulante Maßnahmen jedenfalls mit größerer Wahrscheinlichkeit einen Erfolg erwarten lassen, als er im Falle einer Strafvollstreckung zu erwarten wäre? In der Tat sind solche Vorstellungen bereits ventiliert worden, wenngleich sie sich, soweit ersichtlich, noch nicht zu konkreten Konzepten verdichtet haben. So hat etwa Gross im Rahmen der Gesetzgebungsberatungen § 183 III „strafrechtspolitisch" als den „ersten Einbruch eines absoluten Maßnahmenstrafrechts aus dem Gedanken der defense sociale" bezeichnet, von dem nur zu hoffen sei, daß er sich „auch an anderen Stellen durchsetze" 110 . Ähnlich hat sich Horstkotte bei seiner Erläuterung des § 183 III geäußert. Danach könnte man den spezialpräventiven Gedanken, daß dem Endzweck der Prävention durch eine Behandlung in Freiheit „besser gedient" sei „als mit einem Strafvollzug, der für die Therapie nutzlos, wenn nicht abträglich ist", „in Zukunft auch auf andere Tatbestände übertragen" 111 . Freilich sind derartige weiterführende Überlegungen eher Episode oder Randbemerkungen geblieben, denen kriminal- und gesetzespolitisch im Rahmen des StGB selbst keine weitere Folge gegeben wurde. 2. Immerhin hat der Gedanke des Vorrangs von Therapie vor Vollstreckung von Freiheitsstrafe noch im Hinblick auf betäubungsmittelabhängige Straftäter gesetzlichen Niederschlag gefunden 112 . Eine Par110 1.1 1.2
Prot. (Fn. 28), S. 1778. Horstkotte, JZ 1974, 90 (Fn. 28). Vgl. Rössner (Fn. 34), S. 12.
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allele zur Regelung des § 183 III StGB mag man in den §§ 35 ff BtMG insofern erblicken, als auch hier unter bestimmten Voraussetzungen zugunsten einer Therapie auf Strafvollstreckung verzichtet wird. Eine vergleichbare Situation kann man auch noch darin sehen, daß § 35 BtMG ebenfalls auf Fälle schlechter Prognose anwendbar ist 113 . Schließlich handelt es sich in beiden Fällen um behandlungsbedürftige Täter. Ob indessen noch weiterreichende Parallelen gezogen werden können, erscheint eher zweifelhaft. Dies gilt sehr wahrscheinlich schon für den jeweiligen Personenkreis. Exhibitionisten sind häufig sozial integrierte Täter, deren Persönlichkeitsstörung ein ganz spezifisches Gepräge aufweist. Drogenabhängigkeit und -kriminalität haben über die Persönlichkeitsschädigungen hinaus vielfach dissoziale Lebensumstände zur Folge oder werden von ihnen begleitet 114 . Auch hinsichtlich der Therapiemotivation dürften sich meist erhebliche Unterschiede ergeben. Konsens dürfte darüber bestehen, daß jedenfalls exhibitionistische Täter in Freiheit mit größerer Aussicht auf Erfolg behandelt werden können als unter den Bedingungen des Freiheitsentzugs. Daß der Strafvollzug Drogenabhängigen — von Sondereinrichtungen abgesehen 115 — gleichfalls keine weitergehenden Behandlungschancen eröffnet, trifft sicher zu 116 ; jedoch ist das Verhältnis von ambulanter zu stationärer Therapie hier doch wohl anders zu beurteilen als bei Exhibitionisten. Femer ist auch die von beiden Tätergruppen ausgehende soziale Gefährlichkeit oder Belastung — ungeachtet der bei Drogentätern fraglos gebotenen Differenzierungen — unterschiedlich zu bewerten. Nicht nur formale Bedeutung hat die materiell- und verfahrensrechtliche Unterschiedlichkeit der Regelungsansätze, die im Fall des § 183 III StGB auf eine Erweiterung der Strafaussetzungsmöglichkeiten, im Fall der §§ 35 ff BtMG aber auf eine Vollstrekkungslösung hinausläuft.
1,3
114
1.5 1.6
Vgl. Körner, BtMG, 2. Aufl. (1985), § 35 Rdn. 2. Zu den §§ 35 ff BtMG auch Schröder, Drogentherapie nach den §§ 93 a JGG, 35 ff BtMG, 1986; Frommel, Die Zurückstellung der Strafvollstreckung bei drogenabhängigen Strafgefangenen, in: Blankenburg/ Voigt (Hrsg.), Implementation von Gerichtsentscheidungen, 1987, S. 251 ff. Zum Gesamtkomplex Kreuzerj Wille, Drogen — Kriminologie und Therapie, 1988, S. 71 ff; Kreuzer, Therapie und Strafe, NJW 1989, 1505 ff. Vgl. Bt-Dr. 11/4302, S. 17. Außer Beratung und Motivationsarbeit kommen vor allem die Kooperation mit spezifischen Therapieeinrichtungen und die Vermittlung von Therapieplätzen in solchen Institutionen in Betracht. Vgl. Justizministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Sozialtherapie und Drogentherapie, 1986; Egg (Hrsg.), Drogentherapie und Strafe, 1988; Brakhoff (Hrsg.), Drogenarbeit im Justizvollzug, 1988; Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Hrsg.), Aufsuchende Drogenarbeit für betäubungsmittelabhängige Straftäter, 1989.
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3. Doch wie immer man die einschlägigen Regelungen des geltenden Rechts - §183111 StGB einer-, §§35 ff BtMG andererseits - im Verhältnis zueinander einschätzen mag — sie sind jedenfalls bisher singulär geblieben. Das hat gewiß seine Gründe, die sich namentlich an der Sonderregelung für exhibitionistische Täter recht gut veranschaulichen lassen. Faßt man die herausragenden Spezifika dieser Vorschrift nochmals zusammen, dann wird deutlich, daß hier eine ganze Reihe günstiger Umstände zusammengekommen ist, wie sie in dieser Fülle und Intensität nur schwer bei anderen Tat- und Tätergruppen dürften ausfindig gemacht werden können: a) Exhibitionistische Handlungen zeichnen sich vielfach durch einen geringen Unrechts- und Schuldgehalt aus. Das der Tat innewohnende Bedrohungs- und vom Täter ausgehende Gefahrdungspotential hält sich — ungeachtet einer hohen Rückfallhäufigkeit — in relativ engen Grenzen. b) Exhibitionistische Handlungen erscheinen tendenziell eher als Ausfluß von Krankheit als von Schuld (wenngleich das Gesetz sie als strafrechtlich zu ahnende Vergehen einstuft) 117 . Dafür spricht nicht zuletzt, daß solche Täter ihr Verhalten, das bei ihnen häufig Schamgefühle auslöst, vielfach zwang- und konflikthaft erleben. c) Wenn auch die einschlägige Tätertypologie eine gewisse, freilich begrenzte Variationsbreite aufweist und dies deshalb auch für das Spektrum der in Betracht kommenden Behandlungsmethoden gilt, so überwiegen doch die gemeinsamen Merkmale in Genese und Phänomenologie exhibitionistischer Handlungen. Der Umstand, daß ein solches Verhalten in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle auf ganz bestimmte analytisch und psychologisch erklärbare Persönlichkeitsstörungen zurückgeführt werden kann, läßt Exhibitionisten gleichfalls als eine deutlich hervorgehobene Personengruppe erscheinen, die hinsichtlich Entstehung, Erscheinungsformen und Behandlung der sozialen Abweichung nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres mit anderen Sexualdelinquenten verglichen werden kann. d) Die Behandlungsbedürftigkeit solcher Täter ist nicht nur vom fachlichen, psychiatrisch-psychologischen Standpunkt aus besonders plausibel. Sie dürfte sich eben wegen der Eigenart der Handlungen und der ihnen zugrunde liegenden Persönlichkeitsstörungen auch gesellschaftlich eher vermitteln lassen. 1,7
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit wird in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle — zumindest im eingeschränkten Sinne des § 21 S t G B — bejaht. Vgl. BTDr. VI/3521, S. 54; SchönkelSchröderILenckner (Fn. 24), § 1 8 3 Rdn. 6; DreherjTröndle (Fn. 24), § 183 Rdn. 9.
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e) Das — realistische — Risiko des Rückfalls verliert strafrechtlich wie gesellschaftlich in solchen Fällen in dem Maße an Bedeutung, in dem langfristig die Chance einer — durch Heilbehandlung zu erreichenden — Rehabilitation oder Resozialisierung wächst. Insofern nähern sich mit abnehmender sozialer Schädlichkeit oder Gefährlichkeit eines Verhaltens Gesichtspunkte der strafrechtlichen und therapeutischen Prävention einander an. Umgekehrt scheinen dann aber mit steigender negativer sozialer Relevanz des Verhaltens etwaige Erfolgschancen einer Therapie oder resozialisierenden Einwirkung auf den Täter strafrechtlich wie gesellschaftlich um so dringlicher zu werden.
4. Es liegt auf der Hand, daß sich bei einem Täterkreis, der relativ homogen ist, durch besondere Behandlungsbedürftigkeit sowie geringe Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit seines Verhaltens, das nicht selten sogar als kriminalrechtlich irrelevant eingeschätzt wird, auszeichnet, der Vorrang von Therapie vor Strafvollstreckung kriminalpolitisch relativ leicht begründen und durchsetzen läßt. Es begegnet hier offenbar rechtlich wie (sozial-)psychologisch keinen ins Gewicht fallenden Schwierigkeiten, freilich wohlkalkulierte Risiken einzugehen, nämlich unter näher umrissenen Voraussetzungen Rückfalle in Kauf zu nehmen. Schwieriger wird es demgegenüber, auf Strafvollstreckung zugunsten der Aussicht späterer strafrechtslegaler Lebensführung zu verzichten, wenn zwei zentrale Bedingungen jenes kriminalpolitischen Kalküls nicht (mehr) gegeben, vielmehr entscheidend verändert sind: wenn nämlich der wahrscheinliche oder mögliche Rückfall in einem Verhalten mit größerer Sozialschädlichkeit oder -gefahrlichkeit und höherem Unrechtsgehalt besteht und wenn die mittel- oder langfristig angestrebte Rehabilitation oder (Re-) Sozialisierung des Täters nicht mehr mit einem begrenzten Repertoire mehr oder minder elaborierter therapeutischer Verfahren, sondern mit ganz allgemeinen und teilweise unspezifischen sozialpädagogischen (oder sozialtherapeutischen) Methoden erreicht werden soll. Unter solchen Voraussetzungen übt denn auch das geltende Recht, jedenfalls was das Rückfallrisiko betrifft, deutliche Zurückhaltung. Es soll in bezug auf Wahrscheinlichkeit, Intensität und Häufigkeit etwaigen künftigen kriminellen Verhaltens möglichst niedrig gehalten werden. Dies zeigt namentlich die Fassung der Prognoseklausel im Fall der Strafrestaussetzung zur Bewährung (§ 56 I) und der Aussetzung des Strafrestes (§ 57 I)" 8 . Gleichwohl enthält auch das geltende Recht durchaus Ansatzpunkte für ein solches kriminalpolitisches Kalkül, das mit der Abwägung von 1,8
Vgl. die Nachw. in Fn. 24 und 25.
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(Re-)Sozialisierungschance und (Kriminalitäts-)Risiko operiert. Ihnen liegen folgende wesentliche Elemente zugrunde: Zunächst verbürgt die kurzfristige Gewährleistung des Schutzes der Allgemeinheit keine dauerhafte Sicherung vor dem Rückfall. Oft läßt sich mit jenem Schutz eine effiziente Einwirkung auf den Täter mit dem Ziel seiner Rehabilitation oder (Re-) Sozialisierung nicht verbinden. Das nachgerade klassische Beispiel dafür stellt der geschlossene Vollzug dar 1 ' 9 . Soll die langfristige Perspektive der Resozialisierung eine Chance erhalten, müssen also, wenngleich kalkulierte und dosierte Risiken eingegangen werden. Risiken per se sind praktisch wie erfahrungswissenschaftlich unvermeidlich. Sind sie doch — wie eingangs dargelegt (I) — menschlichem Zusammenleben schlechthin immanent. Das eigentliche Problem liegt in der Bestimmung und Abwägung von Größe des (Kriminalitäts-)Risikos und der (Resozialisierungs-) Chance. Dafür lassen sich keine allgemeingültigen Maßstäbe aufstellen. Zum einen sind Risiko und Chance täterabhängig und tatenspezifisch. Lebensgeschichte und Sozialisation des Taters, Bedingungen und Reaktionen des sozialen Umfeldes sind von wesentlicher Bedeutung. Wie die Gewichte insoweit einzuschätzen sind, richtet sich weitgehend nach dem Stand der empirischen (kriminologisch-sozialwissenschaftlichen) Erkenntnis. Zum zweiten spielt die Eigenart der jeweils zu treffenden strafrechtlichen oder strafvollzugsrechtlichen Entscheidung dafür eine Rolle, wieviel und welche kurzfristige Sicherheit um der langfristigen Perspektive der Resozialisierung willen preisgegeben werden kann. Zum dritten wirken sich in jenem Abwägungskalkül wohl nicht zuletzt geschichtlich und gesellschaftlich variable soziale Bewertungen und Toleranzschwellen aus. Gerade der letztere Aspekt gibt vor dem Hintergrund aktueller Bedrohungen und Gefahrdungen des technischen Zeitalters zu denken. Die Frage ist etwa, ob die gesellschaftliche Sensibilitätsschwelle im Hinblick auf Kriminalitätsrisiken niedriger ist als hinsichtlich drohender ökologischer Gefahren, die möglicherweise folgenreicher und schwerwiegender sind. Die Frage, ob § 183 III StGB ein verallgemeinerungsfähiges kriminalpolitisches Prinzip zugrundeliegt, kann daher nicht mit einem schlichten und undifferenzierten Ja oder Nein beantwortet werden. Die Antwort darauf erweist sich als so komplex und schwierig, wie sich eine um Prävention bemühte Kriminalpolitik im ganzen präsentiert. Aber immerhin sind an jener exemplarischen Regelung gewisse Gemeinsamkeiten zwischen therapeutischer und strafrechtlicher Präven119
Zu den Behandlungs- und Resozialisierungschancen im Strafvollzug v o r allem Kury (Fn. 89), S. 38 ff, 52 ff; Ortmann, Resozialisierung im Strafvollzug, 1987, S. 38 ff; 379 ff; LöseljKöferljWeber, Meta-Evaluation der Sozialtherapie, 1987, S. 45 ff, 82 ff, 1 1 5 ff.
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tion deutlich geworden: Heilbehandlung wie resozialisierende Einwirkung auf den Täter stellen von Rückschlägen und Risiken begleitete Unternehmen dar, in deren Rahmen Rückfalle nicht schon für sich genommen als totales Scheitern, sondern auch als mehr oder minder zwangsläufige Bestandteile eines Entwicklungs- oder sozialen Lernprozesses begriffen werden können.
Zulässigkeit der Benutzung von Sichtspionen im Strafvollzug INGRID HEYLAND*
I. 1. Der für Strafvollzugssachen zuständige Senat des Kammergerichts hat durch Beschluß vom 16. Juni 1987 - 5 Ws 553/87 Vollz - entschieden, daß funktionsfähige Sichtspione im geschlossenen Vollzug aus Sicherheitsgründen zwar notwendig sein können, die Vollzugsbehörde diese Einblickmöglichkeit in enen Haftraum aber nicht uneingeschränkt benutzen darf, sondern der Anstaltsleiter im Einzelfall prüfen muß, ob bei einem Gefangenen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Anstaltsordnung das ständige oder zeitweise Freihalten des Sichtspions erforderlich ist. Er hat sich damit der Entscheidung des OLG Saarbrücken vom 12. Juni 19851 angeschlossen, die im Schrifttum im Hinblick auf eine entsprechende Tendenz von Lehre, Literatur und vielfach auch Praxis ausdrücklich begrüßt wurde 2 . Die gleiche Rechtsauffassung wird — soweit ersichtlich — von dem OLG Zweibrücken 3 und dem LG Koblenz 4 vertreten. Durch Beschluß vom 7. Juli 1988 - 5 Ws 83/88 Vollz — hat das Kammergericht an dieser Rechtsprechung auch für die Benutzung von Sichtspionen im Sicherheitsbereich des geschlossenen Vollzuges festgehalten. Die für diese Beobachtungsform allgemein genannten Gründe wie Überprüfung der Vollzähligkeit der Gefangenen und rechtzeitiges Erkennen von Fluchtvorbereitungen, von Straftaten gegen Mitgefangene sowie von Selbsttötungsversuchen des Gefangenen werden in dieser Entscheidung als Rechtfertigung für die allgemeine Verwendung des Sichtspions ausdrücklich abgelehnt. Einschränkend
* Die Verfasserin möchte bei dieser Gelegenheit allen für die Auskünfte danken. 1 NStZ 1985, 478 = ZfStrVo 1985, 374. 2 Scbaaf, Anm. in ZfStrVo 1985, 376. 3 Beschluß vom 16. 04. 1985 in BlfStrVK 1986, 5 (L), zitiert bei Franke in NStZ 1986, 304, und Beschluß vom 27. 11. 1974 in BlfStrVK 1982, 5, zitiert bei Scbaaf in ZfStrVo 1985, 376, 377. 4 StV 1983, 26.
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hat der Senat der Vollzugsbehörde allerdings anheimgestellt, in anderen Verfahren auf den Gerichten nicht hinreichend bekannte oder von ihnen möglicherweise nicht zutreffend eingeschätzte Gründe für die Benutzung eines Sichtspions hinzuweisen. Dagegen hat das Oberlandesgericht Hamm in bewußter Abweichung von dem OLG Saarbrücken in einem Beschluß vom 15. 09. 19875 entschieden, daß die Benutzung eines Türspions im geschlossenen Vollzug jedenfalls dann zulässig ist, wenn es sich um eine Anstalt mit dem (nicht näher dargelegten) Sicherheitsgrad der in jener Sache beteiligten Vollzugsanstalt handelt. Die Freiheitsbeschränkung, die die Gefangenen durch Vorhandensein und Verwendung der Einsichtöffnungen hinnehmen müssen, sei zur Aufrechterhaltung der Sicherheit einer solchen Vollzugsanstalt sowie zur Verhinderung schwerwiegender Störungen der Anstalt unerläßlich. Das OLG Frankfurt hat in einem Beschluß vom 8. Juni 19776 entschieden, ein funktionsfähiger Sichtspion gehöre zu den zulässigen Kontrollmöglichkeiten des Haftraums und sei kein unverhältnismäßiger Eingriff in die Rechte des Gefangenen. Allen diesen Entscheidungen liegt keine unausgesetzte Beobachtung der Gefangenen durch den Türspion zugrunde, sondern nur die Frage, ob diese Einblickmöglichkeit in den Haftraum uneingeschränkt offenzuhalten ist, damit die in den Haftanstalten übliche gelegentliche Beobachtung zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchgeführt werden kann. 2. Eine Anfrage nach dem aktuellen Gebrauch der Sichtspione im Strafvollzug bei den Justizministerien und Justizsenatoren der Bundesländer einschließlich Berlins im August 1989 hat ergeben, daß diese Einblickmöglichkeit im geschlossenen Vollzug überwiegend noch allgemein und ohne Prüfung des Anstaltsleiters im Einzelfall benutzt und für notwendig gehalten wird. a) In Bayern werden in allen Justizvollzugsanstalten des geschlossenen Vollzuges Sichtspione benutzt. Die Zulässigkeit der Benutzung hängt nicht von einer Anordnung im Einzelfall ab. Nach den Erfahrungen der bayerischen Vollzugspraxis wird eine Benutzung des Sichtspions nur nach Anordnung im Einzelfall nicht für ausreichend gehalten. In Rheinland] Pfal^ sind in den Anstalten des geschlossenen Vollzuges die Sichtspione grundsätzlich freizuhalten, sofern die Gefangenen nicht über Durchreichen oder Sichtklappen in der Haftraumtür beobachtet werden können. Doch wird in der Regel nicht eingeschritten, wenn die Einsicht durch den Spion für kürzere Zeit verhindert wird. Es wird 5 6
ZfStrVo 1988, 64 und Beschluß vom 04. 12. 1986, ZfStrVo 1987, 368. ZfStrVoSH 1977, 42, 43.
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angestrebt, alle Haftraumtüren mit Durchreichen oder Sichtklappen auszustatten, so daß Gefangene darauf aufmerksam werden können, wenn sie von draußen in ihrem Haftraum beobachtet werden sollen. In Nordrhein-Westfalen sind in allen Haftraumtüren in den Vollzugsanstalten des geschlossenen Vollzuges Einblicköffnungen vorhanden und die Aufsichtsbediensteten gehalten, darauf zu achten, daß sie grundsätzlich jederzeit benutzt werden können. Eine Benutzung lediglich nach Anordnung im Einzelfall wird nach allen vollzuglichen Erfahrungen als nicht ausreichend angesehen. Der Petitionsausschuß des Landes hat die Benutzung der Einblicköffnungen im Jahre 1985 eingehend geprüft und ihre Notwendigkeit anerkannt. Um die Benutzung durch Mitgefangene auszuschließen, werden seit einigen Jahren im Rahmen der verfügbaren Haushaltsmittel verschließbare Einblicköffnungen installiert. In Schleswig-Holstein werden Sichtspione im geschlossenen Vollzug grundsätzlich benutzt. Der jeweilige Anstaltsleiter entscheidet generell, nicht im Einzelfall, über die Benutzung dieser Einblickmöglichkeit, die weiterhin für erforderlich gehalten wird. In Hessen entscheidet der jeweils zuständige Stationsbeamte nach den Umständen des Einzelfalls, ob er die in den geschlossenen Vollzugsanstalten vorhandenen Sichtspione benutzt. Die Türspione werden, obwohl sie vielfach von Gefangenen verklebt werden oder keine völlige Einsicht in den Haftraum garantieren, als notwendiges Hilfsmittel für die Vollzugsbeamten betrachtet, auf das auch künftig nicht verzichtet werden soll. In Berlin ist die Benutzung der Sichtspione im geschlossenen Vollzug in den einzelnen Haftanstalten unterschiedlich. Die Handhabung reicht von grundsätzlicher Anwendung zu detailliert geregelten Bewachungszwecken ohne Einzelanordnung bis — überwiegend — zur Benutzung nur nach Prüfung im Einzelfall, bei völligem Verzicht im Wohngruppenvollzug, in den Vollzugsanstalten für Erwachsene. In der Jugendstrafanstalt haben nur die besonders gesicherten Hafträume eine Einblickmöglichkeit, und zwar eine mit einem Anstaltsschloß zu verschließende Klappe. In Baden-Württemberg wurde in zwei neuen Justizvollzugsanstalten auf den Einbau von Sichtspionen verzichtet. In den Justizvollzugsanstalten, in deren Haftraumtüren Sichtspione eingebaut sind, wird auf das Offenhalten der Sichtspione vor allem in den Anstalten Gewicht gelegt, in denen gefährliche Gefangene untergebracht sind. Eine Benutzung nur nach Anordnung im Einzelfall geschieht nicht. Gegenwärtig sind Überlegungen im Gange, in Zukunft den Einbau von Sichtspionen nicht mehr vorzusehen.
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In Hamburg gibt es in den Anstalten des geschlossenen Vollzuges Sichtspione nur noch im Bereich von Sicherungs- bzw. Beobachtungsabteilungen sowie in besonders gesicherten Hafträumen ohne gefährdende Gegenstände. Eine Differenzierung nach Einzelfallen wird in diesen Bereichen für nicht praktikabel gehalten. Die Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes halten aus Gründen ihrer persönlichen Sicherheit eine Sichtüberwachung durch Spione in größerem Umfang für wünschenswert. In Bremen werden Sichtspione im geschlossenen Vollzug nur noch für besonders gesicherte Hafträume benutzt. In den Türen der Wohnzellen haben sie sich als überflüssig erwiesen. Im Saarland wird die Entscheidung des Oberlandesgerichts Saarbrücken befolgt. Es sind von den Anstalten keine Vorfalle berichtet worden, die eine Änderung dieser Praxis zwingend geboten hätten. Die Vollzugsbediensteten halten es jedoch für wünschenswert, sich vor dem Öffnen der Haftraumtür über die Situation in dem Haftraum Gewißheit verschaffen zu können, um denkbare Angriffe eines Gefangenen auf den Beamten zu vermeiden oder zu erschweren. In Niedersachsen schließlich werden in den Justizvollzugsanstalten keine Sichtspione mehr benutzt. Im Einzelfall erfolgt die Beobachtung des Gefangenen durch Offnen der sogenannten Kostklappe, auf Sonderstationen durch vorhandene Panzerglassichtfenster oder in Sicherheitszellen durch Monitorbewachung. Die ausschließliche Beobachtung durch Sichtspione hat sich nicht als ausreichend erwiesen. Eine generelle Benutzung der Sichtspione erscheint nicht notwendig. b) Soweit Sichtspione benutzt werden, werden dafür die von dem Kammergericht nicht als ausreichend bezeichneten Gründe angegeben. 3. Diese unterschiedliche Praxis fordert zu einer Überprüfung heraus. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar entschieden, daß eine unterschiedliche Ausgestaltung des Vollzugs in den einzelnen Bundesländern nicht verfassungswidrig ist 7 . Das kann jedoch nur für unterschiedliche Behandlungsmethoden im Strafvollzug gelten, für deren Fortentwicklung das Strafvollzugsgesetz auch nach Ansicht des Gesetzgebers Raum lassen wollte, um neue Wege nicht zu versperren 8 . Die Frage, nach welchen Rechtsgrundsätzen Sichtspione benutzt werden dürfen, betrifft dagegen die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns, also ein Grundprinzip des Rechtsstaats. Die Vollzugsbehörden können ihrer Verpflichtung zu gesetzmäßigem Verwaltungshandeln nur bei einheitlicher Rechtsprechung gerecht werden. Die Tatsache, daß so zahlreiche Voll7 8
BVerfG in ZfStrVo 1983, 380. Begründung des Regierungsentwurfs in BT-Drucks. 7/918 S. 41.
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zugsbehörden in Kenntnis der gegensätzlichen Rechtsprechung zur Benutzung der Sichtspione den Entscheidungen des OLG Saarbrücken und des Kammergerichts keine Folge leisten, deutet aber auch darauf hin, daß die sachlichen und rechtlichen Gründe, aus denen sie sich dazu veranlaßt sehen, erheblich sind. II. Bis auf das Oberlandesgericht Frankfurt, das seine Entscheidung über die Zulässigkeit der Benutzung der Sichtspione auf § 84 Abs. 1 Satz 1 StVollzG gestützt hat, der die Durchsuchung der Hafträume gestattet, sehen alle anderen Gerichte in § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG die Rechtsgrundlage für diese Maßnahme. Die unterschiedlichen rechtlichen Ergebnisse der genannten Entscheidungen beruhen auf der abweichenden Bewertung, wann die Tatbestandsmerkmale dieser Generalklausel erfüllt sind. Dabei wird die Frage in den von dem OLG Saarbrücken und dem Kammergericht abweichenden Entscheidungen an allgemeinen Erfordernissen der Sicherheit und Ordnung der Vollzugsanstalt gemessen und nicht an konkreten Umständen in der Person des jeweils betroffenen Gefangenen. 1. § 84 Abs. 1 Sat% 1 StVollzG kommt als Rechtsgrundlage für die Benutzung der Sichtspione nicht in Betracht, weil mit Durchsuchung keine bloße Blickkontrolle gemeint ist 9 , vor allem nicht die Überprüfung der Anwesenheit und Unversehrtheit des Gefangenen. 2. Auf § 4 Abs. 2 Sat^ 2 StVollzG aber kann ebenfalls keine routinemäßige, vorsorgliche Beobachtung der Gefangenen durch Sichtspione gestützt werden. Mit dem Wortlaut des § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG ist unter Berücksichtigung des darin erkennbaren Willens des Gesetzgebers, des Zwecks der Vorschrift und des Sinnzusammenhanges, in dem sie steht, nur eine enge Auslegung vereinbar, wie sie in den Entscheidungen des OLG Saarbrücken und des Kammergerichts zum Ausdruck kommt. Die Vorschrift wird von der herrschenden Meinung zu Recht als Angstklausel oder ultima-ratio-Klausel bezeichnet, die nur für nicht voraussehbare, besonders gelagerte Ausnahmefalle mit schweren Gefahren für die Sicherheit oder die Ordnung der Anstalt bestimmt ist 10 und deren ' SchmndjBöhm, StVollzG 1983, § 84 Rdn. 3. Calliess, Strafvollzugsrecht 2. Aufl. 1981, S. 52 f; Kaiser j Kerner¡Schöch, Strafvollzug 3. Aufl. 1982, § 5 Rdn. 22; Müller-Diet^, Strafvollzugsrecht 2. Aufl. 1978, S. 88; Calliess]Müller-Diet%, StVollzG 4. Aufl., § 4 Rdn. 1 7 , 1 8 ; SchmndjBöhm, StVollzG 1983, § 4 Rdn. 19, 23.
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Anwendung auf den äußersten Notfall beschränkt ist, bei dem keine andere Maßnahme mehr zur Verfügung steht 11 . § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG ist als Ausnahme von der Regel des Abs. 2 Satz 1 konzipiert, wonach der Gefangene (nur) den in dem Strafvollzugsgesetz vorgesehenen Beschränkungen seiner Freiheit unterliegt, und ist deshalb schon nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen eng auszulegen. Er knüpft an die Kriterien an, die das Bundesverfassungsgericht für die Zulässigkeit von Grundrechtsbeschränkungen bei Gefangenen in der Übergangszeit bis zum Erlaß des verlangten Strafvollzugsgesetzes aufgestellt hat 12 . Die Verschärfung des Gesetzeswortlauts (Unerläßlichkeit zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt) gegenüber den Kriterien des Bundesverfassungsgerichts 13 (Unerläßlichkeit des Eingriffs, um den Strafvollzug aufrechtzuerhalten und geordnet durchzuführen) deutet ebenfalls auf die Absicht hin, die Vorschrift als Generalklausel dem ausdrücklichen Hinweis des Bundesverfassungsgerichts entsprechend 14 möglichst eng zu begrenzen. Gleiches ergibt sich daraus, daß die Wortwahl einengend von den sonst im Strafvollzugsgesetz gebrauchten Wendungen „Gefahrdung", „Wahrung", „Gründe" oder (in nur zwei Fällen) „Aufrechterhaltung" der „Sicherheit oder Ordnung" abweicht 15 . Die Entstehungsgeschichte des Gesetzes bestätigt eindeutig den Willen des Gesetzgebers, eine nur auf nicht voraussehbare Gefahrensituationen anwendbare, eng begrenzte Ausnahmevorschrift schaffen zu wollen. In dem Regierungsentwurf war eine dem jetzigen § 4 Abs. 2 Satz 2 entsprechende Regelung nicht enthalten 16 . Die vom Bundesrat vorgeschlagene Ergänzung des vorgesehenen Enumerationsprinzips durch eine Generalklausel in der Art des jetzigen Satzes 2 wurde zunächst mit der Begründung zurückgewiesen, dies werde der Aufgabe nicht gerecht, die Rechte und Pflichten des Gefangenen und die Eingriffsbefugnisse der Vollzugsbehörde im einzelnen zu regeln, und würde die bisherige Unsicherheit über die Rechtsstellung des Gefangenen in das Gesetz übernehmen 17 . Erst in ausgiebigen anschließenden Beratun" O L G Nürnberg ZfStrVo 1980, 250; CalliessjMüller-Diet^ aaO, § 4 Rdn. 21, Kaiser) KernerfSchöch aaO, § 5 Rdn. 22; Grunau/Tiesler, StVollzG 2. Aufl., § 4 Rdn. 4, Feest in AK-StVollzG 2. Aufl., § 4 Rdn. 16. 12 BVerfGE 33, 1 ff. 13 BVerfGE 33, 1, 13. 14 BVerfGE 33, 1, 11. 15 Vgl. §§ 22 Abs. 2 Satz 1, 25, 27, 29 Abs. 3, 31 Abs. 1, 33 Abs. 3 und 4, 34 Abs. 1, 68 Abs. 2, 70 Abs. 2, 85 StVollzG und §§ 69 Abs. 1, 81 Abs. 2 StVollzG. 16 BT-Drucks. 7/918 S. 10. 17 BR-Drucks. 71/1/73 und BT-Drucks. 7/918 S. 47.
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gen im Sonderausschuß für die Strafrechtsreform einigte man sich auf die jetzige Generalklausel, weil man zu der Überzeugung gelangte, es sei „nicht mit absoluter Sicherheit" auszuschließen, „daß nicht alle Situationen voraussehbar seien, die in der Praxis zur Störung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt führen können" 18 . Um dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot Rechnung zu tragen, wurde die gegenüber dem Vorschlag des Bundesrats engere Fassung gewählt. Außerdem wurde die Bestimmung dahin erläutert, daß auf ihrer Grundlage dem Gefangenen zusätzliche Beschränkungen nur auferlegt werden dürfen, soweit keine besondere Regelung getroffen ist, ferner ausschließlich zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Anstalt und selbst unter diesen Gesichtspunkten nur, „wenn eine andere Möglichkeit, die Anstaltssicherheit aufrechtzuerhalten oder eine schwerwiegende Störung der Anstaltsordnung abzuwenden, nicht zur Verfügung steht" 19 . Bei dieser engen Zweckbestimmung muß es als richtig angesehen werden, wenn die Anwendung des § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG weithin von einer aufgrund konkreter Ereignisse herbeigeführten und unmittelbar drohenden erheblichen Gefahr abhängig gemacht wird, also eine durch besondere Umstände veranlaßte Situation verlangt wird, bei der die drohende Gefahr über allgemeine Befürchtungen hinausgeht 20 . Soweit konkrete Ereignisse nicht nur als Voraussetzung für die Abwendung einer Störung der Anstaltsordnung verlangt werden, für die das der Wortlaut deutlich ergibt, sondern auch für die Aufrechterhaltung der Sicherheit, erscheint es allerdings nicht ausreichend, das allein aus dem Begriff der „Aufrechterhaltung" der Sicherheit abzuleiten 21 . Das Wort „Aufrechterhaltung" weist darauf hin, daß die Sicherheit anderenfalls zusammenbrechen würde, bezeichnet also die Schwere der drohenden Gefahr. Dagegen kann die Sicherheit auch ohne konkrete gefährdende Ereignisse dann zusammenbrechen, wenn sie so labil ist, daß sie überhaupt nur bei Anwendung bestimmter Maßnahmen Bestand hat. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht die Aufrechterhaltung der Sicherheit verstanden, indem es die allgemeine Briefkontrolle ohne Rücksicht darauf, ob Briefe häufig Fluchtpläne enthalten, und ohne Anhaltspunkte für einen Mißbrauch des Briefverkehrs in dem entschiedenen Fall für unerläßlich erklärte, weil dadurch verhindert
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BT-Drucks. 7/3998 S. 6 zu § 4. BT-Drucks. 7/3998 S. 7; vgl. auch Sten. Ber. SA 55. Sitzung vom 14. 05. 1975 S. 2114, zitiert bei Calliess\Müller-Diet^, StVollzG 4. Aufl., § 4 Rdn. 18. CalliessjMüller- Diet^ aaO, § 4 Rdn. 16; ScbmndjBöhm, StVollzG § 4 Rdn. 20, § 81 Rdn. 7 und 9. So Calliessj Müller- Diet^ aaO.
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wird, daß sich die Gefangenen zur Vorbereitung der Flucht oder eines Deliktes des brieflichen Kontaktes bedienen können 212 . Für die Benutzung der Sichtspione läßt sich mit gleicher Berechtigung sagen, daß dadurch von vornherein verhindert oder eingeschränkt wird, daß Gefangene Ausbruchs-oder Selbstschädigungsversuche oder Delikte begehen. Das Erfordernis eines konkreten Ereignisses für die Anwendung des § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG folgt jedoch aus dem engen Zusammenhang, in dem darin von der „Aufrechterhaltung der Sicherheit" mit der „Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt" die Rede ist 22 , in Verbindung mit der Absicht des Gesetzgebers, die Generalklausel nur für bei der Gesetzgebung noch nicht voraussehbare Ereignisse zu schaffen. Diese Absicht bestand für beide Anwendungsfälle der Vorschrift unterschiedslos und zeigt deutlich, daß keine allgemein bestehende Gefahr für die Sicherheit gemeint ist, sondern auch insoweit an in der Zukunft erst auftretende besondere Ereignisse gedacht ist. Besonders deutlich zeigt das die hier interessierende Frage der Benutzung von Sichtspionen. Denn dem Gesetzgeber war die Benutzung der Sichtspione zur Beobachtung der Gefangenen als allgemeine Sicherungsmaßnahme bekannt. Nicht nur waren damals grundsätzlich Haftraumtüren in den Vollzugsanstalten mit Sichtspionen ausgestattet. Auch daraus, daß die Beobachtung eines Gefangenen bei Nacht in § 88 Abs. 2 Nr. 2 StVollzG zur besonderen Sicherungsmaßnahme erklärt wurde, ergibt sich diese Kenntnis. Die Vorschrift wurde im Hinblick auf Nr. 176 der bis zum Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes geltenden Dienst- und Vollzugsordnung geschaffen 23 , in der die wiederholte Beobachtung bei Nacht, wenn nötig mit abgeschirmter Dauerbeleuchtung des Haftraums, geregelt war. Eine solche Dauerbeleuchtung ist nur sinnvoll, wenn eine Beobachtung ohne Betreten des Haftraums in Frage steht, also durch eine Einblickmöglichkeit in der Tür des Haftraums. Im Ergebnis folgt daraus, daß die Beobachtung eines Gefangenen durch den Sichtspion auf der Rechtsgrundlage des § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG nur zulässig ist, wenn dies aufgrund konkreter Umstände zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer erheblichen Störung der Anstaltsordnung unerläßlich ist. Allerdings beschränkt sich dies nicht auf das Vorliegen konkreter Umstände in der Person des zu beobachtenden Gefangenen. Für eine beschränkende Maßnahme würden neu auftretende Umstände — sei es innerhalb oder auch von außerhalb der Vollzugsanstalt — genügen, aufgrund deren 2,a 22 23
BVerfGE 33, 1,, 14. Schöch in Kaiser/Kerner/Schöch, Strafvollzug 3. Aufl., § 4 Rdn. 30. BT-Drucks. 7/918 S. 77 zu § 76.
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die Beobachtung aller Gefangenen durch den Sichtspion unerläßlich ist. Das kommt z. B. in Betracht, wenn es an einer Stelle der Anstalt zu Ausschreitungen der Gefangenen kommt, die nach vollzuglichen Erfahrungen geeignet sind, andere Gefangene anzustecken 24 . Dagegen genügen für die Anwendung dieser Vorschrift keine allgemeinen Befürchtungen, die eine vorsorgliche Beobachtung der Gefangenen aus den von der Praxis dafür genannten Gründen angezeigt erscheinen lassen. Auf den unterschiedlichen Sicherheitsgrad der Anstalten kommt es dabei nicht an.
III. Es ist daher zu überlegen, ob der Gesetzgeber die so weitgehend noch jetzt gebrauchte und für erforderlich gehaltene herkömmliche Maßnahme der vorsorglichen Beobachtung der Gefangenen durch Sichtspione als einfache Sicherungsmaßnahme abschaffen wollte oder ob die Praxis der Vollzugsbehörden eine andere Rechtsgrundlage hat. Letzteres ist der Fall, und zwar unter allen von der Praxis dafür genannten Gesichtspunkten. 1. Die Benutzung der Sichtspione ist eine der Maßnahmen zur Beaufsichtigung der Gefangenen. Das Strafvollzugsgesetz enthält zwar keine ausdrückliche Vorschrift über die Beaufsichtigung der Gefangenen im Strafvollzug. Das mag damit zusammenhängen, daß der Gesetzgeber die Rechtsgrundlage für die Bewachung der Gefangenen bereits in der Verhängung der Freiheitsstrafe gesehen hat. In der Begründung des Regierungsentwurfes heißt es, die Aufgabe des Strafvollzuges, den strafgerichtlich angeordneten Freiheitsentzug zu gewährleisten und die Allgemeinheit vor neuen Straftaten des Verurteilten während der Strafzeit zu schützen, werde im Entwurf nicht gesondert aufgeführt, „weil sie sich bereits aus dem Wesen des Freiheitsentzuges ergibt und eine besondere Betonung mißverständlich wäre" 25 . Das kann hier zunächst dahinstehen. Denn auch ohne ausdrückliche Regelung bieten die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes eine § 4 Abs. 2 Satz 1 StVollzG genügende Rechtsgrundlage für die Beaufsichtigung der Gefangenen. a) In erster Linie ist das § 10 StVollzG in Verbindung mit § 141 Abs. 2 StVollzG. Gemäß § 10 StVollzG ist ein Gefangener im offenen oder geschlossenen Vollzug unterzubringen. Nach § 141 Abs. 2 StVollzG sehen die Anstalten des geschlossenen Vollzugs eine sichere Unterbrin24 25
GrunaujTiesler, StVollzG 2. Aufl., § 81 Rdn. 2. BT-Drucks. 7/918 S. 45.
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gung vor, Anstalten des offenen Vollzugs keine oder nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen. Darin liegt die Regelung, daß Gefangene, die in den geschlossenen Vollzug kommen, den Beschränkungen einer sicheren Unterbringung unterworfen werden. Gefangene im offenen Vollzug haben die in den dafür vorgesehenen Anstalten oder Abteilungen (vgl. § 10 Abs. 1 StVollzG) geringeren Vorkehrungen hinzunehmen. Das Wort Vorkehrungen ist umfassend und schließt bauliche und technische Vorkehrungen ebenso ein wie Beaufsichtigung der Gefangenen. Welche Vorkehrungen im einzelnen zu treffen sind, um ihren gesetzlichen Zweck zu erfüllen, hat der Gesetzgeber offengelassen. In der Begründung des Strafvollzugsgesetzes wird erklärt, daß sich das Gesetz auf die notwendigen Regelungen beschränke und bundeseinheitliche verwaltungsrechtliche Regelungen sowie solche der einzelnen Länder daneben weiterhin erforderlich seien 26 . An anderer Stelle der Begründung wird deutlich, daß die Regelung der Einzelheiten der Überwachung und ihre zweckmäßige und wirtschaftliche Durchführung im Gesetz nicht möglich erschien und deshalb im Strafvollzugsgesetz nur die Regelung der zulässigen Zwecke für die Überwachung sowie die Regelung als besonders eingreifend erachteter Überwachungsmaßnahmen beabsichtigt war 27 . Demgemäß enthalten die zugleich mit dem Strafvollzugsgesetz am 1. Januar 1977 in Kraft getretenen „Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz" (VVStVollzG) und die „Dienst- und Sicherheitsvorschriften für den Strafvollzug" (DSVollz), beides Vereinbarungen der Landesjustizverwaltungen, Bestimmungen über die Beaufsichtigung der Gefangenen. Nach den VVStVollzG zu §141 StVollzG sind die Gefangenen im geschlossenen Vollzug außerhalb der Hafträume ständig und unmittelbar zu beaufsichtigen, wobei der Anstaltsleiter bestimmen kann, in welchem Umfang die Aufsicht gelockert werden darf; im offenen Vollzug soll danach die ständige Aufsicht innerhalb der Anstalt in der Regel entfallen. Nr. 20 DSVollz schreibt vor, die Gefangenen so zu beaufsichtigen, daß Sicherheit und Ordnung jederzeit gewährleistet sind, wobei sich die Beaufsichtigung insbesondere auf die Vollzähligkeit der Gefangenen zu erstrecken hat (Nr. 20 Abs. 1 Satz 1 und 2 DSVollz); besonders sorgfaltige Beaufsichtigung wird für gefährliche, fluchtverdächtige und solche Gefangene verlangt, bei denen die Gefahr des Selbstmordes oder der Selbstverletzung besteht (Nr. 20 Abs. 2 DSVollz). Da § 141 Abs. 2 StVollzG allein von Vorkehrungen gegen Entweichungen spricht, ist damit die Beaufsichtigung der Gefangenen zunächst 26 27
BT-Drucks. 7/918 S. 41. BT-Drucks. 7/918 S. 59 zu § 27 (Überwachung der Besuche).
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(nur) unter diesem Teilaspekt der Sicherheit, zu dem die Prüfung der Vollzähligkeit der Gefangenen gehört, gerechtfertigt. b) Offen bleibt die Zulässigkeit der auf der Grundlage der genannten Verwaltungsanordnungen geübten Beaufsichtigung unter dem Sicherheitsaspekt des Schutzes vor Straftaten des Gefangenen vor allem innerhalb der Anstalt, seien es Straftaten gegen Mitgefangene, Anstaltspersonal und Besucher, seien es sonstige Straftaten. Denn mit der Verhinderung des Entweichens eines Gefangenen ist allein die Allgemeinheit außerhalb der Vollzugsanstalt faktisch gegen weitere Straftaten dieses Gefangenen geschützt, und auch das nur, soweit der Gefangene solche Straftaten nicht aus der Vollzugsanstalt heraus begehen kann, wie z. B. Betrug. Wie an anderer Stelle zu zeigen sein wird, folgt die Pflicht der Vollzugsanstalten, die Gefangenen auch unter diesem Gesichtspunkt zu beaufsichtigen, ebenfalls aus der durch ein rechtskräftiges Urteil verhängten Freiheitsstrafe. Die notwendige Rechtsgrundlage enthält jedoch auch das Strafvollzugsgesetz, und zwar in der Bestimmung des § 2 Satz 2 StVollzG. Durch § 141 Abs. 2 StVollzG wird der zulässige Zweck für die Beaufsichtigung der Gefangenen nicht auf die Verhinderung von Entweichungen beschränkt. Eine Ausschlußregelung kann in dieser Vorschrift schon deshalb nicht gesehen werden, weil sie im Grunde nur eine Definition der gesetzlichen Anforderungen an Anstalten des geschlossenen Vollzuges und des offenen Vollzuges enthält. Aus diesem Grunde können für die Bestimmung der Zwecke der Beaufsichtigung auch andere gesetzliche Grundlagen herangezogen werden. § 2 Satz 2 StVollzG besagt generell, daß der Vollzug der Freiheitsstrafe auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten dient. Es besteht kein Grund, diese klare Aussage einzuschränken. Sie bezieht sich auf den Kriminalitätsschutz der Allgemeinheit innerhalb und außerhalb der Vollzugsanstalt 28 . Anstaltspersonal, Mitgefangene und Besucher insbesondere gehören zu dieser Allgemeinheit 29 , ebenso der sonstige der Allgemeinheit zukommende Rechtsgüterschutz in der Anstalt. So wie die Gefangenen ihre Grundrechte in der Vollzugsanstalt behalten, geht auch der Rechtsgüterschutz für die Allgemeinheit in der Anstalt nicht verloren. Die Vorschrift enthält also die Aufgabe der Vollzugsbehörde, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten des Gefangenen während der Dauer der Strafhaft zu schützen 30 . Sie gilt auch für die Auswahl der 28
Schwind]Böhm,
S t V o l l z G , § 2 Rdn. 1 5 , 1 6 ; Grunau\Tiesler,
S t V o l l z G , § 2 Rdn. 4; Schöch
aaO, § 4 Rdn. 29; Feest in AK-StVollzG 2. Aufl., § 2 Rdn. 16. 29
Schöch a a O § 4 R d n . 29.
30
SchmndjBöhm, StVollzG, § 2 Rdn. 16.
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Maßnahmen, mit denen die Vollzugsbehörde ihre besondere Aufgabe erfüllt, im Vollzug der Freiheitsstrafe den Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (§ 2 Satz 1 StVollzG). c) Der letzte Grund, der für die Benutzung der Sichtspione angeführt wird, die Beaufsichtigung von Gefangenen, bei denen die Gefahr des Selbstmordes oder der Selbstschädigung besteht, ist aus zwei Gründen ein gesetzlich zulässiger Zweck. Krass gesagt bedeuten Selbstmord und Selbstschädigung Flucht oder versuchte Flucht vor der Strafvollstreckung. Vor allem aber hat die Vollzugsbehörde aus Fürsorgegründen die gesetzliche Pflicht, für die körperliche und geistige Gesundheit des Gefangenen zu sorgen (§ 56 Abs. 1 StVollzG). d) Die in Nr. 20 Abs. 1 Satz 1 DSVollz ebenfalls angeordnete Beaufsichtigung zur Gewährleistung der Ordnung braucht nicht näher erörtert zu werden, weil die Benutzung der Sichtspione aus solchen Gründen von keiner Seite geltend gemacht wird. Die gesetzliche Grundlage dafür ergibt sich vor allem aus den Verhaltensvorschriften, denen der Gefangene nach § 82 StVollzG unterliegt, in Verbindung mit dem Inhalt der Hausordnung (§161 StVollzG). 2. Das Kammergericht hat in der Entscheidung vom 7. Juli 1988 die Beobachtung des Gefangenen durch den Sichtspion deshalb nicht als einfache Bewachungsmaßnahme angesehen, sondern nach den Beurteilungsmaßstäben des § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG geprüft, weil diese Maßnahme in die „Intimsphäre des Zellenraumes" eingreife und daher eine andere Qualität habe als einfache Bewachung. Genauere Betrachtung spricht gegen diese Ansicht. Sie erweist die Benutzung des Sichtspions als einfache Sicherungsmaßnahme 31 , der der Gesetzgeber nur bei nächtlicher Benutzung wegen der dafür notwendigen Beleuchtung des Haftraums eine besondere Qualität beigemessen hat (§ 88 Abs. 2 Nr. 2 StVollzG). Zur Erfüllung des Zitiergebots des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG nennt §196 StVollzG als Grundrechte, die durch die im Gesetz geregelten Eingriffstatbestände eingeschränkt werden, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG (körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person) und Art. 10 Abs. 1 GG (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis). Nur dann, wenn dem Gefangenen in dem Ausnahmefall des § 4 Abs. 2 Satz 2 Beschränkungen auferlegt werden können, dürfen diese Beschränkungen auch Grundrechte beeinträchtigen, die nicht zitiert sind 32 . Das Grundrecht, das durch die Beobachtung des Gefangenen in seinem Haftraum berührt 31 32
Böhm, Strafvollzug 2. Aufl. 1986, S. 192 f. Schöch in Kaiser/Kerner/Schöch aaO, § 5 Rdn. 13.
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III
wird, ist neben einer möglichen Verletzung des Rechts auf Wohnung (Art. 13 GG) vor allem das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Dieses Grundrecht, das Eingriffe verbietet, die geeignet sind, die engere Persönlichkeitssphäre zu beeinträchtigen, beruht auf Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG 33 . Als Schutzgüter des nicht abschließend umschriebenen Rechts sind anerkannt die Privat-, Geheim- und Intimsphäre 34 . Daß durch Einblicke in den Haftraum, den der Gefangene in gewissem Umfang mit eigenen Sachen ausstatten darf, darunter mit Lichtbildern ihm nahestehender Personen und Erinnerungsstücken von persönlichem Wert (§19 Abs. 1 StVollzG), und in dem er sich weitgehend unbeobachtet glauben darf, die engere Privatsphäre des Gefangenen berührt wird, kann kaum bestritten werden. So scheint es wegen der fehlenden Einhaltung des Zitiergebots notwendig zu sein, auf § 4 Abs. 2 Satz 2 StVollzG zurückzugreifen. Geboten ist das jedoch nicht. Zu den Grundrechten, die von der in § 196 vorgesehenen Beschränkung der Bewegungsfreiheit (Freiheit der Person) mitbetroffen werden, weil sie infolge der Beschränkung der Bewegungsfreiheit faktisch nicht ausgeübt werden können, gehört das allgemeine Persönlichkeitsrecht allerdings nicht. Das Zitiergebot gilt aber weder für vorkonstitutionelle Gesetze noch für nachkonstitutionelle Gesetze, wenn diese bereits geltende Grundrechtsbeschränkungen unverändert oder mit geringen Abweichungen (einschließlich Erweiterungen) lediglich wiederholen 35 . Insofern ist von Bedeutung, daß die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes über die Bewachung des Gefangenen lediglich die Beschränkungen wiederholen, die sich aus der Freiheitsstrafe ergeben, die auf der Grundlage vorkonstitutioneller materieller und verfahrensrechtlicher Vorschriften und ihrer Fortentwicklung (StGB und StPO) verhängt wird. Ließe sich der Schutzzweck nicht aus der Freiheitsstrafe herleiten, wäre das Zitiergebot hinsichtlich solcher Beschränkungen verletzt, die dem Schutz vor Straftaten innerhalb der Anstalt dienen und nicht ausschließlich in einer Beschränkung der räumlichen Bewegungsfreiheit des Gefangenen bestehen oder der Bewachung gegen Entweichungen dienen. Denn soweit das StVollzG die Schutzaufgabe als eigene Aufgabe regelt, ist es ein neues Gesetz. Bewachung des Verurteilten zum Schutz gegen Entweichung und zum Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten des Verurteilten während der Strafhaft ist Inhalt der Freiheitsstrafe. Die Verhängung von Freiheitsstrafe durch ein rechtskräftiges Urteil bedeutet Freiheitsentzug, wobei das Strafurteil zusammen mit dem nachfolgenden Straf33 34 35
BVerfGE 54, 148, 153; v. Münch, GG 3. Aufl., Art. 2 Rdn. 22. BVerfGE 54, 148, 154. BVerfGE 5, 13, 16; 61, 82, 113; v. Münch, GG, Art. 19 Rdn. 18 m. w. N.
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Vollzug einen Gesamtvorgang bildet 36 . Herkömmlicherweise und vorkonstitutionell wird unter Freiheitsentziehung durch Freiheitsstrafe die räumliche Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit durch Unterbringung in einem abgeschlossenen Raum, einer Anstalt, verstanden 37 . Untrennbar damit verbunden, sozusagen grundlegender Inhalt der Freiheitsentziehung, ist jedoch die Bewachung des Gefangenen zur Verwirklichung der räumlichen Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit, weil ein Gefangener anderenfalls regelmäßig nicht in der Anstalt bliebe. Freiheitsstrafe (Freiheitsentziehung) ist daher gleichbedeutend mit Beschränkung der räumlichen körperlichen Bewegungsfreiheit durch Bewachung gegen Entweichung. Das ist unbestritten. Inhalt der Freiheitsstrafe ist aber auch Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten des Verurteilten während der Strafhaft. Der zwangsweise Freiheitsentzug impliziert nicht nur begriffsnotwendig, daß die Strafe die Allgemeinheit vor dem eingeschlossenen Täter sicher macht 38 . Über die faktische Wirkung hinaus ist dieser Schutz regelmäßig unmittelbares Anliegen der Freiheitsstrafe. Denn das oberste Ziel des Strafens, die Gemeinschaft vor sozialschädlichem Verhalten zu bewahren und die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen 39 , eine der Sicherungsaufgaben, die den Sinn und Zweck der Existenz eines Staates ausmachen 40 , ist eine von allen Zweigen der Strafrechtspflege zu erfüllende Aufgabe. Keine Freiheitsstrafe ist gerechtfertigt, wenn sie sich nicht zugleich als notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts erweist 41 , wozu als sogenannte negative Spezialprävention die Sicherung der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten des einzelnen Straftäters gehört 42 . Konkret ergibt sich dieser Inhalt einer verhängten Freiheitsstrafe aus den Bestimmungen des Strafgesetzbuchs über die Strafaussetzung zur Bewährung, die Reststrafaussetzung und den Widerruf der Strafaussetzung (§§ 56, 57, 57 a, 56 f StGB). Danach sind die Verhängung einer zu vollziehenden Freiheitsstrafe und die Dauer des Vollzugs der Strafe regelmäßig davon abhängig, ob und wann keine weiteren Straftaten von dem Verurteilten zu erwarten sind. Dies ist die Rechtsauffassung, von der sich der Gesetzgeber offenbar leiten ließ 43 , indem er auch die Schutzaufgabe schon im Wesen des Freiheitsentzuges begründet sah. 36 37 38 39 40 41 42 43
BVerfGE 14, 174, 186. v. Münch, GG 2. Aufl., Art. 104 Rdn. 6, 19; 3. Aufl., Art. 2 Rdn. 62, 38. So CalliesslMüller-Diet^ StVollzG, § 2 Rdn. 5. BVerfGE 45, 187, 254 und BVerfG NJW 1969, 1619, 1621. Stree in Schönke/Schröder, StGB 23. Aufl., Vorbem. 1 vor §§ 38 ff m. w. N. BGHSt. 24, 40, 42. BVerfGE 45, 187, 257. BT-Drucks. 7/918 S. 45.
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Die Möglichkeit einer Freiheitsentziehung durch Strafurteil wird verfassungsrechtlich in Art. 104 Abs. 1 und 2, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 3 GG als selbstverständlich vorausgesetzt 44 . Es ist jedoch ungenau anzunehmen, daß durch die verfassungsrechtlich zulässige Freiheitsentziehung aufgrund eines Strafurteils ausschließlich die körperliche Bewegungsfreiheit beschränkt wird (Art. 2 Abs. 2 GG) 45 . Als automatisch eingeschränkt sind auch alle solche Grundrechte anzusehen, die dadurch berührt werden, daß die räumliche Beschränkung der Bewegungsfreiheit und der damit verbundene Schutzzweck durch Bewachung sichergestellt werden. Da in diesem Punkt die Frage, welche Grundrechte unmittelbar durch die Verhängung der Freiheitsstrafe betroffen werden und welche Grundrechtsbeschränkungen darüber hinausgehen und nach Ablehnung des Rechtsinstituts des besonderen Gewaltverhältnisses für den Strafvollzug durch das Bundesverfassungsgericht 46 nicht mehr ohne besonderes Gesetz eingeschränkt werden dürfen, zum Abgrenzungsproblem wird, macht die gebotene verfassungskonforme Rechtsanwendung hier eine enge Auslegung erforderlich. Als von der Grundrechtseinschränkung durch Verhängung der Freiheitsstrafe erfaßt ist danach jedoch alles anzusehen, was unmittelbare Folge der Beaufsichtigung eines Gefangenen durch bloße Beobachtung ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Beobachtung des Gefangenen in der Vollzugsanstalt außerhalb oder innerhalb der Hafträume stattfindet. Die Bewachung betrifft unweigerlich die Privat-, Geheim- und Intimsphäre eines Gefangenen. Verfassungsrechtlich ausgeschlossen sind daher nur solche Maßnahmen, die den unantastbaren Kernbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, die unantastbare Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) oder das Mißhandlungsverbot des Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG betreffen. Der Umstand, daß der Gefangene sich während der Beobachtung in seinem Haftraum befindet und diese Beobachtung nicht immer bemerken kann, bedeutet keine Beschwer, die den absolut geschützten Kern privater Lebensgestaltung berührte. Denn dieser Kernbereich wird erst erreicht, wenn die Maßnahme einem mißhandlungsgleichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit gleichkäme 47 . Davon kann keine Rede sein. Aus den gleichen Gründen verletzt eine zeitweise Beobachtung des Gefangenen durch den Sichtspion auch nicht etwa dessen unantastbare Menschenwürde und bedeutet keine verbotene seelische oder körperliche Mißhandlung. Vollzieht die öffentliche Hand das Gesetz, 44 45 46 47
BVerfGE 33, 1, 9, 10. v. Münch, GG 2. Aufl., Art. 104 Rdn. 1. BVerfGE 33, 1 ff. BVerfGE 27, 344, 350 f.
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wird die nach Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG unantastbare Würde des Menschen nur von solchen Maßnahmen der öffentlichen Hand berührt, die in ihrer subjektiven Zielrichtung „Ausdruck der Verachtung des Wertes" sind, „der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt" 471 . Bis auf diese hier herausgestellten Kernbereiche wäre eine etwaige Beeinträchtigung des Gefangenen durch die Beobachtung im Haftraum auch dadurch gedeckt, daß § 196 StVollzG Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (körperliche Unversehrtheit) zitiert. Das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) wird nicht verletzt, weil der Haftraum nach zutreffender herrschender Meinung keine Wohnung des Gefangenen in diesem Sinne ist 48 . Es ist eine faktische Auswirkung der Freiheitsentziehung, daß der Verurteilte gezwungen ist, seinen geschützten Lebensraum zu verlassen und während der Dauer der Strafvollstreckung grundsätzlich nicht in ihn zurückkehren kann. In der Vollzugsanstalt kann er eine Wohnung im Sinne des Art. 13 Abs. 1 GG nicht begründen. Denn die Begründung einer räumlichen Privatsphäre setzt voraus, daß ein Mensch einen Raum der allgemeinen Zugänglichkeit entzieht und zur Stätte seines Lebens und Arbeitens bestimmt 49 . Geschützt wird der unmittelbare Besitz 50 . Da der Gefangene den Weisungen der Vollzugsbehörde Folge zu leisten hat, wird er nur Besitzdiener hinsichtlich des ihm zugewiesenen Haftraums (§ 855 BGB). Ein Recht auf Einräumung eines unverletzlichen Wohnraums gegen den Staat gibt Art. 13 Abs. 1 GG nicht 51 . Das Strafvollzugsgesetz räumt dem Gefangenen in dem Haftraum nicht mehr als eine gewisse Privatsphäre durch die Bestimmungen der §§19 Abs. 1 Satz 1 (Ausstattung des Haftraums) und 18 Abs. 1 StVollzG über die Einzelunterbringung während der Ruhezeit ein, wobei letztere Bestimmung durch § 201 Nr. 3 StVollzG zur Zeit noch eingeschränkt ist. Dem Angleichungsgrundsatz des § 3 Abs. 1 Satz 1 StVollzG kann höchstens eine Aufforderung an die Vollzugsbehörde entnommen werden, einem Gefangenen die einem Wohnungsinhaber vergleichbare Stellung zu geben. Als Zwischenergebnis ist danach festzustellen, daß eine Beobachtung der Gefangenen in ihren Hafträumen zu den genannten Zwecken zulässig ist. Das beschränkt zugleich die Anwendung dieser Einblick-
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B V e r f G E 30, 1, 26; v. Münch, G G 3. A u f l . , Art. 1 Rdn. 21. Calliessj Müller-Diet%, aaO, § 4 Rdn. 15; Kaiser/Kermr/Schöch, Strafvollzug, § 7 Rdn. 6; v. Münch, G G 3. A u f l . , Art. 1 3 Rdn. 17; G G Bonner K o m m . , Art. 13 Rdn. 58. G G Bonner Komm., Art. 13 Rdn. 16; vgl. auch AK-GG-Berkemann 2. Aufl., Art. 13 Rdn. 15, 22. v. Münch aaO, Art. 13 Rdn. 13. v. Münch aaO, Art. 1 3 Rdn. 4.
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möglichkeit auf die Vollzugsbediensteten. Dritte, insbesondere Mitgefangene und Besucher, verletzen die Privatsphäre des Gefangenen, wenn sie einen Gefangenen durch den Sichtspion beobachten. IV. Auf dieser Grundlage soll nun untersucht werden, ob das Strafvollzugsgesetz der Benutzung von Sichtspionen als einfache Sicherungsmaßnahme abgesehen von § 88 Abs. 2 Nr. 2 StVollzG (Beobachtung bei Nacht) sonstige Grenzen setzt. 1. Nach § 81 Abs. 2 StVollzG müssen alle Beschränkungen des Gefangenen so gewählt werden, daß sie in einem angemessenen Verhältnis zu ihrem Zweck stehen und den Gefangenen nicht mehr und nicht länger als notwendig beeinträchtigen. Damit soll das Begriffspaar „Sicherheit und Ordnung" generell von dem rigideren traditionellen Verständnis von Sicherheit und Ordnung im Sinne einer moderateren Anwendung gelöst werden 52 . Der Anwendungsbereich der Vorschrift betrifft die innere und äußere Anstaltssicherheit 53 . Auch die Benutzung der Sichtspione hat sich daher umfassend nach diesem Grundsatz zu richten. 2. § 141 Abs. 2 StVollzG spricht zwar dafür, daß diese Sicherungsmaßnahme vorwiegend im geschlossenen Vollzug in Betracht kommt. Er schließt ihre Anwendung in Anstalten des offenen Vollzuges jedoch nicht aus. 3. Letztlich können sich aus den für den Vollzug der Strafe maßgeblichen Gestaltungsgrundsätzen Einschränkungen für die Benutzung der Sichtspione ergeben. Nach § 3 Abs. 1 StVollzG soll das Leben im Vollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden. Zu Recht kann in diesem Zusammenhang geltend gemacht werden, daß jeder der Kindheit entwachsene Mensch im täglichen Leben außerhalb der Vollzugsanstalt üblicherweise einen geschützten Raum hat, in dem er sich den Blicken Dritter entziehen kann und will, daß die Tür zu solch einem Raum keine Einblickmöglichkeit zu geben pflegt und die Beobachtung eines Menschen durch die Tür verpönt ist. Aus § 3 Abs. 1 können zwar keine Rechte des Gefangenen hergeleitet werden 54 . Als Grundsatz, der die Ausübung von Ermessen bei einer Einzelfallent52
53 54
BT-Drucks. 7/918 S. 76.
Calliessj Müller-Dütz aaO, § 81, Rdn. 4. SchwindlBöhm aaO,
BT-Drucks. 7/3998 S. 6;
§ 3 Rdn. 10.
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Scheidung beeinflußt, ist er jedoch in seiner eingeschränkten Form beachtlich 55 . Als Grenze für die Anwendbarkeit des § 3 Abs. 1 StVollzG wird wegen § 2 Satz 2 StVollzG der im Rahmen des Freiheitsentzugs gebotene Schutz der Allgemeinheit angesehen 56 . Zur Erweiterung dieser Grenze würde es führen, liest man mit der wohl herrschenden Meinung im Schrifttum aus § 2 StVollzG den Vorrang des in Satz 1 genannten Vollzugsziels der sozialen Integration des Gefangenen vor allen anderen Aufgaben des Vollzugs, einschließlich der Aufgabe der Sicherung der Allgemeinheit 57 , heraus. Überprüft man dies hinsichtlich der beiden Vollzugsaufgaben Gewährleistung der Strafvollstreckung und Schutz der Allgemeinheit vor neuen Straftaten des Verurteilten während der Strafzeit, kann dieser Meinung auch auf die Gefahr hin, den Vertretern der Rechtsprechung zugezählt zu werden, die die Chance nicht nutzen, die Umsetzung des Strafvollzugsgesetzes voranzutreiben, sich vielmehr im Zweifel für die alten Vollzugsziele, u. a. Sicherheit, entscheiden 58 , nur in sehr begrenztem Maße gefolgt werden. Sofern damit gemeint ist, die Vollzugsbehörde könne sich zur Verfolgung wesentlicher Behandlungsziele über diese beiden Aufgaben hinwegsetzen, ist das nicht richtig. Dabei soll hier nicht der Satz bestritten werden, daß soziale Integration der Gefangenen vorrangiges Ziel des Vollzuges ist 59 . Wie bei jeder Gesetzesauslegung ist aber der objektivierte Wille des Gesetzgebers dafür entscheidend, in welchem Umfang das im jeweils konkreten Fall gelten soll. Für die beiden genannten Vollzugsaufgaben zeigt das Gesetz deutlich, daß nicht mehr als eine sehr vorsichtige Lockerung des Sicherheitsbegriffs vorgenommen wurde, um Raum für den Behandlungsvollzug zu schaffen. Die Nichtanwendung einer grundsätzlich gebotenen Sicherungsmaßnahme bedeutet eine Vollzugslockerung. Die Gewährung aller Vollzugslockerungen nach dem Strafvollzugsgesetz steht unter der Bedingung, daß weder Fluchtgefahr noch Mißbrauch der Lockerungen zu Straftaten zu befürchten ist (§11 Abs. 2, 13 Abs. 1 Satz 2 StVollzG). Auf diesen Wortlaut einigte man sich während des Gesetzgebungsverfahrens gegenüber dem Vorschlag des Bundesrates, der Vollzugslokkerungen von der positiven Erwartung abhängig machen wollte, daß keine Fluchtgefahr besteht und keinerlei Mißbrauch zu befürchten ist, nur in der Erwägung, „daß sich dieser Unterschied schon theoretisch 55 56 57
Schwind/Böhm aaO. Calliess] Müller-Diet^ aaO, § 3 Rdn. 4; Grunau\Tiesler aaO, § 3 Rdn. 1. Calliess]Müller-Dtetx, aaO, § 2 Rdn. 1 m. w. N. und 4; SchmndjBöhm aaO, § 2 Rdn. 17 f.
58
ZfStrVo 1988, 180, 181. BVerfGE 35, 202, 235.
59
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kaum ausdrücken läßt" und „derartige Prognosen nicht mit Genauigkeit gestellt werden können, sondern immer mit einem gewissen Risiko behaftet sein werden" 60 . Vorgesehen sind also keine riskanten Entscheidungen in diesen beiden Punkten, sondern nur für sicher gehaltene, die an Risiko nicht mehr enthalten als eines, das bei der Beurteilung des künftigen Verhaltens eines Menschen nicht ausgeschlossen werden kann. Selbst bei Fehlen von Flucht- und Mißbrauchsgefahr ist die Vollzugsbehörde nach dem Gesetz nicht zur Gewährung von Vollzugslockerungen verpflichtet. Nur im Rahmen dieser von der Vollzugsbehörde zu treffenden Ermessensentscheidung (gedacht war an möglichen übermäßigen Alkoholkonsum und an die Verteilung nicht ausreichender Arbeitsplätze im Freigang) steht ihr nach dem Willen des Gesetzgebers eine gewisse Experimentiermöglichkeit zu, die ihr „auch das Eingehen eines gewissen und ohnehin nie mit Sicherheit auszuschließenden Risikos erlaubt" 61 . Die Kriterien, nach denen ein Gefangener in den offenen Vollzug eingewiesen werden kann, sind zusätzlich zum Fehlen einer Flucht- und Mißbrauchsgefahr noch durch weitere Eignungsanforderungen an den Gefangenen verschärft (§10 Abs. 1 StVollzG) 62 . Aus § 2 Satz 2 StVollzG läßt sich für die Beurteilung der Flucht- und Mißbrauchsgefahr nichts anderes entnehmen. Wie bereits erklärt, wollte der Gesetzgeber die beiden von ihm zum Wesen des Freiheitsentzuges gezählten Aufgaben des Strafvollzugs im Gesetz überhaupt nicht erwähnen 63 . An dieser Konzeption hielt die Ausschußmehrheit auch noch bei Einfügung des Satzes 2 in § 2 fest. Sie hielt diesen Satz für überflüssig 64 . Der Satz wurde nur auf ausdrücklichen Wunsch der Vertreter des Bundesrates aufgenommen 6 5 , was bei der aufgezeigten Einstellung des Bundesrats zu Sicherheitsfragen eher für eine Betonung, denn für eine Abschwächung der Schutzaufgabe spricht. Von ihrer Aufgabe, den strafgerichtlich angeordneten Freiheitszug zu gewährleisten und die Allgemeinheit vor neuen Straftaten des Verurteilten während der Strafzeit zu schützen, kann sich die Vollzugsbehörde auch deshalb nicht lösen, weil sie als (ebenfalls) Vollstreckungsorgan die verfassungsrechtliche und gesetzliche Pflicht der staatlichen Organe 6 6 hat, die Vollstreckung rechtskräftig erkannter Freiheitsstrafen
60 61 62 63 64 65 66
BT-Drucks. 7/3998 S. 9 zu § 11. BT-Drucks. 7/3998 aaO. BT-Drucks. 7/3998 S. 8 f zu § 10 des Entwurfs. BT-Drucks. 7/918 S. 44, 45. BT-Drucks. 7/3998 S. 6. BT-Drucks. 7/3998 aaO. BVerfGE 49, 24, 54.
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sicherzustellen. Diese Pflicht wird nur erfüllt, wenn die Vollzugsbehörde dem Rechnung trägt, was zum Wesen der Freiheitsstrafe gehört. Soweit argumentiert wird, der Schutz vor Straftaten sei nur dann aufgrund des Strafurteils und nicht nur als eigene Schutzaufgabe von der Vollzugsbehörde zu beachten, wenn ein Urteil Sicherungsmaßnahmen nach § 66 StGB anordnet 67 , steht das mit der Vorstellung des Gesetzgebers vom Inhalt der Freiheitsstrafe nicht in Einklang. Auch hat die sogenannte Zweispurigkeit im Sanktionensystem des Strafgesetzbuchs nichts daran geändert, daß regelmäßig jede Freiheitsstrafe — auch — den Schutz der Allgemeinheit während des Strafvollzuges gewährleisten soll. Sie soll nur verhindern, daß gegen einen Straftäter unter dem Gesichtspunkt reiner Prävention eine längere Strafe verhängt wird, als sie der Schuld des Täters angemessen ist 68 . Betrachtet man Strafverhängung und Strafvollzug als einen Gesamtvorgang, so ist erkennbar, daß nur das Gericht befugt sein soll, ein etwas größeres Risiko zu Lasten der Sicherheit der Allgemeinheit einzugehen, indem es ermächtigt wird, Reststrafen bereits dann auszusetzen, wenn „verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird" (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB). Insoweit darf man sich nicht davon täuschen lassen, daß der Maßstab bei der Reststrafaussetzung an die Bedingungen des freien Lebens nach der Strafhaft, bei Vollzugslockerungen aber an die Bedingung immer noch durch den Vollzug beschränkter Freiheit angelegt wird. Nur wegen dieser unterschiedlichen Bedingungen kann man z. B. die Anforderungen des § 57 I Nr. 2 StGB strenger nennen als die des § 10 Abs. 1 StVollzG für den offenen Vollzug 69 . Schließlich würde es auch der eigenen Schutzaufgabe der Vollzugsbehörde widersprechen, wenn sie es dem Gefangenen, den sie zu einem Leben ohne Straftaten nach Beendigung der Strafhaft befähigen will, durch unzureichende Beaufsichtigung und riskante Lockerungsentscheidungen ermöglichen würde, während der Haft Straftaten zu begehen. 4. Nur die Aufgabe der Vollzugsbehörden, die Gefangenen, die nicht flucht- und rückfallgefahrdet sind, möglichst von den anderen zu trennen und eine auf die Behandlungsbedürfnisse und Sicherheitsbedürfnisse der Allgemeinheit abgestimmte Differenzierung bei der Unterbringung aller Gefangenen vorzunehmen (§§ 10, 141 StVollzG), ist dafür bestimmt, Sicherungsmaßnahmen nach Möglichkeit abzubauen, also auch die Benutzung von Sichtspionen. 67 68 65
CalliessjMüller-Diet^ aaO, § 2 Rdn. 5 m. w. N. Stree in Schönke/Schröder aaO, Vorbem. 1 vor § 61 und 4, 5 vor §§ 38 ff StGB. Nur in diesem Sinne, nicht anders, sollte die Entscheidung des O L G Koblenz in NStZ 1981, 275 = ZfStrVo 1981, 319 verstanden werden.
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V. Für die praktische Anwendung ergibt sich daraus folgendes: 1. a) Ist der Gefangene flucht- und mißbrauchsverdächtig, so ist nur § 81 Abs. 2 StVollzG zu beachten. Der Gefangene ist gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 im geschlossenen Vollzug unterzubringen und gegen Entweichungen und zur Verhinderung von Straftaten sicher zu beaufsichtigen. Dazu ist die Benutzung des Sichtspions ein angemessenes Mittel, wenn sich der Gefangene in seinem Haftraum befindet. Gerade die dem Gefangenen nicht immer erkennbare, aber grundsätzlich bekannte Beobachtung ist geboten, um die beiden Zwecke zu erfüllen. Denn der Gefangene könnte einschlägige unerlaubte Tätigkeiten unterbrechen oder verschleiern, wenn er weiß, in welchem Augenblick er beobachtet wird. Will man Fluchtvorbereitungen und Straftaten rechtzeitig erkennen, so wird das daher nicht oder nur ausnahmsweise möglich sein, wenn man sich auf eine nur gelegentliche offene Beobachtung des Verhaltens des Gefangenen im Haftraum beschränkt. b) Befindet sich der Gefangene im offenen Vollzug, so spricht §81 Abs. 2 StVollzG in Verbindung mit § 141 Abs. 2 Halbsatz 2 StVollzG für keine oder geringere Sicherungsmaßnahmen. Außerdem steht der Anwendung des Angleichungsgrundsatzes (§ 3 Abs. 1 StVollzG) kein rechtliches Hindernis entgegen. Ausgeschlossen ist die Benutzung des Sichtspions damit grundsätzlich nicht. Denn die Aufnahme in den offenen Vollzug setzt zwar voraus, daß bei einem Gefangenen überhaupt keine Fluchtgefahr besteht; bezüglich der Mißbrauchsgefahr kommt es dagegen nur darauf an, ob diese Gefahr unter den Bedingungen des offenen Vollzuges nicht gegeben ist (§ 10 Abs. 1 StVollzG). Das weist auf die Notwendigkeit weiterer Beaufsichtigung hin und bedeutet, daß bei intensiverer Beaufsichtigung der Gefangenen unter Umständen mehr Gefangene in den offenen Vollzug aufgenommen werden können als bei sehr geringer oder gar keiner Beaufsichtigung. Außerdem ist die Vollzugsbehörde auch deshalb verpflichtet, den Gefangenen weiter zu beaufsichtigen, um mögliche Fehleinschätzungen hinsichtlich der angenommenen Flucht- oder Mißbrauchsgefahr bei einem Gefangenen durch Rückverlegung in den geschlossenen Vollzug (§10 Abs. 2 Satz 2 StVollzG) revidieren zu können. Denn auch § 10 StVollzG gestattet keine riskanten Entscheidungen für die Sicherheit der Allgemeinheit, sondern verlangt ebenfalls eine für sicher gehaltene Entscheidung, bei der lediglich die Sicherheit in die Erwägung einzubeziehen ist, die durch die Bedingungen des offenen Vollzuges und die damit verbundene Form der Beaufsichtigung gewährleistet ist. Da nach den VV zu § 141 StVollzG, auf die in Nr. 20 DSVollz hingewiesen wird, gemäß Nr. 2
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Abs. 1 Sat2 1 die ständige und unmittelbare Beaufsichtigung innerhalb der Anstalt regelmäßig entfallt, sind aufgrund dieser Regelung des Ermessens der Anstaltsleiter allerdings besondere Anlässe für eine Beobachtung auch durch einen Sichtspion vorgesehen. Rechtliche Bedenken gegen diese Richtlinie bestehen nicht. Ob es auch berechtigt ist, im offenen Vollzug überhaupt keine Sichtspione zu benutzen, wie es in der Praxis der Fall ist, hängt davon ab, wie streng die Auswahlkriterien gehandhabt werden und wie effektiv die sonstige Beaufsichtigung ist. c) Befindet sich der Gefangene trotz Eignung für den offenen Vollzug deshalb im geschlossenen Vollzug, weil die personellen und organisatorischen Verhältnisse dies erfordern (§ 201 Abs. 1 StVollzG), so gilt gleiches wie zu 1. Ist eine Trennung der Gefangenen von sogenannten gefährlichen Gefangenen nicht möglich, so ist die allgemeine Benutzung der Sichtspione aufgrund der Erfahrung angemessen und notwendig, daß eine negative Beeinflussung in Betracht kommt. d) Befinden sich die Gefangenen im geschlossenen Vollzug in getrennten Abteilungen im sogenannten Wohnvollzug, so gelten je nach der Auswahl der Gefangenen für diesen Wohnvollzug die Grundsätze von 1. oder 2. 2. a) Der Anstaltsleiter braucht grundsätzlich keine Entscheidung im Einzelfall zu treffen. Er hat jedoch im Rahmen der Möglichkeiten auf eine Entmischung der Gefangenen hinzuwirken. b) Einen Rechtsanspruch des Gefangenen darauf, daß der Sichtspion nicht benutzt wird, gibt es nicht. Da die Nichtbenutzung des Sichtspions eine Lockerungsmaßnahme ist, steht dem Anstaltsleiter bei seiner Ermessensentscheidung in gleicher Weise wie bei der Entscheidung nach §11 Abs. 2 StVollzG 70 ein Beurteilungsspielraum zu.
VI.
Abschließend sei gesagt, daß eine ausdrückliche Bestimmung über die Zulässigkeit der Beaufsichtigung der Gefangenen in der Vollzugsanstalt, wenn nicht generell, so doch bezüglich der Benutzung von Sichtspionen wünschenswert erscheint. Der Gesetzgeber ist in diesem Punkt dem selbstgesetzten Ziel, eine auch für die Gefangenen klare Regelung zu schaffen, nicht gerecht geworden. Die von einigen Vollzugsanstalten berichtete Übung, eigenmächtiges Verkleben der Sichtspione durch die Gefangenen auch dort zu dulden, wo die Sichtspione 70
BGHSt. 30, 320, 325.
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nicht abgeschafft worden sind, ist geeignet, bei den Gefangenen unrichtige Vorstellungen über die Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens hervorzurufen. Ein klares Bekenntnis zur Notwendigkeit der Beaufsichtigung der Strafgefangenen ist dem Ziel der Resozialisierung nicht abträglich. Eine erzieherische Einwirkung kann nur dann erfolgreich stattfinden, wenn in den Anstalten ein sicheres und ungestörtes Zusammenleben garantiert ist 71 und bezüglich weiterer Straftaten während der Haft das verlangt wird, was als Langzeitverhalten auch außerhalb des Vollzugs Ziel aller Bemühungen ist. Letztlich sollte nicht vergessen werden, daß es grundsätzlich im Bereich der freien Willensentscheidung eines Gefangenen liegt, ob er die beiden Grundbedingungen für alle Bemühungen um seine Eingliederung in die Gesellschaft (keine Flucht, keine Straftaten während der Haft) erfüllen will. Solange ein Gefangener aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage ist, dies einzuhalten, muß er im Interesse des Schutzes der Allgemeinheit auf die Behandlungsmöglichkeiten innerhalb der Vollzugsanstalt beschränkt werden.
71
Schöch in Kaiser/Kerner/Schöch, Strafvollzug 3. Aufl., § 7 Rdn. 1; C^aschke ZfStrVo 1988, 67, 71; Schwind ZfStrVo 1988, 259, 262.
Die Teilnahme am inländischen Kraftfahrzeugverkehr mit ausländischen Führerscheinen PETER HENTSCHEL
I. Erfordernis einer Fahrerlaubnis nach nationalem Recht Wer auf öffentlichen Wegen oder Plätzen ein Kraftfahrzeug führen will, bedarf gem. § 2 I Satz 1 StVG der Erlaubnis der zuständigen Behörde. Ausnahmen bestimmt der Bundesminister für Verkehr. In § 4 StVZO sind die Fahrzeugarten im einzelnen aufgezählt, deren Führen keiner solchen „Fahrerlaubnis" bedarf. § 4 II StVZO bestimmt, daß die Fahrerlaubnis durch eine amtliche Bescheinigung (Führerschein) nachzuweisen ist. Der Antrag auf Erteilung der Fahrerlaubnis ist nach § 8 1 StVZO bei der zuständigen örtlichen Behörde (§ 68 StVZO) zu stellen.
II. Rechtliche Grundlagen für die Erleichterung des internationalen, grenzüberschreitenden Verkehrs Im Interesse des internationalen Kraftfahrzeugverkehrs gelten diese Bestimmungen nicht uneingeschränkt für Kraftfahrzeugführer, die im Besitz einer gültigen ausländischen Fahrerlaubnis sind. Die Einzelheiten sind in § 4 der Verordnung über internationalen Kraftfahrzeugverkehr vom 12. 11. 1934 (IntVO) 1 , zuletzt geändert am 2. 12. 19882, geregelt. Voraussetzung für die Teilnahme am inländischen Kraftfahrzeugverkehr durch Fahrzeugführer, die nicht im Besitz einer von einer zuständigen deutschen Behörde erteilten Fahrerlaubnis sind, ist der Nachweis eines von einer zuständigen ausländischen Stelle ausgestellten gültigen internationalen Führerscheins, eines Führerscheins nach dem Modell der Europäischen Gemeinschaften, eines anderen gültigen Führerscheins eines der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften oder
1 2
RGBl. I 1137. BGBl. I 2199.
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schließlich einer anderen gültigen ausländischen Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen 3 . Der Umfang der Berechtigung zum Führen von Kraftfahrzeugen in der Bundesrepublik Deutschland mit einem der genannten Führerscheine oder Fahrausweise entspricht dem im ausländischen Führerschein oder Fahrausweis nachgewiesenen Umfang. Die Berechtigung gilt jedoch zeitlich nicht unbeschränkt, sondern nur vorübergehend. § 4 IntVO in der bis zum 31. 12. 1982 geltenden Fassung definierte den Begriff „vorübergehend" nicht näher. Dieser war vielmehr mit Hilfe des § 5 IntVO auszufüllen, wonach als vorübergehend ein Zeitraum bis zu einem Jahr galt. Die ab 1. 1. 1983 geltende Fassung des § 4 1 IntVO verweist nicht mehr auf die Definition des § 5, die nunmehr nur noch für die Zulassung ausländischer Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhänger i. S. d. § 1 IntVO gilt, sondern verwendet diesen Begriff überhaupt nicht mehr ausdrücklich: Danach gilt die Berechtigung für die Dauer von 12 Monaten seit der Begründung eines ständigen Aufenthalts im Geltungsbereich der IntVO. Weitere Erfordernisse für die Berechtigung, mit einer ausländischen Fahrerlaubnis vorübergehend am inländischen Kraftfahrzeugverkehr teilzunehmen, enthält § 4 II IntVO. Nach dieser Bestimmung berechtigt eine ausländische Fahrerlaubnis abweichend von Abs. 1 dann nicht zur Teilnahme, wenn der Kraftfahrzeugführer im Zeitpunkt der Erteilung jener Fahrerlaubnis seinen ständigen Aufenthalt im Inland hatte. Die Berechtigung gilt ferner so lange nicht, als dem Kraftfahrzeugführer im Geltungsbereich der IntVO die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen ist oder eine Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis aufgrund rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidung gegen ihn besteht. Die auf den ersten Blick klar erscheinende Regelung wirft trotz der umfangreichen Novellierung des § 4 IntVO durch die Dritte Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 23. 11. 19824 nach wie vor zahlreiche Probleme auf. Bis zu der genannten Änderung war vor allem die Frage problematisch, ob eine rechtliche Möglichkeit bestand, die Wirkungen einer Fahrerlaubnisentziehung dadurch zu umgehen, daß der Wohnsitz ins Ausland verlegt wurde, um dann mit einer im Ausland erworbenen Fahrerlaubnis am inländischen Kraftfahrzeugverkehr teilzunehmen; hierauf wird weiter unten noch einzugehen sein. Dieses Problem ist im wesentlichen durch die Neufassung des § 4, und zwar durch die bereits erwähnte Regelung in dessen Absatz 2, gelöst. Erhebliche Schwierigkeiten ergeben sich nach wie vor im Zusammenhang mit dem in § 4 IntVO so wichtigen Begriff 3 4
Nach dem Sprachgebrauch der IntVO: „Fahrausweis". BGBl. I 1533.
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des „ständigen Aufenthalts", insbesondere in den Fällen, in denen sich der Inhaber einer ausländischen Fahrerlaubnis teilweise im Inland, teilweise jedoch im Ausland aufhält, vor allem, wenn sowohl im Inland als auch im Ausland ein Wohnsitz besteht. III. Bedeutung des „Wiener Abkommens" und der EG-Führerscheinrichtlinie 1. Das Übereinkommen über den Straßenverkehr
(Liener
Abkommen")
Neben der Verordnung über internationalen Kraftfahrzeugverkehr regelt auch das Übereinkommen über den Straßenverkehr vom 8. 11. 1968 (sog. „Wiener Abkommen") die Frage der Anerkennung ausländischer Führerscheine. Die einschlägigen Artikel 41 ff dieses Übereinkommens finden gem. Art. 1 II des Zustimmungsgesetzes vom 21.9.1977 in Verbindung mit Art. 3 III des Übereinkommens (ÜbStrV) 5 innerstaatlich unmittelbar Anwendung. Nach Art. 41 des Übereinkommens erkennen die Vertragsparteien jeden in einer ihrer Landessprachen abgefaßten oder aber übersetzten nationalen Führerschein, ferner jeden dem Anhang 6 des Übereinkommens entsprechenden Führerschein und schließlich jeden dem Anhang 7 entsprechenden internationalen Führerschein als gültig an, um auf ihrem Gebiet ein Fahrzeug zu führen, das zu den Klassen gehört, für die der Führerschein gilt. Obwohl diese Bestimmung unmittelbar geltendes innerstaatliches Recht geworden ist, steht sie nicht im Widerspruch zu den in § 4 IntVO geregelten Einzelheiten für die Berechtigung, mit ausländischen Fahrerlaubnissen im Inland Kraftfahrzeuge zu führen. Abgesehen davon, daß das Übereinkommen natürlich nur in bezug auf die Vertragsparteien Anwendung findet, also die Staaten, die dem Abkommen beigetreten sind 6 , hindert es die Vertragsparteien nicht, den Artikel 41 über die grundsätzliche Anerkennung gültiger Führerscheine der Vertragsparteien durch nähere Regelungen — wie in § 4 IntVO geschehen — auszufüllen 7 . Ebensowenig ist eine Vertragspartei gehindert, ausländische Führerscheine über die sich aus Art. 41 ÜbStrV ergebende Verpflichtung hinaus anzuerkennen 8 . Die Gültigkeit von § 4 IntVO, soweit dieser außerdeutsche Kraftfahrzeugführer auch nach Begründung eines ständigen Aufenthalts im Inland noch für eine Frist von 12 Monaten zur 5 6 7 8
BGBl. 1977 II S. 932. Vgl. hierzu Bouska Verkehrsdienst 1979, 225, 227. Vgl. dazu Bouska, Fahrerlaubnisrecht, 1987. S. 260 f. Vgl. Bouska aaO (Fn. 7).
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Teilnahme am fahrerlaubnispflichtigen Fahrzeugverkehr mit ihrem ausländischen Führerschein berechtigt, wird daher natürlich durch Art. 41 VI ÜbStrV nicht berührt 9 . Denn Art. 41 VI ÜbStrV bestimmt nicht, daß die Anerkennung eines ausländischen Führerscheins nach „Verlegung des ordentlichen Wohnsitzes in das Hoheitsgebiet" einer anderen Vetragspartei durch diese unterbleibt, sondern daß die Vertragspartei zu einer weiteren Anerkennung in solchen Fällen nicht verpflichtet ist. Damit steht es der Bundesrepublik Deutschland frei, dem außerdeutschen Fahrzeugführer — wie in § 4 1 IntVO geschehen — eine Übergangsfrist einzuräumen oder nicht 10 . 2. Die Erste EG-Führer Scheinrichtlinie § 4 IntVO steht auch insoweit weder mit Art. 41 ÜbStrV noch mit der Ersten Richtlinie des Rates vom 4. 12. 1980 zur Einführung eines EG-Führerscheins (EG-Führerscheinrichtlinie) 11 in Widerspruch, als dort für die Begrenzung des Rechtes zur vorübergehenden Teilnahme am motorisierten Fahrzeugverkehr mit ausländischen Fahrerlaubnissen an die Begründung eines „ordentlichen Wohnsitzes" angeknüpft wird 12 , während in § 4 IntVO die Begründung eines „ständigen Aufenthalts" maßgebend ist. So sehen die Mitgliedstaaten etwa in Art. 8 I EGFührerscheinrichtlinie vor, daß, wenn der Inhaber eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten gültigen einzelstaatlichen Führerscheins oder eines Führerscheins nach dem EG-Modell in einem anderen Mitgliedstaat einen ordentlichen Wohnsitz erwirbt, sein Führerschein dort längstens ein Jahr nach Erwerb des Wohnsitzes gültig bleibt. Der Verordnunggeber hat dieses Problem bei der Neufassung des § 4 IntVO durch die Dritte VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 23. 11. 1982 durchaus erkannt, wie die Begründung zeigt 13 . Dort heißt es u. a.: „Zwar trifft die EG-Richtlinie selbst — übrigens ebensowenig wie das Wiener Übereinkommen mit dem auch dort ... benutzten gleich lautenden Begriff — keine Aussage darüber, was unter einem .ordentlichen Wohnsitz' zu verstehen ist. Jedoch folgt aus der Zielsetzung sowohl des Wiener Übereinkommen als auch der EGRichtlinie, daß der Inhaber einer ausländischen Fahrerlaubnis von dieser in einem anderen Staat nicht mehr unbefristet Gebrauch machen soll, wenn er dort nicht nur kurzfristig, sondern auf längere Zeit ansässig wird und infolgedessen dort auch der
9
10 11 12 13
Vgl. OLG Stuttgart VRS 61, 479; a. M. noch Jagusch, Straßenverkehrsrecht, 25. Aufl., 1980, zu § 15 StVZO Rdn. 13. Vgl. OLG Stuttgart VRS 61, 479. EG-Amtsblatt Nr. L 375 S. 1 ff. Art. 41 Abs. VI a) ÜbStrV; Art. 8 I EG-Führerscheinrichtlinie. Vgl. VkBl. 1982, 495.
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Schwerpunkt seiner Teilnahme am Straßenverkehr liegt. Deshalb ist es zutreffend, an den Begriff .ständiger Aufenthalt' anzuknüpfen; auf die Begründung eines Wohnsitzes im Sinne des § 7 BGB, d. h. Niederlassung mit Verlagerung des Schwerpunktes der Lebensverhältnisse schlechthin, kommt es nicht an."
3. Vorschlag für eine Zweite
EG-Fährerscheinrichtlinie
Ob sich zumindest für Kraftfahrzeugführer aus den EG-Mitgliedstaaten in naher Zukunft an der uneingeschränkten Geltung des § 4 IntVO etwas ändern wird, ist fraglich. Der inzwischen vorliegende Vorschlag für eine Zweite EG-Führerscheinrichtlinie sieht in Art. 1 vor, die in Art. 8 I der Ersten EG-Führerscheinrichtlinie auf ein Jahr nach Begründung eines „ordentlichen Wohnsitzes" begrenzte Anerkennung eines ausländischen Führerscheins und die damit notwendige „Umschreibung" (§15 StVZO) zu streichen und EG-Führerscheine statt dessen für die vom ausstellenden Staat festgelegte Gültigkeitsdauer ohne Rücksicht auf den Ort des ständigen Aufenthaltes oder des „ordentlichen Wohnsitzes" anzuerkennen 14 . Begründet wird dieser Vorschlag mit dem Argument, die Verpflichtung, den Führerschein bei einem Wohnsitzwechsel innerhalb eines Jahres umzutauschen, sei angesichts der Fortschritte beim Zusammenwachsen Europas ein inakzeptables Hindernis für die Freizügigkeit. Die vorgesehene Regelung ist jedoch mit Recht auf die Kritik des Bundesrates gestoßen, der in seiner Stellungnahme vom 2. 6. 198915 die Bundesregierung ausdrücklich bittet, u. a. auf folgende Änderungen hinzuwirken: „Die Anerkennung eines Führerscheins darf nur erfolgen, wenn dieser nicht nur während eines vorübergehenden Aufenthaltes (ordentlicher Wohnsitz im Sinne des Artikels 2) erworben wurde." „Regelungen über die Entziehung und Wiedererteilung von Fahrerlaubnissen sind bei gegenseitiger Anerkennung der Führerscheine unabdingbar. Hierbei ist zu klären, ob Hoheitsakte anderer Staaten zurückgenommen werden können (Artikel 8 Abs. 3)."
In der Tat setzt die abgesehen von der nationalen Gültigkeitsdauer unbefristete Anerkennung eines ausländischen Führerscheins voraus, daß — abweichend von der bisherigen Rechtslage (vgl. § 69 b StGB, § 11 II IntVO) — die EG-Mitgliedstaaten auch das Recht erhalten, im Falle offenbar gewordener Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen die ausländische Fahrerlaubnis zu entziehen. Nach geltendem Recht hat die strafgerichtliche Fahrerlaubnisentziehung bei außerdeutschen Kraftfahrzeugführern lediglich die Wirkung eines Fahrverbots 14 15
Vgl. Bundesratsdrucksache 88/89 S. 3, 13, 14. Bundesratsdrucksache 88/89 (Beschluß).
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(§ 69 b I Satz 2 StGB), und auch die Verwaltungsbehörde kann, wenn sich der Fahrzeugführer mit einer ausländischen Fahrerlaubnis als ungeeignet erweist, diesem nur das Recht aberkennen, von der ausländischen Fahrerlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland Gebrauch zu machen (§11 II IntVO). Insoweit enthält der Vorschlag für eine Zweite EG-Führerscheinrichtlinie keine harmonisierende Regelung. Solange diese nicht erreicht ist, dürfte eine unbefristete Anerkennung von Führerscheinen der EG-Mitgliedstaaten im Inland aus den genannten Gründen mit dem Interesse der Verkehrssicherheit nicht vereinbar sein. IV. Die Voraussetzungen für die berechtigte Teilnahme am inländischen Kraftfahrzeugverkehr mit ausländischen Führerscheinen 1. Außerdeutscher
Fahr^eugführer
Nach der bis zum 31. 12. 1988 geltenden Fassung des § 4 1 IntVO durften unter den dort genannten Voraussetzungen „außerdeutsche FahrStfugführer" in der Bundesrepublik Deutschland ohne deutsche Fahrerlaubnis fahrerlaubnispflichtige Kraftfahrzeuge führen. Die 7. VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 2. 12. 198816 hat das Wort „außerdeutsche" in § 4 I IntVO gestrichen. Eine sachliche Änderung war hierdurch jedoch nicht beabsichtigt, wie aus der amtlichen Begründung 17 folgt. Danach handelt es sich lediglich um eine Änderung redaktioneller Art, weil der Begriff „außerdeutscher" Kraftfahrzeugführer überholt sei. Im folgenden soll gleichwohl dieser Terminus verwendet werden, weil er umständliche Umschreibungen des Personenkreises entbehrlich macht, der unter den in § 4 IntVO genannten Voraussetzungen im Inland mit einer ausländischen Fahrerlaubnis Kraftfahrzeuge führen darf. Fehler bei der mitunter recht schwierigen rechtlichen Beurteilung der Frage, ob im Einzelfall die Erfordernisse des § 4 IntVO erfüllt sind, beruhen oft darauf, daß Sinn und Zweck der darin getroffenen Regelung nicht hinreichend beachtet werden. Sie dient — wie schon erwähnt — der Erleichterung des internationalen, grenzüberschreitenden Kraftfahrzeugverkehrs. Der im Ausland lebende Kraftfahrer soll nach dem Zweck der Bestimmung bei Reisen in die Bundesrepublik sowie nach Begründung eines ständigen Aufenthalts in der Bundesrepublik für eine Übergangszeit (12-Monatsfrist) nicht den eingangs (unter I.) genannten, für die in Deutschland lebenden Kraftfahrer geltenden Fahrerlaubnisbestim16 17
BGBl. I 2199. VkBl. 1988, 806 f.
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mungen unterworfen sein. Seine Berechtigung zur vorübergehenden Teilnahme am inländischen fahrerlaubnispflichtigen Fahrzeugverkehr soll insbesondere nicht davon abhängig sein, daß er eine deutsche Fahrerlaubnis durch einen von einer deutschen zuständigen Behörde erteilten Führerschein nachweisen kann. Entscheidend ist hierbei nach wie vor der nur vorübergehende Charakter dieser Ausnahmeregelung. Daran hat die am 23. 11. 1982 erfolgte Neufassung des § 4 IntVO 18 letztlich nichts geändert 19 . Denn hat der Fahrzeugführer keinen ständigen Aufenthalt im Inland, was nach § 4 I IntVO für seine Teilnahme am inländischen Kraftfahrzeugverkehr mit einer ausländischen Fahrerlaubnis Voraussetzung ist, so ist diese Teilnahme naturgemäß nur vorübergehend. Nichts anderes gilt nach Begründung eines ständigen Aufenthalts im Inland, wie die 12-Monatsfrist zeigt. Das Zurückstellen des Interesses der Bundesrepublik an der Sicherheit des inländischen Kraftfahrzeugverkehrs nach hier geltenden Anforderungen ist schließlich gerade deswegen vertretbar, weil es nur für eine begrenzte Zeit erfolgt 20 . Nur bei Außerachtlassung des Normzwecks hätte der früher ausdrücklich im Verordnungstext verwendete Begriff „außerdeutsch" zu Zweifeln darüber führen können, ob die Bestimmung des § 4 IntVO auch auf Deutsche Anwendung finden kann. Zutreffend gingen jedoch Rechtsprechung und Schrifttum auch vor der redaktionellen Änderung einhellig davon aus, daß es auf die Staatsangehörigkeit nicht ankomme 21 . Hat also ein Deutscher einen Führerschein oder Fahrausweis der in § 4 I a) bis c) genannten Art zu einer Zeit erworben, zu der er keinen ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich der IntVO hatte, so darf auch er in dem in § 4 IntVO bestimmten Umfang im Inland davon Gebrauch machen 22 . Außerdeutscher Fahrzeugführer im Sinne der in § 4 IntVO getroffenen Regelung ist mithin eine Person, die — unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit — ihren ständigen Aufenthalt im Ausland hat oder einen solchen vor nicht mehr als 12 Monaten im Inland begründet hat 23 .
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Dritte VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, BGBl. I 1533. Siehe aber Jagow Verkehrsdienst 1983, 198 (199). Vgl. OLG Stuttgart DAR 1971, 164. Vgl. BGH NJW 1964, 1566; OLG Karlsruhe NJW 1972, 1633; OLG Hamm VRS 29, 153; OLG Koblenz VRS 39, 365; KG VRS 38, 205; Eckhardt DAR 1966, 291; 1974, 281. Vgl. OLG Koblenz VRS 39, 365; KG VRS 38, 205; OLG Celle DAR 1976, 216; OLG Düsseldorf VerkMitt. 1979, 85; OLG Köln VRS 67, 239; VGH München DAR 1982, 239; Rüth, KVR, Stichwort „Fahrverbot", S. 32. Vgl. OLG Stuttgart DAR 1971, 164; BayObLG NJW 1972, 2193; vgl. auch OLG Karlsruhe NJW 1972, 1633; Rüth\Reinken, KVR, Stichwort „Führerschein", S. 9, 16; Slapnicar NJW 1985, 2861 (2862).
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2. Ständiger Aufenthalt im Ausland — Bedeutung des Wohnsitzes Voraussetzung für die Berechtigung, mit einer ausländischen Fahrerlaubnis im Inland fahrerlaubnispflichtige Fahrzeuge zu führen, ist nach § 4 I IntVO das Nichtbestehen eines „ständigen Aufenthalts" in der Bundesrepublik Deutschland oder jedenfalls das Bestehen eines solchen ständigen Aufenthalts im Inland seit nicht mehr als 12 Monaten. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß sowohl das ÜbStrV als auch die Erste EG-Führerscheinrichtlinie abweichend hiervon nicht auf den ständigen Aufenthalt, sondern auf den „ordentlichen Wohnsitz" abstellen. Es wurde auch bereits erwähnt, daß der Verordnunggeber bei der Neufassung des § 4 IntVO im Jahre 1982 im Bewußtsein dieser Tatsache ausdrücklich an dem Begriff des ständigen Aufenthalts festgehalten hat. Daraus folgt, daß die Berechtigung, nach § 4 IntVO in Deutschland Kraftfahrzeuge zu führen, nach 12 Monaten auch dann erlischt, wenn der Inhaber eines ausländischen Führerscheins in der Bundesrepublik zwar keinen Wohnsitz i. S. d. § 7 BGB begründet, sich aber ständig in Deutschland aufhält 24 . Anders als für die Begründung eines Wohnsitzes nach § 7 BGB kann es nämlich nach Sinn und Zweck des § 4 IntVO nicht entscheidend auf den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse ankommen, sondern allein auf den Schwerpunkt der Teilnahme am Straßenverkehr 25 . Der Verzicht auf die im Interesse der Verkehrssicherheit geforderten Voraussetzungen für das Führen von Kraftfahrzeugen nach deutschem Fahrerlaubnisrecht ist — abgesehen von der 12-Monatsfrist des § 4 IntVO — gegenüber solchen Personen, die sich ständig in der Bundesrepublik aufhalten und hier Kraftfahrzeuge führen, nicht mehr gerechtfertigt, gleichgültig, ob sie hier ihren Wohnsitz i. S. d. § 7 BGB begründen 26 . Daraus folgt, daß auch solche Personen, die sich über mehrere Jahre in der Bundesrepublik ständig aufhalten, ohne jedoch hier i. S. d. § 7 BGB einen Wohnsitz zu begründen, eine deutsche Fahrerlaubnis benötigen, und zwar auch dann, wenn sie die Verbindung zu ihrem Heimatland nicht weitgehend lösen, weil sie an der Absicht festhalten, in dieses zurückzukehren 27 . Gleichwohl wird in der Rechtsprechung im Rahmen des § 4 I IntVO teilweise — ungenau
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Vgl. B a y O b L G N J W 1972, 2 1 9 3 ; O L G Stuttgart D A R 1 9 7 1 , 164; Eckhardt D A R 1966, 291; Jagow Verkehrsdienst 1985, 121 (122). Vgl. Amtliche Begründung zur Dritten V O zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, VkBl. 1982, 495; vgl. auch Jagow Verkehrsdienst 1985, 121 (122). Vgl. O L G Stuttgart D A R 1971, 164; Jagow Verkehrsdienst 1983, 198 (202); 1985, 121 (122); vgl. auch Bouska D A R 1983, 1 3 0 (131). A . M. noch O L G Stuttgart zu §§ 4, 5 I n t V O a. F. In der Regel dürfte in solchen Fällen wohl (auch) ein inländischer Wohnsitz bestehen.
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— auf den Wohnsitz abgestellt, wobei dies allerdings nicht ausdrücklich von dem allein entscheidenden Merkmal des ständigen Aufenthalts abgegrenzt wird 28 . Schließt das Fehlen eines inländischen Wohnsitzes einen ständigen Aufenthalt und damit das Erlöschen der Berechtigung des § 4 IntVO nach Ablauf von 12 Monaten nicht aus, so geht umgekehrt diese Berechtigung vor Ablauf von 12 Monaten nicht verloren, selbst wenn vorher im Inland ein Wohnsitz i. S. d. § 7 BGB begründet wird 29 . Obwohl mithin die Wohnsitzbegründung als solche kein geeignetes Kriterium für die sich aus § 4 IntVO ergebende Berechtigung ist 30 , so ist sie andererseits auch nicht völlig bedeutungslos. Zumindest mittelbare Bedeutung erlangt das Merkmal der Wohnsitzbegründung insoweit, als es bei der Beantwortung der Frage, ob ein ständiger Aufenthalt im Inland besteht, hilfreich ist. So wird die Tatsache, daß jemand den Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse im Inland hat, regelmäßig die Feststellung rechtfertigen, daß er sich dort auch ständig in dem für die Anwendung des § 4 IntVO maßgebenden Sinn aufhält, zumal in einem solchen Falle in aller Regel auch der Schwerpunkt der Teilnahme am Straßenverkehr im Inland liegen wird 31 . Die Frage des Wohnsitzes im In- oder Ausland, eines Doppelwohnsitzes sowohl im Inland als auch im Ausland und die Begründung von Nebenwohnsitzen wird daher in den folgenden Erörterungen durchaus eine Rolle spielen. Zwar war das Merkmal des „ständigen Aufenthalts" auch für die Anwendung des § 4 IntVO in der bis zum 31.12.1982 geltenden Fassung ein wesentliches Kriterium. Es war nämlich entscheidend für die Beurteilung der Frage, ob es sich bei dem Inhaber einer ausländischen Fahrerlaubnis um einen „außerdeutschen Kraftfahrzeugführer" im Sinne der früheren Fassung handelte. Die ausdrückliche Anknüpfung an den ständigen Aufenthalt durch die Neufassung und der Verzicht auf die Beschränkung des Rechts nach § 4 IntVO auf jeweils mit dem Grenzübertritt beginnende „vorübergehende" Aufenthalte im Inland (§§ 4, 5 IntVO a. F.) hat jedoch zur Klärung der nach früherem Recht zweifelhaften Frage geführt, in welchem Umfang sog. Berufspendler mit ausländischen Führerscheinen am Kraftfahrzeugverkehr in der Bundesrepublik teilnehmen dürfen. Hierbei handelt es sich um Personen, die im grenznahen Ausland wohnen, ihren Arbeitsplatz jedoch in der
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Vgl. z. B. OLG Karlsruhe NJW 1972, 1633. Vgl. BGH NJW 1964, 1566; OLG Celle MDR 1968, 171; Eckhardt DAR 1974, 281; vgl. auch BayObLG NJW 1971, 336; OLG Hamm VRS 29, 153; OLG Stuttgart VRS 34, 226. Vgl. auch Slapnicar NJW 1985, 2861 (2862); Offermann-Clas NJW 1987, 3036 (3038). Vgl. KG VRS 38, 205; OVG Bremen VRS 62, 393; OLG Köln VRS 67, 239.
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Bundesrepublik haben und diesen täglich mit ihrem Kraftfahrzeug aufsuchen, vielfach auch im Rahmen der Berufsausübung hier Kraftfahrzeuge ihres Arbeitgebers führen. Waren die während des Arbeitsverhältnisses täglich stattfindenden Fahrten „vorübergehende" Teilnahme am inländischen Straßenverkehr? Wenn ja, benötigte der Berufspendler nach Ablauf eines Jahres eine deutsche Fahrerlaubnis? Nach § 5 IntVO a. F. galt nämlich als vorübergehend ein Zeitraum bis zu einem Jahr. Andererseits begann der Zeitablauf mit dem Tage des Grenzübertritts. Sollte also die Jahresfrist täglich neu zu laufen beginnen mit der Folge, daß der ausländische Führerschein des Pendlers praktisch unbegrenzt anerkannt wurde? 32 Die amtliche Begründung zur Neufassung des § 4 IntVO durch die Dritte VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften zeigt, daß der Verordnunggeber den Fall des Berufspendlers ausdrücklich in seine Überlegungen einbezogen hat 33 : „Die bislang nicht immer einheitlich beantwortete Frage, ob im Ausland wohnende Berufspendler mit ihrer ausländischen Fahrerlaubnis auch Kraftfahrzeuge inländischer Unternehmer auf unbefristete Zeit führen dürfen, wird durch die Neufassung zugunsten der Berufspendler geklärt. Dies folgt unmittelbar aus § 4 Abs. 1, weil Berufspendler im Inland keinen ständigen Aufenthalt begründen ..."
Im Ausland wohnende Personen, die in der Bundesrepublik arbeiten, dürfen also nach neuem Recht, sofern die übrigen Voraussetzungen des § 4 IntVO erfüllt sind, mit ihrer ausländischen Fahrerlaubnis in der Bundesrepublik Kraftfahrzeuge führen, ohne von der 12-Monatsfrist des § 4 1 IntVO betroffen zu sein 34 . Anders ist die Frage nach dem ständigen Aufenthalt dagegen etwa im Falle eines Binnenschiffers zu beurteilen, der auf einem Schiff mit Heimatort im Inland wohnt und überwiegend in inländischen Gewässern fährt. Dieser hat seinen ständigen Aufenthalt nicht wie der erwähnte Berufspendler im Ausland, sondern im Inland. Vorbehaltlich der 12-Monatsfrist des § 4 I IntVO darf er mit einem ausländischen Führerschein nicht am inländischen fahrerlaubnispflichtigen Fahrzeugverkehr teilnehmen 35 . 3. Wobnsit^ im Inland und. im Ausland Setzt die Begründung eines ständigen Aufenthalts nicht stets auch die Begründung eines Wohnsitzes voraus, so schließt umgekehrt — wie bereits erwähnt — das Bestehen eines Wohnsitzes durch „ständige 32 33 34 35
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
zur früheren Rechtslage Eckhardt, Polizei, Technik, Verkehr 1975, 321. VkBl. 1982, 495. auch Offermann-Chs N J W 1987, 3036 (3038). O V G Bremen VRS 62, 393.
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Niederlassung" 36 in aller Regel einen ständigen Aufenthalt am Ort des Wohnsitzes ein. Ein Doppelwohnsitz (§ 7 II BGB) besteht bei dauernder Unterhaltung zweier Wohnungen an verschiedenen Orten, die beide Schwerpunkte der Lebensverhältnisse bilden 37 . Daraus folgt: Wer sowohl im Inland als auch im Ausland einen Wohnsitz hat, ist — vorbehaltlich der 12-Monatsfrist des § 4 1 IntVO — regelmäßig nicht berechtigt, mit einer ausländischen Fahrerlaubnis am inländischen Kraftfahrzeugverkehr teilzunehmen. Begründet also eine im Ausland lebende Person in der Bundesrepublik einen Nebenwohnsitz i. S. des § 7 II BGB, so darf er — wenn die übrigen Voraussetzungen des § 4 IntVO erfüllt sind — ab Begründung des Nebenwohnsitzes nur 12 Monate am inländischen fahrerlaubnispflichtigen Verkehr teilnehmen, ohne im Besitz einer deutschen Fahrerlaubnis zu sein. Unerheblich ist hierbei, wo der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse liegt 38 . Denn wer im Bundesgebiet auch nur einen Nebenwohnsitz unterhält, der hält sich hier nicht nur vorübergehend, sondern i. S. d. § 4 IntVO ständig auf 39 . 4. Erwerb der ausländischen Fahrerlaubnis ständigem Aufenthalt im Inland
bei
Die Berechtigung des § 4 I IntVO, bei vorübergehenden Aufenthalten in der Bundesrepublik und nach Begründung eines ständigen Aufenthalts auf die Dauer von 12 Monaten mit einer ausländischen Fahrerlaubnis Kraftfahrzeuge zu führen, gilt gem. § 4 II a) nur, wenn im Zeitpunkt der Erteilung der ausländischen Fahrerlaubnis kein ständiger Aufenthalt im Inland bestand 40 . Diese Regelung steht im Einklang mit Art. 41 VI a) ÜbStrV, wonach die Vertragsparteien nicht verpflichtet sind, ausländische Führerscheine solcher Personen anzuerkennen, die im Zeitpunkt der Ausstellung ihren „ordentlichen Wohnsitz" im Inland hatten. Sie ist, wie das BVerwG 41 mehrfach festgestellt hat, grundgesetzkonform, verstößt insbesondere nicht gegen Art. 3 GG. Den Fall gegenüber demjenigen abweichend zu behandeln, bei dem im Zeitpunkt 36 37 38
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Vgl. § 7 I BGB. Vgl. PalandtjHeinrichs, BGB, 47. Aufl., § 7 Anm. 4. Vgl. BayObLG N J W 1971, 336 (337); O L G Stuttgart V R S 34, 226; O L G Karlsruhe MDR 1978, 251; Slapnicar N J W 1985, 2861 (2863). Vgl. O L G Stuttgart V R S 34, 226; Slapnicar N J W 1985, 2861 (2863); vgl. auch O L G Köln VerkMitt. 1979, 29. So schon für die frühere Rechtslage v o r Neufassung des § 4 IntVO am 23. 11. 82: BVerwG V R S 66, 302; O V G Bremen V R S 34, 318; O L G Hamm V R S 29, 153; O L G Stuttgart V R S 35, 48; O L G Celle D A R 1976, 216; O L G Köln VerkMitt. 1979, 29; einschränkend O L G Düsseldorf V R S 65, 213 (Anm. Hentschel JR 1984, 83). BVerwG VerkMitt. 1984, 81; V R S 66, 302.
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der Ausstellung des ausländischen Führerscheins kein ständiger Aufenthalt im Bundesgebiet begründet war, ist nicht willkürlich, wie das BVerwG in seinem Urteil vom 18. 11. 198342 ausführt: Dem im Inland Ansässigen sei, so das Bundesverwaltungsgericht, auch wenn er Ausländer ist, zuzumuten, die Fahrerlaubnis bei der für seinen inländischen Wohnsitz zuständigen Behörde (§ 68 II StVZO) nach inländischem Recht zu erwerben. Er sei nicht auf die Vergünstigung angewiesen, die den im Ausland Lebenden gewährt wird, wenn diese Personen mit ihrem Kraftfahrzeug das Bundesgebiet bereisen wollen. Zudem verhindere der Ausschluß der Anerkennungs- und „Umtausch"-fahigkeit einer ausländischen Fahrerlaubnis, die im Zeitraum inländischen Wohnsitzes erworben sei, von vornherein, daß ein Kraftfahrer, dem die Fahrerlaubnis für das Inland nicht erteilt oder entzogen worden ist, die regulären deutschen Vorschriften über die Fahrerlaubnis dadurch umgehen könne, daß er im Ausland eine Fahrberechtigung erwerbe, ohne seinen Wohnsitz tatsächlich — und nicht nur zum Schein — dorthin (zurück) zu verlegen. In der Tat kann in Fällen der genannten Art von internationalem Fahrzeugverkehr, der den Gegenstand der Regelung in § 4 I IntVO bildet, nicht gesprochen werden. Vielmehr wäre, wenn die Einschränkung des § 4 II a) IntVO nicht bestünde, die Gefahr einer Umgehung des deutschen Fahrerlaubnisrechts gegeben 43 . Mißbrauchsfällen entgegenzuwirken, ist auch nach der amtlichen Begründung der Zweck des § 4 II IntVO. Die amtliche Begründung 44 macht in diesem Zusammenhang auf Anzeigen in Tageszeitungen aufmerksam, die den Erwerb einer ausländischen Fahrerlaubnis als „Ersatz" für eine versagte oder entzogene inländische Fahrerlaubnis anbieten. Eine gelegentlich von Urlaubs- oder Geschäftsreisen erworbene ausländische Fahrerlaubnis berechtigt mithin nicht gem. § 4 I IntVO zum Führen fahrerlaubnispflichtiger Fahrzeuge im Inland. Dies gilt auch dann, wenn sich der Erwerber einer solchen Fahrerlaubnis wiederholt für wenige Monate ins Ausland abgemeldet hatte, überwiegend jedoch im Inland wohnte. In derartigen Fällen wird nämlich der ständige Aufenthalt im Inhalt nicht unterbrochen 45 . Die Anwendung des § 4 II a) IntVO, wonach die Berechtigung nach Abs. I nicht gilt, wenn im Zeitpunkt der Erteilung der ausländischen Fahrerlaubnis im Inland ein ständiger Aufenthalt bestand, bereitet in
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BVerwG VRS 66, 302. Vgl. O V G Bremen VRS 34, 318; OLG Hamm VRS 29, 153; OLG Celle DAR 1976, 216; OLG Köln VerkMitt. 1979, 29; V G H München DAR 1982, 239; Eckhardt DAR 1974, 281. VkBl. 1982, 496. Vgl. O V G Hamburg VRS 64, 740.
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der Praxis häufig Schwierigkeiten. Sie ist unproblematisch in den bereits erwähnten Beispielsfallen, in denen anläßlich eines Urlaubs- oder Geschäftsaufenthalts im Ausland eine Fahrerlaubnis erworben wurde. Ein solcher nur auf Wochen oder wenige Monate bestehender Aufenthalt ist ein nur vorübergehender mit der Konsequenz, daß der ständige Aufenthalt im Inland fortbesteht. Schwierigkeiten können jedoch entstehen, wenn es sich um einen Auslandsaufenthalt von mehr als nur wenigen Monaten handelt, insbesondere, wenn während dieser Zeit der inländische Wohnsitz nicht aufgegeben wird. Die Praxis hatte sich vor allem wiederholt mit den recht häufigen Fällen zu beschäftigen, in denen deutsche Schüler oder Studenten während eines einjährigen Auslandsaufenthalts eine Fahrerlaubnis des Gastlandes erwarben und nach Rückkehr in die Bundesrepublik von dieser Gebrauch machen wollten, obwohl sie nach deutschem Fahrerlaubnisrecht das Mindestalter für den Erwerb der betreffenden Führerscheinklasse noch nicht erreicht hatten 46 . Nach Auffassung des Amtsgerichts Bad Homburg vor der Höhe 47 ist in Fällen dieser Art der ständige Aufenthalt ins Ausland verlegt, so daß § 4 II IntVO keine Anwendung finde. Bei einem Auslandsaufenthalt, der auf die Dauer eines Jahres angelegt ist, werde der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse ins Ausland verlagert. Der Begriff des „ständigen Aufenthalts" ist in § 4 IntVO nicht näher definiert. Er läßt sich jedoch bestimmen, wenn man ihn in Gegensatz zum nur vorübergehenden Aufenthalt setzt. Das Merkmal eines vorübergehenden Aufenthalts wird in der IntVO nach wie vor in § 1 verwendet. Danach sind ausländische Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhänger unter den in der Vorschrift genannten Voraussetzungen zum vorübergehenden Verkehr im Geltungsbereich der Verordnung zugelassen. Als vorübergehend i. S. d. § 1 I IntVO definiert § 5 IntVO einen Zeitraum bis zu einem Jahr. Es spricht nichts dafür, den Zeitraum eines vorübergehenden Aufenthalts zur Abgrenzung von einem ständigen i. S. d. § 4 IntVO anders zu bemessen als bei dem in §§ 1 und 5 der gleichen Verordnung verwendeten Begriff. Entgegen der Auffassung des AG Bad Homburg muß demnach ein von vornherein auf nicht mehr als 12 Monate angelegter Auslandsaufenthalt im Rückschluß aus der in §§ 1 I, 5 IntVO getroffenen Regelung als nur vorübergehend angesehen werden mit der Folge, daß der ständige Aufenthalt im Inland während dieser Zeit fortbesteht 48 . Der Schüler oder Student, der während eines auf nicht mehr als 1 Jahr bemessenen USA-Aufenthalts eine " Vgl. § 7 StVZO. 47 A G Bad Homburg vor der Höhe, Urteil vom 8 . 1 . 1 9 8 6 - 61 Js 28804/85 - 7 Ds - . 48 Vgl. Hentschel JR 1984, 83 (84); Slafnicar N J W 1985, 2861 (2862); vgl. auch OffermamClas N J W 1987, 3036 (3038).
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amerikanische Fahrerlaubnis erworben hat, darf somit nach Rückkehr in die Bundesrepublik von dieser Fahrerlaubnis keinen Gebrauch machen. Bei uneingeschränkter wörtlicher Anwendung der Ausnahmebestimmung des § 4 II a) IntVO kann es allerdings in Einzelfällen zu ungerechtfertigten Ungereimtheiten kommen, so daß eine gegenüber dem Wortlaut korrigierende Auslegung notwendig erscheint: Es ist durchaus denkbar, daß jemand bei einem nur vorübergehenden Auslandsaufenthalt eine ausländische Fahrerlaubnis erworben hat, nach weiterem Aufenthalt im Inland dann jedoch später ins Ausland zurückgekehrt ist, um dort einen ständigen Aufenthalt zu begründen. Während dieses ständigen Aufenthalts im Ausland kommt der Erwerb einer ausländischen Fahrerlaubnis, die nach § 4 I IntVO anerkannt würde, für ihn nicht in Frage, weil er ja eine solche bei seinem früheren nur vorübergehenden Aufenthalt schon erlangt hatte. Er ist also gar nicht in der Lage, die Voraussetzungen für eine Anerkennung jener Fahrerlaubnis nach § 4 IntVO zu schaffen. Kehrt er später — möglicherweise nach mehreren Jahren — erneut in die Bundesrepublik zurück, so dürfte er mithin bei wörtlicher Anwendung von § 4 II a) IntVO von seiner ausländischen Fahrerlaubnis keinen Gebrauch machen. Dies wäre anders, wenn er die Fahrerlaubnis während seines gerade beendeten ständigen Aufenthalts erworben hätte, was aber eben aus den genannten Gründen nicht möglich war. Es erscheint ausgeschlossen, daß der Verordnunggeber, der mit der Bestimmung des Abs. II a) bekanntlich Mißbrauchsfällen entgegenwirken wollte, ein solches Ergebnis vorhergesehen oder gar gewünscht hat. An Fälle dieser Art war offensichtlich bei Neugestaltung des § 4 IntVO durch die Dritte VO zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften im Jahre 1982 nicht gedacht worden. Zur Vermeidung eines dem Rechtsgedanken des § 4 IntVO völlig zuwiderlaufenden Ergebnisses muß daher eine an Sinn und Zweck der Regelung orientierte Auslegung ergeben, daß derartige Fälle von der Ausnahmebestimmung des § 4 II a) IntVO entgegen ihrem Wortlaut nicht erfaßt werden, d. h., daß der Betroffene bei vorübergehenden Reisen in die Bundesrepublik oder nach Wiederbegründung eines ständigen Aufenthalts im Inland für die Dauer von 12 Monaten mit der ausländischen Fahrerlaubnis Kraftfahrzeuge führen darf, obwohl er diese in einem Zeitpunkt erworben hat, zu dem ein ständiger Aufenthalt in der Bundesrepublik bestand. Es wird hierbei nicht verkannt, daß eine solche Interpretation Zweifel dahin gehend begründen kann, ob damit nicht bereits die Grenzen einer möglichen Auslegung überschritten sind49. Bei einem derart offenkundigen Widerspruch zwischen der sich aus der 45
Vgl. dazu KG NJW 1977, 1786; Jescheck A.T., 4. Aufl., S. 137ff, insbes. S. 141 f; Larenx, Methodenlehre, 5. Aufl. 1983, S. 298 ff, insbes. 308 f.
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amtlichen Begründung klar ergebenden Absicht des Normgebers und dem aus dem Wortlaut folgenden Ergebnis muß aber richterliche Rechtsfortbildung im Interesse einer gerechten Beurteilung eines offenbar bei der redaktionellen Gestaltung der Norm übersehenen Falles zulässig sein50. 5. Einfluß von Entziehung der Fahrerlaubnis und
Fahrerlaubnissperre
Bis zur Neufassung des § 4 IntVO im Jahre 1982 war es höchst streitig, ob die Entziehung der deutschen Fahrerlaubnis in rechtlich unbedenklicher Weise dadurch umgangen werden konnte, daß der von der Entziehung Betroffene seinen Wohnsitz ins grenznahe Ausland verlegte, um dann mit einer legal erlangten ausländischen Fahrerlaubnis trotz der im Inland erfolgten Entziehung — womöglich während des Laufs einer strafgerichtlichen Fahrerlaubnissperre — im Inland am fahrerlaubnispflichtigen Kraftfahrzeugverkehr teilzunehmen. Nach teilweise vertretener Ansicht sollte eine strafgerichtliche Fahrerlaubnissperre im Inland dazu führen, daß der Inhaber einer gültigen ausländischen Fahrerlaubnis trotz Vorliegens der übrigen Voraussetzungen der §§ 4, 5 IntVO a. F. während der Sperrfrist fahrerlaubnispflichtige Fahrzeuge im Inland nicht führen durfte 51 . Demgegenüber konnte die gegenteilige überwiegende Ansicht 52 geltend machen, daß die §§ 4, 5 IntVO a. F. das Bestehen einer Sperre nicht als Ausnahme erwähnten und die Sperre nach § 69 a StGB sich nur an die Verwaltungsbehörde wendet. Verlegte daher der Verurteilte nach Verhängung der Maßregel der §§ 69, 69 a StGB seinen ständigen Aufenthalt ins Ausland, so erlangte er die Rechte eines „außerdeutschen Kraftfahrzeugführers" i. S. von §§ 4, 5 IntVO a. F. Der sich daraus ergebende höchst unbefriedigende Rechtszustand ist durch die nunmehr geltende Fassung des § 4 II b) IntVO beseitigt., Danach gilt die Berechtigung des § 4 I IntVO nicht für Inhaber ausländischer Führerscheine oder Fahrausweise, solange ihnen im Geltungsbereich dieser Verordnung die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen worden ist oder ihnen aufgrund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung keine Fahrerlaubnis erteilt werden darf. Solange also eine Fahrerlaubnissperre nach § 69 a StGB besteht, aber auch während der Dauer 50 51
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Vgl. LarenZ (s. Fn. 49) S. 384; vgl. auch Hentschel J R 1984, 83 (85). So z. B. V G H Mannheim N J W 1973, 1 5 7 1 ; O L G Hamm N J W 1978, 1557; Würfel D A R 1980, 325; BärjHauser, Unfallflucht, Loseblattkommentar, III, 1, S. 88, Vgl. O L G Düsseldorf V R S 19, 214; VerkMitt. 1979, 85; O L G Stuttgart V R S 3 1 , 210; O L G Hamburg D A R 1983, 28; L G Traunstein D A R 1980, 125; Janis^ewski, Straßenverkehrs-Strafrecht, 1979, Rdn. 627; Bouska Verkehrsdienst 1980, 245; Eckhardt D A R 1966, 291; Verkehrsdienst 1974, 65; Hentschel N J W 1978, 2562.
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einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111 a StPO, gilt die Berechtigung zum Führen fahrerlaubnispflichtiger Fahrzeuge mit einer ausländischen Fahrerlaubnis nicht. Gleichwohl konnten leider durch die in § 4 II b) getroffene Bestimmung nicht alle Mißbrauchsmöglichkeiten beseitigt werden: Entzieht die Verwaltungsbehörde gem. §§4 StVG, 15 b StVZO die Fahrerlaubnis, so kommt weder eine vorläufige Entziehung in Frage noch die gerichtliche Anordnung einer Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis. Die Voraussetzungen der Ausnahmebestimmung des Abs. 2 b) liegen dann somit nicht vor. Da die Vorschrift die behördliche Entziehung der Fahrerlaubnis nicht erwähnt, bleibt es also bei der Berechtigung nach Abs. 1, wenn dessen Voraussetzungen nach der Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Verwaltungsbehörde, insbesondere durch Aufgabe des ständigen Aufenthalts im Inland, erfüllt werden 53 . D. h. der Betroffene kann trotz festgestellter Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen durch Begründung seines ständigen Aufenthalts im Ausland und Erwerb einer ausländischen Fahrerlaubnis die Voraussetzungen für seine weitere Teilnahme am inländischen fahrerlaubnispflichtigen Fahrzeugverkehr nach § 4 I IntVO schaffen und die Wirkungen der Fahrerlaubnisentziehung hierdurch umgehen, bis ihm die Verwaltungsbehörde das Führen von Kraftfahrzeugen gem. § 11 II IntVO untersagt 54 . Dies ist allerdings nicht unbestritten. Slapnicar5s vertritt die Auffassung, mit § 4 II b) IntVO n. F. sei die Anerkennung ausländischer Fahrausweise ausdrücklich unter den Vorbehalt gestellt worden, daß dem Inhaber die deutsche Fahrerlaubnis nicht entzogen sei. Zentraler Beurteilungsmaßstab bleibe die innerstaatliche Verkehrssicherheit. Das durch § 4 I IntVO in Kauf genommene Zurückstellen deutscher Sicherheitsinteressen sei in dem Augenblick nicht mehr zu rechtfertigen, in dem einem Fahrerlaubnisinhaber wegen Beeinträchtigung eben dieser Sicherheitsinteressen die Teilnahme am Straßenverkehr durch Entziehung der Fahrerlaubnis versagt worden sei. Die Tatsache, daß bei verwaltungsbehördlicher Fahrerlaubnisentziehung eine Sperrfrist nicht ausgesprochen werde, führe zu keiner anderen Beurteilung. Die in dieser Argumentation zum Ausdruck kommende Sorge um die Verkehrssicherheit ist selbstverständlich uneingeschränkt zu teilen. Dennoch kann dem — wenngleich höchst wünschenswerten — Ergeb53
54
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Vgl. Offermann-Clas NJW 1987, 3036 (3038) Janisymki, Verkehrsstrafrecht, 3. Aufl., Rdn. 627. Vgl. OLG Köln VRS 67, 239, Bouska DAR 1983, 130 (134); Jams^emki NStZ 1984, 544. Slapnicar NJW 1985, 2861 (2866).
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nis nicht zugestimmt werden. Der Verordnunggeber hat bei Neufassung des § 4 IntYO im Jahre 1982 durchaus in Kenntnis der Rechtslage die auf vorläufige Entziehung und Sperre beschränkte Formulierung in Abs. 2 b) gewählt, die sich aus Abs. 1 ergebende Berechtigung nach behördlicher Fahrerlaubnisentziehung also bewußt in Kauf genommen, sofern deren übrige Voraussetzungen erfüllt sind. Da bei Fahrerlaubnisentziehung durch die Verwaltungsbehörde eine Sperre nicht ausgesprochen wird, bot sich für den Verordnunggeber auch keine schlüssige Regelung hinsichtlich der Dauer des Ausschlusses von den Rechten des § 4 1 IntVO an. Wie lange sollte mangels einer solchen Sperre der Ausschluß von der Befugnis des § 4 I IntVO im Falle einer behördlichen Fahrerlaubnisentziehung gelten? Wäre die von Slapnicar36 für richtig gehaltene Auffassung zutreffend, wonach eine Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Verwaltungsbehörde in dem Sinne umfassend wirke, daß auch die Berechtigung des § 4 I IntVO hierdurch ausgeschlossen sei, selbst wenn deren Erfordernisse später erfüllt werden, so hätte es im übrigen der ausdrücklichen Ausnahmeregelung in § 4 II b) IntVO gar nicht bedurft, weil eine solche umfassende Wirkung natürlich auch für die Dauer der dort genannten Maßnahmen gelten würde. Eine analoge Anwendung 57 der Ausnahmevorschrift des § 4 II b) IntVO verbietet sich schon im Hinblick auf die daraus folgende Strafbarkeit gem. § 21 I Nr. 1 StVG (Fahren ohne Fahrerlaubnis), was im Ergebnis also auf verbotene Analogie zuungunsten des Täters hinausliefe. Das im Interesse der Verkehrssicherheit zu bedauernde Resultat, wonach im Einzelfall die Umgehung einer verwaltungsbehördlichen Fahrerlaubnisentziehung durch nachträgliche Schaffung der Voraussetzungen des § 4 I IntVO möglich bleibt, wird also hinzunehmen sein. 6. Die 12-Monatsfrist
des § 4 I IntVO
Der Grundsatz, wonach die Berechtigung zur Teilnahme am inländischen fahrerlaubnispflichtigen Fahrzeugverkehr mit ausländischen Führerscheinen nur gilt, wenn im Inland kein ständiger Aufenthalt besteht, wird dadurch zugunsten des außerdeutschen Fahrzeugführers eingeschränkt, daß dieser nach Begründung eines ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet für eine Übergangsfrist von 12 Monaten weiterhin von dem Recht des § 4 I IntVO Gebrauch machen darf. Erst nach Ablauf dieser Zeit unterliegt er deutschem Fahrerlaubnisrecht, muß also, um weiterhin führerscheinpflichtige Kraftfahrzeuge zu führen, im Besitz einer deutschen Fahrerlaubnis sein. Insoweit gilt für die sog. 56 57
Slapnicar N J W 1 9 8 5 , 2 8 6 1 (2865). Siehe Slapnicar N J W 1 9 8 5 , 2 8 6 1 (2868).
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„Umschreibung" seines ausländischen Führerscheins die Sonderbestimmung des § 15 StVZO, auf die hier nicht näher einzugehen ist. Ein ständiger Aufenthalt setzt natürlich nicht einen Aufenthalt für immer voraus 58 , zumal bei Begründung eines solchen Aufenthaltes vielfach nicht abzusehen sein wird, ob der Inlandsaufenthalt möglicherweise später — z. B. nach Ablauf einiger Jahre — durch Rückkehr ins Ausland wieder aufgegeben wird. Eine gewisse Beständigkeit der Niederlassung im Inland ist jedoch Voraussetzung. Den Gegensatz zum ständigen Aufenthalt bildet ein nur vorübergehender Aufenthalt. Insoweit wurde bereits an anderer Stelle unter Heranziehung der Definition in § 5 IntVO die Auffassung begründet, daß als vorübergehend ein Aufenthalt von bis zu einem Jahr zu gelten haben wird mit der Konsequenz, daß dementsprechend unter einem ständigen Aufenthalt ein solcher von jedenfalls mehr als einem Jahr zu verstehen ist59. Zweifelhaft könnte sein, ob die Berechtigung gem. § 4 1 IntVO in jedem Falle im Hinblick auf die 12-Monatsfrist ein Jahr nach der Einreise in das Bundesgebiet endet oder ob sie trotz dieser Frist u. U. diesen Zeitraum überschreiten kann. Für den Beginn der 12-Monatsfrist kommt es auf den Zeitpunkt der „Begründung" eines ständigen Aufenthalts im Inland an. Bei der Feststellung dieses Zeitpunktes können dadurch Schwierigkeiten entstehen, daß die Begründung eines ständigen Aufenthalts weder mit der Einreise zusammentreffen muß, noch stets durch einen augenfälligen, den Beginn unmißverständlich vom nur vorübergehenden Aufenthalt abgrenzenden Akt gekennzeichnet ist. In der Regel wird die Prüfung zwar ergeben, daß die 12-Monatsfrist des § 4 1 IntVO jedenfalls dann verstrichen ist, wenn sich der außerdeutsche Fahrzeugführer ein Jahr lang — abgesehen von gelegentlichen Auslandsreisen — ununterbrochen in der Bundesrepublik aufgehalten hat. Dies kann jedoch nicht bedeuten, daß die Berechtigung, mit einem ausländischen Führerschein in der Bundesrepublik am Kraftfahrzeugverkehr teilzunehmen, stets nur für einen Zeitraum von maximal einem Jahr gilt. Der außerdeutsche Kraftfahrzeugführer kann z. B. nur zum Zwecke eines vorübergehenden, etwa auf wenige Monate befristeten Aufenthalts in das Bundesgebiet eingereist sein und sich erst später zum Bleiben auf Dauer im Inland entschlossen haben. Hätte der Verordnunggeber abweichend von der hier vertretenen Ansicht an eine 12-Monatsfrist gedacht, die jedenfalls mit dem Zeitpunkt der Einreise beginnen sollte, so hätte es nahe gelegen, entsprechend der bis zum 31. 12. 1982 geltenen Regelung der §§ 4, 5 IntVO a. F. ausdrücklich zu
58 59
Vgl. Bouska D A R 1983, 130 (132). Ebenso Bouska D A R 1983, 1 3 0 (132); Jagow Verkehrsdienst 1983, 1 9 8 (203).
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bestimmen, daß der Zeitablauf mit dem Tage des Grenzübertritts beginnt. Stattdessen bedient sich der Verordnunggeber dagegen der Formulierung „Begründung" eines ständigen Aufenthalts. Es sind durchaus Sachverhalte denkbar, in denen eine solche Umwandlung eines ursprünglich nur vorübergehenden in einen ständigen Aufenthalt evident wird. Man denke etwa an den Mitarbeiter einer ausländischen Firma, der mit einem fest auf drei Monate begrenzten Auftrag in die Bundesrepublik geschickt wurde und später aufgrund einer geänderten Weisung seines ausländischen Arbeitgebers unter Aufgabe des bis dahin gemieteten Hotelzimmers Wohnsitz und eigenen Hausstand in der Bundesrepublik begründet. Die „Begründung" eines ständigen Aufenthalts setzt voraus, daß der Aufenthalt auf Dauer geplant und angelegt ist. Nur diese Auslegung vermeidet auch eine Diskrepanz zu Art. 8 der EG-Führerscheinrichtlinie (ein Jahr nach Erwerb eines ordentlichen Wohnsitzes). Die subjektive Vorstellung des sich hier aufhaltenden außerdeutschen Fahrzeugführers über Art und Dauer seines Aufenthalts spielt also eine Rolle, wobei die Umstände des Falles häufig Rückschlüsse auf diese Vorstellung zulassen werden. Es ist also möglich, daß die Gesamtdauer der Berechtigung, im Inland Kraftfahrzeuge mit ausländischer Fahrerlaubnis zu führen, im Einzelfall einen Zeitraum von 12 Monaten übersteigt 60 . Die formelle Beibehaltung eines ausländischen Wohnsitzes hindert aber niemals den Beginn der 12-Monatsfrist 61 . Wurde ein ständiger Aufenthalt im Inland begründet, so wird die damit beginnende 12-Monatsfrist nicht etwa durch vorübergehende Aufenthalte im Ausland unterbrochen mit der Folge daß die Frist neu zu laufen begänne. Wurde z. B. mit dem ersten Grenzübertritt auch ein ständiger Aufenthalt begründet, so bleibt dieser auch bei wiederholten und womöglich mehrere Wochen oder Monate dauernden Auslandsreisen für den Fristbeginn maßgebend, wenn der ständige Aufenthalt im Inland fortbesteht, z. B. keine Abmeldung erfolgt, die Wohnung beibehalten wird usw. 62 . Die früher vom OLG Stuttgart 63 vertretene gegenteilige Ansicht ist jedenfalls durch § 4 IntVO n. F. überholt.
60
61 62
63
Ebenso wohl Jagow Verkehrsdienst 1983, 198 (202); a. M. Bouska DAR 1983, 130 (132) sowie im Rahmen des § 15 StVZO Offermann-Clas NJW 1987, 3036 (3038). Vgl. OLG Koblenz VRS 39, 365; Slapnicar NJW 1985, 2861 (2863). Vgl. BayObLG NJW 1971, 336; 1972, 2193; OLG Celle MDR 1968, 171; OLG Stuttgart VRS 35, 48; DAR 1971, 164; MühlhauslJams^ewski, StVO, 11. Aufl., § 2 StVG Rdn. 20; Eckhardt DAR 1966, 291. OLG Stuttgart VersR 1969, 341.
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V. Nato-Streitkräfte Für Fahrerlaubnisse von Mitgliedern der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Nato-Truppen, des zivilen Gefolges und deren Angehörigen enthält Art. 9 des Zusatzabkommens zum Nato-Truppenstatut eine Sonderregelung. Soweit diese eingreift, findet § 4 IntVO keine Anwendung 64 . VI. Führerscheinbeschlagnahme und Entziehung der Fahrerlaubnis bei außerdeutschen Kraftfahrzeugführern 1. Sicherstellung
und Beschlagnahme ausländischer hei „Gefahr im Verzug"
Führerscheine
Von sog. „schlichter Sicherstellung" wird gesprochen, wenn der Betroffene mit der Inverwahrungnahme einverstanden ist 65 . Da die schlichte oder formlose Sicherstellung stets zulässig sit 66 , entstehen hier keine rechtlichen Probleme, auch wenn es sich um einen ausländischen Führerschein handelt. Hinsichtlich der Beschlagnahme von Führerscheinen bestand früher, bis zum Inkrafttreten der Neufassung des § 111 a VI StGB durch Art. 19 Nr. 26 EGStGB am 1.1. 1975, eine Besserstellung außerdeutscher Fahrzeugführer. Daß auch Führerscheine grundsätzlich der Beschlagnahme unterliegen, bestimmt § 94 III StPO in der durch Art. 21 EGStGB vom 2. 3. 1974 geänderten Fassung nunmehr ausdrücklich 67 . Für die Beschlagnahme von Führerscheinen durch Polizei und Staatsanwaltschaft gilt § 981 StPO. Danach darf der Führerschein nur beschlagnahmt werden, wenn „Gefahr im Verzug' ist. Soweit es sich um die Beschlagnahme von Führerscheinen handelt, ist der Begriff der Gefahr im Verzug nicht etwa auf die Fälle des § 94 I StPO — Sicherstellung von Beweismitteln — und des § 94 III StPO — Verhinderung einer Vereitelung der Führerscheineinziehung — zu beschränken. Nach heute ganz überwiegend vertretener Ansicht ist die Beschlagnahme eines Führerscheins vielmehr auch dann zulässig, wenn die Gefahr besteht, der Täter werde ohne die Wegnahme seines Führerscheins weitere die Verkehrssicherheit 64 65
66 67
Vgl. OLG Stuttgart VRS 72, 186. Vgl. OLG Köln NJW 1968, 666; Kleinknechtj Meyer, Strafprozeßordnung, 39. Aufl., § 94 Rdn. 12 (formlose Sicherstellung). Vgl. OLG Stuttgart NJW 1969, 760; näher: Kleinknecht ¡Meyer (s. Fn. 65) § 94 Rdn. 12. Vgl. dazu Kleinknecht\Meyer (s. Fn. 65) § l i l a Rdn. 15 sowie Himmelreich\Hentschel, Fahrverbot - Führerscheinentzug, 6. Aufl., 1990, Rdn. 252 ff.
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beeinträchtigende Straftaten, z. B. Trunkenheitsfahrten (§§ 316, 315 c I Nr. 1 a, III StGB), begehen oder sonst Verkehrsvorschriften in schwerwiegender Weise verletzen 68 . Auf die Einzelheiten hierzu ist im Rahmen dieses Beitrags nicht einzugehen 69 . Die erwähnte — inzwischen beseitigte — Besserstellung außerdeutscher Kraftfahrzeugführer gegenüber Inhabern einer deutschen Fahrerlaubnis zum Nachteil der Verkehrssicherheit bestand darin, daß der bis zum Inkrafttreten des Art. 19 Nr. 26 EGStGB vom 2. 3. 1974 geltende § 111 a VI StPO wie folgt lautete: „In ausländischen Fahrausweisen ist die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis zu vermerken. Zu diesem Zweck kann der Fahrausweis beschlagnahmt werden."
Hatte also der kontrollierende Polizeibeamte einen außerdeutschen Fahrzeugführer vor sich, der nach den Bestimmungen der IntVO berechtigterweise mit seinem ausländischen Führerschein am inländischen Kraftfahrzeugverkehr teilnahm, so konnte er z. B. trotz dringenden Verdachts des Vorliegens eines Vergehens nach §§ 316, 315 c StGB dessen Führerschein nicht zum Schutz der Allgemeinheit vor dem möglicherweise ungeeigneten außerdeutschen Fahrzeugführer beschlagnahmen. Die Beschlagnahme konnte vielmehr — abgesehen von dem seltenen Fall des § 94 I StPO - nach § 111 a VI StPO a. F. nur zum Zwecke der Eintragung eines Vermerks über eine bereits erfolgte vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis vorgenommen werden 70 . Nach der Neufassung des § 111 a VI StPO ist nunmehr die Beschlagnahme ausländischer Fahrausweise und Führerscheine unter den gleichen Voraussetzungen zulässig wie die Beschlagnahme deutscher Führerscheine. Die Bestimmung lautet jetzt: „In ausländischen Fahrausweisen ist die vorläufige Entziehung zu vermerken. Bis zur Eintragung dieses Vermerks kann der Fahrausweis beschlagnahmt werden (§§ 94 III, 98)."
Daß hierdurch eine sachliche Änderung der Voraussetzungen für die Beschlagnahme ausländischer Fahrausweise beabsichtigt war, ergibt sich aus der Begründung des Regierungsentwurfs 71 : „Es wird vorgeschlagen, aus Anlaß der Änderungen im Beschlagnahmerecht auch die Vorschrift über die Beschlagnahme ausländischer Fahrausweise zu überprüfen. Bei Verkehrsstraftaten von Ausländern sollte die Beschlagnahme der Fahrausweise sofort
68
69 70 71
Vgl. BGH NJW 1969, 1308; OLG Hamm VRS 36, 66; LG Münster NJW 1974, 1008; Kleinknecht] Meyer (s. Fn. 65) § 111 a Rdn. 15; Löwe/Rosenberg (G.Schäfer), 24. Aufl., § l i l a Rdn. 63; Seiler, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Dissertation, Regensburg, 1982, S. 38. Näher dazu: Himmelreich\Hentschel (s. Fn. 67) Rdn. 255 ff. Vgl. LöweIRosenberg (Meyer), 23. Aufl., § 111 a Anm. VII. Bundestagsdrucksache 7/550 S. 291.
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und so lange möglich sein, bis der Vermerk über eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland eingetragen worden ist, nicht nur — wie nach geltendem Recht — zum Zwecke der Eintragung. Durch die vorgeschlagene Änderung des Absatzes 6 würde die bisherige ungerechtfertigte Besserstellung von Ausländern beseitigt."
2. Die Entziehung der Fahrerlaubnis bei Kraftfahr^eugführern
außerdeutschen
Die Entziehung der Fahrerlaubnis bei außerdeutschen Kraftfahrzeugführern i. S. d. § 4 IntVO ist in § 69 b StGB besonders geregelt: Darf der Täter nach den für den internationalen Kraftfahrzeugverkehr geltenden Vorschriften im Inland Kraftfahrzeuge führen, ohne daß ihm von einer deutschen Behörde ein Führerschein erteilt worden ist, so ist die Entziehung der Fahrerlaubnis nur zulässig, wenn die Tat gegen Verkehrsvorschriften verstößt. Die Entziehung der Fahrerlaubnis hat in diesem Falle die Wirkung eines Verbots, während der Sperre im Inland Kraftfahrzeuge zu führen, soweit es dazu im innerdeutschen Verkehr einer Fahrerlaubnis bedarf. D. h. die Entziehung der Fahrerlaubnis eines außerdeutschen Fahrzeugführers hat lediglich die Wirkung eines Fahrverbots i. S. d. §§ 44 StGB, 25 StVG. In Abs. 2 bestimmt § 69 b StGB, daß die Entziehung der Fahrerlaubnis und die gleichzeitige nach § 69 a StGB anzuordnende Sperre im ausländischen Fahrausweis vermerkt werden. In der Praxis hat diese an sich klar formulierte Vorschrift immer wieder zu Fehlinterpretationen geführt. Insbesondere wird häufig von den Staatsanwaltschaften die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis gem. § 111 a StPO beantragt, obwohl die Berechtigung des Beschuldigten, mit seinem ausländischen Fahrausweis in der Bundesrepublik am fahrerlaubnispflichtigen Fahrzeugverkehr teilzunehmen, gar nicht gegeben ist, z. B. weil die 12-Monatsfrist des § 4 I IntVO längst abgelaufen ist. § 69 b StGB über die Entziehung der Fahrerlaubnis bei außerdeutschen Fahrzeugführern gilt keineswegs immer dann, wenn der Angeklagte, ohne Inhaber einer deutschen Fahrerlaubnis zu sein, einen ausländischen Führerschein oder Fahrausweis besitzt. Vielmehr ist nach dem insoweit unmißverständlichen Wortlaut dieser Vorschrift Voraussetzung für die Entziehung, daß der Täter „nach den für den internationalen Kraftfahrzeugverkehr geltenden Vorschriften im Inland Kraftfahrzeuge führen" darf, „ohne daß ihm von einer deutschen Behörde ein Führerschein erteilt worden ist." Stellt das Gericht somit bei einem wegen einer Straftat im Zusammenhang mit dem Führen von Kraftfahrzeugen Angeklagten, der zwar im Besitz einer ausländischen, nicht
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aber einer deutschen Fahrerlaubnis ist, dessen Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen in der Hauptverhandlung fest, so muß es, wenn es die Maßregel nach §§ 69, 69 a, 69 b StGB verhängen will, zunächst prüfen, ob der Angeklagte nach den in § 69 b I Satz 1 StGB genannten Bestimmungen mit seinem ausländischen Führerschein im Inland Kraftfahrzeuge führen darf. Es muß also Feststellungen darüber treffen, ob die Voraussetzungen des § 4 IntVO — jetzt, im Zeitpunkt der Urteilsfindung — vorliegen. M. a. W., nur wenn der Angeklagte im Zeitpunkt der Hauptverhandlung die sich aus § 4 I IntVO ergebende Berechtigung (noch) besitzt, findet § 69 b StGB Anwendung 72 . Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß etwa immer dann, wenn sich der Inhaber einer ausländischen Fahrerlaubnis, die ihn nicht mehr zur Teilnahme am inländischen fahrerlaubnispflichtigen Fahrzeugverkehr berechtigt, durch eine Straftat im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat, eine Maßregel nach §§ 69, 69 a StGB zu unterbleiben hätte. Vielmehr ist ein solcher Angeklagter genauso zu behandeln wie jeder andere Angeklagte, der nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis ist. Für diesen Fall sieht § 69 a I Satz 3 StGB — konsequentenweise, ohne eine Sonderregelung für außerdeutsche Fahrzeugführer zu enthalten — die Anordnung einer sog. isolierten Sperre vor. D. h. dem Angeklagten wird nicht die Fahrerlaubnis entzogen (die er ja nicht hat), sondern es wird lediglich ausgesprochen, daß ihm für die Dauer einer Sperrfrist bis zu fünf Jahren oder für immer keine Fahrerlaubnis erteilt werden darf. Ergibt also die Prüfung im Zeitpunkt der Hauptverhandlung, daß bei dem Inhaber einer ausländischen Fahrerlaubnis die Voraussetzungen des § 4 I IntVO nicht oder nicht mehr erfüllt sind, so muß das Gericht, wenn die Erfordernisse des § 69 StGB für die Anordnung der Maßregel im übrigen vorliegen, eine isolierte Sperre anordnen (dann allerdings ohne die Einschränkungen des § 69 b I StGB). Dies gilt z. B. auch dann, wenn zwar im Zeitpunkt der Tatbegehung die Berechtigung zum Führen von Kraftfahrzeugen mit dem ausländischen Führerschein nach § 4 1 IntVO noch bestand, die 12-Monatsfrist jedoch zur Zeit der Urteilsfindung inzwischen abgelaufen ist. Ein Vermerk im ausländischen Führerschein nach § 69 b II StGB kommt in solchen Fällen nicht in Betracht. Aus der Formulierung dieser Bestimmung, im ausländischen Fahrausweis werde die Entziehung der Fahrerlaubnis „und die Sperre" vermerkt, könnte geschlossen werden, 72
Vgl. SchönkejSchröder (Stree), StGB, 23. Aufl., § 69 b Rdn. 2; LütkesjMeierlWagner, Straßenverkehrsrecht, Loseblattkommentar, § 69 b StGB Anm. 2; Hentschel N J W 1975, 1350; ebenso zu der gleichen Frage beim Fahrverbot (§ 44 II StGB) Schäfer in L K , 10. Aufl., § 44 Rdn. 46.
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der Vermerk sei auch in den Fällen einzutragen, in denen aus den erörterten Gründen nur eine isolierte Sperre angeordnet wird 7 3 . Da jedoch § 69 b II StGB nicht aus dem Zusammenhang gerissen und isoliert von Abs. 1 gelesen werden darf, kann diese Vorschrift hier keine Anwendung finden. D. h. die Tatsache, daß der nicht im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis befindliche Angeklagte einen ausländischen Führerschein hat, geht das Gericht nichts an. Wäre dies anders, so hätte das Gericht folgerichtig immer dann, wenn nur die Anordnung einer isolierten Fahrerlaubnissperre nach § 69 a I Satz 3 StGB in Frage kommt, Feststellungen darüber zu treffen, ob der Angeklagte nicht womöglich im Besitz eines ausländischen Führerscheins ist. Daß der Verurteilte nach Anordnung einer isolierten Sperre mangels Eintragung eines Vermerks weiterhin die nach § 4 I IntVO nicht mehr bestehende Berechtigung, im Inland Kraftfahrzeuge zu führen, vortäuschen kann, ist eine zwar bedauerliche, aber bei richtiger Anwendung von § 69 b StGB nicht zu vermeidende Folge. Hat allerdings der gem. § 4 IntVO hierzu nicht berechtigte Angeklagte am inländischen Kraftfahrzeugverkehr teilgenommen und hierbei einen ausländischen Führerschein vorgelegt, den er sich in seinem Heimatland dadurch erschwindelt hat, daß er die Behörde über seine nicht vorhandene Fahrerlaubnis täuschte und Verlust des Führerscheins vorspiegelte, so darf die Eintragung eines Vermerks in entsprechender Anwendung des § 69 b StGB in das Dokument erfolgen, um weiteren Mißbrauch zu verhindern 74 . Der wesentliche Unterschied zu der bisher geschilderten Sachlage, bei der der ausländische Führerschein zwar gültig, jedoch nicht oder nicht mehr nach § 4 I IntVO zum Führen von Kraftfahrzeugen im Inland berechtigt, liegt darin, daß hier — anders als in jenen Fällen — das Papier auch im Ausland keine gültige Fahrerlaubnis verkörpert. Anders als ein deutscher Führerschein kann es aber als ausländisches Dokument nicht eingezogen werden, so daß die analoge Anwendung des § 69 b StGB als notwendige Präventivmaßnahme gegen Mißbrauch geboten erscheint. Liegen die Voraussetzungen des § 4 I IntVO im Zeitpunkt der Urteilsfindung noch vor, ist also § 69 b StGB anzuwenden, so darf gem. Abs. 1 Satz 1 dieser Bestimmung dem außerdeutschen Fahrzeugführer die Fahrerlaubnis nur dann entzogen werden, wenn die Tat gegen Verkehrsvorschriften verstößt. Verkehrsvorschriften i. S. d. § 69 b StGB sind die §§21, 22 StVG, 142, 315 b bis 316 StGB, 323 a StGB in Verbindung mit diesen Bestimmungen sowie Verkehrsordnungswidrigkeiten dann, wenn sie wegen Subsidiarität oder nach § 21 OWiG 73 74
So z. B. Schönke/Schröder (Stree) (s. Fn. 72) § 69 b Rdn. 6. Vgl. OLG Karlsruhe NJW 1972, 1633.
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zurücktreten (z. B. § 222 StGB in Verbindung mit §§ 1, 8 StVO) 75 . Nach Sinn und Zweck des § 69 b StGB kommen nur Vorschriften über den Verkehr auf öffentlichen Straßen in Betracht, so daß die §§ 315 und 315 a StGB ausscheiden 76 . Es wurde bereits erwähnt, daß die Fahrerlaubnisentziehung bei einem außerdeutschen Kraftfahrzeugführer gem. § 69 b I StGB nach Abs. 1 Satz 2 der Vorschrift die Wirkung eines Fahrverbots hat. Dies beruht darauf, daß eine wirkliche „Entziehung' der ausländischen Fahrerlaubnis durch ein deutsches Gericht als Eingriff in fremde Hoheitsrechte unzulässig wäre 77 . Das Fahrverbot wird mit der Rechtskraft des Urteils wirksam. Dies ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung von § 69 III Satz 1 StGB, wonach die Fahrerlaubnis mit der Rechtskraft des Urteils erlischt 78 . Es endet mit dem Ablauf der Sperre. Da das Fahrverbot des § 69 b I Satz 2 StGB neben demjenigen nach § 44 StGB steht79, findet die Anrechnungsvorschrift des § 51 V StGB, die ausdrücklich nur den § 44 StGB erwähnt, auf die als Fahrverbot wirkende Fahrerlaubnisentziehung des § 69 b StGB keine analoge Anwendung 80 . Dauer und Beginn des Fahrverbots unterliegen vielmehr allein den Regeln der §§ 69, 69 a StGB. Trotz der in § 69 b I Satz 2 StGB bestimmten Wirkung als Fahrverbot bleibt die Entziehung der Fahrerlaubnis bei einem außerdeutschen Kraftfahrzeugführer nämlich Maßregel mit der Folge, daß sie sich mit dem Gedanken einer „Anrechnung" nicht verträgt 81 . Daraus folgt im übrigen, daß die Vorschrift des § 69 b I Satz 2 StGB über die Wirkung des Fahrverbots bei außerdeutschen Fahrzeugführern keinen Einfluß auf die Formulierung des Urteilstenors hat. Vielmehr ist die Fahrerlaubnis ausdrücklich zu „entziehen". Auf die ohne weiteres sich aus dem Gesetz ergebende rechtliche Wirkung dieser Entziehung ist im Urteilstenor nicht hinzuweisen. Eine Formulierung etwa: „Dem Angeklagten wird für die Dauer von drei Monaten verboten, in der Bundesrepublik Deutschland Kraftfahrzeuge zu führen." wäre unrichtig. Sie würde nicht das an die Verwaltungsbehörde gerichtete Verbot enthalten, innerhalb einer Sperre eine Fahrerlaubnis
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76
77 78 79 80
81
Vgl. DreherjTröndk, StGB, 44. Aufl., §44 Rdn. 15; LK (Rüth) (s. Fn. 72) § 6 9 b Rdn. 5; ähnlich Cramer, Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 69 b StGB Rdn. 2. Vgl. auch Cramer (s. Fn. 75) § 69 b StGB Rdn. 2; Jams^emki (s. Fn. 53) Rdn. 675; a. M. hinsichtlich § 315 StGB Rüth in LK, (s. Fn. 72) § 69 b Rdn. 5. Vgl. Eckhardt DAR 1974, 281. Vgl. BayObLG VRS 24, 280. Vgl. auch SchönkejSchröder (Streu) (s. Fn. 72) § 69 b Rdn. 5. Vgl. LG Köln MDR 1981, 954; Hentschel MDR 1982, 107; SchönkejSchröder (Stree) (s. Fn. 72) § 51 Rdn. 35. Vgl. dazu Himmelreich\Hentschel (s. Fn. 67) Rdn. 106, 111, 147; Hentschel ZRP 1975, 209 (211).
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zu erteilen; sie wäre im übrigen mißverständlich, weil sie zu Verwechslungen mit einem Fahrverbot nach § 44 StGB führen müßte. Auch der Ausspruch, daß dem Angeklagten „für die Bundesrepublik Deutschland einschließlich West-Berlin" die Fahrerlaubnis entzogen werde, enthält Überflüssiges. Richtig formuliert hat der Urteilstenor in Fällen des § 69 b StGB zu lauten: „Dem Angeklagten wird die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen entzogen. Vor Ablauf ... darf keine Fahrerlaubnis erteilt werden." 82 Wurde versehentlich nur die Sperre angeordnet, ohne daß das Urteil einen Ausspruch auch über die Entziehung der Fahrerlaubnis enthält, so ist die Maßregel nicht verhängt, ein Fahrverbot nach § 69 b I Satz 2 StGB also nicht wirksam 83 . Bei dem nach § 69 b II StGB im Falle der Entziehung der Fahrerlaubnis in den ausländischen Fahrausweis einzutragenden Vermerk handelt es sich um eine bloße Vollzugsmaßnahme, die im Urteil nicht ausdrücklich anzuordnen ist; sie wird von der Vollstreckungsbehörde in eigener Verantwortung durchgeführt 84 . Daraus folgt, daß das Wirksamwerden des durch die Entziehung der Fahrerlaubnis begründeten Verbotes, im Inland Kraftfahrzeuge zu führen, nicht etwa vom Zeitpunkt der Eintragung des Vermerks abhängt. Uneinheitlich wird die Frage beantwortet, ob der ausländische Führerschein nach Eintragung des Vermerks sofort an den Verurteilten zurückzugeben ist. So vertreten z. B. Dreher/Trbndle85 die Auffassung, es sei Sache der Vollstreckungsbehörde, ob sie den mit dem Vermerk versehenen Fahrausweis dem Inhaber beläßt oder bis zum Verlassen des Landes einbehält. Nach h. M. dagegen muß der Führerschein dem Verurteilten nach Eintragung des Vermerks unverzüglich wieder ausgehändigt werden 86 . Die allein im Inland Wirkungen entfaltende Maßregel ist durch den Vermerk im Fahrausweis hinreichend deutlich, so daß es der Einbehaltung des Dokuments nicht bedarf, zumal die vom Gesetz vorgesehene Eintragung neben der Einbehaltung des Führerscheins auch kaum sinnvoll wäre. Zum Zwecke der Eintragung des Vermerks kann der ausländische Führerschein beschlagnahmt werden (§ 463 b II StPO). Wie zu verfahren ist, wenn die Beschaffenheit des Fahrausweises die Eintragung eines Vermerks nicht erlaubt, ist in § 56 II Satz 3 StVollstrO geregelt.
82 83 84 85 86
Vgl. hierzu auch Hentschel NJW 1975, 1350. Vgl. OLG Köln VerkMitt. 1981, 46. Vgl. BayObLG NJW 1979, 1788. DreherjTröndk (s. Fn. 75) § 69 b Rdn. 2. Vgl. Schinkel Schröder (Stree) (s. Fn. 72) § 6 9 b Rdn. 6; Fullj Mohl\ Rüth, Straßenverkehrsrecht, zu § 69 b StGB Rdn. 9; Cramer (s. Fn. 75) zu § 69 b StGB Rdn. 4; KleinknechtjMejer, (s. Fn. 65) § 111 a Rdn. 18 für die entsprechende Frage bei der vorläufigen Entziehung.
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3. Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis bei außerdeutschen Kraftfahrzeug!ührern Ein Beschluß nach § 111 a StPO über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis setzt stets das Vorhandensein einer entziehungsfähigen Fahrerlaubnis voraus. Eine entsprechende Anwendung von § 69 a I Satz 3 StGB im Sinne einer vorläufigen Anordnung einer isolierten Sperre ist nicht möglich 87 . Darf der außerdeutsche Fahrzeugführer mit seiner ausländischen Fahrerlaubnis nicht i. S. d. § 69 b StGB am inländischen Kraftfahrzeugverkehr teilnehmen, weil die Voraussetzungen des § 4 I IntVO nicht vorliegen oder die 12-Monatsfrist dieser Bestimmung abgelaufen ist, so kommt — wie bereits ausgeführt wurde — eine Entziehung der Fahrerlaubnis nicht in Betracht. Vielmehr ist nur eine isolierte Sperre anzuordnen. Das hat für die Anwendung des § 111 a StPO die Konsequenz, daß eine vorläufige Maßnahme i. S. dieser Bestimmung in solchen Fällen nicht möglich ist. Wer keine deutsche Fahrerlaubnis hat und die Voraussetzungen des § 4 IntVO nicht erfüllt, besitzt überhaupt keine im Inland gültige Fahrerlaubnis, so daß weder eine vorläufige noch eine „endgültige" Entziehung in Frage kommt. Beantragt daher die Staatsanwaltschaft bei einem Beschuldigten, der mit einem ausländischen Führerschein am Straßenverkehr teilgenommen hat, die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis gem. § 111 a StPO, so hat das Gericht zunächst zu prüfen, ob die Erfordernisse des § 4 1 IntVO (noch) gegeben sind. Ist dies nicht der Fall, so ist der Antrag der Staatsanwaltschaft auf vorläufige Entziehung mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 69 b StGB (für die „endgültige" Entziehung) abzulehnen. Ist der Beschuldigte dagegen — im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag nach § 111 a StPO (nicht nur im Zeitpunkt der Tat!) — berechtigt, mit seiner ausländischen Fahrerlaubnis im Inland fahrerlaubnispflichtige Kraftfahrzeuge zu führen, so ist, wenn die Voraussetzungen für eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis im übrigen vorliegen, diese gem. § 111 a VI Satz 1 StPO im ausländischen Führerschein zu vermerken. Die Eintragung des Vermerks wird als Vollstrekkungsmaßnahme (§ 36 II StPO) von der Staatsanwaltschaft veranlaßt 88 . § 111 a VI Satz 2 StPO erlaubt die Beschlagnahme des ausländischen Fahrausweises bis zur Eintragung des Vermerks. An die Stelle der 87
88
Vgl. LöweIRosenberg (G.Schäfer) (s. Fn. 68) § 111 a Rdn. 8; Kleinknecht\Mejer, (s. Fn. 65) § 111 a Rdn. 1; a. M. LG München I DAR 1956, 249; KMR (Müller), Loseblattkommentar zur Strafprozeßordnung, 7. Aufl., zu § 111 a Rdn. 7; Engel DAR 1984, 108. Vgl. KK (Laufhütte), 2. Aufl., § 111 a Rdn. 19; Löwe)Rosenberg (G. Schäfer) (s. Fn. 68) § 111 a Rdn. 80.
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Rückgabe des ausländischen Führerscheins nach § 111 a V Satz 1 StPO im Falle der Aufhebung der vorläufigen Entziehung tritt die Tilgung des Vermerks im ausländischen Führerschein 89 . VII. Fahrverbot Für die Anordnung eines Fahrverbots als Nebenstrafe bei außerdeutschen Kraftfahrzeugführern enthält § 44 II StGB die gleiche Einschränkung wie § 69 b StGB für die Entziehung der Fahrerlaubnis: Nur bei Verstoß gegen Verkehrsvorschriften ist die Nebenstrafe zulässig. Wie § 69 b StGB findet auch § 44 II StGB mit seiner Beschränkung auf Verkehrsverstöße nur auf solche Täter Anwendung, die die Voraussetzungen des § 4 I IntVO erfüllen. Hinsichtlich des Anwendungsbereichs und der Frage, was unter „Verkehrsvorschriften" zu verstehen ist, wird auf die entsprechenden Ausführungen zur Entziehung der Fahrerlaubnis bei außerdeutschen Kraftfahrzeugführern Bezug genommen. Das Fahrverbot wird in ausländischen Fahrausweisen gem. § 44 III Satz 3 StGB vermerkt. Eine entsprechende Bestimmung enthält § 25 III Satz 1 StVG für das Fahrverbot als Nebenfolge bei Begehung von Verkehrsordnungswidrigkeiten. Zum Zwecke der Eintragung des Vermerks kann der ausländische Fahrausweis beschlagnahmt werden. Dies folgt für die Nebenstrafe des § 44 StGB aus § 463 b II StPO, für die Nebenfolge des § 25 StVG aus dessen Abs. 3 Satz 2. Die Verbotsfrist wird erst von dem Tage an gerechnet, an dem der Vermerk in den ausländischen Fahrausweis eingetragen wird (§ 44IV Satz 1 StGB, § 25 V Satz 1 StVG). VIII. Strafrechtliche Beurteilung der Teilnahme mit ausländischen Führerscheinen am inländischen Kraftfahrzeugverkehr bei Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 4 1 IntVO Nach § 21 I Nr. 1 StVG wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er die dazu erforderlich Fahrerlaubnis nicht hat. Wer keine von einer deutschen Behörde erteilte Fahrerlaubnis besitzt und mit seinem ausländischen Fahrausweis nicht gem. § 4 I IntVO am inländischen Kraftfahrzeugverkehr teilnehmen darf, weil dessen Voraussetzungen nicht oder nicht mehr vorliegen, hat nicht die zum Kraftfahrzeug-Führen 89
Vgl. Löwe!Rosenberg (G. Schäfer) (s. Fn. 68) § 111 a Rdn. 81.
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erforderliche Fahrerlaubnis i. S. d. genannten Bestimmung; d. h. er erfüllt, wenn er gleichwohl fahrerlaubnispflichtige Kraftfahrzeuge führt, den Tatbestand des § 21 I Nr. 1 StVG 90 . Zweifelhaft könnte sein, ob dies auch für die Inhaber eines von einem EG-Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins gilt, weil § 15 I StVZO für sie Erleichterungen beim Erwerb einer deutschen Fahrerlaubnis vorsieht. So entfallen z. B. bei der sog. „Umschreibung" eines EGFührerscheins unter den übrigen Voraussetzungen des § 15 I in einen deutschen Führerschein die Vorschriften über die Unterweisung in Sofortmaßnahmen am Unfallort und die Ausbildung in Erster Hilfe, über den Sehtest, die ärztliche Gesundheitsuntersuchung, über die Prüfung der Beherrschung der Grundzüge der energiesparenden Fahrweise und insbesondere die Vorschrift des § 11 StVZO über die Befahigungsprüfung. Wasmuth91 schließt daraus, daß trotz des Wortlauts des § 21 StVG diese Strafbestimmung auf den Inhaber eines EG-Führerscheins nicht anwendbar sei. Die Strafvorschrift des § 21 StVG wolle nämlich nicht lediglich Ungehorsam kriminalisieren, sondern diene der Verhütung von Gefahren, die von Personen ausgehen, deren Eignung und Befähigung zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht durch den Besitz eines gültigen Führerscheins nachgewiesen sei 92 . Eine entsprechende Besorgnis liege jedoch bei Inhabern gültiger EG-Führerscheine nicht vor, wie die Tatsache zeige, daß diese unter den erleichterten Voraussetzungen des § 15 I StVZO ohne weiteres einen Anspruch auf Erteilung einer inländischen Fahrerlaubnis hätten. Das Erfordernis der „Umschreibung" nach § 15 I StVZO habe lediglich ordnungspolitischen Charakter und diene nicht der Sicherheit des Straßenverkehrs. Dies gelte auch für die in § 15 I StVZO enthaltene Einschränkung, wonach der Anspruch auf Umschreibung des ausländischen Führerscheins nur für eine Frist von drei Jahren ab Begründung eines ständigen Aufenthalts im Inland bestehe. Dieser Auffassung hat das OLG Stuttgart 93 mit Recht widersprochen. Entgegen der geschilderten Auffassung verfolgen die Vorschriften der §§ 4 IntVO, 15 StVZO nämlich durchaus Interessen der Verkehrssicherheit 931 . Es ist zwar zutreffend, daß ein genereller Nachweis der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht Voraussetzung für die Umschreibung des ausländischen Fahrausweises, insbesondere eines
90 51 92 93 93a
Vgl. OLG Karlsruhe NJW 1972, 1633. Wasmuth NZV 1988, 131; 1989, 402. Zu dem durch § 21 StVG geschützten Rechtsgut vgl. auch Seiler, Dissertation (s. Fn. 68) S. 38. OLG Stuttgart NZV 1989, 402; ebenso Janis^ewski (s. Fn. 53) Rdn. 626. Siehe dazu auch oben unter III. 3.
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EG-Führerscheins ist. Der Verzicht hierauf beruht auf einer entsprechenden Vorgabe der EG-Führerscheinrichtlinie vom 4. 12.1980 94 . Dies bedeutet indessen nicht etwa, daß ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer deutschen Fahrerlaubnis unter den Voraussetzungen des § 15 StVZO auch dann bestünde, wenn Bedenken gegen die Eignung des Antragstellers vorliegen. § 12 StVZO, wonach die Verwaltungsbehörde die Beibringung eines amts- oder fachärztlichen Gutachtens, des Gutachtens eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers für den Kraftfahrzeugverkehr oder des Gutachters einer amtlich anerkannten medizinisch-psychologischen Untersuchungsstelle fordern kann, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die Eignung des Bewerbers begründen, ist in § 15 StVZO unter den nicht anzuwendenden Vorschriften nicht erwähnt, bleibt also anwendbar 95 . Das steht im übrigen im Einklang mit der ausdrücklichen Regelung in Art. 8 der Ersten EG-Führerscheinrichtlinie, wonach der Mitgliedstaat den Umtausch des Führerscheins in den Fällen verweigern kann, in denen seine innerstaatlichen Rechtsvorschriften einschließlich der medizinischen Normen der Ausstellung eines Führerscheins entgegenstehen. Auch die Fristenregelung des § 15 I StVZO, wonach die Umschreibung auch eines EG-Führerscheins unter den erleichterten Voraussetzungen davon abhängt, daß seit Begründung eines ständigen Aufenthalts bis zum Tage der Antragstellung nicht mehr als drei Jahre verstrichen sind, zeigt, daß ein Verstoß gegen §§ 21 I Nr. 1 StVG, 4 I IntVO durch Teilnahme am fahrerlaubnispflichtigen Fahrzeugverkehr trotz Wegfalls der Voraussetzungen des § 4 I IntVO durch den Inhaber eines EG-Führerscheins keinesfalls als bloßer Formverstoß gewürdigt werden kann. Die Frist von drei Jahren für die Antragstellung nach § 1 5 1 StVZO verfolgt nämlich ebenfalls Sicherheitsinteressen, wie sich ohne weiteres auch der amtlichen Begründung hierzu entnehmen läßt. In der Begründung zur ÄnderungsVO vom 13. 12. 1985 96 heißt es: „ D i e V e r l ä n g e r u n g d e r U m t a u s c h f r i s t g e r a d e u m 2 J a h r e folgt v e r g l e i c h b a r e n , in der S t V Z O g e r e g e l t e n Fällen. D i e S t V Z O g e h t m e h r f a c h d a v o n aus, daß nach 2 J a h r e n o h n e F a h r p r a x i s nicht m e h r v e r m u t e t w e r d e n kann, daß ein F a h r e r l a u b n i s b e w e r b e r die f ü r die T e i l n a h m e a m S t r a ß e n v e r k e h r n o t w e n d i g e n K e n n t n i s s e u n d F ä h i g keiten n o c h besitzt, u n d f o r d e r t d e s h a l b die A b l e g u n g einer vollen F a h r p r ü f u n g . G e g e n die A n w e n d u n g dieses G r u n d s a t z e s a u f den v o r l i e g e n d e n Fall k a n n nicht e i n g e w e n d e t w e r d e n , daß I n h a b e r a u s l ä n d i s c h e r F a h r e r l a u b n i s s e h ä u f i g weiter im Inland n o c h K r a f t f a h r z e u g e f ü h r e n u n d damit ihre F a h r p r a x i s erweitern, da dies als illegales Verhalten n a t u r g e m ä ß nicht zu ihren G u n s t e n b e r ü c k s i c h t i g t w e r d e n k a n n . "
94 95 96
E G - A m t s b l a t t N r . L 3 7 5 S 1 ff. Vgl. B V e r w G V R S 66, 3 0 5 ; Bouska D A R 1983, 134; Offermann-Clas N J W 1987, 3039. V k B l . 1986, 116 ff; a b g e d r u c k t bei Jagusch\Hentschel, S t r a ß e n v e r k e h r s r e c h t , 30. A u f l . , zu § 15 S t V Z O R d n . 1.
Teilnahme am inl. Kraftfahrzeugverkehr mit ausl. Führerscheinen
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Daß es sich bei den Bestimmungen der §§ 4 IntVO, 15 StVZO nicht lediglich um eine ordnungspolitische Regelung handelt, ergibt sich ferner aus § 4 II a) IntVO, wonach eine ausländische Fahrerlaubnis dann nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen im Inland berechtigt, wenn der Inhaber zum Zeitpunkt der Erteilung einen ständigen Aufenthalt im Inland hatte. Diese Bestimmung gilt unstreitig auch für Inhaber von EG-Führerscheinen und wäre insoweit sinnlos, wenn die hier abgelehnte Auffassung zuträfe. Auch die Umschreibungsregelung in § 15 StVZO macht — worauf das OLG Stuttgart hinweist — deutlich, daß eine völlige Gleichstellung einer deutschen mit einer EGFahrerlaubnis nicht gewollt war. Es hätte anderenfalls genügt, lediglich eine deutsche Übersetzung des EG-Führerscheins zu fordern. Ein Verstoß gegen § 4 I Satz 3 IntVO in Verbindung mit § 1 III IntVO, wonach ein nicht in deutscher Sprache abgefaßter Führerschein mit einer durch die dort genannten Institutionen gefertigten Ubersetzung verbunden sein muß, erfüllt nämlich in der Tat nicht den Tatbestand des § 21 I Nr. 1 StVG, sondern lediglich den einer Ordnungswidrigkeit (§§ 10 Nr. 3, 14 Nr. 2 IntVO). Für die Teilnahme am inländischen Kraftfahrzeugverkehr mit EG-Führerscheinen, die hierzu nicht oder nicht mehr berechtigen, hat der Gesetz- oder Verordnunggeber aber eben keinen Ordnungswidrigkeitentatbestand eingeführt, sondern es bei der Strafnorm des § 21 I Nr. 1 StVG belassen.
Die obergerichtliche Rechtsprechung im Dienste der Verkehrssicherheit HORST JANISZEWSKI
I. Einleitung Karlheinz Meyer, dem ich seit der Referendarzeit und unserer gemeinsamen richterlichen Tätigkeit in Berlin-Moabit kollegial und freundschaftlich verbunden war, hat zwar stets großen Wert darauf gelegt, daß seine Entscheidungen nicht nur rechtlich zutreffend waren, damit — wie er einmal bei einem Streitgespräch mit unserem Kammervorsitzenden bemerkte — „Juristen später erkennen könnten, daß die Entscheidung auch von Juristen gemacht worden ist"; sondern er achtete auch stets darauf, daß die formal-juristisch „richtige" Entscheidung auch sinnvoll war und bei verkehrsrechtlichen Fragen zudem den Blick auf die Verkehrssicherheit erkennen ließ. Sein besonderes Interesse an Fragen des Verkehrsstrafrechts war nicht nur an seiner häufigen aktiven Teilnahme an den Goslarer Verkehrsgerichtstagen zu erkennen, wo er wiederholt auch als Arbeitskreisleiter tätig war, sondern ergibt sich noch heute deutlich aus seiner fachkundigen Kommentierung einschlägiger verfahrensrechtlicher Fragen im StPO-Kommentar Kleinknechtj Meyer, soweit sie dort verkehrsrechtlichen Bezug haben. Unter diesem Aspekt könnte ich mir denken, daß es sicher auch seiner Einstellung entsprochen hätte, sich einmal Gedanken darüber zu machen, ob unsere (obergerichtliche) Rechtsprechung tatsächlich immer der Verkehrssicherheit den sicherlich stets gewollten guten Dienst oder unbewußt mitunter einen Bärendienst erweist. Dabei soll die unter diesem Gesichtspunkt hier angestellte Betrachtung nicht etwa als eine Urteilsschelte empfunden werden; dazu besteht in den fraglichen Fällen in aller Regel gar kein Anlaß. Die Entscheidungen sind im allgemeinen rechtstheoretisch absolut vertretbar; doch es fragt sich gelegentlich, ob in dem Bestreben, den Sachverhalt gerecht zu beurteilen, auch stets die möglichen praktischen Konsequenzen genügend beachtet worden sind. Diese Überlegungen sollen deshalb in aller Zurückhaltung nur als ein Denkanstoß, als eine bescheidene Anregung dahin verstanden werden, auch eine formell- und sachlich-rechtlich durchaus als „richtig" anzu-
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sehende Entscheidung vielleicht künftig auch einmal ein wenig mehr mit Blickrichtung auf ihre etwa negative Auswirkung auf die Verkehrssicherheit zu betrachten, die angesichts der zunehmenden Gefährlichkeit keine Schmälerung verträgt. Namentlich nach einer weitreichenden Publizierung unter häufig unterschiedlichen Gesichtspunkten und durch nicht immer sachkundige Publizisten entwickeln Entscheidungen mitunter Wirkungen in Richtungen, die man weder vermutet noch gewollt hatte. Dabei kann es sogar passieren, daß sich der verkehrserzieherische Wert einer Entscheidung geradezu in die entgegengesetzte Richtung verkehrt. Ich will versuchen, dies an einigen Beispielen zu erläutern, wobei sich allerdings zeigen wird, daß mitunter auch die Kommentierungen bestehender Regelungen oder ergangener Entscheidungen negative Entwicklungen begünstigen können und auch der Verordnungsgeber selbst daran nicht immer unschuldig ist.
II. Der Vertrauensgrundsatz Der Vertrauensgrundsatz ist eine der unverzichtbaren Säulen der Funktionsfahigkeit der gesamten Regelung des Verhaltens im Straßenverkehr, insbesondere zur Aufrechterhaltung der Flüssigkeit, Leichtigkeit, Ordnung und Sicherheit der Verkehrsabläufe. Die Benutzung einer entsprechend gekennzeichneten Vorfahrtstraße würde z. B. empfindlich gestört, der dort gewollte flüssige Verkehr u. U. verhindert werden, wenn deren Benutzer nicht grundsätzlich auf die Beachtung ihres Vorranges vertrauen, sondern etwa an jeder Kreuzung, Einmündung oder sonstigen Einfahrt eine Verletzung ihres Vorrechts befürchten und sich dementsprechend verhalten müßten. Der Wirksamkeit des Vertrauensgrundsatzes tut es zwar grundsätzlich wohl keinen Abbruch, daß er inzwischen eine Vielzahl von sinnvollen Einschränkungen erfahren hat; doch ist nicht zu übersehen, daß deren Umfang und insbesondere die oft in ausgeklügelte Details gehenden Voraussetzungen und Umstände selbst für den Verkehrsexperten kaum noch überschaubar, geschweige denn dem Anwender in der Praxis in Bruchteilen von Sekunden gegenwärtig sind 1 . Solche Einschränkungen des Vertrauensgrundsatzes sind zweifellos dort angebracht, wo sie einer nicht vertretbaren und nicht gewollten Ausuferung begegnen sollen. Bedenklich werden sie hingegen, wenn sie verkehrswidrigem Verhalten in einem Maße Rechnung tragen, daß 1
Vgl. hierzu die Übersicht bei Janiszewski, Verkehrsstrafrecht, 3. Auflage, Rdn. 101 ff sowie z. B. BayObLG VM 1989, Nr. 75, S. 67.
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sie schließlich und endlich das eigentlich vorgeschriebene Verhalten ins Gegenteil verkehren oder zur Mißachtung von Verkehrsregeln geradezu ermuntern. Das gilt vor allem dann, wenn die Einschränkung über ihre (im Grunde vielleicht durchaus zu begrüßende) Zielsetzung hinaus auf der anderen Seite letztlich (vermeintliche) Rechte erwachsen läßt, deren Wahrnehmung der Verkehrssicherheit dann entgegenwirken kann. 1. Das Einfahren in die Autobahn So ist z. B. das Vertrauen auf die Beachtung der Regelung des § 18 Abs. 3 StVO, wonach der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn einer Autobahn oder Kraftfahrstraße die Vorfahrt hat, in der Praxis weitgehend ausgehöhlt worden. Jeder Autobahnbenutzer hat es mittlerweile wohl erlebt, daß an Anschlußstellen (mit vorher möglichst erhöhter Geschwindigkeit) rücksichtslos in die durchgehende Fahrbahn, womöglich verbunden mit sofortigem anschließendem Wechsel auf den Überholstreifen eingefahren wird, auch wenn dort ein Vorfahrtsberechtigter herankommt. Schließlich fahrt man ja über sog. „Beschleunigungsstreifen" in die durchgehende Fahrbahn ein, auf der es nach § 42 Abs. 6 Nr. 1 e StVO sogar ausdrücklich2 amtlich erlaubt ist, schneller als auf anderen Fahrstreifen, d. h. auch auf der durchgehenden Fahrbahn, zu fahren. Die Mehrzahl dieser Verkehrsteilnehmer geht aufgrund der einschlägigen Rechtsprechung davon aus, daß der auf dem rechten Fahrstreifen der durchgehenden Fahrbahn herankommende Vorfahrtsberechtigte schließlich nach links auf die Überholspur ausweichen kann, ja mittlerweile muß, um den Einfahrwilligen das beschleunigte Einfahren zu ermöglichen; denn tut er das nicht, obwohl es die Verkehrslage zuläßt, ist er nach der Rechtsprechung für einen eventuellen Unfall zumindest mitverantwortlich; denn nach ihr entspricht das Ausweichen(-Müssen) nach links letztlich dem Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 1 StVO 3 . Zwar wird stets betont, daß der Einfahrende nicht von vornherein damit rechnen dürfe, daß ihm der rechte Fahrstreifen der durchgehenden Fahrbahn tatsächlich überlassen wird, und er vielmehr zu erkennen zu geben habe, daß er die Vorfahrt achten werde 4 . Auch der BGH hat erklärt, daß der Einfahrende das Einfahren unter Beachtung des Vorfahrtsrechts mit größter Vorsicht vorzunehmen hat 5 . Doch auch in der 2 3
4 5
Wenn auch überflüssigerweise: s. Verfasser D A R 1989, 410. Vgl. hierzu O L G e K ö l n V M 1965, Nr. 35, S. 23; Stuttgart V R S 45, 437; s. auch O L G Koblenz D A R 1987, 1 5 8 = V R S 73, 65. Siehe z. B. O L G K ö l n aaO. B G H (Z) S t V E Nr. 39 zu § 18 S t V O = N J W 1986, 1044.
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Kommentarliteratur wird immer wieder hervorgehoben, daß es sogar erwünscht sei, daß die Benutzer der durchgehenden Fahrbahn ausweichen, um einem an der Einfahrstelle Wartenden die Einfahrt zu ermöglichen 6 ; dem Einfahrenden gegenüber sei Rücksicht zu üben, weil dieser ja sonst nicht mit höherer Geschwindigkeit von „Beschleunigungsstreifen" (besser: Einfahrstreifen) in die durchgehende Fahrbahn einfahren kann 7 . Natürlich ist es grundsätzlich wünschenswert, daß sich einfahrende Verkehrsteilnehmer zügig einfädeln und nicht erst am Ende der Einfahrspur anhalten und dann mit geringer Anfahrgeschwindigkeit einfahren und dadurch den schnellen Verkehrsfluß auf der durchgehenden Fahrbahn behindern. Selbstverständlich ist auch im Verkehrsrecht die rücksichtslose Durchsetzung irgendwelcher Vorrechte verpöhnt und der Verordnungsgeber hat deshalb schon 1970 bei der Neukonzipierung der StVO in § 11 Abs. 2 den Grundsatz eingeführt, daß auch derjenige, der sonst nach den Verkehrsregeln weiterfahren darf oder anderweitig Vorrang hat, darauf verzichten muß, wenn es die Verkehrslage erfordert. Doch er hat dabei auch zum Ausdruck gebracht, daß auf einen solchen Verzicht der andere nur vertrauen dürfe, wenn er sich mit dem Verzichtenden verständigt hat (§11 Abs. 2 Halbsatz 2), was bei diesen Einfahr-Fällen in aller Regel gar nicht möglich und daher auch nicht üblich ist. Dieses Einfahrverhalten einer zunehmenden Anzahl von Verkehrsteilnehmern führt an den Einfahrstellen nicht nur zu Unruhe und Unsicherheiten für andere, die sich der Einfahrstelle nähern, sondern es provoziert vor allem Ausweichbewegungen der Vorfahrtberechtigten auch dann, wenn diese untunlich und gefährlich sind. Aus lauter Angst und Vorsorge, daß jemand an der Einfahrstelle in die durchgehende Fahrbahn „hineinschießen" könnte, wird mitunter schon auf weite Entfernungen auf die Überholspur gewechselt, was oft zu gefahrlichen Situationen und Auffahrunfallen führt. Aus der ursprünglich nur für eine bestimmte Konstellation aus verständlichen Gründen vorgesehenen Ausnahme ist „Gewohnheitsrecht" contra legem geworden, wie es z. B. der ADAC mit Recht kritisiert hat 8 . Der BGH hat daraus zwar zivilprozeßrechtlich den Schluß gezogen, daß der sonst übliche Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Auffahrenden für den die Autobahn benutzenden Bevorrechtigten, der auf ein eingefahrenes Fahrzeug auffahrt, dann nicht gilt, wenn der Unfall in einem zeitlich und räumlich engen Zusammenhang mit einem 6 7 8
So z. B. RüthIBerr/Berz, Straßenverkehtsrecht, 2. Auflage, § 18 StVO Rdn. 8. Vgl. JaguschjHentschel, Straßenverkehrsrecht, 30. Auflage, § 18 StVO Rdn. 17. Siehe Motorwelt, Heft 4/1989, S. 68, 69.
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Einfahrbereich erfolgt ist9. Doch ist das nur ein schwacher Trost, wenn man bedenkt, daß im Ergebnis die ursprünglich eindeutige Vorfahrtsregelung des § 18 Abs. 3 StVO im Bewußtsein vieler Kraftfahrer inzwischen derart ausgehöhlt worden ist, daß der Benutzer der durchgehenden Fahrbahn an Einfahrstellen besser daran tut, nicht mehr auf die Beachtung der an sich klaren Regelung der StVO zu vertrauen, wenn er einen Unfall mit späterer Schadensbeteiligung vermeiden will. Da Ausweichmanöver nach links auf die Überholfahrbahn äußerst gefahrlich und nur bei schwachem, übersichtlichem Verkehr vertretbar sind, ist es inzwischen in der Tat ratsamer geworden, die Vorfahrtsregel des § 18 Abs. 3 StVO weitgehend zu vergessen und dem Einfahrwilligen Vorrang zu gewähren, solange sich der Verordnunggeber nicht dazu entschließen sollte, eine eindeutige Regelung zu treffen, wie sie z. B. nach § 10 Abs. 4 StVO-DDR besteht, wonach derartige Ausweichmanöver an Einfahrstellen verboten sind10. Zur Beseitigung des Mißstandes gehörte es m. E. aber auch, die Regelung des § 42 Abs. 6 Nr. 1 e StVO zu überdenken. Die hier ausdrücklich erteilte Erlaubnis zum Schnellerfahren auf den sog. „Beschleunigungsstreifen" als auf der durchgehenden Fahrbahn wird inzwischen weitgehend als eine Aufforderung zur möglichst schnellen (und leider rücksichtslosen) Einfadelung in die durchgehende Fahrbahn mißverstanden. Sie ist verkehrserzieherisch verfehlt und rechtlich überflüssig; denn der Verordnungsgeber ist selbst davon ausgegangen, daß es sich bei der durchgehenden Fahrbahn und dem (besser sogenannten) Einfahr streifen um zwei getrennte Fahrbahnen handelt, so daß das Rechts-Uberholverbot, das nur auf derselben Fahrbahn gilt, hier gar keine Anwendung finden kann11 und es aus diesem Grunde eigentlich gar nicht der besonderen Regelung in § 42 Abs. 6 Nr. 1 e bedurft hätte. Handelte es sich bei beiden Fahrbahnen um dieselbe Fahrbahn, wäre die Regelung in § 18 Abs. 3 über die Vorfahrt auf der durchgehenden Fahrbahn unnötig und unverständlich; § 7 Abs. 5 StVO genügte dann völlig. Durch diese überflüssige Regelung wird lediglich zum Schnellfahren auf den Einfahrstreifen aufgefordert, obwohl statt dessen lieber dem Grundsatz mehr Geltung verschafft werden sollte, daß der Einfahrende unter gar keinen Umständen damit rechnen darf, daß ihm der rechte Fahrstreifen überlassen wird, sondern daß er vielmehr deutlich
9 10
11
VRS 65, 10. Siehe Kommentar zur StVO-DDR, 3. Auflage, Staatsverlag der DDR, 1988, Anm. 4.2 zu § 10. Siehe amtl. Begründung VkBl. 1970, 810, 824; Mühihausjjanis^ewski, StVO, 11. Auflage, § 5 StVO Rdn. 59, 18, Rdn. 10.
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zu erkennen zu geben hat, daß er die Vorfahrt auf der durchgehenden Fahrbahn achten werde, so wie er es auch sonst nach § 8 Abs. 2 StVO in anderen Vorfahrtsfallen gewöhnt ist. 2. Überholen des Linksabbiegers Zur Verbesserung der Sitten auf unseren Straßen trägt es auch kaum bei, wenn den beim Uberholen zunehmenden Unsitten zum Nachteil des sich an sich richtig verhaltenden Abbiegewilligen zu sehr Rechnung getragen wird. Nach § 9 Abs. 1 S. 4, Halbsatz 2 StVO ist die grundsätzlich vorgeschriebene zweite Rückschau unmittelbar vor dem Abbiegen dann nicht nötig, wenn eine Gefahrdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Dementsprechend ist in Rechtsprechung und Literatur bisher auch überwiegend die Ansicht vertreten worden, daß die Pflicht zur zweiten Rückschau jedenfalls dann entfallen könne, wenn der Linksabbieger sich im innerörtlichen Verkehr neben einer in der Fahrbahnmitte befindlichen Fahrstreifenbegrenzung eingeordnet hat und nur unter Mißachtung dieser Fahrstreifenbegrenzung überholt werden könnte12. Die Einhaltung dieser klaren Linie auch bei Status hätte geholfen, der zunehmenden Verlagerung der Mitverantwortung auf den (sonst) ordnungsgemäß Abbiegenden zu begegnen, die schon Mühlhaus vor langem zutreffend als verkehrserzieherisch bedenklich bezeichnet hatte13. Demgegenüber hat aber z. B. das BajObLGu die Ansicht vertreten, daß es erfahrungsgemäß nicht ungewöhnlich sei, daß im Stau befindliche Linksabbieger unter Mißachtung einer Fahrstreifenbegrenzung nach links ausscheren und an dem Stau links vorbei zur Abbiegestelle vorfahren. Dieses Verhalten Nachfolgender müsse daher der vorn eingeordnete Linksabbieger im Rahmen der ihm obliegenden gesteigerten Sorgfaltspflicht in Rechnung stellen. In zivilrechtlicher Hinsicht kann diese Rechtsauffassung zu einer nicht unerheblichen Beteiligung des abbiegewilligen Vordermanns am Unfallschaden führen und andererseits den sich grob verkehrswidrig Verhaltenden nicht genügend beeindrucken; denn sein falsches Verhalten sieht er von der Rechtsprechung offenbar akzeptiert. Im Ergebnis führt dies dazu, daß der sich verkehrsgerecht verhaltende Verkehrsteilnehmer überhaupt nicht mehr auf das (auch) verkehrsrichtige Verhalten 12
13 14
OLG Zweibrücken, VRS 53, 141; OLG Hamm, VRS 46, 462; OLG Stuttgart, VRS 54, 149; Krause DAR 1974, 208; Cramer, Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 9 StVO Rdn. 87; Full\Mihl\Rüth, Straßenverkehrsrecht, 1980, § 9 StVO Rdn. 30. StVO, 8. Aufl., § 9 StVO, Anm. 5 d. VRS 61, 382 mit krit. Anm. Verfasser NStZ 1981, 473.
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der anderen vertrauen darf, was zu einer wohl zu weit gehenden Aushöhlung des Vertrauensgrundsatzes einerseits führt und andererseits dem Verkehrsrowdy die beruhigende Gewißheit verschafft, den Schaden nicht allein tragen zu müssen, wenn sein verkehrswidriges Verhalten zum Unfall führt. 3. Fahren in falscher
Richtung
Ob es der Verkehrssicherheit dient, daß das Befahren des Radwegs einer Vorfahrtstraße entgegen der zugelassenen Fahrtrichtung anders beurteilt worden ist als das Befahren einer Einbahnstraße durch einen Radfahrer entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung, erscheint mir auch zweifelhaft. Der zuständige Zivilsenat des BGH hat mit Urteil vom 6. Oktober 198115 klar und einleuchtend entschieden, daß derjenige, der Einbahnstraßen und diesen zugeordnete Radwege in der gesperrten Richtung befahrt, auch gegenüber aus untergeordneten Straßen einmündenden oder kreuzenden Verkehrsteilnehmern keine Vorfahrt hat; für den Benutzer der untergeordneten Straße bestehe ausnahmsweise lediglich die Pflicht, in zumutbarem Maße auch auf Verkehrsteilnehmer zu achten, die den Radweg in der verbotenen Richtung benutzen. Demgegenüber hat der Vierte Strafsenat des BGH mit Beschluß vom 15. Juli 198616 festgestellt, daß ein Radfahrer auf der Vorfahrtstraße auch dann sein Vorfahrtrecht gegenüber kreuzenden oder einbiegenden Fahrzeugen behält, wenn er den linken von zwei vorhandenen Radwegen benutzt, der nicht nach § 2 Abs. 4 S. 2 StVO auch für die Gegenrichtung freigegeben ist. Der Zivilsenat geht zwar davon aus, daß verkehrswidriges Verhalten des Vorfahrtberechtigten dessen Vorfahrt ganz allgemein nicht stets beseitige; es bedürfe aber der Einschränkung dahin, daß demjenigen eine Vorfahrt nicht zustehe, der auf einer Straße fahrt, die deutlich erkennbar für jeglichen Fahrverkehr gesperrt ist oder, wie das bei Einbahnstraßen der Fall ist, jedenfalls in der befahrenen Richtung nicht dem Verkehr zur Verfügung steht. Sein Recht zur Vorfahrt sei dann begrifflich ausgeschlossen, wenn es schon an einem Recht zum Fahren mangelt. Der Strafsenat war demgegenüber der Meinung, daß die Rechtslage bei der Benutzung einer Einbahnstraße entgegen der zugelassenen Fahrtrichtung nicht vergleichbar sei mit dem von ihm zu beurteilen gewesenen Sachverhalt des Fahrens auf dem linken Radweg einer 15 16
VI ZR 296/79 = VRS 62, 93. 4 StR 192/86 = VM 1986, Nr. 89, S. 73.
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Vorfahrtstraße. Die Verkehrslage für einen Fahrzeugführer, der sich einer Einbahnstraße und damit deutlich erkennbar einer für jeden Fahrverkehr in der gesperrten Richtung nicht zugelassenen Straßenfläche nähert, sei nicht vergleichbar mit der Lage, in der sich ein Verkehrsteilnehmer befindet, der auf eine für beide Fahrtrichtungen freigegebene Vorfahrtstraße zufahrt. Hier müsse der Fahrzeugführer auf den Verkehr in und aus beiden Fahrtrichtungen achten. Für ihn stelle sich die Verkehrslage ähnlich dar wie für einen Wartepflichtigen, der sich einer allgemein dem Verkehr gewidmeten und nur für bestimmte Verkehrsteilnehmer gesperrten Vorfahrtstraße nähert. Er könne in der Regel nicht beurteilen, ob dieser Verkehrsteilnehmer die Vorfahrtstraße erlaubter- oder verbotenerweise benutzt, wie es z. B. auch dann der Fall ist, wenn eine nur für Anliegerverkehr freigegebene Straße oder eine für den Lkw-Verkehr gesperrte Straße u. ä. benutzt wird. Auch diese beiden Entscheidungen sind — jeweils für sich betrachtet — zweifellos einleuchtend und vertretbar. Geht man allerdings davon aus, daß sich die vom Strafsenat entschiedene Situation bereits dann anders darstellen kann, wenn es sich um eine sehr breite Vorfahrtstraße mit womöglich einer Trennung beider Fahrbahnen durch einen breiten Mittelstreifen handelt, so daß jede Fahrbahn (untechnisch, aber praktisch gesehen) für den sie kreuzenden Wartepflichtigen in ihrer jeweiligen Breite letztlich auch wie eine „Einbahnstraße" erscheint. Das wird besonders deutlich, wenn ein beide Fahrbahnen trennender Mittelstreifen mehrere Meter breit und zudem derart bepflanzt ist, daß die andere Fahrbahn bei der Annäherung gar nicht, sondern erst erkennbar ist, wenn man sich auf dem Mittelstreifen befindet. Es dürfte für den Verbraucher schwer einsichtig sein, in solchen Situationen die vom BGH festgestellten feinen Unterschiede nachzuvollziehen. Nähert er sich der ersten Fahrbahn, um sie zu überqueren, wird er sich stets nur auf einen etwa von links auf dem Radweg in der vorgeschriebenen Fahrtrichtung herankommenden Radfahrer einrichten und wohl nicht auf den Gedanken kommen, daß er die Vorfahrt — entsprechend der Ansicht des Strafsenats — auch einem etwa von rechts verkehrswidrig herankommenden Radfahrer einräumen solle; das insbesondere dann nicht, wenn er (nur oder noch) die vergleichbare „Einbahn"-Entscheidung des Zivilsenates vor Augen hat. Es soll — wie eingangs gesagt — hier gar nicht entschieden werden, welcher Meinung der Vorrang gebührt; es geht nur darum darzulegen, daß solche Entscheidungen, die sich in der Praxis unterschiedlich auswirken können, das Verkehrsverhalten des ohnehin durch diffizile Regelungen und Entscheidungen überforderten Kraftfahrers letztlich nicht unbedingt positiv beeinflussen müssen. Es ist insbesondere wohl schwer vorstellbar, daß es einem Fahrlehrer in der Praxis gelingen könnte, diese unterschiedlichen Mei-
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nungen seinen Fahrschülern klarzumachen. Es wäre in der Praxis sicherlich leichter und der Verkehrssicherheit wohl auch dienlicher, wenn auch hier z. B. den Radfahrern mit Unterstützung eindeutiger gerichtlicher Entscheidungen unmißverständlich klargemacht werden würde, daß auch sie sich — und nicht nur hier — an die bestehenden Verkehrsregeln zu halten und dann eben keine Vorfahrt haben, wenn sie die Verkehrsregeln in eklatanter Weise verletzen. Dem die Vorfahrtstraße kreuzenden Verkehrsteilnehmer dürfte unter diesen Umständen nur dann ein Vorwurf gemacht werden können, wenn er trotz des erkannten oder zumindest eindeutig erkennbaren verkehrswidrigen Verhaltens des Radfahrers „drauflosfahrt" und es dadurch zum Unfall kommt. Nur diese — für den Vertrauensgrundsatz übrigens ohnehin ganz allgemein geltende — Beschränkung wäre m. E. akzeptabel.
III. Das Fahrverbot nach § 25 StVG Auch die übertrieben engherzige Zulassung eine Fahrverbots nach § 25 StVG bei grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers dient letztlich nicht der Verkehrssicherheit: Der Gesetzgeber hat das Fahrverbot nach § 25 StVG als eine Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme konzipiert, von der er zur Hebung der Verkehrssicherheit eine hohe verkehrserzieherische Wirkung erwartet hat. Pflichtvergessene Kraftfahrer sollen durch einen nachdrücklichen Anruf zur künftig besseren Beachtung der Verkehrsregeln angehalten werden; ihnen soll dadurch deutlich gemacht werden, was es bedeuten könnte, bei etwaiger Fortsetzung eines nicht unbedeutenden verkehrswidrigen Verhaltens eines Tages vielleicht gänzlich ohne eine Fahrerlaubnis auskommen zu müssen 17 . Alle Erfahrung zeigt denn auch, daß diese Maßnahme im Vorfeld der (noch mehr) gefürchteten Entziehung der Fahrerlaubnis in der Tat eine recht nachhaltige Wirkung entwickelt hat. Diese verkehrserzieherische und verkehrspolitisch günstige Wirkung wird nun aber dadurch weitgehend ausgehöhlt, daß von dieser Maßnahme in der Praxis bei „groben" Pflichtverletzungen nur in sehr zurückhaltender Weise Gebrauch gemacht wird. Das kann für die Verkehrssicherheit wie auch für den einzelnen Betroffenen nachteilig sein, wenn er dadurch nicht rechtzeitig gewarnt, sondern eventuell später ohne jede Vorwarnung sofort mit der ihn wesentlich härter treffenden Entziehung der Fahrerlaubnis überrascht wird. 17
Vgl. BT-Drucksache 5/1319 S. 80.
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Die zurückhaltende Praxis ist auf Entscheidungen der meisten Obergerichte zurückzuführen, die noch immer eine äußerst restriktive Anwendung dieses Instituts bei groben Pflichtverletzungen verlangen, obwohl dies durchaus nicht immer nachvollziehbar ist. Dabei werden oft Anforderungen an die Zulässigkeit eines Fahrverbots bei groben Pflichtverletzungen gestellt, die teilweise übertrieben und durch § 25 StVG letztlich so nicht gedeckt sind. Namentlich bei den besonders häufigen und gefahrlichen Geschwindigkeitsüberschreitungen tut sich die Rechtsprechung äußerst schwer. Selbst bei exorbitant hohen Geschwindigkeitsüberschreitungen, bei denen oft bereits vorsätzliches Handeln naheliegt, werden z. B. zusätzliche Feststellungen darüber verlangt, ob damit eine Gefährdung anderer verbunden war 18 und das oft genug selbst dann, wenn sich die Gefährlichkeit bereits aus den festgestellten örtlichen Verhältnissen von selbst ergibt 19 . Abgesehen davon, daß bei derart hohen Geschwindigkeitsüberschreitungen vor allem innerorts jedenfalls eine abstrakte Gefahrdung in aller Regel vorliegt, wobei es der Betroffene meistens kaum noch in der Hand hat, eine konkrete Gefährdung anderer zu verhindern, ist die (abstrakte oder konkrete) Gefahrdung keine gesetzliche Voraussetzung für die Anordnung eines Fahrbots, sondern allenfalls ein Indiz für das Ausmaß der Verantwortungslosigkeit 20 . Diese Rechtsprechung ist in dieser Form auch nicht durchweg mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu begründen, auf die sich die Gerichte regelmäßig beziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar die Voraussetzungen für die verfassungskonforme Zulässigkeit eines Fahrverbots nach § 25 StVG bei groben Pflichtverletzungen näher festgelegt 21 , doch dabei — richtig verstanden — so weitgehende Anforderungen nicht gestellt. Ausgehend von der Erwägung, daß auch ein kurzbefristetes Fahrverbot besonders lästig und wirtschaftlich folgenreich sein kann, hat es im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit klargestellt, daß ein Fahrverbot bei einem einmaligen VerVgl. z. B. O L G Düsseldorf v. 9. 10. 1986, 5 Ss (OWi) 252/86 - 266/86 I; O L G Stuttgart Z f S 1984, 350; D A R 1985, 124: bei 1 7 3 km/h statt zugelassener 1 0 0 km/h auf Bundesstraße; O L G Hamm V R S 54, 146; Koblenz V R S 60, 422; 64, 226. " Vgl. z. B. Düsseldorf V R S 63, 63: kein Fahrverbot bei 1 7 0 km/h statt zugelassener 80 km/h an Baustelle auf der Autobahn; s. auch O L G Düsseldorf V R S 69, 50: bei 126 km/h statt 50 km/h im Kreuzungsbereich; dazu abl. Stellungnahme Verfasser N S t Z 1986, 108; O L G Düsseldorf V D 1986, 214: 130 km/h statt 50 km/h in Wohnstraße. 20 Vgl. Verfasser in Mühlhaus\Jants%ewski, S t V O , 1 1 . Aufl., § 25 S t V G Rdn. 8 m. w. N. 21 Vgl. N J W 1969, 1623 = V R S 37, 1 6 1 . 18
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kehrsverstoß bei der Mehrzahl der Verkehrsordnungswidrigkeiten nach § 24 StVG zwar keine angemessene, sondern übermäßige Unrechtsfolge wäre. Der gesetzlichen Umschreibung, nach der ein Fahrverbot nur bei grober oder beharrlicher Verletzung der Pflichten eines Kfz-Führers zulässig sein soll, sei aber zu entnehmen, „daß eine einmalige Zuwiderhandlung nur dann zum Anlaß für die Anordnung eines Fahrverbots genommen werden darf, wenn sich der Betroffene besonders verantwortungslos verhalten hat". Mit anderen Worten: Abgesehen von den hier nicht zu behandelnden Fällen der „beharrlichen" Pflichtverletzung darf grundsätzlich auch bei einem einmaligen „groben" Verstoß ein Fahrverbot dann angeordnet werden, wenn sich der Betroffene „besonders verantwortungslos" verhalten hat. An das Vorliegen dieser Voraussetzungen sind mit Rücksicht auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zwar grundsätzlich strenge Anforderungen zu stellen 22 . Es muß sich um gewichtige Pflichtverletzungen handeln, die objektiv als häufige Unfallursachen in Betracht kommen und subjektiv mindestens auf grobe Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit zurückgehen 23 . Dabei wird man aber überlegen müssen, ob an diese Voraussetzungen heutzutage in Anbetracht der zunehmenden Gefährlichkeit des Straßenverkehrs nicht mittlerweile geringere Anforderungen zu stellen sind als vor 20 Jahren, als sich das Bundesverfassungsgericht mit dieser Problematik befaßt hat. Es ist nicht auszuschließen, daß auch das Bundesverfassungsgericht unter den veränderten Verhältnissen die Frage, wann ein „besonders verantwortungsloses" Verhalten vorliegt, jetzt großzügiger als damals beurteilen würde, nachdem es inzwischen selbst — wenn auch in anderem Zusammenhang — auf die mit zunehmender Geschwindigkeit wachsenden Gefahren im Straßenverkehr hingewiesen hat 24 . Besonders nämlich die Raserei auf unseren Straßen ist mittlerweile zu einem solchen Schwerpunkt im Unfallgeschehen geworden, daß sich z. B. das Land Nordrhein-Westfalen erst vor kurzem genötigt gesehen hatte, einen Gesetzesantrag im Bundesrat einzubringen, nach dem zu schnelles Fahren im Rahmen des § 3 1 5 c StGB unter Vergehensstrafe gestellt werden sollte. Dieses Unternehmen ist zwar gescheitert; es zeigt aber, welche Bedeutung verantwortliche Stellen diesem Phänomen beimessen. Auch der Bundesrat hat deshalb den Gesetzgeber aufgefordert zu prüfen, ob und wie diesem Phänomen nicht doch durch eine geeignete Ergänzung des § 315 c StGB entspro-
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24
Vgl. OLG Stuttgart DAR 1985, 124. Vgl. amtl. Begründung BT-Drucksache V/1319, S. 90; OLG Koblenz, VRS 57, 55; 60, 47 und 422. BVerfG VRS 56, 401, 409.
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chen werden kann 25 . Und während inzwischen der Verordnungsgeber in der allgemein verbindlichen neuen Bußgeldkatalog-Verordnung einige nach seiner Ansicht besonders verantwortungslose Verhaltensweisen aufgeführt hat, bei denen ein Fahrverbot „in der Regel in Betracht kommt", wird auch insoweit der Gesetzgeber aufgrund einer weiteren Entschließung des Bundesrats prüfen müssen, ob nicht die Fälle der Bußgeldkatalog-Verordnung und/oder weitere Fälle als Regelfahrverbotsfälle in § 25 StVG einzustellen sind 26 . Derartige gesetzgeberische Schritte würden allerdings wohl entbehrlich sein, wenn die obergerichtliche Rechtsprechung die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mindestens im Lichte der gefahrlicher gewordenen Verkehrs Verhältnisse auf unseren Straßen 27 nicht so übertrieben eng auslegen und das Tatbestandsmerkmal „grob" in § 25 StVG generell zusätzlich als „besonders grob und gefahrlich" betrachten würde. In der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung bahnt sich denn inzwischen auch schon eine Abkehr von der übertrieben einschränkenden Auslegung dieses Begriffs an. So hat z. B. zunächst das OLG Stuttgart28 festgestellt, daß auch die Anordnung eines Fahrverbots bei einmaliger Geschwindigkeitsüberschreitung nicht immer voraussetzt, daß gefahrerhöhende Umstände vorliegen 29 ; das sei insbesondere der Fall, wenn vorsätzlich eine nicht nur erhebliche, sondern ungewöhnlich hohe Geschwindigkeitsüberschreitung begangen worden ist. Das Verhalten des Betroffenen, der bei durchschnittlichem Abendverkehr auf der Autobahn 188 km/h statt zugelassener 100 km/h gefahren war, sei auch außerhalb geschlossener Ortschaften „besonders verantwortungslos" i. S. der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, da dadurch ohne weiteres eine erhöhte abstrakte Gefahr für andere geschaffen worden sei, zumal diese sich in der Regel auf eine so ungewöhnliche Pflichtverletzung nicht durchweg einstellen. — Ähnlich entschied das OLG Köln30 im Falle einer innerorts vorsätzlich um fast 100% überschrittenen Geschwindigkeit (94 statt 50 km/h); in einem solchen Falle bedürfe es — auch bei Zugrundelegung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts — für die Annahme „besonderer Verantwortungslosigkeit" keiner näheren Feststellungen der Verkehrssituation, was abschließend auch das Bundesverfassungsgericht in dieser
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Vgl. BR-Drucksache 227/89, Beschluß. Vgl. BR-Drucksache 140/89, Beschluß, sowie die entsprechenden früheren Bemühungen des Gesetzgebers in BT-Drucksache V/1319, S. 90; BT-Drucksache 7/1618. S. dazu auch Saiger, BA Sonderdruck Januar 1990. Mit Beschluß vom 3. 6. 1986, 1 Ss 347/86 = VRS 71, 297. Siehe dazu auch Verfasser in NStZ 1986, 108. Mit Beschluß vom 20. 3. 1987, Ss 57/87 = VRS 72, 453 = StVE § 25 StVG Nr. 10.
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Form gar nicht verlangt habe. Im übrigen komme ein besonders verantwortungsloses Verhalten jedenfalls bei den im Bußgeldkatalog (alter Art) aufgeführten „Regel-Fällen" in Betracht, die insoweit eine Ausprägung der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze darstellten. Im übrigen, so ergänzt das OLG Köln3i, setze „besondere Verantwortungslosigkeit" nicht stets eine vorsätzliche Begehung voraus; eine (ausreichende) abstrakte Gefährlichkeit liege bei erheblicher Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts ohnehin auf der Hand. — Zusätzlicher derartiger Feststellungen könne es schließlich nach einer Entscheidung des OLG Hamm32 zwar möglicherweise bei einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung bedürfen; die vorsätzliche Überschreitung der Geschwindigkeit innerorts um 47 km/h sei indessen, insbesondere bei Dunkelheit, für andere Verkehrsteilnehmer stets besonders gefahrlich; bei einer solchen „Raserei" überlasse es der Betroffene weitgehend dem Zufall, ob es zu einem Unfall kommt oder nicht 33 . Diese Entwicklung in der Rechtsprechung läßt hoffen, daß das Fahrverbot auch ohne das erwähnte Eingreifen des Gesetzgebers namentlich in dem besonders bedeutsamen, weil besonders häufigen und gefährlichen Bereich zu schnellen Fahrens, zu seiner eigentlichen Aufgabe zurückgeführt wird. Es wäre auch hilfreich, wenn auch das Bundesverfassungsgericht bei nächster Gelegenheit seine früheren Grundsätze im Lichte der veränderten Verkehrsverhältnisse erneut überprüfen und im Interesse der Verkehrssicherheit in einem etwas großzügigeren Sinne neu konzipieren würde. Daß es dazu wohl in absehbarer Zeit Gelegenheit haben wird, dürfte durch die Konzeption der neuen Bußgeldkatalog-Verordnung einerseits und die Sensibilität der Betroffenen auf der anderen Seite vorprogrammiert sein, obwohl ich meine, daß die — wenn auch verbindlichen — Hinweise auf die bloße Prüfung, ob in bestimmten besonders gefahrlichen Fällen ein Fahrverbot „in Betracht kommt", auch der Verhältnismäßigkeitgrundsatz nicht überdehnt worden ist 34 . Zu überprüfen ist in diesem Zusammenhang wohl auch, ob die inzwischen in der Rechtsprechung recht stereotyp verlangte Prüfung nicht etwas überstrapaziert ist, ob die nötige Einwirkung auf den Betroffenen nicht auch durch eine erhöhte Geldbuße anstelle eines (an sich verwirkten) Fahrverbots zu erreichen ist. Es ist im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel ganz sicher nicht zu beanstanden, wenn — wie es auch das Bundesverfassungsgericht in der 31 32 33 34
Mit Beschluß v o m 2. 6. 1989, Ss 241/89 = N Z V 1989, 362 = V R S 77, 234. V o m 17. 3. 1988, 3 Ss O W i G 86/88 = V R S 75, 58. So auch schon Verfasser im D A R 1970, 85, 86 re. Spalte. Vgl. dazu Verfasser in N J W 1989, 3113.
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genannten Entscheidung weiter gefordert hat — ein Fahrverbot wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kfz-Führers grundsätzlich nur dann zulässig sei, wenn das Ziel der Sanktion, den Betroffenen hinreichend zu beeindrucken, nicht auch mit einem weniger belastenden Eingriff, nämlich mit einer höheren Geldbuße oder im Wiederholungsfall mit einer noch weiter verschärften Geldbuße erreicht werden kann. Diese Forderung findet sich aber mittlerweise einmal geradezu formelhaft in den meisten obergerichtlichen Entscheidungen wieder und hat sich derart eingebürgert, daß sie selbst schon dann einmal Verwendung gefunden hat, als der Amtsrichter die bei der unterstellten fahrlässigen Begehung bei 500 DM liegende Höchstgrenze der Geldbuße bereits überschritten hatte 35 . Zum anderen kann es ohnehin bei höheren Geldbußen mitunter zweifelhaft sein, ob eine weitere Erhöhung — soweit zulässig — tatsächlich angebracht ist. Wann eine Geldbuße „empfindlich" ist, kann nicht allgemein entschieden werden, sondern richtet sich nach den Verhältnissen des Einzelfalles; für einen wohlhabenden Betroffenen kann möglicherweise nicht einmal das im Fahrlässigkeitsfall 500 DM betragende Höchstmaß empfindlich sein, während umgekehrt einen Minderbemittelten, z. B. Studenten oder Lehrling, schon eine wesentlich geringere Geldbuße empfindlich treffen kann, so daß bei letzterem ein Fahrverbot im Falle eines besonders verantwortungslosen Verhaltens sicher sehr viel eher einsetzen kann 36 . Diese dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Regulativ dienende Voraussetzung ist zwar sicher besonders im Hinblick auf die „ultima-ratio-Funktion" des Fahrverbots unentbehrlich. Eine entsprechende Prüfung ist deshalb auch grundsätzlich bei den in der Bußgeldkatalog-Verordnung jetzt neuerdings für ein Fahrverbot „in der Regel" in Betracht kommenden Fällen vorzunehmen. Das sollte aber nicht weiterhin zu einer bloß floskelhaften und damit letztlich leeren und mitunter ungerechtfertigten Verwendung führen. Im übrigen wird diese Frage ohnehin in den meisten Regelfallen der ab 1. 1. 1990 geltenden Bußgeldkatalog-Verordnung an Bedeutung verlieren, weil dort die (verbindliche) Geldbuße, neben der ein Fahrverbot „in Betracht kommen" könnte, bei Fahrlässigkeitstaten meistens bereits in der Nähe der zulässigen Höchstgrenze liegt, die dann, jedenfalls nicht in maßgeblicher Weise, in der Regel kaum noch erhöht werden kann. Selbstverständlich soll mit diesen Bemerkungen nicht etwa zu rigoroser Anordnung des Fahrverbots aufgerufen werden, schon gar nicht in Fällen, in denen es tatsächlich nicht angebracht oder unverhältnis35 36
Siehe Verfasser NStZ 1982, 372. Vgl. OLG Hamm VRS 57, 301; OLG Düsseldorf VRS 69, 49.
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mäßig ist. Namentlich bei Berufskraftfahrern könnte ihm eine etwa unverhältnismäßig erscheinende wirtschaftliche Auswirkung durch eine nicht zu engherzige Beschränkung auf bestimmte Arten genommen werden. Es darf auch sonst nicht etwa schematisch ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalles angeordnet werden; denn dann würde es auch seiner im Vordergrund stehenden spezialpräventiven Aufgabe im Einzelfall nicht entsprechen, die es ja gerade auf die persönlichen Verhältnisse und jeweiligen Umstände des Einzelfalles abstellt. Es ist aber wiederholt mit Recht eine zu zaghafte Anwendung des Fahrverbots bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen kritisiert worden, weil dadurch diese an sich gute Abwehrmaßnahme gegen grobe und immer wieder begangene gefahrliche Verstöße letztlich ihren guten Zweck verliert 37 . Da auch in der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung — wie gezeigt — inzwischen die Kritik an der bisherigen zu restriktiven Rechtsprechung zugenommen hat, fühlte ich mich ermutigt, auch an dieser Stelle erneut auf diese Problematik hinzuweisen. Hielte die zu restriktive Anwendung an, wäre wohl ein Eingreifen des Gesetzgebers entsprechend der erwähnten Prüfungsempfehlung des Bundesrats unvermeidlich.
IV. Schlußbemerkung Die kritisch beleuchtenden Entscheidungen, die noch vermehrt werden könnten, sind selbstverständlich durchweg von dem Gedanken getragen, Gerechtigkeit zu üben. Diese Anmerkungen sollten denn auch nur dazu anregen, vielleicht ein wenig mehr den Blick auch darauf zu richten, ob und wie durch diese nachdrücklichere Verkehrserziehung, die der Rechtsprechung auch obliegt, auch die Verkehrssicherheit wirksamer gefördert und verbessert werden kann. Das ist sicher nicht durch eine weitere Aufweichung des Vertrauensgrundsatzes und eine damit evtl. verbundene Ermunterung der Störer zu verkehrswidrigem Verhalten oder durch eine unangemessene Anwendung der Reaktionsmöglichkeiten zu erreichen.
37
Vgl. z. B. Hentschel in Jagusch\Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 30. Aufl., § 25 StVG Rdn. 15 b; ders., NJW 1983, 1650; ebenso Mohl DAR 1970, 1; Rüth DAR 1970, 260; Ortner DAR 1985, 344; Entschließung des 22. Deutschen Verkehrsgerichtstages; Verfasser in NStZ 1982, 372 und 1986, 108; 1987, 114, 272; 1988, 265.
Teil IV Bibliographie
Verzeichnis der Schriften von Karlheinz Meyer* I. Monographien und Kommentare 1. Löwe-Rosenberg, Strafprozeßordnung (22. Auflage 1973), Kommentierung der §§ 333 bis 358 StPO 2. Löwe-Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz (23. Auflage 1976), Kommentierung: — §§ 48 bis 71 StPO (3. Lieferung: Mai 1976) — §§ 72 bis 93 StPO (2. Lieferung: Dezember 1975) — §§ 94 bis 111 n StGB (4. Lieferung: Mai 1976) — §§ 132 a bis 136 a StPO (5. Lieferung: Mai 1976) — §§ 333 bis 373 a StPO (14. Lieferung: August 1977) 3. Erbs-Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, u. a. — Abgabenordnung (AO 1977): Kommentierung der §§ 369 bis 411 (Stand: 1. 6. 1983) — Gesetz über die Führung akademischer Grade (Stand vom 1. 10. 1986) — Gesetz über eine Altersstufe für Landwirte (Stand vom 1. 1. 1981) — auszugsweise — — Angestelltenversicherungsgesetz (Stand vom 15. 12. 1986) — auszugsweise — — Gesetz über das Asylverfahren (Stand vom 1. 5. 1988) — Allgemeines Eisenbahngesetz (Stand vom 1. 6. 1985) — auszugsweise — — Gesetz über Fernmeldeanlagen (Stand vom 1.7. 1988) — Güterkraftverkehrsgesetz (Stand vom 1. 12. 1987) — Reichsknappschaftsgesetz (Stand vom 15. 12. 1986) — auszugsweise — — Gesetz über die Pflichtversicherung für Kraftfahrzeughalter (Stand vom 1. 2. 1986) — auszugsweise — — Luftverkehrsgesetz (Stand vom 1.1. 1987) — Gesetz über Ordnungswidrigkeiten: Kommentierung der §§ 111 bis 131 (Stand vom 1. 2. 1987) — Paßgesetz (Stand vom 1.11. 1988) * Zusammengestellt von Klaus
Geppert
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4.
5. 6. 7. 8.
Verzeichnis der Schriften von Karlheinz Meyer
— Gesetz über das Postwesen (Stand vom 1. 10. 1983) — Rechtsberatungsgesetz (Starrd vom 1. 10. 1985) — Rennwett- und Lotteriegesetz (Stand vom 1. 3. 1988) — auszugsweise — — Steuerberatungsgesetz (Stand vom 1.2. 1981) — auszugsweise — — Gesetz über Titel, Orden und Ehrenzeichen (Stand vom 1. 12. 1986) — Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote (Stand vom 1. 3. 1988) — Vereinsgesetz (Stand vom 1. 7. 1980) — Versammlungsgesetz (Stand vom 1.1. 1986) — Reichsversicherungsordnung (Stand vom 1.1. 1987) — auszugsweise — — Wirtschaftsstrafgesetz 1954 (Stand vom 1.1. 1987) — Zollgesetz (Stand vom 1.1. 1984) Kleinknecht\Meyer, Strafprozeßordnung, Gerichtsverfassungsgesetz, Nebengesetze und ergänzende Bestimmungen. Erläutert von Theodor Kleinknecht, fortgeführt von Karlheinz Meyer (36. Auflage 1983) — 37. Auflage 1985 — 38. Auflage 1987 — 39. Auflage 1989 (posthum veröffentlicht) Alsberg/ Nüse / Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß (5. Auflage 1983) Demonstrations- und Versammlungsrecht (1984) — 2. Auflage 1986 Personenbeförderungsrecht (1986) „Münchener Rechtslexikon" (diverse Stichwörter) II. Beiträge in Festschriften
9. Zur Anfechtung der durch Vollzug erledigten Maßnahmen der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren. Festschrift für Karl Schäfer (1980), S. 119 ff 10. Zur Beweisaufnahme über die Unfallstelle in Verkehrsstrafsachen; Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Bundes gegen Alkohol im Straßenverkehr e.V. — Landessektion Berlin (1982), S. 111 ff 11. Wiederaufnahmeanträge mit bisher zurückgehaltenem Tatsachenvortrag. In: Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren — Festgabe für Karl Peters aus Anlaß seines 80. Geburtstages (1984), S. 387 ff
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12. Notwendigkeit und Grenzen der Heilung von Grundrechtsverletzungen durch die Strafgerichte. In: Strafverfahren im Rechtsstaat. Festschrift für Theodor Kleinknecht (1985), S. 267 ff 13. Grenzen der Unschuldsvermutung. In: Festschrift für Herbert Tröndle (1989), S. 61 ff
III. Zeitschriftenaufsätze 14. Die Ablehnung von Beweisanträgen auf Anhörung weiterer Sachverständiger im Strafverfahren; NJW 1958, S. 616 ff 15. Die Anfechtung der Auslagenentscheidung nach §467 Abs. 2 StPO; JR 1960, S. 84 ff 16. Gefangenenbriefe mit strafbarem Inhalt; MDR 1964, 724 ff 17. Entsprechende Anwendung des § 265 Abs. 1 StPO bei veränderter Sachlage? GA 1965, S. 257 ff 18. Zur Anfechtung der Kosten- und Auslagenentscheidung nach § 464 Abs. 3 Satz 1 StPO; JR 1971, 96 ff 19. Postgeheimnis und Beförderung von Postsendungen mit strafbarem Inhalt; JR 1972, S. 188 ff 20. Das „Schöffenwahl-Urteil" des BGH; NJW 1984, S. 2839; NJW 1984, S. 2805.
IV. Entscheidungsanmerkungen 21. OLG Saarbrücken NJW 1964, S. 1534 (Notanwalt im Klageerzwingungsverfahren); NJW 1964, S. 1972 f 22. OLG Hamburg (Beanstandung von Gefangenenbriefen beleidigenden Inhalts); JR 1965, 394 f 23. OLG Hamburg (Folge der Nichtbelehrung des Angeklagten nach § 243 Abs. 4 StPO n. F.); JR 1966, S. 308 ff 24. BGH (Verwertbarkeit des teilweisen Schweigens des Angeklagten bei der freien Beweiswürdigung); JR 1966, S. 352 f 25. OLG Hamburg (Folge der Nichtbelehrung des Angeklagten nach § 243 Abs. 4 StPO n. F.); JR 1967, S. 307 ff 26. OLG Hamburg (wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO); JR 1968, S. 470 f 27. OLG Hamburg (Verkürzung der Frist des § 121 Abs. 1 StPO durch den Richter); JR 1969, S. 69 f 28. OLG Celle N J W 1970, S. 721 (Beachtung der Verjährung im Zulassungsverfahren nach § 80 OWiG); NJW 1970, S. 1337 f
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29. BGH (zur Bedeutung der Neufassung des § 26 StGB); JR 1970, S. 347 f 30. BayObLG (zur Frage des Vorfahrtsverzichts bei Verkehrsstockungen); JR 1971, S. 32 f 31. BGH (Postbeschlagnahme unzüchtiger Schriften im selbständigen Einziehungsverfahren); JR 1971, S. 161 ff 32. OLG Hamm (Anwendung des § 265 StPO bei § 37 StGB); JR 1971, S. 518 f 33. BayObLG (Geltung des § 43 Abs. 2 StPO für richterliche Fristen); JR 1972, S. 72 f 34. BGH (Zulässigkeit der Rechtsmittelbeschränkung bei Unfall und Unfallflucht); JR 1972, S. 203 ff 35. BGH (Einziehung von Sicherungseigentum); JR 1972, S. 385 f 36. LG Heidelberg (Kostenentscheidung beim Teilfreispruch); JR 1973, S. 26 f 37. BGH (Berücksichtigung eines eingestellten Verfahrens bei der Strafzumessung); JR 1973, S. 291 ff 38. BGH (Einziehung der Anwartschaft statt des nicht einziehbaren Vollrechts nach § 40 StGB); JR 1973, S. 338 39. OLG Karlsruhe (Verwertungsverbot bei unter Verletzung des Postgeheimnisses gewonnenem Beweismaterial); JR 1973 S. 381 f 40. BGH (Kostenentscheidung beim Teilfreispruch); JR 1974, S. 33 ff 41. OLG Koblenz (Kostenentscheidung bei nachträglicher Teilbeschränkung, insbesondere bei Erfolg der auf den Maßregelausspruch beschränkten Berufung); JR 1974, S. 77 ff 42. OLG Hamburg (Kostenentscheidung bei Strafaussetzung nach § 26 StGB in der Beschwerdeinstanz); JR 1974, S. 342 f 43. BayObLG (Behandlung einer Revision als sofortige Beschwerde gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung); JR 1974, S. 386 44. BGH (Unzulässigkeit der allgemeinen Sachrüge, für die der Verteidiger die Verantwortung nicht übernehmen wollte); JR 1974, S. 479 f 45. BayObLG (zum Begriff des „Gesetzes" in § 2 Abs. 3 StGB); JR 1975, S. 69 ff 46. OLG Köln (Stichprobenverfahren beim Inverkehrbringen von Lebensmitteln); JR 1975, S. 124f 47. OLG Karlsruhe (Kostenentscheidung bei teilweise erfolgreichem Rechtsmittel des Angeklagten im Privatklageverfahren); JR 1975, S. 250 f 48. OLG Karlsruhe (Auslagenentscheidung bei Einstellung des Verfahrens nach § 154 StPO); JR 1976, S. 75 f 49. BGH (zum Revisionsgrund der verspäteten Urteilsbegründung); JR 1976, S. 342 f
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50. BayObLG (Kostenentscheidung bei nachträglich beschränktem Rechtsmittel); JR 1976, S. 380 ff 51. OLG Köln (Zeitpunkt des Erlasses eines Beschlusses nach § 349 Abs. 2 StPO); JR 1976, S. 514 ff 52. OLG Köln (Rechtsfolgen des Unterschreitens der gesetzlichen Mindeststrafe); JR 1977, S. 116f 53. BGH (Revisibilität der Verletzung des § 146 StPO); JR 1977, S. 211 ff 54. OLG Karlsruhe (Tateinheit und Verbrauch der Strafklage bei § 129 StGB); JR 1978, S. 34 ff 55. BGH (zur Unzulässigkeit des Bereitstellens von Reserveschöffen); JR 1978, S. 210 ff 56. OLG Hamburg (Anfechtung von Nachtragsbeschlüssen über Kosten und Auslagen); JR 1978, S. 255 f 57. OLG Frankfurt (Verwerfungsurteil nach § 329 StPO bei öffentlicher Ladung); JR 1978, S. 392 ff 58. OLG Hamburg (Einlegen der Revision bei dem Revisionsgericht, bei dem die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Einlegungsfrist beantragt ist); JR 1978, S. 430 ff 59. OLG Celle (zur Wiedereinsetzung nach §§ 329 Abs. 3, 44 StPO bei Fehlerhaftigkeit der Ladung); JR 1979, S. 121 ff 60. BGH (Rechtsfolgen der vom Tatrichter unterlassenen Festsetzung einer Einzelgeldstrafe); JR 1979, S. 386 ff 61 BGH (zur Verweigerung der Entgegennahme mißbräuchlich gestellter Anträge); JR 1980, S. 219 f 62. OLG Karlsruhe (zur Anfechtbarkeit der Kostenentscheidung bei Einstellung nach § 206 a StPO); JR 1981, S. 38 ff 63. OLG München (zur sofortigen Beschwerde gegen die Auslagenentscheidung bei Einstellung nach § 154 StPO); JR 1981, S. 258 ff 64. BGH (Unerreichbarkeit nicht preisgegebener V-Leute); JR 1981, S. 477 ff 65. OLG Celle (zum Wechsel von Berufung zur Revision nach zunächst unbenannter Anfechtung); JR 1982, S. 38 ff 66. OLG Stuttgart (zur Protokollerklärung einer nachträglichen Begründung der Sachrüge); JR 1982, S. 167 ff 67. BGH (zum Schlechterstellungsverbot bei Beschlüssen nach § 268 a StPO); JR 1982, S. 338 f 68. OLG Hamm (zur Gleichstellung des Säumigen mit dem Nichtsäumigen bei § 329 Abs. 3 StPO); NStZ 1982, S. 521 ff 69. BGH (Nachweis der Verschleppungsabsicht bei Beweisanträgen); JR 1983, S. 35 ff 70. LG Nürnberg-Fürth (zur Zurücknahme des Eröffnungsbeschlusses wegen Wegfalls des hinreichenden Tatverdachts); JR 1983, S. 257 ff
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71. BGH (zur entsprechenden Anwendung des § 348 StPO); JR 1983, S. 343 ff 72. BGH (Verwertungsverbot bei Verstoß gegen § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO); NStZ 1983, S. 565 ff 73. LG Köln (zur Anwendung des § 307 Abs. 2 StPO bei Beschlüssen nach § 111 a StPO); ZfS 1984, S. 29 ff 74. BGH (Begründung eines die Beweiserhebung wegen Unerreichbarkeit ablehnenden Beschlusses); JR 1984, S. 129 f 75. BGH (zur Begründung der Revisionsrüge der Nichteinhaltung der Wahrunterstellung); JR 1984, S. 171 ff 76. OLG Celle (Zuständigkeit bei Anfechtung von Sperrerklärungen des Innenministers); JR 1984, S. 297 ff 77. OLG Karlsruhe (Ladung des Angeklagten bei Unterbrechung der Hauptverhandlung); JR 1985, S. 31 f 78. BGH (zur Verschleppungsabsicht beim Beweisantrag); JR 1985, S. 35 f 79. BGH (Folgen tatprovozierenden Verhaltens polizeilicher Lockspitzel); NStZ 1985, S. 134 f 80. OLG Hamburg (zum Ausschluß der Beschwerde nach § 305 StPO gegen Ablehnung der Beschlagnahme); JR 1985, S. 300 f 81. OLG Karlsruhe (zur entsprechenden Anwendung des § 6a StPO); JR 1985, S. 522 f 82. OLG Hamburg (Beweisverbot bei unbefugter Mitteilung von Angaben eines Asylbewerbers nach § 8 AsylVfG); JR 1986, S. 167 ff 83. OLG Frankfurt (zur Wiedereinsetzung bei Berufungsverwerfung trotz fehlender Ladung); NStZ 1986, S. 279 ff 84. BGH (Urteilszustellung nach § 316 Abs. 2 StPO als Prozeßhindernis?); JR 1986, S. 300 ff 85. BGH (heimliches Gewinnen von Sprechproben); JR 1987, S. 212 ff 86. BGH (zur Verlesbarkeit schriftlicher Erklärungen des die Auskunft nach § 55 StPO Verweigernden); JR 1987, S. 522 ff 87. BGH (Angehörige anderer Fachrichtungen als weitere Sachverständige); NStZ 1988, S. 85 ff 88. BGH (zur Zuständigkeit bei Verbindung nach § 237 StPO); JR 1988, S. 385 ff V. Buchbesprechungen 89. Dürwanger/Dempewolf, Handbuch des Privatklagerechts (3. Auflage); JR 1971, S. 528 90. Pohlmann, Strafvollstreckungsordnung (5. Auflage); JR 1972, S. 312
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91. Frisch, Revisionsrechtliche Probleme der Strafzumessung; JR 1972, S. 443 92. Batereau, Die Schuldspruchberichtigung; JR 1972, S. 529 93. Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung; JR 1973, S. 43 f 94. Joachimski, Betäubungsmittelrecht; JR 1973, S. 88 95. Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens; JR 1973, S. 264 96. Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip; JR 1973, S. 350 f 97. H. Schmidt, Die Vergütung des Strafverteidigers und die Erstattung der Kosten im Strafverfahren; JR 1973, S. 392 f 98. Dahs/Dahs, Die Revision im Strafprozeß; JR 1973, S. 482. 99. Kleinknecht, StPO (31. Auflage); JR 1975, S. 307 100. Dreher, StGB (36. Auflage); JR 1976, S. 351 101. Holthöfer/Nüse/Franck, Deutsches Lebensmittelrecht Band I (6. Auflage); JR 1976, S. 482 f 102. Jescheck/Dünnebier/Roxin/Tröndle/Peters, Probleme der Strafprozeßreform; GA 1977, S. 29 f 103. Bruns, Strafzumessungsrecht (2. Auflage); JR 1977, S. 44 104. Göhler, OWiG (5. Auflage); GA 1977, S. 348 105. Holthöfer/Nüse/Franck, Deutsches Lebensmittelrecht Band I (5. Lieferung); JR 1977, S. 482 f 106. Meyer/Höver, Zeugen- und Sachverständigenentschädigungsgesetz (14. Auflage); GA 1978, S. 92 f 107. Sulanke, Die Entscheidung bei Zweifeln über das Vorhandensein von Prozeßvoraussetzungen und Prozeßhindernissen im Strafverfahren; JR 1978, S. 263 108. Gössel, Strafverfahrensrecht Band I; GA 1978, S. 376 ff 109. Dreher/Tröndle, StGB (38. Auflage); JR 1979, S. 87 110. Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch (10. Auflage/Lieferungen 1 bis 10); JR 1979, S. 175 f 111. Cornils, Die Fremdrechtsanwendung im Strafrecht; GA 1979, S. 352 f 112. Gössel, Strafverfahrensrecht Band II; GA 1980, S. 73 f 113. Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch (10. Auflage/Lieferungen 11 bis 20); JR 1980, S. 127 f 114. Denninger/Lüderssen, Polizei und Strafprozeß im demokratischen Rechtsstaat; GA 1980, S. 271 f 115. Amelunxen, Die Revision der Staatsanwaltschaft; JR 1980, S. 352 116. Rengier, Die Zeugnis verweigerungsrechte im geltenden und künftigen Strafverfahrensrecht; JR 1980, S. 437 117. Lackner, Strafgesetzbuch (13. Auflage); JR 1980, S. 482
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118. Göhler, OWiG (6. Auflage); JR 1980, S. 526 119. Schumann, Zum Einheitstätersystem des § 14 OWiG; GA 1981, S. 278 f 120. Holthöfer/Nüse/Franck, Deutsches Lebensmittelrecht Band I ( 1 . - 8 . Lieferung); JR 1981, S. 396 121. Schlüchter, Das Strafverfahren; JR 1981, S. 483 f 122. Dreher/Tröndle, StGB (40. Auflage); JR 1981, S. 526 123. Roxin, Strafverfahrensrecht (16. Auflage); GA 1982, S. 93 f 124. Nelles, Kompetenzen und Ausnahmekompetenzen in der Strafprozeßordnung; GA 1982, S. 136f 125. Delvo, Der Lügendetektor im Strafprozeß der USA; JR 1982, S. 439 126. Buchardi/Klempahn/Wetterich, Der Staatsanwalt und sein Arbeitsgebiet; GA 1983, S. 192 127. Amelunxen, Die Berufung in Strafsachen; GA 1983, S. 234 f 128. Tenckhoff, Die Wahrunterstellung im Strafprozeß; GA 1985, S. 374 f 129. Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch (10. Auflage/Lieferungen 21 bis 32); JR 1983, S. 349 f 130. Plewig, Funktion und Rolle des Sachverständigen aus der Sicht des Strafrichters; N J W 1983, S. 2067 f 131. Böhm (Herausgeber), Gewalt oder Recht; JR 1983, S. 482 132. Dreher/Tröndle, StGB (41. Auflage); JR 1984, S. 42 f 133. Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen (5. Auflage); JR 1984, S. 175 134. Meyer/Höver, Zeugen- und Sachverständigenentschädigungsgesetz (15. Auflage); GA 1984, S. 194f 135. Holthöfer/Nüse/Franck, Deutsches Lebensmittelrecht Band I (6. Auflage/Lieferungen 1 bis 9); JR 1984, S. 219 136. Schlüchter, Das Strafverfahren (2. Auflage); JR 1984, S. 263 137. Hetzer, Wahrheitsfindung im Strafprozeß; GA 1984, S. 439 f 138. Kimminich, Grundprobleme des Asylrechts; GA 1985, S. 195 f 139. Amelunxen, Carlo Buonaparte; DRiZ 1985, S. 222 140. Anagnostopoulos, Haftgründe der Tatschwere und der Wiederholungsgefahr (§§ 112 Abs. 3, 112 a StPO); JR 1985, S. 393 144. Greiser, Die gestörte Hauptverhandlung; N J W 1986, S. 1739 145. Dahs/Dahs, Die Revision in Strafsachen (3. Auflage); JR 1986, S. 392 f 146. Blumers/Göggerle, Handbuch des Strafverteidigers und Beraters im Steuerstrafverfahren; GA 1986, S. 427 f 147. Küper, Darf sich der Staat erpressen lassen? N J W 1987, S. 425 148. Wessels, Strafrecht Allgemeiner Teil (16. Auflage), Besonderer Teil 1 (10. Auflage) und Teil 2 (9. Auflage); N J W 1987, 1809
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149. Degener, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen; GA 1987, S. 377 ff 150. Krehl, Die Ermittlung der Tatsachengrundlage zur Bemessung der Tagessatzhöhe bei der Geldstrafe; GA 1987, S. 460 f 151. Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht (9. Auflage); N J W 1987, S. 2804 152. Niemöller, Die Hinweispflicht des Strafrichters bei Abweichungen vom Tatbild der Anklage; N J W 1989, S. 24.