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German Pages 773 [776] Year 2002
Gedächtnisschrift für Dieter Meurer
Gedächtnisschrift für DIETER MEURER herausgegeben von
Eva Graul und Gerhard Wolf
w DE
2002 De Gruyter Recht · Berlin
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Gedächtnisschrift für Dieter Meurer / hrsg. von Eva Graul und Gerhard Wolf. - Berlin : De Gniyter Recht, 2002 ISBN 3-89949-016-9 (De Gruyter Recht) ISBN 3-11-017287-9 (de Gruyter)
© Copyright 2002 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, 49448 Lemförde Druck: G. Heenemann & Co. GmbH, Berlin Bindung: Lüderitz & Bauer Buchgewerbe GmbH, Berlin
Zum Gedenken an DIETER MEURER BRITTA B A N N E N B E R G
KLAUS LÜDERSSEN
AXEL BENNING
LAURENZ LÜTTEKEN
A L F R E D BERGMANN
MATTHIAS MARTIN
WILFRIED BOTTKE
LUTZ MEYER-GOSSNER
FRANK DIETMEIER
GERHARD NIEBERGALL
J Ö R G EISELE
HARRO
GEORG FREUND
HELMUT REMSCHMIDT
OTTO
KLAUS G E P P E R T
CHRISTOPH RENNIG
RAINER GOLLNICK
J O A C H I M RENZIKOWSKI
KARL H E I N Z GÖSSEL
DIETER RÖSSNER
WALTER GRASNICK
KLAUS R O G A L L
EVA G R A U L
H E R O SCHALL
FRITJOF H A F T
U W E SCHEFFLER
MAXIMILIAN HERBERGER
FRIEDRICH-CHRISTIAN
HANS-JOACHIM HIRSCH
BERNHARD SCHROER
DIETER HÜNING
BERND SCHÜNEMANN
GERD HUFFMANN
JOACHIM SCHULZ
MICHAEL KAHLO
D I E T E R STREMPEL
KRISTIAN K Ü H L
A N D R Z E J J . SZWARC
WILFRIED KÜPER
BURKHARD TUSCHLING
GEORG KÜPPER
ULRICH WEBER
W I N R I C H LANGER
EDGAR WEILER
KLAUS L A U B E N T H A L
GERHARD WOLF
SCHROEDER
Inhalt In memoriam Dieter Meurer
XIII
I. Materielles Strafrecht HANS JOACHIM HIRSCH
Handlungs-, Sachverhalts- und Erfolgsunwert
3
W I N R I C H LANGER
Gesetzesanwendung und Straftataufbau
23
BERND SCHÜNEMANN
Unzulänglichkeiten des Fahrlässigkeitsdelikts in der modernen Industriegesellschaft - Eine Bestandsaufnahme -
37
WILFRIED BOTTKE
War Adolf Hitler Täter und Straftäter der Tötungen von Eva Braun und Geli Raubai ? Zugleich Versuch einer Personerörterung
65
EVA G R A U L
Zur Haftung eines (potentiellen) Mittäters für die Vollendung bei Lossagung von der Tat im Vorbereitungsstadium
89
H E R O SCHALL
Strafloses Alltagsverhalten und strafbares Beihilfeunrecht
103
GEORG KÜPPER
Die „Sperrwirkung" strafrechtlicher Tatbestände
123
A N D R Z E J J . SZWARC
Die Disziplinarverantwortlichkeit im Sport aus der Perspektive der Grundsätze der strafrechtlichen Verantwortlichkeit
137
D I E T E R R Ö S S N E R / BRITTA B A N N E N B E R G
Das System der Wiedergutmachung im StGB unter besonderer Berücksichtigung von Auslegung und Anwendung des § 46a StGB
157
νπι
Inhalt
JOACHIM RENZIKOWSKI
Toleranz und die Grenzen des Strafrechts
179
WILFRIED KÜPER
Motiv-Intentionalität und Zweck-Mittel-Relation Zur Analyse der Tötung „aus Habgier"
191
KLAUS LÜDERSSEN
Der Schutz des Embryos und das Problem des naturalistischen Fehlschlusses Skizze einer Zwischenbilanz FRIEDRICH-CHRISTIAN
209
SCHROEDER
Zur Sitzblockade als Drohung mit einem empfindlichen Übel
. .
237
FRITJOF HAFT / JÖRG EISELE
Auswirkungen des § 241a BGB auf das Strafrecht HARRO
245
OTTO
Spielgewinn ohne Spiel Strafrecht als Mittel der Bekämpfung sozial lästiger Verhaltensweisen
263
ULRICH W E B E R
Bemerkungen zum Bundesrats-Entwurf eines GraffitiBekämpfungsgesetzes
283
CHRISTOPH RENNIG
Zum Tatobjekt des § 353d Nr. 3 StGB BERNHARD
291
SCHROER
Erweiterung des Sanktionskatalogs für junge Erwachsene
. . . .
305
KLAUS GEPPERT
Strafrechtliche Gedanken zum Kosovo-Krieg FRANK
315
DIETMEIER
Völkerstrafrecht und deutscher Gesetzgeber Kritische Anmerkungen zum Projekt eines deutschen „Völkerstrafgesetzbuchs"
333
Inhalt
IX
II. Strafverfahrensrecht DIETER STREMPEL
Römisches Streitrecht versus germanisches Friedensrecht Rechtssoziologische Anmerkungen am Beispiel der Mediation . .
347
JOACHIM SCHULZ
Missbrauch des Beweisantragsrechts Bemerkungen zum Dortmunder Fall
355
GEORG FREUND
Beweisverwertungsverbot analog § 252 StPO bei entlastenden Angaben eines Angehörigen? Zugleich eine Besprechung von BGH (10. 2. 2000 - 4 StR 616/99) NJW 2000, 1277
369
H E I N Z GÖSSEL
Uber Beweisverwertung, Beweiswürdigung und Beweisregeln
. .
381
EDGAR WEILER
Beweissichernde Durchsuchung und die Folgen von Verfahrensfehlern
395
LUTZ MEYER-GOSSNER
Wesen und Sinn des beschleunigten Verfahrens nach §§ 417 ff StPO
421
U V E SCHEFFLER
Das beschleunigte Verfahren als ein Akt angewandter Kriminalpolitik
437
KLAUS ROGALL
Das Untersuchungsausschussgesetz des Bundes und seine Bedeutung für das Straf- und Strafverfahrensrecht
449
KLAUS LAUBENTHAL
Gewährung verwaltungsrechtlichen Rechtsschutzes durch den Strafrichter im Verfahren nach §§ 109 ff StVollzG
423
III. Rechtstheorie, Rechtsphilosophie RAINER GOLLNICK
Gerechtigkeit als zu lebender Widerspruch
497
χ
Inhalt
WALTER GRASNICK
Kamele im Recht
513
DIETER HÜNING
Gesetz und Verbindlichkeit Zur Begründung der praktischen Philosophie bei Samuel Pufendorf und Christian Wolff
525
KRISTIAN KÜHL
Verbindungen von (Straf-)Recht und Moral
545
BURKHARD TUSCHLING
„Was ist Recht?" oder Jurist und Philosoph - sprachlos?
557
MICHAEL KAHLO
Wozu heute Rechtswissenschaften lehren und studieren? Überlegungen zur Selbstbehauptung der Jurisprudenz im Zeichen einer an der Freiheit der Person orientierten staatlichen Juristenausbildung
583
IV. Informationsrecht, Rechtsinformatik A X E L BENNING
Internet-Domains Rechtliche Probleme bei Domain-Namen
625
ALFRED BERGMANN
Beweisprobleme bei rechtsgeschäftlichem Handeln im Internet . .
643
MAXIMILIAN HERBERGER
Rechtswissenschaftliche Texte und elektronisches Publizieren Zehn Thesen für die deutsche Diskussion
655
GERHARD WOLF
Lösung von Rechtsfällen mit Hilfe von Computern? Bisher ungenutzte Chancen der Rechtsinformatik
665
Inhalt
XI
V. Interdisziplinäre Beiträge GERT HUFFMANN
Neuropsychiatrisches Kolloquium mit Falldemonstrationen für Mediziner, Psychologen und Juristen an der Philipps-Universität Marburg
687
HELMUT REMSCHMIDT / GERHARD NIEBERGALL / MATTHIAS MARTIN
Gewalthandlungen von Jugendlichen und Heranwachsenden . . .
699
LAURENZ L Ü T T E K E N
„Was du bist, bist du nur durch Verträge" Ein musikhistorisches Motiv und seine Kontexte
721
VI. Schriftenverzeichnis von Dieter Meurer
733
VII. Autorenverzeichnis
757
In memoriam Dieter Meurer Quidquid agis, prudenter agas et respice finem!
Die Schüler und Freunde widmen diese Gedächtnisschrift dem Andenken an Dieter Meurer, dessen früher Tod über den Kreis seiner Familie und engeren Freunde hinaus alle, die ihn kannten, tief getroffen hat. Dieter Meurer starb am 23.12. 2000 im Alter von 57 Jahren. Die Trauer über diesen Verlust ist nach wie vor gegenwärtig. Diese Gedächtnisschrift soll als ehrende Anerkennung und Würdigung seines wissenschaftlichen Werkes einen Beitrag dazu leisten, das Andenken an Dieter Meurer wach und lebendig zu halten. Geboren wurde Dieter Meurer am 11. 8. 1943 in Heimersheim an der Ahr als einziges Kind des Kaufmanns Adolf Meurer und seiner Ehefrau Enka. Seine Schulbildung erhielt er in Köln, wo er 1964 das Abitur machte. Ab dem Sommersemester 1964 studierte er Rechtswissenschaften an der Universität zu Köln, wo er im Juni 1968 das erste juristische Staatsexamen ablegte. Noch während seiner Studienzeit wurde der bekannte Strafrechtslehrer Richard Lange auf Meurer aufmerksam und stellte ihn nach dem ersten Staatsexamen zunächst als wissenschaftliche Hilfskraft und dann als wissenschaftlichen Assistenten am Kriminalwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln ein. Und ohne daß er es recht bemerkte, lenkte ihn sein akademischer Lehrer Richard Lange behutsam zur Hochschullehrerlaufbahn hin. Im November 1969 trat Meurer seinen Referendardienst im OLG-Bezirk Köln an, den er teilweise parallel zu seiner Tätigkeit als wissenschaftliche Hilfskraft Richard Langes versah und im Januar 1973 mit dem zweiten juristischen Staatsexamen abschloß. Während der Referendarzeit stellte er seine Dissertation über das Thema „Fiktion und Strafurteil" fertig und wurde im Dezember 1971 promoviert. Auch nach seinem zweiten Staatsexamen war er weiter als wissenschaftlicher Assistent am Kriminalwissenschaftlichen Institut in Köln tätig, zunächst bei Richard Lange und nach dessen Emeritierung im Jahre 1974 bei dessen Nachfolger Hans Joachim Hirsch. Dort habilitierte er sich im Juni 1978 mit der (unveröffentlichten) Monographie „Systematische Studien zum Prinzip der freien Beweiswürdigung im Strafprozeß" für die Fächer Strafrecht, Strafprozeßrecht, Rechtstheorie und Kriminologie. Bereits kurz darauf, nämlich im Februar 1979, erhielt Meurer den
XIV
In memoriam Dieter Meurer
Ruf auf den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Rechtsphilosophie an der Philipps-Universität Marburg, der er trotz eines ehrenvollen Rufs im Jahre 1985 an die Freie Universität Berlin treu blieb. Der Bezug zur juristischen Praxis war Meurer sehr wichtig, weshalb er zunächst von 1982 bis 1991 im zweiten Hauptamt als Revisionsrichter am OLG Frankfurt/Main tätig war. Dann drängte es ihn in die Tatsacheninstanz, und so wechselte er 1991 an das Landgericht Marburg, wo er bis zu seinem Tod im zweiten Hauptamt als Vorsitzender Richter einer Großen Strafkammer (Wirtschaftsstrafkammer) tätig war. Wenige Wochen vor seinem Tod wurde er zur Wahl eines Richters am Bundesgerichtshof vorgeschlagen. Aber auch in Wissenschaft, Lehre, Forschung und Selbstverwaltung war Meurer überaus engagiert. Die Ergebnisse seines wissenschaftlichen Arbeitens hat er in einer großen Zahl von Beiträgen auf dem Gebiet des Strafrechts und Strafprozeßrechts publiziert. Außerdem hat er fast vierzig Doktorarbeiten und zwei Habilitationen ( G e r h a r d Wolf und Eva Graut) betreut. Auch als Lehrer war Meurer sehr beliebt; seine Vorlesungen waren nicht nur wegen der zahlreichen Verknüpfungen, die er mittels seiner umfangreichen Allgemeinbildung herstellte, sehr interessant, sondern wurden immer auch durch espritreiche Pointen aufgelockert. Zudem hat er zahlreiche studentische Exkursionen durchgeführt, die so beliebt waren, daß stets auch eine große Anzahl „Ehemaliger" teilnahm. Aufgrund seines organisatorischen Talents, seines Engagements und seiner Fähigkeit, andere zu begeistern, ist es Meurer gelungen, die Forschungsstellen für Rechtsinformatik, Pharmarecht und Finanzdienstleistungsrecht zu gründen und zahlreiche Drittmittel einzuwerben. So wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft u.a. die interdisziplinären Projekte „Das Wiedererkennen von Personen" und „NS-Justiz in Hessen" gefördert, und die Volkswagenstiftung hat im November 1999 Sachbeihilfen zu dem Projekt „NS-Justiz in Osterreich" bereitgestellt (im Rahmen dieses Projekts ging die letzte von Meurer veranstaltete Exkursion im März 2000 nach Wien). Außerdem gelang es ihm, die Dr.-Reinfried-Pohl-Stiftung und die Erich-Schulze-Stiftung zu gewinnen, die satzungsgemäß die Philipps-Universität Marburg fördern. Schließlich war Meurer auch in der Selbstverwaltung stets präsent. Zweimal war er Dekan, über zehn Jahre gehörte er dem Konvent der PhilippsUniversität als Listenführer der Hochschulunion an und war Mitglied in verschiedenen Ständigen Ausschüssen; als Vorsitzender des Landesverbandes Hessen im Deutschen Hochschulverband vertrat er lange Jahre hindurch die Interessen seiner Kollegen. Dieter Meurer war ein lebensbejahender, geselliger und humorvoller Mensch. Alle, die das Glück hatten, ihn näher kennenzulernen, werden sich seines heiteren Wesens gerne erinnern. Wir fühlen uns unserem akademi-
In memoriam Dieter Meurer
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sehen Lehrer und Freund über den Tod hinaus verbunden und überreichen als Zeichen des Dankes und der Erinnerung seiner Familie die in dieser Gedächtnisschrift gesammelten Beiträge. Sie dokumentieren zugleich die weit gespannten Arbeitsgebiete und wissenschaftlichen Interessen von Dieter Meurer. Heidelberg und Frankfurt/Oder im Februar 2002
Eva Graul Gerhard Wolf
I. Materielles Strafrecht
Handlungs-, Sachverhalts- und Erfolgsunwert H A N S JOACHIM H I R S C H
I. Einführung und Meinungsstand Der frühe Tod von Dieter Meurer lenkt meinen Blick zurück auf gemeinsame Kölner Jahre. Als ich 1975 die Nachfolge von Richard Lange auf dem Kölner Lehrstuhl antrat, fand ich Meurer dort als Habilitanden meines Vorgängers vor. Er ist bis zum Abschluß des Habilitationsverfahrens im Jahre 1978 bei mir als Assistent tätig gewesen. Köln war bei meiner Ankunft ein Hort der in jenen Jahren ausklingenden kausalen Unrechtslehre. Als WelzelSchüler erschien ich daher zunächst manchem als wissenschaftlicher Störenfried. Erst nach und nach gelang es, das Kölner Umfeld von der personalen Unrechtslehre zu überzeugen. Zahlreiche Gespräche habe ich damals über diese Fragen auch mit Dieter Meurer geführt. Der folgende Beitrag enthält viele Punkte, über die wir gesprochen haben. Die von Welzel zu verschiedenen Bereichen des Allgemeinen Teils entwikkelten Lösungskonzepte haben bekanntlich die Entwicklung von Strafrechtsdogmatik und Strafgesetzgebung erheblich beeinflußt. Die wissenschaftliche Basis dieser Lösungen, die Lehre von der Willenshandlung ungenau zunächst als „finale Handlungslehre" bezeichnet - stößt dagegen zumeist auf Ablehnung. Dem entspricht die Beobachtung, daß die Begriffe „Handlungsunwert" und „Erfolgs- resp. Sachverhaltsunwert" inzwischen zum dogmatischen Standardrepertoire gehören,1 obwohl die meisten Auto-
1 Jescheck/WeigendLehrbuch des Strafrechts Allg. Teil, 5. Aufl, 1996, S. 8, 51 mit Anm. 4; Lackner/Kühl StGB, 24. Aufl, 2001, Vor § 13 Rn 20; Maurachilipf Strafrecht Allg. Teil I, 8. Aufl, 1992, § 19 Rn 17, 37, § 20 Rn 27, § 21 Rn 3; Roxin Strafrecht Allg. Teil, Band 1, 3. Aufl, 1997, § 10 Rn 88 ff; Schmidhäuser Strafrecht Allg. Teil, Studienbuch, 2. Aufl, 1984, 5/38 ff; Schönke/Schröder/Lenckner StGB, 26. Aufl, 2001, Vor § 13 Rn 11, 52, 54/55 f; Syst. Kommentar StGB-Samjo« 5. Aufl, 1989, Anh. § 16 Rn 9 ff; Stratenwerth Strafrecht Allg. Teil I, 4. Aufl, 2000, § 8 Rn 60; Kühl Strafrecht Allg. Teil, 3. Aufl, 2000, § 7 Rn 16; Gropp Strafrecht Allg. Teil, 2. Aufl, 2001, § 3 Rn 31 f; Wessels/Beulke Strafrecht Allg. Teil, 31. Aufl, 2001, Rn 15 u. a. Auch in BGH JZ 1988, 367 ist von Handlungs- und Erfolgsunwert die Rede. Den dogmatischen Nutzen dieser Begriffe bezweifelt dagegen Jakobs Strafrecht Allg. Teil, 2. Aufl, 1991, 6/75 f. Er vertritt zur Handlung eine auf einen präziseren Handlungsbegriff der Sache nach verzichtende Ansicht; vgl Jakobs Der strafrechtliche Handlungsbegriff, 1992, S. 36 ff.
4
Hans Joachim Hirsch
ren von einem anderen Handlungsverständnis ausgehen 2 oder dem H a n d lungsbegriff überhaupt nur eine negative 3 oder gar keine Bedeutung 4 für das Strafrechtssystem einräumen wollen. Welzel verwandte das Begriffspaar „Handlungs- und Erfolgs- resp. Sachverhaltsunwert", u m damit zu verdeutlichen, daß entgegen der im Zeitalter des Naturalismus enstandenen kausalen Unrechtsauffassung nicht die bloße Verursachung des Erfolges (objektiven Sachverhalts) das Unrecht zu erklären vermag, sondern eine willentliche
Verwirklichungshandlung vorliegen
muß, u m einen Bezug zwischen der Person des Täters und dem Erfolg entstehen zu lassen. In der (letzten) 11. Auflage seines Lehrbuchs aus dem Jahre 1969 stellte Welzel seine Sicht der Begriffe wie folgt dar: „Die Rechtsgutsverletzung (der Erfolgsunwert) hat strafrechtlich nur innerhalb einer personal-rechtswidrigen Handlung (innerhalb des Handlungsunwerts) deutung. D e r personale Handlungsunwert
Be-
ist der generelle Unwert aller
strafrechtlichen Delikte. D e r Sachverhaltsunwert
(das verletzte bzw. gefähr-
dete Rechtsgut) ist ein unselbständiges M o m e n t bei zahlreichen Delikten (den Erfolgs- und Gefährdungsdelikten). Der Sachverhaltsunwert kann im konkreten Fall fehlen, ohne daß der Handlungsunwert entfiele, z . B . beim untauglichen Versuch." 5 2 Zumeist geht es um den „Sozialen Handlungsbegriff", wonach Handlung „jede Antwort des Menschen auf eine erkannte oder wenigstens erkennbare Situationsanforderung durch Verwirklichung einer ihm nach seiner Freiheit zu Gebote stehenden Reaktionsmöglichkeit" sein soll (Jescheck/Weigend [Fn 1], S. 223 mwN). Zu diesem sowohl Tun und Unterlassen als auch vorsätzliche und fahrlässige Erfolgsverwirklichung unter Handlungsgesichtspunkten nivellierenden Begriff kritisch im einzelnen: Welzel Das neue Bild des Strafrechtssystems, 4. Aufl, 1961, S. 12 f, und Hirsch ZStW 93 (1981), 831, 851 ff. Seine theoretische Bedeutung erschöpft sich darin, daß er die äußere Grenze der Zurechenbarkeit einer Tat als „Menschenwerk" ergeben soll; vgl Jescheck/Weigend (Fn 1), S. 218 mwN. 3 Indem man in einer negativen Beschreibung versucht, den Handlungsbegriff als das „vermeidbare Nichtvermeiden" des strafrechtlich relevanten Geschehens zu deuten („negativer Handlungsbegriff"); vgl insbesondere Herzberg Die Unterlassung im Strafrecht, 1972, S. 177; ders., JZ 1988, 576ff. Dagegen aber eingehend Roxin (Fn 1), § 8 Rn 34ff. mwN. 4 Jedenfalls soll er nicht dazu taugen, aus ihm die Lösung wichtiger Systemfragen der Verbrechenslehre zu deduzieren. Der personale Unrechtsbegriff erkläre sich unabhängig vom Handlungsbegriff allein aus der Tatbestandswertung. So vor allem Bockelmann/Volk Strafrecht Allg. Teil, 4. Aufl, 1987, S. 48; Schmidhäuser Strafrecht Allg. Teil, Lehrbuch, 2. Aufl, 1975, 7/33; Schönke/Schröder/Lenckner (Fn 1), Vor § 13 Rn 37; so auch früher Roxin ZStW 74 (1962), 515, 548 f (siehe aber noch im folgenden am Ende der Anmerkung). Zu dieser Auffassung gelangen insbesondere alle Vertreter des „sozialen Handlungsbegriffs", da dieser wegen seines nichtssagenden Inhalts nichts für systematische Folgerungen hergibt. Übrigens hat Gallas, von dem die These stammt, daß sich aus dem Handlungsbegriff nichts für wichtige Systemfragen ableiten lasse (vgl ZStW 69 [1955], 1, 14f), die Dinge später anders gesehen und von einem „finalen" Handlungsbegriff ausgehend dogmatische Folgerungen gezogen (vgl FS für Bockelmann, 1979, S. 155, 159, 161). Roxin ([Fn 1], § 8 Rn 44 ff) legt jetzt einen „personalen Handlungsbegriff" zugrunde, der jedoch kaum mehr zu leisten vermag als der „soziale". 5 Welze/ Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl, 1969, S. 62.
Handlungs-, Sachverhalts- und Erfolgsunwert
5
Indem Welzel den „Sachverhaltsunwert (das verletzte bzw. gefährdete Rechtsgut)", d.h. den von ihm auf die Rechtsgutsverletzung beschränkten Erfolgsunwert und die das Rechtsgut gefährdenden objektiven Tatumstände, als „unselbständiges Moment" des Handlungsunwerts bezeichnete, war er also der Auffassung, daß der Sachverhaltsunwert mit zum Handlungsunwert gehört. Dies wird auch durch seine Analyse der Handlung als finale (genauer: willentliche) Verwirklichungshandlung bestätigt. Er schrieb: „Gemäß der gedanklichen Vorwegnahme des Zieles (und) der Auswahl der Mittel ... verwirklicht der Handelnde seine Handlung in der Realwelt." Der Wille gehöre „als integrierender Faktor zur Handlung hinzu", „da und soweit er das äußere Geschehen objektiv gestaltet". Die Handlung sei eine „Einheit von objektiven und ... subjektiven Momenten". Der „Grundfehler der kausalen Handlungslehre" sei, daß sie die Handlung in einem „bloßen (von einem beliebigen Willensakt ausgelösten) Kausalvorgang" sehe und dabei die konstitutive Funktion, die der steuernde Wille in der Handlung habe, verkenne.6 Ihm ging es bei der Auseinandersetzung mit der kausalen Handlungslehre eben nicht darum, den Erfolg von der Handlung abzutrennen, sondern er wollte aufzeigen, daß es außer der objektiven Seite auf den auf sie gerichteten Verwirklichungswillen ankommt.7 Dementsprechend konnte er mit dem Blick auf den objektiven Unrechtstatbestand feststellen, daß er der „gegenständlich-reale Kern eines jeden Delikts" sei. Verbrechen sei „ja nicht lediglich böser Wille, sondern der sich in einer Tat verwirklichende böse Wille. Reale Grundlage jedes Verbrechens (sei) die Objektivation des Willens in einer äußeren Tat." 8 Der obenerwähnte Satz von Welzel: „Der Sachverhaltsunwert kann im konkreten Fall fehlen, ohne daß der Handlungsunwert entfiele, z.B. beim untauglichen Versuch", bedeutet daher, daß er einen Handlungsunwert zwar auch ohne Sachverhaltsunwert für möglich hielt, aber nicht den gleichen, sondern bei einem versuchten Erfolgsdelikt nur den des Versuchs dieses Delikts und bei anderen Fällen vorverlegter Strafbarkeit, z.B. abstrakten Gefährlichkeitsdelikten, nur den dieser vorverlegten Handlung. Interessanterweise hat man sich von diesem Begriffsverständnis des Handlungsunwerts alsbald entfernt. Unter dem Einfluß von Armin KaufmanrP und Rudolphe erfolgte eine völlige Trennung der Begriffe „Handlungsunwert" und „Erfolgs- resp. Sachverhaltsunwert". Die h. L. koppelt "Welzel (Fn 5), S. 40f. Welzel (Fn 5), S. 35, 39 ff, 50 f. Vgl auch seine grundlegenden Arbeiten in ZStW 51 (1931), 703, 720 („als Handlung einem Subjekt zugehörig" jeder vom Täter sinnhaft gesetzte „tatbestandlich festgelegte Erfolg") und ZStW 58 (1939), 491, 522, 523 f (der Handlungsunwert „überwiegend den Sachverhaltsunwert mit umfaßt [bei den Erfolgsdelikten]). 8 Welzel (Fn 5), S. 62 f. ' Armin Kaufmann ZStW 80 (1968), 34, 50f; den. FS für Welzel, 1974, S. 393, 403, 411. 10 Rudolphi FS für Maurach, 1972, S. 51, 54f, 64f, 69, 70. 6
7
Hans Joachim Hirsch
6
seither den Erfolgs- resp. Sachverhaltsunwert auch beim Vorsatzdelikt vom Handlungsunwert ab. Letzterer soll sich in dem den jeweiligen deliktischen Erfolgsunwert erstrebenden Verhalten erschöpfen, und zwar soll der volle Handlungsunwert des Erfolgsdelikts damit gegeben sein, daß der Täter meint, alles Erforderliche zur Erfolgsverwirklichung getan zu haben. Für den vollen Handlungsunwert des vorsätzlichen Erfolgsdelikts, dem im folgenden zunächst unsere Aufmerksamkeit zu gelten hat, genügt danach der beendete untaugliche Versuch im Sinne der subjektiven Versuchstheorie. 11 Auf der Grundlage dieses subjektivistischen Begriffs des Handlungsunwerts haben sich zwei Richtungen gebildet: eine monistische und eine dualistische. Man spricht auch von monistisch-subjektiver und dualistisch-subjektiver Unrechtsauffassung. Erstere will das Unrecht des vollendeten Erfolgsdelikts allein im so verstandenen Handlungsunwert sehen und weist dem Erfolg nur die Rolle einer Art von Strafbarkeitsbedingung zu. Nach der zweiten - im einschlägigen Schrifttum vorherrschenden Ansicht - soll sich das tatbestandliche Unrecht aus jenem Handlungsunwert und dem Erfolgsunwert, also aus derartigem Handlungsunrecht und aus Erfolgsunrecht, zusammensetzen. Kritik ist in unterschiedlichem Umfang an beiden Richtungen geübt worden, insbesondere von Gallas, Mylonopoulos und Samson, vor zwei Jahrzehnten auch bereits von mir. 12 Im übrigen ist zur Terminologie anzumerken, daß der Begriff „Erfolgsunwert", den Welzel noch allein der Rechtsgutsverletzung vorbehalten hatte, inzwischen auf jeden tatbestandlichen Erfolg ausgedehnt worden ist. Denn die Vollendung des Delikts kann auch in einem Erfolg bestehen, der noch keine Rechtsgutsverletzung darstellt. Man denke an die Herbeiführung einer Gefahrlage, z . B . hilflose Lage eines Menschen bei der Aussetzung, Brand eines der Wohnung von Menschen dienenden Gebäudes bei der Schweren Brandstiftung. Darüber hinaus wird heute oft auf den Begriff „Sachverhaltsunwert" verzichtet, und man weist statt dessen auch die begleitenden Tatumstände und die Tatmittel dem „Erfolgsunwert" zu, so daß dieser dann alle objektiven Tatbestandsmerkmale umfaßt und nur noch vom Begriffspaar „Handlungs- und Erfolgsunwert" die Rede ist. 13 Soweit die genauere Differenzierung zur Erklärung von Streitfragen und deren Lösung von Bedeutung ist, wird das im folgenden jedoch deutlich gemacht. 11
Armin Kaufmann (Fn 9); Zielinski Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, S. 118, 148, 231. Siehe weitere Nachweise Anm. 14 und 25. 12 Vgl Gallas FS für Bockelmann, S. 155, 159ff; Mylonopoulos Uber das Verhältnis von Handlungs- und Erfolgsunwert im Strafrecht, 1981, S. 67 ff, 129 f; Samson FS für Grünwald, 1999, S. 585, 588ff; Hirsch ZStW 94 (1982), 239, 242ff. An der monistischen bereits von Stratenwerth SchwZStr. 79 (1963), 233, 255; ders. FS für Schaffstein, 1975, S. 177ff; siehe auch Wolter FS 140 Jahre GA, 1993, S. 269, 294. 13 Siehe etwa die Titel der Untersuchungen von Krauß ZStW 76 (1964), 19; Mylonopoulos (Anm. 12); Samson FS für Grünwald, S. 585; Zielinski (Fn 11).
Handlungs-, Sachverhalts- und Erfolgsunwert
7
II. Die Problematik bei der Vorsatztat 1. Die von Armin Kaufmann begründete monistisch-subjektive Auffassung, die heute insbesondere von einigen seiner Schüler vertreten wird,14 zieht die am weitesten gehenden Schlüsse. Sie führt für die Beschränkung des tatbestandlichen Unrechts auf einen subjektiv verstandenen Handlungsunwert (Intentionsunwert) an, daß die Norm den betätigten Entschluß zum Gegenstand habe und daß von dem Zeitpunkt an, in dem der Täter meine, alles Erforderliche zur Verwirklichung des Erfolges getan zu haben, der weitere Verlauf vom Zufall abhänge. Die Schuld beziehe sich nur auf den bis zu jenem Zeitraum sich subjektiv erstreckenden Betätigungsakt. Was danach komme, sei dagegen, weil vom Zufall abhängig, schuldindifferent.15 Diese Auffassung ist überwiegend auf Ablehnung gestoßen - und das aus gutem Grunde. Wenn man nämlich das tatbestandliche Unrecht in der bezeichneten Weise verkürzt, dann wird dem Täter lediglich der betätigte Entschluß zum Vorwurf gemacht, nicht aber das, was er angerichtet hat. Der Gedanke, daß sich das Erfolgserfordernis, das bei den in allen Strafrechtsordnungen der Welt im Mittelpunkt stehenden Erfolgsdelikten auftaucht, nur mit sozialpsychologischen Notwendigkeiten erklären lasse, geht an den Realitäten vorbei. So ist ein Mord oder Totschlag von vornherein nicht ohne einen Toten denkbar. Samson16 hat zudem im einzelnen aufgezeigt, daß dann, wenn der Erfolgsunwert seinen inneren Grund in sozialpsychologischen Notwendigkeiten hätte, eigentlich zu erwarten sei, daß die Einzelmerkmale des Erfolgs- resp. Sachverhaltsunwerts und damit der gesamte objektive Tatbestand daraus abgeleitet würden. Denn die Berücksichtigung dieser Merkmale als Sanktionsvoraussetzung würde aus dem sozialpsychologischen Erklärungsansatz folgen. Daß man gleichwohl nicht in dieser Weise vorgeht, stellt - wie Samson mit Recht betont - einen gravierenden Einwand gegen ein solches Konzept des Erfolgs- resp. Sachverhaltsunwerts dar. Der tatbestandsmäßige Unrechtsgehalt ist ein verschiedener, je nachdem, ob der Täter den tatbestandlichen Erfolg verwirklicht oder ob seine Tat im Versuchsstadium steckenbleibt oder - wie im Falle eines ungefährlichen un14 Vgl Armin Kaufmann (Fn 9) und seine Schüler: Zielinski (Fn 11), S. 135ff, 205ff; den. Alternativkommentar StGB, 1990, §§ 15, 16 Rn 7,107; Horn Konkrete Gefährdungsdelikte, 1973, S. 78 ff; Schöne GS für H. Kaufmann, 1986, S. 649, 654; Struensee FS für Armin Kaufmann, 1989, S. 523, 534 ff; ders. ZStW 102 (1990), 21, 49. Auch Schaffitein GA 1975, 342, und Sancinetti Subjektive Unrechtsbegründung, 1995. Siehe auch Hoyer Strafrechtsdogmatik nach Armin Kaufmann, 1997, S. 230 f. 15 Armin Kaufmann ZStW 80 (1968), 34, 51; Zielinski (Fn 11), S. 148; Sancinetti in: Hirsch (Hrsg.), Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften?, 2001, S. 169, 171. 16 FS für Grünwald, S. 585, 591 ff. Siehe auch Degener Die Lehre vom Schutzzweck der Norm und die strafgesetzlichen Erfolgsdelikte, 2001, S. 127ff.
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tauglichen Versuchs - überhaupt nur eingebildet ist.17 Diese Verschiedenheit tritt übrigens auch sehr deutlich bei Tätigkeiten hervor, die auf sozial positiv zu bewertende Ziele gerichtet sind. Es stellt handlungsmäßig einen erheblichen Unterschied dar, ob in solchen Fällen nur das Stadium des beendeten Versuchs oder bereits der positive Erfolg erreicht ist. Man denke beispielsweise an Prüfungs- oder Sportleistungen und Rettungshandlungen.18 Das Zufalls argument ist nicht überzeugend. Wenn jemand einen anderen gezielt erschießt, läßt sich nicht ernsthaft davon sprechen, daß der Todeserfolg zufällig sei. Vielmehr ist er das gewollte Ergebnis, das zu erwarten oder wenigstens in Rechnung zu stellen war. Ein glücklicher Zufall kann es dagegen sein, wenn es beim Versuch bleibt - etwa weil das lebensgefährlich verletzte Opfer durch einen zufällig in der Nähe befindlichen Arzt versorgt und dadurch dann noch im Krankenhaus gerettet werden kann. Gleichwohl verbietet sich eine Gleichstellung des Unrechts mit dem der Vollendung, weil der Täter jedenfalls - aus welchem Grunde auch immer - es nicht geschafft hat, den intendierten Todeserfolg zu verwirklichen.19 In der Mehrzahl der Fälle wird man im übrigen auch beim Versuch nicht von Zufall sprechen können. Vielmehr verhält es sich zumeist so, daß der Täter nicht genügend Energie und Umsicht aufgebracht hat, um konträre Faktoren auszuschalten. Es kann daher keine Rede davon sein, daß die Schuld allgemein nicht über den (subjektiv) beendeten Versuch hinausgehe. Vielmehr ist die Herbeiführung des Erfolges das gewollte und gesteuerte Werk des Täters und ihm daher vorzuwerfen. Die monistisch-subjektive Auffassung beruht auf einer einseitigen Fixierung auf den Aktmwert. Der Philosoph Nicolai Hartmann, dessen Gedanken auf die Lehre vom Handlungsunwert nicht ohne Einfluß waren, hatte in seinem Werk über „Ethik"20 geschrieben: Trotz der Abhängigkeit der Aktwerte von der Existenz der Sachverhaltswerte besäßen sie eine durchaus eigenständige Wertqualität. Denn sie seien „nicht Werte des erstrebten Inhalts, sondern Qualitätswerte des Strebens selbst". Da der sittliche Wert des Aktes als gut oder böse nicht am Erfolg, sondern an seiner Intentionsrichtung selbst hänge, sei er in seiner Existenz unabhängig davon, ob durch den Akt ein Erfolgswert oder -unwert realisiert werde. Diese Überlegungen Hartmanns betreffen jedoch die Ebene der Moral, nicht schon die des 17 Weshalb die Strafgesetzbücher eine obligatorische oder zumindest fakultative Strafmilderung vorsehen und mehrere von ihnen den Versuch nur bei einem Kreis von Delikten für strafbar erklären. Was den ungefährlichen untauglichen „Versuch" betrifft, siehe noch Anm. 21 und den dortigen Text. 18 Darauf weisen auch Schönke/Schröder/Lenckner (Fn 1), Vor § 13 Rn 59; Gallas FS für Bockelmann, S. 155, 165, und Hirsch ZStW 94 (1982), 239, 245 hin. 19 Gegen die Schlüssigkeit des Zufallsarguments auch Mylonopoulos (Fn 12), S. 74 ff; Samson FS für Grünwald, S. 585, 596ff. 20 N. Hartmann Ethik, 2. Aufl, 1935, S. 79ff, 228ff. In der 4. Aufl, 1962, S. 251, 261, 266f.
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Rechts. Armin Kaufmann und seine Anhänger haben über normtheoretischen Gedankenexperimenten offenbar ein Fundamentalprinzip des Strafrechts aus dem Blick verloren: das Tatprinzip. Während für die moralische Bewertung die innere Seite - d.h. der Willensinhalt - genügt, nimmt das Recht seinen Ausgangspunkt beim äußeren Geschehen, und das gilt auch für das Strafrecht. Es geht diesem um den (ganz oder teilweisen) Schutz von Rechtsgütern dadurch, daß es ihre Verletzung oder (konkrete oder abstrakte) Gefährdung oder den Beginn darauf gerichteter Handlungen ahndet. Dagegen hat es nicht die Aufgabe, die moralische Gesinnung der Bevölkerung durchzusetzen. Jene subjektivistische Auffassung bedeutet daher eine sachwidrige Akzentverschiebung des Strafrechts. Aus guten Gründen wird in den meisten Rechtsordnungen der Welt der objektiv (ex ante) ungefährliche Versuch nicht für strafbar erklärt, weil es sich dabei um Gesinnungsstrafrecht handelt.21 Für die kritisierte Richtung bildet gleichwohl jeglicher (subjektiv) beendeter untaugliche Versuch (im Sinne der subjektiven Versuchstheorie) wegen seines „Aktunwerts" den „Prototyp" strafbarer vorsätzlicher Taten. Außerdem ergäbe sich für diejenigen Rechtsordnungen, die eine Versuchsstrafbarkeit nicht bei allen Vorsatztatbeständen kennen, wohl zu Ende gedacht die Konsequenz, daß man sie einzuführen hätte, womit jedoch die Pönalisierung dort ohne praktische Notwendigkeit sehr erheblich ausgedehnt würde. Mit Verwunderung liest man auch, wenn jener Richtung das Etikett „Bonner Schule" aufgeklebt22 und damit der Eindruck erweckt wird, es sei das die Meinung der „Finalisten" schlechthin. Zwar hat Welzel, der Begründer der „Bonner Schule", durch mißverständliche Formulierungen zur Entstehung der subjektivistischen Richtung beigetragen. Denn auch er sprach vom „Aktunwert". So findet sich in der Einleitung seines Lehrbuchs der bekannte Satz, daß es im Strafrecht um die „Verhinderung der Sachverhaltsoder Erfolgsunwerte durch Pönalisierung der Aktunwerte" gehe. Außerdem heißt es: „Die zentrale Aufgabe des Strafrechts liegt also darin, durch Strafdrohung und Strafe für den wirklich betätigten Abfall von den Grundwerten rechtlichen Handelns die unverbrüchliche Geltung dieser Aktwerte sicherzustellen."23 Aber, wie schon oben aufgezeigt, lag es ihm fern, daraus die vorstehend kritisierten Konsequenzen zu ziehen. Er fügte jenen beiden Sätzen vielmehr sogleich hinzu: „Daß die Rechtsordnung den wirklich betätigten Abfall von den Werten rechtlichen Handelns bestraft und damit deren reale Geltung sichert, bedeutet keineswegs, daß sie schlechte oder gefährliche 21 Näher zur Problematik der hinter dem „Intentionsunwert" stehenden subjektiven Versuchstheorie Hirsch FS für Roxin, 2001, S. 711 ff mit Nachw. zu den verschiedenen Rechtsordnungen S. 713. 22 Siehe Mylonopoulos (Fn 12), S. 59ff, 129, und Sancinetti (Fn 14), S. 3ff. 23 Welzel (Fn 5), S. 2.
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Vorsätze ohne verletzendes oder gefährdendes Tun verfolge und ahnde ... Denn nur die wirkliche Betätigung jenes Abfalls löst Strafe aus ... Es soll hier nur die Auffassung zurückgewiesen werden, daß es das Recht nur mit dem äußeren Verhalten zu tun habe ,.." 24 Welzelwollte eben nicht die strafrechtlichen Grundprinzipien verändern, die Teil jeder rechtsstaatlichen Ordnung sind, sondern nur deutlich machen, daß Tatstrafrecht nicht besagt, es genüge für das strafrechtlich relevante Unrecht der Erfolgs- oder Sachverhaltsunwert. Nicht von ungefähr hat von den sieben Schülern, die aus der „Bonner Schule" Welzeis hervorgegangen sind, lediglich einer die hier kritisierte Richtung eingeschlagen. 2. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die heute vorherrschende Lehre von einem dualistisch-subjektiven Unrechtskonzept ausgeht.25 Bei ihr erhebt sich die Frage, ob der subjektive Begriff des Handlungsunwerts, also des Intentionsunwerts, dann haltbar ist, wenn man neben ihm auch dem Erfolgsunwert unrechtskonstitutive Bedeutung beimißt. Aber auch eine solche Konstruktion ändert nichts daran, daß bei einer intentionalistischen Bestimmung des Handlungsunwerts noch nicht von einer Tötungs-, Körperverletzungs- oder Sachbeschädigungshandlung gesprochen werden kann. Wenn man die bloße subjektive - durch irgendeinen für tauglich gehaltenen Akt betätigte - Intentionalität, d.h. den bloßen Aktunwert, als genügend ansieht, wird vielmehr der Unterschied zwischen einer der Intention entsprechenden realen Handlung und einer nur irrig vorgestellten verwechselt. Eine reale Handlung läßt sich nicht rein subjektiv erklären, sondern erfordert eine Umsetzung des Willensinhalts in die objektive Wirklichkeit. Daß man im Gegensatz zum erstgenannten monistischen Konzept den Erfolgsunwert ebenfalls als unrechtskonstitutiv einstuft, ist auf die Unrichtigkeit der nur subjektiven Inhaltsbestimmung des Handlungsunwerts ohne Einfluß. Auch entbehrt ein solches nur additives Nebeneinander von Handlungs- und Erfolgsunwert der sachlichen Verknüpfung beider Begriffe.
24 "Welzel (Fn 5), S. 2 (Hervorhebungen im Original). Daß Armin Kaufmann und seine Anhänger demgegenüber den Blick ausschließlich auf den Aktunwert gerichtet haben, hat den „Finalismus" fälschlich in den Ruf eines dem Tatstrafrecht widersprechenden subjektiven Konzepts gebracht und damit der Anerkennung des von Welzel wiederentdeckten Phänomens der Willenshandlung stark entgegenwirkt. 25 So im Anschluß an Rudolphi (Fn 10): Bockelmann/Volk (Fn 4), S. 48ff; Maurach/Zipf (Fn 1), § 19 Rn 17, 37; Schönke/Schröder/Lenckner (Fn 1), Vor § 13 Rn 56; Stratenwerth (Fn 1), § 8 Rn 60 a.E.; u. a. Siehe auch Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1988, S. 39, 585ff („Entscheidungsunrecht"). Konsequenterweise ergibt sich für alle Anhänger einer dualistischen Auffassung, die gleichzeitig die subjektive Versuchstheorie (einschließlich der diese modifizierenden Eindruckstheorie) vertreten, ein dualistisch-sW^ete-y« Unrechtskonzept.
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3. Gallas hat bereits deutlich gemacht, daß der Handlungsunwert sich nicht im Intentionsunwert erschöpfen kann. Er ist der Auffassung, daß zur Intention die „reale Chance" der Erfolgsverwirklichung hinzukommen muß, also nur der beendete (ex ante) taugliche Versuch den vollen Handlungsunwert eines Erfolgsdelikts ergebe. Es müssen hiernach also bereits objektive Tätigkeitsmerkmale und gegebenenfalls begleitende Umstände vorliegen oder wenigstens objektiv möglich erscheinen. Der Erfolgsunwert soll dagegen außerhalb des Handlungsunwerts des vorsätzlichen Erfolgsdelikts stehendes Erfolgsunrecht bilden.26 Aber verkürzt nicht auch diese neuere dualistische Unrechtsauffassung den Begriff des Handlungsunwerts? Für das Gegebensein des vollen Handlungsunwerts des vorsätzlichen Erfolgsdelikts könnte sprechen, daß mit dem Zeitpunkt des beendeten tauglichen Versuchs der erfolgsgeeignete willensgesteuerte Tätigkeitsakt des Handelnden seinen Abschluß findet. Da es beim Handlungsunwert um den Unwert der Handlung geht, lautet jedoch wiederum die Frage, ob diese mit dem beendeten Tätigkeitsakt bereits vollständig vorliegt. Wäre das der Fall, würde kein Unterschied mehr zwischen (beendetem) Versuch und Vollendung der Handlung bestehen. Es geht bei dieser Differenzierung ja nicht nur um einen Unterschied der Bewertung als Delikt, sondern auch einen der Handlungsebene. Eine vollendete Handlung ist naturgemäß etwas anderes als eine nur versuchte. Zweitens ist auch hier das Argument unergiebig, daß der Täter mit der Beendigung des Versuchs das Geschehen aus der Hand gegeben habe und nun gewissermaßen dem Schicksal seinen Lauf lassen müsse. Denn der gewollte Kausalverlauf, den er vom beendeten Versuch bis zum Erfolgseintritt in Bewegung setzt, beruht auf seiner Steuerung. Alles vorhergehende dient nur dem Ingangsetzen des programmgemäßen Ablaufs dieser entscheidenden Phase des Geschehens. Daß sie zum Erfolg führt, ist daher, wie schon betont, kein Zufall. Auch wird in diesem Zusammenhang oft übersehen, daß zum 26
Vgl zum vorhergehenden: Gallas FS für Bockelmann, S. 155, 159; zustimmend Jescheck/Weigend (Fn 1), S. 51 Anm. 4; Lackner/Kühl (Fn 1); Eben/Kühl Jura 1981, 225, 236. Dementsprechend spricht Gallas bezüglich der Fälle bloßen Intentionsunwerts von „Handlungsversuchsunwert"; so auch Wolter Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung, 1981, S. 25, auch 46ff. Daß es sich beim Intentionsunwert um bloßes Gesinnungsstrafrecht handelt, wurde oben bei Fn 21 schon hervorgehoben. - Auch Silva Sanchez ZStW 101, 352, 369ff, will den Handlungsunwert danach bestimmen, daß „in der Handlung ein tatbestandlich relevantes Risiko für ein Rechtsgut liegt". Der Erfolg soll seiner Ansicht nach aber kein tatbestandliches Unrecht darstellen, sondern nur für die Straßarkeit des vollendeten Delikts Bedeutung haben. Diese Auffassung steht wegen der Einordnung des Erfolges als bloßer Strafbarkeitsbedingung der bereits abgelehnten Auffassung von Armin Kaufmann nahe. Zu der von Silva Sanchez aus der Einbeziehung des objektiven Risikos in den Handlungsunwert dann gezogenen Folgerungen für eine Verkürzung des Vorsatzes siehe unten Anm. 33. Von „Gefährdungsunwert" spricht RöttgerUnrechtsbegründung und Unrechtsausschluß, 1993, S. 38.
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Tätigkeitsakt des Täters nicht selten noch Verhaltensweisen Dritter, sei es eines Tatmittlers oder eines Mittäters, dazutreten müssen. Damit, daß jemand den Tatmittler zum Zwecke einer Tötung in Marsch gesetzt hat, liegt noch keine abgeschlossene Tötungshandlung vor; und damit, daß der Mittäter eines Diebstahls seine arbeitsteiligen Mittäterbeitrag geleistet hat, ist noch nicht notwendig die Wegnahmehandlung erfolgt. Vielmehr muß der vom Willen des betreffenden Täters umspannte weitere Verlauf hinzukommen. Auch ist an allen auf den beendeten Versuch abstellenden Auffassungen zu beobachten, daß sie einseitig den nachfolgenden Erfolg im Blick haben. Samson hat demgegenüber bereits darauf hingewiesen, daß auch schon vorher objektive Umstände eine Rolle spielen können, auf die der Täter nicht durch seinen Tätigkeitsakt einwirkt.27 So gibt es Delikte, bei denen objektive begleitende Umstände bereits im Tätigkeitsstadium vorliegen und bedeutsam werden. Wenn ein Tatbestand z.B. Öffentlichkeit der Begehung verlangt, geht es nicht darum, daß der Täter sie durch Versammeln der notwendigen Personenzahl herstellt, sondern sie liegt bei seinem Tätigkeitsakt vor oder nicht vor. Indem sein Vorsatz sie einbezieht, wird sie zu einer Eigenschaft seiner Handlung. Auch Tatmittel befinden sich vor dem Beendigungszeitpunkt nicht notwendig ausschließlich in der Phase des Betätigungsaktes. So muß bei einem Mord, der durch ein in Raten verabreichtes Gift erfolgt, schon bei der Verabfolgung der einzelnen Dosis es der objektiven Wirkweise überlassen werden, ob die intendierte jeweilige Stufe des Vergiftungsgrades erreicht wird. Gleichwohl handelt es sich bei der ratenweisen Verabfolgung um eine durch die Zwischenglieder verbundene Mordhandlung. Selbst bei der einfachen Tötung durch Erschießen haben wir es nicht nur mit dem vom Täter gestalteten Tätigkeitsakt, sondern auch mit objektiven Voraussetzungen, auf die der Täter nicht unmittelbar einwirkt, etwa der technischen Funktionsfähigkeit des Schießmechanismus, zu tun. Von deren objektivem Gegebensein geht er vielmehr regelmäßig nur aus. Diese Beispiele zeigen, daß man durch die einseitige Fixierung auf den nachfolgenden Erfolg die Realitäten verkürzt hat. 28 Als weitere Argumente werden für eine Trennung von Handlungs- und Erfolgsunwert angeführt, daß die Verbotsnorm nur bis zum beendeten Versuch Wirkung entfalten könne, da danach kein Unterlassen der verbotenen Handlung mehr möglich sei.29 In der Tat läßt sich der Erfolg nach diesem Samson FS für Grünwald, S. 585, 590f. Gallas (FS für Bockelmann, S. 155) berücksichtigt zwar, daß auch der Handlungsunwert objektive Elemente enthält, meint aber, daß der nachfolgende Erfolg gleichwohl davon zu trennen sei (S. 161 ff). Dazu im einzelnen schon Hirsch ZStW 94 (1982), 239, 245 ff. Indem Gallas an einem dualistischen Konzept festhält, unterscheidet sich im übrigen auch für ihn eine konkrete Gefährdungshandlung von einer Verletzungshandlung nur durch die subjektive Tatseite. 29 Zielinski (Fn 11), S. 144. 27 28
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Zeitpunkt nur noch durch ein gegenläufiges Handeln vermeiden. Aber die Verbotsnorm wird bereits verletzt mit dem Versuchsbeginn, und alles, was sich weiterhin auf dem Wege zum intendierten Erfolg entschlußgemäß realisiert, ist eine graduelle Zunahme des der Norm widersprechenden Unrechts bis zur Vollendung. Ein Auseinanderreißen von Unrecht vor und nach dem beendeten Versuch läßt außer acht, daß es der Rechtsordnung bei der Aufstellung der Verbote um den Schutz von Rechtsgütern geht und deshalb in erster Linie darum, die Vollendung zu verhindern. Daher kann der indendierte Erfolg schon deshalb kein erst außerhalb der Verbotsnorm liegender rechtlicher Unwert sein, sondern es handelt sich um eine verbotene willentliche Erfolgsverwirklichung. Übrigens tritt dies auch deutlich bei dem Fall hervor, daß der Täter die Möglichkeit hat, den Eintritt des intendierten Erfolges noch durch eine Abwendungshandlung zu verhindern. Hier haben wir es nicht mit drei selbständigen Formen des Unwerts zu tun: Handlungs-, Unterlassungs- und Erfolgsunwert. Es geht vielmehr von vornherein ganz um den Handlungsunwert, weil die Handlung sich bis zum Erfolg erstreckt.30 Man hat die Handlung auch als Leistung charakterisiert, nämlich in dem Sinne, daß der Mensch, indem er das Kausalgeschehen seinem Willen entsprechend steuert, das von ihm Gewollte verwirklicht.31 Diese Leistung aber ist mißlungen, wenn der Handelnde den von ihm gewollten Erfolg nicht erreicht. Denn der Betreffende hat es dann nicht geschafft, sich das Kausalgeschehen in dem zur Realisierung seines Verwirklichungswillens notwendigen Maße zu unterwerfen; ihm ist es nicht gelungen, es seinem Willen entsprechend zu überdeterminieren. Die intendierte Handlung ist dann nur eine versuchte. 30
Hier zeigt sich auch deutlich der Unterschied gegenüber dem Handlungsumfang beim fahrlässigen Delikt. Da dort die Handlung nur in der den Gegenstand des Sorgfaltswidrigkeitsurteils bildenden Willenshandlung besteht, kann sich ihr ein selbständiges unechtes Unterlassen anschließen (z.B. jemand führt durch eine in bezug auf Körperverletzung und Tod sorgfaltswidrige Handlung zunächst einen Körperverletzungserfolg herbei und unterläßt es dann bewußt, den daraus drohenden Todeseintritt abzuwenden, obwohl ihm das durch Rettungsmaßnahmen möglich wäre). 31 Welze! (Fn 2), S. 12; ders. GS für Grünhut, 1965, S. 173, 175; Gallas FS für Bockelmann, S. 155,164; Hirsch ZStW 94 (1982), 239,244 f. Wolter (Fn 12), S. 294 ist demgegenüber der Auffassung, daß der Erfolg bei Vorsatzdelikten nicht wegen seiner Erfassung durch den final überdettrminierenden Willen zur Handlung gehöre, sondern allein deshalb, weil sich das vom Täter erkannte Erfolgsrisiko handlungsadäquat und objektiv zurechenbar in ihm verwirkliche. Denn der Wille könne bei Beendigung des Versuchs abbrechen und bei „Kausalabweichungen a limine" schon am Anfang der Ausführung scheitern, ohne daß an der Handlung einer vollendeten Tat zu zweifeln sei. Indes, wenn der Täter nach Erreichen des Stadiums des beendeten Versuchs trotz nunmehriger Aufgabe der Intention den Dingen ihren Lauf läßt oder den Erfolgseintritt nicht mehr abwenden kann, so ist der Erfolg jedenfalls das Ergebnis seines auf Verwirklichung gerichteten Willens und deshalb unstreitig auch ein vorsätzlicher. Und was Abweichungen vom Kausalverlauf betrifft, bildet gerade die Frage, ob sie noch als vom Willen des Täters gedeckt angesehen werden können, eine wichtige Abgrenzung und Barriere.
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Es verbleibt die Frage, ob vielleicht zur besseren Veranschaulichung der Voraussetzungen des vollendeten vorsätzlichen Erfolgsdelikts ein neben den Erfolgsunwert gestellter Begriff von Nutzen ist, der die hinzukommenden Voraussetzungen zum Inhalt hat. Schon oben wurde darauf hingewiesen, daß der Begriff „Handlungsunwert" gebildet worden ist, um zu verdeutlichen, daß die bloße Erfolgsverursachung nicht für das Vorliegen einer Handlung genügt, sondern weitere Erfordernisse dazutreten müssen: nämlich der Handlungswille (=Vorsatz beim Vorsatzdelikt) und auch die objektive Eignung. Aber ein auf diese Erfordernisse beschränkter Begriff wäre irreführend und unnötig. Irreführend wäre er, wenn man ihn „Handlungsunwert" nennt, da er den Handlungsunwert der betreffenden Handlung nur fragmentarisch angeben würde. Denn vollständig gegeben ist die Handlung des (vorsätzlichen) Erfolgsdelikts erst mit dem Erfolgseintritt, und der Handlungs««weri erhält sein über den Unwert des Versuchs hinausgehendes Gewicht daher erst aus der Verwirklichung des intendierten Erfolgs. Unnötig wäre ein jene hinzukommenden Voraussetzungen bezeichnender Begriff, weil er für sich allein nichts aussagt. Die betreffenden zusätzlichen Merkmale erklären sich vielmehr vom Handlungsbegriff her, weshalb es von vornherein allein um die Frage geht, ob alle Voraussetzungen des auch den intendierten Erfolg einbeziehenden Handlungsunwerts eines vollendeten Delikts vorliegen. Handlungs- und Erfolgsunwert sind also nicht zwei grundsätzlich nebeneinander stehende Begriffe, sondern beim vorsätzlichen Erfolgsdelikt bildet der Erfolgsunwert den inhaltlichen Abschluß des Handlungsunwerts. Die von Gallas vertretenen neuere dualistische Theorie hat deshalb zwar das Verdienst, der intentionalistischen Sicht entgegengetreten zu sein, aber die Beibehaltung der dualistischen Sicht überzeugt für das Vorsatzdelikt nicht. 4. Die vorhergehenden Erörterungen weisen mithin in folgende Richtung: Der Begriff des Handlungsunwerts läßt sich nicht losgelöst von Inhalt und Umfang der Handlung bestimmen. Da eine vollendete Handlung in der willentlichen Verwirklichung der intendierten objektiven Umstände besteht, richtet sich der Umfang des jeweiligen Handlungsunwerts danach, welche objektiven Merkmale des Tatbestands vom Willen umspannt sein müssen. Mithin erstreckt er sich bei reinen Vorsatzdelikten bis zur Vollendung des Tatbestands: bei vorsätzlichen Erfolgsdelikten also bis zum Erfolg, bei anderen Vorsatzdelikten bis zum dort jeweils geforderten Vollendungskriterium.32 Der Inhalt des Handlungsunwerts ist dementsprechend relativ, je 32 Es bestätigt sich also die Ansicht von Welze! (Fn 5), S. 62. Vgl schon Hirsch ZStW 94 (1982), 239, 240ff. Im übrigen heißt es bei Roxin ([Fn 1], § 11 Rn 46) in überzeugender Kritik an der von Frisch ([Fn 25], S. 67) vertretenen Trennung von „tatbestandsmäßigem Verhalten" und „Zurechnung des Erfolges", daß es „ohne einen Todeserfolg und dessen Zurechnung ... keine Tötungshandlung und kein ,tatbestandsmäßiges Verhalten', (sondern höchstens eine Tötungsversuchshandlung)" gibt. Außerdem weist er darauf hin, daß
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nach dem Inhalt der tatbestandsmäßigen Handlung: Es kann um den einer Mordhandlung, aber auch nur den einer abstrakten Gefährlichkeitshandlung gehen. Von diesem jeweiligen vollendeten Handlungsunwert ist der des Versuchs der betreffenden Handlung zu unterscheiden. Bei ihm handelt es sich eben nicht um den vollen, sondern nur um den teilweisen Unwert der intendierten Verwirklichungshandlung: eben nur um den Unwert einer im Versuchsstadium steckengebliebenen Handlung. Diese tatbestandsbezogenen Differenzierungen verdeutlichen gleichzeitig, daß alle vom Willen umspannten objektiven Tatbestandsmerkmale d.h. der aus ihnen allen bestehende Sachverhaltsunwert einschließlich des beim Erfolgsdelikt einen wichtigen Teil von ihm bildenden Unwerts des Erfolges - den Unrechtsgehalt des Handlungsunwerts mitbestimmen. Nicht die Intentionalität allein oder in Verbindung mit der objektiven Eignung des Tätigkeitsaktes vermögen den Unrechtsgehalt einer Handlung zu erklären. Vielmehr ergibt sich dieser aus dem Umfang der Umsetzung des Verwirklichungswillens. Eine Handlung ist ein gestaltendes Eingreifen in das Kausalgeschehen und nicht ein bloßes subjektives Darüberschweben oder - wie Gallas meint - Schaffen von Voraussetzungen (Eignung).33 In der Bewertung des Gewichts der objektiven Seite entspricht die hier vertretene Lösung dem Standpunkt der heutigen h. M. 34 Im Unterschied zu dieser bietet sie jedoch eine Erklärung für die Verknüpfung von Tätigkeitsakt und Erfolgsunwert beim Vorsatzdelikt, an der es bei den dualistischen Auffassungen und erst Recht, wie Samson schon näher aufgezeigt hat,35 bei der Lehre von der objektiven Zurechnung fehlt. „Handlungs- und Erfolgsunwert unlöslich miteinander verknüpft sind". Das entspricht der vor Welzel und mir hinsichtlich des vollendeten Vorsatzdelikts vertretenen Auffassung. Ferner siehe auch Köhler Strafrecht Allg. Teil, 1997, S. 27 f. 33 Letzteres ist daher auch kein berechtigter Ausgangspunkt für eine Verminderung der Vorsatzanforderungen. Vielmehr führt die Verkürzung des Begriffs des Handlungsunwerts auch insoweit in eine Sackgasse, und es zeigt sich, wie leicht dogmatische Fehlansätze zum Nachteil der Bürger ausgehen können. 34 Vgl die Autoren oben Anm. 1,12 und 18, gerade auch alle Anhänger der Lehre von der objektiven Zurechnung. Bei Welzel (Fn 5) ist dagegen die Gewichtung beim Vorsatzdelikt eher widersprüchlich (siehe dort S. 2 einerseits und S. 62 f andererseits) und beim fahrlässigen Delikt wenig überzeugend (S. 136). 35 Samson FS für Grünwald, S. 585, 594f. Seiner eigenen Lösung kann aber nur zum Teil gefolgt werden. Beizupflichten ist ihm darin, daß er der Erfolgsmächtigkeit der Handlung Bedeutung beimißt und unter Berücksichtigung der Quantifizierbarkeit des Unrechts zur Unrechtsrelevanz des Erfolgs gelangt (S. 595ff). Auch ist ihm, jedenfalls hinsichtlich des Vorsatzdelikts, zuzustimmen, daß der Erfolgsunwert die Bewertung des Handlungsunwerts beeinflußt (S. 599). Nicht überzeugend ist jedoch die von ihm vertretene Auffassung, daß der Erfolgsunwert der „nachträglichen Korrektur der zu weit geratenen Bewertung des Handlungsunwerts" diene (S. 599 f, 604). Denn es gibt insoweit nichts zu korrigieren. Solange der intendierte Erfolg nicht verwirklicht ist, läßt sich der volle Handlungsunwert
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Hans Joachim Hirsch III. Die Problematik bei der fahrlässigen Tat
Aber wie läßt sich das alles mit dem fahrlässigen Erfolgsdelikt vereinbaren ? Bei ihm fehlt es ja gerade an einem vom Willen umspannten tatbestandlichen Erfolg. Man hat jedoch zu beachten, daß die Sorgfaltswidrigkeit sich auf eine Handlung bezieht, und diese ist auch hier eine Willenhandlung wie jede andere. Ihr Inhalt ist von Unrechtsrelevanz, da sich nach ihm bestimmt, welches Handeln dem Täter als sorgfaltswidrig angelastet wird und wie hoch es einzustufen ist. Es muß nämlich stets geklärt werden, welches willentliche Tun des Täters hätte unterbleiben sollen, und der Willensinhalt beeinflußt den Grad des Handlungsunwerts.36 Wenn beispielsweise jemand fahrlässig einen Todeserfolg herbeiführt, ist der Handlungsunwert von verschiedenem Gewicht, je nachdem, worin die sorgfalts widrige (willentliche) Handlung bestanden hat. Sie kann darin liegen, daß jemand bewußt und gewollt auf der Gegenfahrbahn einer Autobahn gefahren ist, oder aber darin, daß jemand willentlich die betreffende Fahrbahn benutzte, jedoch noch nicht erkannt hatte, daß es die Gegenfahrbahn war, oder - ein anderer Sachverhalt - darin, daß jemand einem Kind bewußt und gewollt eine geladene Pistole zu Schießversuchen in die Hand gegeben hat oder aber daß er sie in der irrigen Annahme, sie sei ungeladen, dem Kind nur für einen Augenblick zum Halten geben wollte. Ein in einer verbotswidrigen Willenshandlung bestehender Handlungsunwert ist also auch beim fahrlässigen Erfolgsdelikt vorhanden. Es stellen sich in bezug auf den Erfolgsunwert nun drei Fragen: (1) Bedeutet das, daß er hier lediglich eine Art von objektiver Strafbarkeitsbedingung ist?37 (2) Falls er tatbestandliche Unrechtsrelevanz hat, wie ist dann der Bezug zum Handlungsunwert und zum Schulderfordernis zu bestim-
überhaupt noch nicht bejahen. Samsons Erklärung, daß in der Welt der Kausalgesetze von Anfang an feststehe, ob eine Handlung erfolgsmächtig sei und zum Erfolg führen werde, dies lediglich der menschlichen Erkenntnisfähigkeit entzogen sei und deshalb die kausalgesetzlich vorhandene Erfolgsmächtigkeit erst ex post aufgedeckt werde (S. 597 ff), führt nicht weiter. Das Sozialleben interessiert sich für das jeweils in Erscheinung tretende Geschehen, hier den Umfang der Willenshandlungen. Die soziale Wirklichkeit läßt sich nicht durch ein der Erkenntnisfähigkeit entzogenes deterministisches Weltbild unterlaufen. Die Konsequenz der Auffassung Samsons wäre auch, daß das Unrecht von Handlungen, denen aus ex post-Sicht die Erfolgsmächtigkeit fehlte, nur noch fiktiven Charakter hätte (siehe auch den wenig befriedigenden Erklärungsversuch dieser Fälle bei Samson S. 601 ff). 36
Niese Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit, 1953, S. 58f; Welzel (Fn 2), S. 35ff; ders. (Fn 5), S. 130 f; Hirsch Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, I960, S. 308 Fn 122; ders., ZStW 93 (1981), 831, 857ff; Cerezo MirZStW 84 (1972), 1033, 1043f; Weidemann GA 1984, 408, 409ff. Das in der nach Abschluß des Manuskripts erschienenen Monographie von Duttge (Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001) für die Fahrlässigkeit verlangte eigene „Veranlassungsmoment" läßt dies unberührt. 37 So neben den Anm. 14 genannten Autoren hier beim fahrlässigen Erfolgsdelikt der Sache nach auch Welzel (Fn 5), S. 135 f. Dagegen im einzelnen Krauß ZStW 76 (1964), 19, 62; Stratenwerth SchwZStr. 79 (1963), 233, 254 f, und Hirsch ZStW 94 (1982), 239, 252 ff.
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men? (3) Würde eine dualistische Unrechtssicht einen Widerspruch zu der beim Vorsatzdelikt vertretenen Lösung bedeuten? Was den ersten Punkt betrifft, läßt sich teilweise schon auf die Ausführungen zur monistisch-subjektiven Auffassung verweisen. Es kann auch beim fahrlässigen Erfolgsdelikt keine Rede davon sein, daß der Erfolgseintritt nur sozialpsychologische Bedeutung oder rechtsstaatliche Bestimmtheitsfunktion hat, nicht aber schuldhaftes Unrecht darstellt. Hier ist vielmehr zu bedenken, daß das Strafrecht Rechtsgüter vor Verletzung schützen soll und die Verbote als Mittel zur Erreichung diese Zieles dienen. Richtig ist zwar, daß der Normbefehl denknotwendig immer auf eine willentliche Handlung gerichtet sein muß. Das aber schließt nicht aus, daß die aus der Begehung der verbotenen Handlung voraussehbar entstehende weitere Auswirkung dem Täter als Unrecht zugerechnet wird. Es ist das mittelbare Unrecht im Unterschied zu dem willentlich herbeigeführten unmittelbaren Unrecht. Die Verbindung beider erfolgt durch die objektive Voraussehbarkeit und den Pflichtwidrigkeitszusammenhang. Nun läßt sich zwar beim fahrlässigen anders als beim vorsätzlichen Erfolgsdelikt nicht so ohne weiteres das Zufallsargument ausräumen. Es gibt mehr fahrlässige Handlungen, die nicht zum Erfolg führen, als solche, bei denen er die Folge ist. Der Autoverkehr bietet dafür anschauliche Beispiele. Es läßt sich auch nicht behaupten, daß in den Fällen, in denen es zum Erfolgseintritt kommt, die fahrlässige (sorgfaltswidrige) Handlung graduell besonders groß war. Dennoch zieht das Zufallsargument auch hier nicht. Vielmehr ergibt sich aus dem am Rechtsgüterschutz orientierten Tatstrafrecht, dem Ausgangspunkt jeder strafrechtlichen Betrachtung, daß Bedeutung erlangt, was der Täter (für ihn voraussehbar) tatsächlich realisiert hat. Es geht beim Tatstrafrecht nicht nur um die fahrlässige Handlung, sondern ebenso um den durch sie bewirkten Erfolg, dessen Verhinderung ja gerade das Ziel der Rechtsordnung ist, wobei hier im Unterschied zu den Vorsatztatbeständen der Gesichtspunkt der „Zurechnung" sachentsprechende Bedeutung erlangt.38 Daß das auf der fahrlässigen Handlung beruhende Erfolgsunrecht - als voraussehbares mittelbares Unrecht - dem sorgfaltswidrigen Täter zuzurechnen ist, dürfte eigentlich auch evident sein. Der Erfolg ist die voraussehbare objektive Realisierung der Sorgfaltswidrigkeit des Täters. Infolgedessen kann das Zufallsargument nur die Frage enstehen lassen, ob dann, wenn der Erfolg nur zufällig ausgeblieben ist, 18 Zur tatbestandlichen Unrechtsrelevanz des Erfolges auch beim fahrlässigen Delikt vgl die Nachweise oben Anm. 25 (h.M.). Dazu, daß der Erfolg hier anders als bei den Vorsatztatbeständen keine Frage der normwidrigen Handlung, sondern der Zurechnung ist, vgl Hirsch FS für Lenckner, 1980, S. 119, 127f. Die heutige Lehre von der objektiven Zurechnung hat auch weitestgehend Kriterien aufgestellt, die zwar weniger für das Vorsatzdelikt, aber häufig für Einzelfragen des fahrlässigen Erfolgsdelikts passen. Kritisch gegenüber dieser Lehre als allgemeinem Unrechtskonzept im einzelnen Hirsch aaO, S. 119 ff. Siehe außerdem neuestens die Kritik bei Degener (Fn 16), S. 97 ff, 193 Anm. 195, 481 f.
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H a n s J o a c h i m Hirsch
der Täter nicht ebenso bestraft werden sollte. Diese Frage beantwortet sich wiederum damit, daß die Rechtsordnungen mit Recht danach differenzieren, was der Täter durch sein verbotenes Verhalten objektiv anrichtet oder nicht. Ist der Erfolg des Fahrlässigkeitsdelikts durch einen glücklichen Umstand ausgeblieben, so liegt zwar der volle Handlungsunwert der sorgfaltswidrigen Handlung vor, aber dem Täter ist kein daraus entstandener Erfolg zuzurechnen. Die Rechtsordnungen bewerten dessen Tat eben sachentsprechend nicht ausschließlich in bezug auf die verwirklichte Handlung, sondern berücksichtigen auch, was der Täter voraussehbarerweise durch sie darüber hinaus anrichtet. Das betrifft nicht nur das Ausmaß des Unrechts, sondern auch den Umfang der Schuld, d.h. des individuellen Vermeidenkönnens. Die Schuld erschöpft sich eben nicht im schuldhaften Begehen der normwidrigen (willentlichen) Handlung, sondern erstreckt sich auch auf das mittelbare Unrecht. Und auch die dritte Frage - nämlich die nach der Widerspruchsfreiheit eines solchen Lösungskonzepts - läßt sich bei näherem Hinsehen leichter beantworten, als es zunächst den Anschein hat. Man muß sich vor Augen führen, daß auch beim vorsätzlichen Delikt noch mittelbares Unrecht eine Rolle spielt, und zwar im Rahmen der Strafzumessung. Eine Vorsatztat kann über die Tatbestandsverwirklichung hinaus noch ihren Schutzbereich berührende weitergehende objektive Auswirkungen haben, seien diese voraussehbar oder sogar gewollt. So kann beispielsweise eine vorsätzliche Körperverletzung eine längere Arbeitsunfähigkeit oder die Gefahr des Todes nach sich ziehen, ein Betrug die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz im Gefolge haben oder ein dem Schutz von Leben, Leib oder Eigentum dienendes abstraktes Gefährlichkeitsdelikt eine unvorsätzliche, aber voraussehbare Sachbeschädigung hervorrufen. Während nun dieses mittelbare Unrecht bei den Vorsatztatbeständen regelmäßig außerhalb des tatbestandlichen Unrechts verbleibt und erst im Rahmen der Strafzumessung Bedeutung erlangt, ist es beim fahrlässigen Erfolgsdelikt bereits Teil des tatbestandlichen Unrechts. Im übrigen kann auch bei einer Gruppe von Vorsatzdelikten, und zwar den erfolgsqualifizierten Delikten, ein nicht vom Vorsatz umfaßter, nur voraussehbarer Erfolg anstatt auf der Strafzumessungsebene, wie es sich grundsätzlich bei Vorsatzdelikten verhält, bereits auf der Tatbestandsebene auftreten. 39 3 9 So gibt es im deutschen StGB mehrere Tatbestände erfolgsqualifizierter Delikte, während solche Fälle z . B . im neuen spanischen StGB weitestgehend der Strafzumessung (ggf. den Konkurrenzen) überlassen sind. Ebenfalls geht es bei Anstiftung und Beihilfe tatbestandlich um mittelbares Unrecht und damit Zurechnung. Der Handlungsunwert erstreckt sich bis zur Vollendung der Anstiftung oder Beihilfe. Die Abhängigkeit von der (vollendeten oder ggf. versuchten) Haupttat hat nur den Charakter von mittelbarem Unrecht. Zwar muß dieses hier vom Vorsatz umspannt sein, aber der dazwischentretende freie und vollständige Entschluß des Haupttäters läßt die Haupttat zur alleinigen Handlung und damit zum alleinigen Handlungsunwert des Haupttäters werden.
Handlungs-, Sachverhalts- und Erfolgsunwert
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Es handelt sich daher nicht um einen Widerspruch, sondern um eine Erklärung der unterschiedlichen tatbestandlichen Struktur, wenn man bei fahrlässigen Erfolgsdelikten anders als bei reinen Vorsatzdelikten von einem dualistischen Tatbestandsunrecht ausgeht. 40 Man könnte allenfalls fragen, ob es dann nicht auch genügen würde, das tatbestandliche Unrecht beim Vorsatzdelikt dualistisch zu erklären. Damit würde man jedoch die sachliche Verschiedenheit, die zwischen Vorsatz- und Eahrlässigkeitsunrecht besteht, verwischen. Dasjenige Unrecht, das insgesamt Handlungsunrecht ist, fällt trotz der Verursachung des gleichen Erfolges - also beim Vergleich etwa von vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung - gerade deshalb schwerer ins Gewicht, weil es reines Handlungsunrecht ist. Dabei geht es außer dem die Gesamtheit des objektiven Tatbestands umspannenden Vorsatz auch um die größere Erfolgsnähe des Unrechts der Vorsatztat. Während bei dieser nämlich erst mit dem tatbestandlichen Versuchsbeginn das Unrecht beginnt, kann beim fahrlässigen Erfolgsdelikt die Handlung schon weit in der Vergangenheit liegen.41 Deshalb ist ja auch einer der Einwände gegen die heutige Lehre von der objektiven Zurechnung, daß sie - in Fortschreibung der kausalen Handlungslehre - davon ausgeht, die objektive Tatbestandsseite von Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikt seien identisch.42
IV. Die Problematik bei der Rechtfertigung Die Begriffe „Handlungsunwert" und „Erfolgsunwert" werden auch im Zusammenhang mit der Irrtumsproblematik bei den Rechtfertigungsgründen verwandt. Es heißt, daß bei irriger Annahme des Sachverhalts eines Rechtfertigungsgrundes, dem sogenannten „Erlaubnistatbestandsirrtum", 40 Wenn Wolter (Fn 12), S. 294 f demgegenüber einwendet, daß wegen des mit der Handlung verbundenen Erfolgsrisikos eine Einheit von Handlungs- und Erfolgsunwert auch hier bestehe, so bleibt dabei unberücksichtigt, daß ein Verbot sich nur auf eine Willenshandlung beziehen kann und deshalb der Erfolg des fahrlässigen Erfolgsdelikts, weil nicht gewollt, sich als „Zustandsunrecht" vom Gegenstand des Inhalts der Verhaltensnorm unterscheidet. Bedeutsam wird beim fahrlässigen Erfolgsdelikt der Unrechtsdualismus im übrigen auch im Zusammenhang mit der Rechtfertigungsfrage. Diese knüpft allein an die normwidrige Handlung an. Infolgedessen geht es beim Verzicht auf den Schutz durch die betreffende Norm (z.B. das in § 222 StGB enthaltene Verbot der als sorgfaltswidrig in bezug auf einen Tbdeserfolg zu bewertenden Handlung) um rechtfertigende Einwilligung und nicht um eine nach - unscharfen (siehe Roxin [Fn 1], § 11 Rn 109 einerseits und Hellmann FS für Roxin, 2001, S. 271, 283 ff andererseits)-Kriterien der Lehre von der objektiven Zurechnung zu lösende Tatbestandsfrage. Ist die sorgfaltswidrige Handlung durch Einwilligung gerechtfertigt, so fehlt es für eine Strafbarkeit trotz Erfolgseintrittsund damit vorliegenden Erfolgsunwerts am Erfordernis der Rechtswidrigkeit der Handlung des fahrlässigen Erfolgsdelikts; vgl Leipziger Kommentar StGB - Hirsch 11. Aufl, 1994, Vor § 32 Rn 107. 41 42
Vgl BGHSt. 42, 235, 236f. Vgl Hirsch FS für Lenckner, S. 119, 139f.
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der Handlungsunwert einer Vorsatztat fehle, so daß der Unrechtstatbestand des vorsätzlichen Delikts nicht gegeben sei.43 Hierauf kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht erneut näher eingegangen werden. 44 Soweit es sich um die zur Erörterung stehende Thematik handelt, läßt sich jedoch folgendes feststellen: Der Begriff „Handlungsunwert" bietet kein Argument für einen zweistufigen Deliktsaufbau, da der Unwert sich nach dem Bewertungsmaßstab bestimmt, den man als auschlaggebend voraussetzt. Wenn man mit der h. M. in Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit zwei abgestufte Bewertungsebenen sieht, dann richtet er sich nach demjenigen dieses Tatbestandsbegriffs. Verneint man eine solche Abstufung, so geht man von einem anderen Maßstab und damit einem anderen Verständnis des Handlungsunwerts aus. 45 Im übrigen spricht für die erstgenannte Auffassung, daß in einer den abgestuften Tatbestandsbegriff erfüllenden Handlung, sei es eine Körperverletzungs- oder Tötungshandlung, bereits ein rechtserheblicher Handlungsunwert liegt. Ein Rechtfertigungsgrund setzt dies auch der Funktion nach voraus, weil sonst gar keine Kollisionslage gegeben wäre, bei der sich die Frage der ausnahmsweisen Gestattung stellt.46
V. Ergebnis Als Gesamtergebnis läßt sich daher festhalten: (1) Die Frage nach dem Inhalt der Begriffe „Handlungsunwert" und „Erfolgs-resp. Sachverhaltsunwert" ist nicht nur akademischer Natur. Insbesondere hat die verbreitete subjektivistische Deutung des Begriffs „Handlungsunwert" zu Akzentverlagerungen der strafrechtlichen Betrachtungsweise geführt, die mit dem Tatstrafrecht als strafrechtlichem Grundprinzip unvereinbar sind.
« Schaffstein Μ DR 1951, 196, 199; den. GA 1975, 342, 343; Roxin (Fn 1), § 14 Rn 71; Schönke/Schröder/Ie»c/bier(Fn 1), Vor § 13 Rn 19; Stratenwerth (Fn 1), § 10 Rn 158. 44 Siehe statt dessen Hirsch (Fn 36), S. 220ff, 267ff, 332ff, 347f; ders. ZStW 94 (1982), 239, 257 ff; den. (Fn 40), Vor § 32 Rn 184. 45 Vgl schon die Kritik bei Hirsch (Fn 36), S. 246 Anm. 75, 250; auch Jescheck/Weigend (Fn 1), S. 463. 46 Mit den Begriffen Erfolgs- und Handlungsunwert wird auch beim umgekehrten Fall, daß der Täter das Vorliegen der objektiven Rechtfertigungsvoraussetzungen nicht erkannt hat, argumentiert. Es sei zwar der Handlungs-, nicht aber der Erfolgsunwert gegeben, weshalb es sich um (untauglichen) Versuch handele (so Jakobs [Fn 1 ], 11/23 f; Roxin [Fn 1 ], § 14 Rn 101; Schönke/Schröder/Lenckner [Fn 1], Vor § 32 Rn 15; mwN). Kritisch zu dieser Argumentation Hirsch FG 50 Jahre BGH, Band IV, 2000, S. 199, 234ff. Siehe zu der Problematik auch Puppe FS für Stree/Wessels, 1993, S. 183ff.
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(2) Der Begriff des Handlungsunwerts darf nicht von dem der Handlung abgekoppelt werden. Daher bildet nicht der beendete untaugliche oder auch taugliche Versuch, der sogenannte (beendete) Aktunwert, die Grundstruktur des Handlungsunwerts, sondern der Unwert der vollendeten Handlung. (3) Ebenso wie zwischen vollendeter und versuchter Tat zu unterscheiden ist, hat man zwischen Handlungsunwert der vollendeten und der versuchten Handlung zu unterscheiden. (4) Nicht nur der Handlungswille (die Intention), sondern auch die vom Willen umspannten objektiven Merkmale haben Relevanz für den Handlungsunwert. Deshalb gehört der Erfolg des vorsätzlichen Erfolgsdelikts als Ziel des Vorsatzes zum Handlungsunwert, gleichfalls begleitende objektive Umstände oder Tatmittel. (5) Der Unwert einer vollendeten Handlung ist grundsätzlich größer als der einer nur versuchten. (6) Auch beim fahrlässigen Erfolgsdelikt bezieht sich der Handlungsunwert auf eine Willenshandlung, nämlich die den Gegenstand des Sorgfaltswidrigkeitsurteils bildende Handlung. Der Erfolgsunwert ist hier, weil außerhalb des Gewollten liegend, nicht Teil der Handlung, zählt aber als mittelbares Unrecht mit zum Tatbestand. Hier ist der Gesichtspunkt der Zurechnung einschlägig. (7) Der Begriff „Sachverhaltsunwert" ist weiter als der des „Erfolgsunwerts". Er umfaßt alle objektiven Tatumstände des tatbestandlichen Unrechts, also neben dem Erfolg auch begleitende Umstände oder Tatmittel. Beim „Erfolgsunwert" geht es, jedenfalls bei präziser Handhabung des Begriffs, um den tatbestandlichen Erfolg im Sinne der Erfolgsdelikte. Dieser braucht nicht mit der Rechtsgutsverletzung identisch zu sein. (8) Wenn man die drei Begriffe in der dogmatischen Diskussion verwendet, hat man darauf zu achten, daß die Bestimmung des „Unwerts" sich nach den Maßstäben derjenigen Bewertungsebene richtet, um die es jeweils geht.
Gesetzesanwendung und Straftataufbau W I N R I C H LANGER
Dieter Meurers allzu früher Tod hatte auch zur Folge, daß unser am Beginn des gemeinsamen Weges intensives Gespräch über ein Grundthema aus dem Verhältnis von Strafrechtslehre und Strafrechtspraxis nicht zu Ende geführt werden konnte. Möglich bleibt nur die eigene Weiterarbeit an dem zuvor gemeinsamen Thema, die auch eine Form des Gedenkens sein kann.
I.
Das Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 103 II GG ist die für das gesamte Strafrecht grundlegende Verfassungsnorm.1 Exakte Gesetzesanwendung ist daher auf diesem Rechtsgebiet ein Postulat von noch höherer Dringlichkeit als in den übrigen Bereichen der Rechtsordnung. Dementsprechend hat das Erlernen der Fähigkeit zur exakten Gesetzesanwendung von Anfang an im Mittelpunkt der strafrechtswissenschaftlichen Ausbildung zu stehen.2 Große Aufmerksamkeit findet im studentischen Bemühen um das Strafrecht auch das Problemfeld des Straftataußaus, also die Fragen um das richtige begriffliche Erfassen und um die sachgerechte Systematisierung der Elemente der Straftat - eine Thematik, zu der es in den anderen juristischen Fachgebieten keine gleich gewichtige Entsprechung gibt. Diese Aufmerksamkeit ist durchaus ambivalent insofern, als die unterschiedlichen Aufbauschemata 3 auswendig gelernt werden, ohne daß die hinter
1 Vgl dazu im einzelnen Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Band V 38. Lieferung März 2001, Art. 103 Rn 163ff, insbes. 178ff; Jarass/Pieroth Grundgesetz, 6. Aufl 2002, A n . 103 Rn 40ff; Degenhart in: Sachs, Grundgesetz, 2. Aufl 1999, Art. 103 Rn 49ff; Tröndle in: LK, Bd. 1, 10. Aufl 1985, § 1 Rn 9ff. 2 Zur Bedeutung der auch methodisch richtigen Gesetzesanwendung für die studentische Fallbearbeitung bereits Kern/Langer Anleitung zur Bearbeitung von Strafrechtsfällen, 8. Aufl 1985, S. 21 ff. 3 Dazu gibt es eine unüberschaubare Fülle von Schemata-Sammlungen, die wegen der in vielen Fällen allzu pauschalen Darstellung von eher zweifelhafter Qualität sind und daher hier nicht benannt werden sollen. In der Regel suggerieren sie dem ratsuchenden Studenten durch eine scheinbar übersichtliche und knappe Darstellung, man könne strafrechtliche Gesetzesanwendung anhand eines quasi-mathematischen Rasters erlernen.
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deren Divergenzen stehenden strafrechtlichen Probleme durchschaut würden. 4 Zur Überraschung des unbefangenen Betrachters entfällt die vergleichsweise große Sicherheit der Studenten bei der Beherrschung beider Arbeitstechniken in deren Schnittlinie, d.h. dort, wo es um die Anwendung des Strafgesetzes in solchen Merkmalen geht, die die Straftatelemente benennen oder zu ihrer weiteren Aufgliederung dienen. Die hier notwendige Abhilfe setzt eine Klärung der Ursachen dieses Befundes voraus.
II. Uber die Grundschritte der Gesetzesanwendung gibt es in Schrifttum und Rechtsprechung keine Meinungsverschiedenheiten: Die gutachtliche Prüfung beginnt mit dem Herausarbeiten der Frage, deren Untersuchung sich der Gesetzesanwender nachfolgend zuwenden will - im strafrechtlichen Gutachten also beispielsweise mit der Benennung des Beteiligten, dessen Strafbarkeit geklärt werden soll, der potentiell einschlägigen Strafvorschrift, deren Merkmale jener Beteiligte erfüllt haben könnte, und des insoweit maßgebenden Geschehensstücks des zu beurteilenden Sachverhalts, das auf seine mögliche Tatbestandserfüllung hin betrachtet werden soll.5 In dieser Weise sind die die Strafbarkeit eines Verhaltens begründenden Gesetzesbestimmungen, die sog. Tatbestände eines Strafgesetzes (z.B. § 223 I StGB, Körperverletzung), vor den jeweils einschlägigen Ausschlußgründen (z.B. § 32 StGB, Notwehr) zu untersuchen. Wo die Gesetzgebungstechnik die Merkmale einer Straftat auf mehrere Vorschriften verteilt, indem sie etwa die Regelungen über den Versuch (§§ 22 ff StGB) oder über die Teilnahme (§§ 26 ff StGB) gleichsam vor die Klammer zieht, sind sie zum Zweck der Gesetzesanwendung wieder zusammenzuführen, wenn beispielsweise die Strafbarkeit wegen versuchten Totschlags (§§ 212 I, 22, 23 I StGB) oder wegen Diebstahls als Gehilfe (§§ 242 I, 27 StGB) festzustellen ist. Innerhalb der Strafvorschrift erfolgt die Prüfung der einzelnen Gesetzesmerkmale in den drei Grundschritten der Benennung, der Definition und der Subsumtion. 6 Auch insoweit wird die Methodik ersichtlich von niemandem in Zweifel gezogen. Die Untersuchung des jeweiligen Gesetzesmerkmals vollzieht sich in der Form eines Syllogismus, wobei Benennung und Definition des Merkmals 4
Ähnlich schon die Kritik durch Arzt Die Strafrechtsklausur, 6. Aufl 2000, § 14 I. Vgl Kern/Langer (Fn 2) S. 22; Otto Übungen im Strafrecht, 5. Aufl 2001, S. 9; diese methodische Vorgehensweise ist auch außerhalb des Strafrechts in allen Rechtsgebieten gleich, vgl dazu Brühl Die juristische Fallbearbeitung in Klausur, Hausarbeit und Vortrag, 3. Aufl 1992, S. 131 f. 6 Vgl für viele Otto (Fn 5) S. 9 f. 5
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den Obersatz, die Angabe des zu beurteilenden Geschehensstücks aus dem Sachverhalt den Untersatz liefert und beide in der Schlußfolgerung der Merkmalserfüllung oder -nichterfüllung miteinander verknüpft werden. 7 Sieht man von der Fülle der hierbei sich zu den Details ergebenden Fragen einmal ab, so besteht Konsens darüber, daß die Benennung der einzelnen Merkmale dem Gesetz gemäß und vollständig vorgenommen werden muß; daß ihre Definition die (nicht uneingeschränkt miteinander vereinbaren) Zielvorgaben der Exaktheit, der Praktikabilität, des Problemaufweises und der Problemlösung sowie der Verfassungskonformität im Hinblick auf die Anforderungen der anstehenden Gesetzesanwendung optimal auszubalancieren hat; 8 daß die Subsumtion als eigenständiger Schritt unverzichtbar ist, d . h . nicht durch die bloße Behauptung der Merkmalserfüllung oder -nichterfüllung ersetzt werden kann, 9 und daß sie eine abschließende Aussage über die Kongruenz zwischen der Definition des zu prüfenden Gesetzesmerkmals und dem zu untersuchenden Geschehensstück zu machen hat. 10 Aus der Gesamtheit der Merkmalsprüfungen folgt das Ergebnis der Gesetzesanwendung, durch das die Eingangsfrage eindeutig und erschöpfend beantwortet sein muß. Ermöglichen die vorgenommenen Untersuchungen zunächst nur die Feststellung eines Zwischenergebnisses, ist dieses als solches zu kennzeichnen.
III. Die Frage nach dem sachgerechten, d . h . dem Gegenstand der Systematisierung gemäßen Straftataufbau ist das Grundthema der allgemeinen Strafrechtslehre. Der überragenden wissenschaftlichen und praktischen Bedeutung dieses Kernproblems entsprechend, ist es in einer wahren Flut von Veröffentlichungen behandelt und mit einer schier unüberschaubaren Fülle schon im Grundsatz, aber erst recht in den Einzelheiten völlig verschiedener Aussagen zu lösen versucht worden. In sehr grober Vereinfachung lassen sich in einem Längsschnitt der Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts als Hauptströmungen nachzeichnen: Die sog. klassische Verbrechenssystematik11 bestimmte die Straftat als eine tatbestandsmäßige, rechtswid7 Näher zum Syllogismus Brühl (Fn 5) S. 5; Schneider Logik für Juristen, 5. Aufl 1999, S. 99 ff. 8 Vgl dazu im einzelnen KerntLanger (Fn 2) S. 27ff. ' Kern/Langer (Fn 2) S. 38ff; Brühl (Fn 5) S. 137f; Arzt (Fn 4) S. 25ff. 10 Zu diesem ebenfalls für jede Gesetzesanwendung geltenden Grundsatz des Subsumtionsschlusses Schneider (Fn 7) S. 139. 11 Maßgebend für die Entwicklung der klassischen Verbrechenssystematik waren Franz von Liszt (Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1. Aufl 1881) und Ernst Beling (Die Lehre vom Verbrechen, 1906).
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rige, schuldhafte, mit Strafe bedrohte Handlung. 12 Diese aufgliedernde Definition des allgemeinen Verbrechensbegriffs, wie sie vor nunmehr hundert Jahren unter dem Einfluß des naturwissenschaftlichen Denkens als klassifikatorische Systematik 13 formuliert worden ist, war ihrerseits das Ergebnis jahrzehntelanger Vorarbeiten, in deren Verlauf die begriffliche Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und Schuld sowie von Rechtswidrigkeit und Strafbarkeit wie auch der Aufweis des Tatbestandserfordernisses geleistet worden war. Diese Merkmale wurden als Attribute in der oben genannten Staffelung einschränkend der als Basisbegriff gewählten „Handlung" hinzugefügt, 14 und zumindest als Sprachformeln blieben sie im wesentlichen die bis in die Gegenwart gültigen Benennungen der Straftatelemente. Was sich seither bei der Fortentwicklung der Lehre von der Straftat zur sog. herkömmlichen oder neoklassischen Verbrechenssystematik mehrfach grundlegend änderte, waren also nicht die zur Gliederung des Straftatbegriffs verwandten Merkmale, sondern es waren die von diesen Ausdrücken bezeichneten Inhalte: War im sog. klassischen Verbrechensbegriff der „Tatbestand" als Typus objektiv, als Prägeform der konkreten Straftat, d. h. der Tatbestandsverwirklichung, regulativ und als durch Besinnung auf das Denkverfahren des Gesetzgebers gewonnene Abstraktion wertfrei,15 so wird in der Folgezeit dieser Inhalt des unverändert beibehaltenen Ausdrucks „Tatbestand" in allen genannten Merkmalen ausgewechselt; der als Element der Straftat begriffene Tatbestand enthält auch subjektive Merkmale und ist als Träger des Straftatunwertes keineswegs wertfrei. 16 Die gleichfalls im sog. klassischen Verbrechensbegriff rein objektiv und formal gesehene Rechtswidrigkeit 17 wird mit der Entdeckung subjektiver Unrechts- und Rechtfertigungselemente um diese täterpsychische Dimension erweitert, dadurch materialisiert und so einer Abwägung zugänglich. 18 Die in der sog. klassischen Verbrechenssystematik als psychische Beziehung des Täters zu seiner Tat definierte Schuld 19 wird unter dem neuen Einfluß des wertbeziehenden Denkens zum Urteil der Vorwerfbarkeit. 20 Eine zweite Welle inhaltlicher Veränderungen des Straftataufbaus brachte der Finalismus,21 der sich nicht auf seine grundlegende Erkenntnis, den Auf12 Zur dogmengeschichtlichen Entwicklung siehe Gallas Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 19, 20; Schmidhäuser Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl 1975, 7/1 ff. 13 Näher hierzu Schmidhäuser (Fn 12) 7/3. 14 Von Liszt Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 18. Aufl 1911, S. 120ff. 15 Beling (Fn 11) S. 145ff; Plate Ernst Beling als Strafrechtsdogmatiker, 1966, S. 48ff. 16 Schmidhäuser {Έτι 12) 7/11. >7 Beling (Fn 11) S. 40ff. 18 Vgl die Darstellung dieser Entwicklung bei Gallas (Fn 12) S. 19, 21. i' Beling (Fn 11) S. 45. 20 Frank Über den Aufbau des Schuldbegriffs, 1907, S. 11. 21 Welze! Studien zum System des Strafrechts, ZStW 58 (1939) 491 ff; von Weber Aufbau des Strafrechtssystems, 1935; zu Dohna Der Aufbau der Verbrechenslehre, 1936.
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weis der Finalstruktur menschlichen Handelns, 22 beschränkte, sondern dezisionistisch den Handlungswillen mit dem strafgesetzlichen Vorsatzmerkmal gleichsetzte23 und zudem das seiner ursprünglichen Funktion der Unterscheidung von Unrecht und Schuld verlustig gegangene Kategorienpaar objektiv/subjektiv nunmehr zur Gliederung der Tatbestandsmerkmale 24 verwandte. Die gegenwärtig im Vordringen begriffenen teleologischen Systematisienmgsansätze25 ordnen die Straftatmerkmale unter dem Leitaspekt der Rechtsfolge „Strafe". Erstrebt wird danach eine solche Gliederung der Straftatelemente, die diese als in ihrem Unwertgehalt und in ihrer gesetzlichen Form aufeinander bezogene und insoweit begriffsnotwendig aufeinander aufbauende Voraussetzungen der Rechtsfolge „Strafe" aufweist. 26
IV. Die vorstehend skizzierten Systematisierungen der Straftatelemente werden in einer kaum überschaubaren Fülle von untereinander zum Teil erheblich divergierenden Spielarten von einer im Laufe der Entwicklung stark schwankenden Zahl von Anhängern bis zum heutigen Tag vertreten. Sie koexistieren und konkurrieren also miteinander, ohne daß die jeweils dogmengeschichtlich jüngeren Aufbauarten die älteren hätten vollständig verdrängen können, wenngleich in aller Regel die Entwicklungstendenz zu Wachstum oder Abschwung in der Zahl der Vertreter deutlich zu erkennen ist. Gemeinsame Grundannahme aller an diesem Systematisierungswettstreit Beteiligten ist die Überzeugung, daß sich letztlich der sachgerechte, d.h. der seinem Gegenstand am besten entsprechende Straftataufbau durchsetzen wird. Hier kann es schon wegen des nur beschränkt verfügbaren Raumes nicht darum gehen, in den Kontroversen um den sachgerechten Straftataufbau die Flut der Abhandlungen um eine weitere zu vermehren und so inhaltlich zu jenem Meinungsstreit Position zu beziehen; denn dadurch entstünde die Gefahr, daß die eingangs aufgewiesene Kernproblematik dieser Untersuchung in den Hintergrund gedrängt werden oder ganz aus dem Blick geraten könnte, weil eine von einer so spezifischen Position her entwickelte Lösung auch nur für den Bereich dieser Prämisse Gültigkeit beanspruchen könnte.
Welzel Das Deutsche Strafrecht, 1947, S. 21 f. Welzel (Fn22) S. 38f. 24 Welzel (Fn 21) 491, 522ff; zu Dohna (Fn 21) S. 2ff. 25 Schmidbauer (Fn 12) 6/2ff; Wessels/Beulke Strafrecht Allgemeiner Teil, 31. Aufl 2001, Rn 815 f. (mit zahlreichen Nachweisen). 24 Näher dazu Kern/Langer (Fn 2) S. 44 ff. 22
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Die zu klärende Kernfrage betrifft die Defizite in der Gesetzesanwendung gerade bei den Grundbegriffen des Straftataufbaus. Im Hinblick auf sie lassen sich verallgemeinerungsfähige Antworten nur finden, wenn der umgekehrte Lösungsweg eingeschlagen, nämlich der kleinste gemeinsame Nenner der unterschiedlichen Auffassungen zur Straftatsystematik ermittelt und in bezug auf seine Merkmale nach dem „Ob" und gegebenenfalls nach dem „Warum nicht?" einer korrekten Gesetzesanwendung gefragt wird. Eine solche Rückbindung der Problemanalyse an den Minimalkonsens über die Grundbegriffe des Straftataufbaus hat nichts gemein mit der Übernahme einer sog. herrschenden Meinung und ist daher strikt davon zu unterscheiden: Auch die sog. herrschende Meinung ist eben eine spezifische Ansicht und kann damit nur zu einer spezifischen, nicht aber zu einer allgemein gültigen Lösung des Problems führen. Im übrigen mag es hier dahingestellt bleiben, welche Funktion eine Berufung auf die „herrschende Ansicht" bei der Gesetzesanwendung überhaupt haben kann; denn für den Richtigkeitsgehalt rechtswissenschaftlicher Erkenntnisse kommt es auf das Gewicht der sie tragenden Argumente, nicht aber auf den Rang der sie vertretenden Autoritäten27 (und damit schon gar nicht auf die jeweiligen Quantitäten von Autoritäten) an. Zudem ist schon die Feststellbarkeit des „Herrschens" einer Meinung allenfalls bezüglich punktueller, eindeutig zu beantwortender Fragen möglich; bei einem so außerordentlich komplexen Problemfeld wie dem des Straftataufbaus mit seinem nahezu unüberschaubaren Streitstand schon zum Grundsätzlichen und erst recht im Detail wird die Redeweise von der „herrschenden Meinung" schlechthin sinnlos. Welches hingegen sind die Kategorien, die nach allgemeiner Ansicht für das richtige Erfassen des Straftataufbaus unverzichtbar sind? Es sind die Merkmale, die das Gesetz selbst zur Benennung der Straftatelemente und ihrer Beziehungen untereinander verwendet, wie z.B. „Tat", „Handeln" und „Unterlassen", „Tatbestand eines Strafgesetzes", „Unrecht", „vorsätzliches und fahrlässiges Handeln", „Schuld", aber auch „Vollendung" und „Versuch" sowie „Täterschaft" und „Teilnahme". Diese Auflistung verliert etwas von ihrer scheinbaren Trivialität, wenn man sich bewußt macht, welche gängigen strafrechtsdogmatischen Begriffe in dieser Auflistung nicht enthalten sind, nämlich beispielsweise Kausalität, Schutzzweck der Norm, Rechtswidrigkeitszusammenhang, Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung, überschießende Innentendenz, Erlaubnistatbestandsirrtum, Entschluß, Werkzeug und Wissensherrschaft.
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Arzt (Fn 4) S. 47: „Autoritäten sind keine Argumente".
Gesetzesanwendung u n d Straftataufbau
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V. Veranschaulichen wir uns den zu analysierenden Befund, nämlich die studentischen Defizite bei der Anwendung gerade der den Straftataufbau kennzeichnenden Gesetzesmerkmale, anhand eines beliebig herausgegriffenen Beispiels, bevor wir mit der Suche nach den Ursachen dieses Phänomens beginnen. Das Strafgesetzbuch bestimmt in § 15 StGB, daß nur vorsätzliches Handeln strafbar ist, soweit nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht. In der (statistischen) Regelform der Straftat ist das Gesetzesmerkmal „vorsätzlich" damit ein begriffsnotwendiges Aufbaumerkmal. Eine im Entwurf 28 enthaltene Legaldefinition des Vorsatzes hat das Parlament im Gesetzgebungsverfahren sehr bewußt wieder gestrichen. Wie sieht nun die Gesetzesanwendung in bezug auf dieses Merkmal in der studentischen Praxis aus ? Die Mehrheit folgt einem finalistischen Ansatz mit einer Begriffsbildung im Sinne der sog. strengen Schuldtheorie. 29 Die Wahl dieses Weges bietet sich scheinbar von selbst an, wenn man bedenkt, daß der Entwurf des heute geltenden Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs von Vertretern dieser Spielart des Finalismus so verfaßt worden ist, daß diese Theorie als Grundlage der künftigen Regelung im Text des Entwurfes durchgängig zum Ausdruck gebracht wurde. Gerade diese Vorfixierung hat jedoch der Gesetzgeber nach massiver Kritik aus der Strafrechtswissenschaft durch zahlreiche und tiefgreifende Änderungen des Textes gezielt beseitigt, so daß sich aus der Gesetzgebungsgeschichte gerade keine Vorfestlegung, sondern die O f fenheit der §§ 15 ff StGB für die übrigen Kriterien der Gesetzesinterpretation ergibt. Auffällig ist sodann bei dem von der Mehrheit beschrittenen Weg zur Anwendung dieses Gesetzesmerkmals, daß sehr häufig schon der erste Schritt falsch gemacht wird, indem die gesetzliche Benennung des Merkmals durch einen anderen Ausdruck (z.B. „Tatbestandsvorsatz") ersetzt wird. Auf der Ebene der Definition des zu prüfenden Merkmals (als dem zweiten Schritt der Gesetzesanwendung) hat die Klärung der hinsichtlich dieses Merkmals eventuell bestehenden Probleme (und der sich oft daraus ergebenden rechtswissenschaftlichen Kontroversen) zu erfolgen; wer also den Vorsatzbegriff in der genannten Weise definieren möchte, hat sich nicht nur mit den abweichenden Meinungen aus dem Schrifttum, sondern vor allem mit der Ansicht des Bundesgerichtshofes auseinanderzusetzen, der in ständiger Rechtsprechung den Vorsatz als „Schuldform" charakterisiert. 30 Diese Vgl § 16 Entwurf 1962 (BT-Drucksache IV/650). Welzel Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl 1969, S. 64 ff, 164 ff. μ Siehe dazu aus neuerer Zeit z.B. BGH NStZ 2000, 583f; 2000, 206; 1992, 587f; 1987, 362; BGHSt 43,158, 168; 36, 1,10. - Anders ersichtlich nur (aber zudem überholt durch die Gesetzesänderung am 2. 1. 1975) BGHSt 19, 295, 298f. 29
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Kontroversen sind bei der Gesetzesanwendung an der frühestmöglichen Stelle (das heißt: hier, bei der beabsichtigten Einordnung des Vorsatzes als Element des Unrechtstatbestandes) zu klären, um nicht gegen die Grundregel zu verstoßen, daß einmal getroffene Feststellungen nicht hernach wieder in Zweifel gezogen werden dürfen. Ausnahmslos unterbleibt eine solche Klärung, und fast ausnahmslos wird die Gesetzesanwendung zudem insofern in sich widersprüchlich, als an der zunächst zugrunde gelegten Begriffsbildung der sog. strengen Schuldtheorie nicht festgehalten wird. Ebensowenig genügt aber auch das Vorgehen der Minderheit wissenschaftlichen Ansprüchen, wenn von ihr im Hinblick auf die Konstrukte der sog. eingeschränkten Schuldtheorien von vornherein zwischen „Tatvorsatz" und „Vorsatzschuld" unterschieden wird.31 Derartige Unterscheidungen sind legitim, entheben den so differenzierenden Gesetzesanwender aber nicht der Pflicht, eine Definition des gesetzlichen Vorsatzmerkmals zu erarbeiten und jene Untermerkmale in eine exakt bestimmte Begriffsbeziehung zu dieser Vorsatzdefinition zu bringen. Wenn man sich einmal darauf festgelegt hat, daß der Vorsatz (zumindest auch) eine Schuldform sei, dann ist die vor der Prüfung dieses Schuldelementes erfolgende Feststellung, der Täter habe „vorsätzlich" gehandelt, falsch. Dieser Befund, der sich sehr viel tiefer wie auch breiter aufweisen ließe (also in bezug auf den „Vorsatz" hinsichtlich der methodischen Anwendungsfehler im einzelnen und hinsichtlich der übrigen Gesetzesmerkmale des Straftataufbaus in entsprechender Weise), steht in auffälligem Gegensatz zu der relativen studentischen Sicherheit bei der Gesetzesanwendung im übrigen: Vergleichbare methodische Defizite bei der Prüfung etwa des „körperlichen Mißhandelns" gemäß § 223 StGB oder des „Wegnehmens" gemäß § 242 StGB gibt es nicht, nicht einmal bei den schwächsten Kandidaten. Damit stellt sich unabweisbar die Frage nach den Gründen für diesen Befund; denn beheben werden sich jene methodischen Unzulänglichkeiten allenfalls dann lassen, wenn ihre Ursachen eindeutig zu diagnostizieren sind.
VI. Ein spezifisches Defizit in Studienleistungen kann seine ausschlaggebenden Gründe bei den Lernenden, bei den Lehrenden oder in den äußeren Umständen haben. Hinsichtlich der Lernenden könnte es beispielsweise auf unzureichende Studierfähigkeit32 infolge mangelnder schulischer Vorbil31 Ausführlich zu den verschiedenen sog. eingeschränkten Schuldtheorien Wessels/Beulke (Fn 25) Rn 470 ff. 32 Vgl dazu im einzelnen Michel ]uS 1981, 313 ff.
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dung oder auf fehlendes Interesse am Studienfach oder am Fachgebiet (hier: des Strafrechts) zurückzuführen sein. Hinsichtlich der äußeren Umstände wird man jene Ursachen in den Schwächen der gesetzlichen Ausgestaltung von Studium und Prüfung (etwa in einer Uberforderung der Studierenden durch die Fülle des Lernstoffs oder in der Prämierung reproduzierbaren Faktenwissens gegenüber methodischer Sicherheit beim wissenschaftlichen Arbeiten) wie auch in der fehlenden Ausstattung mit den nötigen Studienmaterialien (insbesondere Lehr- und Anleitungsbüchern) vermuten können. Weil die vorstehend genannten Gründe sich dann aber in allen Bereichen der Gesetzesanwendung gleichmäßig auswirken müßten, während sich die methodischen Mängel tatsächlich auf die Gesetzesmerkmale des Straftataufbaus beschränken, spricht alles dafür, die Ursachen für jene Defizite nicht primär bei den Studierenden oder in den äußeren Umständen,
sondern zuerst in der Strafrechtslehre zu suchen. 1) Jede Gesetzesanwendung beginnt nach der Eingangsfrage mit der Benennung des ersten zu prüfenden Merkmals. Daß diese Benennung nur mit dem vom Gesetz selbst verwendeten Wort erfolgen darf, mag als so selbstverständlich erscheinen, daß jede Erwähnung entbehrlich sei. Die studentische Praxis belehrt uns eindringlich eines Besseren. Hinsichtlich der Aufbaumerkmale des allgemeinen Verbrechensbegriffs beispielsweise spricht das Gesetz von „Unrecht" 33 ; die Ersetzung dieses Ausdrucks durch „Rechtswidrigkeit" ist daher methodisch falsch und bedeutet inhaltlich eine Verschiebung des vom Gesetz Gemeinten. Verwendet das Gesetz das Straftatmerkmal „Schuld" 34 , so ist allein das die korrekte Benennung auch für die Gesetzesanwendung, d. h. es darf nicht gegen die Wörter „Verantwortlichkeit", „Strafbegründungsschuld" oder „Strafzumessungsschuld" ausgetauscht werden. Mit dem Gesetzeswortlaut ist „vorsätzliches Handeln" (§ 15 StGB) nur so zu benennen und zu prüfen; methodisch falsch ist eine Aufspaltung in „Tatvorsatz" und „Schuldvorsatz" wie auch die Auswechslung der gesetzlichen Benennung gegen den Terminus „dolus", vielleicht sogar mit einer Differenzierung in „dolus directus" und „dolus eventualis". Um einem möglichen Mißverständnis von vornherein vorzubeugen: Die Kritik richtet sich nicht gegen eine Verwendung der hier zurückgewiesenen Wörter im Rahmen der Definition der einschlägigen Gesetzesmerkmale, sondern ausschließlich gegen das Ubergehen der Gesetzesmerkmale in der Anwendungsstufe der Merkmalsbenennung. Gleichermaßen unzulänglich wie beim allgemeinen Verbrechensbegriff
erfolgt die Benennung der gesetzlichen Aufbaumerkmale bei den Erschei-
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Vgl z . B . die §§ 17, 20, 21, 56b I, III StGB.
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Vgl beispielsweise die §§ 17, 20, 29, 35, 4 6 1 , 57a I N r 2, 57b, 74 III StGB.
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nungsformen35 der Straftat: Wo ist die Anleitung, die für die Untersuchung des Garantenunterlassungsdelikts exakt die Merkmale des § 13 StGB benennt - sie also nicht zur Hälfte ganz wegläßt und den Rest durch Ausdrücke wie „Garantenstellung", „Garantenpflicht", „Gleichstellungsklausel" o.ä. ersetzt? - Wo wird die Prüfung des Versuchs gemäß § 22 StGB mit dem „Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung" (konkretisiert auf die jeweilige Deliktsart) begonnen, dann gefragt, ob „unmittelbar" angesetzt wurde, und zwar, „nach seiner (d.h. des Täters) Vorstellung von der Tat"? Von „Nichtvollendung" und „Entschluß" steht hingegen in § 22 StGB im Unterschied zu dessen Vorgängervorschrift nichts mehr! - In welchem Lehrwerk wird verlangt, gemäß § 29 StGB bei der Beurteilung „jedes Beteiligten" strikt „nach seiner Schuld" und nach der „Schuld des anderen" zu unterscheiden, insbesondere hinsichtlich der selbständigen Schuldmerkmale? 2) Noch weitaus häufiger als bei der Benennung der gesetzlichen Merkmale des Straftataufbaus sind die Mängel in der studentischen Gesetzesanwendung bei der Definition jener Merkmale. Für die Suche nach den Ursachen liegt auch insoweit ein Blick in die strafrechtlichen Lehrwerke nahe. a) Zu den Defiziten, auf die man bei der Lektüre des strafrechtlichen Schrifttums zu den gesetzlichen Merkmalen des Straftataufbaus rasch stößt, gehört zuerst das Fehlen von Definitionen oder zumindest das Fehlen einer für die Gesetzesanwendung brauchbaren Kurzformel. Zur Veranschaulichung ein erstes Beispiel: Seit dem Inkrafttreten des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches in der Fassung des 2. Strafrechtsreformgesetzes am 2. 1. 1975 ist „Unrecht" (z.B. gemäß § 17 StGB) ein gesetzliches Merkmal des Straftataufbaus, wie bereits drei Jahrzehnte länger das Merkmal „Schuld" (z.B. gemäß § 29 StGB / § 50 I StGB a.F.). Wenn also das Gesetz selbst innerhalb der Straftat Unrechtselemente und Schuldelemente unterscheidet, müssen diese beiden Gesetzesbegriffe so definiert werden, daß der zu beurteilende Sachverhalt unmittelbar unter die betroffenen Vorschriften subsumiert werden kann. Die Frage etwa, ob es sich bei dem für den Tatzeitpunkt festgestellten Bewußtseinsinhalt eines Uberzeugungstäters um dessen Einsicht handelt, „Unrecht" zu tun, muß aufgrund der Definition eindeutig zu beantworten sein; sie darf nicht in Ermangelung einer derartigen Begriffsklärung mit Hilfe solch seltsamer Konstrukte wie etwa der des Bundesgerichtshofes im sog. Katzenkönig-Fall 36 umgangen werden (Vorliegen der Unrechtseinsichtsfähigkeit, „denn er wußte um das Verbotensein der Tötung eines Menschen und er kannte sämtliche Tatumstände". - „Verbotsirrtum", d.h. Fehlen der Unrechtseinsicht, obwohl er „erkannte, daß das Mord sei", 35 Zur Bestimmung dieses Begriffs und seiner strafrechtssystematischen Funktion vgl im einzelnen Langer Das Sonderverbrechen, 1972, S. 363 ff. 36 BGHSt 35, 347ff.
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und der Sachverhalt nichts dafür ergibt, daß der Täter als Polizist diesen Mord als von der staatlichen Rechtsordnung erlaubt angesehen hätte). Entsprechendes gilt für die „Schuld" als gesetzliches Merkmal des Straftataufbaus: Ohne exakte Definition dieses Begriffs ist die Vorschrift des § 29 StGB nicht anwendbar. Diese Gesetzesbestimmung konkretisiert das Schuldprinzip als ungeschriebenen Verfassungssatz 37 für das Zusammenwirken mehrerer Beteiligter bei einer Straftat dahingehend, daß jeder Beteiligte nur nach seiner Schuld strafbar, die Schuld also etwas Höchstpersönliches ist, das nicht Gegenstand einer Fremdzurechnung sein kann - im Unterschied zum vom Täter begangenen Unrecht, das dem Teilnehmer gleichsam als Erfolg seiner Teilnehmerstraftat zugerechnet wird. Das O b und das Wie der Strafbarkeit eines Beteiligten können also entscheidend durch den Charakter eines Merkmals als Unrechtselement oder als Schuldelement bestimmt werden. Die richtige straftatsystematische Zuordnung des betreffenden Merkmals kann nur anhand der Kriterien erfolgen, mit deren Hilfe zuvor Unrecht und Schuld definiert worden sind - nicht hingegen durch gläubiges Annehmen der von einer strafrechtlichen Autorität geoffenbarten Meinung. 38 Ohne die exakte Klärung jener Begriffe läßt sich beispielsweise die Frage nicht beantworten, ob das Aneignungsmoment in der Zueignungsabsicht beim Diebstahl (§ 242 StGB) für die Strafbarkeit des Hilfeleistenden wegen Diebstahls als Gehilfe (§§ 2 4 2 , 2 7 StGB) als Schuldmerkmal 39 in seiner Person oder als Unrechtsmerkmal 40 in der Person des Täters erfüllt zu sein hat. Das Fehlen der Definition gesetzlicher Straftataufbaumerkmale läßt sich auch im Bereich der Erscheinungsformen der Straftat als Quelle studentischer Unsicherheit bei der Gesetzesanwendung ausmachen. Was ist unter der „Verwirklichung des Tatbestandes" zu verstehen, zu der der Versuchstäter gemäß § 22 StGB anzusetzen hat? Selbst wenn diese Frage in Entsprechung zu den Auslegungsproblemen des § 11 I Nr. 5 StGB auf die Differenzierung in Unrechts-, Schuld- und Straftatbestand beschränkt wird, dürfte die Beantwortung weder leicht noch unumstritten sein. Auch nach einer begrifflichen Klärung des „Ansetzens" wird man lange suchen müssen; abweichend von der allgemein anerkannten und praktizierten Methode der Gesetzesanwendung, jedes Merkmal einzeln auf seinen Gehalt hin zu untersuchen, werden hier die Merkmale „unmittelbar" und „ansetzen" wie siamesische Zwillinge als Einheit 41 benannt und es wird bei der weiteren BVerfGE 91, 1 , 2 7 ; 54, 100,108; 50,125, 133; 45, 187, 259; 41,121, 125; 25, 269, 285; 23, 12^ 132; 20, 323, 331. 38 Vgl oben, Fn 27 39 So aufgrund vorangegangener Begriffsklärung Schmidhäuser Strafrecht Besonderer Teil, 2. Aufl 1983, 8/29f. 40 Es er in; Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 26. Aufl 2001, § 242 Rn 46. 41 Vgl statt vieler Wessels/Beulke (Fn 25) Rn 599 ff.
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Prüfung dieser Einheitsformel vom „unmittelbaren Ansetzen" sogleich alles definitorische Bemühen auf die Klärung der „Unmittelbarkeit" beschränkt. - Oder: Wo findet sich im Schrifttum eine subsumtionsfähige Definition für das „Begehen durch einen anderen" gemäß § 25 I Var. 2 StGB? b) Außer einer fehlenden kann und wird nicht selten eine verfehlte Definition eines gesetzlichen Straftataufbaumerkmals als Ursache für Defizite bei der Gesetzesanwendung in Betracht kommen. Dabei sei die Kennzeichnung als „verfehlt" hier auf solche Definitionen beschränkt, die schon einer Immanentkritik nicht standhalten: Es geht also keinesfalls darum, die inhaltlichen Kontroversen der Strafrechtsdogmatik über den Straftataufbau erneut zu diskutieren und dabei die eigene Sicht zur Meßlatte der Richtigkeit zu erklären. Hingegen müßte sich Konsens darüber erzielen lassen, daß eine in sich widersprüchliche Definition als verfehlt zu kennzeichnen ist. Ein solcher innerer Widerspruch besteht derzeit beispielsweise innerhalb der Vorsatz-Definition durch den Bundesgerichtshof: Vorsatz ist Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner Tatumstände; Vorsatz ist Tatvorsatz. 42 Vorsatz ist eine Schuldform. 43 Verfehlt sind aber auch solche Definitionen, die den allgemein anerkannten Grundregeln des Definierens gesetzlicher Merkmale zum Zwecke der Gesetzesanwendung nicht genügen. So gehört das Zusammenwirken von Qualifizierten und Nichtqualifizierten bei der Sonderstraftat (um ein Beispiel aus dem Gebiet der Erscheinungsformen des Verbrechens zu wählen) unumstritten zum Kernbereich der Regelung des § 28 StGB, ohne daß damit der Begriff des „Besonderen" persönlicher Merkmale bereits abschließend bestimmt wäre. Methodisch korrekt hat diese Klärung in der Weise zu erfolgen, daß zunächst der Begriff der „persönlichen Merkmale" in seinem Unterschied zu dem der „sachlichen Merkmale" erarbeitet und sodann nach den „besonderen" in ihrer spezifischen Differenz zu den „allgemeinen" innerhalb der persönlichen Merkmale gefragt wird. 44 Es versteht sich von selbst, daß dasselbe Kriterium, das zuvor die persönlichen Merkmale von den sachlichen unterschieden hat, nicht hernach innerhalb der persönlichen Merkmale die besonderen von den allgemeinen abheben kann. Eben das wird aber zu praktizieren versucht, wenn mit Hilfe des (zudem seinerseits nicht definierten) Begriffspaares täterbezogen/tatbezogen als „besondere" persönliche Merkmale die „täterbezogenen" festgeschrieben werden, obwohl jeder denkbare Inhalt von „täterbezogen" schon in die Kennzeichnung der „persönlichen Merkmale" eingegangen ist und sich damit für eine Unterscheidung innerhalb dieser in „besondere" und „allgemeine" nicht ein zweites Mal heranziehen läßt. 42 43 44
BGHSt 19, 295, 298. BGHSt 43, 158, 168; 36, 1, 10. Langer in: Festschrift für Richard Lange, 1976, S. 241, 245ff.
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c) Methodisch falsch im Bereich der Begriffsbestimmung gesetzlicher Merkmale des Straftataufbaus ist neben dem Fehlen und dem Verfehlen der Definition auch deren Nichternstnehmen. Die richterliche Tätigkeit verliert ihren Charakter als rational begründete und kontrollierbare Gesetzesanwendung, wenn die bei dem maßgebenden Definieren des Gesetzesmerkmals herausgearbeiteten Kriterien im abzuurteilenden Fall aufgrund (wohlerwogenen) richterlichen Ermessens übergangen werden. Sehr beliebt ist der Weg, das nicht erfüllte Kriterium mit einem kaschierenden Attribut zu versehen und mit der so neu geschaffenen Leerformel nach richterlichem Belieben die Erfüllung des Kriteriums zu fingieren. So ist beispielsweise nicht nur äußerst problematisch, sondern auch hoch kontrovers, ob zu den Elementen des strafgesetzlichen Vorsatzbegriffs auch das Wollen gehört und - bejahendenfalls - ob es definitorisch auf ein „Billigen" des Erfolges durch den Vorsatztäter reduziert werden kann. 45 Hat man den Vorsatz aber auf diese Weise definiert, dann ist es ein - methodisch falsches - Nichternstnehmen der eigenen Definition, wenn man in einem Fall des Nichtbilligens das „Billigen im Rechtssinne"46 kreiert, um zur im Ergebnis allein sachgerechten Vorsatzstrafbarkeit zu kommen. Richtige Gesetzesanwendung hätte zur offenen Zurücknahme der als nicht haltbar erkannten Definition führen müssen. Ein zweites Beispiel für das Nichternstnehmen der eigenen Definition sei nochmals aus dem Gebiet der Erscheinungsformen der Straftat gewählt: Wiederum ist es sehr zweifelhaft und umstritten, ob „Tatherrschaft" überhaupt ein definitionsfähiger Begriff und damit ein mögliches Kriterium für die Bestimmung der Täterschaft und ihrer Abgrenzung zur Teilnahme sein kann. 47 Wenn man aber diese Frage bejaht, indem man das für den Kernbereich dieser Umschreibung ganzheitlich-bildhaft Erfaßte als für den Gesamtbereich geltend annimmt, dann ist man an das so definierte Abgrenzungskriterium gebunden. Es ist von dieser Voraussetzung her methodisch falsch, in Fällen eindeutigen Fehlens der so begriffenen Tatherrschaft bei dem allein mit der tatbestandlich-rechtsgutsverletzenden Absicht (bei einem Absichtsdelikt) oder mit der Sondersubjektsqualifikation (bei einer Sonderstraftat) handelnden Hintermann diesem eine „normativ-psychologische Tatherrschaft" 48 gegenüber dem absichtslos oder qualifikationslos handelnden Vordermann, der in Wirklichkeit das Tatgeschehen ganz allein beherrscht, um der erstrebten Täterschaftsstrafbarkeit für den Hintermann willen zuzusprechen. 45 Vgl hierzu die sehr instruktive Darstellung und Kritik bei Otto G r u n d k u r s Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 6. Aufl 2000, § 7 R n 38 ff. 46 BGHSt 7, 363, 369. 47 Mit detaillierter Kritik verneinend schon Freund Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1998, § 10 R n 42 ff. 48 Jescbeck/WeigendLehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl 1996, S. 670.
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Die eingangs aufgeworfene Frage nach den Ursachen der studentischen Defizite bei der Gesetzesanwendung gerade hinsichtlich der Merkmale des Straftataufbaus dürfte nach allem weitgehend beantwortet sein: In den genannten Unzulänglichkeiten spiegeln sich nur die entsprechenden Schwächen und Lücken des einschlägigen strafrechtlichen Schrifttums. Erst wenn hier die notwendigen Korrekturen und Ergänzungen vorgenommen werden, ist auch insoweit das in den übrigen Bereichen schon bisher übliche Niveau studentischer Gesetzesanwendung zu erwarten.
Unzulänglichkeiten des Fahrlässigkeitsdelikts in der modernen Industriegesellschaft - Eine Bestandsaufnahme
BERND
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SCHÜNEMANN
Dieter Meurer, dessen Gedenken ich diese kleine Studie in dankbarer Erinnerung widme, hat in seiner vermächtnishaften Abhandlung zu den „Marksteinen der Rechtsprechung des BGH in Strafsachen"1 ausweislich seiner Ubersicht in Fn 3 „notgedrungen auf so nennenswerte Entscheidungen zum materiellen Recht wie BGHSt. 11,1 (Radfahrer) und BGHSt. 32, 262 (Heroinspritze) verzichten" müssen, so daß ich seine Gedanken fortzuführen glaube, wenn ich nachfolgend die Entwicklung der strafrechtlichen Fahrlässigkeitshaftung zu bilanzieren und mit den kriminalpolitischen Herausforderungen der Gegenwart zu konfrontieren versuche.
I. Das klassische Konzept der Fahrlässigkeitsdelikte in seiner ursprünglichen und in seiner modernen Fassung 1. Weil die Frage der Tauglichkeit des klassischen Konzepts der Fahrlässigkeit im Strafrecht zur Lösung der durchweg grenzüberschreitenden kriminalpolitischen Probleme der heutigen Industriegesellschaft nur noch auf europäischer Ebene erschöpfend diskutiert werden kann, muß man sich zunächst einmal die erheblichen Differenzen im Ausgangspunkt der strafrechtlichen Haftung für unvorsätzliche Rechts guts Verletzungen klarmachen, die zwischen den einzelnen europäischen Rechtsordnungen bestehen. Den einen Extrempunkt bildete hier bis 1995 das spanische Recht, das in Art. 565 des Codigo Penal von 1870 ein allgemeines Delikt strafbarer Fahrlässigkeit kannte,2 welches wie folgt definiert war: NJW 2000, 2936ff. Im neuen Codigo Penal von 1995 ist diese Vorschrift nicht mehr enthalten, vielmehr gilt nunmehr ein numerus clausus der Fahrlässigkeitsdelikte, weil dies dem nullum-crimenSatz und dem ultima-ratio-Prinzip eher entspricht und weil es früher bei einigen Delikten ( z . B . mit besonderen subjektiven Tatbestandsmerkmalen) unklar war, ob sie auch fahrlässig begangen werden könnten, vgl Mir Puig, Derecho Penal, Parte General, 4. Aufl Barcelona 1996, Lecc. 11 I, Rd 3ff. 1
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Bernd Schünemann Straflarkeit bei Fahrlässigkeit
Wer grob fahrlässig eine Tat begeht, die bei vorsätzlicher Begehung ein Verbrechen darstellt, wird mit Freiheitsstrafe von 6 Monaten und einem Tag bis zu 6 Jahren bestraft. Führt die Handlung aufgrund der Verletzung der von Berufs wegen zu beachtenden Sorgfalt zum Tode eines Menschen oder zu Körperverletzungen mit speziellen Folgen, so werden die in diesem Artikel genannten Strafen in ihrem höchsten Grad verhängt. Die andere Extremposition wird vom englischen Recht gebildet, das jedenfalls im Bereich des Common Law traditionell nur direkten Vorsatz (intention) sowie bedingten Vorsatz und bewußte Fahrlässigkeit (recklessness), nicht aber die unbewußte Fahrlässigkeit (negligence) bestrafte, 3 neuerdings aber unter den strafbaren Handlungen auch viele Fahrlässigkeitsdelikte kennt 4 und seit der freilich umstrittenen House of Lords Entscheidung in CaldwelP bei offensichtlicher Gefahr die Kategorie der recklessness auch auf den Fall ausgedehnt hat, daß der Täter keinen Gedanken an die Möglichkeit eines solchen Risikos verschwendete. 6 Zwischen diesen beiden Extremen stehen Rechtsordnungen wie etwa die deutsche, die zwar prinzipiell nur vorsätzliches Handeln bestrafen (§ 15 StGB), aber seit langem auch eine große Zahl von Fahrlässigkeitsdelikten vorsehen und hierin, anders als das traditionelle Common Law, immer schon einen Maßstab für strafrechtliche Verantwortlichkeit erblickt haben. 2. Diesen unterschiedlichen theoretischen Konzeptionen zum Trotz sind die praktischen Unterschiede zwischen den europäischen Ländern allerdings nicht allzu groß, denn gerade auf den modernen Deliktsfeldern der Wirtschafts- und Umweltkriminalität existieren auch im englischen Recht zahlreiche Fahrlässigkeitsdelikte unter den strafbaren Handlungen. 7 Ich 3 Vgl dazu allg. Smith & Hogan Criminal Law, 7th ed. London u.a. 1992, S. 53ff; Ashworth Principles of Criminal Law, Oxford 1991, S. 145 ff. Zu „intention" siehe ferner Hyam v. Director of Public Prosecutions (1975) AC 55; Cunliffe ν. Goodman (1950) 2 KB 237, 253 per Asquith LJ. Zu „recklessness", siehe R v. Cunningham. (1957) 2 QB 396; R v. Briggs (1977) 1 WLR 605. Tatbestände, die ausnahmsweise „gross negligence" unter Strafe stellten, waren ζ. B. „manslaughter" (fahrlässige Tötung), vgl R v. Bateman (1925) 94 LJKB 791, und „escape" (die Ermöglichung der Flucht aus Gewahrsam), 1 Haie PC 603 (Wärter), 1 Haie PC 595 (Privatpersonen). 4 Beispiele von Tatbestände, die nur „negligence" erfordern: s. 3 Road Traffic Act 1988 (Driving without due care and attention); s. 1(1) Intoxicating Substances (Supply) Act 1985 (Supplying intoxicating substances to a minor). Vgl auch Fn 7 5 Metropolitan Police Commissioner v. Caldwell (1982) AC 341. Kritisch dazu G. Williams (1981) 40 CLJ 252; ders. (1982) 132 NLJ 289ff, 313ff, 336ff; /. C. Smith (1981) Crim LR 393ff, 410ff; Syrota (1982) Crim LR 97; Leigh/Tempkin (1982) 45 MLR 198. 6 Elliott v. C(1983) 1 WLR 939; R v. Stephen Malcolm R (1984) 79 CrAppR 334. 7 Wobei für die meisten Tatbestände der Nachweis von „recklessness" erforderlich ist. Beispiele sind im Bereich der Umweltkriminalität: ss. 1(6), 4(4) Endangered Species (Im-
Unzulänglichkeiten des Fahrlässigkeitsdelikts
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möchte deshalb die verbleibenden Unterschiede in der jeweiligen nationalen Theorie der Fahrlässigkeit vernachlässigen und mich den kriminalpolitischen Problemen zuwenden, die sich unter den Lebensbedingungen der modernen Industriegesellschaft bei der Suche nach einem vernünftigen Schutz der Rechtsgüter gegenüber fahrlässigen Verletzungen stellen. U m einen festen Punkt für die Prüfung zu besitzen, ob das traditionelle Konzept des Fahrlässigkeitsdelikts die kriminalpolitischen Bedürfnisse befriedigen kann oder nicht, beziehe ich mich primär auf die deutsche Strafrechtstheorie, die das vergleichsweise am weitesten ausgearbeitete Konzept der Fahrlässigkeitsdelikte bereithält und deshalb auch in vielen Ländern des europäischen Kontinents Resonanz gefunden hat, so daß dieses Konzept in gewissem Sinne als ein gemeineuropäisches Konzept des Fahrlässigkeitsdelikts qualifiziert werden kann. 3. Das klassische Konzept des Fahrlässigkeitsdelikts kannte im Grunde genommen nur drei Deliktsmerkmale, nämlich die Rechtsgutsverletzung, die damit im Kausalzusammenhang stehende Handlung und die Voraussehbarkeit des Erfolges für den Täter im Augenblick seiner Handlung. 8 Dieses noch ziemlich grobe Konzept ist von der Strafrechtstheorie Schritt für Schritt ausdifferenziert und subtiler ausgearbeitet worden, ohne daß sich daraus aber in kriminalpolitischer Hinsicht, d . h . für den Umfang der Strafbarkeit und des durch die Strafbarkeit bewirkten Rechtsgüterschutzes, wesentliche Ausdehnungen ergeben hätten. Vielmehr hat diese von der Strafrechtstheorie ausgearbeitete Präzisierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen sogar umgekehrt dazu geführt, daß die Anforderungen an den Nachweis der
port and Export) Act 1976; ss. 1(5), 9(4A), 17 Wildlife and Countryside Act 1981; s. 23(1) Animals (Scientific Procedures) Act 1986; ss. 4(1), 30(3) Animal Health Act 1981; ss. 4(7A), 4A(8) Sea Fish (Conservation) Act 1967 Beispiele aus der Wirtschaftskriminalität sind: ss. 47(1), 200(1) Financial Services Act 1986; ss. 95(6), 110(2), 210(3), 216(3), 324(7), 328(6), 444(3), 652F(1), (2) Companies Act 1985; ss. 41(1), 85(2) Companies Act 1989; s. 7 Consumer Credit Act 1974; s. 7(3) Agriculture Act 1957; s. 69(1) Agriculture Act 1967; s. 95(1) Taxes Management Act 1970; s. 53 Licensing Act 1964; s. 2(14) Criminal Justice Act 1987; s. 15(1) Customs and Excise Duties (General Reliefs) Act 1979; s. 41(3) Finance Act 1994; s. 167(1) Customs and Excise Management Act 1979; s. 17 Fisheries Act 1981. Tatbestände bei denen „negligence" ausreicht sind ζ. B.: s. 73(1) Water Industry Act 1991; s. 63(4) Finance Act 1987; s. 116(2) Finance Act 1984; s. 605A(1), (2) Income and Corporations laxes Act 1988; s. 9(1), (5), (7) Tax Credits Act 1999; s. 95(1) Taxes Management Act 1970; s. 52(2) Criminal Justice Act 1993. 8
v. Liszt Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 23. Aufl 1921, S. 184f; Beling Grundzüge des Strafrechts, 11. Aufl, 1930, S. 52; Frank Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 18. Aufl 1931, S. 194; von Olshausen Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 10. Aufl 1916, Bd. I, S. 261; dazu und zur dogmatischen „Modernisierung" durch die Kategorie der objektiven Sorgfaltswidrigkeit Jescheck Aufbau und Behandlung der Fahrlässigkeit im modernen Strafrecht, 1965; Burgstaller Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 1974; Schünemann JA 1975, 75, 435, 511, 575, 647, 715, 787ff.
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Verantwortlichkeit eines bestimmten Täters für einen bestimmten schädlichen Erfolg immer mehr angewachsen sind. Die ursprünglich als Voraussetzung der Schuld verstandene Voraussehbarkeit des Erfolges für den Täter ist durch die Anerkennung des erlaubten Risikos grundlegend verändert, geradezu revolutioniert worden.9 Die Industriegesellschaft ist wegen der Technisierung fast aller Produktionsbereiche, des Verkehrs und selbst privater Lebensbereiche wie etwa des Haushalts darauf angewiesen, eine gewisse Quote an Unfällen, die sich wegen der Kompliziertheit der technischen Abläufe nicht völlig vermeiden lassen, als Tribut an den technischen Fortschritt in Kauf zu nehmen. In der Strafrechtstheorie kommt dies in der Doktrin vom erlaubten Risiko mit der Konsequenz zum Ausdruck, daß die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Verursachung eines schädlichen Erfolges nicht schon bei jeder Voraussehbarkeit, sondern erst dann eingreift, wenn die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen nicht eingehalten worden waren. Daraus folgt für das System der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, daß bereits das Unrecht von einer Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt abhängt, zu der im Bereich der Schuld die individuelle Fähigkeit des Täters zur Einhaltung dieser Sorgfaltsanforderungen hinzukommen muß.10 Durch diese Einschränkung der ursprünglichen Verbotsnorm „Verursache keine schädlichen Erfolge" auf die moderne Verbotsnorm „Verursache keine schädlichen Erfolge durch Mißachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt" haben sich zugleich vier, wenn nicht fünf einschränkende Konsequenzen für den Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg ergeben. Zunächst einmal reicht nicht jede Kausalität der Handlung im Sinne der conditio-sine-qua-non-Formel11 für die Zurechnung des Erfolges aus, sondern nur die adäquate Kausalität,12 die nur die der Lebenserfahrung entsprechenden Kausalzusammenhänge erfaßt. Denn die technische Zivilisation ist auf das Fundament der Berechenbarkeit aller Abläufe gegründet und muß deshalb bei der Verneinung der generellen Voraussehbarkeit nicht nur das 9 Wobei es für das Ergebnis keine Rolle spielt, ob man dieses Erfordernis bereits bei der objektiven Zurechnung statuiert (so Roxin AT I, 3. Aufl, 1997, § 24 Rn 13) oder ob man darin mit der traditionellen Lehre erst ein Spezifikum des Fahrlässigkeitsdelikts erblickt (so Sch/Sch/C'ramer/Sternberg-Lieben StGB, 26. Aufl 2001, § 15 Rn 125, 180 ff; UL-Jähnke 11. Aufl § 222 Rn 3, 6ff; Tröndle/Fischer 50. Aufl 2001, § 15 Rn 14, 17, § 222 Rn 25; Lackner/Kühl 24. Aufl 2001, § 15 Rn 46; Jescbeck/WeigendLehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl, 1996, S. 565; Wessels/Beulke Strafrecht AT, 31. Aufl 2001, Rn 667; Kühl Strafrecht AT, 3. Aufl 2000, § 17 Rn 40). 10 Zu deren Einordnung bei der Schuld oder bereits im Tatbestand s. nur m.z.w.N. Lackner/Kühl (Fn 9), § 15 Rn 38, 49; Sch/Sch/ Cramer/Stemberg-Lieben (Fn 9), § 15 Rn 133ff. •i Sch/Sch-Lenckner (Fn 9), Vor § 13 Rn 73; UL-Jescheck Vor § 13 Rn 54; SK-Rudolphi Vor § 1 Rn 39; ΝK-Puppe Vor § 13 Rn 87; Tröndle/Fiscber (Fn 9), Vor § 13 Rn 16; Lackner/ Kühl (Fn 9), Vor § 13 Rn 9; Jescbeck/Weigend (Fn 9) S. 279; Maurach/Zipf Strafrecht AT Tbd. 1, 7. Aufl 1987, § 18 Rn 17ff; RGSt 1, 373, 374; BGHSt 1, 332. 12 Zu deren Bedeutung in der Entwicklung der Zurechnungslehre vgl nur mwN Schünemann,JA 1975, 580ff; ders. GA 1999, 207, 210f.
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Verschulden, sondern bereits das Unrecht ausschließen. Ferner können nur solche Erfolge als Werk des Täters qualifiziert werden, die im Schutzbereich der von ihm verletzten Sorgfaltsnorm liegen, denn nur solche Erfolge sind durch Einhaltung der Sorgfaltsnorm planmäßig vermeidbar. Ein Beispiel bildet der Fall eines Zahnarztes, der es vor einer Operation mit Narkose verabsäumt hatte, den Patienten auf die Verträglichkeit des Narkosemittels zu untersuchen. Wenn hierbei eine verborgene Uberempfindlichkeit, deretwegen der Patient in der Narkose starb, nicht zu entdecken gewesen wäre, so ist der Arzt für den Tod strafrechtlich nicht verantwortlich, obwohl sich nicht bestreiten läßt, daß die Durchführung der Untersuchung das Leben des Patienten jedenfalls etwas verlängert hätte. Aber diese Verlängerung gehörte nicht zum Schutzbereich der Sorgfaltsnorm.13 Ferner hat die Doktrin vom erlaubten Risiko zu einer weiteren Fallgruppe geführt, in der der Erfolg zwar durch eine unsorgfältige Handlung des Täters verursacht wird, ihm aber doch nicht zugerechnet werden kann. Wenn nämlich die Möglichkeit besteht, daß dieser Erfolg auch dann eingetreten wäre, wenn sich der Täter im Rahmen des erlaubten Risikos gehalten hätte, so soll nach herrschender Auffassung14 der unsorgfältig handelnde Täter keine strafrechtliche Verantwortlichkeit tragen, weil sich seine Unsorgfältigkeit nicht ausgewirkt hat. Nach der Gegenmeinung, der Risikoerhöhungstheone,15 soll die Zurechnung des Erfolges zwar schon dann eingreifen, wenn der Eintritt des Erfolges durch die unsorgfältige Handlung im Vergleich zu einer sorgfältigen Handlung wahrscheinlicher geworden ist, doch liegt auch darin noch eine Einschränkung gegenüber der nach dem ursprünglichen System Platz greifenden Haftung für jeden voraussehbaren Erfolgseintritt nach einer Sorgfaltspflichtverletzung. Auch die ebenso umstrittene Frage, ob sich eine Person mit besonders hervorragenden Fähigkeiten darauf berufen kann, die am durchschnittlichen Können ausgerichteten Sorgfaltsregeln eingehalten zu haben, oder ob Sonderfähigkeiten immer benutzt werden müssen, um schädliche Erfolge zu vermeiden, ist eine Konsequenz des Grundsatzes, daß sich der Maßstab des erlaubten Risikos allgemein an den Fähigkeiten durchschnittlich begabter Personen orientiert.16 Und schließlich könnte auch auf die neuerdings wieder kontrovers diskutierte Frage, ob das Strafrecht bei jeglicher
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Sog. Chloräthyl-Fall BGHSt 21, 59 und dazu die Rezensionen von Wessels]Z 1967,449;
Hardwig]Z 1968, 289; Schünemann]h 1975, 716, 718.
" BGHSt 11, 1, 6f; 21, 59, 60f; 24, 31, 34ff; 36,106, 127; SK-Samson Anh zu § 16 Rn25ff;
Sch/Sch/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn 9), § 15 Rn 156ff; LK-Scbroeder § 16 Rn 185ff; Wessels/Beulke (Fn 9), Rn 197; Bockelmann/Volk AT, 4. Aufl 1987, S. 162ff. 15 Grundlegend Roxin ZStW 74 (1962), 411 ff; heute ders. (Fn 9), § 11 Rn 76ff m w N ; SK-RudolphiVor § 1 Rn 66; KK-Puppe Vor § 13 Rn 205f; Lackner/Kühl% 15 Rn 44-Jescheck/ Zeigend {Fn 9) S. 584f; Maurach/Gössel AT Tbd. 2, 7 Aufl, 1989, § 43 Rn 105ff; Straten-
werth Strafrecht, AT I, 4. Aufl 2000, § 8 Rn 34ff; Schünemann}K 1975, 582ff, 647ff. 16 Zum Diskussionsstand mit z. w N Kühl (Fn 9) S. 604ff.
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Fahrlässigkeit oder erst ab einem bestimmten Ausmaß der Sorgfaltswidrigkeit am Platze ist,17 in einem das erlaubte Risiko tolerierenden Strafrecht eine restriktive Antwort geboten sein, u.a. weil die Abgrenzung zwischen noch erlaubt riskanten und bereits unsorgfältigen Verhaltensweisen haarfein wird und Bewertungen erfordert, die in der Regel erst ex post getroffen werden können und den Täter in der (häufig blitzschnelle Entscheidungen erfordernden) Tatsituation vielfach überfordern. 4. Die Modernisierung des klassischen Fahrlässigkeitskonzepts durch die Doktrin vom erlaubten Risiko hat damit zu erheblichen Strafbarkeitseinschränkungen geführt, deren kriminalpolitische Konsequenzen nunmehr betrachtet werden sollen.
II. Die kriminalpolitischen Unzulänglichkeiten dieses Konzepts in der modernen Industriegesellschaft 1. Die kriminalpolitischen Mängel des modernisierten klassischen Konzepts der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Fahrlässigkeit zeigen sich nicht nur, aber nirgendwo so deutlich wie bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für professionelle Tätigkeiten. Dies gilt freilich nicht in theoretischer, sondern ausschließlich in praktischer Hinsicht. Denn es kann nicht bezweifelt werden, daß die moderne Fassung des klassischen Konzepts der Fahrlässigkeit die Idee der individuellen Verantwortlichkeit für schädliche Erfolge in einer theoretisch optimalen Weise expliziert hat. Aber die praktischen Konsequenzen sind fatal, weil die modernen Risiken der wirtschaftlichen Betätigung in der Industriegesellschaft niemals von einer einzelnen Person vollständig beherrscht und verantwortet werden, sondern durch das Zusammenwirken zahlreicher Personen entstehen und mit einer ausschließlich individuellen Verantwortlichkeit einer einzigen Person ebensowenig erklärt werden können wie mit einem einzigen Kausalzusammenhang einer einzelnen Handlung. Es sind m.a.W. die moderne Arbeitsteilung sowie die Kompliziertheit und Komplexität der technischen Abläufe, für die ein Konzept der strafrechtlichen Verantwortlichkeit inadäquat ist, welches noch am autonomen Individuum orientiert ist, das einen bestimmten Lebensbereich ausschließlich beherrscht und deshalb dafür auch die ausschließliche Verantwortung trägt.18 17 Vgl dazu einerseits Schlüchter Grenzen strafbarer Fahrlässigkeit, 1996; Duttge Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts bei Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, andererseits Herzberg GA 2001, 568ff, wieder anders Webel Strafbarkeit leicht fahrlässigen Verhaltens? 1999. 18 Dazu im einzelnen Schünemann Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 30ff; Rotsch Individuelle Haftung in Großunternehmen, 1998, S. 41 ff; ders. wistra 1999, 368, 370f.
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2. Im einzelnen lassen sich diese Unzulänglichkeiten wie folgt beschreiben: a) Bei Tätigkeiten mit einem nicht unbeträchtlichen Basis-Risiko wäre selbst bei groben Verletzungen der Sorgfaltspflicht eine Zurechnung des Erfolges unmöglich, wenn sich nämlich nicht ausschließen läßt, daß auch bei sorgfältigem Vorgehen das erlaubte (Basis-)Risiko infolge eines unglücklichen Verlaufs zum gleichen Erfolg geführt hätte. Dies gilt erst recht, wenn es um das Unterlassen einer Rettungsmaßnahme geht, denn in einem solchen Fall ist nach der herrschenden condicio-sine-qua-non-Formel sogar die (Quasi-) Kausalität zu verneinen, wenn die Rettungsmaßnahme zwar Rettungschancen geboten, aber nicht mit Sicherheit die Abwendung des Erfolges garantiert hätte. 19 Ein instruktives Beispiel hierfür bietet die chirurgische Operation. Gerade bei schwierigen Operationen, bei denen ein Mißerfolg niemals auszuschließen ist, könnten selbst eine grobe Mißachtung der Regeln der ärztlichen Kunst keine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen, weil es eben niemals ausgeschlossen werden könnte, daß auch eine lege artis durchgeführte Operation gescheitert wäre. b) Weil die Rechtsprinzipien zur Mittäterschaft am Vorsatzdelikt entwickelt worden sind, 20 gibt es erhebliche Schwierigkeiten für die Begründung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, wenn die Fahrlässigkeit erst durch das Zusammenwirken mehrerer Personen begründet wird, was in der vom Prinzip der Arbeitsteilung geprägten modernen Wirtschaft die Regel ist. Z.B. führt ein Arbeiter eine Handlung aus, die die im Verkehr erforderliche Sorgfalt verfehlt, ohne daß der Arbeiter dies nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten erkennen kann. Der Ingenieur, der die Arbeiten leitet, könnte es zwar erkennen, handelt aber nicht selbst. Noch komplizierter wird es, wenn die nötigen Informationen nur auf der Management-Ebene vollständig vorhanden sind und von dort nicht an die untere Ebene, auf der die Ar-
» BGH St 6, 1; 43, 381, 397; BGH NStZ 200, 414; BGH NJW 2000, 2754, 2757 rawN; Lackner/Kühl (Fn 9), Rn 12 vor § 13; zur kriminalpolitisch irrelevanten Fragen, ob es um echte oder um Quasi-Kausalität geht NK-Puppe Rn 105 ff vor § 13; Mavwald Kausalität und Strafrecht, 1980, S. 78. Gegen die Ersetzung der Quasi-Kausalität durch die bloße Risikoerhöhung (in diesem Sinne Stratenwerth Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl 2000, § 13 Rn 52 ff; SK-StGÜ/RudolphiRn 16 vor § 13) auch BGHStV 1985, 229; Schünemann ibid. so-
wie ders. GA 1985, 341, 357 20 So mit Recht die h.M., vgl nur Sch/Sch/Cramer/Heine (Fn 9), Rn 116 vor § 25, aber auch die im Schrifttum zunehmende Propagierung fahrlässiger Mittäterschaft bei Weißer Jura 1998, 232; Renzikowski Restriktiver Täterbegriff und fahrlässige Beteiligung, 1997, S. 288 u. passim; Kamm Die fahrlässige Mittäterschaft, 1999, sowie die gleiche Auffassung in der neueren spanischen Dogmatik: Luzon Pena Curso de Derecho Penal, Parte General, I, Madrid, 1996, S. 510; Mir Puig, Derecho penal, Parte General, Barcelona, 1998, S. 392; weitere Nachweise, auch der spanischen Rechtsprechung in: Cerezo Mir Curso de Derecho Penal Espariol, Parte General, III, Madrid, 2001, S. 226 f.
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beiten vorgenommen und von Ingenieuren beaufsichtigt werden, weitergegeben werden. 21 c) Die Zurechnungsprobleme werden naturgemäß durch Beweisprobleme potenziert, denn es wird sich zwar häufig feststellen lassen, daß in einem Unternehmen eine unsorgfältige Handlung vorgenommen worden sein muß, ohne daß sich aber genau nachweisen läßt, welcher der in Betracht kommenden Mitarbeiter hierfür verantwortlich ist. Hierdurch wird wiederum auf der Zurechnungsebene die Frage aufgeworfen, ob wenigstens gegen das Unternehmen selbst eine Kriminalsanktion festgesetzt werden kann. 22 d) Der nächste Problemkreis betrifft den Abschreckungseffekt des Strafrechts. Im Straßenverkehr, aber auch in vielen Bereichen beruflicher Tätigkeit müssen immer wieder die gleichen Handlungen vorgenommen werden, bei denen Fahrlässigkeit verhältnismäßig selten zu einem schädlichen Erfolg führt. Wenn jetzt, wie es dem klassischen Konzept der Fahrlässigkeit entspricht, eine strafrechtliche Verantwortlichkeit nur im Falle der Verursachung des Erfolges eingreift, so hat dies für die große Mehrzahl der Fälle, in denen die Fahrlässigkeit ohne schädliche Folgen bleibt, keinen besonders starken Abschreckungseffekt. Man kann sogar eine alte These des Finalismus 23 aufgreifen und behaupten, daß das klassische Konzept hier unfair ist, weil es letztlich vom Zufall abhängt, ob die Fahrlässigkeit zum schädlichen Erfolg führt, 24 so daß gleich gefährliche Handlungen in Abhängigkeit von ihren zufälligen Konsequenzen teilweise eine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen und teilweise nicht. Es ist deshalb gleichermaßen eine Forderung der Gerechtigkeit als auch der abschreckenden Wirkung des Strafrechts, die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Fahrlässigkeit bereits an den Eintritt einer Gefahr und nicht erst an den Eintritt eines schädlichen Erfolges zu knüpfen. e) Wenn man auf diese Weise die strafrechtliche Verantwortlichkeit unabhängig von der Verursachung eines schädlichen Erfolges allein an die Gefährdung knüpft, so entsteht allerdings ein Konflikt mit dem Bestimmtheitsgrundsatz, solange keine präzise Beschreibung des gefährlichen Verhaltens als Orientierungsmaßstab existiert. Hiervon hängt wiederum auch die Ab21 Weshalb Rotsch (Fn 18) in diesem Bereich sogar von einem völligen Versagen des Individualstrafrechts ausgeht, womit er aber die hier noch schlummernden dogmatischen und kriminalpolitischen Ressourcen unterschätzt. 2 2 D a z u näher u. V. 2 3 Eingehend Zielinski Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973; Armin Kaufmann FS für Welzel, 1974, S. 410f; DornseiferGS für Armin Kaufmann, 1989, S. 4 2 7 f f ; dazu kritisch Roxin (Fn 9), § 10 Rn 95 ff; Schünemann FS für Schaffstein, 1975, S. 159 ff. 24 U n d zwar weitaus intensiver als beim Vorsatzdelikt, bei dem der Täter im Rahmen seiner Deliktsplanung die Bandbreite des Zufalls im Grunde selbst festlegt und damit in seinen Vorsatz aufnimmt.
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schreckungswirkung des Strafrechts ab, weil niemand von einer Rechtsnorm motiviert werden kann, die ihm keine inhaltlichen Maßstäbe für sein Verhalten nennt. f ) Diese Schwierigkeiten der Gesetzgebung steigern sich nochmals, wenn man die neuen Schutzbedürfnisse in Betracht zieht, die sich aus den Kausalverflechtungen der in der modernen Industriegesellschaft geschaffenen Gefahren ergeben. In weiten Bereichen ist es unmöglich, eine schließlich eingetretene Schädigung etwa der Gesundheit von Bewohnern einer bestimmten Gegend durch einen bestimmten Kausalzusammenhang zu erklären, der etwa die Schadstoff-Emission eines bestimmten einzelnen Industriebetriebes als Ursache ergibt. Für die moderne Industriegesellschaft sind vielmehr multiple Kausalzusammenhänge typisch, die in ihrer Vernetzung und in ihrem komplizierten Zusammenwirken mit den heutigen naturwissenschaftlichen Methoden und Instrumenten prinzipiell nicht bis in jedes Detail aufgeklärt werden können. Damit das Strafrecht hier überhaupt noch eine Schutzaufgabe erfüllen kann, müssen von der Strafrechtstheorie intermediäre Rechtsgüter entwickelt werden, deren Verletzung die Zwischenstufe für den schließlich herbeigeführten, in seinen Kausalzusammenhängen aber nicht restlos aufklärbaren Schaden darstellt. Musterbeispiele sind hier die Umwelt-Rechtsgüter der Reinheit der Luft, des Bodens und der Gewässer, deren Verschmutzung letztlich auch zur Schädigung von Menschen führt. 25 Weil nun aber die gesamte industrielle Tätigkeit in einer ständigen Nutzung der Umwelt besteht, muß beim Schutz dieser Rechtsgüter eine quantitative Abgrenzung durchgeführt werden, also eine Aufteilung in eine erlaubte Umweltnutzung und eine verbotene Umweltschädigung. Es ist offensichtlich, daß die konkrete Grenzziehung eine politische Entscheidung voraussetzt, die außerdem immer wieder an die Entwicklung der Technik angepaßt werden muß, was, wenn es durch die Verwaltungsbehörden geschieht, für die Tatbestandsbildung (nicht nur) der Fahrlässigkeitsdelikte besondere Probleme aufwirft. g) Das letzte wichtige Problem eines zeitgenössischen Strafrechts der Fahrlässigkeit besteht schließlich in der Frage, in welchem Umfange die Unternehmer die strafrechtliche Verantwortlichkeit auch für solche Gefahren tragen sollen, die sich außerhalb ihres Unternehmens realisieren und lediglich auf die Gefahren eines von ihnen hergestellten Produkts zurückzuführen sind. Es geht also um die strafrechtliche Produzentenhaftung, die nicht nur, aber in erster Linie eine Problematik der Fahrlässigkeitsdelikte darstellt. 25 Diese für die Fahrlässigkeitsdelikte wichtige Funktion der Umweltrechtsgüter zum mittelbaren Schutz menschlicher Individualrechtsgüter steht wohlgemerkt neben ihrer selbständigen Schutzwürdigkeit und verdrängt diese nicht, s. Schünemann FS für Triffterer, 1996, S. 437, 452 ff zu den eigenständigen Rechtsgütern der Umweltdelikte.
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Bernd Schünemann III. Die Probleme des erlaubten Risikos
1. Daß die moderne technische Zivilisation ohne ihre spezifischen Risiken nicht vorstellbar ist, ist eine Binsenweisheit, die in der mittlerweile ubiquitären Redeweise von der „Risikogesellschaft" einen prätentiösen Ausdruck gefunden hat.26 In der zeitgenössischen Gesellschaft muß deshalb auch das Strafrecht das mit dem heutigen technisch-zivilisatorischen Niveau notwendig verbundene „Basis-Risiko" in Gestalt einer gewissen ganz geringfügigen Gefährdung der Rechtsgüter, eben das erlaubte Risiko, tolerieren und folglich auch ein gewisses Ausmaß an schädlichen Erfolgen in Kauf nehmen. Zwar wäre auch dieses vermeidbar, wenn die Gesellschaft auf ein archaisch-bäuerliches Niveau zurückgeführt würde, aber das wird von niemandem ernsthaft gefordert und würde auch nur die heutigen Risiken gegen andere, für das Individuum zumeist viel gravierendere eintauschen.27 Selbstverständlich darf die Existenz dieses erlaubten Risikos aber nicht zur magna charta für eine dessen Grenzen überschreitende fahrlässige Schädigung werden, indem sich der Schädiger darauf berufen könnte, daß der schädliche Erfolg möglicherweise auch bei Respektierung des erlaubten Risikos eingetreten wäre. Die Lösung aus diesem Dilemma, wie sie von der Theorie der Risikoerhöhung gewiesen wird, ist deshalb aus kriminalpolitischen Gründen unabweisbar und in dogmatischer Hinsicht jedenfalls in der von mir vorgeschlagenen normativen Reformulierung auch nicht widerlegbar, weil der von der traditionellen Auffassung behauptete Verstoß gegen den in dubio pro reo-Grundsatz die Tatsachenfeststellung und damit die Kausalitätsfrage betrifft, während es bei der sog. Risikoerhöhung um das normative Urteil geht, daß die ex ante aufgestellte Sorgfaltsnorm (die die für den Erfolg unzweifelhaft kausale Handlung verbot) auch unter Berücksichtigung aller ex post feststehenden oder unklar gebliebenen Kausalfragen zum Rechtsgüterschutz zweckmäßig erscheint.28 2. Diese Lösung versagt freilich bei den Unterlassungsdelikten·, weil es bei der Unterlassung einer Rettungshandlung, die nur mit Wahrscheinlichkeit zur Rettung geführt hätte, bereits an der Kausalität fehlt - entsprechend der 2 6 Dazu umfassend aus strafrechtlicher Sicht Prittwitz Strafrecht und Risiko, 1993; zum soziologischen Konzept Beck Risikogesellschaft. Der Weg in eine andere Moderne, 1986. 2 7 Denn das Leben in früheren Zeitaltern war „ein permanentes Risiko" {Münch Lebensformen in der frühen Neuzeit, 1992, S. 314; ähnlich Kuhlen GA 1994, 351 f). Die Aussage des Textes gilt aber natürlich nicht für den derzeit von der Weltgesellschaft unter Führung der USA praktizierten und an Klimaveränderung und Ozonschichtzerstörung u.v.a.m. greifbaren ökologischen Holocaust selbst, so daß ich meinen zuletzt in Schünemann (Hrsg.), Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, 2002, S. 1 ff, niedergelegten „makrojuristischen" Standpunkt durch die „mikrojuristischen" Überlegungen dieses Beitrages nicht etwa zurücknehme. 28 Hierzu zusammenfassend Schünemann GA 1999, 207, 215ff, 218f, 2 2 6 f mwN.
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allgemein anerkannten Formel für den Quasi-Kausalzusammenhang zwischen Unterlassungen und einem schädlichen Erfolg, daß die unterlassene Handlung den Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert hätte.29 Auf diesem Feld, das vor allem auch für die Tätigkeit des Arztes eine große Bedeutung besitzt, könnte deshalb anstelle der QuasiKausalität die Unterlassung der Wahrnehmung einer quantitativ erheblichen Rettungschance treten, wofür etwa folgende Formulierung in Betracht käme: „Wer zur Verhinderung eines schädlichen Erfolges verpflichtet ist, ist für dessen Eintritt auch dann strafrechtlich verantwortlich, wenn er es unterlassen hat, eine erhebliche Rettungschance wahrzunehmen." Aber damit würde man sowohl dogmatisch als auch kriminalpolitisch über das Ziel hinausschießen, denn würde eine Erfolgshandlung ohne das Minimalerfordernis der Kausalität kreieren, man würde dadurch die Unterlassung strenger als die in Begehung behandeln, und man könnte sich dafür nicht einmal auf ein zwingendes kriminalpolitisches Bedürfnis wegen andernfalls unüberwindlicher Beweisprobleme berufen, weil die die Unternehmenskriminalität kennzeichnende spezifische Beweisproblematik in anderen Bereich, etwa bei Unfällen im Haushalt, nicht existiert.30
IV. Die Probleme der Arbeitsteilung 1. Die wirtschaftliche Tätigkeit in der modernen Industriegesellschaft zeichnet sich im Vergleich zu früheren Epochen durch ein riesiges Ausmaß an betrieblicher Organisation und Arbeitsteilung aus. Das macht sich in der
allerneuesten Entwicklung nicht nur in solchen Bereichen bemerkbar, die wie die Industrie selbst - immer schon durch Großorganisationen und extreme Arbeitsteilung gekennzeichnet gewesen sind, sondern auch für den sog. tertiären Sektor der Dienstleistungen bis hin zu den freien Berufen wie denjenigen des Arztes und des Anwalts, in denen die traditionellen Produktionsverhältnisse am längsten überlebt hatten. Die moderne Intensiv- und Apparatemedizin hat die Gesundheit des einzelnen gewissermaßen in eine industriell produzierte Ware verwandelt, an deren Produktion eine große Anzahl von Personen in jeweils unterschiedlichen Funktionen arbeitsteilig und im Rahmen einer betrieblichen Organisation beteiligt ist. Und selbst im Bereich der Tätigkeit als Anwalt führt die Entwicklung immer größerer law firms dazu, daß die konkrete Beratung oder der konkrete Rechtsstreit ein von mehreren Personen in Arbeitsteilung gemeinsam hergestelltes Produkt Nachweise oben Fn 19. Weshalb im Entwurf des Thyssen-Arbeitskreises die betreffende Ausdehnung auch auf die Unternehmenskriminalität beschränkt worden ist, vgl Schünemann (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung: Die Rechtseinheit/Arbeitskreis Strafrecht III, 1996, S. 158 f. 29
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wird. Man kann deshalb ohne Übertreibung sagen, daß die Konsequenzen der Arbeitsteilung und der betrieblichen Organisation für die strafrechtliche Verantwortlichkeit im Wirtschaftsleben und damit im wichtigsten Subsystem der zeitgenössischen Gesellschaft von schlechthin zentraler Bedeutung sind. 2. Wie bereits kurz erwähnt, entstehen die Zurechnungsprobleme daraus, daß der traditionelle Begriff des Täters im Strafrecht die Einheit von Handeln und Wissen verkörpert, während in einem modernen arbeitsteiligen Betrieb eine Aufteilung, manchmal geradezu eine Atomisierung von unmittelbaren körperlichen Handlungen, Management-Entscheidungen und Informations-Speicherung stattfindet, so daß es im Extremfall überhaupt keine Person mehr gibt, die noch einen vollständigen Uberblick über das Betriebsgeschehen besitzt. Während beim Vorsatzdelikt das Phänomen der Arbeitsteilung immerhin noch durch die Kategorie der Mittäterschaft erfaßt werden kann, hat die Strafrechtstheorie im Bereich des Fahrlässigkeitsdelikts bisher keine geeigneten Instrumente geschaffen. Auch die neuerdings diskutierte Figur der fahrlässigen Mittäterschaft31 kann die damit verbundenen inhaltlichen Fragen nicht lösen, weil der Vorsatz als jedenfalls prinzipiell taugliches Kriterium zur Begründung und Begrenzung der Haftungsreichweite nicht zur Verfügung steht. Diese Probleme verschärfen sich noch, wenn man die schon erwähnten Schwierigkeiten berücksichtigt, die sich für die Beweisführung ergeben. Während es bei der gewöhnlichen Kriminalität nur erforderlich ist, den Täter anhand schlüssiger Indizien zu überführen, kommen in einem Wirtschaftsunternehmen in der Regel zahlreiche Mitarbeiter als Täter in Betracht, und es ist häufig unmöglich, eine bestimmte Person als denjenigen zu ermitteln, der die alleinige strafrechtliche Verantwortlichkeit trägt. Zu diesem Zweck muß zunächst die formale Organisation des Unternehmens aufgeklärt werden und sodann die informelle Organisation, denn nach einer allgemeinen Erkenntnis der Organisationssoziologie wird jede formale Organisation von einem Netz informeller Beziehungen begleitet.32 Sodann muß aber auch aufgeklärt werden, ob im speziellen Fall die formale Organisation oder die informellen Linien ausschlaggebend gewesen sind oder ob vielleicht sogar eine Ausnahmesituation gegeben war, in der die Beteiligten unabhängig von den sonstigen organisatorischen Regeln gehandelt haben. Die in Wirtschafts Strafverfahren typische Methode der flächendeckenden Durchsuchung und Beschlagnahme führt (von der drohenden Selbstverstopfung der Ermittlungen durch Materialüberfülle ganz abgesehen) letztlich nur zu einem unendlichen Regreß, weil sich ja immer wieder die Frage 31 32
Nachweise oben in Fn 20. Dazu eingehend Schünemann (Fn 18) S. 36f; Rotsch (Fn 18) S. 77.
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stellt, ob die der formellen Ebene zugehörigen Dokumente durch informelle Kommunikationen überspielt worden sind. Ohne eine Mithilfe der Mitglieder der Organisation kann diese Frage aber kaum erfolgreich aufgeklärt werden, und weil die Mitglieder regelmäßig alle als Beschuldigte in Betracht kommen und deshalb zu keiner Aussage verpflichtet sind (§ 136 StPO), sind die vom Strafprozeßrecht zur Verfügung gestellten Aufklärungsmöglichkeiten gegenüber der Unternehmenskriminalität zumindest geschwächt und häufig genug paralysiert. 3. Die dritte und besonders gravierende Hemmung der Abschreckungswirkung des Strafrechts im Bereich der Unternehmenskriminalität ergibt sich aus dem Normenkonflikt, dem ein Unternehmensmitglied regelmäßig ausgesetzt ist, wenn es eine vom Strafrecht verbotene, im Interesse des Unternehmens aber erwünschte Handlung vornimmt. Die durch die Erfahrungen in totalitären Staaten bestätigte psychologische Erkenntnis, daß die Widerstandskraft des Untergebenen in einem straff organisierten hierarchischen System gegenüber kriminellen Befehlen nicht allzu hoch veranschlagt werden darf,33 kann in Verbindung mit der von Niklas Luhmann in die Soziologie transponierten Theorie der autopoietischen Systeme und der daraus weiterentwickelten Theorie vom reflexiven Recht34 zu der allgemeinen These der Wirkungslosigkeit solcher Verbotsnormen ausgebaut werden, die von außen ein nach eigenen internen Regeln handelndes Sub-System wie etwa ein Wirtschaftsunternehmen „umkrempeln" wollen.35 Denn die Verbotsnorm kann nach dieser Theorie in dem relativ autonomen Sub-System nur dann und nur in der Form eine Wirkung entfalten, wenn sie vom SubSystem übernommen und wie sie dort den eigenen Bedürfnissen angepaßt wird. 4. Die Lösung dieses riesigen Problemknotens gehört zu den wichtigsten Aufgaben der zeitgenössischen Kriminalpolitik und muß sowohl - primär (de lege lata) - von der Strafrechtsdogmatik als auch - sekundär (de lege ferenda) - von der Gesetzgebung in Angriff genommen werden. a) Im Bereich der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit, den ich zunächst analysieren will, kommen nur zwei Strategien in Betracht, um die Abschreckungswirkung des Strafrechts durch eine Haftung für nicht selbst verursachte betriebliche Abläufe zu bewahren bzw. zu steigern, nämlich innerhalb des traditionellen Systems die Haftung für die Nichtverhinderung 33 Grundlegend Milgram Das Milgram-Experiment, Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, dt. 1974. 34 Luhmann Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 38 ff; Teubner Recht als autopoietisches System, 1989, S. 87 ff. 35 Teubner ARSP 1982, 13 ff; Teubner/Willke ZfRSoz. 1984, 13 ff; Rotscb (Fn 18) S. 81.
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des schadensträchtigen Geschehens (also die Unterlassungsdelikte) sowie als radikale, neuartige Lösung die Haftung für fremdes Verschulden, wie sie im Common Law in Gestalt der vicarious liability existiert.36 Weil nach den das strafrechtliche Schuldprinzip implizit garantierenden Art. 1 und 20 GG37 die Einführung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit ohne eigenes Verschulden, jedenfalls gegenüber natürlichen Personen ausgeschlossen ist38 (was freilich nur für einen Teil der europäischen Rechtssysteme gilt39), wird der springende Punkt von den Unterlassungsdelikten gebildet, in der primär auszulotenden dogmatischen Hinsicht also von der Reichweite der Garantenstellungen im Betrieb (der sog. Geschäftsherrenhaftung). Zwar ist es nach wie vor umstritten, ob der Vorgesetzte gem. § 13 StGB eine Garantenstellung für das Ausbleiben eines schädlichen Erfolges innerhalb eines Unternehmens, speziell im Verhältnis zum Handeln seines Untergebenen hat. 40 Die Rechtsprechung der Strafgerichte hat aber, ebenso wie die Mehrheit der Rechtsgelehrten, seit langem eine klare Tendenz gezeigt, diese Frage zu bejahen,41 und der BGH ist in der Lederspray-Entscheidung sogar noch darüber hinaus gegangen und hat eine direkte Zurechnung des betrieblichen Geschehens, also eine Art Begehungshaftung der Geschäftsleitung propagiert.42 Auch wenn die darin steckende Sprengung des strafrechtlichen Handlungsbegriffs entschieden zu weit geht,43 ist an der Garantenstellung des Vorgesetzten, nicht zu zweifeln, weil sie die Pflicht zur Erfolgsverhinderung aus der Befehlsgewalt, d.h. der Herrschaft des Vorgesetzten über die Handlungen des Untergebenen im Betrieb ableitet und damit das gleiche ^ D a z u Smith & Hogan (Fn 3) S. 170ff; Ashworth (Fn 3) S. 83f. 37 BVerfGE 20, 323, 331; 28, 386, 391; 45, 187, 228; 50, 125, 133; 90, 145, 173; Jescheck/ Weigend (Fn 9) S. 23 m w N ; Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 369ff, 386f. 38 Z u r entsprechenden Frage bei Verbandssanktionen s. Schünemann in: Schünemann/ Suärez Gonzalez (Hrsg.), Bausteine des europäischen Wirtschaftsstrafrechts, 1994, S. 265, 279 ff. 39 Eine verfassungsrechtliche Verankerung findet sich in Art. 27 Abs 1 der italienischen Verfassung, aber nicht einmal in Österreich, w o zwar in § 4 StGB das Schuldprinzip niedergelegt ist, eine Bindung des Gesetzgebers selbst aber verneint wird ( W K / N o w a k o w s k i § 4 R n 1). 40 Kritisch etwa Hsü Garantenstellung des Betriebsinhabers zur Veränderung strafbarer Handlungen seiner Angestellten?, 1986, S. 241 ff; Heine Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von U n t e r n e h m e n , 1995, S. 116ff; LK/Jescheck § 13 R n 45; SK-Rudolphi § 13 R n 35 a; Otto Jura 1998, 409, 413; einschränkend auch Ransiek Unternehmensstrafrecht, 1996, S. 33ff; Schlüchterns f ü r Saiger, 1995, S. 139, 158ff; dagegen eingehend Schünemann, U n ternehmenskriminalität (Fn 18) S. 70ff; ders. wistra 1982, 41, 42ff; ders. in: Breuer/Kloepfer (Hrsg.), Umweltschutz und technische Sicherheit im U n t e r n e h m e n , 1994, S. 149ff; ders. in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft IV, 2000, S. 634ff; ebenso die heute h.M., vgl die Nachweise bei Lackner/Kühl (Fn 9), § 13 R n 14. 41 Vgl die Darstellung bei Schünemann Unternehmenskriminalität (Fn 18) S. 70 ff. 42 BGHSt 37, 106, 114. 43 Z u r Kritik siehe Schünemann in: 50 Jahre Bundesgerichtshof (Fn 40) S. 623ff.
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Verhältnis der Herrschaft über den Grund des Erfolges als Basis der Strafbarkeit anerkennt, das sich auch bei den Begehungsdelikten in Gestalt der Herrschaft über den eigenen Körper findet. Diese von mir erstmals 1971 vorgeschlagene Abgrenzungsformel 44 ist auch in den Beschlüssen des 13. Internationalen Strafrechtskongresses in Kairo aufgegriffen worden, 45 denn sie ist in allen europäischen Rechts systemen brauchbar, weil sie die Bedingungen für eine echte, sachlogische Äquivalenz von Begehung und Unterlassung definiert - während die neuerdings wieder in der deutschen Strafrechtswissenschaft beliebte (Schein)-Ableitung einer extrem extensiven Unterlassungsstrafbarkeit aus normativen Leerformeln auf der den nullapoena-Satz insoweit wahrhaft ernst nehmenden europäischen Ebene mit Recht keine Chance hätte. 46 b) Daraus folgt im einzelnen: 47 Die Person, die die höchste Macht in einem Unternehmen besitzt, hat zunächst dadurch ihre Pflicht zu tun, daß sie das Unternehmen so sorgfältig organisiert, daß keine Lücken in der Information entstehen und daß bei jeder Delegation von Arbeit an einen Untergebenen die Kontrolle beim Vorgesetzten verbleibt und auch tatsächlich ausgeübt wird. Entsprechend dem geringeren Umfang der Herrschaft auf den jeweils niedrigeren Stufen in der Hierarchie des Unternehmens verkleinert sich dann auch der Pflichtenkreis, der stets die sorgfältige Organisation des eigenen Herrschaftsbereiches und die fortbestehende Kontrolle der auf die Untergebenen übertragenen Arbeiten umfaßt. Eine ordnungsgemäße Delegation setzt immer die sorgfältige Auswahl des Substituten sowie dessen vollständige Unterweisung, d. h. die Versorgung der Untergebenen mit den notwendigen Informationen voraus, wozu auch die Unterweisung über die einschlägigen Rechtsvorschriften und über die Pflicht gehört, die Normen des Strafrechts selbst dann zu befolgen, wenn es im vordergründigen Unternehmensinteresse läge, eine Straftat zu begehen. Da die Ausübung der Kontrolle die Einrichtung eines internen Informations- und Dokumentationssystems erfordert, wird mit Hilfe der Garantenstellungen im Unternehmen und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Unterlassungen das oben erwähnte dreifache Dilemma der aus Fahrlässigkeit begangenen Unternehmensdelikte in theoretischer Perspektive entschärft: Die Beweisprobleme werden durch das interne Dokumentationssystem beseitigt, der Normen44 Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 229ff; zur Weiterentwicklung vgl die Nachweise in Fn 40 sowie Schiinemann ZStW 96 (1984), 293 ff; GA 1985, 374ff; in: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Hrsg.), Internationale Dogmatik der objektiven Zurechnung und der Unterlassungsdelikte, 1995, S. 49ff; LK 11. Aufl, § 14 Rn 15ff; in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Europäischen Union, 2002, S. 103ff. 45 Revue internationale de Droit Penal 1985, 489, 491, 495. 46 Vgl namentlich zur starken Betonung des Gesetzlichkeitsprinzips bei den unechten Unterlassungsdelikten in Frankreich Schiinemann in: Tiedemann (Fn 44) S. 106ff. 47 Zu Einzelheiten vgl Schiinemann, in: Breuer/Kloepfer (Fn 40) S. 137ff.
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konflikt wird durch die Anweisung des Vorgesetzten an seine Untergebenen beseitigt, daß die Rechtsnormen des Staates vorrangig zu beachten sind, und die aus der Arbeitsteilung resultierenden Hindernisse für die strafrechtliche Verantwortlichkeit werden durch die Verantwortlichkeit für Unterlassungen ausgeräumt. c) Wie bereits erwähnt, bleibt nach dem Begriff der Quasi-Kausalität einer Unterlassung für einen nicht verhinderten schädlichen Erfolg eine praktisch sehr empfindliche Strafbarkeitslücke zurück, weil die Pflicht des Vorgesetzten zur Kontrollierung seines Untergebenen ja immer nur in Form von Stichproben erfüllt werden kann, wenn die Arbeitsteilung überhaupt noch praktisch sein soll. Durch eine bloße Stichprobe könnten aber Fahrlässigkeitsstraftaten des Untergebenen nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit verhindert werden, so daß die Verletzung der Pflicht zur Kontrolle eine strafrechtliche Verantwortlichkeit nur unter der Bedingung begründen kann, daß man die Kausalität der Unterlassung für den schädlichen Erfolg schon dann bejaht, wenn nur eine erhebliche Chance für dessen Verhinderung bestanden hatte. Die oben sub III. abgelehnte generelle Erweiterung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Unterlassungen kann auch im Bereich der Unternehmensdelikte legitimiert werden, weil es hier (1) um eine professionelle und deshalb prinzipiell strengere Verantwortlichkeit geht, weil (2) der Delegationsakt des Vorgesetzten erst die spezifische Beweisproblematik erzeugt hat, die (3) im Unternehmensbereich in einer von der Unternehmensleitung generell veranlaßten und deshalb zu verantwortenden, systematischen Steigerung gegenüber der privaten Tätigkeit existiert. Als Modell für diese Haftungsausdehnung kann der Reformvorschlag dienen, den ich im Rahmen des Thyssen-Arbeitskreises anläßlich der Deutschen Wiedervereinigung wie folgt formuliert habe:48 (1) Wird ein zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehörender Erfolg durch das Handeln eines Betriebsangehörigen für den Betrieb oder mit einem überwachungsbedürftigen Gegenstand des Betriebes herbeigeführt, so ist der Aufsichtspflichtige nach diesem Gesetz bereits dann strafbar, wenn das Handeln bei ordnungsgemäßer Aufsicht wesentlich erschwert worden wäre. In diesem Fall ist die Strafe nach § 49 Abs. 1 zu mildern. Dem Betrieb steht das Unternehmen gleich. (2) Dieselbe Bestimmung findet auf einen Vorgesetzten oder einen sonstigen Amtsträger Anwendung, welchem die Aufsicht über die Dienstgeschäfte eines anderen Amtsträgers übertragen ist, sofern das Handeln des Untergebenen oder des zu beaufsichtigenden Amtsträgers die zur Aufsicht gehörenden Geschäfte betrifft. 48
Schünemann (Fn 30) S. 156 mit Begründung 156ff.
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d) Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Unterlassungen im Fall von fahrlässigen Untemehmensdelikten wirft schließlich noch als letztes Problem die Frage auf, ob auch die fahrlässige Unterlassung, ein vorsätzliches Delikt zu verhindern, strafbar sein soll. Die Antwort darauf ist natürlich dann sehr einfach, wenn nach der Definition des Delikts sowohl vorsätzliches als auch fahrlässiges Verhalten strafbar ist, denn dann ist jeder Täter nach seiner eigenen Schuld entweder wegen Vorsatzes oder Fahrlässigkeit zu bestrafen. Weitaus schwieriger ist die Antwort, wenn nur vorsätzliches Verhalten strafbar ist und wenn der Vorgesetzte n u r infolge von Fahrlässigkeit seine Aufsichtspflicht über seinen (vorsätzlich handelnden) Untergebenen verletzt. N a c h den allgemeinen Grundsätzen des Strafrechtssystems müßte auch das fahrlässige Unterlassen straflos sein, wenn sogar die fahrlässige Begehung straflos ist (arg. a fortiori). Gleichwohl hat der Gesetzgeber in Deutschland in diesem Fall für die fahrlässige Unterlassung eine Sanktion vorgesehen, u n d zwar in Gestalt einer Geldbuße nach § 130 OWiG, für die die fahrlässige Nichthinderung einer nur bei Vorsatz strafbaren oder bußgeldpflichtigen Zuwiderhandlung ausreicht. 49 Aber das ist in sich widersprüchlich, denn wenn eine fahrlässige Begehung überhaupt nicht, die fahrlässige Verletzung der Aufsichtspflicht, also eine fahrlässige Unterlassung, dagegen mit einer Geldbuße geahndet wird, so ist das Rangverhältnis von Begehung und Unterlassung auf den Kopf gestellt: Der Topmanager könnte die Sanktion wegen Verletzung seiner Pflicht zur Aufsicht über den Untergebenen dadurch vermeiden, daß er die Arbeit selbst durchführt, weil dann sein fahrlässiges Handeln nicht strafbar wäre - eine offensichtlich unsinnige Konsequenz, 5 0 die sich wohl nur dadurch erklären läßt, daß § 130 OWiG als „Brücke" zur Verhängung einer Verbandssanktion dienen soll, worauf sogleich unter V. einzugehen ist. Eine überzeugende Legitimation bietet aber auch das nicht, denn hierdurch wird - wie zu zeigen ist - das in sich fehlerhafte Konzept einer viel zu restriktiven Unternehmensstrafbarkeit mit Hilfe eines selbstwidersprüchlichen Tatbestandes der Verletzung der Aufsichtspflicht einigermaßen praktikabel gemacht, was einen unnötigen und gefährlichen U m w e g bedeutet, an dessen Stelle sogleich ein vernünftiges Konzept der Unternehmensstrafbarkeit treten sollte.
4 ' Wobei lediglich umstr. ist, ob wenigstens der Untergebene mit Wissen und Wollen handeln muß, s. Göhler Ordnungswidrigkeitengesetz, 15. Aufl 2001, § 130 Rn 21 m w N . 50 Vgl bereits Schünemann (Fn 18) S. 117f.
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V. Verantwortlichkeit des Unternehmens für Fahrlässigkeit seiner Repräsentanten? 1. Während in zahlreichen europäischen Ländern und mit eindeutig steigender Tendenz eine förmliche Strafbarkeit juristischer Personen vorgesehen ist,51 können nach dem deutschen Strafrecht nach wie vor nur natürliche Personen verantwortlich gemacht werden, doch fällt dieser Unterschied praktisch kaum ins Gewicht, weil der Verbandsge/Jsfra/e als der im Ausland dominierenden Unternehmenssanktion die Geldbuße nach § 30 OWiG entspricht, die gegenüber einer juristischen Person oder einer Personenvereinigung verhängt werden kann, wenn der individuelle Täter als Repräsentant des Unternehmens eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen und dadurch Pflichten des Verbandes verletzt oder diesen bereichert hat bzw. bereichern wollte. 2. Der kriminelle Verstoß des Repräsentanten, der nach § 30 OWiG die Unternehmensgeldbuße auslöst, kann also durchaus eine fahrlässige Unterlassung sein, falls diese einen Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestand erfüllt. Auch die fahrlässige Verletzung der Aufsichtspflicht kann deshalb die Brücke zur Unternehmensgeldbuße schlagen, und aus diesem Grunde hat der Gesetzgeber, wie schon bemerkt, in § 130 OWiG die fahrlässige Verletzung der Aufsichtspflicht selbst dort sanktioniert, wo die Begehung selbst nur bei vorsätzlichem Handeln strafbar ist. Es ist selbstverständlich, daß ich im vorliegenden Rahmen die zahllosen theoretischen und praktischen Probleme der Unternehmenskriminalität nicht einmal andiskutieren kann.52 Es sollen deshalb nur einige Anmerkungen vom Standpunkt meines Themas hinzugefügt werden. Ich vermute, daß das deutsche System, welches auf der Verantwortung der leitenden Organe für Fahrlässigkeit aufbaut und daran eine Geldbuße knüpft, die der Körperschaft auferlegt wird, sich unter funktionalen Aspekten nicht wesentlich von der Begründung der corporate criminal liability durch die das Handeln des 51 Vgl dazu die Übersichten und Länderberichte in: De Doelder & Tiedemann (Hrsg.), Criminal Liability of Corporations, Den Haag 1996; Eser/Heine/Huber (eds.), Criminal Responsibility of Legal and Collective Entities, 1999. 52 Vgl dazu außer den Nachweisen in Fn 18, 38, 40 und 51 Schünemann, Ruiz Vadillo, Delmas-Marty, De Doelder, Greve, Restad, Zugaldia Espinar und Dannecker in: Schünemann/Suärez Gonzalez (Fn 38) S. 265-346; Achenbach, Silva-Sanchez, Militello und De Faria Costa, in: Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des europäischen Strafrechts, 1995, S. 283-353; H. J. Schroth Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekte, 1993; Ehrhardt Unternehmensdelinquenz und Unternehmensstrafe, 1994; Otto Die Strafbarkeit von Unternehmen und Verbänden, 1993; Hirsch Die Frage der Straffälligkeit von Personenverbänden, 1993; Schünemann in: Eser/Heine/Huber (Fn 51), S. 225ff; S. Bacigalupo La Responsabilidad Penal de las Personas Juridicas, 1998; Lampe ZStW 106 (1994), 683 ff; Heine SchwZStr 119 (2001), 22 ff.
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Verbandes mit demjenigen seiner Leitungsebene gleichsetzenden „doctrine of identification" im Common Law 5 3 unterscheidet und im Feld der Unternehmenskriminalität die gleiche Funktion erfüllt wie die Vorsatzdelikte bei natürlichen Personen: Dem bei Individuen durch den Abschreckungseffekt der Strafandrohung zu unterdrückenden dolus malus entspricht beim Unternehmen die kriminelle Verbandsattitüde, unter der ich eine Kombination von unzulänglicher formeller Organisation und ungenügender Rechtstreue der Mitglieder verstehe, deretwegen der Verband (das Unternehmen) ähnlich wie ein Rückfallverbrecher immer wieder eine Quelle für die Verletzung von Rechtsgütern ist. 54 Das englische System ist dabei an sich konsequenter als das deutsche, welches zunächst von der Doktrin „societas delinquere non potest" ausgeht und dann doch durch die „Repräsentantenhaftung" des § 30 OWiG nicht davor zurückschreckt, eine Geldbuße direkt der Körperschaft selbst aufzuerlegen. Die Ergebnisse sind aber in beiden Fällen unbefriedigend, und zwar sowohl unter theoretischen als auch unter praktischen Aspekten: Die präventiven Effekte von Geldsanktionen, die juristischen Personen auferlegt werden, sind nach den deutschen wie den europäischen Erfahrungen gering geblieben, obwohl sowohl in deutschen als auch in europäischen Kartellverfahren Geldbußen in astronomischer Höhe von 100 Mio. € und mehr verhängt werden. 5 5 Weil diese Geldbußen ja nicht von den Managern oder den Mitarbeitern des Unternehmens bezahlt werden, deren Verhalten die Verbandsgeldbuße oder -strafe auslöst, sondern letztlich von den Anteilseignern, läßt sich überhaupt nicht bestreiten, daß hier Unschuldige mit gravierenden Sanktionen belegt werden, was mit einer Kombination von Veranlassungs- und Rechtsgüternotstandsprinzip mehr schlecht als recht legitimiert werden kann. 5 6 Wenn dann noch gar, wie im amerikanischen Konzept des corporate crime, die bloße Verbandsgeldstrafe die Regel und die (kumulative) Sanktionierung der schuldigen Individuen die Ausnahme ist, 57 läuft das Unternehmensstrafrecht fast auf die Abschaffung des klassischen Strafrechts im Wirtschaftsleben und damit auf seine eigene Pervertierung hinaus. Statt dessen ist die umgekehrte Strategie einzuschlagen: Individualstrafe und Verbandssanktion müssen zwecks Kompensation der kriminogenen Wirkungen einer kriminellen Verbandsattitüde kumuliert
53 Dazu Smith &Hogan (Fn 3) S. 178ff; Hill/Harmer, Healey, Harding, Wise in: De Doelder & Tiedemann (Fn 52) S. 71, 169, 369, 383 ff; Wells Corporations and Criminal Responsibility, 1993; Coffee in: Eser/Heine/Huber (Fn 51) S. 9ff. 54 Schünemann (Fn 18) S. 22, 253, 266; ähnlich das im Common Law entwickelte Konzept der „Corporate Culture", s. Ehrhardt (Fn 52) S. 150ff; Coffee in: Eser/Heine/Huber (Fn 51) S. 19 f. 55 Schünemann in: Eser/Heine/Huber (Fn 51) S. 293f. 54 Dazu näher Schünemann in: Schünemann/Suärez Gonzalez (Fn 38) S. 279ff, 286. 57 Brickey, Corporate Criminal Liability I, 2. Aufl 1992, S. 31 ff; Ferguson, in: Eser/Heine/Huber (Fn 51) S. 155 f.
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werden, 5 8 und anstelle der Geldstrafe oder -büße als hauptsächlicher und zumeist einziger Sanktion, die dem Unternehmen u n d damit letztlich den unschuldigen Aktionären auferlegt wird, m u ß nach anderen Sanktionen gesucht werden, die besser zu legitimieren sind u n d - wenn möglich - größere präventive Effekte haben. Anstelle einer Inflation möglicher Maßnahmen, wie sie sich schon in der Empfehlung des Ministerkommittees des Europarates vom 20. 10. 1988 u n d im neuen französischen Code Penale und spanischen Codigo Penal findet, 59 verdient m . E . ein Institut den Vorzug, dessen Wirkung - wie es richtig ist - das Management und nicht die Aktionäre trifft u n d vermutlich unter präventiven Aspekten weitaus stärker ist als diejenige der Geldstrafe: die Unternehmenskuratel, d . h . die Unterstellung des Unternehmens unter die zeitlich begrenzte Überwachung durch einen staatlich bestellten Kurator, für deren Einzelheiten ich auf den darüber vorliegenden Entwurf des Thyssen-Arbeitskreises 6 0 verweisen möchte.
VI. Die Entwicklung von den Fahrlässigkeitszu den Gefährdungsdelikten Ich verlasse jetzt die Spezialprobleme der Fahrlässigkeitsdelikte im Rahmen der Unternehmenskriminalität u n d wende mich wieder den allgemeinen Fragen zu. Wie ich bereits bei meiner Problemübersicht am Anfang dieses Beitrags ausgeführt habe, ist das klassische Konzept des Fahrlässigkeitsdelikts sowohl vom Standpunkt der Gerechtigkeit als auch vom Standp u n k t der Abschreckung her unzulänglich, weil es letztlich nur vom Zufall abhängt, ob durch eine unsorgfältige, unerträglich gefährliche H a n d l u n g auch ein schädlicher Erfolg verursacht wird oder nicht. Die präventiven Effekte der Strafandrohung werden geschwächt, wenn der Täter bei seinem unerträglich unsorgfältigen u n d gefährlichen Verhalten darauf hoffen kann, bei einem glücklichen Ausgang nicht bestraft zu werden. U n d es ist auch nicht gerecht, etwa bei einem geringfügig fahrlässigen Delikt mit gravieren58
Näher Schünemann in Schünemann/Suärez Gonzalez (Fn 38) S. 287. Die Empfehlung des Europarates ist abgedruckt bei Schünemann in: The Taiwan/ROC Chapter, AIDP (Hrsg.), International Conference on Environmental Criminal Law, Taipei 1992, S. 433, 445 ff; zur französischen Regelung in Art. 131-39 Code Penal s. Boulc, in: De Doelder &c Tiedemann (Fn 51) S. 235ff; Delmas-Marty in Schünemann/Suärez Gonzalez (Fn 38) S. 305ff; Zieschang Das Sanktionensystem in der Reform des französischen Strafrechts im Vergleich mit dem deutschen Strafrecht, 1992, S. 236 ff; zur spanischen Regelung in Art. 129 Codigo Penal s. S. Bacigalupo (Fn 52) S. 277ff; dies, in: Eser/Heine/Huber (Fn 51) S. 255; Bajo Fernändez/dies. Derecho Penal Economico, Madrid 2001, S. 166ff. Einen kritischen Gesamtüberblick gibt Schwinge Strafrechtliche Sanktionen gegenüber Unternehmen im Bereich des Umweltstrafrechts, 1996. 60 Mit Begründung abgedruckt bei Schünemann (Fn 30) S. 173 ff, und dazu die weiteren Erläuterungen bei Schünemann ibid., S. 129 ff. 59
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den schädlichen Folgen eine hohe Strafe zu verhängen, während eine gravierende Fahrlässigkeit mit glücklichem Ausgang straflos bleibt. Die moderne Gesetzgebung aller europäischen Staaten ist deshalb seit langem vom klassischen Konzept des Fahrlässigkeitsdelikts abgewichen und bevorzugt an seiner Stelle das Konzept des Gefährdungsdelikts, das in wenigstens drei verschiedenen Varianten entwickelt worden ist: 1. a) Bei den konkreten Gefährdungsdelikten setzt die Strafbarkeit voraus, daß die Handlung des Täters nach den konkreten Umständen der Situation zu einer unerträglichen Bedrohung für ein bestimmtes Rechtsgutsobjekt geführt und lediglich aus Zufall keine substantielle Verletzung verursacht hat. Der springende Punkt wird hier vom Begriff der konkreten Gefahr gebildet, für den ich schon vor längerer Zeit eine normative Definition vorgeschlagen habe, die an ein zentrales Prinzip im Konzept der Fahrlässigkeitsdelikte anknüpft, nämlich an den sog. Vertrauensgrundsatz. Im Hinblick auf die Sorgfaltsregeln im Straßenverkehr ist seit langem anerkannt, daß jeder Verkehrsteilnehmer so lange darauf vertrauen darf, daß auch der andere Verkehrsteilnehmer sich ordnungsgemäß verhält, wie ein gegenteiliges Verhalten nicht erkennbar ist.61 Die konkrete Gefahr als ein regelwidriger Zustand ist dann - umgekehrt und ins Allgemeine gewendet - dadurch gekennzeichnet, daß die Rettung vor dem bereits nahe bevorstehenden Schaden durch Umstände eintritt, auf die man nicht vertrauen kann, die also in den Rechtsnormen und Sozialnormen, die den relevanten Lebensbereich betreffen, nicht als normales Geschehen erfaßt sind und deshalb lediglich als glücklicher Zufall angesehen werden.62 b) Wenn man diesen Begriff der konkreten Gefahr akzeptiert, so wird das Konzept des konkreten Gefährdungsdelikts damit vor der Kritik geschützt, die am klassischen Konzept des Fahrlässigkeitsdelikts wegen seiner mangelnden Gerechtigkeit und seines unzulänglichen Abschreckungseffekts geübt werden muß, denn wenn das unsorgfältige Verhalten zu einer konkreten Gefährdung in dem oben definierten Sinne führt, so werden alle gleich schweren Gefährdungen in gleicher Weise bestraft, und der Täter kann die Strafdrohung auch nicht so leicht mit der Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang verdrängen. c) Es bleibt die Frage zu beantworten, ob der Gesetzgeber entsprechend s. 211.2 des Model Penal Code der USA ein allgemeines Gefährdungsdelikt vorsehen oder ob er sich darauf beschränken soll, für bestimmte Fälle wie etwa den Straßenverkehr spezielle Gefährdungstatbestände zu schaffen - dem 61 So die ständige Rechtsprechung, vgl BGHSt 4, 47, 182; 7, 118; 9, 93; 12, 81; 13, 109; 14, 97, 201; eingehend Kirschbaum Der Vertrauensschutz im deutschen Straßenverkehrsrecht, 1980. Zum Ausbau als allgemeines Prinzip bei der Bestimmung des Sorgfaltsmaßstabes Roxin (Fn 9), § 24 Rn 21 ff. 62 Zu diesem sog. normativen Gefahrbegriff Schünemann]K 1975, 792 ff; Demuth Der normative Gefahrbegriff, 1980.
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Vorbild der meisten europäischen Länder entsprechend. In systematischer Hinsicht konsequenter ist die amerikanische Lösung, in präventiver Hinsicht effektiver ist aber die europäische Lösung. Denn wenn die Tatbestände der Gefährdungsdelikte nur für einzelne spezifische Lebensbereiche konzipiert werden, so kann das verbotene Verhalten bildhafter und deutlicher beschrieben werden und in einer gewissen Weise eine Zone des Tabu um unerträglich gefährliche Verhaltensweisen legen, wie dies etwa § 315 c Abs. 1 Nr. 2d StGB bezüglich des Zuschnellfahrens an Straßenkreuzungen getan hat. 2. Wenn die einzelnen Gefährdungen aus einer generellen Gefahrenquelle heraus entstehen, wird in der neueren Gesetzgebung häufig sogar der unsorgfältige Umgang mit dieser Gefahrenquelle für sich allein pönalisiert, ohne daß es noch auf die konkrete Gefährdung einer individuellen anderen Person ankommt. Ein gutes Beispiel bieten hierfür die §§ 8 und 51 LBMG. Jeder, der aus Fahrlässigkeit Stoffe als Lebensmittel in den Verkehr bringt, deren Verzehr geeignet ist, die Gesundheit zu schädigen, wird hiernach mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft. Obwohl das kriminelle Verhalten bei diesem Delikt nicht zu einem substanziellen Schaden und noch nicht einmal zu einer substanziellen Gefährdung einer individuellen Person führen muß, so daß das Delikt nicht einmal eine konkrete Gefahr voraussetzt, ist dieses „breite" Konzept der Gefährdungsdelikte unter der entscheidenden Voraussetzung zu billigen, daß der „point of no return" im Sinne der kollektiven Schaltstationen ausgewählt wird, wie es § 51 LBMG getan hat: Wenn das gesundheitsschädliche Lebensmittel erst einmal in den Verkehr gebracht worden ist, sind die daraus sich ergebenden Gefahren unübersehbar und können vom Täter auch überhaupt nicht mehr gesteuert und in Grenzen gehalten werden, weshalb es vernünftig ist, die Strafandrohung nicht von der zufälligen und unter den Distributionsbedingungen der modernen Industriegesellschaft auch völlig anonymisierten weiteren Entwicklung abhängig zu machen. Es ist deshalb die ex ante beurteilte Eignung einer bestimmten Gefahrenquelle zur Verursachung schädlicher Folgen sowie die Unkontrollierbarkeit und Anonymisierung des weiteren Verlaufs, die der so überaus kontroversen Vorverlagerung der Strafbarkeit63 bei diesem Typus der „Eignungsdelikte" (bzw. „abstrakt-konkrete - oder potentielle - Gefährdungsdelikte" bzw. „Gefährlichkeitsdelikte")64 als Legitimation dienen kann und muß. 63 Näher zu meiner im Text dargelegten Position m.z.w.N. Schünemann GA 1995, 201, 210ff; ders. in Kühne/Miyazawa (Hrsg.), Alte Strafrechtsstrukturen und neue gesellschaftliche Herausforderungen in Japan und Deutschland, 2000, S. 15, 24ff. Zum rechtspolitischen Streit zuletzt umfassend Wohlers Deliktstypen des Präventionsstrafrechts, 2000. 64 Zu diesen verschiedenen Begriffen und der kontroversen Frage, ob hinter ihnen weitere sachliche Differenzierungen stehen, vgl Hirsch FS für Buchala, 1994, S. 151 ff; Hoy er Die Eignungsdelikte, 1987; Meyer Die Gefährlichkeitsdelikte, 1992; Zieschang Die Gefährdungsdelikte, 1998; Koriath GA 2001, 51 ff.
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3. Demgegenüber verzichtet die dritte Gruppe auch noch auf diese spezielle Gefahrenprognose, wenn der Tatbestand lediglich ein bestimmtes Verhalten beschreibt, das erfahrungsgemäß sehr häufig schädliche Folgen verursacht, etwa die Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB), und unabhängig davon bestraft wird, ob die spezifische Prognose einer künftigen Gefährdung auch im einzelnen Fall plausibel wäre oder ob das Verhalten nach den vorliegenden Bedingungen ausnahmsweise völlig ungefährlich ist. Diese abstrakten Gefährdungsdelikte sind das schärfste Mittel des Staates, um ein äußerst gefährliches Verhalten unter allen Umständen zu tabuisieren. Wie die von ihnen ausgelöste Tabuwirkung schon anzeigt, ist das Mittel aber im Grunde archaisch und primitiv. Denn das Verbot eines Verhaltens ohne Rücksicht auf die konkrete Situation ist das typische Steuerungsmittel einer archaischen Gesellschaft, die mit religiösen Tabus arbeitet und nicht auf die Vernunft der Person vertraut. In der modernen Gesellschaft lassen sich die abstrakten Gefährdungsdelikte dagegen im Hinblick auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit wie von der Logik der Androhungsgeneralprävention her nur dann legitimieren, wenn (1) das Verhalten des Täters zumindest aus seiner Perspektive die Prognose einer künftigen gefährlichen Entwicklung begründet, namentlich wenn der Täter selbst das weitere Geschehen nicht mehr kontrollieren kann wie beim Fahren in alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit oder nach Entzündung eines sich rasch ausbreitenden Brandes, 65 und wenn (2) materiell eine besondere Wichtigkeit und Fragilität des letztlich geschützten Rechtsgutes hinzukommt (etwa: Fußgänger im Straßenverkehr, Bewohner eines in Brand gesetzten Hauses, nicht aber im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts 66 ).
VII. Die inhaltliche Präzisierung der Gefährdungsdelikte 1. Die bisherigen Überlegungen haben zu dem Ergebnis geführt, daß die Zukunft der Fahrlässigkeitsdelikte zweifellos von den verschiedenen Arten der Gefährdungsdelikte gebildet wird. Einen wirklichen Fortschritt kann man sich davon aber nur versprechen, wenn es gelingt, das gefährliche Verhalten im Gesetz hinreichend präzise zu beschreiben. Für einzelne Bereiche
45 Verglichen mit den Vorsatzdelikten, entspricht die Strafbarkeitsausdehnung der abstrakten gegenüber den abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikten dann „nur" dem Verhältnis vom untauglichen zum tauglichen Versuch, s. Schünemann]h 1975, 798 mit weiteren Differenzierungen. 66 Was im einzelnen erhebliche Konsequenzen für die Auslegung hat, ζ. B. bei § 264 StGB die Straflosigkeit von Falschangaben zur Durchsetzung eines ohnehin bestehenden Subventionsanspruches ergibt, so gegen BGHSt. 34, 265; 36, 373 die mit Recht h. L., s. Lackner/ Kühl (Fn 9), § 264 Rn 18 m.z.w.N.
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wie etwa den Straßenverkehr ist das schon heute vorzüglich gelungen. Außerhalb des Straßenverkehrs spielt in der modernen Industriegesellschaft fast nur noch die Fahrlässigkeit bei der Berufsausübung eine für das Strafrecht wichtige Rolle, deren vollständige Beschreibung im Strafgesetzbuch oder in Spezialgesetzen aber heute nicht nur nicht vorhanden ist, sondern auch wohl niemals zu erreichen sein wird. Das liegt nicht nur an der ungeheuren Vielfältigkeit und Kompliziertheit der zahllosen beruflichen Tätigkeiten in der modernen Industriegesellschaft, sondern auch an der ständigen Veränderung der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung, die eine entsprechende Anpassung der rechtlichen Standards nach sich ziehen muß. Weil der Gesetzgeber somit überfordert wäre, wenn er alle diese Regeln selbst erlassen und permanent anpassen sollte, könnte man zunächst in Betracht ziehen, der Verwaltung eine diesbezügliche Kompetenz zu verleihen, sei es zum Erlaß solcher Regeln, sei es zur Allgemeinverbindlicherklärung der von privaten Organisationen aufgestellten Regeln. Das würde in Ländern, die wie Spanien von einer ursprünglichen Verordnungskompetenz der Exekutive ausgehen, keine Schwierigkeiten bereiten. In Deutschland ist aber nach Art. 80 GG in jedem Einzelfall eine Ermächtigung der Verwaltung durch den Gesetzgeber erforderlich, die der Verwaltung für die Ausübung dieser Ermächtigung einen Rahmen vorschreibt und dadurch die Kontrolle des Gesetzgebers sichern soll, diesen dadurch aber auch wieder in die (ihn ggf. überfordernde) Pflicht nimmt. 2. Die in der Praxis bevorzugten Auswege aus diesem Dilemma will ich wenigstens noch nennen, auch wenn ich mich mit ihren zahlreichen Problemen und Streitfragen in dieser kleinen Studie nicht mehr befassen kann: a) Die verwaltungsrechtliche Rechtsprechung und Literatur versucht seit einigen Jahren, unterhalb der Rechtsverordnung und oberhalb der schlichten internen Verwaltungsvorschrift den besonderen Typ der sog. normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften zu etablieren67 die aber jedenfalls im Strafrecht dem in Art. 103 Abs. 2 GG niedergelegten Grundsatz nulla poena sine lege nicht genügen und deshalb den Richter bei der Festlegung des Sorgfaltsmaßstabes nicht binden können. b) Die beruflichen Sorgfalts- und Sicherheitsstandards werden noch häufiger von den Berufsangehörigen selbst formuliert, beispielsweise von den Ingenieuren in Form sog. technischer Normen, die in Regelsammlungen wie etwa den Normen des Deutschen Institutes für Normung (DIN) publiziert und von manchen Autoren auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts mit normativer Kraft versehen, überwiegend jedoch nur als antizipierte Sachverständi-
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Zuletzt BVerwGE 107; 338ff.
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gengutachten gewürdigt werden.68 Die erstere These scheitert aber schon an der Verfassungswidrigkeit einer Usurpation legislativer Gewalt durch eine private Vereinigung, und bei der Verwertung als Sachverständigengutachten ist zu berücksichtigen, ob der Einfluß des gefährdeten Bevölkerungskreises (also etwa der Verbraucher eines Produkts) auf das Verfahren, das zur Aufstellung der technischen Normen führt, hinreichend gesichert ist, widrigenfalls es sich nur um ein einseitiges Parteigutachten handelt. Wie bei der Konkretisierung des allgemeinen Fahrlässigkeitsmaßstabes bleibt es deshalb dabei, daß die Gerichte dafür zuständig und darauf verwiesen sind, die „Regeln der Technik" fallbezogen zu konkretisieren, was wegen des geringen Orientierungswertes des in der Rechtsprechung beliebten Leitbildes vom „besonnenen und gewissenhaften Angehörigen des betreffenden Verkehrskreises" nur durch eine Abwägung zwischen dem Interesse an der Vornahme der gefährlichen Handlung gegen das Interesse an der Unversehrtheit der von ihr gefährdeten Rechtsgüter geschehen kann, wobei der Wert der technischen Regeln in der Dokumentation der redlichen Praxis zu sehen ist.69
VIII. Die Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts 1. Der vorstehend betrachtete Einfluß der Verwaltung auf die Festlegung des Fahrlässigkeitsmaßstabes droht sich auf dem Gebiet der Umweltdelikte und damit auf dem heute für das Uberleben der Menschheit überhaupt wichtigsten Sektor möglicher Fahrlässigkeitsdelikte zu einer fast schon absoluten Vorherrschaft zu steigern. Der Grund liegt in der lange Zeit uneingeschränkt anerkannten Doktrin der Verwaltungsakzessonetät des Umweltstrafrechts. Die Basis dieser Doktrin wurde von dem Wortlaut verschiedener Tatbestände des Umweltstrafrechts gebildet, die die Strafbarkeit eines für die Umwelt schädlichen Verhaltens, etwa der Luftverunreinigung, von der „Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten" abhängig machten, was bei einem Handeln im Einklang mit einer erteilten Genehmigung per definitionem ausgeschlossen war. Sogar eine gravierende Umweltverschmutzung wäre danach straflos geblieben, wenn ein Beamter aus grober Fahrlässigkeit eine viel zu lasche Auflage erteilte, denn auch der Beamte selbst hätte in diesem Fall nicht bestraft werden können, weil als Täter nur der Pflichtige und damit der Inhaber der Anlage selbst in Betracht kam. 68 Eingehende Darstellung der verschiedenen Standpunkte bei Schünemann FS für Lackner, 1987, S. 367, 375 ff, und zur seitherigen Diskussion im öffentlichen Recht Vomhof Rechtsprobleme der Einbindung von sachverständigen Gremien in das Umwelt- und Technikrecht, 2000; Schäfer Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für die Konkretisierung unbestimmter Sicherheitsstandards durch die Rezeption von Sachverstand, 1990. 49 Näher Schünemann (Fn 68) S. 394f; ders. JA 1975, 575ff.
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2. Weil soziologische Untersuchungen nicht nur in Deutschland ein katastrophales Implementationsdefizit des Umweltverwaltungsrechts bewiesen haben,70 hätte eine derartige Verwaltungsakzessorietät des Umweltstrafrechts somit zu dessen weitestgehender Ineffizienz geführt. Diese drohende Paralysierung des Umweltstrafrechts ist jedoch durch gemeinsame Anstrengungen von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Schrifttum im Prinzip abgewendet worden: Indem § 330 d Nr. 4 und Nr. 5 StGB nunmehr verwaltungsrechtliche Pflichten auch aus einer „Rechtsvorschrift" (und nicht nur aus einem Verwaltungsakt) ableitet und einer unredlich erwirkten Genehmigung die strafrechtliche Beachtlichkeit versagt, der BGH in (in der Begründung freilich zu) weitgehender Weise eine Garantenstellung von Amtsträgern der Umweltbehörden bejaht hat und im Schrifttum die auf die verwaltungsrechtliche Doktrin von der Bestandskraft eines fehlerhaften Verwaltungsakts gestützte These der Verwaltungsa&isakzessorietät des Umweltstrafrechts durchgreifend kritisiert worden ist,71 erscheint die Gefahr, daß ein die gesetzlichen Wertungen konterkarierendes Verwaltungshandeln gleichwohl den im Strafrecht maßgeblichen Sorgfaltsmaßstab festlegen könnte, gebannt.
IX. Die strafrechtliche Produkthaftung 1. An der vordersten Front des Fahrlässigkeitsstrafrechts steht in der modernen Industriegesellschaft naturgemäß die strafrechtliche Produkthaftung, als deren wichtigster Teil vom BGH die Pflicht des Produzenten zum Rückruf einer bereits an den Verbraucher verkauften gefährlichen Ware anerkannt worden ist. Der Produzent ist danach strafrechtlich für alle Schäden verantwortlich, die durch den Gebrauch oder Verbrauch der Ware verursacht werden, wenn er es unterlassen hat, die Öffentlichkeit auf die nachträglich von ihm erkannte Gefährlichkeit seines Produkts aufmerksam zu machen und die ihm im einzelnen unbekannten Abnehmer zur Rückgabe des Produkts aufzufordern.72 Zweifellos ist der Schutz des Verbrauchers durch dieses Präjudiz wesentlich verbessert worden, aber ob sich der BGH damit nicht allzu nonchalant über alle bis dahin anerkannten Zurechnungs-
7 0 Vgl nur Heine/Meinberg 3. Aufl 1996, S. 890f.
Gutachten D zum 57 DJT 1988, S. 7 7 f f ; Kaiser Kriminologie,
71 S. das 2. U K G v o m 27. 6. 1994 (BGBl I S. 1440); BGHSt 38, 3 2 5 ; 39, 381 zur (in ihren Problemen hier nicht weiter auslotbaren) Garantenstellung von Amtsträgern; Schünemann wistra 1986, 2 3 5 , 2 3 7 f f ; ders. FS für Triffterer, 1996, S. 4 3 9 , 4 4 4 i f ; Frisch Verwaltungsakzessorietät und Tatbestandsverständnis im Umweltstrafrecht, 1993, S. 57 ff zur Kritik der Verwaltungsaktsakzessorietät. 72
BGHSt 37, 106ff (Lederspray).
Unzulänglichkeiten des Fahrlässigkeitsdelikts
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grundsätze hinweggesetzt hat, ist umstritten geblieben.73 Während die (Quasi-)Kausalität des unterlassenen Rückrufes zumeist an dessen notorisch niedriger Erfolgsquote scheitert (und deshalb ggf. de lege ferenda durch die unterlassene Risikominderung ersetzt werden sollte) und anstelle eines echten „Rückrufes" strafrechtlich ohnehin nur eine 'Warnung verlangt werden könnte, 74 halte ich die ebenfalls prekäre Begründung der Garantenstellung unter Modifizierung meiner früheren Kritik75 insoweit für möglich, als es um Markenware geht, für deren Gefahrlosigkeit der Hersteller entsprechend den heute üblichen Marktgepflogenheiten ausdrücklich in eine Ubernahmegarantenstellung einrückt.76 2. Auf diese wenigen Bemerkungen muss ich mich hier aus Raumgründen beschränken. Jedenfalls ist an den gebildeten Beispielen zu erkennen, daß das klassische Konzept des Fahrlässigkeitsdelikts in der zeitgenössischen Gesellschaft vor immer neue Fragen und Probleme gestellt wird, bei deren Beantwortung und Lösung wir den stets wohlabgewogenen Standpunkt von Dieter Meurer schmerzlich vermissen werden.
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Zu der inzwischen kaum noch überschaubaren Diskussion vgl die Nachweise bei Scbünemann FS für Roxin, 2001, S. 5 Fn 19. 74 Schünemann in: Breuer/Kloepfer (Fn 40) S. 164; ders. in: Gimbernat/Schünemann/ Wolter (Fn 44) S. 68. 75 In: Breuer/Kloepfer (Fn 40) S. 163ff, und: Gimbernat/Schünemann/Wolter (Fn 44) S. 68 ff. 76 In: 50 Jahre Bundesgerichtshof (Fn 40) S. 621, 640f (vgl auch die dem BGH durchgehend zustimmende Stellungnahme von Kuhlen ibid. S. 647ff); zustimmend Schmucker Die „Dogmatik" einer strafrechtlichen Produktverantwortung, 2001, S. 150 f, 166 f.
War Adolf Hitler Täter und Straftäter der Tötungen von Eva Braun und Geli Raubai? Zugleich Versuch einer Personerörterung 1 WILFRIED
BOTTKE
Die gestellte Aufgabe kann irritieren. Sie bricht mit strafrechtsdogmatischem Brauch. Sie thematisiert Handeln einzelner Menschen. Sie thematisiert es, obschon das, was tötungstatlich geschah, weder geschichtswissenschaftlich zweifelsfrei eruiert und beschrieben werden kann noch forensisch feststellbar ist. Sie trennt Tun, Tätersein und Straftätersein. Sie bezieht Vorstrafrechtliches in ihren Gegenstand ein. Sie riskiert den Dilettantismus dessen, der sie weithin nicht als fachkundig Vorgebildeter angehen kann. Dieter Meurer beschäftigte sich auch mit Ungewohntem, Speziellem und allgemein Interessierendem. Er dachte und arbeitete interdisziplinär. Er schätzte dies auch an anderen. Obschon ich seine interdisziplinäre Professionalität nicht habe, sei ihm zu Ehren das Unternehmen gewagt, nach einem Tun Adolf Hitlers zu fragen, das auch Licht auf Adolf Hitlers Persönlichkeit werfen kann.
A . Einleitung I. Ein Ende in der Reichskanzlei, wie es einer nihilistischen Orgie kratomanischer Untaten anstehen mag: nach dem Autodafe der Bücher zu Beginn des Dritten Reiches und dem Qualm aus den Schornsteinen der Ver1 Zitate sind durch „ . . . " kenntlich gemacht. Zitate ohne Fn sind Zitate aus Hitlers ,Mein Kampf', überlieferten Äußerungen Hitlers sowie dokumentierten Bekundungen von Geli Raubai, von Eva Braun (namentlich deren Tagebuchnotizen), von Verwandten und von Nahestehenden. Verwiesen sei auf Benz, Hrsg., Frauen im Nationalsozialismus, 1997; de Boor Hitler - Mensch Ubermensch Untermensch, 1985; Ebbinghaus, Hrsg., Opfer und Täterinnen, 1996; Eitner Der Führer, Hitlers Persönlichkeit und Charakter, 1981; fei Hitler, 1973; Hitler Mein Kampf, Bd. I 1925, Bd. II 1927; Kempka Die letzten Tage mit Adolf Hitler, 2. Aufl, 1976; Kershaw Hitler, 1889-1936, 1998; den., Der Hitler-Mythos, 1999; Miller hm Anfang war Erziehung, 1983; Leutheusser, Hrsg., Hitler und die Frauen, 2001; Speer. „Alles, was ich weiß", mit einem Bericht „Frauen um Hitler" von Brandt hrsg. von Ulrich Schlie, 2000; Theweleit Männerphantasien, Bd. 2, Männerkörper - zur Psychoanalyse des weißen Terrors, 1980; Maser Adolf Hitler, 6. (vom Autor durch Eva Brauns Tagebuch) ergänzte Aufl, 1974.
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nichtungslager das Brennen der toten Körper von Adolf Hitler und Eva Braun am 30. April 1945. Das Leben von Adolf Hitler war gescheitert. Sein Wähnen hatte Frieden weder gesucht noch gefunden. Er führte in den Untergang. Eva. Braun war ihrem Führer nach Berlin in den Tod gefolgt. Beide heirateten einander, kurz bevor sie ihre Leben endeten. Mitarbeiter Hitlers behaupteten, dass Adolf Hitler und Eva Braun sich erschossen. Glassplitter zerdrückter Ampullen mit Zyan wurden in ihren Mündern gefunden; an ihren Körpern waren wegen der Verbrennung keine tödlichen Beschädigungen festzustellen. Er war 56 Jahre, sie war 33 Jahre alt. Adolf Hitlers Nichte Angela (,Geli) Raubai, die 1929 zu ihrem Onkel (,Alf) gezogen war, hatte ihr Zusammenleben mit Adolf Hitler Jahre früher mit ihrem Tode bezahlt; sie erschoss sich, 23 Jahre alt, am 18. September 1931 in Adolf Hitlers Wohnung mit dessen Pistole, angeblich nach lautstarkem Streit. Adolf Hitlers weibliche2 Geliebte waren durchschnittlich mehr als zwanzig Jahre jünger als er; es wird behauptet, dass von den sechs Frauen, die der erwachsene Adolf Hitler sexualisierte und/oder denen er sexuell nahe stand, fünf Selbstmord verübten oder versuchten. Einen - gescheiterten - Suizidversuch unternahm 1927 Maria (,Mimi) Reiter, als Adolf Hitler das Verhältnis nicht fortsetzte; sie hatte ihn (,Wolf'), damals 37 Jahre alt, ein Jahr zuvor, als sechzehnjähriges Mädchen, kennengelernt. Forensisch erhärtetes Wissen dazu und insonderheit darüber, wie und zu welchen Machtanteilen Adolf Hitlers, Geli Raubai und Eva Braun ihr Leben verloren, gibt es nicht. II. Gesetzt, jeder dieser Toten tötete sich mit seinem Handeln selbst, also unter Einsatz eigenen Leibes oder Leibteils, sei es auch mit diesem oder jenem Mittel, ohne dass ein anderer Mensch den unmittelbar tötenden Akt mit seinem Handeln vornahm: War Adolf Hitlers Tun vor seiner Selbsttötung auch Grund der Suizide von Geli Raubai und/oder Eva Braun} Machte Adolf Hitler mit seinem Tun Geli Raubai und Eva Braun suizidal? Hatte er Macht über ihre Selbsttötungen? Übte er sie mit seinem Tun todbringend aus? Tötete Adolf Hitler Geli Raubai und/oder Eva Braun mittels ihres Tuns? War er mittelbarer Täter und Straftäter?
B. Fragwürdigkeit Solches Fragen sei recht verstanden. Es lenke nicht ab von dem entsetzlichen Leid, das der Führer und Träger deutscher Staatsgewalt,Hitler'1 Millionen Menschen antat. Frage nach dem, was Adolf Hitler Geli Raubai und 2
O b Adolf Hitler auch homosexuelle Beziehungen hatte, sei hier nicht erörtert. Im Folgenden sei immer dann von ,Hitler' die Rede, wenn es um den ,öffentlichen' Parteigenossen, Führer und Reichskanzler geht. Von ,Adolf Hitler sei dagegen gesprochen, wenn es um den ,privaten' Menschen geht. 3
Adolf Hitler und die Tötung von Eva Braun und Geli Raubai
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Eva Braun antat, wäre obszön, wenn sie die Gräueltaten verschwiege oder zu beschweigen hülfe, die Hitler als Inhaber öffentlicher Macht4 verübte und verüben ließ. Sie ist nur stellbar, wenn sie auch und vorrangig Stimme für das hat, was Hitler anderen Menschen im Gebrauch staatlicher Gewalt5 antat. I. Hitler war der ,Macher und Meister' hocheffektiv organisierter Staatskriminalität. Er war, mit Verlaub, deren ,kratomanischer top manager': Er wandelte deutschen Staat wider Menschenrecht in eine rechtlose Räuberhöhle um. Er deformierte ihn zu einer von ihm beherrschten Maschinerie des Unrechts. Er maßte sich Rechtssouveränität an. Er stellte sich über das Recht, das das Recht aller Menschen ist. Er pries rassistischen Sozialdarwinismus. Er hegte Allmachtsphantasien. Er hielt sich gegen Lebensende „tief innerlich" für religiös. Er sprach vorher parareligiös. Er verkündete, von der Vorsehung auserwählt zu sein. Er vergötzte sich und ließ sich vergötzen. Er spielte dem Publikum die Rolle des asketischen Altruisten und zog es in den Bann der Erotik des Mächtigen. Er gab sich als machtwürdiger Erlöser und war der egozentrische Hasardeur allgemeiner Wohlfahrt. Er gab vor, Deutschland vom Widrigen zu erlösen, und löste es vom Wertigen. Er predigte, mit dem Heil zu sein, und brachte das Unheil. Er verwaltete sich Welt als „Welt des Kampfes", in der er walten und schalten mochte. Er machte sich mächtig und ihm Unliebsame zu Gegnern. Er machte vor, er mache sich gegen seine Gegner für andere mächtig. Er bemächtigte sich des deutschen Staates. Er ließ sich zur ihm beliebigen Machtausübung ermächtigen. Er wurde Führer, Kanzler, oberster Befehlshaber und oberster Gerichtsherr. Er missbrauchte seine Staatsmacht wider Menschen- und Völkerrecht. Er suchte Weltmacht zu erwerben und sich alle Welt nach seinem Willen Untertan zu machen. Er gerierte sich als Herr über das, was andere Menschen selbst haben und/oder diesen gehört. Er schuf und sicherte seinem Willen Kopf- und Handlanger. Er missbrauchte deren Bereitschaft, seinem Willen zu willfahren. Sie wurden ihm willfährige Vollstrecker, die ihm und seinem Wollen vorauseilenden und nachfolgenden Gehorsam leisteten. Er initiierte quasi industrialisierte Massenmenschentötung. Er beherrschte kraft seiner Befehlsmacht die in Tötungslagern systematisch betriebene Massenproduktion von Leichen. Er gab seinen Untergebenen wie der Pate einer monströsen Mafiaorganisation geheimen Befehl zum Töten. Er gebrauchte seine Herrschaft über den Staat todbewirkend. Er war Herr der Schandtaten, die die seiner Macht Unterstellten getreu seinem Willen taten. Er tat das, was sie Menschen antaten, durch sie. Ihre Taten waren auch seine. Er nutzte 4 Macht ist das Vermögen, sich Willen zum Verwalten von Welt zu bilden und diesen gegen Widerstände durchzusetzen. Vollkommene Macht ist das Vermögen, sich Willen nach Belieben zu bilden und diesen nach Belieben gegen Widerstände durchzusetzen. 5 Insoweit realisierte Konnotationen von Gewalt sind Gewaltsamkeit und Gewalttätigkeit.
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seine Macht zum Angriffskrieg, zur Menschenschlächtung und zum Völkermord. Erfolge, Lob und Mittun anderer zogen ihn und die seiner Macht Unterworfenen in den Sog des Abgrunds, den der Gebrauch unbegrenzter Macht reißt. Er hatte Omnipotenz gesucht und verwirklichte Untergangssucht. Als seine Staatsmacht gebrochen war, floh Hitler vor seiner persönlichen Verantwortung. Ihm konnte nicht der Prozess gemacht werden. Er legte Hand an sich. Er entzog sich durch seinen Tod dem Unternehmen civilisierter Nationen, ihn wegen seiner Verbrechen gegen die Menschheit zur Rechenschaft zu ziehen. II. Schweigen von den staatsorganisierten Verbrechen Hitlers wäre selber ein Verbrechen. Denn es geschähe gegen die Rechte, die die Entehrten, Freiheitsberaubten, Geschändeten, Gemordeten und Enteigneten auf ihre oder an ihren Gütern hatten. Es bräche die Pflicht zum Erinnern dessen, was ihnen wider ihren Menschenrechten auf Würde, Freiheit, Leib, Leben und Eigentum angetan wurde. Verstößt die Frage, ob Adolf Hitler Täter der Tötungen von Gell Raubai und Eva Braun war, gegen die Pflicht, Hitlers staatsorganisierte Verbrechen zu erinnern? Verdunkelt sie staatsorganisierten Massenmord, weil sie gleichsam privatisiert'? Nicht notwendig. Die so gestellte Frage geht und gehe mit dem Gedächtnis an staatsorganisiertes Leid einher. Eingeräumt, der Fokus der Frage bleibt ein besonderer. Adolf Hitler übte weder über seinen Suizid noch über die Suizide von Geli Raubai und von Eva Braun jene Organisationsherrschaft aus, mit der Hitler als Führer und Träger deutscher Staatsgewalt die menschenrechtswidrige Kriminalität des NS-Staates bewirkte. Jedoch, Fokussierung privaten Handelns muss es nicht dabei belassen, den Untaten Hitlers in der ,Staatswelt' ein Tun Adolf Hitlers in seiner ,privaten Gegenwelt' beizufügen und es auf etwaige Strafbarkeit hin zu beleuchten. Sie kann versuchen, gemeinsame oder differenzierte Verhaltensmuster im Verwalten dieser und jener Welt zu bemerken. Sie kann instabile oder stabile Verwaltattitüden Adolf Hitlers notieren. Sie kann so dessen Persönlichkeit erhellen und das Bild, das wir uns von ihr machen, zeichnen helfen. Denn: 1. Wesen verhalten sich, wenn ihr Agieren extern mit Sinn festhaltbar ist. Personale Wesen verhalten sich, indem sie ihr inwendiges So-Sein (ihre Persönlichkeit) auswendig zeigen, sich also ,äußern';,Verhalten' von Personen ist Personäußerung. ,Handeln' ist menschliches Verhalten.6 ,Tun' ist 6 Religiöses Personverständnis kann jeden Menschen als Person deuten, wenn und weil es jedem Menschen Ebenbildlichkeit mit Gott bescheinigt und diese in ihm ,durchtönen' lässt. Profanes Personverständnis zeichnet das nach, was einen Menschen an Sinnen antönt und durchtönt: Ein Mensch erwirbt Persönlichkeit, indem er das internalisiert, was sich ihm im Laufe seines Lebens an Handlungssinnen zeigt. Seine Persönlichkeit ist gleichsam die Q u e r s u m m e seiner Attitüden des Verwaltens von Welt, das er beobachtete, deutete und
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Adolf Hitler und die Tötung von Eva Braun und Geli Raubai
H a n d e l n , d u r c h d a s d e r H a n d e l n d e sein H a n d l u n g s v e r m ö g e n nicht n u r geb r a u c h t , 7 s o n d e r n es s o o d e r s o a f f i z i e r t o d e r s o n s t i g V e r w a l t b a r e s , a l s o s o n s t i g e s G u t , 8 m e h r als b e i l ä u f i g v e r w a l t e t ; T u n , d a s ein G u t e r w i r b t , ü b e r trägt, gebraucht oder (etwa seine S u b s t a n z oder Fungibilität optimierend oder deoptimierend, sichernd oder gefährdend) affiziert,,verfährt' mit ihm. , A n t u n ' ist T u n , d a s ein G u t a f f i z i e r t , i n s o n d e r h e i t e i n e m W e s e n eines d e r G ü t e r a f f i z i e r t , die ( a l l e r m e i s t i n t r a n s f e r i b e l ) in o d e r a n i h m , k u r z : m i t i h m s i n d u n d die es d a h e r s e l b e r o d e r s e l b s t h a t . 9 , P o s i t i v e s T u n ' ist T u n , d a s m i t einer p h ä n o t y p i s c h m e r k b a r e n leiblichen o d e r l e i b o r g a n l i c h e n
Bewegung
v e r b u n d e n i s t ; es i s t , G r u n d ' f ü r ein a n d e r e s E r e i g n i s ( a u c h f ü r d a s T u n eines a n d e r e n M e n s c h e n ) , w e n n es d i e s e s ( a u c h d e s s e n k o n k r e t e B e s c h a f f e n h e i t ) erwirkt.
,Negatives
Tun'
ist e r w a r t w i d r i g e
Nichtvornahme
erwarteten
p o s i t i v e n T u n s , d . h . U n t e r l a s s e n ; es i s t , G r u n d ' f ü r ein E r e i g n i s , w e n n es d i e s e s z u l ä s s t , weil die V o r n a h m e e r w a r t e t e n p o s i t i v e n T u n s d e n Eintritt d e s E r e i g n i s s e s v e r h i n d e r t h ä t t e . T ä t i g ist j e d e r M e n s c h , d e r e t w a s tut. E r ist ,Tuer'; wer weder positiv noch negativ etwas tut, i s t , N i c h t s t u e r ' . 2. J e d e r M e n s c h z e i g t d a s , w a s er in sich als s e i n e P e r s ö n l i c h k e i t b i l d e t e , d u r c h sein p r i v a t e s u n d ö f f e n t l i c h e s H a n d e l n . E r k a n n sich m i t s e i n e m T u n i m V e r w a l t e n d i e s e r Welt s o u n d i m V e r w a l t e n j e n e r Welt v e r g l e i c h b a r o d e r sich an- oder fortverwandelte. Ein Mensch, der handelt, verhält sich, weil das, was er ist und was er nur von sich oder auch an Außenwelt verwaltet, deutbar und mit erdeutetem Sinn festhaltbar ist: Er personiert sich; er bildet ab, wer er ist und wozu er fähig ist. Handeln ist menschliches Verhalten; es ist menschliche Personation. 7 Denn: Tun ist Handeln, durch das der Handelnde mehr macht, als sich zu personieren (also Handlungsvermögen zu gebrauchen). Man kann z.B. zwar nur sagen, ein Mensch lache (also handele), ohne zu sagen, was er behandele. Man kann aber nicht sagen, eine Mensch tue, ohne mit der Sage dessen fortzufahren, was er tue. Ein Mensch tut etwas. Dieses Etwas ist Verwaltbares (anders ausgedrückt: Gut), das objeciert, benannt, repräsentiert, erworben, übertragen, gebraucht oder in seinem Bestand oder in seiner Leistungstauglichkeit so oder so affiziert, kurz: verwaltet, wird. 8 Es gehört zu den Mythen der Menschheit, sie sei dazu berufen, sich Welt untenan zu machen. In säkularisierter Sprache: Einer Gesellschaft ist es gut, dass es Welt und Teile von Welt gibt, die objeciert, gedeutet, repräsentiert, erworben, übertragen, gebraucht oder affiziert, kurz: verwaltet, werden können. Gut ist Verwaltbares. Solches Gut muss nicht allozierbar sein, tauschbar sein, Tauschwert haben oder gar vermarktbar sein; es wäre eine ökonomistische Verengung des Gutsbegriffs, nur das als Gut anzusehen, was im Wirtschaftssystem allozierbar ist, getauscht werden kann, Tauschwert hat oder, wenn das Wirtschaftssystem Markt ist, vermarktbar ist. 9 Gut, das mit einem Lebewesen ist, hat es leibhaftig selbst; es ist, sachstrukturell, sein Gut, wenn man so reden will: sein ,Selbstgut', und, wenn es ihm gehört, das seinige. Lebende Menschen sind Lebewesen. Ihre Selbstgüter sind z.B. ihr Leib, ihr Leben (ihre biologischen Integrationsprozesse), ihr Humangenom sowie ihr Vermögen zu agieren (etwa zu fühlen, sich diese oder jene Persönlichkeit als dauerhafte Attitüde zum Verwalten von Welt zu bilden und durch Handeln abzubilden). Selbstbestimmung ist Agieren, durch das der Agierende mit sich (mit einem, mehreren oder allen seiner Selbstgüter) nach seinem Belieben verfährt.
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Wilfried Bottke
anders zeigen. Privates und öffentliches Tun, das mit eigenen und fremden Rechtsgütern10 verfährt, kann Personmerkmale des Tuenden enthüllen. 3. Bereitete sich die destruktive ,Kratomanie' Hitlers durch eine personale Disposition vor, die Adolf Hitler auch im privaten Leben zeigte? Ist diese Disposition, sit venia verbo, das ,rechtsinfantile Machtstreben eines Narzissten', das sich mit Destruktionssucht paarte und zur rechtsfeindlich geübten Machtgier wurde? Man kann dies meinen. Man kann es auch und gerade meinen zu Adolf Hitlers Gestaltung seines privaten Sexuallebens. Er suchte Macht über Frauen, die ihm privat nahe kamen und mit denen er eine sexuelle Liebesbeziehung pflegte. Er suizidalisierte sie. Er wirkte ,suizidiv'. Auch und gerade Handeln Adolf Hitlers, das im Privaten machtstrebig war, Sexualität verwaltete, eigene Suizidalität zeigte, suizidiv wirkte und Tod antat, lässt studieren, wer er war. Es lässt, falls solche Einvernahme gestattet ist, ,uns' auch besorgen, wer wir sein und wozu wir fähig werden könnten. Können auch, falls solche Einvernahme gestattet sei, ,wir' Liebe ersehnen, geliebt werden und dennoch anderen Menschen Herr sein wollen und den Tod antun oder sich antun lassen? Ist Hitler uns auch deshalb ein ,widriger Gegenstand',11 weil wir Adolf Hitler und seine Persönlichkeit wegen Hitlers Schandtaten als widerliche wollen, obschon sie Züge birgt, die auch wir in uns haben und die wir uns als unsere Nachtseiten verhüllen? Was können und müssen wir für und gegen uns tun, damit sie sich nie wieder im atroziös Bösen verwirklichen?
C. Historische und suizidologische Erkundungen Es sei behauptet: Adolf Hitler war in seinem Sexualleben ein rechtsinfantiler machtsüchtiger Narziss. Er wurde in Fällen narzisstischer Kränkung aggressiv, auch autoaggressiv, d. h. suizidal. Er machte Frauen, die er liebte oder ihn liebten, suizidal. Machte er auch das, was Geli Raubai und Eva Braun sich als Selbsttötungswillige antaten? Tat er ihnen ihre Suizidalität und ihre Suizide an? Um suizidologische Rekonstruktion dessen zu wagen, was Gell Raubai, Adolf Hitler und Eva Braun sich und einander antaten: Menschen, die sich töten, sind allermeist vor ihrem Tun suizidal gestimmt. 10 Rechtsgut ist Gut, dessen Verwaltung oder NichtVerwaltung Rechtsregel reguliert. Rechtsgut ist sowohl Gut, an dem oder auf das ein personales Wesen, etwa ein Mensch, ein Recht hat, als auch Gut, dessen Verwaltung allen, diesen oder jenen Wesen gebietet oder verbietet; zweitgenanntes Gut ist Rechtsnormgut. Verfassungsgut ist Gut, dessen Verwaltung oder NichtVerwaltung Verfassungsregel reguliert. Fremdes Gut ist Gut, das ein Wesen nicht selbst hat und an dem oder auf das er auch kein Recht des Verwaltens hat. Fremdes Rechtsgut ist Gut, an dem oder auf das ein Gutsverwalter kein Recht hat. 11 So ein Dictum von Golo Mann.
Adolf Hitler und die Tötung von Eva Braun und Geli Raubai
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Suizidal gestimmte Menschen sind nicht sterbensfroh. Sie sind lebensmüde. Man darf annehmen, dass auch Geli Raubai, Adolf Hitler und Eva Braun vor ihren Suiziden minder oder mehr suizidal gestimmt waren: Sie entschieden sich - sei es eher spontan, sei es erwogen - aus unterschiedlichen Motiven dazu, ihr Leben zu enden. Sie töteten sich positiv selbst,12 weil sie sich mit eigenem positiven Tun erschossen und/oder vergifteten. Indem sich Geli Raubai (mit der Pistole Adolf Hitlers), Adolf Hitler und Eva Braun (mit Gift und/oder Schusswaffe) im Wissen um die Folgen ihres Gebrauchs des oder der benutzten Tötungsmittel selbst töteten, nahmen sie eine Möglichkeit zum Verwalten ihres Lebens wahr, die Menschen eigen ist. Sie verneinten mit ihrer Tötung das, was sie erlebt hatten und/oder als die erlebensunwerte Zukunft ihres Weiterlebens ansahen. Die Lebenslagen, in denen sie sich befanden, machten sie suizidgeneigt. Ihre Lebensperspektiven waren ihnen verengt. Adolf Hitler sah seine Macht13 gebrochen. Geli Raubai fand sich, wie es heißt, mit Adolf Hitler in einem ,goldenen Käfig'. Eva Braun fand sich an Adolf Hitlers Seite und in dem Willen, das Schicksal ihres Mannes zu teilen. Jeder ihrer Befindlichkeiten und Befunde verkargte das Können jedes einzelnen, sich (ihr Wollen, ihren Leib und ihr Leben) so oder so zu verwalten. Ihre Freiheit, zwischen Weiterleben und Selbsttötung zu wählen, war gemindert, gleichviel, ob sie die Lage, in der sie sich jeweils fanden, wissentlich oder unwissentlich, freiwillig oder unfreiwillig, schuldhaft oder schuldlos zugelassen oder nicht zugelassen hatten, bewirkt hatten oder nicht bewirkt hatten, miterwirkt hatten oder nicht miterwirkt hatten, eingegangen waren oder nicht eingegangen waren. Keiner ihrer Suizide verdient den Namen ,Freitod', wenn Freitod nur eine Selbsttötung meint, zu der sich ein Mensch entschließt, der frei von allen seine Freiheit (sein Können) deoptimierenden Umständen ist und daher das frei wollen kann, was er will und was er sich wissent- und willentlich antut. I. Welche Motive mit der Perspektivenge Geli Raubais so verwoben waren, dass sie sich selbst tötete, ist nicht mehr eruierbar. Sie soll von Adolf Hitler gesagt haben: „Mein Onkel ist ein Ungeheuer. Kein Mensch kann sich vorstellen, was er mir zumutet". Sie plante ihre Rückkehr nach Wien; ihre Leiche trug angeblich Spuren, die auf körperliche Gewaltanwendung hindeuteten. Sie tötete sich nach allem, was man erahnen kann, vielleicht auch 12 Es tötet sich positiv selbst, wer sein Leben unmittelbar durch sein positives Tun endet, sei es auch in bestimmter Technik oder unter Einsatz eines nicht selber handelnden Weltteils, etwa eines Revolvers, einer Giftkapsel oder einer Pistole. Das, was er sich durch sein Handeln antut, ist - sachstrukturell - seine Selbsttötung, auch wenn - normativ - ein anderer Mensch, der sie erwirkte oder zuließ, für sie ohne oder mit dieser oder jener Strafe zuständig ist; auch von anderen Menschen erwirkte, bewirkte oder zugelassene Selbsttötungen sowie gleichzeitig vollzogene Selbsttötungen sind Selbsttötungen.
" Vgl o. Fn 4.
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Wilfried Bottke
aus eigenen Schuldgefühlen und verwundeter Selbstliebe. Sie tötete sich vermutlich in Frustration, in Autoaggressivität, im Protest gegen Untergetanheit, aus Verzweiflung und, last not least, aus retributiven Bestrebungen. 1. Geli Raubals Suizid hatte punitwen Sinn. Zum einen culpierte er Adolf Hitler. Er tat Adolf Hitler kund: ,Fühle Dich schuldig'. Zwar haben Suizidversuche allermeist den appellativen Sinn des Hilfeschreis. Sie werden, wenn dies vom Suizidenten gewollt oder mit gewollt ist, mit weichem Mittel und Rettungschancen vorgenommen. Der Suizidversuch Geli Raubals geschah aber so nicht. Er wurde mit einem hochaggressiven Tötungsmittel vollzogen. Er geschah mit Adolf Hitlers Pistole. Er geschah in dessen Wohnung. Er geschah ohne Rettungschance. Adolf Hitler war in der Wohnung nicht anwesend. Der Suizid Geli Raubals geschah ihm gleichwohl hochdemonstrativ. Er warf AdolfHitler vor: ,Du bist schuld an dem, was Du mir antatest, dass ich mich mit Deiner Pistole töten kann, dass ich mich mit ihr töten will und dass ich mich in Deiner Wohnung mit Deiner Pistole jetzt töte'. Zum anderen zahlte der Suizid Geli Raubals ihrem Onkel die Schuld heim, die sie ihm vorwarf. Denn Adolf Hitler verstand diesen Sinn des Suizids. Er litt. Er litt mit Grund. Er litt zumindest mit dem Grund ihres Schuldzuweises, auch wenn er, wie der Bruder Geli Raubals 1967 meinte, am Tode Geli Raubals „absolut unschuldig" gewesen war und gewesen sein sollte. 2. Adolf Hitler hatte Geli Raubai nicht nur gern gehabt, geholt und fest gehalten. Er hatte auch an der Selbsttötung Geli Raubals seinen Machtanteil. Er hatte Obmacht über die Tötungschancen und Suizidalität Geli Raubals, weil er sich besonderes Können verschafft hatte, ihr Sterben und Leben zu beeinflussen. Er war Herr der Wohnung und der in dieser befindlichen Pistole. Pistolen sind zum Töten oder zum Drohen mit einer Tötung da. Munitionierbare Pistolen sind gefährliche Sachen. Adolf Hitler hätte seine Munition und seine Pistole als , Gefahrquellenherr vor dem tötendem Zugriff seiner Nichte sichern können. Er tat es nicht oder nicht hinreichend. Er suizidalisierte sie durch seine Gestaltung ihrer beider Beziehung. Er führte das Verhältnis suizidiv. Er war Herr des von ihm suizidiv geführten Verhältnisses: Er war ihr an Jahren älterer Onkel; sie war seine junge Nichte. Er war ihr Geschlechtsnutzer und hatte seine Lebens- und Liebeserfahrung; sie war unerfahrener und suchte Erfahrung. Er hielt sie aus und kontrollierte ihre Lebensführung; sie wohnte bei ihm und wurde ihm untergetan. Er wollte unterwürfige Liebe und Treue; sie trachtete, sich aus Untertänigkeit zu befreien. Er zog Frauen in seinen Bann und knüpfte, unter anderen, das Band zu Eva Braun-, sie sollte in seinem Bann bleiben. Er verbarg das Verhältnis seiner Karriere willen dem breiten Publikum und lebte es ihm weder vor noch ihr und sich aus; sie konnte das Verhältnis ohne sein Mittun weder in gelingenden Alltag einfügen noch beenden. Er stritt und fuhr fort; sie
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blieb zurück und tötete sich. Indessen, ob er ihr mehr als Suizidalität antat und ob er wegen seiner Obmacht über ihre Tötungschancen und Lebensführung auch Herrschaft über ihre Selbsttötung so ausübte, dass er ihr diese antat und sie mittels ihres Tuns tötete, ist ungewiss. Erst recht ist offen, ob er wegen seiner Tatanteile Straftäter ihrer Tötung ist. II. Adolf Hitler hatte schon vor seiner Selbsttötung in der Reichskanzlei mehrfach suizidale Neigungen gezeigt. Er zeigte sie etwa, als sein Putschversuch 1923 scheiterte. Er zeigte sie auch nach dem Suizid seiner Nichte. Er wurde durch beide Vorkommnisse in seinem Narzissmus gekränkt. Enttäuschung mag in beiden Fällen seine Aggressivität in Autoaggression umgekehrt haben. Möglicherweise zeigte Adolf Hitler nach dem Suizid seiner Nichte Suizidalität, um ihr und sich seine Liebe zu bestätigen, um sich von akzeptiertem Schuldvorwurf zu entlasten und/oder um in Gestalt suizidpräventiven Tuns anderer die Beglaubigung für den Ernst seiner Gefühle zu erlangen. Indem Adolf Hitler des öfteren eigene Suizidalität demonstrierte, festigte er sein Vermögen, aus Krisen und vor Verantwortung in den Tod zu fliehen. Er lernte, seinen Suizid als Mittel der Flucht zu wollen. Er erschoss oder vergiftete sich. Auch der vollendete Suizid Adolf Hitlers in der Reichskanzlei kann durch gekränkten Narzissmus und/oder Aggressionsumkehr gefördert gewesen sein. Er war re vera durch die drohende Gefangennahme bedingt. Diese war Adolf Hitler unerträglich. Er zog, wie ein Bankrotteur, die Konsequenz. Er zog sie mit gewisslich sicheren Tötungsmitteln und stellte so seinen Tötungswillen unter Beweis. Er entkam den Kosten, die er im Falle seiner Festnahme für seine Übeltaten hätte zahlen müssen. Sein Suizid ähnelt einem Bilanzselbstmord. Er wollte nicht selber gegen den Feind vor, während und etwaig nach einer Gefangennahme streiten; holte ihn sein Kampfwort ein, „wer nicht streiten will [...], verdient das Leben nicht"? Wie auch immer, Adolf Hitler wollte seinen Tod und diesen Tod. Er wollte ihn nicht frei von Not. Denn Adolf Hitlers Vermögen, sein Wollen zu wollen und sich so oder so zu entscheiden, war gemindert. Er sah sich in einer Zwangslage und zu seinem Suizid gezwungen. Sein Suizid war kein von allen Freiheitsmängeln freier Tod. Er war es so wenig, wie es die Suizide waren, die sich die Opfer seines Wahns antaten, um ihre Not zu enden. Er war, obschon nicht freier Herr seines Wollens, so doch Herr seines Tuns und seiner Tötung. Er tötete sich selbst. Kein anderer tötete ihn, mögen ihm auch andere die Tötungsmittel verschafft, ihn in seiner Suizidalität bestärkt und nicht von seinem Suizid abgehalten haben. III. Als Eva Braun Adolf Hitler erstmals 1929 begegnete, war sie siebzehn Jahre alt. Seit 1930 sahen sie sich öfters; solange Geli Raubai lebte, nur tagsüber. Vier Monate nach dem Tod von Geli Raubai, Anfang 1932, machte Adolf Hitler Eva Braun zu seiner Geliebten. Er führte das Verhältnis nicht
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ohne Lug und Trug. Er führte es suizidiv: Er hielt sie nicht nur aus. Er demütigte sie. Wiederholt schob er ihr vor Gästen am Tisch am Ende eines Mahls wie einer Mätresse ein Kuvert mit Geld zu. Dass sie ihn lieb gewonnen und sich auch ohne Ehestatus an ihn gebunden hatte, wurde seinetwegen nicht publik; sie lebte im Verschwiegensein. Er tat ihr nicht gut; es tat ihr weh, wenn sie seine Untreue besorgen musste, er fern war, er ihr nicht das erhoffte gute Wort gönnte oder Versprechen der Nähe brach. Sie fühlte sich allein und alleingelassen in ihrer Not. Er war ihre „große Liebe" und, wie auch sie ihn hieß, ihr „Führer". Er brachte ihr Kummer; sie wurde suizidal.14 1. Eva Braun hatte sich geschworen, ihrem Führer Adolf Hitler „überall hin zu folgen, auch in den Tod". Sie sagte und schrieb es ihm. Sie hielt ihm ihren Schwur. Sie war, wenn nicht aus vollkommen freiem Willen, so doch nicht auf seinen Befehl zu ihm in das belagerte Berlin gekommen. Sie ließ sich, in Berlin angekommen, von Hitler nicht wegschicken. Als sie, am 22. April 1945, das Angebot Hitlers erhielt oder von ihm aufgefordert wurde, Berlin mit dem Flugzeug zu verlassen, antwortete sie ihm angeblich: „Ich will nicht! Dein Schicksal ist auch mein Schicksal". Sie blieb an seiner Seite. Ließ er sich dazu herab, ihr ihre Nibelungentreue zu lohnen, als er sich ihr am 29. April 1945, 0.35 Uhr im von Volltreffern erschütterten Bunker urkundlich antraute? Sie sah durch den Eheschluss ihr Liebesverhältnis als besiegelt und vervollständigt an. Ihr wurde das ehebürgerliche Versprechen, miteinander zu leben, bis dass der Tod die Ehegatten scheide, ihr Versprechen, mit Adolf Hitler zu sterben; war ihrem suizidalen Sentiment das gemeinsame Sterben gar ein zweisamer Liebestod, der ihre Einsamkeit endete?
14 Den ersten, appellativen, Suizidversuch unternahm sie - nur 15 Monate nach dem Suizid von Geli Raubai - am 2. November 1932. Sie schoss sich mit der Pistole ihres Vaters an. Sie rief so um Hilfe. Gerettet, konnte sie sich nicht selbst aus der Liebe helfen, in der sie ihm gefangen war. Sie endete ihre Liebe und das suizidive Leben mit ihm nicht für ein gelingendes Weiterleben. Sie blieb, ihrem Selbstzeugnis in ihrem Tagebuch nach, „totunglücklich": „Warum", so frug sie sich am 11. März 1935, „holt mich der Teufel nicht. Bei ihm ist es bestimmt schöner als hier"; und wenig später, Adolf Hitler meinend, „Warum quält er mich so und macht nicht gleich ein Ende?". Sie war sich klar darüber, es gehe ihr „mies. Sehr sogar". „Was aus mir wird, kann ihm ja gleich sein". „Daß er so wenig Einsicht hat und mich immer noch vor Fremden katzbuckeln läßt". „Ist das seine wahnsinnige Liebe, die er mir schon so oft versichert hat, wenn er mir 3 Monate kein gutes Wort gibt". Sie wollte sich erneut töten: „Ich habe mich für 35 Stück entschlossenf;] es soll diesmal wirklich eine ,totsichere' Angelegenheit werden". Sie wurde, bewusstlos, am Abend des 28. Mai 1935 von ihrer Schwester entdeckt und gerettet. Sie blieb auf ihren „Führer" fixiert. Zwar gelang es ihr, wenn er nicht dabei war, ihrem Leben den Trost der Freuden des Alltags zu geben. Emotional blieb sie an ihrer Liebe zu ihm geklammert. War sie in ihrem Sehnen nach seiner Liebe auch süchtig nach ihrem Liebesleid und liebestodsehnsüchtig geworden?
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Wenn Eva Braun sich selbst tötete (etwa mit ihrem Wissen und Wollen der Folgen ihres Handelns sich erschoss und/oder die Zyanampulle in den Mund nahm und zerdrückte), beherrschte sie den unmittelbaren Tötungsakt. Sie war insoweit Herrin ihres Tuns und ihrer Tötung. Sie war es auch dann, wenn Hitler oder ein von ihm Befohlener ihr das Tötungsmittel reichte, das sie nahm und gebrauchte. Sie hatte über ihre Selbsttötung auch dann Handlungsherrschaft, wenn sie sich selbst seinetwegen tötete und sie nichts anderes wollen konnte, als sein Schicksal zu teilen. Auch eine Selbsttötung, die wegen eines anderen Suizidalen geschieht, der sich in gemeinsam vorbedachter Weise zeitgleich oder gering zeitversetzt am selben oder nahen Orte selbst tötet, bleibt trotz ihrer ,cosuizidalen' Eigenart eine Selbsttötung; erst dann, wenn Adolf Hitler oder ein Dritter Eva Braun, sei es auch mit ihrem Willen, durch Erschießen oder Einspritzen von Gift getötet hätte, wäre sie nicht Handlungsherrin ihres Suizides gewesen. 2. Man kann mit guten Gründen behaupten, dass Adolf Hitler seinen Anteil am cosuizidalen Wollen und Handeln im Führerbunker der Reichskanzlei hatte. Man mag diesen Anteil mit Herrschaft übersetzen und Adolf Hitler Mit- oder Uberherr der Selbsttötungen nennen. Denn: Adolf Hitler hatte sich Eva Braun Untertan gemacht. Sie war ihm gehorsam geworden. Hitlerund nicht sie - hatte nunmehr gleichsam öffentlichen Grund zum Suizid. Hitler - und nicht sie - hatte persönliche Schuld für Angriffskrieg und Verbrechen gegen die Menschheit auf sich geladen. Adolf Hitler - und nicht sie hatte Entgeltung dieser Schuld zu erwarten. Er wollte sich zweifelsfrei selbst töten; sie gesellte sich seinem Willen bei und unter. Er ließ ihr cosuizidales Wollen zu. Er unterließ es, ihr Kommen nach Berlin zu verhindern oder sie, solange ihm dies als Hitler noch möglich war, gegen ihren Willen fortzuschaffen. Stattdessen verschaffte er ihr das Tötungsmittel, ließ es ihr von Dritten verschaffen oder ließ es zu, dass Dritte es ihr verschafften; dass ihr Suizid ohne solches Tun geschah, ist nicht anzunehmen. Indessen, ob er ihr ihre Suizidalität und Selbstötung so antat, dass er Straftäter ihrer Tötung ist, ist offen.
D. Alltagssprachliche Rede von Tat und Täter Taugt das, was Adolf Hitler an Suizidermöglichendem und Suizidivem tat, dazu, Adolf Hitler Täter der Tötungen von Geli Raubai und Eva Braun zu nennen? I. Tat ist Getanes und das noch in dessen Verwalthorizont identitätswahrend Tubare. Suizide sind Taten. Taten, auch Suizide, können unrecht oder recht getan sein. Unrechte Taten sind Taten, die nicht getan werden dürfen
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oder durften; sie sind misslich, weil Norm und Normtreue sie missen möchten, und heißen Missetaten. Missetaten, die Gütern Übles antun oder antaten, sind Übeltaten. Missetaten, die mit Gütern in normativ unerträglicher Weise verfahren, sind Untaten. Rechtswidrige Taten sind Missetaten, die rechtsnormwidrig sind. II. Täter kann, noch im Einklang mit der Alltagssprache, jeder Mensch heißen, der eine besondere, allermeist Unrechte, Tat tut, weil er sie mit seinem positiven oder negativen Tun erwirkt, befördert oder gegen Erwartung der Verhütung zulässt. Solches Verständnis begreift Täter extensiv. Mit Fleiß oder mit besonderer Macht getan muss eine (unrechte) Tat nach der Alltagssprache nicht sein, um ihren Tuer (Erwirker, Beförderer oder Zulasser) ,Täter' nennen zu können. Man nennt alltagssprachlich (also vortäterstrafbegründungsrechtlich) z.B. auch fahrlässig handelnde Tatverursacher, Tatteilnehmer oder Tatzulassende ,Täter'. Rede davon, ,Täter' sei nur der, der die Tat mit seinem Tun zu seinem Werk mache (weil er Meister der Tatproduktion sei, indem er Macht über die Tatproduktion habe oder erlange und, sei es auch mit anderen oder unter Zuhilfenahme anderer, die Tatproduktion gestalte, verdichtend gesagt: ,Tatherr' sei), verengt den Täterbegriff auf den alltagssprachlichen Kernsinn von ,Täter'. Solch restriktive Definition ist möglich. Sie ist aber weder stets veranlasst noch in spezifischem (etwa täterstrafbegründungsrechtlichem) Kontext notwendig hinreichend. III. Adolf Hitlers Tun machte Geli Raubai und Eva Braun suizidal. Er hatte ferner Macht über den Suizidort, die Verschaffung des Suizidmittels und/oder das Suizidmittel. Er hatte Herrschaftsmöglichkeit. Er hätte gegen suizidierendes Tun von Geli Raubai seine Pistole sichern und Eva Braun vor ihrer Selbsttötung in der Reichskanzlei bewahren können. Er tat beides nicht. Man kann zumindest moralisch dafür halten, er wäre als ,Obmächtiger' zur Suizidmittelhütung und Suizidverhütung verpflichtet gewesen. Er könnte - auf die Gefahr hin, die alltagssprachliche Sinnweite von ,Täter' allzu sehr auszunützen, - Täter der mit seinem Tun erwirkten Suizidalität und mittelbarer Täter der Suizide von Geli Raubai und Eva Braun genannt werden, auch wenn oder soweit er deren Suizide - anders als seine staatsorganisierten Schandtaten - weder vorbedachte noch mit Fleiß erwirkte noch als Herr eines organisierten Machtapparates mit seinem solche Herrschaft gebrauchenden Tun durch andere tun ließ.
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E. Strafbegründungsrechtliche Rede von Straftaten und Tätern als Straftäter Straftaten können nur rechtswidrige Taten sein. Sie sind kraft Strafbegründungsrecht strafbare Missetaten. ,Täter einer Straftat' kann in einem vortäterstrafrechtlichen Sinne jeder Tuer einer Straftat heißen, also auch jemand, der für seine Straftat erwirkendes, beförderndes oder zulassendes Tun de lege lata weder als Täter mit Täterstrafe noch mit irgendeiner Strafe haftet; wer mit seinem Tun an einer Straftat teilhat, ohne für sein Tun mit Täterstrafe oder Teilnehmerstrafe zu haften, ist - strafrechtsreferentiell gesprochen - nur Quasi-Täter oder Quasi-Teilnehmer. Haften Tuer einer Straftat als Täter mit Täterstrafe für ihre Straftat, sind sie Straftäter (Täter im strafbegründungsrechtlichen Sinne). Adolf Hitler ist nicht schon deshalb Straftäter der Tötungen von Geli Raubai und Eva Braun, weil er vorstrafrechtlich mittelbarer Täter der Suizide genannt werden könnte. Sein Tun muss mit dem Leben von Geli Raubai und Eva Braun straftatlich und straftäterlich verfahren haben. Er muss das, was er Geli Raubai und Eva Braun antat, als Straftat gegen das Leben angetan und als Straftäter einer Fremdtötung getan haben. Er muss deren Suizidtaten als Straftaten der Tötung eines anderen Menschen in mittelbarer Straftäterschaft getan haben. War oder wäre Adolf Hitler nach damals oder heute gültiger strafrechtlicher "Wertung mittelbarer Straftäter straftatlicher Tötungen von Geli Raubai und Eva Braun? /. War und ist eine Selbsttötung nach deutschem Recht gegen den, der es mit seinem Tun unternimmt, sich selbst zu töten, eine Straftat? 1. Ob Straftaten nur gesetzlich mit Strafe bedrohte Missetaten sein dürfen, ist Sache kriminalverfassungsrechtlichen Entscheides. Ebenso ist es Sache solchen Entscheides, ob gesetzlich als Straftaten beschreibbare Taten nur Misse- oder gar nur Untaten sein dürfen, die mit fremden Rechtsgütern oder gar Verfassungsgütern15 verfahren (,sozial unerträgliche, strafandrohungsbedürftige Verletzungen fremder Rechtsgüter oder Verfassungsgüter sind'). Ob nationales Strafgesetz strafgesetzliche Straftatbeschreibung fordert und nur Tun unter Strafandrohung stellt, das fremde Rechtsgüter verletzt, ist Entscheid nationalen Strafgesetzgebers. Nach deutschem Strafgesetzbuch war und ist für eine Straftat eine Straftatbeschreibung und Strafandrohung durch Gesetz erforderlich;16 deutsches Kriminalverfassungsrecht kannte17 « Vgl o. Fn 10. 16 Vgl § 1 Strafgesetzbuch (Neufasssung des StGB vom 10. 3.1987, BGBl. IS. 945). Bereits das StGB 1871 sah in § 2 I vor „Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde". 17 Art. 116 WRV war dem Wortlaut nach nahezu identisch mit § 2 I StGB 1871, vgl LKGribbohm (11. Aufl), § 1 Entstehungsgeschichte.
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und kennt18 den Grundsatz ,nullum crimen, nulla poena sine lege' als Prinzip gesetzlicher Bestimmtheit der Voraussetzungen von Straftat und Strafe. Es ist Errungenschaft kontinentaleuropäischen, aufklärerischen Rechtsdenkens. Darüber hinaus stellte und stellt das Strafgesetzbuch grundsätzlich nur Tun unter Strafe, das mit fremden Rechtsgütern verfährt. Grundsätzlich verlangte Verfahrensqualität des Tuns erklärt sich aus der Überlegung, dass Tun, das Güter nur objeciert, deutet oder repräsentiert, sie nicht missbrauchen oder affizieren (abstrakt gefährden oder gar beschädigen) kann. Grundsätzlich verlangte Rechtsqualität des Gutes, mit dem Tun verfährt, erklärt sich schon aus dem Fakt, dass nur Gut, dessen Verwaltung von Rechtsregeln reguliert wird, rechtswidrig verwaltet werden kann.19 Grundsätzlich verlangte Fremdqualität des Rechtsgutes erklärt sich aus dem (verfassungsrechtlichen) Prinzip eines bürgerlichen Rechtsstaates, weder in die Interna eines Bürgers hinzuregieren noch ihm vorzuschreiben, wie Güter, an denen er Eignerrecht hat oder auf die er ein von anderen zu respektierendes Recht hat, zu verwalten und mit ihnen zu verfahren habe. 20 2. Leben sind die leibhaftigen biologischen Prozesse in einem leiblichen Wesen, die es integrieren. Eigenes Leben ist das Leben des leiblichen Wesens, das lebt und deshalb Lebewesen heißt. Ein lebender Mensch ist Lebewesen. Er hat sein Leben selbst. Es ist sein ,Selbstgut', auch wenn es ihm nicht gehört (es nicht das seinige ist, weil er kein Eignerrecht ,an' ihm hat). Das Leben jedes Menschen ist Rechtsgut schon dann, wenn und weil Tun, das mit ihm verfährt (es gefährdet oder vernichtet) verboten ist. Menschen haben, entwickeltem Menschenrechtsverständnis nach, ein Recht ,auf' Leben. 21 Wer sich tötet, entleibt sich; er distanziert sich von dem, was an Leibhaftigem mit ihm ist. Selbsttötungen enden eigenes, Fremdtötungen enden fremdes Leben; jedenfalls Tötung eines anderen Menschen ist grundsätzlich rechtswidrig. Anders als eine staatsorganisierte oder nicht staatsorganisierte Fremdtötung, war und ist keine Selbsttötung nach deutschem Recht dem Art. 103 II GG. Vgl o. Fn 10. 20 Insonderheit zu Gütern, die ein Mensch selbst hat (etwa: Leib, Leben, Humangenom, Geschlechtlichkeit, Agiervermögen) und die daher seine ,Selbstgüter' sind, kann es Rechte auf sie oder an ihnen als Menschenrechte, als Rechte der (z.B. sexuellen) Selbstbestimmung und, solche Rechte überwölbend, ein ,Recht der Selbstbestimmung' geben. Sie legen nahe, dass Tun eines Menschen, das nur mit eigenen Selbstgütern verfährt, kaum je in einer Missetat, geschweige denn: in einer strafwürdigen Missetat, resultieren kann. 21 Art. 2 II GG garantiert jedem Menschen nur das Menschenrecht auf Leben. Ob es einem Recht am eigenen Leben gleichkommt (und etwaig ein Recht darauf begründet, mit dem eigenen Leben nach Belieben ohne Missbrauch oder Affektion fremder Güter zu verfahren, so z.B. Fink Selbstbestimmung und Selbsttötung. Verfassungsrechtliche Fragestellungen im Zusammenhang mit Selbsttötungen, 1992; krit. dazu Rezension von Bottke JR 1994, S. 42f) ist hier nicht zu erörtern. 18
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Suizidenten eine Straftat. D e n n das Strafgesetzbuch setzte und setzt für eine Straftat gegen das R e c h t s g u t , L e b e n ' 2 2 die T ö t u n g eines anderen Menschen v o r a u s ; nur jede F r e m d t ö t u n g , auch die T ö t u n g eines anderen Menschen auf dessen Verlangen hin, ist Straftat. 2 3 D e r deutsche Gesetzgeber beschrieb problembewusst nicht das U n t e r n e h m e n , sich zu töten, als Straftat. Mithin: Adolf
Hitler,
Geli Raubai
und Eva Braun
töteten sich selbst straftatlos,
gleichviel, ob sie ein Recht darauf hatten, sich zu töten oder nicht. a) Was ist die Konsequenz und Teilnehmende?
der Straftatlosigkeit
eines Suizides für
Mittuende
Sie ist deren Straflosigkeit als Quasi-Mittäter und Q u a -
si-Teilnehmer. E i n g e r ä u m t : Ein Suizid ist Tat. E s gibt gleichzeitig a m gleichen O r t gemeinsam vollzogene Selbsttötungen. E s gibt T u n anderer M e n schen als des Suizidenten, das ihn dazu bestimmt, sich z u m Suizid zu entschließen. E s gibt Mittun, das einem Suizidentschlossenen die Selbsttötung erleichtert, absichert o d e r ermöglicht. Suizidives, cosuizidierendes oder sonst suiziderwirkendes o d e r -zulassendes T u n hat seinen Wirkanteil a m Suizid. E s gibt, in Anlehnung an strafrechtliche Beteiligungsformen ausgedrückt, quasi mittäterschaftliches und teilnehmendes T u n eines o d e r 22 Leben sind die biologischen Prozesse, die ein leibliches Wesen integrieren. Lebende Leibwesen sind Lebewesen. Lebende Menschen sind Lebewesen. Das Leben von Menschen war zur Zeit Hitlers Rechtsgut. Es war und ist Schutzgut der §§ 211 ff StGB. Es ist, wenn jeder Mensch ein Recht an oder auf sein Leben hat, das der Verfassung angehört, auch Verfassungsgut. Das Grundgesetz verbürgt jedem Menschen ein Grundrecht auf sein Leben (Art. 2 II GG). 23 Es sei exkursorisch gefragt: Kann ein Sterbewilliger, der von einem anderen Menschen seine Tötung verlangt, der Beteiligung an einer straftatlichen Fremdtötung strafbar sein? Die Antwort lautet: Nein. Eingeräumt: Jede Tötung auf Verlangen, auch eine i.S.d. § 216 StGB, ist eine Straftat. Sie ist einerseits mittelbare Eigentötung, weil ein seine Tötung Verlangender sich antut, sich durch das Tun eines anderen töten zu lassen; sie ist andererseits Fremdtötung, weil ein Verlangensadressat verlangensmotiviert: mit seinem Tun (selbst, mit anderen oder durch andere) den Verlangenden tötet. Quasi-Beteiligung des Verlangenden ist gegeben. Jedoch: Keine Tötung auf Verlangen ist gegen den Verlangenden straftatlich kriminalisiert. Er kann sich an ihr nicht in strafbarer Weise beteiligen, weder als mittelbarer Täter (Beispiel: Der Herr eines organisierten Machtapparates befiehlt von einem seiner Befehlsgewalt Unterworfenen, ihn zu töten. Der Befehl ist gegen Befehlsungehorsam abgesichert) noch als Mittäter, Anstifter oder Gehilfe. Ein Mensch, der von anderen Menschen seine Fremdtötung verlangt, verfährt hierdurch zwar mit seinem Leben; er mag mit dem ihn Tötenden handeln, hat diesen zu dessen Tun bestimmt und stellt zumindest das Tatobjekt. Sein Leben ist ihm aber, weil er es hat, weder sachstrukturell externes Gut noch, wenn und weil er ein Menschenrecht auf oder gar ein Eignerrecht an seinem Leben hatte oder Menschenrecht auf sein Leben hat, normativ fremdes Rechtsgut. Wenn und weil er allein ein Menschrecht auf sein Leben hat, verfährt er lebensreferentiell nicht mit fremdem Gut. Die Freiheit des Verlangensadressaten, nicht als etwaiger Täter einer Tötung auf Verlangen adressiert zu werden, sowie etwaig durch das Tötungsverlangen deoptimierte andere Güter des Verlangensadressaten oder Dritter sind zwar dem Verlangenden externe Güter und etwaig fremde Rechtsgüter. Sie sind aber nicht das Gut, das § 216 StGB vor Tötung schützt. Mithin: Adolf Hitler, Geli Raubai und Eva Braun wären nicht als Teilnehmer einer Tötung auf Verlangen strafbar gewesen, wenn sie ihre Tötung verlangt und überlebt hätten.
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mehrerer Menschen an der Tat fremder Selbsttötung. Wer sie mit seinem Tun miterwirkt oder gegen Erwartung der Suizidvermeidung zulässt, scheint ihr Mittäter oder Teilnehmer zu sein. Jedoch, strafbare Mittäterschaft und strafbare Teilnahme an einer Tat setzen den Straftatcharakter dieser Tat voraus. Der Suizid ist keine Straftat. Strafbare Mittäterschaft und strafbare Teilnahme sind an ihm nicht möglich. Dies war schon vor Inkrafttreten der §§ 25 II, 26, 27 StGB so. Dass strafbare Mittäterschaft und strafbare Teilnahme an einer Tat den Straftatcharakter der Tat fordern, ist jedenfalls nach §§ 25 II, 26, 27 StGB der Fall.24 b) Mithin: An den Suiziden Geli Raubais und Eva Brauns konnte Adolf Hitler, trotz seines suizidiven und, bei Eva Braun, etwaig cosuizierenden Tuns, weder als straft>arer Mittäter noch als strafbarer Teilnehmer mitwirken. Denn die Suizide Geli Raubais und Eva Brauns waren für diese keine Straftaten. II. Tun eines Menschen, das die Selbsttötung eines anderen Menschen produziert, kann als Tötung dieses anderen Menschen repräsentierbar sein. Tötung eines anderen Menschen ist Straftat. Vorsätzliches und fahrlässiges Tun, das das suizidierende Tun eines anderen Menschen erwirkt oder Suizidgefahr zulässt, kann Tun sein, das eine straftatliche Fremdtötung in mittelbarer Täterschaft und Straftäterschaft ist. Auch Adolf Hitlers Tun, das suizidalisierte, Suizidmittel nicht hütete und/oder Suizid nicht verhütete, kann solches Tun gewesen sein. Denn: Fremdtötung war und ist Straftat nach damals und heute in Deutschland gültigem Strafgesetz. Mittelbar täterliche Begehung eines Suizides kann Fremdtötung in mittelbarer Straftäterschaft sein. Angenommen, dass Adolf Hitler mit seinem positiven oder negativen Tun die Suizide von Geli Raubai und Eva Braun in Ausübung von Macht über Suizidgefahrsquellen (etwa das Suizidmittel) oder die Suizidierenden erwirkte oder zuließ: Tat Adolf Hitler die Selbsttötungen von Geli Raubai und/oder Eva Braun als mittelbarer Straftäter einer vorsätzlichen Fremdtötung? 1. Extensive Täterdeutung könnte mittelbar straftäterschaftliche Fremdtötung nach §§ 211, 212, 222 RStGB für möglich gehalten haben. Sie hätte hierfür gehabt das weitgehende Schweigen des Reichsstrafgesetzbuches zu den Voraussetzungen von Straftäterschaft. Dieses definierte wohl die straf2 4 § 2 5 II StGB fordert, dass mehrere Menschen die Tat mit ihrem T u n als „Straftat" gemeinschaftlich begehen. § 2 6 StGB verlangt, dass ein Mensch mit seinem vorsätzlichen T u n einen anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat bestimmt hat. Eine rechtswidrige Tat im Sinne des StGB ist gemäß § 111 N r 5 StGB nur eine solche, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht, also eine Straftat. § 27 StGB verlangt ebenfalls als Haupttat eine rechtswidrige Tat in diesem Sinne.
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tatlichen Voraussetzungen der Tötung eines (anderen) Menschen, aber nicht die Voraussetzungen unmittelbarer und mittelbarer Straftäterschaft sowie deren Abgrenzung von strafbarer Teilnahme. Strafbare Täterschaft und Teilnahme waren nicht begriffen. Ihre Definition war „das dunkelste und verworrenste Kapitel der deutschen Strafrechtswissenschaft". 25 O b es Täter hinter dem Täter gebe und wer mittelbarer Täter einer Straftat sei, war ungeklärt. Gleichermaßen war ungeklärt, ob und unter welchen Voraussetzungen es hinter Menschen, die in Kenntnis der Folgen ihres Tuns eine Straftat taten, Fahrlässigkeitsstraftäter gebe. Erst recht war ungeklärt, wer als vorsätzlicher oder fahrlässiger Erwirker oder Zulasser des an sich straftatlosen Suizides eines anderen Menschen mittelbarer Straftäter straftatlicher vorsätzlicher oder fahrlässiger Fremdtötung sei. Lastet auf jedem Menschen, der mit seinem Tun einen anderen Menschen suizidgeneigt macht, der Vorwurf, er beginne mit der Suizidalisierung täterlich zu töten? Taugt jeder, dessen Tun den Suizid eines anderen Menschen erwirkt oder zulässt, zum mittelbaren Tötungsstraftäter? Kann, um strafgesetzlich gewollte Straflosigkeit von Quasi-Mittätern und Quasi-Teilnehmern zu erhalten, nur mittelbarer Straftäter einer straftatlichen Fremdtötung sein, wer das suizidierende Tun eines anderen Menschen todbewirkend beherrsche, wessen suizidbewirkend gebrauchte Herrschaft nach strafbegründungsrechtlichen Kriterien der Macht des Suizidierenden, sich selbst zu töten oder nicht zu töten, überlegen sei, oder wer den Suizid eines nach strafbegründungsrechtlichen Kriterien Eigenverantwortungsunfähigen zum Suizid bringe? 2. Restriktive Täterdeutung konnte und kann Straftäterschaft so fassen, wie es der alltagssprachliche Kernsinn von Täter insinuiert. a) Kernsinntreue Straftäterdefinition verlangt, in wechselnder Paraphrasierung, für Straftäterschaft, dass ein Handelnder Herr der Tatproduktion ist, weil er Macht über diese hat und seine Macht mit seinem Tun straftaterwerkend gebraucht. Solches Verlangen weist auf ein Momentum hin, das - häufig, aber nicht stets 26 - auf Grund empirischer Sachverhaltsanalyse bejahoder verneinbar ist. Täter hinter Tätern sind möglich. Diese sind Tatmittler, jene sind mittelbare Täter. Mittelbare Täter sind Straftäter, wenn ihnen die Tat Straftat ist und sie für diese mit Täterstrafe haften; Tatmittler können, müssen aber nicht, selber Straftäter sein. b) So liegt es in Fällen mittelbarer Täterschaft bei Suiziden. Wer den Suizid eines anderen Menschen zur Zeit der Geltung des RStGB erwirkte oder 25 Vgl Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 7. Aufl, 2000, S. 1 mit Nachweis der bis zum Jahre 1955 dauernden Zitiergeschichte dieses Urteils von Kantorowicz aus dem Jahre 1910. 26 Strittig ist auch unter den Anhängern der Tatherrschaftslehre, ob das Momentum des Tatherrschaftsgebrauchs nur bei den sog. ,Herrschaftsdelikten' oder auch bei anderen Deliktsgruppen gilt.
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zuließ, konnte, schon dem alltagssprachlichen Kernsinne von Täter nach, .mittelbarer Täter' einer straftatlichen Fremdtötung sein, wenn er entweder Macht über den Suizidenten und dessen Tun hatte und seine Macht mit positivem Tun suizidproduktiv ausübte oder in besonderer Nähe zu Suizidgefahrsquellen oder dem Suizidenten war, die ihn nach normativer Wertung zur Gefahrfreiheit oder Suizidverhütung verpflichtete, ihm eine dem Können des Suizidierenden überlegene Macht über das suizidierende Tun vermittelte und als dessen Herrn erscheinen ließ. Kurz: Wer den Suizid eines anderen Menschen erwirkt oder zulässt, war bei,kernsinniger' Täterdefinition mittelbarer Täter, wenn er mit seinem Tun die - sit venia verbo - ,Suizidproduktion' beherrschte. Ein Hintermann, der die Vornahme der Selbsttötung eines anderen Menschen beherrschte, war mittelbarer Täter einer Fremdtötung nennbar, deren Tatmittler der Suizident war. Allerdings: Schlösse man die täterliche Verantwortlichkeit eines Hintermanns, dessen Tun suizidalisierte, der Suizidmitteleigner war und/oder Suizidmittelgebrauch hätte verhüten können, nur dann aus, wenn der Suizidale einen Freitod vornahm, der seinen Namen uneingeschränkt verdiente, würde die Annahme mittelbarer Täterschaft nahezu jedes Quasi-Mittäters oder Q u a si-Teilnehmers möglich. Denn es gibt kaum je Selbsttötungen, zu denen sich der Suizidierende in uneingeschränkter Herrschaft über sein Wollen (also ,willensfrei', d.h. frei von seine Willensfreiheit deoptimierenden Umständen) entschließt. Entsprechendes gälte, wenn man, analog § 216 (R)StGB, nur dann einen eigenverantwortlich vollzogenen Suizid annähme, wenn der Suizident seine Selbsttötung ernstlich (und etwaig gar das Tun von QuasiMittätern oder Quasi-Teilnehmern ausdrücklich und ernstlich) will; dies ist, wenn überhaupt je, so doch selten der Fall. 27
27 Recht betrachtet, ist kaum je ein Suizid als Freitod begreifbar. Denn ein Mensch, der nicht nur weiß und will, was er sich antut, sondern auch sein Wollen will und dessen Wollen frei von allen seine Freiheit deoptimierenden Umständen ist, wäre ein gottgleicher Gutsverwalter. Er beherrschte alle Umstände. Er waltete und schaltete nicht nur nach seinem Belieben, sondern auch sein Belieben. Die Figur eines Freitodfähigen, der all dies kann, ist ein Mythos. Sie ist es auch dann, wenn sie religiöse Projektion meidet und den gottgleichen Gutsverwalter als homo suicidalis oeconomicus reformuliert, der sein suizidales Wollen zweckrational verwaltet: Es gibt so gut wie nie einen .smarten' Suizidalen. Kein Suizidaler ist je ,cool, calm, composed und collected'. Kein Suizidaler verfährt mit sich, seinem Wollen und seinen Leben, wie ein ,big boss'. Nicht gesagt ist damit, dass es nach rechtlicher Wertung keine Suizide geben könne, die der Suizident eigenverantwortlich vollzieht: Realistisches Recht kann die Unwahrscheinlichkeit von Freitoden in Rechnung stellen. Es kann die Menschen so nehmen, wie sie sind. Es kann mit Schwäche kalkulieren, wenn es zum Verwalten eigenen Lebens auch Selbstbestimmung schützen will. Es kann wollen, dass auch die Schwachen zu ihren Rechten auf Würde, Freiheit, Selbstbestimmung und Leben kommen. Es kann einerseits dazu befugen, jeden Suizidversuch rechtlich angemessen zu verhüten oder zu unterbinden. Es kann andererseits ein eigenverantwortlich gestaltetes Suizidunternehmen schon dann annehmen, wenn die Freiheit des Suizidalen nicht so deoptimiert ist, dass er im Falle einer mit dem suzidierenden Tun zugleich straftatlichen Gutsverwaltung ohne strafrechtliche
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c) Ob Adolf Hitler nicht nur Herr der Gestaltung der Lebensführungen, sondern auch der Tötungen von Geli Raubai und Eva Braun war, weil er ihr suizidales Wollen und die Vornahme ihrer Suizide beherrschte, ist mangels forensisch erhärteter Feststellungen hierzu hic et nunc nicht zweifelsfrei entscheidbar. Sicher ist, dass neben seiner Freiheit auch die Freiheiten von Geli Raubai und Eva Braun (will sagen: ihr Können, sich für oder gegen ihr Suizidieren zu entscheiden und Herrinnen ihres Wollens zu sein) deoptimiert waren. ,Kühlen Kopfes' waren sie bei ihrem Tun kaum. 3. Strafrechtsdogmatische Straftäterdefinition hat heute das geltende StGB anzuwenden. Nach heute geltendem Strafgesetzbuch ist, Bestimmtheit der Voraussetzungen einer Strafart und der verhängbaren Strafe steigernd, mit Täterstrafe belegbarer Täter, also Straftäter, nur, wer eine Straftat selbst, durch einen anderen oder mit mehreren gemeinschaftlich begeht (§ 25 StGB). Damit ist, im Verein mit den Regelungen strafbarer Teilnahme (§§ 26, 27 StGB), der gesetzesgebundenen Dogmatik ein restriktiver Täterbegriff vorgegeben, dessen Definition am alltagssprachlichen Kernsinn von Täter ansetzt.28 a) Denn die in § 25 StGB gebrauchten Wörter sind der Alltagssprache entlehnt. Sie legen für täterschaftliches Tun einer Straftat das Bemerken der Straftat im Gebrauch von Herrschaft über die Straftatproduktion als gemeinsame Voraussetzung nahe. Begehen ist Erwirken 29 und, Vorstellung des Wirkens (Kenntnis vom Tun und von der Tatfolge des Tuns) insinuierend,30 insonderheit Bewirken einer Straftat durch positives Tun; auch Unterlassen einer Tatverhütung kann nach § 13 StGB, wenn garantenpflichtwidrig, das Begehen einer Straftat sein. Ein Mensch begeht eine Straftat selbst, wenn er und sein Tun Grund der Straftatproduktion sind, weil er die Straftat unter Einsatz seines Leibes oder eines seiner Leibteile, auch unter Zuhilfenahme eines nicht selber handelnden Werkzeuges, ohne dazwischen tretende Vermittlung des Tuns anderer Menschen positiv tut oder weil sein (etwaig anzeigepflichtig infektiöser) Leib Grund eines straftatrelevanten Risikos ist,
Schuld wäre. O b deutsches Recht einen eigenverantwortlichen Suizid so definierte und definiert, war und ist strittig. Vgl dazu Bottke Suizid und Strafrecht, 1982, S. 32 ff; ders. Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, 1992, S. 45f, 74ff, 91 ff, 146ff; ders. Strafrechtliche Probleme am Lebensbeginn und am Lebensende. Bestimmungsrecht versus Lebenserhaltung?, in: Rechtsstaat in der Bewährung, Bd. 30, 1995, S. 35ff, 124ff jeweils m w N zum Streitstand. 28 Vgl dazu i.e. Bottke Täterschaft und Gestaltungsherrschaft, 1992. Kritisch Lesch Täterschaft und Gestaltungsherrschaft - Überlegungen zu der gleichnamigen Monographie von Wilfried Bottke - , in: GA 1994, S. 112ff mit Replik von Bottke Die Struktur der Täterschaft bei Begehung und Unterlassung, in: Bausteine des europäischen Strafrechts, Coimb r i Symposium für Claus Roxin, S. 235ff, Fn 3. 29 Auch fahrlässiges Erwirken, vgl § 16 I 2 StGB. 30 Vgl dazu Bottke Mittäterschaft bei gemeinsam fahrlässiger oder leichtfertiger Erfolgserwirkung, in: GA 2001, S. 463ff.
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das er gegen Realisierung zu hüten unterlässt. Wer so eine Straftat tut, hat und gebraucht ,eigenkörperliche Gestaltungsherrschalt'. Er produziert die Tat als Straftat mit seinem Tun unmittelbar. Er macht sich bei Kenntnis der straftatlichen Folgen seines Tuns zum Macher der Straftat. Er bewerkt sie als unmittelbarer Täter. Er ist strafbegründungsrechtlich mit Täterstrafe für seinen Leib und sein unmittelbar leibliches Tun der Straftat zuständig. Er wird nach § 25 I 1. Alt. StGB als Täter bestraft. Er ist unmittelbarer Straftäter. Mehrere Menschen begehen eine Straftat gemeinschaftlich, wenn und weil sie und ihr gemeinsames Tun einander konsensuell gleichgeordnete Gründe der Straftatproduktion sind. Dies ist der Fall, wenn sie einander .abgestimmt gleichgeordnete Gestaltungsherrschaft' zuschreiben und ihre Herrschaftsanteile an der Produktion der Tat als Straftat arbeitsteilig konsensgemäß (kurz: straftatbewerkend) gebrauchen. Sie sind für ihren Konsensanteil, ihren Herrschaftsanteil und dessen arbeitsteilig straftatbewerkenden Gebrauch zuständig. Sie sind nicht nur Mittuer. Sie sind als Mitbewerker der Straftat deren Mit-Macher. Sie heißen Mittäter. Sie werden nach § 25 II StGB als Mittäter bestraft; sie sind Mitstraftäter. Ein Mensch begeht eine Straftat durch einen anderen, wenn er über diesen und dessen Tun eine Macht hat, die dem Können des unmittelbaren Tattuers relevant überlegen ist, und er seine relevant überlegene Gestaltungsherrschaft, die Produktion der Tat als Straftat steuernd (kurz: straftatbewerkend) gebraucht. Er produziert die Tat als Straftat mittelbar, in Instrumentierung des Tuns des unmittelbaren Tattuers als Tatmittler; er ist mittelbarer Täter und wird nach § 25 I 2. Alt. StGB als Täter bestraft; er ist mittelbarer Straftäter. b) Wann straftatproduktiv gebrauchte Gestaltungsherrschaft relevant überlegen ist, ist ohne Wertung nicht entscheidbar. Bereits alltagssprachliche Rede von ,Tätern' wertet; auch neuwortliche Rede von einem ,tatbewerkenden' Gebrauch überlegener Herrschaft wertet. Kriminalverfassungsrechtlich unterliegt die Begründung jeder Täterstrafe, auch die Täterstrafe eines mittelbaren Tattuers, dem Prinzip der gesetzlichen Bestimmtheit von Strafvoraussetzungen. Das Prinzip strafgesetzlicher Bestimmtheit der Strafvoraussetzungen ist als Optimierungsgebot verstehbar. Dogmatik kann und darf Bestimmtheit prinzipkonform auch bei ihrer Deutung des § 25 I 2. Alt. StGB und der Formulierung von Relevanzkriterien optimieren. Wer nur nach überlegenem Herrschaftsgebrauch sucht und jeden solche Herrschaft Habenden und straftatproduktiv Gebrauchenden als mittelbaren Täter bestraft, selektiert insofern nicht. Er schichtet nicht täterstrafkonstitutive Gebräuche überlegener Herrschaft (etwa von Mehrwissen oder Uberordnungen) von nicht täterstrafkonstitutiven ab. Seine Definition von mittelbarer Straftäterschaft siedelt zwar im allgemeinen Wortsinn von „durch einen anderen". Er rekurriert aber nicht auf strafbegründungsrechtliche Kriterien, die täterstrafkonstitutive Gebräuche überlegener Herrschaft von nicht täter-
Adolf Hitler u n d die T ö t u n g von Eva Braun u n d Geli Raubai
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strafkonstitutiven in einer Weise scheiden ließen, die die Vorhersehbarkeit einer Bestrafung als mittelbarer Täter optimierte. Bestimmtheit der Voraussetzungen von Täterstrafe wird in Fällen mittelbarer Straftaterwirkung prinzipkonform optimiert, wenn nur ein Gebrauch überlegener Herrschaft die Bestrafung als mittelbarer Täter der Straftat nach sich zieht, der ein Gebrauch einer Macht ist, die nach strafbegründungsrechtlichen Kriterien der Herrschaft des Tatmittlers über sein Tun relevant überlegen ist. Dies ist allgemein (jenseits etwaiger Sonderregelungen) dann der Fall, wenn die Verantwortlichkeit des Tatmittlers für sein Tun strafbegründungsbedeutsam gemindert ist; solche Minderungen sehen etwa vor die §§ 16,17 S. 1,19, 20, 35 StGB, 3 JGG. Solche Definition erlaubt z.B., nicht jedwede tatbewirkende Instrumentierung einer Freiheitsdeoptimierung des Tatmittlers (etwa dessen Irrtum, Not, soziale Unterlegenheit oder hierarchische Unterordnung 31 ) als mittelbar straftäterschaftliches Tun anzusehen. 32 Sie ist analog auf Fälle übertragbar, in denen das Tun des Tatmittlers nicht gegen diesen straftatlich ist, wohl aber das Tun des mittelbar Handelnden ein Tun ist, dessen Resultat gegen diesen als Straftat zu werten ist. c) So liegt es in Fällen einer
Suizidbeteiligung.
aa) U m die eigene Meinung zu formulieren: Wer einen anderen Menschen, dessen Eigenverantwortlichkeit bei hypothetisch strafbarer Selbsttötung strafbegründungsrelevant gemindert oder ausgeschlossen wäre, zu dessen suizidierendem Tun veranlasst oder das suizidierende Tun eines solchen Menschen garantenpflichtwidrig zulässt, tut dem Suizidierenden dessen Suzid an. Er tötet ihn durch ihn. Er tut den Suizid im Gebrauch strafbegründungsrelevant überlegener Gestaltungsherrschaft als straftatliche Fremdtötung durch den Suizidierenden in mittelbarer Täterschaft. Er wird als Täter bestraft. Er ist mittelbarer Straftäter. Handelt er vorsätzlich, kommen Strafbarkeiten nach den §§ 25 I 2. Alt., 211 ff StGB in Betracht; handelt er fahrlässig, ist Strafbarkeit nach § 222 StGB möglich. bb) Die Gegenansicht, wonach in analoger Anwendung von § 216 StGB jeder nicht ernstliche Suizidwunsch an der Annahme eines Freitodes und eines eigenverantwortlich vollzogenen Suizides hindere, ist zwar herrschende Lehre geworden. Sie hat gute Gründe für sich. Sie hat z.B. für sich, dass so
31 Vgl zu der Begründung mittelbarer Straftäterschaft in einer kritischen Fallgruppe Bottke Straftäterschaftliche Beteiligung Übergeordneter an von Untergeordneten begangenen Straftaten im Rahmen organisierter Kriminalität, in: Festschrift für Karl Heinz Gössel, erscheint 2002. 32 Dies geschieht kriminalpolitisch mit Fug und Recht. Es fügt sich in Wertungen einer freien Gesellschaft ein, deren Rechtsordnung den Einzelnen schon vor der Rechtschreibreform groß schrieb. Es sei konzediert, dass die Judikatur und herrschende Lehre bei einer wortsinnkonformen Deutung von „durch einen anderen" stehen bleibt.
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weitgehender Strafrechtsschutz gegen suizidproduktives Tun von Beteiligten erreichbar ist. Aber, es gibt auch Gegengründe. 33 Erstens: § 216 StGB ist ein Strafgesetz, das nur den Täterstrafrahmen für bestimmte vorsätzliche Fremdtötungen senkt und nur bestimmte Fremdtötungen auf Verlangen täterstrafprivilegiert; Tötungen auf Verlangen, die nicht ausdrücklich und ernstlich vorgenommen werden, sind weiterhin nach §§ 211, 212 StGB strafbar. Zweitens: § 216 StGB regelt nicht die Formen strafbarer Täterschaft einer Tötung auf Verlangen; er setzt sie voraus, ohne § 25 StGB und das für mittelbare Straftäterschaft Erforderliche zu modifizieren. Drittens: Soweit Suizide unternommen werden, die der Suizident überlebt und die mit fremden Rechtsgütern straftatlich verfahren, gibt § 216 StGB für die Bestimmung mittelbarer Straftäterschaft eines Suizidbeteiligten nichts her. Bleibt es insoweit bei den allgemeinen Erfordernissen mittelbarer Täterschaft, liefe die ,Ernstlichkeitslösung' auf die Bejahung mittelbarer Straftäterschaft eines Suizidbeteiligten wegen einer mittelbar begangenen Fremdtötung und die Verneinung mittelbarer Straftäterschaft wegen mittelbar begangener Drittdelikte hinaus. Viertens: Eine Tötung auf Verlangen ist zwar insofern mittelbare Eigentötung, als der Verlangende seine Tötung mittels des Tuns eines anderen zu erreichen sucht und eventuell erreicht. Dass aber, wie von den Verfechtern der ,Ernstlichkeitslösung' behauptet wird, die Hemmungsgründe gegen Tun, das eigenes Leben selbst oder mittels des Tuns anderer zu enden sucht, regelmäßig geringer wären als die gegen Tun, das fremdes Leben zu enden sucht, ist weder seinswissenschaftlich bestätigt noch hat die entsprechende Behauptung einen normativen Wert, der ihr strafbegründungsrechtliche Relevanz für die Bestimmung mittelbarer Straftäterschaft bei Suizidbeteiligungen vermittelte. Fünftens: Die Ernstlichkeitslösung ist suizidprophylaktisch kontraproduktiv. Sie lässt Menschen, die mit einem präsuizidal oder suizidal Gestimmten privat oder professionell zu tun haben, besorgen, ob und wann sie auch gegen den Wunsch des Suizidgefährdeten repressive Maßnahmen ergreifen müssen, um Strafrisiko auszuschließen. Dies demotiviert zum Leisten von Lebenshilfe für Suizidale durch Mittragen und Mitertragen der Suizidalität eines anderen Menschen, die ihm repressionsfrei zum Weiterleben verhilft.34 d) Dass die Eigenverantwortlichkeit Gell Raubais und Eva Brauns strafbegründungsrelevant ausgeschlossen oder gemindert war, ist wohl zu verneinen. GeliRaubais Wille, sich zu töten, mag, gemessen an § 216 StGB, unernstlich gewesen sein. Er war nach dem, was gewusst wird, nicht durch Umstände i.S.d. §§ 16, 17 S. 1, 19, 20, 35 StGB, 3 JGG analog mitbedingt.
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Vgl die Nachweise o. Fn 27. Die Regeln der Landesgesetze im Umgang mit Suizidalen fordern daher - zu Recht für fremdbestimmte Therapie gegen Suizidgefahr mehr als ,Unernstlichkeit'. 34
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Mutatis mutandis gilt entsprechendes für den Suizidwillen Eva Braunst Die Rede davon, dass Adolf Hitler H e r r ihres Lebens u n d Sterbens gewesen wäre, ,poetisiert': Sie verdichtet suizidives und obmächtiges T u n Adolf Hitlers in die Behauptung, er habe über das Leben u n d Sterben von Geli Raubai und Eva Braun Herrschaft gehabt u n d todbringend ausgeübt. So zu reden, ist vorstrafbegründungsrechtlich möglich. Es vermittelt gar Wahrheit. Es reicht strafbegründungsrechtlich f ü r Täterstrafe nicht hin. Moralisch sind Adolf Hitler die Selbsttötungen von Geli Raubai u n d Eva Braun zurechenbar. Strafrechtlich hätte ihm sein suizidives und obmächtiges T u n auch dann nicht zur Täterstrafe gereicht, w e n n er überlebt hätte.
35 Geli Raubai und Eva Braun waren zwar Opfer des Machtstrebens von Adolf Hitler. Sie waren zu Zeiten ihrer Suizide auch nach damaligem Recht nicht mehr, wie Maria Reiter bei ihrem Suizidversuch, minderjährig. Sie galten und gälten deutschem Strafrecht als Erwachsene, auch wenn und soweit sie ihr suizidives Verhältnis mit Adolf Hitler minderjährig eingegangen waren und/oder nie ihm entwuchsen. Erwachsene hatten und haben grundsätzlich für das einzustehen, was sie tun. Adolf Hitler machte sie wohl suizidal, aber nicht mit strifbegründungsrelevanter Macht ihren Suizid zu einer von ihm begangenen Fremdtötung. Geli Raubai und Eva Braun hätten, wenn sie die sie bedrängende Lebenssituation durch Tötung Adolf Hitlers beendet hätten, im Falle einer rechtswidrigen Tötung nicht ohne Schuld gehandelt. Sie hätten als Erwachsene insoweit als verantwortungsfähig gegolten und ihr Tun verantworten müssen. Sicher, ihre suizidive Bedrängung war ihre Not und erwirkte ihre suizidale Befindlichkeit. Notabhilfe kann gerechtfertigt sein, insonderheit dann, wenn sie den in Not Befindlichen gegen eine gegenwärtige Not auf Kosten dessen verteidigt, der die Not normwidrig dem Notabhelfer antat; psychische Befindlichkeiten (auch solche präsuizidaler oder suizidaler Art), die Ausmaße einer Krankheit im Sinne der Strafrechtsnormen haben, können Straftaten gegen einen suizidiv Wirkenden zwar nicht rechtfertigen, wohl aber strafrechtlich entschuldigen oder Täter ohne strafrechtliche Schuld handeln lassen. Jedoch, falls die Bedrängnis von Geli Raubai und Eva Braun keine rechtfertigende oder entschuldigende Not und keine schuldlos stellende Krankheit war, wäre eine von ihnen als Bedrängnisabhilfe begangene Tötung Adolf Hitlers trotz ihrer Bedrängnis weder gerechtfertigt noch entschuldigt noch ohne Schuld getan gewesen. Sie hätten verantwortlich gehandelt. Sie handelten dann auch verantwortlich für das, was sie sich durch ihre Selbsttötungen antaten. Dem steht im Falle des Suizides von Eva Braun nicht entgegen, dass Eva Braun im Falle eines Nichtsuizides etwaig an Freiheit, Leib und Leben bedroht war. Zum einen ging diese Bedrohung von den Belagerern aus. Zum anderen war Adolf Hitler in mindestens vergleichbar großer Not; er war insoweit nicht mehrmächtig. Er instrumentalisierte die Bedrohung Eva Brauns am 30. April 1945 nicht, um cosuizidales Wollen zu erwirken.
Zur Haftung eines (potentiellen) Mittäters für die Vollendung bei Lossagung von der Tat im Vorb ereitungs stadium EVA
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I. Die Entscheidung B G H NStZ 1994, 29 Fall 1 ( B G H N S t Z 1994, 29): Der Angeklagte (A), der als Praktikant bei einer Bank tätig war, prahlte gegenüber G damit, daß er wisse, wie man leicht und kostenlos zu Geld kommen könne. Er verriet eine geheime Code-Zahl, deren Kenntnis die Öffnung einer Hintertür der Bank ermöglichte, und fertigte darüber hinaus eine Skizze an, die ergab, wie man nach Betreten der Bank in einen Registraturraum gelangte, wo sehr große Geldbeträge - zunächst - gezählt und dann in einen Tresor verbracht wurden. Er verriet dabei auch, daß diese Tür von den mit dem Geldzählen betrauten Bankbediensteten weisungswidrig nicht verschlossen gehalten wurde, so daß der R a u m wenn man erst einmal durch die Hintertür in das Bankinnere gelangt war - leicht betreten werden konnte. Α wußte und wollte, daß G sowie weitere, ihm namentlich nicht bekannte Mittäter auf der Grundlage dieser Informationen die Bank überfallen und berauben würden; es bestand Einvernehmen, daß Α einen Anteil der Beute als Belohnung erhalten sollte. Bevor die Tat auf der Grundlage der Informationen des Α durchgeführt wurde, wobei die Täter die Bankangestellten mit Messern bedrohten, fesselten und über 700 000,- D M erbeuteten, hatte Α dem G erklärt, er wolle mit der Tat nichts mehr zu tun haben. Maßnahmen zur Verhinderung der Tat traf er nicht. Von der Beute erhielt Α nichts. D a s L G hat Α wegen Beihilfe zum schweren Raub verurteilt. Bei der Entscheidung der Frage, ob die Strafkammer zu Recht eine Mittäterschaft des Α verneint hat, geht der B G H zwar mit der (noch) h.M. davon aus, daß grundsätzlich auch eine Mitwirkung im Vorbereitungsstadium, also vor Beginn des Gesamttat-Versuchs, Mittäterschaft begründen kann. O b Α aufgrund der von ihm geleisteten Beiträge als Mittäter qualifiziert werden kann, läßt der B G H jedoch offen. Denn nach seiner Auffassung muß eine Mittäterschaft des Α schon an seiner fehlenden Zueignungsabsicht
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im Zeitpunkt der Ausführung der Tat durch G und seine Komplizen scheitern. Hierzu führt der BGH wörtlich aus: „Hier hat der Angekl. ... vor Tatvollendung erklärt, er wolle mit der Tat nichts mehr zu tun haben. Damit ist die Zueignungsabsicht entfallen.1 Zwar kann grundsätzlich dann, wenn ein Mittäter nach der Erbringung seines Tatbeitrages eine Willensänderung vornimmt, dies eine Mittäterschaft nicht mehr beseitigen (BGHSt 2 8 , 3 4 6 , 3 4 8 ) . Dies gilt jedoch dann nicht, wenn durch die Willensänderung ein notwendiges Tatbestandsmerkmal (hier: die Zueignungsabsicht) entfällt. Bei einer solchen Fallgestaltung führt der Wegfall der subjektiven Voraussetzungen der Täterschaft dazu, daß ein fortwirkender Tatbeitrag selbst dann nur noch als Beihilfe zu bewerten ist, wenn das Verhalten vor der Willensänderung als Mittäterschaft zu bewerten gewesen wäre". 2
II. Ungleichbehandlung von Vorsatz und Zueignungsabsicht? Wie aus den Ausführungen des BGH hervorgeht, soll es „normalerweise" zur Begründung einer mittäterschaftlichen Haftung genügen, daß jemand einen mittäterschaftstauglichen Tatbeitrag im Vorbereitungsstadium erbringt und dabei den erforderlichen subjektiven Tatbestand erfüllt, also mit dem entsprechenden Deliktsvorsatz handelt. Demgegenüber soll aber für die Zueignungsabsicht beim Diebstahl und Raub etwas anderes gelten. Die Zueignungsabsicht als „notwendiges Tatbestandsmerkmal" eines Diebstahls oder Raubes muß nach Auffassung des BGH, anders als der Vorsatz, auch noch im Zeitpunkt der Ausführung der Tat durch die anderen Tatbeteiligten vorliegen, um den zuvor Tätigen als Mittäter qualifizieren zu können. Damit besteht also nach Ansicht des BGH ein grundlegender Unterschied zwischen Vorsatz und Zueignungsabsicht. Diese Auffassung, die sich teilweise auch im Schrifttum findet,3 ist jedoch unzutreffend. Der Vorsatz ist nicht weniger ein notwendiges subjektives Tatbestandsmerkmal als die Zueignungsabsicht. Wenn der Vorsatz daher nur im Zeitpunkt der Erbringung des eigenen Tatbeitrags vorhanden sein muß, kann für die Zueignungsabsicht 1 Das gilt nicht nur für die Selbstzueignungsabsicht, sondern gleichermaßen für die heute zur Tatbestandserfüllung auch genügende Drittzueignungsabsicht. 2 BGH NStZ 1994, 29 (30 li.Sp.). 3 Tröndle/Fischer 50. Aufl 2001, § 25 Rn 6; LK I0 -Vog/er§ 24 Rn 162 mit Fn 152; S/S/Eser 26. Aufl 2001, § 24 Rn 77; EiseleZStW 112 (2000), 745 (755, 761 U./762, die Nachw. in Fn 65 betreffen allerdings überwiegend nicht das hier interessierende Zeitpunktproblem). Die von Vogler, dem BGH (NStZ 1994, 29 [30 li.Sp.]) und Eisele in Bezug genommenen Ausführungen von Eser aaO (die 24. u. die 25. Aufl stimmen mit der 26. Aufl wörtl. überein) sind allerdings besonders unklar. Offenbar kommt es nach Eser entgegen dem von ihm zunächst erweckten Eindruck letztlich doch nicht speziell auf das Fehlen der Zueignungsabsicht an, sondern nur darauf, ob der (anfängliche) Mittäter alle seine Beiträge bei der Lossagung schon erbracht hat oder nicht.
Mittäterschaft bei Lossagung von der Tat im Vorbereitungsstadium
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nichts anderes gelten.4 Möglicherweise wird von der für eine unterschiedliche Behandlung plädierenden Auffassung verkannt, daß die Wegnahme nicht eine bestimmte Tätigkeit ist, sondern eine reine Erfolgsverursachung, nämlich die Verursachung der Gewahrsamsverschiebung (ohne Willen des bisherigen Gewahrsamsinhabers),5 nicht anders als die Tötung, Körperverletzung oder Sachbeschädigung auch. Wenn mithin Wegnahme nichts anderes bedeutet als ursächlich werden für die Gewahrsamsverschiebung - was auch z.B. bei einem Diebstahl in mittelbarer Täterschaft niemand bezweifelt -, dann genügt es für das Erfordernis der Zueignungsabsicht bei der Wegnahme, daß die Zueignungsabsicht bei der Erbringung des mittäterschaftlichen Verursachungsbeitrags vorhanden ist, ebenso wie es genügt, daß der Wegnahmevorsatz oder der Tötungs-, Körperverletzungs- und Sachbeschädigungsvorsatz in diesem Zeitpunkt vorhanden ist. Vorausgesetzt, es ist grundsätzlich richtig, daß der subjektive Tatbestand nur im Zeitpunkt der Erbringung des eigenen Beitrags erfüllt sein muß (s. dazu näher sub IV und VII1).
III. Die Entscheidung BGHSt 28, 346 Weitgehende Einigkeit besteht in Rechtsprechung und Literatur dahingehend, 6 daß derjenige, der einen bei der Tatausführung irgendwie fortwirkenden Beitrag erbracht hat, dann, wenn die Tat zur Vollendung gelangt, grundsätzlich7 für die vollendete Tat haftet, auch wenn er sich innerlich von der Tat losgesagt oder sogar tatkräftig, aber erfolglos bemüht hat, die Tat oder deren Vollendung zu verhindern. Ein Rücktrittsproblem stellt sich in diesen Fällen nicht; denn wenn die Tat unter Fortwirkung der erbrachten Beiträge vollendet wurde, genauer: zurechenbar vollendet wurde, kommt ein Rücktritt nicht in Betracht, da dieser gem. § 24 nur von der versuchten, nicht jedoch von der vollendeten Tat möglich ist (ganz abgesehen davon, daß ein
4 Vollkommen zutreffend Otto J Κ 94, StGB § 25 II/8 Rückseite, re.Sp.: „Völlig unstimmig aber ist es, hier zwischen Zueignungsabsicht und anderen subjektiven Merkmalen zu differenzieren." 5 So zutr. SK-Samson StGB-AT, 5. Α., 22. Lfg. (Sept. 1993), § 25 Rn 40, 61; Dencker Kausalität und Gesamttat (1996), S. 15; Kratzsch JR 1988, 397 (399 re.Sp.o.). ' So wird gesagt: S/S/Eser (o. Fn 3) § 24 Rn 76; LK^-Vogler § 24 Rn 162. 7 Als Ausnahme wird die Konstellation genannt, daß der „Beteiligte" im Vorbereitungsstadium zwar einen Beitrag erbringt, dabei aber davon ausgeht, daß die Tat ohne seine eigene weitere Mitwirkung nicht ausgeführt werden kann, S/S/Eser (o. Fn 3) § 24 Rn 82, s. auch Rn 84 (im Blick auf den Teilnehmer); LK10-Vbg/er § 24 Rn 164 (für den „Tatbeteiligten"); s. für den Fall, daß es nur zum Versuch einer mittäterschaftl. Tat kommt, auch Küper JZ 1979, 775 (781 re.Sp./782 li.Sp. oben mit Fn 68). Relevant werden kann diese Meinung (bei Tatvollendung) in der sub VII 2 genannten Konstellation.
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Rücktritt ohnehin erst nach Versuchsbeginn in Frage kommt 8 ). Fraglich ist jedoch, ob der sich absetzende Tatgenosse jedenfalls dann, wenn er bereits im Vorbereitungsstadium alle auf ihn entfallende oder jedenfalls zur Begründung von Mittäterschaft ausreichende Beiträge geleistet hat, für die vollendete Tat auch als Mittäter einzustehen hat oder ob er wegen seiner Abstandnahme von der Tat nur als Gehilfe (oder ggf. Anstifter) zu qualifizieren ist. Das Problem, ob der sich bereits im Vorbereitungsstadium von der Tat lossagende Tatbeteiligte für die Vollendung als Mittäter oder nur als Teilnehmer haftet, stellt sich allerdings nur auf der Grundlage der als h.M. zu bezeichnenden Auffassung, die zur Begründung von Mittäterschaft auch Beiträge im Vorbereitungsstadium genügen läßt. N a c h der Gegenauffassung, die einen Beitrag im Ausführungsstadium verlangt, k o m m t bei einer Lossagung im Vorbereitungsstadium Mittäterschaft natürlich von vornherein nicht in Betracht. Ich gehe im folgenden von der h.M. aus. Was nun speziell den Vorsatz und die ggf. erforderlichen übrigen subjektiven Merkmale - wie namentlich die Zueignungsabsicht - anbelangt, so ist der Entscheidung B G H NStZ 1994, 29 zu entnehmen - wenn man einmal die durch nichts gerechtfertigte Differenzierung zwischen Vorsatz und Zueignungsabsicht außer acht läßt - , daß es für eine mittäterschaftliche Haftung ausreicht, wenn der nach dem Tatplan als Mittäter erscheinende Tatbeteiligte bei Vornahme seiner - mittäterschaftstauglichen - Beiträge, auf denen das weitere Geschehen aufbaut, alle subjektiven Tatbestandsmerkmale erfüllt, also mit Tatentschluß handelt. Dies ist allerdings nach der in Bezug genommenen Entscheidung BGHSt 28, 346 entgegen dem in NStZ 1994, 29 erweckten Eindruck keineswegs eine ausgemachte Sache. D e n n in jener Entscheidung konnte sich der B G H in der Frage, ob Mittäterschaft oder Beihilfe anzunehmen ist, nicht zu einer Entscheidung durchringen (genau genommen hat er die Klärung dieser Frage wohl nicht als seine Aufgabe angesehen, weil er die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme - fälschlicherweise - als eine dem Tatrichter obliegende Ermessensentscheidung begreift). Fall 2 (BGHSt 28, 346): Dieser Entscheidung lag im wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte Α wollte mit seinen beiden Komplizinnen einen Banküberfall begehen. Der Tatplan sah vor, daß die beiden Frauen das Bankpersonal u n d etwaige Kunden mit Gaspistolen bedrohen sollten, während Α über den Tresen springen und verlangen sollte, daß eine mitgebrachte Plastiktüte mit Geld gefüllt wird. Vor der Bank bekam Α jedoch Bedenken. Er versuchte k u r z , wenigstens seine Freundin von dem Vorhaben abzubringen, was jedoch nicht gelang. Daraufhin entfernte sich A, während die beiden Frauen den Banküberfall erfolgreich allein ausführ-
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LKI0-Vbg/er§ 24 Rn 162.
Mittäterschaft bei Lossagung von der Tat im Vorbereitungsstadium
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ten. Α hatte allerdings schon im Vorbereitungsstadium gewichtige Beiträge geleistet, nämlich bei der Planerstellung und dem Diebstahl der Fluchtfahrräder mitgewirkt und den Tatort mit ausgekundschaftet. Der B G H geht hier davon aus, daß Α aufgrund seiner „fördernden Tatbeiträge" im Vorbereitungsstadium „die objektiven Voraussetzungen der Mittäterschaft" erfüllt, d.h., einen prinzipiell zur Begründung von Mittäterschaft tauglichen Beitrag geleistet hat. Was die Frage anbelangt, ob Α als Mittäter oder Gehilfe anzusehen ist, so hält der B G H beides für möglich. Maßgebend sei, wie stets nach der von der Rechtsprechung vertretenen subjektiven Theorie, „ob er die Tat als eigene oder nicht als eigene wollte". D a dieser für die Einordnung relevante Täter- oder Teilnehmerwille jedoch keine innere Tatsache, d.h. keine psychische Realität ist, sondern eine an verschiedenen Kriterien orientierte wertende Zuschreibung9 aufgrund aller Umstände, die von der Vorstellung des Α umfaßt waren, ist der bei Erbringung seiner Beiträge bei A real vorhanden gewesene (Mit-)Täterwille nicht allein maßgebend. Der B G H führt hierzu folgendes aus: „Zwar kann der Umstand, daß das Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung, die Durchführung und der Ausgang der Tat nicht mehr vom Willen des Angeklagten abhingen, nichts an der inneren Einstellung ändern, mit welcher er seine Tatbeiträge erbrachte. Da sie für die wertende Betrachtung aber nur ein Gesichtspunkt neben anderen ist (...), entscheidet sich die Frage, ob der Angeklagte Mittäter oder Gehilfe war, nicht schon und nicht allein auf Grund dieser, das Stadium der Vorbereitung nicht überdauernden Einstellung". Damit endet diese Entscheidung. D a es bei der Frage „Täterschaft oder Teilnahme" um eine wertende Beurteilung aller Umstände geht, kann man sich von der Sache her den „ U m w e g " über den Täter- (oder Teilnehmer)willen - als ein im Grunde überflüssiges terminologischen Durchgangsstadium - letztlich sparen und direkt sagen, daß es auf eine wertende Gesamtschau ankommt. U m eine Wertung kommt zwar auch „die" Tatherrschaftslehre bei der Frage, was als (funktionell) „wesentlicher" Beitrag anzusehen ist, nicht herum. Jedoch sind die damit verbundenen Unsicherheiten nicht vergleichbar mit der Beliebigkeit der subjektiven Theorie. Denn da der B G H für die Gewichtung der verschiedenen Anhaltspunkte (regelmäßig werden als bedeutsam genannt: Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, Umfang der Tatbeteiligung, Tatherrschaft, Wille zur Tatherrschaft) keine Regeln aufstellt, überläßt er die Abgrenzung in weiten Bereichen dem Gutdünken des Tatrichters. So in der Tat auch hier: Nach dem B G H kann man Mittäterschaft bejahen oder verneinen, beides ist recht (und damit Recht). In dem vergleichbaren Fall B G H N S t Z 1987, 364 hat sich das Tatgericht mit 9
B G H JR 1955, 304 (305 H.Sp.u.); LK"-Roxin § 25 Rn 27, s. auch Rn 31 u. 32 a.E.
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Billigung des B G H und unter Verwendung seiner oben zitierten Ausführungen als „Textbausteine" für Beihilfe entschieden. Mittäterschaft wäre aber auch nicht zu beanstanden gewesen. 10 Als Ergebnis der Betrachtung von BGHSt 28, 346 läßt sich mithin feststellen, daß es rätselhaft ist, wie der BGH in Anbetracht der Offenheit dieser Entscheidung in dem eingangs zitierten Urteil (NStZ 1994, 29) zu der Aussage gelangt, daß „grundsätzlich" eine Willensänderung nach Erbringung des eigenen (mittäterschaftstauglichen) Tatbeitrags eine Mittäterschaft nicht mehr beseitigen könne. Möglicherweise sieht er unausgesprochen den entscheidenden, diese Aussage rechtfertigenden Grund darin, daß der Angeklagte im Fall 1 schon alle auf ihn nach dem Tatplan entfallenden Beiträge erbracht hatte. Auch in der Literatur ist schon verschiedentlich der Gedanke geäußert worden, daß dann, wenn der Beteiligte seine mittäterschaftlichen Beiträge, auf denen sodann das weitere Geschehen aufbaut, entsprechend dem Tatplan schon vollständig im Vorbereitungsstadium geleistet hat, eine Abstandnahme von der Tat die mittäterschaftliche Haftung nicht beseitigen könne. 11 Dem steht jedoch die inzwischen im Vordringen begriffene Auffassung gegenüber, daß, so Lackner/Kühl, „das Einverständnis mindestens bis zum Uberschreiten der Versuchsschwelle der ,Gesamttat' ... fortbestehen" müsse; 12 denn, so Lackner/Kühl weiter: „wer sich schon vorher vom gemeinschaftlichen Entschluß distanziert, ist nicht Mittäter, sondern wegen Fehlens der (funktionellen) Tatherrschaft allenfalls Teilnehmer". 13 Mit dem zuletzt angesprochenen Kriterium der Tatherrschaft kommt ein Gesichtspunkt in den Blick, der sich von der in BGH NStZ 1994, 29 allein behandelten Frage, wann der subjektive Tatbestand beim einzelnen Beteiligten erfüllt sein muß, unterscheidet: nämlich der Gesichtspunkt des für eine 10 Warum der B G H nicht schon in BGHSt 28, 3 4 6 auf den Gesichtspunkt der fehlenden (Selbst- und Dritt-)Bereicherungsabsicht im Zeitpunkt der Tatbegehung durch die Komplizinnen abgestellt hat (geplant und offenbar auch ausgeführt war - nur - eine räuber. E r pressung, da die Beute in F o r m eines Gebeaktes seitens des Bankpersonals erlangt werden sollte), ist rätselhaft. Bei der Entscheidung B G H NStZ 1987, 3 6 4 ging es wie in N S t Z 1994, 2 9 um einen Raub, weshalb auf alle Fälle bereits in diesem Urteil auf das nach Auffassung des B G H entscheidende Fehlen der Zueignungsabsicht im Zeitpunkt der Wegnahme durch den Komplizen hätte abgestellt werden müssen. 11 LK 10 -Vog/er § 2 4 R n 162; Stratenwerth AT I, 4. Aufl 2 0 0 0 , § 12 R n 8 6 ; S / S / E s e r (o. F n 3) § 2 4 R n 7 7 ; ß j e / e Z S t W 112 (2000), 745 (760, 7 6 3 ) ; Otto JA 1980, 707 ( 7 0 9 re.Sp. unterer Teil, s. aber auch S. 709 re.Sp. ganz unten/710 li.Sp. oben); hierzu tendierte früher auch Lackner 20. Aufl 1993, § 2 4 R n 28, der jedoch nunmehr a.A. ist, s. Lackner 21. Aufl 1995, 22. Aufl 1997 und Lackner/Kühl23. Aufl 1999 und 24. Aufl 2001, jew. § 2 4 R n 2 8 u. § 2 5 R n 10. 12 Lackner/Kühl 24. Aufl 2001, § 25 R n 10; so bzw. ähnlich auch Kühl AT, 3. Aufl 2 0 0 0 , § 2 0 R n 105; Maurach/Gössel AT 2, 7 Aufl 1989, § 5 0 R n 92, 9 3 ; Puppe N S t Z 1991, 571 (572 re.Sp. unten, s. auch 573 li.Sp. zweiter Abs); Küper]Z 1979, 775 (781 re.Sp./782 li.Sp. oben mit Fn 68). 13
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(o. F n 12) § 2 5 R n 10.
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mittäterschaftliche Zurechnung stets erforderlichen Vorliegens der Voraussetzungen der Mittäterschaft, in den problematischen Lossagungsfällen also insbesondere des Vorliegens eines gemeinsamen Tatentschlusses. Es gilt nämlich zwei verschiedene Bedingungen mittäterschaftlicher Haftung auseinanderzuhalten, was in der bisherigen Diskussion offenbar nicht hinreichend berücksichtigt worden ist. Zum einen muß ein Tatbeteiligter vorsätzlich i.S. des § 16 I S. 1 handeln, und zwar „bei Begehung der Tat", was im Falle der Leistung aller Beiträge im Vorbereitungsstadium - nur - die Erbringung des eigenen Tatbeitrags bedeutet (IV). Und zum anderen müssen kumulativ hierzu - die später handelnden Tatgenossen, deren Tatbestandserfüllung dem Ersthandelnden als eigene zugerechnet werden soll, aufgrund eines - jedenfalls ihrer Auffassung nach - fortbestehenden gemeinsamen Tatentschlusses tätig werden (V).
IV. Der Tatentschluß des einzelnen Beteiligten bei der Erbringung seines Beitrags Beim Alleintäter gilt zwar grundsätzlich, daß die „Begehung der Tat" i.S. der §§ 16, 20 erst mit dem unmittelbaren Ansetzen i.S. des § 22 beginnt, was davor liegt, ist straflose Deliktsvorbereitung. Deshalb müssen beim Alleintäter Vorsatz und Schuldfähigkeit im sog. Ausführungsstadium, nämlich dem Stadium ab Versuchsbeginn, vorliegen. Das ist jedoch bei der „gemeinschaftlichen Begehung der Straftat" i.S. des § 25 II anders. Hier umfaßt das „Begehen der Tat" auf der Grundlage der - von der h.M. vertretenen Auffassung, daß zur Begründung von Mittäterschaft ein (funktionell wesentlicher) Beitrag im Vorbereitungsstadium genügt, auch das Stadium vor dem unmittelbaren Ansetzen (eines anderen Tatgenossen zur Gesamttat). Zwar ist die die Tatausführung erst vorbereitende Tätigkeit dieses Tatbeteiligten, während sie stattfindet, ebenso straflos, wie es bloße Vorbereitungshandlungen beim Alleintäter sind. Aber wenn die Gesamttat dann aufgrund der Tätigkeit der anderen Tatbeteiligten ins Versuchsstadium eintritt, dann macht sich aufgrund der mittäterschaftlichen Zurechnung dieser Handlungen auch der nur im Vorbereitungsstadium tätig gewordene Tatbeteiligte strafbar, zunächst wegen Versuchs und dann, wenn die Tat gelingt, wegen Vollendung. Das zunächst straflose Tun des sich nur im Vorbereitungsstadium betätigenden Tatbeteiligten stellt sich mithin dann, wenn es aufgrund des Weiterhandelns der anderen Mittäter zu einer Straftat - also wenigstens einem strafbaren Versuch - gekommen ist, als Teilstück der „gemeinschaftlichen Begehung einer Straftat" i.S. des § 25 II dar. Gem. § 8 S. 1 ist die Tat daher auch zum Zeitpunkt der Erbringung des mittäterschaftlichen Beitrags im Vorbereitungsstadium „begangen" worden. Zur Erfüllung des Koinzidenzprinzips von Tatbegehung, Vorsatz und Schuldfähigkeit (§§ 16, 20) ge-
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nügt es deshalb, wenn der (vollständig) nur im Vorbereitungsstadium tätig werdende Mittäter bei der Leistung seiner Tatbeiträge mit Tatentschluß14 handelt und schuldfähig ist.15 Um es an einem plastischen Beispiel zu verdeutlichen: Der Bandenchef, der den Einbruchsdiebstahl im schuldfähigen Zustand mit Wegnahmevorsatz und in Zueignungsabsicht bis ins einzelne geplant und organisiert hat, ist auch dann wegen besonders schweren Diebstahls in Mittäterschaft strafbar, wenn er bei der Ausführung der Tat durch die übrigen Bandenmitglieder sinnlos betrunken ist, aufgrund eines Unfalls im Koma liegt, schläft oder die Tat einfach nicht mehr will. Dies gilt auch, wenn er das Nicht-mehr-Wollen der Tat gegenüber anderen, z.B. einem Freund oder der Polizei, kundgetan hat. Denn entscheidend ist, daß ihm das Handeln der Bandenmitglieder, weil diese nach wie vor mangels Kenntnis von der Lossagung auf der Grundlage des gemeinschaftlichen Tatplans und Tatentschlusses tätig werden, mittäterschaftlich zuzurechnen ist. Wenn der sich (innerlich) lossagende Mittäter bereits alle Tatbeiträge im Vorbereitungsstadium erbracht hat, ist die Situation in diesem Falle problemlos mit dem Alleintäter vergleichbar, der seinen Verwirklichungswillen nach Abschluß der Tathandlung, aber vor Erfolgseintritt aufgibt,16 was an der vorsätzlichen Deliktsverwirklichung nichts ändert, weil der Vorsatz nur bei der Vornahme der Tathandlung, nicht aber im Zeitpunkt des Erfolgseintritts vorhanden sein muß. Für den vollständig im Vorbereitungsstadium tätig werdenden Mittäter ist der aufgrund des (mangels Widerrufs gegenüber den Komplizen fortbestehenden) gemeinsamen Tatentschlusses zurechenbare Erfolgseintritt zunächst der Eintritt seiner Komplizen ins Versuchsstadium und dann die von diesen bewirkte Tatvollendung. Zwar stellt auch die spätere Deliktsverwirklichung durch die übrigen Tatgenossen ein Teilstück der „gemeinschaftlichen Begehung der Straftat" i.S. des § 25 II dar. Während dieser Begehungsphase braucht der tatplangemäß vollständig im Vorbereitungsstadium tätig gewordene Mittäter jedoch auch nach der Auffassung keinen Vorsatz (und keine Zueignungsoder Bereicherungsabsicht) mehr zu haben, die für eine Vollendungsstrafbarkeit beim Alleintäter sog. „Vollendungsvorsatz" verlangt. Damit ist gemeint, daß der Täter bei der Handlung, die den Erfolg kausal und ob14 = Vorsatz plus Erfüllung der ggf. erforderlichen sonstigen subjektiven Merkmale wie namentlich Zueignungsabsicht. 15 Zum Begehen der Tat i.S. des § 25 II vor dem unmittelbaren Ansetzen i.S. des § 22 s. Herzberg]T 1991, 856 ff: „Mittäterschaft durch Mitvorbereitung: eine actio communis in causa?"; s. des weiteren - unter dem Gesichtspunkt der a.l.i.c.-Problematik - ausführlich zur „Straffreie(n) Deliktsvorbereitung als ,Begehung der Tat' (§§ 16, 20, 34 StGB)?" dens. FS Spendel (1992), 203 ff; zum Genügen des Vorsatzes bei Leistung des eigenen Beitrags s. auch Jakobs AT, 2. Aufl 1991, 21/45. 16 BeulkeJR 1980, 423 (424 re.Sp. unten).
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jektiv zurechenbar herbeigeführt hat, sich im Stadium des beendeten Versuchs befunden haben muß, d. h. von dem Wissen und Wollen beherrscht war, „alles für die Vollendung ins Werk gesetzt zu haben", bzw. die Kenntnis von der konkreten Erfolgseignung seines Verhaltens gehabt haben muß 17 (womit eine Vollendungsstrafbarkeit in den Fällen des sog. verfrühten Erfolgseintritts ausgeschieden wird, wenn der Erfolg also schon durch die nur vom „Versuchsvorsatz" getragene Handlung des unmittelbaren Ansetzens i.S. des § 22 herbeigeführt wird).18 Denn der Tatbeteiligte, der seine ihm laut Tatplan obliegenden, mittäterschaftsbegründenden (d. h. funktionell wesentlichen) Tatbeiträge bereits tatplangemäß vollständig im Vorbereitungsstadium erbracht hat, hat schon alles getan, was von ihm aus zur Tatbestandsverwirklichung erforderlich ist; er befindet sich also, was seine Beiträge anbelangt, gewissermaßen im Stadium des beendeten Versuchs. Mehr, d.h. Vorsatz und Schuldfähigkeit auch bei der Begehung der Tat durch die die eigentliche Tatausführung vornehmenden Tatgenossen, kann jedoch nicht verlangt werden. Denn das „Begehen", bei dem Vorsatz und Schuldfähigkeit vorhanden sein müssen, betrifft grundsätzlich nur den eigenen Verhaltensnorm verstoß, nicht auch die daraus zurechenbar resultierenden Erfolge.
V. Das Mittäterschaftsmerkmal des gemeinsamen Tatentschlusses Im eben Gesagten klang schon an, was als wesentliche Voraussetzung für die mittäterschaftliche Zurechnung der Tatausführung durch die Komplizen erforderlich ist: Das Fortbestehen des gemeinschaftlichen Tatentschlusses. Denn als eigenes Verhalten zugerechnet werden kann dem im Vorbereitungsstadium tätig gewordenen Tatbeteiligten die Tatausführung durch die anderen nur, wenn diese bei der - freiverantwortlichen - Tatbegehung nicht nur für sich selbst gehandelt haben, sondern auf der Grundlage des gemeinsamen Tatentschlusses auch für den anderen, im Vorbereitungsstadium tätig gewordenen Tatgenossen. Diese entscheidende Bedeutung des gemeinsamen Tatentschlusses für die mittäterschaftliche Zurechnung hat kürzlich Ingelfinger19 m.E. überzeugend herausgearbeitet. Wenn Α und Β verabredungsge17
So z.B. Wolter FS Leferenz (1983), 545 (548 unten/549 oben, 563ff, speziell zur Zueignungs- u. Bereicherungsabsicht S. 568 vorletzter Abs a.E.); Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs (1988), S. 602-604, 623; UL"-Schroeder§ 16 Rn 34. 18 Der Ausdruck „Vollendungsvorsatz" ist äußerst mißdeutig; man sollte in bezug auf das Gemeinte besser von „Vollendungsvorsatz im engeren Sinne" sprechen, denn ein Vollendungsvorsatz in dem weiteren Sinne, daß jeder Tatbeteiligte die Vollendung der Tat wollen muß - im Unterschied zum agent provocateur, der das nicht will - , ist selbstverständliches Vorsatzerfordernis. i» JZ 1995, 704 (708ff, sub C III u. D I).
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maß den X dergestalt überfallen, daß Α den X vor seiner Haustür niederschlägt, während Β in das Haus geht und die Wertsachen zwecks Beuteteilung mitnimmt, dann ist zur Qualifizierung dieses Geschehens als gemeinschaftlicher Raub erforderlich, daß die jeweiligen Tatbeiträge gegenseitig zugerechnet werden. Dazu bedarf es - auf der Grundlage der Tatherrschaftlehre - der Mitherrschaft jedes Beteiligten über die Tat als ganze. Rekurrierend auf die Erkenntnisse von Küper20 stellt Ingelfinger zunächst folgendes fest: In bezug auf die Gesamttat hat jeder Tatgenosse nur eine „negative" Herrschaft, die als (bloße) Hemmungsmacht darin besteht, daß er durch Nichtleistung seines im Tatplan übernommenen Beitrags die Gesamttat scheitern lassen kann. „Positive" Herrschaft oder Ablaufsmacht hat der einzelne Beteiligte demgegenüber nur über seinen eigenen Beitrag, nicht dagegen über den Beitrag des anderen und damit auch nicht über die gesamte Tat. Eine Rechtfertigung für die wechselseitige Zurechnung der jeweils fremden Tatbeiträge als eigene kann daher, so Ingelfinger, nicht allein darin gefunden werden, daß die Verwirklichung des Plans objektiv nur durch den Beitrag eines jeden Mittäters möglich ist. Von konstitutiver Bedeutung ist vielmehr ebenfalls, daß „jeder Mittäter hinsichtlich des Beitrags des jeweils anderen Genossen wenn auch keine objektive Herrschaft, so aber doch wesentlichen psychischen Einfluß [besitzt]. Dieser Einfluß basiert auf dem gemeinsamen Tatplan, der gemeinsamen Unrechtsvereinbarung, und dem funktionell wesentlichen Teil, den jeder Mittäter den anderen darin zu übernehmen verspricht. Jeder Mittäter leistet seinen Beitrag, weil er weiß, daß der oder die anderen ebenso ihren Beitrag leisten werden [bzw. geleistet haben]". 21 So schlägt im Beispielsfall Α den X nieder, weil Β die Zusage gegeben hat, die erforderliche Wegnahme zu besorgen; diese Zusage bestärkt A beim Niederschlagen in seinem Entschluß, Gewalt anzuwenden. Und Β leistet seinen Beitrag, um die von ihm gegebene Zusage zu erfüllen. Dabei beruht der positive Einfluß des Α auf den Beitrag des Β neben dem Aspekt, daß Α durch seine Handlung den Weg für Β frei gemacht hat, darauf, daß die gemeinsame Unrechtsvereinbarung und die „Vorleistung" des Α ihn motivieren. 22 „Mittäterschaft beruht [also] ... maßgeblich darauf, daß jeder nicht nur für sich, sondern auch für den anderen handelt." 23 Daran fehlt es aber, wenn sich der zuerst Handelnde gegenüber den später handelnden Tatgenossen von der Tat losgesagt hat. Dann werden diese nicht mehr aufgrund der Motivation tätig, die mit dem gemeinsamen Tatentschluß gegenüber ihrem Kom20
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J Z 1979, 775 (785f). Ingelfinger]2. 1995, 704 (710 li.Sp. unterer Teil), Hervorhebungen dort. Ingelfinger]Z 1995, 704 (710 li.Sp. unten/re.Sp. oben). Ingelfinger }X 1995, 704 (710 re.Sp. oberer Abs a.E.).
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plizen abgegebene Zusage zu erfüllen, sondern sie handeln nur noch für sich selbst. Es fehlt dann mithin an einer notwendigen Voraussetzung für die mittäterschaftliche Zurechnung der nach der Lossagung von den anderen erbrachten Beiträge. Umgekehrt ist das für die Zurechnung der fremden Tatbeiträge als eigene wesentliche Element des Handelns aufgrund des gemeinsamen Tatentschlusses u n d damit auch für den anderen Genossen dagegen gegeben, wenn die später handelnden Genossen ihre Beiträge im Glauben an den fortbestehenden Willenskonnex erbringen. D e n n dieser besteht ja objektiv solange fort, wie er den anderen Beteiligten gegenüber nicht widerrufen worden ist. 24 U n d das reicht, wenn die anderen auf dieser Grundlage handeln, für die - objektive - Zurechnung dieser Handlungen als eigene.
VI. Zwischenbilanz 1. Vorsatz und sonstige subjektive Tatbestandsmerkmale müssen bei einem tatplangemäß nur im Vorbereitungsstadium tätigen Mittäter nur im Zeitpunkt der Erbringung des eigenen Tatbeitrags vorliegen. Die Zueignungsabsicht beim Diebstahl und Raub nimmt hier keine „Sonderstellung" ein. 2. Sagt sich ein Tatgenosse, der aufgrund der im Tatplan übernommenen Beiträge als Mittäter zu qualifizieren ist, im Vorbereitungsstadium gegenüber seinen Tatgenossen von der Tat los, dann kann er für die unter Fortwirkung seiner Beiträge von den anderen vollendete Tat nicht als Mittäter haften, weil es an der wesentlichen Mittäterschaftsvoraussetzung des fortbestehenden gemeinsamen Tatentschlusses fehlt; dabei ist es unerheblich, ob er zuvor schon alle oder jedenfalls zur Mittäterschaft ausreichende Beiträge erbracht hat. Im Ausgangsfall B G H NStZ 1994, 29 ist daher im Ergebnis - nicht jedoch in der Begründung - zu Recht Mittäterschaft des Angeklagten verneint worden. Im Fall BGHSt 28, 346, wo die Beteiligungsfrage offengelassen wurde, lag demgemäß - wegen des Widerrufs gegenüber den Komplizinnen - ebenfalls keine Mittäterschaft des Angeklagten vor. Gegeben war jedoch jeweils - wegen der fortwirkenden vorbereitenden Beiträge der Angeklagten - Beihilfe (ggf. auch Anstiftung).
24 S. auch Beulke JR 1980, 423 (424 re.Sp. unterer Teil). - Das ist auch der richtige Gedanke des BGH in BGHSt 37, 289; verkehrt war an dieser Entscheidung allerdings, daß der BGH letztlich die bloße Mitwirkung am Tatentschluß zugleich als objektiven zur Mittäterschaft ausreichenden Beitrag angesehen hat, s. Roxin JR 1991, 206 (207); Stratenwerth AT I (o. Fn 11) § 12 Rn 87
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3. Wenn sich ein Tatgenosse, der aufgrund seines im Tatplan übernommenen Tatanteils als Mittäter anzusehen ist, im Vorbereitungsstadium innerlich oder jedenfalls nicht gegenüber seinen Komplizen von der Tat lossagt, dann haftet er für die auf der Grundlage seiner Beiträge vollendete Tat als Mittäter, wenn er die nach dem Tatplan auf ihn entfallenden Tatbeiträge schon vollständig im Vorbereitungsstadium erbracht hat.
VII. Verbleibende Fälle 1. Auszuscheiden als Kandidaten für eine mögliche mittäterschaftliche Haftung bzgl. der vollendeten Tat sind solche Fälle, in denen der Tatbeteiligte, der aufgrund der im Tatplan für das Vorbereitungs- und Ausführungsstadium übernommenen Beiträge als Mittäter zu qualifizieren ist, sich noch im Vorbereitungsstadium innerlich (jedenfalls nicht gegenüber den Tatgenossen) von der Tat lossagt, wobei die bereits im Vorbereitungsstadium erbrachten Beiträge noch nicht zur Begründung von Mittäterschaft ausreichen. Hier kann eine mittäterschaftliche Haftung zwar nicht am Fehlen eines gemeinsamen Tatentschlusses scheitern, denn dieser besteht mangels Widerrufs gegenüber den Genossen - objektiv - fort, und diese handeln auch (wovon hier auszugehen ist) aufgrund dessen für den nicht mehr Tatwilligen. Eine Strafbarkeit wegen einer in Mittäterschaft begangenen vollendeten Tat setzt jedoch notwendigerweise voraus, daß der fragliche Tatbeteiligte auch tatsächlich zur Begründung von Mittäterschaft ausreichende Tatbeiträge erbracht hat; andernfalls kann von einer mittäterschaftlichen Begehung der Tat seitens des fraglichen Tatgenossen keine Rede sein. An der Erbringung ausreichender mittäterschaftsbegründender Tatbeiträge fehlt es aber in dieser Konstellation. Deshalb ist auch die Entscheidung BGHSt 37, 289 - die allerdings eine Lossagung im Ausführungsstadium betraf - verkehrt. 25 Fall3 (Abwandlung von BGHSt 37, 289): Α und D hatten beschlossen, sich im Falle einer drohenden Verhaftung die Flucht auch unter billigender Inkaufnahme der Tötung von Polizeibeamten freizuschießen. Als ein Polizist herannahte und eine Verhaftung drohte, schoß D. Α stand etwas hinter D. Er hatte das Herannahen des Polizisten gleichzeitig mit D bemerkt, wollte aber nicht mehr, daß jemand getötet wird, weshalb er sofort die Hände zum Zeichen der Aufgabe hob, was D jedoch nicht bemerkte. (Auch A's Zuruf, nicht zu schießen, kam zu spät; D hatte schon abgedrückt.) 25 S.o. Fn 24. Verkehrt auch Eisele ZStW 112 (2000), 745 (759f), falls diese Ausführungen so zu verstehen sind, daß der sich lossagende Genösse ohne die Erbringung irgendeines eigenen Beitrags mittäterschaftlich haftet.
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a) Der Polizist wurde tödlich getroffen. b) Der Schuß ging daneben. Ein anderer Polizist - den Α und D vorher nicht bemerkt hatten - schoß D sofort die Pistole aus der Hand, woraufhin beide festgenommen wurden. c) Α wollte am Tatplan festhalten, hob daher auch nicht die Hände, konnte jedoch selbst nicht schießen, weil er seine Pistole im Auto vergessen hatte, was D jedoch nicht wußte. In allen Varianten wähnte D den Α tatbereit hinter sich. Im Fall 3 a kommt eine Verurteilung des Α wegen vollendeten Totschlags in Mittäterschaft mit D - wie gesagt - nicht in Betracht, weil Α keinen zur Begründung von Mittäterschaft tauglichen Tatbeitrag geleistet hat. Dazu reicht die psychische Bestärkung des Tatentschlusses des D durch die Verabredung mittäterschaftlichen Handelns bei der Abwehr der Festnahme und die Anwesenheit am Tatort nicht aus. Es könnte aber im Fall 3 b nach der Gesamtlösung eine Mittäterschaft des Α an der versuchten Tötung zu bejahen sein, was die Frage aufwirft, ob dann nicht auch im Fall 3 a die vollendete Tat mittäterschaftlich zuzurechnen ist. Eine Zurechnung der Schußabgabe als eigene bzw. des Ansetzens dazu kommt jedoch im Fall 3 b (und damit auch im Fall 3 a) auch nach der Gesamtlösung nicht in Betracht. Denn Erforderlich für eine mittäterschaftliche Haftung wegen des von dem anderen Tatgenossen tatplangemäß ausgeführten Versuchs ist auch nach der Gesamtlösung natürlich, daß der noch nicht oder jedenfalls noch nicht in mittäterschaftstauglicher Weise tätig gewordene Genösse noch im Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens des anderen Tatgenossen (Vollendungs-)Vorsatz hat, 26 denn dieses Ansetzen ist dann der entscheidende zur Mittäterschaft an der versuchten Tat führende Teil des gemeinschaftlichen „Begehens", weshalb bei dieser Konstellation der Vorsatz (und die ggf. erforderlichen Absichten [Zueignungsabsicht, Bereicherungsabsicht]) nicht nur im Zeitpunkt des eigenen Handelns vorhanden sein muß. Dieser (Vollendungs-)Vorsatz muß sich auf die Tatbegehung in Mittäterschaft beziehen, also auf Tatvollendung auch unter mittäterschaftlicher Mitwirkung des abstandnehmenden Genossen. Daran fehlt es aber, wenn der sich lossagende Tatgenosse seinen zur Begründung seiner Mittäterschaft noch erforderlichen Beitrag nicht mehr erbringen will. Daß er weiß oder damit rechnet, daß es unter Fortwirkung seiner bisherigen - für die Bejahung einer Mittäterschaft noch nicht ausreichenden - Beiträge zur Vollendung kommt oder kommen kann, genügt mithin nicht. 27 Auch im Fall 3 c scheidet nach der Gesamtlösung eine mittäterschaftliche Zurechnung der Versuchshandlung des D (und damit auch der Vollendung, 26 So letztlich auch Küper]Z 1979, 775 (781 re.Sp. unterer Teil, 782 li.Sp.o.); unklar Eisele ZStW 112 (2000), 745 (752 oberer Abs a.E. einerseits, 766 andererseits). 27 Dieser Gesichtspunkt wird von Küper JZ 1979, 775 (781 f Fn 68) verkannt.
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falls D getroffen hat) aus. Denn zur Zurechnung der fremden Beiträge als eigene ist auf alle Fälle die sog. negative Tatherrschaft (Hemmungsmacht) erforderlich, d. h. „die Macht, das ganze Unternehmen durch ,Leistungsverweigerung' zu verhindern".28 Diese hat ein nach dem Tatplan als Mittäter zu qualifizierender Genösse aber nur, wenn er aufgrund der konkreten Umstände auch tatsächlich in der Lage ist, den übernommenen Beitrag zu erbringen. Denn nur dann kann von einer Macht, durch Leistungsverweigerung das ganze Unternehmen zu verhindern, gesprochen werden.29 Da es mithin dann, wenn der nach dem Tatplan als Mittäter erscheinende Genösse im Vorbereitungsstadium noch nicht zur Begründung seiner Mittäterschaft ausreichende Beiträge erbracht hat, auch nach der Gesamtlösung letztlich darauf ankommt, daß er bei Beginn des Gesamttat-Versuchs (noch oder schon) tatbereit paratsteht, dürften letztlich selten Unterschiede zu der - wohl vorzugswürdigen - modifizierten Einzellösung bestehen, die neben der Überführung der Gesamttat ins Versuchsstadium durch einen Genossen verlangt, daß der andere Tatgenosse, dem dieses Ansetzen zugerechnet werden soll, seinerseits zu dem seine Tat(mit)herrschaft begründenden Tatbeitrag unmittelbar angesetzt hat.30 Denn ein tatbereites Paratstehen im Versuchszeitpunkt dürfte regelmäßig ein unmittelbares Ansetzen zum eigenen mittäterschaftsbegründenden Beitrag darstellen. Dem sowie möglichen abweichenden Konstellationen kann hier jedoch nicht weiter nachgegangen werden. 2. Noch untersucht werden muß die Frage, was zu gelten hat, wenn der sich nicht gegenüber den übrigen Tatgenossen von der Tat lossagende Tatbeteiligte im Vorbereitungsstadium zwar schon zur Begründung von Mittäterschaft ausreichende Beiträge geleistet hat, wenn er aber laut Tatplan im Ausführungsstadium noch weitere Beiträge hätte erbringen sollen. Diese Frage muß jedoch offenbleiben, weil ihre Erörterung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde.
Küper]Z 1979, 775 (786 li.Sp. zweiter Abs - 787 li.Sp.o.). Deshalb ist entgegen Valddgua ZStW 98 (1986), 839 (859) und Roxin, Odersky-FS (1996), 4 8 9 (492 unterer Teil) auch auf der Basis der Gesamtlösung zu erklären, weshalb keine Anrechnung fremder Tätigkeiten als eigen stattfindet, wenn der die Tat weiter wollende „Mittäter" durch einen Verkehrsstau oder sonst ein Ereignis gehindert wird, am Tatort zu erscheinen, und die anderen Genossen die Tat dann ohne ihn ausführen. 28
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3 0 Das oben aufgestellte kumulative Erfordernis des Vorliegens eines Gesamttatversuchs und wenigstens eines unm. Ansetzens zum eigenen mittäterschaftsbegründenden Beitrag ist m . E . ein durchaus sachgerechter Weg; bei vollständiger Erbringung aller Beiträge im Vorbereitungsstadium besteht kein Unterschied zur Gesamtlösung, der Versuch beginnt auch für diesen Beteiligten erst mit dem - mittäterschaftlich zurechenbaren - unm. Ansetzen der anderen Tatgenossen zur Gesamttat; das wird verkannt von Eisele ZStW 112 (2000), 745 (751 unten); s. auch Erb NStZ 1995, 4 2 4 ( 4 2 6 li.Sp.u./re.Sp.o.).
Strafloses Alltagsverhalten und strafbares Beihilfeunrecht HERO
SCHALL
I. Zur Aktualität der Fragestellung Die Frage, ob sogenannte Alltagshandlungen, berufstypische bzw. neutrale Handlungen, 1 die in dem sicheren oder auch nur möglichen Wissen um ihre deliktische Verwertung durch einen Dritten erbracht werden, als strafbare Beihilfe zu qualifizieren sind oder aber wegen ihres „an sich" alltäglichen Charakters straflos zu bleiben haben, wurde lange Zeit nur an Beispielen diskutiert, die zwar theoretisch denkbar, aber praktisch kaum relevant waren: etwa der Verkauf einer normalerweise als Lebensmittel (Brötchen) oder als Haushaltsgegenstand (Schraubenzieher, Dolch) gedachten Ware, die der Käufer allerdings in concreto, für den Verkäufer erkennbar, als instrumentum sceleris einzusetzen beabsichtigt - vornehmlich zur Tötung der in der strafrechtlichen Literatur so häufig leidgeprüften Ehefrau oder Schwiegermutter.2 Derlei theoretischer Konstrukte bedarf es heute nicht mehr, um die Problematik der sogenannten neutralen Beihilfe zu verdeutlichen. Denn die all diesen Fällen zugrunde liegende Konstellation ist in jüngster Zeit in neuen und modernen Gewändern - vornehmlich des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts - aufgetreten und mittlerweile auch schon auf den Laufsteg der Rechtsprechungsbühne des BGH geraten: so die Mitwirkung eines Arbeitnehmers in Kenntnis der nachfolgenden Hinterziehung der Umsatzsteuer durch den Arbeitgeber,3 die Tätigkeit eines Bankangestellten im Zusammenhang mit einem Kapitaltransfer ins Ausland zugunsten von Kunden, die ihre Kapitalerträge den Finanzbehörden verheimlichen wollen,4 die Übernahme einer Strafverteidigung gegen Honorar, das aus illegalen Geldern des Mandanten stammt, 5 sowie schließlich die Mitwirkung 1 Die Aufzählung der in der Rspr. und Lit. verwendeten Begriffe ließe sich noch fast beliebig erweitern (vgl dazu die Auflistung bei BGHSt 46, 107, 110ff); die Vielfalt der Begriffe ändert jedoch nichts an der Identität der Problematik. 2 Vgl etwa die Beispiele bei Jakobs Strafrecht AT, 2. Aufl 1991, 24/17; LK-Roxin 11. Aufl 1993, § 27 Rn 16; Zeigend FS für Nishihara, 1998, S. 197 f. 3 S. dazu BGHR StGB § 27 Abs 1 Hilfeleisten 3 = BGH wistra 1988, 261. •> BGHSt 46, 107 = NJW 2000, 3010 ff = wistra 2000, 492 ff. 5 BGH NJW 2001, 2891 ff.
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bei der Erstellung der Befehle zur Grenzsicherung der früheren DDR, die primär der insoweit legitimen Landesverteidigung der ehemaligen DDR dienten und sich nur mittelbar auf die Tötung oder Verletzung von Flüchtlingen durch die im Grenzbereich verlegten Splitterminen auswirkten, indem sie die Abfassung der für die konkrete Durchführung der Grenzsicherung und damit auch für die Verlegung und Instandhaltung der Minensperren maßgeblichen sogenannten Jahresbefehle erleichterten.6 Angesichts der neuen, praktischen Relevanz der in der Sache schon seit jeher als reizvoll empfundenen Fragestellung7 verwundert es nicht, dass die Frage der Strafbarkeit sogenannter neutraler, alltäglicher bzw. berufstypischer Handlungen auch im neueren Schrifttum erhöhte Aufmerksamkeit gefunden hat und mittlerweile schon fast zum „Modethema"8 avanciert ist. Gleichwohl ist die Zahl der Lösungsansätze schon jetzt Legion und eine konsensfähige Lösung noch bei weitem nicht in Sicht. Das Spektrum der höchst kontroversen und kaum noch systematisierbaren Meinungen9 reicht von der Bejahung einer uneingeschränkten Beihilfestrafbarkeit über die verschiedensten Versuche einer - überwiegend auf der Tatbestands-, teilweise auf der Rechtswidrigkeitsebene lozierten - Einschränkung der Strafbarkeit bis zum Postulat einer generellen Straflosigkeit wegen sozialer bzw. professioneller Adäquanz. Der nachfolgende Beitrag, der dem ehrenden Angedenken des viel zu früh verstorbenen Kollegen Dieter Meurer gewidmet ist, mit dem mich wie so viele von uns nicht nur die strenge wissenschaftliche Auseinandersetzung, sondern auch heitere und belebende Gespräche außerhalb der Tagungen verbunden haben, soll nicht noch einmal alle bisher vertretenen Meinungen en detail nachzeichnen,10 sondern vielmehr in kritischer Auseinandersetzung mit den heute überwiegenden Grundpositionen den Versuch eines eigenen Lösungsansatzes wagen.
BGH NJW 2001, 2409. Schon in einer Abhandlung aus dem Jahre 1840 stellt Kitka (Uber das Zusammentreffen mehrerer Schuldigen bey einem Verbrechen und deren Strafbarkeit, S. 62) die Frage, „ob A, der dem Β einen Dolch verkauft, mit welchem er den C ermordet, als Mitschuldiger an der Mordtat zu erklären sei und wie es sich verhalte, wenn dem Α bekannt war, dass Β den Dolch zur Ermordung des C benötige." 8 So Amelung FS für Grünwald, 1999, S. 9. 9 Vgl dazu den Meinungsüberblick bei Hillenkamp Probleme AT, 10. Aufl 2002, S. 170ff, der allein 8 verschiedene Lösungsansätze aufführt, die teilweise noch wieder ihrerseits unterschiedliche Modifikationen enthalten. 10 Insoweit kann verwiesen werden auf die ausführliche Auseinandersetzung in den jüngsten Arbeiten von Ambos]K 2000, 721 ff; Amelung (Fn 8) S. 9 (10ff); BeckemperJura 2001, 163ff; Lesch JA 2001, 986ff; Weigend(Fn 2) S. 197 (199ff). 6 7
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II. Die Ausgangsfrage: Notwendigkeit einer Einschränkung der Beihilfestrafbarkeit? Bevor die Möglichkeiten einer Einschränkung der Beihilfestrafbarkeit kritisch zu würdigen sind, ist zunächst die grundsätzliche Frage des O b einer solchen Strafbarkeitsbegrenzung zu klären. Da in den genannten Problemfällen der Mitwirkende jeweils vorsätzlich eine gesetzmäßige Bedingung für den sodann von dem Dritten verwirklichten tatbestandlichen Erfolg (Tod, Steuerhinterziehung usw.) gesetzt hat, liegt zumindest konstruktiv eine Beihilfe i. S. des § 27 StGB vor.11 Die Verfechter einer uneingeschränkten Beihilfestrafbarkeit können prima facie denn auch durchaus gewichtige Argumente für sich in Anspruch nehmen: So ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Beihilferegelung des § 27 StGB grundsätzlich für jedermann und jeden Tätigkeitsbereich gilt und daher dem Gehilfen nicht von vornherein eine Art erlaubtes Risiko zugestanden werden kann, das man dem jeweiligen Haupttäter verwehrt. Außerdem würde die generelle Beurteilung der sogenannten neutralen Handlungen nach den allgemeinen Regeln der Beihilfevorschrift der Rechtseinheitlichkeit und zumindest insoweit auch der Rechtssicherheit dienen. 12 Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, dass sich die Fälle der sogenannten neutralen Beihilfe von den typischen Beihilfehandlungen sowohl im Unrechtsgehalt als auch unter dem Aspekt des präventiven Strafbedürfnisses ganz wesentlich unterscheiden, da sie nicht wie jene ausschließlich oder hauptsächlich zur Förderung einer fremden Straftat unternommen werden, sondern sich im sozialen Kontext - wenn auch im Wissen oder unter Inkaufnahme einer späteren deliktischen Verwertung - primär als sozial übliches bzw. berufstypisches Rollenverhalten darstellen. Die uneingeschränkte Einbeziehung solcher Handlungen in den Beihilfetatbestand mit dem regelmäßigen Ergebnis einer Strafbarkeit 13 würde daher eine uferlose Ausdehnung der Beihilfestrafbarkeit nach sich ziehen und dadurch die allgemeine Handlungs- und Berufsausübungsfreiheit in sozial unerträglicher Weise einschränken. 14 11 Da das Hilfeleisten schon die Unterstützung einer nur vorbereitenden Handlung und auch die sog. Beihilfe zur Beihilfe erfasst (s. nur LK-Roxin [Fn 2] § 27 Rn 61), lässt sich ein Strafbarkeitsmangel insoweit nicht begründen; s. dazu die zutreffende Klarstellung in BGH NJW 2001, 2409 (2410). 12 S. zu diesen Argumenten insbes. Beckemper]urz 2001, 163 (169); Dom DStZ 1992, 330 (331 ff); Niedermair ZStW 107 (1995), 507 (539f). 13 Zu den schon nach den allgemeinen Beihilferegeln geltenden Einschränkungen s. neuerdings Samson/Schillhorn wistra 2001,1 (4ff); zuvor auch schon Hassemerwistra 1995, 41 f; Joecks WM 1998, Sonderbeilage N r 1, S. 13 ff; Niedermair ZStW 107 (1995), 507 (541 ff). 14 S. zur näheren Begründung insbes. Frisch Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1998, S. 295ff; Otto JZ 2001, 436 (441, 444); TagJR 1997, 49 (50); WolffReske Berufsbedingtes Verhalten als Problem mittelbarer Erfolgsverursachung, 1995, S. 76ff;
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Führt man sich die im sozialen Leben zahllosen Fälle vor Augen, in denen der Handelnde zufällig erfährt, dass ein anderer (z.B. ein Kunde oder Arbeitskollege) die von ihm, dem Handelnden, erbrachte Dienstleistung zur Begehung einer Straftat ausnutzt, so wird die Unhaltbarkeit einer rigorosen Kriminalisierung derartiger Handlungen evident: Die Erbringung der Dienstleistung wäre dem Handelnden nicht nur bei sicherem Wissen um die deliktische Verwertung, sondern - da für den Gehilfenvorsatz bekanntlich auch bedingter Vorsatz genügt - bereits bei ernstlichem Fürmöglichhalten strafrechtlich verboten. Ein derartiges Verbot aber würde zu einer unrealistischen, die Rechtssicherheit erschütternden und sub specie Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich bedenklichen Einschränkung der Handlungsfreiheit führen. Der Mitarbeiter im Betrieb, der Angestellte in der Bank, der Verkäufer der Ware, ein jeder Vertragspartner - sie alle würden in diesen Fällen letztlich in unzumutbarer Weise zur Verweigerung ihrer Dienstleistung und damit zum Protest gegen die jeweilige Haupttat verpflichtet, ohne dass sie zur Aufsicht über den Täter oder zum Garanten der von diesem Täter bedrohten Rechtsgüter bestellt wären.15 Eine generelle Kriminalisierung dieser alltäglichen, berufstypischen Verhaltensweisen als strafbare Beihilfe erweist sich somit schon aus diesen Gründen als nicht haltbar, eine Einschränkung der Beihilfestrafbarkeit daher als kriminalpolitisch geboten.
III. Straflosigkeit wegen sozialer oder professioneller Adäquanz? Entsprechend den zur Beschreibung der Problemfälle verwendeten Attributen der „Alltagshandlungen" bzw. „sozial üblichen" oder „berufstypischen" Handlungen wird von einer Reihe von Autoren die Straflosigkeit dieser Handlungen schon unmittelbar mit der allgemeinen Lehre von der Sozialadäquanz 16 oder jedenfalls unter Rückgriff auf diese Lehre17 damit be15 S. zu dieser Argumentation auch Jakobs (Fn 2) 24/15 ff; SKStGB-Rudolphi 7. Aufl 2000, § 13 Rn 44. Auch der BGH hat die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Gastwirts für die von seinen Gästen aufgrund des Alkoholgenusses begangenen Straftaten aus eben diesem Grunde verneint (BGHSt 19, 152, 154 f): „Wäre der Gastwirt, dessen Gewerbe im Ausschenken geistiger Getränke besteht, für die Folgen, zu denen übermäßiger Alkoholgenuss seiner Gäste führen kann, allgemein strafrechtlich verantwortlich zu machen, so würde er in den meisten der Fälle ... gleichsam zum Vormund oder Hüter seiner Gäste bestellt." 16 So schon WelzelLb., 11. Aufl 1969, S. 55f; ebenso Philipkowski'in: Kohlmann (Hrsg.) Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht, 1983, S. 142; Jakobs GA 1996, 253 (261 f); wohl auch Wessels/Beulke Strafrecht AT, 31. Aufl 2001, Rn 582a. 17 Hassemerwlstra 1995, 41 (46) vergleicht sie mit einem „ungeschliffenen Diamanten", der für die Problemfälle nach entsprechender Bearbeitung wertvolle Dienste leisten könne.
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gründet, dass „sozial akzeptiertes und regelgeleitetes Handeln" nicht zugleich strafrechtlich verboten sein könne. Erfülle die Profession eine gesellschaftlich anerkannte Aufgabe und lege sie ihre Handlungsregeln offen, so bestehe die - bei Vorliegen bestimmter Indizien widerlegbare - Vermutung, dass die professionellen Regeln denen des Strafrechts nicht widersprechen, sondern sie vielmehr ergänzen und konkretisieren.18 Abgesehen davon, dass es keineswegs für alle Bereiche beruflicher Tätigkeiten diesbezügliche Handlungsregeln gibt und der Lösungsansatz der professionellen Adäquanz von vornherein die nicht in Ausübung eines Berufes vorgenommenen Alltagshandlungen19 ausspart, ist gegen diese Lehren vor allem der Einwand zu erheben, dass sie die Ambivalenz der Handlungen nicht berücksichtigen: Eine „an sich", das heißt abgesehen von dem mit ihr verfolgten Zweck, neutrale Alltagshandlung kann ja einerseits durchaus ein sozial akzeptiertes, berufstypisches Verhalten darstellen (wie der Verkauf der Waren, die Beratung des Kunden usw.), andererseits aber durch den weiteren Kontext, in den es gestellt wird (Verwendung der Ware zur Ermordung der Schwiegermutter usw.), zugleich außerordentlich sozialwidriges und demzufolge strafrechtlich verbotenes Verhalten bedeuten. 20 In dem Umstand, dass dieses einerseits als Alltagshandlung auftretende Verhalten mit Wissen des Handelnden zugleich zum kausalen Bestandteil einer fremden Deliktsausführung gemacht wird, liegt ja gerade die Problematik der rechtlichen Beurteilung begründet. Die Lehre der sozialen bzw. professionellen Adäquanz kommt daher letztlich über eine Beschreibung des Problems nicht wesentlich hinaus, eine Antwort auf die entscheidende Frage, wann denn in diesen Fällen trotz der Verknüpfung des Verhaltens mit fremder Deliktsverwirklichung noch von einem sozial- bzw. professionell adäquaten und daher straflosen Handeln die Rede sein kann, ermöglicht sie nicht.21 Ein Ansatz zu einer solchen inhaltlichen Umschreibung findet sich bei Ransiek, der eine Beihilfestrafbarkeit unter anderem dann verneinen will, wenn das für die Haupttat kausale Verhalten keinen „spezifischen Tatbezug"
18 Hassemer wistra 1995, 41 ff, 81 ff; Kmffka wistra 1987, 309 (310); Behrwistra 1999, 245 (247 t). 19 So das nachbarschaftliche Ausleihen von Hilfsmitteln, die erkennbar nicht nur zu sozial nützlichen Verrichtungen, sondern auch zu deliktischen Zwecken eingesetzt werden - wie etwa die Axt zur Tötung der Schwiegermutter oder die Schreibutensilien zur Anfertigung der bewusst unrichtigen Steuererklärung. 20 S. dazu auch die überzeugende Kritik von Frisch (Fn 14) S. 296 f; KudlichjZ 2000, 1178 (1179); Ransiek in: Amelung (Hrsg.) Individuelle Verantwortung und BeteiligungsVerhältnisse bei Straftaten in bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, 2000, S. 95 (97f); Roxin FS für Miyazawa, 1995, S. 501 (515). 21 Kritisch insoweit auch Amelung, (Fn 8) S. 9 (10f); Otto FS für Lenckner, 1998, S. 193 (201 f); Weigend(Fn 2) S. 197 (200ff).
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aufweise.22 Diese noch als sozialadäquat einzustufende Voraussetzung sei etwa immer dann anzunehmen, wenn „der fördernde Beitrag sowohl deliktischen als auch nichtdeliktischen Zwecken dienen soll, der Sinnbezug der Förderungshandlung also nicht ausschließlich deliktisch geprägt ist."23 Auch dieser Ansatz ist allerdings nicht unerheblichen Einwänden ausgesetzt: So ist schon die abschließende Bewertung, dass bei zwei widersprüchlichen Wertungen desselben Verhaltens die Förderungshandlung insgesamt als erlaubt und nicht pflichtwidrig anzusehen sei, keineswegs selbstverständlich.24 Vor allem aber gilt auch hier der bereits oben genannte Einwand der Ambivalenz, der eine Abgrenzung danach, ob der fördernde Beitrag ausschließlich deliktischer Nutzung oder aber zwangsläufig auch nichtdeliktischer Zweckförderung dient (gemischt legale und illegale Nutzung), von vornherein als wenig erfolgversprechend erscheinen lässt. Schon theoretisch lässt sich nahezu jeder Tatbeitrag vom Haupttäter sowohl für deliktische als auch für nichtdeliktische Zwecke nutzen. Auch zeigen die von Ransiek angeführten Beispiele,25 dass es letztlich immer nur eine Frage des Abstraktionsgrades bzw. der Aufsplitterung des Gesamtgeschehens ist, ob man in der Nutzung des Beitrages gerade bei oder in der Verwendung durch den Täter für die Straftat gleichzeitig und zwangsläufig auch eine nichtdeliktische Verwendung sehen kann. Das ist freilich auch nicht verwunderlich, denn in dieser Ambivalenz, das heißt in dem Umstand, dass der fördernde Beitrag jedenfalls objektiv sowohl deliktischen als auch nichtdeliktischen Zwecken „dient", liegt ja gerade die eigentliche Problematik der sogenannten neutralen Beihilfe begründet.
IV. Zur Abgrenzung nach der Intensität des Vorsatzes Die heute sowohl in der Rechtsprechung als auch in weiten Teilen des Schrifttums wohl überwiegende Meinung versucht, die Frage der Beihilfestrafbarkeit von der Intensität des Vorsatzes abhängig zu machen, indem bei dolus eventualis des Handelnden entweder schon generell Straflosigkeit
22 Ransiek (Fn 20) S. 95 (101 ff); ders. wistra 199^ 41 (45f). Dabei handelt es sich allerdings nur um eines von mehreren Kriterien, mit denen Ransiek unter dem Sammelbegriff der Pflichtwidrigkeit die Strafbarkeit der neutralen Beihilfe abzugrenzen sucht. 23 Runsiek (Fn 20) S. 95 (102). 24 Bei unbefangener Betrachtung dürfte sogar die umgekehrte Gesamtwertung näher liegen. S. zur Kritik auch Amelung (Fn 8) S. 9 (13f). 25 Ransiek (Fn 20) S. 95 (102f). Schwer nachvollziehbar erscheint insbes., wieso etwa die Verwendung eines Teils des Arbeitslohns zum Kauf einer Mordwaffe insoweit eine ausschließlich deliktische Zweckverwendung darstellen, die Auszahlung des Arbeitslohns daher strafbare Beihilfe sein soll!
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angenommen wird 26 oder aber die Förderungshandlung grundsätzlich als erlaubtes Risiko bewertet wird, solange nicht auf Seiten des Haupttäters „erkennbare Tatgeneigtheit" vorliegt 27 bzw. der Handelnde „konkrete Anhaltspunkte" für die Förderung einer fremden Straftat hat. 28 Der BGH kombiniert die letztgenannten Abgrenzungskriterien, indem er das Handeln mit bedingtem Vorsatz regelmäßig noch nicht als strafbare Beihilfehandlung beurteilen will, „es sei denn, das von ihm erkannte Risiko strafbaren Verhaltens des von ihm Unterstützten war derart hoch, dass er sich mit seiner Hilfeleistung die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein ließ." 29 Dass eine derartige Grenzziehung nach der Intensität des Vorsatzes schon im älteren Schrifttum vorherrschte und auch heute wieder an Anhängern gewinnt, dürfte wohl am ehesten aus ihrer Ubereinstimmung mit einem spontan empfundenen Rechtsgefühl resultieren: Die Konsequenz der Beihilfestrafbarkeit wird vor allem dann als unangemessen empfunden, wenn der Handelnde die spätere deliktische Ausnutzung seines Tatbeitrages durch einen Dritten lediglich konkret für möglich hält, während man im umgekehrten Fall, in dem der Handelnde von der späteren Straftatbegehung sichere Kenntnis hat, schon eher die Erwartung hegt, dass er sich einer solchen Mitwirkung verweigert. Schon auf den zweiten Blick jedoch erweist sich dieses Rechtsgefühl als trügerisch und die Konzeption einer subjektiven Abgrenzung als nicht haltbar.
1. Das trügerische
Rechtsgefühl
Das nach dem Rechtsgefühl reagierende Pendel dürfte auch unabhängig von der Intensität des Vorsatzes um so eher in Richtung Strafbarkeit ausschlagen, je schwerer die vom Haupttäter drohende und vom Unterstützenden in Kauf genommene Rechtsgutsverletzung ist: so z.B., wenn der Handelnde konkret und ernstlich für möglich hält, dass das von ihm verkaufte Rattengift zur Tötung eines oder gar mehrerer Menschen eingesetzt werden soll, oder wenn der die Einlassschranke des Kernkraftwerkes öffnende Pfört26
So schon das ältere Schrifttum: L. v. Bar Gesetz und Schuld im Strafrecht, Bd. 2, 1907, S. 693; Kitka (Fn 7) S. 61 ff; A. Köhler Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 191^ S. 530; ebenso Schild Trappe Harmlose Gehilfenschaft?, 1995, S. 163ff, 166ff; mit Einschränkungen auch Otto J Ζ 2001, 436 (444); ders. (Fn 21) S. 193 (215). In diese Meinungsgruppe ist letztlich auch Ransiek einzuordnen, der die Problematik zwar im „objektiven Beihilfeunrecht" angesiedelt wissen möchte, jedoch die von ihm für die Strafbarkeit der Beihilfe vorausgesetzte Pflichtwidrigkeit unter anderem (s. o. Fn 22) immer dann verneint, wenn „für den Fördernden nicht hinreichend sicher ist, dass eine vorsätzliche, rechtswidrige Haupttat begangen wird" (s. Ransiek [Fn 20] S. 99f, 104). 27 So Roxin (Fn 20) S. 501 (516f); LK-Roxin (Fn 2) § 27 Rn 21. 28 So Amelung (Fn 8) S. 9 (22 ff). 29 BGH NJW 2000, 3010 (3011); s. a. BGHR StGB § 27 Abs 1 - Hilfeleisten N r 20, S. 1 f; BGH NStZ 2000, 34.
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ner aufgrund entsprechender Vorankündigungen des Sicherheitsingenieurs ernsthaft damit rechnet und sich damit abfindet, dass dieser durch gezielte Sabotage der Sicherheitseinrichtungen ein Massensterben auslösen wird. 2. Die Unabänderlichkeit des subjektiven Beihilfetatbestandes Der subjektive Lösungsansatz kann sachlogisch nicht begründen, weshalb der in der Intensität zwar geringere, aber eben sowohl für den Täterais auch für den Gehilfenvorsatz ohne weiteres ausreichende dolus eventualis in diesen Fallkonstellationen keine Strafbarkeit auslösen können soll. Führt die Würdigung des konkreten Sachverhalts zu dem Ergebnis, dass der Handelnde - ungeachtet der unterschiedlichen Anforderungen an das Vorliegen des dolus eventualis - sowohl bezüglich seines kausalen Tatbeitrages als auch bezüglich der Vollendung der Haupttat zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt hat, so gibt es an dem Vorliegen des subjektiven Beihilfetatbestandes nichts zu deuteln. Der Umstand, dass er dabei im Übrigen - das heißt unter Ausblendung der gleichzeitigen deliktischen Verknüpfung - nur einen alltäglichen Geschäftsvorgang vollzogen hat, ändert an diesem Befund nichts. Auch in den Fällen normaler Beihilfe kann sich der Gehilfe nicht darauf berufen, dass sein Tun abgesehen vom deliktischen Bezug durchaus neutral oder sogar sozial wertvoll zu bewerten sei: Die Mitnahme eines auf einsamer Straße im Regen stehenden Passanten im Pkw ist grundsätzlich ein Akt sozialer Hilfeleistung, sie ist es aber dann nicht mehr, wenn sie allein oder auch zu dem Zweck erfolgt, diesem Passanten die Durchführung eines geplanten Raubes zu ermöglichen.
3. Zweifelhafte Einschränkungen der subjektiven Abgrenzung Dass sich die für die Beihilfestrafbarkeit maßgebliche Trennlinie nicht zwischen bedingtem und direktem Vorsatz ziehen lässt, zeigen auch die von einzelnen Befürwortern einer solchen Trennlinie unternommenen Versuche, die Straffreiheit bei bedingtem Vorsatz auf die Inkaufnahme eines nur „generellen Risikos" zu beschränken 30 oder sie bei „erkennbarer Tatgeneigtheit" des Dritten auszuschließen. 31 Untersucht man diese Einschränkungskriterien genauer, so zeigt sich alsbald, dass sie im Grunde schon die Annahme eines dolus eventualis ausschließen, also das zuvor aufgestellte Postulat der prinzipiellen Straffreiheit von Alltagshandlungen bei nur bedingtem Vorsatz letztlich wieder aufheben. Denn trotz der erheblichen Meinungsunterschiede über die Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und 30 51
So Amelung (Fn 8) S. 9 (22 ff). So Roxin (Fn 20) S. 501 (516f); LK-Roxin (Fn 2) § 27 Rn 21; ebenso BGHSt 46, 107
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bewusster Fahrlässigkeit lässt sich der in der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre anerkannte Grundgehalt des bedingten Vorsatzes dahingehend zusammenfassen, dass der Täter sich auch durch die naheliegende Möglichkeit des Erfolgseintritts nicht von der Tatausführung hat abhalten lassen und sein Verhalten den Schluss rechtfertigt, dass er sich um des von ihm erstrebten Zieles willen mit dem Risiko der Tatbestandsverwirklichung abgefunden hat, er also die Gefahr ernst genommen und die Möglichkeit ihrer Realisierung in seinen Verwirklichungswillen einbezogen hat. 32 Selbst nach der weitesten Auffassung - der heute noch vertretenen sogenannten Möglichkeitstheorie - wird für den bedingten Vorsatz vorausgesetzt, dass der Täter sich im entscheidenden Handlungsaugenblick der konkreten Möglichkeit der Rechtsgutsverletzung bewusst ist, womit die Vorstellung bloß abstrakter Gefahren gerade ausgeschlossen wird. 33 An einer solchen naheliegenden Möglichkeit des Erfolgseintritts fehlt es aber dann, wenn der Handelnde keine konkreten Anhaltspunkte für die Begehung einer Straftat hat, sondern lediglich die generellen Risiken des von ihm betriebenen Geschäfts, die abstrakte Gefährlichkeit, in Kauf nimmt. 34 Dem Verkäufer eines Küchenmessers, der sich ohne Bezugnahme auf konkrete Anhaltspunkte lediglich sagt, „realistischerweise könne er nicht ausschließen, dass dieses nicht nur zum Schälen von Kartoffeln, sondern zum Einstechen auf einen Menschen verwendet werde," 35 wird man schwerlich einen bedingten Beihilfevorsatz zum Totschlag anlasten können. Und an einem bedingten Vorsatz in dem Sinne, dass der Täter mit der Möglichkeit einer Tatbestandsverwirklichung ernstlich rechnet und bei einem Handeln trotz dieses Risikobewusstseins sich gegen das durch den betreffenden Tatbestand geschützte Rechtsgut entscheidet, 36 fehlt es auch dann, wenn das von Roxin zur Einschränkung der Strafbarkeit herangezogene Kriterium „erkennbarer Tatgeneigtheit" nicht gegeben ist, denn zur Begründung einer solchen Tatgeneigtheit „bedürfte es konkreter Anhaltspunkte, die die Wahrscheinlichkeit eines deliktischen Verwendungszweckes nahe legen." 37 So wenig aber wie ein auf subjektiven Eindrücken beruhen32 S. dazu nur die Zusammenfassung bei Roxin AT 1, 3. Aufl 1997, § 12 Rn 66f sowie bei Wessels/Beulke (Fn 16) Rn 223 f. 33 S. dazu nur die Darstellung und Nachw. bei Hillenkamp (Fn 9) S. 2f; Kühl Strafrecht AT, 3. Aufl 2000, § 5 Rn 62 f; Roxin AT 1 (Fn 32) § 12 Rn 38 ff; Wessels/Beulke (Fn 16) Rn 21Z 34 Zur Parallele zwischen den Begriffen der abstrakten und konkreten Gefahr einerseits und der bewussten Fahrlässigkeit und des Eventualvorsatzes andererseits s. Kübl(Fn 33) § 5 Rn 62 ff mwN. 3 5 So das Beispiel von Amelung (Fn 8) S. 9 (23). 36 So die Kennzeichnung des bedingten Vorsatzes von Roxin AT 1 (Fn 32) § 12 Rn 22 f. Dass ein solches „Ernstnehmen" der Erfolgsmöglichkeit mit dem o. g. Bewusstsein einer konkreten Möglichkeit der Erfolgsherbeiführung im Wesentlichen übereinstimmt, betont auch Roxin (Fn 32) § 12 Rn 40. 37 So Roxin (Fn 20) S. 501 (516).
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des „verdächtiges Aussehen" zur Begründung erkennbarer Tatgeneigtheit genügt, 38 so wenig genügt eine allgemeine, nicht auf konkrete Anhaltspunkte gestützte Vorstellung von einer möglichen Straftatbegehung zur Begründung eines bedingten Beihilfevorsatzes. Die Frage der Strafbarkeit neutraler Beihilfe würde sich daher schon aus diesem Grunde gar nicht stellen. 4. Der unberechtigte Vertrauensvorschuss Auch der Versuch, den subjektiven Lösungsansatz mit dem objektiven Kriterium der Zurechnung zu verknüpfen, indem der nur mit dolus eventualis Handelnde grundsätzlich 39 auf das normgerechte Verhalten Dritter soll vertrauen dürfen, 40 überzeugt nicht. Denn wenn aufgrund der festgestellten Umstände bedingt vorsätzliches Handeln bejaht werden muss, lässt sich plausibel nicht erklären, warum der Handelnde auf die Nichtbegehung der Haupttat prinzipiell soll vertrauen dürfen, wo er doch gerade die Gefahr dieser Deliktsbegehung ernst genommen und sich mit dem Risiko der Tatbestandsverwirklichung abgefunden, also gerade nicht im Sinne bloßer Fahrlässigkeit auf ihr Ausbleiben vertraut hat. 41 Dass hier die Förderungshandlung noch im Rahmen des durch den Vertrauensgrundsatz geschaffenen erlaubten Risikos liegen soll, also das für alle sonstigen Täter und Gehilfen geltende Maß an erlaubtem Risiko allein wegen der Vorsatzintensität grundlegend anders bestimmt werden müsste und damit die anerkannten Grenzen zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit nachhaltig verschoben werden müssten, wird man dogmatisch schwerlich begründen können. 4 2 Zudem erscheint es wertungswidersprüchlich, dem bedingt vorsätzlich Handelnden bereits bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte den Vertrauensgrundsatz zu versagen und ihn zur Unterlassung selbst neutraler Handlungen zu verpflichten, bei sicherer Kenntnis vom Deliktsentschluss des Täters dagegen strafbare Beihilfe erst bei einem eindeutigen „deliktischen Sinnbezug" anzunehmen, wenn also der Beitrag für den Täter nur unter der Voraussetzung der geplanten Straftat von Wert sei und der „Beiträger" dies auch wisse. 4 3 Roxin aaO. D.h. keine Geltung des Vertrauensgrundsatzes bei „erkennbarer Tatgeneigtheit" (s.o. bei Fn 31). 40 So Roxin (Fn 20); LK-Roxin (Fn 2) § 27 Rn 21; ebenso Ambos]A 2000, 721 (724); Tag JR 1997, 49 (55f); Wohlleben Beihilfe durch äußerlich neutrale Handlungen, 1996, S. 120ff. 41 Zu Recht kritisch gegenüber der Berufung auf den Vertrauensgrundsatz auch Amelung (Fn 8) S. 9 (18f). 42 Kritisch insoweit auch Niedermair ZStW 107 (1995), 507 (533f); Otto (Fn 21) S. 193 (209f); A. Schröder Die personelle Reichweite öffentlich-rechtlicher Genehmigungen und ihre Folgen für das Umweltstrafrecht, 2000, S. 149; Weigend (Fn 2) S. 197 (199f). 4 3 So Roxin (Fn 20) S. 501 (513ff); ders. FS für Stree und Wessels, 1993, S. 365 (378ff); UL-Roxin (Fn 2) § 27 Rn 16 ff. 38
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Eine Abgrenzung der Problemfälle nach der Intensität des Vorsatzes erweist sich nach alledem als dogmatisch nicht begründbar und auch in den Ergebnissen als nicht überzeugend.
V. Die Abgrenzung nach den Kriterien der objektiven Zurechnung 1. Die Deliktskategorie der objektiven Zurechnung als dogmatischer Anknüpfungspunkt Akzeptiert man mit der heute ganz überwiegenden Auffassung in den Fällen sogenannter Alltagshandlungen grundsätzlich die Notwendigkeit einer Einschränkung der Beihilfestrafbarkeit, 44 so erscheint es für die Beantwortung der weiteren Frage nach dem Wie bzw. nach den Grenzen der Einschränkung sinnvoll, sich noch einmal den entscheidenden Unterschied zwischen den hier zu untersuchenden Problemfällen und den „normalen" Beihilfe-Konstellationen 45 zu vergegenwärtigen. Da dieser Unterschied, wie gezeigt, weder in der Kausalität für die durch den Haupttäter verwirklichte Rechtsgutsverletzung noch in einer unterschiedlichen Intensität des Vorsatzes zu finden ist und auch nicht ausschließlich mit der Ambivalenz solcher Unterstützungshandlungen erklärt werden kann, kann die Lösung nur bei einer der anderen Deliktskategorien gesucht werden. Die Bedenken gegen eine Kriminalisierung derartiger Alltagshandlungen rühren vor allem daher, dass der Handelnde hier nicht wie der typische Gehilfe aus Anlass einer Rechtsgutsverletzung aktiv wird und schon dadurch die Verbotsnorm des § 27 StGB missachtet, sondern zunächst einmal nur „seinen Job macht", genauer: eine für sich gesehen neutrale oder sogar sozial erwünschte Handlung vornimmt, die lediglich von einem eigenverantwortlich handelnden Dritten zur Begehung einer Straftat ausgenutzt wird. Anders als die typischen Beihilfehandlungen, die wegen ihrer deliktischen Finalität von vornherein zwingend einen deliktischen Sinnbezug aufweisen, werden die zur Straftatbegehung ausgenutzten Alltagshandlungen nur dadurch „anrüchig", dass der Handelnde diese Ausnutzung kennt oder sie jedenfalls ernsthaft für möglich hält. Fraglich ist nun aber, ob diese „Anrüchigkeit" ausreicht, um den Handelnden für die deliktische Ausnutzung bzw. Verknüpfung, die erst durch einen eigenverantwortlich handelnden Vorsatztäter herbeigeführt wird, strafrechtlich verantwortlich zu machen, das heißt ihm dieses Verhalten schon objektiv als „sein Werk" im Sinne einer mittelbaren Rechtsgutsverletzung zuzurechnen. Damit wird deutlich, dass 44
S.o. unter II. TagjK 1997, 49 (55) spricht hier anschaulich von „geborenen" (im Unterschied zu den „gekorenen") Beihilfehandlungen. 45
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der Kern der Problematik auf der Ebene der objektiven Zurechnung angesiedelt ist. Lässt sich hinsichtlich der Lozierung des Problems im Grundsatz noch eine bemerkenswerte Ubereinstimmung konstatieren, 46 so sind die daraus zu ziehenden Konsequenzen gleichwohl heftig umstritten. Dass sich die für die Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte entwickelten Zurechnungskriterien nicht unbesehen auf die Teilnahmestrafbarkeit übertragen lassen, wird schon daran deutlich, dass die heute allgemein anerkannte Zurechnungsregel, wonach eigenverantwortliches Handeln die Zurechnung des dadurch bewirkten Erfolges zum Hintermann regelmäßig ausschließt, für die Teilnahme im Sinne der §§ 2 6 , 2 7 StGB nicht gelten kann, da diese Normen den Teilnehmer unbestreitbar gerade für die Erfolge verantwortlich machen, für die ein anderer die täterschaftliche Verantwortung zu tragen hat. 47 Das schließt allerdings eine grundsätzliche Anwendung der Regeln der Zurechnungslehre auf die Teilnahmestrafbarkeit nicht aus, sondern bedeutet lediglich, dass diese Regeln zugleich dem Strafgrund der Teilnahme Rechnung tragen müssen. 48 Kein Zweifel dürfte zunächst an dem Vorliegen der ersten Zurechnungsvoraussetzung, der kausalen Risikosteigerung, 49 bestehen. Denn der Umstand, dass der Haupttäter die erforderliche Hilfe auch auf legale Weise hätte besorgen können bzw. dass ein hypothetischer Kausalverlauf zum gleichen Erfolg geführt hätte, ändert nichts an dem tatsächlichen und insoweit ausreichenden Befund, dass das jeweilige Alltagsverhalten im konkreten Einzelfall die Begehung der jeweiligen Straftat jedenfalls erst ermöglicht hat. 50 Damit konzentriert sich die Zurechnungsprüfung auf die zweite Voraussetzung der objektiven Zurechnung: die Schaffung einer rechtlich missbilligten Gefahr. 2. Neutrale Beihilfe als Schaffung einer rechtlich missbilligten Gefahr? Unter dem für den objektiven Tatbestand vorausgesetzten Kriterium der rechtlich missbilligten Gefahr - teilweise auch als unerlaubte oder rechtlich relevante Gefahrschaffung bezeichnet - versteht die heutige Zurechnungslehre die durch das Verhalten des Täters geschaffene, nicht durch ein erlaubtes Risiko gedeckte Gefahr für das geschützte Rechtsgut. Sie schließt damit 4 6 Eine Auflistung der zahlreichen Anhänger der „Zurechnungslösung" findet sich bei Hillenkamp (Fn 9) S. 175ff; s.a. LK-Roxin (Fn 2) § 27 Rn 22; ausdrücklich ablehnend aber z . B . Amelung (Fn 8) S. 9 (14ff) sowie Otto (Fn 21) S. 193 (214f). 4 7 Darauf verweist zu Recht Amelung (Fn 8) S. 9 (16). 4 8 Treffend dazu LK-Roxin (Fn 2) § 26 Rn 5: „... die Zurechnung zur Teilnahme, für die deren „Strafgrund" das Kriterium liefert, muss den allgemeinen Grundsätzen der Zurechnungslehre entsprechen"; s.a. LK-Roxin § 27 Rn 22. 4 9 S. dazu nur Roxin AT 1 (Fn 32) § 11 Rn 49 f. 50 Überzeugende Kritik an solchen Einschränkungsversuchen bei Amelung (Fn 8) S. 9 (14f); Jakobs (Fn 2) 7/92ff; Roxin AT 1 (Fn 32) § 11 Rn 52ff; Schönke/Scbröder-Lenckner 26. Aufl 2001, Vorbem. §§ 13 ff Rn 97
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schon auf der Tatbestandsebene unter anderem solche Fallgestaltungen aus, in denen - wie etwa bei der Teilnahme an dem trotz seines hohen Gefährdungspotentials generell erlaubten Straßenverkehr oder wie in den bekannten Schulfällen des in der Hoffnung auf einen tödlichen Ausgang ins Gewitter oder auf eine Flugreise geschickten Opfers - der Täter nur „normale Lebensrisiken" verursacht, er das Risiko für das geschützte Rechtsgut also nicht gerade unter Verstoß gegen den Schutz dieses Rechtsguts bezweckende strafrechtliche Verhaltensnormen geschaffen hat. 51 Fraglich ist nun freilich, wie das - im Einzelnen ohnehin schwer bestimmbare - Zurechnungskriterium der rechtlich missbilligten Gefahr bei der Teilnahmeform der Beihilfe inhaltlich auszufüllen ist. Diese Frage wird man naheliegenderweise vorrangig unter Rückgriff auf den Strafgrund der Beihilfe beantworten müssen. Kriterien für eine Einschränkung der Beihilfestrafbarkeit in den Fällen der alltäglichen Geschäftsvorgänge lassen sich also nur aus einem Zusammenspiel des Strafgrundes der Teilnahme mit den allgemeinen Zurechnungsgrundsätzen gewinnen. 52 Aus der Notwendigkeit eines solchen Zusammenspiels folgt zunächst, dass allein der Hinweis auf unterschiedliche Verantwortungsbereiche, auf Sphären eigenverantwortlichen Handelns, eine Einschränkung der Beihilfestrafbarkeit nicht zu begründen vermag, da die Teilnahmevorschriften die Verantwortung insoweit gerade eröffnen. 53 Jedoch trifft diese Verantwortung den Teilnehmer nicht unbeschränkt. D.h., die allgemeine Zurechnungsregel, nach der eigenverantwortliches Handeln die Zurechnung des dadurch bewirkten Erfolges zum Hintermann grundsätzlich ausschließt, ist für Tatbeteiligte nur insoweit eingeschränkt, als sie in spezifischer Weise an dem eigenverantwortlichen Handeln eines anderen mitwirken, nämlich nur unter den einzelnen Voraussetzungen der vom Gesetz normierten Tatbeteiligung: der Anstiftung oder Beihilfe, der Mittäterschaft oder auch der mittelbaren Täterschaft. Notwendig ist daher die Ermittlung dieser spezifischen Beihilfevoraussetzungen. a) Schaffung einer rechtlich missbilligten Gefahr durch Solidarisierung mit dem Haupttäter Ebenso wie nach heute überwiegender Meinung 54 sich die Anstiftungshandlung nicht in einer bloßen Verursachung des Tatentschlusses auf Seiten des Haupttäters erschöpft, sondern darüber hinaus eine kollusive geistige 51 Zu den Schwierigkeiten einer präzisen Definition und zur Umschreibung mit Hilfe verschiedener Fallgruppen s. nur Kühl (Fn 33) § 4 Rn 43 ff; Roxin AT 1 (Fn 32) § 11 Rn 42 ff, 47ff; SKStGB-Rudolphi (Fn 15) Vor § 1 Rn 62ff - jeweils m. zahlr. Nachw. 52 S. dazu schon oben Fn 48. 53 S. dazu schon oben bei Fn 47. 54 Vgl nur LK-Roxin (Fn 2) § 26 Rn 3; weitere Nachw. zum Meinungsstand bei Hillenkamp (Fn 9) S. 144 ff.
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Kommunikation zwischen Anstifter und Haupttäter verlangt, kann auch für den objektiven Tatbestand der Beihilfe die kausale Risikosteigerung allein nicht ausreichen. Das hängt damit zusammen, dass der Strafgrund der Teilnahme nach den heute verbreiteten Auffassungen nicht nur in der mittelbaren Herbeiführung einer Rechtsgutsverletzung, also im akzessorischen Rechtsgutsangriff, zu sehen ist, sondern auch in dem durch die Solidarisierung mit dem Täter zum Ausdruck kommenden Handlungsunrecht. 55 Während hinsichtlich der mittelbaren Rechts guts Verletzung ein Unterschied zwischen unseren Problemfällen und den „normalen" Beihilfe-Fällen nicht erkennbar ist, ist die Situation im Hinblick auf den zweiten Aspekt des Strafgrundes der Teilnahme durchaus anders: Im Gegensatz zu den Normalfällen, in denen der Gehilfenbeitrag seinen Sinn allein aus der Unterstützung der Haupttat erfährt und die Solidarisierung daher auch schon allein durch die Vornahme eben dieser Handlung dokumentiert wird, fehlt es an einer solchen deliktischen Finalität in den Fällen des neutralen Alltagsverhaltens . Solange der Handelnde sich auf die Vornahme des alltäglichen Geschäftsvorgangs beschränkt - wenn auch im Wissen um die (sichere oder mögliche) Ausnutzung seines Beitrages zur Deliktsverwirklichung - , schlägt er sich noch nicht auf die Seite des Täters. Der soziale Handlungssinn seines Verhaltens liegt hier nicht in einer Kollusion mit dem Haupttäter, sondern (jedenfalls primär) in der Ausübung des Alltagsverhaltens. Erst wenn der Handelnde über seine neutrale bzw. berufstypische Handlung hinausgeht, 56 bekommt sein Verhalten ein durchaus anderes Gepräge, es steigert sich zu einer das Beihilfeunrecht konstituierenden Solidarisierung mit dem Täter. Unter Solidarisierung in diesem Sinne ist hier somit nicht die nur innere Zustimmung des Gehilfen zu verstehen, sondern ein nach außen dokumen55 S. dazu insbes. Kühl (Fn 33) § 20 Rn 132 mwN sowie Schumann Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung der Anderen, 1986, S. 49ff. In der Diskussion über die Strafbarkeit neutraler Beihilfehandlungen wird der Solidarisierungsaspekt von einzelnen Autoren teils ausdrücklich, teils zumindest der Sache nach zur Abgrenzung herangezogen (s. dazu die Nachw. bei Hillenkamp [Fn 9] S. 176); grundsätzlich kritisch insoweit allerdings Amelung (Fn 8) S. 9 (12 f) sowie LK-Roxin (Fn 2) Vor § 26 Rn 19 ff. Auffallend ist, dass auch der BGH trotz seiner Affinität zur subjektiven Abgrenzung in seinen neuesten Entscheidungen jedenfalls unter anderem ausdrücklich auf den Aspekt der Solidarisierung abstellt (BGH NJW 2001, 2409, 2410; NJW 2000, 3010, 3011 sowie NStZ 2000, 34). 56 Also nicht nur einen standardisierten Beitrag bereithält, der vom Kunden lediglich abgerufen wird (so treffend Löwe-Krahl Steuerhinterziehung bei Bankgeschäften, 2000, S. 41 f, 46). Vgl hierzu auch die Parallele bei der sog. notwendigen Teilnahme, die den Teilnehmer nur insoweit straflos lässt, als er sein Verhalten auf das zur Verwirklichung des Delikts begrifflich Notwendige beschränkt (vgl dazu nur Schönke/ Schröder- Cramer/Heine [Fn 50] Vorbem. §§ 25ff Rn 46 mwN).
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tiertes „kollusives" Verhalten,57 das sich in den „geborenen" Beihilfe-Fällen schon unmittelbar und allein aus der Vornahme einer Handlung mit ausschließlich deliktischem Sinnbezug ergibt, bei den sog. Alltagshandlungen dagegen erst daraus, dass die neutrale Handlung überschritten wird - sei es durch eine zusätzliche physische Förderung, sei es durch eine über die berufsmäßige Handlung hinausgehende psychische Unterstützung des Haupttäters. 58 Die Konkretisierung des Zurechnungskriteriums der rechtlich missbilligten Gefahr durch den aus dem Strafgrund der Beihilfe abgeleiteten Solidarisierungsaspekt steht der Sache nach auch in Ubereinstimmung mit den in weiten Teilen des Schrifttums und auch in der neueren BGH-Rechtsprechung zur Eingrenzung herangezogenen Kriterien des „deliktischen Sinnbezugs" bzw. der „Einpassung in den deliktischen Plan."59 Der hier vertretene Ansatz dürfte aber gegenüber diesen Kriterien dadurch an Konturen gewinnen, dass er zum einen diesen Aspekt nicht - wie es zumeist geschieht - mit dem Kriterium der Vorsatzintensität vermengt und er zum anderen deutlich macht, worin ein solcher das neutrale, alltägliche Verhalten in das Beihilfeunrecht katapultierender „deliktischer Sinnbezug" besteht: nämlich in einer zusätzlichen, d.h. über dieses Verhalten hinausgehenden physischen Förderung oder psychischen Unterstützung. 60 Erst wenn der Handelnde die Grenze des neutralen bzw. berufstypischen Verhaltens in dieser Weise überschreitet, schafft er eine i. S. d. § 27 StGB rechtlich missbilligte Gefahr und leistet daher eine ihm zurechenbare Beihilfe. 57 Ebenso Wohlers NStZ 2000, 169 (173): „Manifestation eines deliktischen Unterstützungswillens." 58 Diese aus dem Solidarisierungsaspekt des Strafgrundes der Teilnahme hergeleitete Abgrenzung findet ihre Bestätigung, wenn man auf einen weiteren, ebenfalls in der Strafgrunddiskussion auftauchenden Aspekt abstellt, nämlich auf die „gemeinsame Organisation" als Voraussetzung der Akzessorietät. Danach besteht das erforderliche Teilnahmeverhalten in einem mit dem ausführenden Haupttäter „objektiv gemeinschaftlichen Verhalten", das den Grund für die Zurechnung der durch den Haupttäter vollzogenen Ausführung zum Teilnehmer darstellt (so JakobsGA 1996, 253 [265]; s. a. ders. [Fn 2] 22/7: „Die Ausführung ist wegen der gemeinsamen Sache, die er [sc.: der Gehilfe] mit dem Haupttäter macht, auch sein Werk"). An einer solchen „gemeinsamen Organisation" und damit an dem Grund für die Zurechnung fehlt es gerade dann, wenn der Handelnde sich auf die Vornahme der alltäglichen oder berufstypischen Handlung beschränkt und diese lediglich von einem Dritten zur Begehung einer Straftat ausgenutzt wird. Geht der Handelnde aber in der oben beschriebenen Weise über sein berufsmäßiges Verhalten hinaus, so macht er mit dem Haupttäter „gemeinsame Sache", die Straftat ist dann insoweit „auch sein Werk." 59 S. dazu insbes. Frisch (Fn 14) S. 280ff; Roxin (Fn 20) S. 501 (513ff); ders. (Fn 43) S. 365 (378ff); Wo/WmNStZ 2000, 169 (173f); BGH NJW 2000, 3010 (3011); BGH NJW 2001, 2409 (2410). 60 Zumindest in die Richtung einer solchen Abgrenzung deutet insoweit auch die Grenzziehung von Roxin, der das erlaubte Risiko dann überschritten sieht, „wenn jemand sich die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein lässt" (LK-Λοχί'η [Fn 2] § 27 Rn 1; ähnlich BGH NJW 2000, 3010, 3011).
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b) Rechtliche Missbilligung der Gefahr bei Verletzung gesetzlicher Handlungspflichten Begründet man die Notwendigkeit einer Einschränkung der Beihilfestrafbarkeit in den Fällen neutralen Alltagsverhaltens mit dem in der allgemeinen Handlungs- und Berufsausübungsfreiheit begründeten Interesse an der Vornahme der Handlung, 61 so wird deutlich, dass die Abwägung dieses Interesses nicht nur im Hinblick auf den das Handlungsunrecht der Beihilfe bezeichnenden Strafgrund der Solidarisierung mit dem Haupttäter zu erfolgen hat, sondern auch Bezug nehmen muss auf das in der mittelbar herbeigeführten Rechtsgutsverletzung liegende Erfolgsunrecht. Räumt man also dem Interesse an der Vornahme alltäglicher Geschäftsvorgänge grundsätzlichen Vorrang ein, solange der Handelnde sich dabei nicht mit dem diesen Vorgang zur Begehung einer Straftat ausnutzenden Haupttäter solidarisiert, so schließt das nicht aus, die Ausübung dieser Handlungsfreiheit zusätzlich von weiteren Kriterien abhängig zu machen. Da es hier letztlich um das Spannungsverhältnis zwischen der Handlungsfreiheit des Einzelnen und dem durch das Strafrecht (hier durch § 27 StGB) zu gewährleistenden Rechtsgüterschütz geht, ist ein für die Abwägung relevantes Kriterium auch die Schwere der Rechtsgutsverletzung, die durch die Haupttat und damit auch durch die Beihilfehandlung droht. Die Frage, ob das durch die neutrale Handlung geschaffene Risiko im Sinne der Zurechnungslehre als rechtlich missbilligte Gefahr, als unerlaubtes Risiko, zu werten ist, hängt somit auch von solchen „gesetzlichen Vor-Wertungen"62 ab, die die Handlungsfreiheit der Bürger gerade um des Schutzes überragender Rechtsgüter willen einschränken. Derartige gesetzliche Wertungen enthalten namentlich die Vorschriften der §§ 138, 323c StGB, die zum Schutz bestimmter Rechtsgüter eine Anzeige- bzw. eine Hilfspflicht normieren. 63 Wer also die Begehung einer fremden Straftat lediglich durch Vornahme seiner alltäglichen Handlung ermöglicht, ohne sich dabei in der geschilderten Weise mit dem Täter zu solidarisieren, verursacht gleichwohl eine i. S. d. § 27 StGB rechtlich missbilligte Gefahr, sofern er dabei solche Gefahren schafft, zu deren Reduzierung er aufgrund der §§ 138, 323c StGB gerade verpflichtet ist. Begründet wird der Vorwurf einer zurechenbaren Beihilfehandlung hier nicht allein mit der Vornahme einer - ansonsten tolerierten - Alltagshandlung oder allein mit dem i. S. d. §§ 138, 323c StGB qualifizierten
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S. dazu o. unter II. So treffend Frisch (Fn 14) S. 313. 63 S. dazu die überzeugende Begründung von Frisch (Fn 14) S. 308ff (bes. S. 313ff); ebenso Hefendehl Jura 1992, 374 (377); Meyer-Arndt wistra 1989, 281 ff; Tag JR 1997, 49 ω
Zur Übertragung dieses Ansatzes auf die Begrenzung einer (von ihm grundsätzlich für möglich gehaltenen) Rechtfertigung geschäftlichen Handelns s. Amelung (Fn 8) S. 9 (27ff).
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Unterlassen, sondern erst aus dem Zusammentreffen beider Voraussetzungen, da erst beide Bedingungen zusammen den Tatbestand einer objektiv zurechenbaren Beihilfe erfüllen. 64 Dass das Gesamtverhalten jedenfalls im Ergebnis als strafrechtlich verbotenes Beihilfeunrecht zu werten ist (und nicht etwa in eine straflose Unterstützungshandlung einerseits und ein strafbares Unterlassen andererseits unterteilt werden kann), ergibt sich bereits daraus, dass ansonsten ein eklatanter Wertungswiderspruch entstünde, wenn dem Betroffenen, der unter Strafandrohung verpflichtet ist, das ihm bekannt gewordene Vorhaben einer Straftat anzuzeigen bzw. bei einer durch sie ausgelösten Gefahr Hilfe zu leisten, gleichzeitig die Vornahme einer Handlung erlaubt würde, die dem potentiellen Täter eben diese Straftat ermöglicht oder erleichtert. 65
VI. Zusammenfassung und Überprüfung der Ergebnisse Die hier entwickelten Abgrenzungskriterien sind gewiss nicht gänzlich neu, sie dürften aber gegenüber bisherigen Abgrenzungsversuchen für sich in Anspruch nehmen können, dass sie nicht nur zu einer mit dem Rechtsgefiihl korrespondierenden Lösung der einschlägigen Problemfälle führen, sondern sich auch - ohne Friktionen mit anerkannten Grundsätzen der Strafrechtslehre (insbesondere zum Vorsatz und zum Vertrauensprinzip) auf allgemein anerkannte Regeln der objektiven Zurechnung sowie auf den Strafgrund der Teilnahme zurückführen lassen, 66 und zudem durch die Benennung der hier einschlägigen Voraussetzungen der rechtlich missbilligten Gefahr eine genauere Trennlinie zwischen straflosem Alltagsverhalten und strafbarem Beihilfeunrecht ermöglichen.
1. Zur Plausibilität
der Ergebnisse
So ist zunächst die Strafbarkeit eines äußerlich alltäglichen Geschäftsvorgangs (z.B. Taxifahrt, Verkauf eines Brötchens usw.) jedenfalls dann unmit6 4 Da hier wie in allen Beihilfefällen die Beihilfehandlung selbst aus der kausalen Risikoschaffung hergeleitet und lediglich die weitere Zurechnungsvoraussetzung der rechtlich missbilligten Gefahr durch Rückgriff auf die Wertung der §§ 138, 323c StGB beurteilt wird, ist der vereinzelt erhobene Einwand, dass aus diesen Unterlassungsvorschriften kein tatbestandsmäßiges Handeln im Sinne der Erfolgsdelikte abgeleitet werden könne, nicht begründet (ausführliche und überzeugende Entkräftung dieses Einwands bei Irisch [Fn 14] S. 320ff). 6 5 Ebenso Frisch (Fn 14) S. 314. - Verletzt der Handelnde als Garant eine Erfolgsabwendungspflicht, so ist seine (Unterlassungs-)Strafbarkeit (sei es als Täter, sei es als Gehilfe) von vornherein unproblematisch. 66 So auch der Anspruch von Roxin (Fn 20) S. 501 (516f); LK-Roxin (Fn 2) § 27 Rn 22; zur Umsetzung dieses Anspruchs s. allerdings einschränkend o. unter IV. 4.
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telbar einleuchtend, wenn dieses Verhalten die Begehung eines Mordes oder einer anderen, in § 138 StGB aufgeführten, schweren Straftat ermöglicht oder erleichtert. 67 Sie ist es aber dann nicht mehr, wenn der normale Geschäftsvorgang zur Begehung einer weniger schwerwiegenden Straftat ausgenutzt wird. Zwar ist auch eine solche Unterstützungshandlung moralisch verwerflich, sie ist gleichwohl bei Gesamtabwägung aller Interessen nicht in dem Maße sozialschädlich, dass sie unter Strafandrohung verboten werden müsste. Denn ein solches Verbot würde hier - anders als bei den besonders gewichtigen Straftaten und auch anders als bei den „geborenen" Beihilfehandlungen - die grundrechtlich geschützte Handlungs- und Berufsausübungsfreiheit in sozial unerträglicher Weise einschränken. Solange der Handelnde sich auf die Vornahme seines alltäglichen Geschäftsvorgangs (Taxifahrt, Verkauf von Waren, Lieferung von Materialien usw.) beschränkt, 68 hat der Gesetzgeber offenbar die freie Ausübung solcher Tätigkeiten als höherrangig beurteilt und prinzipiell keinen Anlass gesehen, der Gefahr eines Missbrauchs durch Beschneidung der Handlungsfreiheit - wie bei der Gefährdung besonders hochrangiger Rechtsgüter bzw. bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr - vorzubeugen. Ebenso einleuchtend und konsequent erscheint die Beurteilung der sog. Alltagshandlung als strafbare Beihilfe aber auch dann, wenn der Handelnde diesen Freiraum überschreitet, indem er sich mit dem späteren Straftäter solidarisiert, er also - in Kenntnis der sicheren oder ernstlich möglichen Förderung einer fremden Straftat - über die neutrale bzw. berufstypische Handlung hinausgeht und so die fremde Straftat durch Tat (physische Beihilfe) oder Rat (psychische Beihilfe) unterstützt. Wer als Verkäufer dem Dieb für das an ihn verkaufte Werkzeug noch eine möglichst unauffällige Verpackung zur Verfügung stellt, wer als Taxifahrer den Hehler zu einem als Hehlerumschlagplatz bekannten Ort fährt und dabei auf die zur Zeit fehlende Polizeikontrolle oder auf die überraschend große Präsenz potentieller Abnehmer hinweist, wer im Rahmen seiner betrieblichen Tätigkeit beim Aufladen der für die Hausmülldeponie vorgesehenen Fässer den Fahrer, der dort zugleich einige Fässer Sondermüll loswerden will, durch „Ubersoll" (ζ. B. durch Unkenntlichmachen der aufgeklebten Warnhinweise oder durch Empfehlung eines Schleichweges) unterstützt - der verlässt in all diesen Fällen durch sein überobligationsmäßiges Verhalten den Boden der „Neutralität". Sein Verhalten verliert den Charakter eines alltäglichen Geschäftsvorgangs, einer normalen berufsmäßigen Handlung, und muss sich daher zwangsläufig den Regeln der allgemeinen Beihilfestrafbarkeit unterwerfen. 67 So will denn auch Rudolphi FS für Lackner, 1987, S. 863 (869) von der von ihm vertretenen Verantwortungsbegrenzung in Produktionsketten eine Ausnahme für „extreme Fälle" machen, ζ. B. bei der Einleitung lebensgefährlicher Abwässer. 68 Zur Frage, wie die Grenze des noch neutralen bzw. berufstypischen Verhaltens zu markieren ist, s. nachfolgend unter 2.
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2. Maßstäbe zur Abgrenzung des neutralen bzw. berufstypischen Verhaltens Festzuhalten ist zunächst, dass die Strafbarkeit der Teilnahmehandlung immer nur dann in Frage gestellt werden kann, wenn diese Handlung selbst (also ungeachtet ihrer späteren deliktischen Verknüpfung) überhaupt als alltäglicher Geschäftsvorgang, als berufstypisches Verhalten erscheint. Soweit etwa die Ausübung der berufsmäßigen Handlung durch spezielle Sorgfaltspflichten eingeschränkt ist - ζ. B. die Abgabe von Arzneimitteln nur gegen Rezept oder von Waffen nur gegen Vorlage des Waffenscheins und der Handelnde diese Pflichten bewusst missachtet, fehlt es schon an einem normalen Geschäftsvorgang, an einem berufstypischen Verhalten; die Strafbarkeit als Beihilfe steht daher hier von vornherein außer Frage. Gleiches gilt für den Fall, dass ein Unternehmen insgesamt auf die Begehung von Straftaten - z . B . auf illegale Abfallentsorgung - ausgerichtet ist. 69 Die nach der hier entwickelten Abgrenzung entscheidende Frage, ab wann der normale Geschäftsvorgang, die berufstypische Handlung, in der Weise überschritten wird, dass sich der Handelnde dadurch mit dem späteren Straftäter solidarisiert, kann natürlich im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. Jedoch sind diese Schwierigkeiten nicht unüberwindbar, denn mit Hilfe der psychischen Beihilfe einerseits und der Verantwortungsbereiche andererseits kann insoweit immerhin auf bekannte Rechtsinstitute zurückgegriffen werden. So liegt eine den normalen Geschäftsvorgang in die Beihilfestrafbarkeit hebende psychische Beihilfe immer dann vor, wenn der Handelnde über die durch die geschäftsmäßige Handlung bewirkte kausale Risikosteigerung hinaus entweder sog. technische Rathilfe leistet (wie etwa im oben genannten Fall des Taxifahrers, wenn er dem Hehler den weiteren Fußweg zum Erreichen des Hehlerumschlagplatzes erläutert) oder wenn er durch Beseitigen von Bedenken bzw. durch Liefern weiterer Motive eine „Stärkung des Tatentschlusses" bewirkt 70 (wie in den oben genannten Fällen des besonders „hilfsbereiten" Verkäufers, Taxifahrers und Betriebsarbeiters). Darüber hinaus wird man die Frage einer Überschreitung des berufstypischen Verhaltens gerade in den durch das Prinzip der Arbeitsteilung gekennzeichneten Unternehmen auch durch Rückgriff auf den Funktionsund Verantwortungsbereich des jeweils Handelnden beantworten können. Auch wenn die Problematik der sog. neutralen Beihilfe nicht prinzipiell mit der in der neueren Zurechnungsdogmatik anerkannten „Lehre von den Ver-
6 9 Im Ergebnis ebenso Amelung (Fn 8) S. 9 (24); Ransiek (Fn 20) S. 95 (lOOf); A. Schröder (Fn 42) S. 147f; BGH wistra 1988, 26f. 70 Zu den (teilweise umstrittenen) Anforderungen an diese Form der psychischen Beihilfe s. nur Roxin (Fn 20) S. 501 (505ff) mwN.
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antwortungsbereichen" 71 gelöst werden kann, 72 so lässt sich dieses Zurechnungskriterium doch insoweit fruchtbar machen, als zum einen die der rechtlichen „Zuständigkeitsregelung" 73 zugrunde liegenden faktischen Zuständigkeiten als Maßstab zur Abgrenzung des noch berufstypischen Verhaltens herangezogen und zum anderen die Ergebnisse zumindest an der Ratio dieses Zurechnungsprinzips 74 - unter Beachtung der Vorgaben der Teilnahmeregelung - gemessen werden können. Beschränkt man die Straflosigkeit der Beihilfe für die Fälle alltäglicher Geschäftsvorgänge strikt auf die - nicht durch zusätzliche Förderung erweiterte oder gegen die Pflichtnormen der §§ 138, 323c StGB verstoßende - Vornahme der berufstypischen Handlung und begrenzt man diese berufstypische Handlung nach dem jeweiligen betrieblichen Funktions- und Verantwortungsbereich, so gelangt man gerade auch im Unternehmensstrafrecht zu einer realitätsbezogenen und kriminalpolitisch befriedigenden Zurechnungslösung. Würde man nämlich die berufsmäßige Unterstützungshandlung - generell oder bei entsprechender Vorsatzintensität bzw. bei erkennbarer Tatgeneigtheit des Dritten - als strafbares Beihilfeunrecht werten, so würde man jeden Mitarbeiter auch für die sorgfaltsgemäße Aufgabenerfüllung aller anderen Mitarbeiter verantwortlich machen, was nicht nur eine unrealistische Uberforderung des Einzelnen bedeuten, sondern auch der faktisch bestehenden und für die Funktionsfähigkeit eines Unternehmens unerlässlichen Arbeitsteilung zuwiderlaufen würde.75 Die Inkriminierung des berufsmäßigen Verhaltens als strafbare Beihilfe würde bei den heute üblichen Produktionsabläufen, an denen oft Hunderte von Arbeitnehmern beteiligt sind, zu der Konsequenz führen, dass sämtliche Mitglieder dieser Produktionskette schon bei bloßer Vermutung eines innerhalb der Produktionskette erfolgenden strafrechtlichen Normverstoßes durch eine strafbewehrte Pflicht gezwungen wären, ihren kausalen Einzelbeitrag zu unterlassen, also ihre Arbeitsleistung zu verweigern. Abgesehen von der Gefahr einer drastischen Überkriminalisierung hätte eine solche Lösung die weitere Konsequenz, dass schon der einzelne Arbeitnehmer durch seinen untergeordneten Tatbeitrag zum Garanten aus Ingerenz für sämtliche weiteren Produktionsschritte würde, womit aber die hierarchische Unternehmensstruktur der Uber- und Unterordnung und die damit korrespondierenden Verantwortungsbereiche vollends auf den Kopf gestellt wären.
71 S. nur Roxin AT 1 (Fn 32) § 11 Rn l l l f f sowie Schönke/Schröder/Lenckner (Fn 50) Vorbem. §§ 13 ff Rn 100 ff - jeweils m. zahlr. Nachw. 72 S. dazu schon o. unter V. 1. Insoweit sind daher auch meine früheren Ausführungen zu präzisieren (s. Schall in: Deutsche Wiedervereinigung Bd. III: Unternehmenskriminalität [Hrsg. Schünemann] 1997, S. 99, 104 f). 73 Kühl (Fn 33) § 4 Rn 83; s. a. Jakobs (Fn 2) 24/13 ff. 74 Prägnant dazu insbes. Roxin AT 1 (Fn 32) § 11 Rn 112. 75 S. hierzu schon die überzeugende Argumentation bei Rudolphi (Fn 67) S. 863 (867ff); ebenso Busch Unternehmen und Umweltstrafrecht, 1997, S. 481 f.
Die „Sperrwirkung" strafrechtlicher Tatbestände GEORG
KÜPPER
Der hier behandelte Terminus der sog. Sperrwirkung von Tatbeständen ist zwar in Rechtsprechung und Literatur geläufig, wird aber zumeist nur punktuell verwendet.' Am häufigsten taucht er im Verhältnis von Qualifizierung und Privilegierung auf; der privilegierende Tatbestand soll dann die Anwendung des qualifizierenden Tatbestandes sperren. 1 Allerdings wird dieses eindeutige Ergebnis auch mancherseits relativiert: So handelt es sich etwa für Jakobs2 um ein Problem der Interpretation des BT. Nach WelzeP ist jeweils durch Abwägen der einzelnen Tatbestandselemente zu prüfen, ob dem schwereren oder dem milderen Gesetz der Vorrang gebührt; im Zweifel gehe der Milderungsgrund vor. Demgegenüber verneint PuppeA eine allgemeine Regel dahin, dass stets die Privilegierung vor der Qualifikation Vorrang habe. Vielmehr müsse der Widerspruch durch besondere Vorrangregeln behoben werden, die je nach Art und Gewicht der zusammentreffenden Merkmale verschieden ausfallen könnten. Hinzu kommt, dass der zur Erörterung stehende Begriff gleichlautend für unterschiedliche Sachverhalte verwendet wird. Von einer „Sperrwirkung des milderen Gesetzes" ist nämlich ebenfalls die Rede, wenn bei Gesetzeseinheit die Mindeststrafe des verdrängten Gesetzes berücksichtigt wird, d.h. nicht unterschritten werden darf (dazu noch unten IV). Schließlich erscheint auch der dogmatische Charakter des Phänomens wenig geklärt. Im folgenden sollen deshalb die in Betracht kommenden Fallgruppen aufbereitet werden. Sodann ist zu prüfen, ob sich ein gemeinsamer Nenner finden lässt.
* Nicht mehr berücksichtigt werden konnte die nach Drucklagung erschienene Dissertation von D. Seiler Die Sperrwirkung im Strafrecht, 2002. 1 Übereinstimmend Jescheck/WeigendStrafrecht AT, 5. Aufl 1996, § 26 III 2; Maurach/Zipf Strafrecht AT I, 8. Aufl 1992, § 20/45; Wessels/Beulke Strafrecht AT, 31. Aufl 2001, R n 113. 2 Strafrecht AT, 2. Aufl 1991, Abschn. 31/19. 3 D a s Deutsche Strafrecht, 11. Aufl 1969, § 30 III. 4 NK-StGB, 2. Lfg. 1995, Vor § 52 Rn 20.
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Georg Küpper I. Sperrwirkung der Privilegierung 1. Mord und Tötung auf Verlangen
Den geradezu „klassischen" Fall des Vorranges der Privilegierung bildet das Verhältnis von § 216 zu § 211 StGB. Dieses (nahezu) einhellige Ergebnis wird auch unabhängig von der zugrunde gelegten Systematik der Tötungsdelikte erzielt. Bekanntlich betrachtet die h. L. die §§ 211, 216 StGB als unselbständige Abwandlungen des Grundtatbestandes (§ 212 StGB); der § 216 StGB soll dann als abschließende Spezialregelung dem § 211 StGB vorgehen. 5 Die Rspr. erblickt in § 216 zwar einen selbständigen Tatbestand, der aber als der engere den des § 211 StGB ausschließe.6 Gleichwohl bleibt fraglich, woraus diese Sperrwirkung der Privilegierung letztlich herzuleiten ist. Sofern von „Spezialität" gesprochen wird, liegt eine solche im eigentlichen Sinne nicht vor. Denn spezieller ist ein Tatbestand (nur) dann, wenn mit seinem Eingreifen notwendig auch die Voraussetzungen des allgemeinen Tatbestandes erfüllt sind; letzterer muss also im ersteren stets enthalten sein. Das aber ist im Verhältnis der §§ 216, 211 StGB nicht gegeben.7 Der Begriff der Spezialität muss deshalb hier wohl weniger formal verstanden werden: Er kennzeichnet eine vergleichbare Situation, in der die Rechtsfolgen der Gesetzeskonkurrenz zur Anwendung kommen sollen. Die Annahme von Tateinheit „passt" deswegen nicht, weil sich Privilegierung und Qualifizierung konträr auswirken (Strafmilderung bzw. -schärfung). Hingegen liegt der Grundgedanke der Gesetzeseinheit darin, dass der deliktische Gehalt einer Tat, die sich unter mehrere Strafgesetze subsumieren lässt, bereits durch einen Tatbestand vollständig erfasst wird; die spezielle Norm soll nach der ratio legis vor der anderen allein maßgebend sein.8 Der Vorrang der Privilegierung beruht nun auf einer entsprechenden Wertung: Mit der Schaffung des privilegierten Tötungsdelikts soll ein bestimmter Sachverhalt abschließend dahingehend geregelt werden, dass der geringere Unrechts- und Schuldgehalt ein vermindertes Strafbedürfnis entstehen lässt, gleichgültig welche sonstigen Umstände die Tat begleiten.9 Dafür spricht zudem die Beschränkung des Täterkreises auf den Adressaten des Tötungs-
s Vgl Jähnke in LK, 10. Aufl 1980, Vor § 211 Rn 45; Lackner/Kühl StGB, 24. Aufl 2001, Vor § 211 Rn 24; WelzelJZ 1952, 72, 74. « Vgl RGSt 53, 293; BGHSt 2, 258; 13, 162, 165. 7 Kritisch deshalb Bernsmann JZ 1983, 45, 48. Er selbst will durch eine restriktive Interpretation das Konkurrenzverhältnis schon tatbestandlich ausschließen. Ähnlich neuerdings Herzberg]Z 2000, 1093, 1099: Das Tötungsverlangen lasse die besondere Verwerflichkeit entfallen, so dass die Tat von § 211 StGB nicht erfasst werde. 8 Näher dazu Vogler FS Bockelmann, 1979, S. 715, 718 ff. 9 Eine Berücksichtigung bei der Strafzumessung ist damit jedoch nicht ausgeschlossen.
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Verlangens, für den die Vorschrift eine Art (unechtes) Sonderdelikt 10 bildet, das auch unter diesem Aspekt den Vorrang genießt. Nur hinzuweisen bleibt noch darauf, dass ehemals das Verhältnis von § 217 a. F. zu § 211 StGB eine vergleichbare Fragestellung aufwarf, die sich inzwischen durch die Streichung der privilegierenden Norm erledigt hat. Allerdings kann die Kindestötung im Rahmen des § 213 StGB eine Rolle spielen. Auch dort wird teilweise eine Sperrwirkung zumindest der benannten Privilegierungen (§ 213 Alt. 1 StGB) befürwortet. 11 Nach ganz überwiegender Ansicht soll diese Strafzumessungsregel eine solche Wirkung jedoch nicht entfalten können.
2. Nötigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte Die Vorschrift des § 113 StGB stellt einen privilegierten Nötigungsfall dar, wie sich aus dem gegenüber § 240 StGB niedrigeren Grundstrafrahmen, der günstigeren Irrtumsregelung sowie der Möglichkeit der Strafmilderung und das Absehen von Strafe ergibt. Unstreitig geht sie bei Gebensein ihrer Voraussetzungen als lex specialis dem Nötigungstatbestand vor. Fraglich ist jedoch, ob das allgemeine Delikt des § 240 StGB zur Anwendung kommen kann, wenn die Widerstandshandlung das für § 113 StGB erforderliche Maß nicht erreicht, also etwa keine Drohung mit Gewalt, sondern nur mit einem empfindlichen Übel vorliegt. Nach einer Auffassung soll in diesem Fall ein Rückgriff auf § 240 StGB möglich sein, wenngleich unter (analoger) Anwendung des Strafrahmens von § 113 StGB. 12 Die vorzugswürdige Gegenmeinung beruft sich ausdrücklich auf die Sperrwirkung der Privilegierung, die sonst unterlaufen würde: §113 StGB wolle den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte abschließend regeln, so dass bei Nichterfüllung der speziellen Anforderungen das Verhalten straffrei bleiben müsse. 13 Letztere Position bedarf allerdings noch der Präzisierung, weil zwei Aspekte berührt sind. Zum einen resultiert die Spezialität des § 113 StGB aus dem Umstand, dass diese Norm in der besonderen Vollstreckungssituation nur ganz bestimmte, im Vergleich zu § 240 StGB an höhere Voraussetzungen gebundene Tathandlungen als strafbar erfasst. Die Privilegierung folgt daraus, dass der Tatbestand zudem eine mildere Be10 Vgl Gössel Strafrecht BT I, 1987, § 1/14; Jähnke in LK, Vor § 211 Rn 45; zu § 217 a. F. auch BGHSt 1, 235, 240 mit Anm. Welzel]Z 1951, 692. 11 So Maurach/Schroeder/Maiwald Strafrecht BT I, 8. Aufl 1995, § 2/55; ähnlich Rengier MDR 1980, 1 f; dazu auch Küpper VS Kriele, 1997, S. 777, 792 f. 12 Vgl V. Bubnoffm LK, 11. Aufl 1994, § 113 Rn 65; Ehlen/Meurer NJW 1974, 1777; Maurach/Schroeder/MaiwaldBT II, 8. Aufl 1999, § 71/24; Otto Strafrecht BT, 5. Aufl 1998, § 91/25. 13 Vgl Arzt/Weber Strafrecht BT, 2000, § 45/25; Horn in SK, 6. Aufl 2000, § 113 Rn 23; Küpper Strafrecht BT 1, 2. Aufl 2000, II § 3/53; Schön ke/Schröder/Eser StGB, 26. Aufl 2001, § 113 Rn 68; eingehend Zopfs GA 2000, 527, 538ff.
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strafung nach sich zieht. Demnach handelt es sich um zwei Eigenschaften, die zwar einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt (denselben „Existenzgrund") besitzen,14 die aber grundsätzlich auch unabhängig voneinander bestehen könnten. 15 Soll nämlich ein Täterverhalten, das den Anforderungen des § 113 StGB nicht genügt, über § 240 StGB mit dem Strafrahmen des § 113 StGB belegt werden, ist davon die privilegierende Wirkung eigentlich nicht betroffen, da ja die Strafmilderung erhalten bliebe. Unterlaufen würde vielmehr die Spezialität, wonach eben nur gewisse Widerstandshandlungen der Vorschrift unterfallen sollen. Es ist also der spezielle Charakter des § 113 StGB, der es erfordert, die Norm in dieser Hinsicht als Sonderregelung zu verstehen, die eine Sperrwirkung gegenüber § 240 StGB entfaltet.
II. Sperrwirkung des milderen Gesetzes 1. Tötung auf Verlangen und Körperverletzungsdelikte Das Vergehen der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) ist mit geringerer Strafe bedroht als das Verbrechen der schweren Körperverletzung (§ 226 StGB), aber auch - hinsichtlich der Obergrenze - als die gefährliche Körperverletzung (§ 224 StGB). Die Möglichkeit eines Zusammentreffens setzt zweierlei voraus: Zum einen muss in der Tötung überhaupt eine Körperverletzung (als Durchgangsstadium) enthalten sein, was heute im Sinne der Einheitstheorie entschieden ist. Zum anderen darf die Körperverletzung nicht durch Einwilligung gerechtfertigt sein, weil sich dann ein Konkurrenzproblem nicht mehr stellen würde. Jedoch ist anerkannt, dass § 216 StGB eine für die gesamte Rechtsordnung verbindliche „Einwilligungssperre" bildet, die sich auch auf Durchgangsverletzungen im Zusammenhang mit dem gewollten Todeserfolg erstreckt. 16 Wird § 216 StGB vollendet, liegt stets Gesetzeskonkurrenz zu §§ 223 ff StGB vor.17 Ist die Tötung indes nur versucht, dann käme nach inzwischen herrschender Auffassung, der sich nunmehr auch der BGH angeschlossen hat,18 grundsätzlich Tateinheit in Betracht. Beim Rücktritt vom Tötungsver14 Herkömmlich wird auf die Erwägung abgestellt, dass der von einer Vollstreckungshandlung betroffene Täter durch die Konfrontation mit der Staatsgewalt leicht in einen Erregungszustand geraten werde; vgl KG StV 1988, 437; Tröndle/Fischer StGB, 50. Aufl 2001, § 113 Rn 1. 15 Ein spezielles Gesetz kann ebenso gut schwerer wiegen, wie es etwa im Verhältnis von § 249 zu § 240 StGB der Fall ist. Bei § 113 StGB geht es daher um „privilegierende Spezialität"; so zutr. Schönke/Schröder/Eser StGB, § 113 Rn 43, 45. 16 Vgl Jähnke in LK, § 216 Rn 17; Schönke/Schröder/£jer StGB, § 216 Rn 13; Küpper JuS 1985, 395, 397 17 Siehe nur Lilie in LK, 11. Aufl 2001, Vor § 223 Rn 17 mwN. 18 BGH St 44,196; ebenso KüpperKS: 1, II § 2/61; Schönke/Schröder/Eier StGB, § 212 Rn 23.
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such blieben ohnehin allein Körperverletzungsdelikte übrig. Namentlich im letzteren Fall wird eine Sperrwirkung des milderen Gesetzes zumindest bezüglich § 226 StGB angenommen. 1 9 Denn der Rücktritt würde sonst den Täter schlechter stellen als die Vollendung, was praktisch auf ein Verbot des Rücktritts hinausliefe. Im einzelnen ist hier noch manches streitig. Uberholt dürfte die nur selten vertretene Ansicht sein, dass lediglich der Strafrahmen des § 226 (§ 224 a.F.) StGB durch die §§ 216,23 StGB begrenzt werde. 2 0 Dagegen ist einzuwenden, dass dann der Rücktritt von einem Vergehen die Bestrafung wegen eines Verbrechens zur Folge hätte; diese Konsequenz würde auch bei Annahme eines minder schweren Falles (§ 226 III StGB) eintreten, weil sich dadurch der Delikts charakter nicht ändert (§ 12 III StGB). Demgegenüber ist die gefährliche Körperverletzung ein Vergehen, weist allerdings heute eine schärfere Höchststrafe als § 216 StGB auf. Deshalb wird vorgeschlagen, nur § 223 StGB anzuwenden. 21 Den Vorzug verdient eine differenzierende Auffassung, die im Hinblick auf § 226 StGB eine vollständige, bezüglich § 224 StGB eine rechtsfolgenbeschränkte Sperrwirkung annimmt. 2 2 Daraus resultiert die Heranziehung eines minder schweren Falles gem. § 224 I a. E. StGB. Abschließend verbleibt die Frage, worauf die besagte Sperrwirkung sachlich beruht. Eine „echte" Privilegierung lässt sich nicht bejahen, da die §§ 216, 226 StGB keine Abwandlungen eines gemeinsamen Grunddelikts sind. Jedoch führt die in § 216 StGB getroffene Wertentscheidung dazu, dass die dort ausgesprochene Strafdrohung für die gesamte Tat als verbindlich anzusehen ist. Diese Festlegung darf nicht durch die Anwendung von Tatbeständen mit höherer Strafe wieder rückgängig gemacht werden. Das Ergebnis gilt auch unabhängig davon, ob der Täter wegen Versuchs des § 216 StGB strafbar ist oder - nach Rücktritt - insoweit straflos ausgeht. 2. Betrug und verwandte Delikte Der Gesichtspunkt der Sperrwirkung des milderen Gesetzes wird von einigen Autoren für das Verhältnis bestimmter Tatbestände zum (strengeren) Betrugstatbestand herangezogen. 2 3 Dabei geht es vor allem um § 148 II und §§ 352, 353 StGB. Aber auch der neuere § 266b StGB spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle. 19 Vgl Hirsch ZStW 81 (1969), 917, 931; Lackner/KUhl StGB, § 216 Rn 7; Rengier BT II, 3. Aufl 2001, § 21/4; Wessels/Beulke AT, Rn 653. 20 So noch Schönke/Schröder StGB, 17 Aufl 1974, § 212 Rn 14d; gegen jede Strafrahmenanpassung: Jakobs Die Konkurrenz von Tötungsdelikten mit Körperverletzungsdelikten, 1967, S. 135. 2· Dahingehend Krey BT I, 11. Aufl 1998, Rn 244. 22 Überzeugend Jäger]uS 2000, 31, 37. » Vgl Weber NStZ 1986, 484; der·,. JZ 1987, 216; ebenso Geppert Jura 1987 165.
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α) Die Vorschrift des § 148 II StGB bedroht die Wiederverwendung amtlicher Wertzeichen nach Beseitigung des Entwertungszeichens mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe. Da der Täter das Wertzeichen als gültig verwenden, d. h. den Anschein vorheriger NichtVerwendung hervorrufen muss, liegt darin regelmäßig ein versuchter Betrug. Dieser soll aber verdrängt werden, jedenfalls unter der Voraussetzung, dass der Täter keinen anderen Vorteil als die Ersparnis der Gebühren erstrebt. 24 Zur Begründung hat das Reichsgericht25 im Hinblick auf den entsprechenden § 276 II StGB a. F. angeführt: Es wäre „schlechterdings unverständlich", aus welchem Grund und zu welchem Zweck der Gesetzgeber, wenn er ein solches Tun als Betrugsversuch aufgefasst und bestraft wissen wollte, dafür noch eine besondere Strafvorschrift mit einer wesentlich milderen Strafdrohung erlassen haben sollte. Vielmehr habe er damit sagen wollen, dass dieses Verhalten eben nur aus der milderen Vorschrift geahndet werden soll, wenn es sich in deren Erfüllung erschöpft. Diese Norm gehe dann als ein „besonderes Strafgesetz" dem allgemeinen Strafgesetze des § 263 StGB vor. Letztere Formulierung lässt den Gedanken der Spezialität anklingen, wenngleich die speziellere Norm zumindest nicht alle Merkmale eines vollendeten Betrugs aufweist. Konkurrenzmäßig ließe sich eher an Konsumtion denken, indem man § 263 StGB als typische Begleittat auffasst, allerdings mit der Besonderheit, dass damit der schwerer wiegende Tatbestand konsumiert würde. 26 b) Eine ähnliche Situation ergibt sich bei der Gebühren- und Abgabenüberhebung (§§ 352, 353 StGB). Nach h. M. gehen diese Vorschriften als Sondertatbestände dem § 263 StGB vor, weil zu ihnen begriffsnotwendig das (ungeschriebene) Tatbestandsmerkmal der Täuschung gehöre.27 Angesichts der unterschiedlichen Strafdrohungen kann von einem Vorrang des milderen Gesetzes eigentlich nur bezüglich § 352 StGB gesprochen werden, während für § 353 StGB allein die These vom „Sonderfall des Betrugs" übrig bleibt. Insofern käme aber folgende Sperrwirkung in Betracht: Die Tathandlung der Abgabenüberhebung besteht aus zwei Akten, nämlich der Erhebung und Nichtbuchung von Abgaben; wird zwar ein überhöhter Betrag erhoben, aber ordnungsgemäß zur Kasse gebracht, entfällt eine Strafbarkeit aus § 353 StGB. Der in der Täuschung des Zahlenden liegende Betrug könnte nun nicht mehr verdrängt werden, womit der Täter jedoch schlechter gestellt wäre, als wenn er neben dem Bürger auch noch den Staat geschäht O L G Koblenz NJW 1983, 1625; KienapfelJR
1984, 162; Herdegen in LK, 10. Aufl 1978,
§ 148 R n 16. RGSt 68, 302, 303. Dass dies grundsätzlich möglich ist, zeigt sich beim unbefugten Gebrauch eines Kraftfahrzeugs (§ 248b StGB), der den gleichzeitig verwirklichten Diebstahl am Kraftstoff k o n sumiert; vgl Kühl Strafrecht AT, 3. Aufl 2000, § 21/62 m w N . 27 Vgl B G H St 2, 35, 37; Arzt/Weber KT § 49/63; Schönke/Schröder/Cramer StGB, § 352 R n 14; and. noch RGSt 75, 378, 380; krit. auch Kuhlen in N K , 4. Lfg. 1997, § 352 R n 4ff. 25
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digt hätte. Die Sperrwirkung des § 353 StGB bestünde in diesem Falle darin, dass § 263 StGB auch dann nicht zur Anwendung kommt, wenn ersterer Tatbestand nicht (vollständig) erfüllt ist. c) Die Strafbestimmung des Missbrauchs von Scheck- und Kreditkarten (§ 266b StGB) ist nach einhelliger Auffassung lex specialis zu § 263 StGB, 28 sofern überhaupt eine Betrugsstrafbarkeit angenommen wird. 29 In der Literatur findet sich zwar auch die Berufung auf eine Sperrwirkung des milderen Gesetzes. 30 Für den „Normalfall" der missbräuchlichen Verwendung einer Scheck- oder Kreditkarte hat dieser Gesichtspunkt aber keine weitergehende Bedeutung, da hier schon das genannte Konkurrenzverhältnis (Spezialität) eingreift. Allerdings hatte der BGH in der Kreditkartenentscheidung31 noch andere Handlungsmodalitäten angesprochen, die den Betrugstatbestand erfüllen würden. Dabei geht es vor allem um das betrügerische Erschleichen der Kreditkarte, ein Verhalten also, da sich im Vorfeld des Missbrauchsmerkmals bewegt. Für diesen Sachverhalt wird wiederum die Sperrwirkung des milderen Gesetzes geltend gemacht, mit der Konsequenz, dass § 263 StGB als mitbestrafte Vortat verdrängt werde. 32 Kommt es gar nicht zum anschließenden Kreditkartenmissbrauch, dann müsse bei der Verurteilung aus § 263 StGB eine Sperrwirkung des § 266b StGB zumindest auf der Rechtsfolgenseite beachtet werden. Es fragt sich jedoch, ob dieses Ergebnis der gesetzgeberischen Wertentscheidung entspricht, die ja auch in sonstigen Sperrwirkungsfällen von maßgeblicher Bedeutung ist. Die Regelung des § 266b StGB sollte (lediglich) eine Lücke im Vermögensstrafrecht schließen, 33 so dass ihre Funktion nicht darin bestehen kann, bei ohnehin strafbaren Verhaltensweisen den Täter nunmehr besser zu stellen. Erfasst wird allein der Missbrauch selbst, nicht aber eine darüber hinausgehende Täuschungshandlung. Unabhängig davon, ob die §§ 263, 266b StGB in Tateinheit oder -mehrheit stehen 34 oder der Kreditkartenmissbrauch als mitbestrafte Nachtat anzusehen ist, 35 wird § 263 StGB jedenfalls nicht im Wege der Sperrwirkung ausgeschlossen. Ebensowenig kann im Falle der betrügerischen Erlangung der Kreditkarte das anfangs genannte Spezialitätsverhältnis zum Tragen kommen. 28 Vgl BGH NStZ 1987, 120; KGJR 1987, 258; OLG Hamm MDR 1987, 514; Samson/Günther in SK, 5. Aufl 1996, § 266b Rn 8; Tröndle/Fischer StGB, § 266b Rn 9. 2 9 So bekanntlich BGHSt 24, 386 zum Scheckkartenmissbrauch. 30 Vgl GeppertJura 198^ 165; Weber jZ 1987, 216. 31 BGHSt 33, 244; dazu Küpper NStZ 1988, 60 ff. 32 Diese Auffassung vertritt namentlich Mitsch]Z 1994, 886; zust. Gribbohm in LK, 11. Aufl 1996, § 266b Rn 55. 3 3 Vgl BT-Drs. 10/5058, S. 31; BayObLG NJW 1997, 3039; Lackner/Kühl StGB, § 266b Rn 1. 34 Insoweit offenlassend BGH NStZ 1993, 283. 3 5 So Küpper NStZ 1988, 61.
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Georg Küpper III. Sperrwirkung rechtspflegebezogener Tatbestände 1. Rechtsbeugung
durch
Richter
Dem Rechtsbeugungstatbestand wird von der nahezu einhelligen Auffassung eine Sperrwirkung zuerkannt. Danach entfaltet § 339 StGB eine Schutzfunktion in der Weise, dass ein Richter wegen anderer, im Zusammenhang mit seiner Entscheidung verwirklichter Delikte (z.B. Freiheitsberaubung durch Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe) nur dann belangt werden kann, wenn er zugleich eine Rechtsbeugung begangen hat.36 Diese Begrenzung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit soll zur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit dienen; vergleichbar damit ist das zivilrechtliche Haftungsprivileg (§ 839 II BGB). Eine Verstärkung erfuhr die besagte Sperrwirkung früher zudem dadurch, dass für den subjektiven Tatbestand direkter Vorsatz gefordert wurde. 37 Die jetzt ganz h.M. lässt jedoch dolus eventualis genügen.38 Eine Unklarheit ist allerdings durch die neuere BGH-Rechtsprechung entstanden, wo es heißt: Rechtsbeugung begehe nur der Amtsträger, der sich „bewusst" in schwer wiegender Weise vom Gesetz entfernt.39 Diese Formulierung soll aber offenbar eine Restriktion des objektiven Tatbestandes bewirken und nicht die Vorsatzfrage präjudizieren. Ausgehend davon, dass bedingter Vorsatz ausreicht, wird mancherseits die Meinung vertreten, damit sei auch die Begrenzungsfunktion des § 339 StGB entfallen.40 Eine solche Ansicht übersieht indes den besonderen Inhalt des Rechtsbeugungsvorsatzes: Dieser erfordert eine Bedeutungskenntnis des Merkmals „Recht"; ein dementsprechender Irrtum ist hier also Tatbestandsirrtum, während hinsichtlich sonstiger konkurrierender Strafvorschriften nur ein (vermeidbarer) Verbotsirrtum in Betracht kommt. Die Sperrwirkung der Rechtsbeugung bleibt daher weiterhin bedeutsam. Zu ihrer Begründung ist wiederum nach Sinn und Zweck der diese Wirkung erzeugenden Norm zu fragen. Als tragender Gesichtspunkt lässt sich 36 Vgl BGHSt 32, 357, 364; 41, 247, 255; OLG Düsseldorf NJW 1990, 1374; Tröndle/FischerStGB, § 339 Rn 21 m w N ; eingehend SchroederGA 1993, 389ff; ScholdererRechtsbeugung im demokratischen Rechtsstaat, 1993, S. 340ff. 37 So noch BGHSt 10, 294, 298; offenlassend OLG Düsseldorf NJW 1990, 1374f; OLG Frankfurt NJW 2000, 2037 f. 38 Vgl BGHSt 40, 272, 276; KG NStZ 1988, 557; Küpper BT1, II § 4/37; Lackner/Kühl StGB, § 339 Rn 9; Spendelm LK, 10. Aufl 1982, § 336 Rn 77ff. 39 So etwa BGHSt 38, 381, 383; 41, 272, 283; krit. dazu Seebode JR 1994, 1, 6; Tröndle/ Fischer StGB, § 339 Rn 14: Es werde nicht gänzlich klar, in welchem Verhältnis der bewusste Rechtsbruch zum Ausreichen bedingten Vorsatzes stehen soll. 40 Dahingehend Schönke/Schröder/Cramer StGB, § 339 Rn 7; Schmidt-Speicher Hauptprobleme der Rechtsbeugung 1982, S. 90; dagegen OLG Düsseldorf NJW 1990, 1375; Schroeder GA 1993, 390 f.
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angeben, dass § 339 StGB ein richterliches Fehlverhalten bei der Entscheidung einer Rechtssache zunächst einmal exklusiv erfassen soll; weitere Delikte dürfen dann zwar idealkonkurrierend hinzutreten, aber nicht für sich allein die Strafbarkeit begründen. Ansonsten könnte folgender Wertungswiderspruch entstehen. Es würde in der Situation des § 339 StGB ein Verhalten, das nach der gesetzlichen Wertung nicht als strafbare Rechtsbeugung angesehen werden kann, durch die Heranziehung anderer Tatbestände dem Richter strafrechtlich zur Last gelegt. Das hieße nämlich: Er hätte das Recht „richtig" angewendet und dennoch strafwürdiges Unrecht verwirklicht. Der § 339 StGB markiert demzufolge die Grenze, wo richterliche Strafbarkeit überhaupt erst beginnen kann. Bis dahin stimmt das Ergebnis mit der Auffassung von Schmeder41 überein, der sich allerdings gegen eine Begründung mit Konkurrenzgesichtspunkten wendet: Solche könnten nur herangezogen werden, wenn speziellere Strafvorschriften vorgehen, nicht aber bei Nichterfüllung eines anderen Tatbestandes. Dieser Aussage ist jedoch in ihrer Allgemeinheit nicht zuzustimmen. Denn oben (1.2) hatte sich gezeigt, dass eine Sperrwirkung auch dann eintreten kann, wenn die vorrangige Norm nicht erfüllt ist. In diesem Falle bleibt ihre Funktion dahingehend erhalten, den Rückgriff auf eine andere, sonst nachrangige Vorschrift zu hindern. Im Hinblick auf die Rechtsbeugung bedeutet dies: Die Besonderheit der Sperrwirkung besteht gerade darin, dass sie überhaupt nur bei mangelnder Verwirklichung des „sperrenden" Tatbestandes zur Geltung kommt. Um ein Spezialitätsverhältnis kann es schon deshalb nicht gehen, weil § 339 StGB - bei Gegebensein - die gleichfalls vorliegenden Delikte ja nicht verdrängt, sondern vielmehr ihren Anwendungsbereich eröffnet. Bildlich gesprochen: Der Rechtsbeugungstatbestand ist wie ein Tor, durch das weitere Tatbestände Eingang finden; bleibt es geschlossen, so ist der Weg zur Strafbarkeit versperrt. 2. Strafvereitelung durch Strafverteidiger Die hier einschlägige Problematik ist durch eine BGH-Entscheidung 42 aus dem Jahre 1992 in die Diskussion geraten. Es geht um die Frage, ob ein Strafverteidiger, obwohl ihm keine Strafvereitelung zur Last fällt, zumindest wegen anderer - im Zusammenhang mit der Verteidigung stehender - Delikte verurteilt werden kann, wenn er etwa gefälschte Urkunden als Beweismittel in den Prozess einführt. Der Unterschied in den Strafbarkeitsvoraussetzungen ergibt sich daraus, dass § 258 StGB direkten Vorsatz verlangt, während beispielsweise für § 267 StGB bedingter Vorsatz ausreicht. Nach Ansicht des BGH lassen sich die Voraussetzungen des § 258 StGB im Rah-
42
GA 1993, 395 f. BGHSt 38, 345 mit Anm. Beulke JR 1994, 116.
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men „verteidigungsspezifischen" Handelns auf andere Tatbestände nicht übertragen; er fordert jedoch eine sorgfältige und strenge Prüfung, ob bedingt vorsätzliches Verhalten des Verteidigers in solchen Fällen wirklich vorliegt. Im Anschluss daran hat sich im Schrifttum eine lebhafte Debatte entwickelt, die ausdrücklich auf die Sperrwirkung der Rechtsbeugung Bezug nimmt und mögliche Parallelen zur Strafvereitelung ins Auge fasst. 43 Es fragt sich daher zunächst, ob überhaupt eine vergleichbare Situation besteht. Denn § 258 StGB ist ja kein Sonderdelikt für Strafverteidiger, während § 339 StGB ein echtes Amtsdelikt mit spezifischem Täterkreis darstellt. Andererseits ist der Rechtsanwalt immerhin ein unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO). Zudem ergibt sich eine gewisse Sonderstellung des Strafverteidigers aus seiner Aufgabe, einer Bestrafung seines Mandanten möglichst entgegenzuwirken - was anderen Personen nicht obliegt. Demzufolge dürfte eine Art „Haftungsprivileg" nicht von vornherein obsolet erscheinen. Allerdings soll es (nur) um eine Sperrwirkung des subjektiven Tatbestandes von § 258 StGB gehen. Aber auch dies macht keinen gravierenden Unterschied zu § 339 StGB aus, weil dort entweder ebenfalls direkter Vorsatz gefordert oder (überwiegend) zumindest auf die Besonderheit des Rechtsbeugungsvorsatzes hingewiesen wird. Nach alledem ergeben sich zwar manche Ähnlichkeiten, womit aber die Frage noch nicht beantwortet ist, ob sie auch zu denselben Konsequenzen führen müssen. Gegen eine Sperrwirkung des § 258 StGB zugunsten des Strafverteidigers hat sich vor allem Beulke44 ausgesprochen. Er befürchtet einen „Dammbruch" für unerwünschte Parallelentwicklungen in weiteren beruflichen Bereichen. Außerdem gefährde der Verteidiger - neben der Strafrechtspflege ein zusätzliches Rechtsgut, wie etwa die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Be weis Verkehrs mit Urkunden bei § 267 StGB. Dagegen wird eingewandt, nur der Strafverteidiger befinde sich in dem Dilemma zwischen den Interessen seines Mandanten und öffentlichen Interessen, während sich für Angehörige sonstiger Berufsgruppen diese Problematik nicht stelle. 45 Auch das Rechtsgutsargument erscheint nicht durchschlagend. Denn die Sperrwirkung eines Tatbestandes hat eben zur Folge, dass sie die Strafbarkeit wegen anderer Delikte mit anderen Rechtsgütern ausschließt, wie es ja auch beim Rechtsbeugungstatbestand der Fall ist; ansonsten wäre sie ohnehin funktionslos. Gleichwohl könnte sich der Weg über die Sperrwirkung als „Umweg" erweisen. Auszugehen ist davon, dass ein prozessual zulässiges Verteidiger-
4 3 Vgl Scheffler StV 1993, 470, 4 7 2 ; v. Stetten StV 1995, 606, 6 0 8 f ; Stumpf NStZ 199^ 7, 10; Wünsch StV 1997, 45, 4 6 ff. 4 4 J R 1994, 119; ebenfalls ablehnend Stumpf NStZ 1997, 10 (der überdies den Sperrwirkungsgedanken - auch hinsichtlich § 3 3 9 StGB - grundsätzlich in Frage stellt). 4 5 So v. Stetten StV 1995, 610; Wünsch StV 1997, 50.
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handeln zunächst den Tatbestand des § 258 StGB entfallen lässt. 46 Für die Abgrenzung zwischen erlaubter und verbotener Tätigkeit wird dabei (zumindest auch) auf subjektive Kriterien abgestellt: So dürfe der Verteidiger nicht in bewusst verfälschender und verdunkelnder Weise auf die Wahrheitsfindung Einfluss nehmen oder einen Zeugen absichtlich in einer Falschaussage bestärken; ihm sei verboten, unter Verletzung seiner Wahrheitspflicht wissentlich wahrheitswidrige Aussagen zu ermöglichen. 47 Im Ausgangsfall hat der BGH den Strafverteidiger zwar für verpflichtet gehalten, darauf zu achten, dass er nicht gefälschte oder sonst als unrichtig erkannte Beweismittel vorlegt. Habe er aber insoweit lediglich Zweifel an der Echtheit, sei er deshalb nicht befugt, ein Beweismittel zurückzuhalten. 48 Die Grenzen werden also durch das Strafprozessrecht festgelegt, wobei nicht auf rein objektive Kriterien abzustellen ist. 49 Fraglich bleibt nur, ob es dabei allein um die Strafbarkeit wegen Strafvereitelung geht. Dagegen scheint die Aussage von Beulke zu sprechen, der in zulässiger Weise agierende Anwalt müsse von jedem Strafbarkeitsrisiko befreit werden 50 - auch wenn sie im Hinblick auf § 258 StGB erfolgt. Was aber erlaubt ist, kann nicht gleichzeitig verboten sein. Deshalb darf ein prozeßordnungsgemäßes Vorgehen auch nicht zu einer Bestrafung aus anderen Vorschriften führen. Es dürfte sich von selbst verstehen, dass diese Konsequenz auf verfahrenstypisches Verhalten beschränkt ist.51 Die angestellten Überlegungen ergeben damit allenfalls eine „mittelbare" Sperrwirkung des § 258 StGB: Die Grundsätze, die eine diesbezügliche Strafbarkeit ausschließen, gelten auch für mit der Verteidigung notwendig verbundene Handlungsweisen.
46 Vgl BGHSt 46, 53; KG NStZ 1988, 178; Ruß in LK, 11. Auf] 1994, § 258 Rn 19; Tröndle/ Fächer StGB, § 258 Rn 7 m w N . 47 Diese Formulierungen gehen zurück auf OLG Frankfurt NStZ 1981, 144 und BGH NStZ 1999, 188 (Hervorhebungen vom Verf.). 48 BGHSt 38, 345, 350. Entsprechendes gilt bei Zweifeln an der Richtigkeit einer Zeugenaussage; vgl BGHSt 46, 53, 56. 49 Im Ergebnis ebenso Stumpf NStZ. 1997, 11 f. Eingehend und differenzierend Wohlers StV 2001, 420 ff: Die aus dem Prozessrecht abzuleitenden Vorgaben müssten im Rahmen der Anwendung der jeweils geltenden Straftatbestände zur Geltung gebracht werden, und zwar mit dem Instrumentarium der einschränkenden Interpretation des objektiven Tatbestands. 50 Beulke JR 1994, 117 (Hervorhebung von mir). 51 Damit scheiden etwa Nötigung und Bedrohung oder gar Totschlag erkennbar aus; vgl die darauf bezogene Fragestellung bei Wolf Das System des Rechts der Strafverteidigung, 2000, S. 263. Andererseits können auch spezielle Kriterien zur Geltung kommen, namentlich die Wahrnehmung berechtigter Interessen hinsichtlich Beleidigung; siehe zu „starken Worten" eines Verteidigers jüngst BverfG NJW 2000, 199; OLG Bremen NStZ 1999, 621.
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Georg Küpper
IV. Sperrwirkung der Strafrahmenuntergrenze Bei dieser Fallgruppe geht es um das Zusammentreffen mehrerer Gesetzesverletzungen. Bezüglich Tateinheit sind die Konsequenzen für die Strafbemessung gesetzlich vorgeschrieben: Es wird nur auf eine Strafe erkannt, welche sich nach der schwersten Strafdrohung richtet. Sie darf jedoch nicht milder sein, als die anderen Strafbestimmungen es zulassen (§ 52 II StGB); zudem können die Nebenstrafen, Nebenfolgen oder Maßnahmen des milderen Gesetzes verhängt werden (§ 52 IV StGB). Die Regelung ist folgerichtig, weil alle einschlägigen Strafvorschriften zur Anwendung und im Schuldspruch zum Ausdruck kommen. Anders sieht es an sich bei der Gesetzeseinheit aus, da hier nicht nur auf eine Strafe erkannt, sondern auch nur ein Strafgesetz angewendet wird. Dennoch verliert das zurücktretende Delikt nicht völlig an Bedeutung. Vielmehr darf nach st. Rspr. die Mindeststrafgrenze der verdrängten Vorschrift nicht unterschritten werden; ebenso finden dessen Nebenstrafen und -folgen Anwendung. 52 Denn andernfalls sei der Täter, der neben dem milden noch ein schwereres Delikt (mit niedrigerer Mindeststrafe) erfüllt, besser gestellt als derjenige, der nur das mildere Gesetz verletzt, was nicht gerechtfertigt erscheine. In der Literatur ist insoweit ausdrücklich von „Sperrwirkung des milderen Gesetzes" die Rede. 53 Dieser Sprachgebrauch kollidiert allerdings mit einer anderen Erscheinungsform (oben II), die gleichlautend benannt wird. Es dürfte sich deshalb die hier als Uberschrift gewählte Bezeichnung anbieten, oder kürzer noch: „Sperrwirkung des Strafrahmens". Jedenfalls bewegt sich die Fragestellung ganz im Bereich der Konkurrenzlehre. Auffällig ist dabei, dass hinsichtlich der Straffestsetzung die Unterschiede zwischen Ideal- und Gesetzeskonkurrenz (mit Ausnahme der Spezialität) praktisch egalisiert werden. 54 Worin besteht dann aber noch die Differenz? Gesetzeseinheit liegt vor, wenn der Unrechtsgehalt einer Handlung durch einen von mehreren, dem Wortlaut nach anwendbaren Straftatbeständen erschöpfend erfasst wird. 55 Die Verletzung des durch den einen Tatbestand geschützten Rechtsguts muss also eine - wenn nicht notwendige, so doch regelmäßige - Erscheinungsform des anderen Tatbestandes sein. Hingegen wird für Tateinheit zunehmend der Gedanke der Klarstellungsfunktion geltend gemacht. 56 Diese besteht aber nur darin, das Unrecht 52 Vgl RGSt 73,148,150; BGH St 1,152,156; 7, 30^ 312; 8 , 4 6 , 52; 10, 312,315; 19,188,189. 53 So etwa Samson/Günther in SK, 6. Aufl 1995, Vor § 52 Rn 105; Schönke/Schröder/ Stree StGB, Vor § 52 Rn 141; Stmtenwerth AT I, 4. Auf! 2000, § 18/20. 54 Ebenso Tröndle/Fischer StGB, Vor § 52 Rn 23; krit. Puppern NK, Vor § 52 Rn 26. 55 BGH(GS)St 3 9 , 1 0 0 , 1 0 8 ; zum Abstellen auf den „Unrechtsgehalt" siehe bereits Dohna ZStW 61 (1947), 131, 136f. 56 Vgl BGHSt 44, 196, 198; BGH NJW 2000, 1878; Jescheck/Weigend AT, § 67 I; Samson/ Günther'm SK, § 52 Rn 2; Schönke/Schröder/Stree StGB, § 52 Rn 2; monographisch Abels Die „Klarstellungsfunktion" der Idealkonkurrenz, 1991.
.Sperrwirkung" strafrechtlicher Tatbestände
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im Schuldspruch vollständig „klarzustellen". Daraus folgt zugleich, dass sich die Abgrenzung nicht nach der Straffrage bestimmt, sondern darauf grundsätzlich ohne Einfluß ist. 57 Daher bleiben die Rechtsfolgen eines verletzten Gesetzes erhalten, auch wenn es nicht im Urteilstenor auftaucht.
V. Schlussbetrachtung Der Streifzug durch das Gebiet der Sperrwirkung hat - ohne Anspruch auf Vollständigkeit58 - ergeben, dass dieser Topos häufig eine Vorrangregel zugunsten eines bestimmten Tatbestandes zum Ausdruck bringt. Dabei lassen sich immerhin zwei übergeordnete Aspekte erkennen: (1) Ein vom Täter verwirklichtes Delikt entfaltet eine Sperrwirkung für ein anderes, durch dieselbe Handlung miterfülltes Strafgesetz, wenn ersterem aufgrund spezieller Kriterien der Vorzug gebührt. Da es nicht um Spezialität im logischen Sinne geht, führt eine wertende Betrachtungsweise 59 zu diesem Ergebnis. (2) Eine Sperrwirkung kommt auch in Betracht, wenn der Täter einen spezifischen Straftatbestand nicht erfüllt hat und gerade dieses NichtVorliegen die Anwendung einer anderen Strafbestimmung hindert. Das sperrende Gesetz würde also erst durch sein Gegebensein die Möglichkeit für eine (weitere) Strafbarkeit eröffnen. Im wesentlichen weisen die meisten Sperrwirkungsfälle folgende Gemeinsamkeit 60 auf: Bei der Erfassung eines strafbaren Verhaltens kann es zu nicht beabsichtigten Überschneidungen und dadurch bedingten Wertungswidersprüchen kommen. Soweit diese nicht schon nach den allgemeinen Konkurrenzregeln - namentlich denjenigen der Gesetzeskonkurrenz - behoben werden können, greift die Sperrwirkung als besonderer Gesichtspunkt ein. Das ist dann der Fall, wenn der Tatbestand einen Sachverhalt beschreibt, der abschließend oder zumindest vorrangig von ezwerNorm erfasst werden soll. Die Sperrwirkung dient damit der Aufrechterhaltung dieser gesetzgeberischen Entscheidung.
So auch Maatz NStZ 1995, 209, 211. Siehe etwa die Annahme einer spezifischen Sperrwirkung des § 252 StGB für den Falltyp „Beutesicherung mit Nötigungsmitteln" bei Mitsch JA 1997, 655, 664 f: Die Bestrafung gleich einem Räuber könne nur unter den Voraussetzungen dieser Vorschrift erfolgen, was nicht durch Anwendung des § 255 StGB umgangen werden dürfe. 59 Eine solche ist in der Konkurrenzlehre bei der materiellen Subsidiarität geläufig; vgl dazu Rissing-van Saan in LK, 11. Aufl 1998, Vor § 52 Rn 101. 60 Davon auszunehmen ist allerdings die Fallgruppe IV. 58
Die Disziplinarverantwortlichkeit im Sport aus der Perspektive der Grundsätze der strafrechtlichen Verantwortlichkeit"' ANDRZEJ J.
SZWARC
Das Disziplinarrecht wird nicht zum Strafrecht, jedenfalls nicht zum sog. Kriminalstrafrecht gerechnet. Die Disziplinarverantwortlichkeit wird ebenso wenig als die eng gefasste strafrechtliche Verantwortlichkeit betrachtet.1 Man deutet jedoch manchmal auf ihre gewisse Ähnlichkeit mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Disziplinarmaßnahmen, die die Form der Vollstreckung dieser Verantwortlichkeit darstellen, sind zwar keine Strafen im kriminalstrafrechtlichen Sinn, dennoch aber sind sie - wie die im Strafrecht für Straftaten vorgesehenen Strafen - Empfindlichkeiten, welche in den Privatbereich der in diesem Verfahren bestraften Personen eingreifen. Diese Empfindlichkeiten sind manchmal sogar sehr fühlbar. Sie werden zwar meistens als die Zuchtmittel betrachtet, die den Bestraften im Milieu disziplinieren sollten, in welchem eine solche Verantwortlichkeit seinen Mitgliedern gegenüber vollstreckt wird. Manchmal haben Disziplinarmaßnahmen allerdings auch andere Funktionen; sie haben zumindest oft die für den Bestraften fühlbare Folgen, die über seinen Status in der Gemeinschaft hinausgehen, in der Disziplinarverantwortlichkeit auf Grund der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft vollstreckt wird. 2 Durch diesen Umstand wird man uns zur Überlegung veranlasst, ob und in welchem Ausmaß diese Verantwortlichkeit anders, als strafrechtliche Ver* Die in der vorliegenden Bearbeitung präsentierten Überlegungen knüpfen zwar mehrmals auf polnische Rechtsregelungen an, aber sie haben - wie es scheint - einen universellen Charakter und beanspruchen Aktualität auch auf dem Grund des in anderen Staaten geltenden Rechts. 1 Im deutschen Schrifttum vgl dazu z.B. / Baumann, U. Weber, W. Mitsch Strafrecht. Allgemeiner Teil. Lehrbuch, 10. Auflage, 1995, S. 50-51; C. Roxin Strafrecht. Allgemeiner Teil. Band I. Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, 1997, S. 3 und 33-34; E. Scbmidhäuser Strafrecht. Allgemeiner Teil. Lehrbuch, 2. Auflage, 1975, S. 13-14. 2 Mehr dazu im deutschen Rechtsschrifttum z . B . in: G. Jakobs Strafrecht. Allgemeiner Teil. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre. Lehrbuch, 2. Auflage, 1991, S. 55-61; H.-H. Jescheck, Th. Weigenä Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Auflage, 1996, S. 14-15; G. Stratenwerth Strafrecht. Allgemeiner Teil I. Die Straftat, 4. Auflage, 2000, S. 28-29.
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antwortlichkeit f ü r Straftaten vollstreckt w e r d e n kann o d e r ob sie nicht auf eine zumindest ähnliche A r t u n d Weise zu vollstrecken ist w i e die strafrechtliche Verantwortlichkeit. Die Disziplinarverantwortlichkeit im S p o r t ist eine der vielen A r t e n der Disziplinarverantwortlichkeit. Sie funktioniert in unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen. 3 In Polen ist sie im Arbeitsgesetzbuch als eine A r t der sog. A r b e i t n e h m e r v e r a n t w o r t l i c h k e i t vorgesehen. 4 Dieser Verantwortlichkeit sind unterstellt u . a . Lehrer, 5 Hochschullehrer, 6 Mitarbeiter der Polnischen A k a d e m i e der Wissenschaften (PAN), 7 Studenten, 8 Mitarbeiter der Staatsb e h ö r d e n , 9 Soldaten, 1 0 Polizeibeamten, 1 1 Funktionäre der O b e r s t e n A u f sichtskammer (NIK), 1 2 des Staatsschutzamtes (UOP), 1 3 des Grenzschutzes, 1 4
3 Vgl dazu u.a. T. Bojarski«. a. Prawo käme (Strafrecht), 1994, S. 20-21; M. Cies'lakPolskie prawo karne. Zarys systemowego uj^cia (Das polnische Strafrecht. Umriß der systematischen Darstellung), 1994, S. 22-23; Zb. Leonski Odpowiedzialnosc dyscyplinarna w prawie Polski Ludowej (Disziplinarverantwortlichkeit in der Volksrepublik Polen), 1959; R. Maurach, H. Zipf Strafrecht. Allgemeiner Teil. Teilband 1. Grundlehren des Strafrechts und Aufbau der Straftat. Ein Lehrbuch, 1983, S. 8 - 1 2 ; J . Pasnik Prawo dyscyplinarne w Polsce (Das Disziplinarrecht in Polen), 2000; C. Roxin Strafrecht ..., op. cit., S. 33-34; W. Swida Prawo karne (Strafrecht), 1989, S. 16-17; E. Zielinska Odpowiedzialnosc zawodowa lekarza i jej stosunek do oodpowiedzialnosci karnej (Die Berufsverantwortlichkeit des Arztes und ihr Verhältnis zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit), 2001, S. 23-24. 4 Vgl Art. 52 und 108-127 des Arbeitsgesetzbuches. 5 Gesetz vom 26. Januar 1982 - Karta Nauczyciela (Lehrergesetz), inheitlicher Text: Dz. U. (Dziennik Ustaw = Gesetzblatt; im folgenden als Dz. U.) von 1997 Nr 56, Pos. 357 6 Gesetz vom 12. September 1990 über das Hochschulwesen, Dz. U. Nr 65, Pos. 385 mit Änderungen. 7 Gesetz vom 25. April 1997 über die Polnische Akademie der Wissenschaften, Dz. U. Nr 75, Pos. 469 mit Änderungen. 8 Gesetz vom 12. September 1990 über das Hochschulwesen, Dz. U. Nr 65, Pos. 385 mit Änderungen. 9 Gesetz vom 16. September 1982 über die Staatsbeamten, Dz. U. Nr 31, Pos. 214 mit Änderungen. 10 Gesetz vom 4. September 1997 über Disziplin in der Armee, Dz. U. Nr 141, Pos. 944 mit Änderungen und Gesetz vom 21. Mai 1963 über Disziplin in der Armee und über die Verantwortlichkeit der Soldaten für Disziplinarvergehen und für Verletzungen der Soldatenehre und -würde, einheitlicher Text: Dz. U. von 1992. Nr 5, Pos. 17 mit Änderungen. 11 Gesetz vom 6. April 1990 über Polizei. Dz. U. Nr 30, Pos. 179 mit Änderungen und Verordnung des Innenministers vom 4. Juni 199 über Auszeichnungen und Disziplinarverfahren den Polizisten gegenüber, Dz. U. Nr 48, Pos. 212. 12 Gesetz vom 23. Dezember 1994 über die Oberste Aufsichtskammer (NIK), Dz. U. Nr 13, Pos. 59 mit Änderungen. 13 Gesetz vom 6. April 1990 über den Staatsschutzamt (UOP), Dz. U. Nr 30, Pos. 180 mit Änderungen. 14 Gesetz vom 12. Oktober 1990 über den Grenzschutz, Dz. U. Nr 78, Pos. 462 mit Änderungen.
Disziplinarverantwortlichkeit im Sport
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des Gefängnisdienstes, 1 5 Zollbeamten, 1 6 Feuerwehrmänner, 1 7 Staatsanwälte, 1 8 Richter, 1 9 Rechtsanwälte, 2 0 Justiziare, 2 1 Notare, 2 2 Gerichtsvollzieher, 2 3 Patentanwälte, 2 4 Wirtschaftsprüfer, 2 5 Steuerberater, 2 6 Makler, 2 7 Immobilienmakler, 2 8 Personen, die selbständige technische Funktionen im Bauwesen haben. 2 9 Einen ähnlichen C h a r a k t e r hat die sog. Berufsverantwortlichkeit der A r z t e , 3 0 Tierärzte, 3 1 Krankenschwester und H e b a m m e n , 3 2 und A p o t h e k e r . 3 3 Die Disziplinarverantwortlichkeit ist in den Statuten zahlreicher Vereine u n d Vereinsverbände vorgesehen, die in Polen auf G r u n d des Gesetzes v o m 15 Gesetz vom 26. April 1996 über den Gefängnisdienst, Dz. U. Nr 61, Pos. 283 mit Änderungen. 16 Gesetz vom 24. Juli 1999 über den Zolldienst, Dz. U. Nr 72, Pos. 802. 17 Gesetz vom 24. August 1991 über Staatliche Feuerwehr, Dz. U. Nr 88, Pos. 400 mit Änderungen. 18 Gesetz vom 20. Juni 1985 über die Staatsanwaltschaft, einheitlicher Text: Dz. U. von 1994 Nr 19, Pos. 70 mit Änderungen. 19 Gesetz vom 20. Juni 1985 über die Verfassung allgemeiner Gerichte, einheitlicher Text: Dz. U. von 1994 Nr 7, Pos. 25 mit Änderungen), Gesetz vom 21. August 1997 über die Verfassung der Militärgerichte, Dz. U. Nr 117, Pos. 753, Gesetz vom 20. September 1984 über das Oberste Gericht, einheitlicher Text: Dz. U. von 1993 Nr 13, Pos. 48 mit Änderungen, Gesetz vom 11. Mai 1995 über das Oberste Verwaltungsgericht (NSA), Dz. U. Nr 74, Pos. 368 mit Änderungen und Gesetz vom 1. August 1997 über das Verfassungsgericht, Dz. U. Nr 102, Pos. 643. 20 Gesetz vom 26. Mai 1982 über die Rechtsanwaltschaft, Dz. U. Nr 16, Pos. 124 mit Änderungen. 21 Gesetz vom 6. Juli 1982 über Rechtbeistände, Dz. U. Nr 19, Pos. 145 mit Änderungen. 22 Gesetz vom 14. Februar 1991 über das Notariat, Dz. U. Nr 22, Pos. 91 mit Änderungen. 23 Gesetz vom 29. August 1997 über Gerichtsvollzieher und Vollstreckung, Dz. U. Nr 133, Pos. 882. 24 Gesetz vom 9. Januar 1993 über Patentanwälte, Dz. U. Nr 10, Pos. 46. 25 Gesetz vom 13. Oktober 1994 über Wirtschaftsprüfer und ihre Selbstverwaltung, Dz. U. Nr 121, Pos. 592. 26 Gesetz vom 5. Juli 1996 über die Steuerberatung, Dz. U. Nr 102, Pos. 475. 27 Gesetz vom 27 August 1997 über den öffentlichen Verkehr mit Wertpapieren, Dz. U. Nr 118, Pos. 754. 28 Gesetz vom 21. August 1997 über Immobilienwirtschaft, Dz. U. Nr 115, Pos. 741. 29 Gesetz vom 7 Juli 1994 - Baugesetz, Dz. U. Nr 89, Pos. 414 mit Änderungen. 30 Das Gesetz vom 17 Mai 1989 über Ärztekammer, Dz. U. Nr 30, Pos. 158 mit Änderungen und die auf Grund der in diesem Gesetz formulierten Bevollmächtigung erlassene Verordnung des Ministers für Gesundheitswesen und Gesundheitliche Fürsorge vom 26. September 1990 über das Verfahren in Sachen der Berufsverantwortlichkeit der Ärzte, Dz. U. Nr 64, Pos. 406. Vgl zu dieser Verantwortlichkeit auch z.B. E. Zielinska Odpowiedzialnosc . . ., op. cit. 31 Gesetz vom 21. Dezember 1991 über den Tierarztberuf und Ärzte- und Tierärztekammern, Dz. U. Nr 8, Pos. 27 mit Änderungen. 32 Gesetz vom 19. April 1991 über die Selbstverwaltung der Krankenschwestern und Hebammen, Dz. U. Nr 41, Pos. 178 mit Änderungen. 33 Gesetz vom 19. April 1991 über Apothekerkammern, Dz. U. Nr 41, Pos. 179 mit Änderungen.
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Ζ April 1989 über das Vereinsrecht34 tätig sind. Obwohl das Gesetz selbst keine Regelung dieser Verantwortlichkeit enthält, ist eine gesetzliche Möglichkeit ihrer Festsetzung und Regelung in den Statuten der Vereine und Vereinsverbände nicht ausgeschlossen. Eine solche Verantwortlichkeit wird jedoch nicht immer Disziplinarverantwortlichkeit genannt. Sie wird manchmal als Organisationsverantwortlichkeit oder Vereins- bzw. Verbandsverantwortlichkeit bezeichnet. Sie wird in der Regel im Schlichtungsverfahren vollstreckt, das allerdings manchmal auch andere Funktionen hat. 35 Die besprochene Verantwortlichkeit wird überhaupt unterschiedlich benannt. Neben den genannten Bestimmungen („Disziplinarverantwortlichkeit", „Organisationsverantwortlichkeit", „Vereins- bzw. Verbandsverantwortlichkeit") kann man solchen Bezeichnungen begegnen, wie „Dienstverantwortlichkeit", „Berufsverantwortlichkeit", „Ordnungsverantwortlichkeit" oder „ehrenhafte Verantwortlichkeit".36 Auch der Charakter der besprochenen Verantwortlichkeit ist differenziert, selbst wenn sie mit demselben Namen einheitlich bestimmt wird, wie z.B. als „Disziplinarverantwortlichkeit". Diese Differenzierung zeigt sich schon darin, dass die Verantwortlichkeit sich einmal stützt, ein anderes Mal nicht stützt auf Rechtsakten, die Quelle des allgemeingeltenden Rechts sind. Wenn dagegen eine solche Rechtsgrundlage vorhanden ist, wird die Art der Regelung dieser Verantwortlichkeit differenziert. Diese Differenzierung zeigt sich vor allem darin, dass man einen unterschiedlichen Katalog und Charakter der als Disziplinarverfehlungen anerkannten Handlungen aufstellt. Unterschiedlich werden Tatbestandsmerkmale solcher Handlungen formuliert. Eine generelle Erscheinung ist das Beschreiben solcher Handlungen auf eine sehr allgemeine Art und Weise, ohne dabei den für die strafrechtliche Verantwortlichkeit fundamentalen Bestimmtheitsgrundsatz zu beachten, dafür aber unter Anwendung der stark wertenden Begriffe, oft in Form der sog. Verweisungsdispositionen oder der sog. Blankettdispositionen. Unterschiedlich werden Grundsätze der Disziplinarverantwortlichkeit formuliert, z.B. diejenigen, die diese Verantwortlichkeit von der vorsätzlichen bzw. fahrlässigen Verübung eines Disziplinarvergehens abhängig machen oder häufiger nicht machen bzw. sie nicht differenzieren. Nicht immer oder unterschiedlich werden Verantwortungsgrundsätze für Disziplinarvergehen formuliert, welche in Form z.B. des Versuchs, der Anstiftung oder Beihilfe verübt werden. Ausschließungsgründe dieser Verantwortlichkeit werden oft gar nicht geregelt. 34
Dz. U. N r 20, Pos. 104 mit Änderungen. Vgl z.B. Z. Szypulski Prawo ο stowarzyszeniach (Vereinsrecht), 1997, S. 48, 56-57, 169-185. 36 Vgl dazu z.B. E. Zielmska Odpowicdzialnosc op. cit., S. 23-26. 35
Disziplinarverantwortlichkeit im Sport
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Der Maßnahmenkatalog umfasst im Falle der Disziplinarverantwortlichkeit verschiedene Maßnahmen. Disziplinarmaßnahmen beeinträchtigen meistens mehr oder weniger den späteren Status des Bestraften in der Gemeinschaft, in der - auf Grund der Zugehörigkeit des Bestraften - die Disziplinarverantwortlichkeit (als z . B . Verweis, Rüge, Suspendierung der Rechte des Gemeinschaftsmitglieds, Ausschluss) vollstreckt wird. Nicht selten sind aber auch solche Maßnahmen vorgesehen, die in die mit diesem Status nicht verbundenen Rechte und Freiheiten des Bestraften eingreifen und über diesen Status hinausgehen. Für Disziplinarvergehen kann man in der Regel jede Maßnahme aus dem Katalog der Disziplinarmaßnahmen anwenden. Große bzw. uneingeschränkte Freiheit in der Wahl einer bestimmten Maßnahme wird auch dadurch vergrößert, dass in Disziplinarregelungen selten solche Grundsätze der Anwendung der Disziplinarmaßnahmen formuliert werden, die verschieden motivierte Differenzierung der angewendeten Repression zum Ziel hätten. Der Verlauf des Disziplinarverfahrens und die Anfechtbarkeit der Disziplinarentscheidungen sowohl vor den Disziplinarorganen einer Gemeinschaft, in der diese Verantwortlichkeit vorgesehen ist und vollstreckt wird, als auch eventuell vor anderen Organen, darin auch vor staatlichen Gerichten, wird verschieden und nicht immer detailliert genug geregelt. Auch die eventuelle Hilfsanwendung im Disziplinarverfahren anderer Prozessregelungen, z . B . der Regeln der Strafverfahrensordnung, der Zivilverfahrensordnung oder Verwaltungsverfahrensordnung wird unterschiedlich gestaltet. Disziplinarrechtliche Regelungen beziehen sich unterschiedlich auf andere als Disziplinarmaßnahmen Konsequenzen eines Disziplinarvergehens, das bei gleichzeitiger Erfüllung der Tatbestandsmerkmale einer Straftat die strafrechtliche Verantwortlichkeit, oder im Falle eines dadurch verursachten Schadens - die zivilrechtliche Entschädigungsverantwortlichkeit begründen kann. Die Disziplinarverantwortlichkeit schließt zwar bekanntlich andere Arten der Verantwortlichkeit für dasselbe Verhalten, z . B . die strafrechtliche Verantwortlichkeit bzw. zivilrechtliche Entschädigungsverantwortlichkeit, nicht aus, aber der Einfluss jener Arten der Verantwortlichkeit auf die Vollstreckung der Disziplinarverantwortlichkeit wird unterschiedlich bestimmt. Im Kontext der differenzierten Gestaltung der Disziplinarverantwortlichkeit ist Uberprüfung und Begutachtung der im Sport vorgesehen Disziplinarverantwortlichkeit unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Merkmale wünschenswert. Die ohnehin große praktische Bedeutung dieser Verantwortlichkeit wurde letztens noch vergrößert durch die Vermassung des Sports, seine Professionalisierung und Kommerzialisierung sowie im Hinblick auf die Notwendigkeit der Bekämpfung - auch durch die Vollstreckung der Disziplinarverantwortlichkeit - vieler unerwünschter Begleiterscheinungen des modernen Sports.
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Die Beurteilung der im Sport vorgesehenen Disziplinarverantwortlichkeit, wie übrigens jeder Disziplinarverantwortlichkeit, die Beurteilung der diese Verantwortlichkeit bestimmenden Regelungen, die Lösung vieler Probleme im Zusammenhang mit der Vollstreckung dieser Verantwortlichkeit sowie eventuelle Postulate bezüglich ihrer Modifizierung sollen in erster Linie durch Bestimmungen der Grundlagen und des Rechtscharakters dieser Verantwortlichkeit determiniert sein. Die Frage, ob die im Sport vorgesehene Disziplinarverantwortlichkeit ein Element des Privatrechts oder des Öffentlichen Rechts ist, rückt in den Vordergrund. Ist sie also ein Element des Privatrechts in diesem Sinn, dass sie eine Art der Vertragsverantwortlichkeit ist, dass sie auf Grund eines Vertrages zwischen dem Sportler und anderen Beteiligten an der sportlichen Tätigkeit mit den sportlichen Organisationen funktioniert, in denen sie vollstreckt wird? Ist sie also ein Element des privatrechtlichen Verhältnisses? Oder ist die Disziplinarverantwortlichkeit im Sport vielmehr ein Element des Öffentlichen Rechts in diesem Sinne, dass sie eine Verantwortlichkeit ist, die direkt vom Staat oder zwar von den Disziplinarorganen der sportlichen Organisationen vollzogen wird, aber auf Grund des staatlichen Auftrags, der Realisierung des staatlichen Rechts der Anwendung von Zuchtmitteln oder des staatlichen Bestrafungsrechts ? Bei der Annahme, dass die Disziplinarverantwortlichkeit im Sport eine Vertragsverantwortlichkeit ist, wäre die Uberzeugung, dass Grundsätze der Vollstreckung dieser Verantwortlichkeit auch ein Vertragselement sind, durchaus berechtigt. Dies würde bedeuten, dass diese Grundsätze vertragsmäßig frei gestaltet werden können und dass sie mit der Vertragsschließung in Kraft treten, wenn z.B. ein Sportler freiwillig einem Sportklub beitritt (z.B. wenn er die Mitgliedschaft eines in Rechtsform des Vereins funktionierenden Sportklubs erwirbt) und dadurch die Bedingungen der Klubmitgliedschaft akzeptiert, darin auch die Bedingungen der im Rahmen dieser Mitgliedschaft bestimmten Disziplinarverantwortlichkeit. Angesichts der privatrechtlich sanktionierten Möglichkeit einer freien Gestaltung der Verträge wäre die eventuelle Infragestellung der als vertragsmäßig festgelegten Grundsätze der Disziplinarverantwortlichkeit erschwert. Doch eine solche Möglichkeit kann nicht definitiv ausgeschlossen werden, z.B. dann, wenn man - insbesondere im Berufssport, welcher eine Art der Wirtschaftstätigkeit ist - einer Sportorganisation, die ihren Mitgliedern bestimmte Grundsätze der Disziplinarverantwortlichkeit aufzwingt, den Missbrauch ihrer monopolistischen Stellung zum Vorwurf machen kann. Im heutigen Sport ist das leider keine nur theoretische Möglichkeit. Die Monopolstellung nationaler Verbände und internationaler Föderationen sowie mancher anderer Sportorganisationen im In- und Ausland ist eine fraglose Wirklichkeit. Wenn man also an der sportlichen Tätigkeit in bestimmter Form, z.B. an einer Weltmeisterschaft oder den Olympischen
Disziplinarverantwortlichkeit im Sport
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Spielen, teilnehmen will, muss man sich bedingungslos den Regelungen einer bestimmten internationalen Sportföderation bzw. den Regelungen des Internationalen Olympischen Komitees, darin auch den Disziplinarregelungen fügen. Andererseits wird nicht nur die Teilnahme an solchen konkreten Sportveranstaltungen, sondern auch - im Hinblick auf die Monopolstellung solcher Organisationen und den singulären Charakter der von ihnen organisierten Veranstaltungen - jede Teilnahme an solchem Sportwettbewerb ausgeschlossen. Diese Folgen können auch auf die durch solche monopolistische Organisationen vollstreckte Disziplinarverantwortlichkeit zurückgeführt werden. Die Disziplinarverantwortlichkeit wäre dagegen anders zu sehen, vorausgesetzt, dass man sie als Realisierung eines staatlichen Auftrags über die Bestrafung, über die Vollstreckung der Disziplinarverantwortlichkeit betrachten würde, der man bei der Teilnahme an der sportlichen Tätigkeit nicht vertragsmäßig, sondern rechtskräftig untergeordnet ist. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob in solchem Fall auch die Grundsätze solcher Verantwortlichkeit vom Staat bestimmt sind oder werden sollten, oder ob der Staat falls er den sportlichen Organisationen in diesen Angelegenheiten Freiheit gibt - diese Freiheit in welchem Ausmaß auch immer beschränken, prüfen oder irgendwie beeinflussen soll. Mehr legitim ist im Falle der so verstandenen Disziplinarverantwortlichkeit zweifelsohne Prüfung und eventuelle Infragestellung der Grundsätze der Vollstreckung der besprochenen Verantwortlichkeit im Sport. Man muss sich dessen bewusst sein, dass die rechtliche Begründung der Disziplinarverantwortlichkeit im Sport und im Zusammenhang damit ihr Rechtscharakter in verschiedenen Staaten auf Grund verschiedener Rechtssysteme unterschiedlich sein können. Demzufolge kann die mögliche Infragestellung der Grundsätze der Vollstreckung dieser Verantwortlichkeit in jeweiligen Ländern differenziert sein. Man kann übrigens den zumindest gewissermaßen differenzierten Charakter der Disziplinarverantwortlichkeit im Sport sogar auf Grund desselben Rechtssystems nicht ausschließen, wenn man dabei z.B. folgende verschiedene Situationen berücksichtigt. Manchmal ist es so, dass die Disziplinarverantwortlichkeit in der einen als Verein tätigen Sportklub bildenden Gemeinschaft durch Disziplinarorgane dieses Klubs den Sportlern und anderen Klubmitgliedern gegenüber, also auf Grund der Mitgliedschaft, vollstreckt wird. Manchmal dagegen wird sie durch Disziplinarorgane eines Sportklubs den Sportlern und anderen Personen gegenüber vollstreckt, die mit dem Klub nicht durch Mitgliedschaft, sondern durch einen Arbeitsvertrag bzw. einen zivilrechtlichen Vertrag verbunden sind. Nicht zuletzt wird sie manchmal auch durch Disziplinarorgane eines Sportklubs, Sportverbandes, einer internationalen Sportföderation bzw. durch eine nationale oder internationale Sportorganisation den Sportlern oder anderen Personen ge-
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genüber auf Grund ihrer Teilnahme an den vom Klub, Verband oder einer anderen Organisation organisierten Veranstaltungen vollstreckt, auch gegenüber den Teilnehmern an einer Sportveranstaltung, welche entweder keine Organisationsmitgliedschaft haben, oder in diesen Organisationen vereint bzw. mit ihnen nur indirekt, durch die Zugehörigkeit ihres Sportklubs zu einem Verein, Verband oder anderen Organisation, verbunden sind. Disziplinarverantwortlichkeit hat in Polen eine gesetzliche Grundlage. Sie ist in Art. 25 Abs. 3, Art. 37 und Art. 49 Abs. 2 u. 3 des Gesetztes vom 18. Januar 1996 über die Körperkultur, 37 in den Rechtsvollzugsakten zu diesem Gesetz, insbesondere in der Verordnung des Präsidenten des Amtes für Körperkultur und Tourismus vom 20. Juni 1997 über die Annahme der Liste verbotener pharmakologischer Mittel und der als Doping angesehenen Methoden 38 und in der Verordnung des Präsidenten des Amtes für Körperkultur und Tourismus vom 21. Juli 1997 über die Grundsätze der Disziplinarverantwortlichkeit für die Verletzung der Antidopingvorschriften 39 vorgesehen. Mit diesen Regelungen wurden jedoch nur wenige Fragen gelöst, die mit der Vollstreckung dieser Verantwortlichkeit verbunden sind. Im Zusammenhang damit bestimmt Art. 25 Abs. 3 dieses Gesetzes, dass „Der Sportler im Falle der Nichterfüllung der in Abs. 1 bestimmten Pflichten die Disziplinarverantwortlichkeit auf Grund der Bestimmungen dieses Gesetzes, der Statuten und Reglements der Körperkulturvereine und Sportverbände und der Arbeitsverträge tragen kann". In dieser Vorschrift wurde also die Bevollmächtigung zu einer genaueren Regelung der Disziplinarverantwortlichkeit im Sport durch Sportklubs, -verbände und -föderationen formuliert. Diese Verantwortlichkeit ist also in der Tat genauer in den Statuten der Sportklubs, Sportverbände und internationalen Sportföderationen geregelt. Sie ist vorgesehen und geregelt z.B. in §§ 40-58 des Statuts des Polnischen Fußballverbandes und im Disziplinarreglement, welches vom Vorstand des Polnischen Fußballverbandes verabschiedet wurde. Nicht ohne Bedeutung ist also in der Beurteilung des Rechtscharakters der Disziplinarverantwortlichkeit im polnischen Sport der Umstand, dass diese in rechtlichen Regelungen vom Rang des Gesetzes vorgesehene Verantwortlichkeit eine gesetzliche Grundlage hat. Trotzdem ist es fraglich, ob die Disziplinarverantwortlichkeit im Sport ein Element des privatrechtlichen Verhältnisses oder eher die Realisierung des staatlichen Auftrags, des
Dz. U. Nr 25, Pos. 113 mit Änderungen. Μ. P. (Monitor Polski = Gesetzblatt; im folgenden als M.P.) Nr 44, Pos. 432. 39 Por. §§ 5 - 7 der Verordnung des Vorsitzenden des Amtes für Körperkultur und Tourismus vom 21. Juli 1997 über Grundsätze der Disziplinarverantwortlichkeit für Verletzung der Antidopingvorschriften, M.P. Nr 46, Pos. 452. 37 38
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staatlichen Bestrafungsrechts ist, zumal dass diese Bestrafung in Polen - wie bereits gezeigt - sogar im Gesetz vorgesehen ist. 40 Abgesehen von den polnischen Verhältnissen werden in weiteren Ausführungen die mit der Disziplinarverantwortlichkeit im Sport vorgesehenen Probleme geschildert, welche heutzutage in vielen Staaten erörtert werden, unabhängig von dem differenzierten Charakter der besprochenen Verantwortlichkeit. Es geht hier um die Grundsätze der Disziplinarverantwortlichkeit im Sport, die bedenklich sind oder sogar in Frage gestellt werden. Oft handelt es sich um solche Grundsätze, die deshalb fraglich sind, weil sie von den Grundsätzen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit abweichen trotz bemerkbarer Ähnlichkeiten zwischen der Disziplinarverantwortlichkeit und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bzw. im Hinblick auf die Empfindlichkeit der Disziplinarmaßnahmen, die man manchmal mit der Spürbarkeit der Strafsanktionen vergleicht, insbesondere dann, wenn diese Empfindlichkeit über den Status des bestraften Sportlers in der Gemeinschaft hinausgeht, in der die Disziplinarverantwortlichkeit auf Grund der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft vollstreckt wird. Zweifel oder sogar Bedenken erweckt also ζ. B. der Umstand, dass sportliche Disziplinarvergehen in entsprechenden Regelungen oft zu allgemein, wenig präzise und ungenügend, also unter Verletzung des Bestimmtheitsprinzips bestimmt werden. Diese Erscheinung registriert man relativ oft z . B . im Bereich der für Dopingpraktiken vorgesehenen Disziplinarverantwortlichkeit. In den Regelungen mancher nationaler Sportverbände oder internationaler Sportföderationen ist manchmal die Anwendung nicht nur der enumerativ aufgezählten Dopingmittel und -methoden, sondern auch anderer ähnlicher Mittel oder Methoden untersagt, die aber genauer nicht bestimmt werden. 41 40 Hier stellt sich die Frage, ob und welche Bedeutung der Umstand haben kann, dass falsche Beschuldigung (eine Straftat im Sinne des Art. 234 des polnischen StGB) oder die Lenkung auf eine andere Person der Verfolgung durch die Erzeugung falscher Beweise bzw. andere hinterlistige Verfahren (eine Straftat im Sinne des Art. 235 des polnischen StGB) im geltenden polnischen Strafrecht als Straftaten anerkannt werden, wenn auf diese Weise die Verdacht nicht nur einer Straftat oder eines Vergehens, sondern auch eines Disziplinarvergehens entsteht. Auch die Frage, ob man angesichts der aufgezeigten gesetzlichen Grundlegung der sportlichen Disziplinarverantwortlichkeit annehmen kann, dass sportliche Disziplinarorgane auf der Grundlage des Gesetzes handeln, bedarf hier der Erörterung. Denn wenn es dem so ist, dann verleiht Art. 115 § 13 des polnischen StGB den in solchen Disziplinarorganen entscheidenden Personen den Status „öffentlicher Funktionäre". Dieser Status determiniert die strafrechtliche Verantwortlichkeit für manche Verhalten, die - wenn sie von den diesen Status nicht besitzenden Personen realisiert werden - entweder keine Straftaten (sog. individuelle eigentliche Straftaten) sind, oder milder gestraft werden (die sog. individuellen uneigentlichen Straftaten). 41 Vgl dazu z.B. K. Vieweg Grundinformationen zur Dopingproblematik, [in:] K. Vieweg, Doping. Realität und Recht, 1998, S. 21-27.
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Dasselbe bezieht sich auf die häufig ungenügende Formulierung der Grundsätze der besprochenen Verantwortlichkeit in den Disziplinarregelungen. Solche Grundsätze sollen ja irgendwie bestimmt sein, auch wenn ihre andere Fassung dadurch erklärbar wäre, dass die Gewichtigkeit der Disziplinarvergehen geringer wäre als die Gewichtigkeit der Taten, welche im Strafrecht als Straftaten, oder im Übertretungsrecht bzw. dem Ordnungswidrigkeitsrecht als Übertretungen bzw. Ordnungswidrigkeiten angesehen würden. Die Notwendigkeit der Formulierung der Grundsätze der Verantwortlichkeit für Disziplinarvergehen ist durch die Dringlichkeit ihrer entsprechenden Differenzierung und der Realisierung auch in diesem Bereich des Verhältnismäßigkeitsprinzips determiniert, welches als Grundsatz in jeder Verantwortlichkeit gilt. Es geht hier sowohl um die Verhältnismäßigkeit, mit welcher - unter Berücksichtigung differenzierter Gewichtigkeit einzelner Disziplinarvergehen - die Disziplinarverantwortlichkeit zu vollstrecken ist, als auch um die Verhältnismäßigkeit, die mit der Gewichtigkeit der Handlungen und der dafür im Rahmen anderer Arten der Verantwortlichkeit zugemessenen Sanktionen vergleichbar ist. Die Wichtigkeit dieser Notwendigkeit wächst mit der Fühlbarkeit der Verantwortlichkeit. Und die im Sport vollstreckte Disziplinarverantwortlichkeit ist manchmal sehr fühlbar. Bedenklich ist im Zusammenhang damit der Umstand, dass die Disziplinarverantwortlichkeit im Sport manchmal nach den weit weniger rigorosen Grundsätzen vollstreckt wird, als z.B. die Grundsätze der Verantwortlichkeit für Straftaten, Übertretungen bzw. Ordnungswidrigkeiten, obwohl auf Grund der Disziplinarverantwortlichkeit manchmal Maßnahmen verhängt werden, die mit den im Strafrecht für Straftaten oder mit den im Übertretungsrecht bzw. Ordnungswidrigkeitsrecht für Übertretungen bzw. Ordnungswidrigkeiten vorgesehenen Strafen oder Strafmitteln vergleichbar sind. Als Beispiel können hier die manchmal im Sport verhängten Finanzsanktionen dienen, die ja mit der Geldstrafe im Strafrecht oder Übertretungsrecht bzw. mit der Geldbuße im Ordnungswidrigkeitsrecht vergleichbar sind. Eine solche Maßnahme ist z.B. im § 56 Abs. 2 des Status des Polnischen Fußballverbandes vorgesehen. Ein anderes Beispiel ist die in sehr vielen sportlichen disziplinarischen Regelungen, z.B. im § 56 Abs. 2 des Status des Polnischen Fußballverbandes (als Verbot der Teilnahme an einer bestimmten Anzahl von Spielen, ein befristetes oder lebenslängliches Verbot) vorgesehene Sperre. Sie ist auch für Dopingpraktiken in §§ 5 - 7 der bereits erwähnten Verordnung des Präsidenten des Amtes für Körperkultur und Tourismus vom 21. Juni 1997 über die Grundsätze der Disziplinarverantwortlichkeit für die Verletzung der Antidopingvorschriften vorgesehen. Es sei dabei bemerkt, dass diese Sanktion - zumindest im Falle eines Berufssportlers - mit dem Strafmittel des Verbots der Ausübung eines bestimmten
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Berufes oder einer bestimmten wirtschaftlichen Tätigkeit vergleichbar ist, welches z.B. im polnischen Strafrecht in Art. 39 Pkt. 2 und 41 des polnischen Strafgesetzbuches vorgesehen ist.42 Und noch mehr: ein solches Mittel kann laut Art. 41 des polnischen Strafgesetzbuches auf Grund der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für eine Straftat nur im Falle der Bedrohung wesentlicher Rechtsgüter verhängt werden. Dieses Mittel kann laut Art. 43 des polnischen Strafgesetzbuches nur für eine Frist von 1-10 Jahren verhängt werden. Im Verfahren der Disziplinarverantwortlichkeit kann es dagegen - laut der oben genannten Vorschriften - ohne diese zeitlichen Einschränkungen, sogar lebenslänglich verhängt werden. Andere Bedenken bezüglich der Grundsätze der Disziplinarverantwortlichkeit im Sport betreffen den Grundsatz, nach dem man - ohne das im Strafrecht fundamentale Schuldprinzip zu beachten - allgemein, insbesondere im Sport, die Verantwortlichkeit für Dopingpraktiken vollstreckt. Vorherrschend ist dabei solche Praxis, in der allein die Entdeckung im Organismus des Sportlers einer Dopingsubstanz den ausreichenden Grund für die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen darstellt, ohne Feststellung oder unabhängig davon, ob der Sportler sich selbständig Dopingmittel verabreichte, oder jemand sie ihm in den Organismus einführte, ob er sich dessen bewusst war, oder sogar es wollte, bzw. zumindest es hinnahm, ob er das Bewusstsein dieser Tatsache hatte oder zumindest haben sollte. Die Verantwortlichkeit, die vollstreckt wird, ohne solche subjektive Elemente zu berücksichtigen, pflegt man als „strict liability" zu bezeichnen. 43 Hier stellt sich die Frage, ob dieses Verfahren - insbesondere beim Mangel an deutlichen diesbezüglichen Disziplinarregelungen - akzeptiert werden kann und soll, oder ob man vielleicht die Verschärfung der besprochenen Kriterien der Disziplinarverantwortlichkeit und ihre Vollstreckung - nach dem Vorbild der strafrechtlichen Verantwortlichkeit - nur für verschuldete Disziplinarvergehen, jedenfalls für vorsätzliche bzw. zumindest fahrlässige Vergehen postulieren soll. Am Rande des Nachdenkens über richtige Lösungen dieses Problems soll angemerkt werden, dass die vielleicht wünschenswerte Durchsetzung des Prinzips der Verantwortlichkeit nur für verschuldete, vorsätzlich oder fahrlässig begangene Vergehen die Effektivität der Bekämpfung des Dopings im Sport doch stark reduzieren, wenn gerade nicht zunichte machen könnte. Denn man muss sich vergegenwärtigen, dass Dopingpraktiken immer dann 42
Vgl dazu z.B. M. Cieslak Polskie ..., op. cit., S. 23. Vgl dazu z.B. K. Vieweg Grundinformationen zur Dopingproblematik, [in:] K. Vieweg, Doping. Realität und Recht, 1998, S. 26-27; Ε. N. Vrijman Auf dem Weg zur Harmonisierung: Ein Kommentar zu aktuellen Aspekten und Problemen, [in:] K. Vieweg, Doping. Realität und Recht, 1998, S. 177-178; S. Netzle Wie hält es das Internationale Sportschiedsgericht mit dem Doping?, [in:] K. Vieweg, Doping. Realität und Recht, 1998, S. 197-198. 43
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straflos bleiben müssten, wenn man dem Sportler nicht beweisen kann (was übrigens nicht einmal schwierig ist), dass die Anwendung der Dopingmittel Vorsätzlichkeit oder zumindest Fahrlässigkeit begleitete. Hier gibt es also einen Interessengegensatz. Was ist also wichtiger: die Beachtung des fundamentalen Grundsatzes der Verantwortlichkeit nur für verschuldete, vorsätzliche oder fahrlässige Handlungen, oder aber ein effektiver Kampf mit dem Doping im Sport, obwohl dabei dieser Grundsatz verletzt wird? Erwägenswert wäre in diesem Zusammenhang auch eine Kompromisslösung, die ebenso einen vielleicht effektiven Kampf mit dem Doping garantieren würde. Eine solche Lösung könnte ζ. B. die Vollstreckung für Dopingpraktiken - unabhängig von ihrer Vorsätzlichkeit oder Fahrlässigkeit - der sog. „sportlichen Verantwortlichkeit" sein. Diese mildere Verantwortlichkeit würde in Form solcher mit weiterem Verlauf des sportlichen Wettbewerbs oder seinen Resultaten verbundener und in den Reglements bestimmter Sportdisziplinen vorgesehener Sanktionen, wie Verweis, Feldverweis, Ungültigkeitserklärung des Resultats, Rekords oder sonstiges Ergebnisses des Wettkampfes vollstreckt. Mit diesen Sanktionen verbindet sich der Verweis von dem eroberten Platz, die Zurücknahme der Medaille, der Verweis des Teams auf einen niedrigeren Platz in seiner Spielklasse u.a. Eine strengere Disziplinarverantwortlichkeit würde dagegen - unabhängig von der so verstandenen „sportlichen Verantwortlichkeit" - unter Beachtung strengerer Grundsätze der Verantwortlichkeit, u. a. unter der Bedingung der Feststellung, dass ein Disziplinarvergehen vorsätzlich oder zumindest fahrlässig begangen wurde, vollstreckt. Für eine solche Kompromisslösung spricht die Beobachtung, dass die sog. „sportliche Verantwortlichkeit", die zwar milder als Disziplinarverantwortlichkeit ist, doch für den Sportler, insbesondere für den Leistungs- und Berufssportler, auch eine fühlbare Strafe ist. In Form einer solchen Verantwortlichkeit wird außerdem das Hauptziel des Kampfes mit dem Doping realisiert, welches die Schaffung gleicher Chancen im Sportwettbewerb darstellt. Der Kampf mit dem Doping in Form der so verstandenen sportlichen Verantwortlichkeit kann auch dann erfolgreich sein, wenn sie eine unweigerliche Verantwortlichkeit, welche in jedem Fall der Verletzung der Antidopingregeln vollstreckt wird und eine sofort vollstreckte Verantwortlichkeit ist. Man kann hoffen, dass die Effektivität der im Sport vollstreckten Verantwortlichkeit - wie im Falle jeder Verantwortlichkeit - stärker von der Unweigerlichkeit und Blitzartigkeit der Reaktion als von ihrer Strenge abhängt. Eine andere Praxis, die im Bereich der sportlichen Disziplinarverantwortlichkeit auch Bedenken erweckt, ist ihre Vollstreckung auf Grund der Handlungen einer anderen Person bzw. anderer Personen, also für fremde Handlungen, was auch von den Grundsätzen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit abweicht. Das ist z.B. bei der Disziplinarbestrafung eines
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Sportlers für Doping der Fall, wenn das Dopingmittel in seinen Organismus von einer anderen Person, ohne seine Beteiligung und sein Wissen eingeführt wurde. In den Disziplinarregelungen beobachtet man nicht zuletzt auch die Nichtbeachtung der Umstände, die bezüglich anderer ernsthafterer Arten der Verantwortlichkeit, wie z . B . der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Straftaten oder Übertretungen bzw. Ordnungswidrigkeiten als Verantwortungsausschließungsgründe betrachtet werden. Im Falle der Dopingpraktiken registriert man ζ. B. Erklärungen, dass Dopingsubstanz in den Organismus gelangte, weil man notwendig eine Arznei einnehmen musste, die diese Substanz enthält, also ein gewisser Notstand da war. Hier stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit solcher Rechtfertigungen, wenn die Disziplinarvorschriften im Gegensatz z . B . zum Strafrecht - meistens keine sogenannten Verantwortungsausschließungsgründe vorsehen. Die Frage ist, ob man in dieser Situation die Anwendung einer Arznei mit der untersagten Dopingsubstanz als gerechtfertigt und die Disziplinarverantwortlichkeit ausschließend erkennen kann oder soll, wenn die Unterlassung der Behandlung das Leben oder die Gesundheit des Sportlers einer Gefahr aussetzen oder ernsthafte negative Folgen nach sich ziehen würde. 44 Der Ausschluss der Disziplinarverantwortlichkeit, z . B . für Dopingpraktiken, wird auch durch einen Irrtum nicht ausgeschlossen, selbst wenn dieser Irrtum gerechtfertigt ist. Der Ausschluß einer solchen Verantwortlichkeit gilt unterdessen manchmal als begründet, wenn z . B . der Sportler aus gesundheitlichen Gründen und rechtzeitig vor der geplanten Teilnahme an einer Sportveranstaltung eine Arznei mit der Dopingsubstanz einnahm, welche in seinem Organismus nach dem Ablauf der Frist entdeckt wurde, nach der - laut Gebrauchsanweisung - im Organismus keine Spur dieser Substanz bleiben soll. 45 Auch das in der sportlichen Disziplinarverantwortlichkeit vorgesehene Maßnahmesystem ist kritisch zu prüfen. Mit dem Rechtscharakter dieser Verantwortlichkeit ist direkt vor allem das Problem des Charakters von Disziplinarmaßnahmen verbunden. Sollen diese Maßnahmen im Falle des privatrechtlichen Charakters dieser Verantwortlichkeit nur in die internen Beziehungen des Bestraften mit der die Verantwortlichkeit vollstreckenden Organisation, nur in seinen Status in dieser Organisation eingreifen, oder aber können die Disziplinarmaßnahmen - insbesondere dann, wenn dieser Verantwortlichkeit öffentlichrechtlicher Charakter, der Charakter eines staatlichen Auftrags, der im Namen des Staates vollstreckten Verantwort44 Vgl dazu weg, Doping. 45 Vgl dazu weg, Doping.
z.B. K. Realität z.B. K. Realität
Vieweg Grundinformationen zur Dopingproblematik, [in:] K. Vieund Recht, 1998, S. 26, 28-29, 31. Vieweg Grundinformationen zur Dopingproblematik, [in:] K. Vieund Recht, 1998, S. 26, 31.
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lichkeit zugeschrieben wird - auch Empfindlichkeit in den Bereichen außerhalb dieser Beziehungen, dieses Status bringen und dabei Eigenschaften der für Straftaten, Übertretungen bzw. Ordnungswidrigkeiten zugemessenen Strafen haben? In diesem Zusammenhang erscheint die schon früher angedeutete Reflexion, dass in der Situation, in der Sportverbände, -föderationen und andere Organisationen eine monopolistische Stellung haben, die typische und oft in Form der sportlichen Disziplinarverantwortlichkeit als befristete oder lebenslängliche Sperre verhängte Disziplinarmaßnahme nicht einmal einen totalen Ausschluss des Sporttreibens oder zumindest der Teilnahme am Sportwettbewerb bedeutet - oft auch außerhalb der Sportorganisation, in der sie verhängt wird, oft auch in anderen Sportdisziplinen und außerhalb des Landes, in dem man auf diese Art und Weise bestraft wurde. Eine solche Sanktion greift also in der Tat in einen Bereich außerhalb der internen Beziehungen zwischen dem Bestraften und der Organisation, in der er bestraft wird, ein; sie geht über den Status des bestraften in dieser Organisation hinaus. Den Charakter einer Sanktion, die über die inneren Beziehungen des Bestraften mit der Organisation, in der er bestraft wird, hinausgeht, hat auch die Finanzmaßnahme, die oft in Form der Disziplinarverantwortlichkeit im Sport vorgesehen ist und verhängt wird. Solche Maßnahmen gehen sehr deutlich über innere Beziehungen des Bestraften mit der Organisation, über seinen Status in dieser Situation insbesondere im Falle der professionellen Sportler hinaus, für die professionelles Treiben des Leistungssports und die Teilnahme am Sportwettbewerb ihre Berufsausübung und Erwerbsarbeit ist. Aus dem so erreichten Einkommen finanzieren die Sportler ihren Lebensunterhalt und oft auch den der Familien, geschweige denn, dass man sich auch die Zukunft finanziell sichern muss. Die Zeit, in der man sportliche Leistungen erbringt, welche einen Einkommen garantieren, ist ja meistens relativ kurz. Indem man dieses Problem verallgemeinert, soll man also die Frage in Erwägung ziehen, ob man mit dem Rechtscharakter der sportlichen Disziplinarverantwortlichkeit die Anwendung auf Grund dieser Verantwortlichkeit der Maßnahmen in Einklang bringen kann, von denen andere Bereiche, andere Rechte oder Güter des Bestraften betroffen werden, die durch Beziehungen des Bestraften mit der bestrafenden Organisation nicht erfasst sind und über seinen Status in der Organisation hinausgehen. Eine große Bedeutung haben in der sportlichen Disziplinarverantwortlichkeit auch die Grundsätze der Verhängung von Disziplinarmaßnahmen. In der Praxis registriert man währenddessen - sei es aus Mangel diesbezüglicher Regelungen, sei es aus ihrer Unvollkommenheit - eine unerwünschte Erscheinung. Disziplinarmaßnahmen werden nämlich manchmal ziemlich willkürlich verhängt und demzufolge hat man mit der Disziplinarbestrafung
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unter Verletzung mancher begründeten und allgemein akzeptierten Grundsätze zu tun. Hier entsteht die Gefahr der Verletzung vor allem des Grundsatzes der Individualisierung von Verantwortlichkeit und Strafe, des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des Grundsatzes einer gleichen Behandlung der Täter von ähnlichen oder sogar identischen Disziplinarvergehen, insbesondere der Vergehen, die eine ähnliche Disziplinarreaktion rechtfertigen würden. Die Gefahr der Verletzung der genannten Grundsätze ist vor allem damit verbunden, dass oft für gewisse Disziplinarvergehen unbedingt bestimmte Maßnahmen vorgesehen sind, die also dem Disziplinarorgan keine Wahl der Strafe lassen. Das beobachtet man ζ. B. in den Bestimmungen der Disziplinarverantwortlichkeit für Dopingpraktiken. Wenn man bei einem Sportler bestimmte Dopingsubstanzen entdeckt, sehen diese Bestimmungen die manchmal unbedingt bestimmte befristete oder lebenslängliche Sperre, ζ. B. in Form des zweijährigen Ausschlusses vor.46 Unter diesen Bedingungen ist die Berücksichtigung des ja manchmal differenzierten Grades des Verschuldens und anderer Begleitumstände des Vergehens sowie der differenzierten Umstände, die mit der Person des Täters des Vergehens verbunden sind, nicht möglich. Die Empfindlichkeit derselben Maßnahme kann unterdessen unterschiedlich sein, je nach z . B . der Sportdisziplin, dem Moment der Verhängung der Strafe, dem Alter des Sportlers, der von ihm professionell oder amateurhaft getriebenen Sportart usw. Anders ist z . B . die Empfindlichkeit einer einjährigen Sperre in solcher Sportdisziplin, die man lange treiben kann und der Bestrafte eine sehr junge Person ist als im Falle, wenn diese Maßnahme - im Hinblick auf die Sportart oder das Alter des Sportlers - mit dem Ende der Sportlerkarriere identisch ist. Anders ist die Empfindlichkeit z . B . der dreimonatigen Sperre, die in der Jahrszeit gilt, in welcher die gegebene Sportdisziplin gar nicht getrieben wird, anders dagegen, wenn diese Sperre in einer anderen Disziplin in der Hochsaison verhängt wird. Fühlbarer ist eine solche Maßnahme dem professionellen Sportler gegenüber, wenn ihre Konsequenz nicht nur die Unmöglichkeit der Teilnahme am Sportwettbewerb bedeutet, sondern auch der Verlust der damit verbundenen Einnahmen und eventuelle weitere arbeitsrechtliche Folgen nach sich zieht, wie z . B . die fristlose Kündigung des Arbeitsvertrags mit dem Sportler durch den Sportklub auf Grund einer schweren Verletzung der Arbeitnehmerpflichten. 47 Dieselbe Maßnahme ist sicherlich weniger fühlbar, wenn sie einem Amateursportler gegenüber verhängt wird. 4 6 Vgl §§ 5 - 7 der Verordnung des Vorsitzenden des Amtes für Körperkultur und Tourismus vom 21. Juli 1997 über Grundsätze der Disziplinarverantwortlichkeit für Verletzung der Antidopingvorschriften, M.P. Nr 46, Pos. 452. 4 7 Vgl dazu z.B. W. CajselDyskwalifikacja za stosowanie dopingu w swietle przepisow prawa pracy (Sperre wegen Doping im Lichte des Arbeitsrechts), „Sport Wyczynowy", 1998, Nr 7 - 8 , S. 87-93.
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Manchmal ist es umgekehrt: für dasselbe Disziplinarvergehen werden in verschiedenen Sportorganisationen oder Disziplinen - bei Verletzung des Gleichheitsprinzips, gegen die erwünschte einheitliche Bestrafung, angesichts der Autonomie der Sportorganisationen in der Entwicklung diesbezüglicher Disziplinarregelungen - verschiedene Maßnahmen verhängt. 48 Problematisch wird in der Praxis auch das Zusammentreffen verschiedener Disziplinarmaßnahmen, die für dasselbe oder für verschiedene Disziplinarvergehen von demselben oder von verschiedenen sportlichen Disziplinarorganen verhängt wurden sowie das Zusammentreffen der Disziplinarverantwortlichkeit mit anderen Arten der Verantwortlichkeit. Die Möglichkeit einer Disziplinarverfolgung trotz einer früheren oder späteren Bestrafung für dieselbe Tat im Strafverfahren oder dem Übertretungs- bzw. Ordnungswidrigkeitsverfahren kann nicht in Frage gestellt werden, wenn ein Disziplinarvergehen gleichzeitig Tatbestandsmerkmale einer Straftat, Übertretung oder Ordnungswidrigkeit 49 erfüllt oder wenn aus diesem Grund auch die zivilrechtliche Entschädigungsverantwortlichkeit vollstreckt wird. Es geht um verschiedene Arten der Verantwortlichkeit, was sich übrigens auch auf das Zusammentreffen der Disziplinarverantwortlichkeit mit der Arbeitnehmer- oder Berufs Verantwortlichkeit verbindet. Als zweifelhaft können dagegen Fälle einer doppelten Bestrafung für dasselbe Vergehen in Form der Disziplinarverfolgung betrachtet werden. Es ist anzunehmen, dass die mehr als nur einmalige - also in Form besonderer Verfahren - Vollstreckung der Disziplinarverantwortlichkeit für dasselbe Vergehen auf Grund derselben Disziplinarregelungen ausgeschlossen ist. Im Bereich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und der zivilrechtlichen Entschädigungsverantwortlichkeit gibt es genaue Verbote (ne bis in idem, res iudicata), die in den entsprechenden Vorschriften der Strafprozessordnung und der Zivilprozessordnung, in den internationalen Normen der Menschenrechte und manchmal auch in den Verfassungsbestimmungen bestimmt sind. Diese Regel soll als ein allgemeiner und fundamentaler Rechtsgrundsatz ebenfalls im Bereich der Disziplinarverantwortlichkeit, natürlich auch der Disziplinarverantwortlichkeit im Sport, als gültig angesehen werden. Im Sport registriert man jedoch einige Abweichungen von dieser Regel. So ist es z . B . dann, wenn die Disziplinarverantwortlichkeit für dasselbe Vergehen vom sportlichen Landesverband und unabhängig davon von der internationalen Sportföderation vollstreckt wird. 50 48 Vgl dazu z.B. K. Vieweg Grundinformationen zur Dopingproblematik, [in:] K. Vieweg, Doping. Realität und Recht, 1998, S. 31-32. 49 Vgl dazu ζ. B. J. Baumann Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1975, S. 43-44; T. Bojarski u. a. Prawo ..., op. cit., S. 20-21; K. Buchata Prawo ..., op. cit., S. 28. 50 So ist es ja auch im Falle der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Das polnische Strafrecht schließt jedoch - mit wenigen Ausnahmen - in Art. 114 des polnischen Strafgesetz-
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Die mit dem Verlauf des Disziplinarverfahrens verbundenen Probleme resultieren oft daraus, dass das Disziplinarverfahren im Sport nur fragmentarisch, dazu noch nicht selten fehlerhaft und unabhängig davon unterschiedlich in verschiedenen Sportdisziplinen geregelt wird. Im Zusammenhang damit erscheint das Postulat der - zumindest partiellen - Vereinheitlichung dieses Verfahrens. Im Zusammenhang mit der Zweckmäßigkeit einer detaillierteren Regelung des Ablaufs des Disziplinarverfahrens wird auf die in anderen Arten der Verantwortlichkeit funktionierende Praxis hingewiesen. Diese Praxis beruht auf der behelfsmäßigen und angemessenen Anwendung in den nichtnormierten Fällen solcher Prozeduren, wie Strafprozessordnung, Zivilprozessordnung, Verwaltungsprozessordnung und Prozessordnung, die im Verfahren bezüglich der Übertretungen bzw. Ordnungswidrigkeiten gültig sind. Man betont, dass im Disziplinarverfahren gewisse Grundsätze, die - unabhängig von der Art der Verantwortlichkeit - als fundamental angesehen werden sowie gewisse fundamentale Prozessgarantien der Verfahrensteilnehmer, insbesondere des Verdächtigten und Angeschuldigten, zu beachten sind. Die Beachtung dieser Grundsätze und Garantien soll im Rahmen der garantierten Möglichkeit der Infragestellung der Disziplinarentscheidungen überprüft werden. Besonders gewichtige Prozessprobleme, die in der sportlichen Disziplinarverantwortlichkeit registriert werden, sind mit der Notwendigkeit einer manchmal schnellen Reaktion auf Vergehen verbunden. Diese Notwendigkeit hängt manchmal von der Zweckmäßigkeit einer schnellen Verifizierung der erbrachten Sportleistung und des eventuellen Ausschlusses des Täters eines Vergehens aus der weiteren Teilnahme am Sportwettbewerb ab. Eine heikle Angelegenheit ist die Vereinbarung dieser Notwendigkeit mit dem Unschuldsvermutungsgrundsatz und dem unerwünschten Ziehen irgendwelcher Konsequenzen vor der endgültigen Beweisung und Zurechnung dem Sportler des ihm vorgeworfenen Vergehens. Hier stellt sich die Frage nach der Möglichkeit, Zulässigkeit, Zweckmäßigkeit und den Bedingungen buches die erneute Bestrafung in Polen des Täters, der für dieselbe Tat bereits im Ausland bestraft wurde, nicht aus, auch wenn er die ihm im Ausland zugemessene Strafe eingebüßt hatte. N u r die Anrechnung der im Ausland vollstreckten Strafe auf die Strafe, die wegen dieser Tat auch in Polen verhängt wird, ist vorgesehen. Als umso mehr zulässig - zumindest in manchen Situationen - ist die doppelte sportliche Disziplinarverantwortlichkeit für dasselbe Disziplinarvergehen anzusehen, obwohl Unterlassung dieses Verfahrens wünschenswert wäre. So wie die Staaten Vereinbarungen zur Verhinderung doppelter Vollstreckung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für dieselbe Tat treffen, indem sie von solchen Rechtsinstrumenten, wie Auslieferung, Ubergabe und Übernahme der Strafverfolgung oder Übergabe und Übernahme zur Vollstreckung der fremden Urteile Gebrauch machen, so sollen die zusammenarbeitenden Sportklubs, nationale Sportverbände, internationale Föderationen und andere Sportorganisationen ähnliche Maßnahmen im Bereich der sportlichen Disziplinarverantwortlichkeit ergreifen.
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der Verhängung in solchen Situationen gewisser „provisorischer" Maßnahmen als eines eigenartigen „Sicherungsverfahrens". Ein Prozessproblem im Bereich der Disziplinarverantwortlichkeit im Sport ist auch richtige Gestaltung der Anfechtbarkeit der Disziplinarentscheidungen. Diese Problematik hat mehrere Schichten. In den Vordergrund rückt die Anfechtbarkeit der Disziplinarentscheidungen vor einem Organ oder Organen höherer Disziplinarinstanz oder -instanzen. Eine andere Frage ist die Anfechtbarkeit solcher Entscheidungen vor solchen sportlichen Gerichtsbarkeitsorganen, wie das Schiedsgericht für Sportangelegenheiten am Internationalen Olympischen Komitee und das Schiedsgericht für Sportangelegenheiten am Polnischen Olympischen Komitee, dessen Kompetenzen bezüglich der Disziplinarentscheidungen in den Vorschriften des in Polen allgemein geltenden Rechts, und zwar in dem bereits genannten Gesetz vom 18. Januar 1996 über die Körperkultur, bestimmt sind.51 Das ist auch die Frage der Anfechtbarkeit der Disziplinarentscheidungen im Verfahren vor staatlichen Gerichten. Die Möglichkeit der Anfechtung einer Disziplinarentscheidung vor dem staatlichen Gericht erweckt manchmal, zumindest in Polen, Zweifel, die sich nicht nur auf die sportliche Disziplinarverantwortlichkeit, sondern auch auf andere Arten dieser Verantwortlichkeit beziehen. 52 Die Polnische Verwaltungsprozessordnung 53 schließt in Art. 196 § 4 Pkt. 4 - zumindest im Verwaltungsverfahren - eine solche Möglichkeit expressis verbis aus. In Polen gibt es dagegen keine anderen Rechtsregelungen, die die Anfechtung der Disziplinarentscheidungen vor staatlichen Gerichten zulassen würden. In Zusammenhang damit erhebt sich der Zweifel, ob man einen solchen Sachverhalt mit dem in Art. 8, 45 Abs. 1 und 177 der polnischen Verfassung garantierten Recht auf das Gericht in Einklang bringen kann. In Art. 45 Abs. 1 der Verfassung heißt es: „Jeder hat das Recht auf gerechte und öffentliche Untersuchung der Angelegenheit ohne unbegründete Verzögerung durch das zuständige, freie, unparteiische und unabhängige Gericht." Diese Frage bedarf zweifelsohne einer entschiedenen Lösung. Wenn man dagegen zur Einsicht kommt, dass die Anfechtbarkeit der Disziplinarentscheidungen vor staatlichen Gerichten zulässig sein soll, wie das in anderen
51 Vgl Art. 41 des bereits erwähnten Gesetzes vom 18. Januar 1996 über die Körperkultur. 52 Vgl dazu z.B. P. Przybysz Prawo ..., op. cit., S. 67-68 oraz das Urteil der Verwaltungs-, Arbeits- und Sozialversicherungskammer am Obersten Gericht vom 7 April 1999 in Sachen I PKN 648/98 mit einer Glosse von Tadeusz Zielinski (OSP i. KA, Pos. 172, S. 570-573). 53 Das Gesetz vom 14. Juni 1960, einheitlicher Text von 1980: Dz. U. Nr 9, Pos. 26 mit Änderungen.
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Staaten der Fall ist,54 wird die Schaffung einer entsprechenden deutlichen Rechtsregelung nötig sein. Diese Regelung soll insbesondere die Art des Gerichts bzw. der Gerichte, die in solchen Angelegenheiten kompetent sind, den Umfang der gerichtlichen Kontrolle solcher Entscheidungen und die Verfahrensart in solchen Angelegenheiten nennen. Man weist auf die Möglichkeit der Überlassung solcher Anngelegenheiten vor allem den Zivilgerichten, den Verwaltungsgerichten oder den Arbeitsgerichten hin. Die Gewichtigkeit dieses Problems vergrößert die schon betonte Strenge der Maßnahmen, die manchmal im Verfahren der sportlichen Disziplinarverantwortlichkeit verhängt werden. Wichtig ist dabei auch das, dass die Empfindlichkeit dieser Maßnahmen oft - wie bereits gezeigt - über den Bereich der Beziehungen des Bestraften mit der diese Verantwortlichkeit vollstreckenden Organisation, über seinen Status in dieser Organisation hinausgehen. In diesem Zusammenhang entstehen auch andere Bedenken, die darauf zurückzuführen sind, dass Regelungen mancher internationaler Sportföderationen und nationaler Sportverbände Übertragung solcher Angelegenheiten an staatliche Gerichte nicht selten untersagen und die Beachtung der ausschließlichen Eigenschaft der sportlichen Schiedsgerichte fordern. 55 O b man aber durch solche Klauseln dem Betroffenen das Recht auf Gericht, das Anfechtungsrecht der Disziplinarentscheidungen im Verfahren vor staatlichen Gerichten entziehen kann, ob überhaupt Formulierung solcher Klauseln in den Regelungen der Statute und Reglements von Sportverbänden, Föderationen oder anderen Organisationen zulässig ist? Formulierung dieser Bemerkungen begleitete die Überzeugung, dass sowohl die signalisierten, als auch andere Probleme der Vollstreckung der sportlichen Disziplinarverantwortlichkeit eines stärkeren Interesses als bisher wert sind und natürlich tiefergehender Überlegungen bedürfen als diejenigen in der vorliegenden Bearbeitung.
54 Zur Möglichkeit der Anfechtung der Disziplinarentscheidungen vor staatlichen Gerichten in den USA und der BRD vgl z.B. Markus BuchbergerOie Uberprüfbarkeit sportverbandsrechtlicher Entscheidungen durch die ordentliche Gerichtsbarkeit. Ein Vergleich der Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin 1999. 55 Vgl z.B. die Anlage zu Art. 12.3.10 des Statutes von International Shooting Union (UIT), die eine von den Sportlern abgegebene Deklaration ist. Ein Fragment dieser Deklaration lautet in deutscher Sprache wie folgend: ,,(• • ·) Ich erkläre mein Einverständnis, dass jeder Streit (...) endgültig durch ein Schiedsgericht entschieden werden soll (...) unter Ausschluss der Anrufung ordentlicher Gerichte (...) .
Das System der Wiedergutmachung im StGB unter besonderer Berücksichtigung von Auslegung und Anwendung des § 46a StGB D I E T E R R Ö S S N E R / B R I T T A BANNENBERG
Systematische und zugleich anwendungsbezogene Strafrechtswissenschaft standen im Mittelpunkt des Lebenswerks unseres hochverehrten Kollegen Dieter Meurer. Die anschauliche Darlegung der Systematik und elementarer Anwendungsregeln schon mit dem Blick auf die Praxis faszinierte seine Hörerinnen und Hörer in seinen Lehrveranstaltungen und Vorträgen. Sie bestimmten aber auch seine Forschungen und sind bleibende Erinnerungen des wissenschaftlichen Gesprächs mit ihm. Auf dieser Ebene ist er bei der Abfassung meines Beitrags gegenwärtig, wo es methodisch um seine Anliegen geht.
1. Die Ausgangssituation Wiedergutmachende Reaktionen bezogen auf das unmittelbare TäterOpfer-Verhältnis haben im modernen Strafrecht erst langsam eine sichtbar werdende Form angenommen. Ursprünglich war die Wiedergutmachung eine bloße Zusatzreaktion bei der Strafaussetzung oder ein Aspekt unter vielen bei der Strafzumessung. Dann gelangte sie in § 153a Abs. Nr. 1 StPO zur „informellen" Sanktion bei der Einstellung (EGStGB von 1974). Seit Mitte der 80er Jahre sieht die Kriminalpolitik in der Wiedergutmachung mehr als einen zivilrechtlichen Fremdkörper in der strafrechtlichen Kontrolle und verfolgt kriminalpolitische Überlegungen auch unter dem grundsätzlichen Aspekt der Wiederherstellung des Rechtsfriedens durch Wiedergutmachung und Konfliktregelung im Täter-Opfer-Ausgleich. Die kriminalpolitische Akzentverlagerung, die schwierige Grundfragen strafrechtlicher Kontrolle aufwirft, kann hier im Einzelnen nicht behandelt werden. Die folgende Tabelle soll aber die Entwicklung bei den straftheoretischen Überlegungen skizzieren:
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Dieter Rössner/Britta Bannenberg Repressive Strafjustiz
Resozialisierende Restaurative Strafjustiz Strafjustiz
Einwirkung Abschreckung
Effektive Behandlung
Tatfolgenausgleich
Ebene
Ordnung
Täter
Sozialer Konflikt
Inhalt
Schmerzzufügung
Therapie
Normverdeutlichung
Reaktion beruht auf
Schwere des Delikts
Notwendige Behandlung
Opferleid
Endziel
Absolute Gerechtigkeit Konformes Verhalten
Wiederherstellung des Gemeinschaftsfriedens
Entscheidende Kräfte für die Umgestaltung der Kriminalpolitik rühren aus der Legitimationskrise des Strafrechts als spezifisches Resozialisierungsinstrument, der stärkeren Personalisierung des Konflikts und Opferbezugs im Strafrecht sowie insbesondere auch aus der internationalen Bewegung der „Restorative Justice". Seit Mitte der 80er Jahre wurden die neuen Ideen zunächst in Modellprojekten erprobt, ehe der Gesetzgeber sie aufnahm und im Rechtsfolgensystem konkretisierte. Im Erwachsenenstrafrecht wurde durch das am 1. 12. 1994 in Kraft getretene Verbrechensbekämpfungsgesetz als wesentliche Neuerung für Wiedergutmachung und Täter-Opfer-Aus gleich § 46a in das Strafgesetzbuch eingefügt. § 46a StGB sieht eine fakultative Strafmilderung nach § 49 I StGB oder, wenn keine höhere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen verwirkt ist (und diese Voraussetzung betrifft in der Strafrechtspraxis fast 95 % aller Verfahren), ein Absehen von Strafe vor, § 46a StGB, evtl. i.V.m. § 153b StPO. In der Begründung zum Gesetz hieß es, dass Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung in größerem Umfang als bisher Eingang in das Erwachsenenstrafrecht verschafft werden sollte (BT-Drucksache 12/6853). Dagegen hat die Praxis den T O A bis heute vor allem nach den Diversionsvorschriften der §§ 153 und 153a StPO berücksichtigt. D e m vielversprechenden Potential des § 46a StGB wurde bisher noch wenig Beachtung geschenkt. Untersuchungen haben gezeigt, dass ζ. B. Rechtsanwälte zwar den Gedanken der Wiedergutmachung im Strafrecht akzeptieren, die N o r m des § 46a StGB unter Verteidigern jedoch weitgehend unbekannt ist. 1 Nicht grundsätzlich anders ist die Situation bei Staatsanwälten und Richtern; der Gedanke der Wiedergutmachung wird begrüßt, in der ei1
Dazu Walter Der Täter-Opfer-Ausgleich aus der Sicht von Rechtsanwälten, 1999.
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genen Praxis meint man jedoch nur wenige geeignete Fälle zu finden. Die Gerichte haben sich bisher, soweit sie überhaupt über die Anwendung des § 46a StGB entschieden haben, wiedergutmachungsfreundlich gezeigt. Der BGH, das BayObLG und das OLG Karlsruhe sowie das OLG Hamm haben Urteile aufgehoben,2 weil die Tatgerichte § 46a StGB bei der Strafzumessung nicht beachtet haben. Seit dem Jahr 2000 hat das Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des TOA (BGBl. 1999 I, 2491), § 153a StPO um eine neue Nr. 5 erweitert und die §§ 155a, 155b in die StPO eingefügt, um Gerichte und Staatsanwaltschaften zu verpflichten, auf einen Ausgleich zwischen Beschuldigtem und Verletztem hinzuwirken. Für Rechtsanwälte erfolgte klarstellend ein Hinweis in § 87 S. 2 BRAGO (gebührenrechtlicher Anreiz), der die Bemühungen um einen TOA als Verteidiger oder Verletztenbeistand unterstützen soll. In der Begründung geht es um weitere Stärkung des TOA im Erwachsenenstrafrecht. Von den bisherigen rechtlichen Möglichkeiten werde in der Praxis zu selten Gebrauch gemacht. Die zurückhaltende Anwendung der neuen Regeln beruht nicht zuletzt auf Unsicherheit und Unklarheit, die aus einer bisher fehlenden systematischen und dogmatischen Durchdringung der gesamten Wiedergutmachungsregeln resultiert. Dem will dieser Beitrag im Sinne von Dieter Meurer entgegenwirken.
2. Neue Begrifflichkeiten im Strafrecht Mediation - Wiedergutmachung - Täter-Opfer-Ausgleich Vor der systematischen Behandlung der Wiedergutmachungsvorschriften muss man sich mit einigen Begriffen vertraut machen, die im Rahmen der neuen kriminalpolitischen Entwicklung Eingang ins Strafrecht gefunden haben und deren Bedeutung in der Diskussion häufig verschwimmt. Wegen der offenkundigen legislatorischen Zwecke der Neuregelungen erlangen sie bei der teleologischen Auslegung erhebliche Bedeutung. In den strafrechtlichen Rechtsfolgeregelungen wird der Begriff Mediation nicht verwendet. Dies gilt auch für Wissenschaft und Praxis, wo in Anlehnung an den Gesetzeswortlaut meist von Täter-Opfer-Ausgleich, Wiedergutmachung oder Schadenswiedergutmachung bzw. Konfliktregelung die Rede ist. Der Begriff Mediation erlangt neuerdings Bedeutung, weil er sich in ausländischen Strafrechtsordnungen häufig findet. Danach ist Mediation die Vermittlung in einem Konflikt verschiedener Parteien mit dem Ziel der Einigung, deren Besonderheit darin besteht, dass 2 BGH NStZ 1995,284; BGH NStZ 1995,492; BayObLG StV 1995, 367; OLG Karlsruhe, Die Justiz 1997, 86; OLG Hamm vom 24. 7. 1998, TOA Infodienst Nr 8, Juli 1999.
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die Parteien freiwillig eine faire und rechtsverbindliche Lösung mit Unterstützung eines Vermittlers auf der Grundlage der rechtlichen, wirtschaftlichen, persönlichen und sozialen Gegebenheiten und Interessen eigenverantwortlich erarbeiten.3 Mediation wird so als Möglichkeit gesehen, die Verletzung anzuerkennen und das Opfer zu entschädigen. Sie beruht auf der Vorstellung, dass es konstruktive Möglichkeiten zur Konfliktlösung gibt. Sie gilt als strukturierter Ansatz zur Konfliktlösung in einem ethischen Rahmen und zielt darauf ab, alle teilnehmenden Parteien zu stärken. Strafrechtsspezifisch ist freilich zu berücksichtigen, dass die Konfliktparteien in der Regel nicht mehr frei über diese Konflikte und deren Erledigung verfügen können. Zwar ist jederzeit eine freiwillige Zusammenkunft und eine Aussprache zwischen Täter und Opfer, mit und ohne Vermittler, auf rein freiwilliger Basis möglich. In der Regel bemühen sich Täter nach einer Tat nicht von sich aus um eine Verantwortungsübernahme und Wiedergutmachung, weil sie davon ausgehen, dass die Sache nun in der Hand der Justiz liegt. Mit Blick auf das Legalitäts- und Offizialprinzip steht auch fest, dass die Konfliktregelung nur im strafrechtlichen Rahmen erfolgen kann. Es ist anzumerken, dass die Konfliktregelung nach einer Straftat auf den im Hintergrund bereitgehaltenen Zwangsmitteln beruht, die und im Notfall zum Schutz des Opfers oder Täters aktiviert werden können. 4 Daraus folgt, dass Vermittlung im Strafrecht nur auf der Basis einer eingeschränkten Freiwilligkeit erfolgen kann und hier die Begriffe Wiedergutmachung und Täter-Opfer-Aus gleich besser passen als Mediation. Der Täter hat die freie Wahlmöglichkeit. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Wiedergutmachung wird in diesem Zusammenhang als umfassender strafrechtlicher Begriff verstanden, der an verschiedenen Stellen im Jugendwie im Erwachsenenstrafrecht ausdrücklich erwähnt wird. Unter Wiedergutmachung versteht man nach der Definition des § 1 Alternativ-EntwurfWiedergutmachung (AE-WGM), der von einem Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer 1992 vorgelegt wurde, 5 den Ausgleich der Folgen der Tat durch eine freiwillige Leistung des Täters. Sie dient der Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Die Wiedergutmachung soll in erster Linie zugunsten des Verletzten erfolgen; wenn dies nicht möglich ist, keinen Erfolg verspricht oder für sich allein nicht ausreicht, so kommt Wiedergutmachung gegenüber der Allgemeinheit als „symbolische Wiedergutmachung" in Betracht. Mit dem Begriff der Wiedergutmachung wird weniger die Bereinigung des durch die Straftat entstandenen Konflikts als die vom Täter für die WiederStrempel Mediation in Rechtspflege und Gesellschaft - Eine Einführung, in: Strempel (Hrsg.) Mediation für die Praxis, 1998, S. 12. 4 Rössner Mediation und Strafrecht, in: Strempel (Hrsg.) Mediation für die Praxis, 1998, S. 47; den. FS für Baumann, 1992, S. 269 ff. 5 Baumann u . a . , Alternativentwurf Wiedergutmachung (AE-WGM) 1992. 3
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Herstellung des Rechtsfriedens zu erbringende Leistung in den Vordergrund gestellt. In Osterreich spricht man zutreffend vom Tatfolgenausgleich. Der Täter übernimmt mit seinem Einsatz die Verantwortung für die Tat vor dem Opfer und vor der Gesellschaft. Als Leistungen zur Wiedergutmachung kommen neben dem Schadensersatz (Naturalherstellung, Geldersatz, Schmerzensgeld) grundsätzlich auch andere materielle (Geldzahlungen, Geschenke) und immaterielle Leistungen (gemeinnützige Arbeiten) sogar für die Allgemeinheit (symbolische Wiedergutmachung) in Betracht.6 Täter-Opfer-Aus gleich beinhaltet zusätzlich ein Kommunikationselement zwischen den Personen, die an der Straftat beteiligt waren. Gemeint ist ein freiwilliges persönliches Gespräch des Täters mit dem Opfer und mit dem Ziel der Konfliktregelung. Diese soll durch das gemeinsame Gespräch, die Aussprache über die Tat und die Folgen, die Geltendmachung von Forderungen durch den Verletzten, in einem Vergleich und im Idealfall mit der Aussöhnung beider enden.7 Gegenüber der Wiedergutmachung ist TOA der engere Begriff, weil TOA zwar ebenfalls materielle und immaterielle Leistungen umfasst, aber darüber hinaus das personale Element der Kommunikation zwischen Täter und Opfer sowie das auf einen ideellen Ausgleich gerichtete Bemühen betont.
3. System und Struktur der Konfliktregelung im Strafrecht Im StGB und in der StPO werden strafrechtliche und zivilrechtliche Aspekte der Wiedergutmachung in vielfältiger Form zur friedensstiftenden Konfliktregelung und/oder im Opferinteresse verknüpft. Zentrale Grundnorm der Wiedergutmachung ist § 46a StGB mit seiner materiellen Einbeziehung des kommunikativ bzw. mediativ hergestellten Täter-Opfer-Ausgleichs (Nr. 1) und der qualifizierten freiwilligen Schadenswiedergutmachung (Nr. 2) in die strafrechtlichen Rechtsfolgen. Die Wirkungen reichen dabei von der Einstellung des Verfahrens (§ 46a StGB in Verbindung mit § 153b StPO) über das Absehen von Strafe bei einer zu erwartenden Sanktion bis zu 1 Jahr Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen bis zur fakultativen Strafmilderung gem. § 49 StGB. Das StGB kennt weiter den Fall der einfachen freiwilligen Schadenswiedergutmachung im Rahmen der Strafaussetzung zur Bewährung bzw. der Strafrestaussetzung, da nach § 56b Abs. 3 StGB angebotene Leistungen zur Genugtuung für das begangene Unrecht der zwangsweisen Anordnung vorgehen. Die grundlegende Strafzumessungsvorschrift des § 46 Abs. 2 a.E. StGB 6 7
Meier GA 1999, 1-3. Meier aaO (Fn 6).
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sorgt - sozusagen als Auffangstation - dafür, dass freiwilliges Bemühen um Schadenswiedergutmachung oder einen kommunikativ orientierten TOA im Rahmen der allgemeinen Strafzumessung auf jeden Fall honoriert wird. Das gilt gerade, wenn die speziellen Voraussetzungen des § 46a Nr. 1 oder Nr. 2 StGB nicht vorliegen. Die freiwillige Schadenswiedergutmachung findet darüber hinaus nach § 56 Abs. 2 S. 2 StGB besondere Berücksichtigung bei der Entscheidung über die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zwischen 1 und 2 Jahren als besonderer positiver Umstand. Im Übrigen kennt das strafrechtliche Rechtsfolgensystem nur angeordnete Formen der Wiedergutmachung als Auflage: • Im informellen Erledigungsverfahren nach § 153a Abs. 1 Nr. 1 (Wiedergutmachung) und Nr. 5 (Täter-Opfer-Ausgleich) StPO kann eine materielle oder immaterielle Wiedergutmachungsauflage bei Vergehen und nicht entgegenstehender Schwere der Schuld das öffentliche Interesse beseitigen und in jedem Verfahrensstadium zur Einstellung führen. • Bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59ff StGB), die bei einer Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen, günstiger Prognose und positiver Gesamtwürdigung einen bloßen Schuldspruch mit Verwarnung und vorbehaltener Geldstrafe zulässt, kann der Verwarnte nach § 59a Abs. 2 Nr. 1 StGB angewiesen werden, sich um einen kommunikativ herzustellenden TOA zu bemühen oder den Schaden wieder gutzumachen. • Bei der Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 ff StGB) und der Strafrestaussetzung (§ 57 ff StGB) kann bei nicht erfolgtem freiwilligen Anerbieten zur Wiedergutmachung auch die zwangsweise Auferlegung der Schadenswiedergutmachung erfolgen (§ 56b Abs. 2). Schließlich liegt es in der Hand des Verletzten, seinen zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch nach § 403 ff StPO im sog. Adhäsionsverfahren schon im Strafprozess geltend zu machen. Möglich ist Konfliktregelung in diesem Fall als Vergleich. Versucht man das so breit gestreute Bild der Wiedergutmachung im Strafrecht grundlegend zu ordnen, so erlangen die Unterscheidungsmerkmale Freiwilligkeit, Kommunikation und Anordnung entsprechende Relevanz und damit Bedeutung für Auslegung und systematische Anwendung. Allen Formen gesetzlich möglicher Schadenswiedergutmachung fehlt gemessen an der Definition des TOA das Element der Kommunikation zwischen Täter und Opfer und das Ziel einer Vereinbarung. Sie kommt entweder durch eine freiwillige Leistung des Täters zustande, woraus sich in diesen Fällen eine gewisse Nähe (es fehlt aber an der Kommunikation) zum TOA ergibt oder durch autoritative Anordnung der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts. Sie umfasst materielle (wie in § 46a Nr. 2 StGB) und/oder immaterielle (wie z.B. in § 56b Abs. 2 Nr. 1 StGB und § 153a Abs. 1 Nr. 1 StPO) Wiedergutmachungsleistungen.
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Die vielfältigen Formen strafrechtlicher Schadenswiedergutmachung erfüllen zwar wichtige Funktionen, wie z.B. Verantwortungsübernahme durch freiwillige Wiedergutmachung und die schnelle Erfüllung der Opferinteressen sowie die Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Wegen des Fehlens kommunikativer Elemente - teilweise zusätzlich wegen der zwangsweisen Durchführung - handelt es sich aber nicht um eine Form strafrechdicher Mediation in Form des TOA. Diese hat nach der aktuellen Gesetzeslage Platz allein im Rahmen des § 46a Nr. 1 StGB. Die Vorschrift ist Dreh- und Angelpunkt der konstruktiven Tatverarbeitung und letztlich alleinige Basis für mediative Verfahren im allgemeinen Strafrecht. Sie wird deshalb im Folgenden näher untersucht.
4. Voraussetzungen des mediativen TOA und der freiwilligen Schadenswiedergutmachung nach § 46a StGB Im vorstehenden Abschnitt wurde gezeigt, dass § 46a StGB nur in seiner Nr. 1 einen kommunikativen Rahmen für TOA schafft. Die Nr. 2 betrifft den Fall der freiwilligen Schadenswiedergutmachung durch den Täter ohne kommunikativen Prozess. Unter bestimmten qualifizierten Bedingungen wird die Schadenswiedergutmachung in den Rechtsfolgenwirkungen aber gleichgestellt. Wegen dieser Doppelstruktur, aber auch wegen der 3-fachen Tatbestandsalternativität in Nr. 1 und der 2-fachen in Nr. 2 sowie der recht differenzierten und ermessensoffenen Rechtsfolgenregelung handelt es sich bei § 46a StGB um eine komplizierte Strafzumessungsvorschrift, deren Struktur man erfasst haben muss, ehe man Einzelfragen sinnvoll nachgehen kann. 4.1. Täter-Opfer-Ausgleich
nach § 46a Nr. 1 StGB
4.1.1 Freiwilligkeitsprinzip Der mediative TOA im Rahmen des § 46a Nr. 1 StGB unterscheidet sich von allen anderen Wiedergutmachungsformen durch die Freiwilligkeit der Initiative bzw. Teilnahme am TOA-Verfahren. Weder wird dem Täter von den Verfolgungsorganen eine Wiedergutmachungsleistung abverlangt noch dem Opfer aufgezwungen. Beim TOA ist die Autonomie der unmittelbar Betroffenen - Täter und Opfer - Verfahrensgrundsatz. Die freiwillige Verantwortungsübernahme hat Vorrang vor der zwangsweise auferlegten Verantwortung durch staatliche Strafe. In dieser Sonderheit begründet sich die dritte Spur.8 Das Freiwilligkeitsprinzip ist auch dann strikt zu beachten, 8
Roxin Strafrecht AT, 3. Aufl, 1997, S. 67ff.
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wenn es um die sozialstaatlich gebotene Hilfestellung für Konfliktregelungen im Strafverfahren geht. Die Staatsanwaltschaft soll zwar insoweit aktiv werden, als sie einen TOA anregt und ggf. auf die Institution der Konflikthilfe bei der Gerichtshilfe oder freien Trägern hinweist, jeder Druck zur Mitwirkung ist aber unzulässig. 9 Die gleichen Grundsätze gelten für die Konfliktvermittler im Täter-Opfer-Ausgleichsverfahren. Realistisch gesehen handelt es sich für Täter und Opfer um eine relative Wahlfreiheit, nachdem beide durch die Straftat und die daraus resultierende Strafverfolgung in das Verfahren eingebunden sind: • Der Verdächtige hat die Wahl, durch den TOA das Rechtsfolgengeschehen mitgestaltend im Rahmen des § 46a StGB zu bewältigen oder alle Rechte des Beschuldigten bzw. Angeklagten auf der Grundlage der Unschuldsvermutung im kontradisbitorischen Verfahren wahrzunehmen. Der abgelehnte TOA darf weder zu entsprechenden Verfahrens- noch Rechtsfolgennachteilen führen. Das stets gegebene Recht der Tatverdachtsklärung ohne besondere Nachteile im Strafverfahren verhindert jeden faktischen oder rechtlichen Zwang zum Ausgleich. 10 Ebenso unzulässig ist moralischer Druck durch die Justiz oder die Konfliktvermittlungsstelle. • Das Opfer hat die Wahl, durch den TOA schnell und ohne weitere zivilrechtliche Auseinandersetzung zum Schadensersatz und möglicherweise auch emotionaler Genugtuung und Konfliktbewältigung zu kommen oder gerade jeden Kontakt mit dem Täter zu vermeiden und seinen Schaden einzuklagen. Auch hier verbietet sich jeder - insbesondere moralische - Druck selbst bei ausgleichsbereiten Tätern. Dazu besteht kein Anlass, denn diese Fälle lassen sich angemessen durch Berücksichtigung des isoliert zu betrachtenden Bemühens um einen TOA und ggf. symbolische Formen der Wiedergutmachung wie gemeinnützige Leistungen (z.B. §§ 153a Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO; 59a Abs. 2 Nr. 3; 56b Abs. 2 Nr. 2, 3 StGB) bewältigen.
4.1.2. Täter-Opfer-Ausgleich und Aufklärungspflicht § 46a Nr. 1 StGB geht vom Ausgleich zwischen einem Täter und einem Opfer im Strafverfahren aus. Diese gesetzlichen Vorgaben und der Bezug zum Strafverfahren machen 2 implizite Voraussetzungen hinsichtlich des 9
N r 15, Abs 2, 93 Abs 3 RiStBV. Kaiser TOA als moderne Konfliktlösungsstrategie strafrechtlicher Sozialkontrolle, in Gedächtnisschrift für Heinz Zipf, 1999, S. 112; Meier GA 1999, 5f. S. ausführlich zur Gesamtproblematik: Weigend Fragen der Rechtsstaatlichkeit beim TOA, in Marks/Meyer/ Schreckling/Wandrey (Hrsg.): Wiedergutmachung und Strafrechtspraxis, 1993, S. 37ff. Überzogene Kritik bei Albrecht Strafrechtsverfremdende Schattenjustiz, in Festschrift für H . Schüler-Springorum zum 65. Geburtstag, 1993, S. 81 ff. 10
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Verfahrensstandes deutlich: Die Rollenverteilung zwischen Täter und Opfer muss zumindest subjektiv zwischen den Beteiligten konsentiert sein, d.h. vor allem der Täter muss diese Position akzeptieren.11 Objektiv muss der Sachverhalt so weit ausermittelt sein, dass er hinreichend i.S.d. § 203 StPO geklärt ist, denn der TOA bezieht sich nur auf Straftaten.12 Auch das öffentliche Interesse geht auf eine Sachverhaltsklärung, ehe über ein Absehen von Strafe befunden werden kann. 4.1.3. Was ist ein Täter-Opfer-Ausgleich i.S.d. § 46a Nr. 1 StGB? Eine nach § 46a Nr. 1 StGB beachtliche Wiedergutmachungsleistung muss in dem Bemühen erfolgt sein, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (Legaldefinition für den Täter-Opfer-Ausgleich). Diese Definition setzt zwar ein kommunikatives Verhältnis zwischen Täter und Opfer, nicht aber bestimmte kommunikative Formen voraus. Nicht notwendig ist damit vor allem die Einschaltung eines professionellen, von der Justiz „akkreditierten" Vermittlers.13 Eine entsprechende Restriktion des gesetzlichen TOA ist weder ausdrücklich vorgesehen,14 noch entspricht sie dessen Sinn und Zweck. TOA betont die Eigenverantwortung der Beteiligten im Rahmen der strafrechtlichen Rechtsfolgenbestimmung. Von daher erscheint es selbstverständlich, dass die selbstverantwortliche Konfliktregelung im Sinne des auch hier gültigen Susidiaritätsprinzips die Basis des TOA ist. TOA ist also ein Verständigungsverfahren in erster Linie zwischen Täter und Opfer, das durch institutionalisierte Konflikthilfe gefördert werden kann. Im Vordergrund steht die Autonomie der Beteiligten, nicht die Form der Vermittlung.15 Die eigenverantwortliche Einigung ist ebenso wirksam wie die mit Hilfe eines beliebigen Dritten oder des Staatsanwalts oder Richters.
11 Meier GA, S. 10; Grundsätzliche Rollenakzeptanz heißt dabei nicht Eingeständnis der Tatschuld. Unklarheiten der Rollenverteilung sind gerade ein zentraler Bestandteil der Konfliktregelung. So zutreffend Weigend aaO (Fn 10) S. 55. 12 Hartmann U.I., Staatsanwaltschaft und Täter-Opfer-Ausgleich, 1998, S. 68. 13 Dieser wesentliche Auslegungsgesichtspunkt kann nicht einfach dadurch überspielt werden, dass man aus der Begründung zum Verbrechensbekämpfungsgesetz (BT-Drucksache 12/6853, S. 21 f) dieses Erfordernis heraus liest. Die Argumentation des Entwurfs ist verständlicherweise durch die Fixierung auf die Modellpraxis des TOA mit den empirischen Ergebnissen geprägt. Die Bedeutung der Eigenverantwortlichkeit wird dennoch im gesamten Entwurfstext deutlich. 14 Ebenso Loos Bemerkungen zu § 46a StGB, in Festschrift für H.-J. Hirsch zum 70. Geburtstag, 1999, S. 861 Schönke/Schröder/Stree zu § 46a Rn 2; nicht „notwendige" Drittvermittlung bei OLG Stuttgart NJW 1996, 2109. 15 Ansätze dazu bei Tröndle!Fischer Rn 3; BGH NStZ 1995, S. 492; überzeugend dagegen Meier GA 1999, 8.
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4.1.4. Deliktspezifische Voraussetzungen § 46a Nr. 1 StGB enthält keine expliziten Anwendungs- oder Ausschließungshinweise auf bestimmte Delikte, so dass grundsätzlich ein weites Anwendungsfeld eröffnet ist. Insbesondere sind keine abstrakten Ausgrenzungen bestimmter schwerer Deliktarten (z.B. Verbrechen nach § 12 Abs. 1 StGB) vorhanden. Mit Blick auf die Rechtsfolge ist dies konsequent, denn dort erfolgt - orientiert an der konkreten Schwere der Tat - eine differenzierte Reaktion von der bloßen Strafmilderung über das Absehen von Strafe bis zur Einstellung. Generelle Deliktsausgrenzungen16 im Rahmen des § 46a Nr. 1 StGB sind daher zurückzuweisen. Nach allgemeinen Auslegungskriterien sowie nach dem Wortlaut der Vorschrift ergeben sich nur zwei deliktsspezifische Anwendungsgrenzen. Ausgenommen sind Bagatelltaten im Regelungsbereich des § 153 StPO aus ökonomischen Gründen und opferlose Delikte, weil bei ihnen ein TäterOpfer-Ausgleich undenkbar ist. Die Zurückhaltung justizieller Initiativen zum TOA bei Bagatelltaten ergibt sich aus der Systematik des strafrechtlichen Rechtsfolgensystems. Das aufwendige TOA-Verfahren ist aus Gründen der Verhältnismäßigkeit gegenüber Opfern und Täter und aus solchen der Verfahrensökonomie erst jenseits der Schwelle der folgenlosen Einstellung nach §153 StPO angebracht. Beim Ausschluss der opferlosen Delikte ist das Ergebnis eindeutig, weil es beim TOA um den Ausgleich mit einem Verletzten - also einer Person geht: Delikte, bei denen ein natürliches Opfer vorhanden ist oder juristische Personen, bei denen der Konflikt personalisiert werden kann, sind grundsätzlich kommunikationsfähig. Straftaten gegen die Allgemeinheit ohne jeden Personenbezug, wie z.B. § 316 StGB, sind einem TOA nicht zugänglich. In einem schwierig zu beurteilenden Zwischenbereich liegen die Verletzungen juristischer Personen, deren Rechtsgüter durchaus wahrnehmbar und die durch Personen repräsentiert sind sowie Verletzungen von Personen bei Delikten, die zwar primär die Allgemeinheit schützen, aber durchaus sekundär den Schutz von Personen beinhalten, wie z.B. bei Widerstandshandlungen gegen Polizeibeamte im Dienst (§ 113 StGB). Da § 46a Nr. 1 StGB keine formalen Abgrenzungskriterien kennt und mit Blick auf den Gleichheitssatz (Art. 3 GG) eine möglichst weite Auslegung der Voraussetzungen vorzunehmen ist, sollten auch diese beiden Fallgruppen der kommunikativen Vereinbarung aufgenommen werden.17
16
Hartmann aaO (Fn 12) 1998, S. 66 f. S. ausführlich Rössner/Klaus in Dölling u.a., Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland 1998, S. 56f; dafür auch Loos aaO (Fn 14) S. 863; eher dagegen MeierGh, 9. Die Erfahrungen der praktischen Arbeit sprechen für eine Einbeziehung, Hartmann aaO (Fn 12). 17
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Bei der Verletzung mehrerer Strafgesetze durch eine Handlung (§ 52 StGB) erfasst § 46 Nr. 1 StGB die Rechtsfolgenbestimmungen als Ganzes schon dann, wenn wenigstens eine Tat als einem TOA zugänglich ist und die anderen in einem Zusammenhang damit stehen. Beispiel: Zur Vorbereitung und Durchführung eines Betrugs begeht Τ eine Urkundenfälschung. Hinsichtlich des Betrugsschadens, kommt es zu einer einverständlichen Wiedergutmachung zwischen Τ und O. 18 Gleiches gilt für versuchte Straftaten, die gegen ein natürliches oder personifiziertes Opfer gerichtet sind. Zum einen ist der Verletztenstatus ähnlich wie bei der Nebenklage (§ 395 StPO) so zu umschreiben, dass verletzt derjenige ist, gegen den eine rechtswidrige Handlung unternommen wurde (§11 Abs. 1 Nr. 6 StGB) und der Versuch somit umfasst ist.19 Wenn man zusätzlich berücksichtigt, dass das Opfer z.B. durch versuchte Gewalttaten erheblich beeinträchtigt sein kann und zukünftige weitere Ubergriffe im Konfliktgeschehen befürchten muss, so erscheint der präventive Einsatz des TOA hier besonders notwendig. Hinzu kommt, dass Nr. 1 nach allgemeiner Ansicht auch auf die Wiedergutmachung von ideellen Schäden zielt. Letztere sind beim Versuch aber häufig nicht weniger gravierend als beim vollendeten Delikt. 20
4.1.5. Die Wiedergutmachungsleistungen Die im Rahmen eines TOA nach § 46a Nr. 1 StGB zu erbringenden Wiedergutmachungsleistungen setzen stets in subjektiver Hinsicht das ernsthafte Bemühen des Täters um einen Tatfolgenausgleich voraus, 21 d. h. in der Regel die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme in der Kommunikation mit dem Opfer (Ausgleichsgespräch). Für die objektive Komponente der Wiedergutmachung lässt das Gesetz verschiedene Varianten zu: - materielle Schadenswiedergutmachung (Rückgabe, Reparatur, Schadensersatz, Schmerzensgeld) - immaterielle Wiedergutmachung (Entschuldigung, Anerkennung, z.B. durch Geschenke, Hilfsdienste für die Opfer o. ä.) - symbolische Leistungen auf Wunsch des Opfers (gemeinnützige Leistungen an bestimmte Organisationen). Das Ergebnis der Mediation liegt in den Händen von Täter und Opfer. Bei gegenseitigem Einverständnis zwischen Täter und Opfer und dem ernsthaf18 S. dazu OLG Karlsruhe NJW 1996, 3286. 19 AK-StPO-Äössner zu § 395 Rn 86ff. 20 S. auch Rössner/Klaus aaO (Fn 17) S. 55; eher dagegen AfeerJuS 1996, S. 442; SK-Horn zu § 46a Rn 3. 21 Loos aaO (Fn 14) S. 863 f.
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ten Bemühen des Täters stellt schon dieser Basisakt einen ausreichenden TOA i.S.d. § 46a Nr. 1 dar(immaterielle Wiedergutmachung). Dieser Aspekt ist von der Rechtsprechung gemeint, wenn dort - missverständlich festgestellt wird, dass es bei Nr. 1 vor allem um den Ausgleich immaterieller Folgen der Tat gehe.22 Die aufgezeigte Form der kommunikativen konstruktiven Tatverarbeitung enthält wesentliche Elemente der Wiedergutmachung des immateriellen (intellektuellen) Schadens der Straftat. Die mit der Kommunikation verbundenen immateriellen Wiedergutmachungsleistungen sind damit unabdingbare Voraussetzungen des TOA. Im übrigen ergibt sich kein besonderes Rangverhältnis der fakultativen Wiedergutmachungsleistungen mit einem Vorrang immaterieller Wiedergutmachung. Vielmehr wird in Fällen mit materiellen (§ 823 BGB) oder materialisierbaren (§ 847 BGB Schmerzensgeld) Schäden dieser Aspekt durchaus im Vordergrund der Kommunikation und der Vereinbarung stehen. Die immateriellen und nach zivilrechtlichen Regeln auch nicht materialisierbaren Wiedergutmachungsleistungen werden dann in dieser „Verpackung" quasi mitgeliefert.23 Darüber hinaus kann sich immaterielle Verantwortungsübernahme und ggf. Aussöhnung auch in ausdrücklicher Entschuldigung, Geschenken und Hilfsdiensten dokumentieren. Vielfach wird übersehen, dass zu Wiedergutmachungsleistungen nach § 46a Nr. 1 auch symbolische Formen gehören, die zumindest ideell dem Opfer zugute kommen. Nur wegen der nicht möglichen Kommunikation24 nicht etwa wegen eines grundsätzlichen Ausschlusses der symbolischen Wiedergutmachung - scheidet § 46a Nr. 1 bei opferlosen Delikten aus. Symbolische Wiedergutmachung meint die Fälle, wo das Opfer keine Leistung an sich selbst sondern an Dritte (z.B. Hilfsorganisationen) wünscht. Beispiel: Der im Rahmen einer körperlichen Auseinandersetzung verletzte Τ wünscht beim Zusammentreffen mit Ο zwar kein Schmerzensgeld als Genugtuung, sondern möchte, dass Τ 1000 EUR an das kommunale Projekt „Gewaltprävention" bezahlt. Im oben dargelegten Sinn handelt es sich um eine voll anzuerkennende Wiedergutmachung im Rahmen eines TOA. Es handelt sich um eine indirekte Wiedergutmachung im TOA-Verhältnis. Freilich muss immer der (indirekte) Opferbezug gewahrt bleiben. BGH NStZ 1995, 492. So auch Lackner/Kühl zu § 46 a Rn 2. 24 S.o. 4.1.4. 25 Die kriminalpolitische Diskussion streitet bei der Frage nach der Einführung der symbolischen Wiedergutmachung um die Einbeziehung der opferlosen Delikte, wie dies der AEWGM getan hat (s. auch MeierGh, S. 18). Im geltenden Recht sind Formen der symbolischen Wiedergutmachung bei opferlosen Delikten allerdings über entsprechende Auflagen mit gemeinnützigen Leistungen (wie ζ. B. in § 153a Abs 1 Nr 2, 3 StPO) jederzeit möglich. Auch das wird häufig übersehen und damit die kriminalpolitische Bedeutung der Frage überschätzt. Ausführlich zur symbolischen Wiedergutmachung Laue Symbolische Wiedergutmachung, 2000, Lee Symbolische Wiedergutmachung im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem, 2000. 22
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Eine noch nicht beantwortete Frage stellt sich dahin, ob auch Akte der Selbstresozialisierung wie die psychotherapeutische Behandlung, der Besuch sozialer Trainingskurse o.a. als symbolische Wiedergutmachung im Interesse und auf Wunsch des Opfers in einem TOA nach § 46a Nr. 1 StGB berücksichtigt werden sollen. Die Gefahr besteht, dass hierdurch Präventionsentscheidungen im öffentlichen Interesse in unzulässiger Weise auf die private Ebene verlagert werden. 26 Diese ist jedoch dadurch zu beherrschen, dass auch im übrigen unzumutbare, unverhältnismäßige oder menschenwürdeverletzende symbolische Wiedergutmachungsakte (wie z.B. eine unwürdige Selbstkasteiung oder eine Organspende) ausgeschlossen werden ( 5 56b Abs. 1 S. 2 StGB). Dafür gibt es ein gelungenes Beispiel in dem Modellprojekt „Gewalt im sozialen Nahraum", wo die konsentierte Inanspruchnahme einer länger dauernden präventiven Beratung durch den Täter als Wiedergutmachung in Form einer Auflage angewendet wurde. Die freiwillige Teilnahme wurde als geeignete strafrechtliche Reaktion zum effektiven Schutz des konkreten Opfers angenommen. 27 Problematisch sind mittelbare Wiedergutmachungsleistungen wie in folgendem Beispiel:28 Τ verursachte durch fahrlässige Verletzung der Vorfahrt einen Verkehrsunfall, der bei Ο zu erheblichen Verletzungen mit 5-wöchigem Krankenhausaufenthalt führte. Die Haftpflichtversicherung des Τ hat bis zur Hauptverhandlung den Schaden weitgehend reguliert. Einen weiteren Kontakt hat es zwischen Täter und Opfer nicht gegeben. Wie auch sonst ist zunächst zu fragen, ob für eine Anwendung des § 46a Nr. 1 StGB die Basisvoraussetzung einer kommunikativen Tatverarbeitung gegeben ist. Da hier kein Kontakt zwischen Τ und Ο stattfand, fehlt es schon an dieser unabdingbaren Voraussetzung des TOA. Die Situation wäre keine andere, wenn statt der Versicherung Τ selbst geleistet hätte. Daran ändert sich nichts, wenn man entgegen dem BayObLG und mit Horn die Versicherungsleistung zutreffend als eine eigene des Τ betrachtet, weil dieser seine Schuld eingeräumt und dadurch die Abwicklung wesentlich erleichtert hat. In jedem Fall handelt es sich nur um eine freiwillige Schadenswiedergutmachung, die nach § 46 Nr. 2 StGB zu beurteilen ist und qualifizierte persönliche Leistungen voraussetzt. Bei Versicherungsleistungen wird der geforderte Grad an persönlicher finanzieller Betroffenheit kaum einmal zu erreichen sein. Generell stehen Versicherungsleistungen beim TOA nach § 46a Nr. 1 StGB dessen Anforderungen nicht im Wege. Wenn die Basisvoraussetzung 26
Baumann u.a. AE-WGM, S. 30. Beulke Gewalt im sozialen Nahraum, 1995; in die gleiche Richtung nur im Rahmen des TOA nach § 46a StGB zielt der eingehend begründete Vorschlag. Bannenberg/Weitekamp/ RössnerfKerner Mediation bei Gewaltstraftaten in Paarbeziehungen, 1999. 28 BayObLG NJW 1998, 1654 und JR 1999, 40 mit kritischer Anmerkung Horn; eingehend zum Problem Baumann u.a. AE-WGM, S. 45ff. 27
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der Kommunikation mit entsprechenden ideellen Wiedergutmachungsleistungen erfüllt ist und zusätzlich der materielle Schaden durch Versicherungsleistungen - gleichgültig ob von Seite des Täter oder Opfers - gedeckt ist, kann die Vorschrift angewendet werden. Bei einer Opferversicherung hat der Täter in der Regel Ersatz an die Versicherung zu leisten. 4.1.6. Der Maßstab der Erfüllung beim TOA Das im TOA enthaltene Autonomieprinzip bestimmt auch Inhalt und Umfang des TOA. So richten sich diese rein subjektiv nach dem Willen von Opfer und Täter. Die Vereinbarung am Ende des TOA zwischen diesen beiden Betroffenen ist alleiniger Bezugspunkt und Maßstab für die Erfüllung des TOA. Jeder Versuch, den Maßstab des TOA objektiv zu kontrollieren, widerspricht dem Autonomieprinzip und ist systemwidrig. Das gilt sowohl für Untergrenzen (z.B. mehr als die Hälfte) bei materiellen Schäden 29 wie auch für die Orientierung am Horizont eines vernünftigen Dritten. 30 Nach § 46a Nr. 1 ist die Vereinbarung eine ausschließliche Angelegenheit von Täter und Opfer und bestimmt sich nach deren Willen und Akzeptanz. Eine weitere Akzeptanzprüfung erfolgt nicht. 31 Aus diesen Überlegungen folgt, dass selbst ein Opfer, das finanzielle Schäden erlitten hat, sich mit der Aussöhnung im Verfahren oder einer Entschuldigung zufrieden geben kann. Andererseits kann anders als bei der Wiedergutmachungsauflage eine TOA-Vereinbarung getroffen werden, die den zivilrechtlichen Anspruch übersteigt und so zum Maßstab der Erfüllung wird. Nur wenn das Opfer unter Ausnutzung des strafverfahrensrechtlichen Drucks unzumutbare und verwerfliche Forderungen im Rahmen einer Vereinbarung stellt, ist diese unwirksam und kann nicht Maßstab der Erfüllung sein. Die Verwerflichkeitsgrenze (§ 240 Abs. 2 StGB) bietet so eine letzte objektive Kontrollmöglichkeit. Eine andere Frage ist die Rechtsfolgenwirkung des TOA. Hier entscheiden Staatsanwalt oder Gericht nach selbstverständlich objektiven Maßstäben, inwieweit ein (subjektiv und autonom) vereinbarter TOA zum Absehen von bzw. zur Milderung der Strafe führen kann. Dabei ist es selbstverständlich beachtlich, inwieweit ein konkreter TOA den Rechtsfrieden unter Berücksichtigung der Normverdeutlichung, präventiver Strafzwecke und des öffentlichen Interesses erfüllt hat. Je größer die Diskrepanz zwischen dem Gehalt des TOA und dem Gewicht der Straftat ist, desto stärker werden es präventive Aspekte und das öffentliche Interesse erfordern, den TOA zumindest für ein Absehen von Strafe nicht ausreichen zu lassen. In Lackner/Kühl zu § 46a Rn 2; Schönke/Schröder/Stree zu § 46a Rn 3. SK-Horn zu § 46a Rn 3. " Rössner/Klaus aaO (Fn 17) S. 50 f. 29
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dieser Erwägung - und nicht etwa in einem generellen Ausschluss schwerer Delikte wie z.B. Vergewaltigung - liegt der Grund dafür, dass in solchen Fällen der TOA für die Rechtsfolgenwirkung des § 46a StGB nicht ausreicht.32 Wir müssen also 2 Ebenen strikt unterscheiden: Zum einen den Inhalt und Umfang des TOA, die allein der Autonomie von Täter und Opfer unterliegen, und zum anderen die Entscheidung darüber, ob der autonom vereinbarte TOA für die Rechtsfolgenwirkung des § 46a StGB ausreicht. Letzteres liegt allein in der Hand der zuständigen Strafverfolgungsbehörde. 4.1.7. Das Rangverhältnis der 3 Erfüllungsalternativen Nach dem Vorhergesagten bildet die Verabredung zwischen Täter und Opfer die Meßlatte für das Erreichen einer der 3 Erfüllungsvarianten des § 46 Abs. 1 Nr. StGB, die zwar erkenntlich in einer Rangordnung stehen, dennoch aber zur gleichen Rechtsfolge führen können: • Hat der Täter die mit dem Opfer getroffene Verabredung schon durch das Ausgleichsgespräch mit immateriellen Leistungen erfüllt oder ist er den dort festgelegten Verbindlichkeiten nachgekommen, so hat er die Tat durch den TOA ganz wiedergutgemacht. Das ist der in § 46a Nr. 1 1. Alternative vorgesehene Normalfall. • Einen rechtsfolgenrelevanten TOA sieht die 2. (subsidiäre) Alternative schon darin, dass der Täter die versprochenen Leistungen überwiegend erbracht hat. Als Richtschnur mag dabei mehr als die Hälfte der versprochenen Wiedergutmachungsleistungen gelten, 33 wenn man mit der pauschalen Annahme die notwendige Einzelfallprüfung nicht verschließt. • Die wiederum subsidiäre 3. Alternative lässt es genügen, dass die Wiedergutmachung ernsthaft erstrebt wurde. Das bedeutet zunächst und vor allem, dass der Täter die kommunikativen und/oder ideellen Wiedergutmachungsleistungen in vollem Umfang erbringt. Diese Basisvoraussetzung des TOA gilt wie gesagt für alle 3 Alternativen in gleicher Weise. Die 3. Alternative bietet einen Auffangtatbestand zur Berücksichtigung des Gleichheitsgrundsatzes mit Blick auf die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Täter und die Einzelfallgerechtigkeit, wenn der Täter alle zumutbaren kommunikativen und ideellen Wiedergutmachungsleistungen sowie unter Anstrengungen auch Schritte zur materiellen Wiedergutmachung unternimmt, aber auch bei bestem Willen wegen seiner beengten finanziellen Verhältnisse und/oder der Schadenshöhe insoweit keine überwiegende Wiedergutmachung erreichen kann oder nachträgliche Umstände 32 S. den insoweit zutreffend entschiedenen Fall bei B G H StV 1995, 464; Rössner N S t Z 1992, 409. 33 Lackner/Kühl zu § 46a Rn 2.
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(Arbeitslosigkeit, Krankheit u. a.) dazu führen, dass der Täter einer TOAVereinbarung nicht mehr nachkommen kann. Eine mögliche Alternative ist dieser Weg auch in dem Fall, wo das Opfer eine Teilnahme ablehnt. In dieser systematischen Sicht ergibt sich, dass vom Täter grundsätzlich ganze Wiedergutmachung durch Erfüllung der TOA-Vereinbarung verlangt wird (1. Alternative). Nur in begründeten Ausnahmefällen, wenn die Erfüllung rechtlich oder faktisch dem Täter nicht (mehr) möglich ist, reicht eine überwiegende Wiedergutmachung oder gar das ernsthafte Bemühen aus. 4.2 Das Verhältnis von § 46a zu § 46 StGB § 46a Nr. 1 StGB ist ein vertypter Strafmilderungsgrund,34 der sogar das Absehen von Strafe bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von nicht mehr als 1 Jahr oder einer Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen erlaubt. Es steht daher außer Frage, dass der gesetzlich vertypte Strafmilderungsgrund noch auf der Stufe der Strafrahmenbestimmung in gleicher Weise wie z.B. §§ 13 Abs. 2; 17 S. 2; 21; 23 Abs. 2; 27 Abs. 2 S. 2 u. a. StGB zu berücksichtigen ist. Erst danach kann die Strafzumessung im engeren Sinn, d.h. die Bemessung der konkreten Strafhöhe im festgelegten Strafrahmen erfolgen. Nach dieser logisch zwingenden und allgemein akzeptierten Prüfungsfolge steht fest, dass § 46a Nr. 1 StGB Vorrang vor der insoweit gleichlautenden allgemeinen Strafzumessungsregel im engeren Sinn des § 46 Abs. 2 a.E. StGB hat. 35 In allen Fällen eines gegebenen TOA ist daher in folgender Reihenfolge zu prüfen: 36 Anwendung der Rechtsfolgen des § 46a StGB, Absehen von Strafe bei Vorliegen der engeren Voraussetzungen, Strafmilderung nach § 49 StGB, mildernder Strafumstand nach § 46 Abs. 2 a.E. StGB.
5. Die Voraussetzungen der freiwilligen Schadenswiedergutmachung nach § 46a Nr. 2 StGB Merkmale der qualifizierten Schadenswiedergutmachung nach § 46a Nr. 2 StGB sind eine vollständige oder überwiegende materielle Schadenswiedergutmachung zivilrechtlicher Ansprüche auf Ersatz materieller oder immaterieller Schäden (Schmerzensgeld nach § 847 BGB) und darauf bezogene erZutreffend BayObLG StV 1995, 3 6 7 So auch Jescheck/WeigendS. 8 9 6 ; Loos a a O (Fn 14) S. 8 6 0 ; Lackner/Kühl zu § 46a R n 5 ; die von Tröndle/Fischer zu § 46a R n 4a vertretene Gegenmeinung (Nachrang des § 46a) ist nicht haltbar und widerspricht selbst den dort an anderer Stelle gemachten Ausführungen zur Stufenfolge des Strafrahmens (zu § 4 6 R n 7), weil § 46a eindeutig der Strafzumessung i.w.S. zuzurechnen ist. 35
3 6 So auch B G H NStZ 1995, 4 9 2 und O L G H a m m jeweils StV 1999, 89, die in der unterlassenen Prüfungsabfolge eine Rechtsverletzung mit der Folge der Revision sehen.
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hebliche persönliche Leistungen oder persönlicher Verzicht. Das bloße Bemühen genügt hier selbstverständlich nicht. Die qualifizierte Schadenswiedergutmachung nach Nr. 2 wird bestimmt durch das Erfolgsprinzip bei der Wiedergutmachung, weil nur vollständige oder überwiegende Schadenswiedergutmachung ausreichen. Hinzu kommt das Element der Selbstbestrafung durch außerstrafrechtliche Rechtsfolgen wie bei § 60 StGB, da die Wiedergutmachung mit einer fühlbaren Einbuße verbunden sein muss. Darin wird ein Äquivalent für eine strafrechtliche Rechtsfolge gesehen. Die Vorschrift kennt keine deliktsspezifischen Eingrenzungen, insbesondere fallen sowohl Vermögens- wie auch Gewaltdelikte darunter, da auch das Schmerzensgeld als materielle Schadenswiedergutmachung zu betrachten ist. 37 Da es sich nicht um einen Fall des vereinbarten TOA handelt, bestimmt sich der Umfang des Schadensersatzes und damit der Maßstab der verlangten Voll- bzw. Uberwiegenderfüllung allein nach objektiven Kriterien des zivilrechtlichen Haftungsumfangs. Insoweit besteht kein Unterschied zur üblichen Behandlung der Schadenswiedergutmachung im Strafrecht. 38 Die geforderte Qualifikation der Schadenswiedergutmachung für die Rechtsfolgen des § 46a StGB liegt allein bei den persönlichen Leistungsanforderungen. 39 Bei Versicherungsleistungen dürfte dieser Weg daher anders als bei Nr. 1 regelmäßig ausgeschlossen sein. Die Regelung des § 46a Nr. 2 StGB hat offenbar eine große Bedeutung im Bereich der schweren Kriminalität, wo TOA wegen der Unzumutbarkeit der persönlichen Begegnung bei erheblichen Traumatisierungen ausscheidet. Zahlreiche Entscheidungen gerade aus diesem Bereich (versuchter Mord, Misshandlung, schwerwiegende Verletzungen nach einer Rauschtat u.a.) belegen dies. 40
6. Die Rechtsfolgen eines mediativen TOA (und der freiwilligen qualifizierten Schadenswiedergutmachung) nach § 46a StGB 6.1. Die unterschiedlichen
Reaktionsmöglichkeiten
Bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen eines TOA verbleiben 3 unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten des Gerichts, die in seinem Ermessen liegen:
" Kilchling ZRP 1996, 314. OLG Stuttgart NJW 1981, 1114. 39 Kilchling ZRP 1996, 315, insoweit missverständlich KG Berlin StV 1997, 473. 40 S. die bei Tröndle/Fischer zu § 46a Rn 3 berichteten unveröffentlichten Entscheidungen und BGH NStZ 1995, 284 und 492; OLG Stuttgart NJW 1996, 2110; zur Steuerhinterziehung BayObLG NJW 1996, 2806. 38
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• Die Ablehnung der Anwendung der Rechtsfolgenregelung des § 46a StGB; • Die Milderung des Höchststrafrahmens von lebenslanger Freiheitsstrafe auf Freiheitsstrafe nicht unter 3 Jahren (§ 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB) oder die Reduzierung auf % des sonst angedrohten Höchstmaßes (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 StGB) und zugleich die Absenkung von erhöhten Untergrenzen (§ 49 Abs. 1 Nr. 3 StGB); • das Absehen von Strafe mit bloßem Schuldspruch unter der Bedingung, dass keine höhere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu 1 Jahr oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen im konkreten Fall verwirkt ist. Vor dem Urteil bis zur Anklageerhebung haben die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts und danach der Richter mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, im Bereich des Absehens von Strafe das Verfahren nach § 153b Abs. 1 bzw. 2 StPO einzustellen. Für die Ausübung des Ermessens gibt es keine ausdrücklichen Vorgaben, so dass sie der Praxis und Rechtsprechung weithin überlassen sind. 41 Wie erfreulich das breite Anwendungsspektrum auf den ersten Blick auch erscheint, beim genauen Hinsehen werden die Probleme deutlich: Das neue Instrument des T O A ohne fest umrissenen Anwendungsbereich wird nicht oder nur wenig beachtet, es ist dem individuellen Engagement des Staatsanwaltes oder Richters überlassen und wird so höchst unterschiedlich angewendet. Die geringen Fallzahlen bei weit größerem Potential zeigen entsprechende Auswirkungen in der Justizpraxis. Die Rechtsprechung der Obergerichte wirkt dem jetzt entgegen, indem dort bei erfolgtem T O A oder durchgeführter Schadenswiedergutmachung aufgehoben und zurückverwiesen wird, wenn in den Urteilsgründen nicht erörtert wurde, ob die Voraussetzungen des § 46a StGB vorliegen und ob von den fakultativen Möglichkeiten dieser Vorschrift Gebrauch zu machen ist. 4 2 In die gleiche Richtung zielt die Änderung der StPO durch § 155a StPO im Jahre 1999. 6.2 Die Kriterien der Ermessensentscheidung An erster Stelle steht die Entscheidung, ob von der Anwendung des § 46a StGB überhaupt Gebrauch zu machen ist. Dieses Rechtsfolgeermessen ist nicht völlig frei, sondern als pflichtgemäßes Ermessen an die allgemeinen Wert- und Zweckvorstellungen des Strafrechts gebunden. 43 Die damit eröffnete Gesamtwürdigung strafzumessungsrelevanter Grundsätze muss sich aus Gründen der Bestimmtheit und Sachgebundenheit sowie zum AusJescheck/Weigend S. 867 « BGH und OLG Hamm StV 1999, 89f. 4 3 BGHSt 1, 177; BVerfGE 50, 9. 41
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schluss von grober Ungleichbehandlung auf solche Umstände beschränken, die auf den TOA als Milderungsgrund sachlich bezogen sind.44 Hier steht außer Frage, dass Strafzumessungsgründe wie z.B. Vorstrafen und persönliche Verhältnisse in keinem Bezug zum TOA stehen. Der TOA als vom Gesetzgeber erklärtes Mittel der Verantwortungsübernahme, der Opfergerechtigkeit und der sozialkonstruktiven Wiederherstellung des Rechtsfriedens hat sachliche Bezüge vor allem zu folgenden Strafzumessungsaspekten: Die Schuld und Verantwortung, Opfergerechtigkeit und Spezial- und Generalprävention. Ein weiterer sachlicher und hier nicht zu vernachlässigender Gesichtspunkt der Ermessensentscheidung ist die Intensität des TOA auf der Tatbestandsseite. Der Zusammenhang und seine notwendige Berücksichtigung ergeben sich aus dem insoweit breiten Anwendungsfeld vom in jeder Hinsicht vollständigen (immateriellen und materiellen) TOA über eine überwiegende Wiedergutmachung bis hin zum ernsthaften Bemühen. Diese weite Tatbestandsfassung ist nicht zuletzt der Grund für den ebenso weiten Ermessensspielraum auf der Rechtsfolgenseite.45 Die vorgenannten Ermessenskriterien stehen in enger Verbindung zum Aspekt der Verantwortungsübernahme und der Schuld und lassen sich mit den Begriffen „Handlungswert" und „Erfolgswert" der Wiedergutmachung fassen. 46 Dahinter steht folgende Überlegung: Der Erfolgs- und der Handlungsunwert der Tat werden durch den Erfolgs- und Handlungswert der Wiedergutmachung kompensiert. Daraus ergibt sich die Ermessensregel: Je stärker sich der Täter um den TOA und die Wiedergutmachung bemüht hat (Handlungswert) und je vollständiger der Tatfolgenausgleich (Erfolgswert) ist, desto eher sind die Rechtsfolgen des § 46a StGB heranzuziehen. Unter dem Aspekt der Verantwortungsübernahme und des Handlungswertes hat die Ermessensentscheidung auch den Grad des freiwilligen Engagements bei der Wiedergutmachung zu berücksichtigen. Danach macht es einen deutlichen Unterschied, ob sich der Täter spontan oder erst nach Abschätzung seiner Chancen im Strafverfahren zur Wiedergutmachung (reduzierte Freiwilligkeit) entschließt.47 Daneben sind die Schwere der Schuld und das Ausmaß des Opferschadens sind im Verhältnis zum Handlungs- und Erfolgs44
So zu Recht allgemein für vertypte fakultative Milderungsgründe Lackner/Kühl zu § 49 Rn 4; SK-Rudolphi zu § 23 Rn 3; Schönke/ Schröder/ Eser zu § 23 Rn 7 gegen BGH St 16, 351; NJW 1998, 3068. « So auch Meier GA 1999, 12 f. 44 Ausführlich dazu Meier GA 1999 aaO; s. auch Brauns Die Wiedergutmachung der Folgen der Straftat durch den Täter, 1996. 47 So mit überzeugender Begründung Loos aaO (Fn 14) S. 866ff; ebenso Kühl/Lackner zu § 46a Rn 5; Schönke/Schröder/Stree zu § 46a Rn 6; OLG Stuttgart NJW 1966, 2110; BayObLG StV 1995, 368. Man muss hier differenzieren. Auf der Tatbestandsseite - Vorliegen eines TOA - kann es nicht auf den Grad der Freiwilligkeit ankommen, wohl aber bei der graduell orientierten Ermessensentscheidung auf der Rechtsfolgenseite.
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wert des TOA zu setzen. Dann kann sich trotz eines durchaus akzeptablen TOA oder einer Wiedergutmachung ein erhebliches Missverhältnis ergeben, das wie z.B. in einem Vergewaltigungsfall48 durchaus zu berücksichtigen ist. Die Kriterien der general- und spezialpräventiven Strafzwecke sind weitere wichtige Ermessenselemente, weil der TOA im Rahmen der strafrechtlichen Kontrolle erfolgt und diese Bedürfnisse Grund und Ziel dafür sind. Zudem gründet § 46a StGB auf der kriminalpolitischen Zielvorstellung, dass der TOA hinsichtlich der Ziele strafrechtlicher Sozialkontrolle gleichrangig sein kann.49 In diesem Zusammenhang ist aber zu beachten, dass die Grundentscheidung des Gesetzgebers für den TOA als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle in Zusammenhang mit dem Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip grundsätzlich von der Anwendung der Rechtsfolgen des § 46a StGB ausgeht. Die Ermessensentscheidung reduziert sich unter diesem Aspekt auf eine negative Prüfung, nämlich ob trotz des TOA oder qualifizierter Schadenswiedergutmachung eine weitergehende Einwirkung auf den Täter zum Schutz der Allgemeinheit unerlässlich ist. Insoweit ergibt sich also eine teleologische Reduktion50 des Ermessens.
7. Das Verhältnis von § 46a StGB i.V.m. § 153b zu § 153a StPO bei der Einstellung In der Praxis erfolgen Einstellungen nach TOA in der Regel über § 153a Abs. 1 Nr. 5 StPO, selbst wenn es sich um einen mediativen TOA handelt, der alle Voraussetzungen des § 46a StGB erfüllt. Dieses Vorgehen widerspricht zum einen der zentralen Bedeutung letzterer Vorschrift und zum anderen der gesetzlichen Regelung des § 153a Abs. 1 Nr. 5 StPO, der sich nur auf den angeordneten TOA bezieht (s.o. 3.) und den mediativen gerade nicht erfasst. Die Vorbehalte der Praxis für § 153a StPO und nicht für den allein konsequenten und systemgerechten § 153b StPO beim freiwilligen TOA hat mehrere Gründe: 51 An erster Stelle zeigt sich eine große Unsicherheit und teilweise Unkenntnis bei der neuen Differenzierung strafrechtlicher Sanktionen zwischen autonomer und angeordneter Verantwortungsübernahme im Rahmen der Wiedergutmachung. Hier besteht Lernbedarf. Zudem ist § 153a StPO ein vertrauter Weg ökonomischer Verfahrenserledigung. Im Gegensatz zu § 153b StPO ist die Staatsanwaltschaft bei § 153a StPO bei ein48 49
Deshalb im Ergebnis zutreffend BGH NStZ 1995, 492. Roxin Strafrecht AT I, 3. Aufl, 1997; S. 67ff.
so Rössner/Klaus aaO (Fn 17) S. 60. 51 Meier TOA und Wiedergutmachung im Strafverfahren, in Salje (Hrsg.) Festschrift für Helmut Pieper, 1998, S. 387f.
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fachen Vergehen alleinige Herrin des Verfahrens und muss keine zeitraubende Zustimmung einholen. In der Praxis wird man wohl noch einige Zeit mit dem Widerspruch zwischen der materiellen Hervorhebung des freiwilligen mediativen TOA durch § 46a StGB und einer systemwidrigen Behandlung im Verfahrensrecht durch § 153a StPO (auferlegte Wiedergutmachung) leben müssen. Zur Verwirrung hat leider auch der Gesetzgeber mit der noch 1999 erfolgten Einführung des § 153a Abs. 1 Nr. 5 StPO beigetragen.
Toleranz und die Grenzen des Strafrechts JOACHIM
RENZIKOWSKI
„Freiheit ist immer die des Andersdenkenden." (Rosa Luxemburg)
I. Corpus Christi heißt eine Stadt in Texas, an der Grenze zu Mexiko. Corpus Christi lautet auch der bewußt mehrdeutig gewählte Titel eines Theaterstückes von Terence McNally. Das Stück greift die neutestamentarische Darstellung des Lebens, Wirkens und Leidens Jesu auf, wobei dem Abendmahlsgeschehen besonders breiter Raum gewidmet wird. Jedoch spielt die Geschichte in der Stadt Corpus Christi zur Zeit der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Jesus erscheint dabei unter dem Namen Joshua als ein Homosexueller und bedient sich einer derb-zotigen Ausdrucksweise. Während im Sommer 2001 öffentlicher Protest in einigen süddeutschen Städten (z.B. Karlsruhe, Ulm, Pforzheim) dazu führte, daß das Stück abgesetzt wurde, hielten andere Theaterintendanten (etwa in Tübingen) unbeirrt an ihrem Spielplan fest. Derartige Machwerke sind keine Einzelfälle, wie weitere Beispiele aus jüngerer Zeit belegen, so etwa das Rock-Musical „Das Maria-Syndrom" 1 oder ein im Internet zum Verkauf angebotenes T-Shirt mit der Abbildung eines Kreuzes, an das ein Schwein angenagelt war.2 Daß es ihren Urhebern um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit christlichen Inhalten gehe, wird man nur selten behaupten können. Vielmehr steht die Lust an der Provokation und am Skandal im Vordergrund und führt auch regelmäßig zum gewünschten Ergebnis, einem empörten Aufschrei derjenigen, die eher eine persönliche Verletzung ertragen würden als Glaubensinhalte, die ihnen heilig sind, in den Schmutz ziehen zu lassen. Wer daraufhin zur Feder greift und öffentlich protestiert, gerät zu allem Uberfluß auch noch in die Gefahr, sich von den scharfzüngigen Verfechtern des Tabubruchs der Engstirnigkeit und der Intoleranz bezichtigen lassen zu müssen. Lachender Dritter dieser ι S. dazu OVG Koblenz NJW 1997, 1174ff; BVerwG NJW 1999, 304ff. S. dazu OLG Nürnberg NStZ-RR 1999, 239ff.
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Auseinandersetzung ist häufig der Autor, dessen an sich recht schwachbrüstiges Werk eine willkommene Werbung erfährt und dessen Kasse aufgrund des zahlreichen Zuspruchs all derer reichlich klingelt, die, schon allein, weil es „in" ist, die entsprechenden Aufführungen besuchen. Nur selten wird der nachvollziehbare Wunsch nach Strafverfolgung befriedigt, der sich in massenhaften Strafanzeigen ausdrückt. Die meisten Ermittlungsverfahren wegen § 166 StGB (Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen) werden bereits von den Staatsanwaltschaften eingestellt. Kommt es dennoch einmal zu einer Hauptverhandlung, so darf der Täter auf Milde hoffen, 3 eröffnen doch die Tathandlung des „Beschimpfens" sowie die „Eignung zur Friedensstörung" in § 166 StGB der subjektiven Wertung durch den Richter einen weiten Spielraum. Dem vermeintlichen Verfolgungsdefizit versucht der „Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes (Stärkung des Toleranzgebotes durch einen besseren Schutz religiöser und weltanschaulicher Uberzeugungen gemäß § 166 StGB)" der CDU/CSU-Fraktion vom 7 11. 2000 zu begegnen. Der Tatbestand des § 166 StGB soll durch die Streichung der Eignungsklausel in Abs. 1 und 2 verschärft werden. 4 Die Entwurfsverfasser begründen den Gesetzesvorschlag mit dem Rekurs auf ein allgemeines Toleranzgebot, das aus Art. 4 Abs. 2 GG abgeleitet wird. 5 Diese Grundlegung bleibt zunächst die Antwort auf die Frage schuldig, wann die Grenzen der Toleranz überschritten sind. Vor allem aber scheint sie in ein Paradox zu führen: Wenn die Überschreitung der Grenzen den Einsatz des Strafrechts, und damit Intoleranz gegenüber denjenigen zur Folge haben soll, die jenseits dieser Grenzen stehen und durch sie selbst als „intolerant" gekennzeichnet werden, gibt es gar keine „echte" Toleranz. Vielmehr verwandelt sich der Begriff der Toleranz in Intoleranz. 6 Bei genauerem Hinsehen handelt es sich dabei indes nicht um ein spezifisches Problem der Toleranz, sondern um ein allgemeines Phänomen jeder Gesetzgebung. Da Rechte nur auf dem Papier stehen, wenn sie nicht durch staatlich organisierten Zwang abgesichert werden, ist jedem Recht seine Begrenzung bereits immanent: „Mithin ist dem Rechte zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs ver3 Die Zahl der Verurteilungen nach §§ 166, 167 liegt seit Jahren unter 20 Personen. Im Jahr 1999 wurden 16 Personen verurteilt (s. Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Strafverfolgung, Tab. 2.1). 4 BT-Drucks. 14/4558; zuvor war weitgehend inhaltsgleichen Vorläufern kein Erfolg beschieden, vgl BR-Drucks. 367/86 (dazu krit. Fischer NStZ 1988, 159ff) - Auslöser war der Spielfilm „Das Gespenst" von Herbert Achtembusch aus dem Jahr 1983 - sowie BRDrucks. 460/98; BT-Drucks. 13/10666. Umgekehrt für eine Streichung des § 166 StGB BTDrucks. 13/2087 (Bündnis 90/Grüne). 5 BT-Drucks. 14/4558, S. 4. 6 Vgl Fish There's N o Such Thing as Free Speech and it's a Good Thing, Too, 1994, S. 134 ff.
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knüpft." 7 Maßgeblich ist, ob die wechselseitigen Grenzen des Rechts auf eine legitimierbare Weise gezogen sind. Damit stellt sich zunächst die Frage, welche Vorstellung von Toleranz dem Entwurf der C D U / C S U - F r a k t i o n zugrunde liegt (II.). Ferner ist zu klären, ob auf intolerante Äußerungen ebenfalls mit Intoleranz reagiert werden darf (III.). Die Beantwortung dieser Fragen führt schließlich zu einer Präzisierung des durch § 166 StGB geschützten Rechtsgutes und des im Tatbestand verwendeten Ausdrucks des öffentlichen Friedens (IV.).
II. Drei Elemente sind für Toleranz wesentlich: 8 Erstens muß zwischen einer tolerierenden und einer tolerierten Gruppe ein Dissens im Hinblick auf eine bestimmte Wertüberzeugung bestehen. Zweitens muß die tolerierende Gruppe die Gegenposition in irgendeinem Sinn negativ bewerten. Wer sich aus Gleichgültigkeit mit einer anderen Ansicht nicht auseinandersetzt, übt keine Toleranz. Deshalb ist auch der Verzicht auf Kritik kein Kennzeichen einer toleranten Einstellung. Toleranz bedeutet somit nicht Indifferenz. Die Grenze wird erst überschritten, wenn nicht nur der Inhalt der Äußerung, sondern das Recht selbst bestritten wird, sich entsprechend zu äußern. Drittens muß die tolerierende Gruppe in der Lage sein, ihre Ablehnung zu äußern, weil es sich sonst nicht um eine (begründete) Duldung, sondern um schlichte Unterwerfung handelt. 9 Neben dieser allgemeinen Charakterisierung lassen sich mehrere Konzeptionen der Toleranz unterscheiden. 10 Toleranz kann zunächst die Beziehung zwischen einer Mehrheit oder Autorität und einer Minderheit bezeichnen. Obwohl die Mehrheit über die Macht verfügt, gegen die Minderheitenposition vorzugehen und eine zumindest externe Konformität zu erzwingen, verzichtet sie, aus welchen Gründen auch immer - möglicherweise weil die Minderheit die Machtposition der Mehrheit nicht ernsthaft gefährden kann - , darauf, ihre Uberzeugungen gewaltsam durchzusetzen. Während in 7 Kant Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 231. Zuvor heißt es dort: „... wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d.i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d.i. recht." 8 Vgl Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hrsg. v. Mittelstraß, Bd. 4, 1996, Stichwort: Toleranz. 9 Vgl Garzon Valdesin: Facetten der Wahrheit. Festschrift für Wewel, 1995, S. 469 (471). Weitergehend Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie (Fn 8): zumindest potentielle Fähigkeit, Zwangsmittel gegen die andere Partei anzuwenden: Hiergegen Forst in: ders. (Hrsg.), Toleranz, 2000, S. 119 (122). 10 Zum Folgenden näher Forst (Fn 9), S. 123 ff.
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dieser ersten „Erlaubnis-Konzeption" 11 von einer Gleichberechtigung der konkurrierenden Positionen keine Rede sein kann, ist dies in der zweiten, der „Koexistenz-Konzeption" 12 anders. Hier sind die Machtverhältnisse zwischen den konkurrierenden Gruppen etwa gleich verteilt. Die Toleranzrelation ist somit reziprok: Die Tolerierenden sind gleichzeitig Tolerierte.13 Im Unterschied zu den ersten beiden Toleranzkonzeptionen, die die Toleranz vorrangig mit pragmatisch-instrumentellen Überlegungen begründen, geht die dritte, die „Respekt-Konzeption" 14 davon aus, daß die wechselseitige Achtung der sich tolerierenden Personen moralisch begründet ist. Die verschiedenen Gruppen erkennen einander als autonome und gleichberechtigte Mitglieder einer rechtsstaatlich verfaßten Gesellschaft an. Trotz erheblicher Unterschiede in ihren ethischen Uberzeugungen werden jeweils die anderen als moralisch und rechtlich gleich akzeptiert, so daß die rechtliche Ordnung der Gesellschaft keine ethische Position gegenüber der anderen bevorzugen sollte. Als vierte Konzeption ist schließlich die „Wertschätzungs-Konzeption" 15 zu nennen, die anspruchsvollste Form wechselseitiger Anerkennung. Sie geht über die Respektierung anderer Uberzeugungen als rechtlich-politisch gleich hinaus und verlangt, die entgegenstehenden Positionen als ethisch wertvoll zu schätzen.16 Um aber hier im Hinblick auf die Ablehnungskomponente überhaupt noch von Toleranz sprechen zu können, muß die Wertschätzung in dem Sinn beschränkt sein, daß die andere Lebensform nicht als ebenso gut wie die eigene gilt. Die Forderung nach einer Verschärfung des § 166 StGB dürfte der „Wertschätzungs-Konzeption" am nächsten stehen, da eine beschimpfende Herabsetzung der Gegenposition mit der Bewertung als ethisch wertvoll unvereinbar ist. Nach der „Respekt-Konzeption" verletzt dagegen auch eine stark verzeichnende und abwertende Äußerung die Toleranzpflicht noch nicht, da dadurch die Anerkennung als rechtlich-politisch gleichwertig noch nicht in Frage gestellt oder den Anderen die Verwirklichung ihrer Uberzeugung abgesprochen wird. Unfairneß und Intoleranz sind nicht identisch. Welche Toleranz-Konzeption ist einer liberalen Gesellschaft am angemessensten? Materiell begründete Konzeptionen sind rein pragmatisch begründeten Konzeptionen vorzuziehen, da sie nicht zu einem stabilen Zustand führen, in dem sich wechselseitiges Vertrauen entwickeln kann. Denn sobald die Unterdrückung der Gegenposition ohne Nachteile möglich ist oder 11 Forst (Fn 9), S. 124. 12 Forst (Fn 9), S. 125. « Vgl Garzön Waldes (Fn 9), S. 474ff. » Forst (Fn 9), S. 12Z is Forst (Fn 9), S. 129. 16 In diesem Sinne wohl Arthur Kaufmann Rechtsphilosophie, 1997, S. 329; vgl auch Goethe Maximen und Reflexionen, in: Werke, Bd. 6,1981, S. 507: „Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen."
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sich das Machtverhältnis zugunsten einer Gruppe verändert hat, entfallen die wesentlichen Gründe für Toleranz. Fraglich ist jedoch, ob die ethisch dichteste Konzeption des wechselseitigen Schätzens gewählt werden sollte. Auch wenn sie moralisch vorzugswürdig ist, weil sie zu den Bedingungen gehört, die eine pluralistische Demokratie ermöglichen, sollte sie nicht zum Gegenstand des Rechtssystems gemacht werden, denn das Recht begnügt sich mit der äußeren Legalität einer Handlung ohne Rücksicht auf die innere Einstellung des Akteurs: 17 „Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität (Gesetzmäßigkeit); diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben."18 Insoweit genügt aber nach dem Grundsatz größtmöglicher gleicher Freiheit,19 daß die Kontrahenten sich ihre unterschiedlichen Auffassungen gegenseitig zugestehen, ohne Rücksicht auf ihre Bewertung. Selbst wenn eine Äußerung - gleich nach welcher Toleranzkonzeption als intolerant zu bewerten ist, so ist damit noch nicht entschieden, wie darauf legitimerweise reagiert werden darf.
III. Der Frage, ob Intoleranz mit Intoleranz vergolten werden darf,20 soll pars pro toto - nun durch einen Blick auf drei rechtsphilosophische Vertreter des Toleranzgedankens nachgegangen werden. Es ist eine kleine Ironie der Geschichte, daß einer der großen Aufklärer und Vorkämpfer für Toleranz, John Locke, gerade den Katholiken gegenüber keine Toleranz für möglich hielt. So könnten Kirchen nicht im Staat geduldet werden, deren Glieder durch ihren Glauben gleichzeitig einem auswärtigen Souverän - dem Papst - verpflichtet seien.21 Lockes Argument richtet sich freilich gegen seine Position selbst, denn mit derselben Begründung 17
Ebenso Höffe in: Forst (Fn 9), S. 60 (74ff). « Kant (Fn 7), S. 219. " S. Kant (Fn 7), S. 230: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann." 20 Dafür etwa Jaspers Der philosophische Glaube, 1948, S. 73; Radbruch Der Mensch im Recht, 3. Aufl 1969, S. 86. 21 Locke Α Letter concerning Toleration (1689), in: The Works of John Locke, London 1823, Vol. VI, S. 46: „Again: That church can have no right to be tolerated by the magistrate, which is constituted upon such a bottom, that all those who enter into it, do thereby, ipso facto, deliver themselves up to the protection and service of another prince." Noch weitergehend wollte Rousseau Du Contrat social ou principes du droit politique, 1762, Kap. 8, keine Religion dulden, nach der es außerhalb der Kirche kein Heil gibt.
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dürfte Anglikanern in einem katholischen Staat die Toleranz verweigert werden. Eine allgemeine Toleranzpflicht kann Locke auf diese Weise gerade nicht entwickeln. Für unseren Zusammenhang von größerem Interesse ist die Frage nach dem tieferen Grund für die Aufhebung des Toleranzgebotes. Nach Locke ist keine praktische Meinung, die im Widerspruch mit der Möglichkeit menschlicher oder bürgerlicher Existenz steht, zu dulden. 22 Die Freiheit wird also aufgrund angenommener negativer Folgen für die öffentliche Ordnung beschränkt. Gegenüber einem Verhalten, daß keine Rechte eines anderen verletzt und nicht darauf abzielt, andere zu beherrschen, ist staatlicher Zwang dagegen unstatthaft. 23 Diese klassisch liberale Auffassung wird insbesondere von John Stuart Mill ausgebaut. Einschränkungen der Meinungsfreiheit durch Zwangsmaßnahmen hält er nur für legitim, um „die Schädigung anderer zu verhüten." 2 4 Als relevant sieht Mill die Schädigungen legitimer, rechtlich geschützter Interessen an. 25 Damit wird die Pointe der in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts beginnenden Rechtsgutsdiskussion 2 6 bereits vorweggenommen. Mill spricht sich dagegen aus, die Redefreiheit nur unter der Bedingung zu gestatten, daß die Grenzen fairer Diskussion nicht überschritten werden. 27 Seiner Ansicht nach lassen sich die Grenzen der Fairneß kaum bestimmen, weshalb die Gefahr besteht, daß sie von der jeweiligen Mehrheit zu Lasten der Minderheit festgesetzt werden. Dieser Gedanke läßt sich auch auf § 166 StGB übertragen. Die übliche Definition des Beschimpfens als jede durch Form oder Inhalt besonders verletzende rohe Äußerung der Mißachtung durch die Behauptung einer schimpflichen Tatsache oder eines abfälligen Werturteils 28 kann gewiß nicht als Vorbild gelten, wie die Verbotsmaterie für jeden vorhersehbar klar und eindeutig festgelegt ist, insbesondere wenn dafür die Umstände des Einzelfalles maßgeblich sein sollen. 29 Wichtiger er22 Locke (Fn 17), S. 45: „ N o opinions contrary to human society, or those moral rules which are necessary to the preservation of civil society, are to be tolerated by the magistrate." Somit können auch Atheisten nicht auf Toleranz hoffen, weil der Unglaube an Gott gleichbedeutend mit der Leugnung aller menschlichen Verpflichtungen ist - eine Konsequenz seiner Annahme, daß das Sittengesetz auf dem Willen Gottes beruht (s. 6th Essay On the Law of Nature). 23 Locke (Fn 17), S. 47: „As for other practical opinions, though not absolutely free from all error, yet if they do not tend to establish domination over others (...), there can be no reason why they should not be tolerated." 24 Aft//Uber die Freiheit, 1988 (orig.: On Liberty, 1859; übersetzt von Bruno Lemke), S. 16. 25 Mill (Fn 20), S. 103; näher dazu Lohmann in: Matthias Kaufmann (Hrsg.), Integration oder Toleranz, 2001, S. 88 (92ff). 26 Als Schöpfer des Begriffs gilt Birnbaum Archiv des Criminalrechts 1834, S. 149ff; näher zur Dogmengeschichte Amelung Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972. 27 Mill (Fn 20), S. 73ff; auch § 166 StGB pönalisiert nicht bereits die unfaire Beschimpfung eines Bekenntnisses. 28 Vgl OLG Celle NJW 1986, 1275 f; OLG Nürnberg NStZ-RR 1999, 239. 29 OLG Karlsruhe NStZ 1986, 363 (364).
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scheint jedoch eine andere Überlegung. Auf Unfairneß reagiert man nach Mill richtigerweise dadurch, die Art und Weise der Auseinandersetzung öffentlich zu thematisieren. 3 0 Dahinter verbirgt sich die für die freiheitliche Gesellschaft konstitutive Anerkennung jedes Einzelnen als mündigen Bürger. Deshalb kann darauf vertraut werden, daß der Diskurs die Unfairneß als solche entlarven und so die anstößige Behauptung selbst diskreditieren wird. D e r kurze Streifzug durch die Ideengeschichte der Toleranz soll mit John Rawls beschlossen werden. Seiner Ansicht nach darf sich zwar der Intolerante nicht beklagen, wenn er selbst intolerant behandelt wird. 3 1 Intoleranz als solche rechtfertigt aber noch nicht ihre Unterdrückung. Vielmehr muß die Einschränkung der Redefreiheit gerecht, d . h . mit d e m Prinzip größtmöglicher gleicher Freiheit 3 2 vereinbar sein. Erst eine Gefährdung der Freiheit der anderen oder der freiheitlichen Verfassung selbst legitimiert dazu, die Freiheit der Intoleranten zu beschneiden. 3 3 Diese Bedingungen werden in einer Gesellschaft, in der der öffentliche Diskurs funktioniert - hier: in der blasphemische Äußerungen auf öffentliche Kritik stoßen - , regelmäßig noch nicht vorliegen. D e r liberalen Betonung der Freiheit des Individuums und d e m daraus folgenden Toleranzgebot wird jedoch entgegengehalten, daß mit lediglich formalen Gerechtigkeitskriterien - u n d auch die Toleranz wurde hier ja rein formal bestimmt - keine Gesellschaft überleben könne. Vielmehr lebe auch die liberale Demokratie von einem Einverständnis ihrer Bürger über letzte Dinge. 3 4 Folgerichtig müßte die in Art. 4 G G verankerte weltanschauliche Neutralität des Staates als Irrtum abgelehnt werden. Entsprechende Stimmen für den Einsatz des (Straf-)Rechts z u m Schutz von Grundwerten werden besonders in Zeiten laut, in denen m a n einen allgemeinen Werteverfall festzustellen meint. Was Erziehung und Sozialisation nicht geleistet haben, soll nun durch staatlichen D r u c k bewirkt werden. D a ß sich ein entsprechender Basiskonsens jedoch nicht ohne weiteres einstellen will und daß sich derartige Fragen hervorragend z u m Gegenstand tagespolitischer Streitereien eignen, hat die Debatte über die „Leitkultur" gezeigt. Uberraschenderweise scheint diese Kritik mit d e m von Mill betonten Schadensprinzip vereinbar zu sein, denn nach ihren Prämissen droht das ° Mill (Fn 20), S. 75 f. Rawls Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975 (orig.: A Theory of Justice, 1971; übersetzt von Hermann Vetter), S. 246f. 32 Für Rawls (Fn 28), S. 31 f, 81 et passim eines der beiden Grundprinzipien der Gerechtigkeit. 33 Rawls (Fn 28), S. 249f; s. auch dem. Die Idee des politischen Liberalismus, 1992, S. 222 ff; ebenso Arthur Kaufmann (Fn 16), S. 334 f. 34 Vgl etwa Maclntyre in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 1993, S. 84 (90ff); Taylor ibid., S. 103 (llOff). Die Kritik am Menschenbild des Liberalismus und am individualistischen Zugang zur Begründung des Rechten findet sich bereits bei Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von Eduard Gans, 2. Aufl 1840, §§ 144ff. 3
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Gemeinwesen Schaden zu nehmen, wenn die es konstituierenden Wertüberzeugungen sich auflösen. Dieser Gefahr dürfte dann nach dem Schadensprinzip mit den Mitteln des Rechtszwangs begegnet werden. In einer derartigen Vorstellung offenbart sich jedoch eine naive Uberschätzung der Möglichkeiten der Rechtsordnung. So kommt insbesondere dem Strafrecht keine sittenbildende Kraft zu. Vielmehr knüpft es an bereits vorhandene gesellschaftliche Wertvorstellungen an. 35 Wie die Entwicklung der §§ 218 ff StGB belegt, lassen sich verschwundene Wertvorstellungen nicht mit den Mitteln des Rechts über einen längeren Zeitraum künstlich am Leben erhalten. Vielmehr setzt eine Rechtsordnung, die ihre Standards gegen die verbreitete Uberzeugung der Bürger durchsetzen will, ihre Autorität aufs Spiel. Ferner verzichtet der pluralistische Staat gerade um der Freiheit willen darauf, seine eigenen Existenzbedingungen zu kontrollieren, zum einen, weil diese Hochschätzung der Freiheit sein Selbstverständnis bestimmt, zum anderen aus der Hoffnung heraus, gerade dadurch von den Vorzügen einer freiheitlichen Verfassung zu überzeugen.
IV. Aus diesen Überlegungen ergeben sich die Grenzen der Meinungsfreiheit. Sie sind zunächst dort überschritten, wo andere in ihrer Person herabgesetzt werden. Ohne die gegenseitige Achtung als Personen ist das Zusammenleben in einer Gesellschaft nicht möglich. Die wechselseitige Anerkennung als Personen - und damit als Diskutanten - ist ebenso Voraussetzung des offenen Wettstreites der Meinungen. Die gebotene Toleranz wird deshalb verletzt, wenn der andere nicht mehr als Partner dieser Auseinandersetzung ernst genommen wird. Dieser Aspekt der Menschenwürde wird durch die Straftatbestände zum Schutz der Ehre (§§ 185 ff StGB) erfaßt. 36 Das Problem des § 166 StGB liegt indes darin, daß der inkriminierten Äußerung in der konkreten Situation jeder Bezug zu bestimmten lebenden Personen fehlt. Geschmacklose Verzerrungen religiöser oder weltanschaulicher Inhalte stellen regelmäßig noch keine Herabsetzung derjenigen Individuen oder der Gruppen 37 dar, die der betreffenden Uberzeugung folgen. Diesen objektiven Bezug drückt die Friedensschutzklausel aus, die jedoch einer Konkretisierung bedarf. So überzeugt es nicht, wenn üblicherweise unter Verweis auf den Gesetzeswortlaut der öffentliche Friede als das durch Günther]\iS 1978, S. 8 (11). Zum Schutzgut der §§ 185ff s. statt vieler Lenckner in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl 2001, Vorbera §§ 185 ff Rn 1 mwN. 37 Zur Beleidigungsfähigkeit von Personengemeinschaften s. BGHSt 36, S. 83 (88); Lenckner in: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 185ff Rn 3; zu Recht krit. Arzt]Z 1989, 647; Gounalakis NJW 1996, 481 (483f). 35
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§ 166 StGB geschützte Rechtsgut angesehen wird. 38 Als öffentlicher Friede wird dabei der Zustand allgemeiner Rechtssicherheit und des befriedeten Zusammenlebens der Bürger (objektives Element) sowie das Vertrauen der Bevölkerung auf die Fortdauer dieses Zustandes (subjektives Element) definiert. 39 Damit bleibt indes die Besonderheit des § 166 StGB im Dunkeln. Verstanden als objektive Gesichertheit durch das Recht wird der öffentliche Friede durch jeden Rechtsbruch gestört. § 166 wäre damit überflüssig.40 Die herkömmliche Auffassung führt ferner in eine Antinomie, vergleichbar der „Russellschen Antinomie": Ebensowenig, wie sich die Menge aller Mengen prädikativ darstellen läßt,41 läßt sich die Rechtsordnung als ein durch sie selbst rechtlich geschütztes Interesse darstellen.42 Die Beeinträchtigung des subjektiven Vertrauens auf Rechtssicherheit ist als mögliche sozialpsychologische Auswirkung eines Normbruchs ein sekundäres Phänomen, nicht aber der Normbruch selbst.43 Kein Ausweg ist es, wenn die Inhalte religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisse als dem Kernbereich personaler Würde und Freiheit zuzuordnende soziale Gegebenheiten angesehen werden, deren Achtung Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben in einer Gesellschaft sei.44 Selbst wenn sie von dem Bekennenden als seine Persönlichkeit unmittelbar konstituierend erlebt werden, 45 ist eine generelle Rechtspflicht zur Zurückhaltung bei Dingen, die anderen heilig sind,46 nicht anzuerkennen. Gegen sie sprechen dieselben Gründe, die oben bereits gegen die enge Wertschätzungskonzeption der Toleranz vorgebracht wurden. Sofern der Strafschutz auf ein gesellschaftsverträgliches Mindestmaß an Respekt und Toleranz reduziert werden soll,47 bleibt offen, wovon sich dieses Mindestmaß ableiten läßt. Bleibt nach alldem nur noch der Hinweis auf eine - ebenso unbestimmbare - Strafwürdigkeitskontrolle? 48 Der Schlüssel zur Erklärung des § 166 StGB liegt in der liberalen Begründung der Toleranz. In der pluralistischen Gesellschaft, in der niemand das Monopol auf "Wahrheit beanspruchen ' · Vgl OLG Köln NJW 1982, S. 657; Lackner/Kühl StGB, 24. Aufl 2001, § 166 Rn 1; Lencknerin: Schönke/Schröder, Vorbem. §§ 166ff Rn 2 mwN. " S. BGHSt 16, 49 (56); OLG Celle NJW 1986, 1275; Lenckner in: Schönke/Schröder, § 126 Rn 1 mwN. 40 Zu Recht krit. Fischer NStZ 1988, 161 f. 41 S. Levy Basic Set Theorie, 1979, S. 6f. 42 Näher dazu Renzikowski Notstand und Notwehr, 1994, S. 81 f. 43 Stratenwerth Festschrift für Lenckner, 1998, 377 (386). 44 So Tröndle/Fischer StGB, 50. Aufl 2001, § 166 Rn 1; s. auch Rudolphiin: SK-StGB, Vor § 166 Rn 1. 45 Tröndle/Fischer § 166 Rn 1. 44 Vgl auch Ε 1962, BT-Drs. IV/650, S. 342, dessen Vorstellung gerade nicht Gesetz geworden ist; s. BT-Drs. V/4094, S. 28ff. 47 Tröndle/Fischer § 166 Rn 1. 48 S. Fischer NStZ 1988, 163.
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kann, ist die gegenseitige Toleranz die Konstituente des offenen Diskurses aller mit allen. Eine Äußerung kann dann nicht mehr als Teil des öffentlichen Diskurses akzeptiert werden, wenn durch die Diskriminierung der Gegenposition deren Vertreter ausgegrenzt und damit mundtot gemacht werden sollen.49 Unbeachtlich ist dagegen die Zahl der Personen, die der geschmähten Uberzeugung folgen50 - Toleranz bezweckt vor allem Minderheitenschutz - , sowie die Möglichkeit, daß die Anhänger des angegriffenen Bekenntnisses gewalttätig werden könnten,51 denn der Staat muß die Redefreiheit notfalls gegen Gewalt schützen. Der öffentliche Friede in § 166 StGB bezeichnet somit die Bedingungen von Pluralität. Eine Friedensstörung ist demnach dann anzunehmen, wenn Menschen befürchten müssen, in ihrem Umfeld wegen ihrer Uberzeugungen diskriminiert zu werden und Nachteile zu erleiden. Denn (nur) dann besteht die Gefahr, daß sie sich nicht mehr trauen, ihre Weltanschauung auch öffentlich zu leben und für sie einzutreten. § 166 StGB will also die Zerstörung der Pluralität selbst verhindern und dient auf diese Weise letztlich der Religions- und Weltanschauungsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG selbst. Wer die Friedensstörungsklausel ersatzlos streichen will, stellt dagegen den einzig legitimen Schutzzweck des § 166 StGB in Frage. Bezeichnenderweise räumen die Entwurfsverfasser ein, daß durch die geänderte Vorschrift auch das religiöse Empfinden geschützt werden soll - obwohl, wie von ihnen konstatiert, Art. 4 Abs. 1 GG dem Einzelnen keinen Anspruch gegenüber dem Staat auf Schutz vor „religiöser Verunsicherung"52 einräumt. Das paßt nicht zusammen. Könnte nicht stattdessen die - beklagte - praktische Bedeutungslosigkeit des § 166 StGB ein positives Zeichen dafür sein, daß in unserer Gesellschaft die Pluralität noch nicht gefährdet ist?
V. In einer offenen Gesellschaft, in der viele Religionen und Weltanschauungen miteinander konkurrieren, muß § 166 StGB unterschiedliche Empfindlichkeiten auffangen.53 Die gegen den Schriftsteller Salman Rushdie verhängte Fatwa belegt eindrucksvoll, daß sich bei anderen Religionen und Weltanschauungen niedrigere Toleranzschwellen finden. Jedoch ist die Vorstellung beklemmend, daß die „Satanischen Verse" in Deutschland ein Straf49 Vgl auch OLG Karlsruhe NStZ 1986, 365 m. Anm. Ott; sowie - im Ergebnis zweifelhaft - OLG Celle NStZ 1986, 1276; OLG Nürnberg NStZ-RR 1999, 240. 50 S. aber Lenckner in: Schönke/Schröder, § 166 Rn 12. 51 S. Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht. Besonderer Teil, Teilband 2, 8. Aufl 1999, § 61 Rn 15. 52 S. Herzog in: Maunz/Dürig, GG, 8. Aufl, Art. 4 Rn 74. 53 Arzt/Weber Strafrecht. Besonderer Teil, 2000, § 44 Rn 53.
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verfahren auslösen könnten. Zu Recht betont Mill, daß ketzerische Gedankengänge nicht durch ihre Bestrafung, sondern dadurch verschwinden, daß man sich mit ihnen auseinandersetzt und sie widerlegt.54 Zurückhaltung bei der Begrenzung der öffentlichen Rede ist Zeichen einer selbstbewußten Gesellschaft, die es sich zutraut, denjenigen, der die Grenzen des guten Geschmacks überschreitet, im Rahmen der öffentlichen Auseinandersetzung in seine Schranken zu weisen.
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Mill (Fn 24), S. 47 f.
Motiv-Intentionalität und Zweck-Mittel-Relation Zur Analyse der Tötung „aus Habgier" WILFRIED
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I. Wer „aus Habgier" einen anderen Menschen tötet, wird nach § 211 StGB wegen Mordes bestraft. Mit der Wendung „aus Habgier" bezeichnet das Gesetz - sprachlich - einen psychischen Sachverhalt („Habgier") als auslösendes Moment („aus") der Tötung. Es charakterisiert damit die Habgier in einer kausal-retrospektiven Formulierung - als „Motiv" der Tat; in dieser Eigenschaft kehrt die Habgier im Normtext denn auch anschließend als (niedriger) „Beweggrund" wieder. Die Kennzeichnungen dieses Beweggrundes, denen man in der Literatur begegnet, stammen regelmäßig aus der Rechtsprechung, rekapitulieren in häufig verkürzt-konzentrierter Form deren wesentliche Aussagen zur „Habgier". Dabei wird als Kernelement meist hervorgehoben, Habgier sei „rücksichtsloses Streben nach Vermögensvermehrung", 1 oder: Habgier erfordere „ungehemmte, überzogene und sittlich anstößige Steigerung des Erwerbssinns", 2 oder: „ein ungezügeltes und rücksichtsloses Streben nach Gewinn ,um jeden Preis'". 3 Im Kontext solcher und ähnlicher Bestimmungen der „Habgier" 4 wird dann in aller Regel zu einigen dogmatischen Sekundär- und Begleitproblemen dieses Motivs kurz Stellung genommen. 5 Dies gilt z.B. für die Frage, ob Habgier auch vorliegen kann, wenn es dem Täter um die Durchsetzung eines tatsächlichen oder vermeintlichen - Anspruchs auf den erstrebten Vorteil, um die Ersparung von Aufwendungen oder etwa um die Erhaltung bereits erlangten Besitzes geht. Ein mit Begriffen wie „rücksichtsloses Gewinnstreben" oder „sittlich anstößige Steigerung des Erwerbssinns" (usw.) gleichsam „moralisch aufgela-
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Jähnke in LK, 10. Aufl 1989, § 211 Rn 8. * Kühl m Lackner/Kühl, StGB, 24. Aufl 2001, § 211 Rn 4. 3 Hettinger in Wessels/Hettinger, Strafrecht BT 1, 25. Aufl 2001, Rn 94. 4 Vgl dazu auch die Übersicht bei Küper Strafrecht BT - Definitionen mit Erläuterungen, 4. Aufl 2000, S. 176f. 5 Hierzu vorläufig die Nachw. bei Küper (Fn 4), S. 176f.
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denes" Mordmerkmal6 scheint sich einer rationalen Analyse ebenso zu entziehen wie einer präzisierenden Konkretisierung und letztlich auf eine rechtsstaatlich schwer erträgliche - „ethisierende Gesamtwürdigung" zu verweisen. So ist unlängst wieder die weitreichende „Interpretationsoffenheit" des Merkmals gerügt und beanstandet worden, daß es zu „Moralisierungen" verführe, „die einen fiktiven Standpunkt außerhalb der gesellschaftlichen Normen einnehmen und eben dadurch ihre Abgrenzungsfähigkeit einbüßen": Das Mordmerkmal der Habgier sei deshalb „zur Rechtfertigung einer Entscheidung zwischen lebenslanger und zeitiger Freiheitsstrafe untauglich".7 Ehe man jedoch die Habgier aus solchen Gründen gesetzeskritisch „verwirft", sollte zunächst der Versuch einer genaueren dogmatischen Analyse ihres eigentlichen Inhalts unternommen werden, ein Versuch, der zugleich zur „Rationalisierung" und Präzisierung des Mordmerkmals beitragen könnte. Zumindest für die Analyse sind aber die in der Judikatur anzutreffenden Signaturen dieses Merkmals, auf die das Schrifttum regelmäßig Bezug nimmt, erheblich aufschlußreicher, als es deren geläufiger literarischer Extrakt vermuten läßt. Dies zeigt sich, wenn versucht wird, das eigentümliche „Konglomerat" der Habgier-Kennzeichnungen, welches die Rechtsprechung in variantenreichen Kombinationen anbietet, nach seinen verschiedenen Kriterien differenzierend zu ordnen und in seinem sachlichen Gehalt analytisch aufzuschlüsseln. In der Judikatur8 mischen sich deskriptive Phänomenbeschreibungen des seelischen Sachverhalts „Habgier" mit normativ-wertenden, die „Niedrigkeit" und „Anstößigkeit" des Beweggrundes pointierenden Charakterisierungen. Dabei dringen die normativen Aspekte sozusagen sukzessiv in die deskriptiven Elemente ein:
II. 1. Ausgangspunkt der beschreibenden Psychologie ist dabei ersichtlich weniger das „Motiv" i.S. eines leitenden Handlungsawirzefo als vielmehr die subjektive ZweckHchtung der Handlung selbst, in der sich das HabgierMotiv zu einem „überschießenden" Handlungsziel ausformt.9 Habgier ist 6 Vgl Arzt in Arzt/Weber, Strafrecht BT, 2000, § 2 Rn 59: „moralisch aufgeladene Habgierdefinitionen"; „aufgeladen mit unbestimmten moralisch wertenden Begriffen". 7 Kargl Strafverteidiger-Forum 2001, 365 (367). 8 Sie geht zurück auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone in Strafsachen; vgl OGHSt 1, 81; 1, 133 (136f); 1, 365 (366). Vgl zur Habgier-Rechtsprechung auch Franke JZ 1981, 525 ff. 9 Die vorliegende Analyse verzichtet bewußt auf einen vorweg definierten Begriff des „Motivs" oder „Beweggrundes" in terminologisch-sachlicher Differenz zur „Absicht". Vielmehr wird versucht, die Struktur des Habgier-„Motivs" von seiner intentionalen und antriebsbezogenen Seite her zu erfassen. Der Grund für dieses Vorgehen liegt in dem bisher
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danach „Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen", „nach materiellen G ü t e r n u n d Vorteilen", „nach G e w i n n v o n Geld o d e r Geldeswert" (usw.); 1 0 d e m habgierig handelnden T ä t e r „ k o m m t es darauf an, sich zu bereichern", er „geht darauf aus, seine Vermögenslage zu verbessern". 1 1 In dieser Perspektive meint Habgier nichts anderes als zielgerichtete „Bereicherungsabsicht" u n d ließe sich im G e s e t z entsprechend formulieren; 1 2 sie beschreibt einen prospektiv-final verstandenen - Willensinhalt, dessen motivatorische Basis im P r o z e ß der Willensbildung n o c h offen bleibt. Ich m ö c h t e diese (Absichts-) K o m p o n e n t e der Habgier als die „intentionale Seite" des Habgier-Motivs 1 3
durchaus unklaren Verhältnis von „Motiv" und „Absicht" im allgemeinen sowie zusätzlich in der Unsicherheit, ob die Habgier mit Termini wie „Motiv/Beweggrund" überhaupt angemessen kategorisiert ist. - Vielfach werden „Absicht" als zielgerichteter Handlungswille und „Motiv" als Beweggrund in der Weise negativ unterschieden, daß der absichtlich intendierte Erfolg nicht das „Endziel" des Handelns sein müsse, wohl aber sein könne (vgl etwa Eben Strafrecht AT, 3. Aufl 2001, S. 59; Jescheck/Weigend Strafrecht AT, 5. Aufl 1996, § 29 ΠΙ 1 a; Roxin Strafrecht AT, Bd. 1, 3. Aufl 1997, § 12 Rn 10; Sternberg-Lieben in Schönke/ Schröder, StGB, 26. Aufl 2001, § 15 Rn 66). Aus dieser Sicht bezeichnet das „Motiv" (Beweggrund) eine Art „Fern"- oder „Letztziel" des Handelns, während für die „Absicht" das Erstreben eines „Nah-" oder „Zwischenziels" ausreichen soll. Bisweilen wird die Unterscheidbarkeit von Beweggrund/Motiv und Absicht prinzipiell verneint: Als „Beweggrund" komme strafrechtlich nur in Betracht, was zugleich als „Handlungs- oder Willensziel" erfaßbar sei (so z.B. Schmidhäuser Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, 1958, S. 227ff; vgl auch Geilen FS Lackner, 1987, S. 581 f: „Das Motiv treibt, das in der Absichtsrichtung liegende Ziel zieht an."). Andererseits soll die Differenz darin bestehen, daß das „Motiv" nicht primär bestimmte „Zielvorstellungen" des Handelnden, sondern die hierfür maßgebenden „Antriebskräfte" bezeichne (vgl Gehrig Der Absichtsbegriff in den Straftatbeständen des Besonderen Teils des StGB, 1986, S. 63 ff; Oehler NJW 1966, 1638 f; Paeffgen GA 1982,259: Motiv als „treibendes Element", das sich „zur Intentionalität weiterentwickelt"). Auch wird unter einem Motiv der Beweggrund zur „Wahl" eines Handlungsziels verstanden, welcher nach dem Vollzug der Zielwahl als „Leitvorstellung" des Handelnden mit dessen Absicht praktisch identisch werde: Der Beweggrund bilde die Leitvorstellung „hinter" dem Verhalten, die Absicht verweise auf das vorausliegende Handlungsziel (Stratenwerth Strafrecht AT I, 4. Aufl 2001, § 8 Rn 143, im Anschluß an Lampe Das personale Unrecht, 1967, S. 140 ff). Was die „Habgier" betrifft, so wird sie von diesem Standpunkt aus nicht zu den Beweggründen/Motiven gerechnet, sondern zu den „affektiven Antrieben" (Strebungen, Triebfedern), d. h. zu den psychischen Triebkräften, die sich im Auftreten eines Motivs bzw. in der Wahl eines Handlungsziels äußern (vgl Lampe aaO, S. 141 f; Stratenwerth aaO, Rn 144ff). Vgl auch die Übersicht bei Heine Tötung aus „niedrigen Beweggründen", 1988, S. 37ff, 160f, mwN; Ziegert Vorsatz, Schuld und Vorverschulden, 1987 S. 69ff. 10 Vgl z.B. BGHSt 10, 399; 29, 317 (318); BGH GA 1971, 155; NJW 1981, 932 (933); NJW 1991, 1189; NStZ 1993, 385 (386); NJW 1995, 2365 (2366); NJW 2001, 763. « BGHSt 10, 399; BGH NJW 1981, 932 (933). 12 Vgl Geilen Lackner FS, 1987, S. 582, der auf die „Möglichkeit der Umformulierung in ein Absichtsmerkmal" hinweist, „indem man ζ. B. von einer ,zur Erlangung eines Vermögensvorteils' begangenen Tötung spricht". Vgl auch § 100 II Nr 5 des AE (BT, Straftaten gegen die Person, 1. Halbbd., 1970): „zur Erlangung eines Vermögensvorteils tötet"; sowie den Vorschlag von Otto, ZStW 83 (1971) 79. 13 Vgl auch oben Fn 9.
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bezeichnen. 14 Andererseits wird „Habgier" in der Rechtsprechung aber auch als motivatorische „Triebkraft" der zielgerichteten Handlung beschrieben, als „Verlangen", ja als „Sucht", 15 und insofern retrospektiv als ein von der Bereicherungsabsicht unterscheidbares Motiv betrachtet, dessen wesentliches Kennzeichen die „Hemmungslosigkeit" oder „Ungehemmtheit" des Antriebs sei: 16 Der Täter wird „von dem Verlangen getrieben", 17 sich einen Vermögensvorteil zu verschaffen; sein Beweggrund besteht in „hemmungsloser, triebhafter Eigensucht", 18 die sogar über „bloße Gewinnsucht" noch hinausgehen soll, 19 und seine zielgerichtete Tat ist „Folge" solchen „eigensüchtigen Verlangens". 20 Die Qualifizierung der Habgier mit Unwertprädikaten, die der beschreibenden Psychologie parallel läuft und sich in der Charakterisierung als „hemmungslose Eigensucht" schon andeutet, setzt wiederum weniger bei der Zielrichtung der habgierigen Handlung an als vielmehr beim „Gewinnstreben" i.S. eines motivierenden Handlungsantriebs. Dies gilt jedenfalls, soweit das Habgiermotiv gleichsam isoliert „als solches" bewertet wird, d.h. noch ohne deutliche Beziehung zur Tötungshandlung und damit zu seiner Eigenschaft als „Tötungsmotiv". Die in diesem Zusammenhang auf „Vorteilsstreben" oder „Erwerbssinn" bezogenen Prädikate, insbesondere die von der Rechtsprechung bevorzugten „moralisierenden Steigerungsbegriffe", wären als Unwertqualifizierungen der intentionalen Seite (Bereicherungsabsicht) nicht verständlich. „Vorteilsstreben" und „Erwerbssinn" sind danach bei der Habgier nicht nur „übertrieben", 21 „gesteigert", 22 „ungewöhnlich", 23 übersteigen „weit das erträgliche/gewöhnliche Maß" 2 4 ; sie
14 Heine (Fn 9), S. 140ff, 167ff, unterscheidet bei den Tötungsmotiven - im Anschluß an empirisch-psychologische Befunde - drei Motivformen: „primär intentionale", „primär reaktive" und „primär zuständliche" Motive. In dieser Klassifizierung würde der bisher beschriebene Habgieraspekt zu den „intentionalen" Motivmerkmalen gehören. Heines Gruppierung deckt sich (in den beiden ersten Gruppen) weitgehend mit der von Alwart GA 1983, 438 ff, vorgeschlagenen Differenzierung zwischen „Um-zu-Motiv" oder „Intention" und „Weil-Motiv" oder „Reaktion". Alwart will freilich die Habgier überhaupt nicht mit den Intentionen (Um-zu-Motiven) in Verbindung bringen, sondern einer dritten Kategorie der „komplexen Handlungsgründe" zuordnen (vgl dazu auch unten III 2). 15 BGH St 29, 317 (318); BGH NJW 1981, 932; StV 1989, 1995, 2365 (2366); NJW 2001, 763. 16 BGHSt 29, 317; BGH NJW 1981, 932; StV 1989, 150; BGHSt 29, 317 (318); BGH NJW 1981, 932 (933). w BGHSt 29, 317; BGH NJW 1981, 932; StV 1989, 150; ι» BGH NJW 1995, 2365 (2366); NJW 2001, 763. 20 BGH NJW 1981, 932; NJW 2001, 763. 21 BGHSt 10, 399; 29, 317 (318). 22 BGH NJW 1995, 2365 (2366); NJW 2001, 763. 23 BGHSt 10, 399; 29, 317 (318). 2 4 BGHSt 10, 399; 29, 317; BGH NJW 1981, 932; NStZ
150; NStZ 1993, 385 (386); NJW NStZ 1993, 385 (386). NStZ 1993, 385 (386).
1993, 385 (386).
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sind - in ihrer Steigerung - auch „abstoßend", 2 5 „ungesund" 2 6 und „sittlich verwerflich". 27 Von der Bereichemngsabsicht als zielgerichtetem Handlungswillen - die entweder vorliegt oder fehlt, auch auf größere oder geringere Vorteile gerichtet sein kann, aber selbst nicht „steigerungsfähig" ist - ließe sich dies alles nicht sagen. 2. Während solcher isolierten Motivbewertung eine gewisse Sprachlosigkeit anhaftet, die sich in einem vage ethisierenden, distanzierend-abweisenden („ungesund", „abstoßend") und zugleich quantifizierend-steigernden Verwerflichkeitsvokabular äußert, gewinnen die normativen Prädikate der Rechtsprechung dort wesentlich deutlichere, rational besser faßbare Substanz, wo sie den Unwertgehalt der Habgier implizit im Blick auf eine Relation bestimmen: die Beziehung des Gewinnstreb ens zur Tötung und zu dem „aus Habgier" angegriffenen Rechtsgut. D e r Initialbegriff dieser relationalen Unwertbestimmung, in dem die Habgier eigentlich überhaupt erst als unwertiges Tötungsmotiv aufscheint, ist die „Rücksichtslosigkeit" in ihrer Beziehung zu dem Wert, gegenüber dem es der Täter an „Rücksicht" fehlen läßt: Der habgierig Tötende strebt „rücksichtslos", „ohne jede Rücksichtnahme" 2 8 nach Vermögensvorteilen; seine Rücksichtslosigkeit liegt eben darin, daß er in seinem „eigensüchtigen" Vorteilsstreben nicht einmal vor der Tötung eines Menschen „zurückschreckt"; 2 9 sie manifestiert sich als mangelnde Rücksicht auf das menschliche Leben - in einem Gewinnstreben „um jeden Preis", „auch um den Preis eines Menschenlebens", 3 0 und übersteigt deshalb wiederum das „erträgliche Maß". 3 1 Aus dieser Perspektive der „Rücksichtslosigkeit" als Relationsbegriff kann der vom Täter angestrebte „Nutzen" (Gewinn) zu den „Kosten" (Preis) der Handlung in ein Verhältnis gesetzt werden, das sich als „Mißverhältnis" darstellt: Es besteht ein „besonders krasses MißVerhältnis" zwischen dem „Streben nach einem Vermögensvorteil" und dem „angerichteten Schaden", ein „grobes Miß Verhältnis" zwischen dem „Ziel" des Täters und dem „Aufsspielsetzen eines Menschenlebens", 3 2 oder auch: ein „auffälliges Mißverhältnis zwischen Taterfolg und eingesetztem Mittel". 3 3 Die HabgierBewertung aufgrund der „Rücksichtslosigkeit" mündet so in eine ZweckBGH NJW 1995, 2365 (2366); NJW 2001, 763. BGHSt 19, 317 (318). 2 7 BGHSt 19, 317 (318). 2 8 BGHSt 10, 399; 29, 317, 318 BGH GA 1971, 155; NJW 1981, 932; StV 1989, 150; NJW 1991, 1189; NStZ 1993, 385 (386). 2 9 BGHSt 10, 389. 3 0 BGHSt 29, 317 (318); BGH NJW 1981, 932 (933); NJW 1995, 2365 (2366); NJW 2001, 763. ι BGHSt 10, 399; 29, 317; BGH NStZ 1993, 385 (386). 32 BGHSt 29, 317 (318, 319). » BGH NJW 1995, 2365 (2366). 25 26
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Mittel-Relation ein: Das extrem unangemessene (Miß-)Verhältnis von Zweck - Vermögensvorteil - und Mittel - Tötung - ergibt aus dieser Sicht die besondere Verwerflichkeit der Habgier. Die Mißverhältnis-Formel stammt aus der Literatur 34 und ist von der (neueren) Rechtsprechung den übrigen Bewertungsformeln ergänzend hinzugefügt worden. Sie läßt sich als Ansatz zu einer begriffsschärferen Systematisierung und Normativierung pauschaler Unwertprädikate wie „Eigensucht" oder „Rücksichtslosigkeit" deuten: Die Formel überführt solche Habgier-Qualifizierungen in eine zweipolige Wertrelation - Mittel/Zweck - und verleiht ihnen so ein „greifbares" strukturelles Gerüst, präpariert sie dadurch zugleich für eine genauere normative Analyse. Freilich verdunkelt die unbestimmt-graduierende Redeweise vom „krassen", „groben" oder „auffälligen" Mißverhältnis den sachlichen Gehalt und die Bewertungsbasis der Zweck-Mittel-Relation, überspringt sie gleichsam durch bloße Mitteilung eines Resultats ohne besondere Aussagekraft. Auch in der Literatur ist bisher undeutlich geblieben, worauf das für die Tötung aus Habgier charakteristische „krasse Mißverhältnis" eigentlich beruht. 35 Dieser leerformelhafte Mangel an Substanz kann jedoch in einem ersten Schritt reduziert werden, wenn man die beiden „Pole" der Relation auf die "Werte/Güter hin befragt, die sie im Zweck-Mittel-Verhältnis jeweils repräsentieren, und von hier aus das „Verhältnis" wieder in den Blick nimmt. Hinter der Tötung als „Mittel" steht das unersetzliche höchstpersönliche Rechtsgut des menschlichen Lebens, das in der Werthierarchie individueller Güter den obersten Rang beansprucht, während das durch den „Zweck" repräsentierte Rechtsgut des Vermögens als ersetzbarer wirtschaftlicher Wert dem untersten Bereich der Güter-Rangordnung angehört. Wer um eines Vermögensvorteils willen einen Menschen tötet, ordnet in seinen Handlungsmaximen das höchstrangige individuelle Rechtsgut einem vergleichsweise geringwertigen Gut unter und kehrt mit dieser „Verdinglichung" 36 oder „Ökonomisierung" des menschlichen Lebens die rechtliche Güterhierarchie in seinem Verhalten radikal um, erkennt sie als für ihn gültige Rangordnung gerade dort nicht an, wo sie in der selbstverständlichen
34 Vgl die Schrifttumshinw. in BGHSt 29, 317 (318). Aus der Literatur namentlich: Arzt JZ 1973, 685; ders. in Arzt/Weber (Fn 6), § 2 Rn 56; Baumann NJW 1969, 1280; Horn in SK II, 6. Aufl (April 2000), § 211 Rn 12; Lackner]Z 1977, 504; Otto ZStW 83 (1971) 61 f; ders. Jura 1994, 145; ders. Grundkurs BT, 5. Aufl 1998, § 4 Rn 11; RüpingjZ 1979, 620; Schroeder JuS 1984, 277; Woesner NJW 1978, 1027. Vgl auch Jakobs NJW 1969, 490. 35 Geilen FS Bockelmann, 1979, S. 642, kritisiert die Mißverhältnis-Relation als „Leerformel", was jedoch bezüglich der Habgier anscheinend nicht gelten soll. 36 Vgl Heine (Fn 9), S. 214, der davon spricht, daß „bei einer derartigen Zweckverfolgung die Menschqualität des anderen in höchstem Maße verdinglicht" werde. Vgl auch Paejfgen GA 1982, 269: „Entpersönlichung", „Ausblendung der Menschqualität", „intentionale Verdinglichung" und „Verzweckung".
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Eindeutigkeit ihrer Wertpolarität unbedingt-allgemeine Geltung beansprucht. 37 Wie sich schon gezeigt hat, gilt in der Judikatur die normative Qualifizierung der Habgier - im Gegensatz zur psychologischen Sachverhaltsbeschreibung - primär dem „Vorteilsstreben" als motivierendem Handlungsantrieb. Die Zurückführung dieser unmittelbaren Motivationsbewertung - über die „Rücksichtslosigkeit" als Relationsbegriff - auf ein Zweck-Mittel-Mißverhältnis impliziert demgegenüber einen Wechsel der Beurteilungsebene. Denn in der Mittel-Zweck-Relation wird die Bewertung im Ansatz wieder auf die subjektive Zweckrichtung der Handlung - in ihrem Verhältnis zu deren Qualität als „Mittel" - und damit auf die intentionale Seite des Habgier„Motivs" bezogen. Eine hypothetische Identifizierung von „Habgier" und „Bereicherungsabsicht" macht dies vollends deutlich: An jenem „MißVerhältnis" würde sich offenbar nichts ändern, wenn Habgier sich in Bereicherungsabsicht erschöpfte und mit ihr substantiell identisch wäre. 3. Zweck-Mittel-Relationen sind nun aber klassische Erkenntnisinstrumente der Konstituierung und Graduierung strafrechtlichen Unrechts,38 Das erweist sich etwa an § 240 II StGB, wonach es für die „Rechtswidrigkeit der Tat" auf die „Unangemessenheit" der Relation ankommt, oder auch an der Struktur von Rechtfertigungsnormen, die ihre unrechtsausschließende Wirkung umgekehrt aus dem „angemessenen" Verhältnis von Zweck (geschütztem Interesse) und Mittel (beeinträchtigtem Interesse) beziehen. 39 Wird dieser Befund akzeptiert, so läßt sich die intentionale Komponente der Habgier („Bereicherungsabsicht"), in der die überschießende Zielrichtung der Tötungshandlung eine Mittel-Zweck-Diskrepanz manifestiert, deliktssystematisch dem - gesteigerten - Unrecht zuordnen; 40 das Habgier-Motiv 37 In der Sache ähnlich, wenngleich nicht im ausdrücklichen Bezug zur Zweck-MittelRelation, bereits Köhler GA 1980, 138 f: „Wer aus egoistisch-materiellem Motiv einen anderen tötet, verletzt nicht nur überhaupt das Rechtsgut .Leben'; er setzt das Leben vielmehr noch besonders extrem dadurch herab und die Norm in weitester Allgemeinheit für sich außer Kraft, daß er es einem egoistisch partikularisierten materiellen Gut unterordnet ... Die Rangordnung von Leben und partikular-egoistischen materiellen Interessen ist so eindeutig und für den Vernünftigen so selbstverständlich, daß die freie Aufhebung dieser Geltungsansprüche ... besondere Verderbtheit des Handelnden bezeichnet." Vgl auch Köh/erJuS 1984, 766. 38 Vgl dazu bereits Graf zu Dohna Die Rechtswidrigkeit als allgemein gültiges Merkmal im Tatbestande strafbarer Handlungen, 1905, S. 4 5 f f ; NaglerFrank-FG, Bd. 1, 1930, S. 346ff. 39 Vgl Lenckner in Schönke/Schröder (Fn 9), Vorbem. §§ 32 ff Rn 7 Zum Verhältnis von „Interessenabwägung" und „Mittel-Zweck-Relation" vgl auch Küper Darf sich der Staat erpressen lassen?, 1986, S. 52ff. 40 In der Diskussion um die Zuordnung der („persönlichen") Mordmerkmale zum „Unrecht" oder zur „Schuld" wird freilich gerade die Habgier vielfach als reines Schuldmerkmal betrachtet, welches „unmittelbar und ausschließlich" die - gesteigerte - Schuld betreffe. Vgl
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ist insofern primär als Unrechtsmerkmal zu begreifen.41 Solchem „HabgierUnrecht", als durch „Verdinglichung" des Menschenlebens erhöhtem Handlungsunrecht der Tötung, korrespondiert auf der Antriebsseite des Motivs die Intaktheit des zur Bereicherungsabsicht führenden Motivationsprozesses vorausgesetzt - eine gesteigerte „Habgier-Schuld". Sie spiegelt unter veränderten, nunmehr spezifisch auf die Motivation als Willensbildung bezogenen Unwertaspekten das für die Habgier charakteristische Zweck-Mittel-Mißverhältnis wider. Wer sich durch die Aussicht auf einen Vermögensvorteil zu dem Entschluß bestimmen läßt, den Vorteil sogar auf Kosten der Tötung eines Menschen anzustreben, beweist eine extrem fehlerhafte Abweichung seines egoistischen Antriebs von der normativ geforderten Motivierung. Er bringt gegenüber dem Impuls zur Verfolgung eines materiell-ökonomischen Interesses nicht einmal das Minimum an Selbstbeherrschung und seelischem Widerstand auf, welches die eindeutige, jedem Vernünftigen selbstverständliche Güterhierarchie der Rechtsordnung von ihm fordert.42 Hier hat das intuitive Schlagwort vom „hemmungslosen" oder „ungezügelten" Gewinnstreben seinen dogmatischen Ort. 43 Und in diesen Zusammenhang gehört auch die - hier nicht weiter zu verfolgende - Frage, ob ein hinreichendes Maß an „Habgier-Schuld" vorliegt, wenn das psychische „Selbstbeherrschungspotential" des Täters, seine Fähigkeit zum Widerstand gegen den ökonomischen Antrieb, erheblich geschwächt ist, etwa infolge eines Affekts oder einer Notlage.44 Doch wie immer man die Beziehung von Unrecht und Schuld bei der Habgier beurteilen mag: Für die normative Qualifizierung des Habgier-Modazu die Ubersichten etwa bei Eser in Schönke/Schröder (Fn 9), § 211 Rn 6; Lenckner ebenda, Vorbem. §§ 13 ff Rn 122; Paeffgen GA 1982, 255 f mit Nachw. Fn 4. Vgl auch Küper J Z 1991, 761 mit Fn 7ff, ZStW 104 (1992) 564f. 41 Sachlich übereinstimmend Paeffgen GA 1982, 256: „subjektives Unrechtsmerkmal". 4 2 Ähnlich Köhler GA 1980, 139, mit Hinw. auf den Satz Kants: „Je größer das Hindernis aus Gründen der Pflicht, desto mehr wird die Übertretung (als Verschuldung) zugerechnet." - Zum Mangel an „Selbstbeherrschung" als Kennzeichen gesteigerter Schuld bei der Habgier vgl auch Sc^mii^äKserGesinnungsmerkmale (Fn 9), S. 223 ff; den. Aus dem Hamburger Rechtsleben, FS Reimers, 1979, S. 445 ff, 452 f (dazu unten III 2). 43 Zugleich mag man daraus die besondere Gefährlichkeit einer Tötung aus Habgier ableiten. Zur „Gefährlichkeitslösung" bei Mordmerkmalen - die hier nicht diskutiert werden kann - vgl etwa Arzt in Arzt/Weber (Fn 6), § 2 Rn 20 ff; Otto Grundkurs BT (Fn 34), § 4 Rn 1; Heine (Fn 9), S. 180ff, 195ff; krit. namentlich Schnieder 1984, 276f; jew. mwN. 4 4 Dieser spezielle Fragenkreis der „Habgier-Schuld" wird wenig und nur sporadisch behandelt. Verzweiflungs-, Affekt- und Drucksituationen sollen regelmäßig nur unter den Voraussetzungen des § 21 StGB - strafmildernd, nicht habgierausschließend! - zu berücksichtigen sein. Vgl etwa Arzt in Arzt/Weber (Fn 6), § 2 Rn 60; Horn in SK (Fn 34), § 211 Rn 12. Alwart]K 1981, 293 ff, will bei „akutem Sucht-Notstand" - Fall BGHSt 29, 317 Habgier ausschließen; ebenso wohl Eser in Schönke/Schröder (Fn 9), § 211 Rn 17 Vgl auch Heine (Fn 9), S. 248 ff, 255 ff, sowie Paeffgen GA 1982, 271 ff: jew. zum Problem des psychischen „Beherrschungspotentials" bei niedrigen Beweggründen.
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tivs, die Bestimmung des Unwertgehalts einer „Tötung aus Habgier", bildet die Zurückführung der intentionalen Motivkomponente („Bereicherungsabsicht") auf ein Zweck-Mittel-Mißverhältnis zur Tötung die primäre Bewertungsbasis. Mit der relativen Eindeutigkeit, die diese Disproportionalität aus der rechtlich vorgegebenen Rangordnung der involvierten Güter und der vergleichsweise klaren Bestimmbarkeit des „Zwecks" bezieht, hängt es offenbar zusammen, daß die Habgier geradezu als Paradigma eines „niedrigen Beweggrundes" verstanden werden kann45 und im Ensemble der subjektiven Mordmerkmale als „einer der am wenigsten problematischen Fälle von Höchstschuld" gilt.46 Im Unterschied etwa zu „reaktiven" und gleichsam „zweckfreien" Motiven wie Rache, Haß oder Eifersucht, die sich in der Tötungshandlung gewissermaßen selbst befriedigen, kennzeichnet sich Habgier durch eine in der Bereicherungsabsicht deutlich erfaßbare, intentionale Zweckgerichtetheit, deren „minderwertiges" Ziel zur Tötung als „Mittel zum Zweck" in eine plausible Unwertrelation gesetzt werden kann. Und während bei einem ebenfalls zweckgerichteten Mordmerkmal wie z.B. der Absicht zur Straftatverdeckung der maßgebende „Verdeckungszweck" erst einmal prinzipiell bestimmt werden muß, 47 ist der „Habgier-Zweck" mit dem Gewinnstreben immerhin in seiner Grundrichtung klar festlegbar.
III. 1. Wenn sich aber der Unwertgehalt einer Tötung „aus Habgier" primär aus dem Mißverhältnis von Zweck und Mittel begreifen läßt, so begründet dies die Vermutung, daß die bisher allgemein beschriebene Mittel-ZweckRelation einer näheren Konkretisierung zugänglich und auf diese Weise dazu geeignet ist, in bestimmten unklaren Grenzfällen des intentionalen Motivbereichs eine Entscheidungshilfe zu bieten. Gemeint sind damit solche Konstellationen, in denen zwar das „Vorteilsstreben" als motivierender Handlungsantrieb außer Frage steht - man also an der etwa erforderlichen Intensität oder „Dominanz" des Motivs nicht zweifeln kann48 - , wohl aber 45 Bezeichnend dafür z.B. die Ausführungen bei Heine (Fn 9), S. 210ff, zur „solipsistischen sozialen Rücksichtslosigkeit". 46 Köhler GA 1980, 139. Vgl auch die Diskussion in der Großen Strafrechtskommission, Niederschriften Bd. 7, 1959, S. 25 ff, zur Habgier als „eindeutigem" und „unzweifelhaftem" Fall schwerster Tötung, sowie die Hinw. bei FrankejZ. 1981, 525 Fn 2. 47 Vgl zur Problematik des „Verdeckungszwecks" etwa die Übersicht bei Küper (Fn 4), S. 322f, mwN; eingehend zuletzt Heine Brauneck-Ehrengabe, 1999, S. 327ff; Küper]7. 1995, 1158ff; Sowada]Z 2000, 1035ff. 48 Bei Konkurrenz mehrerer Motive verlangt die Rechtsprechung - gefolgt vom herrschenden Schrifttum - eine sog. „Bewußtseinsdominanz" des Habgier-Motivs, die in einer „Gesamtwürdigung" zu ermitteln sei: Die Tat müsse nach ihrem „Gesamtbild" von Hab-
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das vorrangige Problem auftritt, ob die damit intentional korrespondierende „Bereicherungsabsicht" den normativen Anforderungen der Habgier genügt. Z u derartigen Grenzfällen gehört die Situation, daß die Tötungshandlung der Durchsetzung eines - tatsächlichen oder vermeintlichen -
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spruchs auf den erstrebten Vermögensvorteil dient und insofern eine A r t „Selbsthilfecharakter" aufweist. In der Literatur begegnet man deutlichen Vorbehalten, in solchen „Anspruchsfällen" die Habgier, jedenfalls generell, zu bejahen. 4 9 Die Beurteilung wird dabei überwiegend von der etwas diffusen und schwankenden Intuition bestimmt, daß hier der vorauszusetzende Grad an „Verwerflichkeit" und „Rücksichtslosigkeit" nicht oder doch nicht notwendig erreicht werde. 5 0 Aus der Perspektive der Mittel-Zweck-Relation gier „geprägt", das Gewinnstreben müsse den Täter „entscheidend mitbeeinflußt" haben, für ihn „maßgebliches Motiv", „wesentliche Kennzeichnung" des Tötungsentschlusses und in diesem Sinn „bewußtseinsdominant" gewesen sein. Vgl - mit unterschiedlichen Umschreibungen - etwa BGHSt 42, 301 (304); BGH NJW 1981, 932 (933); StV 1989, 150 (151); NJW 1991, 1189; StV 1993, 360f; NJW 1995, 2365 (2366f); NStZ-RR 1999, 235 (236); NJW 2001, 763. Dieser „Dominanzlehre" - die auf der Antriebsseite des Motivs zu einer Restriktion der „Habgier" führt und hier nicht näher zu untersuchen ist - liegt offenbar die Vorstellung zugrunde, daß ein an sich vorhandenes „Gewinnstreben" durch andere Motivationen überlagert und verdrängt werden kann, so daß es ihnen gegenüber nicht mehr „ins Gewicht fällt". Möglicherweise ist jedoch die angebliche „Dominanz" nichts anderes als eine Frage der Zweck-Intentionalität·. Wer den Vermögensvorteil zielgerichtet „anstrebt" und sei es nur als Zwischen- oder Nebenzweck - , kann schwerlich widerspruchsfrei geltend machen, daß dieses Ziel seine Motivation nicht „entscheidend mitbeeinflußt" habe; anders, wenn der Vorteil nur als unvermeidliche Nebenfolge in Kauf genommen wird. - Dies spricht auch gegen den Vorschlag von Paeffgen GA 1982, 255 ff, zur Bestimmung der Motivdominanz. Er will als (dominantes) Habgier-Motiv nur die „auf Antriebsberuhigung zustrebende stärkste Feldkraft" gelten lassen, welche aus dem „Letztzweck" der Handlung zu erschließen sei. Praktisch führt das zur Beschränkung der Habgier auf Fälle, in denen der Erwerb des Vermögensvorteils (Besitzerwerb) als solcher das „eigentliche Ziel" des Handelns ist, dessen Verwirklichung schon „Antriebssättigung" bedeutet. Damit werden sogar mitbestimmende Zwischen- und Nebenzwecke, die durchaus „maßgebliche Motive" repräsentieren können, unangemessen-radikal aus der Habgier eskamotiert!. 49 In dieser Richtung etwa Arzt in Arzt/Weber (Fn 6), § 2 Rn 60; Blei Strafrecht II, BT, 12. Aufl 1983, § 6 II 1 c; Horn in SK (Fn 34), § 211 Rn 14; Kühlm Lackner/Kühl (Fn 2), § 211 Rn 4; Küpper Strafrecht BT 1, 2. Aufl 2000, Teil I § 1 Rn 40; Müsch JuS 1996, 124; Otto ZStW 83 (1971) 62; ders. Grundkurs (Fn 34), § 4 Rn 12; ders. Jura 1994, 145; Schmidhäuser Gesinnungsmerkmale (Fn 9), S. 225; ders. FS Reimers (Fn 42), S. 445, 452ff; WelzelDas Deutsche Strafrecht, 11. Aufl 1969, S. 283; tendenziell auch Jähnke in LK (Fn 1), § 211 Rn 8. - Generell für Bejahung der Habgier dagegen z.B. Eserin Schönke/Schröder (Fn 9), § 211 Rn 17; Gössel Strafrecht BT 1, 1987, § 4 Rn 39f; Hohmann/Sander Strafrecht BT II, 2000, § 2 Rn 67; Rengier Strafrecht BT II, 3. Aufl 2000, § 4 Rn 13; Schroeder in Maurach/ Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT 1, 8. Aufl 1995, § 2 Rn 33. 50 Bezeichnend dafür Mitsch JuS 1996, 124, der „intuitive" Differenzierungen erwägt: So soll Habgier etwa fehlen, wenn der Täter mit einer unberechtigten Leistungsverweigerung des Schuldners konfrontiert wird, oder der Schuldner ihn arglistig veranlaßt hat, die Forderung verjähren zu lassen („mordunrechtsmindernde notwehrähnliche Umstände"). Anders möglicherweise bei Durchsetzung eines Anspruchs, dessen rechtlicher Bestand nur darauf beruht, daß der Täter den Schuldner mit unlauteren Mitteln zur Nichtausübung ei-
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signalisiert die bis zur Ablehnung der Habgier reichende Zurückhaltung erhebliche Zweifel am Bestehen einer habgierspezifischen Zweck-Mittel-Diskrepanz und regt zu dem Versuch an, die Relation insbesondere unter dem Aspekt des „Zwecks" zu präzisieren. 2. Mit dem Problem der Habgier bei Durchsetzung eines Anspruchs auf den Vermögensvorteil hat sich namentlich Schmidhäuser näher befaßt, freilich von einem anderen Ausgangspunkt aus, der zunächst zu erläutern ist.51 Schmidhäuser betrachtet „Habgier" als ein komplexes „Gesinnungsmerkmal". Es beziehe sich auf die „nur aus der Gesamtheit der Umstände erfahrbare" Gesinnung des Täters als „sittlich-wertwidriges" Verhalten und gebe „unmittelbar" den in der Gesinnung verletzten Wert an. Habgier bedeute daher etwas anderes als die bloße „Absicht, etwas haben zu wollen". Es gehe vielmehr um das „Gierig-Sein", ein „unangemessenes Haben-Wollen" als Einzeltat-Gesinnung: um das Fehlen der nach den Gesamtumständen gebotenen „Selbstbeherrschung". Dieser Ansatz verbindet sich bei Schmidhäuser mit dem weiteren Gedanken, daß für die Habgier, wie prinzipiell für alle Mordvoraussetzungen, ein „Höchstmaß an Verwerflichkeit" gefordert werden muß: der „Verwerflichkeitssaper/tfiw". Da die Tötung aus Habgier „einer der im Unwert schwersten Fälle vorsätzlicher Tötung" sei, müsse auch der Begriff der Habgier so gebildet werden, daß er - i.S. jenes Superlativs - ein solches schwerstes Tötungsdelikt bezeichne. Aus dieser Sicht seien es die „Minimalanforderungen an die Selbstbeherrschung im HabenWollen", gegen die der habgierige Täter „in seiner Gesinnung verstößt": Habgier kennzeichne sich durch den „extremen Verstoß gegen die Anforderungen der Selbstbeherrschung", eine „gröblichste Wertverfehlung", die sich - entsprechend der Komplexität des Gesinnungsmerkmals - „nur aus dem Gesamtzusammenhang des seelischen Erlebens des Täters in der Tatsituation, seiner Bewußtseinsinhalte und Handlungsziele, erfahren" lasse. Auf dieser Grundlage will Schmidhäuser die Frage der Habgier in den „Anspruchsfällen" unterschiedlich beurteilen. Sei etwa der Täter „darauf angewiesen gewesen, endlich zu seinem Geld zu kommen", während andererseits das Opfer „nicht gerade Not gelitten" habe, dann erscheine uns die nes Gegenrechts (z.B. Anfechtungsrechts) bestimmt hat. Am Ende soll jedoch Habgier mangels genügender „Flexibilität" des Merkmals - generell zu verneinen sein, wenn der Täter einen - seiner Ansicht nach - bestehenden Anspruch auf Vermögensmehrung durchsetzen will. - Vgl auch den ebenfalls nicht näher begründeten Differenzierungsversuch in den Stellungnahmen von Otto (Fn 34): keine Habgier bei Erfüllungsverweigerung des Schuldners trotz Zahlungsmöglichkeit oder bei Ankündigung späteren Bestreitens im Prozeß (!).
51 Zum folgenden Text vgl SchmidhäuserVS Reimers (Fn 42). S. 445 ff, 452f, sowie bereits Gesinnungsmerkmale (Fn 9), S. 223ff (225f). Anlaß war die Entscheidung OLG Hamburg NJW 1947/48, 350. - Die wörtlichen Zitate des folgenden Textes sind Scbmidhäusers Beitrag zur FS Reimers entnommen.
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tödliche Gewaltanwendung „einigermaßen verständlich": In dieser Situation habe der Täter die „Minimalanforderungen der Selbstbeherrschung" nicht verletzt, möge auch „die Art, Befriedigung für den fälligen Anspruch zu suchen, noch so unzulässig gewesen sein". Schon „im Ansatz verständlich" erscheine demgegenüber die Tat z.B., wenn sich der Täter „selbst in finanziell rundum guter Lage" befunden oder „die Forderung auf moralisch (oder gar rechtlich) zweifelhafte Weise erlangt" habe, das Opfer jedoch „ersichtlich Not litt und sich von einigen wenigen ererbten Wertsachen nicht zu trennen vermochte". In solchem Fall verletze der Täter trotz seines Bewußtseins von einem fälligen RückZahlungsanspruch „jene Minimalforderungen der Selbstbeherrschung im Haben-Wollen". Gleiches gelte grundsätzlich, wenn er nicht einmal von einem fälligen Anspruch ausgehe: „Dann ist das extrem Verwerfliche der Überschreitung letzter Beherrschungsgrenzen im Haben-Wollen zu bejahen", es sei denn, „daß Momente im Erleben des Täters vorliegen, die sein Verhalten trotzdem im Ansatz einigermaßen verständlich erscheinen lassen". Schmidhausen Rückgriff auf die „Minimalanforderungen der Selbstbeherrschung" entspricht einem Gedanken, der in diesem Beitrag 52 im Kontext der Mittel-Zweck-Relation bereits für die gesteigerte „Habgier-Schuld" formuliert, freilich als sekundäres Unwertmoment der Antriebsseite des Motivs zugeordnet wurde. Auch der These, daß das Verständnis der Habgier als Mordmerkmal von der Erforderlichkeit eines „Höchstmaßes an Verwerflichkeit" geleitet sein muß - wofür der Autor mit dem „Verwerflichkeitssuperlativ" eine prägnante Formel gefunden hat - , wird niemand widersprechen wollen. Doch haftet Schmidhausen Konkretisierung der wertwidrigen Gesinnung in den „Anspruchsfällen", die zudem ganz von den Einzelumständen abhängig und damit weitgehend offen bleibt, unverkennbar etwas Beliebiges und letztlich Irrationales an. 53 Man kann der Beurteilung des Autors, ob und wann der Täter im Einzelfall die „letzten Beherrschungsgrenzen im Haben-Wollen" schon oder noch nicht überschritten hat, je nach eigenem Gerechtigkeitsempfinden zustimmen oder sie auch bezweifeln - aber man kann sich damit eigentlich nicht mehr rational auseinandersetzen. Dazu ist das gesinnungsethische Grundkriterium der „Minimalanforderungen an die Selbstbeherrschung" so wenig geeignet wie seine am Ende nur reformulierend-wiederholenden - Ableitungen: „extremer Verstoß gegen die Anforderungen der Selbstbeherrschung", „gröblichste Wertverfehlung", „Überschreitung letzter Beherrschungsgrenzen", oder deren positives Gegenstück in Gestalt des „im Ansatz einigermaßen verständlichen" Verhaltens. Anders formuliert: Warum sollen die „Minimalanforde-
Vgl oben II 3. D a z u bereits die Kritik von Eser Gutachten für den 53. DJT, Verhandlungen Bd. I, 1980, D 161 f. 52 53
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rangen" der Selbstbeherrschung nicht bereits dann „extrem" und „gröblichst" verletzt sein, wenn der Täter seinen Anspruch auf den Vermögensvorteil überhaupt auf Kosten eines Menschenlebens durchsetzen will? 3. Betrachtet man die Problematik der „Anspruchsfälle" demgegenüber aus der Perspektive der Zweck-Mittel-Relation, die nach bisheriger Analyse als primäre Bewertungsbasis für die Bestimmung des Unwertgehalts der „Habgier" fungiert, so steht man freilich anfangs vor ähnlichen Schwierigkeiten. Zwar läßt sich dann im Blick auf den mit der Tötung verfolgten Selbsthilfe-„Zweck" - eben die Durchsetzung des Anspruchs auf den Vermögensvorteil - eine gewisse Tendenz zur „positiven" Veränderung des Mittel-Zweck-Verhältnisses ausmachen. 54 Angesichts der Tatsache, daß der Täter auch mit seiner „Selbsthilfemaßnahme" die Güterhierarchie im schon gekennzeichneten Sinn „pervertiert" und menschliches Leben „ökonomisiert", 55 scheint jene positive Tendenz jedoch an der habgierspezifischen Disproportionalität von Mittel und Zweck letztlich nichts ändern zu können. Dieser Eindruck bestätigt sich zunächst sogar bei dem Versuch, das Zweck-Mittel-Verhältnis - über die bisherige allgemeine Charakterisierung hinaus - deutlicher zu strukturieren: Innerhalb der Polarität von „Mittel" und „Zweck" stellt das „Mittel" - die Tötung - ersichtlich eine Unwertkonstante dar, die als Angriff auf das menschliche Leben keiner normativen Abstufung zugänglich ist. Sie bestimmt die Zweck-Mittel-Relation deshalb mit gleichem Unwertgewicht unabhängig davon, ob der Täter etwa mit direktem oder - wie häufig in Habgierkonstellationen - mit bedingtem Tötungsvorsatz handelt.56 In bei54 So weist Arzt in Arzt/Weber (Fn 6), § 2 Rn 60 a.E., unter Bezugnahme auf §§ 249, 253 StGB darauf hin, daß der Gesetzgeber die Gewaltanwendung zur Durchsetzung berechtigter Ansprüche „prinzipiell milder bewertet" als die Gewaltanwendung zur Erreichung rechtswidriger Vorteile. 55 Vgl oben II 2. 56 BGH NStZ 1993, 385 (386) klingt so, als erfordere „Habgier" einen direkten Tötungsvorsatz. Danach soll es „Voraussetzung" der Habgier sein, „daß sich das Vermögen des Täters - objektiv oder zumindest nach seiner Vorstellung - durch den Tod des Opfers unmittelbar vermehrt oder daß durch die Tat jedenfalls eine sonst nicht vorhandene Aussicht auf eine unmittelbare Vermögensvermehrung entsteht". Diese angebliche „Voraussetzung" ist inzwischen auch in die Kommentarliteratur eingegangen; vgl Eser in Schönke/Schröder (Fn 9), § 211 Rn 17; Fischer in Tröndle/Fischer, StGB, 50. Aufl 2001, § 211 Rn 8; Kühl in Lackner/Kühl (Fn 2), § 211 Rn 4. Die Aussage des BGH ist jedoch in dieser Allgemeinheit höchst mißverständlich. Auch „Habgier" ist, wie andere Mordmerkmale, mit einem bedingten Tötungsvorsatz prinzipiell vereinbar (vgl namentlich Geilen FS Lackner, 1987, S. 574, 579, 582; sowie ζ. B. BGHSt 29, 317, 318; 39, 159 f: habgieriger „Raubmord" mit bedingtem Vorsatz). Beides schließt sich freilich dann aus, wenn der Erwerb des Vorteils - wie offenbar in BGH NStZ 1993, 385 - nach der Tätervorstellung den Tod des Opfers notwendig voraussetzt (Jähnke in LK, Fn 1, § 211 Rn 8 a.E.). Zu ähnlichen Fragen z.B. bei der Verdeckungsabsicht vgl die Nachw. bei Küper (Fn 4), S. 326f.
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den Fällen wird der Höchstwert des Lebens um eines bloßen Vermögensvorteils willen „aufs Spiel gesetzt". Auch der vom Täter verfolgte „Zweck", die Vorteilserlangung, stellt im Verhältnis zum „Mittel" jedenfalls insofern eine Bewertungskonstante dar, als es auf die Höhe des erstrebten Vermögensvorteils nicht ankommen kann.57 In der Relation zur Preisgabe eines Menschenlebens bleibt es sich gleich, ob der Täter mit der Tötung einen geringen oder hohen Gewinn anstrebt.58 Darüber hinaus entspricht es verbreiteter Auffassung, daß der auf Erlangung eines Vermögensvorteils gerichtete „Zweck" als solcher noch keinen Unwert repräsentiere, sondern für sich genommen eher wertneutral („alltäglich") und eigentlich sogar positiv zu bewerten sei: Erst die Verknüpfung dieses - sonst vielfach im Grunde anerkennenswerten - Zwecks mit dem unwertigen Mittel der Tötung ergebe bei der Habgier die besondere Verwerflichkeit der „Relation" von Mittel und Zweck.59 Von diesem Standpunkt aus enthält die Mittel-Zweck-Beziehung keine Möglichkeit, auf der Ebene des „Zwecks" eine normative Differenzierung danach vorzunehmen, ob dem erstrebten Vorteil ein berechtigter Anspruch zugrunde liegt, und von hier aus das „Mißverhältnis" in Frage zu stellen:60 Es bleibt bei einer „habgierigen" Tötung.
IV. 1. Gleichwohl sind hinter den erheblichen Zweifeln, ob in den „Anspruchsfällen" die für eine Tötung aus „Habgier" maßgebliche ZweckMittel-Disproportionalität vorliegt, bestimmte Gründe zu vermuten, die mit der Qualität des vom Täter verfolgten „Zwecks"zusammenhängen und 57 Schroeder JuS 1984, 277, scheint den „Erkenntnisgewinn" des Mißverhältnis-Prinzips gerade (nur?) darin zu sehen, daß es die „besondere Unerträglichkeit" der Tötung bei Geringwertigkeit des erstrebten Objekts deutlich macht. Vgl zur Unerheblichkeit der Vorteilshöhe auch Eser in Schönke/Schröder (Fn 9), § 211 Rn 17; Gössel BT 1 (Fn 49), § 4 Rn 39; Jähnke in LK (Fn 1), § 211 Rn 8; jew. mit weit. Hinw. 58 BGHSt 29, 317 (318) meint freilich in einem obiter dictum, daß ein Streben nach beträchtlichem Gewinn u . U . „eher ein verständliches Tatmotiv abgeben könnte". Doch dürfte der BGH in solchem Fall schwerlich bereit sein, wegen der Höhe des erstrebten Vorteils Habgier zu verneinen. Gegen die Erwägung des B G H mit Recht Alwart JR 1981, 293 (294). Vgl auch BGH NJW 1981, 932 (933). 59 In dieser Richtung - ausdrücklich oder der Sache nach - z . B . Arzt in A r z t / W e b e r (Fn 6), § 2 Rn 56; Baumann NJW 1969, 1280; Eser Gutachten (Fn 53), D 161; Geilen FS Bockelmann, 1979, S. 641 f; Heine (Fn 9), S. 214; Jakobs NJW 1969, 4 9 0 ; Kargl Strafverteidiger-Forum 2001, 367; Schroeder JuS 1984, 277 Vgl auch Schmidhäuser Gesinnungsmerkmale (Fn 9), S. 194. 60 Arzt in Arzt/Weber (Fn 6), § 2 Rn 60, meint sogar, daß hier das Mißverhältnis zwischen Tötung und Zweck (Vorteil) eigentlich größer (!) sei als beim Erstreben eines rechtswidrigen Vorteils. Gleichwohl will er die Habgier auf Fälle beschränken, in denen der Täter wegen eines „rechtswidrigen" Vermögensvorteils tötet (Rn 56, 60).
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die Annahme nahelegen, daß die Relation auf dieser Ebene Unwertabstufungen ermöglicht. Derartige Gründe werden deutlicher, wenn man sich an klassischen Habgier-Konstellationen orientiert, in denen das extreme Mißverhältnis von Mittel und Zweck so eindeutig und zweifelsfrei zu bejahen ist, daß man ohne Einschränkung von einem „Maximum an Verwerflichkeit" oder einem „Verwerflichkeitssuperlativ" {Schmidhausen sprechen kann. Solche „Prototypen" der Habgier-Tötung lassen im Bereich des „Zwecks" spezifische Elemente der Mittel-Zweck-Relation erkennen, die geeignet sind, in Grenzfällen als Richtlinien zur Bestimmung der „Habgier" zu fungieren und dem Merkmal schärfere Konturen zu verleihen. Zu diesen Konstellationen gehört namentlich der - für die Habgier häufig hervorgehobene - Leittypus des „Raubmordes", 61 gehören aber auch andere charakteristische Fallgestaltungen. Dies gilt etwa für die Situation, daß der Täter einen Menschen tötet, um dessen Erbe zu werden oder um als Begünstigter einer Lebensversicherung des Opfers die Versicherungsleistung zu erlangen, oder auch: um für die Tötung eine Belohnung zu erhalten („gedungener Mörder", „Mordkontrakt"). 62 Diese klassischen, unter dem Aspekt der Höchstverwerflichkeit bewertungssicheren Habgier-Konstellationen kennzeichnen sich zunächst durch eine „doppelte Illegitimität" der Mittel-Zweck-Relation, nämlich dadurch, daß nicht erst der Vollzug des „Mittels zum Zweck" verwerflich, sondern schon der verfolgte Zweck selbst - unabhängig von der Anwendung des Mittels zu dessen Verwirklichung - rechtlich mißbilligenswert ist. Dies bedarf für den Typus des „Raubmordes", angesichts des eindeutig widerrechtlichen Tatzwecks, keiner näheren Darlegung, trifft aber ebenso - wenngleich auf den ersten Blick weniger deutlich - für die anderen Prototypen der habgierigen Tötung zu. Verfolgt der Täter etwa das Ziel, sein Opfer zu töten, um es zu beerben, so strebt er im Widerspruch zur Rechtsordnung eine „vorzeitige" und „irreguläre" Vermögensnachfolge an. Entsprechend verhält es sich, wenn er „vorzeitig" und „irregulär" die Leistung aus einer zu seinen Gunsten abgeschlossenen Lebensversicherung in Anspruch nehmen will. Und um einen - unabhängig von der späteren Tötung - rechtlich mißbilligten Zweck handelt es sich auch bei dem Ziel, für diese Tötung das vereinbarte Killer-Honorar zu erhalten. - Solche zweifelsfreien Konstellationen habgieriger Tötung machen aber unter dem Gesichtspunkt des „Zwecks" noch ein weiteres Spezifikum der Habgier sichtbar. Es läßt sich als „aggres61 Arzt in Arzt/Weber (Fn 6), § 2 Rn 59: „Musterfall einer Tötung aus Habgier ist der Raubmord." Vgl z.B. auch Bockelmann Niederschriften (Fn 46), Bd. 13, 1960, S. 166; Geilen FS Lackner, 1987; S. 579; Heine (Fn 9), S. IWJähnke in LK (Fn 1), § 211 Rn 8; Kargl Strafverteidiger-Forum 2001, 367; Köhler GA 1980, 139; Rengier (Fn 49), § 4 Rn 13; Rüping JZ 1979, 620; Schroederin Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn 49), § 2 Rn 33; Scbwalm Niederschriften (Fn 46), S. 33. 62 Vgl auch die Aufzählung klassischer „Habgier-Typen" in BGH NStZ 1993, 385 (386).
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sive Tendenz" oder „immanente Aggressivität" des gewinnbezogenen Zwecks bezeichnen: Der vom Täter subjektiv verfolgte Zweck besteht danach in einem Vermögensvorteil als wirklichem „Zugewinn" - im Gegensatz zur defensiven Erhaltung des Vermögensbestandes, zur bloßen Entlastung von wirtschaftlichen Nachteilen, Ersparung von Aufwendungen oder zur Realisierung eines Ausgleichs für bestehende Ansprüche. 2. Wie diese Überlegungen zeigen, läßt sich der „Tötung aus Habgier" aufgrund der Mittel-Zweck-Relation ein intentionaler „Leittypus" abgewinnen, als dessen spezifische Elemente die „Illegitimität" und die „Aggressivität" des intendierten Zwecks - im beschriebenen Sinn - erkennbar werden. Der Befund gibt Anlaß, das Mordmerkmal auf die Konstellationen zu beschränken, in denen beide Habgier-Komponenten konjunktiv vorliegen. Diese begrenzende Konkretisierung der Habgier ist zwar weder vom Wortsinn des Begriffs noch von seiner Logik her „zwingend" geboten. Sie sichert jedoch dem Mordmerkmal mit erreichbarem Rationalitätsgrad das erforderliche Höchstmaß an Verwerflichkeit, beseitigt die insofern bestehenden Zweifel, garantiert die innere Konsistenz der Merkmals und gibt ihm die vielfach vermißte Konturenschärfe. Die „Anspruchsfälle" gehören danach aus doppeltem Grund nicht mehr zum Anwendungsbereich der „Habgier": Der Täter verfolgt den - für sich betrachtet - „legitimen" Zweck der Verwirklichung seines Anspruchs und erstrebt mit dem Vermögensvorteil nur den „Ausgleich" für seine Forderung. Auch scheiden die Situationen aus, in denen der Täter mit der Tötung lediglich einen schon erlangten Vorteil (Besitz) erhalten/sichern63 oder sich von Schulden befreien will.64 63 Grundsätzlich gegen die Annahme von Habgier bei der Intention bloßer „Bestandserhaltung" oder „Bestandssicherung" („Behaltenwollen") z . B . auch Eserin Schönke/Schröder (Fn 9), § 211 Rn 17; Horn in SK (Fn 34), § 211 Rn 14; Jähnke in LK (Fn 1), § 211 R n 8; Müsch J u S 1996, 124 f; Schmidhäuser FS Reimers (Fn 42), S. 451; von Weber SJZ 1949, 59. Anders etwa Gössel (Fn 49), § 4 Rn 39; Rengier (Fn 49), § 4 Rn 13. - Entgegen dem Eindruck, den das Schrifttum bisweilen erweckt, ist die Judikatur in dieser Frage bisher unergiebig. B G H S t 3, 183 (184) verneint Habgier - obiter - bei Absicht bloßer „Vorteilserhaltung". In B G H S t 29, 317 (318) klingt eine Beschränkung auf „Erwerbsabsicht" an; ebenso in B G H NJW 1981, 932 (933); NJW 1995, 2365 (2366). Andere Entscheidungen beziehen zwar das Streben nach „Besitzerhaltung/Besitzsicherung" verbal in die Habgier ein, ohne daß dieser Punkt jedoch in concreto entscheidungsrelevant war: B G H NJW 1991, 1189; NStZ-RR 1999, 235; NJW 2001, 763. 6 4 Zählt man die Stimmen, so überwiegt in der Literatur immer noch die auf B G H S t 10, 399 zurückgehende Ansicht, daß auch beim Streben nach „wirtschaftlicher Entlastung" (Ersparung von Aufwendungen, faktische Befreiung von Zahlungspflicht usw.) Habgier anzunehmen sei. Vgl ζ. B. Ant in Arzt/Weber (Fn 6), § 2 Rn 60; Gössel (Fn 49), § 4 Rn 39; Hettinger in Wessels/Hettinger (Fn 3), Rn 94; Hohmann/Sander (Fn 49), § 2 R n 60; Jähnke in LK (Fn 1), § 211 Rn 8 (vgl aber oben Fn 63); Kühlm Lackner/Kühl (Fn 2), § 211 Rn 4; Otto Grundkurs (Fn 34), § 4 Rn 12; Rengier (Fn 49), § 4 Rn 13; Schroeder in Maurach/ Schroeder/Maiwald (Fn 49), § 2 Rn 33. Zur Gegenauffassung vgl Eser in Schönke/Schröder
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Ob und wann in solchen Fällen trotz Verneinung der Habgier ein (anderer) „niedriger Beweggrund" angenommen werden kann,65 gehört nicht mehr zum Thema dieser kleinen Studie, die ich dem Andenken meines früh verstorbenen Marburger Kollegen Dieter Meurer widme. Da auch für den „niedrigen Beweggrund" ein Maximum an Verwerflichkeit vorauszusetzen ist, enthält ein im Rahmen der „Habgier" erzieltes Negativresultat jedenfalls ein deutliches Gegenindiz.
(Fn 9), § 211 Rn 17 (tendenziell); Fischer in Tröndle/Fischer (Fn 56), § 211 Rn 8; Horn in SK (Fn 34), § 211 Rn 14; Küpper (Fn49), Teil I § 1 Rn 40; Müsch juS 1996, 124f; Welzel(Fn 49), S. 283. Nähere Begründungen sind durchweg Desiderat! 6 5 Für die Möglichkeit eines Rückgriffs auf die Motiv-Generalklausel Hom in SK (Fn 34), § 211 Rn 14 („Empfehlung"); Mitsch JuS 1996, 124f. - Abschluß des Manuskripts: Dezember 2001.
Der Schutz des Embryos und das Problem des naturalistischen Fehlschlusses Skizze einer Zwischenbilanz KLAUS
LÜDERSSEN
Über die Embryonenforschung ist so viel geschrieben und vorgetragen worden, 1 daß eigentlich kein neuer Standpunkt mehr begründet werden kann, sondern nur noch Entscheidungen getroffen werden müssen. Damit ist gerade in diesen Monaten die Politik sehr beschäftigt. Was für die Vorbereitung der Entscheidungen aber noch zu fehlen scheint, ist zweierlei: - Eine Systematisierung der aufgeworfenen Fragen nicht nur in dem Sinne, daß man über verwirrende Aufzählungen hinwegkommt, sondern auch in dem Sinne, daß ihr Verhältnis zueinander klar wird. - Eine Vergewisserung über die Methoden, die für die Bestimmung des zentralen Begriffs - das Leben - angewandt werden, wobei es vor allem auch darauf ankommt, die jeweils der Begründung entzogenen oder der Begründung für nicht bedürftig gehaltenen Vorannahmen genau zu bezeichnen. Dieter Meurer hat viel für die Verständigung zwischen Juristen und Naturwissenschaftlern getan. Der folgende Beitrag hätte also wohl sein Interesse gefunden. Mit der Systematisierung der Fragestellungen möchte ich beginnen. Allerdings halte ich es für zweckmäßig, zur Einführung die unstreitigen,2 streitigen und ambivalenten Positionen, sowie die vor allem zu lösenden Probleme aufzulisten.
1 Vgl die Zusammenstellung von Christian Geyer (Hrsg.) Biopolitik. Die Positionen. Frankfurt/M. 2001. 2 Dabei habe ich es für richtig gehalten, auch solche Positionen hier anzuführen, die nach den Gesetzen einer einfachen Logik nicht streitig sein können, deren „Umstrittenheit" dort, wo sie behauptet wird, ausschliesslich politisch-strategische Ursprünge hat.
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Klaus Lüderssen Einführung
A. Unstreitige und streitige Ausgangspunkte; ambivalente Positionen I.
Kein Streit besteht bei folgenden Fragen: 1) Künstliche Menschen dürfen nicht erzeugt werden. 2) Die Abtreibung der Leibesfrucht ist zwischen Befruchtung und Nidation ohne weiteres erlaubt; die Vorschrift des § 218 StGB erfaßt erst die Fälle nach der Nidation. 3) Auch nach der Nidation ist in vielen Fällen die Abtreibung straffrei. Das Bundesverfassungsgericht macht allerdings bei § 218a Abs. 1 StGB die Unterscheidung zwischen rechtswidrig und straffrei, woraus zunächst abgeleitet wird, daß die Abtreibung des Embryos nach der Nidation rechtswidrig bleibt, dieser Embryo also bereits rechtlich - wenn auch nicht strafrechtlich - geschützt ist. Freilich ist das eine juristisch unverbindliche captatio benevolentiae. Andernfalls müßten die Fälle straffreier Abtreibungen in allen anderen Hinsichten effektiv als Unrecht angesehen werden. Das geschieht aber nicht: die tägliche Abtreibungs-Praxis der Ärzte steht unter dem Schutz der Berufsausübung nach Art. 1 GG, die Lohnfortzahlung während des Schwangerschaftsabbruchs ist arbeitsrechtlich gesichert, und aus dem ärztlichen Berufsrecht ergibt sich, daß flächendeckende Angebote zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen sicherzustellen sind. Dem entspricht das allgemeine Bewußtsein: was von § 218a StGB erfaßt wird, ist erlaubt.3 4) Es besteht ein eindeutiges ärztliches Gebot, Chancen der Heilung von Menschen, die darin liegen, daß fremde Organe ein gesetzt werden oder auch neue Organe ganz oder teilweise geschaffen werden, zu nutzen, wenn nicht Rechte anderer entgegenstehen. 5) Künstliche Befruchtung (In-vitro-Fertilisation) ist erlaubt. 6) Embryonen, die auf natürliche Weise gezeugt werden und auf natürliche Weise nicht zur Nidation gelangen, brauchen nicht vor der Vernichtung bewahrt zu werden. 7) Wenn erlaubt ist, daß Mütter Embryonen, bei denen sich während der Schwangerschaft schwere Defekte zeigen, abtreiben, müssen auch Verfahren erlaubt sein, die verhindern können, daß solche Embryonen überhaupt in den Mutterleib gelangen.
3 Zum Vorstehenden überzeugend und abschliessend: Reinhard Merkel Empfiehlt sich eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes zur Ermöglichung der Forschung an embryonalen Stammzellen in Deutschland? (im Erscheinen) Manuskript S. 16ff, vor allem S. 25ff; Eser 'm·. Schönke/Schröder StGB 26. Aufl 2001, § 218s Rn. 14ff.
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8) Die Erlaubnis, Stammzellen zu Forschungszwecken zu importieren, ist unvereinbar mit dem Verbot, im Inland vorhandene Embryonen zu Forschungszwecken zu verwenden.4 9) Erlaubnisse dürfen nicht schon deshalb verweigert werden, weil sie mißbraucht werden können; Mißbräuche sind gegebenenfalls gesondert zu bekämpfen. II. Streitig ist: 1) Die Auslegung von Art.I und II GG mit bezug darauf, ob Embryonen „Menschenwürde" haben bzw., „Leben" sind. 2) Der Umgang mit dem Embryonen-Schutzgesetz. Hier geht der Streit allerdings nicht um die Auslegung, sondern um Fragen de lege ferenda. a) Dürfen Embryonen zu einem anderen Zweck als dem der Fortpflanzung hergestellt werden? b) Dürfen Embryonen, die bei der In-Vitro-Fertilisation überflüssig sind, vernichtet werden? c) Dürfen Embryonen, die bei der In-Vitro-Fertilisation „überflüssig" werden, für Forschungs- oder Heilungszwecke verwendet werden? III. Zu den ambivalenten Positionen gehört die Präimplantationsdiagnostik. Wer - gegenwärtig freilich nur de lege ferenda - selbst im Falle schwer behinderter nascituri die Schwangerschaftsunterbrechung verbieten möchte, darf sich auch gegen die Präimplantationsdiagnostik (mit der eventuellen Folge der Embryonenvernichtung) wenden - das scheint evident zu sein. Gleichwohl besteht keine vollkommene Parallelität der Fälle.5 Vielmehr ist, wenn die Nidation der entscheidende Einschnitt ist, präimplantationsdiagnostisch und -therapeutisch mehr erlaubt als später. Die embryopathischen Indikationen des § 218 StGB bleiben ja auf gewisse schwere Krankheiten begrenzt,6 und Maßstab dafür ist, was der Mutter zugemutet werden darf, was sie mit der Geburt eines kranken Kindes soll ertragen müssen und was nicht. Der Embryo vor der Nidation hingegen, dem die Präimplantationsdiagnostik gilt, ist nach § 218 StGB überhaupt nicht geschützt, und das gewinnt an Uberzeugungskraft, wenn man mit Christiane Nüsslein-Volbard
* Für diese Position insbesondere gilt das in Fn 2 Gesagte. Klar erkannt wird das von den eindeutigen Gegnern der Stammzellenforschung, die mit der Importerlaubnis den Rubicon überschritten sehen (vgl Hefty Ein rechtswidriges Verlangen des Bundestages, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. 2. 2002, S. 12). 5 Dazu Renzikowski Die strafrechtliche Beurteilung der Präimplantationsdiagnostik, NJW 2001, S. 2753ff (2757). ' Vgl Eserin: Schönke/Schröder, aaO § 218, Rn 37ff, 43ff.
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annimmt, daß der Embryo durch die Nidation eine andere Qualität von gleichsam schützenswerter Entelechie erhält.7 Aber folgt aus der Erlaubnis der Vernichtung solcher Embryonen etwas für das Prinzip, das den Ausschlag gibt für diejenigen Embryonen, die überleben dürfen? Da der Teil, der überlebt, gar keine Ansprüche darauf hat, könnte man sagen, daß das Prinzip, nach dem dieser Teil der Embryonen, die überleben sollen, ausgewählt wird, nicht mehr interessiert. Das würde bedeuten, daß die Eltern oder die sonst Verfügungsberechtigten Embryonen überleben lassen, d.h. zur Nidation gelangen lassen dürfen nach ganz willkürlich ausgewählten Massstäben. Die Frage spitzt sich zu auf eine Art von argumentum a maiore ad minus: das Allerschlimmste ist die Vernichtung. Wenn man dazu alle Freiheiten hat, dann ist man, wenn man diese Freiheit nicht voll nutzt, sondern unter Umständen etwas weniger Einschneidendes bewirkt als die Vernichtung, auf der sicheren Seite. Sobald man so weit ist mit den Argumenten, wird freilich klar, daß nicht die Frage a maiore ad minus zur Debatte steht, sondern ein aliud. Vernichten ist das eine, Lebenlassen das andere. Das heißt, Vernichten ist gewissermaßen unterschiedslos erlaubt. Ausgewähltes Leben des Embryos indessen ist etwas anderes als Vernichtung. Spielt hier eben doch hinein, daß man zwar bei der Vernichtung des Embryos in diesem frühen Stadium Schicksal spielen darf, nicht aber, wenn man ihn leben läßt, so daß gewisse Auswahlprinzipien - vielleicht sogar das der Forschung - nicht erlaubt sind? Weiter ist hier schon zu erwägen, daß man mit Bezug auf die Existenz von Behinderten die Betrachtung ex post von der Betrachtung ex ante trennen muß. Wer sich als Behinderter arrangiert hat und nicht gesagt bekommen möchte, daß es ihn, wäre damals schon Präimplantationsdiagnostik möglich gewesen, vielleicht jetzt nicht gäbe, kann damit noch keineswegs reklamieren, daß er auch ex ante für sein Leben gewesen wäre. Freilich wäre dann damit zu rechnen, daß Betroffene geltend machen, unter der Voraussetzung der Ausbildung ihrer jetzigen Fähigkeiten, sich mit diesem Zustand zu arrangieren, würde - bei Bekanntsein dieser Voraussetzungen schon ex ante - ihre Entscheidung die gleiche gewesen sein. Aber das ist unrealistisch, diese Voraussetzungen können eben ex ante nicht bekannt sein. Bleiben also zwei unterschiedliche Perspektiven und damit die Möglichkeit des zur Welt gekommenen und erwachsen gewordenen Behinderten, für den nasciturus und den pränasciturus in nachträglicher Prognose eine andere Rechnung aufzumachen?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. 10. 2001.
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B. Vor allem zu lösen sind die folgenden Probleme: I.
Wann beginnt menschliches Leben, und wie gewinnt man die Kriterien für diese Bewertung?
II. Wann beginnt die menschliche Würde, und wie gewinnt man die Kriterien für diese Bewertung? III. Gibt es Schutzbedürfnisse für Vorstadien des menschlichen Lebens, und wie gewinnt man gegebenenfalls die Kriterien für die insoweit fällige Bewertung? IV. Wie weit reichen die unverfügbaren, absoluten Positionen; wann beginnt die Möglichkeit der Relativierung, d. h. der Abwägung zwischen erwünschten und nicht erwünschten Zielen, erlaubten und nicht erlaubten Mitteln? Erster Teil: Systematisierung der Fragestellungen. Hier werden die schon benannten Positionen erneut auftauchen. Diese Wiederholungen sind beabsichtigt. A. Zunächst sind die Sachverhalte auseinanderzuhalten. I.
Vernichtung von Embryonen 1) Schwangerschaftsunterbrechung. 2) Vernichtung bei der künstlichen Befruchtung anfallender zusätzlicher Embryonen. 3) Vernichtung ursprünglich zur Austragung bestimmter Embryonen, die - was die Präimplantationsdiagnostik ergeben hat - mit Erbkrankheiten belastet sind.
II. Bestimmte Verwendungen. 1) Therapeutisches Klonen. 2) Reproduktives Klonen: Erzeugung neuer Lebewesen.8 8 Vgl hierzu die kurze Beschreibung bei Erhard Denninger Embryo und Grundgesetz, Schutz des Lebens und der Menschenwürde im Pränatalstadium (vom Verf. mir liebenswürdigerweise zur Verfügung gestelltes Manuskript): „Der Grundgedanke ist, daß dem kranken Organ des Patienten nur solche heilenden Zellen zugeführt werden, deren genetische Struktur mit der des Empfängers identisch ist. Seine Verwirklichung wird durch die „wunderbar" zu nennende Fähigkeit bestimmter Zellen zur „Reprogrammierung" ermöglicht. ... Aus der Eizelle wird der die Erbinformation tragende Zellkern entfernt. Stattdessen wird der aus einer somatischen Zelle des Patienten/der Patientin (also aus einer sogenannten adulten Zelle) isolierte Zellkern in die Eizelle eingebracht, in welcher der adulte Kem nach entsprechender Aktivierung sich zu teilen beginnt und in den früh-embryonalen Zustand zurückverwandelt,reprogrammiert' wird [...] Wie bei einem normalen Befruchtungsvorgang entsteht in den folgenden Tagen eine Blastozyste, aus deren innerer Zellmasse
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Β. Dann müssen die Vorgänge fixiert werden, die unter dem Stichwort Abwägungen zusammengefaßt werden. I.
Anknüpfungspunkte für die Abwägung. 1) Mit Bezug auf den Entwicklungsstand der Embryonen: a) Die ersten zwei Wochen (bis zur Nidation, § 2181 Satz 2 StGB). b) Die ersten drei Monate (§ 218a Abs. 1, 3 StGB). c) Die ersten 22 Wochen (§ 218a Abs. 4, Satz 1 StGB). d) Bis zur Geburt (§ 218a Abs. 2 StGB und Ermessensklausel des § 218a Abs. 4, Satz 2 StGB). 2) Mit Blick auf die Ziele. a) Schutz der schwangeren Frau. Deren Selbstbestimmungsrecht geht so weit, daß sogar (Fristenlösung mit ergebnisoffener Beratungspflicht) der bloße entgegenstehende Wille genügt, um den Embryo bis zum Alter von drei Monaten zurücktreten zu lassen. b) Interessen „Dritter". aa) Die Gesundheit „künftiger" Menschen (Problem der Präimplantationsdiagnostik mit eventuellem Abbruch der Einpflanzung). bb) Patienten, denen mit den Stammzellen aus den Embryonen geholfen werden kann, cc) Die kinderlosen Menschen (1) Künstliche Befruchtung mit von den Eltern stammendem Ei bzw. Samen. (2) Erzeugung eines Embryos von anderen Eizellen und Samen, der dann eingesetzt wird (Adoption von Embryos). dd) Neue Menschen in kinderarmer Zeit: Arbeitskräfte, Militär, Rentenversorger. ee) Die Forschungsfreiheit, der Fortschrittsoptimismus, ff) Ökonomische Interessen am Forschungsstandort; Arbeitsplätze durch Forschungsexpansion; die Eigendynamik der forschenden, Patente produzierenden Industrie.
sich selbst vermehrende Stammzellen gewonnen werden können". Diese Blastozyste wird auch als Embryo bezeichnet, der dann „zerstört" wird. „Die gewebespezifisch ausdifferenzierten Stammzellen können dann auf den/die Patienten(in) transplantiert werden und zur Organneubildung aus den ,körpereigenen' genetisch identischen Stammzellen führen. Hier wird also zu Heilzwecken therapeutisch geklont. Würde man hingegen die Blastozyste einem uterus einpflanzen und den Fötus austragen lassen, entstünde ein geklönter Mensch" (aaO S. 5/6). Der Vorteil dieser Methode besteht darin, daß das Problem der „Vermeidung von Abstoßungsreaktionen, die beim Zusammenwachsen von Zellen mit unterschiedlichen Erbinformationen auftreten", gelöst wäre (Denninger aaO, S. 5).
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II. Grenzen der Abwägung. 1) Fundamental-ethische Bedenken. a) Schutz des Embryos - zwei Modelle aa) Absolut: Vom Moment der Vereinigung von Eizelle und Samen an. bb) Relativ, etwa: bis zur Nidation ist alles erlaubt. b) Verwendungsverbote. aa) Absolut: Etwa das reproduktive Klonen, bb) Relativ: Unterscheidungen unter dem Gesichtspunkt, ob gezielt „gezüchtet" wird oder nur „Abfallprodukte" verwendet werden (die übrig bleibenden Embryonen nach künstlicher Befruchtung). 2) Wertungswidersprüche: a) Der Import von Stammzellen - erlaubte Umgehung des Verbots, mit embryonalen Stammzellen zu arbeiten? b) Das Verbot der Vernichtung eines wegen der Voraussage schwerer Behinderungen gefährdeten Embryos/Erlaubnis zur medizinisch indizierten Schwangerschaftsunterbrechung? 3) Praktische Bedenken: Abwägungen sind abzulehnen wegen der Unmöglichkeit einer Grenzziehung zwischen zulässigem und unzulässigem Abwägen, wobei auch die Schwierigkeit der Bewertung der zur Abwägung stehenden Güter oder Interessen eine Rolle spielt, etwa bei der Definition des Lebens, oder: unter dem Gesichtspunkt des Vertrauens in eine rechtsstaatlich-freiheitliche Gesellschaft: ist sie zur angemessenen Abwägung in der Lage? (die „Wohlfeilheit" des Mißbrauchsarguments; z.B.: bei der Präimplantationsdiagnostik: man will nur noch perfekte Kinder). III. Kriterien der Abwägung. 1) Prinzipien a) Verfassungsrechtlicher Begriff der Menschenwürde und des Lebens. aa) Art. 1 GG. Vorwirkungen? bb) Art. 2 GG. Vorwirkungen? b) Christliches Menschenbild. aa) Achtung vor den frühesten Erscheinungen menschlichen Lebens. bb) Besondere Achtung für das mit der Mutter verbundene Leben. cc) Achtung vor den leidenden Menschen; Nutzung aller den Menschen (von Gott) gegebenen Möglichkeiten der Heilung. 2) Erforderlichkeit der Forschung mit embryonalen Stammzellen?
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Adulte Stammzelle genügen vielleicht; die Nutzung der Embryonen ist noch nicht genügend geklärt. Andererseits: Embryonenforschung ist erforderlich, weil sie die Voraussetzungen schafft für die Ausbildung der Technik, mit adulten Stammzellen zu arbeiten 3) Materielle Gewichtungen a) Je geringer der Entwicklungsstand des Embryos, um so größer die Freiheit im Umgang mit ihm? b) Je größer das Leiden der zu begünstigenden Menschen und je wahrscheinlicher die Heilung ist, um so fortgeschrittener kann der zur Forschung freigegebene Embryo sein? Dabei ergibt sich die folgende Hierarchie: aa) Das Bedürfnis der Mutter, in deren Leib sich ein behinderter Embryo entwickelt, bb) Die Kinderlosen mit eigenen Eizellen und Samen (das Schicksal der dabei freiwerdenden Embryonen wird vernachlässigt). cc) Die Bedürfnisse künftiger Menschen, deren wohlverstandene Interessen wahrgenommen werden, gesund auf die Welt zu kommen, dd) Die Patienten (wobei dann wahrscheinlich zwischen schwereren und minder schwereren Erkrankungen zu unterscheiden ist, und irgendwo Grenzen gezogen werden), ee) Die Wünsche der Kinderlosen ohne eigene Eizellen und Samen. ff) Ökonomische Interessen am Forschungsstandort, Arbeitsplätze in der Forschung, gg) Forschungsfreiheit; wie sicher müßten die Prognosen günstiger Ergebnisse sein; welche Rechte gesteht man der vollendete Tatsachen schaffenden forschenden Industrie zu? hh) Die gesellschaftlichen Bedürfnisse nach künstlichen Menschen. 4) Strategien der Abwägung. a) Der Umgang mit Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Abtreibungsgesetzgebung und die präjudizierende Auslegung des § 218a StGB. Mögliche Positionen: aa) Betrifft die vorliegenden Fälle gar nicht (§ 218 I 2 StGB), bb) Betrifft außerdem „nur" extreme Konfliktsituationen (die exzeptionelle Situation der Mutter), cc) Die Parallele ist unzweckmäßig, weil mit der Ableitung aus den Abtreibungsentscheidungen viel mehr gedeckt wird, als für die Lösung der neuen Probleme nötig ist. dd) Die Parallele ist unlogisch, weil streckenweise nur Strafbarkeit ausgeschlossen wird, nicht die Rechtswidrigkeit.
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b) Die Funktion des Nationalen Ethikrats und der EnqueteKommission des Gesundheitsministeriums: Umgehung des Parlaments versus Politikberatung? Zweiter Teil: Die Methodenfragen, insbesondere: der „naturalistische Fehlschluss". A. Zu beginnen ist mit einem Uberblick. I.
Wie bestimmt man den Beginn des Lebens? 1) Wie frei kann oder will die Wertung sein von in der Natur vorfindlichen Abstufungen? 2) Wenn es insoweit Vorgaben gibt, können sie in beide Richtungen gehen? Sowohl zugunsten eines relativ weit vorverlagerten Embryonenschutzes, wie zu ungunsten, je nach dem, welche Folgerungen man aus der Differenz des Evolutionsstatus zieht? 3) Wenn die unter 2) angedeuteten Varianten möglich sind, heißt das dann nicht bereits, daß jene Vorgaben nicht existieren und Argumente, die das mißachten, dem Verdikt des naturalistischen Fehlschlusses unterliegen? 4) Oder ist, je nach dem, zu welcher endgültigen Wertung man kommt, die gewählte Vorgabe doch nicht nur eine reale Anknüpfung, sondern werterfüllt; dies allerdings unter der Voraussetzung einer zuvor ganz frei getroffenen Entscheidung. Ist diese Entscheidung zu treffen mit Blick auf die Grenzen, die jeder Konstruktion von Tatsachen gesetzt sind, oder herrscht völlige Freiheit?
II. Wenn das Ergebnis unter I. lautet, daß eine gewisse Verfügbarkeit des Embryos besteht, ist sie danach abzustufen, ob der Embryo schon existiert und bei Nichtweiterverwendung (zur Forschung, zur Heilung) gleichsam todesverfallen oder zur ewigen Aufbewahrung bestimmt ist? Oder darf zur Verfügung für Forschung und Heilung ein Embryo auch hergestellt werden? III. Ist die unter II. noch erwogene Verfügbarkeit des Embryos gegeben - weshalb endet diese Verfügbarkeit bei der Reproduktion von neuen Menschen? IV. Wenn Einigkeit darüber besteht, daß der Verfügbarkeit im Sinne von III. Grenzen gesetzt sind, ist dann zu fragen, ob und gegebenenfalls wie es möglich ist, die nach der Bewertung unter II. gegebene Freiheit der Verfügung davor zu bewahren, daß sie mißbraucht wird? Das sind vor allem praktisch-technische Fragen der Gesetzgebung und die Kontrolle der Einhaltung von Rechtsvorschriften, einschließlich von Verhängung und Vollzug bestimmter Sanktionen.
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Β. Im einzelnen ergeben sich folgende Fragen: I.
Könnte der Zeitpunkt der Nidation deshalb entscheidend sein, weil dann der zum Leben bestimmte Embryo nur noch mit Gewalt an seiner Entfaltung gehindert werden kann? Die Natur hat hier doch vielleicht einen Einschnitt gemacht, der die Unumkehrbarkeit der Evolution fixiert. Bei den sozusagen noch freischwebenden Embryonen ist das nicht der Fall. Zu dieser Logik würde passen, daß sich aus den vor der Nidation massenhaft abhanden gekommenen Embryonen niemand etwas macht. Hier ist die Mitteilung von Christiane Nüsslein-Volhard zu registrieren, die befruchtete Eizelle enthalte nicht das volle Programm zur Menschenwerdung. Vielmehr habe der gemeinsame Stoffwechsel „zwischen den mütterlichen Organismus und dem werdenden Individuum ... eine weit größere Bedeutung als bloß dessen Ernährung". Ein Indikator dafür sei, „daß erbgleiche Individuen in verschiedenen Muttertieren ausgetragen, verschiedener sind als eineiige Zwillinge, die erst nach der Geburt getrennt aufwachsen". 9 Dem entspricht auch die Mitteilung von Ronald M. Green, Leiter der Ethik-Kommission vom Advanced Cell Technology (ACT), daß der Embryo „vor dem 14. Tag keinerlei Individualisierung" zeige. „Zwillingsbildung kann auftreten, man kann zwar Embryonen wieder fusionieren. Es gibt in dieser frühen Phase keinerlei Zelldifferenzierung". Er könne nicht verstehen, „wie man vom Beginn eines menschlichen Individuums sprechen" könne, „wenn man kein Individuum habe". Wäre es anders „müßte man ein Riesenprogramm zur Rettung jener befruchteten Einzellen starten, die natürlich auf dem Wege zur Gebärmutter sterben".10 Die naturalistische Struktur dieses Argumentes ist offensichtlich. Die Freiheit der „Zuschreibung", von der Hubert Markl spricht,11 wird relativiert durch die Evidenz dieses unterscheidungskräftigen natürlichen Faktums. Andererseits kann man nicht verkennen, daß die Entscheidung für die Relevanz dieser Evidenz einen Lebensbegriff voraussetzt, der sich an eine solche enge körperliche Definition knüpft. Normativ könnte auch ein Begriff vom Leben entwickelt werden, der sehr viel weitmaschiger, körperlich wesenloser ist, schöpfungs-logisch konzipiert. Wer dabei dann aber doch beim Embryo Halt machen möchte und nicht schon die nidierte Eizelle oder das Samenfädchen zum Leben im emphatischen Sinne erklären möchte, muß auch Gründe für die Relevanz dieser natürlichen Unterscheidung angeben. Sie könnte darin bestehen, daß der Embryo schon alles ent-
9 AaO. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 11. 2001, S. 55. 11 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 11. 2001, S. 49.
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hält, während das Samenfädchen bzw. die Eizelle für sich noch nicht sich zu Leben entwickeln können. Doch auch die Entwicklung des Embryos ist an weitere äußere Voraussetzungen geknüpft, insbesondere auf einen Platz angewiesen, wo die Nidation stattfindet, sei es in einem menschlichen Körper oder in einem Apparat. Mit welchem Recht will man die zusätzlichen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Eizelle zum vollkommenen Leben wird, von anderen zusätzlichen Bedingungen unterscheiden, die erfüllt werden müssen, damit sich ein Embryo zum „richtigen" Leben entwickelt? Die Antwort könnte sein: die „In-sich-Geschlossenheit" des nunmehr zur Evolution des Lebens bestimmten Phänomens. Aber kann man wesensmäßig einen solchen Unterschied machen zwischen der notwendigen Bedingungen der Verschmelzung einerseits, der Notwendigkeit einer Einnistung andererseits? Wenn es auf die Notwendigkeit der Einnistung nicht ankommt, die fehlende In-sich-Geschlossenheit der Lebenspotentialität aber auch nicht genügen soll, muß man dartun, weshalb der Schritt von der Nicht-Geschlossenheit zur Geschlossenheit der größere ist gegenüber dem Schritt von der Geschlossenheit zur möglichen Entwicklungsfähigkeit durch einen dafür bereitstehenden Organismus oder Apparat. Das dürfte nicht ganz leicht fallen. Das Problem wird in der naturwissenschaftlichen Literatur behandelt unter dem Gesichtspunkt der übergangslosen Potentialitäten. II. Womöglich bedeuten die natürlichen Evidenzen für sich nichts; Man muß vielleicht, um zwischen den Stadien der Entwicklung unterscheiden zu können, einen wertenden Begriff vom Leben schon haben. Und doch sind die Vorgaben nicht ganz unverbindlich. In der Dialektik, wie man hier wohl anspruchsvoll sagen muß, zwischen den Vorgaben und den wertenden Entscheidungen liegt das bisher ungelöste Problem, vergleichbar dem allgemeinen epistemologischen Problem der Abgrenzung von Feststellung und Zuschreibung. III. Alle diese Argumente, das sei noch einmal betont, bewegen sich jenseits der positivistischen Fixierung durch Art. 1 oder 2 GG. Es wird hier davon ausgegangen, daß das „Leben" des Embryo noch nicht erfaßt wird vom Grundrechtsschutz, 12 auch nicht in Gestalt der Vorwirkung eines Grundrechts oder der Menschenwürde.13 12 Insoweit beziehe ich mich auf die überzeugenden Ausführungen von Reinhard Merkel Empfiehlt sich ein Antrag des Embryonenschutzgesetzes zur Ermöglichung der Forschung an embryonalen Stammzellen in Deutschland? Frankfurt am Main 2002 (im Erscheinen) Manuskript S. 10; Ipsen Der „verfassungsrechtliche Status" des Embryos in vitro, J Z 2001, 989ff. 15 So aber Denninger Inflationärer Gebrauch des Begriffs „Menschenwürde", Frankfurter Rundschau vom 15. 1. 2002, S. 7.
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Indessen wird mit Recht der Anspruch erhoben, daß man auch jenseits des Grundgesetzes ein Schutzgut „Leben" entwickeln dürfe, das der Abwägung entzogen ist. Man kann das auf der Basis einer christlichen Vorstellung von der Schöpfung tun - dann ist die Apostrophierung des menschlichen Lebens und seiner Vorwirkungen relativ leicht begründbar. Tut man es nicht auf der Basis eines christlichen Schöpfungskonzepts, wird es schwieriger. Eine nicht religiös motivierte Ethik müßte zusätzliche Anstrengungen unternehmen, um das menschliche Leben und speziell seine Vorwirkung auszuzeichnen. Wem die sichtbaren Statusunterschiede nicht genügen, wer sich also nicht in der Lage sieht, normativ über das Leben anders zu denken, je nach dem, wie weit vorgeschritten es ist, müßte nach einer zusätzlichen Kategorie für eine Differenzierung suchen. Das könnte die Kategorie des Leidens sein. Verletztwerdenkönnen setzt Leidenkönnen voraus, und damit wäre der sehr frühe Embryo zunächst ausgeschieden. In der philosophischen Ethik taucht in diesem Zusammenhang der Gesichtspunkt auf, etwas „um seiner oder ihrer selbst willen" schützen, setze voraus, daß Indidivualität vorhanden, ein „selbst", vielleicht sogar ein „ich" entstanden sei. Danach würden viele Objekte schutzlos werden. Will man das nicht anerkennen, weil anderenfalls vielleicht auch Schwierigkeiten bei der Beurteilung der Grundlagen für die Entscheidungen am Ende eines menschlichen Lebens auftreten, müßte man einen Lebensbegriff entwickeln, der es erlaubt, Vorformen des menschlichen Lebens zu akzentuieren eben mit der Wirkung, daß keine Abwägungen vorgenommen werden dürfen, dieses Vor-Leben nicht benutzt werden darf, um manifestes Leben zu verbessern. Das fällt schwer, wenn man nicht doch mit einer Evidenz der Relevanz verschiedener Entwicklungsstufen arbeiten möchte. Man muß begründen, weshalb man - unter keinen Umständen - das Samenfädchen noch nicht schützt und den eingenisteten, vielleicht sogar schon eine Weile im Mutterleib gewachsenen Embryo - unter allen Umständen - schützt (mit den Ausnahmen zugunsten der Interessen der Mutter). Freilich könnte man diese Konzeption auch mit der Leidenskomponente verbinden. Was nicht um seiner selbst willen geschützt werden kann, weil die Empfindung des Selbst nicht da ist (wenn man von dieser Prämisse einmal ausgeht), kann geschützt werden, weil ein anderer unter der Beschädigung leidet. Im Strafrecht übernehmen die Außerungs- und Religionsdelikte diese Funktion; die Ehre wird geschützt, religiöse Gefühle werden geschützt. Die Relevanz dieses Gefühls muß man natürlich begründen. Im Strafrecht wird das religiöse Gefühl - bisher jedenfalls - nur geschützt, sofern
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seine Verletzung geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu gefährden.14 Bei den Ehrverletzungsdelikten gibt es diese Beschränkung nicht. Aber da ist ja jeweils auch ein Selbst betroffen. Das Gefühl, eine Welt, die den Embryo nicht schützt vor Verwendung zu Forschungszwecken, sei unerträglich, ist nachvollziehbar, muß aber begründbar sein, was - wenn man eben nicht vom christlich geprägten Menschenbild ausgeht - schwer fällt. Die höhere Lebensform ist evident, aber nur unter dem Aspekt einer entsprechend vorher eingenommenen wertenden Einstellung. Was ich mit alledem sagen will, ist dies: Die säkularisierte Welt kann ihr Menschenbild nur dezisionistisch entwickeln. Dabei helfen ihr indessen signifikante, beschreibbare Evolutionsunterschiede. Sie kommen jedoch nur in den Blick, wenn man eben die normative Vorannahme des,höheren Wesens' macht. Insofern handelt es sich hier, wie auch bei den anderen Modellen, um einen abduktiven Schluß:15 Ich induziere aus gegebenen singulären Entwicklungsstadien, also aus Einzelfällen, Regeln für den unterschiedlichen Umgang mit diesen Phänomenen. Diese Induktion gilt aber nur unter der Voraussetzung, daß ich vorher eine allgemeine Regel von der Hochwertigkeit gewisser Entwicklungsstadien annehme. Wenn das Kriterium dafür nicht die Leidensfähigkeit ist, sondern die bis zu einem gewissen Grade vorgeschrittenen Potentialität einer solchen Person, etwa, daß man ohne die Zustimmung des betroffenen „Subjekts" von einem bestimmten Stadium der Vorgeschrittenheit an nichts, auch wenn sie jetzt noch nicht erteilt werden kann, machen möchte,16 müssen Gründe dafür angegeben werden, wann man anfängt, die Zustimmung zu fordern, und wann man damit aufhört. Die Uberzeugungskraft, mit der Christiane Nüsslein-Volhard für die Zäsur der Nidation eintritt, beruht darauf, daß bis zu diesen Stadium einfach zu viele Alternativen zum Menschwerden gleichsam herumschwirren. Erst durch die Bindung an die zur Aufnahme des Embryos und seiner Ernährung etc. bestimmten Mutter wird der Grad von Zwangsläufigkeit erreicht, der genügen soll, hier schon eine potentielle Zustimmungsfähigkeit zu schützen. Sogar wenn man zugibt, daß die Entscheidung für ein bestimmtes Entwicklungsstadium einer potentiellen Person normativ ist, bleibt es bei einer gewissen Determination dieser normativen Entscheidung durch 14 Uber den Versuch der Gesetzgebung, diese Einschränkung aufzugeben vgl Lüderssen Festschrift Trechsel, 2002 (im Erscheinen). 15 Dazu Arthur Kaufmann Die Rolle der Abduktion im Rechtsgwinnungsverfahren, in: Festschrift für Heinz Müller-Dietz, 2002, S. 349 ff. 14 Jürgen Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Wege zu einer liberalen Eugenik? 2001, S. 79.
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die ,fortgeschrittenen' Fakten. An dieser Stelle beginnt erneut jene schwer auflösbare Dialektik. IV. In deren Problematik muss nun doch etwas genauer eingetreten werden.17 Die klassischen Auseinandersetzungen über den naturalistischen Fehlschluss helfen freilich nicht weiter, erschöpfen sich in der Banalität der Schulbeispiele, dienen nur der Selbstvergewisserung einer sich auf relativ einfache Fragen der materiellen Ethik beschränkenden analytischen Philosophie.18 Deshalb empfiehlt sich doch der Rückgriff auf andere Modelle. Für Juristen jedenfalls liegt das insofern nahe, als sie in der „Denkform der Natur der Sache"19 über eine Tradition verfügen, mit dem Problem umzugehen. Es kulminiert, das ist schon früher gesehen worden, in der allgemeineren Frage des Verhältnisses von Rechtsstoff und Rechtsform, und man sollte sich daher vorerst der tiefgreifenden Feststellungen erinnern, die Emil Lask, auf den sich Radbruch immer wieder beruft, getroffen hat: „Es war der Fehler des naturrechtlichen Apriorismus, daß er den dunklen, vom Werte niemals durchleuchtbaren Inhaltsüberschuß der unberechenbaren Faktizität nicht respektierte und deshalb die Vernunftpostulate nicht genügend auf die Funktion bloß formaler, an einem gegebenen Stoff sich bestätigender Ordnungsprinzipien einschränkte. Daß dieser Rationalismus den Zufälligkeiten, Gleichgültigkeiten und Unzulänglichkeiten der unmittelbar vorgefundenen Wirklichkeit gegenüber an eine ursprüngliche Vernunft appellierte - diese über%eschichtliche Tendenz wurde erst dadurch in eine ««geschichtliche verwandelt, daß er die historischen Realitäten ganz aus seinen Berechnungen ausließ, ihnen nicht nur die Bedeutung absprach, sondern geradezu ihre Existenz ignorierte. Anstatt die Vernunftforderungen als die den Gesamtbestand der Wirklichkeit nur nach gewissen einzelnen Seiten umwälzenden Kräfte oder genauer als zu ihrer Verwirklichung und konkreten Ergänzung eines empirischen Substrates bedürftige und in dessen oft widerstrebende Eigenbeweglichkeit erst einzufügende formale Wertmomente zu erkennen, hypostasiert er sie
Bei Habermas aaO, S. 60, finden sich bereits vielversprechende Ansätze. George Edward Moore Principia ethica, S. 74ff; W. K. Frankena Der naturalistische Fehlschluß, in: Grewendorf/Meggle, Sprache und Ethik 1974, S. 83ff; J. L. Mackie Naturalistic Fallacy, in: Paul Edward (Editor) The Encyclopedia of Philosophy 1976, S. 17$; John McDowell Mind, Value and Reality 1998, S. 167ff; Philippa Foot Natural Goodness 2001. 19 Gustav Radbruch Die Natur der Sache als positive Denkform, 1960, mit vielen Belegen. Hier können nur die Namen der Autoren genannt werden, die zu dieser Debatte Entscheidendes beigetragen haben. Das sind vor allem: Günther Stratenwerth, Arthur Kaufmann, Alessandro Baratta, Otmar Ballweg, Eugen Ehrlich, Max Gutzwiller, lehrreich ist auch die schematische Übersicht bei Erik Wolf Das Problem der Naturrechtslehre, 3. Auflage 1964, S. 106 ff. 17
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zu für sich bestehende Realitäten. Durch diese Verdinglichung wurde verselbständigt, was doch als Teilinhalt nur an einem anderen haften kann, als bloße Form einem Material sich anschmiegen muß, und so vermaß sich die reine Vernunft, anstatt die ganze Wirklichkeit sich zu unterwerfen, sich selbst zur ganzen Wirklichkeit aufzuwerfen und einfach an die Stelle des Bestehenden zu setzen".20 Die Frage ist, wie diese schon ältere, aber vielleicht raffinierteste Fixierung des Verhältnisses von Wirklichkeit und Wert in Beziehung zu setzen ist zum erkenntnistheoretischen Dilemma von Vorgegebenheit und Aspektabhängigkeit. Die Aspektabhängigkeit steht offenbar für die subjektiven Elemente der Wertung, die „Vorgegebenheit" für die empirisch-objektiven. Aber vorgegeben kann auch ein apriorischer Wert sein, also strukturell etwas ganz anderes als ein bestimmter Sachverhalt. 1) Vielleicht muß man zunächst darauf aufmerksam machen, daß es nicht zwei, sondern drei Positionen gibt. Die vollständige Ablehnung der Bedeutung gewisser Natur-Vorgegebenheiten, unter Hinweis darauf, daß Kulturüberzeugungen auch in der Einschätzung der verschiedenen Entwicklungsstadien den absoluten Ausschlag geben, ist zwar gegen den Anspruch der Ontologie gerichtet, aber keineswegs gegen die Metaphysik allgemein. Die Kulturüberzeugungen sind der weitere Begriff; das heißt, zu ihnen gehören nicht nur historisch und meinungsmäßig Gewachsenes, sondern auch Glaube und philosophische Metaphysik als Fundament. Fraglich ist, wo man diese metaphysischen Anschauungen einordnen soll. Sie haben eigentlich doch viel Ähnlichkeit mit den ontologischen Vorgaben. Aber methodisch besteht ein großer Unterschied. Man kann durchaus von idealistischer Konstruktion sprechen, und dann ist diese Position näher an der Zuschreibungs-Konzeption als an der ontologischen. Andererseits ist die idealistische Konstruktion, gemessen am Verbindlichkeitsanspruch, wieder der Ontologie näher. Ist die Orientierung an von Naturwissenschaftlern festgestellten Unterschieden der Entwicklungsstadien eher eine Sache der praktischen Plausibilität und weniger der (metaphysischen) Ontologie, so wird schliesslich eine inhaltliche Nähe zur konsensabhängigen Zuschreibung sichtbar. Manche gehen weiter und kennzeichnen jede Relation zu ontologischen Gegebenheiten als naturalistisches Mißverständ-
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Emil Lask Gesammelte Schriften Band 1, 1923, S. 284 f.
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Klaus Lüderssen nis. 21 Dafür wird im Strafrecht vor allem Günther Jakobs in Anspruch genommen als führender Vertreter einer „Renormativierung der Begriffe". Claus Roxin wird als Vertreter der Auffassung zitiert, daß es keine ontologisches Vorgegebenheiten gebe, sondern nur die Orientierung an strafrechtlichen Zwecksetzungen. Dann kommen aber die Einschränkungen: Nicht „ohne Rücksicht auf die Sachgegebenheiten" dürfe ein „Zweckrationalsystem" entwickelt werden. 22 Bei Ingeborg Puppe 2 3 liest man, es gebe „auf der untersten Stufe der Beschreibung der Sachverhalte von Natur vorgegebene konkrete Dinge", ... „auf die sich die Beschreibungen immer beziehen". Das erinnert an die brute facts von Searle. 24 Der Naturalismus stecke übrigens auch in der Alltagssprache. 2 5 Weiter heißt es bei Ellen Schlüchter, Die Bezugnahmen auf . . . " Vorgegebenheiten" sei „zur Wirksamkeit des Rechts geradezu geboten". 2 6 In der Literatur unserer Tage wird das mit Blick auf strafrechtliche Probleme wie folgt konkretisiert: Die Frage nach dem Vorsatz könne immer nur auf „subjektive Gegebenheiten beim Täter zielen". „Trotz Normativierung des Willenselements" sei „das Wissenselement ... weiterhin als Faktum in der Psyche des Täters zu suchen". 2 7 Aus dieser Perspektive ist das Problem im Strafrecht seit langem geläufig, etwa im Rahmen der Konkurrenz zwischen naturalistischen Kausalitätstheorien und normativierender objektivierender Zurechnung 28 oder der „Realfaktoren" der Fahrlässigkeit. 29 Verallgemeinernd spricht man vom Verhält-
21 Das Problem wird mit Blick auf die Strafrechtsdogmatik übersichtlich dargestellt bei Gunnar Duttge Zur Bestimmtheit des Handlungsunwertes von Fahrlässigkeitsdelikten 2001, S. 361 ff („Distanz und Verbindung zwischen Sein und Sollen") s. im einzelnen S. 363f. 22 Duttge aaO. 23 Ingeborg Puppe Naturalismus und Normativismus in der modernen Strafrechtsdogmatik, GA 1994, 297ff (313). 24 Dazu im einzelnen Klaus Lüderssen Zur Aspektabhängigkeit strafrechtshistorischer Forschung, in: Lüderssen (Hrsg.) Die Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs, 2002, S. 233 ff. 25 Puppe aaO. 26 S. die Nachweise bei Duttge S. 263; wichtig auch die Hinweise auf Erich Kaufmann Kritik der neukantianischen Rechtsphilosophie, 1921, S. 29 ff, der sage, daß die beiden Lebenswelten, Sein und Sollen, „nicht einfach nivelliert nebeneinander stehen". Wenn sich auch aus der „Lebenswirklichkeit ... keineswegs schon eine „... Rechtsordnung" ergebe, so doch „eine Ansammlung von ,Ordnungs- und Gestaltungselementen', die geeignet sind, auf den Rechtsbildungsprozeß einzuwirken" ( D u t t g e aaO, S. 365). 27 Duttge aaO, S. 366. 28 Vgl die knappen aber präzisen Zuordnungen bei Karl-Heinz Gössel GA 2002, 55. 29 Duttge aaO, S. 368ff; s. auch schon Klaus Lüderssen Zum Strafgrund der Teilnahme, 1967, S. 153 ff.
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nis zwischen Ontologismus und Normativismus. 30 Am Ende wird vorgeschlagen, daß zwischen Faktizität und reinem Sollen eine ,Synthese' gebildet werden möge.31 Aber wie das geschehen soll, bleibt offen, es gibt nur Beschwörungen kasuistischer Evidenz 32 oder unverbindliche Wendungen wie die: Rechtsbegriffe seien nur klar und präzise, wenn „sie möglichst ungeschmälert auf die Lebenswirklichkeit Bezug nehmen"; das „vorwissenschaftliche Weltbild"33 genüge nicht, gleichwohl bestehe keine Veranlassung, „mit den ,Psychologen in der Beschreibung seelischer Vorgänge zu wetteifern'". 34 2) Am nächsten kommt der vermißten Beschreibung der Vorgänge, die Faktisches und Normatives miteinander verknüpfen, 35 wohl die dialektische Konzeption von Arthur Kaufmann:36 Recht sei die Entsprechung von Sollen und Sein ... der von der Methodenlehre viel gesuchte ,Sinn' steckt also in beiden". 37 Kaufmann hat versucht, für diese Dialektik den Gedanken der Analogie fruchtbar zu machen. Der Analogieschluß sei „ein Schluß von vom Besonderen zum Besonderen". 38 Eine genauere Betrachtung zeige allerdings, daß der Analogieschluß „gar nicht vom Besonderen zum Besonderen, sondern über ein Allgemeines zum Besonderen" führe. 39 Später hat Kaufmann sich für diese Schlußform auf das Modell der Abduktion bezogen. 40 So allein könne es gelingen, den richtigen Sinn einer Norm zu ermitteln. Dabei müsse man „auf etwas Anschauliches zurückgreifen, auf die in Betracht kommenden konkreten Lebenssachverhalte".41 Das Verhältnis von Obersatz und Untersatz, das man gern für 30 S. dazu die Aufbereitung der Debatte bei Bernd Schünemann Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft, in: Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 1 ff (12 ff); s. auch Moises Moreno Hernandez Uber die Verknüpfungen von Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik (Ontologismus versus Normativismus?) aaO, S. 68ff. 31 Duttge; er verweist dafür auf Ellscheid Sein und Sollen in der Philosophie Kants (S. 369); Schünemann aaO, S. 23. 32 Vgl Schünemann aaO, S. 31. 33 Engisch Vom Weltbild des Juristen, 2. Auflage, 1965 (Duttge aaO, S. 370). 34 Das bezieht sich auf Engisch Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930, S. 97 (Duttge aaO, S. 371). 35 Und damit die „Zauberformel" der Rede von der normativen Kraft des Faktischen überwinden (s. Arthur Kaufmann Analogie und „Natur der Sache"; zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, 1965, 2., im wesentlichen unveränderte Auflage 1982, S. 10). 36 Rechtsphilosophie 2. Auflage, S. 148/149. ν AaO. 38 Analogie und „Natur der Sache", aaO, S. 25. 39 A a O , S. 26. 40 S. schon oben Fn 15. 4 > AaO, S. 30.
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Klaus Lüderssen Norm und Sachverhalt verwende, habe keineswegs eine gewöhnliche' Subsumtion" zur Folge, diese sei vielmehr „eine Analogie". Man könnte Subsumtion und Analogie nur dann voneinander logisch scheiden, wenn es eine logische Grenze zwischen Gleichheit und Ähnlichkeit gibt. Obersatz und Untersatz wachsen in diesem Sinne gleichsam zusammen durch immer näher kommende Entsprechung.42 Dabei gehe es um die „Gewinnung derjenigen Ordnungselemente, die von den ,Dingen' und ihren Gesetzlichkeiten oder Strukturen eher zu erwarten sind", und „diejenigen Normgestaltungsmomente, welche eine Ordnung auf die Ziele, Werte und Zwecke des Rechts hin eine Hinordnung auf die Anforderungen der Rechtsidee ermöglichen".43 Das laufe auf „ein Wiedererkennen der Norm im Sachverhalt und des Sachverhalts in der Norm" hinaus.44 Dieser „Schluß vom Sachverhalt zur Norm bzw. der Norm zum Sachverhalt ist daher immer ein Schluß über die ,Natur der Sache'. Die ,Natur der Sache' ist der Angelpunkt des Analogieschlusses, sie ist das Fundament des analogischen Verfahrens ,..". 45 Eine ganz exakte Antwort auf die Frage, in welcher Weise das Faktische die Wertung (mit)bestimme, ist das allerdings auch nicht. Das erkennt man, wenn man liest, daß Kaufmann die Frage „Wo hört denn diese eine Struktur auf und wo setzt der Wertgesichtspunkt ein"46 für „im Grunde unbeantwortbar" erklärt, „weil es in der Wirklichkeit keine Grenze zwischen beiden gibt". 47 Daraus folgt für ihn, daß die „Natur der Sache" im Grunde auf den „Typus" verweise. „Das Denken aus der ,Natur der Sache' ist typologisches Denken".48 Der Typus aber ist nun nichts anderes als eine der positiven rechtlichen Regelung gleichsam vorausliegende soziale Abbreviatur des Zusammengehens von Tatsachen und Wertung. Das wird ganz deutlich, wenn man das Beispiel betrachtet, mit dem Kaufmann deutlich zu machen versucht, worum es geht. Das Beispiel stammt wiederum aus dem Strafrecht. „Wenn man Salzsäure als eine Art ,Waffe' ansieht im Sinne der gefährlichen Körperverletzung, so folgt das nicht aus dem Begriff der Waffe,
Vgl dazu auch Klaus Lüderssen Kriminologie, 1985, S. 72 f. Hier bezieht sich Kaufmann auf Henkel Einführung in die Rechtsphilosophie 1964, S. 297 (aaO S. 32). 44 AaO, S. 32. AaO, S. 35. 46 Engisch Zur Natur der Sache im Strafrecht in: Festschrift für Eberhard Schmidt, 1961, S. 99 ff. " AaO, S. 36/37 48 AaO, S. 37. 42 43
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sondern aus dem Typus der gefährlichen Körperverletzung". 4 9 Wie aber eben man zu diesem T y p u s gelangt, ist die Frage, und sie bleibt offen: 5 0 Wie begegnen sich factum und Wert im T y p u s , geschieht das in einer Art „Wesensschau"? 5 1 Wird damit - u m die Frage auf die Lösung des hier verhandelten Problems zuzuspitzen - ein Modell für eine ganzheitlich-vorrechtliche Fixierung eines bestimmten entelechialen status des Embryos vorgegeben? 3) In „Erfahrung als Rechtsquelle" habe ich versucht, über die Fixierung der den Werturteilen zugrunde liegenden, miteinander konkurrierenden Zweck-Mittel-Verhältnisse einen technischen Weg zu zeigen, der die verbleibenden reinen Werturteile gleichsam auf ein Minimum reduziert. Die Schritte, die diesen Werturteilen vorangehen, bestehen darin, daß man die Mittel auswählt, die geeignet und erforderlich sind, u m ein Ziel zu erreichen, und daß man diese empirisch zu begründenden Abwägungen 5 2 vornimmt; hinzu kommen die Abwägungen bei den Zielkonflikten, die sich mit Blick auf Nebenwirkungen bei der Erreichung des primären Ziels ergeben. Natürlich muß vorher das Ziel, das ausgewählt wird, bewertet werden. Häufig allerdings ist dieses aber auch nur das Mittel, u m ein anderes Ziel zu erreichen, so daß man die endgültige Zielbewertung weit hinausschieben kann. Dieser Wertungsprozeß ist dann - nach der Philosophie des Wiener Kreises (Viktor Kraft) - die „Auszeichnung", und dafür kann man diverse Verfahren benutzen, im modernen Leben wohl vor allem die Mischung aus Konsens und Dezision. Mit diesen Verfahren soll die Geltung des Satzes, daß Werturteile nur von Werturteilen abgeleitet werden dürfen und daß es nicht zu einer „Strukturverschlingung von Sein und Sollen" kommen darf, 53 relativiert werden. Der beschriebene Vergleich zwischen den Zweck-Mittel-Ketten wird von dem analytischen Philosophen Reichenbach als ethische Implikation bezeichnet. 5 4 Bei Luhmann heißt das „Problemverkleinerung durch Zwecksetzung und O p e A a O , S. 40. Auch bei HassemerTatbestand und Typus. Er informiert nicht genau über den Mechanismus, der zwischen „factum brutum" und Vorverständnis waltet und zum Typus führt (s. dazu auch Lüderssen Erfahrung als Rechtsquelle, 1972, S. 85ff). 51 Uber die vergleichbaren Begriffe, die sich hier assoziativ einstellen (konkretes Ordnungsdenken, allgemein-konkreter Begriff) vgl eingehend Lüderssen Genesis und Geltung, S. 72ff; s. ferner die bei Kaufmann Analogie und Natur der Sache, 2. Auflage 1982, im Nachwort mitgeteilte Literatur. 52 Vgl zu den freilich auch dabei vorkommenden Wertimplikationen Luhmann Zweckrationalität und Systembegriff, 1968, S. 185. 53 Belege dazu in Erfahrung als Rechtsquelle, aaO, S. 68. 5" A a O , S. 69f. 50
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Klaus Lüderssen rationalisierung von Unterzwecken".55 Daß auch hier gleichwohl wertende Auswahlen getroffen werden, ist allerdings von Max Weber schon gesehen worden;56 es lohnt sich, diese alte Einsicht in Erinnerung zu rufen: „Nur durch die Voraussetzung, daß ein endlicher Teil der unendlichen Fülle der Erscheinungen allein bedeutungsvoll sei, wird der Gedanke einer Erkenntnis individueller Erscheinungen überhaupt logisch sinnvoll. Wir ständen, selbst mit der denkbar umfassendsten Kenntnis aller .Gesetze' des Geschehens, ratlos vor der Frage: wie ist kausale Erklärung einer individuellen Tatsache überhaupt möglich, - da schon eine Beschreibung selbst des kleinsten Ausschnittes der Wirklichkeit ja niemals erschöpfend denkbar ist? Die Zahl und Art der Ursachen, die irgendein individuelles Ereignis bestimmt haben, ist ja stets unendlich, und es gibt keinerlei in den Dingen selbst liegendes Merkmal, einen Teil von ihnen als allein in Betracht kommend, auszusondern. Ein Chaos von ,Existenzialurteilen' über unzählige einzelne Wahrnehmungen wäre das einzige, was der Versuch eines ernstlich ,voraussetzungslosen' Erkennens der Wirklichkeit erzielen würde. Und selbst dieses Ergebnis wäre nur scheinbar möglich, denn die Wirklichkeit jeder einzelnen Wahrnehmung zeigt bei näherem Zusehen ja stets unendlich viele einzelne Bestandteile, die nie erschöpfend in Wahrnehmungsurteilen ausgesprochen werden können. In dieses Chaos bringt nur der Umstand Ordnung, daß in jedem Fall nur ein Teil der individuellen Wirklichkeit für uns Interesse und Bedeutung hat, ...". Ob Verfahren57 auf dieser Grundlage nun bei der Entscheidung helfen, in welchem Maße man sich über etwas, das man schon als werdendes Leben bezeichnen kann, im Interesse höherer Zwecksetzungen hinwegsetzen kann, ist nicht leicht abzusehen. Die Diskussion ist ja festgefahren unter dem Aspekt, daß das embryonale Dasein einen absoluten Schutz beanspruche; streitig ist, an welches Stadium man dafür anknüpfen muß. Die naturwissenschaftlich beschreibbaren Vorgaben, die es insofern gibt, sind die Tatsachengrundlage. Aber für den Vorgang ihrer „Auszeichnung", um in der Terminologie der analytischen Philo-
Zweckbegriff und Systemrationalität, 1968, S. 218. Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Auflage, 1968, S. 146ff (177/178). 5 7 Vgl dazu auch Klaus Lüderssen Strafrecht zwischen Funktionalismus und „europäischem" Prinzipiendenken, JStW 107 (1995) S. 877ff (894f). 55
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sophie zu bleiben, bedarf es zusätzlicher Anstrengungen, und sie dürfen sich auch nicht in Psychologie erschöpfen.58 Macht man nicht die Vorannahme, daß es sich bei den auszuwählenden Embryonalzuständen von vornherein um die Frage nach einem absoluten Schutz handelt, dann sind natürlich alle Zweck-Mittel-Ketten eröffnet, je nach dem, welche Ziele man ansteuert. Aber dem Hauptstreit ist man ausgewichen, und so lautet die crucial question eben doch: Läßt sich für oder gegen die Absolutheit des Schutzes des Embryos etwas aus seinem erreichten Status ableiten? Wohl kaum. Wenn man den Anteil der Mutter am Embryo für so hochkarätig hält, daß demgegenüber der noch nicht nidierte Embryo wertloser erscheint, so kann das mit Beschreibungen von Unterschieden in der erreichten entelechialen Entwicklung anschaulich gemacht werden; aber daß diese durch Beschreibungen hervortretenden Unterschiede normativ relevant sind, versteht sich nicht - sozusagen aus der nebeneinander gestellten verschiedenen „Natur" - von selbst; vielmehr konkurrieren unterschiedliche Bewertungen. Wenn der Bischof Huber gegenüber der Biologin Niißlein-Volhard den nicht nidierten Embryo eben auch schon für so weit fortgeschritten in der Entelechie hält, daß ein absoluter Schutz nötig sei, so läßt sich dagegen etwas naturwissenschaftlich Beschreibbares nicht mehr aufführen. Dasselbe würde freilich auch gelten, wenn jemand noch weiter zurückgeht und schon das unbefruchtete Ei oder gar den Samen wegen seiner minimalen Anlage zur späteren, auf den Menschen gerichteten Entelechie für dieses absoluten Schutzes bedürftig hält. 4) An dieser Stelle beginnt man sich im Kreis zu drehen. Wer auf die Unterschiede der Entwicklungsstadien bauen möchte, hat im Grunde nichts anderes als eine Art von Evidenz der Plausibilität zur Verfügung. Und doch kann man nicht übersehen, daß, wer bei den Extremen wird es sichtbar - schon das Ei in den Rang eines absoluten Gutes zu rücken versuchen würde, sich gegenüber denjenigen, die das erst für ein sehr spätes Stadium des Embryos erwägen, insofern im Nachteil befände, als er viel mehr an ungegenständlicher, metaphysischer Wertung aufbringen müsste, um gewissermaßen auf eine vergleichbare Ebene zu gelangen. In den Verfahren, die zur „Auszeichnung" führen, wird man (wenn es sich um Konsensfindungsverfahren handelt) die faktischen Unterschiede gleichwohl als Posten in die Argumentation einbringen. Die subjektiven Uberzeugungen haben dann also, wenn sie 58 S. dazu die Belege in Erfahrung als Rechtsquelle, S. 7 6 / 7 7 ; vgl im übrigen Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, S. 59 ff.
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nur repressionsfrei etc. vorgebracht und akzeptiert werden, das letzte Wort, insofern metaphysischen Wahrheiten vergleichbar, an deren Stelle - in Gestalt des erreichten Konsenses - sie letztlich ja auch treten sollen. 59 Weil subjektive Uberzeugungen in diesem Verfahren einen so hohen Rang bekommen, versucht man ja, die Verfahren zu objektivieren und zu universalisieren alle müssen zustimmen können in der idealen Sprechsituation. Uber den latenten Idealismus, der in dieser Position steckt, ist viel gesagt worden. Legt man die Latte so hoch, kommt im Konsens nur das Vernünftige zustande; aber dann, sagen die Kritiker der Konsensfindungsverfahren, kann man auch die Vernunft direkt befragen, und stossen, wenn es darum geht, absolute Positionen zu begründen, wieder zur Metaphysik vor. Wer sich eine solche Metaphysik jedoch nicht zutraut, muß in Kauf nehmen, den Regreß der Begründung dort abzubrechen, wo es gelingt, die subjektiven Überzeugungen mehr oder weniger gut 60 miteinander zu verbinden. Angewendet auf die hier interessierende Frage des Embryonenschutzes bleibt das Problem, daß derjenige, der die subjektive Uberzeugung hat, der Unterschied der erreichten Entwicklungsstadien sei relevant, im Konsensfindungsverfahren dafür irgendeine Begründung bringen muß; er kann sich nicht mit einer Behauptung begnügen, und so wird eben doch wieder die Antwort auf die Frage fällig, mit welcher Verbindlichkeit man Unterschiede der Natur in Wertungen umsetzen darf. Daß der Positivismus der Zustimmung wahre Argumente ersetzen könne, ist der Haupteinwand gegen die Konsenstheorien. Die einzige Absicherung, die es insoweit geben kann, ist eine Gestaltung der Verfahren, die suggestiven und demagogischen Einwirkungen auf die Teilnehmer am Diskurs vorbeugt. Dann ist nur noch die endgültige Entscheidung zu treffen, ob der erreichte Konsens die aufgestellten Bedingungen erfüllt. Zurück zur Substanz der Behauptung, die in das skizzierte Konsensfindungsverfahren eingebracht werden muss. Wie kann man begründen, daß auf ein ganz bestimmtes fortgeschrittenes Stadium der entelechialen Entwicklung abgestellt werden soll? Selbst wer sich mit Christiane Nüsslein-Volhard auf den Standpunkt stellt, daß eine von der Natur vorgenommene deutliche Zäsur besteht (entgegen der Annahme der Naturwissenschaftler, die bei Entwicklungen Zäsuren überhaupt nicht anerkennen möch59 60
Vgl zu dieser Funktion: Lüderssen Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, aaO, S. 197ff. Vgl dazu die in Lüderssen Genesis und Geltung, S. 216 mitgeteilte Formel.
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ten), muss doch für dieses neue Stadium postulieren, daß nunmehr eine Art Vorwirkung des Schutzes menschlichen Lebens einsetzt. Da es nur die - abstrakt bleibende - Vorstellung von einer besonderen Fortgeschrittenheit der Entwicklung ist, wird ein im Ideellen bleibendes Menschenbild beschworen, für dessen Auszeichnung kein besonderes zusätzliches Argument bereit steht. Wer etwa sagen würde, daß erst dann, wenn der Embryo beginnt, menschliche Gestalt anzunehmen, das Bild vom Menschen gleichsam entstanden sei und nun jene Vorwirkung beanspruchen darf, dem könnte man - ausser der Beschwörung, daß der Embryo schon mit der Einnistung in den Uterus eine signifikante Stufe der Entwicklung erreicht - nichts entgegenhalten. Man sieht jetzt, daß Reinhard Merkel mit seiner These,61 es komme auf die Möglichkeit an, dem zu schützenden nasciturus so etwas wie eine subjektive Verletzbarkeit zuzuschreiben, wirklich eine konkretere Argumentationsebene betritt. Die Voraussetzung für diese Verletzbarkeit ist, nach Merkel, die aktuelle Erlebnisfähigkeit. Systematisch zu Ende gedacht, führt sein Standpunkt, wie ich finde, zu problematischen Konsequenzen für die Probleme, die dann mit Blick auf das Ende des Lebens auftauchen. Merkel tritt dem Vorhalt dieser Konsequenzen entgegen, muss das, kann das gleichsam nicht auf sich sitzen lassen. Aber er tut es, indem er die Konzeption der Erlebnisfähigkeit aus ihren konkreten Realisierungen wieder zurücknimmt, indem er eine „Fundamentalnorm der Ethik und des Rechts" einführt, die auch erlebnisunfähige Wesen etwa einem „Anenzephalus" - in ihren Schutz einschliesst62 und in eine Abstraktion verwandelt, die - methodologisch - derjenigen vergleichbar ist, die, wie oben dargelegt, unter der Devise „Schutz des Lebens" vorgenommen wird. Diese Position ist wissenschaftlich-rational aber nicht verbindlich zu begründen; es entscheidet letztlich ein starkes durch religiös humanistische Tradition geprägtes Gefühl. Demgegenüber scheint mir die Konzeption, die nicht notwendig auf das direkte Leiden des von dem forschenden Zugriff betroffenen „Wesens" abstellt, sondern das Leiden anderer genügen läßt,63 plausibler zu sein - auch als Grundlage für die Abwehr nicht an die Leidensvermeidung oder -minderung geknüpfter Eingriffe beim Embryo. Der Unterschied zwischen Leiden und Nicht-Leiden hat zwar ein Mass von Evidenz, das keiner weiteren Begründung bedarf. 61 62 63
AaO, S. 83 ff. AaO, S. 91. S. oben S. 220 f.
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Aber dann folgt natürlich die Debatte darüber, geringere Leiden gegen höhere abzuwägen. Welche Abstufungen akzeptiert man, welche nicht? Gesetzt, man könnte wissenschaftlich nur mit bereits relativ fortgeschrittenen Embryonen arbeiten, solchen, die vielleicht schon in Umrissen sich der menschlichen Gestalt nähern - wäre dann das möglicherweise schon vorhandene, aber immer noch geringere Leiden dieses Embryos einem viel schlimmeren Leiden eines ganz schwer und unheilbar erkrankten Patienten, dem mit der Embryonenforschung geholfen werden soll, nachzuordnen?. 64 Hier sinken wir in ein Meer von Unsicherheit, zumal auch noch die zeitliche und qualitative Unsicherheitskomponente dazu kommt: irgendwann und keineswegs garantiert manifestiert sich der Forschungserfolg. Also doch zurück zu einem embryonalen Status, der diese „menschlichen" Züge (noch) nicht trägt, so daß wir wieder bei der natürlichen Evidenz der Geringfügigkeit, des absolut fehlenden Leidens angelangt wären? Die Ebene der nicht mehr reduzierbaren Wertung, das Ende der gegeneinander abzuwägenden Zweck-Mittel-Ketten, ist jetzt sicher erreicht. Allerdings ist diese Feststellung der Ausdruck eines Zivilisationsgefühls, dessen Grundlage die Achtung vor immer noch relativ abstrakt bleibenden Ansprüchen auf Leben ist. Man kommt aus dieser Diskussion also ohne derartige Bekenntnisse nicht heraus; eine Erfahrung, vor der man sich in Demut beugen muss ? So sehr man die Vagheit und vor der Autorität einer wirklich überlegenen Vernunft unverbindlich bleibenden Entscheidungen bedauern möchte, so wenig darf man sich verhehlen, daß sie Ausdruck einer epistemologischen Resignation sind, die auf das ganze gesehen die Welt immerhin von den Fanatismen absoluter Überzeugtheit und deren grausamen Konsequenzen befreit hat. V. Damit schwindet freilich auch die methodologische Grundlage für die Gewißheit, daß jedenfalls ein eugenisch programmierter Mensch, „der mit dem Bewusstsein leben muss, „seine Erbanlagen" seien „in der Absicht einer gezielten Einflussnahme auf die phänotypische Ausprägung manipuliert worden" 65 in unserer Welt keinen Platz haben darf. Aber vielleicht kann man an dieser Stelle mit neuen Posten, sozusagen, in die Abwägungsdebatte eintreten. Die keiner weiteren Begründung bedürftige - niemand verlangt sie jedenfalls - Pflicht, nach Kräften schwer leidenden Menschen zu helfen, stößt selbstverständlich auf Grenzen dort, wo ihre Erfüllung
64
Vgl die bei Merkel
65
Jürgen Habermas aaO, S. 121.
aaO, S. 93 aufgeführten Fälle.
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nur unter Inkaufnahme schwerer Leiden anderer, etwa der - um einen ganz eindeutigen Fall zu bezeichnen - leichten körperlichen Verletzung eines nicht zur Organspende Bereiten möglich ist. Wäre die notwendige oder wenigstens schwer zu vermeidende Folge der Embryonenfreigabe wirklich der „Dammbruch" oder die Eröffnung einer „schiefen Ebene" 66 zur schrankenlosen Eugenik, hätte wohl (gegenwärtig) niemand den Mut, das ä conto der für die Embryonenforschung möglich gemachten Heilung Schwerkranker in Kauf zu nehmen. Es sind nicht nur physische Leiden anderer, deren Antizipation diese Entscheidung hindern würde. Vielmehr kommt eine Konzeption vom gesamten Menschen ins Spiel, die am deutlichsten wohl mit dem Bedürfnis nach Identitätswahrung bezeichnet ist. Das ist eine unübersteigbare Grenze. Diese anthropozentrische Grundannahme beherrscht unser Weltbild. Im Falle der beliebigen Reproduzierbarkeit des Menschen ist die Wahrung seiner Identität nicht mehr gewährleistet. Damit ist der Stab über das Klonen eines ganzen Menschen gebrochen. Dieser Schritt aus der unbeeinflussbarselbstplanenden Natur heraus in eine rein kalkulatorische Mechanik ist ein Tabu. Mit diesem Wort ist bewusst eine Grenze zur rationalen Argumentation gezogen. 1) Doch wie trennscharf ist das Tabu? Geburtenplanung ist längst etabliert, auch mit Blick auf durch moderne pränatale Untersuchungsmethoden antizipierbare Details. Die Präimplantationsdiagnostik läßt weitere Alternativen zu. Man kann jetzt genetische Vorbestimmungen treffen, die so spezifisch sind, daß man schon von Manipulation der Natur spricht und sich entsetzt abwendet, a) So lange noch nicht alles sozusagen „aus der Retorte" ist, könnte man zum Klonen noch einen qualitativen Sprung konstruieren - oder haben wir es mit einem fliessenden Ubergang zu tun? Man könnte sagen, daß der Sprung erst bei der Reproduzierbarkeit und möglichen Vervielfältigung beginnt; dann nämlich erst ist die Identität eindeutig nicht mehr gegeben. Ist - ungeachtet der planenden Aktivität - ein und derselbe Mensch das Ziel, bleibt die Identität erhalten. Kann man die Beseitigung der Identität oder die Verhinderung ihrer Entstehung aber vielleicht einem bestimmten Grad von Identitätsveränderung gleichsetzen? J e d e Richtungsbestimmung wird man dafür sich nicht genügen lassen können, insofern ist die normativ akzeptierte Entwicklung schon zu weit vorgeschritten; die völlige Kontingenz der Natur regiert uns ja längst nicht mehr. Intuitiv werden gegenwärtig gleich66
Habermas aaO.
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Klaus Lüderssen wohl auch in diesem Rahmen tabus registriert. Man möchte keine Willkür, keine Geschmacksentscheidungen dulden. Bedeuten Identitätsveränderungen dieser Provenienz dasselbe wie die Abschaffung der Identität? Wieder stehen wir vor der Frage, welche Relevanz für normative Entscheidungen deskriptiv erfassbare Unterschiede in der Realität haben, oder ob es so ist, daß diese Relevanz erst nach einer normativen Vorentscheidung in den Blick kommt. Die Frage mag auch hier offen bleiben, so lange man bei dem Vergleich der Zweck-Mittel-Ketten zu akzeptablen Ergebnissen kommt. Gelingt das nicht, stösst man vielmehr auf unreduzierbare Wertfragen, so müssen sie beantwortet werden, b) Als Wertfragen dieser Art sind im Rahmen der bisherigen Erörterungen „Leiden" und „Identitätsmangel" bestimmt worden. Kann man die Ydtntitaxsveränderung nicht ohne weiteres in die Nähe des Identitätsm^wge/s rücken, so gibt es vielleicht - mit umgekehrtem Vorzeichen freilich - eine Anknüpfung an den topos des Leidens: Erst wenn die Ablehnung der Identitätsveränderung bedeutet, relevante Leiden zu produzieren, darf man sich über diese Entscheidung hinwegsetzen. Die Manipulation, mit der verhindert wird, daß etwa ein Schwerbehinderter Mensch zur Welt kommt, ist also erlaubt. Daß es schwere Behinderungen sein müssen, ist der Konsens. 2) Wenn nur das die Voraussetzung dafür sein darf, daß auch Identitätsveränderungen hingenommen werden, muss die oben noch hypothetisch gebliebene letzte Frage beantwortet werden: Kann garantiert werden, daß nur diese Fälle der Identitätsveränderung als Folge einer Freigabe der Embryonenforschung zur Debatte stehen werden, nicht aber die anderen, also diejenigen, bei denen es nicht um die Vermeidung Schwerbehinderten Daseins geht, so ist nichts gegen die Freigabe einzuwenden. Das ist die Frage nach den Risiken des Missbrauchs einer Erlaubnis. Diesem Risiko ist fast jede rechtliche Erlaubnis ausgesetzt. In der Regel wird daher eine Erlaubnis bloss wegen der Möglichkeit ihres Missbrauchs, sei es im Einzelfall, sei es als Norm, nicht verweigert. Gegebenenfalls sehen die Juristen vielmehr in der Etablierung eines Netzwerks, das dem Missbrauch vorbeugen oder die Grundlagen für seine Bekämpfung abgeben kann, jeweils ihre besondere Aufgabe (vergleichbar vielleicht dem Umgang der medizinischen Wissenschaft und Praxis mit Nebenwirkungen eines für die Erreichung des angestrebten Zieles an sich geeigneten Mittels, wobei die Inkaufnahme des Problems der Nebenwirkungen in dem Masse favorisiert wird, wie
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die Mittel geeignet oder sogar als nicht verzichtbar erscheinen). Die erste Bedingung ist dabei, daß der Missbrauch von den erlaubten Fällen klar und verbindlich abgegrenzt werden kann. Hier werden nun, was die Freigabe der Embryonenforschung angeht, Zweifel angemeldet. Kann man sich über einen Katalog von Behinderungen einigen, die eine Identitätsveränderung erlauben? Und ist die Beachtung dieses Katalogs kontrollierbar? Die Zweifel beziehen sich vor allem auf die erste Aufgabe und hemmen von vornherein die Phantasie für die Erfüllung der zweiten. Die Debatte über die Kriterien für den Behinderungskatalog wird nicht stillstehen, die Bedürfnislage der Betroffenen wird permanent reflektiert werden und neue Ansprüche hervorbringen. Aber Bewegungen dieser Art sind nichts ungewöhnliches; stets ist das Recht im Wandel, trotz damit konkurrierender Sicherheits- und daraus abgeleiteten Beständigkeitsinteressen. Worauf es entscheidend ankommt, ist die Unangreifbarkeit des Grundsatzes: Die Abwendung von Leiden muss die Parole bleiben; dieses Prinzip darf durch kein anderes ersetzt werden. Was aber Leiden im einzelnen ausmacht, wieviel zu ertragen der rechtssetzende und -verwaltende Teil der Menschheit dem anderen Teil (und freilich auch sich selbst) zuzumuten sich entschliesst, wird der Diskussion nicht entzogen werden dürfen. Wer die Embryonenschutz-Gesetzgebung neu gestalten will, muss also die Missbrauchsfälle vorauszusehen und im einzelnen abzuschätzen bemüht sein. Allgemein kann man von der Gesetzgebung nicht sagen, daß sie in dieser Tugend Grosses zu leisten pflegt; die Rechtsprechung ist es meistens, die auffangend und korrigierend tätig wird und sich dabei meistens bewährt. Doch jede neue Gesetzgebung ist gehalten, sich nicht unbedingt darauf zu verlassen; sie sollte sich an die gar nicht zu geringe Zahl insoweit guter Beispiele, zum Beispiel im Steuerrecht, halten. Im einzelnen können im Rahmen des für diesen Text verfügbaren Platzes dazu keine Vorschläge gemacht werden. Aber ich möchte doch der Hoffnung Ausdruck geben, daß auf dem hier angedeuteten Wege eine Konzeption sichtbar wird, der es erspart bleibt, in die Nähe einer Praxis der „Selektionen" gerückt zu werden. Was man damit auf dem Hintergrund unserer Geschichte und gelegentlich wild wuchernder futuristischer Spekulationen gegenwärtig zu assoziieren pflegt, hat nichts zu tun mit dem Lebensgefühl der Menschen, welche ihre (auch durch die christliche Religion gewährten) Freiheiten nutzen, sich ihrer Leiden bewusst zu werden und daraus das (ebenfalls nicht unchristliche) Recht ableiten, sie sofern das nicht auf Kosten anderer Leidender geschieht - zu mindern.
Zur Sitzblockade als Drohung mit einem empfindlichen Übel FRIEDRICH-CHRISTIAN
SCHROEDER
I. Einführung In seiner berühmten Entscheidung, in der der BGH die Sitzblockade der Kölner Straßenbahn wegen der „Iniaufsetzung eines psychisch determinierten Prozesses" zur Gewalt im Sinne des Nötigungstatbestandes erklärt hatte, hat er ausgeführt, daß die weitere Begehungsform des § 240 StGB, nämlich die Drohung, der Annahme von Gewalt nicht im Wege stehe, sondern höchstens dazu führen könnte, Sitzblockaden auch als Drohung mit einem empfindlichen Übel anzusehen.1 Eine Reihe von Autoren hat hieraus den Schluß gezogen, daß Sitzblockaden - jedenfalls auch - die Drohung mit einem empfindlichen Übel seien.2 Zu ihnen gehörte auch Dieter Meurer,;3 Nach der Verwerfung der Beurteilung der Sitzblockaden als Gewalt durch das BVerfG4 hat sich vor allem Herzberg diese Argumentation zu eigen gemacht;5 er warf dem BVerfG mit der Nichtberücksichtigung eine Oberflächlichkeit aus dem politischen Willen zur Straflosstellung heraus vor, der der ärgste Feind der Wahrheit sei. War also der Sitzblockaden-Beschluß des BVerfG ein „Schlag ins Wasser"6? Inzwischen haben zahlreiche Autoren mit sehr unterschiedlichen Argumenten das Vorliegen einer Drohung bei der Sitzblockade abgelehnt; der BGH hat auf diese Lösung nicht zurückgegriffen, sondern eine andere Begründung für die Strafbarkeit der Sitzblockade gewählt,7 die Frage allerdings ausdrücklich dahingestellt.8 Es erscheint reizvoll, die zahlreichen Ge1 Β GH St 23, 46, 54. Maurach/Schroeder/Maiwald Strafrecht. Bes. Tl., 7 Aufl, Tlbd. 1, 1988, § 13 Rn 23 (ebenso 8. Auflage 1995); Eser in Schönke/Schröder, StGB, 24. Aufl 1991, Vor §§ 234ff Rn 16; Bergmann Jura 1985, 460f; Offenloch]Z 1988, 13; Schroeder NJW 1985, 2392; Wolter NStZ 1985, 251 f; AG Nürnberg StV 1984, 30. 3 Meurer/Bergmann JR 1988, 49 ff, 50. 4 BVerfGE 92, 1. 5 GA 1996, 557 ff. 6 Herzberg GA 1996, 557 ff. 7 BGHSt 41, 182. 8 BGHSt 41, 187 2
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genargumente auf ihre Stichhaltigkeit hin zu prüfen. Daraus ergibt sich zugleich ein weiterer Einblick in die Grundstruktur der Nötigung, jenes faszinierenden Kindes der deutschen Aufklärung, 9 über dessen Wesen und Typ bis heute und heute sogar wieder vermehrt gestritten wird.
II. Fehlende Ernsthaftigkeit der Drohung? und Paeffgenn machen gegen das Vorliegen einer Drohung mit einem empfindlichen Übel geltend, die Sitzblockierer hätten ihr Überfahrenwerden gar nicht ernsthaft in Kauf genommen und auch nicht diesen Eindruck erwecken wollen. Damit liege keine Drohung bzw. keine Inaussichtstellung eines Übels vor. Diese These ist schon wegen ihrer tatsächlichen Annahme unhaltbar. Denn weshalb haben die vielen Autofahrer bei den Sitzblockaden wohl angehalten? Immer hofft der Drohende, seine Drohung nicht verwirklichen zu müssen, denn er will ja mit ihr gerade etwas anderes erreichen. Priester10
III. Der Gegenstand der Drohung Entscheidend erscheint aber in diesem Zusammenhang ein anderer Gesichtspunkt. Die Unbilden für den Fahrer im Falle seines Weiterfahrens12 können gar nicht als das angedrohte Übel angesehen werden, da der Fahrer sie sich selber zufügt. 13 Hierin liegt ja gerade das Raffinement der Sitzblokkaden: Daß sie dem Opfer nur die Möglichkeit einer Selbstschädigung lassen. Eine Drohung ist jedoch nach ganz h. L. nur die Inaussichtstellung eines Übels, auf dessen Eintritt der Drohende Einfluß zu haben behauptet. 14 Herzberg versucht freilich, das Überfahrenwerden dadurch noch zum angedrohten Übel zu erklären, daß die Blockierer durch das Nichträumen der Straße „ausschlaggebenden Einfluß" auf den Eintritt des Übels hätten.15 Damit würde der Tatbestand der Nötigung jedoch ins Uferlose ausgeweitet.16 MaurackiSchroeder!Maiwald Strafrecht. Bes. Tl., 8. Aufl, Tlbd. 1, 1995, § 13 Rn 1; Schaffstein Festschr.f. Richard Lange, 1976, S. 983ff; Hruschka]Z 1995, 737ff. >° Festschr. für Bemmann, 1997, S. 362ff, 370. 11 Festschr. für Grünwald, 1999, S. 433ff, 465. 12 Als relevantes angedrohtes Übel auch angesehen von Haffke Strafrecht. Bes. Tl., 7. Aufl 1998, S. 125; Rengier Strafrecht. Bes. Tl. II, 3. Aufl 2000, § 23 Rn 40. 13 So auch Priester a a O ; Rheinländer Festschr. für Bemmann, S. 387ff, 407f; Rengier Strafrecht. Bes. Tl. II, 3. Aufl 2000, § 23 Rn 40. Mit anderer Begründung auch Sinn Die N ö tigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 295. 14 Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn 9) § 13 Rn 24. 15 GA 1996, 557ff, 558; GA 1998, 211 ff, 211. 16 Priester {Fn 10) S. 369. 9
Sitzblockade als D r o h u n g mit einem empfindlichen Übel
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Die Möglichkeit, einer fremden Verletzungshandlung auszuweichen, macht das Nicht-Ausweichen noch nicht zur Drohung mit der dadurch herbeigeführten Verletzung.17 Damit ist aber der Fall entgegen der Auffassung der genannten Autoren noch nicht negativ entschieden. Denn schon das Versperren der Straße ist ein empfindliches Übel, mindestens für diejenigen, die zu einem bestimmten Termin wollen oder nach hartem Arbeitstag eine Erholung beim Feierabend brauchen.18 Im Rahmen der auf die Zukunft gerichteten Drohung kommt als Übel allerdings nur das weitere Versperren der Straße in Betracht. Das kann bei bereits begonnener Blockade nur durch ein Unterlassen erfolgen, nämlich die Nichträumung der schon besetzten Straße.19 Die in jedem Fall ausreichende20 Rechtspflicht zum Handeln liegt hier eindeutig vor.
IV. Fehlen der D r o h u n g bei bereits begonnener Ü b e l s z u f ü g u n g ? Nach Sinn kann eine gegenwärtige Übelszufügung nicht zugleich eine erst in Aussicht gestellte sein. Anders würden die Grenzen zwischen gegenwärtiger und noch andauernder Übelszufügung und Ankündigung eines Übels verwischt.21 Dies erscheint jedoch als bloße Behauptung ohne Begründung. Daß Tatbestandsmerkmale keine klare Abgrenzung voneinander haben, gibt es häufiger. In bereits zugefügter Gewalt kann die konkludente Drohung liegen, der körperlich wirkende Zwang werde fortgesetzt. 22
V. A r g u m e n t u m a maiore ad minus aus der Zulässigkeit der Sitzblockade Eingehend hat Hoy er der These von Herzberg widersprochen. Auch er beruft sich zunächst auf ein Plausibilitätsargument: Wenn schon nicht jede Zufügung eines empfindlichen Übels als Gewalt tatbestandsmäßig sei, so dürfe dies erst recht nicht für jede bloße Ankündigung eines empfindlichen Übels gelten. Die Ankündigung eines Übels könne nicht strafbar sein, wenn ihre 17 Unglücklich der Gegensatz zwischen Verhinderungs- und Verwirklichungsherrschaft bei Priester (Fn 10) S. 370 und Rheinländer (Fn 13) S. 408. Denn die Verhinderungsherrschtft kann durchaus zu einer Drohung mit ihrer Nichtausübung und damit mit einem Unterlassen führen. 18 Nicht allerdings für diejenigen, die sich, insbesondere als Willensmittler, über den Aufenthalt freuen {Schroeder NJW 1985, 2392; 1996, 2627ff, 2629). " Zutr. Sinn Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 295. 2° Näher Schroeder J Z 1983, 284 ff, 287 21 Die Nötigung im System des heutigen Strafrechts, 2000, S. 295. 21 Priester (Fn 10) S. 368; B G H NJW 1984, 1632.
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Verwirklichung straflos sei. 23 Dieses Argument wurde schon seit längerem vorgetragen.24 Es hat jedoch überwiegend Ablehnung gefunden. Die Nötigung durch Drohung mit einem empfindlichen Übel erfährt ihre Sozialschädlichkeit nicht durch das angedrohte Übel, sondern dadurch, daß seine Androhung zur Erzielung inkonnexer Vorteile benutzt wird. Für diese Auffassung spricht insbesondere die Aufgabe der früheren Begrenzung der Nötigung auf die Drohung mit einem Verbrechen oder Vergehen durch die Novelle von 1943. Nur nebenbei sei daran erinnert, daß auch die umgekehrte These, daß, wenn schon die Androhung eines empfindlichen Übels eine strafbare Nötigung sei, es erst recht die Zufügung und diese damit Gewalt sein müsse, 25 seit längerem als widerlegt gilt. 26 Offensichtlich sind Analogieund argumentum-a-maiore-ad-minus-Schlüsse von der einen Alternative der Nötigung auf die andere untauglich.
VI. Keine Bedingtheit der Übelsdrohung? Hoy er bleibt denn auch bei dem argumentum a maiore ad minus nicht stehen. Er sieht den Grund für eine entsprechende Einschränkung der Drohungsalternative darin, daß das Wesen der Drohung in der Ermöglichung einer aktiven Opfermitwirkung liege; die Ankündigung der Übelszufügung müsse bedingt sein, indem der Täter die Bereitschaft erkennen lasse, sich sein übelverursachendes Verhalten vom Opfer „abkaufen" zu lassen. Dies hätten die Sitzblockierer nicht getan.27 Von Sinn2S wird diese Äußerung Hoyers dahingehend mißverstanden, er lehne bei einer gegenwärtigen Übelszufügung eine Drohung mit einem zukünftigen Verhalten ab, und damit als Unterstützung für seine ο. IV abgelehnte Auffassung angesehen.29 Dies trifft jedoch nicht zu; Hoyers Einwand geht weiter. Hoyers Ausführungen sind jedoch zu stark auf die Handlungserzwingung30 zugeschnitten. Die Nötigung mittels Drohung kann auch eine bloße Unterlassung zum Ziel haben und hat es bei der Androhung einer Straßenblockade. Beim bloßen erzwungenen Unterlassen kann man kaum von einem „Abkaufen" des Übels und erst recht nicht von einer „aktiven Mitwirkung" sprechen. " GA 1997, 451 ff. 24 Jakobs Festschr. für Peters 1974, S. 69ff, 82f; Horn NStZ 1983, 497ff, 499. 25 Knodel Der Begriff der Gewalt im Strafrecht, 1962, S. 59. Geilen Festschr. für H. Mayer 1966, S. 445ff, 462; Schroeder NJW 1996, 2627ff, 2628f. 2 7 GA 1997, 451 ff. 2» (Fn 21) S. 295. 2 9 So wohl auch Küpper Strafrecht. Bes. Tl. 1, 2. Aufl 2001, Tl. I, § 3 Rn 49. 3 0 S. Schroeder JuS 1995, 875 ff, 876.
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Die größere Strafwürdigkeit der Drohung kann daher auch nicht in der Herbeiführung der aktiven Mitwirkung, sondern allenfalls in deren Möglichkeit bestehen. Diese Möglichkeit besteht aber bei der Nötigung mittels Gewalt ebenfalls, so wenn die Täter durch Lahmlegung des öffentlichen Verkehrsmittels die Benutzung ihrer Taxis erreichen wollen. Ein Unterschied kann allenfalls darin gesehen werden, daß die Nötigung mittels Drohung immer durch Einwirkung auf die Willensentschließungsfreiheit, die Nötigung mittels Gewalt nur ausnahmsweise durch eine solche und in der Regel durch Angriffe auf die Willensbildungsfähigkeit und die Willensbetätigungsmöglichkeit erfolgt. Richtig ist aber, daß die Drohung die bedingte Inaussichtstellung eines Übels bedeutet. Dies ergibt sich schon aus dem Wortsinn, im übrigen auch daraus, daß andernfalls das angedrohte Übel mit dem angestrebten Verhalten des Opfers zusammenfallen würde.31 Ahnlich wie dem BVerfG hat Herzberg daraufhin auch Hoyer vorgeworfen, daß er nur etwas entdeckt habe, weil er es habe entdecken wollen. Herzberg operiert zunächst mit dem Beispiel einer unrechtmäßigen Verhinderung des Wegerechts durch Freilassen eines bissigen Hundes oder durch dessen Ankündigung. Grundsätzlich führt er gegen Hoyer aus, daß der Nötigungstäter dem Opfer das Übel durchaus als ein unbedingtes ankündigen könne, indem er darauf spekuliere, daß der Betroffene ihn von sich aus umzustimmen versuchen werde. Dieser Einwand zielt daneben, denn offensichtlich handelt es sich hierbei um eine konkludent bedingte Drohung. Herzberg gibt denn auch zu, daß die nötigende Drohung normalerweise als Ankündigung bedingter Übelszufügung begegnet.32 Im übrigen sieht Herzberg den „entscheidenden Fehler" Hoyers darin, daß auch die Sitzdemonstranten ihren Opfern das übelverursachende Verhalten nur bedingt in Aussicht stellten, nämlich unter der Bedingung, daß der Fahrer weiterfahre.
VII. Angedrohtes Übel und erstrebtes Opferverhalten decken sich Dieses Argument erscheint auf den ersten Blick schlagend und kaum zu widerlegen. Es verkennt jedoch die Besonderheit des Falles. Die Besonderheit der Androhung einer Sitzblockade liegt darin, daß hier nicht wie im Normalfall der Nötigung durch Drohung mit der nachträglichen „Bestrafung" für den Fall der Vornahme der Handlung gedroht wird, sondern mit der bloßen Verhinderung der Handlung selbst durch die Nichträumung der Straße. Natür31 Schroetter NJW 1996, 2627ff, 2629. S. auch schon Geilen Festschr. für H. Mayer 1966, S. 445ff, 462. " GA 1998, 211 ff.
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lieh wird diese erst wirksam, wenn das Opfer versucht, die Handlung, deren Unterlassung erstrebt wird, vorzunehmen. Dies ist jedoch nicht die Bedingung, die wir Vertreter des Erfordernisses einer Bedingtheit der Drohung meinen. Wir gehen aus von einer Heterogenität von angedrohtem Übel und Unterlassung der vom Opfer erstrebten Handlung. Dabei muß das angedrohte Übel, um wirksam zu sein, für das Opfer empfindlicher sein als die von ihm verlangte Unterlassung und kann sich demgemäß nicht mit ihm decken.33 Hier zeigt sich nun, daß Herzbergs Argumentation nur zutrifft auf der Basis seiner Annahme, das angedrohte Übel bei den Sitzblockaden bestehe in dem Überfahrenwerden der Drohenden. Dies zeigt sich auch an Herzbergs weiterem Beispiel mit der Verhinderung des Betretens eines Grundstücks durch einen bissigen Hund (nach Herzberg sogar ein Bullterrier!). Daß die Täter bei den Sitzblockadefällen mit ihrem Überfahrenwerden „drohen", wurde jedoch schon o. III zurückgewiesen. Damit zeigt sich allerdings auch, daß Hoyers Argument, mit dem er die Bedingtheit der Drohung ablehnt, nämlich daß die Demonstranten ankündigten, in jedem Fall nicht beiseite zu treten, unabhängig davon, wie sich die Autofahrer verhalten,34 an der Sache vorbeiführt. Eine Drohung mit einem empfindlichen Übel würde auch fehlen, wenn die Demonstranten angeboten hätten, bei einem Verzicht der Autofahrer auf die Durchfahrt ihrerseits auf die Blockade zu verzichten. Die hier dargelegten Grundsätze gelten über die Drohung mit weiterer Sitzblockade hinaus für alle Fälle der Verhinderungsdrohung. Damit löst sich auch ein weiterer von Herzberg zur Unterstützung seiner Auffassung gebildeter Fall, nämlich das Angebot an den herankommenden Autofahrer, ihn durchzulassen, wenn er an einer bestimmten Stelle 30 m vor ihnen kurz anhalte.35 Denn hier wird nicht mit der bloßen Verhinderung eines Verhaltens gedroht, sondern mit der Verhinderung für den Fall der Nichtvornahme einer anderen Handlung. Es handelt sich damit um eine Handlungserzwingung;36 das angedrohte Übel und die zu erzwingende Handlung decken sich nicht; das angedrohte Übel (völlige Verhinderung der Durchfahrt) ist größer als das erzwungene Verhalten (kurzfristiges Anhalten). Daß das erzwungene Verhalten in diesem Fall weniger schwer wiegt als bei der Androhung der völligen Durchfahrtsverhinderung,37 ist kein Gegenargument, da nicht jede Verhinderung eines fremden Verhaltens unter Strafe steht. Schroeder {Fn 26) S. 2629. - So auch andeutungsweise Sinn (Fn 19) S. 295. « GA 1997, 451 ff, 456. " GA 1998, 212. 36 Das kurzfristige Anhalten stellt sich schon nach dem körperlichen Verhalten (Bremsen), vor allem aber nach dem sozialen Sinngehalt als Handlung dar. Aber selbst wenn man hier ein - kurzfristiges - Unterlassen der Weiterfahrt annehmen wollte, ändert sich an den aufgezeigten Konstellationen nichts. 37 Herzberg aaO. 33
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VIII. Schluß Es ist schmerzlich, daß sich Dieter Meurer zu der hier vorgetragenen Auffassung, die im Widerspruch zu einer von ihm selber - allerdings vor der Entscheidung BVerfGE 92, 1 - vertretenen Auffassung steht, 38 nicht mehr äußern kann. Wie in vielen anderen Fragen wäre der Dialog mit ihm anregend und fruchtbar und - nicht zuletzt - voller Humor 3 9 gewesen. So kann diese Abhandlung nur dazu beitragen, die Erinnerung an ihn wachzuhalten.
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Siehe oben Fn 3. Unvergeßlich für die Beteiligten die Rede, die er am Abend des polnisch-deutschen Strafrechtskolloquiums in Bialystok am 16. 9. 1995 auf einen von mir angebissenen Apfel gehalten hat. 39
Auswirkungen des § 241a BGB auf das Strafrecht FRITJOF H A F T u n d JÖRG
EISELE
I. Einführung in die Problematik Dieter Meurer, dem zu Gedächtnis diese Schrift erscheint, hat in seinem reichen wissenschaftlichen Oeuvre stets den Grenzbereichen des Strafrechts besondere Beachtung geschenkt. Zu diesen klassischen Grenzbereichen gehört auch die Frage, inwieweit das Privatrecht Einfluss auf strafrechtliche Regelungen nehmen soll. Eine Untersuchung zu dieser Thematik anhand eines konkreten gesetzgeberischen Reformvorhabens soll daher das Andenken an einen bedeutenden Rechtswissenschaftler und guten Freund ehren, der uns allen so viel gegeben hat, und der zu unserer Trauer und unserem Schmerz viel zu früh von uns gegangen ist. Bei der Umsetzung der Fernabsatzrichtlinie der Europäischen Gemeinschaft1 hat der deutsche Gesetzgeber die Vorschrift des § 241a BGB geschaffen.2 § 241a Abs. 1 BGB bestimmt, dass durch die Lieferung unbestellter Sachen oder durch die Erbringung unbestellter sonstiger Leistungen durch einen Unternehmer (§ 14 BGB) an einen Verbraucher (§ 13 BGB) ein Anspruch gegen den Verbraucher nicht begründet wird. Die h.M. geht davon aus, dass die Vorschrift einen umfassenden Ausschluss aller vertraglichen und gesetzlichen Ansprüche des Unternehmers regelt.3 Der Unternehmer soll demnach - trotz Ubersendung der Ware - zwar Eigentümer der Sache bleiben,4 jedoch soll er diese vom Verbraucher nicht mehr gemäß §§ 812, 985 BGB zurückfordern können. 5 Der in § 241a BGB normierte zivilrecht1
EG-Richtlinie 97/7 vom 20. Mai 1997, AB1EG 1997 N r L 144, S. 19ff. BGBl. I 2000, S. 897 (899). 3 St. Lorenz]uS 2000, 833 (841); Kramer in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Aufl 2001, § 241a R n 13; Fzlmdt/Heinrichs Kommentar zum BGB, 60. Aufl 2001, § 241a Rn 3; Riehm JURA 2000, 505 (512); Rüthers/Stadler Allgemeiner Teil des BGB, 11. Aufl 2001, § 17 R n 26; Schwarz JuS 2001, 1449; Schwan/Pohlmann J U R A 2001, 361 (362); Sosnitza BB 2000, 2317 (2319); Wendehorst DStR 2000, 1311 (1316f). 4 D a z u näher unten IV. 5 Vgl Berger JuS 2001, 649 (652); St. Lorenz JuS 2000, 833 (841); Kramer in: Münchener Kommentar (Fn 3), § 241a Rn 13; Riebm]URA 2000, 505 (512). Anders Dörner m: H a n d kommentar BGB, 2001, § 241a Rn 6; Casper ZIP 2000, 1602 (1607), der im Falle der Verweigerung der Herausgabe sogar eine H a f t u n g des Verbrauchers nach §§ 987 ff BGB annehmen will. Er bejaht einen Herausgabeanspruch, weil der Verbraucher dadurch wieder von 2
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liehe Anspruchsausschluss soll allerdings noch weiter gehen: Verwendet der Verbraucher die Sache für sich, so kann der Unternehmer keine Ansprüche auf Nutzungsersatz nach §§ 812ff, 987ff BGB gegen ihn geltend machen. 6 Zerstört der Verbraucher die ihm unverlangt übersendete Sache, so stehen dem Unternehmer auch keine Schadensersatzansprüche nach §§ 823 Abs. 1, 989ff BGB zu. 7 Nutzungsersatz- und Schadensersatzansprüche sind damit ausgeschlossen, obwohl sie nicht unmittelbar „durch die Lieferung" der Sache, sondern erst aufgrund eines weiteren Verhaltens des Verbrauchers begründet werden. Da das Eigentum an der Ware jedoch weiter dem Unternehmer zusteht, verwirklicht der Verbraucher, wenn er die ihm zugesandte fremde Sache vorsätzlich beschädigt oder zerstört, den Straftatbestand der Sachbeschädigung, § 303 StGB. Nutzt er die Sache für sich, so stellt sich die Frage, ob er sich wegen Unterschlagung, § 246 StGB, strafbar macht. Es liegt auf der Hand, dass angesichts des ultima ratio-Charakters des Strafrechts 8 solche Widersprüche im Vergleich zur zivilrechtlichen Rechtslage nicht akzeptabel sind. 9 Aber auch in der Sache selbst wäre die Annahme, dass sich der Verbraucher in den genannten Fällen strafbar macht, kaum überzeugend. Denn in den Gesetzesmaterialien zu § 241a BGB wird der Ausschluss der Ansprüche gegen den Verbraucher als wettbewerbsrechtliche Sanktion gegen den Unternehmer bezeichnet 10 und auf Art. 15 des portugiesischen Gesetzesdekrets Nr. 272/87 verwiesen, wonach der Empfänger unbestellter Erzeugnisse diese kostenlos behalten darf. Nach Ansicht des Gesetzgebers soll der zivilrechtliche Ausschluss der Ansprüche letztlich auf eine Schenkung an den Verbraucher hinauslaufen.11
der ihm aufgedrängten Ware befreit werde. Dagegen spricht aber, dass der Verbraucher dadurch gezwungen würde, die Abholung durch den Unternehmer zu vereinbaren und den Gegenstand bis dahin zu verwahren; vgl ÄergerJuS 2001, 649 (653); Schwarz.]\xS 2001, 1449 (1450). PalandtIHeinrichs (Fn 3), § 241a Rn 4, möchte im Wege einer teleologischen Reduktion dem Unternehmer dann einen Herausgabeanspruch gewähren, wenn das unverlangte Zusenden der Ware im Einzelfall doch keinen Verstoß gegen das UWG darstellt. 6 St. Lorenz JuS 2000, 833 (841); Kramer in: Münchener Kommentar (Fn 3), § 241a Rn 13; Riehm JURA 2000, 505 (512). Α. A. .SergerJuS 2001, 649 (652). 7 Arger JuS 2001, 649 (653); St. Lorenz JuS 2000, 833 (841); Kramer in: Münchener Kommentar (Fn 3), § 241a Rn 13; Riehm ]\JKA 2000, 505 (512). 8 Dazu Haft Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl 1998, S. 121; Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 3. Aufl 1997, § 2 Rn 38 ff; zur ultima ratio-Funktion des Strafrechts am Beispiel der Sachbeschädigung durch Graffiti vgl Eisele JA 2000, 101 (102). 9 Anders offenbar Schwarz NJW 2001, 1449 (1453 f), der eine Strafbarkeit des Verbrauchers in den genannten Fällen bejaht. 10 BT-Drs. 14/2658, S. 46; vgl ferner Riehm JURA 2000, 505 (511); Schwarz JuS 2001, 1449; Schwan/Pohlmann JURA 2001, 361; Sosmtza BB 2000, 2317 (2320). 11 BT-Drs. 14/2658, S. 46; Riehm JURA 2000, 505 (512) - quasi „geschenkt"; dagegen Casper ZW 2000, 1602 (1607).
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II. Europarechtliche Vorgaben und die Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber Wie bereits eingangs erwähnt, beruht § 241a BGB auf der EG-Fernabsatzrichtlinie. Art. 9 zweiter Spiegelstrich der Richtlinie fordert von den Mitgliedstaaten, dass diese die erforderlichen Maßnahmen treffen, um den Verbraucher von jedweder Gegenleistung für den Fall zu befreien, dass unbestellte Waren geliefert oder unbestellte Dienstleistungen erbracht werden, wobei das Ausbleiben einer Reaktion des Verbrauchers nicht als Zustimmung gelten darf. Erwägungspunkt 5 der Begründung zur Richtlinie verweist auf die Notwendigkeit, Käufer vor der Forderung nach Zahlung nicht bestellter Waren und aggressiven Verkaufsmethoden zu schützen. Die europäischen Vorgaben, die den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung in nationales Recht einen Spielraum belassen,12 sehen freilich nicht zwingend einen umfassenden Ausschluss der Ansprüche des Unternehmers vor, wenn dort lediglich an die Befreiung von der „Gegenleistung" für die Lieferung der Ware angeknüpft wird. Damit wäre es beispielsweise keineswegs obligatorisch gewesen, den Ausschluss auch auf Herausgabeansprüche gegen den Unternehmer zu erstrecken. Der deutsche Gesetzgeber war jedoch der Auffassung, dass der umfassende Ausschluss als Sanktion für den Wettbewerbsverstoß des Unternehmers angemessen sei.13 Der Verbraucher gerate durch die Zusendung unbestellter Ware in eine missliche Lage, weil er nicht wisse, welche Rechte und Möglichkeiten er habe.14 Darüber hinaus wird argumentiert, dass dem Versender vorgeworfen werden könne, dass er die Trägheit des Empfängers ausnutze, wenn dieser die Ware letztlich nur deshalb behalte, weil ihm das Zurücksenden der Ware als zu umständlich und lästig erscheine.15 Aus diesem Grund soll der in Art. 9 der Fernabsatzrichtlinie enthaltene Begriff der „Gegenleistung" nicht nur im Sinne einer im Gegenseitigkeitsverhältnis stehenden Zahlungspflicht zu verstehen sein. Vielmehr liege aufgrund der verbraucherschützenden Gesamtintention der Richtlinie eine weite Auslegung nahe, so dass ein umfassender Anspruchsausschluss im nationalen Recht vorzusehen sei.16 Im Ergebnis ist der deutsche Gesetzgeber damit über das von der Richtlinie geforderte Mindestmaß des Verbraucherschutzes hinaus11 Dazu näher Oppermann Europarecht, 2. Aufl 1999, § 6 Rn 547ff; für den Bereich des Strafrechts Eisele JA 2000, 991 (994f); ders. JZ 2001, 1157ff. 11 BT-Drs. 14/2658, S. 46; ferner BT-Drs. 14/2658, S. 22, wonach die Zusendung unbestellter Ware mit einer Zahlungsaufforderung in der Regel gegen § 1 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb verstoße; vgl ferner BT-Drs. 14/3195 - Beschluss und Bericht des Rechtsausschusses. Kritisch zu dieser Sanktionierung mit Mitteln des Zivilrechts Berger JuS 2001, 649 (651). >< BT-Drs. 14/2920, S. 14. 15 Vgl Sosnitza BB 2000, 2317 14 BT-Drs. 14/2658, S. 23 f.
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gegangen.17 Unter europarechtlichen Gesichtspunkten ist dies jedoch nicht zu beanstanden, da Art. 14 der Fernabsatzrichtlinie den Mitgliedstaaten ausdrücklich gestattet, strengere Vorschriften zu erlassen. O b einem solch weiten Anspruchsausschluss und der Sanktionierung des wettbewerbswidrigen Verhaltens des Unternehmers mit Mitteln des Zivilrechts rechtspolitisch beigepflichtet werden kann, soll im Folgenden nicht weiter diskutiert werden.18 Vielmehr ist zu untersuchen, inwieweit die Vorschrift des § 241a BGB Bedeutung auch für das Strafrecht gewinnt. Dies hängt letztlich ganz wesentlich von der dinglichen Rechtslage bezüglich der übersendeten Ware ab.
III. Verfassungsrechtliche Bedenken Friktionen zwischen Zivilrecht und Strafrecht wären dann nicht zu befürchten, wenn die Neuregelung verfassungswidrig wäre. Teilweise wird § 241a BGB im Hinblick auf Art. 14 GG als verfassungsrechtlich bedenklich bezeichnet, da die Vorschrift einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Eigentum des Unternehmers anordne.19 Im Hinblick auf die Prüfung des Art. 14 GG ist zunächst festzuhalten, dass der Ausschluss der Ansprüche nicht zu einer Enteignung des Unternehmers führt.20 Eine Enteignung läge nur dann vor, wenn dem Eigentümer das Eigentum durch ein Gesetz oder einen hoheitlichen Akt ganz oder teilweise entzogen würde.21 Richtigerweise handelt es sich daher um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung für das Eigentum, weil der Unternehmer durch eine generelle und abstrakte Regelung mit Sank-
Casper ZIP 2000, 1602 (1604); Schwarz/Pohlmann JURA 2001, 361 (365f). w Dagegen könnte immerhin sprechen, dass von dem weitgehenden Anspruchsausschluss beispielsweise auch Fälle erfasst werden, in denen ein Antiquar einem potenziellen Interessenten - der sogar möglicherweise schon zuvor ähnliche Käufe getätigt hat - ohne vorherige Anfrage ein wertvolles Buch zur Ansicht übersendet; vgl Berger JuS 2001, 649 (651); Vihndt/Heinrichs (Fn 3), § 241a Rn 4. Keine unbestellte Zusendung liegt vor, wenn eine Vereinbarung vorliegt, wonach der Unternehmer dem Verbraucher Bücher zur Ansicht zusenden soll; Kramer in: Münchener Kommentar (Fn 3), § 241a Rn 7. 19 BT-Drs. 14/2920, S. 5 - Stellungnahme des Bundesrats; ferner Palandt/Heinrichs (Fn 3), § 241a Rn 4; Schwarz JuS 2001, 1449 (1454); Schwarz/Pohlmann JURA 2001, 361. Deckers NJW 2001, 1474, meint, dass der Annahme einer Verfassungswidrigkeit durch eine verfassungskonforme Auslegung begegnet werden könne, wonach der Herausgabeanspruch nicht ausgeschlossen sei, wenn der Unternehmer innerhalb angemessen kurzer Frist zur Abholung der Sache bereit ist. Ferner sei eine Haftungsfreistellung des Verbrauchers wegen Beschädigung oder Zerstörung der Sache zu verneinen, wenn dem Unternehmer zuvor keine Gelegenheit zur Abholung der Ware gegeben wird. 20 So auch Casper ZIP 2000, 1602 (1606); Riehm JURA 2000, 505 (512); Schwarz/Pohl»mtozJURA 2001, 361 (365). 21 Vgl z.B. BVerfGE 24, 367 (394); BVerfGE 72, 66 (76); Wendtin: Sachs, Grundgesetz, Kommentar, 2. Aufl 1999, Art. 14 Rn 148ff; Wielandt in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 1996, Art. 14 Rn 69. 17
Auswirkungen des § 2 4 1 a B G B auf das Strafrecht
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tionen belegt wird, wenn er sein Eigentum unaufgefordert einem Verbraucher zusendet, um diesen zu einem Kauf zu bewegen. 22 Dafür, dass diese Regelung auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt, lässt sich anführen, dass gesetzliche Ansprüche des Unternehmers nach § 241a Abs. 2 BGB dann nicht ausgeschlossen sind, wenn die Leistung nicht für den Empfänger bestimmt war oder in der irrigen Vorstellung einer Bestellung erfolgte und der Empfänger dies erkannt hat oder bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen können. 23 In allen übrigen Fällen beruht der Anspruchsausschluss auf einer freien Entscheidung des Unternehmers, weil er bewusst in wettbewerbswidriger Weise die Ware an den Verbraucher übersendet. 24 Er muss daher bereits mit der Zusendung der Ware das Risiko des Ausschlusses von Ansprüchen einkalkulieren und ist daher nicht schutzwürdig.25
IV. Dingliche Rechtslage Eigentumsübergang auf den Verbraucher? Die für die Problematik der unbestellten Zusendung von Waren besonders bedeutsamen Straftatbestände der §§ 246, 303 StGB knüpfen an eine für den Verbraucher fremde Sache an. Aus diesem Grund bedarf es einer näheren Untersuchung, ob und inwieweit ein rechtsgeschäftlicher oder gesetzlicher Eigentumsübergang auf den Verbraucher bei Zusendung unbestellter Ware gegeben sein kann. J 241a Abs. 1 BGB bringt zunächst deklaratorisch zum Ausdruck, dass durch die bloße Ubersendung unbestellter Waren an den Verbraucher kein schuldrechtlicher Vertrag zustande kommt, aus dem eine Gegenleistungspflicht des Verbrauchers entstehen kann. 26 Der Gesetzgeber war diesbezüglich der Ansicht, dass die Zusendung unbestellter Ware zwar ein Angebot zum Vertragsschluss i.S.d. §§ 145ff BGB darstelle. Eine Annahme setze allerdings mehr als lediglich die Entgegennahme und Öffnung der unbestell22 Casper ZIP 2 0 0 0 , 1602 (1606); Riehm]VKA 2 0 0 0 , 5 0 5 (512); Scbwarz/Pohlmann]VKh 2001, 361 (365). Allgemein zu den Voraussetzungen der Inhalts- und Schrankenbestimmung BVerfGE 72, 6 6 (76); Wendtm: Sachs (Fn 21), Art. 14 R n 5 4 f f ; Wielandt in: Dreier (Fn 21), Art. 14 R n 78ff und 123 ff.
« Sosnitza BB
2 0 0 0 , 2317 (2319). Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates BT-Drs. 14/2920, S. 14; BT-Drs. 14/3195, S. 32 - Beschluss und Bericht des Rechtsausschusses. Riehm]\JKK 2 0 0 0 , 5 0 5 (512f), ist der Auffassung, dass die Pflicht zur Abholung der zugesandten Ware auf Kosten des Unternehmers möglicherweise ein milderes, aber gleich geeignetes Mittel zur Erreichung des wettbewerbsschützenden Zweckes gewesen wäre. Hiergegen spricht freilich, dass die Vereinbarung eines Abholungstermins und die Bereithaltung der Ware ebenfalls mit einer Belästigung des Verbrauchers verbunden ist. 24
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Ä r g e r JuS 2001, 6 4 9 (651). Riehm J U R A 2 0 0 0 , 5 0 5 (511).
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ten Sendung voraus, da das bloße Schweigen grundsätzlich nicht als Annahmeerklärung zu werten sei. 27 Insoweit meint der Gesetzgeber, dass er nur auf die allgemeinen Grundsätze des Vertragsrechts verweist. 28 Allerdings stellt sich die Frage, ob durch § 241a BGB die Vorschrift des § 151 BGB modifiziert wird, die ausnahmsweise auf den Zugang der Annahmeerklärung beim Antragenden verzichtet, wenn eine solche Erklärung nach der Verkehrssitte nicht zu erwarten ist. 29 In den Fällen der Ubersendung von unbestellter Ware könnte demnach die Annahme des Angebots möglicherweise bereits im Nutzen der Sache durch den Verbraucher gesehen werden, so dass ein schuldrechtlicher Vertrag zustande kommen würde. 30 Zugleich wäre dann die weitere Frage zu erörtern, ob in solchen Handlungen des Verbrauchers nicht auch die Annahme eines dinglichen Ubereignungsangebots zu sehen wäre. In diesem Fall würde der Verbraucher Eigentum an der Ware erlangen, so dass eine strafrechtliche Verantwortlichkeit ausscheiden würde. Der Gesetzgeber hat diesbezüglich leider die notwendige Weitsicht vermissen lassen und sich mit dem Verhältnis von § 241a BGB zu § 151 BGB nicht auseinander gesetzt. Da der Verbraucher nach dem Willen des Gesetzgebers jedoch keinen Nutzungsersatz zu leisten hat und die Ware praktisch als „geschenkt" ansehen kann, 31 wäre es von diesem Standpunkt widersprüchlich, wenn man im Behalten und Nutzen des Gegenstandes eine Vertragsannahme - mit der Folge der Verpflichtung zur Kaufpreiszahlung - sehen wollte. Aus diesem Grund ist letztlich hinsichtlich der Bejahung eines Annahmewillens des Verbrauchers bei Nutzung des Gegenstandes Zurückhaltung geboten. 32 Ein schuldrechtlicher Vertrag dürfte daher im Regelfall
BT-Drs. 14/2658, S. 22. BT-Drs. 14/2658, S. 46. Dazu, dass das Schweigen grundsätzlich keine Annahme eines Vertrages begründet, vgl Bork Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 2001, § 15 Rn 574; Flume Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd II, 4. Aufl 1992, § 35 II 4; Larenz/Wolf Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 8. Aufl 1997, § 28 Rn 47 Ein Vertrag kommt ferner nicht in Konstellationen zustande, in denen der Verbraucher das Angebot nach § 146 Var. 1 BGB ablehnt oder eine etwaige vom Unternehmer gesetzte Annahmefrist i.S.d. §§ 146 Var. 2, 148 BGB ohne Annahmeerklärung ablaufen lässt. 2 9 § 151 BGB verzichtet nicht auf die Annahmeerklärung an sich, sondern lediglich auf das Erfordernis des Zuganges beim Antragenden; vgl Bork (Fn 28), § 18 Rn 749; Flume (Fn 28), § 35 II 3; Larenz/Wolf (Fn 28), § 30 Rn 2. Vgl Bork (Fn 28), § 18 Rn 750; Flume (Fn 28), § 35 II 3; Larenz/Wolf {Fn 28), § 30 Rn 17. 31 Dazu bereits oben I. 32 Dömer in: Handkommentar BGB (Fn 5), § 241a Rn 7; Ch. Hirsch Der Allgemeine Teil des BGB, 4. Aufl 2001, S. 112; St. LorenzJuS 2000, 833 (841); Kramer in: Münchener Kommentar (Fn 3), § 241a Rn 11; RiehmJVKK 2000, 505 (512); Schwan JuS 2001, 1449 (1451); Sosnitza BB 2000, 2317 (2323). Soweit Ansprüche wegen Nutzung und Verbrauch nicht von § 241a BGB als ausgeschlossen angesehen werden, wird ein Vertragsschluss in weiterem Umfange angenommen; so Berger JuS 2001, 649 (654); Casper ZIP 2000, 1602 (1607); Löhnig]K 2001, 33 (34); ferner Rüthers/Stadler (Fn 3), § 17 Rn 26. 27 28
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nur dann zustande kommen, wenn der Verbraucher die Ware bezahlt oder die Annahme gegenüber dem Unternehmer erklärt. 33 Hinsichtlich einer etwaigen dinglichen Ubereignung an den Verbraucher ist noch zu berücksichtigen, dass das Angebot des Unternehmers auf Abschluss des dinglichen Einigungsvertrages nach § 929 S. 1 BGB i.d.R. doppelt aufschiebend bedingt sein wird: zum einen durch den Abschluss eines Kaufvertrages über die zugesandte Ware, zum anderen im Sinne eines Eigentumsvorbehalts, der von der vollständigen Zahlung des Kaufpreises abhängt. 34 Beide Bedingungen sind aber - wie eben dargelegt - nicht erfüllt, da weder ein Vertrag zustande kommt noch der Verbraucher den Kaufpreis entrichtet. Auch nach Intention der Gesetzesverfasser soll die Vorschrift des § 241a BGB an der dinglichen Rechtslage nichts ändern. Die Gesetzesverfasser gingen vielmehr davon aus, dass bei der Versendung unbestellter Ware Eigentum und Besitz dauerhaft auseinander fallen, weil der Unternehmer zwar Eigentümer bleiben soll, Herausgabeansprüche jedoch von der Vorschrift ausgeschlossen seien. 35 Das dauerhafte Auseinanderfallen von Eigentum und Besitz wollte der Gesetzgeber im Hinblick auf die Verjährung von Herausgabeansprüchen des Eigentümers nicht als Einzelfall verstanden wissen. 36 Die Begründung des Gesetzgebers mit dem Verweis auf die Verjährung des Herausgabeanspruchs - ebenfalls mit der Folge eines dauerhaften Auseinanderfallens von Eigentum und Besitz - ist jedoch dogmatisch nicht überzeugend und kann daher mit guten Gründen als „Missgriff" bezeichnet werden. Das dauerhafte Auseinanderfallen in den Fällen der Verjährung des Herausgabeanspruchs stellt nämlich gerade eine seltene Ausnahme im BGB dar. Ansonsten ist dieses dauerhafte Auseinanderfallen als Fremdkörper anzusehen, das zudem auch in der Sache kaum befriedigend ist. 37 Um dem zu begegnen, wird in der Literatur für die Fälle des § 241a BGB vorgeschlagen, einen gesetzlichen Eigentumsübergang an der gelieferten Sache auf den Verbraucher anzunehmen. 38 Zur Begründung wird insoweit auf Art. 16 Abs. 2 WechselG und Art. 21 ScheckG hingewiesen. Diese Vorschriften schließen ihrem Wortlaut nach ebenfalls einen Herausgabeanspruch des früheren Wechsel- bzw. Scheckinhabers aus, jedoch nimmt die h.M. dort einen Eigentumserwerb des gutgläubigen Dritten an. 39 Die Übertragung der in die-
33 So auch Kramer in: Münchener Kommentar (Fn 3), § 241a Rn 11; Palandt/Heinrichs (Fn 3), § 241a Rn 3. 34 Berger JuS 2001, 649 (653); Riehm JURA 2000, 505 (512); Schwan JuS 2001, 1449 (1450) und (1452). » Serger JuS 2001, 649 (650 f); St. Lorenz JuS 2000, 833 (841). 3 ' BT-Drs. 14/2658, S. 46. 37 Casper ZIP 2000, 1602 (1606); Schwarz JuS 2001, 1449 (1451). 3« Riehm JURA 2000, 505 (512). 3» Siehe Baumhach/Hefermehl Wechsel- und Scheckgesetz, 22. Aufl 2001, Art. 16 Rn 8 WechselG und Art. 21 Rn 2 ScheckG.
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sen Vorschriften enthaltenen Rechtsgedanken auf Fälle der unbestellten Ubersendung von Waren ist allerdings abzulehnen. Denn bei Art. 16 Abs. 2 WechselG und Art. 21 ScheckG handelt es sich um Spezialvorschriften, die an die Gutgläubigkeit des Dritten anknüpfen. Sie bieten im Hinblick auf die unbestellte Zusendung von Waren keinen Anhaltspunkt für eine Analogiebildung. Letztlich ist auch der eindeutige gesetzgeberische Wille, der gegen einen Eigentumsübergang spricht, zu berücksichtigen.40 Für das Gewicht, das der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift zukommt, ist insbesondere das Alter des Gesetzes zu berücksichtigen. Je jünger das Gesetz ist, desto stärker fällt der Wille des Gesetzgebers in das Gewicht.41 Aus diesem Grund ist letztlich auch eine weitere Ansicht abzulehnen, die in Gesamtanalogie zu §§ 886,1169,1254 BGB einen Anspruch des Verbrauchers auf Ubereignung der Ware annehmen möchte.42 Für den Bereich des Strafrechts würde ein solcher Übereignungsanspruch zunächst keine Wirkung entfalten, weil es sich bis zur Ubereignung der Ware für den Verbraucher weiter um eine fremde Sache handeln würde. 43 Da es für die Strafbarkeit gemäß § 8 S. 1 StGB auf den Zeitpunkt der Tathandlung ankommt, würde eine spätere Übereignung an dem tatbestandsmäßigen Verhalten nichts ändern. Damit ist festzuhalten, dass es sich bei der dem Verbraucher übersendeten Ware um eine für ihn fremde Sache handelt.
V. Konsequenzen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit Wie bereits eingangs erwähnt, begegnet eine Strafbarkeit des Verbrauchers vor allem im Hinblick auf das ultima ratio-Prinzip des Strafrechts Bedenken, wenn zivilrechtliche Ansprüche gegen den Verbraucher bei bestimmten Handlungen ausgeschlossen sind, er sich aber wegen derselben Handlungen strafbar machen würde. Auch würde die vom Gesetzgeber mit § 241a BGB bezweckte Sanktionierung des Unternehmers mit zivilrechtlichen Mitteln in ihr Gegenteil verkehrt, wenn dem Verbraucher strafrechtliche Konsequenzen drohen würden. 1. Beschädigt oder zerstört der Verbraucher die Ware - sei es durch Wegwerfen, sei es beim Gebrauch - , so sind zivilrechtliche Ansprüche auf Schadensersatz ausgeschlossen.44 Da der Unternehmer Eigentümer der Sache 4
° So auch Schwarz JuS 2001, 1449 (1450). BGHZ 124, 147 (149f); Eisele JR 2001, 270 (272); Latenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl 1991, S. 329 und S. 344; Voge/Juristische Methodik, 1998, S. 128ff. « Löhnig]k 2001, 33 (35). 43 Ein Anspruch auf Übereignung kann freilich der Rechtswidrigkeit der (erstrebten) Zueignung bei §§ 242, 246 StGB entgegenstehen; dazu unten V 2. 44 Dazu bereits oben I. 41
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bleibt, verwirklicht der Verbraucher bei vorsätzlichem Handeln den Tatbestand des § 303 StGB. Der Umstand, dass der Unternehmer den Gegenstand nicht mehr herausverlangen kann und dieser für ihn möglicherweise keinen wirtschaftlichen Wert besitzt, ist unerheblich. Denn § 303 StGB schützt das Eigentum und ist kein Vermögensdelikt. 45 Selbst wenn man eine teleologische Reduktion in Fällen zulässt, in denen jegliches Interesse des Eigentümers fehlt, 46 kann von einer solchen Konstellation hier nicht ausgegangen werden, weil der Unternehmer trotz Ausschluss seiner Ansprüche gegen den Verbraucher weiterhin ein Interesse an der Sache besitzen kann. Dies auch deshalb, weil trotz der Ubersendung der Ware an den Verbraucher Ansprüche gegen Dritte nicht ausgeschlossen sind. 47 Letztlich ist noch darauf hinzuweisen, dass das Merkmal „rechtswidrig" ebenfalls zu keiner Tatbestandseinschränkung führt, sondern lediglich einen deklaratorischen Verweis auf die Rechtswidrigkeitsebene darstellt. 48 Aufgrund des tatbestandsmäßigen Verhaltens wird - allerdings ohne nähere Begründung - im zivilrechtlichen Schrifttum eine Strafbarkeit des Verbrauchers bei Beschädigung oder Zerstörung der Sache bejaht. 49 Dass zivilrechtliche Vorschriften grundsätzlich auch im Strafrecht Wirkungen entfalten können, dürfte unbestritten sein. Anderweitige Ansätze, wie beispielsweise derjenige von Bruns, der die Eigenständigkeit des Strafrechts mit seinem Beitrag „Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken" forderte, sind als überholt anzusehen. 50 Das Strafrecht ist zwar nicht akzessorisch zu den Regelungen des Zivilrechts, jedoch besteht häufig eine „Zivilrechtsaffinität". 51 So sind die zivilrechtlichen Regelungen beispielsweise maßgebend für die Frage, ob es sich um eine fremde Sache i.S.d. §§ 242, 246, 303 StGB handelt, jedoch bleiben nach h.M. zivilrechtliche Vor-
45 Arzt/Weber Strafrecht Besonderer Teil, 2000, § 12 Rn 11; 2aczyk in: Nomos Kommentar (NK), 5. Lieferung, Stand Okt. 1998, § 303 Rn 1; Stree in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 26. Aufl 2001, § 303 Rn 1. 4 6 Dazu BayObLG NJW 1993, 2760 - tollwütiger Hund; ferner NK-Zaczyk (Fn 45), § 303 Rn 1; Schönke/Schröder/Stree (Fn 45), § 303 Rn 3. 4 7 Dazu unten V 3. 48 Siehe etwa NK-Zaczyk (Fn 45), § 303 Rn 21; Tröndle/Fischer Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 50. Aufl 2001, § 303 Rn 11. 49 Schwarz JuS 2001, 1453 f. 50 Bruns Beiträge zu einer selbstständigen, spezifisch strafrechtlichen Auslegungs- und Begriffsbildungsmethodik, 1938. Umgekehrt ist auch der Versuch Bindings gescheitert, Wertungen des Zivilrechts mit Hinweis auf strafrechtliche Grundsätze zu modifizieren; vgl Binding Die Ungerechtigkeit des Eigentums-Erwerbs vom Nicht-Eigentümer nach BGB § 932 und § 935 und ihre Reduktion auf das kleinstmögliche Maß, Leipzig, 1908. Dazu U. Weber FS Baur, 1981, S. 133 (136). 51 Genannt sei insbesondere der Tatbestand der Untreue; dazu Schünemann in: Leipziger Kommentar zum StGB (LK), 11. Aufl 1998, § 266 Rn 68, 74, 94; ferner Eisele, GA 2001, 377
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Schriften, die wie § 142 Abs. 1 BGB Rückwirkung entfalten, für das Strafrecht außer Betracht.52 Hinsichtlich einer Strafbarkeit nach § 303 StGB stellt § 241a BGB möglicherweise einen Rechtfertigungsgrund für die Beschädigung oder Zerstörung der Sache dar.53 Die im StGB genannten Rechtfertigungsgründe sind nicht abschließend. Es gibt hier unstreitig keinen numerus clausus.54 Insoweit ist anerkannt, dass auch Vorschriften des Bürgerlichen Rechts - beispielsweise §§ 228, 904 BGB - rechtfertigende Wirkung im Strafrecht entfalten können. Dementsprechend enthielten auch einige der Entwürfe zu einer Strafrechtsreform eine ausdrückliche Regelung dahin gehend, dass die Rechtfertigung durch das Bürgerliche Recht die Strafbarkeit beseitigt.55 So lautete etwa § 20 des Entwurfs von 1919: „Eine strafbare Handlung liegt nicht vor, wenn die Rechtswidrigkeit der Tat durch das öffentliche oder bürgerliche Recht ausgeschlossen ist." 56 Die Begründung zu § 20 des Entwurfs von 1919 wies darauf hin, dass nicht nur die wenigen im Strafgesetzbuch geregelten Gründe des Ausschlusses der Rechtswidrigkeit zu berücksichtigen seien, sondern auch zu beachten sei, ob die Tat nach dem außerhalb des Strafgesetzbuchs geltenden Recht als nicht rechtswidrig anzusehen ist.57 O b eine Vorschrift des Bürgerlichen Rechts einen allgemeinen Rechtfertigungsgrund enthalte, müsse durch Auslegung ermittelt werden. 58 Heute wird zur Begründung der Berücksichtigung zivilrechtlicher Rechtfertigungsgründe im Strafrecht vor allem das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung genannt. Danach darf die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens für die einzelnen Rechtsgebiete nicht unterschiedlich beurteilt werden. 59 Es wäre
52 Vgl Schönke/Schröder/fser (Fn 45), § 246 Rn 4 a; Wessels/Hillenkamp Strafrecht Besonderer Teil 2, 24. Aufl 2001, Rn 70. Anders Brennenstuhl Die Rückwirkungsanordnungen des bürgerlichen Rechts und ihre Bedeutung für das Strafrecht, 1994, S. 67 ff, der im Fall der Anfechtung einen Strafaufhebungsgrund annimmt. Zu den Wirkungen des zivilrechtlichen Vertrages im Strafrecht H. D. WeberDer zivilrechtliche Vertrag als Rechtfertigungsgrund im Strafrecht, 1986, S. 140. 53 So ohne weitere Begründung Berger JuS 2001, 649 (653); Palandt/Heinrichs (Fn 3), § 241a Rn 4, verneint lediglich eine Strafbarkeit. 54 Brennenstuhl (Fn 52), S. 63; Freund Strafrecht Allgemeiner Teil, 1998, § 3 Rn 3; Haft (Fn 8), S. 83; Schönke/Schröder/Lenckner (Fn 45), Vorbem §§ 32ff Rn 28. 55 Vgl § 26 Entwurf 1913, § 20 Entwurf 1919, § 20 Entwurf 1925, § 23 Entwurf 1927, § 23 Entwurf 1930. Eingehend hierzu Günther Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, 1983, S. 22; dazu, dass Rechtfertigungsgründe allen Rechtsgebieten entnommen werden können, vgl Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl 1995, § 16 Rn 44; Haft (Fn 8), S. 80. 56 Vgl Entwürfe zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, Berlin 1920, 2. Teil, S. 11. 57 Entwürfe zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, Berlin 1920, 3. Teil, S. 33. 58 Entwürfe zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, Berlin 1920, 3. Teil, S. 33. 59 Daraufstellt vor allem Schroth}uS 1992, 476 (478), ab. Vgl ferner BGH St 11, 241 (244); OLG Köln StV 1986, 537f; Brennenstuhl (Fn 52), S. 2Q{\]escheck/WeigendStrz{red\t Allge-
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deshalb ein Wertungswiderspruch, wenn das in einem anderen Rechtsgebiet gestattete Verhalten gleichwohl bestraft werden könnte. 60 Für die hier zu behandelnde Konstellation ist daneben allerdings noch das bereits eingangs erwähnte ultima ratio-Prinzip des Strafrechts, wonach die Strafe als schwerste staatliche Reaktion nur äußerstes Mittel sein darf, von Bedeutung. Wenn eine Handlung bereits zivilrechtlich gebilligt wird, muss sie erst recht die Rechtswidrigkeit im Bereich des Strafrechts beseitigen.61 Denn das Strafrecht soll nur besonders schwerwiegende Störungen des zivilrechtlichen Bürger-Bürger-Verhältnisses sanktionieren. 62 Aus diesem Grunde wird beispielsweise vertreten, dass auch die berechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag einen Rechtfertigungsgrund im Strafrecht darstellt. 63 Freilich ist die Einstufung der Geschäftsführung ohne Auftrag als Rechtfertigungsgrund nicht von entscheidender Bedeutung, da diese Konstellationen zumeist bereits sachgerecht über die Grundsätze der (mutmaßlichen) Einwilligung sowie § 34 StGB erfasst werden können. 64 Dennoch ist im Hinblick auf § 241a BGB bemerkenswert, dass bei der Geschäftsführung ohne Auftrag zivilrechtliche Ansprüche des Geschäftsherrn gegen den Geschäftsführer aus Delikts- oder Bereicherungsrecht ebenfalls ausgeschlossen sind. 65 Dringt beispielsweise der Geschäftsführer in die Wohnung des Nachbarn ein, um einen Brand zu löschen, so ist aufgrund der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens ein deliktischer Anspruch des Nachbarn nach § 823 Abs. 1 BGB ausgeschlossen. 66 Aufgrund der ultima ratio-Funktion des Strafrechts muss Entsprechendes auch für den Straftatbestand des § 303 StGB gelten. Dies im Übrigen letztlich unabhängig davon, ob man zur Rechtfertigung direkt auf
meiner Teil, 5. Aufl 1996, § 31 III 1; Schönke/Schröder/LracW (Fn 45), Vorbem §§ 32ff Rn 27; Günther in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch (SK), 7 / 8 . Aufl, Stand 36. Lieferung (April 2001), Vor § 32 Rn 30. Siehe Roxin (Fn 8), § 14 Rn 31. " Günther (Fn 55), S. 362f; Roxin (Fn 8), § 14 Rn 31. « Günther (Fn 55), S. 363; SK- Günther (Fn 59), Vor § 32 Rn 60; U. Weber FS Baur, 1981, S. 133 (143f). " Vgl Günther (Fn 55), S. 363f; Schroth JuS 1992, 476 (477); U. Weher FS Baur, 1981, S. 133 (139). 44 Daher kritisch zur Einstufung der Geschäftsführung ohne Auftrag als Rechtfertigungsgrund Hellmann Die Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Strafrecht, 1987, S. 178; Hirsch in: Leipziger Kommentar zum StGB (LK), 11. Aufl 1994, Vor § 32 Rn 130; Schönke/Schröder/Lenckner (Fn 45) Vorbem §§ 32 ff Rn 55; Sternberg-Lieben Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 209, Fn 47 65 Palandt/Sprau (Fn 3), Einf. v. § 677 Rn 10ff; U. Weber FS Baur, 1981, S. 133 (140). 46 Auch in der zivilrechtlichen Literatur ist umstritten, ob die Geschäftsführung ohne Auftrag einen Rechtfertigungsgrund darstellt; dafür beispielsweise Larenz Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/l, 1986, § 571 b; dagegen Seiler in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 4, 3. Aufl 1997, Einf. § 677 Rn 17 mwN, der in diesen Fällen stattdessen sogar eine analoge Anwendung des § 34 StGB für den Bereich des Zivilrechts vorschlägt.
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die Geschäftsführung ohne Auftrag oder die (mutmaßliche) Einwilligung bzw. § 34 StGB zurückgreift. Selbst wenn man einer anderen Auffassung folgt, wonach ein Rückgriff auf zivilrechtliche Erlaubnissätze grundsätzlich nicht notwendig ist, weil sich diese mit strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen decken und daher in ihrem Uberschneidungsbereich von diesen verdrängt werden, 67 muss anderes gelten, wenn die strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe ausnahmsweise einen bestimmten Sachverhalt nicht regeln. Jedenfalls dann wirken die zivilrechtlichen Vorschriften - wie z.B. die zivilprozessualen Amtsrechte - auch im Strafrecht rechtfertigend. 68 § 241a BGB dürfte sich keinem der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe zuordnen lassen. Die Rechtfertigungsgründe der Einwilligung und mutmaßlichen Einwilligung scheitern am entgegenstehenden Willen des Unternehmers, und ein wesentliches Uberwiegen des geschützten Rechtsguts i.S.d. § 34 StGB dürfte jedenfalls in Fällen zu verneinen sein, in denen dem Verbraucher nicht nur eine geringwertige Sache zugesendet wird. 69 Dafür, dass § 241a BGB einen Rechtfertigungsgrund darstellt, spricht auch ein Blick auf die Prinzipien, die den Rechtfertigungsgründen zugrunde liegen. Es liegt hier - folgt man einer verbreiteten pluralistischen Theorie die Fallgruppe des überwiegenden Interesses vor. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass das Interesse am Schutz des verletzten Rechtsguts in Widerstreit mit anderen wichtigeren Interessen gerät und durch diese verdrängt wird. 70 Aufgrund der Wertung des Gesetzgebers hat das Eigentum des Unternehmers bei unbestellter Zusendung von Waren an Verbraucher hinter den Interessen des Verbrauchers, der vor einer wettbewerbswidrigen Belästigung geschützt werden soll, zurückzutreten. Mit § 241a BGB wird ein Eingriffsrecht des Verbrauchers begründet, mit dem eine entsprechende Duldungspflicht des Unternehmers korrespondiert. 71 Gegenmaßnahmen des Unternehmers sind unzulässig, weil der Herausgabeanspruch durch § 241a BGB ausgeschlossen ist und eigenmächtige Handlungen auf eine nicht rechtmäßige Selbsthilfe hinauslaufen würden. Wollte der Unternehmer die Sache dem Verbraucher eigenmächtig wieder abnehmen, könnte dieser sogar Notwehr üben, weil es sich um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff handeln würde. Die Duldungspflicht des Verbrauchers kann man auch -
Hellmann (Fn 64), S. 114. So auch Hellmann (Fn 64), S. 194. 69 Zu einem anderen Ergebnis könnte man allenfalls dann gelangen, wenn man aus der Vorschrift des § 241a BGB schließen würde, dass die Interessen des Verbrauchers stets wesentlich überwiegen. 70 Haft (Fn 8), S. 80f; Schönke/Schröder/Lenckner (Fn 45), Vorbem §§ 32ff Rn 6. 71 Hierzu näher Schönke/Schröder/Lenckner (Fn 45), Vorbem §§ 32ff Rn 10. Zu den strafrechtlichen Rechtfertigungsprinzipien Baumann/Weber/Mitsch (Fn 55), § 16 Rn 50 ff; SK- Günther (Fn 59), Vor § 32 Rn 71 ff. 67 68
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folgt man einer anderen Einteilung der Rechtfertigungsgründe - auf das Veranlassungs- bzw. Verantwortungsprinzip zurückführen, 72 weil der Unternehmer mit Übersendung der Ware bewusst eine wettbewerbswidrige Handlung vornimmt. Der Unternehmer muss dann als Eingriffsopfer für die Folgen seines eigenen Organisationsverhaltens einstehen.73 In ähnlicher Weise ist auch bei der Notwehr - neben dem Schutz- und Rechtsbewährungsprinzip - die Veranlassung durch den Angreifer für die weitreichenden Eingriffsbefugnisse des Angegriffenen von Bedeutung74 und umgekehrt werden sozialethische Einschränkungen des Notwehrrechts für den sich Verteidigenden diskutiert, wenn dieser den Angriff in Provokationsfällen (mit-)verantwortet hat.75 Im Ergebnis ist § 241a BGB als Rechtfertigungsgrund einzustufen. Würde man im Übrigen eine Strafbarkeit des Verbrauchers gemäß § 303 StGB bejahen, so gelänge man über den Umweg des § 823 Abs. 2 BGB mit § 303 StGB als Schutzgesetz auch wieder zu einer zivilrechtlichen Haftung. Beließe man es bei dieser Haftung, so würde der von § 241a BGB normierte zivilrechtliche Haftungsausschluss über den Umweg des Strafrechts umgangen. Würde man dagegen die zivilrechtliche Haftung verneinen, so wäre dies im Hinblick auf das ultima ratio-Prinzip mehr als bedenklich, weil eine auf das Schutzgesetz des § 303 StGB gestützte zivilrechtliche Haftung ausscheiden würde, dagegen die strafrechtliche Verantwortung zu bejahen wäre. 2. Entschließt sich der Verbraucher, die Sache zu behalten oder gar zu nutzen, und manifestiert sich der damit verbundene Zueignungswille nach außen,76 so ist zu prüfen, ob er sich einer Unterschlagung strafbar macht. Anders als bei der Sachbeschädigung liegt der Tatbestand des § 246 StGB jedoch nicht ohne weiteres vor. Denn insoweit ist erforderlich, dass die Zueignung der Sache rechtswidrig ist. Das Merkmal der Rechtswidrigkeit der Zueignung ist nach h.M. (normatives) Merkmal des objektiven Tatbestandes.77 72 Vgl Jakobs Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auf] 1991, 11. Abschn. Rn 3, der im Prinzip der Verantwortung bzw. der Veranlassung eine von drei Gruppen sieht, in die sich Rechtfertigungsgründe einteilen lassen. Selbst wenn man diese Einteilung nicht übernimmt, ist nicht zu übersehen, dass das Verantwortungs- bzw. Veranlassungsprinzip bei einzelnen Rechtfertigungsgriinden von Bedeutung ist. 73 Siehe Jakobs (Fn 72), 11. Abschn. Rn 3. 74 Zur Ergänzung der dualistischen Notwehrlehre durch das Verantwortungsprinzip siehe Kühl Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl § 7 Rn 19; vgl ferner Freund Strafrecht (Fn 54), § 3 Rn 92; Roxin (Fn 8), § 14 Rn 43. 's Dazu nur Haft (Fn 8), S. 82 und 87; Kühl (Fn 74), § 7 Rn 207 ff. Gegen sozialethische Einschränkungen in diesem Fall Baumann/Weber/Mitsch (Fn 55), § 17 Rn 39 f. 76 Zu diesem Erfordernis Haft Strafrecht Besonderer Teil, 7. Aufl 1998, S. 152; Schönke/ Schröder/£ser(Fn 45) § 246 Rn 10 f. 77 Lackner/Kühl Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 24. Aufl 2001, § 242 Rn 28; Wessels/ Hillenkamp (Fn 52), Rn 188; Tröndle/Fischer {Fn 48), § 242 Rn 50. Α. A. Hirsch]Z 1963,149 (154), wonach es um die allgemeine Rechtfertigung auf Rechtswidrigkeitsebene gehen soll.
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Es filtert diejenigen Zueignungshandlungen als für die Unterschlagung irrelevant heraus, die im Einklang mit den zivilrechtlichen Regelungen stehen.78 Entsprechend ist für den Diebstahlstatbestand anerkannt, dass die Rechtswidrigkeit der erstrebten Zueignung zu verneinen ist, wenn der Täter einen rechtsgültigen, einredefreien und durchsetzbaren Anspruch - z . B . aus Kaufvertrag auf Ubereignung der Sache hat. 79 Zwar führt der Täter mit der Wegnahme der Sache noch nicht die vereinbarte dingliche Rechtslage herbei, 80 weil die eigenmächtige Gewahrsamsverschiebung einen Eigentumsübergang nicht herbeiführen kann.81 Jedoch ist es dem Gläubiger grundsätzlich unbenommen, weniger Rechte durchzusetzen, als ihm aufgrund des Schuldverhältnisses zustehen. 82 In Konstellationen, in denen der Täter einen Anspruch auf Übereignung der Sache besitzt, kann der Verkäufer im Übrigen nicht einmal zivilrechtlich den Herausgabeanspruch nach § 985 BGB geltend machen. Der Käufer könnte ihm nämlich die Einrede dolo agit, qui petit, quod statim rediturus est über § 242 BGB entgegenhalten, weil der Verkäufer im Falle einer Herausgabe der Sache diese alsbald wieder an den Käufer herausgeben müsste. Dies würde aber letztlich nur zu einem formalen „Hin- und Herschieben" der Sache führen.83 Zu Recht wird deshalb im Schrifttum darauf hingewiesen, dass eine Rechtsposition, die zivilrechtlich nicht durchsetzbar ist, auch keines strafrechtlichen Schutzes bedarf. 84 Die Situation bei Bestehen eines Anspruchs auf Eigentumsübertragung ist insoweit mit den Fällen des § 241a BGB vergleichbar, als in beiden Konstellationen der Herausgabeanspruch des Eigentümers ausgeschlossen ist. Die Zueignung der Sache ist bei der Unterschlagung auf eine dauerhafte Enteignung des Eigentümers und eine zumindest
Ähnl. UK-Kindhäuser (Fn 45), § 242 Rn 156, für § 242 StGB. Vgl z.B. BGHS: 17, 87 (89); Kindhäuser (Fn 45), § 242 Rn 152; Schönke/Schröder/ Eser (Fn 45), § 242 Rn 59; Tröndle/Fischer (Fn 48), § 242 Rn 50. 80 Hirsch JZ 1963, 149 (150 f), der deshalb davon ausgeht, dass der Täter eben nicht im Einklang mit der Rechtsordnung handelt; ähnl. H. D. Weher (Fn 52), S. 34. Anders NKKindhäuser (Fn 45), § 242 Rn 153, der meint, dass der Besitz des Täters an der Sache nicht der Rechtsordnung widerspreche. 81 Dazu Haft Κι (Fn 76), S. 152. 82 Nach Mitsch Strafrecht Besonderer Teil 2, Teilband 1, 1998, § 1 Rn 152, ist entgegen der h.M. zur Verneinung der Rechtswidrigkeit der erstrebten Zueignung erforderlich, dass der Täter mit dem Willen handelt, die reale Besitzlage unverzüglich mit der Eigentumsordnung in Einklang zu bringen, mithin das Eigentum an der weggenommenen Sache zu erwerben. Soweit er dies nicht beabsichtige, strebe er eine von der Eigentumsordnung auf Dauer abweichende Besitzlage an, bei der er nicht Eigentümer werde, sondern sich lediglich wie ein solcher gerieren möchte. " BGHZ 10, 69; BGHSt 17, 87 (89); Mitsch (Fn 82), § 1 Rn 151; NK-Kindhäuser (Fn 45), § 242 Rn 152; Palandt/Heinrichs (Fn 3), § 985 Rn 15; SchröderDRiZ 1956, 69 (70). Vgl aber H. D. Weber( Fn 52), S. 34f und S. 77 ff, der darin keine Legitimation für den Eingriff in die Eigentümerstellung sieht, den zivilrechtlichen Vertrag jedoch als Rechtfertigungsgrund einstuft. 84 Ν Κ-Kindhäuser (Fn 45), § 242 Rn 153. 78
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Auswirkungen des § 241a BGB auf das Strafrecht
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vorübergehende Aneignung durch den Täter oder Dritten gerichtet.85 Für die Enteignungskomponente ist es nicht erforderlich, dass ein Eigentumsübergang stattfindet, vielmehr ist eine faktische Enteignung ausreichend. Es genügt demgemäß die Anmaßung einer eigentümerähnlichen Stellung.86 Diese faktische Enteignung ist jedoch nicht rechtswidrig, da das Gesetz bei der Übersendung unbestellter Ware ausdrücklich das Auseinanderfallen von Eigentum und Besitz vorsieht und dem Verbraucher daher gerade eine faktische Eigentümerstellung zuspricht. 87 Auch ist zu berücksichtigen, dass die Enteignung durch den Unternehmer selbst mitverursacht wird, weil er die ^Ä&re auf eigenes Risiko versendet, daher seine Rechte verliert und dadurch erst dem Verbraucher ein dauerhaftes Behalten der Sache ermöglicht. Daneben ist dem Verbraucher auch die Aneignung der Sache gestattet, da ihm durch die Regelung des § 241a BGB die Nutzung der Sache gestattet wird. Umgekehrt steht dem Unternehmer ein Nutzungsrecht an seinem Eigentum im Verhältnis zum Verbraucher nicht mehr zu. 88 Letztlich ist auch zu berücksichtigen, dass § 246 StGB den Schutz des Eigentums insoweit bezwecken soll, als der Eigentümer gemäß § 903 BGB mit der Sache nach Belieben verfahren kann. 89 Weil es sich bei § 241a BGB jedoch um ein Gesetz i.S.d. § 903 BGB handelt, das dem Recht, mit der Sache beliebig zu verfahren, entgegensteht, ist es konsequent, in diesen Fällen einen strafrechtlichen Schutz zu verneinen. Mangels Rechtswidrigkeit der Zueignung ist daher der Tatbestand der Unterschlagung in den Fällen der unbestellten Zusendung von Waren an den Verbraucher ausgeschlossen. 3. Veräußert der Verbraucher die Sache an einen Dritten, so handelt der Verbraucher als Nichtberechtigter, da ihm § 241a BGB keine Verfügungsbefugnis einräumt. Das Eigentum verbleibt - auch im Verhältnis zum Verbraucher - beim Unternehmer. 90 Strafrechtlich kommt bei (konkludenter) Täuschung über die Eigentümerposition 91 eine Strafbarkeit wegen Betruges 85
Vgl Haft BT (Fn 76), S. 153; Mitsch (Fn 82), § 2 Rn 32ff; Schönke/Schröder/ßer (Fn 45), § 246 Rn 9. 86 Siehe nur Haft BT (Fn 76), S. 152; Schönke/Schröder/Eser (Fn 45), § 246 Rn 9. Vgl Arzt/Weber (Fn 45), § 15 Rn 22, Fn 18, zu der hier interessierenden Vergleichskonstellation der Verjährung des Herausgabeanspruchs nach § 985 BGB. 87 So Schwarz NJW 2001, 1449 (1452). 88 Vgl Hoyerin: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch (SK), 5./6. Aufl, Stand 51. Lieferung (Juli 2001), § 242 Rn 102, für Fälle, in denen dem Täter ein schuldrechtlicher Ubereignungsanspruch zusteht. 89 Siehe näher NK-Kindhäuser (Fn 45), Vor §§ 242 bis 248 c Rn 6. 90 Umstritten ist, ob der Verbraucher gemäß § 816 Abs 1 S. 1 BGB zur Herausgabe des Erlöses verpflichtet ist: so Riehrn JURA 2000, 505 (512); a.A. BergerJuS 2001, 649 (653). 91 Dazu, dass regelmäßig miterklärt wird, dass der Veräußerer zur Eigentumsverschaffung fähig und imstande ist, siehe Lackner/Kühl (Fn 77), § 263 Rn 9; Mitsch (Fn 82), § 7 Rn 26; Wessels/Hillenkamp (Fn 52), Rn 499.
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Fritjof Haft und Jörg Eisele
gegenüber dem Erwerber in Betracht. Ist der Erwerber, was die Eigentumsverhältnisse anbelangt, gutgläubig, so ist regelmäßig bereits ein Vermögensschaden zu verneinen, weil er dann gemäß § 932 BGB Eigentum erwirbt. Nur in speziell gelagerten Fällen - z . B . bei einem besonderen Prozessrisiko für den Erwerber - könnte man mit der Rechtsprechung und Teilen der Literatur trotz des gutgläubigen Erwerbs noch zu einem Vermögensschaden gelangen. 92 Dies wird jedoch nur selten der Fall sein, weil die Position des Erwerbers durch die Beweislastverteilung nach § 932 Abs. 1 S. 1 BGB in einem etwaigen Prozess gestärkt ist. 93 Demnach hat der Kläger die Bösgläubigkeit des Erwerbers zu beweisen. 94 Bei unentgeltlicher Weitergabe der Sache kann der Unternehmer zwar auch bei gutgläubigem Erwerb durch Dritte die Sache zivilrechtlich nach den Grundsätzen des § 816 Abs. 1 S. 2 BGB 9 5 herausverlangen, weil § 241a BGB nicht gegenüber Dritten wirkt, 96 jedoch wird es bei einer Schenkung regelmäßig an einem Vermögensschaden des Beschenkten fehlen. Ist der Erwerber hingegen bösgläubig, so scheidet ein Eigentumserwerb aus. Zivilrechtlich kann der Unternehmer dann von dem Dritten gemäß § 985 BGB die Herausgabe der Sache verlangen, weil § 241a BGB nicht gegen den Dritterwerber wirkt und deshalb Ansprüche gegen ihn nicht ausgeschlossen sind. 97 Der Erwerber erleidet in diesem Fall i . d . R . einen Vermögensschaden. Dabei hindert die Bösgläubigkeit des Erwerbers einen Betrug seitens des Verbrauchers nicht. Im Gegensatz zur Kenntnis steht nach h.M. die grobe Fahrlässigkeit des Opfers hinsichtlich der Tatsache, über die getäuscht wurde, einer Irrtumserregung i.S.d. § 263 StGB nicht entgegen. 98 Da § 241a BGB dem Verbraucher keine Verfügungsbefugnis einräumt und ein Eigentumsübergang auf den Verbraucher vom Gesetzgeber nicht angeordnet worden ist, muss dieser daher den Dritten darüber aufklären, dass er 92 Als Ansatzpunkt dient der Umstand, dass einem Vermögensschaden die konkrete Vermögensgefährdung gleichzustellen ist; vgl z.B. BGHSt 15, 83ff; ferner Arzt/Weber (Fn 45), § 20 Rn 98; Haft BT (Fn 76), S. 213. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts ging mit der sog. Makeltheorie regelmäßig von einem Vermögensschaden aus, vgl RGSt 73, 61 (63). Zum gesamten Problemkreis Hillenkamp 40 Probleme aus dem Strafrecht Besonderer Teil, 9. Aufl 2001, S. 160ff. 95 Vgl z.B. Schönke/Schröder/Cramer (Fn 45), § 263 Rn 11, wonach ein Vermögensschaden daher beim gutgläubigen Erwerb abzulehnen ist; ferner Lackner/Kühl (Fn 77), § 263 Rn 43. *> BGH NJW 1982, 38f; PalandtIBassenge (Fn 3), § 932 Rn 15. 95 Schwarz 2001, 1449 (1454); Schwarz/Pohlmann JURA 2001, 361 (365); Sosnitza BB 2000, 2317 (2322). 9* Casper ZIP 2000, 1602 (1608). 97 Berger JuS 2001, 649 (653); Casper ZIP 2000, 1602 (1608); Schwarz JuS 2001, 1449 (1454); Sosnitza BB 2000, 2317 (2320). '8 Siehe BGHSt 34, 199 (201); Lackner/Kühl (Fn 77), § 263 Rn 20; Tiedemann in: Leipziger Kommentar zum StGB (LK), 11. Aufl 2000, Vor § 263 Rn 34 ff.
Auswirkungen des § 241a BGB auf das Strafrecht
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die Sache als unbestellte Ware erhalten hat. D i e erstrebte Bereicherung - E r langung des Kaufpreises - ist auch r e c h t s w i d r i g . " Dass der Verbraucher den Erlös möglicherweise nicht an den U n t e r n e h m e r herauszugeben braucht, steht d e m nicht entgegen. D e n n für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit ist das Verhältnis z u m geschädigten Dritten entscheidend. G e g e n ü b e r diesem besteht jedoch kein Anspruch auf den erstrebten Vermögensvorteil. E s ist im Einzelfall jedoch genau zu prüfen, ob der Verbraucher nicht irrig davon ausgeht, dass er zur Verfügung über die Ware befugt ist. D e n n dann würde es am Vorsatz hinsichtlich der Behauptung einer unwahren Tatsache fehlen, so dass eine Betrugsstrafbarkeit aus diesem G r u n d e doch zu verneinen wäre. 4. Interessant ist es, abschließend noch einen Blick auf eine mögliche Strafbarkeit des Unternehmers zu werfen, wenn er die Sache dem Verbraucher wegnimmt. §§ 2 4 2 , 2 4 6 S t G B finden deshalb keine Anwendung, weil es sich für den U n t e r n e h m e r u m keine fremde Sache handelt. 1 0 0 Es dürfte sich aber u m einen Fall der Pfandkehr handeln, weil der Verbraucher aufgrund der Vorschrift des § 241a B G B ein von § 2 8 9 S t G B geschütztes gesetzliches Gebrauchsrecht erlangt. 1 0 1 D e r Begriff des Gebrauchsrechts in § 2 8 9 S t G B wird weit verstanden. 1 0 2 Erfasst werden z . B . auch Rechte des Mieters, Pächters, Leasingnehmers oder des Vorbehaltskäufers. D e r Verbraucher darf die ihm übersandte Sache nach dem Willen des Gesetzgebers nutzen und braucht diese nicht an den U n t e r n e h m e r herauszugeben. 1 0 3 D a h e r wird m a n zivilrechtlich richtigerweise ein Recht z u m Besitz des Verbrauchers annehm e n müssen. 1 0 4 Dies steht auch im Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers, wonach der Verbraucher die Sache kostenlos behalten darf. W ü r d e man ein Nutzungsrecht des Verbrauchers verneinen, so wäre die Sache weitgehend entwertet, weil sie von niemandem m e h r gebraucht werden könnte. 1 0 5 99 Dabei ist die Rechtswidrigkeit - wie bei der Unterschlagung - als Tatbestandsmerkmal einzustufen; vgl BGHSt 3, 99 (101); Lackner/Kühl(Fn 77), § 263 Rn 62; LK-Tiedemann (Fn 98), Rn 268 ff. 100 Anders selbstverständlich, wenn man im Rahmen des § 241a BGB einen Eigentumsübergang auf den Erwerber annimmt; dazu schon oben IV. 101 Nach Arzt/Weber (Fn 45), § 16 Rn 27, wird durch § 289 StGB letztlich der berechtigte unmittelbare Besitz geschützt. 102 Schäfer in: Leipziger Kommentar zum StGB (LK), 10. Aufl 1988, § 289 Rn 5 - dieser Begriff ist im weitesten Sinne zu verstehen. 103 In den Fällen der Verjährung des Herausgabeanspruchs ist der Besitzer zur normalen Nutzung der Sache auf Dauer befugt; vgl Gursky in: Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 1999, § 985 Rn 91. 104 Vgl Sosnitza BB 2000, 2317 (2322); ferner Palandt/Heinrichs (Fn 3), § 241a Rn 4 „kann die Sache aber nach seinem Belieben gebrauchen und verbrauchen"; a.A. kein Recht zum Besitz Berger }uS 2001, 649 (653); Löhmgjh 2001, 33 (35); Schwarz NJW 2001, 1449 (1452). IM Sosnitza BB 2000, 2317 (2322).
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Fritjof Haft und Jörg Eisele
Die Wegnahme durch den Unternehmer erfolgt in diesen Fällen auch in rechtswidriger Absicht, weil der Unternehmer dem Nutzungsrecht zuwiderhandelt und ihm Herausgabeansprüche nicht zustehen. Er nimmt daher die Sache weg, um das Nutzungsrecht zu vereiteln.106
VI. Resümee Dass die Vorschrift des § 241a BGB weitgehend missglückt ist, wird bereits seit ihrem In-Kraft-Treten kritisiert. 107 Dies insbesondere deshalb, weil es der Gesetzgeber versäumt hat, hinreichend deutlich zum Ausdruck zu bringen, in welchem Umfang überhaupt zivilrechtliche Ansprüche des Unternehmers ausgeschlossen sein sollen. Ferner überzeugt es nicht, dass bei der Versendung unbestellter Ware Eigentum und Besitz dauerhaft auseinander fallen sollen. Aus diesem Grund wird in der Literatur die Meinung vertreten, dass der ganze § 241a BGB beispielhaft für die „gesetzgeberische Unfähigkeit" sei. 108 Es wird gefordert, § 241a BGB de lege ferenda wieder zu streichen und bis dahin als „pro non scripto" zu behandeln. 109 Angesichts dieses Befundes kann es dann kaum noch überraschen, wenn der Gesetzgeber etwaige Rückwirkungen auf das Strafrecht, die mit dem Auseinanderfallen von Eigentum und Besitz verbunden sind, nicht bedacht hat. Im Hinblick auf das ultima ratio-Prinzip ist eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Verbrauchers zu verneinen, soweit bei entsprechenden Handlungen zivilrechtliche Ansprüche ausgeschlossen sind. Dogmatisch lässt sich dies damit begründen, dass § 241a BGB für den Bereich des Strafrechts einen Rechtfertigungsgrund statuiert. Soweit Delikte bereits tatbestandlich die Rechtswidrigkeit der (erstrebten) Zueignung verlangen, kann § 241a BGB einer solchen Rechtswidrigkeit entgegenstehen, wenn der Verbraucher in diesen Fällen im Einklang mit der Rechtsordnung handelt. D a die Wirkungen des § 241a BGB nach h.M. aber auf das Verhältnis zwischen Unternehmer und Verbraucher beschränkt sind, kann sich der Verbraucher bei Weiterveräußerung der Sache an einen Dritten im Einzelfall doch wegen Betruges strafbar machen.
106
Zum Begriff der rechtswidrigen Absicht näher Lackner/Kühl
Hoyer (Fn 59), § 289 Rn 12 ff. 107 Vgl Decken NJW 2001, 1474. 108 109
Flume ZIP 2000, 1427 (1428). Flume ZIP 2000, 1427 (1429).
(Fn 77), § 289 Rn 4; SK-
Spielgewinn ohne Spiel - Strafrecht als Mittel der Bekämpfung sozial lästiger Verhaltensweisen HARRO
OTTO
I. Das Unbehagen am „Glücksspielstrafrecht" In der Besprechung einer Entscheidung des BayObLG nahm Dieter Meurer zusammen mit Alfred Bergmann im Jahre 1983 zu den Problemen eines Tatbestands Stellung, der eher zu den weniger beachteten Tatbeständen des StGB gehört, nämlich zu § 284 StGB, der unerlaubten Veranstaltung eines Glücksspiels.1 - Ihre Ausführungen leiteten die Autoren mit einer Vorbemerkung über das Unbehagen am Glücksspielstrafrecht ein. Wegen des rein ordnungsrechtlichen Charakters der Vorschrift sahen sie diese als Fremdkörper im Kriminalrecht an und vermochten das geschützte Rechtsgut nur mühsam auszumachen. Scharf wandten sie sich vor allem aber gegen die Auffassung, begriffliche Unterschiede zwischen den einzelnen Tathandlungen bestünden nicht bzw. seien nicht herauszuarbeiten, weil die einzelnen Tathandlungen in der Beschreibung des Tatbestands nebeneinander gestellt seien, um jede mögliche Art des Glücksspiels zu erfassen. Sie machten geltend, dass § 284 StGB wegen Verstoßes gegen den Bestimmtheitsgrundsatz, Art. 103 Abs. 2 GG, verfassungswidrig sei, wenn es nicht gelingen sollte, die einzelnen Tathandlungen begrifflich scharf zu umreißen.2 Damit hatten sie zwei Probleme im Rahmen des § 284 StGB aufgezeigt, die weit über diesen Tatbestand hinausreichen und nach wie vor von hoher Aktualität sind: Mit der Erweckung der Spielleidenschaft, vor allem aber mit der Eröffnung der Aussicht auf materiellen Gewinn ohne den sonst nötigen Arbeitseinsatz, ist erstens ein zahlenmäßig erheblicher Adressatenkreis anzusprechen, dem nicht selten ein unrichtiger Eindruck von den Gewinnmöglichkeiten vermittelt wird. Zweitens besteht auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden die Vorstellung, dem „Spielwesen", wenn es überhand nimmt, strafrechtlich begegnen zu müssen und zu können, auch wenn bestehende Vorschriften dazu über ihren Wortlaut hinaus und entge1 Meurcr/Bergmann JuS 1983, 668 ff. Meurer/Bergmann JuS 1983, 669, 671.
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Harro Otto
gen ihrer ursprünglichen Zwecksetzung „ausgelegt" werden müssen. Diese Bestrebungen sind nach wie vor auszumachen. Der mahnende Hinweis auf die Beachtung des Art. 103 Abs. 2 GG hat in den letzten 20 Jahren nicht an Aktualität verloren.
II. Die Faszination des spielerisch zu erwerbenden materiellen Gewinns Anknüpfungspunkt aller derjenigen, die vorgeben, die Möglichkeit zu eröffnen, andere in den Genuss der Schätze aus Fortunas Füllhorn kommen zu lassen, in Wirklichkeit aber den eigenen Gewinn anstreben, ist die Faszination, die von der Idee ausgeht, materiellen Gewinn spielend und nicht arbeitend erringen zu können. Die Faszination wächst, je müheloser oder sicherer die Gewinnchance - scheinbar - zu realisieren ist. Zugleich wächst die Einsatzbereitschaft zur eigenen Leistung, die zunehmend als zu vernachlässigende Größe in Relation zu dem - sicheren - Gewinn erscheint. 1. Die „ Geldgewinnspiele " und ihre Problematik Vor einigen Jahren waren es sog. Geldgewinnspiele, die europaweit angeboten und „gespielt" wurden. Vielfältig und phantasievoll waren die Bezeichnungen der „Spiele". „Jump", „Life", „Time", „Future Business", „Future", „Tip Top", „Multi-Finanz-System", „Finanz-Logik-System", „Skyline", „Spring", „Light", „Blue", „Cash", „Take off", „MMS-Akademie Einstieg", „American Golden Eagle", „Pyramid System", „National Active System (NAS)", „Euro Royal Club winsys", „mach 2", „Titan", „WorldTrading-System (WTS), „ World-Trading-System-Spezial (WTS-Special)" u.a. - Nach Schätzungen von Insidern liefen Mitte der neunziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland rd. 600 „Spiele". Die „Spieleinsätze" lagen zwischen mehreren hundert und mehreren tausend DM. Die Umsätze dürften die Milliardengrenze überschritten haben. Erste Versuche, diesem „Spielunwesen" strafrechtlich Einhalt zu bieten durch Subsumtion des Verhaltens unter § 6 c UWG, scheiterten an einzelnen Oberlandesgerichten. Diese gingen zum einen davon aus, dass nach dem damaligen Wortlaut des § 6 c UWG dessen Tatbestand nicht erfüllt sei, wenn die dort vorausgesetzten Vorteile nicht vom Veranstalter des „Spiels", sondern von Dritten, nämlich den neu geworbenen Spielern gewährt werden. Zum anderen sahen sie die vom Veranstalter des Gewinnspiels vermittelte Gewinnchance nicht als besonderen Vorteil im Sinne des § 6 c UWG an. 3 3
Im Einzelnen dazu Otto wistra 1997, 81 ff, 87 f.
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Spielgewinn ohne Spiel
Dieser Interpretation des § 6 c UWG widersprach das LG Ingolstadt, weil sich „seit der Entscheidung der Oberlandesgerichte 4 die Situation auf diesem „Spezialmarkt" in einer Art und Weise ins Ungeheure und Kriminelle entwickelt hat, daß diesen modernen Formen des Betrugs zum Schutz der rechtstreuen Bevölkerung nicht unter enger, sondern unter weiter Auslegung der in Frage kommenden Tatbestände begegnet werden muß". 5 Der BGH folgte dem im Ergebnis.6 Er ging davon aus, dass auch derjenige, der das Versprechen abgebe, ein von ihm unabhängiger Dritter, den der Vorteilsempfänger sogar erst noch zu werben habe, werde dem Werbenden einen Vorteil gewähren, verspreche, besondere Vorteile zu gewähren, und erkannte in der Gewinnchance einen besonderen Vorteil. Diese Gesetzesauslegung blieb strittig.7 Das OLG Rostock sah darin eine teleologisch-kriminalpolitische Auslegung, die mehr an der Notwendigkeit der Bestrafung als an der Subsumtion unter den Tatbestand des § 6 c UWG orientiert war.8 Damit wurde die hier relevante Problematik des Art. 103 Abs. 2 GG auf den Punkt gebracht: Nicht in der vorsätzlichen Begründung oder Ausdehnung der Strafbarkeit im Wege der Analogie liegt dessen aktuelle Problematik, sondern in einer Auslegung, die vorrangig an Strafbarkeitsbedürfnissen ausgerichtet ist und über die Grenzen des Gesetzeswortlauts hinweggeht.9 2. Der durch „ Gewinn-Scheck"garantierte
Gewinn
a) Der Gewinn als Lockmittel Die derzeit quantitativ massiert auftretende Nutzung von Gewinnerwartungen ist aufgrund der eingesetzten eigenen Mittel im Grade der Sozialschädlichkeit nicht mit den Gewinnspielen vergleichbar. Die geradezu explosionsartige Ausbreitung der unseriösen Verhaltensweisen lässt aber auch hier das Strafrecht als letzte Möglichkeit, ihnen zu begegnen, erscheinen.10 Weil aber die Grenzen zwischen den verschiedenen Verhaltensweisen fließend sind, lassen Fälle, in denen ein betrügerisches oder strafbar werbendes 4
Das LG Ingolstadt nahm unmittelbar Bezug auf die Entscheidung des BayObLG v. 21. 3. 1990, wistra 1990, 240. 5 LG Ingolstadt wistra 1997, 76. 6 BGHSt 43, 270, 274ff mit Anm. Otto wistra 1998, 227f. 7 Vgl dazu v. Bubnoffm LK, 11. Aufl 1992ff, Vor § 287 Rn 17; Otto Jura 1999, 97 ff, 102. 8 OLG Rostock wistra 1998, 234 mit Anm. Otto JR 1998, 392 f. 9 Mit dem Gesetz zur vergleichenden Werbung und zur Änderung wettbewerbsrechtlicher Vorschriften v. 1. 9. 2000 (BGBl. I, S. 1374) hat der Gesetzgeber die von einem Dritten gewährten Vorteile den durch den Veranstalter gewährten Vorteilen gleichgestellt. 10 Dazu z.B. Anklageschrift der StA Oldenburg v. 7. 2. 2000, NZS - 190 Js 9043/00; Anklageschrift der StA Oldenburg v. 10. 11. 2000, NZS - 104 Js 23533/99.
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Verhalten nachweisbar ist, die Grenzen des Art. 103 Abs. 2 GG in anderen Fällen verschwimmen. Gemeinsamer Ausgangspunkt der hier einschlägigen Sachverhalte ist die „Gewinnbenachrichtigung", das „Gewinn-Scheck-Abruf-Zertifikat" oder das „Gewinn-Zertifikat", das massenhaft durch Postwurfsendungen versandt wird, um potentielle Kunden für Verkaufsveranstaltungen zu werben. Die Absendernamen sind phantasiereich und begründen keine Vermutung, dass sich hinter ihnen Veranstalter sog. „Kaffeefahrten" verbergen. Die „Gewinnbenachrichtigungen" sind ζ. T. noch an die Einsendung einer Antwortkarte eines Preisrätsels gebunden, z.T. wird die Teilnahme an einem Preisrätsel jedoch als überflüssig erachtet und den Betroffenen sogleich die „Gewinnbenachrichtigung" übersandt. Die Aussage über den Gewinn selbst wird dunkel gehalten, doch wird es den „Gewinnern" ermöglicht, nähere Einzelheiten über eine „Hotline", den „Info-Service" oder den „Beratungs-Service" zu erhalten. Allerdings kostet dieser „Service" DM 3,63 pro Minute, 11 was der aufmerksame Leser nur durch genaues Lesen auch klein gedruckter Textteile erkennen kann. Damit wird gleichsam neben der Verkaufsveranstaltung eine weitere Gewinnquelle eröffnet. Beim „Gewinner" selbst wird der Eindruck erweckt, er sei zu einer festlichen Gewinnübergabe geladen, zu der er allerdings die Fahrtkosten - gemeinhin zwischen 14,90 und 19,90 für den Bustransfer - selbst tragen müsse. - Einzelheiten der Angebote differenzieren in den rechtlich nicht relevanten Teilen, so wird z . B . je nach Jahreszeit zu „Frühlingserlebnisfahrten", „festlichen Neujahrsfeiern" oder „herrlichen und erholsamen Tagesausflügen" zur Empfangnahme des entsprechenden Gewinns geladen. Im Kern aber stimmen die Sachverhalte überein: Gewinnmitteilung - festlicher/herrlicher Ausflug, der zu einer nicht mitgeteilten - Verkaufsveranstaltung führt - Servicetelefon zu hohen Gebühren.
b) Eine typische Fallgestaltung Im Dezember/Frühjahr versandte X ein „Scheck-Abruf-Zertifikat" als Werbeschreiben, das an die jeweiligen Empfänger persönlich adressiert war. Als Absender war die Fa. X mit einem auf ein Touristikunternehmen hinweisenden Zusatz genannt. Dem jeweiligen Empfänger des Werbeschreibens wurde mitgeteilt, dass der Außendienstmitarbeiter Ζ der Fa. X ihn am gestrigen Tage besuchen wollte, um ihn „mit Ihrem Gewinnscheck aus dem Dezember/Februar-Glücksspiel zu überraschen. In der Hand einen Scheck, ausgestellt auf Ihren Namen, klingelte Herr Ζ an Ihrer Haustür. Leider waren Sie nicht zu Hause und auch Ihre Nachbarn konnten keine Auskunft ge11 Inzwischen scheint die Dt. Telekom AG hier schärfer zu differenzieren, denn auffällig häufig wird in neuester Zeit „nur" ein Preis von 1,21 DM pro Minute berechnet.
Spielgewinn ohne Spiel
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bcn ... Glücklicherweise ist noch nichts verloren!" - Da Herr 2 nämlich erst nach längerer Zeit wieder in die Gegend des Gewinners käme, habe sich die Fa. X Wunderbares einfallen lassen. Nämlich die stimmungsvolle, festliche Neujahrs-/Frühlingsfeier mit ausgiebigem Sektempfang und exquisitem Festbuffet („Natürlich alles völlig kostenlos") sowie einem exklusiv für den Gewinner vorbereiteten Uberraschungsprogramm anlässlich der persönlichen Scheckgewinnübergabe. Weiter enthielt das „Scheck-Abruf-Zertifikat" eine vom „Hauptjuror" mit einem Siegel ähnlichen Druck versehene Bestätigung, dass der Scheck für den Empfänger des Zertifikats bereit liegt: „Bei ordnungsgemäßem Eingang Ihrer Anmeldung wird Ihnen Ihr Scheck überreicht". Auf der „Anmeldung zur Neujahrs/Frühlingsfeier" war vorgemerkt, dass für den Bustransfer ein Unkostenbeitrag von 14,90/19,90 DM erhoben werden müsse. Die Hotline des Info-Beratungs-Services war um den kleingedruckten Hinweis ergänzt: (1,86 Euro, 3,63 DM je Min.). Eingestimmt auf das, was ihm entgangen und was ihn noch erwartete, wurde der Empfänger des Werbeschreibens durch einen Erlebnisbericht des Außendienstmitarbeiters Y auf der Rückseite des „Scheck-Abruf-Zertifikats": „Herr Y liebt seine Arbeit, weil er nämlich jeden Tag viele Menschen glücklich macht, da er den Geschäftsführer der Fa. X bei der Verteilung der Gewinne unterstützt." Am frühen Morgen mit dem genauen „Fahrplan" seiner Besuche bei glücklichen Gewinnern ausgestattet und vom Hauptjuror aus dem Tresor mit dem nötigen Bargeld versehen, macht Herr Y sich auf den Weg. Es gelingt ihm, die erste Gewinnerin mit 5000,- DM zu überraschen und auch der nächste Gewinn von 3000,- DM findet seinen sprachlosen Empfänger. „Doch dann die Enttäuschung". Der Hauptgewinner des Tages, der Glückspilz, der 10000,- DM in bar erhalten sollte, ist nicht zu Hause. Unverrichteter Dinge muss Herr Y sich auf den Heimweg machen. Bevor er aber schlafen geht, sorgt er dafür, dass der Hauptgewinner am nächsten Tag benachrichtigt wird. Auch wenn mit dem „Arbeitstag von Herrn Y" eindeutig ein „historisches Ereignis" geschildert wird, wachsen bei manchem Adressaten Hoffnungen auf einen ähnlichen Gewinn, die ihn veranlassen, die Busreise zu buchen, die zu einer Verkaufsveranstaltung von Bestecken, Nahrungsergänzüngsmitteln, Heizdecken, Mehrtagesreisen u. ä. führt, bei der das Gläschen Sekt nicht von bester Qualität ist, das Festbuffet sich als Kotelett mit Kartoffelsalat entpuppt und der Gewinnscheck sich als „Wertscheck" erweist, der beim Kauf der angebotenen Waren, die erheblich über 1000,- DM kosten, oder bei der Buchung einer mehrtägigen Reise mit 300,- DM angerechnet wird.
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c) Strafrechtliche Perspektiven Die geschickte Mischung von unlauterer Werbung und täuschenden Aussagen verweist geradezu zwingend auf § 4 UWG und § 263 StGB, und zwar drängen sich als strafrechtlich relevante Verhaltensweisen die „Einladung" zur Preisvergabe verbunden mit dem Verkauf der Busfahrt, die Verwendung der 0190er Telefonnummer sowie die Durchführung der Verkaufsveranstaltung auf. Doch ist es gerade diese Selbstverständlichkeit des strafrechtlichen Bezugs, die über die Problematik des Art. 103 Abs. 2 GG hinwegzuführen scheint und daher der genauen Beurteilung bedarf.
III. Die „kostenpflichtige Einladung" zur Busfahrt 1. Straßare Werbung, § 4 UWG Da die Adressaten der „Einladungen" über den wahren Wert und die Bedeutung des „Scheck-Abruf-Zertifikats" offensichtlich irregeführt wurden, und die Irreführung im Zusammenhang mit geschäftlichen Verhältnissen erfolgte, erscheint die Annahme, § 4 UWG liege vor, unproblematisch zu sein. - Sorgfältige Subsumtion bestätigt diese Annahme jedoch nicht. a) Die irreführenden Werbemaßnahmen Die Tathandlung des § 4 UWG besteht im Machen von unwahren und irreführenden Angaben, die zumindest aus der Sicht des Werbenden geeignet sind, in Bezug auf bestimmte Tatobjekte den Anschein eines besonders günstigen Angebots hervorzurufen. Die Tathandlung könnte hier in dem Versprechen zu sehen sein, an jeden Adressaten der Schreiben Gewinnschecks zu vergeben. Dann müsste es sich bei der Aussage, einen Gewinnscheck aus einem bestimmten Glücksspiel/einer Verlosung gewonnen zu haben und diesen zu erhalten, zunächst um unwahre und irreführende Angaben handeln. aa) Angaben im Sinne des § 4 UWG sind nachprüfbare Aussagen des Werbenden, die dieser über geschäftliche Verhältnisse macht, und zwar über konkrete äußere oder innere Geschehnisse oder Zustände der Vergangenheit oder Gegenwart.12 Die Mitteilung, einen Gewinnscheck gewonnen zu haben und zu erhalten, ist eine Aussage über ein konkretes Geschehnis und damit eine Angabe im Sinne des § 4 UWG. 12 Vgl BGH NJW-RR 1991, 1061; Diemer in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), Strafrechtliche Nebengesetze, Stand: März 2000, UWG, § 4 Rn 8; Otto in: Jacobs/Lindacher/Teplitzky (Hrsg.), Großkommentar UWG, 1992ff, § 4 Rn 16.
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bb) Diese Mitteilung müsste zudem unwahr und irreführend sein. - Das aber ist durchaus problematisch, weil jeder Teilnehmer der Busfahrt einen Gewinnscheck, wenn auch nur in Form eines Gutscheins, der beim Kauf bestimmter "Waren oder bei Buchung einer mehrtägigen Reise angerechnet wird, erhalten hat, wie es in dem Werbeschreiben zugesagt worden ist. Darüber hinaus sind auch die anderen zugesagten Leistungen, Teilnahme an einem Mittagessen etc., eingehalten worden. Zwar mag eine Vielzahl von Teilnehmern auf Grund der zweiten Seite des Werbeschreibens im Beispielsfall, in dem der Tagesablauf eines vermeintlichen anderen Außendienstmitarbeiters der Firma geschildert wurde, davon ausgegangen sein, Gewinner von 10 000,- DM geworden zu sein, was offensichtlich nicht der Fall war. Bei genauem Lesen des Werbeschreibens war dieser Irrtum jedoch ohne weiteres zu vermeiden. Auf der Seite, die sich an den jeweiligen Adressaten des Schreibens richtete und auf der der Gewinn zugesagt wurde, war nie die Rede davon, dass ein Gewinn in einer bestimmten Höhe gemacht worden ist. Darüber hinaus wurde auch deutlich gemacht, dass es sich bei dem Besucher des Adressaten des Schreibens um einen anderen Außendienstmitarbeiter der Fa. gehandelt hatte. Einmal war von Herrn Z, das andere Mal von Herrn Y die Rede. Objektiv gesehen waren die Angaben daher vielleicht irreführend, weil bei vielen Adressaten der Eindruck eines Geldgewinnes erweckt worden sein könnte, aber nicht unwahr. Nach Rechtsprechung und h. L. erfordert der Tatbestand des § 4 UWG jedoch unwahre und irreführende Angaben. Dies folgert die h.M. aus einem Vergleich mit § 3 UWG. Dort ist nur von irreführenden Angaben die Rede. Das Strafwürdigkeitselement, das hinzukommen müsse, um ein strafbares Verhalten zu begründen, könne daher nur darin liegen, dass die Angaben im Rahmen des § 4 UWG nicht nur irreführend, sondern auch unwahr seien. Der insoweit eindeutige Wortlaut spreche dafür, dass das Merkmal unwahr nicht mit dem Merkmal irreführend identisch sein könne. Unwahr wird von der h.M. als Gegensatz zu den tatsächlichen Gegebenheiten, und damit als der objektiven Wirklichkeit nicht entsprechend, begriffen. Im Hinblick auf die Unwahrheit der Angaben spielt die Verkehrsauffassung keine Rolle. Maßgeblich ist das objektive Verständnis des Sachverhalts.13 Nach dieser Auffassung läge der Tatbestand des § 4 UWG beim Versprechen des „Gewinns" nicht vor, da diese Angabe objektiv nicht unwahr war, denn tatsächlich wurde ein „Wert"-Scheck überreicht.
13 Vgl dazu BGH BB 1954, 299; Bay ObLGSt 1967, 127, 130; KGJR 1968, 433; OLG Stuttgart NJW 1982,115; DiemerUV/G, § 4 R n 12; Grebing wistra 1982, 86; Gnbowsky Strafbare Werbung (§ 4 UWG), 1989, S. 47ff; Hernandez Strafrechtlicher Vermögensschutz vor irreführender Werbung - § 4 UWG, 1999, S. 182ff; Klug GRUR 1975, 219; Meyer/Möhrenschlager WiVerw 1982, 24; Pfeiffer FS Lieberknecht, 1997, S. 210.
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Wird unwahr jedoch als Gegensatz zu den tatsächlichen Gegebenheiten, als der objektiven Wirklichkeit nicht entsprechend interpretiert und eine Angabe dann als zur Irreführung geeignet angesehen, wenn ein nicht völlig unbeachtlicher Teil des durch die Werbung angesprochenen Personenkreises über die wirklichen Gegebenheiten getäuscht wird, so unterscheiden sich beide Begriffe zwar inhaltlich deutlich, der Begriff „zur Irreführung geeignet" ist jedoch ohne jede praktische Bedeutung. Da objektiv unwahre Angaben grundsätzlich geeignet sind, über die wirklichen Gegebenheiten zu täuschen, käme dem Begriff einzig und allein die Bedeutung zu, aus der Strafbarkeit jene unwahren Angaben herauszunehmen, die nicht irreführend sind, d.h. die Angaben, die die Adressaten trotz ihrer Unwahrheit zutreffend verstehen.14 Die Gegenmeinung weist zutreffend darauf hin, dass es die Divergenz zwischen der Bedeutungsvorstellung und der Wirklichkeit ist, die den Verstoß gegen das Wahrheitsgebot in der Werbung begründet. Die Ausnutzung der Tatsache, dass eine bestimmte Angabe im Verständnishorizont des Empfängers einen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmenden Inhalt hat, kennzeichne das strafwürdige Verhalten. Daher sei die Verkehrsauffassung nicht nur zur Ermittlung der Irreführungseignung maßgeblich, sondern auch zur Ermittlung der Unwahrheit einer Angabe.15 Unwahr und zur Irreführung geeignet sind danach Angaben, die den durchschnittlichen Adressaten, für den die Angaben bestimmt sind, veranlassen können, sie für wahr zu halten, wodurch dieser getäuscht wird.16 - Auf der Grundlage dieser Auffassung kann das in der Einladung enthaltene Gewinnversprechen als unwahr und zur Irreführung geeignet charakterisiert werden. cc) Weiter setzt der Tatbestand des § 4 UWG aber voraus, dass sich die Angaben auf geschäftliche Verhältnisse beziehen und zudem zumindest aus der Sicht des Werbenden geeignet sind, den Anschein eines besonders günstigen Angebots für eine Ware oder Leistung hervorzurufen.17 Als relevante Leistung, bezüglich derer der Anschein eines besonders günstigen Angebots erweckt wird, kommt im Falle der verdeckten Werbung für eine sog. Kaffeefahrt nur der Bustransfer in Betracht. Die Waren, die auf der Verkaufsveranstaltung 14
Dazu auch Otto Großkommentar UWG, § 4 Rn 25. Vgl dazu Baumbach/Hefermehl Wettbewerbsrecht, 22. Aufl 2001, UWG, § 4 Rn 8; Ebert-Weidenfeller in: Achenbach/Wannemacher (Hrsg.), Beraterhandbuch zum Steuerund Wirtschaftsstrafrecht, Stand: Januar 1999, § 29 Rn 13 f; Lampe FS Lange, 1976, S. 460; Otto GRUR 1982, 280; ders. Großkommentar UWG, § 4 Rn 32ff; Tiedemann ZStW 86 (1974), 1022; ders. Wettbewerb und Strafrecht, 1976, S. 35. 16 Vgl auch BGHSt 2, 139, 145; dazu Niemeyer in: Müller-Gugenberger/Bieneck (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl 2000, § 60 Rn 16 ff. 17 Z.T. wird darauf abgestellt, dass die Angaben schon objektiv geeignet sein müssen, den Anschein eines besonders günstigen Angebots hervorzurufen; vgl dazu Diemer UWG, § 4 Rn 25. 15
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feilgeboten werden sollten, sind in dem Werbeschreiben gerade nicht erwähnt. Es wird bewusst der Zweck der Veranstaltung als Verkaufsveranstaltung kaschiert dadurch, dass nicht einmal auf den beabsichtigten Warenverkauf hingewiesen wird, geschweige denn darauf, dass Waren besonders günstig verkauft würden. In dem Werbeschreiben müssten daher in Bezug auf den Bustransfer unwahre und irreführende Angaben gemacht werden, die zudem geeignet sein müssten, den Anschein eines besonders günstigen Angebots hervorzurufen. Zu beachten ist dabei aber, dass solche Angaben nicht tatbestandsmäßig im Sinne des § 4 UWG sind, durch die das Publikum zu Werbezwecken nur angelockt wird, die sich aber noch nicht auf das Angebot einer Ware oder Leistung beziehen.18 Der Grund hierfür liegt in der Aufzählung der einzelnen besonders aufgeführten geschäftlichen Verhältnisse im Sinne des § 4 UWG: Es geht hier jeweils um Angaben, die sich unmittelbar auf die Werthaltigkeit der Ware selbst beziehen. Zutreffend hat das OLG Hamm daher verneint, dass die schwindelhafte Ankündigung einer Verlosung bei einer Werbevorführung für Waschgeräte geeignet sein könnte, den Anschein eines besonders günstigen Angebotes hinsichtlich der vertriebenen Waschgeräte hervorzurufen. Das Gericht führte aus: ,Zwar treffen die §§ 3, 4 UWG nicht die Irreführung erst bei Vertragsschluß, sondern die vor diesem liegende, durch Irreführung erreichte Anlockung des Kunden. Die Irreführung muss aber das Angebot als solches in irgendeiner Beziehung betreffen. Das bedeutet im vorliegenden Fall, daß dem Publikum gerade mit Rücksicht auf die Angaben in den Werbezetteln der Erwerb des angebotenen Waschgeräts vorteilhaft erscheinen muß. Das ist hier jedoch nicht der Fall. Die unredliche Ankündigung der Verlosung ist zwar bestimmt und geeignet, Kunden anzulocken und damit den Absatz zu fördern. Sie enthält aber weder eine Verknüpfung mit dem Angebot der Waschgeräte noch irgendwelche Erläuterungen oder Modifizierung desselben".19 Mit einer ähnlichen Argumentation hat das OLG Köln in einem Fall, in dem der Angeklagte die Interessenten durch irreführende Versprechung „und für alle Besucher 10,- DM in bar" in seine Werbe- und Verkaufsveranstaltung für Töpfe und Bratpfannen gelockt hatte, die Anwendbarkeit des § 4 UWG verneint. Irreführende Angaben - so das Gericht - , die nur zum Besuch der Werbe- und Verkaufsveranstaltung locken (Verlosung, Auslosung), fallen nicht unter § 4 UWG, weil sie die Ware nicht selbst betreffen. 20 18 Vgl dazu Diemer UWG, § 4 Rn 25; Hernandez Vermögensschutz, S. 169; Niemeyer in: Müller-Gugenberger/Bieneck (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 3. Auflage 2000, § 60 Rn 20. " OLG H a m m WRP 1963, 176, 177 20 OLG Köln MDR 1964, 1028.
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Werden diese Grundsätze auf die hier relevanten Sachverhalte angewendet, so wird ersichtlich, dass die Täter durch das Versprechen, den Teilnehmern an der Veranstaltung einen Wertscheck zu überreichen, nicht den Anschein eines besonders günstigen Angebotes im Hinblick auf die Busreisen hervorgerufen hatten und dies auch nicht beabsichtigten. Eine Busfahrt ist zweifellos eine gewerbliche Leistung i. S. d. § 4 UWG, da es sich insoweit um eine geldwerte Leistung des gewerblichen Lebens handelt.21 Für diese Leistung wurde allerdings nicht der Eindruck erweckt, als sei der Bustransfer besonders günstig. Es fehlt nämlich an jeglichem Zusammenhang zwischen dem Erhalt eines Wertschecks und den Dienstleistungen, die im Rahmen des Bustransfers angeboten worden sind. Die Aussicht, am Ziel der Reise einen Wertscheck zu erhalten, ist keine Angabe über ein „geschäftliches Verhältnis" der Busreise. Der Bustransfer war vielmehr als separate Leistung ausgewiesen, für die ein bestimmter Preis zu erbringen war. Der Transfer selbst wurde nicht als besonders günstig ausgewiesen, sondern als Leistung, für die der übliche Preis zu erbringen war. Zwischen der Leistung am Zielort u n d der Leistung des Bustransfers, die dem gezahlten
Preis entsprach, ist zu differenzieren. Auch die Fahrt mit der Eisenbahn zu einem bestimmten Ort zum üblichen Preis wird nicht dadurch eine besonders günstige bzw. ungünstige Leistung, dass der Bahnreisende am Zielort einen Vorteil erlangt oder einen Schaden erleidet. dd) Unabhängig davon erscheinen die für den jeweiligen Bustransfer erhobenen „Unkostenbeiträge" durchaus als angemessen im Hinblick auf die Bustransferleistung. Preis und Wert scheinen sich hier zu entsprechen. Sieht man das geschützte Rechtsgut des § 4 UWG aber auch im Schutz der Verbraucher gegen vermögensschädigenden oder zweckverfehlten Einsatz von Vermögen, so wäre die Feststellung eines Vermögensschadens aufgrund einer minderwertigen Transfer-Leistung Mindestvoraussetzung für eine Strafbarkeit nach § 4 UWG.22 Andernfalls wären auch solche Verhaltensweisen erfasst, bei denen es feststeht, dass es nicht einmal zu einer Vermögensgefährdung der betroffenen Verbraucher kommen kann. Ist aber die Busfahrt ihren Preis wert, so liegt weder eine Vermögensschädigung noch ein zweckverfehlter Mitteleinsatz vor. 2. Ergebnis
Trotz durchaus vorliegender Irreführung und Täuschung erfüllt die Einladung zur Busfahrt zur feierlichen/festlichen Scheckübergabe nicht die Tatbestandsvoraussetzungen des § 4 UWG. Der im Tatbestand vorausgesetzte Zusammenhang zwischen der angebotenen Leistung und der Herausstel21 22
Dazu Diemer UWG § 4 Rn 29; Otto Großkommentar UWG, § 4 Rn 53 jeweils m w N . Dazu Tröndle/Fischer StGB, 50. Aufl 2001, § 263 Rn 26 m w N .
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lung dieser Leistung als besonders günstige Leistung fehlt. Auch wenn dieser Zusammenhang im Gesetz nicht ausdrücklich als Tatbestandsmerkmal ausformuliert ist, lässt der Gesetzeswortlaut keine Zweifel an der Notwendigkeit seines Vorliegens.
IV. Das Beratungsangebot unter der Hotline 190/... 1. Die Nutzung der 0190/
- Telefonnummer als neue Betrugsmasche
Während in früheren Jahren lukrative Tätigkeiten, Kredite ohne Sicherheiten u. ä. fast ausschließlich durch Kleinanzeigen offeriert wurden, bedienen sich die Täter heute auch der modernen Technik. Wiederum unter phantasievollen Firmennamen werden massenhaft Postsendungen an Privathaushalte versandt. In den Schreiben wird den Empfängern z.B. mitgeteilt, sie seien als Test-Zuschauer ausgewählt worden, um TV-Einschaltquoten zu ermitteln. Sie würden einen bestimmten Geldbetrag und einen Großbildschirmfernseher erhalten, wenn sie bereit wären, die Nutzungszeiten und ausgewählten Sender durch ein Gerät aufzeichnen zu lassen. - In anderen Massensendungen werden wiederum Kredite zu äußerst günstigen Konditionen oder andere Leistungen in Aussicht gestellt. Den Empfängern der Schreiben wird eine kurze Rückmeidefrist eingeräumt und die Servicenummer 0190/... für weitere Informationen mitgeteilt. Die Absender der Massendrucksachen beabsichtigen weder das Fernsehverhalten von Testzuschauern zu erfassen, noch günstige Kredite zu vergeben. Ihnen kommt es allein darauf an, dass die Adressaten der Schreiben aus Interesse oder Neugier die gebührenpflichtige Servicenummer anwählen, damit die Absender an die Telefongebühren gelangen können. - Die Umsätze aufgrund einzelner Versendeaktionen erreichen in der Regel einen fünfstelligen DM-Bereich. Das relevante Tatverhalten ist hier unproblematisch als Betrug, § 263 StGB, zu erfassen, denn die Täter täuschen den Empfänger über die Möglichkeit eines lukrativen Nebenerwerbs oder eines günstigen Kredits. Diese Täuschung begründet einen Irrtum auf der Empfängerseite, der mit dem kostenpflichtigen Anruf zu einer Vermögensverfügung und damit zu einem Vermögensschaden führt, da das kostenpflichtige Gespräch für den Anrufer von Anfang an wert- und zwecklos ist. Bereicherungsabsicht, Vorsatz, Rechtswidrigkeit und Schuld bieten in diesen Fallgestaltungen keine Probleme.
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Harro Otto 2. Das Beratungsangebot in Verbindung mit einer Gewinnmitteilung
Da auch in den Fällen, in denen dem Empfänger eines Werbeschreibens ein „Gewinn-Scheck-Zertifikat" zukommt oder ein Gewinnscheck in Aussicht gestellt wird, die Einrichtung des „Info-Beratungs-Services" nicht der Aufklärung über den wahren Sachverhalt dient, sondern der Erlangung von Telefongebühren, scheint die Parallele zum täuschenden Leistungsangebot nahezuliegen. Gleichwohl ist der Vergleich schief. Der grundlegende Unterschied zwischen den Angeboten besteht darin, dass zum einen eine Leistung vorgespiegelt wird, die mit Sicherheit nicht erbracht wird, zum anderen hingegen eine Leistung angeboten wird, deren Art aber im Dunkeln gehalten wird. - Dieser tatsächliche Unterschied hat auch rechtliche Konsequenzen. a) Die Täuschung der Empfanger der Werbeschreiben Eine Täuschung der Empfänger der Werbeschreiben könnte darin liegen, dass bei ihnen der Eindruck hervorgerufen worden sein könnte, sie hätten einen Gewinnscheck gewonnen, und unter der angegebenen Telefonnummer würden ihnen nähere Informationen über den Gewinn zu Teil werden. aa) Als Täuschung wird gemeinhin ein Verhalten angesehen, das objektiv irreführt oder einen Irrtum unterhält und damit auf die Vorstellung eines anderen einwirkt.23 Die Täuschung durch positives Tun - nur solche kommt hier in Betracht - kann durch ausdrückliches Vorspiegeln oder schlüssiges (konkludentes) Verhalten erfolgen. Die ausdrückliche Täuschung setzt eine Erklärung voraus, aus deren Inhalt sich die unwahre Behauptung ergibt. Der Erklärungswert ist ebenso wie der Erklärungsinhalt nach allgemeinen Interpretationsregeln zu erschließen.24 Die Erklärung, die sich an die Adressaten der Werbeschreiben richtete, ist daher unter dem Aspekt auszulegen, ob der Angeschuldigte in seinen Schreiben falsche Tatsachen vorspiegelte oder aber wahre Tatsachen entstellte. Der Gewinn eines Wertschecks ist ein Geschehnis, das dem Beweis zugänglich ist und damit eine Tatsache. Unwahr ist eine Erklärung, wenn ihr Inhalt nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. - Das aber begründet die Problematik der „Gewinnscheck-Fälle" im Gegensatz zu den Fällen vorgetäuschter Leistungen, die niemals erbracht werden sollen. Die Erklärungen, die sich an die Adressaten der Werbesendungen richten, sind nicht unwahr. Die Teilnehmer an der „festlichen" Veranstaltung erhalten sowohl einen 23 Vgl Cramer in: Schönke/Schröder, 26. Aufl 2001, § 263 Rn 11; Tiedemann LK, 11. Aufl 1992ff; § 263 Rn 25. 24 Dazu Tiedemann LK, § 263 Rn 25 m. N.
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Wertscheck als auch den angekündigten Bustransfer. Es werden daher keine falschen Tatsachen vorgespiegelt. Eine ausdrückliche Täuschung liegt daher nicht vor. bb) Allerdings könnte in den Werbeschreiben eine konkludente Täuschung enthalten sein, aufgrund derer die Adressaten den Eindruck erlangen könnten, einen Barscheck gewonnen zu haben. Bei einer konkludenten Täuschung nimmt der Täter Bezug auf einen bestimmten Sachverhalt derart, dass dieser Bezug den Inhalt seiner Aussage mitbestimmt. Er weiß, dass sein Verhalten·nach der Verkehrssitte, Übereinkunft der Beteiligten o.a. einen ganz bestimmten Aussagegehalt hat, auf den er sich stillschweigend bezieht, und er weiß zugleich, dass das vermittelte Vorstellungsbild unrichtig ist. Auch eine objektiv wahre Erklärung kann auf diese Weise zu einer Täuschung eingesetzt werden, wenn der Täter nämlich weiß, dass dieser Erklärung im Empfängerhorizont ein anderer Inhalt als der objektiv richtige gegeben wird. 25 Auch im Rahmen der Auslegung des Gesamtverhaltens kommt aber zunächst einmal dem explizit Geäußerten eine wichtige Indizfunktion zu. Ist der Wortlaut eindeutig, besteht für eine konkludente Erklärung nur wenig Raum. Gerade das aber ist im Falle der Gewinnmitteilungen der Fall. Die Gewinnbenachrichtigungen sind nicht so aufgemacht, dass jeder Adressat davon ausgehen kann, Gewinner eines Barschecks, geschweige denn eines Barschecks über 10000,- DM geworden zu sein. Dies ergibt sich bereits daraus, dass es mehr als ungewöhnlich ist, dass es so viele Gewinner von Barschecks - eventuell auch noch in Höhe von 10000,- DM - geben könnte, dass diese mit Bussen zur Preisverleihung gebracht werden müssen, zumal die Gewinner auch noch aus einer eng begrenzten Region kommen. Darüber hinaus ist es ebenso ungewöhnlich, dass eine Person, die wahllos Barschecks verschenkt, für den Transfer zur Gewinnverteilung einen Unkostenbeitrag erhebt. Dieser Befund wird empirisch bestätigt durch Aussagen von Anrufern, soweit sie in entsprechenden Ermittlungsverfahren als Zeugen gehört wurden. Sie erklärten übereinstimmend, dass ihnen bewusst war, dass sie im Rahmen des vermeintlich durchgeführten Gewinn-/Glückspiels nicht gewonnen hatten, da sie entweder wussten, dass sie nicht an einem solchen Spiel teilgenommen hatten bzw. auf Grund ihrer bisherigen Erfahrungen davon ausgingen, dass mit dem Versprechen solcher Preise immer die Teilnahme an Verkaufsveranstaltungen verbunden war. Allen Zeugen war bekannt, dass es sich bei der angebotenen Busfahrt um eine sogenannte „Kaffeefahrt" handelte und man sie mit den in Aussicht gestellten Gewinnen nur zu einer Teilnahme an dieser Veranstaltung bewegen wollte. Sie gingen 25
Beispielhaft insoweit BGH NJW 2001, 2187 mit Anm. Otto JK 02, StGB § 263/62.
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davon aus, mit den Gewinnversprechen zu einer Verkaufsveranstaltung gelockt zu werden, bei der ihnen unter anderem ein Preisnachlass oder ähnliches gewährt werden würde. b) Der Irrtum der Anrufer Selbst wenn man aber den Gewinnmitteilungen den Charakter einer Täuschung zuerkennt, steht der empirische Befund der Feststellung eines Irrtums auf Seiten der Anrufer entgegen. Nach den bisher bekannt gewordenen Zeugenaussagen in unterschiedlichen Verfahren erklärten die Zeugen weitgehend übereinstimmend, dass ihnen bewusst war, keinen Bargeldpreis gewonnen zu haben. Dies ergab sich für die meisten schon daraus, dass sie an einem Glücksspiel gar nicht teilgenommen hatten. Ihnen war aber durchaus bewusst, dass es auf dieser Busreise zu einer Ubergabe eines Wertschecks kommen konnte, der durchaus für sie einen Wert haben konnte. Was die Anrufer der Info-Beratungs-Service-Hotline zum Anruf bewegte, war damit nicht die Tatsache, dass sie geglaubt haben, einen Barscheck zu erhalten, sondern allein die Tatsache, wissen zu wollen, welchen Preis man gewonnen hatte. Dies wollten sie wissen, um eine „Kosten-Nutzen-Analyse" im Hinblick auf eine Teilnahme an der Busfahrt anstellen zu können. Für den Anruf war daher nicht die Tatsache kausal, dass ein Eindruck hervorgerufen wurde, dass unter Umständen ein Barscheck gewonnen, wurde, sondern die tatsächlich bestehende Unsicherheit, welcher Preis gewonnen wurde, oder ob die allgemeine Lebenserfahrung auch hier zutreffen würde, nämlich dergestalt, dass es sich bei den angebotenen Preisen nur um Mittel handelte, um die Kunden zu den Verkaufsveranstaltungen zu locken. Daher erfolgte die Verfügung, selbst wenn man eine konkludente Täuschung annehmen wollte, nicht auf Grund dieser Täuschung, sondern auf Grund der Vorstellung, dass etwas in Bezug auf den Gewinn nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Diese Vorstellung war aber, wie sich später gezeigt hat, durchaus richtig. c) Vermögensverfügung und Vermögensschaden Aber auch dann, wenn man dem empirischen Befund wenig Beweiskraft zumisst, fehlt es an den weiteren Voraussetzungen des Betrugstatbestandes. Die Telefonate als Vermögensverfügung hätten nämlich unmittelbar vermögensmindernd wirken müssen. Das ist aber - unabhängig wie der Vermögens- und Vermögensschadensbegriff im Einzelnen bestimmt wird26 im Falle der hier veranlassten Telefonate nicht der Fall. Die Anrufer hatten zwar für den Anruf die angegebenen Gebühren zu zahlen, doch erhielten sie 26
Im Einzelnen dazu unter VI 3.
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dafür die entsprechende Gegenleistung. Ihnen wurde die angebotene Aufklärung über die jeweiligen Angebote zu Teil. Sie erreichten damit mit ihrer Vermögensverfügung den von ihnen angestrebten wirtschaftlichen Zweck. Soweit sich die Anrufer in ein Gespräch verwickeln ließen oder dieses Gespräch durch Bekundung von Arger und Zorn verlängerten, hat diese kostenpflichtige Gesprächsleitung ihren Grund nicht mehr in der versprochenen Auskunft über den erhaltenen Gewinn. Der Gewinn ist lediglich Anknüpfungspunkt für eine eigenständige Gesprächsverlängerung. - Nur dann, wenn dem Gesprächsteilnehmer weiterführende Informationen vorenthalten werden, ließe sich ein Vermögensschaden bejahen.
V. Die Durchführung der Verkaufsveranstaltung Ob und wieweit strafrechtlich relevantes Verhalten auf den Verkaufsveranstaltungen realisiert wird, lässt sich abstrakt nicht sagen. Möglich sind durchaus Verhaltensweisen, die den Tatbestand des § 4 UWG oder den des § 263 StGB erfüllen. Das aber sind grundsätzliche Probleme einzelner sog. „Kaffeefahrten".27 Im Zusammenhang mit der Verteilung von Gewinnzertifikaten/ Gutscheinen könnte allerdings der Tatbestand des § 4 UWG erfüllt sein, wenn der Kaufpreis von vornherein so kalkuliert ist, dass der Abzug des „Wertzertifikats" bereits bei der Preisbildung berücksichtigt ist, so dass der „Wertscheck" in Wirklichkeit wertlos ist.28 - Praktisch nachweisbar dürfte diese Situation aber nur dann sein, wenn bei der Verkaufsveranstaltung ein einziges Verkaufsobjekt angeboten wird. Werden verschiedene Verkaufsobjekte angeboten und der Scheck nur beim Kauf eines der Objekte angerechnet, während sonst der volle Preis zu zahlen ist, so kann dem „Wertscheck" sein Wert nicht ohne weiteres abgesprochen werden.
VI. Die Verknüpfung von Gewinn und Warenbezug Eine weitere, in den letzten Jahren zunehmend verbreitete Variante der Verknüpfung von Gewinnerwartung und Warenbezug beruht auf der Aussparung der „Kaffeefahrt" und der unmittelbaren Verknüpfung des „Gewinnabrufs" mit einem Warenbezug.
27 Dazu bereits Otto Die strafrechtliche Bekämpfung unseriöser Geschäftstätigkeit, 1990, S. 23 f. 28 Problematisch bleibt dann die „Mitteilung, die für einen größeren Kreis von Personen bestimmt ist".
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Harro Otto 1. Ein typischer Sachverhalt
Der BGH in Zivilsachen hatte im Rahmen der Beurteilung der Abwicklung der entsprechenden Verträge folgenden Sachverhalt zu bewerten: 29 Im Frühjahr 1997 warb die in Straßburg ansässige S. in Sendungen an private Endverbraucher mit einem sog. Gewinnspiel. Die als „Gewinn-Zertifikat" gestalteten, persönlich adressierten Schreiben waren in verschiedener Weise als zweite und endgültig letzte Gewinnbenachrichtigung bezeichnet, trugen eine Gewinn-Nummer und benannten den Angeschriebenen u.a. in der folgenden Weise als Gewinner: „Bargeld-Gewinn (50000,- DM) steht fest: Gewinn-Nr.: 435 543 Gewinner: G. K. (Empfänger)" Es wurde zugesagt, dass der Gewinn sofort nach Posteingang und der vorgeschriebenen Prüfung durch einen Juror an den Angeschriebenen ausgezahlt werde. Der Empfänger wurde weiter wie folgt persönlich angesprochen: „Beachten Sie bitte die 2 wichtigen Kopien, die wir diesem Brief beigelegt haben. Ja, Sie haben bares Geld gewonnen! Dazu gratulieren wir Ihnen ganz herzlich, allerdings müssen Sie Ihren Gewinn ganz schnell anfordern, denn diese Nachricht wird nicht wiederholt, das heißt für Sie, der Bargeld-Gewinn steht nur noch kurze Zeit zur Auszahlung bereit. Entfernen Sie vorsichtig das Gewinn-Siegel und überzeugen sie sich gleich persönlich von Ihrem Glück. Wichtig: Senden sie jetzt rasch das endgültige Gewinn-Zertifikat zusammen mit der Kopie des Gewinn-Zertifikats ein, damit Sie nun endlich Ihren Geldgewinn erhalten können. Und bitte vergessen Sie nicht, die Barcode-Marke auf den Bestellschein aufzukleben, damit Sie auch ganz sicher Ihren Gewinn bekommen. Übrigens hat sich Ihr Gewinn seit der letzten Benachrichtigung nochmals erhöht. Um wieviel, sehen Sie auf der Kopie von Ihrem Gewinn-Zertifikat!" Zur Begründung, warum die sog. Barcode-Marke unbedingt auf dem Bestellschein aufgeklebt werden müsse, heißt es in dem Schreiben: „Die Barcode-Marke enthält den Gewinnbetrag. Er wird nach Eingang Ihrer Bestellung elektronisch erfasst, damit absolut sichergestellt ist, dass Sie Ihren Bargeld-Gewinn erhalten." Auf der Rückseite des „Gewinn-Zertifikats" ist u. a. folgende Erläuterung abgedruckt:
Vgl BGH WRP 2001, 1073.
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„So gewinnen Sie: Senden Sie Ihr Gewinn-Zertifikat pünktlich ein. Wenn Ihre GewinnNummer mit einer der ausgedruckten Gewinn-Nummern übereinstimmt, haben Sie aus einem der aufgeführten Gesamtwerte einen Preis gewonnen. Die Höhe des Bargeld-Gewinns richtet sich nach der Anzahl der eingegangenen Gewinn-Zertifikate." Auf einem beigefügten Schreiben befindet sich ein Bestellschein („Mindestbestellwert: 30,- DM"). Auf diesem ist - gemäß einem besonderen Hinweis - die Barcode-Marke aufzukleben. Uber dem dafür vorgesehenen Feld steht: „ WICHTIG: Der Warenversand und unsere Kundenbetreuung erfolgen aus Deutschland." Die vorgefertigte Rückantwort ist an die S. in Straßburg adressiert. Auf der Rückseite ist „wenn zutreffend" der vorgedruckte Satz anzukreuzen: „JA, ich habe bestellt und fordere meinen Gewinn an." 2. Die rechtliche Beurteilung der Werbemaßnahme durch den BGH Der BGH kommt zu dem Ergebnis, dass das Verhalten der S. weitgehend den Tatbestand des Betrugs erfüllt, letztlich aber nicht vollständig, so dass der Tatbestand gerade nicht vorliegt: ,Ihre Werbung zielte darauf ab, Verbraucher durch Täuschung in den Glauben zu versetzen, sie hätten einen hohen Geldbetrag gewonnen und könnten diesen erhalten, wenn sie nur Waren mit einem Mindestbestellwert von 30,- DM bestellten. Ein im Sinne des $ 263 StGB bedeutsamer Irrtum wird weder dadurch ausgeschlossen, dass der Getäuschte den Irrtum hätte vermeiden können (vgl. BGHSt 34, 199, 201; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, 23. Aufl., § 263 Rn 20), noch dadurch, dass er an der Richtigkeit der ihm gemachten Erklärungen noch gewisse Zweifel hat (vgl. BGH, Urt. v. 8. 5. 1990 - 1 StR 144/90, wistra 1990, 305; Gramer in: Schönke/Schröder, 26. Aufl., j 263 Rn 40; Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch, 50. Aufl., § 263 Rn 40). Die Täuschung hat bei vielen der Angesprochenen zur Folge, dass diese Warenbestellungen aufgeben, die sie andernfalls unterlassen hätten. Der Vertragsschluss als solcher stellt allerdings keinen Schaden im Sinne des § 263 StGB dar, wenn die bestellte Ware für den Getäuschten sinnvoll verwendbar und im Vergleich zum Kaufpreis nicht minderwertig ist (vgl. BGHSt 3, 99, 102f; 16, 220, 221; 23, 300, 302; Cramer aaO § 263 Rn 128; Nack in Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl., § 47 Rn 52ff, 59ff)."
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3. Die Angemessenheit des Ergebnisses Nach den Prämissen des wirtschaftlichen30 und denen des juristisch-wirtschaftlichen31 Vermögensbegriffs ist das Ergebnis zwingend. Ist die bestellte Ware im üblichen Handelsverkehr den verlangten Preis wert und vom Käufer sinnvoll verwendbar, so fehlt es an einem Vermögensschaden. Der Warenwert ist an die Stelle des Geldwertes getreten. Anders stellt sich die Sachlage nach den Prämissen des personalen Vermögensbegriffs dar. Dieser sieht Vermögen als eine personal strukturierte Einheit, die die Entfaltung der Person im gegenständlichen Bereich gewährleistet. Sie konstituiert sich in den von der Rechtsordnung anerkannten Herrschaftsbeziehungen der Person zu Objekten (Vermögensgütern), die von der Rechtsgesellschaft als selbständige Gegenstände des wirtschaftlichen Verkehrs anerkannt werden, weil sie Gegenstand eines Rechtsgeschäfts „Tausch gegen Geld" sein können. - Ein im Zeitpunkt der Bewertung vorhandener Veräußerungswert ist unerheblich. Ein Vermögensschaden liegt nicht schon im Verlust eines Vermögenswertes, sondern die Vermögensminderung ist nur - und immer dann - Vermögensschaden, wenn der mit der Vermögensminderung erstrebte wirtschaftliche Erfolg nicht erreicht wird.32 Der wirtschaftliche Erfolg, den die Besteller anstrebten, war im vorliegenden Fall ein doppelter, nämlich zum einen der Erhalt der Ware, zum anderen der Erhalt des Geldpreises. Da der Geldpreis ihnen nicht übertragen wurde, war ihre Aufwendung zu einem wesentlichen Teil wirtschaftlich zweckverfehlt. Sie erlitten daher durch den zweckverfehlten Einsatz der Mittel einen Vermögensschaden, so dass der Tatbestand des Betrugs zu bejahen wäre.33
30 Vgl dazu RGSt 44, 233; BGHSt 1, 264; 16, 221; Am/Weber Strafrecht, Β. T., 2001, § 20 Rn 15; Krey Strafrecht, Β. T. 2, 12. Aufl 1999, Rn 428, 433; Tröndle/Fischer § 263 Rn 27; Wessels/Hillenkamp Strafrecht, Β. T. 2, 23. Aufl 2000, Rn 534. 31 Vgl dazu Cramer Vermögensbegriff und Vermögensschaden im Strafrecht, 1968, S. lOOff; Gallas FS Eb. Schmidt, 1961, S. 409; Gössel Strafrecht, Β. T. 2, 1996, § 21 Rn 120ff; Günther SK II, Stand: Juli 2001, § 263 Rn 112 ff; Küper Strafrecht Β. T., 4. Aufl 2000, S. 339; Müsch Strafrecht, Β. Τ. II, 1, 1998, § 7 Rn 84; Rengier Strafrecht, Β. Τ. I, 3. Aufl 1999, § 13 Rn 55; Schönke/Schröder/Cramer, § 263 Rn 82; Tiedemann LK, § 263 Rn 132; Zieschang FS Hirsch, 1999, S. 837 ff. 32 Vgl dazu Alwart JZ 1986, 564f; Hardwig GA 1956, 17ff; Lahsch JuS 1981, 47; Otto Grundkurs Strafrecht, Β. T., § 51 Rn 54 mwN; Schmidbauer Strafrecht, Β. T., 2. Aufl 1983, 11/1-4. 33 Gegen das Kriterium der Zweckverfehlung wird geltend gemacht, dass es auf Dispositionsschutz, nicht aber auf Vermögensschutz ziele; vgl dazu Gössel Β. T./2, § 21 Rn 172; Graul FS Brandner, 1996, S. 801 ff; Jordan JR 2000, 133ff; Kindhäuser NK, Stand: Sept. 2001, § 263 Rn 329ff; SchmollerJZ 1991,119ff; Tiedemann LK, Vor § 263 Rn 33. Dabei wird offensichtlich übersehen, dass die wirtschaftliche Zielsetzung bereits in der Bestimmung wirtschaftlicher Güter - auch im Rahmen des wirtschaftlichen und juristisch-wirtschaftlichen Vermögensbegriffs - konstitutive Bedeutung hat.
Spielgewinn ohne Spiel
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VII. Konsequenzen Wie die genaue Betrachtung der unterschiedlichen Sachverhalte zeigt, ist es durchaus möglich, der Ausbeutung der Spielleidenschaft und der Faszination, materiellen Gewinn spielend anstatt durch Arbeit zu erlangen, strafrechtliche Grenzen zu ziehen. Uberall dort nämlich, wo das ausbeutende Verhalten einen strafrechtlichen Tatbestand erfüllt. Kriminalpolitisch gefährlich hingegen ist die Instrumentalisierung des Strafrechts, wenn bereits die Erregung der Spielleidenschaft und deren Ausbeutung als solche als sozialschädlich angesehen werden. Bereits die Verknüpfung der Strafbarkeit mit der behördlichen Erlaubnis des Glücksspiels begründet erhebliche Zweifel an einem legitimen Rechtsgut des § 284 StGB. Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit sind im Hinblick auf die Gefährdung des eigenen Vermögens des Spielers kaum überzeugend begründet, da nicht das Spiel, sondern nur das behördlich nicht erlaubte Spiel unter Strafe gestellt wird. Der Verdacht, hier werde letztlich eine staatliche Einnahmequelle strafrechtlich garantiert, drängt sich geradezu auf.34 Ohne Einschränkung ist daher Dieter Meurers Einschätzung zuzustimmen, dass die Anwendung eines - vom geschützten Rechtsgut her - schon angreifbaren Tatbestandes unter dem Aspekt des Art. 103 Abs. 2 GG nicht mehr akzeptabel ist, wenn die Auslegung einzelner Merkmale der Gesetzestatbestände mehr von der Bestrafung als von der Subsumtion her erfolgt. Hier wird gleichsam das Strafrecht - entgegen der Intention des Art. 103 Abs. 2 GG - als Allzweckwaffe gegen Verhaltensweisen missbraucht, die als sozialschädlich oder auch nur als soziallästig empfunden werden. Ein mahnendes Beispiel für diese Art der Gesetzesanwendung bleibt die Anwendung des § 6 c UWG auf die „Geldgewinnspiele". Auch nach der Gesetzesänderung ist die Aufteilung zwischen Mitgliedschaft in der Spielgemeinschaft und Erwerb eines besonderen Vorteils durch die Gewinnchance unbefriedigend, denn - wie das OLG Rostock treffend erkannt hat - ist die bloße Mitgliedschaft in der Spielgemeinschaft nichts, was irgendeinen Geldoder Handelswert hätte. Die Ausnutzung der Faszination des Gewinns ohne Arbeitsleistung zur Warenveräußerung durch unseriöse und unlautere Verknüpfung erreicht kaum die Grenze strafwürdigen und strafbedürftigen Verhaltens, zumal gerade hier sozialschädliche, betrügerische und auf vermögensschädigenden oder -zweckverfehlenden Mitteleinsatz gerichtetes Verhalten durchaus sachgerecht mit den vorhandenen Straftatbeständen bekämpft werden kann, wenn ihre Auslegungsmöglichkeiten genutzt, nicht aber überschritten wer-
Dazu vgl auch Göhler NJW 1974, 833, Fn 127; Herzog EzSt, StGB § 284 Nr 2, S. 7 ff; Lampe GA 1977, 55; Lange FS Dreher, 1977, S. 573 ff; Otto Grundkurs Strafrecht, Β. T., § 55 Rn 2; Peters ZStW 77 (1965), 482f.
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den. Wird die hier bestehende Grenze nicht beachtet, so wird um den Preis der Bekämpfung sozial lästiger Verhaltensweisen das Strafrecht geschädigt, es gerät in den Bereich willkürlicher Manipulierbarkeit. Wenn in derartigen Situationen strafrechtliche Sanktionen nötig und begründbar erscheinen, ist nicht die Strafverfolgungsbehörde gefordert, sondern der Gesetzgeber.
Bemerkungen zum Bundesrats-Entwurf eines Graffiti-Bekämpfungsgesetzes 1 ULRICH
WEBER
I. Inhalt und Werdegang des Entwurfes 1. Bestrebungen, den Wortlaut der Sachbeschädigungstatbestände des StGB auszudehnen, haben eine lange Tradition. Aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sei nur § 249 Ε 1962 genannt, der über die „klassischen" Begehungsformen der Zerstörung und Beschädigung hinaus die Unbrauchbarmachung und die Verunstaltung fremder Sachen als Tathandlungen normieren wollte. Weiter sollte in § 251 Ε 1962 die Sachentziehung unter Strafe gestellt werden. - Anders als im Ε 1962 ist mit den hier zur erörternden Initiativen zunächst Berlins2 und dann Baden-Württembergs3 im Bundesrat keine auf vollständige Lückenschließung abzielende Arrondierung der Sachbeschädigungsvorschriften beabsichtigt. Vielmehr soll mit der Einführung der Begehungsform der Verunstaltung bzw. der nicht nur unerheblichen Veränderung des Erscheinungsbildes einer Sache punktuell mit den Mitteln des Strafrechts auf Farbschmierereien, auf das sog. Graffiti-Unwesen reagiert werden.4 Wie stark die Fixierung der Entwurfsverfasser auf bestimmte tatsächliche Vorgänge ist, zeigt besonders der Gesetzesantrag des Landes Berlin vom 23. 9. 1998,5 wo das Bemalen, Beschmutzen und sonstige Verunstalten an die Spitze der strafbedrohten Handlungen gestellt sind, so dass sie noch vor dem Kernbereich der Sachbeschädigung, dem Beschädigen und Zerstören, rangieren. - Solche an einzelnen als strafwürdig empfundenen Vorgängen orientierte Gesetzesänderungen scheinen für den modernen Strafgesetzgeber typisch zu werden. Hingewiesen sei auf die durch Auto1 Gesetzentwurf des Bundesrates vom 30. 11. 2001: Entwurf eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes - Graffiti-Bekämpfungsgesetz, BR-Drucks. 765/01 (Beschluss). 2 Gesetzesantrag des Landes Berlin vom 23. 9. 1998, BR-Drucks. 805/98. 3 Gesetzesantrag des Landes Baden-Württemberg vom 9. 10. 2001, BR-Drucks. 765/01 (neu). 4 Allerdings wird nicht ausgeschlossen, der Frage der Ergänzung des § 303 StGB um das Unbrauchbarmachen im weiteren Gesetzgebungsvorhaben nachzugehen; s. BR-Drucks. 805/98 (Beschluss), S. 5. 5 BR-Drucks. 805/98.
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Verschiebungen in den Ostblock veranlasste Änderung des § 265 StGB (Versicherungsmissbrauch) durch das 6. StrRG.6 Aus jüngster Zeit ist das Gesetz zur Bekämpfung gefährlicher Hunde vom 12. 4. 2001 zu nennen, 7 durch das § 143 ins StGB eingeführt wurde. § 143 StGB dehnt gezielt für Hunde die Verbotsmaterie des § 123 OWiG (Halten gefährlicher Tiere) auf schwach abstrakt gefährliche Verhaltensweisen aus, die sogar zu Kriminalunrecht aufgewertet sind. 2. Was den Werdegang des jetzigen Gesetzesentwurfs 8 anlangt, so war der Berliner Entwurf von 19989 auf die einfache Sachbeschädigung beschränkt und hatte folgende Fassung des § 303 I StGB vorgeschlagen: „ Wer rechtswidrig eine fremde Sache bemalt, beschmutzt oder sonst verunstaltet und dadurch der Gestaltungswille des Eigentümers beeinträchtigt und ein nicht nur geringer Instandsetzungsaufwand verursacht wird, oder die Sache beschädigt oder zerstört, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft". Mit Recht hat der Bundesrat diese Formulierung seinerzeit nicht übernommen. Sie war schon rein sprachlich wenig glücklich und wurde mit der Voranstellung des Bemalens usw. dem abgestuften Unrechtsgehalt der verschiedenen Arten der Sachbeeinträchtigung nicht gerecht. Auch war die Beschränkung des Änderungsvorschlages auf das Eigentumsdelikt nach § 303 StGB nicht stimmig. Auf Empfehlung der damit befassten Ausschüsse10 beschloss der Bundesrat am 19. 3. 199911 die Einbringung folgenden Gesetzentwurfs beim Deutschen Bundestag gem. Art. 76 I GG: „In §303 Abs. 1 und §304 Abs. 1 des Strafgesetzbuches ... werden jeweils die Wörter,beschädigt oder zerstört' durch die Wörter,zerstört, beschädigt oder verunstaltet' ersetzt". Der Deutsche Bundestag hat diesen Antrag Anfang 2000 abgelehnt.12 Baden-Württemberg hat am 9.10. 2001 einen gleichlautenden Entwurf im Bundesrat eingebracht.13 Auf Empfehlung der damit befassten Ausschüsse14 6 S. dazu ζ. B. U. Weber Die strafrechtliche Erfassung des Versicherungsmißbrauchs nach dem 6. StrRG 1998, Festschrift für Horst Baumann, 1999, S. 345. 7 BGBl I S. 530. 8 S. o. Fn 1. ' S . o. F n 2 . BR-Drucks. 805/1/98 vom 8. 3. 1999. 11 BR-Drucks. 805/98 (Beschluss). 12 Protokolle der Sitzungen des Deutschen Bundestages, 14. Wahlperiode, 95. Sitzung vom 23. 3. 2000, S. 8860 l.Sp. 13 BR-Drucks. 765/01(neu). " BR-Drucks. 765/1/01 vom 20. 11. 2001.
Bemerkungen z u m Graffiti-Bekämpfungsgesetz
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wurden die Wörter „oder verunstaltet" durch die Wörter „oder das Erscheinungsbild einer Sache gegen den Willen des Eigentümers oder sonst Berechtigten nicht nur unerheblich verändert" ersetzt.15
II. Das kriminalpolitische Anliegen des Entwurfs 1. Die Erforderlichkeit der beantragten Gesetzesänderung wird mit einer Lücke in den §§ 3031 und 3041 StGB begründet: Nicht alle strafbedürftigen Fälle des Bemalens, Besprühens, Beklebens u.dgl. von Sachen würden von dem Tatbestandsmerkmal „beschädigt", wie es die höchst- und obergerichtliche Rechtsprechung überwiegend verstehe, erfasst.16 a) Im Allgemeinen kann gegen die Judikatur sicher nicht der Vorwurf einer zu restriktiven Auslegung des Beschädigungsmerkmals der Sachbeschädigungstatbestände erhoben werden: Über den Kernbereich der Substanzbeeinträchtigung, die Substanzverletzung (Zertrümmern, Zerschneiden, Zerkratzen von Sachen) hinaus werden als Beschädigung Angriffe auf die Sache bewertet, welche zwar die Substanz nicht verletzen, insbesondere nicht verringern, aber die Brauchbarkeit der Sache aufheben oder beeinträchtigen, wie z.B. das Zerlegen zusammengesetzter Sachen, etwa einer Uhr oder eines Fernsehgeräts in ihre Einzelteile.17 - Wegen der Subsumtion der Vereitelung oder Beeinträchtigung des Gebrauchszwecks unter die Beschädigung besteht auch kein Bedürfnis für die Einführung der vom Ε 1962 vorgesehenen Tathandlung „Unbrauchbarmachen". Bei Kunstwerken, Denkmälern u. dgl. besteht der „Gebrauchszweck" in der ästhetischen Wirkung. Wird diese durch körperliche Einwirkung auf die Sache, z.B. durch Besudeln eines öffentlich aufgestellten Marmordenkmals mit Farbe beeinträchtigt, so liegt darin eine Sachbeschädigung.18 b) Für das Graffiti-Unwesen bedeutet diese Auslegung des Beschädigungsmerkmals folgendes: Als Substanzverletzung sind von § 303 I oder § 304 I StGB Fälle erfasst, in denen, z.B. durch das Aufsprühen von Farblack, die Sachsubstanz unmittelbar oder mittelbar (durch die notwendige Reinigung) verletzt wird. Beispiele: Das Besprühen eines Eisenbahnwagens verätzt das Metall oder die Lackierung. Die Entfernung von Besprühungen der Neuen Aula der Universität Tübingen, eines denkmalgeschützten Sandsteingebäudes, ist » BR-Drucks. 765/01 (Beschluss) vom 30. 11. 2001. " S. z.B. BR-Drucks. 765/01, S. 3ff. 17 S. dazu - mit weiteren Beispielen - z.B. Arzt/Weber Strafrecht Besonderer Teil, 2000, § 12 Rn 20 ff. 11 So bereits RGSt 43, 204.
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nur um den Preis einer - i.d. Regel auch deutlich sichtbaren - Beeinträchtigung der Sandsteinmauer möglich. O h n e Rücksicht auf eine Substanzverletzung ist als Brauchbarkeitsbeeinträchtigung strafbar z.B. das Besprühen des Frontfensters im Führerstand einer Lokomotive oder das Zukleben einer Tür mit Plakaten, so dass diese nicht mehr ohne weiteres geöffnet werden kann. Sachbeschädigung ist schließlich die Beeinträchtigung des Erscheinungsbildes einer Sache, die ästhetisch wirken soll, namentlich eines Kunstwerkes. In all diesen Fällen ist Tatbestandsmäßigkeit bei nur geringfügiger Beeinträchtigung abzulehnen. 19 c) Mit einem Teil der früheren oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung 20 und der Literatur 21 halte ich auch den nicht substanzverletzenden und nicht brauchbarkeitsmindernden Angriff auf ästhetisch anspruchslose Sachen für eine Beschädigung. Zwar kann es nicht Aufgabe der Strafvorschriften gegen Sachbeschädigung sein, alle dem Eigentümer nach § 903 BGB vorbehaltenen Befugnisse zu schützen. Aber das Strafrecht in Gestalt des § 303 StGB wird ohne Vergewaltigung des Wortlauts sachlich berechtigt herangezogen, wenn körperliche Einwirkungen auf die Sache wie Bemalen, Besprühen usw. deren Erscheinungsbild ohne den Willen des Berechtigten verändern. Der Bundesgerichtshof 22 und in seiner Gefolgschaft die Oberlandesgerichte 23 sind anderer Auffassung und verlangen eine Verletzung der Sachsubstanz oder eine erhebliche Verminderung der technischen Brauchbarkeit. 2. Mit der Ergänzung der §§ 303 I und 304 I StGB um das Merkmal der nicht nur unerheblichen Veränderung des Erscheinungsbildes soll die vorstehend 1 c) aufgezeigte Lücke geschlossen werden.
III. Einwände gegen den Entwurf Die Vermutung liegt nahe, ein Vertreter der Auffassung, auch nicht substanzverletzende und nicht brauchbarkeitsmindernde Sachbeeinträchtigungen seien Sachbeschädigungen, werde den Bundesratsentwurf lebhaft begrüßen, schaffe er doch eine sichere Rechtsgrundlage für seine Ansicht. 19
S. dazu z.B. Arzt/Weber Strafrecht Besonderer Teil, 2000, § 12 Rn 16. ° S. z.B. OLG Oldenburg JZ 1978, 70 mit zust. Anm. von F.-C. Schroeder S. 72; OLG Celle MDR 1978, 507 2 » S. z.B. Gössel 1980, 184; Maiwald JZ 1980, 256; F.-C. ScbroederjK 1987, 359; Arzt/ Weber Strafrecht Besonderer Teil, 2000, § 12 Rn 23. 22 BGHSt 29, 129. " S. neuerdings BayObLG StV 1999, 543; OLG Karlsruhe StV 1999, 544; OLG Hamburg StV 1999, 544. S. dazu auch die prägnante Darstellung von Eisele in JA 2000, 101. 2
Bemerkungen zum Graffiti-Bekämpfungsgesetz
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Wenn ich diese Erwartung enttäusche, so deshalb, weil ich bei näherer Überlegung die Bedenken gegen den Entwurf zusammengenommen für so gewichtig halte, dass mir die Klärung einer einzelnen Auslegungsfrage mit einer Gesetzesergänzung zu teuer erkauft erscheint.24 Im Einzelnen fällt folgendes ins Gewicht: 1. Wer den Binding sehen Satz vom notwendig fragmentarischen Charakter des Strafrechts25 ernst nimmt, wird keine unüberwindlichen Schwierigkeiten haben, die oben geschilderte restriktive Interpretation des Beschädigungsmerkmals durch die heutige Rechtsprechung hinzunehmen. Zu ihren Gunsten lässt sich ja immerhin ins Feld führen, dass sie sich mit dem Erfordernis der Substanzverletzung oder der Brauchbarkeitsbeeinträchtigung der Gefahr einer uferlosen Ausdehnung des Sachbeschädigungstatbestandes, hin zu einer strafrechtlichen Abschirmung möglichst vieler der dem Eigentümer in § 903 BGB garantierten Befugnisse, entgegenstellt. In diesem Zusammenhang ist auch das Subsidiaritätsprinzip zu nennen. 26 Auch soweit das Aufbringen von Graffiti keine Sachbeschädigung ist, handelt es sich um eine Eigentumsverletzung, die nach § 823 I BGB zum Schadensersatz verpflichtet. Die Kosten der Beseitigung auch von nicht substanzverletzenden Angriffen auf Sachen sind in der Regel so hoch, dass das Zivilrecht durchaus auch eine präventive Wirkung entfalten kann. 27 Schließlich sei an die in den Beratungen des Entwurfes gar nicht erwähnte Möglichkeit erinnert, öffentlich wahrnehmbare Schmierereien als Ordnungswidrigkeiten nach § 118 OWiG (Belästigung der Allgemeinheit) zu ahnden. Bereits unter Geltung (bis 1974) der Vorläufervorschrift in § 360 I Nr. 11 StGB (Grober Unfug) wurden Beschriftungen von Gebäuden als grob ungebührliche Handlungen eingestuft, die geeignet sind, eine Belästigung des Publikums herbeizuführen, mit der Folge einer Gefährdung des äußeren Bestandes der öffentlichen Ordnung. 28 Diese Definition des groben Unfugs sowie die dazu ergangene Rechtsprechung sind auch für § 118 OWiG maßgebend. 29 Auf die Anwendbarkeit des § 118 OWiG auf das unbefugte Bekleben eines Schaltkastens der Energieversorgung weist denn auch das OLG
24
S. dazu auch Arzt/Weber Strafrecht Besonderer Teil, 2000, § 12 Rn 23 a.E. S. dazu z.B. Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl 1995, § 3 Rn 11. 26 S. dazu z.B. Baumann/Weber/Mitsch aaO § 3 Rn 21-23. 27 In den Diskussionen um den Graffiti-Entwurf im Bundesrat wurde die Rolle des Zivilrechts teilweise ungerechtfertigt abgewenet; vgl. etwa die Ausführungen des thüringischen Justizministers Birkmann und des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Clement, Protokolle des Bundesrats, 768. Sitzung, S. 548 und 549. 28 S. z.B. OLG Celle NJW 1951, 772; OLG Hamburg vom 27 2. 1951 und vom 20. 4. 1951 (Leitsätze) JZ 1951, 727 f. 29 S. z.B. Karlsruher Kommentar zum OWiG {Senge) 2. Aufl 2000, § 118 Rn 1 m w N . 25
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Oldenburg30 hin. Die Justizminister von Baden-Württemberg, Göll, und von Thüringen, Birkmann, führen zur Begründung der geforderten Ergänzung der §§ 303 und 304 StGB sogar in erster Linie die Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung durch Graffiti an: Farbschmierereien in Städten und öffentlichen Verkehrsmitteln würden von vielen als Symbol für den Zerfall der öffentlichen Ordnung und als Vorläufer weiterer Zerstörung, letztlich als Gefährdung der persönlichen Sicherheit angesehen. Auch von einer Erschütterung des Rechtsbewusstseins ist die Rede. Erst an zweiter Stelle wird auf das von § 303 StGB geschützte Rechtsgut „Eigentum" abgehoben.31 Stellt man die Störung der öffentlichen Ordnung in den Vordergrund, so liegt zur besseren Graffiti-Bekämpfung eine Aktivierung des § 118 OWiG näher als eine Ausweitung des auf den Schutz von Individualinteressen ausgerichteten § 303 StGB. 2. a) Ein Missstand der durch den BGH und die ihm folgenden Oberlandesgerichte geschaffenen Rechtslage wird in den Entwurfsbegründungen vor allem auch darin gesehen, dass die Feststellung, ob Graffiti als Sachbeschädigung (weil Substanzverletzung) zu werten seien, häufig nicht ohne teure Sachverständigengutachten getroffen werden könne. 32 - Wenn man schon die Kosten der beweiskräftigen Feststellung tatbestandsmäßigen Verhaltens als Argument für eine bestimmte Ausgestaltung des materiellen Strafrechts heranzieht, so sollte man sehen, dass auch die Feststellung einer nicht unerheblichen Veränderung des Erscheinungsbildes einer Sache nicht selten ebenfalls nur mit sachverständiger Hilfe getroffen werden kann. b) Unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von unverhältnismäßigem Aufwand im Beweisverfahren und von Subsumtionsschwierigkeiten halte ich das ursprünglich für die Tatbestandsergänzung der §§ 303 I und 304 I StGB vorgesehene Verunstalten für vorzugswürdig. Zwar verlangt auch dieser Begriff Wertungen. Weil sich das Verunstalten als Tatbestandsmerkmal schon bislang im Kriminalstrafrecht findet - § 134 StGB (Verletzung amtlicher Bekanntmachungen) und § 125 Österr. StGB (Sachbeschädigung) und sich Rechtsprechung und Literatur damit befasst haben, dürfte es schärfere Konturen aufweisen als das Merkmal der nicht unerheblichen Veränderung des Erscheinungsbildes. c) Die Ersetzung des Verunstaltens durch die nicht unerhebliche Veränderung des Erscheinungsbildes erfolgte aus der Befürchtung heraus, „der Begriff des ,Verunstaltens' werfe in der gerichtlichen Praxis Anwendungsprobleme auf, da mit ihm eine künstlerische und ethische Bewertung verbunden 30 31 32
J Z 1978, 70, 71 r. Sp. unten. Protokolle der Sitzungen des Bundesrats, 768. Sitzung, S. 546ff. S. z . B . BR-Drucks. 805/98 (Beschluss) und 765/01 (Beschluss).
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sei. Gegebenenfalls müsse mit Hilfe eines Gutachters entschieden werden, ob das Graffiti die Optik der Fassade verschlechtere oder ob diese künstlerisch sogar aufgewertet werde". Mit der Veränderung des Erscheinungsbildes der Sache gegen den Willen des Eigentümers oder sonst Berechtigten werde klar gestellt, dass es ausschließlich auf deren Gestaltungswillen ankomme. 3 3 Mir scheint die Gefahr, die Strafgerichte würden in Besprühungen, Bemalungen u.dgl. von Sachen keine Verunstaltung, sondern eine vom Tatbestand nicht erfasste ästhetische Aufwertung erblicken, eher gering zu sein. Sollten in Einzelfällen mit dieser Begründung tatsächlich Freisprüche erfolgen, so wären diese hinzunehmen. - Zivilrechtlich führen (auch) unbefugte Bearbeitungen der Oberfläche beweglicher Sachen, z.B. das Bemalen, zum Eigentumserwerb, wenn den von § 9501 1 BGB geforderten Wertverhältnissen Rechnung getragen ist. Das berechtigt zu der Frage, ob das Strafrecht gut daran tut, jedes gestalterische Handeln gegen den Willen des Eigentümers zu erfassen. d) Ohnehin nicht sachgerecht wäre die im Entwurf vorgesehene Übernahme des Merkmals „gegen den Willen des Eigentümers oder sonst Berechtigten" in den § 304 StGB. Denn die gemeinschädliche Sachbeschädigung ist kein gegen das Eigentum oder sonstige private Rechte, etwa Gebrauchsrechte, sondern ein gegen die Erhaltungsinteressen der Allgemeinheit gerichtetes Delikt, mit der Folge, dass der Sacheigentümer, z.B. eines öffentlichen Denkmals, Täter sein kann. 34 Zutreffend wird deshalb in den Bußgeldtatbeständen des Denkmalschutzrechts, etwa in § 271 Nr. 1 i.V. mit §5 8 und 15 DenkmalschutzG für Baden-Württemberg, 35 auf ein Handeln ohne Genehmigung der Denkmalschutzbehörde abgehoben. 3. Das Merkmal der Veränderung des Erscheinungsbildes einer Sache spielte bislang vor allem im Denkmalschutzrecht eine Rolle. Das badenwürttembergische DenkmalschutzG stellt in § 81 Nr. 1 die Beeinträchtigung des Erscheinungsbildes eines Kulturdenkmals unter Genehmigungsvorbehalt. Ist ein Kulturdenkmal im Denkmalbuch eingetragen, bedarf sogar jede Veränderung seines Erscheinungsbildes der Genehmigung der Denkmalschutzbehörde, § 15 I Nr. 2. Vorsätzliche und fahrlässige Zuwiderhandlungen sind in § 27 I Nr. 1, II baden-württembergisches DenkmalschutzG als Ordnungswidrigkeiten mit Geldbuße bedroht. - Tatbestandsmäßig sind auch Änderungen, die nicht mit einem nennenswerten körperlichen Eingriff in die Sache verbunden sind, wie z.B. die Anbringung von Werbetafeln und 33
BR-Drucks. 765/1/01, S. 3. S. z.B. Arzt/Weber Strafrecht Besonderer Teil, § 12 Rn 34; Schönke/Schröder/Stree StGB, 26. Aufl 2001, § 304 Rn 1. 35 Vom 25. 5. 1971 i.d.F. vom 6. 12. 1983 (GBl S. 797) mit späteren Änderungen. 34
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der Anbau einer Garage an eine Jugendstilvilla.36 Als Änderungen des Erscheinungsbildes sind m.a.W. auch Handlungen erfasst, die nach der oben II. 1. c) vertretenen Auslegung des Beschädigungsmerkmals bislang nicht den §§ 303 I und 304 I StGB unterfallen. Die geplante Ergänzung der §§ 303 I und 3041 StGB um das Merkmal der Änderung des Erscheinungsbildes würde also zum einen dahingehende Handlungen gegen Kulturdenkmäler zu Straftaten nach § 304 I StGB aufwerten. Neu geschaffen würde zum anderen die Ahndbarkeit (und zwar gleich mit Kriminalstrafe, § 303 StGB) von Änderungen des Erscheinungsbildes ästhetisch und kulturgeschichtlich belangloser Sachen, auch wenn mit ihnen keine körperliche Einwirkung auf die Sache verbunden wäre, wenn sie nur gegen den Willen des Eigentümers oder sonst Berechtigten erfolgten. Vor einer derartigen Lösung der Sachbeschädigungstatbestände von der körperlichen Einwirkung auf die Sache kann nur dringend gewarnt werden. Denn ihr wohnt die Tendenz einer nicht mehr kontrollierbaren Ausweitung der Strafbarkeit auf immer neue als strafwürdig empfundene Fälle inne. Dass den Verfassern und Befürwortern des Bundesrats-Entwurfes Fälle körperlicher Einwirkungen auf Sachen - Bemalen, Besprühen u.dgl. - vorgeschwebt haben, könnte nach allen Erfahrungen eine darüber hinausgehende erweiternde Auslegung der Sachbeschädigungstatbestände schwerlich verhindern.
36 Weitere Beispielsfälle für Beeinträchtigung und Änderungen des Erscheinungsbildes bei Strobl/Majocco/Sieche Denkmalschutzgesetz für Baden-Württemberg. Kommentar und Vorschriftensammlung, 2. Auf] 2001, § 8 Rn 15 und § 15 Rn 6.
Zum Tatobjekt des § 353d Nr. 3 StGB CHRISTOPH
RENNIG
Dieter Meurers Kolumne in der „Oberhessischen Presse" hatte ebenso Pfiff und Biss1 wie seine der Fachöffentlichkeit besser bekannten Urteilsanmerkungen und Rezensionen. Man kann sich gut vorstellen, dass er Strafverfahren wegen eines Vergehens nach § 353d Nr. 3 StGB gerne wie gewohnt geschliffen kommentiert hätte. Schließlich ist § 353d Nr. 3 StGB ein ganz besonderer Tatbestand unter denen des Besonderen Teils des StGB. Er ist nicht nur wegen der meist spektakulären Sachverhalte, die den zu ihm ergangenen Entscheidungen zugrunde lagen, in die bundesrepublikanische Rechtsgeschichte eingegangen, sondern u.a. auch deshalb, weil er dem BVerfG Anlass zu der Feststellung gegeben hat, dass eine Norm nicht deshalb verfassungswidrig ist, weil der durch sie bezweckte Rechtsgüterschutz durch weiter gehende Grundrechtseingriffe noch besser zu erreichen wäre.2 Die Kritik an der Norm wird markant formuliert.3 Als damalige Oppositionsabgeordnete hat auch die jetzige Bundesministerin der Justiz einen Gesetzentwurf zur ersatzlosen Streichung dieses Tatbestands mit eingebracht.4 Der wirft zahlreiche Streitfragen auf. Hier soll nur das Tatobjekt „amtliche Schriftstücke" erörtert werden. Es geht darum nachzuweisen, dass die von vielen befürwortete Einengung der Strafbarkeitszone des § 353d Nr. 3 StGB nicht über den Begriff des Tatobjekts erreicht werden kann. Die Definition des Subjektteils des Begriffs „amtliche Schriftstücke" bereitet keine Probleme. Unter einem Schriftstück ist nach allgemeiner und zutreffender Ansicht eine durch Schriftzeichen verkörperte Gedankenerklärung zu verstehen.5 1 Leseproben finden sich in der Dieter Meurer zum 50. Geburtstag gewidmeten „lockeren Festschrift", pseudonym dargebracht von Schülern und Freunden als Franz v. Liszt et al. (Hrsg.) Lust und Last des Strafrechts, Marburg 1993, S. 134-169. 2 BVerfGE 71, 206, 218. ' Z.B. bei Dreher/Tröndle StGB, 48. Aufl 1997, § 353d Rn 6: „Schlag ins Wasser"; bei Bottke JR 1980, 474: „liefert (...) keinen erhaltenswerten Beitrag zum staatlichen Rechtsgüterschutz" und bei Schomburg StV 1984, 338: „Sinn machte es (seil: das Publikationsverbot) nie". 4 Gesetzentwurf der Abgeordneten Fischer (Osthofen), Frau Dr. Däubler-Gmelin, Dr. Emmerlich u.a. und der Fraktion der SPD vom 10. 11. 1982, BT-Drs. 9/2089. 5 Schönke/Schröder/Lenckner/Perron StGB, 26. Aufl 2001, § 353d Rn 12; LK-Träger StGB, 10. Aufl 1988, § 353d Rn 44; NK-Kuhlen StGB, 1. Aufl 1995, § 353d Rn 9.
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Christoph Rennig
Umstritten ist hingegen, wann ein Schriftstück als „amtlich" zu gelten hat. Die als Tatobjekte tauglichen Schriftstücke müssen sowohl „amtliche" als auch solche „eines Strafverfahrens" sein. Nach der engsten an diesem Wortlaut orientierten Auslegung stellt nur ein Schriftstück, das von einer mit dem Verfahren befassten Behörde6 für eben dieses Verfahren erstellt wurde, ein taugliches Tatobjekt dar.7 Die extreme Gegenposition sieht ein Schriftstück schon immer dann als tatbestandsmäßig an, wenn eine mit dem Verfahren befasste Behörde seine Bedeutsamkeit für das Verfahren bejaht hat. 8 Ihr zufolge erfasst § 353d Nr. 3 StGB also alle Schriftstücke, die von oder im Auftrag einer Behörde für das fragliche Verfahren erstellt oder die von ihr zur Akte oder sonst zum Verfahren genommen wurden. Hierzu zählen insbesondere auch beschlagnahmte Schriftstücke privaten Ursprungs. Eine im Ergebnis vermittelnde Ansicht folgt der engsten Wortlautauslegung insoweit, als sie nur von einer Behörde erstellte Schriftstücke dem Tatbestand unterstellt. Sie greift jedoch weiter, indem sie auch solche von einer Behörde stammenden Schriftstücke als taugliche Tatobjekte ansieht, die von den Trägern des betreffenden Strafverfahrens dem Strafverfahren lediglich zugeordnet, nicht jedoch für eben dieses Verfahren gefertigt wurden.9 Danach zählen etwa auch behördlicherseits erstellte Bestandteile beigezogener Akten zu den amtlichen Schriftstücken. Alle Auffassungen sind von der Wortfolge „amtliche Schriftstücke eines Strafverfahrens" gedeckt. Auch die weiteste verbiegt den möglichen Wortsinn nicht. „Amtlich" kann nämlich durchaus all das sein, was von einer Behörde zu ihrer Akte oder sonst von ihr in Beschlag genommen wurde. So werden denn der weiten Auslegung auch ausschließlich solche Argumente entgegen gehalten, die außerhalb des Wortlauts der Norm begründet sind. Ein systematisches Argument soll sich aus den §§ 133 StGB und 96 StPO ergeben. In beiden Vorschriften ist von Schriftstücken in dienstlicher (§ 133 Abs. 1 StGB) bzw. amtlicher (§ 133 Abs. 1 StGB a.F., § 96 StPO) Verwahrung die Rede. Hieraus wird abzuleiten versucht, dass § 353d Nr. 3 StGB nur originär amtliche Schriftstücke erfasse.10 Indessen ist es schon wegen des unterschiedlichen Wortlautes keinesfalls zwingend, dass „amtliche Schriftstücke eines Strafverfahrens" identisch sein müssen mit „Schriftstü«I.S. des § 11 Nr 7 StGB. 7
Senfft StV 1990, 411.
« HansOLG Hamburg StV 1990, 409ff m. abl. Anm. S e n f f t ; LK-Träger (Fn 5) § 353d
Rn 48; Schönke/Schröder/Lenckner/Perron (Fn 5) § 353d Rn 43; Tröndle/Fischer StGB,
50. Aufl 2001, § 353d Rn 4; Maurach/Schroeder/Maiwald Strafrecht Besonderer Teil, Teilband 2, 8. Aufl 1999, 275. ' SK-Hoyer StGB, 5. Aufl 1997, § 353d Rn 21; N K - K u h l e n (Fn 5) § 353d Rn 9f, so wohl auch Lackner/Kühl StGB, 24. Aufl 2001, § 353d Rn 4; AG Hamburg NStZ 1988, 411, 412 m.
zust. Anm. Strate NStZ 1988, 412. 10 Senfft StV 1990, 411; Strate NStZ 1988, 412; den. StV 1988, 495; NK-Kuhlen (Fn 5) § 353d Rn 10.
Zum Tatobjekt des § 353d Nr. 3 StGB
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cke(n) in amtlicher (dienstlicher) Verwahrung". Doch auch wenn man einen normativen Gleichklang zwischen den genannten Bestimmungen unterstellt, ergibt sich aus §§ 133 Abs. 1 StGB und 96 StPO nichts für die enge Auslegung des § 353d Nr. 3 StGB. Denn für § 133 Abs. 1 StGB ist anerkannt, dass eine Gerichtsakte in toto ein Schriftstück in dienstlicher bzw. amtlicher Verwahrung darstellt. Paradebeispiel ist die zwecks häuslichen Studiums in der Wohnung des Richters oder Staatsanwalts befindliche Akte. 11 N u n bestehen aber die Akten eines Zivilprozesses oder eines Verfahrens vor einem Arbeits-, Verwaltungs-, Sozial-, Finanz- oder Verfassungsgericht ganz wesentlich aus den Schriftsätzen der Parteien oder Antragsteller, d.h., aus Schriftstücken privaten Ursprungs. 12 Stellt jedoch die Akte eines solchen Verfahrens mit all ihren Bestandteilen ein Schriftstück in dienstlicher Verwahrung dar, so lässt sich nicht begründen, weshalb nicht auch Akten von Straf-, Bußgeld- oder Disziplinarverfahren insgesamt aus amtlichen Schriftstücken bestehen sollten. Ein Grund für eine Sonderbehandlung solcher Akten ist nicht ersichtlich. Nichts anderes ergibt sich aus § 96 Satz 1 StPO. Auch hier gilt, dass jeder Bestandteil einer Behördenakte ungeachtet seines Ursprungs ein in amtlicher Verwahrung befindliches Schriftstück darstellt. Der Tatbestandsformulierung „von Akten oder anderen in amtlicher Verwahrung befindlichen Schriftstücken" lässt sich entnehmen, dass eine Akte in ihrer Gesamtheit zu den in amtlicher Verwahrung befindlichen Schriftstücken zählt. Auch sachlich ist der Ursprung eines in einer Akte befindlichen Schriftstücks für die in § 96 StPO normierte Einschränkung der Amtshilfepflicht nicht entscheidend. Denn auch das Bekanntwerden des Inhaltes eines originär privaten Schriftstückes, das zu der Behördenakte genommen wurde, kann dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten. Daher kann dem § 96 StPO nicht entnommen werden, dass sich nur solche Schriftstücke, die von einer Behörde erstellt wurden, in amtlicher Verwahrung befinden. Umgekehrt lässt sich aus §§ 133 StGB und 96 StPO ebenso wenig herleiten, dass auch Schriftstücke privaten Ursprungs, die zu einer Strafverfahrensakte genommen wurden, taugliche Tatobjekte des § 353d Nr. 3 StGB sein müssen. Denn aus diesen Bestimmungen könnte nur dann zwingend auf die Bedeutung der Tatbestandsmerkmale des § 353d Nr. 3 StGB geschlossen werden, wenn fest stünde, dass „in dienstlicher (amtlicher) Verwahrung" mit „amtlich" gleichzusetzen ist. Diese Gleichsetzung ist aber nicht begründbar. 11
IX-v.
Bubnoff
StGB, 10. Aufl 1988, § 133 Rn 9 m w N unveröffentlichter Entscheidun-
gen des BGH; Tröndle/Fischer (Fn 5) § 353d Rn 3 aE; Maurach/Schroeder/Maiwald
(Fn 8),
S. 238; Geppert Jura 1986, 596; vgl auch BGH GA 1978, 206: amtlicher Gewahrsam des Staatsanwalts an einer Akte, die er einem Rechtsanwalt überbringen soll. 12 Dass sich auch diese Schriftsätze in dienstlicher Verwahrung befinden, hebt LK-v. Bubn o f f (Fn 11) ausdrücklich hervor; wieder m w N unveröffentlichter Entscheidungen des BGH.
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Auch einer Gegenüberstellung der Wortlaute der §§ 133 und 134 StGB kann kein systematisches Argument für eine enge Auslegung des § 353d Nr. 3 StGB entnommen werden. Tatobjekte dieser Tatbestände sind einmal „Schriftstücke in dienstlicher Verwahrung" (§ 133 StGB) und das andere Mal ein „dienstliches Schriftstück" (§ 134 StGB). Während Schriftstücke in dienstlicher Verwahrung i.S. des § 133 StGB auch privaten Ursprungs sein können, 13 erfasst § 134 StGB nach wohl einhelliger Auffassung lediglich von einer Behörde erstellte Schriftstücke 14 . Aus diesen unterschiedlichen Bezeichnungen und Bedeutungen der Tatobjekte der §§ 133 und 134 StGB soll folgen, dass der Begriff des amtlichen Schriftstücks in § 353d Nr. 3 StGB identisch sei mit dem des dienstlichen Schriftstücks in § 134 StGB. 15 Letztlich soll also die Wortfolge „dienstliches (amtliches) Schriftstück" überall im StGB als „Schriftstück dienstlichen (amtlichen) Ursprungs" gelesen werden müssen, nur weil ihr in § 133 StGB diese Bedeutung zukommt. Dies überzeugt nicht. Denn die herkömmliche Auslegung des in § 133 StGB enthaltenen Begriffs ergibt sich nicht bereits zwingend aus dem Wortlaut. Sie ist vielmehr vom Normzweck mit bestimmt, der darin liegt, eine Beeinträchtigung der mit der amtlichen Bekanntmachung eines Schriftstücks verfolgten Zwecksetzung zu verhindern und die Wirksamkeit und Integrität öffentlicher Kundmachungen zu schützen. 16 Diesem Zweck dient § 353d Nr. 3 StGB sicherlich nicht. Auch die Nrn. 1 und 2 des § 353d StGB enthalten das Tatbestandsmerkmal „amtliches Schriftstück", wenn auch nicht mit der Qualifikation „des Strafverfahrens", sondern mit der Kennzeichnung „die Sache betreffend (...)". Jedoch ist nach zutreffender allgemeiner Ansicht der Begriff „amtliches Schriftstück" in allen drei Tatbeständen einheitlich auszulegen. 17 Hoyer will beschlagnahmte private Schriftstücke als taugliche Tatobjekte nach § 353d Nr. 3 StGB unter Bezugnahme auf die Nr. 1 der Norm ausschließen. Er führt an, dass es Zweck der Nr. 1 sei, der Veröffentlichung von Schriftstücken zu vorzubeugen. Indessen verfolge eine Beschlagnahme von SchriftVgl die Nachw in Fn 11 und 12. Lackner/Kühl (Fn 9) § 134 Rn 2; LK-ΪΛ Bubnoff (Fn 11) § 134 Rn 3; so iE auch Tröndle/Fischer (Fn 8), die bei § 134 Rn 2 zwar zunächst auf die Erläuterung in § 133 Rn 2 verweisen - wonach § 133 Schriftstücke jeder Art erfasst dann aber (§ 134 Rn 2 aE) ausführen, ein dem § 134 unterfallendes Schriftstück müsse einen amtlichen Inhalt haben; so auch SK-Rudolph ι StGB, 6. Aufl 1998, § 134 Rn 3; unklar Schönke/ Schröder/Cramer/SternbergLieben (Fn 5) § 134 Rn 3. 15 So AG Hamburg NStZ 1988, 411, 412. LK-w. Bubnoff (Fn 11) § 134 Rn 1; SK-Rudolphi (Fn 14) § 134 Rn 1. 17 So iE LK-Träger (Fn 5) § 353d Rn 15 und 45; Schönke/Schröder/ Perron (Fn 5) § 353d Rn 12, 33 und 43; Tröndle/Fischer (Fn 8) § 353d Rn 4 bis 6; SK-Hoyer (Fn 9) § 353d Rn 12, 19 und 21 und NK-Kuhlen (Fn 5) § 353d Rn 9 und 28, die das Merkmal bei Nr 1 kommentieren und bei den Erläuterungen zu Nrn 2 und 3 darauf verweisen. 13
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Zum Tatobjekt des § 353d Nr. 3 StGB
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stücken nicht das Ziel, deren Veröffentlichung zu verhindern.18 Für die Tauglichkeit eines Schriftstücks als Tatobjekt des § 353d Nr. 3 StGB kommt es jedoch nicht darauf an, ob das Schriftstück, als es dem Verfahren zugeordnet wurde, damit einer Veröffentlichung entzogen werden sollte. Denn hinge die Tatobjektsqualität eines Schriftstücks davon ab, dass es gerade zur Vermeidung seiner Nutzung qua Veröffentlichung dem Verfahren zugeordnet wurde, so wäre nicht verständlich, weshalb auch behördlicherseits produzierte Bestandteile beigezogener Akten nach ganz überwiegender Auffassung19 taugliche Tatobjekte sind. Denn Beiakten werden in der Regel nicht beigezogen um ihre Veröffentlichung zu verhindern. Der Abs. 2 des § 174 GVG, auf den § 353d Nr. 1 StGB Bezug nimmt, kann nichts Erhellendes zum Verständnis des § 353d Nr. 3 StGB beitragen. Da § 174 Abs. 2 GVG das Blanken des § 353d Nr. 1 StGB ausfüllt, muss das beiden Tatbeständen gemeinsame und auch in § 353d Nr. 3 StGB enthaltene Merkmal „amtliche Schriftstücke eines Strafverfahrens" zwangsläufig jeweils im gleichen Sinne ausgelegt werden. Mehr lässt sich den §§ 171aff GVG nicht entnehmen. 20 Für die Tatbestandsmäßigkeit der Veröffentlichung ursprünglich privater Schriftstücke hat das HansOLG Hamburg den § 381 StPO ins Feld geführt. 21 Aus der Formulierung „Anklageschrift oder andere amtliche Schriftstücke" in § 353d Nr. 3 StGB folge, dass jede Anklageschrift ein amtliches Schriftstück darstelle. Da eine Anklageschrift indessen auch von einem Privatkläger erstellt worden sein kann (§ 381 StPO), stellten nicht nur von Privaten erstellte Anklageschriften Tatobjekte des § 353d Nr. 3 StGB dar, sondern grundsätzlich auch andere von Privaten herrührende Schriftstücke, die für das Strafverfahren Bedeutung erlangt haben. Auf den ersten Blick könnte das Hauptargument des BVerfG für die Verfassungsmäßigkeit der Bestimmung der Folgerung widersprechen, dass amtliche Schriftstücke nicht stets die Erklärung einer Behörde enthalten müssten. Das BVerfG hat hervorgehoben, dass eine wortgetreue Wiedergabe von Aktenteilen „den Eindruck amtlicher Authentizität" 22 erwecke und bezwecke und daher in der Regel 18
SK-Hoyer (Fn 9) § 353d Rn 12. Schönke/Schröder/Lenckner/Perron (Fn 5) § 353d Rn 12; LK-Träger (Fn 5) § 353d Rn 44; NK-Kuhlen (Fn 5) § 353d Rn 9. Dieser Ansicht folgen iE SK-Hoyer (Fn 9) § 353d Rn 21 und Tröndle/Fischer {Fn 8) § 353d Rn 4. 20 Die Kommentierungen des § 174 Abs 2 GVG bei Kleinknecht/Meyer-Gossner StPO, 45. Aufl 2001; Pfeiffer, StPO, 3. Aufl 2001; KK-Diemer StPO, 4. Aufl 1999, und Katholnigg Strafgerichtsverfassungsrecht, 3. Aufl 1999, behandeln das Merkmal gar nicht; Kissel GMG, 3. Aull 2001, § 174 Rn 22 führt nur aus, dass „amtlich" „also nicht privat" bedeute; LRK. Schäfer/Wickem StPO, 24. Aufl 1996, § 174 GVG Rn 25 verweisen in erster Linie auf die Kommentierungen zu § 353d StGB. 21 HansOLG Hamburg StV 1990, 409, 410. 22 Der im Zusammenhang mit § 353d N r 3 StGB viel gebrauchte Terminus „authentifizierende Wirkung der Amtlichkeit" geht zurück auf Többens GA 1983, 107 19
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eine weiter gehende Wirkung haben werde als eine bloße inhaltliche Mitteilung durch einen Dritten. 23 Doch zählen zu den vom BVerfG angesprochenen Aktenteilen mit amtlicher Authentizität zweifellos auch Vernehmungsprotokolle aus dem Ermittlungsverfahren. U m deren Veröffentlichung ging es gerade in dem damals entschiedenen Fall. Vernehmungsprotokolle geben aber inhaltlich eine Erklärung eines Beschuldigten oder eines Zeugen wieder. Den Eindruck amtlicher Authentizität erhalten sie dadurch, dass sie von einer Behörde aufgenommen werden. In vergleichbarer Weise erhält die Anklageschrift des Privatklägers durch ihre Zulassung nach § 382 StPO das Siegel des Amtlichen. Jedoch betreffen die §§ 381, 382 SPO einen Ausnahmefall, den die am Gesetzgebungsverfahren zu § 353d StGB Beteiligten nicht unbedingt bedacht haben dürften. 24 Deshalb ist zweifelhaft, ob daraus, dass die im Tatbestand ausdrücklich genannte Anklageschrift auch von einem Privaten verfasst worden sein kann, folgen muss, dass die weiter als Tatobjekte genannten amtlichen Schriftstücke auch privaten Ursprungs sein können. Die systematische Auslegung erbringt mithin kein eindeutiges Ergebnis. Daher kann sich nur am Normzweck entscheiden, welche Schriftstücke als „amtlich" anzusehen sind. Bereits die Ermittlung des geschützten Rechtsguts bereitet Probleme. Nach fast einhelliger Auffassung soll § 353d Nr. 3 StGB dem Schutz der Rechtspflege, insbesondere der Unvoreingenommenheit oder Unbefangenheit der Laienrichter und Zeugen, dienen. 25 Teilweise wird es als weiterer Schutzzweck angesehen, einer Vorverurteilung des Beschuldigten 26 oder einer Bloßstellung der von dem Verfahren Betroffenen, nicht nur des Beschuldigten, vorzubeugen. 2 7 In der Erörterung werden sowohl der Gegenstand der Diskussion als auch der Fundus der Argumente nahezu ausnahmslos BVerfGE 71, 206, 216. In den Begründungen zu § 353d StGB im Entwurf des EGStGBfindensich keine Hinweise darauf, dass unter Anklageschriften bewusst auch solche des Privatklägers verstanden worden wären; vgl BT-Drs. VI/3250, S. 271-273 und BT-Drs. 7/550, S. 282-284. 25 LK-Träger (Fn 5) § 353d Rn 38; Schönke/Schröder/Lenckner/Perron (Fn 5) § 353d Rn 40; Tröndle/Fischer {Fn 8) § 353d Rn 1; SK-Hoyer(¥n 9) § 353d Rn 6 und 25; NK-Kuhlen (Fn 5) § 353d Rn 25; Uckner/Kühl (Fn 9) § 353d Rn 4; TöbbensGK 1983, 95; Bottke JR 1980, 475; ders. NStZ 1987, 315; Berksen NStZ 1993, 312; OLG Hamm NJW 1977, 967; LG Lüneburg NJW 1978, 117; OLG Köln JR 1980, 473; AG Nürnberg MDR 1983, 424; HansOLG Hamburg StV 1990, 409, 410; LG Mannheim NStZ-RR 1996, 360, 361; aA Waldner MDR 1983, 424. 26 LK-Träger (Fn 5) § 353d Rn 39; Tröndle/Fischer (Fn 8) § 353d Rn 1; Lackner/Kühl (Fn 9) § 353d Rn 2; Többens GA 1983, 105f; Waldner MDR 1983, 424; Bottke JR 1980, 475; ders. NStZ 1987, 315 und 317; Derksen NStZ 1998, 312; LG Lüneburg NJW 1978, 117; AG Weinheim NJW 1994, 1543, 1545; LG Mannheim NStZ-RR 1996, 360, 361; so wohl auch Rogall NStZ 1984, 264; kritisch OLG Hamm NJW 1977, 967; aA Schönke/Schröder/Lenckner/Perron (Fn 5) § 353d Rn 40; SK-Hoy er (Fn 9) § 353d Rn 25; NK-Kuhlen (Fn 5) § 353d Rn 25. 27 Lackner/Kühl (Fn 9) § 353d Rn 1. 23
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auf das Strafverfahren beschränkt. Dies war und ist bisher sachgerecht, weil im Bußgeldverfahren über § 46 OWiG ohnehin die StPO gilt und weil auch die Disziplinargesetze eine der strafprozessualen Hauptverhandlung strukturell weitgehend gleiche Hauptverhandlung und ergänzend die entsprechende Anwendung der StPO vorsehen. 28 Vom Jahre 2003 an unterliegt jedoch das Disziplinarverfahren nach dem BDG 2 9 der Verhandlungsmaxime. 30 Erstaunlicherweise hat dieser Paradigmenwechsel31 dem Gesetzgeber keinen Anlass zur Änderung des § 353d Nr. 3 StGB gegeben, soweit darin das Disziplinarverfahren angesprochen ist. Weitgehende Einigkeit besteht darin, dass der Tatbestand in seiner derzeitigen Fassung keinesfalls geeignet ist, einen optimalen Schutz der als geschützt diskutierten Rechtsgüter zu bewirken: Die Unbefangenheit von Verfahrensbeteiligten könne durchaus in gleichem Maße oder noch eher als durch eine wörtliche Veröffentlichung durch eine nur sinngemäße - u . U . entstellende - öffentliche Wiedergabe von Schriftstücken beeinträchtigt werden, 32 ebenso dadurch, dass der Inhalt von Schriftstücken anders als durch Veröffentlichung zur Kenntnis der Verfahrensbeteiligten gelange. 33 Der Beschuldigte werde nur unzureichend geschützt, weil sowohl die öffentliche Mitteilung ihn entlastender Schriftstücke von der Strafbarkeit ausgenommen ist 34 als auch die nur sinngemäße - wiederum u. U. entstellende - öffentliche Mitteilung ihn belastender Schriftstücke. 35 Aus diesem Befund werden unterschiedliche Konsequenzen gezogen. Die am weitesten gehende besteht in dem vom BVerfG 36 allerdings nicht bestätigten Verdikt, der Tatbestand sei verfassungswidrig, weil er keinen Rechtsgüterschutz zu gewährleisten vermöge. 37 Auch W. Hassemer hat, noch vor der Entscheidung des BVerfG, gemeint, dass § 353d Nr. 3 StGB keines der in der Diskussion bemühten Rechtsgüter effektiv schützen könne und daher « Vgl etwa §§ 74 und 25 BDO. Bundesdisziplinargesetz gemäß Art. 1 des Gesetzes zur Neuordnung des Bundesdisziplinarrechts vom 9. 7. 2001 (BGBl. I S. 1510 ff). Vgl näher Müller-Eising NJW 2001, 3587ff. 51 So das Schlagwort des Titels des Aufsatzes von Müller-Eising (Fn 30). 32 Schänke/Schröder/Lenckner/Ferro η (Fn 5) § 353d Rn 41; Tröndle/Fischer (Fn 8) § 353d Rn 6 aE; Lackner/Kühl (Fn 9) § 353d Rn 4; SK-Hoyer (Fn 9) § 353d Rn 24; NK-Kuhlen (Fn 5) § 353d Rn 26; Waldner MDR 1983, 425; Schömberg StV 1984, 338; Rogall NStZ 1964, 267; W. Hassemer NJW 1985, 1923; AG Hamburg NStZ 1984, 265, 266. Μ W. Hassemer NJW 1985, 1923; Waldner MDR 1983, 425; AG Hamburg NStZ 1984, 265, 267 >4 Schönke/Schröder/Lenckner/Perron (Fn 5) § 353d Rn 40 aE; Többens GA 1983, 103; W. HassemerNj'W 1985, 1923; OLG Hamm NJW 1977, 967, 968; AG Hamburg NStZ 1984, 265, 266. >5 W. Hassemer NJW 1985, 1923; so wohl auch AG Weinheim NJW 1984, 1543, 1545. 56 BVerfGE 71, 206 ff. 57 Schuppen AfP 1984, 80 und ihm folgend AG Hamburg NStZ 1984, 265, 266 m. Anm. Rogall NStZ 1984, 267f und zust. Anm. Schomburg StV 1984, 337f. 29
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auch keines dieser Rechtsgüter schützen solle. Er sieht stattdessen die „symbolic power der Strafjustiz in der Öffentlichkeit" als Schutzgut des § 353d Nr. 3 StGB an. 38 Auf die nur begrenzte Eignung des § 353d Nr. 3 StGB zum Schutz der ihm in der Diskussion unterlegten Rechtsgüter stellen schließlich vor allem die Vertreter derjenigen Auffassung ab, welche die Verhinderung einer Vorverurteilung des Beschuldigten als Schutzgut ablehnt. Sie argumentieren, dass das Publikationsverbot auch den Beschuldigten entlastende Schriftstücke erfasse und ein Schutz des Beschuldigten daher nicht bezweckt sein könne. 39 Umgekehrt wird vertreten, dass die Norm ausschließlich bezwecke, den Beschuldigten vor der Prangerwirkung einer vorzeitigen Veröffentlichung zu bewahren, weil sie Zeugen und Laienrichter nur unzureichend vor Beeinflussung schützen könne. 40 Diesen Überlegungen ist ein Fehler gemeinsam: Daraus, dass ein Straftatbestand ein Rechtsgut nicht besonders effektiv zu schützen vermag, darf nicht ohne weiteres darauf geschlossen werden, dass er dieses Gut überhaupt nicht schützen soll. Diese Folgerung wäre nur dann gerechtfertigt, wenn ein anderes Rechtsgut erkennbar wäre, zu dessen Schutz die Norm klar geeignet wäre und auch bestimmt sein könnte. 41 Solche Klarheit verheißt § 353d Nr. 3 StGB indessen leider nicht. Zu hinterfragen ist der Begriff der Unbefangenheit von Laienrichtern und Zeugen, die in der Begründung des Entwurfs des EGStGB42 und auch sonst nahezu einhellig als Schutzgut bezeichnet wird. 43 Fast ausnahmslos wird hierunter eine bestimmte psychische Disposition verstanden; nämlich die Bereitschaft und Fähigkeit, alleine aufgrund der gesetzlich vorgesehenen Grundlagen, insbesondere des Inbegriffs der Hauptverhandlung, zu entscheiden. 44 Roxin45 hat diesen Begriff von Unbefangenheit mit dem zutreffenden Hinweis darauf kritisiert, dass es einen Zustand völliger Unbefangenheit in diesem Sinne nicht gibt, weil jede Wirklichkeitsbeurteilung von Vorverständnissen geleitet ist. In Rede stehe nicht eine psychische Disposi-
38
W. Hassemer NJW 1985, 1923. Schönke/Schröder/Lenckner/Perron (Fn 5) § 353d Rn 40; Mauracb/Schroeder/Maiwald (Fn 8), S. 275; SK-Hoy er (Fn 9) § 353d Rn 4 und 28; OLG H a m m NJW 1977, 967. 40 WaldnerMDR 1983, 425; ähnlich LG Mannheim NStZ-RR 1996, 360, 361: § 353d N r 3 StGB diene primär Schutz des Betroffenen vor vorzeitiger Bloßstellung. 41 So wohl iE auch Bottke NStZ 1987, 315. 42 BT-Drs. VI/3250, S. 271 und 272; wortgleich BT-Drs. 7/550, S. 282 und 283. 43 Vgl die Nachweise bei Fn 25. 44 Dieses Verständnis von Unbefangenheit äußert sich z.B. darin, dass auf eine Beeinflussung des Verhaltens Verfahrensbeteiligter über die öffentliche Meinungsbildung abgestellt wird; so etwa bei Schönke/Schröder/Lenckner/Perron (Fn 5) § 353d Rn 4; I.K-Träger (Fn 5) § 353d Rn 38; Hoffmann-Riem JZ 1986, 494. Im übrigen traut der BGH die Bewahrung einer so verstandenen Unbefangenheit auch Schöffen zu, die Medienberichte oder den Inhalt der Anklageschrift kennen; vgl BGHSt 22, 288, 295. 39
45
N S t Z 1991, 157
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tion der Beteiligten, sondern die Justizförmigkeit des Verfahrens, in der sich eine formalisierte Objektivität ausdrücke. 46 Der § 353d Nr. 3 StGB solle sicherstellen, dass die durchdacht komponierte, in den §§ 243 und 244 StPO im einzelnen geregelte Reihenfolge der Darbietung von Informationen an die Richter eingehalten wird. Dieser Ansatz ist richtig. Er lässt sich empirisch untermauern. Der Einfluss einer Information auf die richterliche Uberzeugung hängt auch davon ab, wann diese Information präsentiert und aufgenommen wird. Dies belegen eindrucksvoll die experimentellen Studien v o n Schünemann/Bandillal·7,
Bandilla/R.
Hassemer48
u n d Schünemann49,
in
denen jeweils Berufsrichter als Versuchspersonen fungierten und in denen ein Zwischenverfahren und eine anschließende Hauptverhandlung simuliert wurden. 50 Allerdings wird die Kenntnisnahme von verfahrensrelevanten Schriftstücken durch die Richter auch dann, wenn die Schriftstücke nicht vorab veröffentlicht wurden, nicht unbedingt in der in den §§ 243 und 244 StPO geregelten Abfolge stattfinden. Jedenfalls Berufsrichter werden die Akte vor der Hauptverhandlung lesen. Wäre die Akteneinsicht durch Schöffen üblich, 51 so gälte auch für die Laienrichter nichts anderes. Jedoch ist jede Vorveröffentlichung eines für das Verfahren bedeutsamen Schriftstückes nicht nur geeignet, sondern in der Regel auch dazu bestimmt, eine öffentliche Diskussion über dessen Bedeutung und Beweiswert anzustoßen. Diese öffentliche Diskussion kann, ungeachtet einer bloßen Vorab-Lektüre, die Entscheidungsfindung der Richter zusätzlich prozessordungswidrig beeinflussen. 52 Die Prozessordnungswidrigkeit ist dabei vor allem an den §§ 257 und 258 StPO fest zu machen. Diese Bestimmungen legen fest, wer, wann und wie ausführlich zu der Einlassung des Angeklagten, zu den Ergebnissen der Beweisaufnahme und zu dem Ergebnis der Hauptverhandlung Stellung nehmen darf. Jede vorgezogene öffentliche Diskussion möglicher Beweis-
4 6 Die von W. Hassemer (Fn 30) als Schutzgut angesehene symbolic power der Strafjustiz in der Öffentlichkeit dürfte wohl als Spiegelung dieser formalisierten Objektivität in der \C&hrnehmung der Rechtsunterworfenen zu verstehen sein. 4 7 Perseverance in courtroom decisions, in: Wegener/Lösel/Haisch (Hrsg.) Criminal behavior and the justice system: Psychological perspectives, New York u.a. 1989, S. 181-192. StV 1989, 551-554. 4 9 Experimentelle Untersuchungen zur Reform der Hauptverhandlung in Strafsachen, in: KernerlKury/Sessar (Hrsg.) Deutsche Forschungen zu Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle, 2. Teilband Köln u.a. 1983, S. 1109-1152. 5 0 Vgl dazu näher Rennig Die Entscheidungsfindung durch Schöffen und Berufsrichter in rechtlicher und psychologischer Sicht, Marburg 1993, S. 221-223 und 234-235. 51 Zur Akteneinsicht durch Schöffen vgl einerseits Rennig (Fn 50) S. 170, 226-228 und 586; andererseits Kemmer Befangenheit von Schöffen durch Aktenkenntnis?, Frankfurt a.M. 1989, S. 165ff sowie Hillenkamp Festschrift für Günther Kaiser 1998, S. 1456f. 52 Auf die Gefahren einer öffentlichen Diskussion stellen auch LK-Träger (Fn 5) § 353d Rn 38 und Schönke/Schröder/Lenckner/Perron (Fn 5) § 353d Rn 40 ab.
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ergebnisse ist geeignet, die in der StPO geregelte Balance der Einflussmöglichkeiten der Beteiligten zu stören.53 Der Ablauf der Vernehmung von Zeugen ist in den §§ 58 Abs. 1, 69, 253 und 58 Abs. 2 StPO genau vorgezeichnet: Zeugen werden zunächst einzeln und in Abwesenheit der übrigen Zeugen vernommen und berichten im Zusammenhang zur Sache; erst dann erfolgen ggfs. Nachfragen und Vorhalte und danach u.U. eine Gegenüberstellung mit anderen Zeugen. Auch dieser Ablauf sichert eine formalisierte Objektivität. Er wird gestört, wenn ein Zeuge, noch bevor er sich im Zusammenhang zum Gegenstand seiner Vernehmung geäußert hat, mit Protokollen seiner früheren Vernehmung oder mit Protokollen anderer Zeugenvernehmungen oder mit sonstigen Beweisunterlagen konfrontiert wird. Die formalisierte Objektivität des Verfahrens wird insoweit schon durch die bloße Veröffentlichung eines Schriftstücks abstrakt gefährdet, weil eine Akteneinsicht durch Zeugen nicht üblich ist. Nicht erst, aber natürlich umso mehr, wird sie durch eine von der Veröffentlichung ausgelöste öffentliche Diskussion gefährdet. Auch das ist empirisch begründbar. Die vorzeitige Konfrontation eines Zeugen mit Informationen über den Gegenstand seiner späteren Vernehmung kann sich auf den Inhalt seiner Aussage auswirken. Zahlreiche empirische Studien haben nachgewiesen, dass Informationen über das den Gegenstand der Vernehmung bildende Ereignis, die nach diesem Ereignis aufgenommen wurden, mit den im Gedächtnis bereits gespeicherten Informationen interferieren und so den Gedächtnisinhalt ändern können. 54 Keine Regelung des Ablaufs der Hauptverhandlung und der Beweisaufnahme vermag zu verhindern, dasf die zeitliche Abfolge der Informationsaufnahme die Informationsverarbeitung von Richtern und Zeugen beeinflussen kann. Eine solche Regelung kann die zeitliche Abfolge lediglich ordnen und damit möglicherweise die Richtung der zu erwartenden Beeinflussung ein wenig steuern; doch auch das nur durch eine Ordnung des Verfahrens. Aber jede Regelung, die nicht prima facie unfair erscheint, schafft mit derartiger Ordnung auch formalisierte Objektivität. Deren strafrechtlichem Schutz dient § 353d Nr. 3 StGB. Zweck der Norm ist es dagegen weder, die Illusion zu pflegen, Zeugen und Richter seien bezüglich des Verfahrensgegenstands „blind", noch, jegliche vorherige Aufnahme von Informationen über den Gegenstand des Verfahrens durch Richter und Zeugen im Rahmen im Rahmen des verfassungsrechtlich noch 53
Unter diesem Aspekt macht auch die zeitliche Begrenzung „bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist" Sinn Sinn - vielleicht vom Gesetzgeber unbeabsichtigt. D e n n eine Gefährdung der Justizförmigkeit des Verfahrens droht gerade innerhalb dieser zeitlichen Grenzen. 54 Nachweise auch der internationalen Literatur bei Sporer/Meurer (Hrsg.) Die Beeinflussbarkeit von Zeugenaussagen, Marburg 1994; anschaulich auch Kirchhoff M D R 2001, 661 ff, insbesondere S. 664.
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Zulässigen zu unterbinden. Solche Informationsaufnahme findet einfach unweigerlich statt, wenn Taten und Prozesse auf öffentliches Interesse stoßen und über sie berichtet und diskutiert wird, und sie darf und soll ohne Zweifel auch stattfinden. Doch ist es durchaus sinnvoll zu verhindern, dass Schriftstücke, die bei der Beweisaufnahme eine Rolle spielen können, vorab im Wortlaut veröffentlicht und unter Bezugnahme auf ihren Wortlaut öffentlich diskutiert werden. Als taugliche Tatobjekte des § 353d Nr. 3 StGB kommen somit all jene Schriftstücke in Betracht, deren vorzeitige Veröffentlichung oder dadurch ausgelöste öffentliche Erörterung abstrakt geeignet ist, die in der StPO55 geregelte Reihenfolge der Informationspräsentation, -aufnähme und -bewertung durcheinander zu bringen. Hierunter fallen alle Schriftstücke, von denen a priori anzunehmen ist, dass sie in der späteren Beweisaufnahme verlesen werden könnten, sei es als Beweismittel, sei es im Wege des Vorhalts. Auch eine schriftsätzliche Einlassung des Angeklagten zählt dazu, weil sie ebenfalls vorgehalten werden könnte. Letztlich sind fast alle Schriftstücke, die sich bei der Verfahrensakte befinden, abstrakt geeignet, durch ihre Vorveröffentlichung den ordnungsgemäßen Ablauf der Informationsaufnahme und -bewertung zu verwirren. Gleiches gilt für solche Schriftstücke, die - ohne sich bei der Verfahrensakte zu befinden - nach dem erkennbaren Willen der Ermittlungsbehörden, der Verteidigung oder des Gerichts zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden sollen. 56 Somit erweist sich auch unter der hier verfolgten, empirisch unterlegten Perspektive die weite Auslegung des Merkmals „amtliche Schriftstücke eines Strafverfahrens" als zutreffend. Unerheblich ist für diese Definition des Tatobjekts, ob § 353d Nr. 3 StGB darüber hinaus auch dem Schutz des Beschuldigten vor öffentlicher Vorverurteilung oder Bloßstellung dient. 57 Denn § 353d Nr. 3 StGB schützt jedenfalls die Justizförmigkeit des Verfahrens im hier gemeinten Sinne. Daher würde die Norm ein weiteres Rechtsgut allenfalls alternativ schützen. Dies könnte aber die Menge der bereits im Hinblick auf den Schutz der Justizförmigkeit des Verfahrens tauglichen Tatobjekte nicht mehr einengen. Das gewonnene Resultat mag Unbehagen bereiten, weil mit der weiten Definition der Tatobjekte zwangsläufig auch der Kreis der potentiell tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen weiter gesteckt wird. Sind doch dadurch weder Medien noch Beschuldigte strafrechtlich auf der sicheren Seite, wenn §§ 243, 244, 257 und 258 sowie 58, 69 und 253. Dazu zählt z.B. ein in Auftrag gegebenes und noch nicht zur Akte genommenes Gutachten oder eine Beiakte, deren mögliche Relevanz für das Verfahren ja durch die Beiziehung bereits kundgetan wurde. 57 Aus den Gesetzesmaterialien (Erster Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-Drs. 7/1261, S. 23) ergibt sich, dass § 353d Nr 3 StGB auch den Beschuldigten vor einer Bloßstellung schützen soll. 55
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sie beispielsweise „amtlich authentifiziert" Regelverletzungen in Straf-, Bußgeld- oder Disziplinarverfahren publik machen wollen. Für das Ziel, solche Fälle straflos zu lassen oder überhaupt die Strafbarkeitszone einer Norm mit zweifelhafter Effizienz zu begrenzen, mögen rechtspolitisch gute Gründe sprechen. Wer aber zu diesem Zweck an der Schraube der Definition des Tatobjekts dreht, der hat den nur scheinbar effektiven und letztlich falschen Ansatzpunkt gewählt. Die durch § 353d Nr. 3 StGB geschützte Justizförmigkeit des Verfahrens ist ein Wesenselement des Rechtsstaats. Auch wenn ein von der Wertordnung des GG geprägtes Rechtsgefühl für eine Begrenzung des Kreises der nach § 353d Nr. 3 StGB strafbaren Handlungen plädieren mag, verbieten sich doch gewagte Übungen am Begriff des Tatobjekts bei der Auslegung des dem Schutz eines rechtsstaatlichen Verfahrens dienenden Tatbestands. Denn würden einige - wie auch immer definierte - verfahrensrelevante Schriftstücke aus dem Kreis der tauglichen Tatobjekte heraus genommen, so würde dies nichts daran ändern, dass eine vorzeitige Veröffentlichung eben dieser Schriftstücke die formalisierte Objektivität des Verfahrens abstrakt gefährdet. O b etwa die Publikation von Aktenteilen dazu bestimmt und geeignet ist, den Rechtsstaat durch das Aufdecken von rechts staatswidrigen Regelverletzungen zu befördern, ist deshalb nicht auf der Tatbestands-, sondern nur auf der Rechtswidrigkeitsebene von Bedeutung. Denn strukturell stellt dies eine nach § 34 StGB zu beurteilende Konfliktsituation dar. Ein rechtfertigender Notstand könnte nicht nur in diesem Beispielsfall relevant sein, sondern auch sonst im Anwendungsbereich des § 353d Nr. 3 StGB in Betracht kommen. Bisher wird eine Rechtfertigung nach § 34 StGB vor allem in Bezug auf die Veröffentlichung nicht rechtskräftiger, in Straf-, Bußgeld- oder Disziplinarverfahren ergangener Entscheidungen erörtert und auch bejaht. 58 Für die vorzeitige Publikation der Anklageschrift durch den Angeschuldigten sollen unter bestimmten Voraussetzungen die Topoi „Waffengleichheit" oder „faires Verfahren" (Art. 6 MRK) einen rechtfertigenden Notstand nahe legen. 59 Schließlich dürfte wohl auch Schomburg eine Rechtfertigung nach § 34 StGB in solchen Fällen erwägen, in denen wie meist, wenn bisher Journalisten angeklagt waren - Aktenbestandteile aus Verfahren gegen Personen der Zeitgeschichte veröffentlicht werden. Er erwähnt § 23 KunstUrhG, was zunächst als Tatbestandslösung gemeint zu sein scheint, bezeichnet diese Norm jedoch als Abwägungsmaßstab, was wohl bedeutet, dass die in § 23 KunstUrhG genannten Kriterien in eine Ab58 Schönke/Schröder/Lenckner/Perron (Fn 5) § 353d Rn 58; LK-Träger (Fn 5) § 353d Rn 62; SK- Hoyer (Fn 9) § 353d Rn 28. 59 NK-Kuhlen (Fn 5) § 353d Rn 34; Wilhelm NJW 1994, 1522; AG Weinheim NJW 1994, 1543, 1545; ähnlich LK-Träger (Fn 5) § 353d Rn 19 (Rechtfertigung nach § 34 StGB bei schweren Verfahrensverstößen). 60 StV 1984, 338.
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wägung einfließen sollen. Ort einer solchen Abwägung wäre in erster Linie § 34 StGB. Eine Notstandslage kommt schließlich bei Sachverhalten in Betracht, in denen mitunter zur Begründung einer Straflosigkeit zweifelhafte Lösungen auf Tatbestandsebene gesucht werden. Nach DerksenM soll die Verlesung von Teilen einer Strafakte in der öffentlichen Sitzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses bereits nicht dem Tatbestand des § 353d Nr. 3 StGB unterfallen. Dies gebiete der Verfassungsrang des Verfahrensrechts der Untersuchungsausschüsse nach Art. 44 Abs. 2 GG. Indessen erklärt Art. 44 Abs. 2 GG lediglich die StPO auf Verfahren der Untersuchungsausschüsse für anwendbar. Die Veröffentlichung von Teilen einer Strafverfahrensakte in einem Untersuchungsausschuss kann daher nicht anders zu beurteilen sein als die Verlesung amtlicher Schriftstücke eines Strafverfahrens in einem parallelen Strafverfahren. Selbstverständlich ist in beiden Fällen der Tatbestand des § 353d Nr. 3 StGB erfüllt, aber ebenso selbstverständlich ist die Rechtfertigung durch das zu befolgende Verfahrensrecht.62 Teilweise wird die Tatbestandsmäßigkeit der Vorveröffentlichung einer fragwürdigen Anklageschrift durch den Angeschuldigten zur Vermeidung seiner Vorverurteilung mit dem Hinweis darauf verneint, dass § 353d Nr. 3 StGB ausschließlich oder in erster Linie den Schutz des Betroffenen vor einer Vorverurteilung bezwecke. 63 Ahnlich, aber komplizierter, hat das LG Lüneburg argumentiert: 64 Einerseits habe das Schutzgut der Unbefangenheit von Verfahrensbeteiligten im Wortlaut der Norm nicht den wünschenswert deutlichen Ausdruck gefunden. Andererseits sei jedenfalls die Unbefangenheit der Schöffen in Berufungskammern nicht mehr geschützt. Beides könne „auf die Einsicht juristischer Laien schon in die Schutzbedürftigkeit des Rechtsgutes jedenfalls noch bis zur ersten Verhandlung verwirrend einwirken". 65 Gemeint ist damit offenbar, dass den um eine Auslegung des § 353d Nr. 3 StGB bemühten und juristisch nicht vorgebildeten Beschuldigten in Anbetracht des - ihnen natürlich bekannten - Wortlauts der Norm beachtliche Zweifel daran zuzubilligen sind, dass der Tatbestand überhaupt die Unbefangenheit der Verfahrensbeteiligten schützen soll, wie dies in der - den juristisch nicht vorgebildeten Beschuldigten natürlich ebenso gut bekannten - Diskussion um das Schutzgut vertreten wird. Ob das LG Lüneburg konsequenter Weise einen - vielleicht sogar unvermeidbaren - Ver« NStZ 198^ 313. 62 Auch Schönke/Schröder/Lenckner/Perron (Fn 5) § 353d Rn 58 und Lackner/Kühl (Fn 9) § 353d Rn 4 nehmen für Vorveröffentlichungen von Strafakten durch öffentlich tagende parlamentarische Untersuchungsausschüsse eine Rechtfertigung nach § 34 StGB an. 63 Waldner MOR 1983, 425; ähnlich Wilhelm NJW 1994, 1521. Μ NJW 1978, 117 65 LG Lüneburg aaO (Fn 64).
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botsirrtum bejaht hätte, bleibt offen, weil das Gericht diese Frage im Rahmen eines der Beschwerde gegen eine Beschlagnahme stattgebenden Beschlusses nicht abschließend entscheiden musste. 66 Die Ansicht, dass § 353d Nr. 3 StGB nicht auch dem Schutz der Unbefangenheit der Verfahrensbeteiligten (in dem hier erläuterten Sinne der Justizförmigkeit des Verfahrens) dienen solle, findet jedoch in den Gesetzesmaterialien keine Stütze. 67 So kann sich die Straflosigkeit einer Vorveröffentlichung zum Schutz vor Vorverurteilung allenfalls aus § 34 StGB ergeben. Die Gesetzesgemäßheit des Strafverfahrens stellt ein notstandsgeeignetes Rechtsgut dar.68 Wann im einzelnen nach § 353d Nr. 3 StGB tatbestandsmäßige Handlungen in den angesprochenen oder auch in anderen Situationen gemäß § 34 StGB gerechtfertigt sind, soll hier nicht abschließend untersucht werden. Vordringlich sollte verdeutlicht werden, dass zwar die weite Auslegung des Begriffs des Tatobjekts richtig, aber gleichwohl eine Beschränkung der Strafbarkeitszone möglich ist. Spannend bleibt die Frage, ob und ggfs. auf welchem Weg die Praxis zu einer dogmatisch sauberen und im Ergebnis maßvollen Anwendung des § 353d Nr. 3 StGB gelangt. Denn bekanntlich hat eine rein literarische Diskussion meist nur begrenzte Wirkung. Dies hat Dieter Meurer, als er noch dem 1. Strafsenat des OLG Frankfurt angehörte, einmal treffend verdeutlicht. Einem Kollegen von der Marburger Fakultät, der ihm zu bedenken gab, dass er während der Zeit, die er für das Erstellen der Voten, das Absetzen der Entscheidungen, die Fahrten zwischen Marburg und Frankfurt, die Beratungen und Verhandlungen aufbringen müsse, doch ohne weiteres einige wissenschaftliche Abhandlungen zu Papier bringen könne, antwortete er sinngemäß: „Völlig richtig. Aber beim OLG erwachsen meine Aufsätze in Rechtskraft."
6 6 Immerhin fand die Kammer dann doch noch etwas sichereren Grund, indem sie bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der angefochtenen Beschlagnahme Art. 5 Abs 2 GG anführte (aaO Fn 64). Das Urteil des AG Weinheim (NJW 1994, 1543, 1545) stellt eine der wenigen veröffentlichten Entscheidungen überhaupt dar, in der - aus leider nicht veröffentlichten Gründen - ein unvermeidbarer Verbotsirrtum bejaht wurde. Das Berufungsgericht (LG Mannheim NStZ-RR 1996, 360, 361) hat das Merkmal der „öffentlichen" Mitteilung verneint und mit dieser Begründung den Teilfreispruch bestätigt.
Vgl Fn 42. O L G Frankfurt NJW 1979, 1172; zust. Roxin 3. Auf! 1997, S. 613. 67 ω
Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I,
Erweiterung des Sanktionkatalogs für junge Erwachsene BERNHARD SCHROER
Dieter Meurer hat die Theorie und die Praxis des juristischen Berufes beispielhaft miteinander verbunden. Er war als Hochschullehrer in der Lage, seinen Studenten plastisch, mitreißend und humorvoll den oft trockenen Stoff des Rechts auf eine Weise zu präsentieren, die geeignet war, das Erlernte auch langfristig zu behalten. Auch in seiner Tätigkeit als Vorsitzender Richter am Landgericht bewies er stets, dass es ihm nicht nur darauf ankam, den theoretischen Stoff zu beherrschen und weiter zu vermitteln, sondern auch an der praktischen Ausgestaltung des Strafprozesses fördernd mitzuwirken. Ihn sowohl als Hochschullehrer in der Theorie als auch als Vorsitzenden Richter in der Praxis kennen und schätzen gelernt zu haben, erfüllt mich mit Dank.
I. Einleitung Nach dem derzeitigen Strafensystem gibt es im Erwachsenenstrafrecht im wesentlichen nur zwei Möglichkeiten der Bestrafung: Zum einen die Freiheitsstrafe §§ 38, 39 StGB), zum anderen die Geldstrafe (§§ 40-43 StGB). Für einige Delikte aus dem Bereich der so genannten organisierten Kriminalität,1 ist Anfang der neunziger Jahre die Vermögensstrafe hinzugekommen, die dem Gericht die Möglichkeit eröffnet, Tätervermögen zu bewerten und seine Entziehung als weiteres Strafübel neben die klassischen Strafen zu stellen (§ 43a StGB).2 Darüber hinaus gibt es nur noch die Möglichkeit, als Nebenstrafe ein Fahrverbot zu verhängen (§ 44 StGB).
1 Zu den einzelnen Delikten vgl die Auflistung bei TröndlefFischer zu § 43a StGB Rn 7 und bei Stree in: Schönke/ Schröder, StGB 26. Aufl 2001, zu § 43a StGB Rn 3. 2 Die Vermögensstrafe ist systematisch betrachtet zwar eine Hauptstrafe, hat aber - da sie regelmäßig neben einer Freiheitsstrafe verhängt wird - eher den Charakter einer Nebenstrafe. Vgl Tröndle/Fischer zu § 43a StGB Rn 3 m w N Die Vermögensstrafe stand wegen ihres unbestimmten Charakters und wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Kritik. Vgl Tröndle/Fischer zu § 43a StGB Rn 4 m w N . Das Bundesverfassungsgericht hat sie am 20. 3. 2002 für verfassungswidrig erklärt, weil sie zu unbestimmt sei (2 BvR 794/95).
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Die strafrechtliche Praxis zeigt mehr und mehr, dass diese wenigen Sanktionsmöglichkeiten nicht ausreichend sind. Die frühere Bundesregierung setzte deshalb im Jahre 1998 eine Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionssystems ein. 3 Hilfreich bei diesen Überlegungen ist ein Blick ins Jugendstrafrecht, in dem das sehr begrenzte Spektrum der Sanktionsmöglichkeiten des Erwachsenenstrafrechts wesentlich erweitert ist. Bei Jugendlichen und teilweise auch bei Heranwachsenden steht zwar der Erziehungsgedanke im Vordergrund. 4 Dem entsprechen bei den Sanktionsmöglichkeiten die vielfältigen Ausgestaltungsmöglichkeiten der Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel und der Jugendstrafe. Dennoch bestehen gegen eine Übernahme einiger dieser Reaktionsmittel jedenfalls keine grundsätzlichen Einwände: Der Gesetzgeber hat es bewusst vermieden, die Strafzwecke zu definieren. 5 Allerdings lässt das Gesetz Rückschlüsse auf die Strafzwecke zu, wenn in § 46 Abs. 1 StGB davon die Rede ist, dass die Schuld des Täters Grundlage des Strafens ist. 6 7 Nach der heute weithin anerkannten Vereinigungstheorie 8 basieren die Grundsätze der Strafzumessung allein auf § 46 StGB. Die Strafe hat also auch im Erwachsenenstrafrecht nicht nur den Zweck, Vergeltung gegen den Täter zu üben, sondern sie ist zugleich ein Mittel zur Prävention. Der spezialpräventive Gedanke hat in § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB Eingang gefunden, weil danach die Wirkung der Strafe auf das zukünftige Leben des Täters zu berücksichtigen ist. Der Gedanke der Generalprävention wurde demgegenüber ausdrücklich nicht vom Gesetzgeber in die Strafzumessung nach § 46 StGB aufgenommen. Ungeachtet aller unterschiedlichen Vorgaben des Gesetzgebers eröffnet sich daher die Gelegenheit, die Möglichkeiten des Einwirkens auf Straftäter anhand zweier ausgewählter Problemkreise durch einen Vergleich der Rechtslage im Jugend- und Erwachsenenstrafrecht de lege lata kritisch zu überprüfen und - losgelöst vom generalpräventiven Gedanken - de lege ferenda über weitergehende Sanktions- und Einwirkungsmöglichkeiten auf insbesondere junge erwachsene Straftäter nachzudenken.
Tröndle/Fischer Vor § 38 Rn lb mwN. Eisenberg Kommentar zum JGG Einleitung Rn 5 ff; umfassend hierzu Ellen Schlüchter Plädoyer für den Erziehungsgedanken, Berlin, New York 1994. 5 Deutscher Bundestag, 230. Sitzung, Protokoll V 12700ff, BT-Drucks. V/ 4094, 4; Lackner in Festschrift für Gallas (1973) 117, 119; vgl zum Ganzen Bock in JuS 94, 90ff. 6 Tröndle/Fischer zu § 46 Rn 5 mwN. 7 BVerfGE 64, 261,271; Lackner StGB, 24. Aufl 2001, § 46 Rn 1; Gallas in ZStW 80 (1968), 1,3. 8 Roxin aaO; Jescheck/Weigend aaO; Freund in GA 1995, 4, 7ff; ausführlicher ders. in Wolter/Freund, Straftat, Strafzumessung und Strafprozess im gesamten Strafrechtssystem, 1996, 43 f. 3 4
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II. Der Täter-Opfer-Ausgleich als Beispiel für die mögliche Vorbildfunktion des Jugendstrafrechts Anfang der neunziger Jahre ist - als Strafzumessungsregel ausgestaltet eine Ausweitung der möglichen Reaktionen der Strafjustiz auf Straftaten durch die Einführung des Täter-Opfer-Ausgleichs (§ 46a StGB) erfolgt,9 die dann auch im Prozessrecht durch eine Änderung der §§ 153a und 153b StPO ihre Verankerung gefunden hat. Eine vergleichbare Regelung gab es im JGG schon länger, wenn auch nicht als Strafzumessungsregelung, sondern als Erziehungsmaßregel, nämlich als Weisung (§ 10 Abs. 1 Nr. 7 JGG).10 Nach dem JGG kann der Täter-Opfer-Ausgleich damit eine der möglichen gerichtlichen Reaktionen auf das delinquente Verhalten eines Jugendlichen (oder falls die Voraussetzungen des § 105 JGG vorliegen - eines Heranwachsenden) sein. Die Einführung des Täter-Opfer-Ausgleichs in Deutschland zunächst im Jugendstrafrecht als Weisung und damit Erziehungsmaßregel und später dann im Erwachsenstrafrecht als besondere Strafzumessungsregel ist also ein erster Schritt in Richtung eines neuen Sanktionssystems. Problematisch und dogmatisch schwierig ist allerdings die Positionierung des Täter-OpferAusgleichs im StGB: Bei einer Übertragung des Täter-Opfer-Ausgleichs in das Erwachsenenstrafrecht ergibt sich zunächst das Problem, dass hinter dieser Reaktion nicht wie im Jugendstrafrecht der Erziehungsgedanke steht, sondern dass durch den Ausgleich der Schuld des Täters im Wege der Wiedergutmachung gegenüber seinem Opfer der staatliche Strafanspruch stark eingeschränkt werden oder ganz zurücktreten soll.11 Dies schränkt die Allgemeingültigkeit der Strafrahmen des StGB ein,12 was im Jugendstrafrecht unproblematisch ist, da diese im JGG ohnehin nicht gelten (§ 18 Abs. 1 Satz 3 JGG). Ein weiteres Problem des Täter-Opfer-Ausgleichs ist die Tatsache, dass der Täter nur dann Einfluss auf das Sanktionsverhalten des Staates nehmen kann, wenn ein Täter-Opfer-Ausgleich nach den Umständen des Falles überhaupt möglich ist. Es sind Fallkonstellationen denkbar, bei denen der eine Täter einen Täter-Opfer-Ausgleich durchführen und sich dadurch eine entsprechende Berücksichtigung bei der Strafzumessung erkaufen kann, während ein anderer Täter, der in gleicher Weise delinquent geworden ist, einen Täter-Opfer-Ausgleich möglicherweise nur deshalb nicht durchführen kann, beispielsweise weil das Opfer zufällig (unabhängig von der Straftat) kurz nach dem Verhalten des Täters verstorben ist. In beiden Fällen hat der Staat gegen die Täter in gleicher Weise einen staatlichen Sanktions9 10 11 12
Eingeführt durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz (BGBl. I 1994, S. 3186). Eingeführt mit dem 1. JGGÄndG BGBl I 1990 S. 1853. Streng ZStW 111 (1999) 827 spricht von einem „Sanktionsäquivalent". Susanne Walther Wis soll Strafe in ZStW 111 (1999) 127.
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anspruch. Es erscheint deshalb grob unbillig, dass der eine Täter steuernd auf die Höhe und möglicherweise die Art seiner Strafe (Freiheits- oder Geldstrafe) Einfluss nehmen kann, während dem anderen dies - mangels Opfer - nicht möglich ist. Dies wird auch nicht dadurch ausgeglichen, dass das ernsthafte Bemühen des Täters um die Durchführung des Täter-OpferAusgleichs bereits ausreicht, um in den Genuss der Anwendung des § 46a StGB zu kommen, denn die Praxis zeigt, dass das reine Bemühen des Täters stets weniger positiv zu Buche schlägt.13 Noch problematischer wird dies bei Tatbeständen, die überhaupt kein konkretes Opfer haben.14 Auch für diese Fälle müsste - schon aus Gerechtigkeitsgründen, mindestens aber wegen des Gleichheitsgrundsatzes Art. 3 Abs. 1 GG - für den Täter eine Möglichkeit bestehen, der Strafmilderung oder sogar -befreiung in gleicher Weise teilhaftig zu werden wie ein anderer Täter. Ein weiteres Problem ist, dass die Frage der Verteidigung des Beschuldigten im Zusammenhang mit einem Täter-Opfer-Ausgleich schwierig ist.15 Denn der vermeintliche Täter kann sich die Möglichkeit einer Strafmilderung (oder eines Wegfalls der Bestrafung) nur erkaufen, wenn er zum Beispiel von seinem Recht zu Schweigen oder etwa eine Beteiligung an der Tat zu Leugnen keinen Gebrauch macht. Dies aber sind nach der Strafprozessordnung verbriefte Rechte des Beschuldigten. Nun plötzlich muss er (oder sein Verteidiger) schon frühzeitig versuchen, auf die Durchführung eines TäterOpfer-Ausgleichs hinzuwirken. Im Jugendstrafrecht ist diese Problematik so nicht gegeben, weil der Jugendrichter problemlos von einer Weisung nach § 10 Abs. 1 Nr. 7 JGG zu einer anderen Erziehungsmaßregel nach § 10 Abs. 1 JGG übergehen könnte. Im Übrigen stellt im Jugendstrafrecht die Weisung, einen Täter-Opfer-Ausgleich durchzuführen, bereits selbst die Sanktionsmaßnahme dar, während im Erwachsenenstrafrecht der Täter-Opfer-Ausgleich lediglich bei der grundsätzlich immer noch zu verhängenden Strafe einen Einfluss auf deren Höhe oder - in Ausnahmefällen - deren Wegfall hat. Im österreichischen Strafrecht wurde diesem Gedanken dadurch Rechnung getragen, dass nicht ein Täter-Opfer-Ausgleich in diesem strengen Sinne durchgeführt wird, sondern ein außergerichtlicher Tatausgleich (ATA).16 Schon die Terminologie weist daraufhin, dass der außergerichtliche Tatsausgleich einerseits weiter gefasst ist als der Täter-Opfer-Ausgleich im « Vgl BGH StV 2001, 448 f. 14 Rössner/Klaus S. 49 (54 f). 15 Susanne Waitherms soll Strafe in ZStW 111 (1999) 127 16 In Osterreich wird der außergerichtliche Tatausgleich (ATA) im Jugendstrafrecht seit dem 1. 1. 1989 (Inkrafttreten des Österreichischen JGG) und im Erwachsenenstrafrecht seit dem 1. 1. 1992 durchgeführt. Er ist im allgemeinen Strafrecht in den § 90 Strafprozessordnung und 42 Strafgesetzbuch und im Jugendstrafrecht in den §§ 4 und 6 JGG geregelt (zur aktuellen Rechtslage vgl Bundesgesetzblatt für die Republik Osterreich Strafprozessnovelle 1999 Teil I N r 55, ausgegeben am 9. April 1999).
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deutschen Strafrecht, andererseits aber auch die Möglichkeit besteht, unabhängig vom Opfer einer Tat zu einem außergerichtlichen Ausgleich zu kommen. Teilweise wird hierbei auch die in Deutschland in § 153a StPO geregelte Einstellung des Verfahrens nach Geldleistungen mit aufgenommen. 17 Bei genauem Hinsehen erweist sich die gegenwärtige Regelung des TäterOpfer-Ausgleichs lediglich als besondere Strafzumessungsregel und nicht als eigenständige Sanktion. Aber es erscheint dogmatisch unsauber, von der Strafzumessung im weiteren Sinne (Anwendung der Strafrahmen des StGB und auch des § 49 StGB) zu der Strafzumessung im engeren Sinne (§§ 46 und 46a StGB) zu kommen und diese dann wieder in Richtung § 49 StGB (Strafzumessung im weiteren Sinne) zu verlassen. Es entsteht ein Strafzumessungszirkel, der allein durch die Anwendung des § 50 StGB durchbrochen wird. 18 Rössner/Klaus lösen dieses Problem, indem sie § 46a StGB völlig losgelöst von seiner Stellung im Gesetz, nämlich als Folgevorschrift von § 46 StGB (=Strafzumessung im engeren Sinne) sehen und die Anwendung der Vorschrift vor § 49 StGB stellen. 19 Dieser Streit kann letztlich dahinstehen. Denn wünschenswert und dogmatisch richtig wäre es, wenn der Täter-Opfer-Ausgleich als eigenständige Sanktionsmaßnahme bei den Vorschriften über die Strafe zu finden wäre. Dadurch bekäme der Täter-Opfer-Ausgleich den Stellenwert im Strafgesetzbuch eingeräumt, den er im Jugendgerichtsgesetz bereits hat. Schon jetzt wird dem Täter-Opfer-Ausgleich entgegengehalten, er gefährde die Rechtssicherheit des Strafrechts und seiner Strafrahmen, weil dadurch auch der Rahmen der Sanktion nicht mehr feststellbar sei. 20 Dem ist bei der Betrachtung des Erwachsenenstrafrechts entgegenzuhalten, dass viele Delikte des allgemeinen Strafrechts eine Sanktionspalette von einer geringen Geldstrafe bis hin zu mehrjährigen Freiheitsstrafen zulassen, so dass es in den meisten Fällen ohnehin unmöglich ist, auch nur annähernd durch einen Blick in das Gesetz eine einigermaßen verbindliche Aussage zu einer zu erwartenden Strafe für eine konkrete Tat zu treffen. Darüber hinaus gibt es Strafvorschriften, bei denen die Praxis „sinnvollerweise" die eigentlich zunächst anzuwendende Geldstrafe fast gar nicht verhängt. 21 17 Vgl Einführungeserlass zur Strafprozessnovelle 1999 („Diversion") des Osterreichischen Bundesministeriums der Justiz (JMZ 578.015/35-11 3/1999) S. 14 ff. 16 Tröndle/Fischer § 46a Rn 4a. 19 Rössner/Klaus in „der Täter-Opfer-Ausgleich in Deutschland" Bonn 1998 S. 60ff (62). 20 WaltheraaO S. 127f; Der Bestimmtheitsgrundsatz verlangt, dass nicht nur das bei Strafe Verbotene, sondern auch die jeweils angedrohte Strafe gesetzlich definiert wird; siehe Lackner, § 1 Rn 2. mwN; Eser in Schönke/Schröder § 1 Rn 17; Tröndle/Fischer § 1 Rn 1 m w N . 21 Die häufig bei Vorliegen des § 170 StGB verhängten kurzen Freiheitsstrafen auf Bewährung widersprechen sogar dem § 47 StGB sind aber nach weitverbreiteter Auffassung unerlässlich, um die Leistungsfähigkeit des Delinquenten nicht zu gefährden (vgl Tröndle/Fischer zu § 170 Rn 14 mwN) Hier kann von Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit der Strafe auf Grund der Norm keine Rede mehr sein.
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Im Bereich des Jugendstrafrechts lässt sich mit dieser Unsicherheit trefflich leben. Denn erstens gelten die Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts ohnehin nicht (§ 18 Abs. 1 S. 3 JGG), so dass der Jugendrichter aus dem vielfältigen Katalog der Folgen für die Verfehlungen Jugendlicher auswählen kann, und zweitens erreicht die Rechtsunsicherheit bei der insgesamt am häufigsten delinquenten Tätergruppe, nämlich bei den Heranwachsenden den höchsten Stand, 22 weil sich bei dieser Tätergruppe erst im Verlauf der Hauptverhandlung herausstellt, ob Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht anzuwenden ist. Die logische Folge ist, dass bei den Heranwachsenden (§ 1 Abs. 2 JGG) sowohl das breite Spektrum der Sanktionen aus dem Jugendstrafrecht als auch die Strafen aus dem Erwachsenenstrafrecht offen stehen. Demnach ist die Rechtsunsicherheit bei dieser sehr großen Tätergruppe seit langem gegeben, ohne dass deshalb ernsthaft die Abschaffung des § 105 JGG gefordert wird. Der Deutsche Jugendgerichtstag hat im September 2001 im Gegenteil gefordert, den Anwendungsbereich des § 105 JGG noch weiter auszubauen und die Altersgrenze nach oben zu setzen (vgl. dazu III.). Zusammenfassend ergibt sich: Während der Täter-Opfer-Aus gleich im Jugendrecht eine der möglichen gesetzlichen Folgen der Tat eines Jugendlichen ist, hat er im Erwachsenenstrafrecht lediglich die Funktion eines Besonderen über § 46 StGB hinausgehenden Strafzumessungsgrundes zu Gunsten des Täters. Eine andere Lösung würde voraussetzen, im Erwachsenenstrafrecht ähnlich wie im Jugendrecht eine Sanktionsmöglichkeit für den Verstoß gegen Weisung und Auflagen zu schaffen (vgl. § 11 Abs. 3 JGG, der für den Fall, dass der Jugendliche Weisungen schuldhaft nicht nachkommt, Jugendarrest vorsieht). Eine solche Möglichkeit sieht das Erwachsenenstrafrecht zur Zeit nicht vor. Weisungen können im Erwachsenenstrafrecht lediglich im Rahmen einer Bewährungsauflage (§ 56c StGB) bei einer Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59a StGB) oder im Rahmen der Führungsaufsicht (§ 68b StGB) erteilt werden. Ein Verstoß gegen solche Weisungen hat in der Regel den Bewährungswiderruf (bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt die Verurteilung zu Geldstrafe) zur Folge. Lediglich bei der Führungsaufsicht ist der Verstoß gegen Weisungen schon jetzt nach § 145a StGB unter Strafe gestellt, wobei die Norm umstritten ist. 23 Notwendig wäre, in den übrigen - neu zu schaffenden - Fällen aber, dass eine über die Weisung hinausgehende Strafe bereits im Urteil verhängt wird oder aber dass eine gesetzliche Folge eines Verstoßes normiert ist. Ansonsten würde dieselbe Problematik bestehen, die den Gesetzgeber bereits zu 22 Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland Berichtsjahr 2000 Wiesbaden 2001 S. 72. Daraus geht hervor, dass die 18-21 Jährigen in dieser Zeitspanne pro Lebensjahr umgerechnet mehr Straftaten begehen als alle anderen Altersgruppen pro Lebensjahr. 23 Vgl zum Streitstand Tröndle/Fiscber zu § 145a Rn 1 f und Stree in Schönke/Schröder zu § 145a Rn 2, jeweils mwN.
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der Einführung des § 145a StGB veranlasst hat, nämlich das Fehlen eines geeigneten Druckmittels zur Durchsetzung der Weisung. Dies könnte nach dem Muster der Ersatzfreiheitsstrafe für die uneinbringliche Geldstrafe geschehen, indem für den Fall der Weigerung der Durchführung des TäterOpfer-Ausgleichs oder anderer Weisungen (siehe unten) eine im Urteil festzusetzende Ersatzgeldstrafe angeordnet wird.
III. Mögliche weitere jugendgerichtliche Maßnahmen für junge Erwachsene D e r Weg der Loslösung von den klassischen Strafen muss weitergegangen werden. Auch bei den Überlegungen, welche weitergehenden Sanktionsmöglichkeiten in das Erwachsenenstrafrecht übernommen werden können, kann das J G G als Anregung gesehen werden. So müsste als nächster Schritt die nach § 10 Abs. 1 Nr. 6 J G G mögliche Weisung an den Jugendlichen, an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen, ebenfalls in das Erwachsenenstrafrecht übernommen werden; denn die Praxis zeigt, dass es auch nach Vollendung des 21. Lebensjahres eine Vielzahl von Fällen gibt, in denen eine solche Weisung der beste Weg der (Re-)Sozialisation ist. 2 4 Ferner kann es auch bei einem jungen Erwachsenen zu einer (Re-) Sozialisierung führen, wenn er eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle annehmen muss (im J G G eine Weisung nach § 10 Abs. 1 Nr. 3), den Verkehr mit bestimmten Personen zu unterlassen hat (§ 10 Abs. 1 Nr. 8 J G G ) oder aber an einem Verkehrsunterricht teilnehmen muss (§ 10 Abs. 1 Nr. 9 J G G ) . Bedarf hierfür gibt es durchaus. Auch bei Straftätern, die das einundzwanzigste Lebensjahr bereits vollendet haben, existieren Möglichkeiten, auf deren soziale Entwicklung weiteren Einfluss zunehmen. Auch wenn hierbei nicht wie im Jugendgerichtsgesetz der Erziehungsgedanke ausschließlich im Vordergrund stehen muss, bleibt dennoch fest zu halten, dass auch jüngere Erwachsenen weiter für solche Maßnahmen geeignet sind. Der Gesetzgeber sieht diese Möglichkeit ebenfalls. Im Recht der Kinder und Jugendhilfe, normiert im SGB VIII (KJHG), werden Personen, die das 27 Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nach § 7 Abs. 1 Nr. 4 als junge Menschen bezeichnet. Im zweiten Kapitel, Leistungen der Jugendhilfe, wird der Kreis dieser jungen Menschen sowohl für die Jugend- als auch für Jugendsozialarbeit eingebunden (vgl. § 11 bis 15 SGB VIII). § 1 Abs. 1 SGB VIII besagt, dass jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit habe. In § 11 SGB VIII wird darauf abgestellt, 2
* Vgl Streng Modernes Sanktionenrecht, ZStW 111 (1999) 827 (843).
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dass jungen Menschen (also den bis zu 27 Jährigen) Angebote der Jugendarbeit gemacht werden sollen, die sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu sozialem Engagement hinführen sollen. Die Jugendarbeit erfüllt damit den Zweck einer eigenständigen Sozialisationsinstanz.25 Als Altersgruppe, die von der Jugendarbeit erreicht werden soll, wird im 8. Jugendbericht der Kreis der sechs bis 25jährigen genannt. 26 Der Gesetzgeber hat folglich erkannt und auch den Anspruch formuliert, dass auch bereits über 21jährigen bei der originären Sozialisation geholfen werden kann und soll. Dieser Anspruch darf im Falle von Straffälligkeit, die in der Regel einen Hinweis auf fehlende soziale Kompetenz darstellt, nicht Halt machen, sondern muss gerade im Sanktionsrecht eine große Rolle spielen. Die Konsequenz daraus kann nur sein, dass das Jugendstrafrecht (zumindest die danach möglichen Erziehungsmöglichkeiten) auch für Täter nach Vollendung des 21. Lebensjahres geöffnet wird. Bei der Schaffung des SGB VIII (KJHG) hatte der Gesetzgeber die Absicht, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sich die sozioökonomische Verselbstständigung junger Menschen auf immer spätere Lebensjahre ausgedehnt hat. 27 Dies zeigt auch die Tatsache, dass die amtliche Überschrift des § 14 SGB VIII von erzieherischem Kinder- und Jugendschutz spricht und diesen auch auf junge Menschen (bis 27 Jahre)28 ausdehnt. Sie sollen - so § 14 Abs. 2 SGB VIII - junge Menschen befähigen, sich vor gefährdenden Einflüssen zu schützen und sie ferner zur Kritik- und Entscheidungsfähigkeit sowie zur Eigenverantwortlichkeit und zur Verantwortung gegenüber ihren Mitmenschen befähigen. Genau daran mangelt es den jungen Menschen, die straffällig geworden sind. Wenn es dem Gesetzgeber geboten erschien, im SGB VIII die Grenze für die soziale Beeinflussbarkeit und insbesondere für die Formung eines jungen Menschen erst bei Vollendung des 27. Lebensjahres zu ziehen, so muss dies für den Bereich des staatlichen Sanktionierens erst recht gelten. Die starre Begrenzung des JGG auf diejenigen, die zur Tatzeit noch unter 21 Jahre alt sind, lässt sich nicht mehr rechtfertigen. Die Grenze für die Anwendung des allgemeinen Strafrechts muss dem SGB VIII angeglichen werden. Darüber hinaus muss zur Abschwächung einer neu zu schaffenden Altersgrenze im Erwachsenenstrafrecht ein entsprechender Ausgleich durch Übernahme weiterer Sanktions-(Erziehungs-)elemente geschaffen werden. Eine Unterscheidung, die im sozialrechtlichen Bereich von der möglichen und gebotenen weiteren Einflussnahme im Sinne einer Entwicklung des jungen Menschen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen 25
Steffan in LPK-SGB VIII Rn 1 zu § 11. BT-Drs. U/6576 S. 107. Frankfurter Kommentar zum KJHG zu § 11 Rn 23. 28 Vgl ζ. B. Schwaab in LPK SGB VIII § 14 Rn 1. 27
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Persönlichkeit (vgl. § 1 Abs. 1 SGB VIII) auf einen jungen Menschen zwischen 21 und 27 Jahren ausgeht, andererseits aber die eines jungen Menschen über 21 Jahren im strafrechtlichen Sinne verneint, ist auch wegen des Gedankens der Einheitlichkeit der Rechtsordnung bedenklich. Es fällt schwer, einzusehen, warum im sozialrechtlichen Bereich bei der Einführung des damals noch KJHG genannten Gesetzes im Jahre 1990 die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den davor liegenden Jahren im Hinblick auf die Entwicklungsfähigkeit der jungen Menschen zwischen 21 und 27 Jahren Eingang gefunden haben, dies aber bei der Anwendung des Strafrechts auf diese Gruppe nicht möglich sein soll. Dabei kann zunächst offen bleiben, ob die Grenze der möglichen Einflussnahme tatsächlich mit der Vollendung des 27 Lebensjahres erreicht ist. Zur praktischen Handhabung eines Gesetzes ist es unvermeidbar, Fristen zu setzen mit deren Ablauf bestimmte Rechtsfolgen eintreten. Hierzu gehört zweifelsfrei auch das individuelle Lebensalter. Dennoch kann und darf der Gesetzgeber in zwei miteinander eng verwobenen Rechtskreisen nicht von völlig unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Schließlich ist darauf hin zu weisen, dass das JGG an einer Vielzahl von Stellen auf das SGB VIII ausdrücklich verweist (und umgekehrt) und schon dadurch dokumentiert ist, 29 dass der Gesetzgeber eine enge Verflechtung der beiden Kodifizierungen vornimmt. Umso wichtiger erscheint es, Erkenntnisse über die Entwicklungsfähigkeit junger Menschen aus dem SGB VIII auch für diejenigen, die nach Vollendung des 21. Lebensjahres aus dem Jugendstrafrecht herausfallen und auf die deshalb Erwachsenenstrafrecht anzuwenden ist, auch auf das Erwachsenenstrafrecht zu übertragen und als Folge davon einerseits die Anwendung des Jugendstrafrechts auch auf erwachsene Täter auszudehnen und weitere im Jugendstrafrecht seit langem bekannte Sanktionsmöglichkeiten auch in das Erwachsenenstrafrecht zu übernehmen. Für eine über die Vollendung des 21. Lebensjahres hinausgehenden Anwendung des Jugendstrafrechts spricht jedenfalls eindeutig, dass Erziehung bei jungen Menschen im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII (KJHG) auch vom Gesetzgeber ausdrücklich in § 14 Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII (KJHG) für sinnvoll erachtet wird. Auch in der ehemaligen DDR war der Jugendbegriff (damals unter den Oberbegriff werktätige Jugend gefasst) auf die Menschen unter 25 Jahre festgelegt. 30 Ein weiteres Indiz dafür, dass auch für die über 21jährigen andere Regeln gelten müssten als für die älteren Erwachsenen zeigt sich schon in dem U m stand, dass das Bundeskriminalamt in seiner Jahresstatistik 2000 (und den Jahren davor) den Jungerwachsenen nach Vollendung des 21. Lebensjahres 29 Vgl ζ. B. §§ 10 I Satz 3 N r 5, 38, 50 JGG; 52 SGB VIII; RLJGG zu § 10 N r 2; Wiesnerin Wiesner u.a. SGB VIII § 30 Rn 19ff. 30 Thilo Ramm Jugendrecht, § 85 S. 553.
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bis unter 25 Jahren eine gesonderte Auswertung widmet. 31 Zeigt dieser Umstand doch, dass die Statistiker das Problem schon längst erkannt haben. Es würde nämlich keinen Sinn machen, diese Gruppe der Erwachsenen gesondert zu erfassen, wenn ihnen gegenüber den übrigen Erwachsenen keine Besonderheit zukäme. Diese Besonderheit liegt bei den jugendlichen und heranwachsenden Tätern in der Anwendbarkeit des Jugendstrafrechts; auf die jungen Erwachsenen hingegen findet das Jugendstrafrecht bislang keine Anwendung, so liegt der Schluss nahe, dass es die Häufigkeit und die Art der Delinquenz in dieser Gruppe sein muss, die eine signifikante Besonderheit aufweist. In der Tat zeigt die Jahresstatistik des BKA, dass bei dieser Tätergruppe eine eklatante Ähnlichkeit zu der Altersgruppe der 18 bis 21jährigen zu finden ist. Hier zeigt sich, dass bei den tatverdächtigen Jungerwachsenen die gleichen Tendenzen zu verzeichnen sind wie bei den Heranwachsenden. 32 Vor allem geht es um die gleichen Deliktsarten nämlich typische Jugendverfehlungen wie etwa Körperverletzung, Rauschgiftdelikte, Betrug (hier vor allem Leistungserschieichung) und Straftaten gegen das Ausländer- und Asylverfahrensgesetz.33 Dies alles zeigt, dass die im JGG bereits im Jahre 1953 gezogene Grenze zum Erwachsenen heute nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. Der Gesetzgeber hat dies erkannt und im SGB VIII (KJHG) auch umgesetzt. Die Entwicklung der jungen Menschen zu eigenständigen Persönlichkeiten ist jedenfalls mit der Vollendung des 21. Lebensjahres nicht abgeschlossen. Daher muss die starre Grenze für die Anwendbarkeit des Jugendstrafrechts nach oben verschoben werden. Darüber hinaus kann und muss das Erwachsenenstrafrecht um weitere geeignete Sanktionsmöglichkeiten auch aus dem JGG erweitert werden. Dadurch würde auch eine neue Altershöchstgrenze zur Anwendung des JGG entschärft und den Gerichten die Möglichkeit gegeben, differenzierter und konkreter auf einzelne Straftäter einzuwirken. Es müsste dann nicht mehr - wie heute leider in der Praxis auf Grund der vorliegenden Gesetzeslage oft unumgänglich - der zweite Schritt vor dem ersten getan werden, nämlich die Resozialisation vor die Sozialisation gestellt werden.
31 Vgl Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2000 S. 72ff; zurzeit Nachzulesen unter http://www.bka.de/pks/pks2000/p_2_3_l.html. 32 Vgl Polizeiliche Kriminalstatistik aaO Seite 7f Tabellen 739 und 741. 33 Vgl Polizeiliche Kriminalstatistik aaO.
Strafrechtliche Gedanken zum Kosovo-Krieg KLAUS
GEPPERT
I.
Mit den Entscheidungen des 3.1 und des 4. 2 Strafsenates des Kammergerichts in Berlin vom Sommer des vergangenen Jahres scheint die deutsche Strafjustiz bewältigt zu haben, was als „Kosovokrieg" in die Geschichtsbücher eingehen wird, 3 in den Medien durch die Bomben auf Afghanistan zwischenzeitlich allerdings schon wieder in den Hintergrund gedrängt worden ist. In jenen Entscheidungen ging es um die Frage, ob der von insgesamt 29 Personen erstunterzeichnete und im Frühjahr 1999 durch Flugblätter sowie in einer Berliner Zeitung veröffentlichte „Aufruf an alle Soldaten der Bundeswehr, die am Jugoslawienkrieg beteiligt sind: Verweigern Sie Ihre weitere Beteiligung an diesem Krieg!" als öffentliche Auforderung zu Straftaten nach § 111 StGB bestraft werden kann. Wie man sich in Berlin erinnern wird, war es auf Amtsgerichtsebene zu unterschiedlichen Urteilen gekommen. Während einzelne Amtsrichter sich für eine Verurteilung entschieden hatten, 4 war die zahlenmäßig wohl etwas größere Zahl der Urteile zu einem Freispruch gelangt.5 Mit umgekehrten Vorzeichen hatte sich diese Unter1 Urt. des 3. Strafsenates vom 29. 6. 2001 - (3) 1 Ss 388/00 (115/00) = NJW 2001,2896ff = JR 2001, 472 (mit kritischer Anmerkung von F. C. Sckroeder aaO S. 474f). * Beschl. v. 10. 10. 2001 - (4) 1 Ss 118/01 (93/01). 3 Zum „Kosovokrieg vor deutschen Strafgerichten" s. bisher vor allem Busse NStZ 2001, 631 ff. < So etwa AG Berlin-Tiergarten mit Urteil vom 17 11. 1999 - 277 Ds 743/99 (NStZ 2000, 651): Der Einsatzbefehl sei verbindlich gewesen, weil der „mit einer großen Mehrheit im Bundestag" beschlossene NATO-Einsatz auch mit Bundeswehrangehörigen „weder einen Verstoß gegen Art. 26 GG noch gegen die Regeln des allgemeinen Völkerrechts" habe erkennen lassen. 5 So etwa AG Berlin-Tiergarten (Urteil vom 4. 11. 1999 - 254 Cs 883/99) NStZ 2000, 144 (ablehnend Hussels NStZ 2000, 650): so vor allem, weil der Aufruf „durch Art. 5 Abs 1 GG gedeckt" gewesen sei. Im Verfahren, das der Entscheidung des 3. Strafsenates zugrundelag, hat das AG Tiergarten (Urt. v. 2. 3. 2000 - 239 Ds 446/99 = NStZ 2000, 652) den Angeklagten sogar erklärtermaßen wegen Völkerrechtswidrigkeit des Kosovokrieges freigesprochen: und zwar im Wege verfassungskonformer Auslegung des § 16 WStG (Fahnenflucht), da „die Rechtmäßigkeit des bewaffneten Einsatzes als ungeschriebene objektive Bedingung der Strafbarkeit im Gesetz enthalten" sei.
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schiedlichkeit dann in der Berufungsinstanz wiederholt, so dass es schlussendlich dem Kammergericht aufgegeben war, für Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu sorgen, was inzwischen geschehen ist. Wie bekannt, haben die Strafsenate des Kammergerichts die Äußerungen der Angeklagten nicht zuletzt unter Bezugnahme auf einschlägige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht als tatbestandliche „Aufforderung zu einer rechtswidrigen Tat" i.S. von § 111 StGB,6 sondern ungeachtet der Tatsache, dass in dem von den Angeklagten mitunterzeichneten Aufruf ausdrücklich von „Fahnenflucht" und „Gehorsamsverweigerung" die Rede war, lediglich als durch Art. 5 Abs. 1 GG gedeckte bloße Meinungsäußerung begriffen. 7 Von hier aus waren Freisprüche die zwangsläufige Folge. Das Kammergericht hat im Schrifttum dafür auch Kritik erfahren. So hat etwa F. C. Schroeder auch in diesen wie in früheren anderen Entscheidungen zu § 111 StGB eine fortschreitende „systematische Demontage" dieser Strafvorschrift beklagt,8 was ich als Mitglied eines Strafsenates des Kammergerichts aber nicht weiter kommentieren möchte: dies nicht zuletzt auch deshalb nicht, weil es mir bei vorliegendem Beitrag weniger um Auslegungsfragen zu § 111 StGB als vielmehr darum geht, ob es sich bei jenen Taten, zu denen - einmal unterstellt: in tatbestandsrelevanter Form - öffentlich „aufgefordert" wurde, denn überhaupt um „rechtswidrige Taten" gehandelt hätte. Eine einzige Bemerkung zum Kontext von § 111 StGB sei mir allerdings gestattet: Angesichts der Tatsache, dass jener Kosovo-Einsatz der NATO vom Frühsommer 1999 auch von fachlich hochangesehenen Völkerrechtswissenschaftlern teilweise als eindeutig völkerrechtswidrig angesehen wird (wovon nachfolgend noch zu sprechen sein wird), ist ein Vergleich des inkriminierten Aufrufs mit kriminalstrafwürdigen Äußerungen wie „Hängt Brandt!" oder „Haut die Bullen platt wie Stullen, schlagt sie ins Gesicht!" unangebracht. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang allenfalls an jenes - nebenbei: auch in einem späteren Revisionsverfahren nicht aufgehobene - Urteil des Landgerichtes Frankfurt a.M. vom 20. Februar 1914, durch das weiland Rosa Luxemburg wegen öffentlicher Aufforderung zu strafbarer Gehorsamsverweigerung zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt wurde, weil sie im September 1913 auf einer Kundgebung im Frankfurter Stadtteil Bockenheim öffentlich dazu aufgerufen hatte, in einem schon damals drohenden Krieg nicht „die Mordwaffen gegen unsere französischen und anderen ausländischen Brüder zu erheben".9 6 Monographisch dazu vor allem Norbert Kissel „Aufrufe zum Ungehorsam und § 111 StGB" (1996). 7 Strafrechtsdogmatisch geht es dabei nicht um den Einsatz von Art. 5 Abs 1 GG als besonderen Recbtfertigungsgrund, sondern um verfassungskonforme, d. h. dem Grundrecht des Art. 5 GG schon auf der Tatbestandsebene (nämlich: bezüglich des Tatbestandsmerkmals „Aufforderung" in § 111 StGB) gerecht werdende 7äi£«ta«i/sauslegung. 8 JR 2001, 474 f. 9 Zitiert nach Kissel aaO (Fn 6) S. 13.
Strafrechtliche Gedanken zum Kosovo-Krieg
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II. Nach Art. 25 GG sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts, gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes, und ausweislich von Art. 26 Abs. 1 GG sind Angriffskriege verfassungswidrig und als solche unter Strafe zu stellen. Vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund liegt es auf der Hand, dass die uns beschäftigenden strafrechtlichen Fragen um Fahnenflucht (§ 16 WStG) oder Gehorsamsverweigerung (§ 20 WStG) maßgeblich auch von völker- und verfassungsrechtlichen Vorfragen abhängen. Somit dürfte es sinnvoll sein, den völkerrechtlichen Streit, der hinter jenem vom 24. März bis zum 10. Juni dauernden kriegsmäßigen Kosovo-Einsatz der NATO steht, an dem sich mit Billigung des Bundestages10 auch deutsche Truppen beteiligt haben, in seinen Grundlinien zu verdeutlichen. Dabei darf wohl als bekannt und nicht bestritten vorausgesetzt werden, dass es bei diesem Waffengang der NATO nicht um die Eroberung fremder Territorien, allerdings auch nicht um die Abwehr eines grenzüberschreitenden bewaffneten Angriffs der Republik Jugoslawien auf Nachbarstaaten ging, der Militäreinsatz der NATO vielmehr ausschließlich humanitären Zielen diente. Ziel war die Beendigung der von Milosevic's serbischem Terrorregime auf dem eigenen Staatsgebiet gegen eigene Staatsangehörige (die Kosovoalbaner) begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen (Genozid, ethnische Säuberung, Mord, Totschlag, Folter, Massenvergewaltigung u.a.). Insoweit erscheint eine Parallele zu der kriegerischen Auseinandersetzung erlaubt, bei der die serbische Regierung unter Führung desselben Slobodan Milosevic zwecks Eroberung und Sicherung der von den Serben beanspruchten Gebiete von Bosnien-Herzegowina ab April 1992 begonnen hat, diese Gebiete mit kriegerischen Mitteln zu erobern und anschließend ethnisch zu säubern, was vom Bundesgerichtshof zu Recht mehrfach als strafbarer Völkermord (§ 220 a StGB) eingestuft wurde.11 Zu diesem völkerrechtlichen Streit immerhin so viel: 1. Die eine Ansicht im völkerrechtlichen Schrifttum, die man jedenfalls zahlenmäßig wohl als die derzeit (noch?) herrschende Meinung bezeichnen darf, hält den auf das Staatsgebiet Jugoslawiens beschränkten Luftangriff der NATO-Streitkräfte vom Frühjahr 1999 für völkerrechtswid10 Beschluss vom 16. Oktober und vom 19. November 1998 sowie vom 22. Februar 1999: Der gegen diese den NATO-Einsatz befürwortenden Beschlüsse des Deutschen Bundestages gerichtete Antrag der PDS-Fraktion im deutschen Bundestag wurde mit Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 25. März 1999 (2 BvE 5/99) als im Organstreitverfahren unzulässig zurückgewiesen: dazu FinkJZ 1999, 1016ff. 11 S. dazu vor allem BGHSt. 45, 64ff (Urt. v. 30. April 1999 - 3 StR 215/98) sowie BGH (Urt. v. 21. Februar 2001 - 3 StR 372/00) StV 2001, 506 (Leitsatz); vgl auch den unveröffentlichten Beschluss vom 21. Februar 2001 (3 StR 244/00).
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Klaus Geppert
rig. 1 2 M a n beruft sich dabei maßgeblich auf die C h a r t a der Vereinten N a t i o nen, ausweislich deren A r t . 2 N r . 4 sich alle ihre Mitglieder verpflichtet haben,
„jede
gegen
die
territoriale
Unversehrtheit
oder
die
politische
Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten N a t i o n e n unvereinbare A n d r o h u n g o d e r A n w e n d u n g von G e w a l t " zu unterlassen. 1 3 A u s n a h m e n v o n diesem unter souveränen Staaten an sich selbstverständlichen Gewaltverbot werden nur unter engen Voraussetzungen erlaubt: z u m einen nach Maßgabe v o n A r t . 4 2 U N - S a t z u n g , sofern der Sicherheitsrat eine militärische Sanktionsmaßnahme ausdrücklich
befür-
w o r t e t h a t ; z u m andern allenfalls aus G r ü n d e n individueller oder kollektiver Selbstverteidigung, d. h. ausweislich v o n A r t . 51 U N - S a t z u n g nur „im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten N a t i o n e n " , d o c h auch in diesem Fall n u r so lange, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens u n d der internationalen Sicherheit erforderlichen M a ß n a h m e n getroffen h a t " . Diesbezüglich muss m a n nun wissen, dass der Sicherheitsrat speziell z u r Kosovokrise in seiner Resolution N r . 1199 v o m 2 3 . September 1998 z w a r bestätigt hat, dass die Situation im K o s o v o sich z u n e h m e n d verschlechtert habe und eine B e d r o h u n g für Frieden u n d Sicherheit in der ganzen 12 Aus der Fülle einschlägiger literarischer Äußerungen speziell zum Kosovokrieg s. vor allem Hummer/Mayr-Singer Der Kosovo-Krieg vor dem Internationalen Gerichtshof, Neue Justiz 54 (2000), 113 ff, Busse Völkerrechtliche Fragen zur Rechtmäßigkeit des Kosovo-Krieges, ZRP 1999, 416 ff sowie Zuck Der Krieg gegen Jugoslawien, ZRP 1999, 225 ff (dagegen aber Wilms Der Kosovo-Einsatz und das Völkerrecht, ZRP 1999, 227ff); eher skeptisch wohl auch Fink Verfassungsrechtliche und verfassungsprozessrechtliche Fragen im Zusammenhang mit dem Kosovo-Einsatz der Bundeswehr, JZ 1999, 1020 f. Generell zur völkerrechtlichen Unzulässigkeit militärischer humanitärer Inventionen ohne UN-Mandat s. auch Beyerlin Humanitarian Intervention, in: Encyclopedia of Public International Law (EPIL), Bd. 2 (1995), S. 926 ff, Bryde Verpflichtungen erga omnes aus Menschenrechten, in: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht (DGVR) Bd. 33 (1994), S. 185ff, Hailbronner Die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbotes, in: Berichte der DGVR Bd. 26, S. 97 ff, Kunig Das völkerrechtliche Gewaltverbot, JURA 1998, 664 ff, Georg Nolte Kosovo und Konstitutionalisierung: Zur humanitären Intervention der NATO-Staaten, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Bd. 59 (1999), S. 941 ff sowie Randelzbofer in: Charter of the United Nations (herausgegeben von Simma), Rn 51 ff zu Art. 2 Nr 4; auf dieser Linie neuerdings auch Hilpold Auf der Suche nach Instrumenten zur Lösung des Kosovo-Konfliktes: Die trügerische Faszination von Sezession und humanitärer Intervention, in: Gordischer Knoten Kosovo/a: Durchschlagen oder entwirren? Herausgegeben von Joseph Marko (1999) S. 157ff. 13 „In Ubereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen" haben sich ausweislich von Art. 1 des NATO-Vertrages die vertragsschließenden Parteien im Übrigen verpflichtet, „jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln, dass der internationale Friede, die Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden, und sich in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist".
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Region bedeute,14 und diesen besorgniserregenden Befund in seiner Resolution Nr. 1203 kurze Zeit später nachdrücklich bekräftigt hat.15 In beiden Fällen hat der Sicherheitsrat jedoch davon abgesehen, bestimmte militärische Maßnahmen anzuordnen, zu autorisieren oder auch nur zu empfehlen.16 Bei dieser Sachlage sehen sich die Vertreter eines streng formalen Rechtsstandpunktes nicht in der Lage, eine auf Art. 42 UN-Satzung gestützte Ausnahme vom Gewaltverbot zu bejahen, und sie fühlen sich auch nicht berechtigt, das Eingreifen der NATO aus Art. 51 UN-Satzung zu legitimieren, weil jedenfalls kein NATO- oder sonstiges UN-Mitglied von Jugoslawien angegriffen worden ist. Trotz aller moralischer Bedenken lehnt es die völkerrechtlich h.M. schließlich auch ab, jenen zugunsten der Kosovoalbaner erfolgten Kriegseinsatz der NATO-Streitkräfte mit humanitären Gründen zu rechtfertigen; denn ein solches völkerrechtliches Nothilferecht zugunsten bedrohter Minderheiten sei bisher eben noch nicht zu völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht erstarkt. Daher müssen die Anhänger dieser Rechtsposition wenngleich mit ausgesprochenem Bedauern zugestehen, dass selbst gegen einen Völkermord begehenden oder ethnische Minderheiten mit Genozid bedrohenden Staat nur mit Genehmigung des Sicherheitsrates eingeschritten werden kann und demzufolge bei Untätigkeit des Sicherheitsrates schlicht keine völkerrechtliche Möglichkeit besteht, Völkermord zu verhindern.17 2. Damit wollen sich jedenfalls für den Bereich humanitärer Interventionen gewichtige Gegenstimmen im wissenschaftlichen Schrifttum nicht abfinden.18 Man versucht dies im Wesentlichen auf doppelte Weise: (1) Zum einen geht man davon aus, dass letztlich auch das in Art. 2 UNSatzung festgeschriebene Gewaltverbot (Nr. 4) und das die gesamte UN14 Im englischen Urtext: „Affirming that the deterioration of the situation in Kosov/ Federal Republic of Ygoslavia constitues a threat to peace and security in the region", zitiert nach Köck Legalität und Legitimität der Anwendung militärischer Gewalt, in: Zeitschrift für Öffentliches Recht Bd. 54 (1999) S. 133 (Fn 54 auf S. 156). 15 Im englischen Urtext: „continuing threat to peace and security in the region" (zitiert wiederum nach Köck aaO). 16 Eine solche Empfehlung ist im Sicherheitsrat bekanntlich am Veto von Russland und China gescheitert. 17 Hailbronner aaO (Fn 12) S. 99: „Rechtlich verständlich, wenn auch rechtspolitisch kaum erklärbar, ist, dem Genocid eines ganzen Volkes tatenlos zusehen zu müssen." 18 So vor allem Doehring Die humanitäre Intervention: Überlegungen zu ihrer Rechtfertigung, in: Buergenthal-Festschrift (1996) S. 599 ff sowie ders. in seinem Völkerrechts-Lehrbuch (1999) Rn 1012ff (S. 433 ff); dem folgend Herdegen Völkerrecht (2000) Rn 7 ff zu § 16 (S. 132ff), Laubach Angriffskrieg oder Humanitäre Intervention? ZRP 1999, 276ff sowie Wilms Der Kosovo-Einsatz und das Völkerrecht, ZRP 1999, 227 ff: alle mit weiteren Nachweisen.
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Charta mitbeherrschende Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates (Nr. 7) Krieg zwischen und gegen Staaten verhindern will. Da primäres Ziel humanitärer Inventionen aber weder die Okkupation fremder Territorien noch die Beeinträchtigung der politischen Unabhängigkeit des angegriffenen Staates aus wirtschaftlichen oder sonstigen eigennützigen Gründen, sondern ausschließlich die Sicherung von Menschenrechten und die Rettung bedrohter Menschen vor Krieg, Tod und Not sei, enthalte das Vertragswerk der UN-Charta - so folgert man - für eben diese Fälle schlicht keine Regelung; es fehle somit eine Regelung, wie gegen schwere Menschenrechtsverletzungen und nicht zuletzt gegen Völkermord vorzugehen sei, wenn sich der Sicherheitsrat nicht für eine einvernehmliche gemeinsame Aktion habe entscheiden können. (2) Angesichts einer derartigen vertraglichen Lücke bleibe in solchen Fällen allein, auf die Regeln des allgemeinen Völkerrechts und damit gegebenenfalls auch auf dazu gehörendes Vö\kergewohnheitsrecht zurückzugreifen; demzufolge sei die Durchbrechung des Gewalt- und Nichteinmischungsverbotes nicht auf die vertraglichen Ausnahmen der Art. 39 ff UN-Satzung beschränkt, sondern - nochmals: gegebenenfalls trotz oder gerade wegen der Untätigkeit des Sicherheitsrates! - auch völkergewohnheitsrechtlicher Rechtfertigung offen. Dass ein solches Gewohnheitsrecht völkerrechtlich gerechtfertigter auch militärischer Intervention zwecks Sicherung elementarer Menschenrechte (versteht sich: bei Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgebotes und sofortiger Einstellung bei Erreichen des humanitären Zieles!) noch nicht allseits erstarkt, sondern allenfalls im Entstehen begriffen sei, sei unschädlich. Zur Begründung dafür wörtlich Herdegen:19 Die Konkretisierung der UN-Charta sei „ein Prozess, der sich gerade bei den ins Gewohnheitsrecht eingegangenen Grundprinzipien der U N Charta unter Einschluss grundlegender Menschenrechtsstandards mit größerer Dynamik vollzieht als die Entwicklung des Gewohnheitsrechts im Übrigen. Hier besteht ein wechselseitiger Einfluss von Vertragskonkretisierung einerseits und den für die Entwicklung von Gewohnheitsrecht maßgeblichen Positionen andererseits. Eine Rechtfertigung für Gewaltanwendung nach der UN-Charta setzt sich auch im Gewohnheitsrecht durch. Denn gerade in diesem Bereich prägt die Auslegung der UNCharta entscheidend das Gewohnheitsrecht. Das Gewicht der Menschenrechte ist (auch in der Praxis der Vereinten Nationen) ständig gewachsen. Hinzu kommt eine wachsende Rechtfertigungstendenz in der Völkerrechtslehre und einem großen Teil der Staatengemeinschaft. Diese Entwicklung erlaubt es, die Anforderungen an den Konsens in der Staatenwelt für den speziellen Fall der humanitären Intervention abzusenken. 1' Völkerrecht (2000) Rn 9 zu § 16 (S. 133f).
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Gute Gründe sprechen deshalb dafür, dass sich die Interventionspraxis der NATO-Staaten in Jugoslawien in einer Art Nothilfe zugunsten der albanischen Zivilbevölkerung auf ein gewandeltes Verständnis der UNCharta stützen kann." 3. Mangels spezifisch völkerrechtlicher Fachkompetenz möchte ich darauf verzichten, in diesem Streit dezidiert eigene Stellung zu beziehen. Ich möchte allenfalls davor warnen, den Standpunkt der h.M. vorschnell als legalistisch abzutun; denn erkennbar ist auch deren Rechtsposition von der Vorstellung beherrscht, dass das Gewalt- und Nichteinmischungsverbot der UN-Charta nicht nur dem Schutz einzelstaatlicher Souveränität, sondern durch deren Sicherung nachgerade auch dem Schutz aller Menschen innerhalb und außerhalb eines Staates vor der vielzitierten Geißel des Krieges zu dienen bestimmt ist.20 Speziell aus strafrechtlicher Sicht ist in diesem Zusammenhang im Übrigen erneut daran zu erinnern, dass ausweislich von Art. 25 GG zwar nicht unbedingt alle, doch jedenfalls „die allgemeinen Regeln des Völkerrechts" - wichtig: ohne eigenen innerstaatlichen Rechtsetzungsakt! - Bestandteil des Bundesrechtes sind (Satz 1) sowie als solche den einfachen Gesetzen vorgehen und demzufolge für die Bewohner des Bundesgebietes unmittelbar Rechte und Pflichten erzeugen (Satz 2). Wenn in einem Rechtsstreit somit zweifelhaft ist, ob eine verletzte Regel des Völkerrechts in diesem Sinn „allgemein" ist und als Bestandteil des Bundesrechtes nach Art. 25 GG unmittelbar Rechte und Pflichten auch für den Einzelnen erzeugt, ist es nur konsequent, dass innerstaatlich entscheidende Strafgerichte diesbezüglich die Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichtes einholen müssten (Art. 100 Abs. 2 GG):21 dies allerdings nur, wenn das erkennende Gericht bei Prüfung der Frage, ob und mit welcher Tragweite eine allgemeine Regel des Völkerrechts gilt, auf „ernstzunehmende Zweifel" stößt 22 und der jeweilige Völkerrechtsverstoß für die Entscheidung des betreffenden Strafrechtsfalles entscheidungserheblich ist.23
20
So zutreffend Georg Nolte aaO (Fn 12) S. 942. Da ein willkürliches Unterlassen der nach Art. 100 Abs 2 GG gebotenen Vorlage einen Angeklagten in seinem grundrechtlich geschützten Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs 2 GG) verletzt, kann ein solcher Verstoß mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden: vgl für viele BVerfGE 64, 1 (12f) und zuletzt BVerfGE 96, 68 (76f). 22 Davon ist auszugehen, wenn das erkennende Gericht von der Meinung eines Verfassungsorgans, von den Entscheidungen hoher deutscher, ausländischer oder internationaler Gerichte oder von den Lehren anerkannter Autoren der Völkerrechtswissenschaft abweichen würde: so schon BVerfGE 23, 288 (319) sowie zuletzt BVerfGE 96, 68 (77). 23 Ebenfalls ständige Rechtsprechung: vgl BVerfGE 75, 1 (12) und zuletzt BVerfGE 96, 68 (79). 21
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III. Die „Aufforderung" i.S. von § 111 StGB muss sich auf eine „rechtswidrige Tat" beziehen, die ausweislich von § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB jedenfalls kriminalstrafbewehrt und in rechtswidriger Form verwirklicht sein muss, d . h . nicht ihrerseits durch Rechtfertigungsgründe gedeckt sein darf. Weil es sich bei § 111 StGB um eine Abart der Anstiftung 24 oder jedenfalls um einen die §§ 26 und 30 StGB ergänzenden Auffangtatbestand handelt, 25 muss die angesonnene Tat im Fall ihrer Ausführung vorsätzlich, doch nicht notwendig schuldhaft begangen worden sein. 26 Demnach würde eine Verurteilung wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten (§111 StGB) zwar durch einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum in der Person des präsumtiven Täters, nicht dagegen durch einen (unverschuldeten) Verbotsirrtum eben dieses Täters ausgeschlossen sein. In Fällen vorliegender Art wird also auch zu klären sein, ob mögliche Irrtümer der öffentlich zu Ungehorsam oder Fahnenflucht aufgeforderten Bundeswehrangehörigen als vorsatzausschließende Tatbestands- oder nur als schuldrelevante Vfcr&otsirrtümer zu werten wären. Zu fragen bleibt also, ob die zu Ungehorsam und Fahnenflucht aufgeforderten Soldaten der Bundeswehr in tatbestandsmäßig-vorsätzlicher und rechtswidriger Form Vorschriften des Wehrstrafgesetzes (WStG) verletzt hätten, wenn sie dem Aufruf nachgekommen wären: 1. In Betracht kommt zunächst einmal eine nach § 20 Abs. 1 WStG strafbare Gehorsamsverweigerung. Danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft, wer die Befolgung eines Befehls dadurch verweigert, dass er sich mit Wort oder Tat gegen ihn auflehnt (Nr. 1) oder wer darauf beharrt, einen Befehl nicht zu befolgen, nachdem dieser wiederholt worden ist (Nr. 2): a) Hätte ein Soldat der Bundeswehr - jenem Aufruf gehorchend - die Befolgung eines Einsatzbefehls 27 verweigert, wäre damit nicht nur der objektive, sondern ebenso eindeutig auch der subjektive Tatbestand der Strafvorschrift erfüllt. Eine mögliche Fehlvorstellung des Soldaten hinsichtlich der Verbindlichkeit des ihm erteilten Befehls stünde dem (nach § 15 StGB erforderlichen) Vorsatz des Befehlsempfängers jedenfalls nicht entgegen, ist die 24 25
26
So Eser in Schönke/Schröder, StGB (26. Aufl 2001) Rn 1 zu § 111. So von Bubnoff im Leipziger Kommentar (11. Aufl) Rn 4 zu § 111 StGB.
Vgl für viele LK-von BubnoffKn
18, Eser in Schönke/Schröder Rn 12, Tröndle/Fischer
StGB (50. Aufl) Rn 4 und N K - P a e f f g e n StGB, Rn 18: alle je zu § 111; zu Unrecht das Vorsatzerfordernis verneinend jedoch OLG Hamm JMB1 NRW 1963, 212. 27 Zur Legaldefinition des „Befehls" s. § 2 Nr 2 WStGB: Befehl ist danach die „Anweisung zu einem bestimmten Verhalten, die ein militärischer Vorgesetzter (§ 1 Abs 4 des Soldatengesetzes) einem Untergebenen schriftlich, mündlich oder in anderer Weise, allgemein oder für den Einzelfall und mit dem Anspruch auf Gehorsam erteilt".
Strafrechtliche Gedanken zum Kosovo-Krieg
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Verbindlichkeit des Befehls doch gerade keine 7äi/>«ta«i&voraussetzung; ausweislich von § 22 Abs. 1 S. 1 WStG handelt ein Befehlsempfänger in den Fällen der §§ 19 bis 21 WStG nämlich (nur) nicht rechtswidrig, „wenn der Befehl nicht verbindlich ist, insbesondere wenn er nicht zu dienstlichen Zwecken erteilt ist oder die Menschenwürde verletzt oder wenn durch das Befolgen eine Straftat begangen würde". Im Interesse einer aus guten und einsichtigen Gründen primär auf Gehorsam aufgebauten Institution wie derjenigen der Bundeswehr führt allerdings nicht jede Rechtswidrigkeit eines Befehls zu dessen Unverbindlichkeit. Unverbindlich (und damit keine soldatische Gehorsamspflicht auslösend) wird ein rechtswidriger Befehl ausweislich der in § 22 Abs. 1 S. 1 WStG - dort allerdings nicht abschließend („insbesondere"!) - aufgeführten Unverbindlichkeitsgründe nur bei Rechtsmängeln, die erkennbar so schwerwiegend sind, dass sie wegen Evidenz ihrer Mangelhaftigkeit zur Nichtigkeit (im Gegensatz zu bloßer Anfechtbarkeit) eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes führen. Von hier aus ist zwar allseits anerkannt, dass jeder Befehl und jede Kriegshandlung, die völkervertrag- oder auch völkergewohnheitsrechtlichen Bestimmungen widerspricht, eindeutig rechtswidrig ist; 28 allseits unbestritten ist aber auch, dass die Völkerrechtswidrigkeit eines solchen Befehls nicht zwangsläufig auch zu dessen Unverbindlichkeit führt. 29 Unverbindlich wird ein völkerrechtswidriger Befehl (u.a.) erst dann, wenn seine Befolgung nach nationalem Strafrecht zu einem Verbrechen oder Vergehen würde (§ 22 Abs. 1 S. 1 WStG) oder dadurch allgemeine Regeln des Völkerrechts verletzt würden. 30 Letzteres folgt zwar nicht unmittelbar aus dem WStG, wohl aber aus Art. 25 GG, nochmals: wonach jedenfalls die „allgemeinen" Regeln des Völkerrechts ohne weiteren Rechtsetzungsakt Bestandteil des Bundesrechtes sind (Satz 1); ungeachtet des Streits, ob den allgemeinen Regeln des Völkerrechts nun Verfassungs- oder gar Überverfassungsrang oder aber nur einfache Gesetzeskraft zukommt, 31 folgt aus dem insoweit unmissverständlichen Verfas-
28 Zu unterscheiden sind also „rechtswidrige" und „unverbindliche" Befehle: „Rechtswidrig" ist jeder Befehl, der in irgendeiner Weise gegen die Rechtsordnung verstößt (Scholz/ Lingens WStG, 4. Aufl 2000, Rn 21 zu § 2) und demzufolge - gewissermaßen mit Blickrichtung auf den Vorgesetzten - von diesem nicht erteilt werden darf (Scholz!Lingens Rn 33 zu § 2). „Verbindlich" ist demgegenüber ein Befehl, der - diesmal mit Blickrichtung auf den Untergebenen - von diesem selbst bei Rechtswidrigkeit befolgt werden muss (Schölz/Lingens Rn 34 zu § 2). 29 So ausdrücklich auch Schwenck Wehrstrafrecht im System des Wehrrechts und der gerichtlichen Praxis (1973), S. 83, S. 107 und passim. 30 Vgl für viele nur Dreher/Lackner/Schwalm WStG (1958) Rn 27 zu § 2, Rittau WStG (1958), Vorb. 2/IV vor §§ 19ff, Schölz/Lingens (Fn 28) Rn 40 zu § 2 sowie Schwenck aaO (Fn 29) S. 81; grundlegend dazu vor allem Doehring Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts und das deutsche Verfassungsrecht (1963) S. 166. 31 Zu diesem Streit weiterführend vor allem Herdegen in Maunz/Dürig/Herzog, GG (Stand: August 2000) Rn 42 zu Art. 25.
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sungsbefehl des nachfolgenden Satzes 2 in Art. 25 GG, dass der Bürger bei Widersprüchlichkeit von einfachem Bundesrecht und allgemeiner Regel des Völkerrechts die letztere zu befolgen hat. 32 b) Vor diesem Hintergrund könnte der befohlene NATO-Einsatz im Kosovokrieg aus zweierlei Gründen in diesem Sinn „unverbindlich" gewesen und damit (über § 22 WStG) eine Strafbarkeit des ungehorsamen Soldaten nach § 20 WStG ausgeschlossen sein: (1) Bekanntlich hat Art. 26 Abs. 1 GG in seinem Satz 1 die Führung eines Angriffskrieges ausdrücklich für verfassungswidrig erklärt und den staatlichen Gesetzgeber in seinem nachfolgenden Satz 2 mit verfassungsrechtlicher Autorität sogar zur Aufstellung eines entsprechenden Straftatbestandes aufgefordert. Nachdem der Gesetzgeber diesem Begehren in seinem § 80 StGB (Vorbereitung eines Angriffskrieges) jedenfalls partiell nachgekommen ist, könnte man daran denken, allen im Zusammenhang mit dem völkerrechtlich umstrittenen NATO-Einsatz erteilten Befehlen allein schon im Hinblick auf diese Strafvorschrift die „Verbindlichkeit" abzusprechen. Dies ist allerdings aus mehreren Gründen zu verneinen: Zum einen wohl schon deshalb, weil § 80 StGB seinem unmissverständlichen Wortlaut nach allein die „Vorbereitung", nicht aber die Durchführung eines Angriffskrieges unter Strafe stellt33 und als Täter von hier aus ohnehin nur Personen in Betracht kommen, die als Inhaber staatlicher Macht in der Lage sind, durch Missbrauch ihrer Amtsstellung die Gefahr einer kriegerischen Aggression überhaupt erst herbeizuführen.34 Für befehlsunterworfene Soldaten käme demzufolge allenfalls eine Teilnahme in Betracht, wobei allerdings auch die rechtliche Möglichkeit der Teilnahme an einem Angriffskrieg bzw. dessen Vorbereitung heftig umstritten ist. 35 Ungeachtet dessen ist aber auch und vor allem umstritten, ob der NATOEinsatz im Kosovokrieg in diesem Sinn überhaupt einen von § 80 StGB tatbestandlich erfassten „Angriffskrieg" darstellt. Umstritten ist nämlich nicht nur die (gewissermaßen: einfach-)völkerrechtliche Beurteilung des Kosovo32 Ausführlich Hirschmann Der Ungehorsam im Wehrrecht (Diss. jur. Erlangen-Nürnberg 1971), S. 41 ff und Olboeter Die Gehorsamspflicht des Soldaten der Bundeswehr und das Grundrecht auf Gewissensfreiheit gemäß Art. 4 GG (Diss. jur. Würzburg 1975), S. 20ff. 35 So ausdrücklich auch Tröndle/FischerRn 10 und LK-£dAi § 52 Rn 1. 17 Der Aspekt der ex ante-Unsicherheit in der Beurteilung als be- oder entlastend spielt jedoch keine Rolle mehr, wenn für den Zeugen klar und eindeutig erkennbar ist, dass seine Aussage den Angeklagten ausschließlich entlasten kann. Jedenfalls unter gewissen hier nicht näher zu diskutierenden Voraussetzungen kann sich materiellrechtlich eine Verpflichtung für den Zeugen ergeben, z.B. den angeklagten Ehegatten durch eine wahrheitsgemäß entlastende Aussage vor einer materialiter unberechtigten Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe zu bewahren. Dann wird sozusagen das prozessuale Zeugnisverweigerungsrecht materiellrechtlich überlagert und darf nicht ausgeübt werden. Andernfalls kommt sogar eine materiellrechtliche Strafbarkeit wegen Freiheitsberaubung nach den Grundsätzen begehungsgleichen Unterlassens in Betracht (§§. 239 I, 25 I, 2. Fall, 13 I StGB). - Näher zu den Grundsätzen begehungsgleichen Unterlassens Freund Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, S. 51 ff, 85 ff; ders. Strafrecht Allgemeiner Teil - Personale Straftatlehre, 1998, § 6. 18 S. dazu Freund GA 1993, 49, 58; eine Differenzierung ebenfalls bejahend Dencker Verwertungsverbote im Strafprozeß, 1977, S. 73; Rogall ZStW 1979, 1, 38. - Vgl zu dieser Problematik auch Brandis Beweisverbote als Belastungsverbote aus Sicht des Beschuldigten?, 2001.
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tens der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder eines Ermittlungsrichters nach der Belehrung über sein Zeugnisverweigerungsrecht eine Aussage macht. Das Spezifische liegt insoweit in der Befragung durch ein staatliches Strafverfolgungsorgan. Spontane - auch unbedachte - mündliche oder schriftliche Äußerungen gegenüber irgendwelchen Privatpersonen sind nach dem Zuschnitt der Vorschrift eindeutig nicht gemeint.19 Das bedeutet freilich, dass insoweit durchaus auch belastende Äußerungen eines Angehörigen im Strafverfahren zur Uberführung des Angeklagten beitragen können: Die Einführung in das Strafverfahren ist ohne weiteres durch die Vernehmung der Privatperson oder durch die Verlesung der Urkunde möglich. Diese wird nicht etwa durch die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts „gesperrt". Deshalb muss mit Blick auf die herausgearbeitete Ratio des § 252 StPO der Frage nachgegangen werden, weshalb gerade bei „Vernehmungen" die spätere Verwertung der „Aussage" im Wege der Protokollverlesung ausgeschlossen sein soll, nicht jedoch ganz generell die Verwertung belastender Äußerungen in irgendwelchen Zusammenhängen. Ein stimmiges Konzept entsteht nur, wenn es einen sachlichen Grund dafür gibt, speziell auf Äußerungen im Rahmen einer „Vernehmung" abzustellen. Nur wenn es einen Unterschied zu sonstigen Äußerungen gibt, ist die differenzierende Behandlung berechtigt. Dabei springt der insoweit allein in Betracht kommende Unterschied nachgerade ins Auge: Der angehörige Zeuge ist bei einer Vernehmung durch Organe der staatlichen Strafverfolgung typischerweise auch dann in einer unterlegenen Stellung, wenn er auf sein Zeugnisverweigerungsrecht hingewiesen worden ist. Denn es ist bei verständiger Würdigung anzunehmen, dass sich der Zeuge im Falle einer drohenden belastenden Aussage bei wahrheitsgemäßem Bericht immer in einer Zwangslage befindet: Sagt er wahrheitsgemäß aus, belastet er den Angehörigen - macht er von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch und sagt nicht aus, werden das die Strafverfolgungsorgane zumindest in den Augen des Zeugen regelmäßig dahingehend deuten, dass es etwas zu verbergen gibt, und zum Anlass für die Ermittlung weiteren Belastungsmaterials nehmen. Dabei genügt es für die normrelevante Zwangslage, dass bei dem Angehörigen der entsprechende subjektive Eindruck nahe liegt. Und an diesem subjektiven Eindruck änderte sich auch dann nur wenig, wenn subtilere Überlegungen dazu führen sollten, dass es den Ermittlungsbehörden eigentlich versagt ist, solche Konsequenzen aus der Inanspruchnahme des Zeugnisverweigerungsrechts zu ziehen. 19 Die Ausgrenzung derartiger Äußerungen ist in der Literatur weitgehend unbestritten; vgl statt vieler Kleinknecht/Meyer-Goßner § 252 Rn 8; Löwe-Rosenberg/Gollwitzer § 252 Rn 29 f, und wird in der hier besprochenen Entscheidung vom BGH auch nicht angezweifelt, s. BGH NJW 2000, 1277, 1278.
§ 252 StPO analog bei entlastenden Angaben eines Angehörigen?
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Auf der Basis der im Bisherigen konkretisierten Ratio versteht es sich von selbst, dass § 252 StPO - ungeachtet des engeren Wortlauts - als ein umfassendes Verwertungsverbot hinsichtlich belastender Bekundungen zu verstehen ist. Das Zeugnisverweigerungsrecht und die Entschließungsfreiheit des Zeugen bezüglich einer Aussage sind nur dann gesichert, wenn jegliche Einführung der früheren Zeugenaussage untersagt wird, die in einer von den staatlichen Strafverfolgungsorganen heraufbeschworenen Drucksituation zustande gekommenen ist. Das Beweisverwertungsverbot erstreckt sich über die Verlesung der Vernehmungsprotokolle hinaus auch auf die Vernehmung der Verhörspersonen.20 Richtigerweise ist § 252 StPO dabei so zu verstehen, dass auch die Vernehmung eines Ermittlungsrichters über die vorherige Zeugenaussage untersagt ist. Allein ein derartiges Verständnis des Beweisverwertungsverbots wird dem in § 252 StPO normierten Verwertungsverbot gerecht, da die Konfliktsituation des Zeugen unabhängig davon besteht, ob es sich um eine richterliche oder eine andere Vernehmung handelt.21 Daran könnte allenfalls noch die Überlegung etwas ändern, dass dem Zeugen bereits bei der richterlichen Vernehmung ebenso wie in der späteren Hauptverhandlung die volle Tragweite seiner Entscheidung für oder gegen die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts vor Augen stehe. Dem ist jedoch nicht so. Erst das Erlebnis der Hauptverhandlung zeigt unmissverständlich für alle Verfahrensbeteiligten, „dass es ernst wird". Unspezifisch ist in diesem Zusammenhang das bisweilen anzutreffende Argument, es bestehe ein Qualitätsunterschied zwischen einer richterlichen und einer sonstigen Vernehmung.22 Als wichtige Zwischenergebnisse können wir festhalten: Im Rahmen des Verwertungsverbots des § 252 StPO muss ratiokonform zwischen be- und entlastenden Aussagen unterschieden werden. Ein Beweisverwertungsverbot gilt nur für belastende Angaben des angehörigen Zeugen. Dabei ist allerdings vorausgesetzt, dass die belastenden Angaben in einer normrelevanten Zwangslage des Zeugen zustande gekommen sind: Es muss sich um eine amtliche Vernehmung gehandelt haben. Nur bei einer solchen besteht zumindest aus der Sicht des Zeugen die Gefahr von Nachteilen, die sich gerade durch die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts ergeben. Allein bei ei-
20 Beulke Strafprozessrecht, Rn 419; H K / J u l i u s § 252 Rn 8; WDiemer § 252 Rn 1; Kleinknecht/Meyer-Goßner% 252 Rn 13. 21 Auf die Vergleichbarkeit der Konfliktsituationen weist Eisenberg NStZ 1988, 488, 489 hin. Zur Ablehnung der Differenzierung vgl Eisenberg NStZ 1988, 488 f; Roxin Strafverfahrensrecht, § 44 Rn 21. 22 Ein derartiger Qualitätsunterschied ist, jedenfalls seitdem 1964 durch das StPÄG für Polizisten und Staatsanwälte eine vergleichbare Belehrungspflicht eingeführt wurde (vgl §§ 163a III, IV, 136 I), kaum noch begründbar und darüber hinaus empirisch nicht nachweisbar; vgl zu letzterem Eisenberg NStZ 1988, 488.
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ner amtlichen Vernehmung ist damit zu rechnen, dass die Strafverfolgungsorgane die Zeugnisverweigerung zum Anlass für die Ermittlung weiteren Belastungsmaterials nehmen.
IV. Analoge Anwendung des § 252 StPO? Neues Beweisverwertungsverbot wegen Missbrauchsgefahr? Die Heranziehung der Ratio des § 252 StPO zur Begründung des Beweisverwertungsverbots durch den Bundesgerichtshof im konkret zu entscheidenden Fall23 stellt methodisch gesehen die analoge Anwendung dieser Vorschrift dar. Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendbarkeit des § 252 StPO liegen indessen eindeutig nicht vor. Eine Analogie setzt zum einen voraus, dass eine planwidrige Regelungslücke besteht, das heißt, dass ein Fall planwidrig nicht geregelt ist, obwohl dafür ein Bedürfnis besteht.24 Darüber hinaus erfordert ein Analogieschluss, dass ein in wesentlichen Punkten vergleichbarer Sachverhalt gesetzlich geregelt ist.25 Sind diese Voraussetzungen erfüllt, dann kann im Wege des Analogieschlusses die vorhandene Regelung auf den nicht geregelten Fall angewandt werden. Ohne auf die genannten Analogievoraussetzungen überhaupt näher einzugehen, stellt der Bundesgerichtshof im Wesentlichen darauf ab, dass es sich bei der anwaltlichen Befragung um eine vernehmungs^w/ic^e Situation handele.26 Eine Vernehmung i.S.d. § 252 StPO liegt anerkanntermaßen dann vor, wenn die Befragung mit dem Ziel durchgeführt wird, eine Aussage zu erlangen, und durch eine Person erfolgt, welche dem Zeugen amtlich gegenübertritt.27 Im Gegensatz dazu fehlt es aber an einer Vernehmung, wenn es sich um eine Angabe „aus freien Stücken" handelt.28 Der Bundesgerichtshof kommt hier zu dem Schluss, dass es bei der Befragung durch einen Rechtsanwalt an einer Aussage „aus freien Stücken" fehle, die Aussage vielmehr gezielt für das Strafverfahren herbeigeführt worden sei und somit eine vernehmungsähnliche Situation vorliege, auf die § 252 StPO analog anzuwenden sei. 23 BGH NJW 2000, 1277, 1278: „... Auch wenn der Verteidiger bei der Befragung von Zeugen oder Beschuldigten keine amtliche Funktion wahrnimmt, muss ein Verwertungsverbot entsprechend dem Rechtsgedanken des § 252 StPO für eine vor dem verfahrensbeteiligten Verteidiger des Angekl. gemachte Aussage ausgenommen werden, ...". 24 Zum Erfordernis einer „planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes" vgl statt vieler Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl, 1991, S. 373. 25 Koller Theorie des Rechts, 1992 S. 213 f; Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 381; Zippelius Methodenlehre, 7 Aufl 1999, S. 69. 2 * BGH NJW 2000, 1277, 1278. 27 Zum Begriff der Vernehmung vgl Kleinknecbt/Meyer-Goßner § 136a Rn 4; Löwe-Rosenberg/ Gollwitzer § 252 Rn 9. 28 Kleinknecht/Meyer-Goßner § 252 Rn 8; Löwe-Rosenberg/Gollwitzer § 252 Rn 10.
§ 252 StPO analog bei entlastenden Angaben eines Angehörigen?
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Die Argumentation des BGH vermag nicht zu überzeugen. Ein Analogieschluss setzt voraus, dass die analoge Anwendung der Norm auf den nicht geregelten Lebenssachverhalt gerade auch der Ratio der Norm entspricht. 29 Insoweit ergibt sich bereits mit Blick auf die für § 252 StPO relevante Drucksituation ein grundlegender Unterschied. Das Spezifische der danach vorausgesetzten Drucksituation liegt gerade darin, dass der Zeuge bei der Vernehmung durch ein staatliches Strafverfolgungsorgan nicht wirklich frei ist, von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen oder aber auszusagen. Denn auch die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts birgt aus der insoweit maßgeblichen Sicht des Zeugen die Gefahr in sich, dass just daraus von den Ermittlungsorganen nachteilige Konsequenzen für den Beschuldigten in Gestalt weiterer Nachforschungen abgeleitet werden. 30 Diese besondere Zwangslage fehlt eindeutig bei einer „Vernehmung" durch den Verteidiger, der gehalten ist, ausschließlich Entlastendes beizubringen. Das allgemeine Bedürfnis, den Angehörigen zu entlasten, kann jedenfalls nicht genügen, um die sub specie § 252 StPO relevante (Vernehmungs-)Drucksituation zu erzeugen. Hinzu kommt ein Weiteres: Wie bereits dargelegt, erfasst das Beweisverwertungsverbot des § 252 StPO ohnehin nur belastende Aussagen. Die Zeugenaussage, über deren Verwertbarkeit der Bundesgerichtshof zu entscheiden hatte, war aber eindeutig eine entlastende. Deshalb hätte diese Aussage selbst im Falle einer amtlichen Vernehmung - wie sie § 252 StPO voraussetzt - berücksichtigt werden dürfen, ja sogar müssen. Im Rahmen eines Analogieschlusses kann aber der Anwendungsbereich einer Regelung nicht über ihre Ratio hinaus ausgeweitet werden. Ein Beweisverwertungsverbot kann daher nicht mit der analogen Anwendung des § 252 StPO begründet werden. Mit Blick auf die Ratio des § 252 StPO nicht haltbar ist auch die weitere Argumentation des BGH: Die analoge Anwendbarkeit des Beweisverwertungsverbots gemäß § 252 StPO wird auf ein argumentum a maiore ad minus gestützt. Wenn § 252 StPO schon untersage, eine Aussage zu verwerten, welche vor der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder dem Richter bei Eingreifen der strafbewehrten Wahrheitspflicht abgegeben wurde, dann müsse dieses Beweisverwertungsverbot erst recht Aussagen erfassen, die in vernehmungsähnlichen Situationen getätigt wurden, welche nicht von der strafbewehrten Wahrheitspflicht der §§ 145d, 164 StGB erfasst sind.31 Dass auch mit diesem Argumentationsgang ein Verwertungsverbot nicht begründet werden kann, zeigt eine einfache Überlegung: Würde der Vertei2 ' Auf die vergleichbare rechtliche Wertung und die ratio legis stellt ausdrücklich Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 382 ab. 30 S. dazu oben III. 31 BGH NJW 2000, 1277, 1278.
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diger die „förmliche Befragung" etwa durch eine informelle Zusammenkunft bei Kaffee und Kuchen ersetzen, bei der die Zeugin zum Tatgeschehen aus eigenem Antrieb und aus freien Stücken Angaben macht, so fehlte es klar an einer vernehmungsihn\ichzn Situation, auf welche der Bundesgerichtshof die analoge Anwendung von § 252 StPO stützen könnte. Die vom Bundesgerichtshof aufgezeigte Gefahr, dass die Zeugenaussage mangels einer strafbewehrten Wahrheitspflicht einen geringeren bzw. zweifelhaften Beweiswert aufweist, bestünde aber auch in diesem Fall. Die Überlegungen des Bundesgerichtshofs und das Beispiel führen jedoch zum eigentlichen Hintergrund der in methodischer Hinsicht wie im Ergebnis verfehlten Gerichtsentscheidung: Problematisch an dem Vorgehen des Verteidigers ist, dass die von ihm protokollierten Angaben der angehörigen Zeugin nicht von einer strafbewehrten Wahrheitspflicht erfasst werden. Die Zeugin kann bei dem Verteidiger die Unwahrheit sagen, ohne sich der Gefahr der Strafverfolgung auszusetzen. Insbesondere scheidet ein Aussagedelikt nach §§ 153 ff StGB wegen der fehlenden Zuständigkeit des Verteidigers für entsprechende „Vernehmungen" aus. Und das Angehörigenprivileg (§ 258 VI StGB) hindert eine Strafbarkeit wegen Strafvereitelung. Deshalb besteht in der Tat die ernsthafte Möglichkeit, dass die Zeugin vor dem Verteidiger die Unwahrheit gesagt - also den Angeklagten zu Unrecht entlastet - hat. Der Versuch des BGH, insoweit einen Riegel vorzuschieben, ist deshalb nur zu gut verständlich. Doch leider ist sein Versuch, dem wirksam zu begegnen, absolut untauglich. Ein Beweisverwertungsverbot gemäß oder analog § 252 StPO ist bereits kein geeignetes Mittel zur Verhinderung derartiger Beweismanipulationen. Denn wie das obige Beispiel zeigt, kann ein Verwertungsverbot leicht umgangen werden, ohne dass derartige Umgehungen rechtlich wirksam unterbunden werden könnten. Der Phantasie, wie entlastende Äußerungen angehöriger Zeugen zunächst „in die Welt gesetzt" und später in das Strafverfahren eingebracht werden können, sind keine Grenzen gesetzt: Angefangen mit einer beiläufigen Bemerkung gegenüber der Nachbarin bis hin zu einem zufällig am Nebentisch mitverfolgten Gespräch können im Strafverfahren nicht von der strafbewehrten Wahrheitspflicht erfasste Äußerungen von Angehörigen Bedeutung gewinnen, die in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. All dem kann durch ein Beweisverwertungsverbot nicht sinnvoll Rechnung getragen werden. Und mit der spezifischen Ratio des § 252 StPO hätte ein solchermaßen mit den Missbrauchsgefahren begründetes Verwertungsverbot ohnehin nichts mehr zu tun. Vielmehr ist dem problematischen Beweiswert in solchen Fällen durchweg im Rahmen der Beweiswürdigung angemessen Rechnung zu tragen. Bei entsprechender Berücksichtigung des Kontexts der Äußerung kann auch keine Rede davon sein, dass - wie der BGH meint - auf diese Weise wesent-
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liehe Teile der Hauptverhandlung aus dieser ausgegliedert und in die Hände der Verteidiger gelegt würden. Die vorhandenen Beweise sind ohne jede Einschränkung immer durch das erkennende Gericht in der Hauptverhandlung ihrem Stellenwert entsprechend zu würdigen. Das erkennende Gericht kann und muss den rechtlich relevanten Unterschied berücksichtigen. Und eine sachgerechte und effektive Verteidigung wird danach trachten, nach Möglichkeit eine entlastende Aussage gerade in der Hauptverhandlung herbeizuführen und sich nicht mit einer problematischen Aussage im Vorfeld begnügen. Nach alledem ist jedenfalls eines deutlich geworden: § 252 StPO ist auf einen Fall, wie ihn der Bundesgerichtshof zu entscheiden hatte, nicht analog anzuwenden. 32 Sinn und Zweck des § 252 StPO tragen nicht. - Unabhängig davon ist freilich das Ergebnis des BGH noch aus einem weiteren Grund verfehlt. Es lässt sich nicht etwa mit einem ad hoc neu geschaffenen Verwertungsverbot bei „missbräuchlichem Verteidigerhandeln" begründen. Ein solches eigenständig begründetes Verwertungsverbot spricht der BGH zwar nicht ausdrücklich an, es steht aber gleichsam zwischen den Zeilen.33 Ein solches Verwertungsverbot widerspräche eklatant elementaren Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Es wäre mit der legitimen Funktion staatlichen Strafens nicht zu vereinbaren. Vorhandenes und für das erkennende Gericht verfügbares Entlastungsm-ittrizl muss immer verwertbar sein. Der ansonsten in Kauf genommenen Verurteilung eines möglicherweise Unschuldigen käme keine rechtsbefriedende Wirkung zu. 34 Das Gericht muss sich der - freilich nicht einfachen - Aufgabe der Bewertung sämtlichen Entlastungsmaterials anhand der Kriterien des rechtsgenügenden Beweises stellen.35 Es darf sich dieser Aufgabe nicht durch die Annahme eines Verwertungsverbots bei „missbräuchlichem Verteidigerhandeln" auf Kosten des möglicherweise unschuldigen Angeklagten entziehen.
32 Die analoge Anwendbarkeit des § 252 StPO verneint insoweit mit Recht auch Schittenhelm NStZ 2001, 50 f. 33 Der Bundesgerichtshof sieht - in Ubereinstimmung mit dem Generalbundesanwalt bei Ablehnung eines Beweisverwertungsverbotes (analog § 252 StPO) die Gefahr, dass wesentliche Teile der Verhandlungsführung dem Verantwortungsbereich des Gerichtes entzogen und in die Hände des Verteidigers gelegt würden, welcher es dann in der Hand hätte, eine Zeugenaussage erst zu protokollieren und den Zeugen anschließend auf sein Verweigerungsrecht hinzuweisen, von dem dieser dann in der Hauptverhandlung Gebrauch macht, vgl BGH NJW 2000, 1277, 1278. 34 Die Verurteilung eines möglicherweise Unschuldigen verstieße letztlich gegen den in dubio pro reo-Grundsatz; vgl dazu Freund GA 1993, 49, 64 f. 35 Näher zu den Anforderungen an den rechtsgenügenden Beweis Freund FS MeyerGoßner, 2001, S. 409ff; den. Normative Probleme der „Tatsachenfeststellung", 1987; Frisch Gedächtnisschrift für Karlheinz Meyer, 1990, S. 533, 550ff; Meurer FS Oehler, 1985, S. 357ff; Stein in: Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, hrsg. v. Wolter, 1995, S. 233 ff.
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Als Endergebnis bleibt festzuhalten: § 252 StPO enthält kein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich entlastender Zeugenaussagen, weil es insofern an der von § 252 StPO i.V.m. § 52 StPO vorausgesetzten besonderen Konfliktlage des angehörigen Zeugen fehlt. Die analoge Anwendung des § 252 StPO auf entlastende Aussagen, die angehörige Zeugen im Rahmen einer Befragung durch den Verteidiger vor der Hauptverhandlung gemacht haben, ist entgegen BGH NJW 2000, S. 1277ίnicht möglich. Dem möglicherweise geringeren Beweiswert einer derartigen Aussage, die nicht von der strafbewehrten Wahrheitspflicht erfasst wird, ist im Rahmen der Beweiswürdigung Rechnung zu tragen. Ein Beweisverwertungsverbot analog § 252 StPO stellt kein geeignetes Mittel zur Verhinderung der befürchteten Beweismanipulationen dar.
Über Beweisverwertung, Beweiswürdigung und Beweisregeln KARL H E I N Z GÖSSEL
I. Ausgangsproblem a) In seiner Entscheidung vom 25. Juli 2000 hatte der erste Strafsenat des Bundesgerichtshofs in einem Fall (vermutlich) des sexuellen Mißbrauchs über die Verwertbarkeit der Zeugenaussage eines Vernehmungsrichters zu entscheiden, „nachdem die Geschädigte" als leibliche Tochter des Beschuldigten „in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hatte". In diesem Fall sah der Senat „das Fragerecht der Verteidigung bei der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung" deshalb als beeinträchtigt an, weil „abzusehen" gewesen sei, „daß die Mitwirkung eines Verteidigers im gerichtlichen Verfahren notwendig sein" werde, der Beschuldigte aber gemäß § 168c Abs. 3 von seiner „Anwesenheit bei dieser Vernehmung ausgeschlossen" und ihm gleichwohl kein Verteidiger bestellt worden sei - darin liege ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d MRK, § 141 Abs. 3 StPO.1 b) Die Frage nach den Folgen einer derartigen Beeinträchtigung der Verteidigung beantwortete der Senat dahingehend, er halte „eine Beweiswürdigungs-Lösung für sachgerechter als ein Verwertungsverbot für den Rückgriff auf den Vernehmungsrichter".2 Von Kritikern ist dagegen nicht nur eingewandt worden, hier werde „Zaghaftigkeit" zur „konstitutionellen Schwäche",3 sondern auch, „die Unterscheidung zwischen Beweiserhebung und Beweisverwertung einerseits und Beweiswürdigung andererseits" sei eine „Grundfeste, auf der die deutsche Dogmatik zum Beweisrecht" ruhe - und die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei geeignet, diese Grundfeste zu erschüttern. 4 Schon dies erscheint Anlaß genug, dem Verhältnis zwischen (verbotener) Beweisverwertung einerseits und Beweiswürdigung andererseits nachzugehen, womit zugleich die Pro-
' BGHSt 46, 93 f. » BGHSt 46, 93, 103. 3 Runert NStZ 2001, 217 * Gieß „Zur ,Beweiswürdigungs-Lösung' des BGH, NJW 2000, 3606.
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blematik von Beweis und Beweisregeln angesprochen ist, welcher der jäh aus unserer Mitte Gerissene u.a. vor 15 Jahren eigene Untersuchungen gewidmet hat. 5
II. Verwertungsverbote als Beweiswürdigungsverbote a) Bei dem demnach notwendigen Versuch einer Klärung ist zunächst zu bedenken, daß mit Beweisverwertung und Beweiswürdigung - in substantivierter Form - Tätigkeiten bezeichnet werden, die den gleichen Gegenstand betreffen: Ein „Beweis" wird verwertet, wird gewürdigt. Will man also wissen, was unter (verbotener) Beweisverwertung und Beweiswürdigung zu verstehen ist, muß zuvor der Begriff „Beweis" geklärt werden. 1. Beweisen bedeutet sprachlich „wissend machen" 6 - im Strafverfahren über das, was in diesem Verfahren gewußt werden muß. Den Gegenstand des demnach zu erwerbenden Wissens bestimmt die Strafprozeßordnung selbst: Nach § 260 Abs. 1 StPO ist Ziel des Erkenntnisverfahrens das Urteil, welches die gerichtliche Feststellung der „in der Anklage bezeichneten Tat" (§ 264 Abs. 1 StPO) in ihrem Verhältnis zu den „durch die Klage beschuldigten Personen" (§ 155 Abs. 1 StPO) zum Gegenstand hat und damit einen von Menschen verwirklichten Sachverhalt, der deshalb auch als verfahrensgegenständlicher Sachverhalt bezeichnet werden kann. 2. Wie das Wissen um diesen Sachverhalt erworben und also bewiesen werden soll, wird in § 244 Abs. 2 StPO festgelegt: unter Benutzung aller Beweismittel durch der Wahrheit entsprechende Feststellung aller Tatsachen, die für die Urteilsfindung von Bedeutung sind, also aller den verfahrensgegenständlichen Sachverhalt bildenden Tatsachen. Unter Beweis ist demnach der Vorgang zu verstehen, in dem Tatsachen wahrheitsgemäß festgestellt werden, soweit dies dem Gericht angesichts der beschränkten menschlichen Erkenntnisfähigkeit möglich ist (sog. objektiv-relative Wahrheit). 3. „Feststellen" von Tatsachen setzt zunächst deren Wahrnehmung voraus, welche durch die zwar herkömmlich, aber unscharf als Beweismittel benannten Beweisträger (Aussagepersonen, Urkunden, Augenscheinsobjekte) 7 ermöglicht wird. Bloße Wahrnehmung allein führt indessen noch nicht zum Wissen um die wahrgenommenen Tatsachen - und so auch nicht zu der von der Strafpro5 6 7
Meurer Beweis und Beweisregel im deutschen Strafprozeß FS Oehler 1985, S. 357 Duden Bd. 7, Etymologie, Stichwörter „be" und „weisen". Gossel Strafverfahrensrecht 1977, § 22 Α III 1.
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zeßordnung geforderten Feststellung von Tatsachen. Deshalb beschränkt sich die Bedeutung der Tatsachen für das Strafverfahren nicht bloß darauf, wahrnehmend festgestellt zu werden. Die festzustellenden Tatsachen sollen als Urteilsgrundlage dienen (§ 264 StPO): Im Hinblick auf das erstrebte Ziel einer Entscheidung über Schuld und - gegebenenfalls - Strafe werden Tatsachen damit als in bestimmter Weise (nicht) vorliegend beurteilt.8 Tatsachen werden also unter zwei Gesichtspunkten beurteilt: einmal hinsichtlich ihrer (Nicht-)Existenz, zum anderen aber auch hinsichtlich ihrer Relevanz für das angestrebte Verfahrensziel der Urteilsfindung. Hat das Gericht die wahrgenommenen Tatsachen in dieser Weise beurteilt, so hat es sich über das Vorliegen urteilsrelevanter Tatsachen wissend gemacht, oder aber darüber, daß diese Tatsachen (so) nicht oder nur möglicherweise vorliegen und auf diese Weise gelangt das Gericht zur Feststellung des urteilsrelevanten Sachverhalts. Damit ergibt sich: „Beweisen" und also „wissend machen" von urteilsrelevanten Tatsachen setzt neben deren Wahrnehmung zugleich auch deren Beurteilung voraus: Tatsachenfeststellung ist immer auch Tatsachenwürdigung - und zu dem in § 261 StPO genannten Ergebnis der Beweisaufnahme gelangt das Gericht durch Beweiswürdigung. b) Sind so im Vorgang des Beweisens Wahrnehmung und Würdigung „eng miteinander verwoben", 9 so sind doch beide Vorgänge unterscheidbar. Dabei läßt sich die durch den Beweisträger ermöglichte Wahrnehmung von Tatsachen durch das Gericht als Beweiserhebung bezeichnen, als Beweis^erwertung die mit der Feststellung verbundene Bewertung als urteilsrelevant, als - so - nicht urteilsrelevant oder zweifelhaft. Damit aber zeigt sich: Beweisverwertung ist Beweiswürdigung. c) Ein Verbot der Beweisverwertung erweist sich damit inhaltlich als ein Beweiswürdigungsverbot. Nach den soeben unter a)2. angestellten Uberlegungen läßt sich dies zu dem Verbot konkretisieren, bestimmte Beweise zu erheben oder bestimmte, aufgrund einer Beweiserhebung wahrgenommene Tatsachen zum Gegenstand der Beweiswürdigung und zur tatsächlichen Grundlage des Urteilsspruchs zu machen.10
8 9
Gössel Strafverfahrensrecht 1977, § 22 Α III 2. So treffend Bertram Schmitt Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß 1992,
394. 10
Vgl dazu auch LR- Gösset15 Einl. Abschn. K, Rn 1 ff.
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III. Die Verneinung eines Verwertungsverbots durch den Bundesgerichtshof Der Vorwurf von Gleß,n der Bundesgerichtshof habe die Unterscheidung zwischen Beweisverwertung und Beweiswürdigung in Frage gestellt, erweist sich damit als gegenstandslos: wird ein Beweis doch gerade durch dessen Würdigung verwertet - eben deshalb erscheint es aber fragwürdig, ob sich der Bundesgerichtshof im oben unter I erwähnten Ausgangsfall tatsächlich für eine „Beweiswürdigungs-Lösung" und gegen ein Verwertungsverbot entschieden hat. Im Ausgangsfall stellte sich für den Bundesgerichtshof die Frage, ob trotz der Beeinträchtigung des Fragerechts der Verteidigung ein „Rückgriff auf den Vernehmungsrichter" möglich sein könne, ob also das Gericht den Inhalt der vom Ermittlungsrichter durchgeführten Zeugenvernehmung durch Vernehmung des Ermittlungsrichters zur Grundlage seines Urteils machen dürfe.12 Wenn auch ein solcher „Rückgriff" zwar durchaus „ausgeschlossen" sein könne, so doch nicht im vorliegenden Fall: Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 252 StPO führt der Senat aus, „bei pflichtwidrig versagten Beteiligungsrechten" sei „mehr auf die Beeinträchtigung des Beweiswerts abgestellt und deshalb eine Lösung auf der Ebene der Beweiswürdigung bevorzugt" worden, „indem das richterliche in ein nichtrichterliches Vernehmungsprotokoll nach § 252 Abs. 2 Satz 2 mit geringerem Beweiswert ,herabgestuft'" worden sei.13 Deshalb gelte „wie beim gesperrten Zeugen" auch im Ausgangsfall: „Auf die Angaben des Vernehmungsrichters kann eine Feststellung regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn diese Bekundungen durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden".14 Im Ergebnis wird sodann ein Verwertungsverbot verneint und der „Rückgriff auf den Vernehmungsrichter" für zulässig erachtet. a) Nach den obigen Ausführungen zu II c würde ein Verwerturigsverbot im Ausgangsfall bedeuten, daß die Aussage des Vernehmungsrichters nicht zum Gegenstand der Beweiswürdigung und damit der Urteilsfindung gemacht werden darf. Weil der Bundesgerichtshof genau dies verneint hat, läßt sich die oben vor a gestellte Frage damit eindeutig beantworten: In der Tat ist ein Verwertungsverbot verneint worden. Damit ist indessen nicht viel gewonnen: Die oben I. b) erwähnte Kritik zwingt dazu, weiter zu fragen, ob der Bundesgerichtshof ein Beweisverwertungsverbot zu Recht verneint hat. 11
S. dazu 12 BGHSt 13 BGHSt 14 BGHSt
Fn 46, 46, 46,
4. 93, 94, 103. 93, 104. 93, 106.
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Damit erweist es sich als notwendig, in das Gebiet des abgründigen Dschungels der Beweisverbotslehren einzudringen15 - einer Notwendigkeit, der sich der Bundesgerichtshof mit der im wesentlichen ohne Begründung gebliebenen Behauptung entzogen hat, die von ihm gewählte „Beweiswürdigungs-Lösung" sei „sachgerechter"16. b) Die Suche nach einer rechtlichen Grundlage für die Anerkennung von Beweisverboten, insbesondere Beweisverwertungsverboten, bereitet insoweit gewisse Schwierigkeiten, als die dem Gericht obliegende Pflicht zur wahrheitsgemäßen Sachverhaltsfeststellung (§ 244 Abs. 2 StPO), abgesehen von entscheidungsunerheblichen Tatsachen und Beweismitteln, unbegrenzt zu sein scheint. 1. Indessen besteht Einigkeit darüber, daß das Gericht nur die „zulässigen Erkenntnisquellen für seine Urteilsbildung heranziehen" darf,17 wie sich schon aus der in § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO normierten Pflicht des Gerichts zur Ablehnung solcher Beweisanträge ergibt, die auf eine unzulässige Beweiserhebung gerichtet sind - diese Beschränkung der Aufklärungspflicht gilt nicht etwa nur im Beweisantragsrecht, wie es modernistische Auffassungen nahelegen, welche das Beweisantragsrecht als ein gegenüber § 244 Abs. 2 StPO selbständiges Institut ansehen18, sondern für den Gesamtbereich der Sachverhaltsermittlung: folgt doch „gerade aus dem Rechtsstaatsprinzip, insbesondere aus dem ihm zugehörenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, daß die Belange der Strafrechtspflege und das staatliche Interesse an einer lückenlosen Aufklärung von Straftaten mitunter hinter höherrangigen Privat- oder Gemeinschaftsinteressen zurückstehen müssen" 19 . Die der Aufklärungspflicht Grenzen setzende Unzulässigkeit der Sachverhaltsermittlung läßt sich damit schon aus der Verfassung ableiten, allerdings nicht nur: einfachgesetzliche Grenzen der Sachverhaltsermittlung finden sich recht zahlreich innerhalb wie außerhalb der Strafprozeßordnung 20 . In welchen Fällen allerdings für den unter Überschreitung dieser Grenzen ermittelten Sachverhalt ein hier als Beweiswürdigungsverbot verstandenes Verwertungsverbot (oben II c) eingreift, wird bekanntlich äußerst kontrovers beurteilt. Zur Beantwortung dieser Frage kann von einer allgemein anerkannten sicheren Grundlage ausgegangen werden: Alle Lehren über die Bestimmung von Beweisverwertungsverboten setzen voraus, daß die verbotene Verwer15
Eingehend dazu LR-GösseP5, Einl. Abschn. K. BGHSt 46, 93, 103. >7 LR-Gollwitzerps ξ 2 44 Rn 8. 18 S. Näheres dazu bei LR-GösseP5 § 420 Rn 12 ff; Gösse/ GA 1999, 541, 542ff. 19 LR- Gollwitzerp5 § 244 Fn 654 zu Rn 188 mit zahlr. Nachw. aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 20 Näheres dazu bei LR- GösseP5 Einl. Abschn. Κ Rn 11 ff. 16
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tung einen Verstoß gegen die Rechtsordnung beinhaltet. Im übrigen kann schon aus Raumgründen die Auffassung des Bundesgerichtshofs zur Verneinung eines Verwertungsverbots im Ausgangsfall (oben I.) nicht etwa am Maßstab aller jemals vertretener Beweisverbotslehren überprüft werden: für die hier verfolgten Zwecke dürfte es genügen, nur die vom Bundesgerichtshof selbst entwickelten Lehren zur Beurteilung eines Verwertungsverbots heranzuziehen. 2. Ausgehend von § 337 StPO verlangt die Rechtsprechung als erste Voraussetzung eines Verwertungsverbots einen revisiblen Verstoß21 gegen eine Norm des geschriebenen oder ungeschriebenen Rechts.22 Weil aber bei der Sachverhaltsermittlung nicht jeder Verstoß gegen die Rechtsordnung automatisch zu einem Verwertungsverbot führen kann, werden bekanntlich auch von der Rechtsprechung zusätzliche Kriterien zur Bestimmung eines Verwertungsverbots verlangt. aa) Das wohl bekannteste Merkmal eines Verwertungsverbots hat der Bundesgerichtshof darin erblickt, daß der bei der Sachverhaltsermittlung begangene Verstoß gegen die Rechtsordnung den „Rechtskreis" des Angeklagten „wesentlich berührt", 23 so bei der Verletzung der richterlichen Belehrungspflichten über das Zeugnisverweigerungsrecht aus § 52 Abs. 3 StPO24 und das Schweigerecht des Beschuldigten aus § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO25. Hätte der Bundesgerichtshof auch im Ausgangsfall dieses Kriterium zur Beantwortung der Frage nach dem Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots herangezogen, was angesichts der „Verlängerung" des Zeugnisverweigerungsrechts aus § 52 StPO durch § 252 StPO im Ausgangsfall recht nahe gelegen hätte, so hätte er ein Verwertungsverbot durchaus auch auf eine Verletzung des § 252 StPO deshalb stützen können, weil wegen der Verletzung des Fragerechts keine ordnungsgemäße richterliche Vernehmung vorlag im übrigen aber wäre bei Anwendung der Rechtskreistheorie ein Verwertungsverbot deshalb zu bejahen gewesen, weil die vom Bundesgerichtshof ausdrücklich bejahte Beeinträchtigung des Rechts aus Art. 6 Abs. 3 lit. d MRK offensichtlich eine wesentliche Berührung des Rechtskreises des Angeklagten beinhaltet - und es erscheint überdies wenig einsichtig, wenn zwar eine entgegen § 168c Abs. 5 StPO unterbliebene Benachrichtigung vom Termin einer richterlichen Zeugenvernehmung zu einem umfassenden Verwertungsverbot, also auch durch Vernehmung der richterlichen Verhörs-
Sog. Funktionslehre, vgl dazu LR- GösseP5 Einl. Abschn. K, Rn 17 LR-Hanac^ § 337 Rn 7. 23 BGHSt 11, 213, 215. 24 BGHSt 11, 213, 216; 38, 96, 99; BGH NStZ 1993, 500, 501. " BGHSt 25, 325, 329. 21
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person, hinsichtlich des Inhalts dieser Vernehmung führt, 26 nicht aber die zu Unrecht unterbliebene Bestellung eines Pflichtverteidigers zur Wahrung des Fragerechts aus Art. 6 Abs. 3 lit. d MRK: In beiden Fällen wird gleichermaßen das Fragerecht eines bei der Vernehmung zur Anwesenheit Berechtigten beeinträchtigt. Nun hat allerdings der Bundesgerichtshof die wesentliche Rechtskreisberührung lediglich bei Verstößen gegen Belehrungspflichten für das Vorliegen eines Verwertungsverbots als entscheidend angesehen, 27 und dazu noch widersprüchlich: Bei einer Verletzung der Belehrungspflicht aus § 52 Abs. 3 StPO wurde einerseits eine wesentliche Rechtskreisberührung und damit ein Verwertungsverbot deshalb bejaht, weil das Recht zur Verweigerung des Zeugnisses auch dem Schutz der „Familienbande" diene, „die den Angeklagten mit dem Zeugen verknüpfen" 28 - andererseits aber auch verneint, weil „die Bestimmungen über die Belehrung allein" den Schutz des Zeugen „im Auge haben" 2 9 . So erscheint es mehr als fragwürdig, ob der Bundesgerichtshof tatsächlich die wesentliche Rechtskreisberührung noch als ein notwendiges Element eines Verwertungsverbots ansehen will, dies insbesondere auch deshalb, weil dieses Gericht auch bei Verletzung von Belehrungspflichten das Vorliegen eines Verwertungsverbotes nach anderen Gesichtspunkten beurteilt hat, ohne das Kriterium der Rechtskreisberührung auch nur zu erwähnen 30 . bb) Uberwiegend hat der Bundesgerichtshof indessen das Vorliegen eines Verwertungsverbots „aufgrund einer umfassenden Abwägung" getroffen, 31 bei der „das Gewicht des Verfahrensverstoßes sowie seine Bedeutung für die rechtlich geschützte Sphäre des Betroffenen ebenso ins Gewicht" fällt „wie die Erwägung, daß die Wahrheit nicht um jeden Preis erforscht werden muß ... und daß der Staat... von Verfassungs wegen eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten hat". Diene die verletzte Verfahrensvorschrift „nicht oder nicht in erster Linie dem Schutz des Beschuldigten, so" liege „ein Verwertungsverbot fern", dagegen aber „nahe, wenn die verletzte Verfahrensvorschrift dazu bestimmt ist, die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten oder Angeklagten im Strafverfahren zu sichern". 32 Mißt man die Entscheidung des Senats im Ausgangsfall an diesem soeben dargelegten Maßstab, so wird sich kaum bezweifeln lassen, daß das Vorlie*> BGHSt 31, 140, 144. ν Näheres bei LR- GösseP Einl. Abschn. K, Rn 24 und 28 ff. « Vgl z.B. BGHSt 11, 213, 216; 38, 96, 99; BGH NStZ 1993, 500, 501. 2 9 BGHSt 22, 35, 38. So ζ. B. BGHSt 40, 336, 339. " BGHSt 38, 214, 219f mit zahlr. Nachw. aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und unter Hinweis auf Rogall ZStW 91 (1979) 31. " BGHSt 38, 214, 220.
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gen eines Verwertungsverbots zu Unrecht verneint wurde. Die in Art. 6 Abs. 3 lit. d MRK und ebenso in Art. 14 Abs. 3 lit. e IPBPR normierte „Garantie des Fragerechts ist", wie der Senat selbst ausdrücklich anerkennt „eine besondere Ausformung des Grundsatzes eine fairen Verfahrens",33 welcher verlangt, daß das Gericht die Verfahrensbeteiligten und damit auch Angeklagte „nicht als bloße Objekte seiner Rechtsfindung behandelt," sondern „ihrer Stellung als eigenverantwortliche Subjekte des Verfahrens Rechnung trägt, sie und ihr Vorbringen ernst nimmt und dafür sorgt, daß sie ihre legitimen Verfahrensrechte ungeschmälert wahrnehmen können" 34 - insbesondere, daß der Angeklagte nach dem „Prinzip der Waffengleichheit" bei „der für seine Verteidigung besonders wichtigen Beweiserhebung die gleichen Befugnisse wie die Anklagevertretung hat"35. Demnach dürfte sich nicht mehr bezweifeln lassen: Das - hier beeinträchtigte - Fragerecht betrifft die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten oder Angeklagten. Demnach hätte der Senat schon vom Boden der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein Verwertungsverbot bejahen müssen;36 wenn er gleichwohl ein Verwertungsverbot verneint, hätte er dies wohl doch eingehender begründen müssen als mit dem bloßen Hinweis auf die angeblich sachgerechtere „Beweiswürdigungs-Lösung".
IV. Die „Beweiswürdigungs-Lösung" als nach § 261 StPO unzulässige Beweisregel Kann der Senatsentscheidung im Ausgangsfall so schon deshalb nicht zugestimmt werden, weil ein Beweisverwertungsverbot zu Unrecht verneint wurde, so bleibt aber doch zu untersuchen, ob der BeweiswürdigungsLösung nicht doch wenigstens dann zuzustimmen wäre, wenn ein Verwertungsverbot zu Recht verneint worden wäre. Dazu ist zunächst auf die rechtliche Konstruktion dieser „Lösung" einzugehen wie auf deren Inhalt (unten a), danach auf eine etwaige rechtliche Grundlage eines derartigen Instituts (unten b). 33
BGH St 46, 93, 95. So treffend bei LR- Gollwitzert24 MRK Art. 6 Rn 71. 55 LR-GollwitzerP* MRK Art. 6 Rn 210. 36 Zum gleichen Ergebnis dürften auch die sog. Schutzzwecklehren kommen, denen zufolge ein Verwertungsverbot immer dann anzunehmen ist, wenn die von der je verletzten Vorschrift verfolgten Schutzzwecke beeinträchtigt sind. Auch nach meinem an anderer Stelle entwickelten Vorschlag (LR- Gösset Einl. Abschn. K, Rn 140ff; s. Gössel FS Hanack 1999, 277, 287ff.) wäre ein Verwertungsverbot zu bejahen: Der Gesetzesverstoß beschwert den Angeklagten; das Urteil beruht auch auf diesem Verfahrensverstoß, weil der von der verletzten Vorschrift verfolgte Zweck beeinträchtigt und weil nicht auszuschließen ist, daß die angefochtene Entscheidung ohne den Verfahrensverstoß für den Angeklagten günstiger ausgefallen wäre (realer und finaler Beruhenszusammenhang). 34
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a) Wie oben III vor a dargelegt wurde, bevorzugt der Bundesgerichtshof bei dem im Ausgangsfall vorliegenden Gesetzesverstoß „eine Lösung auf der Ebene der Beweiswürdigung", indem er auf eine „Beeinträchtigung des Beweiswerts" derart abstellen will,37 daß der fehlerhaft festgestellte Sachverhalt nur dann zur Urteilsgrundlage gemacht werden darf, wenn dieser Sachverhalt durch die Benutzung „andere(r) wichtige(r) Gesichtspunkte" 38 , worunter wohl sonstige verläßliche wie aber auch zulässige Erkenntnisquellen verstanden werden dürfen, bestätigt wird. 1. Das bedeutet zunächst, daß speziell die Aussage des Vernehmungsrichters im Ausgangsfall immer dann zum Gegenstand der Beweiswürdigung gemacht werden darf, wenn kein Verwertungsverbot eingreift. Wie die Bezugnahme des entscheidenden Senats auf die Vernehmung anonymer Zeugen, aber auch auf Fälle fehlerhafter Sachverhaltsermittlung, etwa bei Verstößen gegen §§ 168 c, 224, 252 StPO zeigt, läßt sich diese Aussage verallgemeinern: Ein rechtsfehlerhaft festgestellter Sachverhalt darf immer dann zum Gegenstand der Beweiswürdigung gemacht werden, wenn kein Verwertungsverbot eingreift. Dabei aber ist der Tatrichter gebunden: derartigen Sachverhalten darf nur ein eingeschränkter Beweiswert zuerkannt werden, wobei diese Einschränkung generell für alle Fälle dieser Art vom Bundesgerichtshof festgelegt wird. 2. Die Normierung von Art und Umfang dieser Grenze der tatrichterlichen Beweiswürdigung zeigt bereits eines deutlich auf: In der Strafprozeßordnung ist eine derartige Grenze ausdrücklich in keiner ihrer Bestimmungen enthalten. Gleichwohl sind Grenzen der Be weis Würdigung durchaus nicht unbekannt: aus der Geschichte des Strafprozesses, aus den sog. Beweisregeln. Hier kann nur kurz erwähnt werden, daß „sich im gemeinrechtlichen Strafprozeß und speziell im gemeinen deutschen Strafrecht im Laufe der Jahrhunderte seit dem Hochmittelalter" eine gesetzliche Beweistheorie herausgebildet hatte, derzufolge „der Strafrichter, um eine Verurteilung auszusprechen, an das Vorliegen bestimmter, gesetzlich oder sonstwie rechtlich vorgegebener Beweise gebunden war" 39 . So verlangte der Codex Maximilianeus Bavaricus Criminalis von 1756 dem 1768 veröffentlichten Lehrbuch von von Kreittmayr40 zufolge den sog. Vollbeweis (plena probatio 41 ) zur Ver37
BGHSt 46, 93 104. BGH S. 106 aaO (Fn 37). 39 Jerouschek Wie frei ist die freie Beweiswürdigung GA 1992, 493, 497 40 v. Kreittmayr Compendium Codicis Bavarici civilis, judiciarii, criminalis et annotationum oder Grundriß der gemein- und bayrischen Privat-Rechtsgelehrsamkeit 1768, von Richard Bauer/Hans Schlosser herausgegebener Nachdruck bei C. H. Beck, 1999. 41 Jerouschek aaO (Fn 39) S. 497 Μ
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hängung der gesetzlichen Strafe (poena ordinaria), der nur entweder durch das Geständnis oder die Uberführung (sog. „Uberweisung") durch mindestens zwei „tüchtige" Zeugen (testes habiles) geführt werden konnte, 42 wobei nach dem Codex Judiciarius, auf den der Codex Criminalis verweist 43 , als untüchtige Zeugen z . B . „Leute unter 14 Jahren, ... Blinde, Stumme, ... Anverwandte, Leute von unbekannt oder schlechtem Stand, Wesen, Geburt ..., Arme, Juden und Ungläubige gegen Christen" angesehen wurden, die „gar nichts" beweisen und gleich „ex officio verworfen" werden 44 , und „unbeeidigten Gezeugen nicht geglaubt" wird 45 . Konnte der Beschuldigte weder durch sein Geständnis noch durch zwei tüchtige Zeugen überführt werden, so durfte auf die gesetzliche Strafe nicht erkannt werden, selbst bei Vorliegen anderer Beweismittel (wie z . B . Eidesleistung), 46 sondern nur auf eine (außerordentliche) Verdachts strafe 47 z . B . „in Form einer ,pecunaria pena"' 4 8 oder auf einen nicht rechtskraftfähigen Freispruch (absolutio ab instantia) 49 . Allerdings reichte ein „Halbbeweis" 50 (semiplena probatio: nur ein tüchtiger Zeuge steht zur Verfügung, Eidesleistung) dazu aus, den Beschuldigten zum Zwecke der Geständniserzielung der Folter zu unterwerfen. 51 Diese Beweistheorie setzte dem Richter bei der Würdigung der Beweise Schranken, die den vom Bundesgerichtshof mit der BeweiswürdigungsLösung gesetzten Grenzen durchaus ähnlich sind: Die Entscheidung, ob Zeugen geglaubt werden kann, ob auf die Bekundungen nur eines Zeugen die Verhängung einer gesetzlich vorgesehenen Strafe im Urteilsspruch verhängt werden darf, wird dem Gericht von der Beweistheorie vorgeschrieben - und dem entspricht es, wenn der Bundesgerichtshof dem Tatrichter vorschreibt, unter welchen Voraussetzungen er einen unter Verletzung des Fragerechts des Angeklagten festgestellten Sachverhalt zur Grundlage einer Verurteilung zu einer strafrechtlichen Sanktion dann machen darf, wenn kein Verwertungsverbot vorliegt. Damit ergibt sich: Die Beweiswürdigungs-Lösung ist nichts anderes als eine Beweisregel.
42
v. Kreittmayr aaO (Fn 40), S. 553 ff (Codex Criminalis, Zweyter Theil, Caput V,
§§ 1-7).
v. Kreittmayr wie Fn 42, S. 556 § 19. v. Kreittmayr aaO (Fn 40), S. 459f (Codex Judiciarius, Caput X , §§ 10-13); zu ähnlichen Regelungen in Art. 22, 67 CCC vgl Walter Freie Beweiswürdigung 1979 S. 61 und Jerouschek aaO (Fn 39), S. 498. 45 v. Kreittmayr wie Fn 44, S. 460 § 14. 46 v. Kreittmayr-wie Fn 44, S. 556 § 18. 47 Walter aaO (Fn 44), S. 61 ff. 48 Jerouschek aaO (Fn 39), S. 498 f. 49 Walter aaO (Fn 44), S. 64. 5 0 S. v. Kreittmayr-wie Fn 44, S. 556 § 19. 51 Jerouschek aaO (Fn 39), S. 498 f. 43 44
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b) Im Gegensatz zu den soeben erwähnten codices enthält die geltende Strafprozeßordnung nun aber keine allgemeinen Beweisregeln. Ganz im Gegenteil ist heute allgemein anerkannt, daß der in § 261 StPO enthaltene Grundsatz der freien Beweiswürdigung Beweisregeln ausschließt. 52 Es wäre indes verfrüht, der Beweiswürdigungs-Lösung allein wegen des Grundsatzes der freien Be weis Würdigung die Gefolgschaft zu versagen: Freiheit der Beweiswürdigung bedeutet schließlich nicht willkürliche Beweiswürdigung - muß doch der Richter seine auf die Beweiswürdigung gestützte Uberzeugung von der Richtigkeit seines Urteilsspruchs „frei von sachfremden Überlegungen und Willkür" gewinnen 53 : Grenzen der freien Beweiswürdigung sind unverzichtbar; deshalb bleibt zu untersuchen, ob die mit der sog. Beweiswürdigungs-Lösung aufgestellte Beweisregel sich innerhalb dieser Grenzen hält. 1. Eine erste Grenze kann schon das Gesetz selbst der Beweiswürdigung setzen, wie dies z . B . durch § 190 StGB (Wahrheitsbeweis einer beleidigenden Tatsache nur durch Strafurteil) und § 274 StPO (Beweiskraft des Protokolls) geschehen ist - indessen läßt sich nirgends eine gesetzlich festgelegte Grenze finden, welche die vom Bundesgerichtshof aufgestellte Beweisregel zum Gegenstand hätte. 2. Die wohl wichtigste Grenze ist der richterlichen Beweiswürdigung dadurch gesetzt, daß der Tatrichter im Rahmen seiner Beweiswürdigung weder die Denkgesetze noch Erfahrungssätze oder gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse unbeachtet lassen darf. 54 Eine Mißachtung von Denkgesetzen oder gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen bei der tatrichterlichen Beweiswürdigung scheidet im Ausgangsfall offensichtlich aus. Es liegt indessen nahe anzunehmen, auch wenn dies die im Ausgangsfall ergangene Entscheidung nicht eindeutig erkennen läßt, daß der Tatrichter einen Erfahrungssatz unbeachtet gelassen hatte: Erfahrungsgemäß können die unterbliebene Bestellung eines Pflichtverteidigers und die damit verbundene Beeinträchtigung des Fragerechts mögliche Quellen einer unvollständigen oder sonst fehlerhaften Sachverhaltsermittlung zum Nachteil des Angeklagten bilden. Hätte der Tatrichter diesen Erfahrungssatz außer acht gelassen, so hätte er die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten. Es erscheint jedoch mehr als fragwürdig, die wegen Beeinträchtigung des Fragerechts fehlerhafte Tatsachenfeststellung, wenn auch nur im Regelfall, nur dann als rechtsfehlerfrei gewürdigt anzusehen, wenn diese Feststellung 52 Vgl dazu nur z.B. KK-Engelhardt* § 261 Rn 28; Meurer aaO (Fn 5). « LR-GollwitzerP § 261 Rn 1. 54 LR-Gollwitzerp § 261 Rn 44 ff.
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„durch andere wichtige Gesichtspunkte bestätigt" wird - diese Regel mißachtet ebenfalls eine gesicherte Erfahrung: kann doch in derartigen Fällen nicht ausgeschlossen werden, daß gerade durch die Wahrnehmung von Fragerechten, durch welche Verfahrensbeteiligten auch immer, Zeugen verunsichert werden und deren Bekundungen gerade deshalb eine unsichere Grundlage der Urteilsfindung bilden können. Dies zu beurteilen und zu entscheiden muß aber der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung überlassen bleiben, die nur auf dem Gesamteindruck aller Geschehensabläufe in der Hauptverhandlung beruhen kann: Die Re vis ions gerichte mißachten § 261 StPO, wenn sie dem Tatrichter, wie im Ausgangsfall geschehen, eine detaillierte Regel zu beachten vorschreiben, derzufolge auf die Aussage der richterlichen Verhörsperson Feststellungen „regelmäßig nur dann gestützt werden" können sollen, „wenn diese Bekundungen durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden"55. Das Revisionsgericht greift massiv in die freie Beweiswürdigung des Tatrichters ein, wenn es diesem vorschreibt, diese Regel beachten zu sollen - auch wenn dies nur „regelmäßig" so sein soll, so liegt doch gerade darin eine Regel für die Beweiswürdigung und also eine nach § 261 StPO unzulässige Beweisregel.
V. Fazit a) Es erscheint nicht abwegig zu vermuten, der Bundesgerichtshof habe mit seiner Entscheidung gegen ein Verwertungsverbot verhindern wollen, Kinderschändern einen beweistechnischen Freibrief zum sexuellen Mißbrauch ihrer eigenen Kinder zu erteilen. Daß dies gelungen sei, wird man indessen kaum behaupten können. 1. Das sich hier aufdrängende Gegenargument, die Verwertung der ermittlungsrichterlichen Aussage des Verbrechensopfers lasse sich doch sehr leicht dadurch sicherstellen, daß dem Beschuldigten ein Verteidiger bestellt werde, erscheint indessen nicht allzu überzeugend: Die Verteidigerbestellung verlängert den zwischen der Erstattung der Strafanzeige und der ermittlungsrichterlichen Vernehmung liegenden Zeitraum, wodurch dem Täter die nicht selten erfolgreich genutzte Möglichkeit eröffnet wird, sein Opfer zur Geltendmachung seines Zeugnisverweigerungsrechts schon vor dem Ermittlungsrichter zu veranlassen - in einigen dieser Fälle wird allerdings eine molekulargenetische Untersuchung (§ 81 e StPO) Beweisprobleme entfallen lassen, nicht aber in denen, in denen sich das Opfer unabhängig von einem nur kurze Zeit zurückliegenden Mißbrauchsfall erst nach jahrelangem Mißbrauch zur Strafanzeige entschließt. 55
BGHSt 46, 93, 106.
Beweisverwertung, Beweiswürdigung und Beweisregeln
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2. Verlangt man zur Überführung des Täters „andere wichtige Gesichtspunkte", welche die Richtigkeit der fehlerbehafteten Tatsachenfeststellung bestätigen, die aber, jedenfalls nach dem Revisionsvortrag, nicht vorhanden sind 56 , so kommt dies einem zum Freispruch führenden Verwertungsverbot gleich, was der Senat auch insoweit anerkannt hat, als er die Möglichkeit eines Freispruchs nach § 354 Abs. 1 StPO immerhin in Erwägung gezogen, wenn auch verneint hat5? b) In Fällen der vorliegenden Art kommt es in der Tat entscheidend darauf an (und insoweit ist dem Bundesgerichtshof zuzustimmen), ob man die Beweisführung mit einem fehlerhaften Beweismittel für unzulässig und dessen Verwertung für verboten hält, oder ob man das fehlerhafte Beweismittel dem Tatrichter zur freien Würdigung nach § 261 StPO in den oben aufgezeigten Grenzen (oben IV b) überantworten will. Wenn der Senat dabei aber im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein Verwertungsverbot verneint, so hätte gerade dies einer eingehenden Begründung bedurft, an der es derart weit fehlt, daß die zutreffend als Maßstab herangezogene Sachgerechtigkeit nahezu zu einer Leerformel wird. Zwar stellt der Senat zu deren Bejahung die Regel auf, eine fehlerhafte Sachverhaltsfeststellung solle nur dann zur Grundlage eines Schuldspruchs gemacht werden, werde diese Feststellung durch andere wichtige Gesichtspunkte bestätigt - er vernachlässigt dabei aber, daß es auch andere gute Gründe geben kann, sogar derartige Sachverhaltsfeststellungen trotz ihrer Fehlerhaftigkeit in zuverlässiger Weise für geeignet zu halten, die sichere richterliche Uberzeugung von der Schuld oder Unschuld des Angeklagten zu begründen. c) Wenn aber das Revisionsgericht dem Tatrichter erlaubt, fehlerhafte Tatsachenfeststellungen zum Gegenstand der Beweiswürdigung und damit auch der Urteilsfindung zu machen, m u ß es konsequent bleiben und dem Tatrichter diese Würdigung in der von § 261 StPO gebotenen freien Weise ermöglichen. Es geht nicht an, diese Würdigung durch Aufstellung von Verwertungs- und damit Würdigungsverboten auch nur nahekommende Beweisregeln nahezu auszuschließen - dann erschiene es konsequenter und auch sachgerechter, ein Verwertungsverbot anzunehmen, zumal da ein solches jedenfalls im Ausgangsfall mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Einklang stünde, wie oben III b aufgezeigt wurde. Insoweit erscheint der bereits oben I b erwähnte Einwand von Kunert als nicht unberechtigt, hier werde Zaghaftigkeit zur konstitutionellen Schwäche. 58
56
BGH aaO (Fn 55), S. 94. 57 BGH aaO (Fn 55), S. 106. se S. Fn 3.
Beweissichernde Durchsuchung und die Folgen von Verfahrensfehlern EDGAR
WEILER
Dieter Meurer war Hochschullehrer und im Nebenamt als Vorsitzender einer Wirtschaftsstrafkammer zugleich Praktiker. Die Kombination von Theorie und Praxis1 prägte seine Haltung zu Rechtsfragen, wie derjenigen nach den Folgen einer verfahrensfehlerhaften Vorgehensweise von Ermittlungsorganen bei der Durchsuchung zum Auffinden von Sachbeweisen. Zum „Fall Weimar",2 wo nach Abschluß einer richterlich gestatteten Durchsuchung eine weitere Durchsuchung ohne Durchsuchungsbeschluss vorgenommen worden war, führte er aus, daß einerseits die Mißachtung der Form Vorschriften des § 105 Abs. 1 StPO prozessuale Folgen haben könne, er andererseits als Praktiker keine rigorose Beweisverbotslösung befürworte, zumal die Fehlermöglichkeiten allzu variantenreich seien. Nur vorsätzliche oder grob fahrlässige Verstöße gegen zentrale Beweisgewinnungsvorschriften sollten deshalb in diesem Bereich ein Beweisverwertungsverbot zur Folge haben.3 Später trat Dieter Meurer einer in der Praxis zunehmend anstelle einer förmlichen Vorgehensweise anzutreffenden „informellen Ausforschung" entgegen, in der er eine Umgehung der Spezialtatbestände des achten Abschnitts des ersten Buches der Strafprozeßordnung für Ermittlungseingriffe in Grundrechtspositionen sah.4 Inzwischen hatten die Ermittlungsmaßnahmen namentlich im Bereich der verdeckten Ermittlungen „ihre Unschuld verloren".5 Der systematischen Unterwanderung der Eingriffstatbestände des geschriebenen Rechts wollte Meurer vor diesem Hintergrund damit begegnen, daß er für Fälle des Eindringens in Rechtspositionen, die zum Unverfügbaren im Strafprozeß gehören, absolute Beweisverwertungsverbote annahm, während bei weniger gravierenden Eingriffsakten von Fall zu Fall Beweisverwertungsverbote nach Maßgabe der Abwägungslehre die 1 Vgl dazu Meurer Dogmatik und Pragmatismus - Marksteine der Rechtsprechung des BGH in Strafsachen, NJW 2000,2936ff; s.a. Meyer-GoßnerTheorie ohne Praxis und Praxis ohne Theorie im Strafverfahren, ZRP 2000, 345ff. 2 BGH JR 1990, 385ff mit Anm. Meurer; dazu ferner Fezer StV 1990, 290ff und Roxin NStZ 1989, 376ff. 3 Meurer }K 1990, 389, 391 f. 4 Meurer Informelle Ausforschung, in: Festschrift für Claus Roxin, 2001, 1281 ff. 5 Eschelbach Rechtsfragen zum Einsatz von V-Leuten, StV 2000, 390, 391.
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Folge eines staatlichen Handelns ohne gesetzliche Grundlage sein sollten. 6 Dieser Grundposition ist zuzustimmen. 7 Die Tücke liegt im Detail, dessen weitere Erforschung Dieter Meurer zum Nachteil von Wissenschaft und Praxis nicht mehr vergönnt war.
I. Klassischer Durchsuchungsbegriff und moderne Modifikationen 1. Autoritäres Vorgehen Außerhalb der Beweiserhebungen in der Hauptverhandlung zur Schuldund Straffrage, wo Strengbeweis herrscht, ist ein Tatverdacht im Freibeweisverfahren8 abzuklären, soweit dies nach dem Legalitätsprizip erforderlich ist. Auch im Freibeweisverfahren gilt die Aufklärungspflicht;9 dort fehlt nur eine Bindung an die speziell für die Hauptverhandlung geltenden Maximen der Mündlichkeit, Öffentlichkeit und Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und es fehlt eine Bindung an bestimmte Beweismitteltypen. Die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung greift regelmäßig nicht in Grundrechte ein, sieht man davon ab, daß schon eine Vernehmung den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung berührt. 10 Im Vorverfahren müssen Beweise auch zwangsweise beschafft werden. Dazu muß von Fall zu Fall in die Privatsphäre des Beschuldigten oder eines Drittbetroffenen eingegriffen werden, wenn diese Person den Beweisinhalt nicht in einer mündlichen Äußerung oder den Beweisgegenstand durch Besitzübertragung (§ 95 Abs. 1 StPO) freiwillig herausgibt.11 Für Zwangseingriffe bestehen zum Teil Richtervorbehalte, die eine auf den Einzelakt bezogene Rechtsmäßigkeitskontrolle bewirken; eine partielle Vorwegnahme der Hauptverhandlung liegt nicht darin.12 Freiwilligkeit der Preisgabe einer Rechtsposition durch den Betroffenen schließt einen Grundrechtseingriff durch die staatlichen StrafverfolgungsMeurer aaO (Fn 4) S. 1281, 1297. Vgl Wolter Beweisverbote und Umgehungsverbote zwischen Wahrheitserforschung und Ausforschung, in Roxin/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band IV, 2000, S. 963, 993 ff. 8 Allg. dazu Alsberg/Nüse/MeyerDer Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Aufl, S. 109ff. 9 BVerfGE 70, 297, 309. 10 BVerfGE 76, 363, 388. 11 Radtke Aktive Mitwirkungspflichten und die „freiwillige" aktive Mitwirkung des Beschuldigten bei dem Zugriff auf elektronisch gespeicherte Daten im Strafprozeß - Uberlegungen am Beispiel der sog. Bankendurchsuchungen - , in: Strafverfahrensrecht in Theorie und Praxis, Festschrift für Meyer-Goßner, 2001, S. 321, 326 ff. 12 So aber Morre/Bruns Einfluß verdeckter Ermittlungen auf die Struktur des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, in: Festschrift aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens von Bundesgerichtshof usw., 2000, S. 581, 598f. 6 7
Beweissichernde Durchsuchung u n d die Folgen von Verfahrensfehlern
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organe aus, wenn sie auf einer Kenntnis der maßgeblichen Umstände beruht. 13 Eingriffsrechtlich relevante Freiwilligkeit scheidet deshalb dann aus, wenn der Betroffene einem Ermittlungsbeamten in Unkenntnis der Ermittlungstätigkeit oder der rechtlichen Bedeutung seines Einverständnisses in seine Wohnung Einlaß gewährt.14 § 110c Satz 1 StPO regelt also einen Eingriffsakt des Eindringens in die geschützte Sphäre im Sinne von Art. 13 Abs. 1 GG,15 da das dort vorausgesetzte Einverständnis des Berechtigten wegen der Verwendung einer Legende (§ 110a Abs. 2 Satz 1 StPO) durch den Beamten defizitär bleibt.16 Es beruht auf einer Täuschung 17 über das Vorliegen eines hoheitlichen Handelns. 18 Erlaubt ist nach § 110c StPO aber nur das Betreten der Wohnung, nicht zugleich die Durchsuchung an diesem Ort. Dafür gelten die allgemeinen Regeln, also §§ 102 ff StPO. Nicht ausgeschlossen ist aber, daß der Verdeckte Ermittler beim Betreten der Wohnung der Zielperson unter Verwendung einer Legende ohne zielgerichtete Suche Wahrnehmungen von Spuren oder Sachbeweisen macht, die als Personalbeweis in das Strafverfahren einfließen können. Aus dem fließenden Ubergang von Sach- und Personalbeweis ergibt sich die Frage, was genau unter einer beweissichernden Durchsuchung zu verstehen ist.
2.
Offenheit von
Durchsuchungen
Die konventionelle Durchsuchung ist das Eindringen staatlicher Strafverfolgungsorgane in die Persönlichkeitssphäre bei der Durchsuchung der Person bzw. der ihr gehörenden Sachen oder in die Wohnung eines Bürgers, um dort zur Aufklärung eines Tatverdachts zielgerichtet nach Spuren (§ 103) oder Sachbeweisen (§§ 102, 103) zu suchen, die der Betroffene nicht von sich aus offenlegen oder herausgeben will.19 Ob und in welchem Umfang eine systematische Suche stattfindet, ist unerheblich. Für das Eingriffsrecht maßgebend ist vielmehr das dem Staat zuzurechnende Eindringen in eine nach Art. 13 Abs. 1 oder Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte 13 Wohlers in Malek/Wohlers Zwangsmaßnahmen und Grundrechtseingriffe im Ermittlungsverfahren, 2. Aufl, Rn 65 ff. 14 Jarass in: Jarass/Pieroth, GG, 5. Aufl, Art. 13 Rn 7; Meurer (Fn 4) S. 1291; Rudolphi in: SK, 10. Lfg., StPO § 105 Rn 3. 15 Art. 13 GG ist auf das „behördliche Betreten und Besichtigen von Wohnungen anzuwenden", BVerfGE 75, 318, 326. 16 Amelung in: AK-StPO, 1992, § 105 Rn 23; Eschelbach StV 2000, S. 390, 393f. Wohlers in: Malek/Wohlers (Fn 13) Rn 68. 18 Offengelassen von BGH StV 1997, 233, 234 mit Anm. von Felsch StV 1998, 285 ff; Frisier]! 1997,1130ff; M/gerNStZ 1997, 449f; MtzJR 1998, 211 ff; Roxin StV 1998, 43ff; Wollweher StV 1997, 507 ff. 19 Papier in: Maunz/Dürig, GG, 36. Lfg., Art. 13 Rn 23; Wecker Beweisverwertungsverbote als Folge rechtswidriger Hausdruchsuchungen, 2001, S. 54 f.
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Sphäre, um dort Informationen zu erlangen. 20 Es handelt sich abstrakt-generell um einen gravierenden Eingriff, der regelmäßig offen zu erfolgen hat. Die grundsätzliche Offenheit des Vorgehens der Ermittlungsorgane bei der Durchsuchung zeigt sich im Gebot der Zuziehung von Zeugen gemäß § 105 Abs. 2 StPO und des Inhabers der Durchsuchungsobjekte nach § 106 StPO. An heimliche Durchsuchungen hatte der historische Gesetzgeber nicht gedacht. Die Ermittlungsmethoden nach §§ 98aff, lOOaf, lOOcf, llOaff StPO wurden erst später eingeführt und haben das Bild so verändert, 21 daß die Rechtsprechung inzwischen meint, es gebe im Ermittlungsverfahren keinen Grundsatz der Offenheit mehr. 22 Das überholte Vorstellungsbild des historischen Gesetzgebers schließt dann die Heimlichkeit einer „Durchsuchung" heute nicht mehr aus. Die Offenheit im Sinne der §§ 105 Abs. 2, 106 StPO ist nach herschender Meinung nur eine Sollvorgabe für den Fall, daß die Zuziehung von Zeugen oder des Inhabers bzw. eines Vertreters „möglich" ist. 23 § 106 StPO markiert zudem eher eine materielle Rechtsposition des Anwesenheitsberechtigten als ein Verfahrensgebot. 24 Beim Handeln von Ermittlungsbeamten unter einer Legende oder beim informellen Vorgehen von V-Leuten ist die Zeugenhinzuziehung oder Information des Betroffenen zur Aufrechterhaltung der Legende nicht möglich. Die Regelung der §§ 110a Abs. 2, 110c Satz 1 StPO kann als Ausnahme von der Regel der Offenheit (§§ 105 Abs. 2, 106 Abs. 1 Satz 2 StPO) verstanden werden. Es geht bei der Durchsuchung im Übrigen um „klassisches Eingriffsrecht", weil die Durchsuchung im deutschen Recht seit jeher zum Instrumentarium staatlicher Straftatenaufklärung gehört, während die Wohnungsdurchsuchung im anglo-amerikanischen Recht historisch eher tabuisiert wurde. 25 Das Recht der Durchsuchung hat in der Rechtsprechung zum strafprozessualen Eingriffsrecht eine gewisse Vorreiterrolle gespielt, namentlich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 26 Dafür sind faktische Kriterien ursächlich. Heimliche Maßnahmen werden meist erst nach Abschluß der Ermittlungen bekannt, so daß Rechtsbehelfe analog § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO und Beschwerden kaum noch ergriffen werden. 27 Solche Eingriffsmaßnahmen werden daher erst im Rahmen des Hauptverfahrens beanstandet und die Verwertung ihrer Ergebnisse im Urteil mit der
Amelung in: AK-StPO § 102 Rn 21. Kühne in Sachs GG, 2. Aufl, Art. 13 Rn 23. 2 2 BGHSt 42, 139, 159; tendenziell anders SächsVerfGH LKV 1996, S. 273, 281. 2 3 S. zur rechtsstaatlichen Bedeutung des § 105 Abs 2 StPO aber auch OLG Karlsruhe, NStZ 1991, 50, 51 f. 24 Eb. Schmidt Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, 1957, § 106 Rn 1. 2 5 Dazu Salditt AnwBl. 1992, 360 f. BVerfGE 20, 162, 186f, 225ff; 42, 212, 219ff; 44, 353, 370ff; 45, 82, 83; 50, 48, 49; 59, 95, 97 f; 71, 64, 65 f; 96, 27, 39 ff; 96, 44, 51 ff; 103, 142, 150 ff. 27 Meurer (Fn 4) S. 1281, 1296. 20 21
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Revision angegriffen, wenn das tatrichterliche Urteil darauf beruht. Die Heimlichkeit des Vorgehens führt deshalb zu einer Rückverlagerung des Rechtsschutzweges bis zur Revisionsinstanz28 und zur Filterung der Beanstandungspunkte in urteilstragende oder für das Urteil als Endentscheidung unerhebliche Beweise. Insoweit kommt der Beweisverbotslehre als Rechtsfolgenbetrachtung bestimmende Bedeutung zu. Die Zwischenentscheidungen im Vorverfahren nach §§ 98 Abs. 2 Satz 2, 304 StPO, die das erkennende Gericht im Hauptverfahren ohnehin nicht binden können, 29 verlieren an Bedeutung. Darauf sind ζ. B. die Richtlinien für den Einsatz von V-Leuten ausgerichtet. Nr. 1.3.2 Satz 2 Anlage D zu den RiStBV besagt: „Werden sie in Anspruch genommen bzw. eingesetzt, so ist Ziel der weiteren Ermittlungen das Beschaffen von Beweismitteln, die den strafprozessualen Erfordernissen der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme entsprechen und den Rückgriff auf diese Personen erübrigen". Es wird also gezielt eine nach der Rechtsprechung nicht von Fernwirkungen etwaiger Beweisverwertungsverbote erfaßte Beweislage angestrebt, die den geheimen Beweisgang mit Hilfe von V-Personen, die gegebenenfalls „informelle Durchsuchungen" durchführen und dabei Sachbeweise sicherstellen, nachträglich entbehrlich macht und die heimlichen Ermittlungen der gerichtlichen Kontrolle entzieht. So entsteht ein rechtsfreier Raum, dessen Ausnutzung zur „effektiven Strafverfolgung" das förmliche Vorgehen nach §§ 102 ff StPO ersetzt. Ein Wirkungszusammenhang der heimlichen Ermittlungen durch V-Personen mit der Thematik des Durchsuchungsrechts besteht darin, daß die von V-Personen aufgespürten Sachbeweise in einer „informellen Durchsuchung" gewonnen werden. Dies wurde früher damit dementiert, daß ein Handeln von V-Leuten den staatlichen Strafverfolgungsbehörden nicht zuzurechnen sei. V-Leute seien „Zeugen" und unterlägen nur den für diese geltenden Regeln.30 Diese These ist jedoch überholt. 31 V-Leute handeln im staatlichen Auftrag und ihre Maßnahmen greifen aus der Sicht des Betroffenen mindestens ebenso tief in dessen Rechtssphäre ein, wie das gleichartige Vorgehen von Ermittlungsbeamten. Die informelle Suche nach Sachbeweisen in der Wohnung oder in der sonstigen Privatsphäre einer Zielperson steht in ihrer Handlungsweise, Zielrichtung und Eingriffsintensität einer Durchsuchung gleich.32
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* Die immer weiter ausgedehnte Widerspruchslösung der Rechtsprechung, so etwa inzwischen auch für Maßnahmen nach § 100a (BGH StV 2001, 545) oder § 110a StPO (BGH StV 1996, 529 und NStZ-RR 2001, 260), führt auch dazu, daß Beweisverwertungsverbote sich erst in der Hauptverhandlung auswirken. 2 ' Lin Richtervorbehalt und Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe, 1998, S. 337 30 BGHSt 40, 211, 213 ff. 31 Meurer (Fn 4) S. 1281, 1290. 32 Amelung in: AK-StPO § 102 Rn 21 und § 105 Rn 23.
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Sie ist deshalb am Maßstab der Art. 13 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 19 Abs. 4, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, §§ 102ff StPO zu messen. Das informelle Vorgehen verändert die Rechtslage. Die These, Beweisverwertungsverbote seien im deutschen Strafverfahrensrecht nicht zur Disziplinierung der Ermittler erforderlich, weil das materielle Straf- und Disziplinarrecht ausreichend Wirkung entfalteten, erscheint namentlich dann überholt, wenn das Fehlen effektiver prozessualer Gegenmaßnahmen etwa bei der Mißachtung des Richtervorbehalts für Durchsuchungsanordnungen „einen mehr als 100 Jahre lang praktizierten Rechtsbruch" 33 zur Folge haben kann. Ein geändertes Rechtsbewußtsein wird an der Einschätzung der Folgen der Verletzung des Richtervorbehalts nach § 110b Abs. 2 Satz 1 StPO durch Jähnke deutlich. Er meint, daß dieser Richtervorbehalt nur geringe Bedeutung habe und seine Verletzung nicht zur Unverwertbarkeit der erhobenen Beweise führe. Denn durch Einsatz von V-Leuten könne ohne Bindung an geschriebene Eingriffsvoraussetzungen dasselbe Ergebnis erzielt werden. 34 Deshalb dürfe der Richtervorbehalt für den gegen bestimmte Beschuldigte gerichteten oder mit einem Eindringen in eine fremde Wohnung verbundenen Einsatz von Verdeckten Ermittlern (§ 110b Abs. 2 Satz 1 StPO) nicht zu streng gehandhabt werden. Wäre dieser Standpunkt richtig, dann ließe sich die These ergänzen: Wenn schon heimliche Ermittlungen in einer fremden Wohnung ohne Beweisverbotsfolgen einer Verletzung des Richtervorbehalts möglich sind, dann verliert der Richtervorbehalt für offene Ermittlungen, wie eine Durchsuchung, erst recht eine beweisverbotsrelevante Bedeutung. Aber dieser auf Sachaufklärung um jeden Preis ausgerichtete Argumentationsgang ist nicht zu befürworten. Die Auslegung der geschriebenen Eingriffsnormen ergibt vielmehr, daß informelle Eingriffsakte von vergleichbarem Gewicht wie die förmlichen Eingriffsakte nach §§ 102 ff StPO unzulässig sind. Die Eingriffstatbestände des achten Abschnitts des ersten Buches der Strafprozeßordnung entfalten eine Sperrwirkung für informelle Maßnahmen von gleicher Art und gleichem Gewicht. Im Eingriffsrecht besteht insoweit ein Typenzwang. Dessen Umgehung führt zu einem Beweisverwertungsverbot.
3. Physisches oder technikgestütztes Eindringen in eine geschützte Sphäre Unklar ist, ob auch ein Bestimmtheitsgebot dahin besteht, das eine analoge oder extensive Auslegung der Eingriffsnormen verbietet. Das Bestimmtheitsgebot für materielle Straftatbestände aus Art. 103 Abs. 2 GG gilt im Verfahrensrecht nicht. Dort ist aber, soweit ein Gesetzesvorbehalt gilt, « Amelung NStZ 2001, 337; s.a. Wohlers in: Malek/Wohlers (Fn 13) Rn 61. 34 Jähnke Verwertungsverbote und Richtervorbehalt beim Einsatz Verdeckter Ermittler, in: Festschrift für Odersky (1996), S. 427, 430 f.
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aus dem Rechtsstaatspinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ein Bestimmtheitsgebot für die Eingriffstatbestände abzuleiten. Es unterscheidet sich von dem kategorischen, für alle Straftatbestände im Ansatz gleichermaßen geltenden Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG dadurch, daß es graduelle Abstufungen je nach Eingriffsintensität der Ermittlungsmaßnahme zuläßt. Für die schwächsten Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung kann deshalb eine Generalklausel, wie § 161 StPO, genügen. Für schwerer wiegende Ermittlungszugriffe erhöhen sich die Bestimmtheitsanforderungen. Diese Flexibilität des Bestimmtheitsgebots für das Verfahrensrecht ändert im Grundsatz aber nichts daran, daß eine vom Wortsinn der Eingriffsnorm nicht mehr gedeckte eingriffsintensive Maßnahme unzulässig ist. Dies wird deutlich am Eindringen von Ermittlern in eine Mailbox der Zielperson über das Leitungsnetz. Darin liegt, soweit kein laufender Informationsfluß abgeschöpft wird, sondern der gespeicherte und noch nicht abgerufene35 Informationsbestand im elektronischen Briefkasten, keine Telekommunikationsüberwachung nach § 100a StPO. § 100c Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO betrifft die Erfassung des nichtöffentlich gesprochenes Wortes, also nicht den in der EDV geschriebenen Informationsbestand. Eine Beobachtung der Person nach §§ 100c Abs. 1 Nr. 1 lit. b, 163f StPO liegt bei der Mailbox-Überwachung nicht vor. Die Abschöpfung des Informationsbestandes in der Mailbox ist also nur auf dem Weg der Durchsuchung rechtlich möglich.36 Der Typenzwang des Eingriffsrechts schließt andere Wege aus. Da bei heimlichem Vorgehen nur die EDV über das Leitungsnetz abgerufen wird und der Ermittler nicht physisch in die Wohnung der Zielperson eindringt, liegt keine Durchsuchung im klassischen Sinn vor. Für eine Verletzung des Schutzbereichs des Art. 13 Abs. 1 GG wird ein körperliches Betreten der Wohnung vorausgesetzt. 37 Die Frage ist deshalb, ob das EDVgestützte Eindringen in die Mailbox eine Durchsuchung ist, die nicht den Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG berührt. Im einfachen Recht läßt es die Regelung der §§ 102 ff StPO offen, ob die Durchsuchung fremder Räume nach Spuren oder Sachbeweisen das physische Eindringen des Ermittlungsbeamten voraussetzt. Ausdrücklich verlangt wird es jedenfalls nicht. Es wäre auch begrifflich im Blick auf den möglichen Wortsinn der Eingriffsnormen nicht ausgeschlossen, die Informationssuche in einer Mailbox als Durchsuchung einzustufen. Die Heimlichkeit des Vorgehens wäre dann eben nur am Maßstab des Offenheitsgebots aus §§ 105 Abs. 2,106 StPO zu messen. Von einer Verletzung der §§ 105 35 Vgl zur Unterscheidung von abgerufenen und nicht abgerufenen Daten als Telekommunikation im Sinne des § 100a StPO Kudlich]K 2000, 227, 232 f. 36 Bär CK 1995, 489, 494 ff; Lührs wistra 1995, 19, 20; nur für eine offene Vorgehensweise Palm/Roy NJW 1997, 1904 f. 37 Jarass (Fn 14) Art. 13 Rn 9; Ruthig JuS 1998, 513.
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Abs. 2, 106 StPO soll nach herrschender Meinung die Verwertbarkeit der Erkenntnisse aus einer Durchsuchung nicht abhängen,38 so daß Fehler des Vorgehens im Sinne jener Bestimmungen jedenfalls folgenlos blieben. Effektive Strafverfolgung gebietet aus der Sicht der Strafverfolgungsorgane, daß ein heimliches Eindringen in die Mailbox möglich ist. Daher hat der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs eine Typenmischung der Eingriffsvoraussetzungen der §§ 100a f und §§ 102, 105 StPO vorgenommen und auf dieser Grundlage einen begrenzten Zugriff auf den Mailbox-Informationsbestand gestattet. 39 Die Kombination der Eingriffsvoraussetzungen verschiedener positivrechtlich geregelter Eingriffsakte ist aber zur Ermöglichung einer neuen, so im Gesetz nicht vorgesehener Maßnahmen ausgeschlossen. Dies folgt aus dem Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes, der es dem Gesetzgeber überantwortet, bestimmte Eingriffshandlungen zu gestatten oder sie nicht zu erlauben. Nicht verboten ist hingegen eine Vorgehensweise, die in verschiedenen Teilabschnitten jeweils alle gesetzlichen Voraussetzungen kombinierter Eingriffstatbestände erfüllt. Der Richter darf nur nicht einzelne Elemente geschriebener Erlaubnisnormen baukastenartig kombinieren und sich selbst eine Erlaubnisregel für eine einheitliche Ermittlungsmaßnahme auf einem neuen technischen Standard zusammensetzen. Dies ist ein Fehler, der auch dem Großen Senat des Bundesgerichtshofs für Strafsachen in der Hörfallenentscheidung40 unterlaufen ist, bei der die Eingriffsschwelle an §§ 100a, 100c, 110a StPO orientiert, aber der Richtervorbehalt vernachlässigt wurde. Sieht man indes im EDV-gestützten Eindringen und Abschöpfen dort bereits gespeicherter Daten in eine Mailbox insgesamt eine Durchsuchung, dann gelten dafür die §§ 102 ff StPO.
II. Eingriffe in Grundrechte und Grundrechtsschranken 1. Eingriffsanlaß Nach der Rechtsordnung des Grundgesetzes hat der Bürger das Recht, in Ruhe gelassen zu werden,41 solange nicht ein bestimmter, durch konkrete Tatsachen belegter Sachverhalt dazu führt, daß der Staat seiner Freiheit durch staatsanwaltschaftliche oder polizeiliche Eingriffsakte eine Schranke setzt. Auch für die Durchsuchung ist deshalb der Anfangsverdacht einer
Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO, 45. Aufl, § 105 Rn 11 und § 106 Rn 1. BGH NJW 1997, 1935 mit zust. Anm. Vassilaki]K 2000, 447 und abl. Anm. Palm/Roy NJW 1997, 1904. 4 0 BGH St 42, 139, 157 41 Jarass (Fn 14) Art. 13 Rn 30. 38
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Straftat der auslösende Impuls. 42 Staatliches Handeln ohne Verdachtsanlaß läßt die Eingriffslegitimation entfallen. 43 Soweit es um Eingriffe in spezielle Grundrechte geht, besteht zudem ein strenger Gesetzesvorbehalt, der dazu führt, daß nur auf Grund eines vom Parlament erlassenen Gesetzes unter bestimmten Voraussetzungen in den Schutzbereich des Grundrechts eingegriffen werden kann. Dies gilt namentlich für die Wohnungsdurchsuchung. Die Unverletzlichkeit der Wohnung gemäß Art. 13 Abs. 1 GG gewährleistet dem Einzelnen einen elementaren Lebensraum. 44 Es handelt sich um eine räumlich abgegrenzte Schutzsphäre zur Persönlichkeitsentfaltung. Nach der Rechtsprechung werden allerdings auch Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume dem Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG unterworfen, 45 obwohl der Zweck, den Bürgern einen Lebensraum zur ungestörten Persönlichkeitsentfaltung zu gewährleisten, dort nicht eingreift. 46 Das Schutzrecht wird auch juristischen Personen und Personenvereinigungen zugestanden. So werden Vereinsräume zu einer „Wohnung". 47 Die Annahme, daß dadurch ein Mehr an Schutz vor Durchsuchungen entstehe, geht in der Praxis fehl. Durch die Ausdehnung des Schutzbereichs werden Abstufungen zwischen der Durchsuchung in einer Wohnung im engeren und einer weniger eingriffsintensiven Durchsuchung in Geschäftsräumen eingeebnet und Privaträume letztlich ebenso leichtfüßig durchsucht wie Geschäftsräume. Namentlich in seiner Wohnung hat der Bürger nach der Verfassung das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. 48 Aber auch außerhalb der räumlich geschützten Sphäre des Art. 13 Abs. 1 GG gilt allgemein, daß er keinem Eingriffsakt zu unterwerfen ist, solange nicht der auf Tatsachen gestützte Anfangsverdacht einer begangenen Straftat oder eine Gefahr im polizeirechtlichen Sinn den Organen des Staates dazu Anlaß gibt, Schranken der Rechte aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 G G zu aktualisieren. Das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, solange kein konkreter Anlaß für staatliches Handeln vorliegt, wird durch staatsanwaltschaftliche „Vorermittlungsverfahren", polizeiliche „Initiativermittlungen" oder eine weite Definition des Anfangsverdachts ausgehöhlt, die zum Beispiel bankmäßige Massengeschäfte als Beteiligung an Steuerhinterziehungen der Bankkun42 Ciolek-Krepold Durchsuchung und Beschlagnahme in Wirtschaftsstrafsachen, 2000, Rn 18ff; Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO § 102 Rn 2; E. Müller AnwBl. 1992, 349; Wecker (Fn 19) S. 50ff. 4 3 So zu Tatprovokationen gegenüber Unverdächtigen Eschelbach StV 2000, 390, 394; Sommer NStZ 1999, 48, 49; s.a. Wolter in: SK, Vor § 151 Rn 108. 4 4 BVerfGE 103, 142, 150; Kühne in: Sachs, GG, Art. 13 Rn 7 45 BVerfGE 42, 212, 219; 44, 353, 371; 96, 44, 51; Nack in: KK, 4. Aufl, StPO § 102 Rn 8; Schmidt-Bleibtreu in: Schmidt-Bleibtreu/Klein GG Art. 13 Rn 3; krit. Kühne in: Sachs GG, Art. 13 Rn 4. 46 Jarass (Fn 14) Art. 13 Rn 2. 4 7 BGHSt 42, 372, 375. 4 8 BVerfGE 51, 97, 107; 103, 142, 150 f.
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den 49 oder einen „Verdacht" gegen alle Halter eines bestimmten Fahrzeugtyps in weitem Umkreis um den Tatort eines Kapitaldelikts durch einen Autofahrer erfaßt. 50 Gesetzlich gestattete Eingriffsmaßnahmen nach § 2 Abs. 1 DNA-IFG i.V.m. § 81g StPO,51 die an eine Prognose künftiger Strafverfahren gegen den Betroffenen anstelle eines Verdachts einer begangenen Tat anknüpfen, fördern die Erosion des Eingriffsrechts, das bisher nur Beschuldigte als Verdachtsveranlasser der Eingriffsmaßnahme in einem weiteren (§ 102 StPO), Drittbetroffene bei Vorliegen einer konkreten Auffindevermutung in einem engeren Rahmen (§ 103 StPO) dem staatlichen Eindringen in ihre Privatsphäre unterwirft. Die Abgrenzung von Vermutung und Verdacht soll demgegenüber eine unzulässige Ausforschung von zulässiger Sachaufklärung mittels Durchsuchung unterscheiden. Die Grenze ist jedoch fließend und unklar. Sie wird dort markiert, wo konkrete, auf den Einzelfall bezogene Tatsachen den Verdacht stützen oder aber fehlen und deshalb nur eine Vermutung zulassen. 52 Ist die Untergrenze von einer bloßen Vermutung zum Verdacht überschritten, dann hängt die Zulässigkeit einer Durchsuchung immer noch vom Grad des Tatverdachts ab. Denn der Eingriff muß in einem angemessenen Verhältnis zur Stärke des Verdachts stehen. 53 Insoweit muß man für Maßnahmen mit erheblicher Eingriffsintensität, wie eine Durchsuchung, aus Gründen der Verhältnismäßigkeit einen erhöhten Verdachtsgrad fordern. Die Wohnungsdurchsuchung wird konkretere Verdachtsgründe erfordern als die Durchsuchung von Sachen außerhalb einer Wohnung. Dies bleibt in der Praxis aber unbeachtet, wenn dort betont wird, die Durchsuchung sei schon bei Vorliegen eines bloßen Anfangsverdachts zulässig.54 Das ist richtig und falsch zugleich. Zwar reicht der „bloße Anfangsverdacht" abstraktgenerell aus, der Verdachtsgrad bedarf im Einzelfall aber bei der Angemessenheitsprüfung so der Berücksichtigung, daß der bloße Anfangsverdacht nur ausnahmsweise ein genügender Eingriffsanlaß ist.
2.
Gesetzesvorbehalt
Durchsuchungen in einer Wohnung dürfen nur in der im Gesetz vorgeschriebenen Form durchgeführt werden (Art. 13 Abs. 2 GG). Für Durchsuchungen von Personen oder Sachen außerhalb einer Wohnung muß man 49
BVerfG (Kammer), NJW 1994, 2079 ff; 1995, 2839 ff. so BVerfG (Kammer), NJW 1996, 3071 ff. 51 BVerfGE 103, 21 ff. 52 BVerfGE 44, 353, 381 unterscheidet vom eingriffsrelevanten Anfangsverdacht ungenau einen „allgemeinen Verdacht", statt insoweit von einer bloßen Vermutung zu sprechen. Der Sache nach dürfte dasselbe gemeint sein. " BVerfGE 59, 95, 97; BVerfG, StV 1999, 519, 520 mit Anm. Neander. 54 Vgl Nack in: KK, 4. Aufl, StPO § 102 Rn 1.
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im Blick auf den damit verbundenen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 G G ) aufgrund der Wesentlichkeitstheorie im Ergebnis dasselbe verlangen. Das grundrechtsbeschränkende förmliche Gesetz muß dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 G G Genüge tun, was bezüglich Eingriffen in das Eigentum (Art. 14 Abs. 1 G G ) im Rahmen einer Durchsuchung durch Aufbrechen einer Wohnungstür oder eines Behältnisses eigentlich nicht der Fall ist. 5 5 Jedoch gilt das Zitiergebot bei vorkonstitutionellen Gesetzen, wie den §§ 102ff StPO, nicht. 56 Die Frage ist deshalb u . a . bei der Beschädigung von Sachen bei einer Durchsuchung nur, ob das Bestimmtheitsgebot 5 7 der Eingriffsnormen für die Durchsuchung auch diese Eingriffsakte gestattet. Strafprozessual wird der Einsatz von körperlichem Zwang oder von Gewalt gegen Sachen zur Ermöglichung einer Durchsuchung meist gebilligt und nur anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes begrenzt. Bei engerem Verständnis des Bestimmtheitsgebots fehlt es aber bereits an einer gesetzlichen Ermächtigung und an der Einhaltung der im Gesetz vorgesehenen Form (Art. 13 Abs. 2 GG). D a s Verhältnismäßigkeitsprinzip legitimiert den Eingriff nicht, denn es soll ihn gerade begrenzen. So ist nach dem Gesetz kein Raum dafür, den Beschuldigten für die Dauer der Durchsuchung in „Stubenarrest" festzuhalten oder ihn daran zu hindern, seinen Verteidiger anzurufen, solange jedenfalls keine konkrete Störung im Sinne des § 164 StPO vorliegt. 58 Die Praxis geht insoweit oft über die Grenzen des gesetzlich Zulässigen hinaus.
3.
Richtervorbehalt
a) Präventive Rechtsschutzfunktion Grundsätzlich obliegt die Anordnung der Durchsuchung dem Richter. Dies ist für Wohnungsdurchsuchungen in Art. 13 Abs. 2 G G verankert; es gilt aber auch für andere Durchsuchungen nach einfachem Recht gemäß § 105 Abs. 1 StPO. Der Sinn des Richtervorbehalts besteht vor allem in einer präventiven Rechtskontrolle durch eine neutrale Instanz. 5 9 Deshalb betont das Bundesverfassungsgericht die Eigenverantwortlichkeit der richter-
Kühne Strafprozeßrecht, 5. Aufl, Rn 505; Wohlers in: Malek/Wohlers (Fn 13) Rn 101 ff. Jamss (Fn 14) A n . 13 Rn 5. 57 Jarass (Fn 14) Art. 13 Rn 54. 58 Ciolek-Krepold (Fn 42) Rn 140; Wohlers in: Malek/Wohlers (Fn 13) Rn 104; Wolter in: SK, 25. Lfg., StPO § 164 Rn 9. 59 BVerfGE 103, 142, 151; Amelung NStZ 2001, 337, 338; Ciolek-Krepold (Fn 42) Rn 53; Rudalphiin: SK, StPO § 105 Rn 7; Wohlers in: Malek/Wohlers (Fn 13) Rn 50; a.M. Rabe von Kühlewein Der Richtervorbehalt im Polizei- und Strafprozeßrecht, 2001, S. 88ff. 55 56
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lichen Prüfung. 60 Es geht bei dem Richtervorbehalt auch nicht nur darum, die Anordnungskompetenz einer bestimmten neutralen Stelle zuzuweisen. Vielmehr soll die Durchsuchung grundsätzlich von einer Instanz außerhalb der Hierarchie der Ermittlungsbehörden angeordnet werden, damit ein gewisser Rechtsschutzstandard für den Betroffenen gewahrt wird, dem regelmäßig vor der Vollziehung der Durchsuchung nicht das rechtliche Gehör gewährt wird.61 Der anordnende Richter soll die Rechtsschutzfunktionen, die in einem kontradiktorischen Verfahren durch den Anspruch aller Verfahrensbeteiligten auf Waffengleichheit und rechtliches Gehör gewährleistet werden, autonom erfüllen. Dies kann er freilich nur begrenzt, wenn sein Informationszufluß einseitig ausgestaltet ist. Zudem wirkt es sich verfahrenspsychologisch nachteilig aus, daß der Ermittlungsrichter und die Beschwerdeinstanz nur punktuell mit dem Verfahren hinsichtlich einer einzelnen Zwangsmaßnahme befaßt sind. 62 Anders als beim sachbearbeitenden Staatsanwalt und später beim erkennenden Gericht fehlt eine flächendeckende Sachbefassung und ein Interesse an der genauen Aufarbeitung des Prozeßstoffs im Blick auf eine künftige Endentscheidung. O b die Maßnahme im Ergebnis zu Recht erfolgt war, was erst mit rechtskräftigem Verfahrensabschluß feststeht, erfährt der Ermittlungsrichter meist nicht einmal. Dies bremst sein Engagement.
b) Sachaufklärung als Voraussetzung einer eigenverantwortlichen Prüfung Zur Erfüllung der Rechtsschutzfunktion des Richtervorbehalts bedarf es zumindest einer eigenverantwortlichen richterlichen Prüfung der Sach- und Rechtslage. Eigene Beweiserhebungen sind dem Ermittlungsrichter jedoch infolge seiner begrenzten Aufgabe und der Verfahrensherrschaft der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren nicht gestattet. 63 Er kann von vornherein nur die bisherigen Befunde nachvollziehen. Dies wiederum ist das Minimum eigenverantwortlicher richterlicher Tätigkeit. Eine solche Prüfung ist im Grunde ausgeschlossen, wenn der Ermittlungsrichter im Eilfall auf einen telefonischen Antrag der Ermittlungsbehörde ohne Prüfung von irgendwelchem Aktenmaterial eine mündliche Durchsuchungsgestattung erteilt. Eine solche richterliche Durchsuchungsgestattung weckt den Anschein einer richterlichen Kontrolle, die aber substantiell eigentlich nicht erfolgt. 64 60 BVerfGE 96, 44, 51; 103, 142,151; AmelungNStZ 2001, 337, 339; vgl zur tendenziell gegenläufigen revisions gerichtlichen Bewertung der Eigenverantwortlichkeit des Ermittlungsrichters aber BGH St 42, 103, 105. 61 BVerfGE 103, 142, 151. « Thomas AnwBl. 1992, 354. 63 E. Müller AnwBl. 1992, 349; Wohlers in: Malek/Wohlers (Fn 13) Rn 51. 64 Bittmann wistra 2001, 451, 454.
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Die im Freibeweisverfahren auch geltende Aufklärungspflicht65 bleibt unerfüllt. In ähnlicher Weise führt die bloße Unterzeichnung eines von der Ermittlungsbehörde vorformulierten Durchsuchungsbefehls 66 letztlich nur zu einer Scheinlegitimation der Zwangsmaßnahme, die dem Postulat nach einem bestimmten Rechtsschutzstandard, wie es vom Bundesverfassungsgericht erhoben wird, 67 nicht gerecht wird. 68 c) Strukturelles Defizit durch regelmäßige Nichtanhörung des Betroffenen Aber auch dann, wenn der Richter aufgrund des ihm von der Ermittlungsbehörde vorgelegten Antrags und des bisherigen Akten- und Beweismaterials eine eigene Prüfung vornimmt, bleibt die Rechtsschutzfunktion des Richtervorbehalts defizitär, weil der Betroffene meist gemäß § 33 Abs. 4 StPO nicht vor der richterlichen Entscheidung angehört wird. 69 Das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) zählt zu den Essentialia einer gerichtlichen Rechtsschutzgewährung. Eine einseitige richterliche Prüfung ohne Anhörung des Betroffenen erfüllt für sich genommen noch nicht den Rechtsschutzstandard, den Art. 19 Abs. 4 GG gegenüber Eingriffsakten der Exekutive gewährleistet. 70 Das Gehör vor Gericht kann zwar in einem Beschwerdeverfahren (oder subsidiär nach § 33a StPO) nachgeholt werden; die Nachholung erfolgt jedoch regelmäßig erst nach der Vollziehung der Durchsuchungsgestattung. Insoweit werden vollendete Tatsachen geschaffen, bevor eine gerichtliche Instanz abschließend entscheidet, die allen rechtsstaatlichen Verfahrensgeboten Rechnung trägt. Das Beschwerdeverfahren ist wegen der hieraus entstehenden Sachzwänge71 seinerseits defizitär. Das zweizügige Rechtskontrollinstrumentarium nach §§ 105 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative - , 304 StPO bleibt deshalb insgesamt defizitär. Der für den im Verfahren beschwerten Beschuldigten gebotene Rechtsschutzstandard muß BVerfGE 79, 297, 309. maier{SVO) Plen.-Prot. 14/165 S. 16145 (D).
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zung von Ton- und Filmaufnahmen als „politische Instrumente" missbraucht werden könnten. 28 Die getroffene Regelung weicht von § 169 S. 2 GVG aber insoweit ab, als Ausnahmen von dem Verbot des § 131S. 2 PUAG zugelassen werden können. 2 9 Für die Zulassung bedarf es einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder des Untersuchungsausschusses sowie der Zustimmung der (in der Sitzung) zu vernehmenden oder anzuhörenden Personen (§ 13 I S. 3 PUAG). 30 Mithin ist das Einvernehmen zwischen allen Beweispersonen 31 und der qualifizierten Mehrheit der Ausschussmitglieder herzustellen. Gegen den Willen der Beweispersonen kann der Untersuchungsausschuss daher keine Film-, Rundfunk- oder Fernsehaufnahmen zulassen. 32 Die Neuregelung dürfte für kommende Änderungen des Gerichtsverfassungsrechts eine gewisse Pilotfunktion entfalten. Auch das BVerfG hat ja zugestanden, dass es dem Gesetzgeber nicht verwehrt ist, den Grundsatz der Gerichtsöffentlichkeit gesetzlich auszugestalten und ggf. auch - in aller Vorsicht - zu erweitern. Man wird jedoch die weitere Entwicklung abwarten müssen. Der Ausschluss der Öffentlichkeit ist in den in § 14 I PUAG genannten Fällen, die sich z.T. an den §§ 171b I, II, 172 Nrn. la, 2 GVG orientieren, obligatorisch, d. h. dem Untersuchungsausschuss steht insoweit kein Ermessen zu. 33 Die Entscheidung erfolgt auf Antrag der in § 14 III Nrn. 1 - 3 PUAG bezeichneten Personen, zu den u.a. Zeugen, Sachverständige und „sonstige Auskunftspersonen" gehören. Diese Gesetzesfassung führt zu der Frage, ob ein Ausschluss der Öffentlichkeit auch möglich ist, wenn und soweit die in § 14 I PUAG bezeichneten obligatorischen Ausschlussgründe im Einzelfall nicht einschlägig sind. Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist das zu bejahen, denn § 141S. 2 PUAG („kann Ausnahmen zulassen") sieht Ausnahmen vom Öffentlichkeitsgrundsatz vor, ohne dass diese an das Vorliegen besonderer Gründe geknüpft werden. Das entspricht, wie bereits deutlich geworden ist, der Regelung in Art. 44 I S. 2 GG. Diese Vorschrift, die den Ausschluss der Öffentlichkeit i.S. einer „Kann-Bestimmung" normiert, ist so zu verstehen, dass die Öffentlichkeit ohne Bindung an bestimmte Voraussetzungen und ohne jeden Begründungs28 Vgl die Abg. Schmidt (CDU/CSU) Plen.-Prot. 14/165 S. 16148 (B), Dr. von Stetten (CDU/CSU) Plen.-Prot. 14/165 S. 16154 (D): „hohe Hürden". 2 9 Im Gesetz ist diese Option nicht ausdrücklich erwähnt; sie ergibt sich aber aus der Verfahrensregelung des § 13 S. 3 PUAG. 30 Die Gesetzesbegründung nennt in diesem Zusammenhang Zeugen, Sachverständige und den Ermittlungsbeauftragten, vgl Beschlussempfehlung und Bericht (Fn 11) S. 19. 31 Sowohl derjenigen, die bereits anwesend sind, als auch derjenigen, die im Verlauf der Sitzung eintreffen und damit ebenfalls zum Gegenstand öffentlicher Berichterstattung werden. Die öffentliche Übertragung ist daher einzustellen, wenn und soweit eine der hinzukommenden Beweispersonen der Übertragung widerspricht. 32 Unzutr. H.-P. Schneider NJW 2000, 2606. 33 Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 19.
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zwang - wenn auch nicht willkürlich 34 - ausgeschlossen werden darf. 35 Gegen diese Betrachtungsweise spricht allerdings die Begründung zum PUAG, die unter „Ausnahmen" i.S.d. § 13 I S. 2 PUAG nur diejenigen verstanden wissen will, die in § 14 I PUAG geregelt sind. 36 Diese Bemerkung aus den Gesetzesmaterialien vermag sich jedoch gegenüber den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht durchzusetzen. Die Verweisung auf die „Vorschriften über den Strafprozess" in Art. 44 II S. 1 GG bezieht sich anerkanntermaßen auch auf das GVG 37 und mithin auch auf die Vorschriften über den Ausschluss der Öffentlichkeit. Aufgrund des Vorrangs der verfassungsrechtlichen Bestimmungen und unter Berücksichtigung des Wortlauts von § 13 I S. 2 PUAG wird man daher in § 14 I PUAG keine abschließende Regelung der Gründe für den Ausschluss der Öffentlichkeit erblicken können. Ein (fakultativer) Ausschluss der Öffentlichkeit ist daher durchaus weiterhin möglich, so z.B. dann, wenn die Voraussetzungen des § 172 Nr. 338 oder des § 172 Nr. 4 GVG vorliegen. 2. Geheimnisschutz. Wesentliche Vorschriften über den Geheimnisschutz, den Zugang zu Verschlusssachen sowie über die Amtsverschwiegenheit enthalten die §§ 15,16 PUAG. Beweismittel, Beweiserhebungen und Beratungen können - was an sich nicht neu ist - vom Untersuchungsausschuss mit einem Geheimhaltungsgrad versehen werden (§ 151 S. 1 PUAG).39 Die Einstufung ist dabei entsprechend der Geheimschutzordnung des Bundestages,40 die auch im übrigen subsidiär gilt (§ 15 III PUAG), vorzunehmen (§ 15 II S. 1 PUAG).41 Zur Stellung eines Antrags auf Einstufung als Verschlusssache sind diejenigen Verfahrensbeteiligten befugt, die auch den Ausschluss oder die Beschränkung der Öffentlichkeit beantragen können (§§ 15 II S. 2,14 III PUAG). Wesentlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages zeitgleich mit dem PUAG in der Form geändert worden ist, dass Einstufungen auch bei wichtigen Geschäfts-, Betriebs-, Erfindungs-, Steuer14
Einen „wichtigen Grand" für den Ausschluss der Öffentlichkeit verlangen AK/GG-
Schneider, 2. Aufl 1989, Art. 44 Rn 14; Quaas/Zuck NJW 1988, 1873, 1876. J5
Vgl Maunz in Maunz/Dürig (Fn 24) Art. 44 Rn 46 mwN.
* Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 19. 37
Magiern in Sachs (Fn 24) Art. 44 Rn 22; Hamann/Lenz GG, 3. Aufl 1970, Art. 44
Anm. Β 3; ^-Hechenberg Zweitbearb. Stand: 38. Lfg. 1978, Art. 44 Rn 22; Versteylin von Münch/Kunig, GGK II, 5. Aufl 2001, Art. 44 Rn 28. 38 In aller Regel wird aber in diesen Fällen nach den Grundsätzen des Geheimnisschutzes verfahren werden; s. dazu die Ausführungen unter 2. M Vor einer Entscheidung der Ausschusses kann der Vorsitzende - etwa in der sitzungsfreien Zeit - eine vorläufige Einstufung vornehmen, § 15 I S. 2 PUAG. * Anl. 3 zur GO-BT. 41 Einstufungen, die bereits anderwärtig, etwa von der Bundesregierung vorgenommen worden sind, bleiben unberührt; vgl dazu Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 19.
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oder sonstigen privaten Geheimnissen oder Umständen des persönlichen Lebensbereichs vorgenommen werden dürfen.42 Das entspricht dem Antragsrecht, das Zeugen und anderen Auskunftspersonen beigelegt ist und schließt eine Lücke, die in der bisher geltenden Fassung der Geheimschutzordnung enthalten war. Die in § 16 PUAG getroffenen Regelungen über den Zugang zu Verschlusssachen und die Amtsverschwiegenheit haben zum großen Teil deklaratorischen Charakter, weil sich die entsprechenden Pflichten bereits aus den §§ 44c, 49 AbgG sowie aus Beamtenrecht und BAT ergeben. § 16 III PUAG legt den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses eine Verschwiegenheitspflicht für die dort bezeichneten privaten Geheimnisse auf, die nur durchbrochen werden darf, wenn die „berechtigte Person" das Ausschussmitglied zur Offenbarung des Geheimnisses „ermächtigt" hat oder wenn die Offenbarung, wie etwa im Falle des § 138 StGB, gesetzlich geboten ist.43 Die strafrechtliche Bedeutung der Vorschriften entfaltet sich in Zusammenhang mit der Vorschrift des § 353b StGB. Ob damit ein ausreichender strafrechtlicher Schutz der Geheimsphäre erreicht wird, ist jedoch eine andere Frage.44 3. Sitzungspolizei. Nach § 13 III PUAG finden die §§ 176 bis 179 GVG über die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung entsprechende Anwendung. Schon zuvor war es allgemeine Ansicht, dass die Verweisung auf die Vorschriften über den Strafprozess in Art. 44 II S. 1 GG auch die Bestimmungen des GVG über die Sitzungspolizei erfasst.45 Das ist nunmehr in dem Umfang, der durch die Bezugnahme auf die §§ 176-179 GVG zum Ausdruck kommt, gesetzlich klargestellt. Unberührt bleiben allerdings die Befugnisse, die dem Ausschussvorsitzenden nach dem Grundgesetz und nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages eingeräumt sind. So übt der Vorsitzende stellvertretend für den Präsidenten des Deutschen Bundestages dessen Hausrecht (Art. 40 II S. 1 GG) aus und kann demgemäß auch Störer aus dem Sitzungssaal entfernen lassen.46 Ihm steht nach der Geschäftsordnung (§ 59 GO-BT) die Leitungs- und Ordnungsgewalt in der Sitzung zu. Die Verweisung auf § 176 GVG (Sitzungspolizei) und auf die 42 Vgl die Bekanntmachung von Änderungen der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vom 30. 5.2001, BGBl. I S. 1203. 4 3 Für die Auslegung der Bestimmung sollten die bei § 203 StGB geläufigen Grundsätze herangezogen werden; näher dazu Rogall NSt2 1983, Iff, 4f; LK-Schiinemann 11. Aufl 2000, § 203 Rn 120 ff. 44 Näher dazu unten VI. 45 Vgl statt aller Gollwitzer FS Dünnebier, 1982, S. 330f; Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, 9. Aufl 1998, Art. 44 Rn 10; BK-Rechenberg (Fn 37) Art. 44 Rn 30; anders noch die Rechtslage unter der Geltung der WRV, vgl dazu Anscbütz Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl 1933 (Nachdruck 1968), Art. 34 Anm 8 Fn 1. 46 Maunz in Maunz/Dürig (Fn 24) Art. 44 Rn 58; Versteyl in von Münch/Kunig (Fn 37) Art. 44 Rn 31; BK-Rechenberg (Fn 37) Art. 44 Rn 29.
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Befugnis, unbotsame Personen aus dem Saal entfernen zu lassen (§ 177 S. 1 GVG), schafft insoweit nur eine weitere rechtliche Kompetenzgrundlage für den Ausschussvorsitzenden.47 Für eine Entscheidung des gesamten Ausschusses ist insoweit kein Raum. 48 Über die Festsetzung von Ordnungsgeld(§§ 178 I GVG, 13 III PUAG) entscheidet der Vorsitzende allein, wenn sich die Festsetzung gegen eine an der Verhandlung nicht beteiligte Person richtet; im Übrigen entscheidet der Untersuchungsausschuss (§§ 178 III, 13 III PUAG). Die Verhängung von Ordnungshaft bedarf nach Art. 104 II GG auf jeden Fall der richterlichen Anordnung, die vom Ausschuss bei dem zuständigen Gericht49 zu beantragen ist. Die Einlegung einer (sofortigen) Beschwerde zum Oberlandesgericht (§ 181 GVG) gegen die Verhängung eines Ordnungsmittels ist ausgeschlossen, da die Verweisung in § 13 III PUAG dies nicht vorsieht. Nach h.M.50 war bislang der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gegeben. Davon kann aufgrund der Zuständigkeit des BGH für Streitigkeiten nach dem PUAG (§ 36 PUAG) nicht mehr ausgegangen werden. Vielmehr ist jetzt die Beschwerde zum BGH in entsprechender Anwendung der §§ 304ff StPO (vgl. Art. 44 II S. 1 GG) statthaft.51
IV. Beweiserhebung Grundlegende Bedeutung für das Straf- und Strafverfahrensrecht haben naturgemäß die Vorschriften des PUAG über die Beweiserhebung. Die nachfolgende Darstellung beschränkt sich dabei auf wesentlich erscheinende Punkte. 1. Untersuchung durch einen Ermittlungsbeauftragten. Bei der Einführung der neuen Institution eines Ermittlungsbeauftragten (§ 10 PUAG)52 haben nach den Worten des Abg. Andreas Schmidt (CDU/CSU) 53 „weder Kenneth Starr noch Herr Hirsch Pate gestanden"; „bei unserer Diskussion waren 47 Maunz in Maunz/Dürig (Fn 24) Art. 44 Rn 58, 52; Pieroth in Jarass/Pieroth, GG, 5. Aufl 2000, Art. 44 Rn 8. 48 Maunz aaO (Fn 47). 49 Zur gerichtlichen Zuständigkeit vgl die Nachweise in Fn 51. 50 OVG Berlin DVB1. 1970, 293, 294; Versteylm von Münch/Kunig (Fn 37) Art. 44 Rn 31; BK-Rechenberg (Fn 37) Art. 44 Rn 30; Schmidt-Bleibtreu/Klein (Fn 45) Art. 44 Rn 10; zum Ganzen auch Richter Privatpersonen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss, 1991, S. 124 ff, 139 ff; vgl ferner BGHSt 46, 261, 264. 51 Anders H.-P. Schneider NJW 2001, 2607 Näher zum Rechtsschutz unten V. K Vgl H.-P. Schneider NJW 2001, 2605: „wesentliche Neuerung". 53 Plen.-Prot. 14/165 S. 16148 (A). „Ungute Erinnerungen an die verunglückte Mission des ,Sonderermittlers' Hirsch" sieht aber Η. H. Klein (Fn 3) S. 10.
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sie", so der Abg. weiter, „eher abschreckende Beispiele." 54 Anliegen des Gesetzgebers war es, eine dem Untersuchungsausschuss verantwortliche Person mit der Durchführung von Vorermittlungen zu beauftragen mit dem Ziel, „das Verfahren zügiger, effizienter und ergebnisorientierter auszurichten." 5 5 Entlastung des Ausschusses und Arbeitserleichterung stehen damit im Vordergrund der gesetzlichen Regelung, die besonders kleineren Fraktionen zugute kommen soll. 56 Der Untersuchungsausschuss kann nach § 10 I S. 1 PUAG jederzeit eine Untersuchung durch einen Ermittlungsbeauftragten beschließen; auf Antrag eines Viertels der Ausschussmitglieder besteht hierzu sogar eine Pflicht. Die Bestimmung der Person des Ermittlungsbeauftragten erfolgt nach Maßgabe des in § 10 II PUAG vorgesehenen (komplizierten) Verfahrens. Bestimmte Anforderungen an die Qualifikation des Ermittlungsbeauftragten stellt das Gesetz nicht auf; es verlangt nicht einmal die Befähigung zum Richteramt, was zumindest nahegelegen hätte, wenn nicht sogar erforderlich gewesen wäre. So bleibt die Bestimmung seiner Person in nicht unbedenklicher Weise der Weisheit des Untersuchungsausschusses in u . U . divergierenden politischen Interessenlagen überlassen. 57 Der Ermittlungsbeauftragte muss nach dem Gesetz nicht, kann aber durchaus Abgeordneter sein. Er kann sogar, wenn er Abgeordneter ist, dem Untersuchungsausschuss angehören. O b sich das empfiehlt, ist freilich eine andere Frage. Der Ermittlungsbeauftragte ist im Rahmen seines Auftrages unabhängig (§ 10 IV S. 1 PUAG), 58 kann aber - was seiner Unabhängigkeit Grenzen setzt - jederzeit mit Zweidrittelmehrheit abberufen werden (§ 10 IV S. 2 PUAG). Er ist dem gesamten Ausschuss verantwortlich (§ 10 III S. 7 PUAG) und hat im Verkehr nach außen gebührende Zurückhaltung zu wahren; öffentliche Erklärungen gibt er nicht ab (§ 10 III S. 11 PUAG). Sein Zugang zu Verschlusssachen und seine Pflicht zur Amtsverschwiegenheit richtet sich nach § 16 PUAG. 5 9 Die Aufgabe des Ermittlungsbeauftragten besteht darin, 5 4 Deftiger der Abg. Dr. von Stetten (CDU/CSU) - Plen.-Prot. 14/165 S. 16154 (D) - : „Aber, meine Damen und Herren, Sie können versichert sein: Unsere Wahl wäre nie auf Herrn Hirsch gefallen, den so genannten Beauftragten des Kanzleramtes, der als Sonderermittler quasi als Handlanger der Diffamierungskampagne gegen Bohl und rechtschaffende Mitarbeiter eingesetzt wurde. Ihn hätten wir mit Sicherheit nicht genommen." 55 Abg. Bachmaier (SPD) Plen.-Prot. 14/165 S. 16145 (B); Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 18. Zum Ganzen Bachmaier NJW 2002, 348 f. 56 Abg. van Essen (F.D.P.) Plen.-Prot. 14/165 S. 16151 (B); H.-P. Schneider NJW 2001, 2608. 5 7 Auf einem anderen Blatt steht der Wunsch des Gesetzgebers, die Person des Ermittlungsbeauftragten solle „von einer breiten Mehrheit im Ausschuss" getragen werden, vgl Beschlussempfehlung und Bericht aaO (Fn 11) S. 18. 58 Angehörige der Justiz oder der Verwaltung müssen deshalb für die Zeit der Ermittlungen von ihren dienstlichen Aufgaben freigestellt werden, vgl Beschlussempfehlung und Bericht (Fn 11) S. 18. 59 Zu den strafrechtlichen Konsequenzen unten VI.
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die Untersuchung durch den Ausschuss - ggf. unter Einsatz von Hilfskräften (§ 10 IV S. 3 PUAG) - vorzubereiten (§ 10 III S. 1 PUAG). Hierzu hat er die erforderlichen „sächlichen" Beweismittel zu beschaffen und zu sichten (§ 10 III S. 2 PUAG). Dem Ermittlungsbeauftragten stehen insoweit die Beweiserhebungskompetenzen nach den §§ 18,19, 30 PUAG zu. Er ist dabei aber solange auf die freiwillige Mitwirkung der Betroffenen angewiesen, wie der Untersuchungsausschuss noch keinen Beweisbeschluss nach § 17 I PUAG gefasst hat (§ 10 III S. 3-5 PUAG). Personen darf er jederzeit informatorisch anhören (§ 10 III S. 6 PUAG).60 Die Stellung des Ermittlungsbeauftragten, den man (cum granu salis) als „beliehenen Unternehmer" bezeichnen könnte, 61 ist daher im beweisrechtlichen Sektor außerordentlich stark und umfasst im Grunde alle Befugnisse, die dem Untersuchungsausschuss selbst zustehen. Das wirft die Frage nach dem gerichtlichen Rechtsschutz gegen Maßnahmen auf, die von dem Ermittlungsbeauftragten getroffen werden. 62 Bemerkenswert ist insoweit, dass dem Ausschuss gegenüber den Aktivitäten des Ermittlungsbeauftragten kaum Steuerungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen: der Ausschuss kann beantragte Beweisbeschlüsse verweigern und den Ermittlungsbeauftragten notfalls abberufen, muss im Übrigen aber seine Tätigkeit hinnehmen. Dies ist sicher nicht ganz unproblematisch. 63 Der Ermittlungsauftrag wird zeitlich auf in der Regel höchstens sechs Monate begrenzt; Ausnahmen sind nach dem Gesetz64 aber zulässig.65 Nach Abschluss der Vorermittlungen hat der Ermittlungsbeauftragte dem Ausschuss einen schriftlichen und mündlichen Bericht zu erstatten (§ 10 III S. 9 PUAG). Der Bericht muss einen „Vorschlag über die weitere Vorgehensweise" enthalten (§ 10 III S. 10 PUAG). Dieses Verfahren bedeutet aber nicht, dass der Untersuchungsausschuss untätig auf die Vorlage des Berichts zu warten hätte; dies würde zeitliche Vorteile zunichte machen und das Untersuchungsrecht der Minderheit beeinträchtigen.66 Entschädigt wird der Ermittlungsbeauftragte nach den Grundsätzen des ZSEG, und zwar mit dem für Sachverständige geltenden Höchstsatz (§ 35 II 60 Die erzwingbare Vernehmung von Auskunftspersonen etc. bleibt damit dem Ausschuss vorbehalten, vgl Beschlussempfehlung und Bericht (Fn 11) S. 18; H.-P. Schneider NJW 2001, 2606. 61 H.-P. Schneider NJW 2001, 2608. 62 H. -P. Schneider NJW 2001, 2608 mit dem allerdings irrigen Hinweis auf den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten. Zuständiges Gericht ist vielmehr der BGH bzw. der zuständige Ermittlungsrichter des BGH, vgl § 36 PUAG sowie unten V. 63 H.-P. Schneider NJW 2001, 2608. M Vgl § 10 I S. 2 PUAG: „soll". 65 Eine längere Beauftragung soll nach den Gesetzesmaterialien einer besonderen Begründung im Einzelfall bedürfen, vgl Beschlussempfehlung und Bericht (Fn 11) S. 18. 64 Beschlussempfehlung und Bericht (Fn 11) S. 18. O b „die Ausschussarbeit in der Praxis so lange lahmgelegt ist, wie der Ermittlungsbeauftragte tätig ist", was H.-P. Schneider (NJW 2001, 2608) annimmt, ist eine andere Frage.
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S. 1, 3 PUAG, 3 II, III ZSEG). Zumutbar ist das für Angehörige von Justiz und Verwaltung nur, wenn ihnen daneben ihre regelmäßigen Dienstbezüge belassen werden. Ob sich das neue Institut der Vorermittlung, gegen das verfassungsrechtliche Bedenken wohl nicht zu erheben sind, 67 bewährt und wie es sich auf die Arbeit von Untersuchungsausschüssen auswirkt, läßt sich derzeit noch nicht übersehen. 68 2. Verzicht auf die Einführung eines „Betroffenen "-Status. Die Rechtsstellung des Betroffenen gehört zu den „umstrittensten, aber auch schwierigsten Fragen des Enquete-Rechts". 69 Sie hat bekanntlich bei den Beratungen der Juristentage eine große Rolle gespielt;70 die Entwürfe und das Landesrecht spiegeln die unterschiedlichen Einschätzungen deutlich wider.71 Vor allem in der Literatur gingen die Meinungen seit jeher erheblich auseinander.72 Sie reichten von einer strikten Ablehnung jeglicher Sondervorschriften für Betroffene73 bis hin zu der Annahme, dass sich eine Betroffenenstellung bereits aus Art. 44 II S. 1 GG und der dortigen Anordnung einer sinngemäßen Anwendung der Vorschriften über den Strafprozess ergebe74 oder sich zumindest als notwendige Folge des erforderlichen Grundrechtsschutzes - namentlich bei privatgerichteten Skandal- und Missstandsenqueten75 - darstelle.76 Andere Autoren traten für eine differenzierende
67 Vgl nur AK./GG-Schneider (Fn 34) Art. 44 Rn 15 sowie unten 6. Bedenken im Hinblick auf das „hohe Gut der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme" äußert H.-P. Schneider NJW 2001, 2608. Diese Bedenken dürften aber eher verfassungspolitischer Natur sein. 68 Zutr. die Abg. Kenzer{PDS) Plen.-Prot. 14/165 S. 16152 (C). 69 Quaas/Zuck NJW 1988, 1877 70 Vgl hierzu den Beschluss Nr 8 des 45. DJT 1964 (NJW 1964, 2100) sowie die Beschlüsse Nrn. 18-20 des 57 DJT 1988 (NJW 1988, 3004f). 71 Zu den einzelnen Bestimmungen ausführlich Beckedorf ZParl. 1989, 35 ff. 72 Ausführlich zu diesem Streit Buchholz Der Betroffene im parlamentarischen Untersuchungsausschuss, 1990, S. 67ff. 73 So etwa BK-Rechenberg (Fn 37) Art. 44 Rn 25; GroßJR 1964, 327, 330; H.-P. Schneider Verh. des 57 DJT, Bd. II, 1988, S. Μ 84f; s. auch Zeh DöV 1988, 701, 706; Pahel NJW 2000, 790. Strikt gegen eine solche Betrachtungsweise Maunz in Maunz/Dürig (Fn 24) Art. 44 Rn 54. 74 Vgl etwa Schleich Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages (Fn 6) S. 52ff; Gollwitzer FS Dünnebier, 1982, S. 335ff; Wohlers NVwZ 1994, 40, 41. 75 Zur Statthaftigkeit privatgerichteter Untersuchungen Studenroth Die parlamentarische Untersuchung privater Bereiche, 1992; Richter Privatpersonen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss (Fn 50); Masing Parlamentarische Untersuchungen privater Bereiche (Fn 6). 76 Müller-Boysen Die Rechtsstellung des Betroffenen vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, 1979, S. 41 ff, 79 ff, 150ff; Schröder Gutachten für den 57 DJT (Fn 19) S. Ε 52ff; den. NJW 2000, 1457; Bichel Verh. des 57 DJT, Bd. II, 1988, S. Μ 7ff, 29ff; s. auch schon Partsch Empfiehlt es sich, Funktion, Struktur und Verfahren der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse grundlegend zu ändern?, Gutachten für den 45. DJT, Bd. 1/3, 1964, S. Iff, 113ff, 209ff; Halstenberg Das Verfahren der parlamentarischen Untersuchung etc., 1957, S. 98ff, 100ff (in Verfahren mit „personell-bestimmtem Ermittlungszweck").
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Lösung ein, bei der je nach Sachlage bestimmten Auskunftspersonen Abwehr· und Teilhaberechte eines „Beschuldigten" in unterschiedlichem Umfang zugebilligt wurden. 77 Insbesondere die Frage der Gewährung eines umfassenden Schweigerechts war in diesem Zusammenhang streitbefangen,78 wobei der Status bestimmter Personengruppen (Minister, Amtsträger etc.), namentlich mit Rücksicht auf Art. 43 I G G , nicht selten als ein Grund dafür betrachtet wurde, ein Schweigerecht zu versagen.79 Eine klare Linie bei der Unterscheidung von Betroffenen und Zeugen hatte sich demnach nicht gebildet.80 Nach den in der Praxis der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages besonders bedeutsamen sog. IPA-Regeln81 gab es neben Zeugen und Sachverständigen eine weitere, als „Betroffener" bezeichnete Auskunftsperson. § 18 I der IPA-Regeln legte näher fest, welche Personen zum Kreis der Betroffenen zu zählen waren. Dies waren u. a.82 Abgeordnete und Regierungsmitglieder in Untersuchungsverfahren, die ihre Belastung oder Entlastung zum Ziele haben (§ 18 I Nr. 2 der IPA-Regeln) sowie - im Sinne einer Generalklausel - alle „Personen, bei denen sich aus dem Untersuchungsauftrag oder aus dem Verlauf der Untersuchung ergibt, dass die Untersuchung sich ausschließlich oder ganz überwiegend gegen sie richtet" (§ 18 I Nr. 4 der IPA-Regeln). Es war vorgesehen, dass der Untersuchungsausschuss eine Feststellung über die Eigenschaft als Betroffener traf (§ 18 II der IPA-Regeln), was man als im Interesse der Rechtssicherheit liegend betrachten kann. 83 Die Rechtsstellung des Betroffenen war in den IPA-Regeln an sich recht eigenartig gestaltet. So sollte seine Aussagepflicht und sein Aussageverweigerungsrecht denen des Zeugen im Strafverfahren entsprechen (§ 18 III S. 2 der IPA-Regeln). Damit fehlte eine wesentliche Parallele zum Beschuldigten des Strafverfahrensrechts. Andererseits durfte er nicht vereidigt werden (§ 18 77 Schleich Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages (Fn 6) S. 47ff; Beckedorf ZParl. 1989, 41 ff; Quaas/Zuck NJW 1988, 1877; Morlok in Dreier (Hrsg.), GG, Bd. Π 1998, Art. 44 Rn 45; AK/GG-Schneider (Fn 34) A n . 44 Rn 15; vgl dazu auch Buchholz Der Betroffene im parlamentarischen Untersuchungsausschuss (Fn 72) S. 69 m w N . 78 Einschränkend etwa Müller-Boysen Die Rechtsstellung des Betroffenen (Fn 76) S. 108 ff. 79 Jekewitz FS Partsch, 1989, S. 403, 415 ff, 421; Masing Parlamentarische Untersuchungen privater Sachverhalte (Fn 6) S. 264ff, 265 f. 80 Zutr. Schröder NJW 2000, 1457 Fn 21 gegen Robbers JuS 1996,116, 118; Wohlers NVwZ 1994, 41. 81 BT-Drucks. V/4209 vom 14. 5.1969 - Entwurf eines Gesetzes über Einsetzung und Verfahren von Untersuchungsausschüssen des Bundestages - (Antrag der Abg. Dr. Schmidt [Wuppertal], Bading, Mertes, Hirsch und Genossen). 82 Erwähnt waren ferner der Bundespräsident im Falle von Untersuchungsausschüssen zur Vorbereitung einer Präsidentenanklage sowie Richter im Falle von Untersuchungsausschüssen zur Vorbereitung einer Richteranklage (§ 18 I N r n . 1, 3 der IPA-Regeln). 83 Zutr. Gollwitzer BayVBl. 1982, 417, 420; Schröder Gutachten für den 57 DJT (Fn 19) S. Ε 56.
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III S. 4 der IPA-Regeln), und es wurde ihm das Recht der ersten Stellungnahme (vor den Zeugen) zuerkannt (§ 18 III S. 1 der IPA-Regeln). Ferner stand ihm ein Beweisantrags- und Fragerecht sowie das Recht der Anwesenheit bei der Beweisaufnahme zu (§ 18 III S. 3 der IPA-Regeln). Sein Beistandsrecht war allerdings wiederum erheblich eingeschränkt (§ 18 III S. 5ff der IPA-Regeln).84 Der Betroffene war demnach, wenn man seine Rechtsstellung im Ganzen betrachtet, kein „richtiger" Beschuldigter, aber auch kein „richtiger" Zeuge, sondern eine Mischform, die aus der Erwägung resultierte, dass eine „sinngemäße Anwendung der Vorschriften über den Strafprozess" nur eine Annäherung, aber keine Kopie der strafprozessualen Beschuldigten-Stellung erlaubte. Für die Auffassung, dass die „sinngemäße Anwendung der Vorschriften über den Strafprozess" (Art. 44 II S. 1 GG) nicht nur als „Verweisung" auf die Zeugen zustehenden Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte, sondern auch auf jene Bestimmungen der StPO verstanden werden kann, die - wie etwa § 136 StPO - die Rechtsstellung eines Beschuldigten maßgeblich prägen, lassen sich indessen überzeugende Gründe anführen. Die Grundstrukturen des Strafprozesses und des parlamentarischen Untersuchungsverfahrens entsprechen sich in ihrem Kern.85 Auch die Interessenlage eines Beschuldigten und eines Betroffenen ist, was ihre Äußerungs- und Verteidigungsrechte anbelangt, durchaus vergleichbar.86 Ferner müssen sich die Folgerisiken, die eine Auskunftsperson zu gewärtigen hat, nicht zwingend von denjenigen unterscheiden, die ein Beschuldigter im Strafverfahren zu tragen hat. Die bisherige Rechtsprechung der Fachgerichte,87 die dahin geht, auch die Beschuldigtenrechte als durch Art. 44 GG in Bezug genommene „befugnisbegrenzende Regelungen der Strafprozessordnung"88 einzuordnen,89 mag als Bekräftigung dieser Einschätzung hinzukommen. Dem kann man kaum entgegenhalten, dass die parlamentarische Nachforschung gerade nicht - wie im Falle der Verfolgung eines Beschuldigten im Strafverfahren - auf Strafverhängung abziele, die Auskunftsperson vielmehr gemäß der Struktur des § 55 StPO nur vor verfahrensexierwer Verfolgung geschützt werden müsse.90 Der Schutz vor verfah84 Zum Recht auf Erstattung der notwendigen Auslagen vgl § 21 I S. 3, II S. 1 der IPARegeln. 85 Wohlers NVwZ 1994, 41 f; s. auch Schaefer NJW 2002, 490f.. 86 Auf die „materielle Vergleichbarkeit der kollidierenden Interessen" weist Gollwitzer FS Dünnebier, 1982, S. 336 zutreffend hin. Auch Müller-Boysen (Die Rechtsstellung des Betroffenen [Fn 76] S. 137ff, 148 ff, 158) hält zumindest de lege ferenda die Normierung einer Beschuldigtenstellung für vorzugswürdig. Gegen eine Vergleichbarkeit der Interessenlage aber Hamm ZRP 2002, 11, 12. 87 Vgl dazu Buchbolz Der Betroffene im parlamentarischen Untersuchungsausschuss (Fn 72) S. 72 ff. 88 BVerfGE 67, 100, 144; BVerfGE76, 363, 387. 89 Vgl etwa BGHSt 17, 128 ff; OLG Köln NJW 1988, 2485 ff. So aber Kölbel/Morlok ZRP 2000, 217, 218 Fn 9.
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rensexterner Verfolgung mag ein zusätzlicher Aspekt sein, ändert aber nichts daran, dass der Betroffene vor einer erzwungenen Mitwirkung bei der Aufklärung eigenen Fehlverhaltens im Untersuchungsverfahren des Parlaments zu schützen ist.91 So ist ja auch die Aussage- und Mitwirkungsfreiheit eines Beamten im Disziplinarverfahren92 unabhängig davon, ob diesem Verfahren noch ein Strafverfahren nachfolgt oder nicht. Die Anerkennung einer Betroffenen-Position würde auch nicht daran scheitern, dass sich eine Unterscheidung von „Betroffenen" und „betroffenen" Zeugen nicht mit der erforderlichen Sicherheit treffen läßt. Die Zuordnung kann nämlich ohne weiteres über die Bestimmung der Richtung des Untersuchungsausschussverfahrens93 erfolgen:94 Hat dieses Verfahren das (private oder dienstliche) (Fehl-)Verhalten einer natürlichen oder juristischen Person95 zum Gegenstand, so ist diese „Betroffene". Im Sinne einer Kontrollüberlegung kann man dieses Ergebnis verifizieren, wenn man danach fragt, ob diese Person durch die Veröffentlichung des Abschlussberichtes in ihren Rechten erheblich beeinträchtigt werden könnte.96 Ist die Frage zu bejahen, hat man es mit einem „Betroffenen" zu tun. § 18 der IPA-Regeln zeigt mit aller Deutlichkeit, dass der Status eines Betroffenen im Gesetz relativ genau fixiert werden kann. Angesichts dieser Rechtslage stand der Gesetzgeber vor der schwierigen Entscheidung, ob auch in das PUAG Vorschriften über die Stellung eines Betroffenen eingefügt werden sollten. Er hat sich im Ergebnis gegen eine solche Lösung ausgesprochen und zur Begründung ausgeführt, dass durch den Verzicht auf eine Unterscheidung zwischen „Zeugen", „betroffenen Zeugen" und „Betroffenen" schwierige Abgrenzungsstreitigkeiten vermieden 91 Das Grandgesetz ordnet demgemäß ja auch nur eine „sinngemäße" Anwendung der Vorschriften über den Strafprozess an. 92 § 2 0 1 3 BDG idF vom 9. 7 2001, BGBl. I. S. 1510. Zu diesem (fragwürdigen) Gesetz näher Müller-Eising NJW 2001, 3587ff. 93 Beispielhaft § 15 I UAG R-P: „Betroffene sind natürliche und juristische Personen, gegen die sich nach dem Sinn des Untersuchungsauftrages die Untersuchung richtet. Der Untersuchungsausschuss stellt auf Antrag eines Mitglieds oder der Landesregierung mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder fest, wer Betroffener ist; antragsberechtigt sind auch natürliche und juristische Personen, die geltend machen, dass bei ihnen die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen." S. dazu a. Glauben DRiZ 2000, 122f. 94 Vgl dazu Gollwitzer FS Dünnebier, 1982, S. 336; Quaas/Zuck NJW 1988, 1877; Wagner GA 1976, 257, 261; s. dazu auch schon - mit Beispielen - Partsch Gutachten für den 45. DJT (Fn 76) S. 111 ff, 119ff; dagegen freilich Schröder Gutachten für den 57 DJT (Fn 19) S. Ε 52. 9 5 Zum Auskunftsverweigerungsrecht einer juristischen Person Weiß]7. 1998, 289ff. Soweit juristische Personen und Personenverbände betroffen sind, wird das Recht der Auskunftsverweigerung durch die zuständigen Organwalter ausgeübt, vgl dazu näher Rogalliη Boujong (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum Ordnungswidrigkeitengesetz, 2. Aufl 2000, § 3 0 Rn 188 ff. 9 6 In § 32 PUAG wird die Betroffenenposition damit der Sache nach - wie bereits ausgeführt wurde - anerkannt.
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werden könnten. 97 Hierfür habe „auch die Erfahrung aus der Praxis der Untersuchungsausschüsse eine Rolle gespielt, dass bisher niemandem der Status eines Betroffenen im Sinne der IPA-Regeln zuerkannt worden ist."98 Bei dieser Entscheidung war dem Gesetzgeber aber offenbar nicht ganz wohl zumute. Ihm war „vor dem Hintergrund der weiterhin von Art. 44 GG angeordneten sinngemäßen Anwendung der Regeln über den Strafprozess bewusst, dass eine über die Regelungen des Untersuchungsausschussgesetzes hinausgehende Zuerkennung von Rechten für Zeugen in bestimmten Sonderkonstellationen durch die Rechtsprechung nicht ausgeschlossen werden könne." 99 Dieses Unwohlsein hat auch im Gesetzestext Ausdruck gefunden. In § 14 III Nr. 3 PUAG geht der Gesetzgeber selbst davon aus, dass in Verfahren vor dem Untersuchungsausschuss außer Zeugen und Sachverständigen auch „sonstige Auskunftspersonen" in Erscheinung treten. Hinzuweisen ist ferner auf die bereits erwähnte Regelung des § 32 PUAG, die „Personen, die durch die Veröffentlichung des Abschlussberichtes in ihren Rechten erheblich beeinträchtigt werden können", „eine Art Gegendarstellungsrecht"100 einräumt. Man mag hierin „gewisse Reste"101 vom Status eines Betroffenen erkennen. Die Frage ist aber natürlich, was das unter Berücksichtigung der in Art. 44 II S. 1 GG getroffenen Grundentscheidung für die weitere Rechtsanwendung in der Praxis bedeutet. Der gesetzgeberische Verzicht auf ein Betroffenen-Statut ist, wenn man als Vergleichsmaßstab die IPA-Regeln (§ 18) oder die Gesetzestexte derjenigen Bundesländer heranzieht, die den Betroffenen als Verfahrensbeteiligten kennen,102 im Gesetz tatsächlich verwirklicht. § 32 PUAG kann so verstan97 Beschlussempfehlung und Bericht (Fn 11) S. 21. Es handelt sich dabei um ein durchaus gängiges Argument. Zur Schwierigkeit der Begriffsbestimmung des „Betroffenen" schon Schleich Das parlamentarische Untersuchungsrecht (Fn 6) S. 47; Miiller-Boysen Die Rechtsstellung des Betroffenen (Fn 76) S. 41 ff. 98 Beschlussempfehlung und Bericht (Fn 11) S. 21. 99 Beschlussempfehlung und Bericht (Fn 11) S. 21. Der Abg. Andreas Schmidt (CDU/ CSU) führte hierzu im Plenum aus (Plen.-Prot. 14/165 S. 16148 [C]): „Ich möchte als abschließenden Punkt das Thema Betroffenenstatus ansprechen. Wir haben diesen Status im Gesetzentwurf ausdrücklich nicht geregelt. In diesem Punkt hat es keinen Konsens, keine Einigung gegeben. Aber wir sind uns einig, dass der Gesetzentwurf im Hinblick auf die Geltung des Art. 44 des Grundgesetzes den Betroffenenstatus im Einzelfall nicht ausschließt." H.-P. Schneider NJW 2001, 2606. 101 H.-P. Schneider NJW 2001, 2606. 102 So. z.B. Baden-Württemberg; Bayern, Rheinland-Pfalz, Saarland; zu den entsprechenden Vorschriften sowie zu verschiedenen Gesetzentwürfen auf Bundesebene, die eine Betroffenen-Stellung anerkannt haben, näher Buchholz Der Betroffene im parlamentarischen Untersuchungsausschuss (Fn 72) S. 60 ff; Müller-Boysen Die Rechtsstellung des Betroffenen vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss (Fn 76) S. 32ff; Schleich Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages (Fn 6) S. 9 ff.
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den werden,103 dass die dort genannten Personen Zeugen oder aber Personen sind, die vom Untersuchungsausschuss bislang überhaupt noch nicht gehört wurden (und deshalb keine Zeugeneigenschaft erlangt haben).104 Unklar bleibt freilich die Tragweite des Begriffs der „sonstigen Auskunftsperson" in § 14 III Nr. 3 PUAG.105 Respektiert man - was geboten ist - den Willen des Gesetzgebers, die Rolle eines Betroffenen nicht anzuerkennen, so wird man in dieser Entscheidung eine neue Interpretation desjenigen zu erblicken haben, was in diesem Zusammenhang „sinngemäße Anwendung" der Vorschriften über den Strafprozess in Art. 44 II S. 1 GG bedeutet. Die entscheidende Frage kann mithin nur lauten, ob die getroffene (Nicht-)Regelung verfassungsrechtlich defizitär ist, oder, anders ausgedrückt, ob es von Verfassungs wegen zwingend geboten ist, bestimmten (gefährdeten) Auskunftspersonen in Verfahren vor Untersuchungsausschüssen die Rechtsstellung eines „Beschuldigten" oder wenigstens eine Stellung einzuräumen, die der eines Beschuldigten angenähert ist. Diese Frage dürfte indessen bei Anerkennung eines insgesamt eher zu vernachlässigenden „verfassungsrechtlichen Restrisikos" zu verneinen sein. Bekanntlich wird die Rechtsstellung eines Betroffenen (Beschuldigten) maßgeblich durch sein Interesse geprägt, sich selbst (und ggf. seine Angehörigen) nicht belasten zu müssen. Den verfassungsrechtlichen Anforderungen der Selbstbelastungsfreiheit (nemo tenetur se-ipsum prodere)106 ist Genüge getan, wenn der Auskunftsperson ein wirklicher und effektiver Schutz vor erzwungener Selbstbelastung eingeräumt wird. Das ist bei Anwendung der in § 55 StPO verankerten Grundsätze aber der Fall.107 Denn der Zeuge - als solcher ist die Auskunftsperson ja einzustufen - könnte in diesem Falle ein Auskunftsverweigerungsrecht geltend machen, wenn die Gefahr einer Strafverfolgung nach der pflichtgemäßen Beurteilung des Vernehmenden 108 nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann.109 Es genügt dabei für die Anwendung des § 55 StPO, dass der Zeuge über Fragen Auskunft geben müsste, die den Verdacht gegen ihn mittelbar begründen, sei es loj Vgl (J en Wortlaut von § 321 PUAG: „soweit diese Ausführungen nicht mit ihnen in einer Sitzung zur Beweisaufnahme erörtert worden sind." Die fraglichen Personen können daher, müssen aber nicht bereits als Zeugen gehört worden sein. 104 105
Und demgemäß auch nicht als „Zeugen" bezeichnet werden können. Die gesetzgeberischen Motive sind unklar und gehen aus den Materialien nicht her-
vor. 104 S. hierzu Rogall in Rudolphi et al., Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz (SK/StPO), Stand: 17. Lfg. 1997, Vor § 133 Rn 130 ff; Rogall Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977 107 Anders jedoch etwa Kohlmann JA 1984, 670 ff; Schleich Das parlamentarische Untersuchungsrecht des Bundestages (Fn 6) S. 52 ff; s. dazu Buchholz Oer Betroffene im parlamentarischen Untersuchungsausschuss (Fn 72) S. 102 ff, 108 ff. i°« BGHSt 10, 104, 105; BGH BGHR StPO § 55 Abs 1 - Auskunftsverweigerung 2 - . ,0 » Vgl BGH HRSt § 55 StPO N r 5; BGHSt 9, 34, 35.
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auch nur als Teilstück in einem mosaikartig zusammengesetzten Beweisgebäude. 110 Andererseits kann ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO nicht auf bloße denktheoretische Möglichkeiten gestützt werden. 111 Immer muss der Zeuge abwarten, welche Fragen an ihn gestellt werden, bevor er von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch macht. Denn erst dann kann sich zeigen, ob einer der seltenen Ausnahmefälle vorliegt, in denen die Beantwortung jeder im Sachzusammenhang der Vernehmung möglichen Fragen eine Verfolgungsgefahr für den Zeugen bedeuten könnte. 112 In diesem Falle kommt das Auskunftsverweigerungsrecht dem Recht auf eine totale Zeugnisverweigerung gleich. 113 Auch die Pflicht zur Glaubhaftmachung der Verfolgungsgefahr (§ 56 StPO) findet nach der Rechtsprechung dort ihre Grenze, wo sich der Zeuge bereits durch die Angabe solcher Tatsachen der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen könnte. 114 Das bedeutet aber nicht, dass dem Zeugen die „faktische Definitionsherrschaft" 115 über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts zuerkannt würde; 116 richtig ist allerdings, dass im Zweifel zugunsten des Zeugen zu entscheiden ist. 117 Die Regelungen des PUAG lassen nun eine Rechtsanwendung, die den vorgenannten Grundsätzen verpflichtet ist, ohne weiteres zu. § 22 II PUAG entspricht sachlich dem § 55 StPO und gesteht das Recht der Auskunftsverweigerung auch dann zu, 118 wenn der Zeuge Gefahr läuft, einer Untersuchung nach einem gesetzlich geordneten Verfahren, also z . B . einem Disziplinarverfahren, 119 ausgesetzt zu werden. 120 Auch das Gebot der Glaubhaftmachung (§ 22IV PUAG) entspricht sachlich dem § 56 StPO. Unter dem Aspekt der Selbstbelastungsfreiheit sind daher keine Einwände ersichtlich, die gegen die Konzeption des PUAG erhoben werden könnten. Mag die Auskunftsperson insoweit auch geschützt sein, so ist zu bedenken, dass ihre Aussagepflicht im Übrigen unberührt bleibt, sie also unter Straf-
110 BGH StV 1987, 328; BGH BGHR StPO § 55 Abs 1 - Verfolgung 1 -. ι» BGH BGHR StPO § 55 Abs 1 - Verfolgung 2 -. 112 BGH NStE Nr 4 zu § 55 StPO. 113 Vgl BGH NStZ 1986, 181. i" BGH StV 1986, 282. 115 So aber Kölbel/Morlok ZRP 2000, 218. 116 Nicht der Zeuge, sondern der Vernehmende entscheidet - nach Glaubhaftmachung durch den Zeugen - über die Berechtigung einer Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts. 117 Vgl in diesem Zusammenhang auch Derksen JuS 1999, 1103 ff. 118 Dem Beschuldigten ist richtiger Ansicht nach der Schutz des nemo tenetur-Grundsatzes auch dann zuzubilligen, wenn er Gefahr läuft, disziplinarisch zur Rechenschaft gezogen zu werden; näher dazu Baumann, FS Kleinknecht, 1985, S. 19ff; SK/StPO-Äoga//(Fn 106) Vor § 133 Rn 149 mwN. Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 22. 120 Befürwortend schon Koch ZParl. 1996, 405 ff.
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bewehrung Angaben machen muss, auch wenn ihr diese zur Unehre gereichen121 oder private Geheimnisse betreffen.122 Ungeachtet dessen greift eine gesetzlich verordnete, erzwingbare Aussagepflicht offensichtlich in die grundrechtlich geschützte allgemeine Handlungsfreiheit, in die Entschließungsfreiheit sowie in das Persönlichkeitsrecht auf Privatheit123 (jedenfalls in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung) ein.124 Diese Grundrechtspositionen unterliegen jedoch dem Gesetzesvorbehalt. Mit dem PUAG hat der Gesetzgeber hiervon Gebrauch gemacht, und man wird einräumen müssen, dass die getroffenen Regelungen (unter Einbeziehung derjenigen über den Ausschluss der Öffentlichkeit und den Geheimnisschutz)125 verhältnismäßig erscheinen, zumal das Bundesverfassungsgericht nur „unzumutbare intime Angaben" und „Selbstbezichtigungen" von gesetzlichen Außerungspflichten ausgenommen hat.126 Die Einrichtung der Rechtsstellung eines Betroffenen könnte aber von Verfassungs wegen geboten sein, um der Aussageperson auch die aktiven Teilhaberechte eines Beschuldigten zu sichern. Die IPA-Regeln hatten dies in § 18 III S. 3 in einem bestimmten Rahmen ja auch so vorgesehen. Ob die Zuerkennung bestimmter aktiver Beteiligungsrechte an Betroffene verfassungsrechtlich zwingend ist, wird bekanntlich seit geraumer Zeit kontrovers beurteilt.127 Für die Verfassungsmäßigkeit der in Aussicht genommenen Regelung spricht die Vorschrift über das rechtliche Gehör in § 32 PUAG. Die Stellung des betroffenen Zeugen bleibt damit zwar im Vergleich zu dem Betroffenen der IPA-Regeln immer noch defizitär, doch muss man sehen, dass die h.M. ganz überwiegend der Ansicht ist, dass die Verweisung in Art. 44 II S. 1 GG die aktiven Antrags- und Verteidigungsrechte des Beschuldigten nicht in Bezug nimmt, dem Betroffenen vielmehr nur ein verfassungsrechtlicher Minimalanspruch auf Information und rechtliches Gehör128 zusteht.129 Ein verfassungsrechtliches Restrisiko könnte deshalb nur dann bejaht werden, wenn die bisherige Rechtslage anders (nämlich weiterreichend) zu deuVgl dazu auch den Text zu Fn 145. Zur Problematik dieser Fälle BVerfGE 76, 387; Achterberg/Schulte in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. 2, 4. Aufl 2000, Art. 44 Rn 142. 123 „Turpitudinem suam nemo detegere tenetur." 124 Vgl BVerfGE 56, 41 f. 125 Zur Ausgestaltung des Fragerechts vgl § 25 PUAG (unten 3). 12 ' BVerfGE 65, 46. 127 Vgl dazu PabelNJW 2000, 788ff; Bucbholz Der Betroffene im parlamentarischen Untersuchungsausschuss (Fn 72) S. 111 ff. 12t Wohlers NVwZ 1994, 41. 121 OVG Münster NVwZ 1989, 606ff; Richter Privatpersonen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss (Fn 50) S. 96ff, 98; DiFabio Rechtsschutz im parlamentarischen Untersuchungsverfahren, 1988, S. 63ff; Schleich Das parlamentarische Untersuchungsrecht (Fn 6) S. 50ff; Müller-Boysen Die Rechtsstellung des Betroffenen (Fn 76) S. 41 ff, 65ff, 89; Quaas/Zuck NJW 1988, 1877; Beckedorf ZParl. 1989, 44ff. 121
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ten ist, als das PUAG dies nun vorsieht. Für „Betroffene" würde sich dann per saldo eine durch das neue Recht verursachte Rechtsentziehung ergeben, die der Legitimation und Begründung bedarf. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Interpretation dürfte aber insgesamt als gering zu veranschlagen sein.130 Die Prognose des Gesetzgebers, es lasse sich nicht ausschließen, dass Zeugen „in bestimmten Sonderkonstellationen" weitergehende Rechte zuerkannt werden müssen, wird man von daher anzweifeln können. 3. Beweis durch Zeugen. Der Beweis durch Zeugen ist im PUAG ausführlich geregelt und hat bei den Beratungen im 1. Ausschuss eine große Rolle gespielt. Zeugen sind grundsätzlich verpflichtet, auf Ladung vor dem Untersuchungsausschuss zu erscheinen (§ 20 I S. 1 PUAG).131 Sie dürfen einen rechtlichen Beistand ihres Wertrauens zu der Vernehmung hinzuziehen (§ 20 II PUAG),132 dessen Gebühren auf Antrag erstattet werden können (§ 35 II S. 2 PUAG) und im Falle der Bedürftigkeit des Zeugen im allgemeinen wohl auch erstattet werden müssen. Im Falle des unentschuldigten Ausbleibens133 eines Zeugen kann der Untersuchungsausschuss diesem die dadurch verursachten Kosten auferlegen, gegen ihn ein Ordnungsgeld bis zu 10 000 € festsetzen134 und seine zwangsweise Vorführung anordnen (§ 21 I S. 1 PUAG). Der Zeuge darf aufgrund der Vorführungsanordnung nicht länger festgehalten werden als bis zum Ende des Tages, der dem Beginn der Vorführung folgt (§§ 21 I S. 3 PUAG, 135 S. 2 StPO). An der Regelung, die anerkannten Bahnen folgt,135 ist der Höchstbetrag des ggf. zu verhängenden Ordnungsgeldes auffällig. Nach der Gesetzesbegründung soll sich der Unterschied zu dem im Strafverfahren geltenden Höchstbetrag von 1000 € (Art. 6 EGStGB) aus den „Besonderheiten eines Untersuchungsverfahrens" rechtfertigen.136 Welche das sein sollen, wird nicht näher erläutert.137 Angesichts dieser inflationären Erhöhung des Ord130 Zum Beanstandungsrecht bezüglich gestellter Fragen Wohlers NVwZ 1994, 41 und § 25 I S. 2 PUAG. 131 § 50 StPO findet keine Anwendung (§ 20 I S. 2 PUAG); s. dazu Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 21. 132 Zum notwendigen Informationsgehalt der Ladung vgl Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 21. 133 Zu den Folgen einer rechtzeitigen oder nachträglichen genügenden Entschuldigung vgl § 21 II PUAG. 134 Bei wiederholtem Ausbleiben kann das Ordnungsgeld noch einmal festgesetzt werden, § 21 I S. 2 PUAG. 135 Zur grundsätzlichen Zulässigkeit von Maßnahmen des Zeugniszwanges vgl BVerfGE 76, 383ff; OVG Lüneburg DöV 1986, 210ff; VG Hamburg NJW 1987, 1568ff; VG Hannover NJW 1988, 1928 ff; LG Bonn NJW 1987, 790 ff; AG Bonn JR 1994, 171 ff m. Anm. Berksen; Achterberg/Schulte in v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn 122) Art. 44 Rn 144. 136 Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 22. 137 Nach Meinung des Abg. Dr. von Stetten (CDU/CSU) kann die Erhöhung „einen Sinn haben, auch zur Aufwertung des Untersuchungsausschusses" (Plen.-Prot. 14/165 S. 16155 [A]).
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nungsgeldbetrages um das Zehnfache verwundert es nicht, dass rechtliche Bedenken gegen die Entscheidung des Gesetzgebers erhoben werden.138 Gegen die Auferlegung des Ordnungsgeldes etc. kann sich der Zeuge im Beschwerdewege (Art. 44 II S. 1, §§ 304ff StPO) wenden; zuständiges Gericht ist der Bundesgerichtshof (§ 361PUAG). 139 Lehnt der Untersuchungsausschuss die Anordnung eines Zwangsmittels nach § 21 I PUAG ab, so entscheidet auf Antrag eines Viertels der Ausschussmitglieder der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs (§ 17 IV PUAG).140 Gegen die Anordnung des Ermittlungsrichters ist wiederum die Beschwerde an den Bundesgerichtshof statthaft (§ 36 III PUAG). Die Zeugenvernehmung ist in § 24 PUAG in Anlehnung an die Regelungen der StPO konzipiert worden.141 Zugunsten des Zeugen, der ggf. eine inquisitorische Fragerunde142 über sich ergehen lassen muss (§ 24 V PUAG),143 ist immerhin § 136a StPO entsprechend anzuwenden (§ 24 VI PUAG).144 Die Entscheidung über die Zulässigkeit von Fragen ist in § 25 PUAG detailliert geregelt. Der Gesetzgeber hat dabei aber den sachlichen Gehalt des § 68a StPO nicht übernommen, weil die „Anknüpfung an einen heute nur noch schwer definierbaren Ehrbegriff als zu unbestimmt angesehen wurde." 145 Diese Begründung geht aus strafrechtlicher Sicht offenkundig fehl, was aber solange unschädlich ist, wie der Vorsitzende seine Fürsorgepflicht zugunsten des Zeugen wahrzunehmen weiß.146 Nach § 26 II PUAG hat der Untersuchungsausschuss den Abschluss der Vernehmung eines Zeugen durch Beschluss festzustellen. Diese Regelung hat vor allem strafrechtliche Bedeutung und ist daher an anderer Stelle147 noch zu erörtern.
«« Η. H. Klein (Fn 3) S. 10. 139 Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 22. 140 Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 22. 141 Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 22. 142 Zum inquisitorischen Charakter der parlamentarischen Untersuchung Buchholz Der Betroffene im parlamentarischen Untersuchungsausschuss (Fn 72) S. 141 ff. Der früher offenbar gelegentlich erhobene Vorwurf, „Untersuchungsausschüsse agierten einseitig und seien zu Revolutionstribunalen nach dem Muster der französischen Revolution verkommen", ist allerdings weit übertrieben (dagegen zu Recht auch Schröder Gutachten für den 57. DJT (Fn 19), S. Ε 56. Dass es einen „investigativen Parlamentarismus" (H.-P. Schneider NJW 2000, 2604 ff) gibt, wird man andererseits nicht bestreiten können. Ein abschreckendes Beispiel ist den Gründen der Entscheidung des OLG Köln NJW 1988, 2485 ff zu entnehmen. S. auch Kerbein ZRP 2001, 302f. 143 Der Gesetzgeber hat übrigens auf die Statuierung von Verhaltenspflichten für Ausschussmitglieder im Umgang mit Zeugen ausdrücklich verzichtet, vgl Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 22. 144 Was die Folge eines Verwertungsverbotes einschließt. Entsprechendes gilt im Falle der Unzulässigkeit einer Frage, vgl § 25 II PUAG. 145 Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 23. 146 S. dazu auch Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 23. 147 Vgl unten VI 1.
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Verweigert der Zeuge das Zeugnis ohne gesetzlichen Grund, so kann der Untersuchungsausschuss dem Zeugen die durch seine Weigerung verursachten Kosten auferlegen und gegen ihn ein Ordnungsgeld bis zu 10 000 € festsetzen (§ 27 I PUAG). Vermag sich der Untersuchungsausschuss auf die Maßnahmen nicht zu verständigen, gilt wiederum § 17 IV PUAG. Darüber hinaus kann der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes nach Maßgabe des § 27 II PUAG auf Antrag von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Untersuchungsausschusses Erzwingungshaft anordnen. Eine Vereidigung von Zeugen sieht das PUAG im Übrigen nicht mehr vor.148 § 22 PUAG regelt die von Zeugen in Anspruch zu nehmenden Zeugnisund Auskunftsverweigerungsrechte. Unberücksichtigt bleiben musste das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO, da der Gesetzgeber die Rechtsposition eines Betroffenen nicht mehr vorgesehen hat.149 Es gelten aber die Zeugnisverweigerungsrechte nach den §§ 53, 53a StPO (§ 22 I PUAG). Anzuwenden ist auch § 54 StPO150 mit der Maßgabe, dass die Bundesregierung verpflichtet ist, die erforderlichen Aussagegenehmigungen zu erteilen (§ 23 II, 1. Hs. PUAG). Für den Fall einer Ablehnung gelten die Regelungen über die Vorlage von Beweismitteln in § 18 entsprechend (§ 23 II, 2. Hs. PUAG).151 Das Auskunftsverweigerungsrecht nach § StPO, das der Gefahr einer Selbstbelastung und der Belastung von Angehörigen vorbeugen soll, ist vom Gesetzgeber in vollem Umfange152 übernommen worden (§ 22 II PUAG).153 Er war sich einig, dass Abstriche an der Geltung des „nemo tenetur-Prinzips" nicht gemacht werden sollten.154 Für die Auskunftsverweigerung reicht die Gefahr, einer Untersuchung nach einem gesetzlich geordneten Verfahren ausgesetzt zu werden. Das umfasst etwa Verfahren nach dem OWiG, aber auch Verfahren in Disziplinar-155 oder Ehrengerichtsverfahren. Diese Regelung hat, wie deutlich geworden ist, ganz wesentlich den Verzicht auf die Einführung einer Betroffenen-Position erleichtert. 148
Zur Begründung vgl Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 23. Zu den strafrechtlichen Folgen unten VI 1. 149 Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 22. 150 vgl § 23 I PUAG. § 54 StPO ist in seiner Gesamtheit in Bezug genommen. Es gilt also auch das besondere Zeugnisverweigerungsrecht des Bundespräsidenten, vgl Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 22. 151 Vgl dazu Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 22 sowie unten 5. 152 Zum notwendigen Verständnis des § 55 StPO vgl die Nachweise in Fn 118. 153 Zur Glaubhaftmachung vgl § 22 IV PUAG. '5" Abg. Bachmater (SPD) Plen.-Prot. 14/165 S. 16146 (A); Abg. van Essen (F.D.P.) S. 16151 (D). 155 Vgl Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 22; Η. P. Scbnei-
i/erNpj? 2001, 2606.
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4. Verzicht auf ein Immunitätsstatut. Ein weiterer Schwerpunkt der gesetzgeberischen Beratungen betraf die Frage, wie der mangelnden Aussagebereitschaft von Zeugen entgegengewirkt werden kann. Es entspricht der Erfahrung fast aller Untersuchungsausschüsse, dass nicht wenige Zeugen Angaben zur Sache unter Hinweis auf eine ihnen drohende Verfolgungsgefahr (§ 55 StPO) verweigern und damit dem Ausschuss Feststellungen über tatsächliche Abläufe erschweren oder gar unmöglich machen. Dem Gesetzgeber stand bei seinen Überlegungen auch die unmittelbare Anschauung aus dem „Parteispendenuntersuchungsausschuss" 156 vor Augen, wo der ehemalige Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl jede Angaben zur Person bestimmter Spender verweigert hatte. Auch wenn das Wort von den „hilflosen Aufklärern" 157 als übertrieben bezeichnet werden muss, wird man Verständnis dafür aufbringen müssen, dass sich Mitglieder von Untersuchungsausschüssen manchmal gegenüber Zeugen tatsächlich hilflos fühlen. Freilich ist das ein Gefühl, das für die Strafverfolgungsorgane zum täglichen Geschäft gehört und nicht dramatisiert werden sollte. Auch in Verfahren vor Untersuchungsausschüssen gibt es keine Wahrheitsfindung „um jeden Preis". Es darf sie auch nicht geben. Nach sorgfältigen Beratungen158 hat der Gesetzgeber im Ergebnis Uberlegungen und Vorschläge zu möglichen Einschränkungen des Auskunftsverweigerungsrechts von Zeugen nicht weiterverfolgt.159 Man kann auch von einer „bewussten Ausklammerung" mit dem Ziel sprechen, „das Gesamtprojekt nicht zu gefährden."160 Letztlich schreckte der Gesetzgeber vor dem „Paradigmenwechsel"161 zurück, den es bedeutet hätte, wenn „ein dem Kronzeugenprinzip angenäherter Verzicht auf Strafverfolgung, ausschließlich bezogen auf ein parlamentarisches Untersuchungsverfahren", eingeführt worden wäre. Die rechtspolitische Aussage, dass „das Untersuchungsrecht des Parlamentes dort seine Grenzen finden (sollte), wo die Ermittlungsmöglichkeiten in einem gerichtlichen Strafverfahren enden",162 ist rechtspolitisch korrekt und verdient Respekt. In der Tat ist die Frage nach der Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen dem Auskunftsverweigerungsrecht eines Zeugen und dem öffentlichen Interesse an der Wahrheitsermittlung in Verfahren vor einem Unter15
* Oben Fn 5. H.-P. Schneider NJW 2000, 3332 ff. 158 „Wir sind extra in die Vereinigten Staaten geflogen, um die Erfahrungen der USA in dieser Angelegenheit kennen zu lernen", so der Abg. Ströbele (Bündnis90/Die Grünen), Plen.-Prot. 14/165 S. 16150 (C). 15 ' Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Ausschusses (Fn 11) S. 16. ·«> Abg. Dr. Kenzier (PDS) Plen.-Prot. 14/165 S. 16152 (C). 161 Abg. Wiefelspütz (SPD) Plen.-Prot. 14/165 S. 16156 (B) mit dem Hinweis darauf, dass es „vermutlich einer Verfassungsänderung bedurft (hätte), solche Gedanken umzusetzen." 162 Abg. Bachmaier (SPD) Plen.-Prot. 14/165 S. 16146 (A). 157
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suchungsausschuss dahin zu beantworten, dass eine L ö s u n g nicht in einer kompensationslosen Aufhebung der Selbstbezichtigungsfreiheit bestehen darf, die in ihrem Kernbereich als verfassungsfest einzustufen ist. 1 6 3 Eine Aufhebung oder Einschränkung dieses grundlegenden Rechts auf Freiheit von erzwungener Selbstbelastung würde auch mit den Verpflichtungen nach Art. 6 E M R K und A r t . 14 I P B R unvereinbar sein. 1 6 4 E s ist daher nachdrücklich zu begrüßen, dass der Gesetzgeber an dieser Maxime festgehalten hat. 1 6 5 Von Gesetzes wegen würde eine Regelung zur „Förderung der Aussagebereitschaft von Zeugen", die nicht in Folter besteht, 1 6 6 allerdings nicht von vornherein verfassungsrechtlich unzulässig sein. Die Selbstbezichtigungsfreiheit ist immer dann gewahrt, wenn sichergestellt ist, dass der Zeuge bei wahrheitsgemäßer Auskunftserteilung nicht bestraft werden kann. U m dies zu erreichen, gibt es v o m Grundsatz her 1 6 7 zwei vertretbare L ö s u n g s m ö g lichkeiten, nämlich die Einführung einer Verwertungsverbotsregelung nach dem Muster des § 97 I InsO 1 6 8 oder die Einführung einer Immunitätsregelung 1 6 9 nach U.S.-amerikanischem Vorbild. 163 Das Bundesverfassungsgericht hat unmissverständlich klargestellt, dass „ein überwiegendes Allgemeininteresse (an der Kenntnis persönlicher Daten) ... regelmäßig überhaupt nur an Daten mit Sozialbezug ... unter Ausschluss unzumutbarer intimer Angaben und von Selbstbezichtigungen bestehen wird", vgl BVerfGE 65, 1, 46. 1M Zutr. Dahs NStZ 1999, 386, 387: „Das in § 55 verkörperte Schutzrecht des gefährdeten, möglicherweise strafrechtlich kontaminierten Zeugen mag für die Strafrechtspraxis zuweilen unbequem oder hinderlich sein. Gleichwohl gehört es zur Magna Charta der abwehrenden Bürgerrechte gegen staatlichen Zwang und verdient entsprechende Respektierung." 165 Vgl den Abg. Bachmaier (SPD) Plen.-Prot. 14/165 S. 16146 (A): „Dennoch war für uns der Grundsatz, dass letztlich kein Zeuge gezwungen werden kann, sich durch seine Aussage der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen, immer unbestritten. An eine Lockerung dieses rechtsstaatlichen Grundprinzips in Untersuchungsausschüssen wäre deshalb nur dann zu denken gewesen, wenn gleichzeitig einem aussagebereiten Zeugen zugesichert werden könnte, dass ihm aus dem dann geschilderten Sachverhalt keine strafrechtliche Verfolgung mehr droht." 166 Sarkastisch der Abg. Dr. von Stetten (Plen.-Prot. 14/165 S. 16154 [C]): „Herr Ströbele, wenn Sie Zeugen mit staatlichen Mitteln ,weichkochen' wollen, empfehle ich Ihnen die Folter des Mittelalters. Ich könnte Ihnen ein Verlies zur Verfügung stellen. Zeugen müssen den nach der StPO geltenden Schutz auch im Untersuchungsausschuss haben." 167 Zu weiteren Vorschlägen (namentlich zum sog. „Beichtrichter") näher Kölbel/Morlok ZRP 2000, 217ff; s. auch SchneiderNJW 2000, 3322ff. Beim „Beichtrichter" handelt es sich einfach um eine romantische Idee, die schon aus praktischen Gründen nicht weiterverfolgt werden kann. Treffend dazu Nack Prot. G 32/35 (Wortprotokoll der 32. Sitzung des 1. Ausschusses vom 10. 5.2000). 168 „Der Schuldner ist verpflichtet, dem Insolvenzgericht, dem Insolvenz Verwalter, dem Gläubigerausschuss und auf Anordnung des Gerichts der Gläubigerversammlung über alle das Verfahren betreffenden Verhältnisse Auskunft zu geben. Er hat auch Tatsachen zu offenbaren, die geeignet sind, eine Verfolgung wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit herbeizuführen. Jedoch darf eine Auskunft, die der Schuldner gemäß seiner Verpflichtung nach Satz 1 erteilt, in einem Strafverfahren oder in einem Verfahren nach dem
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anbelangt, so ist es grund-
sätzlich (unter Beachtung noch zu erläuternder Anforderungen) möglich, die Aussage von Zeugen,
die sich auf ihr Auskunftsverweigerungsrecht nach
§ 55 StPO berufen (wollen), durch Gewährung von „Immunität" erzwingbar zu machen. 1 7 0 Dies könnte verfahrensrechtlich durch Einführung eines Verfahrenshindernisses oder materiellrechtlich durch ein „Immunitäts- oder Straffreiheitsgesetz" bewirkt werden. In den Vereinigten Staaten ist derartiges seit langem gebräuchlich 171 und bundesgesetzlich in 18 U . S . C . 6001 ff näher geregelt. 172 D a sich die deutsche und die amerikanische Rechtslage in Bezug auf die Selbstbelastungsfreiheit weitgehend gleichen, können die dortigen Erkenntnisse auch hier fruchtbar gemacht werden. Wenn man dem Zeugen im deutschen Recht Straffreiheit z u k o m m e n lassen will, so muss stets gesichert sein, dass seine Angaben nicht zum Anlass von Ermittlungen gegen ihn genommen werden können. Es muss daher im Gesetz näher bestimmt werden, dass diese Angaben auch „indirekt" keine Verwendung finden dürfen. D e r Zeuge darf in den U.S.A. regelmäßig wegen der von ihm offenbarten Tat bestraft werden, wenn die Straftat unabhängig von seinem Aufklärungsbeitrag bewiesen werden kann („use immunity" versus „transactional immunity"). 1 7 3 Dies könnte, müsste aber nicht überGesetz über Ordnungswidrigkeiten gegen den Schuldner oder einen in § 52 Abs 1 der Strafprozessordnung bezeichneten Angehörigen des Schuldners nur mit Zustimmung des Schuldners verwendet werden." Diese Vorschrift geht auf den sog.
Gemeinschuldner-
beschluss des Bundesverfassungsgerichts zurück (BVerfGE 56, 37ff). Für eine Lösung nach dem Vorbild dieser Regelung DanckertZRP 2000, 476 ff. 169 Dabei handelt es sich sachlich nicht um eine Kronzeugenregelung; insbesondere geht es nicht um ein Eindringen in mafiose oder sonst organisierte Strukturen, das sonst nicht möglich wäre. "o Näher dazu SK/StPO-Rogall (Fn 106) Vor § 133 Rn 132 mwN. 171 Das erste Immunitätsgesetz wurde vom englischen Parlament im Jahre 1710 erlassen; in den U.S.A. entstand die erste bundesrechtliche Regelung im Jahre 1857, vgl Kastigar v. United States, 406 U.S. 441, 445 n. 13 (1972). 172 Vgl gee. 6002 (Immunity generally): „Whenever a witness refuses, on the basis of his privilege against self-incrimination, to testify or provide other information in a proceeding before or ancillary to - (3) either House of Congress, a joint committee of the two Houses, or a committee or a subcommittee of either House, and the person presiding over the proceeding communicates to the witness an order issued under this title, the witness may not refuse to comply with the order on the basis of his privilege against self-incrimination; but no testimony or other information compelled under the order (or any information directly or indirectly derived from such testimony or other information) may be used against the witness in any criminal case, except a prosecution for perjury, giving a false statement, or otherwise failing to comply with the order." Vgl a. Sec. 6005 zum Verfahren vor dem Kongress. 173 „Transactional" immunity means that once a witness has been compelled to testify about an offense, he may never be prosecuted for that offense, no matter how much independent evidence might come to light; „use" immunity means that no testimony compelled to be given and no evidence derived from or obtained because of the compelled testimony may be used if the person were subsequently prosecuted on independent evidence for the offense; vgl dazu Israel/LaFave, Criminal Procedure, 5th Ed., 1993, S. 233ff.
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nommen werden. Auf jeden Fall darf die „Immunitätsgewährung" nicht von der Schwere der Straftat oder der Stellung des Betroffenen im öffentlichen oder politischen Leben abhängig gemacht werden; 174 eine Differenzierung ist insoweit unzulässig, weil die grundrechtlich gesicherte Selbstbelastungsfreiheit keine Einschränkung dieser Art zulässt. Mit einer „Immunitätsgewährung" wird allerdings nur der Verstoß gegen den Grundsatz „nemo tenetur se-ipsum prodere" aufgefangen. Die erzwungene, wenn auch strafrechtlich folgenlose Selbstbezichtigung greift - wie zuvor bereits ausgeführt175 - nach wie vor in die grundrechtlich geschützte allgemeine Handlungsfreiheit, in die Entschließungsfreiheit sowie in das Persönlichkeitsrecht auf Privatheit (jedenfalls in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung) ein. 176 Der Gesetzgeber ist deshalb bei der Entscheidung über die Frage, ob eine erzwingbare Auskunftspflicht durch Immunitätsgewährung geschaffen werden soll, nicht frei. Das gilt um so mehr, als die Maßnahme im Ergebnis dazu führt, dass Straftaten ungesühnt bleiben. Die Begründung einer Pflicht zu selbstkompromittierenden Angaben wird sich danach nur in Ausnahmefällen zur Wahrung wichtiger Gemeinschafts- oder Privatinteressen unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes rechtfertigen lassen. 177 Es ist daher also weniger die Immunitätsgewährung als solche als vielmehr die Frage, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang Immunität gewährt werden soll, die Schwierigkeiten bereitet. Insbesondere die Umgrenzung der Immunitätswirkungen (materiell-rechtliche Tatbestände?; prozessualer Tatbegriff nach § 264 StPO) würde bei einer gesetzlichen Regelung intensive Klärung erfordern. 178 Es ist daher nur verständlich, dass der Gesetzgeber sich zu einem solchen Schritt nicht entschlossen hat. 179 Nichts wesentlich anderes gilt für die Einführung einer Verwertungsverbotslösung nach dem Muster des § 97 I InsO. Auch hier gilt, 180 dass sich der Gesetzgeber mit komplizierten Problemen, insbesondere mit der sog. Fernwir-
174 Auch für solche Personen gilt das verfassungsrechtliche Verbot des Selbstbelastungszwanges; richtig etwa Gollwitzer FS Dünnebier, 1982, S. 342; abwegig insoweit Masing ZRP 2001, 38. Eine andere Frage ist jedoch, wie das einfache Recht den verfassungsrechtlichen Maximen nachkommt. Dies kann außerhalb des Strafprozesses durchaus im Wege der Zuerkennung eines Auskunftsverweigerungsrechts erfolgen. Dies verkennt Kohlmann JA 1984, 672. 175 Oben 2. 176 Vgl BVerfGE 56, 41 f. 177 SK/StPO-Rogall (Fn 106) Vor § 133 Rn 132. 178 Vgl dazu Rogall Prot. G 32/73 (Wortprotokoll der 32. Sitzung des 1. Ausschusses vom 10.5.2000). 179 Weitere Bedenken bei H.-P. Schneider NJW 2000, 3333. 180 Zur Vermeidung von Verstößen gegen die Selbstbelastungsfreiheit durch Statuierung von Verwertungsverboten näher Wolff Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, 1997, S. 202 ff.
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kung von Verwertungsverboten, hätte befassen müssen. 181 Es ist deshalb nachvollziehbar, dass er auch hier von einer Regelung Abstand genommen hat.182 f . Herausgabe von sachlichem Beweismaterial. Die Herausgabepflicht Privater regelt das PUAG in § 29 nach dem Vorbild des 8. Abschnitts der StPO. Danach ist jedermann verpflichtet, einen Gegenstand, der als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein kann, auf Verlangen des Untersuchungsausschusses vorzulegen und auszuliefern (§ 29 I S. 1 PUAG). Die Verpflichtung entfällt, „wenn das Beweismittel Informationen enthält, deren Weitergabe wegen ihres streng persönlichen Charakters 183 für die Betroffenen unzumutbar wäre" (§ 29 I S. 2 PUAG). Das Gesetz knüpft insoweit an die Rechtsprechung des BVerfG184 an, ohne selbst Klarheit zu schaffen. Die einschlägige Rechtsprechung des BVerfG läßt sich jedoch bis zum Volkszählungsurteil zurückverfolgen; 185 verfährt man entsprechend, so wird deutlich, dass offenbar „unzumutbare intime Angaben" und „Selbstbezichtigungen" gemeint sind. Trotz alledem ist der Interpretationsaufwand, der mit § 29 I S. 2 PUAG zu betreiben sein wird, als erheblich einzustufen. Streitigkeiten sind vorprogrammiert. Eine klarere Fassung wäre daher wünschenswert gewesen. Im Falle der Weigerung kann der Untersuchungsausschuss 186 gegen den Gewahrsamsinhaber ein Ordnungsgeld bis zu 10000 € verhängen; dem Ermittlungsrichter des BGH bleibt es überlassen, ggf. Erzwingungshaft anzuordnen. 187 Gegen Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsberechtigte (§ 221, II PUAG) dürfen Ordnungs- und Zwangsmittel allerdings nicht verhängt werden (§ 29 II S. 3 PUAG). Soweit Auskunftsverweigerungsberechtigte (§ 22 II PUAG) betroffen sind, ergibt sich das schon aus § 29 I S. 2 PUAG („unzumutbare Selbstbezichtigung"). Dies bestätigt die im Strafprozessrecht zu Recht vertretene Auffassung, 188 dass es bei Auskunftsverweigerungsberechtigten nach § 55 StPO keiner entsprechenden Anwendung
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Nack Prot. G 32/36 (Wortprotokoll der 32. Sitzung des 1. Ausschusses vom 10.5.2000); Kölbel/Morlok ZRP 2000, 220. 'M Befürwortend indessen H.-P. SchneiderNjW 2000, 3333f; s. auch MasingZRP 2001,40. 183 Nicht zu verwechseln mit dem „streng vertraulichen Charakter" eines Beweismittels iSd § 30 I PUAG. 1M BVerfGE 77, 47 >8» Vgl BVerfGE 77, 47; 67, 144; 65, 46. 184 Lehnt der Ausschuss eine Anordnung ab, gilt für den Rechtsschutz wiederum § 17IV PUAG. Kant a a O S . 222. ' Kant aaO S. 226. μ Kant aaO S. 231. 11 Zum Prinzip der Universalisierung vgl den Artikel „Universalisierung" von Wimmer im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, 2001, Sp. 199-204; kritisch Zippelius (Fn 1) S. 96-99. 12 Kant aaO S. 232.
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sind. Das liegt nicht in erster Linie daran, daß Gesinnungen als innerliche Phänomene eines etwa unternommenen rechtlichen Beweises nicht zugänglich sind und deshalb auch durch staatliches Recht nicht erzwungen werden können, 13 sondern vor allem daran, daß mit der Bewertung und Sanktionierung von Gesinnungen entgegen dem allgemeinen Rechtsgesetz ein innerliches Phänomen zum Gegenstand einer Rechtsregelung gemacht werden würde, ohne daß dies im Interesse des Schutzes der äußeren Freiheit von jedermann erforderlich ist. Meine äußere Freiheit wird nicht schon dadurch tangiert, daß andere eine bestimmte Gesinnung haben, und regelmäßig auch noch nicht dadurch, daß sie ihre Gesinnung äußern.14 Gerade das Strafrecht ist immer wieder in der Gefahr, diese Innerlichkeitsgrenze zu überspringen. So etwa bei der Strafbarkeit der sog. Auschwitzlüge als Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 3 StGB15 oder bei der Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen wie der Verbrechensverabredung gemäß § 30 Abs. 2 StGB in Verbindung mit dem verabredeten Verbrechen sowie bei der Gründung einer kriminellen Vereinigung gemäß § 129 StGB.16 Besser ist es dem Strafrecht gelungen, sich von den Verbrechen gegen die Sittlichkeit zu lösen und sich zu einem Sexualstrafrecht zu entwickeln, das im wesentlichen nur noch Angriffe gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter Strafe verbietet.17 So ist etwa die Strafbarkeit der Homosexualität unter Erwachsenen gemäß § 175 StGB a.F. - trotz ihrer möglichen Sittenwidrigkeit (?) - abgeschafft worden, die Strafbarkeit der sexuellen Nötigung oder gar Vergewaltigung ist im Interesse des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung und der persönlichen Freiheit der Opfer zu Recht bestehengeblieben (§§ 177 Abs. 1 und 2 StGB). Allgemein formuliert: „reine Moralwidrigkeiten"18 verletzen keine Rechtsgüter und sind deshalb kein legitimer Gegenstand für ein strafrechtliches Verbot.
III. Doch zurück zum angekündigten konkret-praktischen Vorgehen, das seinen Ausgangspunkt im geltenden deutschen Recht haben soll (s.o. zu Beginn von II.). Dieses geltende Recht hat in allen seinen wichtigen Teilgebieten wie dem Öffentlichen Recht (Verfassungs- und Verwaltungsrecht), dem Zivilrecht und dem Strafrecht ausdrückliche Verbindungen zur Moral auf" Vgl Kant Kk VI S. 219, 239. 14 Kühl Der Einfluß der Rechtsphilosophie auf das Strafrecht, 2001, S. 38. 15 Vgl näher Kühl in: Geilen-Symposium, 2002. 16 Vgl Beck Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung, 1992, S. 206f; Köhler Strafrecht AT, 1997, S. 545, 547 7 > Vgl Lackner/Kühl (Fn 4) Vor § 174 Rn 1. 18 Roxin Strafrecht AT I, 3. Aufl 1997, § 2 Rn 12.
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zuweisen. Dabei sollen hier zunächst nur die Verbindungen interessieren, die das Recht an die „Sitten"19 bindet. Solche Verweise auf die Sitten erwekken zunächst den Eindruck, daß das Recht sich nicht als autonome oder zumindest nicht als vollständige Regelung für zwischenmenschliche Beziehungen versteht, sondern in bestimmten Fällen eine Rückversicherung bei der Sittenordnung sucht, um diesen Fällen auch sittlich „gerecht" zu werden. Schon das Grundgesetz weist - im Kontrast zu der oben (unter II.) beschriebenen Trennung des Rechts von der Moral durch die Garantie der Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG - in seinem Grundrechtsteil auf das „Sittengesetz" zurück. Nach Art. 2 Abs. 1 GG hat jeder „das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit." Dieses Grundrecht ist aber nicht grenzenlos gewährt, sondern hat seine Schranken. Dabei ist die in Art. 2 Abs. 1 GG ausdrücklich enthaltene sog. Schrankentrias insofern ohne weiteres - und erst recht nach der oben [unter II.] erfolgten Erinnerung an das allgemeine Rechtsgesetz Kants - verständlich, als jedem das allgemeine Persönlichkeitsrecht (so die Uberschrift von Art. 2 GG) nur gewährt wird, „soweit er nicht die Rechte anderer verletzt." Das allgemeine Rechtsgesetz als Vernunftgesetz verlangt eben die allgemein-gesetzliche und wechselseitige Einschränkung der äußeren Freiheit, wie sie in Rechten anderer ihren Niederschlag findet. Überraschend und nicht selbstverständlich ist dagegen die - neben der zweiten (hier nicht interessierenden) Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung" - dritte Schranke, wonach jedem „die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit" gewährt wird, „soweit er ... nicht gegen ... das Sittengesetz verstößt." Während die äußere Freiheitsentfaltung zu ihrem eigenen Schutz durch die Freiheits-Rechte anderer eingeschränkt werden muß, ist ihre Beschränkung durch das „Sittengesetz" begründungsbedürftig. Sollte mit „Sittengesetz" ein nur die spezielle Ethik (Pflichten gegen sich selbst, Wohlwollensgebote) betreffendes „Gesetz" gemeint sein, so müßte Widerspruch gegen eine solche Freiheitsbeschränkung erhoben werden, weil ein solches „Gesetz" zum Schutz der äußeren Freiheit von jedermann nicht erforderlich und deshalb nicht legitimierbar wäre. So ist aber das „Sittengesetz" in Art. 2 Abs. 1 GG nicht gemeint, obwohl eine - freilich nicht überzubewertende Äußerung v. Mangoldt's im Parlamentarischen Rat lautete, daß „ohne den Hinweis auf das ,ethische Grundgesetz' nicht auszukommen" sei.20 Inhaltlich wird das Sittengesetz überwiegend vom sittlichen Bewußtsein der
" Zur normtheoretischen Ausdifferenzierung der Felder des Rechts, der Sittlichkeit und der „Sitten" vgl Kersting Artikel,Sitte', in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9 (1995), Sp. 905. 20 Zitiert nach v. Mangoldtl·Klein/Starck Das Bonner GG, Bd. 1, 4. Aufl 1999, Art. 2 Rn 36. - Eine Orientierung des Sittengesetzes an den Prinzipien der Rechtslehre Kants unternimmt Schachtschneider in FS Thieme, 1993, S. 153; kritisch dazu Gröschner]Z 1996, 637
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Allgemeinheit „bestimmt", 21 aber diese „Bestimmung" ist unsicher. Eine gewisse Bedeutung hat das Sittengesetz als Grundrechtsschranke nur im Homosexuellen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1957 erlangt, wonach es „einen sonst unzulässigen ... Eingriff des Gesetzgebers in die menschliche Freiheit legitimieren kann" 2 2 - ein problematischer Anwendungsfall, den immerhin der Gesetzgeber mit der Abschaffung des § 175 StGB korrigiert hat, wobei er dem Wandel des Sittengesetzes Rechnung getragen hat. Inzwischen ist das Sittengesetz als eigenständige Grundrechtsschranke „nicht nur aus der Verfassungsrechtsprechung, sondern auch aus der Verfassungsrechtslehre fast ganz verdrängt". 23 Auch im Zivilrecht wird durch Vorschriften des BGB, insbesondere durch sog. Generalklauseln, auf die in der Rechtsgemeinschaft anerkannten sittlichen Maßstäbe Bezug genommen. 24 Hier interessieren vor allem Verweise auf die „Sitten". Von auch praktischer Bedeutung ist dabei die Regelung des § 138 StGB, der ein „Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt", für „nichtig" erklärt. Von dieser „Nichtigkeitserklärung" sind etwa Knebelungsverträge wie Bierlieferungsverträge auf mehr als zwanzig Jahre erfaßt. 25 Die Hauptproblematik liegt auch hier nicht in einer unzulässigen Vermengung von Recht und Moral, sondern in der schwierigen Bestimmung dessen, was im Einzelfall „gute Sitten" sind. Der Verweis auf „das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" leitet die erforderliche Konkretisierung nur unzulänglich, 26 so daß man froh ist, wenn man auf Konkretisierung der guten Sitten in der Rechtsordnung zurückgreifen kann. 27 Die Problematik des unzulässigen Eindringens von Moral in das Recht stellt sich aber dennoch in zweierlei Hinsicht. Fehlt es an Konkretisierungen in der Rechtsordnung, so gilt gerade im sexuellen Bereich das allgemeine Sittengesetz bzw. die „herrschende (Sozial-)Moral", die freilich in einer pluralistischen Gesellschaft schwer festzustellen und auch ständigen Wandlungen 21 Vgl Starck (Fn 20) Art. 2 Rn 37; ähnlich Dreier GG-Kommentar, Bd. I, 1996, Art. 2 I Rn 44: Abstellen „auf die in der Gesellschaft tatsächlich vorherrschenden Uberzeugungen und moralisch-ethischen Anschauungen". 22 BVerfGE 6, 389, 434. - Auch in dieser Entscheidung hat das Sittengesetz aber „keine tragende Rolle gespielt" (so Dreier aaO). 23 Stark (Fn 20) Art. 2 Rn 34. 2 4 Vgl den Überblick bei Horn Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 2. Aufl 2001, § 1 Rn 16; vgl. auch Seelmann Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2001, § 6 Rn 21 ff. 2 5 Dazu und zu weiteren Fallgruppen der Rspr. vgl Jauemig BGB, 9. Aufl, 1999, § 138 Anm. 3. 2 6 Eingehend zur sog. Anstandsformel Sack in: Staudingers Kommentar zum BGB, Erstes Buch AT §§ 134-163, 13. Bearb. 1996, § 138 Rn 13-17; knapper, aber instruktiv MayerMaly in: Münchener Kommentar zum BGB, AT, 3. Aufl 1993, § 138 Rn 12, 13; problematisierend Seelmann (Fn 21) § 6 Rn 20 ff. 2 7 Vgl Jauemig (Fn 25) § 138 Anm. 2. - Nach Mayer-Maly (Fn 26) § 138 Rn 11, gewinnt die heutige Gesellschaft ihre Urteile „immer öfter aus dem Recht selbst".
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unterliegt.28 So ist etwa gerade der Bereich der Prostitution von einem weitgehenden Sittenwidrigkeitsverdikt betroffen gewesen. Der Gesetzgeber ist aber gerade dabei, die Rechtsstellung der Prositituierten dadurch zu verbessern, daß die bisher sittenwidrigen und damit nach § 138 BGB nichtigen Vereinbarungen zwischen Prostituierten und ihren Kunden zu anerkannten Rechtsbeziehungen werden.29 § 1 Satz 1 Prostitutionsgesetz soll lauten: „Sind sexuelle Handlungen gegen ein vorher vereinbartes Entgelt vorgenommen worden, so begründet diese Vereinbarung eine rechtswirksame Forderung." 30 Damit erobert sich der Gesetzgeber ein Stück, das er der immer fragwürdigen Sexual-Moral überlassen hat, für das Recht wieder zurück. Für das Strafrecht würde die geplante Regelung im Bereich des Betruges gem. § 263 StGB Bedeutung erlangen, wenn man den strafrechtlichen Vermögensbegriff mit der Rechtsprechung und der herrschenden Meinung in der Rechtslehre zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen an den zivilrechtlichen Vermögensbegriff anbindet und nicht autonom rein wirtschaftlich bestimmt. 31 Denn danach wäre die Entgeltforderung der sog. „geprellten Dirne" nicht mehr wie bisher wegen Sittenwidrigkeit nichtig, sondern rechtswirksam, und die Prostituierte würde ihre Arbeitskraft nicht länger zu stittenwidrigen, sondern zu legalen Zwecken einsetzen. Daraus würde sich für die Vertreter des juristisch-ökonomischen Vermögensbegriffs und für die ihm in diesem Bereich inzwischen folgende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen32 die Konsequenz ergeben, daß die Entgeltforderung und die Arbeitskraft der Prostituierten zu ihrem auch strafrechtlich geschützten Vermögen zu rechnen wäre. Daraus ergibt sich, daß sie um diese ihre Vermögensgegenstände durch einen täuschenden „Freier", der sie überhaupt nicht oder mit Falschgeld bezahlen will,33 i.S. des § 263 StGB betrogen werden kann, während dieser faule Kunde bisher straflos ausging.34 Ändern würde sich auch die Straf-Rechtsprechung bei „Telefonsex" mit zahlungsunwilligen Kunden; ihnen droht eine Strafbarkeit wegen Betruges, während sie bisher straffrei ausgingen, weil der „Anspruch" auf das vereinbarte Entgelt nicht zum durch Betrug geschützten Vermögen der Anbieterin
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Allgemein zur „Wandelbarkeit der guten Sitten" Mayer-Maly (Fn 26) § 138 Rn 17 Vgl Beschlußempfehlung und Bericht des Familienausschusses des Bundestages BT-Dr 14/7174 v. 17.10.2001, S. 1. 30 Das Prostituiertengesetz mit dem hier zitierten § 1 Satz 1 ist inzwischen verabschiedet worden und am 1.1.2002 in Kraft getreten (BGBl. 2001, S. 3983). 31 Vgl zu den verschiedenen strafrechtlichen Vermögenslehren bzw. -begriffen Lackner/ Kühl (Fn 4) § 263 Rn 33 m w N . 32 Vgl BGH NStZ 1987; 407; anders noch BGHSt 2, 364. 33 Zu den verschiedenen Fallkonstellationen beim sog. „Prellen der Dirne" vgl Kühl JuS 1989, 505 ff. 34 Eine Änderung der Rechtsprechung in diesen Fällen prognostiziert schon Wessels/Hillenkamp Strafrecht BT 2, 24. Aufl 2001, Rn 534. 29
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gehörte. 35 Natürlich müßte sich auch die zivilrechtliche Bewertung des „Telefonsex" ändern, wenn - was am 1.1.2002 geschehen ist - das Prostituiertengesetz in Kraft träte; - das hat der Bundesgerichtshof in Zivilsachen auch schon in Aussicht gestellt. 36 - Damit wären wir wieder beim Zivilrecht und speziell bei § 138 BGB. Das zweite Bedenken gegen § 138 BGB richtet sich gegen dessen konkrete Anwendung in Fällen, in denen der Verstoß gegen die guten Sitten objektiv nicht eindeutig ist, sich aber daraus ergeben soll, daß eine besonders verwerfliche Gesinnung bei einem an dem Rechtsgeschäft Beteiligten vorliegt. 37 Gegenüber solchen Ansätzen auch in der Rechtsprechung 38 wäre an die Innerlichkeitsgrenze des Rechts zu erinnern, die es verbietet, die Gesinnung als inneres Phänomen zum Gegenstand einer rechtlichen (Nichtigkeits-)Bewertung zu machen. Zurück zum Strafrecht: Auch das Strafgesetzbuch kommt nicht ohne einen Verweis auf die „Sitten" aus. Nach § 228 StGB handelt derjenige, der „eine Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person vornimmt, ... nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt." Es geht nach dem insoweit klaren Wortlaut der Vorschrift nicht um eine sittenwidrige Einwilligung in eine Körperverletzung (z.B. gegen Entgelt), sondern darum, daß die Körperverletzungstat trotz der Einwilligung nicht sittenwidrig sein darf. 39 Maßgeblich ist auch hier - wie schon im Zivilrecht bei § 138 BGB - das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden. 4 0 Das liefert einen ersten Ansatzpunkt für die Kritik. Das Strafrecht wird durch die Bezugnahme auf die guten Sitten nicht klarer; was bei Strafe verboten ist, wird nicht vorhersehbarer. Im Gegenteil: durch diese Inbezugnahme wird die gerade im Strafrecht erforderliche gesetzliche Bestimmung der Strafbarkeit verfehlt, weshalb die Vorschrift auch wegen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG für verfassungswidrig gehalten 41 und ihre Streichung gefordert wird. 42 Solange die Vorschrift allerdings nicht gestrichen ist, müssen die Strafgerichte bei Körperverletzung mit Einwilligung des Verletzten prüfen, ob diese Tat gegen die guten Sitten verstößt. Bisherige Anwendungsfälle waren 35
Vgl Wessels/Hillenkamp aaO mit Nachweisen aus der Rechtsprechung in Strafsachen. BGH NJW 2002, 361. 37 Vgl näher Kühl in: Jung/Müller-Dietz (Hrsg.), Recht und Moral, 1991, S. 139, 151 f. 38 Vgl RGZ 105, 1, 5; BGH WM 1976, 181, 182. - Näher dazu Mayer-Maly (Fn 26) § 138 Rn 111-113. - Gegen das Erfordernis der Verwirklichung eines „subjektiven Tatbestandes" bei der Sittenwidrigkeit Sack (Fn 26) § 138 Rn 21: auch der objektive Verstoß gegen Normen einer (von der autonomen zu unterscheidenden) heteronomen Moral reiche. 39 Vgl Lackner/Kühl (Fn 4) § 228 Rn 10. Vgl Lackner/Kübl aaO. 41 So nachdrücklich Sternberg-Lieben Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 136, 162. « Vgl Freund ZStW 109 (1997) 455, 473. 36
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die Bestimmungsmensur und sado-masochistische Handlungen. 43 Als aktueller Anwendungsfall wird die Anwendung gesundheitsschädigender Dopingmittel mit Einwilligung des gedopten Sportlers diskutiert. Besonders umstritten ist dabei, ob die (sport-)ethische Mißbilligung des die Chancengleichheit torpedierenden Dopings die Körperverletzung (z.B. den Leberschaden) sittenwidrig macht. 44 Dafür könnte die Neubewertung des Dopings durch das Arzneimittelgesetz von Bedeutung sein, denn nach §§ 6a, 95 Abs. 1 Nr. 2a, Abs. 3 Nr. 4 AMG sind bestimmte Formen des Dopings z.B. für Ärzte und Trainer (nicht für den Sportler!) strafbar.45 Auch dies könnte wieder als Zurückeroberung eines Lebensbereiches verstanden werden, den das Recht bisher der Moral zur (unsicheren) Entscheidung überlassen hatte. Fehlt freilich eine solche Rechtsnorm, an der sich die guten Sitten orientieren können, so hilft nur eine restriktive Auslegung von § 228 StGB,46 um nicht zweifelhaften Moral Vorstellungen zu strafrechtlicher Wirkung zu verhelfen. Die rechtsphilosophische Dimension des Themas Recht und Moral wird in einer neuen Dimension erreicht, wenn man die Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut so deutet, daß die Sittenwidrigkeit und damit die Rechtswidrigkeit i.S. des § 228 StGB dann anzunehmen ist, wenn die Einwilligung in die Körperverletzung nicht mehr als Ausdruck der autonomen Willensentscheidung eines Vernünftigen verstanden werden kann 47 oder ihr ein Mindestmaß an inhaltlicher Vernünftigkeit fehlt.48 Gegenüber solchen Versuchen, den einzelnen durch eine staatliche Strafvorschrift vor sich selber zu schützen, ist zumindest in einem Rechtssystem, das auf der Freiheit des einzelnen aufbaut, Vorsicht angebracht.49 Auch eine unvernünftige Entscheidung kann Ausdruck eines freien Willensentschlusses sein. Bei offensichtlichem und eindeutigem Verfehlen der eigenen Körper-Interessen scheinen diese Ansätze aber zumindest diskutabel. 50 Diese Diskussion würde aber den hier vorgegebenen Rahmen des Themas Recht und Moral überschreiten. Es muß deshalb hier abschließend nur noch festgehalten werden, daß sich das Recht mit seinen Verbindungen zur Moral schwer tut, wenn diese in 43 Dazu und zu weiteren Anwendungsfällen mit Nachweisen Lackner/Kühl (Fn 4) § 228 Rn 10. Eingehende Darstellung der praktischen Bedeutung der Vorschrift bei Hirsch Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl (Stand: 15. 12. 2000), § 228 Rn 12-50. 44 Näher dazu Kühl in Vieweg (Hrsg.), Doping, 1998, S. Π, 82. 45 Vgl näher Heger SpuRt 2001, 92. 46 So Niedermair Körperverletzung mit Einwilligung und die Guten Sitten, 1999, Vorwort. 47 So Frisch in FS Hirsch, 1999, S. 485, 498. 48 So Köhler (Fn 16) S. 255. 49 Kritisch Hirsch in: BGH-FG, Bd. IV, 2000, S. 199, 219; Rennau Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001, S. 167f; Mosbacher Strafrecht und Selbstschädigung, 2001, S. 180. 50 Vgl Stratenwerth Strafrecht AT I, 4. Aufl 2000, § 3 Rn 17.
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Verweisungen auf das Sittengesetz oder die guten Sitten bestehen. Auf das Sittengesetz und die guten Sitten ist eben kein Verlaß, gerade das aber verlangt das strikte Recht in Form der Bestimmtheit durch das Gesetz. In Bereichen, in denen es um die wechselseitige Bestimmung der Grenzen der äußeren Freiheit geht, sollte der staatliche Gesetzgeber die Entscheidung über die Grenzziehung nicht der Moral oder den „Sitten" überlassen, sondern autonom selbst entscheiden, und zwar durch allgemeine Gesetze, die die gegenläufigen Freiheitsausübungen zum Ausgleich bringen. Dabei verläßt sich der Gesetzgeber nicht mehr auf das Sittengesetz oder die guten Sitten, sondern er folgt den Prinzipien einer freiheitlichen Rechtsphilosophie.
„Was ist Recht?" oder Jurist und Philosoph - sprachlos ? BURKHARD
TUSCHLING
„ Was ist Recht f - diese Frage bringt den Juristen nach Kant1 prinzipiell in dieselben fundamentalen Schwierigkeiten wie die Frage „Was ist Wahrheitf den Logiker. Denn, so Kant, der Jurist weiß zwar, was an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit das Gesetz sagt und als Recht gilt. Aber das allgemeine Kriterium der Unterscheidung von Recht und Unrecht / ins und inwria, recht und unrecht / iustum et iniustum ist ihm unbekannt. Deshalb kann er auch nicht sagen, ob das, was die Gesetze, das geltende Recht, die Gerichte bestimmen, recht [ = iustum] - gerechtes Recht also - ist. Kann es der Philosoph? Es ist diese Frage in der von Kant aufgeworfenen Form, die in den beinahe zwei Jahrzehnten, in denen der Verfasser mit Dieter Meurer gemeinsam Seminare zur Philosophie, Theorie und Praxis des Rechts veranstaltete, im Zentrum gestanden hat und von Dieter Meurer voller Humor und schmunzelnd den Studenten der Rechtswissenschaften immer wieder gestellt worden ist. Dabei waren sich Meurer und der Verfasser darin einig, daß die Philosophen damit zwar eine (wenn nicht: die) Grundfrage an das Recht, die Rechtswissenschaften, die Justiz und den Juristen gestellt, sie aber nicht - jedenfalls nicht schlüssig und allgemeingültig - beantwortet haben. Die Frage erneuert sich also immer wieder, u. a. auch so: Wenn der Jurist nicht weiß, was an allen Orten zu allen Zeiten Recht und damit recht ist, weiß es der Philosoph? Ja, sagen die einen.2 Heraklit,3 Piaton, Aristoteles und die Stoiker 5 sagten 1 Kant Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Einleitung, § B, in: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften [Akademie-Ausgabe], Bd. 6, S. 229f. 2 Die nachfolgende Skizzierung der Positionen der Naturrechtler und der sie vernichtenden Kritik des Karneades folgt zunächst einmal der Exposition des Naturrechts durch Cicero, insbesondere in de legibus I, und der ebenfalls ursprünglich durch Cicero in de re publica III referierten Kritik des Naturrechts durch Karneades, die wir der Uberlieferung, insbesondere Laktanz, zu verdanken haben. 3 Diels-Kranz Fragmente der Vorsokratiker, fr. 114. 4 Diese „Advokaten der Gerechtigkeit", die zu widerlegen Kameades (um 150 v. Chr.), Skeptiker und Leiter der Akademie, der Schule Piatons, angetreten ist: Cameades autem ut Aristotelen refelleret ac Platonem iustitiae patronos, prima ilia disputatione collegit ea omnia quae pro iustitia dicebantur, ut posset ilia, sicut fecit, evertere." (Cicero, de re publica III 9, aus: Lact. inst. 5,14,3-5). 5 Deren Lehre Cicero in den hier gelegentlich referierten Schriften weitgehend folgt.
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schon in der Antike: Recht wird durch die Natur konstituiert, nicht durch die Meinung und Konvention v o n Menschen. Wir Menschen sind v o n Geburt an - v o n der Natur also - dazu bestimmt, gerecht z u sein, 6 das Recht zu kennen und, unserer Einsicht, der Vernunft gemäß, in Übereinstimmung mit der Natur z u leben, recht zu handeln. 7 Ihrem Gesetz - dem höchsten (göttlichen 8 ), der Natur immanenten 9 Gesetz, dem Λογος oder Νους,10 der Vernunft, 11 - folgend gewähren wir jedem, was ihm gebührt 12 oder zu-
6 Nos ad iustitiam esse natos, necque opinione, sed natura constitutum esse ius. (Cicero, de legibus 128). 7 το ομολογουμένως τηι φύσει ζην, οπερ εστι κατ' αρετην ζην - „in Übereinstimmung mit der Natur zu leben, das ist tugendhaft leben": so lautet die Formel für das Telos, das höchste Gut der Stoiker (Diogenes Laertius VII 87) vgl auch das folgende: iΧρύσιππος] Του λογικού (φησι) ζωιον φνσιν έχοντος προσχρησθαι εις έκαστα τωι λογωι και νπο τούτον κυβερνασθαι ... [das mit dem Logos, d.i. der Vernunft, begabte Lebewesen, bedient sich auf alles bezogen seiner Vernunft und wird von ihr geleitet] (Stoicorum Veterum Fragmenta, collegit Ioannes ab Arnim, Lepzig 1964 [im folgenden kurz: SVF] III 95, Zeile 11 ff) oder auch: ο λογικον ζωιον ακολουθητικον φνσει εστι τω λογωι, και κατα τον λογον ως αν ηγημονα πρακτικον. [das mit dem Logos, d.i. der Vernunft, begabte Lebewesen folgt der Vernunft von Natur aus und handelt ihr als Führerin folgend] (SVF III 113 Zeile 21 ff). 8 So schon Heraklit fr. 114 [s. übernächste Fn], ihm folgend dann Xenon, Kleanthes und Chrysipp, die Gründer der Stoa. 9 lex, ratio summa, insita in natura (Cicero, de legibus I 18) ./. das Gesetz, die höchste Vernunft, der Natur immanent. 10 Heraklit fr. 114: ξυν νοωι λέγοντας ισχυριζεσθαι χρη τωι ξυνωι πάντων [Wer mit Vernunft spricht, muss sich stark machen durch das, was allem gemeinsam ist (das griechische Wortspiel - ξυν νοωι = mit Vernunft, versus τωι ξυνωι πάντων = allem gemeinsam, allgemein - lässt sich in der Ubersetzung nicht reproduzieren; der Grundgedanke aber ist: νους, Vernunft, ist in allem, allem immanent, gemeinsam, allgemein)], οκωσπερ νομωι πολις και πολυ ισχυροτερως τρέφονται γαρ πάντες οι ανθρώπειοι νομοί υπο ενος του θειου [wie die Polis sich durch das Gesetz stark macht, und noch viel stärker. Denn alle menschlichen Gesetze nähren sich von dem Einen, dem göttlichen], κρατεί γαρ τοσούτον οκοσον εθελει και εξαρκει πασι και περιγινεται. [Denn dieses herrscht, worüber und so weit es nur will, reicht hin für alle und alles und sogar noch darüber hinaus.]. 11 [lex est ratio summa insita in natura] quae iubet ea, quae facienda sunt, prohibetque contraria. eadem ratio cum est in hominis mente confirmata et confecta, lex est. itaque arbitrantur prudentiam esse legem, cuius ea vis sit ut recte facere iubeat, vetetque delinquere. (Cicero, de legibus I 18/19) [das Gesetz ist die höchste Vernunft, die der Natur immanent ist. Sie gebietet, was getan werden muß, und verbietet das Gegenteil. Wenn eben dieselbe Vernunft sich im Geist des Menschen bestätigt und vervollkommnet, ist sie Gesetz. Also glauben sie [sc. die doctissimi viri, die weisesten Menschen; das sind für Cicero in diesem Zusammenhang vor allem die Stoiker], Einsicht sei das Gesetz, deren Macht es sei, das Rechthandeln zu gebieten, Delikte aber zu verbieten.]. 12 tribuere id cuique quod sit quoque dignum: dies zu tun, heißt gerecht sein und ist das, was Sache des boni viri et iusti, des guten und gerechten Menschen ist (Cicero, de re publica III 18).
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steht.13 Was recht ist, was wir zu tun und zu lassen haben, gebietet uns die Eine, die rechte Vernunft, die recta ratio oder ορθος λογος, eben deshalb zugleich κοινοςνομος, das höchste Gesetz des Universums, ist:14 „Quid est non dicam in homine, sed in omni caelo atque terra ratione divinius? ... est igitur ... prima homini cum deo rationis societas; inter quos autem ratio, inter eosdem etiam recta ratio communis est; quae cum sit lex, lege quoque consociati homines cum dis putandi sumus. inter quos porro est communio legis, inter eos communio iuris est; quibus autem haec sunt inter eos communia, et civitatis eiusdem habendi sunt... ut iam universus hie mundus sit una civitas communis deorum atque hominum existimanda. / Was ist - ich will nicht sagen im Menschen, sondern unter jedem Himmel, auf jeder Erde - göttlicher als die Vernunft? ... Es gibt also für den Menschen eine ursprüngliche Gemeinschaft der Vernunft mit Gott. Diejenigen, denen die Vernunft gemein ist, ist auch die rechte Vernunft gemeinsam. Da diese das Gesetz ist, müssen wir Menschen auch als durch das Gesetz mit den Göttern verbunden gedacht werden. Diejenigen, zwischen denen eine Gemeinschaft des Gesetzes besteht, zwischen denen besteht auch eine Rechtsgemeinschaft. Diejenigen, denen diese gemein sind, gelten als Mitglieder desselben Staats. ... so daß dieses Universum als ein Göttern und Menschen gemeinsamer Staat zu begreifen ist."15 13 Dieses Gebot ist das „suum cuique tribuere", das nach Ciceros Verständnis die Essenz der Bedeutung von ν ο μ ο ς , des griechischen Wortes für Gesetz, ist, während im lateinischen Terminus lex stärker die Auslese-Funktion von Recht und Gesetz unterstrichen werde: vgl dazu de legibus 119, direkt im Anschluß an die in der vorletzten Fußnote zitierte Passage. Nach Iustinian [bzw. Ulpian], Institutions I 3 gehört das „suum cuique tribuere" zu den drei obersten Rechtspflichten: "Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere". Kant anerkennt diese drei ebenfalls als oberste Rechtspflichten, reproduziert sie sogar wörtlich, gibt ihnen jedoch - und dies gilt insbesondere für das „suum cuique tribuere" eine absolut moderne Interpretation und Wendung: vgl Kant Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, Gesammelte Schriften [Akademie-Ausgabe], Bd. 6, S. 236f. 14 Vgl dazu erneut die oben zitierten Formeln aus de legibus I 18: lex, ratio summa, insita in natura quae iubet ea, quae facienda sunt, prohibetque contraria; den θειος ν ο μ ο ς in dem oben zitierten Heraklit-Fragment 114, von dem alle menschlichen Gesetze ihre ,Nahrung', d. h. ihre Kraft und Geltung beziehen; vgl schließlich den im folgenden Absatz zitierten locus classicus der civitas Dei/deorum des Naturrechts und der Vernunft. 15 Cicero de legibus I 22f. Cicero reproduziert hier - wie wir aus SVF I 162 wissen: ganz bewußt - die stoische Lehre; in de natura deorum I 36 nennt er selbst ausdrücklich Xenon, den Gründer der Stoa, als Urheber dieses Begriffs des universalen, göttlichen Gesetzes. Wie stark Ciceros Begriffe von Vernunft, Gesetz und Recht durch die Stoiker geprägt sind, lehrt ein Blick in die folgende kurze Passage aus Diogenes Laertios VII 88: ο ν ο μ ο ς ο κοινος, ο σ π ε ρ εστίν ο ορθος λογος, δια π ά ν τ ω ν ερχομενος, ο α υ τ ό ς ων τωι Διι, κ α θ η γ η μ ο ν ι τ ο υ τ ω ι της τ ω ν ό ν τ ω ν διοικησεωςν οντι / das allem gemeinsame Gesetz, das heißt die rechte Vernunft, die alle Dinge durchdringt und mit Zeus identisch ist, dem Herrn der Konstitution all dessen, was ist.
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Recht ist also von Natur. Sie gebietet uns durch ihr Gesetz, das G e s e t z des U n i v e r s u m s , das zugleich in uns selbst ist: durch die Vernunft. Nein,
sagen die anderen, die Positivisten des Rechts unter den Juristen
und die Skeptiker unter den Philosophen: R e c h t ist nicht von N a t u r und nicht allgemein, nicht überall - an allen O r t e n , zu allen Zeiten, bei allen V ö l kern - dasselbe. E s gibt nur v o n Menschen geschaffenes Recht. 1 6 U n d weil die Menschen nicht v o n N a t u r aus „Jedem das Seine" gewähren, sondern, im Gegenteil: von N a t u r aus allein nach d e m streben, was für sie selbst nützlich ist, nicht nach d e m , was für den anderen gut ist, ist auch das Recht, das G e setz, 1 7 allein zur Mehrung des eigenen Vorteils geschaffen worden. 1 8 Die Menschen haben kein O r g a n , keinen Sinn, kein Empfinden o d e r Gefühl für das Rechte wie für w a r m u n d kalt, bitter und süß. D e n n hätten sie es, wären recht und unrecht für alle dasselbe. 1 9 Tatsächlich aber halten Athener, Spartaner, Kreter, Perser, Ägypter, R ö m e r nicht dasselbe für gut und gerecht bzw. für ungerecht und schlecht: 2 0 was den einen als schlecht, als Vergehen
Unter anderem belegt diese Passage auch, wie weit noch ins 18. und 19. Jahrhundert hinein diese Tradition die Konzeption des allgemeinen Willens als eines universalen und kosmopolitischen Willens [Kant\ oder als des Einen universalen göttlichen Rechtswillens, der sich allein durch den Willen des Menschen, seine Freiheit, verwirklicht [Heget\ geprägt hat. 16 Ius enim de quo quaenmus civile est aliquod, naturale nullum, nam si esset, ut calida et frigida et amara et dulcia, sie essent iusta et iniusta eadem omnibus. (Cicero, de re publica III 13) [das Recht, wonach wir fragen, existiert als staatlich gesetztes; natürliches Recht existiert nicht. Denn wenn es existieren würde, dann wäre, was recht und unrecht ist, für alle dasselbe wie Warmes und Kaltes, Bitteres und Süßes auch.]. 17 Das lateinische ius/iura ist zweideutig genug, um als „Recht" oder als „Gesetz" begriffen zu werden, ebenso das deutsche „Recht", das französische droit - und dies, obwohl in allen drei Sprachen zwei verschiedene termini dafür zur Verfügung stehen. Im Englischen dagegen ist Right immer nur subjektives Recht, niemals Gesetz, weshalb die Angelsachsen weder „Recht" noch „Ius", sondern „Law" studieren und lehren. Eine besonders einprägsame Unterscheidung von „Recht" und „Gesetz" gibt Hobbes Leviathan, ch. 14,3. 18 „iura sibi homines pro Militate sanxisse, scilicet varia pro moribus, et apud eosdem pro temporibus saepe mutata, ius autem naturale esse nullum·, omnes et homines et alias animantes ad utilitates suas natura ducente ferri ... (Cicero, de re publica III 21, aus der „summa" der alles zermalmenden Naturrechtskritik des Karneades) [Rechte hätten sich die Menschen ihres Vorteils wegen geschaffen, höchst verschiedene ihren Sitten und Verhältnissen entsprechend, und selbst bei ein und denselben Menschen oft verändert. Natürliches Recht gebe es nicht; von der Natur geleitet strebten die Menschen wie alle anderen Lebewesen nach den ihnen nützlichen Dingen ...]. 19 Vgl erneut de re publica III 13 /nam si esset, ut calida et frigida et amara et dulcia, sie essent iusta et iniusta eadem omnibus], die in Fn 16 zitierte und übersetzte Passage. 20 Vitae vero instituta sic distant, ut Gretes et Aetoli latrocinari honestum putent, Lacedaemonii suos omnes agros esse dictitarint quos spiculo possent attingere. Athenienses iurare etiam publice solebant omnem suam esse terram quae oleam frugesve ferret; Galli turpe esse dueunt frumentum manu quaerere, itaque armati alienos agros demetunt; /S 1 6 nos vero iustissimi homines, qui Transalpinas gentis oleam et vitem serere non simus, quo pluris sint nostra oliveta nostraeque vineae; quod cum faciamus, prudenter facere dieimur\ iuste non dieimur, ut intelligatis discrepare ab aequitate sapientiam. (Cie. rep. III 14-16)
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oder Verbrechen gilt, gilt den anderen als gut, recht, gerecht, ehrenvoll und erstrebenswert. 21 Recht und Unrecht - d.h. ius versus iniuna und iustum versus iniustum sind aber nicht nur bei verschiedenen Menschen und Völkern verschieden und gegensätzlich bestimmt. Auch bei ein und demselben Volk ist ein und dasselbe bald recht, bald unrecht, bald Recht, bald Unrecht, i.e. Verbrechen oder Delikt. Auch stimmt es nicht, daß Menschen dazu geboren, also von der Natur dazu bestimmt sind, gerecht zu sein22 dem anderen das Seine zu lassen. Von Natur aus tun sie das Gegenteil, streben nur nach dem eigenen Vorteil, nicht nach dem des anderen. Das wäre ja auch dumm, nicht vernünftig. Gerecht zu sein, dem anderen das Seine zu lassen, ihm zu nützen, sich selbst damit zu schaden, ist nicht vernünftig, Gerechtigkeit - wenn es sie denn gibt - ist Torheit. Die Römer z.B., die die ganze Welt unterworfen hätten, müßten, um andern das Ihre wiederzugeben, ihre Eroberungen aufgeben, nach Hause gehen, arm und elend leben.23 Die Vernunft gebietet des/ Die Institutionen des Lebens divergieren so stark, daß die Kreter und Atolier Raub für ehrenhaft halten; die Lakedämonier behauptet haben, alle Acker, die sie mit ihrem Speer erreichen könnten, seien ihre; die Athener öffentlich zu beschwören gewohnt waren, alles Land gehöre ihnen, das Oliven und Getreide trage; die Gallier es für Schande halten, Getreide mit der Hand zu erwerben; daher mähen sie bewaffnet fremde Äcker ab. 21 Vgl dazu die Bewertung der Zerstörung der Heiligtümer Griechenlands durch Xerxes und die daraus abgeleitete Begründung der Vernichtung Persiens durch Alexander d.Gr. bei Cicero, rep. III 14 f: dtinde Graeciae sicut apud nos delubra magnifica humanis consecrata simulacris, quae Persae nefaria putaverunt, eamque unam ob causam Xerxes inflammari Atheniensium fana iussisse dicitur, quod deos, quorum domus esset omnis hic mundus, inclusos perietibus contineri nefas esse duceret. post autem cum Persis et Philippus, qui cogitavit, et Alexander qui gessit, hanc bellindi causam inferebat, quod vellet Graeciae fana poenire; quae ne reficienda quidem Grai putaverunt, ut esset posteris ante os documentum Persarum sceleris sempiternum. ... ./. Ferner sind in Griechenland und bei uns großartige Heiligtümer menschlichen Bildnissen geweiht, was die Perser für gotteslästerlich gehalten haben. Aus eben diesem Grund hatte Xerxes befohlen, die Tempel Athens in Brand zu setzen, weil er glaubte, es sei ruchlos, Götter, deren Heim der ganze Kosmos sei, durch Wände einzuschließen. Danach aber führten Philipp, der den Krieg plante, und Alexander, der ihn führte, dies als Krtiegsgrund an: er wolle die Heiligtümer Griechenlands rächen, die die Griechen nicht einmel wiederherstellen wollten, damit auch den Nachkommen dies als ewiges Dokument des Verbrechens der Perser vor Augen wäre ... 22 Wie Cicero, den Stoikern folgend, u.a. in de legibus I 28 behauptet: Nos ad iustitiam esse natos, necque opinione, sed natura constitutum esse ius. 23 Carneades ergo, quoniam erant infirma quae a philosophis adserebantur, sumpsit audaciam refellere, quia refelli posse intellexit. eius disputationia summa haec fuit: iura sibi homines pro Militate sanxisse, scilicet varia pro moribus, et apud eosdem pro temporibus saepe mutata, ius autem naturale esse nullum·, omnes et homines et alias animantes ad utilitates suas natura ducente ferri; proinde aut nullam esse iustitiam, aut si sit aliqua, sumtnam esse stultitiam, quoniam sibi noceret alienis commodis consulens. et inferebat haec argumenta: omnibus populis qui florerent imperio, et Romanis quoque ipsis qui totius orbis potirentur, si iusti velint esse, hoc est si aliena restituant, ad casa esse redeundum et in egestate acmiseriis iacendum." [Cie. rep. III 21 = Lact. Inst. 5,16.2-4]
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halb auch nicht Gerechtigkeit, nicht das Suum
cuique
tribuere,
nicht den
Altruismus. Sie gebietet im Gegenteil nur, wie die N a t u r selbst auch, den eigenen Vorteil zu suchen. Deshalb ist der E n d z w e c k des Rechts auch nicht die Gerechtigkeit, nicht das „Suum cuique tribuere", sondern der eigene Vorteil. Diese A r g u m e n t e „waren so scharfsinnig-treffend und giftig, daß auch M.
Tullius
[sc. der Jurist und Philosoph
k o n n t e " . 2 4 M u ß also die Kantische tet werden, e t w a s o : Recht
Cicero]
sie nicht
widerlegen
Frage „ Was ist Recht?" negativ beantwor-
und Gerechtigkeit
gibt es nicht? J a , m u ß sie viel-
leicht unbeantwortet bleiben, weil sie unbeantwortbar ist? Weil es, anders gesagt, das allgemeine Recht, das Gesetz, gültig an allen O r t e n , zu allen Zeiten, für alles und alle überhaupt, nicht gibt, ja, nicht geben kann? N e h m e n wir also - so ein anderer Philosoph, m e h r als eineinhalbtausend Jahre nach Karneades
- Deinen Prämissen folgend an, daß die Menschen in
der Tat v o n N a t u r aus nur nach d e m streben, was ihnen selbst nützt oder, n o c h genauer: was sie für gut halten, w o v o n sie glauben, daß es ihrem Vor-
/ Kameades also erkühnte sich, da ja schwach war, was die Philosophen vorbrachten, zu widerlegen, weil er durchschaut hatte, daß widerlegt werden könne. Das Folgende war die Summe seiner Disputation: Recht[e] hätten sich die Menschen ihres Vorteils wegen geschaffen, höchst verschiedene ihren Sitten und Verhältnissen entsprechend, und selbst bei ein und denselben Menschen oft verändert. Natürliches Recht gebe es nicht; von der Natur geleitet strebten die Menschen wie alle anderen Lebewesen nach dem ihnen Nützlichen; übrigens gebe es Gerechtigkeit entweder überhaupt nicht oder aber, wenn es sie gebe, sei sie die größte Dummheit, weil doch derjenige, der für den Vorteil anderer sorge, sich selbst schade. Und er brachte u. a. noch folgende Argumente vor: alle Völker, die dank ihrer Herrschaft in Blüte stünden, und ebenso auch die Römer selbst, die sich die Herrschaft über den ganzen Erdkreis verschafften, müßten, wenn sie gerecht sein wollten - d.h. wenn sie Fremdes zurückgeben würden - , nach Hause gehen und in Armut und Elend daliegen. 24 Ita ergo cum iustitiam cum in duas partes divisisset [sc. Cameades], alteram civilem esse dicens, alteram naturalem, utramque subvertit, quod illa civilis sapientia sit quidem, sed iustitia non sit, naturalis autem ilia iustitia sit quidem, sed non sit sapientia. arguta haecplane ac venenata sunt, et quae Μ. Tullius non potuerit refellere; nam cum faciat Laelium Furio respondentem pro iustitiaque dicentem, inrefutata haec tamquam foveam praetergressus est, ut videatur idem Laelius non naturalem, quae in crimen stultitiae venerat, sed illam civilem defendisse iustitiam, quam Furius sapientiam quidem esse concesserat, sed iniustam." (ebd. §31= Lact, inst.5, 16,5-13) ./. „Da er die Gerechtigkeit so in zwei Teile geteilt hatte, indem er erklärte, die eine sei Gerechtigkeit gemäß dem positiven Recht, die andere gemäß dem Naturrecht, hat er beide untergraben, weil jene aus dem positiven Recht resultierende zwar Weisheit, aber nicht Gerechtigkeit, jene natürliche zwar Gerechtigkeit, aber nicht Weisheit sei. Diese Argumente waren so scharfsinnig-treffend und giftig, daß auch M. Tullius sie nicht widerlegen konnte Denn obwohl er Laelius dem Furius antworten und für die Gerechtigkeit reden läßt, hat er diesen Argumente unwiderlegt stehen gelassen und ist an ihnen wie an einer Fallgrube vorbeigegangen, so daß eben dieser Laelius nicht die natürliche Gerechtigkeit, die der Dummheit bezichtigt worden war, sondern jene positive Gerechtigkeit verteidigt zu haben scheint, von der Furius zwar zugestanden hatte, daß sie Weisheit sei, aber ungerecht."
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teil dient, kurz: für sie selbst gut ist. 25 Und nehmen wir dies, so Thomas Hobbes, in aller Radikalität und Allgemeinheit an, d. h. daß ausnahmslos alle Menschen durch nichts gehindert werden, daß also jeder die Freiheit hat, so zu handeln.26 Was ist die Konsequenz? Das Streben nach dem eigenen Vorteil, als einziger Bewegungsgrund des Handelns aller angenommen, ist kontraproduktiv, es hebt sich auf. Denn alle wollen nicht nur dasselbe, sie haben auch - von Natur aus - das Recht dazu. Alle sind frei, so zu handeln, und sie sind auch gleich: jeder einzelne ist frei, nur dem eigenen Urteil folgend alles zu tun oder zu lassen, alles zu haben und nur nach dem zu streben, was ihm selbst, ganz allein, gut dünkt: omnia, habere &facere in statu naturae omnibus licere.27 Einziger Maßstab oder Kriterium des Rechts ist der Nutzen. 28 Ergebnis: alles ist recht, nichts unrecht.29 Jeder will das, was der andere auch will; Anspruch steht gegen Anspruch. Dieses Recht auf alles / ius in omnia ist also vollkommen unnütz. Denn jeder sagt mit vollem Recht: Das ist Mein. Aber das nützt ihm nichts. Das heißt: er kann dieses Recht nicht nutzen. Denn sein Nachbar sagt mit demselben vollen Recht und demselben Gewicht, eben dasselbe sei sein. Aber auch er kann dieses Recht nicht nutzen. 30 Recht steht also gegen Recht; das Recht ist antinomisch und bestimmt nichts. Deshalb entscheidet allein die Gewalt. Dieser Zustand des ius in omnia oder des omnia habere & facere, der Antinomie des Recht gegen Recht ist Krieg, und zwar der Krieg aller gegen alle:
25 Fertur ... unusquisque ad appetitionem eius quod sibi Bonum, & ad Fugam eius quod sibi malum est: jeder strebt nach dem, was für ihn gut ist, und vermeidet, was für ihn schlecht ist [Thomas Hobbes, De cive 1.7]. 2 6 Libertas quam quisque habet facultatibus naturalibus secundum rectam rationem utendi: jeder besitzt diese Freiheit - von seinen natürlichen Fähigkeiten den Gebrauch zu machen, der der rechten Vernunft, d.i. seiner eigenen, entspricht. Und diese Freiheit ist Recht - das Recht, sich selbst mit allen dafür geeigneten Mitteln zu erhalten. [Hobbes, De cive 1.7.; vgl auch die folgenden §§ 8-10 und 11-15], 27 Dies ist das sog. ius in omnia, Recht auf alles·, de cive 1.10: Iure naturali omnia esse omnium [kraft des natürlichen Rechts gehört allen alles.]. 28 Der Naturzustand in der Konzeption von Hobbes ist also genau das, was Kameades durch das iura sibi homines pro Militate sanxisse ausgedrückt und als das alles Handeln bestimmte Prinzip, damit als Grund des Rechts behauptet hatte. Hobbes bringt dies auf die theoretisch pointierte Formel: in statu naturae Mensuram iuris esse Utilitatem (De cive 1.10) / im Naturzustand ist der Nutzen der Maßstab des Rechts, und zeigt unmittelbar anschließend, daß sich dieser Maßstab selbst aufhebt, so daß die utilitas nicht Grund, d.h. Bestimmungsgrund und Quelle, des Rechts, daher auch nicht oberster Maßstab oder Kriterium sein kann. 2 9 Zu dieser prima - & secunda - vista paradoxen Konsequenz vgl insbesondere die weiter unten zitierte Kontraktion des Argunents durch Hobbes selbst in: De cive 1.10., annotatio. 30 De cive 1.11.
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... si addas iam ius omnium in omnia, quo alter iure invadit, alter iure resistit... negari non potest quin status hominum naturalis antequam in societatem coiretur Bellum fuerit; neque hoc simpliciter, sed bellum omnium
in omnes. I . . . fügt man das Recht auf alles, mit dem der eine rechtmäßig angreift, der andere mit Recht widersteht, hinzu ... dann kann man nicht leugnen, daß der natürliche Status der Menschen, bevor man sich zu einer Gesellschaft vereinigte, Krieg war; aber nicht einfach nur so, sondern Krieg aller
gegen alle.11 Der eigene Nutzen, zum einzigen Prinzip und τέλος allen Handelns, zum absoluten Recht erhoben, ist also der Krieg, verstanden als derjenige Zustand des Konflikts unter Menschen, in dem allein die Gewalt entscheidet. Weil nun, nach Voraussetzung, alle dieselbe Freiheit, dasselbe Recht uneingeschränkt und absolut besitzen, ist dieser Zustand auch nicht ein einfacher Fall von Gewaltanwendung. Ja, die Gewalt braucht gar nicht akut zu werden. Denn latent, virtuell ist sie immer da, allgegenwärtig und alldurchdringend.32 Daß die Gewalt virtuell ist, bedeutet nicht, daß sie bloße Möglichkeit oder Fiktion ist. Im Gegenteil: gerade in ihrer kontinuierlichen Virtualität ist sie wirklich und wirkend - sie wirkt, gerade dank ihrer Virtualität, durchgängig. Diese Virtualität ist NB. nicht die Virtualität des Cyber Space; unter den Bedingungen des sogenannten Naturzustands bedeutet sie vielmehr: Gewalt ist in der sinnlich erfahrbaren oder empirischen Realität nicht unmittelbar präsent, aber jederzeit aktualisierbar. Gerade dank der Virtualität oder bloßen, allerdings permanenten Androhung von Gewalt ist dies ein Zustand durchgängiger Gewaltsamkeit. Es bedarf also - wie Kant den in Fn 32 zitierten Hobbesscheη Begriff des Krieges seinerseits konzipiert nicht der Erfahrung, um über diesen nicht-rechtlichen Zustand als einen Zustand bloßer Gewalt belehrt zu werden, sondern die Menschen „mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustande, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewaltthä-
De cive 1.12. Vgl dazu Hobbes Leviathan, c. 13.8: „Hereby it is manifest, that during the time men live without a common Power to keep them all in awe, they are in that condition which is called Warre; and such a warre, as is of every man against every man. For WARRE consisteth not in Battel only, or the act of fighting; but in a tract of time, wherein the Will to contend by Battel is sufficiently known: and therefore the notion of Time is to be considered in the nature of Warre; as it is in the nature of Weather ... So the nature of War; consisteth not in actuall fighting; but in the known disposition thereto, during all the time there is no assurance to the contrary. All other time is PEACE.". 31
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tigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, was ihm recht und gut dünkt.. ," 33 Virtualität ist also die Wirklichkeit dieser Idee des nichtrechtlichen Zustands, der nicht empirisch ist, dem aber Gewalt kraft seines Begriffs durchgängig eigen ist, weil sie kraft der durch diesen Begriff bestimmten Praxis von Menschen jederzeit auch erfahrbare Wirklichkeit werden kann. Dies also ist der durchgängige Krieg aller gegen alle und um alles, auf Leben und Tod. In diesem Zustand ist alles recht [iustum], alles Recht [ius], nichts unrecht [iniustum]: es gibt, so paradox es klingt, kein Unrecht [iniuria], kein Vergehen, kein Verbrechen. Das Paradoxon, noch schärfer formuliert: nichts kann unrecht sein: „To this warre of every man against every man, this is also consequent; that nothing can be unjust. The notions of Right and Wrong, Justice and Injustice have there no place. Where there is no common Power, there is no Law: where no Law, no Injustice. Force, and Fraud, are in warre the two Cardinall vertues. Justice and injustice are none of the Faculties neither of the Body, nor Mind ... It is consequent also to the same condition, that there be no Propriety, no Dominion, no Mine and Thine distinct; but only that to be every mans that he can get, and for so long, as he can keep it." 34 Es gibt also kein iustum, keine Gerechtigkeit, kein - striktes - Recht. Es gibt aber auch - und dies übersehen zu haben ist ein fundamentaler Fehler des Kameades - das utile nicht, allenfalls zufälligerweise, nicht jedoch als gesetzmäßig-systematisches Ergebnis des Handelns. Denn das Recht auf alles ist ein Recht auf - beinahe35 - nichts. Keiner erreicht seinen Zweck. Das Gute, was er für sich will, das, was ihm nützt, seinen Vorteil: der eigene Nutzen, zum einzigen und absolut-unbeschränkten Grund und Ziel des Handelns erhoben, ist absolut nutzlos, hebt sich selbst auf. Denn jeder hat das Recht auf dasselbe, keiner ist sicher, seinen Zweck - das, was für ihn selbst gut ist, nützlich ist, seinen Vorteil - zu erreichen. Was er erreicht, ist absolut zufällig: sein ist, wie zitiert, nur das, was er kriegen, und auch nur, solange er es festhalten kann. Der alles entscheidende Grund dafür: es gibt unter dieser Bedingung absoluter Freiheit als Gesetz allen Handelns kein ein für allemal bestimmtes Mein und Dein, nichts, was mir oder irgend jemand sonst allein zukommt. Deshalb ist auch das Suum cuique tribue/Lass jedem zukommen, was ihm zu33 Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Einleitung, § 44, in: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften [Akademie-Ausgabe], Bd. 6, S. 312 6 _ n . 34 Hobbes Leviathan, c. 13. 13 - Hervorhebungen nicht i.O. 3 5 Wie Hobbes, der Entdecker und erste Analytiker dieser Condition of mankind, dieses Zustands extra societatem civilem, hinzusetzt [de cive I, 11].
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steht - Gerechtigkeit also - gar nicht möglich. Denn ein Mein, Dein oder Sein, das bestimmt und verteilt werden könnte, gibt es unter der Bedingung, daß allen alles zusteht - dies und nichts anderes ist der status naturalis nicht. Dieser sogenannte Naturzustand ist eine condicio iuris,36 ein rechtlicher status oder Rechtszustand, nicht, wie etwa Locke oder nach ihm insbesondere Rousseau annimmt, ein historischer Zustand in der Entwicklung der Menschheit. Als Rechtsbegriff kann er gar nicht historisch real sein, jedenfalls nicht in der aus theoretischen Gründen angenommenen Universalität und Radikalität. In der philosophischen Theorie des Rechts ist dieser Status prima vista nichts anderes als ein gedankliches Konstrukt, „bloße" Idee, von der sich dann allerdings herausstellt, daß es eine die Wirklichkeit bestimmende, nämlich strukturierende und mit notwendigen praktischen Konsequenzen organisierende Idee ist. Deshalb sagt Hobbes auch durchaus treffend: „It may peradventure be thought, there was never such a time, nor condition of warre as this; and I believe it was never generally so, over all the world; but there are many places, where they live so now. For the savage people in America ... have no government at all; and live at this day in that brutish manner ... But though there had never been any time, wherein particular men were in a condition of warre one against another; yet in all times, Kings, and Persons of Soveraigne Authority, because of their Independency are incontinuall jealousies and in the state and posture ...of War. But because they uphold thereby, the Industry of their Subjects; there does not follow from it that misery, which accompanies the Liberty of particular men." 37 Aus dieser Passage sind die folgenden Thesen als bleibende Einsichten festzuhalten: • Der Naturzustand - als condicio iuris begriffen, unter der jedem alles zusteht; kein Eigentum existiert; nichts unrecht ist, alle alles haben und tun dürfen; nur das bloße " - that to be every mans that he can get, and for so long, as he can keep it" gilt - ist kein historischer Zustand der Menschheit, keine Vorstufe der Kultur, ja vielleicht ist er in der Beziehung einzelner Menschen zueinander überhaupt nie Realität gewesen. 36 Schon Cicero gebraucht diesen Ausdruck, wenn er rep. III 19 davon spricht, Pythagoras und Empedokles hätten auch den Tieren Rechte zuerkannt und damit diesen Zustand als einen einzigen, allen Lebewesen gemeinsam zukommenden, daher identischen Rechtszustand behauptet: unam omnium animantium condicionem iuris denuntiant. Hobbes gebraucht condition zur Bezeichnung des Naturzustands im Titel von Kap. 13 des Leviathan als „the NATURALL CONDITION of Mankind, as concerning their Felicity, and Misery", intendiert damit also die Lebensverhältnisse der Menschen ganz allgemein, versteht aber nichtsdestotrotz „condition" und „status" zuallererst und durchgängig als Rechtsbegriffe. 57 Hobbes Leviathan, c. 13. 12. & 13.
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• Wirklich ist dieser Zustand des ius in omnia - dem folgend jeder absolut frei ist, absolut allein entscheidet, was richtig ist, in Besitz nimmt, was er will, handelt, wie er will, tut, was er will; kurz: das sog. Recht des Stärkeren in Anspruch nimmt - überall dort, wo es keine Staatsgewalt gibt, die nach festen Regeln [Gesetzen] allen ein Mein als das Ihre bestimmt, Konflikte nach denselben Regeln entscheidet und so jedem das Seine erhält. • Dies gilt insbesondere im Bürgerkrieg.38 • Und es gilt für die internationalen Beziehungen zwischen den Staaten,39 und zwar in all times, als Konsequenz der absoluten Souveränität, die das Recht auf alles ist. Kant, der Hobbes in allen oben genannten Punkten prinzipiell40 zustimmt, ist auch, was die internationalen Beziehungen betrifft, derselben Auffassung: „Die Elemente des Völkerrechts sind: 1) daß Staaten, im äußeren Verhältniß gegen einander betrachtet, (wie gesetzlose Wilde) von Natur in einem nicht-rechtlichen Zustande sind; 2) daß dieser Zustand ein Zustand des Krieges (des Rechts des Stärkeren), wenn gleich nicht wirklicher Krieg und immerwährende wirkliche Befehdung (Hostilität)41 ist ... 3) daß ein Völkerbund nach der Idee eines ursprünglichen gesellschaftlichen Vertrags nothwendig ist ... 4) daß die Verbindung doch keine souveräne Gewalt (wie in einer bürgerlichen Verfassung), sondern nur eine Genossenschaft (Föderalität) enthalten müsse; eine Verbindung, die zu aller Zeit aufgekündigt werden kann, mithin von Zeit zu Zeit erneuert werden muß .. ."42 Zurück zu Hobbes, der als erster diese condicio iuris, die utilitas als mensura iuris als einen, Kantisch augedrückt, nicht-rechtlichen Zustand des Krie38
Leviathan, c. 13. 12., oben nicht zitiert. Dies ist eine besonders wichtige, nicht immer gebührend gewürdigte Konsequenz der Hobbesschen Analyse, die Kant allerdings teilt und zum Ausgangspunkt für weitergehende Analysen, nicht nur das Völkerrecht - dazu s. den nächstfolgenden Absatz - , sondern das Recht unter Menschen insgesamt betreffend, gemacht hat. 40 Die hier relevante Ausnahme ist, daß Kant die Hobbessche Rechtfertigung des Naturzustands zwischen den Völkern - „But because they uphold thereby, the Industry of their Subjects; there does not follow from it that misery, which accompanies the Liberty of particular men." - ablehnt, nicht aus moralischen Gründen, sondern weil er die Aufhebung auch dieses Naturzustands zwischen den Völkern für einen kategorischen Imperativ der rechdich-praktischen Vernunft hält: Recht unter Menschen kann nach Kant nur dann „peremtorisch" - d.h. endgültig und, wie erforderlich, durchgängig und allgemein - Wirklichkeit werden, wenn der Naturzustand unter den Völkern aufgehoben und in einen Rechtszustand der Gattung insgesamt transformiert wird - sonst ist und gilt Recht nur provisorisch: vgl dazu insbesondere Rechtslehre § 61, aaO S. 350f und den „Beschluß" S. 354 f. 39
41 Wie Hobbes akzentuiert mit diesem Moment auch Kant - ohne, wie Hobbes auch, diesen Ausdruck zu benutzen - die Virtualität der Gewalt oder der Feindseligkeiten als durchgängiges Konstituens des Krieges und des Völkerrechts. 42 Kant Rechtslehre § 54, aaO 6.3445_17
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ges aller gegen alle begriffen hat. Wer in diesem sogenannten Naturzustand in dem alles recht, nichts unrecht ist, jeder alles wollen und haben kann, was er will - bleiben will, ist - so setzt Hobbes sein Argument fort - unvernünftig. Denn wer das will, widerspricht sich selbst: „Quicumque igitur manendum in eo statu censuerit, in quo omnia liceant omnibus, contradicit sibimet ipsi; nam unusquisque naturali necessitate bonum sibi appetit, neque est quisquam qui bellum istud omnium contra omnes, quod tali statui naturaliter adhaeret, sibis existimat esse bonum." 43 Also sagt44 ihm seine eigene Vernunft, wenn sie rechte Vernunft ist und richtig schließt: Diese condition der absoluten Freiheit und des absoluten Rechts muß aufgegeben werden: exeundum e statu naturali. Denn er ist ein „nicht-rechtlicher" Zustand.45 In diesem Zustand gibt es weder Recht noch Unrecht, weil objektiv und für alle verbindlich nicht bestimmt und entschieden werden kann, wodurch sich recht und unrecht voneinander unterscheiden. Alles ist recht, nichts unrecht und deshalb auch nichts recht. Alle streben nur nach dem, was ihnen gut erscheint·, das, was für einen jeden von ihnen gut ist, nämlich ein bestimmtes Mein zu haben, das nicht das Mein eines anderen ist, oder das allgemein Gute (Allgemeinwohl) kann es unter der Voraussetzung der absoluten, durch nichts beschränkten Freiheit, des absoluten Rechts eines jeden, gar nicht geben. Ein Wissen von recht und unrecht gibt es nicht, weil es recht und unrecht nicht gibt. Denn ihr Unterschied kann allenfalls durch subjektives Meinen, nicht durch Wissen, objektiv und allgemeingültig bestimmt, daher auch nicht gewußt werden. Das Wollen derjenigen, die im Naturzustand verharren, oder ihr Wille ist deshalb widersprüchlich: sie wollen ein Mein, etwas, was ihnen allein zukommt, ihres ist; und: sie wollen es nicht, weil sie auf das ius in omnia, diese absolute Freiheit, nicht verzichten. Dies wiederum ist - was sie übersehen das Recht eines jeden anderen, sich eben dessen, was sie selbst als ihr eigen wollen, zu bemächtigen; mit der oben bereits ausführlicher exponierten Konsequenz: alles ist mein, und nichts ist mein. Denn alles ist das Mein aller und deshalb niemandes Mein. Denn niemand hat irgend etwas als ein - alle anderen ausschließendes - Mein für sich. Ein bestimmtes Mein und Dein für jeden, Recht also, gibt es nur dann, wenn jeder die absolute Freiheit, alles haben und erreichen zu wollen, aufgibt - das ius in omnia/Recht auf alles also und die damit verbundene absolute Freiheit, allein zu entscheiden, mit welchen Mitteln ein jeder das, was ihm Hobbes De Cive 1.13; nicht alle Hervorhebungen i. O. Ja, sie diktiert es ihm. Denn, was sie sagt, ist theoretisch notwendigerweise wahr und praktisch unbedingt geboten. Aus diesem Grunde nennt Hobbes die lex naturalis ein dictamen rationis: vgl dazu De Cive 2.1. und die dazugehörige Anmerkung. 45 Zu den Begriffen des rechtlichen und des nichtrechtlichen oder Naturzustands vgl Kant Rechtslehre § 41, aaO Bd. 6.305 34 -306 22 . 43
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gut dünkt, erreicht, was also recht und gut ist. Denn was gut ist - für einen jeden, d. h. für alle - , ist durchaus nicht das, was jeder allein nach seinem Urteil für gut hält. Was er für gut hält, kann schädlich für ihn selbst sein. Doch gleichgültig, ob es nun gut ist oder dem Handelnden nur gut zu sein scheint, aber schlecht ist: im Naturzustand ist alles recht, und deshalb wird auch nur mit Recht - iure - gehandelt.46 Daß etwas für gut gehalten wird, aber nicht notwendigerweise gut ist, gilt nun jedoch, ja zuallererst, für den Naturzustand, weil er - was der vernünftige Mensch begreifen sollte - der Krieg aller gegen alle ist, der für niemanden gut ist. Deshalb widerspricht derjenige, der in diesem Zustand bleiben will, sich selbst: denn er will, was gut für ihn ist, ihm nützt und er will es nicht. Denn das Recht auf alles wollen, heißt den Krieg aller gegen alle wollen; den aber kann [eigentlich, wenn er vernünftig ist] niemand wollen, weil er nicht gut für ihn ist.47 Die theoretisch wie praktisch zwingende Konsequenz: dieser Zustand muß aufgegeben werden: „Atque ita evenit ut mutuo metu e tali statu exeundum & quaerendos socio putemus; ut si bellum habendum sit, non sit tarnen contra omnes, nec sine auxiliis."48 Was für alle gut - das allgemein Gute, Allgemeinwohl - ist, kann nur ein Wille bestimmen, der sich selbst und allen anderen ein solches Gesetz gibt, das jedem ein bestimmtes Mein zuerkennt, damit ein bestimmtes Mein und Dein für alle stiftet, realisiert und erhält.49 Und ein jeder muß begreifen, daß ein solcher Wille, der das Recht für alle will, sein eigener - vernünftiger50 Wille ist: 51 denn alle wollen ein Mein, und zwar als ein gesichertes, von allen 4 4 Vgl dazu die weiter unten im Haupttext zitierte und übersetzte Zusammenfassung des Hobbesschen Arguments in der annotatio zu de cive 1.10.; daraus insbesondere: „Eidem ergo jus est omnia facere &possidere, quae ipse ad sui conservationem necessaria esse judicabit. Ipsius ergo facientis iudicio id qod fit iure fit vel iniuria, itaque iure fit. ": Weil der Handelnde selbst frei ist, d. h. also das Recht besitzt, allein zu beurteilen, ob etwas zur Erhaltung seiner selbst notwendig ist oder nicht, also mit Recht oder Unrecht geschieht, geschieht es immer mit Recht, d.h. es wird deshalb immer von Rechts wegen, mit Recht, gehandelt. . 4 7 Vgl erneut de cive 1.13, die im Zusammenhang mit Fn 43 zitierte Passage. 48 Ebd. 4 9 Vgl dazu erneut Kant Rechtslehre § 41, aaO Bd. 6.305 3 4 -306 1 6 und Kant Über den Gemeinspruch ..., in: Werke Bd. 8, insbesondere S. 289 23 _ 28 . 50 Hobbes De Cive II.l. annotatio: ... in Civitate ipsius Civitatis ratio (hoc est Lex Civilis) a singulis civibus pro recta habenda ... / im Staat müssen die einzelnen Bürger die Vernunft des Staates (d.h. das staatliche Gesetz) als die rechte Vernunft annehmen ... 51 Vgl Hobbes De Cive V.9: Civitas ergo (ut eam definiamus) est persona una, cuius voluntas, ex pactis plurium hominum, pro voluntate habenda est ipsorum omnium: ./. der Staat (um ihn zu definieren) ist eine Person, deren Willen als Ergebnis der Verträge einer Vielzahl Menschen miteinander, als der Wille ihrer aller zu gelten hat [Hervorhebungen i.O.].
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anderen anerkanntes Recht. Alle müssen deshalb ein solches Mein wollen und wollen es de facto auch, selbst wenn sie das in der Regel gar nicht wissen
das jedem einzelnen das Seine so bestimmt, daß es von allen als Recht
und damit von allen anderen auch als die Pflicht begriffen wird, dem, dessen Recht es ist, dieses sein Suum zu gewähren, ergo: gerecht zu sein. Sie müssen deshalb das, was sie für sich selbst wollen, ein Mein, als ein Recht wollen, d . h . als ein solches Verhältnis, das einem jeden zusteht, zugleich aber von allen anderen mit der Verpflichtung anerkannt wird, dieses Mein nicht zu verletzen. 5 2 Sie müssen also das Mein als ein - mögliches - Mein aller, als Allgemeines wollen. Ihr eigener - partikularer - Wille ist daher schon an sich allgemeiner Wille. E r m u ß sich aber auch als ein solcher praktisch betätigen, wenn er Rechtswille, d . h . ein Wille sein soll, der ein Mein als Recht will. Dieses Allgemeine,
das jeder
wollen
muß,
der ein Mein will, ist das
Recht, i.e. der rechtliche Zustand, konstituiert durch den Staat. 5 3 Jeder m u ß daher die Vereinigung in einem einzigen - dem staatlichen - Willen wollen, der seinerseits das Mein und Dein für jeden will, bestimmt und damit sichert, was jeder einzelne will: die Freiheit, etwas als einem jeden selbst und allein Gehöriges besitzen und ungestört durch andere nutzen zu können; Freiheit unter Gesetzen also, das Recht, den Rechtszustand. Diese Vereinigung in einem einzigen Willen, der allgemeiner Wille und der Wille aller ist, weil er Freiheit, Gleichheit und ein bestimmtes Mein für 52 In Befolgung der Rechtspflicht: alterum non laede! - Zu dieser Pflicht vgl Iustinian, Institutions I 3 und Kant Rechtslehre, Einleitung, aaO 6.236. 53 Das Recht, der rechtliche Zustand und der Staat als Erzeuger und Erhalter des Rechtszustands sind also nach diesem Begriff des Rechts die analytische Konsequenz der Freiheit und des Willens, ein Mein, Eigentum also als Privateigentum, zu wollen. Daß der Staat also nur die - logische und praktische - Konsequenz der Freiheit und des Rechtswillens ist, ist schon im Hobbesschen Begriff der Freiheit und des Rechts angelegt, wird aber zum erstenmal von Kant - unter dem Titel: „§ 8. Etwas Außeresa als das Seine zu haben, ist nur in einem rechtlichen Zustande, unter einer öffentlich-gesetzgebenden Gewalt, d.i. im bürgerlichen Zustande, möglich." - in aller Knappheit, logischen Stringenz und Schärfe, wie folgt, zum Ausdruck gebraucht: „Wenn ich (wörtlich oder durch die That) erkläre: ich will, daß etwas Außeres das Meine sein solle, so erkläre ich jeden Anderen für verbindlich, sich des Gegenstandes meiner Willkür zu enthalten: eine Verbindlichkeit, die niemand ohne diesen meinen rechtlichen Act haben würde. In dieser Anmaßung liegt aber zugleich das Bekenntniß: jedem Anderen in Ansehung des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Enthaltung verbunden zu sein; denn die Verbindlichkeit geht hier aus einer allgemeinen Regel des äußeren rechtlichen Verhältnisses hervor. Ich bin also nicht verbunden, das Äußere des Andern unangetastet zu lassen, wenn mich nicht jeder Andere dagegen auch sicherstellt, er werde in Ansehung des Meinigen sich nach eben demselben Princip verhalten; welche Sicherstellung gar nicht eines besonderen rechtlichen Acts bedarf, sondern schon im Begriffe einer äußeren rechtlichen Verpflichtung ... enthalten ist. ... Also ist nur ein jeden anderen verbindender, mithin collectiv allgemeiner (gemeinsamer) und machthabender Wille derjenige, welcher jene Sicherheit leisten kann. ... Also kann es nur im bürgerlichen Zustande ein äußeres Mein und Dein geben." {Kant 6.25522-25613; nicht alle Hervorhebungen im Originaltext).
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einen jeden bestimmt - deshalb auch allgemeiner und machthabender''' Wille ist: dies ist die Idee des Rechts.55 Oder, noch kürzer: Diese Idee ist das Recht, begriffen als Vereinigung aller „Menschen unter öffentlichen Zwangsgesetzen, durch welche jedem das Seine bestimmt und gegen jedes Anderen Eingriff gesichert werden kann." 56 Gerechtigkeit und Rechtszustand, d.h. den Rechtsstaat überhaupt, als notwendige Konsequenz der Freiheit und des eigenen Wollens zu begreifen, einer Freiheit, die ihrerseits nicht als absolute, sondern allein als Freiheit unter einem sich selbst gegebenen Gesetz wirklich werden kann; dies zugleich als die Bedingung für das utile, den eigenen Vorteil, das bonum sibi, d. h. dafür, daß das, was für den einzelnen gut ist, für alle möglich wird: all dies als die einzig mögliche Antwort auf die Vernichtung von Naturrecht und Gerechtigkeit durch Karneades begriffen zu haben, ist die große Entdeckung des Thomas Hobbes: die Entdeckung der Freiheit unter Rechtsgesetzen als Bedingung der Freiheit, Gleichheit und eines menschenwürdigen Lebens für alle. Diese Lösung enthält mindestens zwei Pointen: erstens ergreift Hobbes mit Karneades, ihn zugleich modifizierend, in dem schon in der Antike geführten Streit, ob das Recht φύσει oder νομωι sei, Partei für die νομωιPosition: Recht ist nicht von Natur, Recht ist nur kraft menschlicher Übereinkunft und Satzung. Recht ist also, Καηάsch gesprochen, nicht Natur, Recht ist [aus] Freiheit.57 Aber auch wenn gilt: Recht ist nicht Natur, so gilt doch: Recht hat eine ganz bestimmte Natur, besitzt eine unveränderliche, alle seine Realisationsformen bestimmende φύσις. Deshalb - aber auch nur unter dieser Bedeutung von ,Natur' als φύσις des Rechts, i.e. als sein Begriff oder Wesen - gibt es bei Hobbes auch natürliche Gesetze, leges naturales oder naturae oder Naturall Laws, Law of Nature genannt, die zugleich dictamina rationis, Diktate oder unbedingte Gebote der Vernunft sind. - Hobbes negiert also nicht die φυσις-Konzeption absolut und abstrakt, sondern begreift sie als dialektisch und hebt sie in der νομωι-Ροsition auf, indem er sie miteinander vereinigt: er entdeckt im ius, dem menschlich gesetzten νομος, im ius civile die φύσις des Rechts, welche der λογος, die gesetzgebende Vernunft ist. Er entdeckt in der Konvention die gesetzmäßige Struktur, im νομος die φύσις, damit die Notwendigkeit in der Freiheit, die nur als Freiheit unter einem allgemeinen Gesetz, dem Rechtsgesetz der Vernunft, möglich ist.
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Vgl dazu die Kantische Formel, zitiert in der vorhergehenden Fn. Vgl dazu vom Verfasser, Die Idee des Rechts: Hobbes und Kant in: Recht, Staat und Völkerrecht bei Immanuel Kant, hrsg. von Dieter Hüning und Burkhard Tuschling, Berlin 1998, S. 85-117 54 Kant Uber den Gemeinspruch . . ., Gesammelte Schriften Bd. 8, 28926_28; Hvh. i.O. 57 Wie weiter unten noch näher ausgeführt werden soll. 55
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In dieser ersten Pointe verborgen ist noch eine zweite: auch das utile kann - wenn es nicht zufällig bleiben, sondern systematisch und gesetzmäßig zu erwartendes Resultat des Handelns sein soll - nur unter Rechtsgesetzen, die ein Mein und Dein für alle, damit Gerechtigkeit bestimmen, verwirklicht werden. Denn wenn es, wie Karneades behauptet, mensura luris^ ist, zerstört es sich selbst. Es bedarf daher, um sich zu verwirklichen, des Rechts als eines Systems der Bestimmung des suum cuique tribuere. Die besondere Pointe der Antwort des Thomas Hobbes auf die Destruktion der iustitia und des ius naturale durch Kameades lautet also: das utile bedarf der Gerechtigkeit. Iustitia und utilitas schließen sich nicht, wie Karneades behauptet hatte, absolut aus, im Gegenteil: Recht und eigener Vorteil, iustum, honestum und utile sind vereint. Und sie müssen vereinigt werden, weil das utile in einer Gesellschaft der Freien und Gleichen der Rechtsform bedarf, um allgemein - und nicht nur zufälligerweise, nach dem Prinzip des „to be every mans that he can get, and for so long, as he can keep it"59 - Wirklichkeit zu werden. Aus der so als Fundament des Rechts begriffenen Freiheit resultieren also das Recht und der rechtliche Zustand wie folgt: • Alle sind von Natur aus frei, zu tun und zu lassen, was ihnen beliebt.60 Darin sind sich auch alle gleich.61 „For as to the strength of body, the weakest has strength enough to kill the strongest, either by secrete machination, or by confederacy with others, that are in the same danger with himselfe."62 • Aber ihre eigene Vernunft - die die Vernunft aller, eine rechte Vernunft, recta ratio63 ist - diktiert ihnen, diese absolute Freiheit - und mit ihr ihre Konsequenz: den Krieg - aufzugeben und den Frieden zu suchen.64
58 Vgl Hobbes De Cive 1.10 mit Cicero, de re publica III 21 -.„iura sibi homines pro Militate sanxisse, ..., iusautem naturale esse nullum ..." [und Kontext, wie in Fn 18 zitiert und übersetzt]. 59 Hobbes Leviathan, c. 13. 13. 60 Denn jeder besitzt von Natur die Freiheit - die zugleich sein ursprüngliches Recht, das fundamentumprimum Iuris naturalis ist (De Cive 1.7) - , die ihm gestattet, alles zu haben und zu tun (De Cive 1.10). Durch diese Freiheit also ist der status naturalis, wie oben aus De Cive 1.13 zitiert, der status „in quo omnia liceant omnibus".. 61 Vgl dazu Hobbes Leviathan, ch. 13, 1. Abs, dessen Marginalie lautet: Men by nature Equall. 62 Leviathan ch. 13.1., 2. Satz. 63 De Cive 2.1. Anmerkung. 64 Dies ist nach Hobbes die prima & fundamentalis lex naturae (ci.2.2.), „The Fundamentall Law of Nature" (Leviathan 14.4.), nach Kant das „unwiderstehliche^] Veto" der moralisch-praktischen Vernunft: „Es soll kein Krieg sein" (6.354 20f ): „denn der Friedenszustand ist allein der unter Gesetzen gesicherte Zustand des Mein und Dein in einer Menge einander benachbarter Menschen, mithin die in einer Verfassung zusammen sind, deren Regel ...
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• Wer frei sein, ein bestimmtes Mein als sein eigen haben und seinen Zweck erreichen können will, muß wollen, daß ein allgemeinerWille das Gesetz gibt, dem alle auf dieselbe Weise unterworfen sind: das Recht oder Gesetz, das ein Mein und Dein für einen jeden bestimmt und dadurch Gerechtigkeit, das suum cuique tnbuere, ermöglicht, indem es jedem das, was ihm zusteht, zuteilt. Denn nur dann gibt es überhaupt bestimmtes Recht, für einen jeden, für alle, die frei und gleich sind, für alle Fälle. • Das so begriffene Gesetz bestimmt ein Mein für einen jeden so, daß ihm die andern das Seine nicht streitig machen, nicht verletzen dürfen, sondern als ihm allein eigen anzuerkennen verpflichtet sind. • Daß sie es immer tun werden, damit kann nicht gerechnet werden. Wohl aber muß jeder damit rechnen können, daß es allgemeiner Wille ist, durch Recht und Gesetz dafür zu sorgen, daß jedem, was ihm zusteht, zuteil wird und erhalten bleibt, kurz: daß jedem sein Recht wird. Deshalb muß eben dieser allgemeine auch „machthabender" Wille; die Vereinigung muß eine Vereinigung sein von „Menschen unter öffentlichen Zwangsgesetzen, durch welche jedem das Seine bestimmt und gegen jedes Anderen Eingriff gesichert werden kann."; 66 der Eine Wille, in dem sie sich vereinigen, muß staatlicher Wille; die Person, zu der sie sich vereinigen, muß der Staat;67 Recht muß also öffentliches Recht,Recht muß Zwangsrecht sein. Nur unter Voraussetzung eines solchen Willens und einer daraus resultierenden Gesetzgebung also kann objektiv bestimmt werden, was dem einen, dem anderen, einem jeden zusteht, und, was nicht. Von Natur aus ist das deshalb nicht möglich, weil jeder frei ist und das Recht besitzt, allein durch seinen eigenen Willen zu bestimmen, was recht ist: deshalb ist alles recht, nichts unrecht:
durch die Vernunft α priori von dem Ideal einer rechtlichen Verbindung der Menschen unter öffentlichen Gesetzen überhaupt hergenommen werden muß ..." (ebd. 3559_16). 65 Das heißt zunächst: ein allen dasselbe auf dieselbe Weise gebietender Wille, ein gesetzgebender Wille also, der, selbst freier Wille, der Freiheit allgemein das Gesetz gibt. Daß dieser Wille auch, wie Kant sich ausdrückt, machthabender Wille sein muß, wird noch gezeigt werden. 64 Kant Uber den Gemeinspruch ..., Gesammelte Schriften Bd. 8, 289 _ ; Hvh. i.O. 26 28 67 Vgl zum Vorhergehenden erneut die Definition des Staates in: Hobbes, De Cive V.9: Civitas ergo (ut eam definiamus) est persona una, cuius voluntas, ex pactis plurium hominum, pro voluntate habenda est ipsorum omnium: ./. der Staat (um ihn zu definieren) ist eine Person, deren Willen als Ergebnis der Verträge einer Vielzahl Menschen mirteinander, als der Wille ihrer aller zu gelten hat [Hervorhebungen i.O.]. 68 D.h. staatlich verfaßtes Recht - also nicht „öffentliches Recht" im Unterschied zu „Privatrecht" im juristischen, sondern in dem von Kant in seiner Rechtslehre philosophisch exponierten Sinne, wo „öffentliches Recht" zwar auch dem „Privatrecht" entgegengesetzt, unter letzterem aber das zunächst nur ,provisorische' Recht im Naturzustand verstanden wird.
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Unicuique jus est se conservandi, per Art. 7. Eidem ergo jus est omnibus uti mediis ad eum finem necessanis, per Art. 8. Media autem necessaria sunt, quae ipse talia esse judicabit, per Art. 9. Eidem ergo jus est omnia facere & possidere, quae ipse ad sui conservationem necessaria esse judicabit. Ipsius ergo facientis id qod fit iure fit vel iniuria, itaque iure fit: ./. Jeder hat das Recht, sich zu erhalten, nach § 7; also auch das Recht, alle für diesen Zweck erforderlichen Mittel einzusetzen, nach § 8. Erforderlich [oder notwendig] sind diejenigen Mittel, die er selbst als solche beurteilt, nach § 9. Jeder besitzt also das Recht, alles zu tun und zu besitzen, was er selbst zur Erhaltung seiner selbst als notwendig beurteilt. Jeder selbst also entscheidet, ob das, was er tut, mit Recht oder Unrecht geschieht, und deshalb geschieht es mit Rechtß9 Die Unterscheidung von recht und unrecht ist also nicht von Natur. Denn sie wird nur möglich unter der Voraussetzung, daß jeder der Freien und Gleichen das ius in omnia aufgibt, indem er aus dem Naturzustand herausgeht, seinen Willen mit dem anderer zu einem einzigen gesetzgebenden Willen im Staat vereinigt und dadurch in den Rechtszustand eintritt, kurz: das Recht schafft, das einem Jeden das Seine bestimmt und sichert. Recht ist nicht - auch darin stimmt Hobbes Kameades zu - von Natur. Es ist allein kraft menschlicher Konvention und Satzung, nicht φύσει, sondern νομωι. In dieser νομωι-Position jedoch, die Hobbes mit Kameades teilt, geht Hobbes entschieden, weit, und in neuer Dimension über Kameades hinaus: Recht ist aus Freiheit. Denn es ist die Freiheit oder der freie Wille des Menschen allein, der den Unterschied, ja die Unterscheidbarkeit von recht und unrecht und damit das Recht schafft. Dies aber nur dann, wenn er mit der Einsicht verbunden ist, daß Freiheit nicht absolut sein darf; daß nicht jeder allein entscheidet, was recht und unrecht ist; denn dann ist, wie von Hobbes gezeigt und oben zitiert, alles recht, nichts unrecht, recht und unrecht also voneinander ununterscheidbar. Dieses scheinbar so erfreuliche und produktive Recht auf alles muß aufgegeben werden; denn es ist ein Recht auf nichts, Recht steht gegen Recht, und zwar als Recht eines jeden gegen jeden anderen, und dies ist der Krieg aller gegen alle. Den Konflikt entscheidet nicht das Recht, kein Richter, sondern nur das Gottesurteil: die Gewalt. Wer siegt, hat recht und das Recht auf seiner Seite. Nicht jede menschliche Konvention oder νομωι geschaffene Institution schafft also, wie Kameades behauptet hatte, Recht, sondern nur eine solche, die aus Freheit, begriffen als Freiheit unter Gesetzen, resultiert. Das bedeutet: Freiheit und Recht für einen jeden ist nur dann möglich und zu verwirklichen, wenn begriffen wird: Freiheit unter Menschen ist nur unter dem all-
69 Die zitierte Passage ist die von Hobbes selbst in einer Anmerkung zu De Cive 1.10. gegebene Zusammenfassung seiner Argumentation.
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gemeinen Gesetz möglich, den eigenen Willen der Bedingung zu unterwerfen, daß sie mit der Freiheit, dem Willen und der Willkür aller anderen vereinbar ist. 70 Das ist sie jedoch nur, wenn die freie Willkür nicht absolut ist, sich nicht unbeschränkt verwirklicht. „Die Freiheit der Willkür eines jeden" muß, wie Kant sich ausdrückt, „mit jedermanns Freiheit zusammen bestehen"n können, „vereinigt"72 werden, ,zusammenstimmen. Denn, so eine die zuvor (anmerkungsweise) zitierte Definition des Rechts leicht variierende Formel: „Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, insofern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist; und das öffentliche Recht ist der Inbegriff der äußeren Gesetze, welche eine solche durchgängige Zusammenstimmung möglich machen. Da nun jede Einschränkung der Freiheit durch die Willkür eines Anderen Zwang heißt, so folgt, daß die bürgerliche Verfassung ein Verhältniß freier Menschen ist, die (unbeschadet ihrer Freiheit im Ganzen ihrer Verbindung mit anderen) doch unter Zwangsgesetzen stehen: weil die Vernunft selbst es so will, und zwar die reine, Λρήοή gesetzgebende Vernunft . .."73 Dies wiederum erfordert, daß jeder seinen individuellen dem allgemeinen Willen unterwirft. Dieser allgemeine Wille wiederum soll von ihm als sein eigener anerkannt werden, sein eigener sein:74 nämlich ein Mein und Dein, für einen jeden einzelnen und damit für alle durch ein allgemeines Gesetz bestimmt zu wollen. Diese Bestimmung des Mein, Dein, Sein muß allgemein sein. Das bedeutet: dem, dessen Mein etwas ist, wird es als sein Recht bestimmt; durch eben dieselbe Bestimmung ist es zugleich die Pflicht aller anderen, dieses Mein nicht anzutasten. Das ist eine Pflicht, die nicht moralisch, sondern Rechtspflicht ist, deren Einhaltung also durch Einsatz staatlicher Gewalt erzwungen werden kann. Recht und Pflicht sind allgemein,
70 Dies ist der Kantische Begriff des Rechts: vgl Einleitung in die Rechtslehre, § B: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann." (aaO 6.230 24 _ 26 ). 71 So lautet nach Kant das „allgemeine[s] Prinzip des Rechts" (Einleitung in die Rechtslehre § C, aaO 6.230 2 8 31). " 6.230*. 73 „Uber den Gemeinspruch ...", in: Kant 8.289 3 5 -290,; Hervorhebungen größtenteils nicht im Original. 74 Vgl dazu erneut die früher zitierte Staatsdefinition des Hobbes in De Cive 5.9., die Formel des Gesellschaftsvertrags in Leviathan 17.13, sowie, insbesondere, in Rousseaus Contrat
Social I 6, der zufolge durch die Vereinigung mit den anderen jeder
nur sich selbst
gehorcht
und so frei bleibt wie zuvor: „,Trouver une forme d'association ... par laquelle chacun s'unissant ä tous n'obeisse pourtant ä lui-meme et reste aussi libre qu'au paravant.' Tel est le probleme fondamental dont le contract social donne la solution."
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das erfordert streng genommen: sie müssen für alle Menschen, die Menschheit insgesamt75 bestimmt sein. Denn nur dann gibt es Recht und Gerechtigkeit, können alle ihre Freiheit verwirklichen und, was ihnen nützt, erreichen. Der eigene Vorteil, zum einzigen und allgemeinen Prinzip allen Handelns erhoben - der verabsolutierte Utilitarismus, Egoismus - hebt, wie oben gezeigt, sich selbst auf. Denn unter der Bedingung absoluter Freiheit und des absoluten Rechts auf alles ist alles und nichts recht. Keiner erreicht in der Regel, was für ihn gut und nützlich ist. Denn gut und schlecht, recht und unrecht sind nicht objektiv und allgemeingültig, sondern nur subjektiv durch die Meinung, das Urteil des Handelnden allein - bestimmbar. Recht und unrecht sind daher dasselbe; und umgekehrt: ein und dasselbe (ein und dieselbe Handlung) ist recht und unrecht. Unter dieser Bedingung ist das Ergebnis des Handelns - sein Nutzen, ob es für den einzelnen gut ist oder schlecht - absolut zufällig. Haben die Philosophen also doch die Antwort auf die Kantische Ausgangsfrage gefunden? Vielleicht. Sicher ist zumindest, daß Freiheit nicht absolut sein kann; daß also das omnia liceant omnibusdas das omnia habere & facere in statu naturae omnibus licere77 ist, nicht gelten darf: „jeder ist frei, zu haben und zu tun, was er will" - das kann und darf nicht sein. Denn unter dieser Voraussetzung kann nicht bestimmt werden, was recht und unrecht ist. Dieser Unterschied ist leer: alles ist recht, alle sind im Recht, haben recht. Rechtsbruch ist nicht möglich. Jeder also, der ein Recht für sich, ein bestimmtes Mein will, muß auch ein bestimmtes Dein und Sein für alle wollen. Jeder muß also wollen, daß die absolute Freiheit, die das Recht negiert, aufgegeben und ersetzt wird durch eine Freiheit unter dem allgemeinen
75 Das ist jedenfalls die von Kant in vielen seiner Schriften - insbesondere in der Idee zu einer allgemeinen geschickte in weltbürgerlicher Absicht (1784) und durchgängig in der Rechtslehre (1797) - hier insbesondere in der Lehre vom peremtorischen Besitz, im Völkerrecht mit der Idee des Völkerbunds und im Weltbürgerrecht - gezogene Konsequenz: vgl dazu insbesondere Rechtslehre §§ 9, 15, § 61 (6.350 6 _ ]2 ) und „Beschluß" (6.354f). Damit nimmt Kant zwar die stoische Idee wieder auf - Recht ist das Gesetz des Kosmos und der dem Gesetz gemäß Handelnde νομίμου ανδρός ist ευθυς οντος κοσμοπολιτου (SVF III 336), d. h. sogleich, eo ipso, dank seines gesetzmäßigen Handelns, Kosmopolit, Weltbürger. Kant macht daraus aber etwas radikal Neues, indem er diese Idee in seine Theorie des Rechts als Theorie der Freiheit integriert und daraus dann den kosmopolitischen Begriff eines Weltbürgerrechts entwickelt, das sich sowohl vom öffentlichen Recht des Einzelstaats als auch vom herkömmlichen Völkerrecht grundlegend unterscheidet, sie zugleich aber „peremtonsch" konstituieren, aus dem Status „provisorischer" Geltung herausführen, abschließend begründen und damit, als Begründung eines dauernden Friedens- und Rechtszustands unter Menschen, „den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ausmachefn]" soll (Kant 6.355 s f ).
De Cive 1.13. „alles zu haben und alles zu tun ist allen im Naturzustand erlaubt" (de cive 1.10. Haupttext), d.i. das sog. ius in omnia, Recht auf alles (de cive 1.10, Marginalie): Iure naturali omnia esse omnium [kraft des natürlichen Rechts gehört allen alles.]. 76
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Rechtswillen, dem sich jeder unterwirft, weil er ihn als seinen eigenen Willen, das Gesetz der Freiheit, weiß und anerkennt. Dies impliziert unter anderem zu wissen und zu wollen, daß für einen jeden und alle zusammen ein Mein und Dein als ein bestimmtes, von allen anerkanntes Recht konstituiert wird. Denn dies wiederum ist Voraussetzung dafür, daß das suum cuique tribuere, Gerechtigkeit also, aber auch das utile, der eigene Vorteil, überhaupt Wirklichkeit werden können. Dieses Recht, das zugleich die Pflicht ist, die eigene absolute Freiheit einzuschränken bzw. sogar zwangsweise, durch die im Gemeinwesen, dem Staat, vereinigte Gewalt aller, einschränken zu lassen, 7 8 ist das seit M a x Weber so genannte Monopol der legitimen Zwangsgewalt des Staates. Das Recht schließt also als Pflicht den Verzicht auf den Einsatz individueller Gewalt und, eben damit, die Unterwerfung unter den Rechtszwang des Staates ein. Recht ist damit allein staatlich gesetztes
Recht.
Ein Mein und Dein zu wollen, das Recht zu wollen, ist identisch damit, den Staat zu wollen. 7 9 Was das jedoch positiv bedeutet, i.e. in welcher F o r m die Unterwerfung unter den staatlichen Rechtszwang so geschehen kann, daß der einzelne frei ist und bleibt, 8 0 indem er den allgemeinen Willen des Staats als seinen eigenen Willen anerkennt; kurz: was der Staat ist und wie er nach Prinzipien der Freiheit und des Rechts beschaffen sein soll: all das ist unter den Philosophen - angefangen von Hobbes,
über Locke, Rousseau,
Kant und Hegel bis
hin zu den neuesten Versuchen einer philosophischen Begründung des Rechts höchst strittig. Die Kantische Frage ist also, streng genommen, nach
71 Nach Kant ist dies „zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle, sondern die Vernunft sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von andern auch thätlich eingeschränkt werden dürfe; ..." (Einleitung in die Rechtslehre § C, aaO 6.23112_17) [Hervorhebungen i.O.]. n Zu dieser Identität von Eigentumswillen, Rechtswillen und Staatswillen (i.e. dem Willen zur Vereinigung im Staat und des staatlich artikulierten Rechtswillens) vgl nochmals den in einer früheren Fn ausführlich zitierten § 8 der Kanüsehen Rechtslehre (Kant 6.255 2 2 -256 1 3 ). 80 Vgl dazu nochmals Rousseaus Formel „chacun s'unissant ä tous n'obeisse pourtant ä lui-meme et reste aussi libre qu'au paravant." (Du Contrat Social I 6) und Kant, Rechtslehre § 47, der sich hierin erneut als Schüler Rousseaus erweist: „Der Act, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat constituirt, eigentlich aber nur die Idee desselben ... ist der ursprüngliche Contract, nach welchem alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d.i. des Volks als Staat betrachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen, und man kann nicht sagen: der ... Mensch im Staate habe einen Theil seiner angebornen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d.i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden, weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt."
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wie vor unbeantwortet. Deshalb wissen also nicht nur die Juristen, sondern auch die Philosophen bis heute nicht, was Recht - oder: recht - ist. Darüber hinaus zeigt die Geschichte der Menschheit bis zu den aktuellsten Konflikten im Kosovo oder im weltweiten Kampf gegen den sogenannten Terrorismus, daß bis heute nicht gewußt wird, was reine Vernunft oder recta ratio der Menschheit gebietet: aus dem Naturzustand der Völker, der ein Zustand des permanenten Krieges aller gegen alle ist, 81 herauszugehen exeundum e statu naturali! - , Frieden zu schaffen und in einen Rechtszustand einzutreten, der die Menschheit insgesamt umfaßt 82 Nur dann kann jedem das Seine - allen Menschen das Ihre - bestimmt werden, und zwar so, daß alle anderen wissen und tun können, was die Vernunft gebietet: jedem das, was ihm zusteht, zukommen zu lassen, nicht Gewalt gegen ihn zu gebrauchen, sondern in einem solchen Frieden miteinander zu leben, der auch dem anderen das sichert, was ihm zusteht, dessen er bedarf. Was also recht/Recht ist, das wissen die Menschen, wir alle, immer noch nicht, ob wir nun Juristen oder Philosophen, Christen oder Mohammedaner, Amerikaner, Deutsche, Araber oder Afghanen sind. Es hat sich - so scheint es jedenfalls - seit den Zeiten des Karneades prinzipiell nichts Entscheidendes - wenn auch technisch sehr vieles radikal - geändert: was die Einen für Terror halten, gilt den Anderen als ehrenvoller und Gott wohlgefälliger Kampf; den Einen gilt ein Täter als Verbrecher gegen die Menschheit, den Anderen als Held und Märtyrer; die Einen verwandeln Flugzeuge in mörderisch-selbstmörderische Bomben, die Anderen bomben mit völkerrechtlich geächteten Bomben für die Zivilisation, die Menschenrechte und die Freiheit des Volkes, das die Bomben mit Tod und Vernichtung treffen. Was die Einen wie die Anderen miteinander verbindet: beide Seiten wollen immer nur das Gute; was gut ist, bestimmen sie ganz allein; sich selbst zu erhalten und alle Mittel dafür einzusetzen - auch das der Vernichtung des andern - , ist ihr Recht - Menschenrecht. Und weil sie selbst allein bestimmen, was gut - für sie selbst und die anderen - ist, ist alles recht, ist ihnen alles zu haben und alles zu tun erlaubt. Was sie selbst tun, ist gut, recht und gerecht, was der andere tut, ist das Böse: es ist deshalb nicht nur 81 Vgl dazu erneut die früher zitierte Passage aus § 54 der Kantischen Rechtslehre „Die Elemente des Völkerrechts sind: 1) daß Staaten, im äußeren Verhältniß gegen einander betrachtet, (wie gesetzlose Wilde) von Natur in einem nicht-rechtlichen Zustande sind; 2) daß dieser Zustand ein Zustand des Krieges (des Rechts des Stärkeren), wenn gleich nicht wirklicher Krieg und immerwährende wirkliche Befehdung (Hostilität) ist" (6.344 6 _ 10 ). 82 Vgl dazu erneut Kants Rechtslehre § 61: „ D a der Naturzustand der Völker eben so wohl als einzelner Menschen ein Zustand ist, aus dem man herausgehen soll, um in einen gesetzlichen zu treten: so ist vor diesem Ereigniß alles Recht der Völker und alles durch den Krieg erwerbliche oder erhaltbare äußere Mein und Dein der Staaten bloß provisorisch und kann nur in einem Staatenverein (analogisch mit dem, wodurch ein Volk Staat wird) peremtorisch geltend und ein wahrer Friedenszustand werden." (6.350 6 _ 12 ); vgl auch den „Beschluß" der Rechtslehre, aaO S. 354 f.
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erlaubt, es ist Gottes Gebot, das Böse, den Anderen, zu vernichten. Was der Krieg, der die Ausübung dieses Rechts auf alles, der Einsatz aller Mittel gegen den anderen zeigt, ist: dieses Recht - ihr Recht, sich selbst angemaßtes Menschenrecht - ist nicht recht, nicht das Recht, nicht allgemeingültig und deshalb nicht gerecht: denn es läßt dem Andern nicht das Seine. Recht dagegen ist diejenige Ordnung des Handelns, die allen das Ihre als ihnen allein zukommend, als ihr Mein, bestimmt und sichert. Der als Recht behauptete Wille, den anderen durch - heutzutage perverser Weise sogar „human" genannten - Krieg oder mit militärischer Gewalt zu vernichten, ist die Freiheit, die, noch immer unbegriffen, die Menschheit im Naturzustand verharren und Gewalt als einziges Mittel der Lösung von Konflikten einsetzen läßt. Der von Hobbes notierte Widerspruch - wer in diesem Zustand bleiben will, widerspricht sich selbst, weil er das, was gut für ihn ist, will und nicht will - wird von den führenden Mächten der Welt (um nicht zu sagen: von der Politik) ignoriert und reproduziert sich deshalb auf immer erweiterter Stufenleiter, mit immer wachsender und perfekter werdender Gewalt. Und dies ist das fundamentale Moment, das sich gegenüber der weit zurückliegenden Antike des Karneades und gegenüber dem Mittelalter geändert hat: Freiheit. Antike und Mittelalter kannten Freiheit nicht. 83 Sie schließt kraft ihres Begriffs die Möglichkeit ein, sich als absolute Freiheit und eben damit als Recht auf alles zu realisieren, eben damit aber auch im bellum omnium contra omnes zu vernichten. Freiheit schließt auch die ungeheure Produktivität ein, die zur Eroberung Amerikas, zur Unterwerfung der ganzen Welt durch die Europäer, zur Entwicklung neuer Formen der Herrschaft von Menschen über Menschen durch Geld als Kapital und Welthandel, geführt hat. Diese Freiheit - dieses Recht auf alles, das zu Kapital und ständig sich erneuernder, erweiternder, sich selbst und anderes reproduzierender und zerstörender Produktivkraft geworden ist - hat sich die ganze Welt unterworfen. Was Recht ist, bestimmt 8 3 „Ueber keine Idee weiß man es so allgemein, daß sie unbestimmt, vieldeutig und der größten Mißverständnisse fähig und ihnen deshalb wirklich unterworfen ist, als über die Idee der Freiheit ... Ganze Welttheile, Africa und der Orient, haben diese Idee nie gehabt und haben sie noch nicht; die Griechen und Römer, Plato und Aristoteles, auch die Stoiker haben sie nicht gehabt; sie wußten im Gegentheil nur, daß der Mensch durch Geburt (als atheniensischer, spartanischer u.s.f. Bürger) oder Charakterstärke, Bildung, durch Philosophie (der Weise ist auch als Sklave und in Ketten frey) wirklich frey sey. Diese Idee ist durch das Christenthum in die Welt gekommen, nach welchem das Individuum als solches einen unendlichen Werth hat, indem es Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes, dazu bestimmt ist, zu Gott als Geist sein absolutes Verhältniß, diesen Geist in sich wohnen zu haben, d.i. daß der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist."
(G. W. F. Hegel Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), § 482 A, in: Gesammelte Werke, in Vb. mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. von der Rheinisch-westfälischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 20, hrsg. von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas, Hamburg 1992, S. 476 2 4 -477i 5 .
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in der Epoche der Globalisierung, in diesem Age of the Extremes, diese absolute Freiheit, unbeschränkt und unkontrolliert, ganz allein. Doch, noch einmal sei daran erinnert: dieses Recht auf alles ist nicht Recht, sondern Gewalt, Krieg. Was Recht ist, sagt uns am Ende vielleicht doch noch die Vernunft, die durch alle Antagonismen und tödlichen Konflikte hindurch in allen Menschen immer dieselbe ist und allen dasselbe sagt: die eigene Freiheit nicht mehr absolut, unkontrolliert, ohne Rücksicht auf und ungehindert durch andere zu gebrauchen, sondern auf diejenige Bedingung einzuschränken, unter der Gerechtigkeit, Recht - für alle, nicht nur für mich, für uns - allein möglich ist: sie als Freiheit unter selbst gegebenen Gesetzen zu begreifen und zu verwirklichen, durch die die Freiheit der Willkür des einen mit der Freiheit des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammenstimmt. Denn dann, aber auch nur dann ist es möglich, für alle Menschen zu bestimmen, was das Ihre ist, ihnen zusteht, ihr Recht ist, und zwar objektiv und allgemein - für alle und alles - gültig. Denn, so Kant,*4 der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Freiheit des einzelnen mit der aller anderen zusammen besteht, Freiheit allgemein und objektiv Wirklichkeit wird, ist das Recht. Nun zeigen schon diese sich an Kants Rechtsbegriff orientierenden Formulierungen, ebenso aber auch die Analysen der Freiheit bei Hobbes, Locke, Rousseau, Hegel oder vielen anderen, daß es in der Regel nicht unsere individuelle freie Wahl ist, diesen oder jenen Gebrauch von unserer Freiheit zu machen, sie also - dem Kantischen Rechtsbegriff folgend - ausschließlich so zu gebrauchen, daß sie „sich mit der Freiheit des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigen lasse."85 Vielmehr zeigt die Hobbessche Analyse des Naturzustands als Kriegszustand; zeigt das, was Kant den Antagonismus der ungeselligen Geselligkeit86 nennt; oder das, was Hegel - wie gleich noch zu zeigen - als Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft exponiert: daß es bestimmte, aus den gesellschaftlichen Bedingungen - z.B. des Krieges oder des ökonomischen Kampfes ums Dasein - resultierende Zwänge gibt, die Menschen dazu nötigen können, von ihrer Freiheit einen solchen Gebrauch zu machen, daß die Freiheit des andern und damit in letzter Konsequenz dieser selbst - vernichtet wird. In welchen Formen die sich ins Extrem der individuellen Freiheit durch alle Antagonismen und tödlichen Konflikte hindurch entwickelnden Bestimmungen der Freiheit87 noch weiter entwickeln werden, wissen wir 84
Vgl erneut Kant 6.23024_26. Ebd. 6.230 22( . 86 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Vierter Satz, in: Kant 8.20-22, insbesondere 8.20 30 . 87 „Die Freiheit, zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet, erhält die Form von Nothwendigkeit, deren substantieller Zusammenhang das System der Freiheits-Bestimmungen, und der 85
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nicht; jedenfalls so lange nicht, wie wir die lebensfördernden und tödlichen Möglichkeiten von Freiheit in ihren produktiv-destruktiven Antagonismen ignorieren, nicht analysieren, nicht begreifen und sich unkontrolliert weiterentwickeln lassen. Denn: „§243
Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich in ungehinderter Wirksamkeit befindet, so ist sie innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen. - Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weise, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer - denn aus dieser gedoppelten Allgemeinheit wird der größte Gewinn gezogen - auf der einen Seite, wie auf der andern Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt. $245
... Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Ubermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern. ... §246
Durch diese ihre Dialektik wird die bürgerliche Gesellschaft über sich hinaus getrieben, zunächst diese bestimmte Gesellschaft, um außer ihr in anderen Völkern, die ihr an den Mitteln, woran sie Überfluß hat, oder überhaupt an Kunstfleiß usf. nachstehen, Konsumenten und damit die nötigen Subsistenzmittel zu suchen." 88 Hegels Gedanken aufnehmend müßte man im Zeitalter der Globalisierung hinzufügen: Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weise, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich heute die Anhäufung der Reichtümer ... auf der einen Seite, wie auf der andern Seite die Vereinzelung und erscheinende Zusammenhang als die Macht, das Anerkanntseyn, d.i. ihr Gelten im Bewußtseyn ist. ... Diese Einheit des vernünftigen Willens mit den einzelnen Willen, welcher das unmittelbare und eigenthümliche Element der Bethätigung des erstem ist, macht die einfache Wirklichkeit der Freiheit aus." (HegelEnzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, §§ 484/485, in: aaO S. 478 I 8 -479 7 8 * Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, in: Theorie-Werk-Ausgabe, hrsg. von E. Moldenhauer und Κ. M. Michel, Bd. 7, Frankfurt 1970.
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Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse nicht nur in einem Volk, sondern weltweit - international und global. Die sog. G 7-Länder - Rußland Inbegriffen, sind es acht - verfügen über „die Anhäufung der Reichtümer - denn aus dieser gedoppelten Allgemeinheit wird der größte Gewinn gezogen", dem Rest der Welt bleibt „auf der andern Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse" überlassen. Wohin die bürgerliche Gesellschaft unter diesen Bedingungen getrieben wird, wissen wir - noch - nicht. Das ist jedoch keine Schicksalsfrage und -fügung. Die Frage ist vielmehr, ob wir den politischen Willen haben und gesellschaftlich geltend machen, die Antagonismen der Freiheit und des Rechts, die Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft zu begreifen und in sie einzugreifen. Gefordert ist also der gesellschaftliche Wille, diese Dialektik die uns nicht von Göttern oktroyiert, sondern von uns selbst, unserer Freiheit, produziert und reproduziert wird - nicht einfach geschehen zu lassen, sondern ihrer Herr zu werden. Freiheit und Recht zu begreifen, ist möglich und geboten. Philosophen haben dafür zum Teil hervorragende Vorarbeiten geleistet. Freiheit sich nicht ins Extrem der unkontrollierten Subjektivität, Einzelnheit, entwickeln zu lassen und Bedingungen zu finden, unter denen alle Menschen an der Freiheit, den von ihr produzierten Gütern, Energien und Reichtümern teilhaben können: das ist die Aufgabe. Hegel begreift diese Aufgabe u.a. wie folgt: „Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten." 89 Nehmen wir diese Aufgabe an, die sich ins Extrem der persönlichen Besonderheit vollendende] Subjektivität, die Freiheit, durch ihre Widersprüche und Antagonismen hindurch in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm - d. h. in dem ins Extrem persönlichen Besonderheit entwickelten Prinzip der Subjektivität der Freiheit - selbst diese - nämlich die substantielle Einheit der individuellen und der gesellschaftlichen Freiheit, in der auch die dank der Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft vom „Genuss[es] der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft" (§ 243) Ausgeschlossenen zu ihrem Recht kommen, - zu erhalten. Und nehmen wir die zu ihrer Bewältigung geleisteten Vorarbeiten zur Kenntnis, die noch zu leistenden Analysen in Angriff: dann gelangen wir vielleicht doch noch, der Vernunft folgend, zur Beantwortung der Frage „Was ist Recht?". " Ebd., § 260.
Wozu heute Rechtswissenschaften lehren und studieren? - Überlegungen zur Selbstbehauptung der Jurisprudenz im Zeichen einer an der Freiheit der Person orientierten staatlichen Juristenausbildung MICHAEL KAHLO
I.
1) Durch die Beiträge des vorliegenden Buches soll mit Dieter Meurer eines Kollegen gedacht werden, der sich in seinem vielseitigen Leben als Rechtswissenschaftler über Jahre hinweg außergewöhnlich intensiv und unermüdlich hochschulpolitisch engagiert hat. Eine nicht unerhebliche Anzahl von Publikationen1 und seine langjährige Arbeit für den Deutschen Hochschulverband (DHV) 2 sind äußerer Ausdruck dieses Engagements, bei dem es ihm stets um eine gute Ordnung und lebendig-sinnvolle Gestalt der Universität im allgemeinen und der Juristenfakultäten im besonderen gegangen ist. Angesichts dessen wird es nicht fernliegend erscheinen, den allzu früh (und für die meisten von uns ganz überraschend) Verstorbenen durch Uberlegungen posthum zu ehren, die der Frage nach Sinn und Aufgaben einer freiheitlich-aufgeklärten, zeitangemessenen Juristenausbildung und deren ideeller, personeller und objektiver Voraussetzungen gewidmet sind.3 Daß diese Frage 1 Vgl nur D. Meurer Lernen lernen, JuS 1990, L 1-16 (zusammen mit Chr. Rennig)·, ders Für Ordnungsverstöße persönlich verantwortlich? Pflichten und Rechte des Hochschullehrers, in: Forschung & Lehre 1995, 510f; ders Im Visier der Staatsanwaltschaften. Drittmitteleinwerbung bei Kliniklieferanten, in: Forschung & Lehre 1997, 572 ff; sowie die im einzelnen hier nicht zu dokumentierende Vielzahl von Tageszeitungsartikeln (besonders in der „Oberhessischen Presse") zu jeweils aktuellen hochschulpolitischen Themen. 2 Hervorzuheben ist dabei insbesondere seine Tätigkeit als Vorsitzender des Landesverbandes Hessen des DHV, und zwar seit dem Jahre 1985 bis zu seinem Tod; vgl im übrigen auch die biographischen Daten am Ende dieser Gedächtnisschrift. 3 Teile des folgenden Gedankengangs habe ich am 7 September 2001 in Form eines abendlichen Plenarvortrages im Rahmen einer von der Studienstiftung des deutschen Volkes ill Olang (Südtirol) vom 2.-15. September 2001 organisierten Sommerakademie vorund zur Diskussion gestellt, bei der ich - zusammen mit R. Zaczyk - Veranstalter eines Kurses zum Thema „Recht, Politik und die Freiheit der Person" gewesen bin. Der dort ge-
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Michael Kahlo
auch einen Gegenstand der aktuellen staatlichen Initiativen zu einer umfassenden Umgestaltung der Rechtsgrundlagen des Universitätslebens 4 bildet,5 macht solche Überlegungen freilich auch in der Sache notwendig, und zwar, wie noch zu zeigen sein wird, im wahrsten Sinn des Wortes. 2) Diese Notwendigkeit war deshalb auch im Untertitel schon herauszustellen. Dieser weist darauf hin, daß Überlegungen zu Sinn und Zweck rechtswissenschaftlichen Arbeitens sowohl der das Recht Lehrenden als auch der Recht Studierenden im Rahmen einer Universität zur Zeit als „Überlegungen zur Selbstbehauptung der Jurisprudenz" (im Zeichen einer an der Freiheit der Person orientierten staatlichen Juristenausbildung) begriffen werden müssen, weil nämlich sich die Wissenschaft vom Recht zur Zeit in einer Art Bedrängnis („Krise") vorfindet, die insbesondere daraus resultiert, daß ihre Aufgaben im akademischen Betrieb - vor allem von außen, durch die Brille der gegenwärtigen Hochschulpolitik betrachtet - von vielen als dringend und tiefgreifend veränderungsbedürftig angesehen und behauptet werden. Diese Ansicht hat nicht erst in den letzten Jahren zu einer Reihe von Reformvorschlägen für die Juristenausbildung geführt, 6 deren vorläufigen Endpunkt ein am 13. Juni 2001 (in Trier) einhellig - also ohne Gegenstimmen gefaßter Beschluß der Justizministerinnen und -minister der Bundesländer darstellte, 7 der jetzt der schon erwähnten Bundesratsinitiative zur Änderung insbesondere des Deutschen Richtergesetzes (DRiG) 8 zugrundeliegt.
führten lebhaften Diskussion vor allem mit Studierenden verdanke ich nicht nur verschiedene Hinweise und Anregungen, sondern diese haben mich auch in meinem Vorhaben bestärkt, den vorgetragenen Gedankengang weiterzuverfolgen. 4 Zu nennen sind hier zunächst insbesondere die durch die Novellierung des Hochschulrahmengesetzes (HRG) bereits erfolgte, tiefgreifende Veränderung des Hochschullehrerdienstrechts (mit der umstrittenen Einführung der sog. Juniorprofessur und der durch die Regelung des § 44 Abs 2 HRG n. F. intendierten De-facto-Abschaffung der Habilitation als Zugangsvoraussetzung zum Beruf des Universitätsprofessors) sowie das ebenfalls von der Bundesregierung initiierte, derzeit noch im Gesetzgebungsverfahren befindliche Vorhaben einer „kostenneutralen" Veränderung auch des Besoldungsrechts für Hochschullehrer durch das Gesetz zur Reform der Professorenbesoldung (ProfBesReformG). 5 Vgl dazu die Bundesratsinitiative zur Reform der Juristenausbildung, die mittlerweile als Entwurf für ein „Gesetz zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes und der Bundesrechtsanwaltsordnung" vorliegt, der am 24. Januar 2002 vom Deutschen Bundestag in 1. Lesung behandelt wurde. 6 Näheres zur „Vorgeschichte" nachstehend unter V. 1). 7 Veröffentlicht etwa in der JuS 2001, 933 (mit Gesetzentwurf als Anlage). 8 Aufgrund der für dieses Gesetzesvorhaben zentralen Orientierung bereits der universitären Juristenausbildung an anwaltlichen Berufstätigkeiten wären, wie der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesländer Niedersachsen und Sachsen zeigt, freilich auch Änderungen der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) erforderlich.
Wozu heute Rechtswissenschaften lehren und studieren?
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Als Vorhaben eines Reformgesetzes für das Jurastudium, das dessen Inhalt nachhaltig umgestalten soll,9 ist die Gesetzesvorlage Ausdruck eines im übrigen nicht nur - bei den Landesjustizministerinnen und -ministem zu verzeichnenden Verständniswandels hinsichtlich Sinn und Zweck rechtswissenschaftlicher Ausbildung.10 Diese ist fragwürdig geworden, und sollte der Entwurf für ein „Gesetz zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes und der Bundesrechtsanwaltsordnung" vom Deutschen Bundestag verabschiedet werden, so stünden den Juristenfakultäten nicht unerheblich Veränderungen ins Haus.11 Angesichts dessen erscheint es, wie bereits eingangs gesagt, durchaus notwendig, sich eine möglichst klare Vorstellung davon zu bilden, worin der gute Sinn von Lehre und Studium neuzeitlich aufgeklärter Jurisprudenz besteht und inwiefern die damit angesprochene Vernunft unsere aktuelle Ausbildungssituation zureichend prägt und bestimmt. 3) Diese Fragen dürften nicht allein für Juristinnen und Juristen von Bedeutung sein, ist doch das Recht als ein gemeinschaftsgründendes und -erhaltendes geistiges Phänomen eine bestimmende Kraft in unser aller bewußtem Leben, deren Wirkungsweise (Gestalt und praktische Umsetzung) nicht zuletzt auch von der Qualifikation (juristischen Urteilskraft) derjenigen Personen mitbestimmt wird, die staatliche Gesetze schaffen bzw. als Richter, Staatsanwälte, Verwaltungsjuristen, Rechtsanwälte, usw. alltäglich anwenden. Es ist deshalb nicht nur von „akademischem Interesse", wie gut die Universitätsausbildung dieser Personen ist. Freilich erfordert die thematische Problemstellung auch eine Antwort auf die vorgängige allgemeinere Frage des Sinns von universitärer Lehre und Universitätsstudium überhaupt. Deswegen werde ich im Folgenden meine Vorstellungen von dem „Wozu" der Lehre und des Studiums der Rechtswissenschaften in drei Schritten entwickeln: - im 1. Schritt wird ein gedankliches Modell von Universität in Erinnerung gerufen werden, dessen Vernunftgehalt mir jedenfalls in seinen wesentlichen Zügen bis heute unüberholt zu sein scheint, auch wenn die äußeren Bedingungen seiner Verwirklichung sich in der Zwischenzeit in vielerlei Hinsicht verändert haben (dazu nachstehend unter II.).
Vgl nur Hommelhoff,/Teichmann JuS 2001, 841: „Revolution der Juristenausbildung". Es sind nicht wenige auch unter den Hochschullehrern, die ebenfalls für einen solchen Wandel eintreten; siehe nur Hommelhoff aaO, dessen Standpunkt freilich schon deshalb nicht verwundert, weil er als Vorsitzender im „Ausschuß zur Koordinierung der Juristenausbildung für die Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister" sowie der „Arbeitsgruppe Juristenausbildungsreform der Hochschulrektorenkonferenz" fungiert. 11 Näheres dazu im Folgenden, besonders unter Ziffer V. 9
10
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- Im Ausgang von diesem Modell wird dann im 2. Schritt weiter bestimmt werden, was eine zeitgemäße universitäre Juristenausbildung zu ihrem Gegenstand zu machen hat (Inhalt) und wie sie diesen im Universitätsbetrieb behandeln sollte (Form), dazu nachstehend unter III. - Schließlich sollen in einem 3. Schutt Mindestbedingungen benannt werden, die für Studierende und Lehrende gegeben sein müssen, wenn das zuvor begründete Konzept einer zeitangemessenen Juristenausbildung an einer Universität die Chance haben soll, von den Beteiligten verwirklicht zu werden (dazu nachstehend unter IV.). Von der auf diesem Weg gewonnenen Beurteilungsgrundlage soll abschließend dann untersucht werden, ob und inwiefern der schon erwähnte, zur Zeit vorliegende Entwurf des Bundesrates für ein „Gesetz zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes und der Bundesrechtsanwaltsordnung" den heute an eine gegenstandsbezogen-sachgerechte Juristenausbildung zu stellenden Anforderungen genügt.
II. 1) Ich beginne mit dem ersten Gedankenschritt, dem Grundmodell von Universität als einer „Art von gelehrtem gemeinen Wesen", wie Kant im „Streit der Facultäten" von 179812 die Hochschule bezeichnet hat. Dieses Modell, an das hier zu erinnern ist, wurde um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert herum entworfen. Seine maßgebliche gedankliche Basis war eine neue Idee von Wissenschaft und Bildung, die im Zusammenhang mit dem Aufbruch der klassischen deutschen Philosophie entstanden war. Seine Gestalt bildete sich unter dem Einfluß der in ihrem hier interessierenden Gehalt im wesentlichen kongenialen Arbeiten von KantΡ Fichte,14 Schleiermacher,15 und nicht zuletzt Wilhelm von Humboldt16 aus,17 und führte be12
Vgl AA VII, Einleitung, S. 17 - Hier und im Folgenden werden Kants Werke zitiert nach Band und Seitenzahlen der Akademie-Ausgabe (AA). 13 Der Streit der Facultäten in drei Abschnitten, 1798. 14 Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt, geschrieben 1807, zuerst erschienen 1817; vgl zuvor, wenngleich mit stärkerer Betonung der Aufgaben der Lehrenden, bereits dens Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, 1794. 15 Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende, 1808. 16 Ueber die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, 1810; vgl zuvor schon dens Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück, 1793. 17 In die Reihe der vorgenannten Arbeiten gehört in gewisser Weise auch Schillers berühmte Jenenser Antrittsvorlesung von 1789: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, vgl ders Sämtliche Werke in 5 Bänden (ed. G. Fricke und H . G. Göpfert), München 1980, Band 4, S. 749 ff.
Wozu heute Rechtswissenschaften lehren und studieren?
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kanntlich schließlich im Jahre 1810 zur Gründung einer neuen Universität in Berlin. (1) In der Einleitung zu seiner schon erwähnten Schrift „Der Streit der Facultäten" (1798) beschreibt Kant die Universität und ihre Fakultäten folgendermaßen: „Es war kein übeler Einfall desjenigen, der zuerst den Gedanken faßte und ihn zur öffentlichen Ausführung vorschlug, den ganzen Inbegriff der Gelehrsamkeit (eigentlich die derselben gewidmeten Köpfe) gleichsam fabrikenmäßig, durch Vertheilung der Arbeiten, zu behandeln, wo, so viel es Fächer der Wissenschaften giebt, so viel öffentliche Lehrer, Professoren als Depositeure derselben angestellt würden, die zusammen eine Art von gelehrtem gemeinen Wesen, Universität (auch hohe Schule) genannt, ausmachten, die ihre Autonomie hätte (denn über Gelehrte als solche können nur Gelehrte urtheilen); die daher vermittelts ihrer Facultäten (kleiner, nach Verschiedenheit der Hauptfächer der Gelehrsamkeit, in welche sich die Universitätsgelehrte theilen, verschiedener Gesellschaften) theils die aus niedern Schulen zu ihr aufstrebende Lehrlinge aufzunehmen, theils auch freie (keine Glieder derselben ausmachende) Lehrer, Doctoren, nach vorhergehender Prüfung aus eigner Macht mit einem von jedermann anerkanntem Rang zu versehen (ihnen einen Grad zu ertheilen), d.i. sie zu creiren, berechtigt wäre."18 Die Universität wird also vorgestellt als eine Art von „Denkfabnk", die als Gemeinschaft von Wissenschaftlern („gelehrtes gemeines Wesen") ihre Geschäfte (Aufgaben) selbstbestimmt betreiben sollte („Autonomie") und als Institution - ähnlich wie heute - in durch die jeweiligen Wissenschaftsgebiete umgrenzte Fakultäten sich gliedert. Hinsichtlich dieser Fakultäten knüpft Kant im folgenden dann zwar an die zu seiner Zeit tradierte Einteilung in sogenannte „höhere" - dazu zählt er die theologische, die medizinische und die Junstenfakultät - und sogenannte „niedere"Fachbereiche an (worunter er die in die zwei Bereiche der historischen Erkenntnis und der reinen Vernunfterkenntnis gegliederte philosophische Fakultät versteht), aber er tut dies doch nicht ohne zugleich mit auszusprechen, was er von dieser Einteilung hält: „Nach dem eingeführten Brauch werden sie in zwei Klassen, die der drei obern Facultäten und die einer untern, eingetheilt. Man sieht wohl, daß bei dieser Eintheilung und Benennung nicht der Gelehrtenstand, sondern die Regierung befragt worden ist. ... die Regierung aber interessirt das am allermeisten, wodurch sie sich den stärksten und daurensten Einfluß aufs Volk verschafft, und dergleichen sind die Gegenstände der obern Facultäten. Daher behält sie sich das Recht vor, die Lehren der obern selbst zu sanktionieren·, die der untern überläßt sie der eigenen Vernunft des gelehrten Volks."19
ι» Vgl aaO Fn 13, S. 17. '» AaO, S. 18 f.
Michael Kahlo
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(2)
D i e in d i e s e m Z i t a t enthaltene K r i t i k eines allzu b e s c h r ä n k t e n V e r s t ä n d -
nisses v o n d e n A u f g a b e n der t h e o l o g i s c h e n , der m e d i z i n i s c h e n u n d der J u ristenfakultät u n d die in dieser K r i t i k v e r s t e c k t e F o r d e r u n g , die m e n s c h l i c h e Vernunft - hier: der G e l e h r t e n - staatlicherseits a u c h hinsichtlich der U n i versität allgemein a n z u e r k e n n e n , hat n u n - n e b e n d e n s c h o n g e n a n n t e n Fichte
u n d Schleiermacher
- Wilhelm
von Humboldt
aufgegriffen u n d eine
u m f a s s e n d e Pflicht des Staates postuliert, die Freiheit der W i s s e n s c h a f t u n b e d i n g t z u g e w ä h r e n . 2 0 In seiner 1810 e r s c h i e n e n e n A n h a n d l u n g „ U e b e r die innere u n d ä u s s e r e O r g a n i s a t i o n d e r h ö h e r e n wissenschaftlichen A n s t a l t e n in B e r l i n " schreibt er z u r Aufgabe Prinzipien Wissenschaft
von und
Selbstbestimmung
der Universität und
Selbständigkeit
nach
der neuen,
orientierten
an Idee
den von
Bildung:
„Der Begriff der höheren wissenschaftlichen Anstalten, als des Gipfels, in dem alles, was unmittelbar für die moralische Cultur der Nation geschieht, zusammenkommt, beruht darauf, dass dieselben bestimmt sind, die Wissenschaft im tiefsten und weitesten Sinne des Wortes zu bearbeiten, als einen nicht absichtlich, aber von selbst zweckmässig vorbereiteten Stoff der geistigen und sittlichen Bildung zu seiner Benutzung hinzugeben. D a diese Anstalten ihren Zweck indess nur erreichen können, wenn jede, soviel als immer möglich, der reinen Idee der Wissenschaft gegenüber steht, so sind Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreise vorwaltenden Principien. D a aber auch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, und zwar nicht bloss, damit Einer ersetze, was dem Anderen mangelt, sondern damit die gelingende Thätigkeit des Einen den Anderen begeistere und Allen die allgemeine, ursprüngliche, in den Einzelnen nupeinzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde, so muß die-irtnere Organisation dieser Anstalten ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten. Es ist ferner eine Eigenthümlichkeit der höheren wissenschaftlichen Anstalten, dass sie die Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem behandeln und daher immer im Forschen bleiben, da die Schule es nur mit fertigen und abgemachten Kenntnissen zu thun hat und lernt. Das Verhältniss zwischen Lehrer und Schüler wird daher durchaus ein anderes als vorher. D e r erstere ist nicht für die letzteren, Beide sind für die Wissenschaft da; sein Geschäft hängt mit an ihrer Gegenwart und würde, ohne sie, nicht gleich glücklich vonstatten gehen; ... Was man daher höhere wissenschaftliche Anstalten nennt, ist, von aller Form im Staate losgemacht, nichts Anderes als das geistige Leben der Menschen, die äussere Müsse oder inneres Streben zur Wissenschaft und Forschung hinführt." 2 1
20 Vgl dazu R. Bubner Humboldts Universität - ein Ideal, das nicht sterben will, Tübinger Universitätsreden 8 (1960), abgedr. in ders Zwischenrufe. Aus den bewegten Jahren, Frankfurt am Main 1993 (edition Suhrkamp), S. 88ff, S. 92. 21 So Wilhelm von Humboldt'Werke in fünf Bänden (ed. A. Flitner und K. Giel), Band IV: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, 3. Aufl, Darmstadt 1982, S. 255, 256.
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Damit ist zunächst dreierlei über die Universität als O r t der Wissenschaft und Bildung ausgesagt: Erstens:
Die so bestimmte Wissenschaft fördert am besten die Kultur -
nach Humboldt sich zweckhaften
auch die moralische Kultur - einer Nation, wenn sie den in Bildungsprozeß
vorantreibt und bereichert, d . h . besonders
keinen äußeren, ihr vorgegebenen Zwecken unterworfen wird. Zweitens
erwächst sie aus einem Ethos reinen Forschens, dem kein Problem
als endgültig gelöst gilt und dem kein schulmäßig zu verabreichendes („einzutrichterndes") Wissen genügt. 2 2 Drittens:
Die mit der Wissenschaft einhergehende Bildung vollzieht sich
prinzipiell nicht kollektiv, sondern an Individuen,
die ihre wissenschaft-
liche Tätigkeit - von Zwängen unbeeinflußt - je für sich bestimmen. Gerade durch das zwanglose Miteinander solcher in Einsamkeit und Freiheit sich Bildender, Gebildeter, erweitert und belebt sich aber zugleich das überindividuelle Zusammenwirken. 2 3 Eine wichtige F o r m solchen Zusammenwirkens ist dabei auch die sitäre Lehre. Dazu nochmals von
univer-
Humboldt:
„Wenn man die Universität nur dem Unterricht und der Verbreitung der Wissenschaft, die Akademie aber ihrer Erweiterung bestimmt erklärt, so thut man der ersteren offenbar Unrecht. Die Wissenschaften sind gewiss ebenso sehr und in Deutschland mehr durch die Universitätslehrer als durch die Akademiker erweitert worden, und diese Männer sind gerade durch ihr Lehramt zu diesen Fortschritten in ihren Fächern gekommen. Denn der freie mündliche Vortrag vor Zuhörern, unter denen doch immer eine bedeutende Zahl selbst mitdenkender Köpfe ist, feuert denjenigen, der einmal an diese Art des Studiums gewöhnt ist, sicherlich ebenso sehr an, als die einsame Müsse des Schriftstellerlebens oder die lose Verbindung einer akademischen Genossenschaft. Der Gang der Wissenschaft ist offenbar auf einer Universität, wo sie immerfort in einer großen Menge und zwar kräftiger, rüstiger und jugendlicher Köpfe herumgewälzt wird, rascher und lebendiger. Ueberhaupt lässt sich die Wissenschaft als Wissenschaft nicht wahrhaft vortragen, ohne sie jedesmal wieder selbstthätig aufzufassen, und es wäre unbegreiflich, wenn man nicht hier, sogar oft, auf Entdeckungen stossen sollte. Das Universitätslehren ist ferner kein so mühevolles Geschäft, dass es als eine Unterbrechung der Müsse zum Studium und nicht viel mehr als ein Hülfsmittel zu demselben gelten müsste." 24 D e m damit aufgestellten Grundsatz der Einheit
von
Wissenschaft
und
Lehre korrespondiert im übrigen die schon bei Kant beschriebene Aufgabe jeder Fakultät, die Schulabsolventen (bei Kant: „... die aus niedern Schulen zu ihr aufstrebenden Lehrlinge . . . " ) aufzunehmen, den jungen Studierenden den Eintritt und Ubergang in ihr Studium (ihr neues wissenschaftliches Le22 23 24
Vgl dazu auch von Humboldt aaO, S. 257 unten. So zutreffend bereits R. Bubner aaO Fn 20, S. 93. AaO Fn 21, S. 262.
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ben) zu erleichtern und nicht zuletzt den wissenschaftlichen Nachwuchs und dessen Entwicklung zu befördern. Diese Aufgabe kann sie - auf der Basis des gerade erinnerten Begriffs von Wissenschaft - nur dann erfüllen, wenn in der Universität die Professoren und Studierenden als Denkende grundsätzlich gleichrangig, d.h. als gleichbedeutsam für die Institution und im Betrieb der Hochschule, behandelt werden. Denn dieser Wissenschaftsbegriff kehrt sich ja eben ab von dem bis dahin dominierenden Verständnis, demzufolge die Hochschullehrer in irgendeiner Form in dem Besitz der Wahrheit und deshalb insoweit vorrangig anzusehen waren, als sie diesen Besitz mit den Studierenden zu teilen - in Praxi: ihnen mitzuteilen - hatten.25 (3) Was sind auf der Basis dieser Idee von Wissenschaft und Bildung sowie im Rahmen dieses Modells von Universität aber die Aufgaben des Staates? Daß er die Freiheit der Wissenschaft zu respektieren hat, wurde bereits gesagt.26 Darüber hinaus hat er - „da es nun einmal in der positiven Gesellschaft äussere Formen und Mittel für jedes irgend ausgebreitete Wirken geben muß" - die Pflicht, „diese auch für die Bearbeitung der Wissenschaft herbei zu schaffen".27 Er hat m. a. W. Gebäude und Geld für Bücher oder andere wissenschaftliche Arbeitsmittel in ausreichendem Maß bereitzustellen und darf sich dieser als Staatszweck zu verstehenden Verantwortung auch nicht dadurch entziehen, daß er den Universitäten resp. Fakultäten - sei es auch nur de facto, durch fortgesetzte gravierende Kürzungen der öffentlichen Gelder - auferlegt, sich zunehmend durch die Einwerbung privater Drittmittel zu finanzieren.28 Er hat die Professoren zu ernennen und zu
bezahlend
25 Vgl dazu schon H. Schelsky Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 91/92. 26 Siehe dazu auch nochmals von Humboldt aaO Fn 21, S. 259. 27 AaO, S. 257 - Dies schließt die Konkurrenz von in privater Trägerschaft organisierten Hochschulen ersichtlich so lange nicht aus, wie dadurch die Schaffung und Unterhaltung von Universitäten als prinzipielle Staatsaufgabe, verstanden als staatliche Primärverantwortung für Bildung und Wissenschaft, nicht aus dem Blick gerät; s. zu einem aktuellen Beispiel (Bucerius Law School) für eine solche Hochschule den Beitrag von S. Leske JuS 2001, 414. 28 Private Drittmittel können also - so auch die Auffassung von Dieter Meurer, der solche Mittel wiederholt für seinen Marburger Fachbereich eingeworben hat - allenfalls so etwas wie eine außerordentliche Finanzierung von wissenschaftlichen Zusatzprojekten sein, die zudem gerade für das Gebiet des Rechts einer besonders sorgfältigen Unbedenklichkeitsprüfung nicht nur im Hinblick auf die gewährende Person oder Institution und deren besonderes Interesse an dem jeweiligen Projekt bedarf. 29 Vgl aaO Fn 21, S. 264/265. - Es versteht sich, daß diese Pflicht - nicht erst aufgrund der aktuellen Rechtsform der deutschen Universitäten als Körperschaften des öffentlichen Rechts (bei gleichzeitiger Organisation als Selbstverwaltungskörperschaften) - auch die Beschäftigung des sonstigen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Personals einschließt.
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Die Gliederung und den Ablauf des wissenschaftlichen Betriebs soll er durch „wenige und einfache ... Organisationsgesetze"regeln,30 d.h. modern gesprochen: Rahmengesetze schaffen. Viertens hat er sich darum zu bemühen, die wissenschaftliche Tätigkeit „immer in der regsten und stärksten Lebendigkeit zu erhalten", 31 freilich ohne diesbezüglich unmittelbar einzugreifen, da er sich immer bewußt bleiben muß, daß er diese Lebendigkeit selbst „nicht eigentlich ... bewirkt noch bewirken kann", sondern „vielmehr immer hinderlich ist, sobald er sich hineinmischt." 32 Und schließlich soll er die Schulen so ein- und ausrichten, „dass sie den höheren wissenschaftlichen Anstalten gehörig in die Hände arbeiten", d. h. die Schüler „physisch, sittlich und intellectuell" auf ihren „Uebertritt von der Schule zur Universität" zureichend vorbereiten. 33 2) Nach dieser erinnernden Bestandsaufnahme muß freilich jetzt die Rede darauf kommen, was sich seither verändert hat und ob und inwieweit diese Veränderungen auch Korrekturen an der hier in Erinnerung gerufenen Vorstellung von Bildung und Wissenschaft und dem darauf bezogenen Modell von Universität erfordern. Immerhin sind seit der Entstehung dieses Modells inzwischen etwa 200 Jahre ins Land gegangen. Dabei beschränke ich mich auf die aus meiner Sicht für den thematischen Zusammenhang wichtigsten Umgestaltungen. Unter diesen Veränderungen - die hier aus Platzgründen nur exemplarisch zu behandeln sind34 - sind wohl vor allem folgende Entwicklungen zu nennen: 35 AaO, S. 259. AaO, S. 256. 32 AaO, S. 257 oben. 33 AaO, S. 260/261. - Daß diesbezüglich, aus unterschiedlichen Gründen (die hier nicht mitbehandelt werden können, zu denen aber gewiß sozial und wirtschaftlich bedingte, zunehmende Erosionen in den Familien sowie die Verlagerung zunehmender sozialer Spannungen auch in die Schulen zählen) in Deutschland schon seit geraumer Zeit Vieles im Argen liegt, wird man schwerlich bestreiten wollen. Ob und inwiefern allerdings die gegenwärtig vieldiskutierte Pisa-Studie, in der das deutsche Schulbildungssystem im internationalen Vergleich schlecht abzuschneiden scheint, die Lage zutreffend erfaßt, wird erst noch sorgfaltigerer Analyse bedürfen. Und erst auf deren Grundlage wird sich seriös beurteilen lassen, was eigentlich zu reformieren ist. 30 31
34 Eine genauere, auch in die Einzelheiten gehende Erörterung muß einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben. 35 Informativ zu den im Folgenden thematischen Umgestaltungen vor allem R. Bubner, aaO Fn 20, S. 93, 94 und D. Henrich Die Krise der Universität im vereinigten Deutschland, in: ders Nach dem Ende der Teilung. Über Identitäten und Intellektualität in Deutschland, Frankfurt a. M. 1993, S. 125ff, bes. S. 131 ff, der die Aufgabe einer zureichend rational begründeten Reform der Einrichtung der Universität als eine Chance bestimmt, die sich auch aus „der grundlegenden Veränderung aller Verhältnisse in Deutschland, die mit der Wie-
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- der Fortgang vom Ständestaat der preußischen Monarchie zu einem demokratisch verfaßten Rechtsstaat auf dem Boden des Grundgesetzes; - der immer stärker sich beschleunigende Fortschritt in den Naturwissenschaften und die in deren Anwendung dramatisch angewachsene Bedeutung der Technik-, - die auch infolge dieses Fortschrittes zu verzeichnende starke Ausdifferenzierung der Wissenschaften und die damit einhergehende Spezialisierung der Wissenschaftler, - das damit zugleich anzusprechende Anwachsen unserer Wissensmengen, sowohl im Ganzen als in jeder Einzelwissenschaft, und deren allgemeine Verbreitung (Stichwort: die Entstehung der „Wissensgesellschaft"); - Die Auswirkungen der schon genannten Technik auf die Arbeitswelt und deren Produktionsprozesse: Wir sind ein „Staat der Industriegesellschaft" (E. Forsthoff) geworden; 36 - Die unter anderem mit Rücksicht darauf erfolgte Übertragung neuer Aufgaben auf unsere Universitäten; ich denke dabei insbesondere an die Vermittlung einer wissenschaftlich fundierten Vorbereitung auf die Berufspraxis;37 - Die auch dadurch und mit dem Ausbau unserer Hochschulen entstandene Massenuniversität·, - Die insbesondere auf diesen Typus von Universität bezogene Vorstellung der Interessenverschiedenheit der unterschiedlichen Gruppen von Hochschulangehörigen, d. i. die sog. Gruppenuniversität·, - und nicht zuletzt die zunehmende Internationalisierung der Forschung, die insbesondere in den Naturwissenschaften von großer Bedeutung sein dürfte. Nun sind diese Veränderungen zwar ganz gewiß gewaltig; wer wollte dies bestreiten. Die Frage ist aber, ob sie zu einer prinzipiell-umfassenden Revision des dargestellten Wissenschaftsbegriffs und des diesem entsprechenden Universitätsmodells oder sogar zu deren Preisgabe zwingt. Daß eine Einsicht unter ehedem ganz anderen Umständen gewonnen wurde, als sie heute gegeben sind, heißt ja noch nicht, daß sie - allein infolge der Veränderung dervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten ... wirklich eingetreten ist", ergibt (aaO, S. 126). - Einen guten Uberblick speziell über die sozialen Wandlungen, die Wissenschaft und Universität seit der hier in Bezug genommenen Zeit erfahren haben, gibt H. Schelsky aaO Fn 25, S. 175 ff. 36 Vgl zu den Folgen dieser Entwicklung für Wissenschaft und Universität J. Habermas Das chronische Leiden der Hochschulreform, Merkur 105 (1957), S. 265, dessen „soziologische Reflexion" vornehmlich darauf zielt, die unvernünftigen (weil einzig ökonomischmarktbestimmten) Elemente dieser Entwicklung in ideologiekritischer Absicht zu erfassen und so den Grund für eine zureichend durchdachte Hochschulreform vorzubereiten. 37 Daß es dabei nicht um Berufsausbildung engeren Sinnes, sondern um eine die spätere Berufstätigkeit vorbereitende Lehre geht, ist bereits hier zu betonen.
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der Situation - heute als unrichtig geworden zu beurteilen wäre.38 Anders ausgedrückt: „Festzustellen, wie die gewandelte Welt aussieht, hilft uns nirgends, in der Sache besser zu verstehen, was Wissenschaft (und Universität) ausmacht" 39 . Ich werde daher im folgenden so verfahren, daß ich aus dem soeben aufgestellten Katalog exemplarisch drei der benannten Wandlungen aufgreife, um sie mit Blick auf den erinnerten Begriff von Wissenschaft und Universität kurz (genauer) zu analysieren und dadurch diesen Begriff zugleich einer Kritik zu unterziehen. 3) Dabei soll die Kritik des Humboldt'sehen Wissenschafts- und Universitätsverständnisses mit Blick auf die moderne Ausdifferenzierung der Wissenschaften, die Integration auch der Berufsausbildung in die heutige Universität sowie das Faktum der Massenuniversität erfolgen. (1) Ich beginne dabei mit dem erwähnten Phänomen der Ausdifferenzierung der Wissenschaften und der damit einhergehenden Spezialisierung der Wissenschaftler. Als Faktum lässt sich ein solcher „Positivismus der Fächer" und die in dessen Konsequenz liegende Blickverengung deren Repräsentanten schwerlich bestreiten.40 Aber nötigt uns dieses Faktum wirklich zu einer neuen Idee von Wissenschaft, Bildung und Universität? - Ich meine nein. Denn ganz abgesehen von dem mit ihm verbundenen Zuwachs an Eindringlichkeit unserer Welterkenntnis (also der Horizonterweiterung, als die sich dieser Einsichtsgewinn vielleicht am treffendsten bezeichnen lässt), stellt es unser Vermögen, durch Reflexion zu rational begründeten Gegenstandsbestimmungen, Fachabgrenzungen sowie Einsichten in die Grundlagen und Methoden einer Wissenschaft zu kommen, nicht prinzipiell in Frage,41 sondern verlagert die genannten Aufgaben - am offensichtlichsten wohl die der Grundlagen- und
38 Vgl dazu nochmals D. Henrich, der (aaO Fn 35, S. 137ff) sehr schön zeigt, wie viele Essentialia des Humboldisehen Modells in Theorie und Wirklichkeit der hierzulande häufig als Vorbild dargestellten US-amerikanischen Universität enthalten sind: die Freiheit bei der Wahl der Studienschwerpunkte; die Chance, in sehr frühen Jahren mit bedeutenden Gelehrten zusammenzuarbeiten; die Intensität der Organisation der Colleges und die Konrentration in kleinen Gruppen, die einer Lebensgemeinschaft, auch mit Professoren, sehr nahekommt; und nicht zuletzt die Ausbildung der Universität als eines (wahrscheinlich das wichtigste) der Zentren, über das sich das intellektuelle Leben eines Landes ausbildet. 39
So zutreffend R. Bubner aaO Fn 20, S. 94 (Klammerzusatz von mir, Μ. K.). Vgl dazu schon ]. Habermas (aaO Fn 36, S. 268) mit dem Befund, es sei „das Programm der Einheit der Wissenschaften, die seit dem Tode Hegels mit fortschreitender Spezialisierung ihres Apparates der Synthese beharrlich sich entziehen", in den Reformansätzen auch der Nachkriegszeit unerfüllt geblieben. 41 In diesem Sinne auch R. Bubner aaO Fn 20, Seite 93/94. 40
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der Methodenreflexion - nur in die jeweiligen Einzeldisziplinen.42 Das Ideal eines originär nicht zweckgerichtet und nicht an der Hervorbringung bestimmter (Außen-)Wirkungen sich orientierenden Forschens wird dadurch jedoch nicht berührt. (2) Gleiches gilt im Ergebnis grundsätzlich auch für die heutige Integration der Vermittlung beruflich verwertbaren Wissens in die Hochschulausbildung auch wenn diese Integration zunächst in einem Spannungsverhältnis zum ersten Element des Humboldt sehen Wissenschaftsbegriffs zu stehen scheint, dem Element des selbstzweckhaften Forschungs- und Bildungsprozesses. Freilich hatte Wilhelm von Humboldt diesbezüglich deutliche Vorbehalte artikuliert, die an die seinerzeit verbreitete Entgegensetzung des sog. „Brotgelehrten" und des „philosophischen Kopfes", der Brotstudien sowie der wahren Wissenschaft, anknüpften, die Friedrich Schiller in seiner oben schon erwähnten, berühmt gewordenen Jenenser Antrittsvorlesung von 1789 „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" vorgetragen hatte. 43 Die Frage ist aber, ob die in Humboldts Wissenschaftsbegriff enthaltene Zweckfreiheit der universitären Praxis durch die genannte Aufnahme in die Lehre und Forschung an einer Universität das Ideal notwendig außer Kraft setzt, und diese Frage wird man aus folgenden Erwägungen zu verneinen haben: Wenn es nämlich richtig ist, daß wir Berufstätigkeit heute als eine Praxisform auffassen, die selbständiges Dasein mitermöglicht und deshalb Teil sinnvoller, selbstbestimmter Existenz ist, dann wird man die Ausbildung gerade für die qualifizierteren („akademischen") Berufe vernünftiger Weise nicht außerhalb der Universitäten praktizieren, sondern sie in die Fakultäten integrieren wollen, da das Ausmaß der in die Sparten des Berufslebens jeweils eingehenden Vernunft einen Zusammenhang (Wechselwirkung) nicht nur mit der Vernunft der individuellen Existenz bildet, 44 sondern zugleich in der Vermittlung durch die Individuen auch die konkrete Rationalität einer Gesellschaft mitbestimmt. Und jedenfalls so lange, wie die Aufgabe der Be-
42 Insofern übereinstimmend J. Habermas aaO Fn 36, S. 282: „statt einer verlorenen universitas litterarum nachzuhängen", habe heute „jede Spezialwissenschaft auf ihre eigenen Grundlagen zu reflektieren" (mit dem Zusatz: „und in einem ihr Verhältnis zur gesellschaftlichen Praxis zu kritisieren.") und öfter (bes. S. 283f).
« Vgl ders aaO Fn 17, bes. S. 750ff.
44 Konkret: Inwieweit die je spezifische Berufspraxis in ihren Organisationsformen und ihren gegenständlichen Gehalten durch zureichend - und d. h. in der freiheitsbegrifflich aufgeklärten Neuzeit: nicht nur funktional - begründete oder zumindest begründbare und insofern vernünftige Elemente geprägt wird, hängt auch von dem Entwicklungsstand der praktischen Vernunftvermögen derjenigen Personen ab, die diese Praxis durch ihre gedanklichen und unmittelbar tätigen Leistungen (Arbeit) alltäglich (mit-)gestalten. Und die Ausbildung dieser Vermögen wird durch das geistige Leben an einer Universität gewiß am intensivsten gefördert.
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rufsvorbereitung nicht um den Preis der reinen oder auch nur überwiegenden Zweckgerichtetheit der universitären Lehre wahrgenommen wird, was aus den Universitäten eine Art von Berufshochschulen machen würde, ist sie mit der hier vorgestellten und erinnerten Wissenschaftsidee gewiß vereinbar.« Wissenschaft, Bildung und Ausbildung können so zugleich Gegenstand der Lehre und des Studiums an einer „hohen Schule" sein, wobei der Wissenschaft zugleich die Aufgabe zuwächst, die Praxis des Berufslebens kritisch zu reflektieren und dadurch zu deren Verbesserung beizutragen. (3) Es bleibt das Faktum der Massenuniversität, das hier zunächst als allgemeines Phänomen des deutschen Hochschullebens angesprochen werden soll. Bezüglich dieses Faktums läßt sich nun zunächst schwerlich bestreiten, daß durch eine in Relation zu der Anzahl der Lehrenden schon lange viel zu große Anzahl von Studierenden - wie sie in vielen Fakultäten (nicht zuletzt den juristischen) zu verzeichnen ist - das Ideal der freien, in ihrem Streben nach Erkenntnis sich wechselseitig inspirierenden Interaktion zwischen den Professoren und Studierenden, das durch von Humboldt als ein „Zusammenwirken der Gebildeten" beschrieben worden ist, schwerlich zu realisieren ist. Wer hätte nicht in seinem Leben als Student oder Professor schon einmal die bedrückende Erfahrung jener alle Beteiligten lähmenden Atmosphäre gemacht, die in der Regel in einem überfüllten Hörsaal herrscht und es verhindert, durch eine Vorlesung so etwas wie Nachdenklichkeit bei den Studierenden im Raum zu erzeugen. - Auch droht der einzelne Student angesichts der zu großen Anzahl von Kommilitonen und der damit verbundenen Anonymität des Studienbetriebs als Individuum in die Bedeutungslosigkeit zurückzusinken. 46 Aber aus all dem folgt doch nicht, daß deshalb die erinnerte Idee der Wissenschaft und Bildung preiszugeben wäre. Deren als richtig eingesehene Bestimmung ist schwerlich dadurch zu „blamieren", daß eine unvernünftige staatliche und gesellschaftliche Praxis sie nicht oder nur eingeschränkt zur Wirkung kommen läßt. Vielmehr kann gutes universitäres Leben doch wohl nur dann gelingen, wenn man in der Idee über die - sei es zum Teil auch hoffnungs- und trostlos erscheinende - faktische Wirklichkeit hinausgreift und dieser das als richtig eingesehene Verständnis entgegensetzt. Solche Opposition kann heute 47 nur bedeuten, den Staat - selbst ohne Aussicht auf 45 Ebenso schon K. Jaspers Die Idee der Wissenschaft, 1. Aufl, Berlin 1923, Zweites Kapitel (S. 44 und öfter); D. Henrich aaO Fn 35, S. 127, der die Berufsvorbereitung - neben Bildung und Forschung - zu den drei Grundfunktionen einer Universität rechnet. 46 Vgl in diesem Sinne auch R. Bubner aaO Fn 20, S. 97 47 D. h. nicht zuletzt auch unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben durch Art. 12 Abs 1 GG in dessen Auslegung durch BVerfGE7, 377 (wonach Bedarfskriterien als objektive Berufszulassungsschranke nur ausnahmsweise zulässig sein sollen, und zwar zum ausschließlichen Zweck der „Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer
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kurzfristigen Erfolg - bei jeder sich bietenden Gelegenheit an seine oben eingeführte Pflicht zu erinnern, die geistige Tätigkeit an einer Universität „immer in der regsten und stärksten Lebendigkeit zu erhalten" 4 8 und deshalb das Zahlenverhältnis von Lehrenden und Studierenden in eine angemessene, dem Wissenschaftsbetrieb auch in der Lehre nicht abträgliche Relation zu bringen, d . h . modern gesprochen, durch die Schaffung von Stellen diejenige Betreuungsrelation
herzustellen, die den Beteiligten eine
reale Chance eröffnet, auch in der Wirklichkeit ihr Leben zur Idee zu erheben und die Idee in Leben zu verwandeln. 4 9 W i r sind also - cum grano salis - durchaus berechtigt, im Kern an der mit der klassischen deutschen Philosophie verbundenen Idee von Wissenschaft und Bildung an einer Universität festzuhalten 5 0 und diese - so hat es sich gezeigt - auf unser jeweiliges Fachgebiet zu beziehen.
III. Was heißt dies für das Studium der Jurisprudenz in heutiger Zeit? 1) Was nun der allgemeine wissenschaftlichen auf den Gegenstand
Sinn rechtswissenschaftlicher
Lehre und
Studiums heute sein kann, wird man nicht ohne der Jurisprudenz,
rechts-
Rückgang
das Recht und seinen Begriff, bestim-
Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut." - Freilich wird man auch die Funktionsfähigkeit der Universität darüber nicht vergessen dürfen, wie BVerfGE 33, 303 (339); 54, 173 (191) und 66, 155 (179) zu Recht betonen.); vgl zum Ganzen Pieroth/Schlink Grundrechte-Staatsrecht II, 16. Aufl, Heidelberg 2000, Rn 839, 863. 48 So Humboldt aaO Fn 21, S. 256. 49 Vgl aber auch D. Henrich (aaO Fn 35), der - ausgehend von der Einführung spezieller Studiengänge für solche Studierende, „die das Studium von vornherein auf ein Berufsziel orientieren wollen", und einer dementsprechenden Differenzierung im Lehrkörper (S. 148) - die Alternativen einer „vertikalen Trennung zwischen Universitäten" (vor allem von Ausbildungsuniversitäten und solchen Hochschulen, „in denen Forschung und situationsdefinierende Erkenntnis das eigentliche Ziel der Studien ist") und einer von ihm so genannten „horizontalen Gliederung" in Betracht zieht, nach der die Konzentrationspunkte von Studiengängen (ähnlich der Praxis der Studienstiftung oder der Forschungsstudiengänge der ehemaligen DDR) frühzeitig voneinander abzutrennen sein sollen (S. 149ff). Daß aber jedenfalls die „vertikale Trennung" die weitgehende Aufgabe der Humboldt sehen Idee bedeuten würde, erkennt er selbst und neigt deshalb ausdrücklich dem horizontalen Gliederungsmodell zu, das „wohl am meisten vom vielfältigen Universitätsleben zu bewahren vermöchte" (S. 152/153). 50 S. auch H. Lecheler JuS 1994, 183 (184), mit dem Hinweis darauf, daß die mit dieser Tradition verbundene „Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung der Wissenschaft" die Grundlage der herausgehobenen Stellung der Lehrfreiheit in Art. 5 Abs 3 GG bilde und daß es nicht ohne weitreichende Veränderungen in der Gesellschaft bleibt, wenn man „die in ihren Strukturprinzipien tradierte und bewährte universitäre Forschung und Lehre langsam austrocknet".
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men können. 5 1 - Damit scheint freilich vorerst eher ein weiteres Problem benannt zu sein. Ausweglos ist es aber nicht. Vielmehr findet sich schon bei Kant seine Exposition und ein bemerkenswert moderner Ansatz zu seiner Bewältigung. Er schreibt in der „Einleitung in die Rechtslehre" im Rahmen der „Metaphysik der Sitten" zunächst unter der Uberschrift „Was die Rechtslehre sei", sodann unter dem Titel „Was ist Recht?":
SA. Was die Rechtslehre sei. Der Inbegriff der Gesetze, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist, heißt die Rechtslehre (ius). Ist eine solche Gesetzgebung wirklich, so ist sie Lehre Ats positiven Rechts, und der Rechtskundige derselben oder Rechtsgelehrte (Iuris consultus) heißt rechtserfahren (Iuris peritus), wenn er die äußern Gesetze auch äußerlich, d. i. in ihrer Anwendung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle, kennt, die wohl auch Rechtsklugheit (Iuris prudentia) werden kann, ohne beide zusammen aber bloße Rechtswissenschaft (Iuris scientia) bleibt. Die letztere Benennung k o m m t der systematischen Kenntniß der Rechtslehre (Ius naturae) zu, wie wohl der Rechtskundige in der letzteren zu aller positiven Gesetzgebung die unwandelbaren Principien hergeben muß.
SB.
Was ist Recht? Diese Frage möchte wohl den Rechtsgelehrten, wenn er nicht in Tautologie verfallen, oder statt einer allgemeinen Auflösung auf das, was in irgend einem Lande die Gesetze zu irgend einer Zeit wollen, verweisen will, eben so in Verlegenheit setzen, als die berufene Aufforderung: Was ist Wahrheit? den Logiker. Was Rechtens sei (quid sit iuris), d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, kann er noch wohl angeben: aber ob das, was sie wollten, auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne, bleibt ihm wohl verborgen, wenn er nicht eine Zeit lang jene empirischen Principien verläßt, die Quellen jener Urtheile in der bloßen Vernunft sucht (wie wohl ihm dazu jene Gesetze vortrefflich zum Leitfaden dienen können), um zu einer möglichen positiven Gesetzgebung die Grundlage zu errichten. Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus' Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur Schade! daß er kein Gehirn hat. 5 2
51 Daß der weitgehende Verlust dieses Begriffs oder zumindest seiner auch nur annähernd adäquaten Bestimmung nicht ohne - nachteilige - Auswirkungen auf die aktuellen Bemühungen um die Juristenausbildungsreform bleiben kann, liegt auf der Hand. 52 Vgl I. Kant Metaphysik der Sitten, AA VI, Einleitung in die Rechtslehre, §§ A. und B., S. 228/229.
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2) Aus diesen knappen, dabei aber gehaltvollen Sätzen lassen sich - wie mir scheint - die hauptsächlichen Gegenstände („wesentlichen" Inhalte) eines unserer Zeit angemessenen rechtswissenschaftlichen Studiums ableiten: Es hat zunächst mit den aktuellen positivierten Rechtsgesetzen eines Staates zu tun, deren Kenntnis und ihrem Verständnis. Zu diesem Verständnis gehört die Rechtsdogmatik als der Inbegriff der zur Inhaltsbestimmung der Gesetze und deren begrifflicher Merkmale („Tatbestandsmerkmale") vertretenen Lehren, und zwar gegliedert in die 3 Hauptgebiete öffentliches Recht, bürgerliches Recht und Strafrecht. Ferner die Rechtsmethodik (Methodenlehre der Rechtswissenschaft), die in die Lehre von der Auslegung der Gesetze (d. i. der Kanon der Auslegungslehren) sowie die Lehre von deren Anwendung auf einzelne Sachverhalte („Fälle") gegliedert ist (Subsumtion im Sinne von Subsumtionstechnik). Damit ist freilich erst die Praxis des Rechtstechnikers (in der kantischen Terminologie: des „rechtserfahrenen Rechtskundigen") beschrieben, der es jedoch für sich genommen - nicht nur nach Kant5i - ersichtlich an „Gehirn" fehlt. Zu freiheitsbegrifflich-aufgeklärter und eben dadurch erst rechtswissenschaftlicher Urteilskraft kommt jedoch nur derjenige, der sich nicht mit dem Wissen um das empirisch vorfindliche positive Recht (Gesetz) und dessen Anwendung begnügt, sondern sich um einen Vernunftbegriff des Rechts bemüht, von dessen Basis sich die gesetzlich positivierten Lösungen für wirkliche und potentielle Handlungskonflikte im äußeren Miteinander daraufhin befragen lassen, ob sie_gerechte und deshalb Rechtsfrieden stiftende staatliche Regeln für die Co-Existenz freier Willkürsubjekte sind.54 Um einen solchen Begriff kann man sich nun auf 3 Wegen bemühen: Zum einen durch das Studium der Rechtsgeschichte, zum zweiten durch rechtsvergleichendes Arbeiten („was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben") und nicht zuletzt durch rechtsphilosophisches Denken. Daraus erhellt, daß diesen drei Gebieten als den 53 Vgl aus der neueren Diskussion um Universitätsreform und Juristenausbildung nur K. Seelmann u.a. Wissensvermittlung oder Studium? Das Bologna-Modell am Beispiel der Rechtswissenschaft, Neue Züricher Zeitung Nr 123 v. 30. 5. 2001, Seite 15, sowie zuvor bereits die im Rahmen der „Beschlüsse des 62. Deutschen Juristentages" (Bremen, 1998) zur Juristenausbildung unter Ziffer 3. formulierten Ausbildungsziele: „... nicht der Rechtstechniker, sondern der wissenschaftlich gebildete Jurist, der über juristische Urteilskraft verfügt, Zusammenhänge, auch mit anderen Wissensgebieten, erkennen und sich rasch in neue Fragestellungen einarbeiten kann." (abgedruckt in der JuS 1999, 100 (101)); ebenso schon die von der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg erarbeiteten „Heidelberger Empfehlungen" für die Neuregelung des Prüfungsstoffes der Ersten juristischen Staatsprüfung, JuS 1982,950 (951): „Das Studium an der Universität darf... nicht einseitig auf die Vermittlung rechtstechnischer Fertigkeiten ausgerichtet werden." 54 Näher dazu etwa R. Zaczyk Über Begründung im Recht, in: Ε. A. Wolff-FS. (1998), S. 509ff.
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Grundlagenfächern der Rechtswissenschaft größte Bedeutung zukommt und in der universitären Rechtslehre zukommen muß:55 Nicht etwa stehen sie neben den einzelnen Materien des positiven Rechts, sondern sie geben diesen, deren Dogmatik und Methodik, überhaupt erst die notwendige rationale Basis.56 3) Die so bestimmten Inhalte müssen zudem in einer dem jeweiligen Gegenstand entsprechenden Ausbildungsform zu lehren und zu studieren sein. Diese hat erstens und vor allem den wissenschaftlichen Charakter der Institution zu reflektieren,57 d.h. sie muß als Ausdruck der oben erinnerten Grundfunktionen von Universität (Forschung, Bildung und Berufsvorbereitung) gemäß deren Idee erkennbar und erlebbar sein. Daraus folgt zweitens, daß sie auch dort, wo Wissen (etwa Begriffsdefinitionen oder eine bestimmte Systematik58) zu vermitteln und zu lernen ist, das als begriffliches und systematisches Instrumentarium („Handwerkszeug") benötigt wird, zureichende Gelegenheiten dafür zu bieten hat, dieses nicht als verfestigtunumstößliche Gegebenheit, sondern vielmehr als Resultat eines bestimmten Denk- und Argumentationsprozesses zu präsentieren. Und sie wird schließlich, drittens, zu berücksichtigen haben, daß die Art und Weise, in der Studierende rechtswissenschaftliches Denken erlernen können, unhintergehbar individuell verschieden ist. 55 So zutreffend auch schon die „Würzburger Thesen des Juristen-Fakultätentags zur Juristenausbildung" (vgl dazu den Bericht von R. Mußgnug JuS 1995, 749; speziell zur einschlägigen 3. These S. 750 u. 751) sowie zuletzt M. Stolleis Gesucht: Ein Leitbild für den Juristen, NJW 2001, 200, 202. - Wenn G. Roellecke (JuS 1990, 337) demgegenüber „gegen die völlig herrschende Meinung" empfiehlt, keine Studienzeit mit juristischen Bildungsfächern wie Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte, usw. zu vergeuden, weil „Bildung" - mangels einer als „gebildet" abgehobenen Führungsschicht - heute beim Rechtsstudium obsolet geworden sei und kaum noch Einfluß auf die Karriere habe (S. 342), so erliegt er - seine Prämissen einmal als zutreffend vorausgesetzt - nicht nur einem naturalistischen Fehlschluß, sondern verkennt zudem, daß die mit diesem Standpunkt verbundene Entkoppelung „des Rechtssystems" von seinen gedanklichen Grundlagen einen sachlich nicht zu begründenden Verlust an Rechtskultur bedeuten würde. - Beschränkt man den rechtswissenschaftlichen Ertrag etwa der Rechtsphilosophie freilich darauf, „durch das Offenhalten von Fragen die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz zu gewährleisten" (aaO, bei Fn 44), mag es den Anschein haben, also drohe mit dem Verzicht auf dieses Grundlagenfach kein solcher Verlust. 56 Dieser Zusammenhang wird beispielsweise in der juristischen Methodenlehre nicht immer zureichend beachtet, wie etwa der gleichsam bodenlose Kanon der deshalb sachlich auch ganz unverbundenen Auslegungsmethoden (grammatische, subjektiv-historische, systematische und objektiv-teleologische) anzeigt. 57 Vor allem in diesem Punkt unterscheiden sich ja die Veranstaltungen des universitären Jurastudiums von den Lernangeboten privater kommerzieller Repetitoren. 58 Für das Strafrecht, das auch den Mittelpunkt der Lehre Dieter Meurers bildete, die unter anderem in seinen Lehrbüchern zum Allgemeinen und Besonderen Teil sowie zum Strafprozeßrecht bleibenden Ausdruck gefunden hat, also die etablierte Straftatsystematik mit ihrem dreigliedrigen Verbrechensaufbau und dessen Einzelelementen.
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Aus diesen drei Voraussetzungen hat sich auch die nicht nur im Jurastudium bereits seit langem etablierte Formenvielfalt der Veranstaltungen entwickelt, und zwar sowohl der Lehrveranstaltungen (Vorlesung, Übung, Kolloquium, Seminar) als auch der Leistungen, die seitens der Studierenden zu erbringen sind (vor allem Hausarbeit, Klausur, Referat). - Daß diese Leistungen in erster Linie nicht dem Erwerb in späterer Berufspraxis unmittelbar verwertbarer Fertigkeiten zu dienen haben,59 sondern an dem Zusammenhang von Wissenschaft und Bildung orientiert sind, mag freilich gerade im Hinblick auf das Jurastudium Hervorhebung verdienen, zumal dieser Zusammenhang sich nicht von selbst versteht. Indessen hat er nicht erst in den Bemühungen der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit, in Reaktion auf die „furchtbaren Juristen" der Nazi-Zeit, Beachtung gefunden, sondern er stand - zu Recht, worauf besonders Dieter Henrich hingewiesen hat60 bereits im Mittelpunkt des Humboldisehen Modells: Dieses war nämlich auf den inneren Zusammenhang von selbständigem Wissenserwerb und der Entwicklung der Befähigung zu verantwortlichem Handeln in dem Sinne begründet, daß sich mit der Aneignung jeder Wissenschaft, die diese nicht nur in ihren Techniken und Resultaten, sondern vielmehr aus ihrer inneren Genese erschließt, immer auch die Ausbildung einer begriffenermaßen selbst zu verantwortenden Perspektive auf Leben und Welt verbindet. Will man diesen Prozeß der Selbstbildung - gerade in einer nicht länger ständisch kommunizierenden, modernen Gesellschaft wie der unseren - nicht einer abgeschiedenen Sphäre privaten „Lebenstrainings" überlassen,61 so müssen gerade die Personen, die später selbst berufliche Verantwortung zu tragen haben, möglichst „in einem Bildungsgang zur Reife gekommen sein, in dem die Wege zur eigenständigen Einsicht, zur Selbständigkeit in sachbezogenem Urteilen und Handeln und zum Gewinn einer Gesamtperspektive auf Leben und Welt miteinander verwoben sind."62 Und dies gilt angesichts des59 So zutreffend auch die zentrale These im „Thesenpapier zur Reform der universitären Juristenausbildung" (sog. Ladenburger Manifest) von E. W. Böckenförde u. a. NJW 1997, 2935: „Ziel und Leitbild der nötigen Reform ... muß der rechts gelehrte, allseits einarbeitungsfähige Jurist sein, der über juristische Urteilskraft verfügt." - Insofern inhaltsgleich die „Beschlüsse des 62. Deutschen Juristentages" (Bremen, 1998) zur Juristenausbildung, aaO Fn 53: „... nicht der berufsfertige, sondern der berufs/ä'/ugeJurist, der in der Lage ist, sich in angemessener Zeit in einen juristischen Beruf einzuarbeiten" und „sich so fortzubilden, daß er den sich wandelnden Anforderungen seines Berufs fortlaufend gerecht wird." 60 Vgl aaO Fn 35, S. 137ff, bes. Fn 5 auf S. 140; auch S. 130. 61 Ganz abgesehen von kommerziellen Trainingskursen, wie sie heute in Zeitungsannoncen angeboten oder in größeren Unternehmen der Privatwirtschaft (für sog. Führungskräfte und solche, die es werden wollen) durchgeführt werden. 62 So D. Henrich aaO Fn 60; ähnlich bereits K. Jaspers Die Idee der Universität, 2. veränderte Aufl, Berlin/Heidelberg 1946 („Besinnung auf die autonome Bildungskraft der Wissenschaft"); vgl auch Th. Litt Der Bildungsauftrag der deutschen Hochschule, Göttingen 1952. - Spätestens jetzt sollte deutlich geworden sein, daß die hier in Bezug genommene Idee von Universität und (Jura-)Studium heute nicht weniger aktuell ist als vor 200 Jahren.
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sen gemeinschaftsprägender und -konstitutiver Funktion in besonderem Maße auch für das Recht und dessen Studium, das gerade seinen oben genannten Formen nach sowie in seinem Ablaufplan (Struktur) die Chance auf eine solche eigenverantwortliche, schrittweise und je individuelle Aneignung („Erarbeitung")63 rechtswissenschaftlicher Grundlagen und Zusammenhänge grundsätzlich zu eröffnen hat.
IV. Wie müssen nun die näheren Lehr-, Studien- und Lebensbedingungen konkret beschaffen sein, damit ein von dem hier vorstehend erinnerten Bildungs- und Wissenschaftsbegriff ausgehendes, das diesem Begriff entsprechende Konzept von Universität wahrnehmendes und nicht zuletzt an seinem freiheitsbegrifflich aufgeklärten Gegenstand orientiertes rechtswissenschaftliches Studium gelingen kann? 1) Ein solches Studium hätte sich, konkretisiert man seinen Gegenstand, heute zunächst auf die Grundlagenfächer (Rechts geschichte, Rechtsvergleichung, Rechtsphilosophie) sowie die Kernmaterien der drei Pflichtfächer Bürgerliches Recht, Strafrecht und Öffentliches Recht zu konzentrieren.64 In seinem Ablauf sollten die Studierenden schon möglichst früh mit den Grundlagenfächern konfrontiert werden, um ihnen so die Möglichkeit zu eröffnen, ihre auf das Recht bezogenen Vorurteile in der Konfrontation mit rationalem (und eben nicht nur technischem) Rechtsdenken abzubauen, und um die Jurisprudenz dadurch zugleich als Wissenschaft zu etablieren und zu verdeutlichen. Der daraus typischer Weise resultierenden Desorientierung in der Frühphase des Studiums ist insbesondere dadurch zu begegnen, daß die von den Studierenden in dieser Phase zu erbringenden Leistungen in Form von 63 Was dem Einen dabei Vorlesungen und Übungen (mit ihren Hausarbeiten und Klausuren) sein mögen, ist dem Anderen ein Seminar, in dessen Rahmen er einen Gegenstand frei wählen und dann in Form eines Seminarreferates wissenschaftlich bearbeiten und vortragen kann; ein Dritter mag seinen Zugang zur Rechtswissenschaft am ehesten in dem gemeinsamen Besprechen von Problemen (Kolloquium) finden. - In jedem Fall geht es um die Intensivierung rechtswissenschaftlichen Verständnisses an Stelle der heute (nicht zuletzt auch infolge des Repetitorunwesens) verbreiteten Extensivierung weitgehend unverstanden bleibenden Wissens mittels äußerlich nachvollziehenden (Auswendig-)Lernens. 64 Ebenso unlängst bereits M. Stolleis aaO Fn 55; insofern sachlich weitgehend übereinstimmend auch schon die „Beschlüsse des 58. Deutschen Juristentages" (München, 1990) zur Juristenausbildung (abgedr. unter Ziff. V. des Tagungsberichts von St. Schlosshauer-Selbach JuS 1991, 169), die diesen Standpunkt freilich mit der Forderung nach einer Untergliederung der Universitätsausbildung in ein Grund- und ein Vertiefungsstudium verbunden hatten (aaO S. 171).
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Übungen - ohne rechtliche Konsequenzen für die Fortsetzung ihres Studiums (aber natürlich mit Benotung, die ihnen eine ihrer Selbständigkeit gemäße Selbsteinordnung ermöglicht, die gefordert ist) - zu absolvieren sind. Etwaige „Zwischenprüfungen" - soweit sie überhaupt sinnvoll sind65 sollten frühestens nach dem 4. Semester durchgeführt werden. Während der ersten beiden Semester sollte allen Studierenden - über den Besuch der „Anfänger-Vorlesungen" hinaus - die Chance zur Arbeit in Kleingruppen eröffnet werden. Diese vorlesungsbegleitenden Arbeitsgemeinschaften sind nach Inhalt und Form an dem Zweck auszurichten, den Ubergang von der Schule zur Hochschule sachlich wie psychologisch zu erleichtern und zu befördern. Diesem Zweck entsprechend sollte die Kleingruppenarbeit vor allem grundlagentheoretische oder klassische juristische Texte zum Gegenstand haben, 66 um den Studierenden Gelegenheit zu geben, die neue, wissenschaftlich-universitäre Denkhaltung, in möglichst freier Aussprache mit Anderen durch Rückfragen und Diskussion, an einem anspruchsvollen Text zu erproben. - Dem heute weit verbreiteten, zumeist drängend geäußerten (im Ansatz auch verständlichen) Wunsch der Studierenden, durch die Befassung mit der Technik der Fallösung (Gutachtenstil, Methodik der Subsumtion, Hausarbeits- und Klausurtaktik. usw.) auf die (Anfänger-)Ubungen vorbereitet zu werden, kann am Ende der Arbeitsgemeinschaften hinreichend Rechnung getragen werden. Das rechtswissenschaftliche Universitätsstudium sollte sich an dem Ideal, Rechtsfragen möglichst objektiv richtig zu beurteilen und zu begründen, orientieren.67 Das ist nicht etwa eine Konsequenz aus einem „Richterleitbild" der Juristenausbildung, sondern folgt aus dem Gegenstand der Jurisprudenz: Da das Recht eine primär auf die Herstellung gerechter äußerer Verhältnisse zwischen Personen sowie in der Beziehung Bürger: Staat gerichtete Institution darstellt, müssen seine Bestimmungen, die Rechtsgesetze, zunächst als Regelungen mit Gerechtigkeitsanspruch begriffen und die mit diesen Regelungen verbundenen Rechtsfragen als Gerechtigkeitsprobleme verstanden und mit zureichenden, weil als vernünftig einsehbaren Begründungen beantwortet werden, ehe die je berufsspezifisch-differenzierten Leistungen („Rollen") verstanden werden können, derer es zur VerwirkliNäher zur Problematik solcher „Prüfungen" nachstehend unter Ziffer 2.) (3) lit. a.). Für das Strafrecht wäre hier beispielsweise an ein Kapitel aus Feuerbachs „Revision", das „Marburger Programm" Franz von Liszts, klassische Texte zum Verhältnis von Recht und Moral, oder ähnliches zu denken. 6 7 Überzeugend dazu schon M. Köhler Zur Reform des rechtswissenschaftlichen Studiums, JR 1991, 48; insofern übereinstimmend („Unterscheidung von Recht und Unrecht") G. Roellecke, aaO Fn 55, S. 337 f, der seine Auffassung allerdings von einem angenommenen „Richterleitbild" der Juristenausbildung (und insofern von einem anderen Ausgangspunkt) herleitet. 65
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chung möglichst gerechter, Selbständigkeit ermöglichender Lebensverhältnisse, insbesondere rechtsfriedenstiftender Konfliktbewältigungen, bedarf; und solche Begründungen sind nur durch praktische Vernunftschlüsse desselben Typs zu leisten, wie sie - wenngleich dort „einzelfallbezogen" - für richterliche Urteile und Entscheidungen ebenfalls charakteristisch sind. 68 Ziel einer solchen Ausbildung hat der in den genannten Grundlagen- und Kernfächern des Rechts gründlich und in hinreichender Breite ausgebildete, spezialisierungsfähige, aber nicht vorzeitig spezialisierte Jurist zu sein.69 Auf der dadurch beschriebenen wissenschaftlich-systematischen Grundlage lassen sich dann berufsfeldspezifische Ausbildungen und überhaupt auf die spätere Praxis und deren Aufgaben bezogene Fertigkeiten im Referendariat noch früh genug einüben. Den so umschriebenen wissenschaftlichen Charakter des universitären Jurastudiums als Grundlage und erster Teil einer verantwortungsbewußten, staatlichen Ausbildung unserer zukünftigen Juristinnen und Juristen 70 schützt und ermöglicht wohl am ehesten deren von ihren unterschiedlichen Aufgaben und Gegenständen bestimmte Untergliederung in zwei verschiedene Ausbildungsabschnitte71 (sog. Zwei-Phasen-Modell).72 Ein solches wissenschaftlich qualifiziertes Studium braucht Zeit. Lehre, Juristenausbildungs- und Prüfungsordnungen sowie die Studienablaufpläne
68 Zutreffend hat dementsprechend bereits Kant die menschliche Vernunft als „juridisch" gekennzeichnet und ihre Tätigkeit mit der eines „Gerichtshofes" verglichen. 6 9 Sog. Einheitsjurist; vgl in diesem Sinne bes. auch schon das „Ladenburger Manifest" von E. W. Böckenförde u. a., aaO Fn 59 sowie B. Jeand'Heur]uS 1999, 423, der das Konzept des Einheitsjuristen „aus rechtsstaatlichen Gründen für zwingend geboten" hält (S. 429). 70 Vgl zu der besonderen Verantwortung, die gerade wir Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer an den Juristenfakultäten „gegenüber den sich uns anvertrauenden Studenten wie gegenüber der Gesellschaft" tragen und der wir nur durch eine strikt wissenschaftlich orientierte und dadurch unsere Rechtskultur befördernde Lehre gerecht werden können, auch die verfassungstheoretischen Überlegungen von B. Jeand'Heur „zum Charakter von Recht" und dessen „Folgen für die Juristenausbildung" (aaO, S. 426ff). - Daß diese Überlegungen „die freiheitlich-emanzipatorische Funktion von Recht" und dessen Zwangsmoment („rechtsstaatlichen Gewaltbegriff") zu Unrecht gleichrangig nebeneinander stellen, kann für den hier thematischen Zusammenhang außer Betracht bleiben. 71 Daß diese in Deutschland traditionelle Untergliederung das Jurastudium derzeit zudem vor der prinzipienlosen Erweiterung im Angebot der Studiengänge und -abschlüsse (Bachelor, Master, diploma supplement, usw.) bewahrt, wie sie infolge der politischen Vorgaben der sog. „Bologna-Erklärung zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraumes" an anderen Fakultäten in jüngster Zeit zunehmend um sich greift, ist schon deshalb vermerkenswert, weil diese Tendenz zumeist auf ein nicht zureichend bedachtes und deshalb grundloses („blindes") Kopieren fremder, zumeist angloamerikanischer Ausbildungstraditionen und -Verhältnisse hinausläuft, anstatt in einen fruchtbaren Wettbewerb mit diesen Traditionen und Verhältnissen einzutreten, aus dem sich irgendwann so etwas wie eine gesamteuropäische Ordnung der Universitätsausbildungen entwickeln könnte. 72
Vgl zur Entwicklungsgeschichte dieses Modells H. HattenhauerJuS
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sollten d a h e r keinen u n n ö t i g e n Z e i t d r u c k auf die Studierenden a u s ü b e n . 7 3 D i e g e g e n w ä r t i g in d e n A u s b i l d u n g s b e s t i m m u n g e n d e r m e i s t e n B u n d e s l ä n d e r v o r g e s e h e n e Regelstudienzeit v o n 9 S e m e s t e r n erscheint u n t e r d i e s e m G e s i c h t s p u n k t als ( n o c h ) a n g e m e s s e n , sollte j e d o c h a u c h z u k ü n f t i g nicht unterschritten werden.74 D a s Studium sollte, seinem Ausbildungsideal („Einheitsjurist") chend, mit einer umfassenden ten Gleichbehandlung
Prüfung enden, die nach dem Grundsatz
entspreder strik-
so z u organisieren ist, daß einheitliche Prüfungsanforde-
rungen gewährleistet sind u n d a u ß e r d e m , aufgrund v o n garantierter A n o n y mität der Kandidatinnen u n d Kandidaten, persönliche B e v o r z u g u n g o d e r s o n stige Abhängigkeiten, die die E n t w i c k l u n g der Studierenden z u intellektueller Selbständigkeit behindern k ö n n t e n , s o weit wie möglich ausgeschlossen w e r d e n . 7 5 D a diese Prüfung als Teil einer juristischen „Gesamtausbildung" verstanden w e r d e n m u ß , z u der dann auch der zweite, vorrangig praxisorientierte A b schnitt u n d dessen A b s c h l u ß ( „ G r o ß e Staatsprüfung") z u rechnen ist, 7 6 dürfte es sich empfehlen, sie in der F o r m des 1. Juristischen
Staatsexamens
z u regeln,
dessen einzelne E l e m e n t e (Hausarbeit, Klausuren, mündliche Prüfung) strikt als Verständnisprüfungen auszugestalten sind. 7 7 D a b e i haben der LehrStudienstoff einerseits sowie die Prüfungsmatenen lich übereinzustimmen;
und
andererseits s o weit wie m ö g -
Gleiches gilt für die Ausbildungs-
und
Prüfungsformen,
73 Daß nur so „Reife" zu erzielen ist, läßt sich zwar - anders als bezüglich Natur schwerlich veranschaulichen, ist aber deswegen nicht weniger wahr: Ebensowenig wie man einem Weinbauern raten würde, seine Trauben doch schon im Sommer zu ernten, sollte man Lehrende und Studierende der Juristenfakultäten - ohne Rücksicht auf ihren Gegenstand - zu immer kürzeren Studienzeiten zu animieren suchen. 74 Die aktuellen Initiativen zur bundesweiten Einführung einer Regelstudienzeit von 9 Semestern sind also Schritte in die richtige Richtung. - Dagegen bleibt die „Verlockung" des Freiversuchs durchaus problematisch; vgl zu dessen Ambivalenz B. Jeand'Heur aaO Fn 69, S. 425 f, der in diesem Zusammenhang zutreffend daraufhinweist, daß nicht zuletzt der Eindruck fehlender Zeit eine auch einmal langwierigere Auseinandersetzung Studierender mit einem Problem oder die Wahrnehmung scheinbar ineffektiver, weil thematisch abgelegenerer Veranstaltungen, etwa auch einer anderen Fakultät, heutzutage unangemessen erschwert; s. ferner das „offene Wort" von G. Lüke JuS 1994, 444 (447) zur Freiversuchsregelung, demzufolge die Kürze der Studiendauer „kein Wert an sich" ist. 75 Die im Vergleich mit manchen anderen Fachbereichen verhältnismäßig differenzierteren, d.h. aber auch teilweise strengeren Ergebnisse (Noten) des etablierten 1. Juristischen Staatsexamens dürften zumindest auch auf diese Bedingungen zurückzuführen sein, die freilich eine erhebliche psychologische Belastung der Prüflinge (Angst) zur Folge haben. 76 S. dazu auch H. Hattenhauer, aaO Fn 72, S. 519: „eigenartige Doppelnatur", da „ebenso Universitätsabschluß wie Referendariatsprüfung". 77 Sofern die angeführten Grundsätze auch in der Organisationsform einer Universitätsprüfung einzuhalten wären, könnte die Durchführung dieses Examens auch den Juristenfakultäten anvertraut werden. Eine Übertragung dieser Zusatzaufgabe würde jedoch deren Ausstattung mit zusätzlichen Mitteln (Geld, Personal, Räume) voraussetzen, die bei den Landesjustizprüfungsämtern abzuziehen wären, und es ist nicht recht abzusehen, worin ein wirklich markanter Fortschritt einer solchen Umorganisation liegen sollte.
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d . h . es sollte die Hausarbeit nicht nur als eine originäre F o r m selbständig-wissenschaftlicher Stoffaneignung und -auseinandersetzung im Studium, sondern auch für das Staatsexamen vorgesehen werden. 7 8 Auf diese Prüfung hat die Universität die Studierenden
zureichend-
gründlich vorzubereiten, d . h . vor allem in der nach einem sinnvoll-typischen Studienablauf zu bestimmenden „Endphase" eines Studiums sollten die Fakultäten ein über zwei Semester projektiertes, von Hochschullehrern abzuhaltendes Examensrepetitonum
in den examensrelevanten Kernfächern
des Rechts anbieten, u m auch und gerade z u m Schluß des Studiums ihrer Ausbildungsverantwortung gerecht zu werden und unnötige Prüfungsängste abzubauen. 7 9 Dieses sollte nicht nur die Darstellung von Fällen z u m Gegenstand haben, sondern auch die begrifflichen
Grundlagen
und Zusammenhänge.
Denn
einerseits gilt auch für die rechtswissenschaftliche Erkenntnis (wenngleich in übertragenem Sinn): Anschauung
ohne Begriffe ist blindP0 U n d andererseits
kann es bei einer dem fortgeschrittenen Ausbildungsstand der Studierenden angemessenen Examensvorbereitung nicht u m die bloße Wiederholung von früher bereits Gelehrtem und Gelerntem gehen, 8 1 sondern es ist Vertiefung des Verständnisses auch durch Verdeutlichung begrifflicher und systematischer Zusammenhänge erforderlich.
78 Diesem Vorschlag kann nicht etwa entgegengehalten werden, daß auch in denjenigen Bundesländern, die keine Examenshausarbeit vorschreiben, nur solche Formen (Klausur und mündliche Prüfung) Gegenstand der Prüfung seien, die ihrerseits während des Studiums geübt wurden; denn dieses Argument verkennt die Auswirkungen, die fehlende Examensrelevanz - verständlicherweise - in aller Regel auf die Bereitschaft der meisten Studierenden hat, sich auf einen Ausbildungsteil zureichend einzulassen. Wer je Erfahrungen mit studentischen Übungs-Hausarbeiten in Bundesländern ohne Examenshausarbeit gemacht hat, wird bestätigen, daß der „wissenschaftliche Aufwand", mit dem diese Arbeiten in solchen Ländern geschrieben werden, sich allzu oft in Grenzen hält. 79 So bietet die Leipziger Juristenfakultät ihren Studierenden seit dem WS 2001/02 ein solches universitäres Examinatorium zur Vorbereitung auf die 1. Juristische Staatsprüfung an und reagiert mit dieser von den Studierenden zunehmend angenommenen „Leipziger Examensoffensive" (LEO) auch auf die im bundesweiten Ländervergleich bislang überdurchschnittlich schlechten Examensergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern (vgl zu diesen Ergebnissen S. Rommel/K Triimper/A. WinklerJuS 2000, 725). Die damit in Zukunft möglicherweise einhergehende Verminderung der Bedeutung privater kommerzieller Repetitoren, die nach wie vor eine Herausforderung für die juristischen Fakultäten darstellen, könnte dabei ein durchaus erwünschter Nebeneffekt sein. 80 Vollständig und exakt lautet das in Bezug genommene Zitat: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so nothwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen)" ;vgl Kant Kritik der reinen Vernunft, Transscendentale Logik, 1. Auf] 1781, AA IV S. 48 / 2. Aufl 1787, AA III S. 75. 81 Deswegen wäre der Name „Examinatorium" für eine solche Veranstaltung auch passender als die heute zumeist verwendete Bezeichnung „Repetitorium".
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Die - sei es auch als Staatsexamen organisierte - Abschlußprüfung hat angesichts ihres wissenschaftlichen Charakters unter maßgeblicher kung von Hochschullehrern regelmäßig Prüfungsaufgaben der Prüfungsarbeiten
Mitwir-
stattzufinden, d. h. daß diese dem Prüfungsamt zur Verfügung stellen, sich an der
beteiligen und an den mündlichen
Prüfungen
Korrektur
so intensiv
wie möglich mitwirken. 8 2 2) Darüber hinaus müssen folgende weitere
Lehr-
und
Studienbedingun-
gen gegeben sein: (1) Die vorstehend umrissenen Aufgaben wissenschaftlicher Mitwirkung an einem als echte Verständnisprüfung
Lehre
und der
angelegten Staatsexamen
erfordern - jedenfalls auf dem Gebiet der Jurisprudenz - wissenschaftlich gründlich ausgebildete und das heißt habilitierte auf Lebenszeit
Hochschullehrer,83
die strikt
zu Professoren zu ernennen sind, u m ihre Unabhängigkeit
v o m Staat sicherzustellen 8 4 und einen zuverlässigen institutionellen R a h m e n Gemäß dem Grundsatz: „Wer lehrt, prüft." Die oben (bei und in Fn 4) bereits erwähnte, unterschiedslose De-facto-Abschaffung der Habilitation als Regelqualifikation für den Beruf des Hochschullehrers ist deshalb jedenfalls bezüglich der Rechtswissenschaft (und ziemlich sicher auch für die meisten der anderen Geistes- und Sozialwissenschaften) verfehlt: nicht nur entspringt sie einem merkwürdigen Verständnis von „Deregulierung", insofern sie die jedenfalls in den genannten Wissenschaften unzweifelhaft bewährte wissenschaftliche Objektivität eines formalisierten Habilitationsverfahrens und damit ein überprüfbares, weil Mindeststandards sicherndes Berufsprofil ersatzlos zu beseitigen sucht (die einzige vernünftige, den Fakultäten im Rahmen ihrer künftigen Berufungspraxis bleibende Alternative, ein „zweites Buch" an Stelle einer Habilitation zu fordern, entspricht kaum den mit § 44 Abs 2 HRG verfolgten Absichten), sondern sie übersieht vor allem, daß es typischerweise die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit einem selbstgewählten „akademischen Lehrer" ist, durch die sich - auch in Beziehung auf dessen Arbeit - die eigene Kraft und Einsicht am besten entfalten kann und so Selbständigkeit als Wissenschaftler(in) befördert (vgl dazu nochmals D. Henrich aaO Fn 35, S. 130). An dieser - noch dazu gegen den öffentlich erklärten Mehrheitswillen der Hochschullehrer und der Rechtsfakultäten - erfolgten Maßnahme erweist sich so einmal mehr die Berechtigung der Humboldt'schen Warnung vor unmittelbaren staatlichen Eingriffen in die Eigengesetzlichkeiten der wissenschaftlichen Tätigkeit (s. dazu oben, bei Fn 31, 32), die ja zum Kernbereich autonomen Hochschul- und Fakultätslebens gehört. 82
83
84 Die von politischer Seite inzwischen zunehmend unterbreiteten Vorschläge zur Abschaffung der Lebenszeitstellung von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern - als krasses Beispiel dafür sei hier der Ausspruch der früheren Senatorin für Kultur und Wissenschaft in Berlin, Adrienne Goehler, zitiert: „Das Α und Ο der Hochschulreform ist für mich der Abschied vom Professor auf Lebenszeit. Lebenslänglichkeit ist nicht nur im Gefängnis keine besonders gute Option." (Interview mit der „taz" vom 1. August 2001, zitiert nach: Forschung & Lehre, Heft 9/2001, S. 457) - verraten deshalb ein bemerkenswertes Unverständnis bezüglich der Verhältnisse an einer Universität, verkennen sie doch die Primärfunktion des Hochschullehrerdienstrechts, das es den Lehrenden und Forschenden ermöglichen soll, ihrer nur (scheinbar paradoxen) Aufgabe gerecht zu werden, im Rahmen einer öffentlichen Einrichtung kritisches Wissen hervorzubringen, indem sie jeden Autoritätsanspruch, also auch den des Staates, hinterfragen.
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für den in seinem Fortgang zeitlich kaum kalkulierbaren Denkprozeß, von dessen Verlauf die Qualität von Forschung und Lehre maßgeblich mit abhängt, zu garantieren.85 (2) Hinsichtlich der Studierenden ist sicherzustellen, daß diese finanziell hinreichend abgesichert sind (BaföG); der gegenwärtige Zustand, in dem über 60% - auch während des Semesters - zur (Mit-)Finanzierung ihres Studiums arbeiten müssen, 86 ist unerträglich. Zudem sollten - nicht zuletzt im Hinblick auf die oben bereits herausgestellte Bedeutung der Rechtsvergleichung - die Möglichkeiten zu einem Auslandsstudienaufenthalt intensiviert und ausgebaut werden. Im Rahmen eines solchen Ausbaus ist auch daran zu denken, an ausländischen (besonders europäischen) Rechtsfakultäten erbrachte Studienleistungen im Inland anzuerkennen, sofern die qualitative Gleichwertigkeit der Anforderungen sichergestellt ist. 87 (3) Eine schwere Belastung für Lehrende wie für Studierende ist die gerade an den Juristenfakultäten schon lange unzumutbare Betreuungsrelation, die nicht nur deshalb deutlicher Verbesserung bedarf, weil sie derzeit die schlechteste aller geisteswissenschaftlichen Studiengänge ist. 88 a) Die dazu bislang an den meisten Rechtsfakultäten praktizierte, zuerst aufgrund des „Dritten Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes" vom 25. 7 1984 (BGBl I, S. 995) eingeführte „Zwischenprüfung" 89 ist diesbezüglich kein gangbarer Weg. Zum einen ist sie nämlich ein verfassungsrechtlich zweifelhaftes Instrument, insofern sie auf eine Weise und in einem Ausmaß auf den Gegenstand der universitären Lehre des Rechts zurückwirkt, daß ihre Wirkungen die grundrechtlich geschützte Wissenschafts- und Lehrfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG) und deren verantwortliche, gegenstandsadäquate Wahrnehmung signifikant beeinträchtigen; 90 die bei 8 5 Man muß nicht an die Biographie Kants erinnern, um dieses Erfordernis einsichtig zu machen. 8 6 Angaben gemäß den bundesweiten Erhebungen der Studentenwerke. 8 7 Vgl dazu auch schon die Vorschläge von H. Hattenhauer aaO Fn 72, S. 520. 88 Vgl H. SchöbelJuS 2000, 372 (376/377), der diese Feststellung auch deshalb trifft, weil nur bei der geforderten Verbesserung „Verhandlungsmanagement und Mediation in der Juristenausbildung" Platz finden können. 8 9 Von dem genannten Änderungsgesetz im § 5 a Abs 4 seinerzeit beschönigend als „studienbegleitende Leistungskontrollen" bezeichnet. 9 0 Auf diesen Zusammenhang, der hier nicht zu vertiefen ist, hat mich mein akademischer Lehrer E. A. Wolff bereits frühzeitig dadurch aufmerksam gemacht, daß er sich selbst mit Nachdruck für die Abschaffung der Zwischenprüfung eingesetzt hat; und daß die Geisteshaltung der Studierenden der ersten Semester - entsprechend der notwendig an der Zwischenprüfung orientierten, auf diese unvermeidlich vorbereitenden Lehre - von Anfang an maßgeblich durch die Aussicht auf diese Prüfung mitgeprägt wird, werden diejenigen bestätigen, die Lehrveranstaltungen für Anfänger durchführen.
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Erlaß des vorbezeichneten Gesetzes gehegte Hoffnung, durch die Einbindung dieser Prüfung in etablierte Lehrveranstaltungen (z.B. AnfängerÜbungen) werde sie maßgeblich von deren wissenschaftlichem Niveau geprägt,91 hat sich im universitären Lehralltag jedenfalls nicht bestätigt. Zum anderen ist sie aber auch ein untaugliches Mittel zu dem Zweck, denjenigen Studierenden, die für das Jurastudium tatsächlich ungeeignet sind, rechtzeitig Orientierung zu ermöglichen, da ja die Resultate der zu erbringenden (und für die eigene Entscheidung, sein Studium fortzusetzen oder nicht, maßgeblichen) Leistungen in aller Regel erst im vierten oder fünften Semester vorliegen. So wirkt die Zwischenprüfung deformierend auf die - an alle Studierenden, also auch an die große Mehrheit der für das Jurastudium Geeigneten sich richtenden - Lehre während der Anfangssemester vor,92 ohne daß diesem schwer wiegenden Nachteil zumindest der bezweckte Nutzen gegenüberstünde.93 b) Diese Nachteile vermeidet immerhin eine Verschärfung der Anforderungen an die Aufnahme der Ausbildung - sei es in Form eines Numerus clausus, wie ihn der 62. Deutsche Juristentag in Bremen (1998) vorgeschlagen hat94, sei es in Form einer an sich wohl vorzuziehenden Eingangsprüfung,95 die allerdings fundierte, für die Beteiligten auch einsehbare Maßstäbe voraussetzt, die jedenfalls bislang noch nicht vorliegen. c) An erster Stelle ist daher gerade für die Juristenausbildung die Forderung zu erheben und aufrechtzuerhalten, daß die Betreuungsrelation durch die Bereitstellung der Mittel für eine ausreichende Anzahl von Lehrstühlen deutlich verbessert wird,96 anstatt den schon im Gang befindlichen „Generationswechsel" bei den Lehrenden zum Anlaß zu nehmen, die durch Emeritierung oder Pensionierung frei werdenden Stellen unter Verweis auf die bestehende schlechte Haushaltslage einzuziehen, um dadurch Geld zu sparen. Solchen Einziehungsplänen ist zunächst die mit einer weiteren Aufrechterhaltung der ungenügenden Betreuungsrelation verbundene Gefahr eines fortschreitenden Verlusts an Rechtskultur entgegenzuhalten, der zwar sta91 Vgl dazu BT-Drucksache 1984 10Λ108 und den erläuternden Beitrag von J. Thomas JuS 1984, 818 (819). 9 2 Diese „Deformation" tritt sowohl in der Sache ein, also am Gegenstand der Rechtslehre, als auch betrifft sie die Studierenden persönlich, nämlich in der gemeinsamen Aufgabe ihrer Entwicklung zu wissenschaftlich gebildet-selbständigen Juristinnen und Juristen. 93 Daß sie zudem den Lehrenden eine zusätzliche Aufgabe und Verantwortung überträgt, der sie ohne entsprechende Zusatzmittel gerecht werden müssen, sei dabei immerhin am Rande doch vermerkt. 94 Vgl den Abdruck der Beschlüsse aaO Fn 53, unter Ziffer 2. (Massenproblem) lit. b) bb) aaa). 95 S. dazu den Vorschlag von J. Schwabe JuS 1994, 623. 9 6 So schon der Deutsche Juristen-Fakultäten tag JuS 1990, 772 (773); erneut unlängst dessen „Ständiger Ausschuß" JuS 1999, 623 (624).
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tistisch kaum erfaßbar ist, über kurz oder lang jedoch auf unsere Rechtsgemeinschaft zurückfallen würde. Nimmt man die Tatsache hinzu, daß die Juristenausbildung zu den „billigsten" Studiengängen zählt,97 wäre ein solcher Entwicklungsprozeß noch weniger zu verantworten. 3) Ein in der Konsequenz des in der Universitätsautonomie begründeten Gebots zu kluger Selbstbeschränkung der Gesetzgebung98 liegendes Postulat, das schließlich noch hervorzuheben ist, ist das des strikten Gegenstandsbezuges der Hochschulverwaltung und damit deren Einschränkung auf das notwendige Maß an Administration. Im Sinne dieses Postulats, das zunächst das Verhältnis der staatlichen Exekutive, vor allem der zuständigen Ministerien, zu den Hochschulen betrifft, hatte Karl Jaspers im Rahmen seiner Überlegungen zur Zukunft der deutschen Universitäten von einer „Chance durch Freilassen" gesprochen und diesbezüglich die Hoffnung geäußert, es möge die Verwaltung selber vom Geist der Hochschule ergriffen und mit ihm solidarisch werden.99 Nun setzt ein solcher Prozeß aber ganz offenbar voraus, daß die Exekutive selbst eine zumindest ungefähre Vorstellung von ihrem Gegenstand (Wissenschaft und Hochschule) und dessen Bedeutung für das Gemeinschaftsleben ausbildet, und es wird deshalb durch das Fehlen einer solchen, gegenstands- und bedeutungsadäquaten Vorstellung jedenfalls mitbedingt sein, wenn für das gegenwärtige Verhältnis festzustellen ist, daß sich die gerade in Erinnerung gerufene Hoffnung bis heute nicht einmal ansatzweise realisiert hat, sondern die an sich mögliche Verwirklichung der universitären Lehr- und Lernfreiheit vielmehr durch zunehmende Bürokratisierung behindert wird,100 die mittlerweile auch schon das „Binnenverhältnis" zwischen der Universität und ihren Fakultäten mitzubestimmen droht.101 »7 Vgl dazu nur H. l e o J u S 1990, 2 4 2 ff, der (aaO, Fn 18) daraufhinweist, daß ein Studienplatz etwa in einer medizinischen Fakultät im Jahr 1982 jährlich 2 5 1 4 8 . - DM kostete, während die jährlichen Kosten für einen Jura-Studienplatz nur ca. 10 % davon ( 2 6 3 2 . - DM) betrugen, und dies bei einem Durchschnitt aller Fachbereiche von 1 2 3 2 8 . - DM. 9 8 Vgl zur Exposition dieses Gebots im Rahmen des „Grundmodells von Universität" vorstehend unter II. 1.) (3).
" S. ders a a O Fn 62. 100 Vgl J a z u etwa P. Gutjahr-Löser Staatsinfarkt. Wie die Politik die öffentliche Verwaltung ruiniert, Hamburg 1998, der die wesentliche Ursache für die Mängel in einer expansiven Regelungsmanie sieht; vgl zur Veranschaulichung seiner These am Beispiel der Wissenschafts- und Hochschulverwaltung dem Sieben Regeln für karrierebewußte Angehörige des öffentlichen Dienstes, Leipzig 2001. - Es sollte zu denken geben, daß mittlerweile schon leitende Amtsinhaber selbst (die vorstehend zitierten Beiträge sind vom Kanzler der Leipziger Universität verfaßt) den institutionellen Mangel öffentlich kritisieren, dessen nachteilige Auswirkungen durch persönlich-individuelles Bemühen im Rahmen der Wahrnehmung des eigenen Amtes offenbar nur abgemildert werden können. 101 So müssen etwa die Lehrveranstaltungen zukünftiger Semester immer früher „vorgemeldet" werden; zunehmend erreichen einen mehr oder weniger wichtige Anfragen der Universitätsverwaltung mit der Bitte um Stellungnahme oder Beantwortung; usw.
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Aus Sicht der Lehrenden bedeutet dies: Aus der ursprünglichen (Humboldt'sehen) Einheit von Forschung und Lehre ist mittlerweile eine Einheit von Forschung, Lehre und Verwaltung dergestalt geworden, daß bei verantwortungsbewußter Wahrnehmung der Lehr- und Prüfungsaufgaben - abgesehen von den kostbaren Ausnahmezeiten eines Forschungssemsters kaum noch genügend Zeit für wissenschaftliche Forschung verbleibt,102 was angesichts deren Zusammenhangs mit der Lehre auf die Dauer nicht ohne Auswirkung auf letztere bleiben kann. Diesen Tendenzen und Entwicklungen gegenüber ist deshalb „auf verwaltungsfreien Reservaten" zu insistieren und daran zu erinnern, daß gerade (Geistes- und Sozial-)Wissenschaften in ihrer unkalkulierbaren Lebendigkeit von Denkprozessen etwas sind, das sich in seinem Kern ebensowenig verwalten wie durch Gesetzesvorschriften planen und „programmieren" läßt.103
V. Es bleibt die Frage, ob die derzeitigen Reformbestrebungen bezüglich der Juristenausbildung, von denen eingangs schon die Rede war, den vorstehend - aus dem neuzeitlichen Begriff von Wissenschaft, einem diesem Begriff entsprechenden Konzept von Universität sowie aus einem sich ihres Gegenstands versichernden Verständnis von Jurisprudenz - begründeten Anforderungen genügen. Eine solche Kritik der aktuellen Juristenausbildungsreformbestrebungen wird diese freilich auch vor dem Hintergrund der neueren Entwicklungen auf dem hier problematischen Gebiet beurteilen.104 1) Die damit angesprochene kurze Vorgeschichte der gegenwärtigen Initiative soll hier mit den Bemühungen und Auseinandersetzungen um die Juristenausbildung während der „siebziger Jahre" (des vergangenen Jahrhunderts) einsetzen, in denen es in der Hauptsache zumeist um drei, sachlich aufeinander bezogene Gesichtspunkte gegangen ist: Zum einen, scheinbar formal, um die Einführung einer sog. einphasigen Juristenausbildung;105
So auch schon B. Jeand'Heur aaO Fn 69, S. 426. 103 Vgl ; n diesem Sinne bereits J. Habermas aaO Fn 36, S. 270 f, der die Forderung nach „institutionell ausgesparten Spielräumen für unabhängige Forschung und Lehre" mit der These verbindet, die akademische Freiheit setze „die unzeitgemäßen Reste korporativer Privilegien" der Universitäten voraus, damit die an den Universitäten etablierten Wissenschaften sich zur Gesellschaft in einem Spannungsverhältnis halten und so ihre kritischen Kräfte bewahren und entfalten könnten. 104 v g l 2ur Geschichte der deutschen Juristenausbildung im übrigen etwa H. Hattenhauer aaO Fn 72; K. MichaelisJuS 1991, 798; sowie G. Roellecke aaO Fn 55, S. 338ff, alle m. w. N . 102
105 Es sei hier nur an die zahlreichen, durch die sog. Experimentierklausel (§ 5 b DRiG) des „Änderungsgesetzes zum Deutschen Richtergesetz" vom 10. 9. 1971 (BGBl I, 1557) er-
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z u m anderen, evident material, u m die Bedeutung der Sozialwissenschaften für die Jurisprudenz und die Funktion des Rechts für die soziale Gemeinschaft; 1 0 6 und drittens u m eine Verbesserung der Hochschuldidaktik im J u rastudium. 1 0 7 - M a n mag zu den Debatten dieser Zeit inhaltlich stehen wie man will: eines aber wird man ihnen schwerlich absprechen können, daß sie nämlich durchweg als Konsequenz aus den Anstrengungen der damaligen Jurisprudenz verstanden werden müssen, sich ihrer selbst als Wissenschaft zu vergewissern, 1 0 8 daß sie also strikt auf den Gegenstand der Rechtslehre und des Rechtsstudiums bezogen waren. 1 0 9 Dieser Bezug w a r für den folgenden, auf dem 58. Deutschen Juristentag (München, 1990) verhandelten Reformversuch 1 1 0 schon nur noch eingeschränkt charakteristisch, wie sich schon an der Themenstellung der dort erstatteten Gutachten - „Welche Maßnahmen empfehlen sich - auch im Hinblick auf den Wettbewerb zwischen Juristen aus den EG-Staaten - zur möglichten „Modelle" einer einstufigen Juristenausbildung erinnert; vgl zu ihnen H.-P. Bull JuS 1974, 266 m. w. N. 106 Grundlegend dazu W. Naucke Uber die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 1972; vgl außerdem etwa die Kontroverse zwischen H. CotngJuS 1973, 797 einerseits und K. LüderssenJuS 1974, 131 andererseits; ferner A. Heldricb JuS 1974, 281; sowie die „Materialien" des Loccumer Arbeitskreises für Juristenausbildung (Hrsg.) Neue Juristenausbildung, Neuwied Neuwied/Berlin 1970 (mit Beiträgen von H. Jäger, Tb. Ramm, R. Wietbölter, u.a.). 107 S. dazu statt anderer H.-P. Bull JuS 1969, 192; W. Kilian JuS 1970, 50; ders. Ansätze zu einer juristischen Fachdidaktik, in: Loccumer Arbeitskreis für Juristenausbildung (Hrsg.), aaO Fn 106, S. 62; C. Roxin/K. Zweigert Blickpunkt Hochschuldidaktik 7 Das Rechtsstudium auf dem Wege zur Erneuerung, 1970. los vgl dazu nur etwa H. Krautkrämer (Hrsg.) Das Rechtswesen - Lenker oder Spiegel der Gesellschaft? (mit Beiträgen von P. Bockelmann, W. Maibofer, F. v. Scblabrendorf, R. Scbmid, R. Wietbölter, Tb. Würtenberger, u.a.), München 1971; R. Lautmann/W. Maihofer/H. Scbelsky (Hrsg.) Die Funktion des Rechts in der modernen Gesellschaft. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Band 1, Bielefeld 1970; W. Naucke/P. Trappe Rechtssoziologie und Rechtspraxis, Neuwied u. Berlin 1970; H. Rottleutbner Richterliches Handeln. Zur Kritik der juristischen Dogmatik, Frankfurt a. M. 1973; bereits im Titel programmatisch: R. Lautmann Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz, Stuttgart 1971. - Einen nach wie vor guten Uberblick über die Diskussionen dieser Zeit bieten die von G. Kadelbach u.a. herausgegebenen 3 Bände „Funk-Kolleg Recht", Frankfurt a. M. 1985. 109 Unübersehbar auch im Titel des von P. Gutjahr-Löser edierten Sammelbandes: Neues Recht durch neue Richter? Der Streit um die Ausbildungsreform der Juristen, München 1975. 110 Eingeleitet wurde dieser Versuch durch das „Dritte Gesetz zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes" vom 25. 7 1984 (BGBl I, 995), das die zehnjährige Experimentierphase beendete und - neben der schon erwähnten Einführung der sog. studienbegleitenden Leistungskontrollen - erstmals Regelungen zum Studieninhalt in seinen Grundzügen vorsah, insofern es den Lehr- und Prüfungsstoff in Pflicht- und Wahlfächer einteilte, wobei das Pflichtfachstudium neben den Kernfächern (Bürgerliches Recht, Strafrecht, Öffentliches Recht) und dem Verfahrensrecht auch die „rechtswissenschaftlichen Methoden" sowie die „philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen" des Rechts umfassen sollte (§ 5 a Abs 2 DRiG); kritisch zu diesem Gesetz etwa R. Wassermann JuS 1984, 316.
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Verkürzung und Straffung der Juristenausbildung?" - ablesen läßt. 1 1 1 Das Leitmotiv dieses Versuchs, auf den hier inhaltlich nicht näher eingegangen werden kann, 1 1 2 war vielmehr der durch in erster Linie arbeitsmarktpolitische Erwägungen 1 1 3 bestimmte Zweck, in Deutschland ausgebildete Juristen angesichts zunehmender europäischer Konkurrenz durch die Verkürzung von deren Gesamtausbildungszeit wettbewerbsfähiger zu machen. U n d nur im Rahmen dieser Intention wurden auch die Probleme und Bedingungen des Jurastudiums als eines Teils dieser Gesamtausbildung diskutiert, 114 was schließlich das „Gesetz zur Verkürzung der Juristenausbildung" v o m 2 0 . 11. 1992 (BGBl I, 1926) zur Folge hatte, das - neben der Abschaffung der bundesrechtlichen Verpflichtung zur Durchführung
„studienbegleitender
Leistungskontrollen" 1 1 5 - vor allem den Studierenden erstmals das Recht zu einem Examensfreiversuch zuerkannte. 1 1 6 N a h e z u gänzlich gegenstandsgelöst (und insofern in einem schlechten Sinn abstrakt) w a r schließlich der in dem Beschluß der „69. Konferenz der Justizministerinnen und -minister" v o m 17/18. 6. 1998 zusammengefaßte Plan, zu einer neuartigen - anders als die „Modelle" der siebziger Jahre mehr oder weniger theoriearmen - F o r m einphasiger Juristenausbildung überzugehen, der die Verbesserung nicht nur des Rechtsstudiums zwar deklarierte, bei näherem Hinsehen aber sich als ein untauglicher Versuch erwies, unter dem Deckmantel einer Ausbildungsreform fiskalische Interessen (Ersparnis
111 Vgl näher dazu W. Hassemer/Fr. Kubier Gutachten Ε 1 - 112, und H.-D. Hensen/ W. Kramer Gutachten F l - 142, beide abgedruckt in: Verhandlungen des Achtundfünfzigsten Deutschen Juristentages, Band I (Gutachten), München 1990. 112 Deshalb sei auf die Würdigung der Gutachten durch M. Köhler ΆΆΟ Fn 67, S. 49ff, besonders dessen treffende Kritik des Gutachtens F („etatistisch-autoritärer Vorschlag"), verwiesen. 113 Freilich war es auch überhaupt Konsens, daß die juristische Gesamtausbildungszeit zu lang sei; vgl dazu - außer den schon erwähnten Gutachten - etwa B. Großfeld NJW 1989, 875 m. w. N. 114 Im Rahmen dieser Diskussion wurde freilich zu Recht herausgestellt, daß jede Stoffkonzentration zwecks Zeitgewinns die Qualität des Studiums nur dann verbessern kann, wenn zuerst die Betreuungsrelation verbessert wird; vgl dazu bes. W. Hadding NJW 1990, 1873 (vor allem S. 1875 mit dem Hinweis, daß diese Relation in Deutschland 1 :130, in Frankreich aber 1 :50 beträgt) und M. Köhler aaO Fn 67, S. 53 (ein „rechtswissenschaftliches Studium in hinreichender Gründlichkeit und systematischer Breite in verkürzter Zeit" fordere „eine Rückkehr zu einigermaßen diskutablen Zahlenrelationen zwischen Hochschullehrern und Studierenden"); ferner F.-L. Knemeyer]\JRA 1990, 449. 115 Unabhängig von dieser Gesetzesänderung wurde und wird diese Zwischenprüfung vor allem angesichts der großen Zahl der Jura Studierenden - allerdings bekanntlich nach wie vor an den meisten Rechtsfakultäten praktiziert. 116 Die damit verfolgte Absicht, unnötige Examensängste abzubauen (s. zu dem Erfordernis einer „Humanisierung der juristischen Prüfungspraxis" auch schon W. Hassemerl Fr. KüblermO Fn 111, Ε 105 i. V. m. 78, 96), ist sicher zu begrüßen, auch wenn die Last der Prüfer, was nicht verschwiegen werden sollte, dadurch merklich erhöht wurde.
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der Aufwendungen für die Bezahlung des allgemeinen juristischen Vorbereitungsdienstes) zu verfolgen und den Berufszugang zur Rechtsanwaltschaft zu erschweren.117 Es war deshalb gewiß die richtige Entscheidung, dieses Vorhaben - wohl nicht zuletzt auch angesichts der Beschlüsse des 62. Deutschen Juristentages (Bremen, 1998) zur Reform der Juristenausbildung118 nicht weiter zu verfolgen. 2) Ihm gegenüber ist die gegenwärtige Reforminitiative gewiß vorzugswürdig, deren Hauptanliegen („Eckpunkte"), soweit es sich auf das rechtswissenschaftliche Studium bezieht, nunmehr im folgenden kurz zu skizzieren sind. Der als „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes und der Bundesrechtsanwaltsordnung" (mit einem „Beispielstudienplan für eine moderne, zweistufige Juristenausbildung") vorliegende Vorschlag der Bundesländer versteht sich ausdrücklich in erster Linie als eine Antwort auf Veränderungen in der juristischen Berufswelt und will zugleich die Autonomie der Rechtsfakultäten in der Bestimmung ihrer Lehr- und Studieninhalte stärken.119 Im Rahmen dieser Zwecksetzungen soll schon das Jurastudium stärker am Bild zukünftiger juristischer Berufsfelder, besonders an der beratenden und streitschlichtenden Tätigkeit des Rechtsanwalts, orientiert werden (sog. anwaltsorientierte Juristenausbildung;).120 Dieser „gemeinsame Ausbildungsauftrag" von Staat, Universität und Anwaltschaft121 sei zum einen insbesondere durch eine Erweiterung des Pflichtstoffs um sog. interdisziplinäre Schlüsselqualifikationen zu verwirklichen,122 die eine den modernen Anforderungen gerecht werdende Anwaltstätigkeit heute voraussetze und zu denen neben Grundkenntnissen in Nachbardisziplinen wie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften z.B. die „unverzichtbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten ... Verhandlungsmanagement, Streitschlichtung, Mediation, Rhetorik und Vernehmungslehre sowie fachspezifische Fremdsprachenkenntnisse" und nicht zuletzt auch Kenntnisse der internationalen Bezüge des Rechts gehörten.123 Zum anderen müsse » 7 Vgl dazu JuS 1999, 102 m. w. N. 118 Abgedruckt in der JuS 1999, 100. - Zur Bedeutung dieser Beschlüsse für die Reformdebatte A. Sauter ZRP 1999, 273. 119 So die Entwurfsbegründung, unter A. Allg. Teil, S. 8, 9 und öfter. 120 Vgl dazu schon das „Vorblatt" zum Gesetzentwurf, unter Α., S. 1 unten; besonders aber in der Entwurfsbegründung, unter B., Erläuterung zu § 5 d DRiG-E, S. 15; sowie unter Α., S. 11 unten. - Der Gesetzentwurf selbst hebt seinem Wortlaut nach die Anwaltsorientierung freilich nicht derartig hervor; vielmehr sprechen § 5 a Abs 3 S. 1 und § 5 d Abs 1 S. 1 DRiG-E schlicht davon, die Studieninhalte und Prüfungen hätten „die rechtsprechende, verwaltende und rechtsberatende Praxis einschließlich der hierfür erforderlichen Schlüsselqualifikationen" zu berücksichtigen. AaO, S. 11 oben. Vgl für die Ausbildungsinhalte § 5 a Abs 3 S. 1 DRiG-E, für die Prüfungsinhalte § 5 d Abs 1 S. 1 DRiG-E. 123 Vgl (jie Entwurfsbegründung, unter Α., S. 11, sowie unter B., Erläuterung zu § 5 a Abs 3 S. 1 DRiG-E, S. 14. 121
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dem Wahlfachstudium in Zukunft größere Bedeutung zukommen, das eine frühzeitige und gezielte Berufsorientierung der Studierenden ermöglichen solle und bei dessen Fächern die notwendige Modernisierung des Jurastudiums anzusetzen habe.124 Dabei solle nicht nur die inhaltliche Ausgestaltung des Wahlfachstudiums in der Verantwortung der Rechtsfakultäten liegen und diesen so Gelegenheit zur Profilierung geben, sondern die Fakultäten sollten auch die auf diesen Teil des Studiums bezogene Wahlfachprüfung als Universitätsprüfung organisieren und eigenverantwortlich durchführen.125 Der daraus resultierenden Differenzierung der Abschlußprüfung soll dadurch Rechnung getragen werden, daß die Erste Juristische Staatsprüfung durch eine neuartige Erste Prüfung ersetzt wird, die sich aus einem weiterhin staatlich organisierten, 75 Prozent der Endnote ausmachenden Examen bezüglich der Pflichtfächer und einer universitären mit 25 Prozent gewichteten Wahlfachprüfung zusammensetzen soll, wobei die Noten beider Prüfungsteile gesondert auszuweisen sein sollen.126 3) Eine Beurteilung dieses Reformvorhabens anhand der in dem vorliegenden Beitrag entwickelten Kriterien sinnvoller universitärer Rechtslehre und eines dementsprechend wissenschaftlich orientierten Rechtsstudiums führt schwerlich an dem Schluß vorbei, daß der vorliegende Gesetzesvorschlag besser nicht als Gesetz verabschiedet werden sollte. (1) Uneingeschränkte Zustimmung verdient diese Initiative freilich zunächst insofern, als sie von hochschulpolitischer Seite erstmals zutreffend darauf hinweist, daß die deutsche Juristenausbildung - auch im Vergleich mit anderen europäischen Ländern - keineswegs als zu lang bezeichnet werden kann, sondern sich insbesondere das Jurastudium infolge der Einführung des Freiversuchs „mittlerweile zum kürzesten Studiengang entwickelt" hat.127 Sieht man einmal von der bereits vermerkten Ambivalenz der Freiversuchsregelung ab,128 dürfte mit diesem Befund das Hauptanliegen der auf 124
So die Entwurfsbegründung, unter B., Erläuterung zu § 5 a Abs 2 S. 3 DRiG-E, S. 13. Vgl dazu auch die Entwurfsbegründung, unter Α., S. 9, sowie unter B., Erläuterung zu § 5 Abs 1 DRiG-E, S 12, mit dem Hinweis, auf diese Weise könnten nunmehr auch an ausländischen Rechtsfakultäten erworbene Leistungsnachweise - unter der Voraussetzung ihrer Gleichwertigkeit (§ 20 HRG) - auf das Ergebnis der universitären Prüfung angerechnet werden. 12 ' So § 5 Abs 1 i. V. m. § 5 d Abs 2 DRiG-E. 127 Entwurfsbegründung, unter Α., S. 8. - Vgl dazu aus studentischer Sicht auch bereits 125
D. Chr. SchautesjuS 1997, 860. 128 v g l ; n obiger Fn 74. - Hinzuzufügen ist aus der Sicht der Prüfenden, daß diese Regelung jedenfalls insofern zu einer unangemessenen Zusatzbelastung (besonders der die Hauptlast tragenden Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer) wird, als der Freiversuch von manchen Studierenden als eine Art „Probeexamen" ohne rechtliche Konsequenzen aufgefaßt wird, der eine zusätzliche Wiederholungsmöglichkeit mit dem Ziel der Ergebnisverbesserung schafft; s. zu dieser Gefahr zutreffend D. Chr. Schautes aaO.
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dem 58. Deutschen Juristentag in München (1990) verhandelten Juristenausbildungsreform129 verwirklicht sein, so daß der diesbezüglich in der Vergangenheit auf Fakultäten und Studierenden lastende, ungute Zeitdruck endlich von den Beteiligten genommen sein sollte. An sich begrüßenswert ist auch der ausdrücklich erklärte Plan einer Verbesserung der Betreuungsrelation durch eine Neuberechnung des sog. Curricularnormwertes.130 Aber auch wenn man davon absieht, daß dieser Plan bisher nicht mehr als eine weitgehend unverbindliche Absichtserklärung ist,131 ist er doch so eng mit der inhaltlichen Ausgestaltung des Reformvorschlags verknüpft,132 daß er nur in Verbindung mit dessen zentralen inhaltlichen Aussagen wirklich beurteilt werden kann. Diese sind aber aus Sicht der Wissenschaft schwerwiegenden Bedenken ausgesetzt.133 (2) Diese Bedenken richten sich zunächst schon gegen den Ausgangspunkt des Vorhabens: den Fehlschlug von der (vermeintlichen) Veränderung der juristischen Berufswelt auf die Notwendigkeit, die Studieninhalte zu ändern. a) Selbst wenn man nämlich einmal davon absieht, daß die in der Entwurfsbegründung deklarierte Beibehaltung eines zweiphasigen - in eine einheitliche wissenschaftliche Grundlegung und einen unmittelbar auf die juristische Berufspraxis vorbereitenden Abschnitt (allgemeiner Vorbereitungsdienst) gegliederten - Ablaufs der Ausbildung infolge der nunmehr vorgeschlagenen Vorverlagerung von direkt praxisorientiertem Wissen („berufliche Fähigkeiten und Fertigkeiten") in das Rechtsstudium zu einem bloßen Lippenbekenntnis zu werden droht, stünde ein solcher Schritt im Widerspruch zu der oben134 begründeten Maxime, daß es die (vorzügliche) Aufgabe der wissenschaftlichen Juristenausbildung an einer Universität zu sein hat, deren Studierenden - vor allen je spezifischen Ausprägungen juristischer Berufsbilder - ein dem Ausbildungsgegenstand (Recht und Gesetz) entsprechendes Problemverständnis zu vermitteln und ihnen so eine gedankliche Entwicklung (Selbst-Bildung) zu ermöglichen, die sie zu selbstverantworteten, fundierten Urteilen darüber in Stand setzt, was im Zusammenhang konkreter Rechtsfragen richtig und falsch, rechtlich und unrechtlich, gesetzmäßig oder gesetzeswidrig ist. Dieser Typus von recht-
'*> Vgl dazu nochmals W. Hassemer/Fr. Kübler aaO Fn 111, bes. S. 23 ff, 39 ff. Vgl dazu den dem Gesetzentwurf als Anlage beigefügten „Beispielstudienplan", unter C.,S. 6 - 8 . 131 AaO, S. 8 a. E.: „... nur eine Leitlinie ..." 132 Vgl dazu aaO., S. 7, unter Ziffer 2. lit. a), wonach „die Justizministerkonferenz sich den entsprechenden Beispielstudienplan nebst Begründung, z.B. als Anlage zu einem Beschluß, zu eigen" machen soll. 133 So auch schon M. Stolleis Amputierte. Deutsche Juristenausbildung: Adieu Wissenschaft, FAZ Nr 134 v. 12. Juni 2001, S. 54. IM Vgl unter IV. 1.). 130
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licher Urteilskraft ist zwar in seiner Konsequenz letztlich auch anwendungsbezogen, insofern er im H o r i z o n t der U m s e t z u n g von rational („theoretisch") begründeten Erkenntnissen in spätere Praxis
erworben
wird, aber er ist nicht durch die bloßen Fakten dieser Praxis 1 3 5 maßgeblich inhaltlich bestimmt, sondern vielmehr in dieser immer schon vorausgesetzt, und zwar auch dort, w o diese - wie etwa die forensische oder nicht streitbezogene Beratungstätigkeit des Rechtsanwalts 1 3 6 - den ü b e r n o m m e nen Auftrag von Mandanten erfüllt und der Wahrnehmung von deren je besonderen, privatautonomen Interessen dient. Deshalb erwirbt m a n ihn auch gerade nicht durch die - im Studium noch dazu verfrühte - Vermittlung solcher praktischer Fertigkeiten, wie sie für ein spezifisches Berufsbild charakteristisch sind. U n d dies gilt in gesteigertem Maße für das Tätigkeitsbild
des
Rechtsan-
walts, insofern dieses durch eine „zielorientierte" und „interessengebundene Sichtweise auf das R e c h t " gekennzeichnet sein soll. 1 3 7 Denn als Vertreter seines Auftraggebers hat der Anwalt zwar parteiisch zu sein, 138 aber er ist eben zugleich ein „unabhängiges Organ der Rechtspflege" (§ 1 B R A O ) und nicht nur deswegen verpflichtet, angesichts vorgerichtlicher Kontroversen, prozessualer Sachverhalte oder auch von ihm mitzugestaltender Verträge und Verhandlungssituationen die fragliche Rechtslage zunächst mit größtmöglicher Objektivität zu beurteilen; ohne ein solches objektives, weil rational fundiertes Urteil und eine dementsprechende Beratung könnte er sei135 Wie etwa bestimmte Arbeitsformen, („taktische") Vorgehensweisen, „berufliche Routinen" überhaupt, vom Arbeitsmarkt bestimmte Anforderungsprofile, usw. 136 Eine Prämisse des Gesetzentwurfs, daß nämlich Streitentscheidung in der Rechtswirklichkeit an Bedeutung verliere (so die Entwurfsbegründung, unter Α., S. 8), scheint angesichts der anhaltenden hohen Belastung der Justiz durch die Anzahl der geführten Prozesse allerdings wenig plausibel. 137 So ausdrücklich der schon erwähnte „Beispielstudienplan", unter B. 2., S. 4. - In diesem „Studienplan" erkennt man überhaupt unschwer die Resultate vorangegangener Lobby-Arbeit der Interessenvertreter des Anwaltsstandes, besonders der Hans-Soldan-Stiftung, wieder. 138 Im Hinblick darauf plädiert nicht nur H. Koch (JuS 2000, 320) sogar für einen „Perspektivenwechsel in der Juristenausbildung": es müsse „eine vielfach vernachlässigte Funktion von Recht", sein „parteilicher, subjektiver, instrumentaler Einsatz", in die rechtswissenschaftliche Lehre aufgenommen werden (S. 321), die „anwaltliche Parteilichkeit, Handlungsalternativen und strategische Fähigkeiten" (S. 327) vermitteln müsse; ähnlich (aus anwaltlicher Sicht) G. Rittershaus JuS 1998, 302; s. auch G. HaverkateVestwomg·. Ein neues Leitbild der Juristenausbildung?, in: G. Haverkate/P. Hommelhoff/G. Rittershaus (Hrsg.), Anwaltsorientierte Juristenausbildung - Zweite Hans Soldan Tagung, Heidelberg 2001, S. 29ff, mit der These: „Ein guter Jurist ist jemand, der das kann, was den guten Anwalt auszeichnet" (S. 30). Zwar wird das daraus resultierende Spannungsverhältnis „zwischen der Interessengebundenheit anwaltlichen Argumentierens und Vorgehens einerseits und dem mit einer Wissenschaft notwendig verbundenen Anspruch auf Richtigkeit und Wahrheit" dann immerhin noch konstatiert (S. 31/32), aber es wird nicht aufgelöst. - Demgegenüber sehr viel vorsichtiger die 10 Thesen von H. Schöbel aaO Fn 88.
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nem Mandat nämlich gar nicht gerecht werden, weil es ihm an der notwendigen realistischen Einschätzung der Erfolgsaussichten für die Aktion „seiner Partei" ermangeln würde, soweit diese sich nicht kraft bloßer wirtschaftlicher Überlegenheit machtvoll durchsetzt. 1 3 9 D a ß heute mehr als Dreiviertel unserer gegenwärtigen Studierenden später anwaltlich tätig werden, 1 4 0 vermag an dieser Einsicht nichts zu ändern. Denn abgesehen davon, daß in der Bundesrepublik Deutschland zumindest schon seit langem die Mehrzahl derjenigen, die das 1. Juristische Staatsexamen absolviert haben, den Rechtsanwaltsberuf ergriffen haben (sei es auch nur aufgrund der Stellensituation im staatlichen Justizdienst), zeigt dieses „Argument" nur an, daß es bei den meisten Plädoyers für eine Anwaltsorientierung auch schon des Jurastudiums nicht etwa u m neue Erkenntnisse z u m Gegenstand juristischer Universitätsausbildung, sondern vielmehr u m arbeitsmarktpolitische und damit letztlich ökonomische Beweggründe geht, 141 wie sie unsere Lebensverhältnisse in letzter Zeit zwar zunehmend zu dominieren drohen, 1 4 2 die jedoch keinen Maßstab dafür liefern können, womit es sinnvolle rechtswissenschaftliche Lehre und ein darauf bezogenes Studium der Jurisprudenz zu tun haben sollte. 1 4 3 Demgegenüber könnte eine stärkere „Praxisorientierung" auch schon des Jurastudiums allenfalls in Betracht k o m m e n , wenn dieses Stichwort auf eine Theorie der Praxis in ihren einzelnen Erscheinungsformen und Besonder139 Aufgrund mehrjähriger Berufstätigkeit in einer großen Frankfurter Anwaltskanzlei mit dem Schwerpunkt umfassender juristischer Beratung von Wirtschaftsunternehmen weiß der Verf. aus eigener Erfahrung, wovon er spricht. 140 So nicht nur H. Koch aaO Fn 138, S. 321. 141 Insofern anders G. Haverkate aaO Fn 138; ebenso schon ders JuS 1996, 478. 142 Es handelt sich bei dieser Orientierung also in Wahrheit um eine Rückwirkung der eben nicht nur in Frankreich zunehmend allgegenwärtigen „Drohung der Arbeitslosigkeit", deren Phänomene V. Forrestier unlängst in ihrem Buch „Der Terror der Ökonomie" (Wien 1997) facettenreich und anschaulich beschrieben hat; vgl zu dieser Tendenz der schrankenlosen Ausweitung rein ökonomischer Denkweisen auf alle menschlichen Lebensverhältnisse auch die soziologische Kritik von P. Bourdieu Am Gängelband des Staates, in: ders. Freier Austausch: Für die Unabhängigkeit der Phantasie und des Denkens, Frankfurt a. M. 1995, S. 73ff, bes. S. 76f; ders Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1997, S. 101; ders .Globalisation' Myth and the Welfare State, in: ders. Acts of Resistancy against the Tyranny of Market, New York 1998, S. 29ff, bes. S. 37f. 145 Klar erkannt auch von Β. Jeand'Heur aaO Fn 69, S. 426/427 (mit der treffenden Formulierung, es gehe „die Rechtsordnung nicht in der Wirtschaftsordnung auf, erstere ist nicht die Magd der letzteren."). - Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, daß der jetzt vorliegende Gesetzentwurf in seinem auf die Referendarzeit bezogenen Teil praktisch eine den Zugang zur Rechtsanwaltschaft einschränkende Neuregelung enthält, insofern zukünftig zur Rechtsanwaltschaft regelmäßig nur diejenigen zugelassen werden dürfen, die - nach den vier Pflichtstationen: ordentliche Gerichtsbarkeit, Staatsanwaltschaft oder Strafgericht, Verwaltungsbehörde oder Verwaltungsgericht, Rechtsanwalt - eine mindestens zwölfmonatige Ausbildung in einer Anwaltspraxis absolviert haben; vgl § 5 b Abs 2 DRiG-E i. V. m. § 4 Abs 1, 2 BRAO-E, zur Ausnahme § 4 Abs 3 BRAO-E.
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heiten zielte, also auf einen Begriff der Anwaltstätigkeit, der richterlichen Praxis oder der Akte der öffentlichen Verwaltung. - D a ß es darum bei dem vorliegenden Reform Vorschlag aber gerade nicht geht, zeigt schon ein Blick auf die in dem Gesetzentwurf als Schlüsselqualifikationen
zusammenge-
faßten Fähigkeiten, deren Vermittlung an der Universität - neben den Wahlfächern (dazu sogleich) -
den vorstehend thematischen Bezug auf die
Berufsbilder aufnehmen soll. 1 4 4 Soweit die unter dieser Bezeichnung zusammengefaßten Inhalte nämlich in Wahrheit mitnichten primär praxisorientiert, sondern vielmehr bereits in dem Begriff der wissenschaftlichen Rechts lehre enthalten sind 1 4 5 (wie internationale
und europarechtliche
Bezüge
des Rechts und in der Konsequenz dieser Bezüge auch fachspezifische
Fremd-
sprachenkenntnisse)
und deshalb ohnehin zunehmend Gegenstände des uni-
versitären Lehrangebots bilden, 146 sind sie - von eher fachfremden, kaum substantiellen und deswegen an einer Universität nicht zu vermittelnden „Qualifikationen" (Teamfähigkeit,
Verhandlungsmanagement)
unmittelbar berufsbezogene Fertigkeiten (Rhetorik Mediation,
Streitschlichtung),
und
abgesehen Vernehmungslehre,
die man durch praktische Berufserfahrungen
erwirbt 1 4 7 und besser auch auf diesem Weg erwerben sollte. Folglich m u ß es auch dabei bleiben, daß die jetzt intendierte „Praxisorientierung" gerade deshalb der Referendarzeit vorbehalten bleiben sollte, weil sie als „Vorbereitungsdienst" auf die Vermittlung von berufsspezifischen, etwa für den Beruf des Rechtsanwalts verwertbaren Anforderungen zielt. 1 4 8 A n diesem Teil der Ausbildung mögen sich dann, ähnlich wie auch 144 Ferner ergibt sich dies aus der in dem Gesetzentwurf (vgl Entwurfsbegründung, unter Α., S. 11) erklärten Absicht, künftig verstärkt auch Rechtsanwälte an der Lehre zu beteiligen. - Für eine wissenschaftliche Ausbildung kann es aber keinen „gemeinsamen Ausbildungsauftrag" geben: ähnlich wie gute Praxis in erster Linie versierter Praktiker bedarf, kann universitäre Lehre mit wissenschaftlichem Anspruch typischerweise - Ausnahmen bestätigen diese Regel - doch nur von Wissenschaftlern wahrgenommen werden; und da sich beider Denk- und Arbeitsweisen in ihrer Eigenart grundsätzlich unterscheiden, sind sie ohne Verlust an ihrer je spezifischen Qualität - auch nicht beliebig gegeneinander austauschbar. 145 Vgl dazu zunächst oben, unter III. 1.) und 2.). 146 Ein Blick in die Vorlesungsverzeichnisse verschiedener deutscher Juristenfakultäten belegt dies zweifelsfrei. Gleichwohl ist es als Fortschritt zu vermerken, daß diese Gegenstände künftig zum Pflichtfachstudium und damit auch zum Kernstoff der (staatlichen) Prüfung gehören sollen; vgl dazu schon A. Flessner]Z 1996, 689; sowie die treffende Feststellung von B. Oppermann/S. Fritsch-Oppermann (JuS 2001, 621), die einzige substanzielle Perspektive der jüngsten Reformvorhaben sei deren europabezogene Ausrichtung. 147 Eine Ausnahme bilden insoweit die Grundkenntnisse in Nachbardisziplinen wie Wirtschafte- und Sozialwissenschaften, die tatsächlich durch interdisziplinäre Studienelemente („Module") erworben, wissenschaftlich aber doch auch wohl nur von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern der „Nachbarfakultäten" gelehrt und geprüft werden können. 148 So auch zutreffend die auf der 79. Hauptversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) verabschiedeten „Thesen für eine moderne Juristenausbildung", abgedruckt in: BRAK-Mitteilungen 1996, 232, deren 1. These bereits feststellt, daß sich eine Vermi-
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in anderen Bereichen des Wirtschaftslebens (etwa auf den Berufsfeldern des Handwerks), diejenigen personell, ideell und materiell beteiligen, die davon letztlich profitieren.149 b) Erweist sich somit schon der erste Schwerpunkt des Reformvorhabens als verfehlt, so ist auch dessen zweite inhaltlich zentrale Aussage, das ausdrückliche „Bekenntnis" zur Orientierung am Leitbild des sog. Einheitsjwristen, bei näherem Hinsehen irreführend, wenn man bedenkt, daß sich von einer einheitlichen wissenschaftlichen Ausbildungsgrundlage wohl kaum noch reden ließe, wenn zukünftig ein Viertel der Abschlußprüfung - und dementsprechend doch wohl auch des Studiums - den neu zu konstellierenden Wahlfachgruppen gewidmet sein soll. Zwar ist die mit dem angestrebten Bedeutungszuwachs der Wahlfächer verfolgte Absicht, den Fakultäten eine eigene Profilbildung zu ermöglichen und so den wissenschaftlichen Wettbewerb zwischen den Universitäten zu befördern, an sich begrüßenswert; 150 aber ganz abgesehen davon, daß die Profilbildung der Fakultäten als Rahmen für das Wahlfachstudium nicht ohne weiteres mit dessen weiterem Kriterium einer „frühzeitigen und gezielten Berufsorientierung der Studierenden", besonders auf den Beruf des Rechtsanwalts,151 harmoniert, muß doch bezweifelt werden, daß angesichts eines Wahlfachanteils von künftig 25 °/o tatsächlich den an eine einheitliche wissenschaftliche Juristenausbildung zu stellenden Mindestanforderungen genügt werden könnte. 152 Vielmehr würde ein solches Wahlfachstudium - stärker als schon die bisherigen
schung von Wissenschaft und Praxis während des Studiums nicht empfiehlt. - Im guten Sinne radikal kritisch zum „Diktat der Praxisbezogenheit", das dem „Leitbild jeder Universität" widerspreche und deren Leben ökonomischen Anforderungsprofilen unterstelle, Th. Hoeren ZRP 1996, 284. 149 Deshalb ist § 59 Abs 1 BRAO-E, wonach „der Rechtsanwalt ... in angemessenem Umfang an der Ausbildung der Referendare mitwirken" soll, ein Schritt in die richtige Richtung; vgl für die Rechtsanwaltskammern entsprechend § 73 Abs 2 Nr 9 BRAO-E. 150 Vgl zur Notwendigkeit eines echten wissenschaftlichen Wettbewerbs nochmals D. Henrich aaO Fn 35, S. 151/152 bei und in Fn 11, sowie S. 155 in Fn 12, wo realistische Verfahren zur Qualitätsbeurteilung („Evaluierung") von universitären Einrichtungen und Veranstaltungen in Anlehnung an in den USA praktizierte „Muster" angemahnt werden; s. dazu auch J. Hruschka JZ 1996, 161; sowie zu den Problemen, die bei der dazu ganz gewiß notwendigen Mitwirkung von Studierenden dann auftreten, wenn diese in der Form von Befragungen - noch dazu ohne Rücksicht auf die Erbringung eigener Leistungen der Befragten - erfolgt, den allenfalls vordergründig amüsanten Erfahrungsbericht von L. Kuhlen JuS 1993, 183. 151 Vgl dazu die Entwurfsbegründung, unter Α., S. 9 unten, sowie unter B., S. 13, Erläuterung zu § 5 a Abs 2 S. 3 DRiG-E. 152 Dies gilt in noch erhöhtem Maß für den mit der Bundesratsinitiative konkurrierenden Gesetzentwurf der Bundesregierung, der einen Wahlfachanteil von 50 % vorschreiben will; in diese Richtung zuvor bereits die Bundesjustizministerin, H. Däubler-Gmelin, in einem Interview, abgedruckt in Stud.Jur. 2001, S. 19 (S. 20: „mindestens ein Gewicht von 4 0 % der Gesamtprüfung").
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Wahlfachgruppen, in denen als Voraussetzung für die Zulassung zum 1. Juristischen Staatsexamen ein Seminar zu absolvieren ist und die zum Gegenstand des mündlichen Teils dieser Prüfung gehören153 - ein weiteres und künftig höheres Hindernis für ein vertieftes Studium gerade der Kern- und Grundlagenfächer aufstellen, das es an sich zu fördern gilt.154 Es spricht also nahezu alles gegen eine solche, gleichsam durch staatliche Reglementierung erzwungene Frühspezialisierung vor jeder eigenen hinlänglichen Praxiserfahrung der Studierenden. c) Ein Fazit zu dem gegenwärtigen Reformvorschlag kann folglich nicht umhin, dessen zentrale Zwecksetzung (Berufsfeldorientierung bereits im rechtswissenschaftlichen Studium) und die zu deren Verwirklichung vorgesehenen Mittel (Aufnahme sog. Schlüsselqualifikationen in den Stoff des universitären Pflichtstudiums sowie Erweiterung und Ausbau eines - sei es auch mit einer Universitätsprüfung abschließenden - Wahlfachstudiums) nachdrücklich abzulehnen. Da letztere den Stoff des Jurastudiums zudem weiter aufblähen würden, würde die vorgeschlagene Reform auch noch zu Lasten der Kern- und Grundlagenfächer gehen. Diese Befürchtung wird durch den Blick auf den bereits erwähnten „Beispielstundenplan für eine moderne, zweistufige Juristenausbildung" denn auch bestätigt: Das materielle Strafrecht etwa ist in ihm auf ziemlich exakt die Hälfte des bislang üblichen Umfangs an Pflichtveranstaltungen reduziert und damit in einer Weise beschränkt, die eine zu verantwortende universitäre Lehre dieses Fachs nicht mehr erlaubt. Und für das öffentliche Recht sind ähnlich gravierende Beschränkungen zu verzeichnen. Damit würden nun aber ausgerechnet diejenigen Fächer partiell der kritischen Lehre an einer Rechtsfakultät entzogen, die das Verhältnis von Bürger und Staat unmittelbar zu ihrem Gegenstand haben. - Entsprechendes gilt für die Grundlagenfächer, besonders Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie, die - abgesehen von ihrer verfehlten Situierung erst im 3. und 4. Semester - auf je 2 x 2 Stunden reduziert und weder Gegenstand des staatlichen Teils des Abschlußexamens noch der in der Verantwortung der Universität liegenden Wahlfachprüfung sein sollen.155
So jedenfalls im Freistaat Sachsen, vgl § 23 Abs 2 i. V. m. § 17 Abs 3 SächsJAPO. In diesem Sinne schon M. Köhler ΛίΟ Fn 67, S. 50: „als sollte nicht gerade in den Kernfächern vertieft studiert werden." 155 Kritik dazu auch bei P. Hommelhoff/Chr. Teichmann aaO Fn 9, S. 845; s. auch schon die „Heidelberger Empfehlungen" (aaO Fn 53), die eine „nachhaltige Berücksichtigung der historischen, philosophischen und sozialwissenschaftlichen Grundlagen der Rechtswissenschaft" sogar als ein vorrangiges Ausbildungsziel bezeichnen, das „sowohl im Pflicht- als auch im Wahlfachstudium wieder verstärkt Berücksichtigung finden" müsse. - Angesichts solcher „Vorgaben" ist die Vernachlässigung der Grundlagenfächer im „Beispielstudienplan" schwerlich nachzuvollziehen. 153 154
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Angesichts dieser Befunde fällt es beim besten Willen schwer, von den vorliegenden Gesetzesvorschlägen zur juristischen Ausbildungsreform einen Zuwachs an wissenschaftlicher Qualifikation von Lehre und Prüfung 1 5 6 zu erhoffen. 1 5 7 - Auch noch in solchen Lebenslagen gleichwohl die Zuversicht in „bessere Zeiten" nicht zu verlieren, sondern vielmehr mit zugleich konstruktiver und humorvoller Einstellung - Kollegen, Mitarbeitern und Studierenden gegenüber - auf die Herstellung sinnvoller Verhältnisse nicht nur in der Juristenausbildung hinzuwirken, konnte man freilich gerade in der Begegnung mit Dieter Meurer lernen, den diese Haltung z u m Leben ausgezeichnet hat. 1 5 8 Nicht nur deswegen hat sein so früher Tod eine so große Lücke hinterlassen.
156 Gerade darauf käme es aber an, und zwar - worauf schon oben (unter IV. 1.) und 2.) (1)) hingewiesen wurde - nicht zuletzt auch im Sinne einer Stärkung des wissenschaftlichen Charakters der Abschlußprüfung. Das dürfte heute - über alle vorstehend diskutierten Differenzen hinweg - kaum noch angezweifelt werden: vgl dazu nur R. Zawar JuS 1994, 545 (549) einerseits und H. Koch aaO Fn 138, S. 321 andererseits (der die Diskrepanz von Lehre und Prüfung - im Anschluß an W. Hassemer/Fr. Kühler aaO Fn 111, S. 77ff - auf eine „absolute Dominanz der staatlichen Justizverwaltung in den Prüfungsämtern" zurückführt). 157 Diese Einschätzung gilt letztlich leider auch für die während der Drucklegung des vorliegenden Beitrages vom Deutschen Bundestag, an Stelle des Gesetzentwurfs des Bundesrates (BR-Drucks. 671/01 = BT-Drucks. 14/7463), verabschiedete Fassung des »Gesetzes zur Reform der Juristenausbildung« (vgl BT-Drucks. 14/7176), die einem gemeinsamen Antrag der Bundestagsfraktionen von SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - aufgrund der am 20. März 2002 erfolgten Beratung des Gesetzgebungsvorhabens im Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages - entspricht. Zwar sieht dieses Gesetz - nicht zuletzt infolge der Anhörung mehrerer Hochschullehrer durch den Rechtsausschuß (vgl dazu »Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses«, BT-Drucks. 14/8629, S. 12, 13) - jetzt immerhin vor, daß die »rechtswissenschaftlichen Methoden« und die »philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen« zum Pflichtfachstudium gehören ( § 5a Abs 2 S. 3 DRiG n. F.); aber weitere Grundmängel dieser Gesetzesänderung - verfehlte »Praxisorientierung« (besonders: Anwaltsorientierung) mit der dann konsequenten Absicht, verstärkt auch »Praktiker« schon an der universitären Ausbildung zu beteiligen (vgl aaO, S. 12), sowie zusätzliche Stojfaufblähungund verfrühte Spezialisierung durch die Schwerpunktbereiche des Wahlfachstudiums (vgl aaO, S. 2: »frühe Schwerpunktbildung erwünscht«) mit ihren zumindest teilweise unsubstantiellen »Schlüsselqualifikationen« (§ 5a Abs 3 S. 1 DRiG n. F.) und der bei einem Studien- und Prüfungsanteil von nunmehr 30% (vgl § 5d Abs 2 DRiG n. F. sowie aaO, S. 10, 13) damit verbundenen Preisgabe des Ausbildungsideals des Einheitsjuristen - sind damit keinesfalls behoben; allenfalls wird die Härte des hier zuletzt genannte Fehlers dadurch, daß die Schwerpunktbereiche des Wahlfachstudiums zumindest auch »der Vertiefung der mit ihnen zusammenhängenden Pflichtfächer« dienen sollen (§ 5a Abs 2 S. 4 DRiG n. F.), etwas gemildert. 158 Daß dies tatsächlich ein charakteristischer Zug des hier zu Ehrenden gewesen ist, habe ich nicht nur während meiner beiden Vertretungssemester (WS 1996/97 und SoSe 1997) am Fachbereich für Rechtswissenschaften der Philipps-Universität in Marburg, in denen ich „Tür an Tür" mit Dieter Meurer gearbeitet habe, mehrfach erfahren dürfen und habe deshalb sein auch in schwierigen Situationen nur selten ausbleibendes, ermutigendes Lachen noch im Ohr.
IV. Informationsrecht, Rechtsinformatik
Internet-Domains - Rechtliche Probleme bei Domain-Namen A X E L BENNING
Wollte jemand in der heutigen Zeit über den wirtschaftlichen und praktischen Nutzen des Internet lange Ausführungen machen, hieße das, Eulen nach Athen zu tragen. Diese Entwicklung war allerdings vor etwa fünfzehn Jahren von der Allgemeinheit überhaupt noch nicht abzusehen. Anders jedoch Dieter Meurer. Er war es, der bereits früh die Zeichen der Zeit erkannte und deshalb in Marburg ab 1985 die Forschungsstelle für Rechtsinformatik aufbaute. Unter seiner Leitung fand im Wintersemester 1986/87 ein „Proseminar zur Rechtsinformatik" statt, welches unter Einbeziehung der klassischen Jurisprudenz den Studierenden einen Einblick in die Informatik bieten sollte.1 Schon damals vertrat Meurer den Standpunkt, dass es nicht ausreiche, den Studierenden lediglich theoretische Grundkenntnisse über Hard- und Software beizubringen. Er entschied sich deshalb, darüber hinaus Grundkenntnisse in Programmiersprachen zu vermitteln. An die Internetnutzung wie sie heute geschieht, konnte damals noch niemand denken, weil Computernutzung seinerzeit lediglich etwas für Spezialisten war. Aber auch in dieser Hinsicht hat Meurer die Entwicklung vorausgesehen. Eine Kommunikation per E-mail war für ihn schon sehr früh selbstverständlich. Infolge der technischen Entwicklung und des damit einhergehenden Preisverfalls für Hardware hat sich der Computer heute zu einer Massenware entwickelt. Verfügten im Jahre 1998 noch 39,8% aller privaten Haushalte über einen Personalcomputer, so waren es am 1.1. 2000 bereits 47,3 %, die einen PC nutzten.2 Doch damit allein lässt sich der Erfolg des Internet noch nicht erklären. Erst durch den Fall des Fernsprechmonopols der Deutschen Bundespost und der damit verbundenen rapiden Preissenkung für Kommunikationsdienstleistungen ist die Nutzung des Internet für jeden Interessierten zu akzeptablen Preisen möglich geworden. Wegen dieser globalen Verfügbarkeit 1 Brinkhoff/Benning Rechtsinformatik an der Philipps-Universität Marburg, JuS 1987; 925. 2 Quelle: Statistisches Bundesamt, http://www.destatis.de/basis/d/evs/budtab2.htm. abgerufen am 25.12.2001.
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leistungsfähiger und zugleich kostengünstiger Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten befinden sich Wirtschaft und Gesellschaft in dem größten Umbruch seit der Industrialisierung. Die Zahl der Internetnutzer weltweit stieg von 130 Mio. im Juli 1998 auf 407 Mio. im November 2000. 3 In Deutschland nutzten im Februar 2001 24,2 Mio. Menschen das Internet. 4 Beispiele für die gravierenden Veränderungen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben sind der elektronische Handel zwischen Unternehmen (sog. Business-to-Business oder auch B2B) und Endkunden (sog. Business-to-Consumer oder auch B2C), das Electronic-Banking, das Entstehen virtueller Unternehmen (Virtual Enterprises) und elektronischer Märkte (Electronic Markets) oder die Unterstützung der Beziehungen zwischen Unternehmen und ihren Kunden durch personalisierte Web-Portale (Customer Relationship Management). Alle diese Bereiche wären ohne das Internet nicht denkbar. Bei dem Internet handelt es sich um ein den Globus umspannendes Computernetzwerk, welches aus Millionen von sog. „host"Computern besteht, die miteinander verbunden sind. 5 Um die Verbindung zwischen all diesen Millionen von Computern zu ermöglichen, bedarf es eines einheitlichen Datenübertragungsprotokolls. Dieses Datenübertragungsprotokoll ist das sog. „Transport Control Protocol / Internet Protocol", auch TCP/IP genannt. 6 Jeder Computer ist dabei mit einer physikalischen Adresse ausgestattet, die aus einer eindeutigen Ziffernfolge besteht, der sog. IP-Adresse. 7 Zur Zeit existieren mehr als 2 Milliarden Websites. 8 Alle erfolgreichen Internetaktivitäten sind jedoch davon abhängig, dass die betreffenden Unternehmen und Personen bei der Vielzahl der Seiten im Internet auffindbar sind. Für einen Internetauftritt ist zunächst die Einrichtung einer sog. Homepage erforderlich. Es handelt sich dabei um eine Seite im Internet, auf welcher der jeweilige Betreiber seine Aktivitäten bereithält. Dies können geschäftliche Aktivitäten, wie das Anbieten von Waren oder Dienstleistungen sein. Aber auch private Aktivitäten sind denkbar, wie etwa das Bereithalten von privaten Informationen ohne jeglichen geschäftlichen Nutzen. Damit die Seite aufgefunden werden kann, bedarf es einer eindeutigen Adressierung. Sie erfolgt über die vorstehend beschriebene IPAdresse. Da jedoch eine Ziffernfolge nur schwer im Gedächtnis haften 3 Quelle: http://www.electronic-commerce.org/marktbarometer/internetnutzung/. abgerufen am 25.12.2001. < AaO. 5 Hoffmann Internet Domain-Namen - Praktische Konflikte und Juristische Herausforderungen unter Englischem Recht, JurPC Web-Dok. 127/2001, Abs 3 unter Hinweis auf H. Hahn /R. Stout The Internet Complete Reference, Berkeley 1994, S. 2. 6 Köhler/ Arndt Recht des Internet, Heidelberg 2. Aufl 2000, Rn 14; Hoffmann aaO unter Hinweis auf The Trade Mark Handbook, Volume II, London 1999, 106.2. 7 Hoffmann aaO; Schneider Handbuch des EDV-Rechts, 2. Aufl München 1997, Rn Ο 111; Steckler Grundzüge des EDV-Rechts, München 1999, VIII.3. 8 Quelle: Google, www.google.de. abgerufen am 30.12.2001.
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bleibt und darüber hinaus bei der Eingabe auch Fehler auftreten, wurde das sogenannte „Domain N a m e System" ( D N S ) entwickelt. 9 Dieses System konvertiert Zahlen in Buchstaben, den sog. Domain-Namen. Eine Homepage wird deshalb mit einem sog. Uniform Ressource Locator (URL) gekennzeichnet, der u . a . den genauen Standort des Anbieters angibt. Die U R L besteht aus dem Servernamen (z.B. www) und dem Domain-Namen (z.B. fh-bielefeld.de). 10 Der eigentliche Domain-Name besteht in der Regel aus sog. Top-Level-Domains (TLD) wie z . B . „.com" oder „.de" und den untergeordneten Second-Level-Domains (SLD). 1 1 Damit die Zuordnung eindeutig stattfindet, kann eine Second-Level-Domain unter jeder Top-Level-Domain-Ebene weltweit nur ein einziges Mal vergeben werden. 12 Das Internet eröffnet damit nur einen eindimensionalen Namensraum. 1 3 Deshalb besitzen die Domain-Namen einen bedeutenden Werbe- und Marketingeffekt, der zu rechtlich erheblichen Konflikten führen kann. 14 In den Anfängen des Internet haben findige Geschäftemacher den „Handel" mit Domain-Namen früh erkannt und sich den Umstand zu nutze gemacht, dass viele Unternehmen die Möglichkeiten des Internet erst später entdeckten. 15 Sie haben sich Domain-Namen bekannter Firmen reservieren lassen, um sie später an diese Firmen zu verkaufen (sog. Domain-Grabbing). Bekanntes Beispiel ist der Fall der Fast-food-Kette McDonalds. 1 6 Die nachfolgenden Ausführungen sollen einen Uberblick über die bestehenden rechtlichen Problematiken im Zusammenhang mit Domain-Namen und deren Lösungsmöglichkeiten geben. Die Schutzmöglichkeiten von Domain-Namen war lange Zeit umstritten, insbesondere ob den Domains überhaupt eine Kennzeichen- bzw. Namensfunktion zukommen kann. Dieser Streit hat sich anhand einer Vielzahl von Einzelentscheidungen herausgebildet. Die zu Internetdomains ergangenen Entscheidungen waren zunächst von ersichtlichen Schwierigkeiten geprägt, die technische und funktionale Qualität von Domains in das bestehende Namens- und Kennzeichenschutzsystem zu integrieren. 17 Es wurde vielfach die technisch funktionale Realität des Internet verkannt. Stattdessen zog sich die Rechtsprechung auf eine formale Betrachtungsweise zurück. So führte ' Eichhorn aaO. 10
Internet-Recht, Köln 2000, 2.1.3.2; Hoffmann
aaO; Steckler aaO;
Schneider
Steckler aaO.
'1 Erdelt Der Schutz gegen Domain-Namen, JurPC Web-Dok. 241/2001, Abs 1.; H o f f -
mann aaO. 11
Bücking
Namens- und Kennzeichenrecht im Internet (Domainrecht), Stuttgart 1999;
Erdelt aaO. 13 Bücking aaO. 14 Erdelt aaO mwN.
Steckler Grundzüge des EDV-Rechts, VIII. 4.1. " Vgl dazu näher Steckler aaO. 15
17
Köhler/Arndt aaO, Rn 21.
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beispielsweise das L G Köln in mehreren Entscheidungen 1 8 mit stets gleichlautender Begründung aus, dass die Bezeichnung im Internet keine N a mensfunktion im Sinne des § 12 BGB erfülle, da die Zahlen- und Buchstabenkombinationen frei wählbar seien. Sie könne insbesondere auch ohne erkennbaren Zusammenhang mit dem N a m e n des Benutzers stehen und sei daher vergleichbar mit einer Telefonnummer, einer Bankleit- oder Postleitzahl. 1 9 Von dieser formalen Betrachtungsweise hat sich die Rechtsprechung gelöst. Mittlerweile ist allgemein anerkannt, dass der durchschnittliche Internetanwender die Domain regelmäßig gedanklich mit dem Anbieter eines Web-Angebotes in Verbindung bringt und diese damit ein hohes Identifizierungspotenzial hinsichtlich der dahinter stehenden Person besitzt. 2 0 Es entspricht nunmehr der ganz herrschenden Rechtsprechung in Deutschland, dass es sich bei D o m a i n - N a m e n u m namensähnliche Kennzeichen handelt, denen - zumindest mittelbar - Kennzeichnungsfunktion z u k o m m e n kann. 2 1 Der Schutz von D o m a i n - N a m e n ist auf verschiedene Arten möglich. Die unterschiedlichen Schutzmöglichkeiten sind davon abhängig, ob die D o main im privaten oder im geschäftlichen Bereich verwendet wird. Als Schutzmöglichkeiten k o m m e n in Betracht das Namensrecht nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), Firmenrecht nach dem Handelsge-
18 LG Köln GRUR 1997, 377 =JurPC Web-Dok. 8/199^ Abs 17 „hürth.de"; LG Köln BB 1997, 1121 = JurPC Web-Dok. 9/1997 „kerpen.de"; LG Köln CR 1997, 291 =JurPC WebDok. 10/1997, Abs 19 „pulheim.de". 19 LG Köln aaO. 20 Bücking Internet-Domains - Neue Wege und Grenzen des bürgerlich-rechtlichen Namensschutzes NJW 1997, 1886, 1887; Loock-Wagner Das Internet und sein Recht, Stuttgart, Berlin, Köln 2000, C. II. 1. 21 Vgl dazu unter anderem BGH JurPC Web-Dok 219/2001 „mitwohnzentrale.de"; JurPC Web-Dok. 220/2001 „ambiente.de"; BGH Urt. v. 22. 11. 2001 - I ZR 138/99 „shell.de"; OLG München JurPC Web-Dok. 236/2001 „boos.de"; CR 1999, 382 „shell.de"; K&R 1999, 327 „buecher.de"; K&R 1999, 569 „Rolls-Royce.de"; OLG Düsseldorf WRP 1999, 343 „ufa.de"; OLG Köln K&R 1999, 234 = CR 1999, 385 „herzogenrath.de; JurPC Web-Dok. 122/1999 „alsdorf.de"; OLG Dresden K&R 1999,133 = NJW-CoR 1999, 302 (Auszug) „cyberspace.de"; JurPC Web-Dok. 98/2001 „kurt-biedenkopf.de"; OLG München NJW-RR 1998, 984 „freundin.de"; OLG Stuttgart CR 1998, 621 „steiff.com"; OLG Hamm NJWCoR 1998, 175 = CR 1998, 241 = JurPC Web-Dok. 80/1998 „krapp.de"; JurPC Web-Dok. 208/2001 „veltins.com"; Kammergericht NJW 1997, 3321 „concert.concept"; LG Berlin JurPC Web-Dok. 141 und 142/2001 „oil-of-elf.de"; LG Braunschweig NJW 1997; 2687 „braunschweig.de"; LG Lüneburg WM 1997, 1452 „celle.com/celle.de"; LG Ansbach NJW 1997, 2688 „ansbach.de"; LG Coburg JurPC Web-Dok. 212/2001 „tschirn.de"; LG München I WM 1997, 1455 „juris.de" = CR 1997, 479 = NJW-CoR 1997, 231 (LS); LG Hamburg, CR 1997, 157 = NJW-CoR 1997, 231 (LS); LG Frankfurt/Main BB 1997, 1120 „das.de"; LG Düsseldorf K&R 1999, 137 „alltours.de"; LG Düsseldorf WM 1997, 1444 „epson.de" = DZWir 1997, 374; LG Bonn MMR 1998, 110 „detag.de"; LG Hannover JurPC Web-Dok. 207/2001 „verteidigungsministerium.de"; erstmals LG Mannheim CR 1996, 353 „heidelberg.de".
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setzbuch (HGB), Markenschutz nach Markengesetz (MarkenG), Schutz nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) sowie Ansprüche aus dem Recht der unerlaubten Handlung (§§ 823 ff. BGB). Wie bereits ausgeführt, war umstritten, ob einer Domain überhaupt eine Namensfunktion nach § 12 BGB zukommen kann. 22 Dies ist mittlerweile anerkannt, wie sich aus der Vielzahl der zitierten Entscheidungen ergibt.23 Schutzbereich des § 12 BGB ist der Name von natürlichen sowie juristischen Personen sowohl des Privatrechts als auch des öffentlichen Rechts24 und für Bundesbehörden. 25 Aber auch der Firmenname fällt unter diesen Schutzbereich, selbst wenn er als abgeleitete Firma den bürgerlichen Namen ihres Inhabers nicht enthält.26 Schließlich umfasst der Namensschutz des § 12 BGB nicht nur ausgeschriebene Namen, sondern auch Kurzbezeichnungen. 27 Gem. § 12 BGB kann der Berechtigte, wenn sein Recht zum Gebrauch seines Namens von einem anderen bestritten wird oder wenn ein anderer den Namen unbefugt gebraucht, Beseitigung der Beeinträchtigung bzw. bei Wiederholungsgefahr Unterlassung verlangen. Ein Bestreiten des Namensgebrauchs ist im Zusammenhang mit Domain-Namen eher die Ausnahme. Hauptanwendungsfall ist der unbefugte Gebrauch. Fraglich ist deshalb, wann ein unbefugtes Gebrauchen vorliegt. Dies liegt dann vor, wenn der Name dazu benutzt wird, eine andere Person, deren Einrichtung oder Produkte namensmäßig zu bezeichnen.28 Ein Gebrauch von Domain-Namen liegt damit immer dann vor, wenn jemand unter diesem Namen eine Homepage betreibt.29 Allerdings ist es nicht erforderlich, dass genau derselbe Name, d.h. dieselbe Reihenfolge der Buchstaben verwandt wird. Entscheidend ist vielmehr, ob eine Verwechslungsfähigkeit gegeben ist.30 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des LG Stuttgart.31 Dort hatte sich jemand die Domain „schuhmacher.de" reservieren lassen und darunter eine Website für eine Ferienfahrschule betrieben. Hiergegen ist der Formel 1-Rennfahrer Michael Schumacher gerichtlich vorgegangen und hat letztlich Recht bekommen, obwohl sein Nachname in der Mitte ohne „h" geschrieben wird. Fraglich ist, ob ein Gebrauchen auch dann vorliegt, wenn unter der Domain keine Website betrieben wird, sondern sich der Inhaber den Namen 22
Vgl oben Fn 20 und 21. Vgl oben Fn 21. 24 PalandtIHeinrichs § 12, Rn 4 u. 9; LG Berlin MMR 2001, 57 = JurPC Web-Dok. 211/2000 „deutschland.de". 25 LG Hannover JurPC Web-Dok. 207/2001 „verteidigungsministerium.de". 26 Palandt/Heinrichs § 12, Rn 9 unter Verweis auf BGHZ 14, 155. 27 OLG München JurPC Web-Dok. 236/2001 „boos.de". 28 Palandt/Heinrichs § 12, Rn 20. 29 Wurster JurPC Web-Dok. 249/2001 Abs 10. 30 Palandt/Heinrichs § 12, Rn 24. " LG Stutgart Urt. v. 9.8.1999, Az. 11 KfH Ο 84/99. 23
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zunächst nur hat reservieren lassen (Domain-Grabbing). 32 Die Domainvergabe erfolgt über private Gesellschaften. 33 Für die Vergabe von Second Level Domains ist in Deutschland die D E N I C eG zuständig. 34 Dort war es lange Zeit möglich, sich Domains reservieren zu lassen. Mittlerweile verlangt D E N I C , dass reservierte Domains innerhalb eines Monats konnektiert werden. Es muss also eine Seite darunter betrieben werden, ansonsten wird die Reservierung wieder gelöscht. Um diese Löschung zu umgehen, werden sog. „weiße Websites" betrieben. In solchen Fällen weist der Betreiber auf dieser Seite lediglich darauf hin, dass sich hier eine Website im Aufbau befindet (sog. Under-Construction-Hinweise). Da für das Gebrauchen des Namens eine besondere Intensität nicht vorgeschrieben ist, liegt auch im Betreiben derartiger weißer Websites ein Gebrauchen iSd. § 12 BGB. Aber auch eine bloße Reservierung stellt bereits ein Gebrauchen dar.35 Dies deshalb, weil bei einer Registrierungsanmeldung bei D E N I C sofort mitgeteilt wird, wenn der Name bereits vergeben - also auch nur reserviert ist. Diese Reservierungsdaten werden angezeigt. Damit ist der Name in Gebrauch. Ein Anspruch nach § 12 BGB setzt weiterhin voraus, dass der Name unbefugt gebraucht wird. Dies liegt unproblematisch dann vor, wenn jemand den Namen einer Person oder einer Firma für sich hat registrieren lassen, ohne Träger dieses Namens zu sein. In Bezug auf juristische Personen des öffentlichen Rechts begründet z . B . die Verwendung der Domain „deutschland.de" durch einen Privaten eine Verwechselungsgefahr, weil ein nicht unerheblicher Teil der Internetnutzer die Domain mit der Bundesrepublik Deutschland als Namensträgerin in Verbindung bringen wird. 36 Aber auch die Bezeichnung „juris" wurde als einzig unterscheidungskräftiger Bestandteil einer Firma für die Juris-GmbH angesehen und dieser ein Unterlassungsanspruch gem. § 12 BGB zugebilligt.37 Problematisch ist es jedoch, wenn Träger gleichen Namens um eine Domain streiten. Hier gilt zunächst grundsätzlich das Prioritätsprinzip („first come, first served"). Hat also beispielsweise - wie geschehen - die Benning GmbH, eine Firma aus Bocholt, die laut eigenen Aussagen einer der führenden Hersteller von AC und DC Stromversorgungen ist, die Domain „benning.de" für sich reservieren lassen, 38 kann der Autor dieses Beitrages keinen Anspruch auf Unterlassung des Gebrauchs dieses Namens geltend " Vgl dazu Wurster]urT?C Web-Dok. 249/2001 Abs 11. 33 Wegen der Einzelheiten der nationalen und internationalen Domainvergabe vgl Köhler/Arndt Recht des Internet, Rn 16-20. 34 Siehe Köhler/Arndt Recht des Internet Rn 19. 35 Vgl dazu erstmals LG Lüneburg WM 1997, 1452 „celle.com/celle.de". 36 LG Berlin MMR 2001, 57 = JurPC Web-Dok. 211/2000 „deutschland.de". 37 LG München I WM 1997, 1455 = JurPC Web-Dok. 32/1998 „juris.de". 38 www.benning.de abgerufen am 27.12.2001.
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machen. Die redliche Verwendung des eigenen Namens auf Seiten gleichnamiger Namenskonkurrenten ist grundsätzlich hinzunehmen 39 Eine Ausnahme von dem Prioritätsprinzip soll jedoch dann gelten, wenn es sich bei einem Namensträger um ein Unternehmen mit überragender Verkehrsgeltung handelt. Diese Unternehmen seien nicht nur gegen Verwechselungsgefahr, sondern auch gegen Verwässerungsgefahr geschützt. 40 Deshalb könne ein derartiges Unternehmen die Nutzung ihrer prägenden Firmenschlagworte auch gegenüber demjenigen untersagen, der selbst Träger dieses Namens ist. So entschied u.a. das O L G München. 4 1 Am 22. N o vember 2001 wurde dieses Urteil des O L G München vom B G H 4 2 bestätigt. In dem dort entschiedenen Fall hatte die Firma Shell von einem Herrn Andreas Shell, der unter der Domain „shell.de" eine Website betrieben hat, Unterlassung und Übertragung dieser Domain verlangt. Der B G H hat dem Unterlassungsanspruch letztlich stattgegeben und zwar mit der Begründung, dass ein Domain-Name nur einmal vergeben werden könne (Eindimensionalität 43 ). Da die natürliche Person Inhaber der Domain „shell.de" sei, sei dem Unternehmen Shell die Möglichkeit genommen, den interessierten Internet-Nutzer auf einfache Weise über ihr Unternehmen zu informieren. Ein erheblicher Teil des Publikums suche in der Weise Informationen im Internet, dass der Name des gesuchten Unternehmens als InternetAdresse eingegeben werde. Zwar könne es einer Person als Träger des Namens Shell nicht grundsätzlich verwehrt werden, seinen eigenen Namen für einen Internet-Auftritt zu verwenden. Kämen mehrere Personen als berechtigte Namensträger für einen Domain-Namen in Betracht, so seien deren Interessen gegeneinander abzuwägen. Dabei gelte in erster Linie das Gerechtigkeitsprinzip der Priorität, welchem sich bei einem Streit zweier Gleichnamiger grundsätzlich auch der bekanntere Namensträger unterwerfen müsse, wobei ein Vorrang geschäftlicher vor privaten Interessen nicht anzuerkennen sei. 44 Im vorgenannten Fall war der B G H jedoch der Auffassung, dass die Interessen der Parteien im Streitfall „Shell" von derart unterschiedlichem Gewicht seien, dass es ausnahmsweise nicht bei der Anwendung der Prioritätsregel bleiben könne, weshalb dem Unternehmen Shell der Vorrang einzuräumen sei. Mit einer etwas anderen Begründung hatte seinerzeit das O L G Hamm 4 5 dem Unternehmen Thyssen Krupp den Vorrang eingeräumt. Auch in diesem Fall hatte eine natürliche Person mit dem Namen Krupp eine Website 39 40 41 42 43 44 45
Bücking Namens- und Kennzeichenrecht im Internet (Domainrecht), Rn 191. OLG Hamm CR 1998, 241 = JurPC Web-Dok. 80/1998, Abs 21 „krupp.de". OLG München CR 1999, 382 „shell.de". BGH Urt. v. 22.11.2001, Az. I ZR 138/99 „shell.de". Vgl oben Fn 13. Vgl Pressemitteilung Nr 87/2001 v. 23.11.2001 des BGH zu dem vorgenannten Urteil. OLG Hamm CR 1998, 241 = JurPC Web-Dok. 80/1998 „krupp.de".
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unter der Domain „krupp.de" betrieben. Nachdem das OLG Hamm aus eigener Sachkunde festgestellt hatte, dass der Abkürzung „Krupp" eine überragende Verkehrsgeltung zukomme, wurde bezüglich der Priorität auf den Erwerb des Namensrechts abgestellt. Dem Firmenschlagwort „Krupp" komme unstreitig der bessere Zeitrang zu, weil dieser, wie allgemein bekannt, schon zu Vorkriegszeiten Verkehrsgeltung hatte. Daher habe die Fa. Thyssen Krupp den Wettlauf mit der Person Krupp um die DomainAdresse nicht deshalb verloren, weil sich Herr Krupp die umstrittene Domain-Adresse „krupp.de" zuerst habe registrieren lassen. Beide Begründungen sind rein ergebnisorientiert und dogmatisch nicht nachvollziehbar. Es ist nicht einzusehen, wieso ein Träger gleichen Namens hinter Unternehmen zurücktreten soll, zumal doch auch der BGH betont, dass ein Vorrang geschäftlicher vor privaten Interessen nicht anzuerkennen sei. Auch nicht haltbar ist die Argumentation des O L G Hamm bezüglich des Namenserwerbs. Es ist zwar richtig, dass die Fa. Krupp bereits zu Vorkriegszeiten bekannt war. Allerdings fehlt jegliche Auseinandersetzung mit der Frage, wann der Beklagte Herr Krupp seinen Namen erworben hat. Dies erfolgte sicherlich mit der Geburt. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Personenname auch schon vorher vorhanden gewesen sein muss, also auch zu Vorkriegszeiten, sodass die Argumentation nicht zu Ende geführt wurde. Problematisch sind die beiden Entscheidungen auch deshalb, weil nicht definiert ist, wann ein Unternehmen überragende Verkehrsgeltung besitzt. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Entscheidung des LG Paderborn. 46 Auch hier hatte ein Unternehmen gegen eine natürliche Person gleichen Namens Freigabe des von dieser Person registrierten Domain-Namens verlangt. Diese Klage wurde abgewiesen, weil das Unternehmen nur in der Region Ostwestfalen-Lippe bekannt war. Damit handelte es sich nach der Auffassung des LG Paderborn nicht um ein Unternehmen mit überragender Verkehrsgeltung, weshalb ein Vorrang nicht zu erkennen sei. Immerhin hat sich das LG Paderborn bezüglich des Begriffs überragende Verkehrsgeltung festgelegt. Eine solche sei dann gegeben, wenn sich das Unternehmen bundesweit mit seinem Firmennamen etabliert habe. 47 Aufgrund der vorstehend geschilderten Unsicherheiten kann es bei der Domainvergabe nur bei der eingeschränkten Anwendung des Prioritätsprinzips verbleiben. Insbesondere auch dann, wenn man sich die weitere Begründung des BGH vor Augen führt. Der BGH ist nämlich der Auffassung, die zwischen Gleichnamigen geschuldete Rücksichtnahme gebiete es, dass derjenige, der zurückstehen müsse, für seinen Domain-Namen einen Zusatz zu wählen habe, um zu vermeiden, dass eine Vielzahl von Kunden, 46 47
LG Paderborn JurPC Web-Dok. 214 /1999. LG Paderborn aaO, Abs 18.
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die sich für das Angebot des Unternehmens interessierten, seine Homepage aufriefen. Auf der einen Seite stehe die mit einer überragenden Bekanntheit ausgestattete Marke „Shell". Ein Internet-Nutzer, der diese Adresse eingebe, erwarte den Internetauftritt der Fa. Shell. Auf der anderen Seite erwarteten Freunde des Herrn Shell kaum von sich aus, die private Homepage der Familie Shell unter der Domain „shell.de" aufrufen zu können. Aber selbst wenn, könnten diese als homogener Benutzerkreis leicht über eine Änderung des Domain-Namens informiert werden. 48 Auch mit dieser Begründung versucht der BGH lediglich eine pragmatische Lösung des Problems herbeizuführen. Anhaltspunkte im Gesetz finden sich dafür nicht. In diesem Zusammenhang ist auch noch auf die Entscheidung des LG Coburg49 hinzuweisen. Tschirn, eine im Landkreis Kronach gelegene Gemeinde, wollte unter der Domain „tschirn.de" eigene Internetseiten erstellen. Bei der Domainregistrierung stellte man fest, dass diese bereits für eine Person mit Namen „Tschirn" vergeben war. Die Gemeinde Tschirn war der Auffassung, dass hinsichtlich des Namens von Städten und Gemeinden ein vorrangiges Namensrecht zu bejahen sei und klagte deshalb auf Freigabe der Domain „tschirn.de". Das LG Coburg wies diese Klage mit der Begründung ab, bei der lediglich regionalen Bedeutung der Gemeinde könne nicht von einer überragenden Verkehrsgeltung der Bezeichnung ausgegangen werden. Folglich müsse es bei dem Prioritätsprinzip verbleiben. In diesem Fall musste also die Gemeinde zurückstehen. Fraglich ist, ob die Entscheidung anders ausgefallen wäre, wenn nicht die Gemeinde Tschirn, sondern die Weltstadt Berlin gegen die Verwendung des gleichlautenden Personennamens geklagt hätte. Noch nicht entschieden ist ein Fall, in dem zwei Träger gleichen Namens aufeinandertreffen, von denen einer eine bekannte Persönlichkeit ist. In einem solchen Fall müsste nach der bisherigen Rechtsprechung wohl dem „berühmten" Namensträger der Vorrang eingeräumt werden, nach der Diktion der Rechtsprechung aber nur dann, wenn sein Name eine überragende Verkehrsgeltung besäße. Warum das jedoch richtig sein soll, ist nicht ersichtlich. Als Lösungen für Namenskollisionen sind verschiedene Möglichkeiten denkbar. So wurde beispielsweise vorgeschlagen, dass sich die Parteien eine gemeinsame Homepage teilen könnten, von der dann auf die einzelnen Seiten der Betreffenden verwiesen werden solle.50 Diese Lösung ist allerdings nicht besonders zweckmäßig und hat sich deshalb auch nicht durchgesetzt.
48 49 50
Vgl Pressemitteilung N r 87/2001 v. 23.11.2001 des BGH. LG Coburg JurPC Web-Dok. 212/2001 „tschirn.de". Loock-Wagner Das Internet und sein Recht, C. II. 3.
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OLG Hamm 51 und BGH 5 2 sind, wie bereits ausgeführt, der Auffassung, es reiche aus, wenn derjenige, der zurückstehen muss, für seinen DomainNamen einen Zusatz wähle. Nicht geklärt ist, wie dieser Zusatz auszusehen hat, damit eine Unterscheidungsmöglichkeit besteht. In einer Entscheidung führte das OLG Hamm 5 3 nämlich aus, dass bei einer eingetragenen Marke mit schwacher Kennzeichnungskraft bereits minimale Abweichungen in nur einem Buchstaben genügen, um die Verwechselungsgefahr auszuschließen. Dieser für Marken geltende Grundsatz ist auch im Zusammenhang mit dem Namensrecht relevant. Dagegen entschied das LG München 54 , dass von einer Verwechselungsfähigkeit auch dann noch auszugehen sei, wenn dem Namen lediglich die Silbe „my" vorangestellt werde. Auch die Verwendung eines Bindestrichs sei nicht ausreichend, um die Verwechselungsfähigkeit zu beseitigen. 55 Es bleibt deshalb folgendes festzuhalten: Die Rechtsprechung, wonach von dem im Namensrecht geltenden Prioritätsprinzip dann abzuweichen ist, wenn der Name überragende Verkehrsgeltung besitzt, ist abzulehnen. Es kann nicht geklärt werden, wann von einer überragenden Verkehrsgeltung auszugehen ist und wann nicht. Hinzu kommt, dass für diese Auffassung keine Anhaltspunkte im Gesetz vorhanden sind. Deshalb kann es nur bei der uneingeschränkten Anwendung des Prioritätsgrundsatzes verbleiben, da letztlich auch die von der Rechtsprechung angebotenen Lösungsmöglichkeiten im Kollisionsfall nicht klar und eindeutig sind. Künftig dürfte das Problem jedoch dadurch entschärft werden, dass neue Top-Level-Domains verfügbar sind. Es handelt sich dabei um die Endungen .aero (für Fluglinien und Flughäfen), .biz (für Unternehmen), .info (für jeden), .museum (für Museen), .name (für private, im wesentlichen nicht kommerzielle Adressen) und .pro (für Freiberufler wie Arzte und Anwälte). Der Anspruch nach § 12 BGB ist nur auf ein Unterlassen bzw. Beseitigung der Beeinträchtigung gerichtet. Nicht verlangt werden kann dagegen die Übertragung der Domain. 5 6 Zur Begründung wird ausgeführt, dass es auch andere Personen und Unternehmen gebe, denen ein gleich gutes oder ein noch besseres Recht zustehen könne. Außerdem räume § 12 BGB dem Verletzten lediglich einen Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch ein. Das OLG Hamm CR 1998, 241 = JurPC Web-Dok. 80/1998, Abs 25 „krupp.de". 52 BGH Urt. v. 22.11.2001 „shell.de" aaO. 53 OLG Hamm NStZ 1999, 638 „pizzadirect.de". 5" LG München I Urt. v. 6 . 3 . 2 0 0 0 , Az. 7 H K O 2 7 7 5 / 0 0 J u r P C Web-Dok. 133/2000 „intershop.de". 55 LG Köln Urt. v. 10.6.1999, Az. 31 Ο 55/99. 5 6 BGH Urt. v. 22.11.2001, Az. I ZR 138/99 „shell.de" aaO; OLG Hamm CR 1998, 241 = JurPC Web-Dok. 80/1998, Abs 26 „krupp.de"; aA LG München CR 1997, 479 = JurPC Web-Dok. 32/1998, Abs 60. 51
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LG München 57 hatte dagegen ausgeführt, dass sich der Übertragungsanspruch aus § 823 I BGB iVm. § 12 BGB ergebe. Dies stelle unter den gegebenen organisatorischen Verhältnissen die einfachste Form dar, die klagende Partei so zu stellen, wie sie gestanden hätte, wenn nicht die Anmeldung ihres Domain-Namens an der schon bestehenden Eintragung derselben Adresse gescheitert wäre. Diese Auffassung des LG München ist abzulehnen. Wie bereits das OLG Hamm 58 diesbezüglich korrekt ausgeführt hat, führt ein Schadensersatzanspruch in diesem Zusammenhang nur dazu, dass der Verletzer den Störungszustand nicht aufrechterhalten dürfe. Allerdings sei er nicht dazu verpflichtet, an einer Verbesserung der Rechtsstellung des Verletzten in namensmäßiger Hinsicht mitzuwirken. Die Domain dann auch tatsächlich zu erlangen, ist Sache desjenigen, dem sie zusteht. Hierzu schuldet der Verletzer keine Unterstützungshandlung mehr. Es ist nämlich nicht Sache desjenigen, der die Domain zunächst für sich registriert hat, diese Tätigkeit demjenigen, der Ansprüche daran geltend macht, zur Verfügung zu stellen. Außerdem kann es tatsächlich vorkommen, dass auch andere ein berechtigtes Interesse haben können. Deshalb kann im Rahmen des § 12 BGB nur die Unterlassung bzw. Freigabe der Domain verlangt werden. Eine direkte Übertragung dagegen ist nicht möglich. Sofern die Verwendung einer Domain untersagt wurde, liegt jedoch keine schuldhafte Zuwiderhandlung gegen dieses Unterlassungsgebot vor, wenn später noch Suchmaschinen auf die verbotene Domain verweisen, weil keine Möglichkeit besteht, Zugriff auf die Datenbanken der Betreiber von Suchmaschinen zu nehmen. 59 Es besteht auch in diesem Zusammenhang kein Anspruch gegen die deutsche Registrierungsgesellschaft DENIC e.G. auf Sperrung eines DomainNamens, selbst wenn man Träger dieses Namens ist, da die Registrierung und Verwaltung von Internet-Domains keine Benutzung darstellt. 60 Eine weitere Schutzmöglichkeit besteht gem. § 823 I BGB, da der Name ein sonstiges Recht iSd. § 823 I BGB darstellt. 61 Es gelten deshalb die vorstehenden Ausführungen. Darüber hinaus können in diesem Zusammenhang Ansprüche aus § 826 BGB in Betracht kommen, z.B. im Falle der Behinderung durch bloße Registrierung der Domain. 62 Einen Fall der sittenwidrigen Behinderung nahm das OLG Frankfurt für den Fall an, dass sich jemand eine Domain ohne ein nachvollziehbares eigenes Interesse und ohne Zusammenhang mit dem eiLG München aaO. OLG Hamm CR 1998, 241 = JurPC Web-Dok. 80/1998, Abs 26 „knipp.de". 59 OLG Köln JurPC Web-Dok. 234/2001. 60 OLG Dresden JurPC Web-Dok. 98/2001 „kurt-biedenkopf.de". 61 Palandt/ Thomas § 823 Rn 14. 62 Vgl in diesem Zusammenhang Erdelt Der Schutz gegen Domain-Namen, JurPC WebDok. 241/2001, Abs 23 mwN. 57
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genen Namen und der eigenen Tätigkeit gesichert habe. 63 Schließlich ist ein deliktischer Anspruch auch denkbar, wenn jemand eine Domain verwendet, um negative Propaganda über die Person oder das Unternehmen zu verbreiten.64 Während die bisher dargestellten Ansprüche von Privatpersonen und auch von Unternehmen, also sowohl im Privat- wie auch im geschäftlichen Bereich geltend gemacht werden können, kommen als weitere Schutzmöglichkeiten nur noch solche in Betracht, die im Geschäftsverkehr bestehen, also nur von Unternehmen geltend gemacht werden können. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang zunächst der Unterlassungsanspruch nach § 37 II HGB. Dieser kommt dann in Betracht, wenn jemand eine ihm nicht zustehende Firma gebraucht. Unter einer Firma versteht man gem. § 17 HGB den Namen eines Kaufmanns, unter dem er seine Geschäfte betreibt und seine Unterschrift abgibt. Firmenrecht beschränkt sich jedoch auf denselben Ort oder dieselbe Gemeinde (§ 30 HGB). Dieser Anspruch dürfte deshalb auch nur selten in Betracht kommen. 65 Weitere Schutzmöglichkeiten ergeben sich aus dem Markenrecht. Allerdings setzen Ansprüche nach dem Markengesetz eine „Benutzung im geschäftlichen Verkehr" voraus. 66 „Private" Nutzungen fallen demnach nicht unter das Markenrecht. 67 Das Markenrecht schützt eingetragene und verkehrsbekannte Marken, Unternehmenskennzeichen und geographische Herkunftsangaben. Markenschutz entsteht entweder mit Eintragung der Marke (§ 4 Nr. 1 MarkenG), durch Benutzung eines Zeichens im geschäftlichen Verkehr, soweit das Zeichen innerhalb beteiligter Verkehrskreise als Marke Verkehrsgeltung erworben hat (§ 4 Nr. 2 MarkenG) oder durch die notorische Bekanntheit einer Marke i.S.d. Art. 6bis Pariser Verbandsübereinkunft (§ 4 Nr. 3 MarkenG). Ansprüche ergeben sich aus §§ 14,15 MarkenG. Nach § 14 MarkenG wird dem Inhaber der Marke ein ausschließliches Recht gewährt. Verstöße hiergegen führen zu Unterlassungs- (§ 14 V MarkenG) und ggf. Schadensersatzansprüchen (§ 14 VI MarkenG). Voraussetzung ist gem. § 14 II MarkenG jedoch, dass die Domain im geschäftlichen Verkehr und nicht nur zu privaten Zwecken genutzt wird. Der Tatbestand des Handelns im geschäftlichen Verkehr ist bereits erfüllt, wenn ein beliebiger eigener oder fremder Geschäftszweck gefördert wird. 68 Allerdings hat das LG Düsseldorf 69 entschieden, dass ein Markenschutz bereits dann in Be63
OLG Frankfurt/Main JurPC Web-Dok. 86/2000 „weideglueck.de". Erdelt aaO mwN. 65 Vgl dazu auch Erdelt Oer Schutz gegen Domain-Namen, JurPC Web-Dok. 241/2001, Abs 6 mwN. 66 Köhler/Arndt Recht des Internet, Rn 35. 67 AaO. 68 Erdelt Der Schutz gegen Domain-Namen, JurPC Web-Dok. 241/2001, Abs 9 mwN. 69 LG Düsseldorf CR 1998, 165 „epson.de". 64
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tracht kommt, wenn die Domain registriert wird und zwar dann, wenn das Zeichen bereits markenrechtlich als Unternehmenskennzeichen geschützt ist. So auch das OLG Hamm, 70 das in der bloßen Registrierung eine nach § 14 II MarkenG verbotene Benutzungshandlung sah. Von diesem Zeitpunkt an bestehe die Gefahr, dass die Internetseite in Zukunft auch genutzt werde, da ansonsten eine Registrierung keinen Sinn mache. Der Kennzeichenschutz setze aber bereits im Vorfeld ein, um eine lückenlose Gewährleistung sicherzustellen, und es erst gar nicht zu einer Beeinträchtigung kommen dürfe. 71 Darüber hinaus dürfte es auch ausreichend sein, wenn eine Privatperson eine Domain für sich registrieren lässt, um sie später an den Markeninhaber zu verkaufen (Domain-Grabbing). 72 Weitere Voraussetzung ist noch gem. § 14 II MarkenG, dass eine identische oder ähnliche Marke für dieselben oder ähnliche Waren bzw. Dienstleistungen verwendet wird. Dabei reicht die Markenähnlichkeit aus, sofern eine Verwechselungsgefahr bezüglich der angebotenen Waren oder Dienstleistungen besteht. 73 Eine solche Verwechselungsgefahr besteht jedoch nicht, wenn im Hinblick auf die Unterschiedlichkeit der Branchen nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Verkehr Verwechslungen der bezeichneten Unternehmen erliege oder wenigstens irrtümlich nicht bestehende wirtschaftliche Zusammenhänge zwischen ihnen annehmen werde. 74 Mit anderen Worten, es kommt ein Anspruch nach § 14 MarkenG nur dann in Betracht, wenn zwischen den Parteien „Branchennähe" besteht. Diese „Branchennähe" ist nur dann nicht erforderlich, wenn es sich bei der einen Partei um ein Unternehmen mit überragender Verkehrsgeltung handelt. 75 Zusammenfassend bleibt also festzuhalten, dass ein Anspruch aus § 14 MarkenG auf jeden Fall dann gegeben ist, wenn eine identische Marke als Domain-Name blockiert wird und die Waren oder Dienstleistungen ähnlich sind. 76 Wenn dagegen Marke und Domain-Name nur ähnlich sind, ist ein Anspruch aus § 14 MarkenG nicht notwendigerweise zu bejahen. Weitere Anspruchsgrundlage in diesem Zusammenhang ist § 15 MarkenG. Im Gegensatz zu § 14 MarkenG muss es sich nicht um eine eingetragene Marke handeln. Es wird vielmehr die geschäftliche Bezeichnung geschützt. Geschäftliche Bezeichnungen sind sog. Unternehmenskennzeichen ( § 5 1 MarkenG). Darunter versteht man Zeichen, die im geschäftlichen Verkehr als Name, als Firma oder als besondere Bezeichnung eines Geschäftsbetrie70
OLG Hamm JurPC WebDok. 208/2001 „veltins.com". OLG Hamm JurPC WebDok. 208/2001, Abs 23 „veltins.com". 72 Erdelt Der Schutz gegen Domain-Namen, JurPC Web-Dok. 241/2001, Abs 9 u. 13 mwN; Hoeren Rechtsfragen des Internet, München 1998, Rn 57. 73 Steckler Grundzüge des Gewerblichen Rechtsschutzes, 2. Aufl München 1996, II.6.4. 74 OLG Frankfurt/Main WRP 2000, 772 = JurPC Web-Dok. 103/2000, Abs 16. 75 OLG Hamm CR 1998, 241 = JurPC Web-Dok. 80/1998 „krupp.de". 76 Erdelt Der Schutz gegen Domain-Namen, JurPC Web-Dok. 241/2001, Abs 14. 71
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bes oder Unternehmens benutzt werden (§ 5 II MarkenG). Auch hier ist wieder die Benutzung im geschäftlichen Verkehr erforderlich. Rein private Nutzungen werden nicht durch § 15 MarkenG geschützt. Für diesen Fall kommt lediglich Schutz nach § 12 BGB (Namensrecht) in Betracht. Liegt eine geschäftliche Bezeichnung vor, bestehen bei der Domain-Registrierung durch andere Ansprüche auf Unterlassung (§ 15 IV MarkenG) und Schadensersatz (§ 15 V MarkenG). Zu beachten ist, dass kennzeichenrechtliche Ansprüche nach Markengesetz gegenüber den Ansprüchen nach § 12 BGB vorrangig zu prüfen sind.77 Weitere Schutzmöglichkeiten für Domain-Namen ergeben sich aus dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb. Maßgebliche Anspruchs grundlagen sind entweder die „große" Generalklausel des § 1 UWG (sittenwidrige Handlungen) oder die „kleine" Generalklausel des § 3 UWG (irreführende Angaben). Von § 1 UWG werden alle gegen die guten Sitten verstoßenden Wettbewerbshandlungen erfasst, während die Irreführung iSd. § 3 UWG nicht unbedingt sittenwidrig sein muss. Diese Ansprüche sind auf ein Unterlassen (§§ 1, 3 UWG) oder auf Schadensersatz (§ 1 UWG) gerichtet. Der Begriff der guten Sitten in § 1 UWG ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. In der Rechtsprechung haben sich deshalb für die Bejahung der Sittenwidrigkeit fünf Fallgruppen herauskristallisiert.78 Es handelt sich dabei um den Kundenfang, die Behinderung, die Ausbeutung, den Rechtsbruch und die Marktstörung. Allgemeine Voraussetzung für Ansprüche nach dem UWG ist eine Handlung im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs. Damit scheiden, wie bei markenrechtlichen Ansprüchen, private Handlungen aus. In Bezug auf Domain-Namen kommen derartige Ansprüche insbesondere bei den Fallgruppen Kundenfang, Behinderung und Ausbeutung in Betracht. Die Verwendung eines „fremden" Domain-Namens kann eine Ausbeutung darstellen. Diese Fallgruppe richtet sich in erster Linie gegen Mitbewerber, welche die Leistung eines Konkurrenten für eigene Zwecke unlauter ausnutzen. 79 So geschehen im bereits geschilderten Fall des Michael Schumacher.80 Auch der Tatbestand der Behinderung kann durch die Blockierung eines Domain-Namens erfüllt sein. Das ist insbesondere bei dem Domain-Grabbing der Fall.81 Aber auch die Verwendung von Gattungsbegriffen als Domain-Namen kann eine Blockierung darstellen, worauf im folgenden noch näher eingegangen wird. 77
OLG Hamm JurPC Web-Dok. 298/2001, Abs 18 „veltins.com". Vgl die Einteilung bei Baumbach/Hefermehl Wettbewerbsrecht, 22. Aufl München 2001, Einl. UWG, Rn 160 ff. 79 Eichhorn Internet-Recht, Anm. 6.1.2.3. 80 Vgl oben Fn 31. 81 Steckler Grundzüge des EDV-Rechts, VIII.2.2. 78
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Haupttatbestand ist die Irreführung sowohl gem. § 3 UWG als auch nach § 1 UWG, denn die Irreführung ist die wichtigste Untergruppe der Fallgruppe des Kundenfangs. 82 Neben der Benutzung „fremder" Namen, was bei der rechtlichen Lösung unproblematisch ist, fällt in diesen Bereich auch die Verwendung von Gattungsbegriffen als Domain-Namen. Diesbezüglich existieren nur wenige Entscheidungen. So hat das LG München entschieden, dass die Verwendung der Domain „www.rechtsanwaelte.de" durch eine Rechtsanwaltskanzlei zu einer unlauteren Absatzbehinderung anderer Kanzleien dadurch führe, dass diejenigen potenziellen Mandanten im Wege der internetspezifischen Kanalisierung von Kundenströmen abgefangen und auf die Homepage „www.rechtsanwaelte.de" geleitet werden, die im Internet eine Anwaltsrecherche mittels der Direkteingabe der Berufsbezeichnung „Rechtsanwälte" unternehmen. 83 Diese Entscheidung ist jedoch vom OLG München wieder aufgehoben worden. 84 Da es sich hierbei um ein Anerkenntnisurteil handelt, ist von der Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe abgesehen worden (§ 313b I ZPO). Das OLG Hamburg 85 entschied in diesem Zusammenhang ähnlich wie das LG München. Die werbliche Verwendung einer Gattungsbezeichnung für die Präsentation eines Unternehmens begründe die erhebliche Gefahr einer unlauteren Wettbewerbsverzerrung, selbst wenn sie Namensbestandteil des Wettbewerbs ist. Insbesondere könne die Verwendung in einer Domain bzw. in der Bezeichnung der Homepage wegen der damit verbundenen Kanalisierungsfunktion eine nachhaltige Beeinträchtigung des Wettbewerbs zur Folge haben. Es sei davon auszugehen, dass Internet-Nutzer eine Homepage nicht nur über Suchmaschinen aufzufinden versuchen, sondern auch über die direkte Eingabe eines Domain-Namens. Die Ausnützung der Bequemlichkeit von Internet-Nutzern durch Verwendung einer Gattungsbezeichnung verschaffe dem Domain-Inhaber einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil.86 Auch das LG Köln sah in der Benutzung der Domain „hauptbahnhof.de" durch einen Journalisten eine sittenwidrige Beeinträchtigung gem. § 1 UWG. 87 Anders dagegen eine Entscheidung des OLG Hamm. 8 8 Ein Verstoß gegen das Irreführungsverbot des § 3 UWG durch den Gebrauch der Gattungsbezeichnung „Sauna" im Domain-Namen sei nicht gegeben, wenn durch den Begriff das Leistungsangebot des Domain-Inhabers zutreffend beschrieben 82
Eichhorn Internet-Recht, Anm. 6.1.2.1.1. " LG München JurPC Web-Dok. 27/2001 „rechtsanwaelte.de". 84 OLG München Urt. v. 22.11.2001, Az. 6 U 5611/00 „rechtsanwaelte.de". 85 OLG Hamburg MMR 2000, 40 = CR 1999, 799 = JurPC Web-Dok. 34/2000 „mitwohnzentrale.de". 84 OLG Hamburg aaO. 87 LG Köln JurPC Web-Dok. 216/1999 „hauptbahnhof.de". 8 » OLG Hamm JurPC Web-Dok. 213/2001 „sauna.de".
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werde. Bei einem Gattungsbegriff ohne weitere Zusätze erwarte der Internet-Nutzer eine Präsentation aus diesem Bereich, nicht aber einen übergeordneten Informationsdienst. 89 Bis heute liegt aus diesem Bereich nur eine BGH-Entscheidung vor.90 Es handelt sich dabei um die Revision zu der bereits zitierten Entscheidung des OLG Hamburg. 91 Der BGH vertrat die Auffassung, dass die Verwendung eines beschreibenden Begriffs als Domain-Name nicht generell wettbewerbswidrig sei. Außerdem hob es die Entscheidung des OLG Hamburg 92 auf und verwies den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurück mit der Begründung, eine wettbewerbswidrige Beeinträchtigung sei nur dann gegeben, wenn gezielt der Zweck verfolgt werde, den Mitbewerber an seiner Entfaltung zu hindern und ihn dadurch zu verdrängen.93 Auch der BGH nimmt an, dass Gattungsbezeichnungen als Internet-Adressen zu einer gewissen Kanalisierung der Kundenströme führen können. 94 Diese Kanalisierung könne auf zwei Gründen beruhen. Einerseits sei denkbar, dass sich ein Teil der Nutzer aus Bequemlichkeit mit dem gefundenen Angebot zufrieden gebe. Andererseits könne ein Nutzer auch deshalb von einer weiteren Suche abgehalten werden, weil er meine, die gefundene Website verschaffe ihm einen Zugang zum gesamten Angebot. 95 Letzteres sei jedoch dann nicht der Fall, wenn der Nutzer von vornherein erkennen könne, dass die gefundene Homepage eines Anbieters nicht das gesamte Angebot repräsentiere.96 Im weiteren führt der BGH aus, dass keine unsachliche Beeinflussung vorliege, wenn der Nutzer lediglich aus Bequemlichkeit auf eine weitere Suche verzichte.97 Allerdings kommt der BGH letztlich zu dem Ergebnis, dass durch die Verwendung eines beschreibenden Begriffs als Domain-Name im Einzelfall eine irreführende Alleinstellungsbehauptung vorliegen könne. Wann das der Fall ist, wurde offengelassen. Stattdessen wurde die Sache zurückverwiesen. Einer Irreführung könnte nach Auffassung des BGH entgegengewirkt werden, indem auf der Homepage auf weitere gleichartige Angebote hingewiesen werde. 98 Meines Erachtens liegt in der Verwendung von Gattungsbegriffen als Domain-Namen in keinem Fall eine wettbewerbswidrige Handlung. Internet89
OLG Hamm aaO. BGH JurPC Web-Dok. 219/2001 „mitwohnzentrale.de". 91 Vgl oben Fn 85. 9 2 Vgl oben Fn 85. 93 BGH JurPC Web-Dok. 219/2001, Abs 14 „mitwohnzentrale.de". 94 BGH aaO, Abs 16 unter Hinweis auf Vießues Domain-Name-Sharing, MMR 2000, 334. 95 BGH aaO, Abs 18. 96 Wie z.B. in den Fällen von www.rechtsanwaelte.de.www.autovermietung.com oder www.sauna.de. 97 BGH aaO, Abs 20. 98 BGH aaO, Abs 31. 90
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nutzer sind mündiger, als es die Rechtsprechung teilweise annimmt. Wie das OLG Hamm richtig ausgeführt hat, wissen die Internetnutzer, dass Domain-Namen ohne rechtliche Prüfung vergeben werden." Wenn also eine Seite nur über die Domain aufgerufen wird, weiß jeder, dass es sich dabei nicht um ein allgemeingültiges Angebot handelt. Wer sich einen allgemeinen Uberblick verschaffen möchte, bedient sich einer Suchmaschine. Da die Nutzer bei der Verwendung von allgemeinen Begriffen gar nicht irregeführt werden können, liegt in diesen Fällen auch keine wettbewerbswidrige Handlung iSd. §§ 1, 3 UWG vor. Wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben, ist der Streit um Domain-Namen vielfältig. Eine einheitliche Linie hat sich bis jetzt noch nicht herauskristallisiert. Der Streit wird dennoch so heftig geführt, weil DomainNamen ein wirtschaftsfähiges Gut darstellen. Dies wird daraus ersichtlich, dass die Pfändung von Domain-Namen unter besonderen Umständen für zulässig erachtet wird,100 allerdings nur dann, wenn durch die Pfändung keine Namens- oder Markenrechte beeinträchtigt werden.101 Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die gesamte Problematik der Domain-Namen durch den Gesetzgeber kaum geregelt werden kann. Sämtliche Gesetzgebungsversuche würden aufgrund der Geschwindigkeit, mit der sich das Medium Internet verändert, bereits von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. Die bis heute ergangene Rechtsprechung zu diesem Thema stellt sich wie folgt dar: Domain-Namen sind schützbar, und zwar mittels Namensrechts des BGB (§ 12 BGB), des Rechts der unerlaubten Handlungen (§§ 823, 826 BGB), des Firmenrechts (§ 37 HGB), des Markenrechts (§§ 14, 15 MarkenG) und des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (§§ 1, 3 UWG). Bei Namenskollisionen im Bereich des § 12 BGB gilt zunächst der Prioritätsgrundsatz. Dieser wird dann durchbrochen, wenn der Name eines der Beteiligten überragende Verkehrsgeltung besitzt. Markenrechtlich ergeben sich dagegen keinerlei Besonderheiten, da der Markeninhaber jegliche Verwendung seiner Marke untersagen kann. Auch wettbewerbsrechtlich kann die Registrierung einer Domain problemlos unter die Fälle der §§ 1 und 3 UWG subsumiert werden, sodass auch in diesem Bereich die entsprechenden Rechtsfolgen eintreten. Schließlich ist bei der Verwendung von Gattungsbegriffen zu beachten, dass diese irreführend iSd. §§ 1, 3 UWG sein bzw. zu einer Kanalisierung von Kundenströmen führen können und deshalb Freigabeansprüche bestehen können. " OLG Hamm JurPC Web-Dok. 213/2001, Abs 13 „sauna.de". LG Essen JurPC Web-Dok. 49/2000; Zöller-Stöber ZPO, § 857, Rn 12c. 101 LG München, Beschl. v. 28.6.2000, Az. 20 Τ 2446/00. 100
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I. Einleitung Privatrechtliche Willenserklärungen können heutzutage per Mausklick, durch Freischaltung einer Web-Site1 oder durch E-Mail abgegeben werden. Die Anzahl der Geschäftsabschlüsse im E-Commerce (Elektronischer Geschäftsverkehr), im M-Business (Mobile Business = Online-Transaktionen per Handy) und in anderen Bereichen des elektronischen Rechtsverkehrs wird weiter zunehmen. Es müssen daher die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den modernen elektronischen Rechtsgeschäftsverkehr geschaffen werden, sofern und soweit die herkömmlichen Regeln nicht genügen. Europarechtlich ist durch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8 . 6 . 2 0 0 0 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt (Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr)2 den Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums auferlegt worden, dafür Sorge zu tragen, daß ihre Rechtsvorschriften keine Hindernisse für den Abschluß von Verträgen auf elektronischem Wege bilden. Der deutsche Gesetzgeber hat aus seiner Sicht in erster Linie in Formerfordernissen (Schriftform) bestehende Hindernisse und gleichzeitig beweisrechtliche Hemmnisse durch das Gesetz zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr vom 13. 7 2001 (FormAnpG) 3 beseitigt. Materiell-rechtlich ist u.a. in § 126 Abs. 3 BGB die Ersetzung der gesetzlich vorgeschriebenen Schriftform durch die in § 126a BGB umschriebene „elektronische Form" ermöglicht und in § 126b BGB die neue „Textform" eingeführt worden. Verfahrensrechtlich ist neben der Zulassung elektronischer Dokumente für prozessuale Erklärungen (§ 130a ZPO) die beweisrechtliche 1 Vgl nur BGH ZiP 2002, 39 zum Zustandekommen eines Kaufvertrages bei einer Internet-Auktion. 2 AB1EG NrL 178/1 vom 17 7. 2000, S. 1; dazu Tettenborn/Bender/Lübben/Karenfort K&R 2001, Beilage 1 zu Heft 12. 3 BGBl. I, S. 1542.
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Behandlung der elektronischen Form (§ 292a ZPO) und der elektronischen Dokumente (§ 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO) geregelt worden. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf erste Gedanken zu den neuen Beweisvorschriften, deren Auslegung allerdings einen Rückgriff auf weitere rechtliche Regelungen elektronischen Handelns erfordert.
II. Beweis durch Augenschein, § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO bestimmt nunmehr, daß der Beweis durch Vorlegung oder Übermittlung der Datei angetreten wird, wenn ein elektronisches Dokument Gegenstand des Beweises ist. Dadurch ist - über den Umweg des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes4 - die Beweisführung mittels elektronischer Dokumente den Vorschriften über den Beweis durch Augenschein unterstellt worden, der nach der Gesetzesbegründung als besonders zuverlässiges Beweismittel zu bewerten sein soll. 5 Da die elektronische Signatur der eigenhändigen Unterschrift gleichgestellt wurde (§§ 126 Abs. 3, 126a BGB), 6 wäre für elektronische Dokumente, die den Anforderungen des § 126a BGB genügen, auch die Anwendung der Vorschriften über Privaturkunden (§§ 416ff ZPO) in Betracht gekommen. 7 Der deutsche Gesetzgeber hat davon aber nicht nur deshalb abgesehen, weil dem elektronischen Dokument, so die Gesetzesbegründung, „das Wesensmerkmal der Verkörperung auf einem unmittelbar lesbaren Schriftträger" fehle.8 Er wollte vielmehr das „Vertrauen in die Rechtssicherheit und die Verkehrsfähigkeit der elektronischen Form in besonderem Maße" gewährleisten und einen weitergehenden Schutz des Erklärungsempfängers erreichen, als es die Vorschriften der ZPO über den Beweis durch Schrifturkunden seiner 4 Die Vorschrift des § 371 Abs 1 S. 2 ZPO ist zwar bereits durch Art. 2 FormAnpG in die ZPO eingefügt worden. Sie wäre aber mit dem Inkrafttreten des Zivilprozeßreformgesetzes vom 17. 7. 2001 (BGBl. I, S. 1887) zum 1.1.2002 wieder entfallen, weil der neu eingefügte Satz 2 des § 371 ZPO in diesem in der Entstehung älteren Reformgesetz übersehen worden war. Dieses Redaktionsversehen ist jedoch durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26.11.2001 (BGBl. I, S. 3138) gerade noch rechtzeitig korrigiert worden. 5 Vgl BT-Drucks. 14/498^ S. 13. DästnerNJV! 2001, 3469 sieht in den neuen Vorschriften der §§ 292a, 371 Abs 1 S. 2 ZPO ein „eigenständiges Recht der Beweisführung mit elektronischen Dokumenten", das sowohl Elemente des Augenscheins- wie des Urkundenbeweises enthalte. 6 BT-Drucks. 14/498^ S. 14. 7 Diesen Weg ist der österreichische Gesetzgeber gegangen: § 4 Abs 3 ÖSigG wendet die Bestimmung des § 294 ÖZPO über die Vermutung der Echtheit des Inhalts einer unterschriebenen Privaturkunde auf elektronische Dokumente an, die mit einer sicheren Signatur versehen sind; näher zur Regelung elektronischer Signaturen in Osterreich Blaurock/ Adam ZEuP 2001, 93, 101 ff. 8 Vgl BT-Drucks. 14/4987, S. 13.
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Ansicht nach vermögen. 9 Aus diesem Grunde hat er die Beweisführung durch elektronische Dokumente bei Verwendung einer qualifizierten elektronischen Signatur dem Beweis durch Augenschein zugeordnet und zudem durch einen gesetzlichen „Anscheinsbeweis" (§ 292a ZPO) ergänzt. Lediglich die Vorschriften der §§ 422 bis 432 ZPO sind auf den Augenscheinsbeweis mittels elektronischer Dokumente für entsprechend anwendbar erklärt worden, § 371 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz ZPO. 1. Gesetzliche
Regelung
§ 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO greift nur ein, wenn ein elektronisches Dokument Gegenstand des Beweises ist. Der Beweisantritt hat dann durch Vorlegung oder Übermittlung der Datei zu erfolgen. Der Ausdruck eines auf dem Computer erstellten Dokuments ist sicher selbst kein „elektronisches Dokument" und wird daher, wenn mangels Unterschrift die Voraussetzungen einer Privaturkunde nicht gegeben sind, dem allgemeinen Augenscheinsbeweis nach § 371 Abs. 1 Satz 1 ZPO unterfallen. Welche Anforderungen im einzelnen an ein „elektronisches Dokument" zu stellen sind, hat der Gesetzgeber offen gelassen. Der Begriff des „elektronischen Dokuments", der außerdem in den §§ 130a, 174 Abs. 3 (in der ab dem 1. 7 2002 geltenden Fassung),10 299 Abs. 3 ZPO verwendet wird, ist weder in diesen Vorschriften noch in den §§ 126, 126a BGB oder denjenigen des Signaturgesetzes erläutert. In der Gesetzesbegründung wird er als „heute gebräuchlich" bezeichnet und soll den 1977 in die ZPO für das Mahnverfahren in § 690 Abs. 3 eingeführten Begriff der „nur maschinell lesbaren" Aufzeichnung ersetzen.11 Ein „elektronisches Dokument" kann somit wohl umschrieben werden als ein „Schriftstück, das nur elektronisch lesbar ist". In der Rechtspraxis dürfte eine genauere Begriffsbestimmung kaum erforderlich werden: Dem Anwendungsbereich des § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO wird man alle „elektronischen Dokumente" unterwerfen können, bei denen der Beweis durch „Vorlegung oder Übermittlung einer Datei" angetreten werden kann. Wo dies nicht möglich ist, wird entweder der allgemeine Beweis durch Augenschein gemäß § 371 Abs. 1 Satz 1 ZPO oder der Urkundenbeweis greifen.12 Unter „Vorlegung oder Übermittlung der Datei" im Sinne des § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO soll nach den Gesetzesmaterialien sowohl die Vorlage eines Datenträgers (Diskette etc.), auf dem das Dokument gespeichert ist, zu ' AaO; Hervorhebung vom Verfasser. w Vgl Art. 1 Ziff. 2 ZustRG vom 25.6.2001 (BGBl. I, S. 1206). 11 BT-Drucks. 14/4987, S. 24. 12 Zur Beweismittelqualität von EDV-Datenträgern und deren ausgedrucktem Datenbestand vgl Baltzer ZZP 89, 406; Zöller/Geimer ZPO, 22. Aufl 2001, vor § 415 Rn 2; Baumbach/Lauterbach/Hartmann ZPO, 60. Aufl 2002, Übers. § 415 Rn 3.
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verstehen sein wie auch die elektronische Übermittlung des Dokuments an das Gericht. 13 Bei Beweis antritt durch elektronische Übermittlung der Datei an das Gericht ist die Vorschrift des § 130a ZPO zu beachten, d.h. die Aufzeichnung muß für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet sein, § 130a Abs. 1 Satz 1 ZPO. Die elektronische Signatur ist dagegen nicht zwingend vorgeschrieben; § 130a Abs. 1 Satz 2 ZPO ist eine bloße Sollvorschrift. 14 2.
Kritik
Die Vorschrift des § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO kann nicht als gelungen bezeichnet werden. Sie läßt sich in die herkömmliche Systematik des zivilprozessualen Beweisverfahrens nur schwer einordnen und wird sicherlich nicht zu einer klaren und einfachen Beweiserhebung beitragen, wenn infolge der Zunahme des elektronischen Rechtsgeschäftsverkehrs demnächst häufiger elektronische Dokumente „Gegenstand des Beweises" werden. Herkömmlicherweise setzt ein zulässiger Beweisantrag mindestens die Angabe des Beweisthemas, also die spezifizierte Bezeichnung der Tatsachen, die bewiesen werden sollen, und die Bezeichnung des Beweismittels voraus. 15 Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt werden, kann das Gericht erkennen, worüber und auf welchem Wege es Beweis erheben soll, und beurteilen, ob die Beweiserhebung überhaupt erforderlich ist oder ob sie abgelehnt werden kann. Diese Erfordernisse gelten grundsätzlich auch beim Beweis durch Augenschein. Gemäß § 371 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist der Beweis durch Augenschein durch die Bezeichnung des Gegenstandes des Augenscheins (Beweismittel) und durch die Angabe der zu beweisenden Tatsachen (Beweisthema) anzutreten. Die Einnahme des Augenscheins durch das Gericht gehört dagegen nicht mehr zum Beweisantritt, sondern bereits zum Stadium der Erhebung des angetretenen Beweises. Wenn sich der Gegenstand des Augenscheins im Besitz des Beweisführers befindet, geht das Gesetz wie selbstverständlich davon aus, daß der Einnahme des Augenscheins durch das Gericht keine besonderen Schwierigkeiten entgegenstehen. Besitzt ein Dritter den Gegenstand des Augenscheins, so gehört zu einem zulässigen Beweis^nm'ti ein auf Herbeischaffung des Gegenstandes gerichteter Antrag (§ 371 Abs. 2 ZPO). Ist der Gegner im Besitz des Augenscheinsgegenstandes und verweigert er die Einnahme des Augenscheins, so kann dies für ihn nachteilige Beweisfolgen haben, § 371 Abs. 3 ZPO. Wenn § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO dahin zu verstehen sein sollte, daß bei einem elektronischen Dokument als „Gegenstand" des Augenscheins der Beweis nicht nach Satz 1, sondern ausschließlich nach Satz 2 anzutreten sein " BT-Drucks. 14/4987, S. 25. 14 15
Baumback/Lauterbach/Hartmann aaO § 130a Rn 3. Vgl nur Zöller/Greger aaO vor § 284 Rn 4 ff mwN.
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soll,16 dann bedürfte es zum einen weder der konkreten Bezeichnung des Gegenstandes des Augenscheins noch der zu beweisenden Tatsache und müßten zum anderen schon beim Beweisantritt, also nicht erst bei der Beweiserhebung durch Einnahme des Augenscheins, die „Dateien" dem Gericht vorgelegt oder ihm übermittelt werden. Daß weder das eine noch das andere sinnvoll sein kann, liegt auf der Hand. Die Vermutung, daß § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO trotz seines Wortlauts eigentlich nicht den Beweis antritt regeln will, sondern die Beweiserhebung durch Einnahme des Augenscheins betrifft, liegt nahe. Die Gesetzesbegründung vermag insoweit allerdings nicht zur Aufklärung beizutragen. Denn dort findet sich lediglich der Hinweis, der Beweisführer trete „den Beweis für ein in seinem Besitz befindliches elektronisches Dokument durch Vorlegung eines Datenträgers an, auf dem das Dokument gespeichert ist. Unter den Voraussetzungen des § 130a ... soll der Beweisantritt auch durch elektronische Übermittlung des Dokuments an das Gericht möglich sein".17 Nach dieser Formulierung soll § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO den Antritt des Beweises „für ein im Besitz des Beweisführers befindliches Dokument" betreffen. Die Umschreibung „im Besitz des Beweisführers" nimmt ersichtlich Bezug auf die Unterscheidung in den beiden Halbsätzen des § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO. Der Beweis „für ein Dokument" wäre dann als Nachweis der Existenz des Dokuments zu verstehen. Dies würde der herkömmlichen Unterscheidung der Beweismittel des Strengbeweises entsprechen, wonach der Beweis durch Augenschein die gegenständliche Wahrnehmung einer Person oder Sache im Gegensatz zur Wiedergabe eines Gedankeninhalts betrifft.18 Ist „Gegenstand" des Augenscheinsbeweises ein „elektronisches Dokument", so kann durch dessen Vorlegung oder Übermittlung also zunächst nur seine „gegenständliche Existenz" unabhängig von einem etwaigen gedanklichen Inhalt bewiesen werden. Welche Schlüsse der Richter aus der so bewiesenen Existenz eines konkreten „elektronischen Dokuments" ziehen kann und will, obliegt dann seiner freien Beweiswürdigung gemäß § 286 ZPO.19 Auch bei dieser Auslegung des § 371 Abs. 1 Satz 2 ZPO bleibt aber unklar, warum bereits zum Antritt des Beweises die „Vorlegung oder Übermittlung der Datei" erforderlich sein soll. Richtigerweise wird man die Vorlegung oder Übermittlung der Datei als Teil der Beweiserhebung erst nach einem entsprechenden Beweisbeschluß des Gerichts verlangen können. Problematisch ist ferner, daß der „Gegenstand des Beweises" nicht mit dem zur Einnahme des Augenscheins zur Verfügung zu stellenden Gegenstand, also dem „Gegenstand des Augenscheins" identisch ist. „Gegenstand " So offenbar Baumbach/Lauterbach/Hartmann aaO § 371 Rn 4f. 17 BT-Drucks. 14/4987, S. 25. » Vgl nur Zöller/Greger aaO § 371 Rn 2. " Im Ergebnis ebenso Geis in: Handbuch Multimedia Recht, hrsg. von Hoeren/Sieber, Kap. 13.2. Rn 7 m w N .
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des Beweises", dessen Existenz im Wege des Augenscheins nachgewiesen werden soll, ist ein „elektronisches D o k u m e n t " . Gegenstand des Augenscheins ist dagegen die vorgelegte oder übermittelte „Datei", wobei nach der Gesetzesbegründung auch die Vorlage eines Datenträgers genügen soll, auf dem das D o k u m e n t gespeichert ist. Gegenstand der Wahrnehmung durch das Gericht ist somit nur der Datenbestand, den es dem ihm vorgelegten Datenträger entnehmen kann oder der ihm elektronisch übermittelt worden ist. O b bei der Vorlage oder Übermittlung eine Veränderung des Datenbestandes erfolgt sein kann und welche Schlüsse aus dem vorgelegten Datenträger bzw. aus der übermittelten Datei auf das Vorhandensein des Beweisgegenstandes, also des „elektronischen D o k u m e n t s " , gezogen werden können, wird im Einzelfall im Rahmen der freien Beweiswürdigung, ggf. unter Zuhilfenahme sachverständigen Rates (§§ 402 ff ZPO), zu prüfen sein.
III. Beweiswert elektronischer Dokumente, § 292a ZPO Damit ist bereits die Frage berührt, welcher Beweiswert elektronischen D o k u m e n t e n überhaupt z u k o m m e n kann. In der Absicht, dem Erklärungsempfänger einer in elektronischer Form (§ 126a BGB) abgegebenen Willenserklärung die Beweisführung zu erleichtern, ist die Vorschrift des § 292a Z P O eingeführt worden. G e m ä ß § 292a Z P O kann der Anschein der Echtheit einer in elektronischer Form (§ 126a BGB) vorliegenden Willenserklärung, der sich aufgrund der Prüfung nach dem Signaturgesetz ergibt, nur durch Tatsachen erschüttert werden, die es ernsthaft als möglich erscheinen lassen, daß die Erklärung nicht mit dem Willen des Signaturschlüssel-Inhabers abgegeben worden ist. In dieser Vorschrift wird erstmals von Gesetzes wegen eine F o r m des Anscheinsbeweises geregelt und zwar nach der Gesetzesbegründung in der gleichfalls neuen Variante, daß der Anschein für das Vorliegen der zu beweisenden Tatsache nicht auf dem Bestehen eines anerkannten allgemeinen Erfahrungssatzes beruht, sondern auf gesetzlicher Vorgabe. Z u r Begründung wird angeführt, es bleibe dem Gesetzgeber unb e n o m m e n , anstelle eines Erfahrungssatzes „einen gesetzlich verbrieften Sicherheitsstandard" als Grundlage einer Beweisregel vorzusehen. 2 0
1. Auslegung des § 292a
ZPO
Mit der Regelung des § 292a Z P O soll an die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum Beweis des ersten Anscheins angeknüpft werden. 21 20 BT-Drucks. 14/498^ S. 44. Bedenken gegen die gesetzliche Festschreibung einer entsprechenden Beweisverteilung bei Melullis MDR 1994, 109, 113. BT-Drucks. 14/4987, S. 24.
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Beim Beweis des ersten Anscheins handelt es sich an sich nicht um ein Beweismittel, sondern um den „konsequenten Einsatz der allgemeinen Lebenserfahrung bei der Uberzeugungsbildung im Rahmen der freien Beweiswürdigung gemäß § 286 ZPO". 22 Er greift bei typischen Geschehensabläufen ein, d . h . in Fällen, in denen ein bestimmter Sachverhalt feststeht, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder auf einen bestimmten Ablauf als maßgeblich für den Eintritt eines bestimmten Erfolges hinweist. 23 Es kann dann von dem feststehenden Sachverhalt auf den Zusammenhang mit dem eingetretenen Erfolg, aber auch umgekehrt von dem eingetretenen Erfolg auf ein bestimmtes Verhalten als Ursache geschlossen werden. 24 Welcher Sachverhalt nach § 292a ZPO den Beweis des ersten Anscheins rechtfertigen soll, läßt sich dem Wortlaut dieser Vorschrift nicht ohne weiteres entnehmen. Denn die Gesetzesformulierung stellt nicht die Begründung des Anscheins, sondern dessen Erschütterung, also den sog. Gegenbeweis, 25 in den Vordergrund. Zur Begründung des Anscheins findet sich lediglich die Umschreibung, daß sich der Anschein „aufgrund der Prüfung nach dem Signaturgesetz ergibt". In den Gesetzesmaterialien wird dieses Tatbestandserfordernis dahin erläutert, es gehe um die Prüfung nach dem Signaturgesetz, die die Signierung mit dem auf der Signaturchipkarte gespeicherten geheimen Schlüssel des Inhabers und dessen Identität bestätige. 26 Es solle eine Uberprüfung der Signatur nach dem Signaturgesetz durch Überprüfung der Zuordnung des Signaturprüfschlüssels erfolgen. 27 Weiter ist in den Gesetzgebungsmaterialien von einem hohen Sicherheitsstandard qualifizierter elektronischer Signaturen unter Hinweis auf „vor allem informationstechnische Erfahrungen" die Rede. 28 Der Verweis auf die „Prüfung nach dem Signaturgesetz" ist demnach dahin zu verstehen, daß die Uberprüfung erfolgen soll, ob das „elektronische Dokument" mit einer qualifizierten elektronischen Signatur nach dem Signaturgesetz versehen ist. Dafür spricht auch die Bezugnahme auf die elektronische Form des § 126a BGB. 29 Die Regelung der „qualifizierten elektronischen Signatur" im Signaturgesetz 30 ist äußerst kompliziert. An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, 22
BGH NJW 1998, 79, 80 f. St. Rspr., vgl nur BGH NJW 1982, 244^ 2448; 1987, 2876, 2877; VersR 1982, 1145. 24 Vgl BGH NJW 1956, 1638; 1991, 230, 231; VersR 1965, 772. 25 Dazu BGH NJW 1991, 230, 231 m w N . BT-Drucks. 14/4987, S. 13. 27 A a O S. 24. 28 A a O S. 25, 44. 2 ' Ebenso Luke JuS 2001, 1134, 1136. 30 Mit dem Gesetz über Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 16.5.2001 (BGBl. I, S. 876) ist die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinschaftliche Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen vom 13.12.1999 (ABl. N r L 13 vom 19.1.2000, S. 12ff) umgesetzt worden; ausführlich zum neuen Recht elektronischer Signaturen Roßnagel NJW 2001, 1817ff. 23
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daß nach der Begriffsbestimmung in § 2 Nr. 1 bis 3 SigG qualifizierte elektronische Signaturen „Daten in elektronischer Form" sind, „die anderen elektronischen Daten beigefügt oder logisch mit ihnen verknüpft sind und die zur Authentifizierung dienen" (§ 2 Nr. 1 SigG), „die a) auf einem zum Zeitpunkt ihrer Erzeugung gültigen qualifizierten Zertifikat beruhen und b) mit einer sicheren Signaturerstellungseinheit erzeugt werden" (§ 2 Nr. 3 SigG) und die weiter „ausschließlich dem Signaturschlüssel-Inhaber zugeordnet sind, ... die Identifizierung des Signaturschlüssel-Inhabers ermöglichen, ... mit Mitteln erzeugt werden, die der Signaturschlüssel-Inhaber unter seiner alleinigen Kontrolle halten kann, und ... mit den Daten, auf die sich beziehen, so verknüpft sind, daß eine nachträgliche Veränderung der Daten erkannt werden kann" (§ 2 Nr. 2 a bis d SigG). 31 Wenn eine solche „qualifizierte elektronische Signatur" vorliegt, soll der „Anschein der Echtheit" einer in dieser Form vorliegenden Willenserklärung begründet sein. An dieser Gesetzesformulierung stört zunächst, daß der zur Begründung des Anscheins festgestellte Sachverhalt, nämlich die Unterzeichnung der in elektronischer Form abgegebenen Willenserklärung mit einer „qualifizierten elektronischen Signatur" nicht zum Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs mit einem bestimmten Erfolg dienen soll, wenn man den Wortlaut des Gesetzes ernst nimmt. Denn die „Echtheit" einer Willenserklärung läßt sich schwerlich unter den Begriff des „Erfolges" im Sinne der beim Anscheinsbeweis herkömmlicherweise verwendeten Begriffskategorien subsumieren. Man wird den „Anscheinsbeweis", um den es in § 292a ZPO geht, daher wohl darin sehen müssen, daß der eingetretene Erfolg, nämlich daß ein bestimmtes elektronisches Dokument eine qualifizierte elektronische Signatur trägt, die einer bestimmten Person zugeordnet ist, auf ein bestimmtes Verhalten als Ursache schließen lässt, nämlich darauf, daß die Erklärung von dem Berechtigten selbst oder mit seinem Willen elektronisch signiert worden ist. 32
2. Kritik Die „Echtheit" wird beim Urkundenbeweis, dessen Heranziehung hier nahegelegen hätte, als Voraussetzung der sog. inneren oder materiellen Beweiskraft, 33 also der Richtigkeit der beurkundeten Erklärung, bei der Privaturkunde durch die Echtheit der Unterschrift nachgewiesen (§ 439 Abs. 2 ZPO). Die (echte) Unterschrift wiederum begründet bei der Privaturkunde gem. § 416 ZPO vollen Beweis dafür, daß die in der Urkunde enthaltenen
31 Zur Gewährleistung von Authentizität und Integrität von Nachrichten durch digitale Signaturen Miedbrodt/Mayer MDR 2001, 432, 433; Nowak MDR 2001, 841, 843. 32 In diesem Sinne schon Melullis MDR 1994, 109, 111. 33 Vgl Zöller/Geimer aaO, vor § 415 Rn 6.
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Erklärungen von dem Aussteller abgegeben sind, sog. äußere oder formelle Beweiskraft.34 Wollte man diese Unterscheidung auch bei elektronischen Dokumenten heranziehen, so begründete die „Echtheit" der einer handschriftlichen Unterschrift gleichgestellten „qualifizierten elektronischen Signatur" an sich die Echtheit des gesamten „elektronischen Dokuments". Bei § 292a ZPO folgt aber aus der Prüfung der qualifizierten elektronischen Signatur nach dem SigG nicht der volle Beweis für die Abgabe der Willenserklärung, sondern lediglich ein entsprechender Anschein. Eine gegenüber dem Urkundenbeweis bei Schrifturkunden geringere Beweiskraft qualifizierter elektronischer Signaturen soll mit § 292a ZPO nach den in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck kommenden Vorstellungen des Gesetzgebers aber gerade nicht bewirkt werden. In den Gesetzgebungsmaterialien wird nämlich in Abgrenzung zum Urkundenbeweis ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Beweisregel des § 416 ZPO erst eingreift, wenn die Echtheit der Unterschrift feststeht, und die beweisbelastete Partei die Echtheit zur vollen Überzeugung des Gerichts zu beweisen hat, wenn die Unterschrift vom Beweisgegner nicht anerkannt wird (§ 440 Abs. 1 ZPO). Für die in elektronischer Form (§ 126a BGB) dokumentierte Willenserklärung, so die Gesetzesbegründung weiter, würde eine Behandlung nach den Vorschriften über den Urkundenbeweis bedeuten, daß der Erklärungsempfänger als beweispflichtige Partei schutzlos wäre gegenüber einem unbegründeten Einwand des Beweisgegners, die Erklärung sei nicht von dem Signaturschlüssel-Inhaber abgegeben worden. Das Ergebnis, daß folglich auch der Erklärungsempfänger einer mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehenen elektronischen Willenserklärung nach § 440 Abs. 1 ZPO zunächst den vollen Beweis dafür erbringen müßte, daß die Erklärung vom Signaturschlüssel-Inhaber selbst oder mit dessen Willen von einem Dritten signiert worden sei, wäre jedoch nicht sachgerecht, so daß die Regelung des § 292a ZPO vorzunehmen sei, die den hohen Sicherheitsstandards qualifizierter elektronischer Signaturen besser entspreche.35 Diese Erwägungen in der Begründung des Gesetzes vermögen die durch § 292a ZPO angeordnete Rechtsfolge des bloßen Anscheinsbeweises aber nicht zu erklären. Denn der Einwand des Beweisgegners, die Erklärung sei nicht von dem Signaturschlüssel-Inhaber abgegeben, betrifft die Beweisregel des § 416 ZPO. Um diese eingreifen zu lassen, müßte der Erklärungsempfänger, wie in der Gesetzesbegründung insoweit zutreffend ausgeführt wird, entsprechend § 440 Abs. 1 ZPO den vollen Beweis dafür erbringen, 34
AaO Rn 5. BT-Drucks. 14/4987, S. 25. Eine über die Privaturkunde hinausgehende Beweiswirkung eines elektronisch signierten Dokuments nehmen auch Tettenborn/Bender/Liibben/ Karenfort K&R 2001, Beilage 1 zu Heft 12, S. 22 und Blaurock/Adam ZEuP 2001, 93, llOf an. 35
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daß die Erklärung von dem Signaturschlüssel-Inhaber selbst oder mit dessen Willen von einem Dritten signiert worden ist. Es ist aber nicht erkennbar, weshalb dieses Ergebnis gerade deshalb nicht sachgerecht sein soll, weil qualifizierten elektronischen Signaturen ein hoher Sicherheitsstandard zukommen soll. Wenn dies so ist, dann müßte doch gerade, um ein elektronisches Dokument beweisrechtlich nicht schlechter zu stellen, der Nachweis, daß ein elektronisches Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist, umso eher den vollen Beweis dafür begründen, daß die in dem elektronischen Dokument enthaltene Willenserklärung von dem Signaturschlüssel-Inhaber (als dem Aussteller) abgegeben worden ist. 36 Wenn dagegen die Formulierung des § 292a ZPO bedeuten sollte, mit der Prüfung nach dem Signaturgesetz lasse sich gar nicht der volle Beweis führen, daß die qualifizierte elektronische Signatur von dem SignaturschlüsselInhaber stammt, sondern sich daraus lediglich ein „Anscheinsbeweis" oder eine entsprechende widerlegbare Vermutung ergeben soll, dann wäre dies kaum mit der Behauptung vereinbar, daß ein elektronisches Dokument mit digitaler Signatur nach dem Signaturgesetz nachweislich eine weitaus höhere Sicherheit vor Verfälschung biete als ein herkömmliches Schriftdokument mit eigenhändiger Unterschrift. Der Gesetzgeber wollte durch § 292a ZPO den Beweis bei Willenserklärungen in elektronischer Form erleichtern. Erreicht hat er folgenden Rechtszustand: Wenn die Echtheit einer unterschriebenen Privaturkunde zu beweisen ist, kann der Beweispflichtige diesen Beweis z . B . dadurch führen, daß er zur Vergleichung geeignete Schriften vorlegt und die Unterschriften durch das Gericht, erforderlichenfalls unter Anhörung von Sachverständigen, vergleichen läßt (§§ 441, 442 ZPO). Wenn er dadurch den vollen Beweis der Echtheit der Unterschrift geführt hat, begründet die Privaturkunde den vollen Beweis dafür, daß die in ihr enthaltenen Erklärungen von dem Aussteller abgegeben sind. Im Falle einer mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehenen Willenserklärung ist dagegen zu prüfen, ob die elektronische Signatur auf einem zum Zeitpunkt ihrer Erzeugung gültigen qualifizierten Zertifikat beruht und mit einer sicheren Signaturerstellungseinheit erzeugt worden ist. Ein „qualifiziertes Zertifikat" ist eine elektronische Bescheinigung für eine natürliche Person, mit der ein Signaturprüfschlüssel einer Person zugeordnet worden ist und mit der die Identität dieser Person bestätigt wird. Die Be36 RoßnagelNJW 2001, 1817,1826 merkt zu Recht an, daß der Signaturempfänger, der alle Voraussetzungen einer qualifizierten elektronischen Signatur nach § 2 N r 2 und 3 SigG nachweisen könne, auf den Anscheinsbeweis des § 292a ZPO nicht mehr angewiesen sei und ihm andererseits diese Vorschrift nichts nütze, wenn ihm, was die Regel sein werde, dieser Nachweis nicht gelinge; kritisch zur Einräumung eines bloßen Anscheinsbeweises auch Trapp WM 2001, 1192, 1200.
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scheinigung muß die in § 7 Abs. 1 Nr. 1 bis 9 SigG aufgeführten Angaben enthalten und selbst eine qualifizierte elektronische Signatur tragen. Sie muß von einem Zertifizierungsdiensteanbieter ausgestellt sein, der mindestens eine Vielzahl von Anforderungen erfüllen muß, die wiederum in den § 4 bis 14 oder 23 des Signaturgesetzes und der sich darauf beziehenden Rechtsverordnung geregelt sind. Bei den „sicheren Signaturerstellungseinheiten", mit denen qualifizierte elektronische Signaturen erzeugt sein müssen, handelt es sich um „Software- oder Hardwareeinheiten zur Speicherung und Anwendung des jeweiligen Signaturschlüssels, die mindestens die Anforderungen nach § 17 oder § 23 dieses Gesetzes und der sich darauf beziehenden Vorschriften der Rechtsverordnung nach § 24 erfüllen (müssen) und die für qualifizierte elektronische Signaturen bestimmt sind". Auf die Wiedergabe der in den genannten Vorschriften angeführten umfangreichen Voraussetzungen einer sicheren Signaturerstellungseinheit soll hier verzichtet werden. 37 Wenn der Beweisführer alle diese Voraussetzungen für das Vorliegen einer qualifizierten elektronischen Signatur belegt hat, dann hat er nicht etwa den vollen Beweis, sondern nur den Anschein der Echtheit nachgewiesen, der durch ernstliche Zweifel wieder entkräftet werden kann. 38 Es fällt schwer, in dieser Beweisvorschrift für elektronische Dokumente eine Erleichterung des modernen Rechtsgeschäftsverkehrs zu sehen.
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Zu den insoweit bestehenden praktischen Problemen Roßnagel aO 1820 ff. Nach Roßnagel aaO 1826 dürfen wegen technisch bislang nicht gelöster Präsentationsprobleme zu signierender oder signierter Daten die Anforderungen an „ernstliche Zweifel" im Sinne des § 292a ZPO nicht allzu hoch angesetzt werden. 38
Rechtswissenschaftliche Texte und elektronisches Publizieren Zehn Thesen für die deutsche Diskussion
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HERBERGER
Vorbemerkung Wer im deutschen rechtswissenschaftlichen Umfeld Äußerungen zum elektronischen Publizieren verfolgt, kann sich in aller Regel des Eindrucks nicht erwehren, daß man hierzulande eine Debatte führt, die beispielsweise Rechtswissenschaftler in Großbritannien oder den USA nur mit Staunen betrachten würden, hätten sie denn den Eindruck, daß diese Erörterungen für sie von Belang seien. Berichtet man Kolleginnen und Kollegen aus diesen Ländern über manche Spezifika der einschlägigen deutschen Diskussion, stößt man häufig auf ungläubiges Staunen. Nun besagt all dies noch nichts über die Richtigkeit der jeweiligen Standpunkte. Bewiesen wird durch diese Beobachtung aber, daß in Deutschland ein Plädoyer für umfassendes elektronisches Publizieren weiterhin eine Adressatenperspektive hat und nicht von vornherein dem Verdikt verfallen muß, bloß mit Emphase Unstreitiges zu wiederholen. In diesem Sinne sind die folgenden Thesen primär als Beitrag zur Gesprächssituation innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft gemeint, die juristischen Verlage selbstverständlich eingeschlossen.
These 1: Die Möglichkeit des eigenen Publizierens im Internet eröffnet der Wissenschaft neue Chancen autonomen Handelns. Es ist ein Grundanliegen der Wissenschaft, autonom die Publikation der eigenen Ergebnisse gestalten zu können. In der traditionellen Struktur war jedoch aus wirtschaftlichen Gründen die Eigenpublikation in aller Regel nicht zu erschwinglichen Kosten möglich. Auch die breite Distribution eines Privatdrucks wäre kaum sicherzustellen gewesen. Die im Internet zur Verfügung stehende Publikations- und Distributionsmöglichkeit stellt sich in dieser Hinsicht als ganz neue Lage dar. Sie läßt sich in einer ersten Annäherung als Autonomiegewinn für die Wissenschaft verstehen.
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Im Zusammenhang mit dieser These wird nicht verkannt, daß auch für die Publikation im Internet eine Infrastruktur vorgehalten werden muß und daß Kosten entstehen. Da allerdings in der universitären Umgebung Forschung und Lehre mit dieser Infrastruktur ausgestattet sind, besteht die beschriebene größere Publikationsautonomie solange diese Infrastruktur verfügbar ist. Das eigentliche elektronische Publizieren im Umfeld einer vorhandenen Internet-Infrastruktur verursacht nur marginale Kosten und verbraucht bei richtiger Organisation kaum Zeit. Wenn sich die Wissenschaft auf das Grundanliegen der eigenen Autonomie besinnt, ist es nur folgerichtig, daß ein Emanzipationsakt aus alten Strukturen sich mit dem Freiheitsgefühl einer Unabhängigkeitserklärung verbindet. Die Initiative „Declaring Independence - Α Guide to Creating CommunityControlled Science Journals" (http ://www.arl.org/sparc/DI/) ist von diesem Gedanken inspiriert. Diese Initiative entbehrt übrigens nicht der nötigen Portion Realismus, wie eine Lektüre des Manifests erkennen läßt.
These 2 : Die Wissenschaft m u ß sich bei der Aufstellung von Prinzipien für das Publizieren in erster Linie von ihren eigenen Interessen nicht-wirtschaftlicher A r t leiten lassen. Bereits die eben genannte Publikationsautonomie stellt sich als genuines Eigeninteresse der Wissenschaft dar. Des weiteren besteht Konsens in folgendem: Die Wissenschaft arbeitet für die Vermehrung unserer Erkenntnisse. Dieser Erkenntnisfortschritt wird (gleichfalls nach allgemeiner Ubereinstimmung) am besten durch einen möglichst umfassenden Dialog gefördert. Es entspricht dieser Sicht der Dinge, sich einen weltweiten wissenschaftlichen Gedankenaustausch zu wünschen. Für die jeweils erreichbare „Welt" hat man dies auch in früheren Perioden der Wissenschaftsgeschichte so gesehen. Strebt man dieses Ziel an, so erweisen sich traditionelle Publikationsinstrumente wie Bücher und Zeitschriften wegen der von vornherein begrenzten Stückzahl als ein problematisches Mittel. Das elektronische Publizieren ist im Gegensatz dazu nicht in gleicher Weise limitiert. Es erlaubt prinzipiell die gewünschte weltweite Distribution von Texten.
These 3: Die Publikation wissenschaftlicher Ergebnisse m u ß zeitnah erfolgen. In traditionellen Publikationsumgebungen hatte sich die Wissenschaft mit Warteschlangen abgefunden, weil Alternativen nicht in Sicht waren. Vom Selbstverständnis der Wissenschaft her sind jedoch Warteschlangen nicht
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mehr tolerierbar, wenn es Alternativen gibt: Die bessere neue Erkenntnis soll sofort zur Verfügung stehen. Für die Medizin leuchtet dies unmittelbar ein und würde wohl auch von niemandem bestritten werden. Die Entstehung von „Pre-Print"-Servern trägt dieser anerkannten Notwendigkeit Rechnung. Betrachtet man allerdings die Situation innerhalb Deutschlands, was die Publikation rechtswissenschaftlicher Ergebnisse angeht, sind immer noch beachtliche Vorlaufzeiten zu beobachten, die weitgehend nicht als problematisch empfunden werden. Die deutsche Rechtswissenschaft sollte jedoch, wenn sie ihre Ergebnisse für aktuell bedeutsam hält, die institutionelle Diskussion über die Einrichtung eines „Pre-Print"-Servers beginnen.
These 4: Elektronische Publikation schafft die Voraussetzungen für eine intensivere Rezeption der so publizierten Texte. Es genügt, um diese These zu veranschaulichen, ein Hinweis auf die gegenwärtig beste Suchmaschine „Google" (http://www.google.com) und deren Möglichkeiten: Erschließung von 2 073 418 204 Webseiten und Präsentation der Ergebnisse nach elaborierten Ranking-Algorithmen. Die so erschlossenen Texte werden in einer Weise zugänglich, die ein deutlich höheres Maß an Berücksichtigungschancen ergibt, als wir dies aus traditionellen Umgebungen kennen. Die Wirkung der Texte wird so potenziert, weil sie intensiver zu uns sprechen können. Was „Google" für das gesamte Web in vorbildlicher Weise leistet, garantiert letzten Endes nicht, daß das wissenschaftlich Einschlägige präzise gefunden wird. In diese Lücke stoßen fachwissenschaftliche, webübergreifende Suchdienste. Genannt sei als Beispiel „Scirus - for scientific information only" (vgl. http://www, s cirus. com/ab out/). Auch hier ist der eben genannte Effekt zu beobachten: Gefunden wird mehr, als vorher praktisch zugänglich war. Übrigens kann sich die beschriebene Verstärkungswirkung, die sich als Effektivierung der wissenschaftlichen Reichweite begreifen läßt, auch auf ganze Literaturgattungen erstrecken. Ein charakteristisches Beispiel dafür sind die Dissertationen. Es ist bekannt, daß hier ein „Flaschenhalsproblem" besteht: Nicht alle hervorragenden Dissertationen finden Platz in wissenschaftlichen Reihen. Für die dort nicht zu piazierenden (ich betone: Dissertationen von Qualität) gibt es außerhalb der elektronischen Publikationsmöglichkeiten nur die Verteilung der Pflichtexemplare an Bibliotheken - ein Zufallsspiel in Sachen potentieller Kenntnisnahme durch die Wissenschaft. Im Vergleich dazu ist die Prognose nicht gewagt, daß die elektronische Publikation von Dissertationen diese Literaturgattung erstmals flächendekkend in das ihr zustehende Recht einsetzen kann. Als Einstieg in eine Begleitung der diesbezüglichen deutschen Aktivitäten seien die Adressen
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http://www.dissonline.de/ und http://www.iwi-iuk.org/dienste/TheO/ empfohlen. Übrigens spricht die Unterrepräsentanz der juristischen Dissertationen in diesen Projekten eine beredte Sprache, was die Aufgeschlossenheit der deutschen Rechtswissenschaft für elektronisches Publizieren angeht.
These 5: Es ist möglich, beim elektronischen Publizieren dieselben Qualitätsmaßstäbe wie in der Print-Welt zu etablieren. Man scheut sich fast, diese These niederzuschreiben, handelt es sich doch um eine schlichte Selbstverständlichkeit. Es ist aber das Betonen dieser Selbstverständlichkeit für die deutsche rechtswissenschaftliche Diskussionslage unumgänglich, weil hier immer noch das Argument kolportiert wird, elektronisches Publizieren führe geradezu naturnotwendig zu einer Art Erosion der Qualität. Dem ist entgegenzuhalten: Qualitätssicherung ist eine Organisationsfrage. Sie hat mit der Form, in der anschließend das Qualitätsprodukt verteilt wird, nicht das geringste zu tun. Demgemäß gibt es zahlreiche elektronische Zeitschriften mit verantwortlichen Herausgebern und/oder Peer-Review. Die Möglichkeiten elektronischer Publikation haben übrigens im PeerReview-Kontext noch einen weiteren interessanten Nebeneffekt: Auch Arbeiten, die nicht akzeptiert wurden, können publiziert werden. Dies erhöht die Transparenz der wissenschaftlichen Diskussionslage. Wie wir alle wissen, ist Peer-Review keine Garantie dafür, daß nur Qualität und daß alle Qualität als solche erkannt wird. Wer sich also zu unrecht für ausgeschlossen hält, hat in der elektronischen Welt immerhin die Möglichkeit, seine Stimme zur Geltung zu bringen.
These 6: Elektronische Publikationssysteme können genau so dauerhaft und nachhaltig organisiert werden wie traditionelle papiergestützte Informationssysteme. Die Betonung liegt bei dieser These auf der Behauptung, daß die betreffenden organisatorischen Möglichkeiten prinzipiell existieren. Keinesfalls soll behauptet werden, daß es damit schon insgesamt zum Besten steht. Dies ist den Kritikern zuzugeben. Im Anschluß daran ist allerdings auch zu betonen, daß die Kritiker speziell in Deutschland manche Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit des Internet noch nicht adäquat wahrgenommen haben. Es gilt dies insbesondere für das anspruchsvolle Projekt der Archivierung des Internets, das Brewster Kahle angestoßen hat (vgl. http://www.archive.org/ samt Suchmöglichkeit im Archiv). Brewster Kahle
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wird dabei bewegt von dem Gedanken, daß kulturelle Tradition Nachhaltigkeit der Uberlieferung verlangt und daß das Internet einen kulturellen Anspruch nur erheben kann, wenn es diesem auch gerecht wird. {Brewster Kahle Archiving the Internet, 1997, http://www.archive.org/ s ciamarticle. html) Es versteht sich von selbst, daß Nachhaltigkeit in dieser Beziehung auch von gesetzgeberischen Aktivitäten abhängt. Die zentralen Nationalbibliotheken sind als rechtliche Institutionen entstanden und mit Rechten ausgestattet worden. Was man hier in der Welt der Bücher getan hat, gilt es nun in angemessener Form auch in der elektronischen Welt zu institutionalisieren. Konkret bedeutet dies für die Deutsche Bibliothek: Kraft gesetzlichen Auftrags werden bisher nur digitale Publikationen gesammelt, die auf physischen Trägern verbreitet werden. Netzpublikationen werden durch den gesetzlichen Auftrag noch nicht erfaßt. Dies gilt es zu ändern. Die Diskussion um das Sammeln von Netzpublikationen und die praktischen Erprobungen dazu bei der Deutschen Bibliothek haben einen Reifegrad erreicht, der weiteren Aufschub nicht als notwendig erscheinen läßt. (Vgl. dazu „Sammlung, Verzeichnung und Archivierung von Netzpublikationen", http: //www, ddb.de/wir/netzpubl. htm). Mit Blick auf die Sorge um die mangelnde Nachhaltigkeit elektronischer Materialien ist im übrigen noch eine Bemerkung unumgänglich: Wer das Tradieren elektronischer Materialien ernsthaft für nicht gesichert hält, muß konsequenterweise zweifeln, ob unsere Industriegesellschaften überhaupt überlebensfähig sind. Denn in allen Lebensbereichen setzen wir darauf, daß die elektronischen „records" verläßlich und kontinuierlich der Verwaltung zur Verfügung stehen. Sollte dem nicht so sein, werden unsere Gemeinwesen in einer sehr fundamentalen Weise ihre Uberlebensfähigkeit verlieren, was die Frage nach der Persistenz des publizierten Wissens dann sogleich mit erledigt. Daraus folgt, daß die betreffende Skepsis nicht auf elektronische Publikationszusammenhänge begrenzbar ist. Sie betrifft alles - oder nichts.
These 7: Elektronische Publikationssysteme können so organisiert werden, daß die Zitierfähigkeit gewährleistet ist. Zitierfähigkeit setzt das für einen längeren Zeitraum garantierte Vorhandensein des betreffenden Referenzobjekts und dessen Zugänglichkeit voraus. Denn nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist es möglich, einem Zitat überprüfend nachzugehen. In der Welt der gedruckten Bücher kann man diesbezüglich auf das physisch-reale Uberdauern der (am besten auf säurefreiem Papier gedruckten) Bücher vertrauen. Aber schon in dieser Welt ist Vorsicht geboten: Loseblattsammlungen (eine für die Rechtswissen-
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schaft wichtige, noch real existierende Literaturgattung) sind im Grunde nicht zitierfähig, wenn die aussortierten Lieferungen nicht systematisch archiviert werden, was selten geschieht. In der elektronischen Welt kann nichts anderes gelten als in der gedruckten Welt: Zitierfähigkeit setzt das für einen längeren Zeitraum garantierte Vorhandensein des betreffenden Referenzobjekts und dessen Zugänglichkeit voraus. Man erkennt daran, daß die eben behandelte Frage der (auch institutionell) dauerhaften Archivierung des Internets für die Zitierfähigkeit von entscheidender Bedeutung ist. In welcher Richtung eine erste Lösung denkbar ist, zeigt die auf das Internet-Archiv bei http://www.archive.org/ aufgesetzte Wayback-Machine, die mit dem Kommando „Take me back!" das Aufrufen früherer Zustände des World Wide Web ermöglicht. Hier gewinnt die Praxis, beim Zitieren von Internet-Adressen das Datum des Besuchs dieser Adresse beizufügen, zum erstenmal praktische Bedeutung. Denn die Wayback-Machine erlaubt eine datumsbezogene Abfrage bezogen auf URL's ( = Uniform Resource Locators, vgl. http://www.w3.org/Addressing/). Zitierfähigkeit setzt im strengen Sinne noch ein weiteres voraus: Der „Name" (genauer: Die Kennzeichnung), durch den auf eine Quelle gezeigt wird, muß dauerhaft gleichbleiben. Dies ist, wenn wir auf unsere Erfahrungen mit „richtigen" Büchern (nicht Loseblattsammlungen) zurückgreifen, dort problemlos der Fall: Eine neue Auflage hat im Sinne des Kennzeichnens auch einen neuen Titel, denn zur Identifizierung wird die Auflagenbezeichnung mit herangezogen. Begreifen wir im Internet die URL als Äquivalent zum Buchtitel, so entsteht ein Problem: Der Inhalt des Buches kann sich nicht so in Bewegung setzen, daß er irgendwo unter einem anderen Titel (im eben beschriebenen kennzeichnenden Sinne) landet (von Urheberrechtsverletzungen einmal abgesehen). Im World Wide Web kann aber der unter einer bestimmten URL abrufbare Inhalt eine Wanderung antreten und später nur unter einer anderen URL erreichbar sein. Kritiker sprechen hier gerne vom World Wide Web als einer,,Wanderdüne". Eine erste Lösung für dieses Problem bietet die eben besprochene Wayback-Machine: Soll ein zitierter Text überprüft werden, der sich nicht mehr unter der URL befindet, unter der er zitiert worden ist, erlaubt die Wayback-Machine den Aufruf des früheren Zustandes unter der im Zitat benutzten URL, wenn der Zitierende ein Datum des Aufrufs beigefügt hat. Es ist allerdings nicht zu verkennen, daß die eben referierte Architektur nicht die zweckmäßigste ist. Denn es wird in ihr ein Mangel (Der Inhalt wandert, ohne die Kennzeichnung „mitzunehmen") nur kompensiert. Besser wäre es, den Mangel prinzipiell zu beseitigen, und dem „wandernden" Inhalt dauerhafte Kennzeichnungen mitzugeben. Standards für solche „persistent identifiers" existieren bereits (vgl. http://www.ddb.de/professionell/ carmen_aps.htm#ap4). Damit ist auch die für die Zitierfähigkeit wichtige Anforderung der „Per-
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sistenz" der Kennzeichnungen im World Wide Web kein prinzipielles Problem mehr. Z u m Schluß sei an dieser Stelle etwas angemerkt, was im Vergleich der uns vertrauten Druckmedien mit den elektronischen Medien ein durchlaufendes Prinzip sein sollte: Es geht um einen fairen Medienvergleich. „Fairness des Vergleichs" bedeutet nun in diesem Kontext, daß man nicht eine falsche Gegenüberstellung vornimmt, die etwa klassischen Medien durchgehend Zitierfähigkeit zuschreibt und elektronischen Medien diese Zitierfähigkeit durchgehend abspricht. Widerlegungsinstanzen für diese antagonistische Sicht der Dinge wurden bereits genannt. Das wahre Bild ist also differenzierter. Im Sinne einer solchen differenzierten Sicht der Dinge kann man dann etwa auch Fragen wie die folgende aufwerfen: Ist die Zitiersituation bei einer Referenz auf hundert gedruckte Exemplare besser als bei einer Referenz auf Hundert mal χ elektronisch verteilte Exemplare? Erst in der Konsequenz solcher Fragestellungen wird ein fairer Medienvergleich möglich.
These 8: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten auch bei Druckveröffentlichungen das Recht behalten, ihre Werke in nicht-kommerzieller Weise elektronisch zu publizieren. Zunächst: Zahlreiche wissenschaftliche Verlage praktizieren dies bereits weltweit so. Trägt man diese These aber in Deutschland juristischen Verlagen vor, stößt man kaum auf positive Resonanz. Uberwiegend wird argumentiert, daß Druckwerke bei dieser Politik nicht mehr absetzbar seien. Dabei wird verkannt, daß es empirische Erkenntnisse gibt, die gegen diese Annahme sprechen. Wer elektronisch ein Werk mehrfach konsultiert hat, wird irgendwann ernsthaft erwägen, dieses Werk zu kaufen. Insofern gleichen die elektronischen frei zugänglichen Publikationsorte den Bibliotheken: Auch dort werden Bücher konsultiert, die man zunächst nicht kauft. Wenn man aber erkannt hat, daß man auf ein bestimmtes Werk dauerhaft angewiesen ist, wird man zum Kauf schreiten - sofern der Preis als angemessen erscheint. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen frei zugänglichen elektronischen Bibliotheken und traditionellen Bibliotheken: Das Kopieren der Werke in den freien elektronischen Bibliotheken ist leichter. Indessen muß man den Aufwand realistisch betrachten, der zwischen der Übertragung auf den eigenen Rechner und dem Herstellen eines ansprechenden Lese-Exemplars liegt: U m diesen Aufwand zu ersparen, zahlt man gerne einen angemessenen Preis. Und Lesen auf dem Bildschirm will man ja wirklich nicht (dies übrigens im vorliegenden Zusammenhang ein schöner übergreifender Konsens). Funktional sind deshalb freie elektronische Bibliotheken eher Nachschlage-Bibliotheken.
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Um zu zeigen, daß die skizzierten empirischen Annahmen eine ernsthafte Prüfung verdienen, sei auf den Mohr-Siebeck-Lesesaal verwiesen. Dort liegen bereits seit geraumer Zeit ganze Bücher im Internet für eine bestimmte Zeit frei zugänglich auf. Im Augenblick des Verfassens dieser Zeilen handelt es sich um Luther - zwischen den Zeiten Eine Jenaer Ringvorlesung. Herausgegeben von Christoph Markschies und Michael Trowitzsch 1999. V, 239 Seiten. ISBN 3-16-147236-5 Und einladend heißt es dazu: „Sie können das Buch als Datei im PDF-Format herunterladen, indem Sie auf das Titelbild klicken. Die Datei hat einen Umfang von 1046 KB." (http://www. mohr.de/reading.htm) Es ist nicht anzunehmen, daß dieser Lesesaal von Mohr-Siebeck kontinuierlich bestückt würde, wenn es dem Absatz der betreffenden Werke schaden würde. Als weiteres Beispiel sei das Geschäftsmodell von „European Science Publisher" genannt. http://www.euroscipubl.de/esp_modell/body_esp_modell.htm In diesem Modell behalten Autorinnen und Autoren das Recht zur nichtkommerziellen Publikation des elektronischen Werkes, das im Druck bei „European Science Publisher" erscheint.
These 9: Das nachhaltig zu wünschende wirtschaftliche Uberleben der Druckprodukte kann nur durch neue Strategien gesichert werden, die das elektronische Publizieren einbeziehen. Die vorliegenden Überlegungen zum elektronischen Publizieren folgen nicht einer Logik des „Entweder-Oder". Vielmehr ist es entscheidend wichtig, daß Druckprodukte weiterhin eine wirtschaftliche Grundlage haben, weil wir im kulturellen Gesamtinteresse auf Druckprodukte nicht verzichten können. Da dies in Deutschland allseits akzeptiert ist, ist eine nähere Darlegung der Gründe hier nicht erforderlich. Insofern kann auf die Schrift von Vittono E. Klostermann „Verlegen im Netz - Zur Diskussion um die Zukunft des wissenschaftlichen Buches" verwiesen werden. Sie findet sich im Internet unter der Adresse http://home.t-online.de/home/Vittorio.Klostermann/intro_01.htm
Rechtswissenschaftliche Texte und elektronisches Publizieren
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Was die Betonung der positiven Seiten einer Kultur des Buches angeht, kann ich dieser Schrift nahezu ohne Einschränkungen folgen. Erst wenn die Betonung der Stärken des Papiers und des Buches gegen die Notwendigkeit elektronischen Publizierens ins Feld geführt und mit einer Perhorreszierung des Internet verbunden wird, trennen sich die Wege. Richtigerweise gilt ein „Sowohl - Als auch", weil die traditionelle und die elektronische Repräsentation sich hervorragend ergänzen und die jeweils gegebenen Schwächen (ja, auch das Buch hat sie bei allen sonstigen Vorzügen) kompensieren. Für diese These liefert übrigens die Schrift Klostermanns, die „bi-medial" existiert (im Druck zum Preise von DM 10.- und elektronisch kostenlos) einen interessanten Beweis: Nur in der elektronischen Fassung ist es möglich, den per Link in Bezug genommenen Texten nachzugehen. Die Druckfassung kann diese Möglichkeit nicht bieten. Deswegen heißt es dort auch mit aller wünschenswerten Offenheit: „Unter den blau unterstrichenen Passagen im Text liegen ,Links', mit denen in der Netzversion dieses Beitrags zu anderen Texten gesprungen werden kann." (Im Original ohne Seitenzahl auf dem ersten Blatt verso.) Kann man wirklich bezweifeln, daß hier die elektronische Repräsentation des Textes ein Mehr an Wissensvernetzung im Vergleich zur Druckfassung bringt? Diese rhetorische Frage dient nicht dazu, den Respekt gegenüber der Druckfassung zu mindern: Ich schätze sie in ihrem eigenen Recht und lese gerne an wechselnden Orten darin (auch im Schwimmbad, worauf manche Skeptiker des Elektronischen Wert legen). Aber unter dem anderen Aspekt des Wissensnetzwerks ist die elektronische Repräsentation der Druckfassung überlegen. Warum also das eine gegen das Andere ausspielen? Jenseits der methodisch-prinzipiellen Argumentation stellt sich eine praktische Frage: Könnte es sein, daß Print-Produkte nur im Kontext neuer Koexistenz-Strategien mit elektronischen Produkten eine ernsthafte Uberlebenschance haben? Wie gesagt: Dieses Uberleben ist wünschenswert. Gibt es nun derartige Koexistenz-Strategien? Prominente Beispiele zeigen, daß kühl wirtschaftlich kalkulierende Verlage in dieser Richtung denken. So garantiert Springer mit dem Programm „Online-First" Autorinnen und Autoren, daß für den Druck akzeptierte Beiträge sofort und vor Drucklegung im Internet erscheinen, zitierfähig schon in diesem Stadium, da mit einem „Digital Object Identifier" (DOI) versehen. (Vgl. zu Einzelheiten http://link.springer.de/doi/online-first.htm).
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These 10: Elektronisches Publizieren erfordert eine neue Methodologie des wissenschaftlichen Kooperierens. Dieser letzte Punkt ist eigentlich der mit dem größten Gewicht, weil er die Perspektive eines Aufrechnens von Medienvor- und nachteilen überschreitet. Sehen wir die Chancen des elektronischen Publizierens als eine seriöse Erweiterung unserer wissenschaftlichen Handlungsmöglichkeiten an, stellt sich konsequenterweise die Frage, wie wir mit diesen neuen Handlungsmöglichkeiten methodisch umgehen wollen. Beim Nachdenken über diesen Punkt verdient der Gedanke Berücksichtigung, daß „wir" vielleicht bereits früher einmal in einer vergleichbaren Situation waren. So wie Glossatoren, Postglossatoren und Kommentatoren Gedanken über einen juristischen Ausgangstext weitergesponnen haben, können wir im World Wide Web ein assoziatives Netz vergleichbarer Art weiterweben. Es ist wirklich so, wie Rüfner mit Blick auf diese schon seinerzeit erkannten und realisierten Möglichkeiten geschrieben hat: „Iwri Romano medii aevii operam danti similitudo inter,Hypertext' et modum, quo Accursii glossae cum legibus Coporis Iuris coniunguntur, perspicua est: Singula verba legum signantur, utpateat ea in glossa explican. Item glossae indicationes legum aliarum et glossamm continentur." (http://www.jura.uni-sb.de/Rechtsgeschichte/Ius.Romanum/) Man sollte diese nicht nur imaginierte kulturelle Brücke betreten, um das World Wide Web richtig zu verstehen.
Nachbemerkung Am Ende bleibt, damit der Autor seinem Plädoyer treu bleiben kann, nur eine Frage zu beantworten: Wo befindet sich der hier gedruckte Text im Internet? Die Antwort lautet: In der „Saarbrücker Bibliothek" unter der Einstiegsadresse http://www.jura.uni-sb.de/projekte/Bibliothek/katalog.html. die zugleich den Zugang zu den weiteren elektronischen Veröffentlichungen dieser Bibliothek gestattet.
Lösung von Rechtsfällen mit Hilfe von Computern? Bisher nicht genutzte Chancen der Rechtsinformatik GERHARD
WOLF
Dieter Meurer hat der Rechtsinformatik eine große Zukunft vorausgesagt: »Die Möglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung werden die Rechtspflege in den nächsten Jahrzehnten mehr verändern als die Erfindung des Buchdrucks, der Schreibmaschine und des Diktiergerätes zusammengenommen".1 Die auf diesem Weg auftretenden Schwierigkeiten und die Risiken, die mit dieser Entwicklung verbunden sind, hat er keineswegs unterschätzt,2 aber er hat weitblickend die Chancen des neuen Fachs erkannt und engagiert versucht, es (z.B. durch den Aufbau der Forschungsstelle für Rechtsinformatik an der Philipps-Universität Marburg) voranzubringen. Eine aktuelle Zwischenbilanz ergibt allerdings, daß die Rechtsinformatik von einer technischen Revolutionierung der Rechtspflege einstweilen noch ein gutes Stück entfernt ist. Dies liegt zunächst sicherlich an der unzureichenden Ausstattung der Justizbehörden mit Computern, an der häufig fehlenden fachspezifischen Software, an noch mangelnden Computerkenntnissen der Juristen usw. - also an Gründen, die sich nach und nach erledigen werden. Diese Hoffnung darf aber nicht über das weit schwerwiegendere Manko hinwegtäuschen, das bei den ungelösten inhaltlichen Fragen besteht, die unter dem Thema „Computer im Recht"3 zusammengefaßt werden.
1 Vortrag, gehalten am 8. März 1991 auf dem 3. Saarbrücker Workshop „Der EDV-Arbeitsplatz in der Justiz - Netze bei Gericht" an der Universität des Saarlandes, veranstaltet von der Gesellschaft für Informatik - Fachgruppe 6.13 „Informatik in der Justiz". 2 Der Titel seines Saarbrücker Vortrags (Fn 1) lautete: „Risiken und Chancen des C o m putereinsatzes in der Rechtspflege". 3 Titel der von Berkemann, Herberger und Meurer herausgegebenen Schriftenreihe (1992 ff).
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Α. Einführung I. Der Gegenstand der
Rechtsinformatik
Schon über den Gegenstand der Rechtsinformatik besteht ein grundlegender Dissens. Die Vertreter des Faches sind sich m.a.W. nicht einmal darüber einig, womit sie sich eigentlich zu beschäftigen haben: Nach einer weit verbreiteten Auffassung geht es um die (wechselseitigen) Beziehungen zwischen Informationstechnik, Datenverarbeitung und Recht, insbesondere um die rechtlichen Fragen elektronischer Informationstechnologie. Rechtsinformatik wäre danach eine Sammelbezeichnung für die zivilrechtlichen, öffentlichrechtlichen, strafrechtlichen und verfahrensrechtlichen Probleme, die sich aus den neuen technischen Möglichkeiten ergeben von der Frage des Zustandekommens eines Vertrags oder auch der Wahrung der Schriftform bei Abschlüssen via Internet, über datenschutzrechtliche Fragen bis hin zu Fragen der Computerkriminalität oder der Automatisierung des Mahnverfahrens. Das damit skizzierte Arbeitsgebiet ist ein Sammelsurium - ebenso wie beispielsweise „Deutsches Autorecht" 4 : Während dort alle Rechtsfragen „rund ums Auto" gemeint sind (vom Sachmängelrecht beim PKW-Kauf über das Versicherungs- und Straßenverkehrsrecht bis hin zum Ordnungswidrigkeiten- und Strafrecht) geht es - der genannten Umschreibung zufolge - in der Rechtsinformatik um alle Rechtsfragen, die sich aus der Nutzung von Computern ergeben. Für die Zusammenfassung dieses juristischen „Potpourris" unter Bezeichnungen „Computerrecht", „Informationsrecht" bzw. „Recht der neuen Medien" mögen sich im Hinblick auf die technischen Gemeinsamkeiten pragmatische Gründe anführen lassen - eine systematisch begründete und damit sachlich weiterführende Bedeutung hat eine solche Sammelbezeichnung nicht. Eine methodische Definition ergibt demgegenüber, daß Rechts Informatik etwas völlig anderes ist, nämlich - ebenso wie Wirtschaftsinformatik, medizinische Informatik, Computerlinguistik usw. - ein Teilgebiet der angewandten Informatik (Computerwissenschaft), dessen Gegenstand die Programmierung und Nutzung von Computern für Anwendungen des jeweiligen Fachgebiets, im vorliegenden Zusammenhang also für juristische Anwendungen ist. 5 Es geht nicht um die juristische Beurteilung, sondern um die technische Nutzung des Computereinsatzes, d.h. um die Möglichkeit des Einsatzes von Maschinen für juristische Arbeiten.
So der Titel einer vom A D A C herausgegebenen Zeitschrift. Vgl meme Ausführungen in: Gabler Wirtschaftsinformatik-Lexikon, hrsg. v. Eberhard Sticke! u . a . , 1997, Stichwort: Rechtsinformatik (S. 615f). 4
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II. Die gegenwärtigen (eingeschränkten) Betätigungsfelder der Rechtsinformatiker Juristen nutzen Computer heute nach wie vor ganz überwiegend als elektronische Schreibmaschine sowie zum „Surfen" im Internet. Dementsprechend eröffnet die Rechtsinformatik gegenwärtig im wesentlichen nur zwei erfblgversprechende fachspezifische Anwendungsmöglichkeiten, nämlich zum einen den Einsatz zur Automatisierung von Büroarbeiten in juristischen Kanzleien, zum anderen zur Beschaffung juristischer Arbeitsmittel (Gesetzestexte, Urteile, Aufsätze usw.): - Mit Hilfe von Softwarepaketen, die insbesondere von Rechtsanwälten zunehmend eingesetzt werden, lassen sich beispielsweise Mandantenverwaltung, Buchhaltung und Korrespondenz, aber auch einige juristische Routinetätigkeiten (z.B. Gebührenabrechnungen) und Standardschriftsätze (die aus elektronischen Formularhandbüchern übernommen werden können) jedenfalls teilweise automatisieren. - Recherchen in juristischen Datenbanken ermöglichen - „online" (ζ. B. bei juris) oder auf CD-ROM - in wenigen Sekunden den Zugriff auf einen immer größer werdenden Dokumentenbestand, mit dem keine Bibliothek konkurrieren kann. Welche Vor- und Nachteile diese Anwendungen haben und welche Risiken sie in sich bergen, kann hier nur angedeutet werden: - Die Gefahr einer schematischen Erstellung von scheinbar individuellen Texten durch Zusammenfügung vorgefertigter Textbausteine ist jedenfalls nicht von vornherein von der Hand zu weisen. - Ob elektronische Datenbanken der allseits beklagten „juristischen Informationsflut" entgegenwirken (oder sie nicht vielmehr fördern), ist keineswegs ausgemacht. - Dennoch lassen sich die Möglichkeiten einer Arbeitserleichterung durch einen derartigen Computereinsatz - insbesondere aufgrund der Speicherbarkeit der Daten, der sich daraus ergebenden Möglichkeiten ihrer Weiterverarbeitung, der vereinfachten Datenübermittlung (durch Vernetzung) und der Verbesserungen bei den Suchverfahren für Datenbanken nicht ernstlich bestreiten. Eine kritische Analyse dieser Einsatzmöglichkeiten ergibt allerdings, daß es sich bei ihnen um allgemeine Computernutzungen handelt, die zwar den juristischen Zusammenhängen und den sich aus ihnen ergebenden Anforderungen angepaßt werden, aber keine onginär juristischen Arbeiten betreffen: Es geht vorwiegend um Büroautomatisierung und Datenbanktechnik, nicht um die juristischen Inhalte. Daß sich die Nutzer in Gerichten, Anwaltskanzleien und Rechtswissenschaftlichen Fakultäten speziell für juristische
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Datenbankinhalte oder für Anwendungen in juristischen Büros interessieren, ist für die technische Umsetzung bestenfalls sekundär. 6 III. Das
Grunddilemma
Versucht man, über Textverarbeitung und Datenbankrecherchen hinaus zu weiteren, originär juristischen Möglichkeiten der Nutzung von Computern zu gelangen, stößt man auf das Grunddilemma, mit dem die Rechtsinformatik bisher zu kämpfen hat: - Die verfügbare Hard- und Software ist zwar vielfach auch für juristische Anwendungen erfolgversprechend nutzbar, betrifft aber gerade nicht spezifisch juristische Tätigkeiten. Die (in atemberaubendem Tempo verlaufenden) allgemeinen Entwicklungen und die sich daraus auch für Juristen ergebenden vielfältigen Möglichkeiten der Schaffung allgemeiner Arbeitshilfen reichen aber zur Begründung einer eigenen Disziplin Rechtsinformatik nicht aus. - Hard- und Software für juristische Arbeitsabläufe ist allenfalls in Ansätzen und nur für die Bearbeitung äußerst begrenzter Einzelprobleme verfügbar. Beispielsweise im Vergleich zur Wirtschaftsinformatik hinkt die Rechtsinformatik deutlich hinterher. Die hierfür gegebene Erklärung, daß Informatiker regelmäßig über keinerlei Rechtskenntnisse, Juristen aber nicht über das benötigte informatische Grundwissen verfügen (so daß man mehr Rechtsinformatiker brauche, die über beide Qualifikationen verfügen), ist vordergründig. Selbst wenn man beide Fächer beherrscht, kann man nicht mehr tun, als die Entwicklungen der Allgemeinen Informatik aufzugreifen und zu versuchen, die technischen Möglichkeiten für die Rechtswissenschaft nutzbar zu machen. Dabei ergeben sich jedoch sachliche Hürden, die sich jedenfalls weit höher als erwartet erwiesen haben: - Beispielsweise die Autoren „Juristischer Lehrprogramme" kämpfen vor allem mit dem grundlegenden Problem, daß der angestrebte und für ein Lehrprogramm unabdingbare (freie) „Mensch-Maschine-Dialog" nicht funktioniert (und nicht funktionieren kann 7 ): Eine „Verständigung" zwischen dem Computer und seinem Benutzer ist ein Traum, so daß auf Notbehelfe wie Multiple-Choice-Verfahren oder Spiel- bzw. Simulationseffekte zurückgegriffen werden muß. Die juristischen Inhalte sind insoweit völlig nebensächlich.
6 Beispielsweise die von juris verwendete S o f t w a r e ist dementsprechend ursprünglich f ü r Pressearchive konzipiert worden. 7 Vgl unten, B. III. 1.
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- Auch „Juristische Expertensysteme", letztlich also die Entwicklung von Software für die automatische juristische Beurteilung von einzelnen Sachverhalten, sind bisher an ungelösten allgemeinen Problemen gescheitert, vor allem an den Schwierigkeiten, die sich bei den Versuchen einer automatischen Verarbeitung natürlicher Sprache ergeben. Aber auch ein Programmierer, der sich in Kenntnis dieser Probleme auf die traditionelle Entwicklung fachspezifischer juristischer Software zu beschränken versucht, gerät schon im Anfangsstadium seiner Bemühungen in erhebliche Schwierigkeiten: - Scheinbar exakte Definitionen aus der juristischen Kommentarliteratur erweisen sich bei dem Versuch ihrer maschinellen Umsetzung als Ersetzung einer Unbekannten durch zahlreiche andere. 8 - Nachfragen werden mit Wendungen wie „Das kommt darauf an" oder aber mit dem Hinweis „beantwortet", es handele sich um eine „Wertungsfrage" bzw. um einen „unbestimmten Rechtsbegriff". Kurz gesagt: In der Informatik fehlen die für einen „Rechtsautomaten" scheinbar erforderlichen technischen Voraussetzungen, in der Rechtswissenschaft die erforderlichen präzisen, technisch umsetzbaren Programmablaufpläne. Komplexe elektronische Rechtsberatungssysteme oder Software für automatische Lösungen von juristischen Einzelfällen „per Computer" schaffen zu wollen, scheinen danach eine Illusion zu sein. IV. Methodische Konsequenzen Diese negative Bestandsaufnahme zwingt dazu, bei der erforderlichen Ursachenforschung 9 neben einer Detailanalyse vor allem den methodischen Ansatz zu überprüfen, von dem man bisher in der Rechtsinformatik ausgegangen ist: O b man sich bei der Frage nach der Möglichkeit der Nutzung von Maschinen für juristische Arbeiten - wie bisher üblich - zunächst den verfügbaren Maschinen zuwendet und dann prüft, ob und ggf. wo und wie man sie für die eigenen juristischen Tätigkeiten einsetzen kann, oder ob man umgekehrt vom eigenen Arbeitsprogramm ausgeht, und prüft, inwieweit es sich maschinell umsetzen läßt, läuft nur scheinbar auf dasselbe hinaus. Vor allem bei Computern, d. h. universell einsetzbaren Maschinen, die sich für den be8 Beispielsweise die Definition des Begriffs „Unfall im Straßenverkehr" als „plötzliches Ereignis im öffentlichen Verkehr'' (also: Straßenverkehr, aber auch „auf Wegen oder Plätzen), das ... zu einem nicht völlig belanglosen Personen- oder Sachschaden führt" {Lackner/Kühl StGB, 24. Auflage 2002, § 142 Rn 3), muß jeden Programmierer bei dem Versuch einer Umsetzung in ein maschinenlesbares Programm zur Verzweiflung bringen. 9 Vgl dazu meine Ausführungen jurPC 1994, S. 2432 ff.
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nötigten individuellen Einsatz programmieren lassen, ist zwingend die umgekehrte Vorgehensweise geboten: Auszugehen ist von einer Analyse der zu erledigenden einzelnen juristischen Arbeiten. Erst die Analyse der Art dieser Tätigkeit (z.B.: „Ausgabe von Texten", „logisches Schließen", „Berechnen", usw. einerseits, z.B.: „auslegen", „subsumieren", „werten" usw. andererseits) ermöglicht die Beurteilung, ob ein Computer in einer Weise programmierbar ist, daß er sich dabei (und sei es bei Teiltätigkeiten) als Automat oder jedenfalls als Hilfsmittel einsetzen läßt. Diese Feststellungen sind für jeden Programmierer eine Selbstverständlichkeit: Bei der Softwareherstellung ist von den Anforderungen der Nutzer auszugehen. Der von ihnen vorgegebene Programmablauf/>£i« muß lediglich in einen entsprechenden Programm^i?«/ umgesetzt werden. Nimmt man diesen Ansatz wirklich ernst, muß dies in der Rechtsinformatik zu einem grundlegenden Umdenken führen: Beispielsweise juristische Datenbankrecherchen sind dann nicht - wie bei juris geschehen - von vorhandenen Datenbankstrukturen ausgehend mit möglichst geringem Aufwand der Arbeitsweise der Juristen anzupassen, sondern es muß die traditionelle Vorgehensweise eines Juristen bei der Beschaffung der von ihm benötigten Arbeitsmittel analysiert und - den einzelnen Arbeitsschritten folgend - eine entsprechend einfache und gezielte elektronische Zugriffsmöglichkeit auf das gewünschte Material programmiert werden.10 Für andere juristische Anwendungen gilt entsprechendes. An einer fachspezifischen Programmierung für den jeweiligen Anwendungszweck führt kein Weg vorbei. Äec^iiinformatik ohne spezielle juristische Programmentwicklung betreiben zu wollen, ist Illusion bzw. in sich widersprüchlich, weil man keine eigene Rechtsinformatik bräuchte, wenn die Nutzung allgemein verfügbarer Software ausreichen würde. V. Sieb daraus ergebende, bisher brachliegende Arbeitsfelder Eine umfassende Analyse juristischer Arbeitsweisen und eine Bestandsaufnahme der sich für die Rechtsinformatik daraus ergebenden Möglichkeiten würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen. In Betracht zu ziehen sind nicht etwa nur solche juristische Tätigkeiten, die vollständig automatisiert werden können. Vielmehr lassen sich darüber hinaus elektronische Hilfen für dem Menschen vorbehaltene Arbeiten programmieren, deren systematische Nutzung u. U. eine wesentlich größere Arbeitserleichterung mit sich bringt als ein „vollautomatisches" Programm, das nur ein fertiges Ergebnis liefert. Wenigstens auf drei Beispiele für solche, bisher mehr oder minder ungenutzte rechtsinformatische Betätigungsfelder soll hingewiesen werden: 10 Vgl meine Ausführungen jurPC 1992, 1524ff, 1568ff, 1608ff, 1676ff, 1744ff und 1801 ff. An der Europa-Universität Viadrina wird gegenwärtig eine neue Software für einen vereinfachten ;'»ra-Zugang entwickelt, der dieser Konzeption entspricht.
L ö s u n g von Rechtsfällen mit Computern? - ELEKTRONISCHE KOMMENTIERUNGEN: Bei einer elektronischen
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mentierung von Gesetzestexten lassen sich aufgrund der Möglichkeit der Verknüpfung von Texten mit sog. Hyperlinks weitaus umfassendere Erläuterungen und Arbeitshilfen als in einem gedruckten Kommentar geben (z.B. durch einen Zugriff auf Gesetzesmaterialien und grundlegende Gerichtsentscheidungen), die dennoch wesentlich einfacher und schneller zu handhaben sind als jede gedruckte Fassung. 11 Darüber hinaus führt die elektronische Verweisungstechnik zwangsläufig zu einer Beschränkung auf das Wesentliche,12 ferner zwingt sie zu systematischer Geschlossenheit (Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit). - JURISTISCHE BERECHNUNGSPROGRAMME: Eine Vielzahl von juristisch erheblichen Berechnungen lassen sich mit entsprechenden Programmen nahezu vollständig automatisch erledigen: Dies gilt nicht etwa nur für straßenverkehrsrechtliche Quisquilien (wie z . B . die Rückberechnung einer gemessenen Blutalkoholkonzentration auf den Tatzeitpunkt) oder familienrechtliche Probleme (bei Unterhalt, Zugewinn, Versorgungsausgleich usw.), sondern beispielsweise für die gesamte Berechnung von Fristen, Kosten, Gebühren, Zinsen und Sicherheitsleistungen im Verfahrensrecht. Daß entsprechende Ansätze einzelner Programmautoren und Verlage in der Vergangenheit keinen Durchbruch erzielt haben, lag vor allem an der fehlenden Systematisierung der einzelnen Module. - WEITERE ARBEITSHILFEN: Auch soweit es nicht um Berechnungen geht, lassen sich elektronische Arbeitshilfen jedenfalls für solche juristische Arbeiten programmieren, die zu einem auf andere Weise eindeutig festgelegten feststehenden „Resultat" führen. Ein Beispiel hierfür ist die gerichtliche Erstellung eines Urteilstatbestands auf Grund einer Analyse des Sach- und Streitstandes aus Klagevortrag, Klageerwiderung, Replik, Duplik usw. (sog. Relationsmethode). Während der Versuch, die nach jedem Schriftsatz veränderte Aktenlage handschriftlich mit verschiedenen Farben (schwarz, blau, rot, grün) in den Griff zu bekommen, ein äußerst mühseliges und fehleranfälliges Unterfangen ist, läßt sich eine entsprechend programmierte elektronische Tabelle mühelos verwalten und für die Erstellung zumindest eines Entwurfs des fertigen Urteilstatbestands nutzen. Dieter Meurer hat eine solche elektronische Kommentierung (ELEKOM) schon zwischen 1984 und 1989 in der Forschungsstelle für Rechtsinformatik in Marburg versucht. Das unter Beteiligung von Studenten durchgeführte Projekt ist seinerzeit daran gescheitert, daß die einzelnen Autoren mühsam eine Programmiersprache (Pascal, C, Prolog) erlernen mußten, um ihre Programmodule implementieren zu können. Diese technischen Hürden sind heute überwunden (vgl unten, C.). 12 Beispielsweise entfallen die unsystematischen „Einleitungen" und „Vorbemerkungen" vor der Kommentierung einzelner Paragraphen, in denen alles zusammengefaßt wird, was sich sonst nicht unterbringen läßt. 11
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Die Bearbeitung solcher bisher vernachlässigter Bereiche ist ungeachtet aller heute zur Verfügung stehender programmtechnischer Vereinfachungen zwar nach wie vor aufwendig, aber vielversprechend. Haft hat im Rahmen einer Tagung zur „2. Geburt der Rechtsinformatik" 13 1994 in Marburg aufgerufen: „Packen wir es an!" Die Aufforderung ist leider weitgehend ungehört verhallt. An der Richtigkeit der Einschätzung, daß hier ein enormes Potential vorhanden ist, das endlich in Angriff genommen werden muß, ändert dies nichts.
B. Juristische Fallösungen per Computer?
I. Gegenwärtige Lage und
Meinungsstand
Die bisher skizzierten Möglichkeiten des Computereinsatzes zur Erledigung einzelner juristischer Arbeiten geben noch keinen Aufschluß darüber, inwieweit sich die wichtigste juristische Tätigkeit, nämlich die Beurteilung der Rechtslage in einem Einzelfall, programmieren läßt, also die Anwendung von Gesetzen auf den jeweiligen Fall - vollständig oder jedenfalls teilweise - mit Hilfe eines Computers vorgenommen werden kann. Ein solcher Computereinsatz bei der Lösung von Rechtsfällen ist scheinbar von vornherein ein aberwitziges Vorhaben, das dementsprechend bisher lediglich Gegenstand von Parodien war. So findet sich etwa bei RODA RODA ein strafrechtliches „Justizklavier", bei dem „gut gefixt nach Begriffe(n)" die schwarzen Tasten für die Eingabe der belastenden Merkmale („Brudermord, Elternmord, Gattenmord, Kindesmord, Lustmord, Meuchelmord, Muttermord, Raubmord ... usw. oder: Beinbruch, Ehebruch, Einbruch, Friedensbruch, Leistenbruch, Schädelbruch, Schiffbruch, Treubruch, usw."), die weißen Tasten dagegen für die entlastenden Umstände („Alibi, Betrunken, Minderjährig, Schwerbetrunken, Unbescholten, Wahnsinnig, usw.") vorgesehen sind, so daß durch Betätigung der passenden Tasten das Ergebnis festgelegt werden kann: „Zum Beispiel: Diebstahl, Minderjährig, Unbescholten, Wahnsinnig". Oder: „Raubmord - zweimal, Vorbestraft - sechsmal, Alibi".14 Der (aus Amerika stammende) Erfinder des Justizklaviers radebrecht in seiner deutschen Werbung: „Bei alle Fälle berechnet das Klavier automatisch - genau nach die bestehende Gesetze dieses Landes - die zugehörige Strafe und gibt das fertige Urteil, niedergelegt auf ein vorgedrucktes Formular, sofort heraus".15 Vgl dazu meine Thesen in jurPC 1994, 2432 ff. In letztgenannten Fall kommt das „Justizklavier" übrigens dennoch zu einer Verurteilung: Die Alibitaste funktioniert nicht mehr, wenn der Täter mehr als dreimal vorbestraft ist. 15 Roda Roda Das große Roda Roda Buch, 1933. 13 14
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Diese Persiflage ist inzwischen fünfundsiebzig Jahre alt. Ein „Rechtsautomat", „in welchen man oben den Tatbestand nebst den Kosten einwirft, auf daß er unten das Urteil nebst den Gründen ausspeie", 16 ist nach wie vor nicht verfügbar. Computerprogramme für die inhaltliche Bearbeitung rechtlicher Probleme und damit für die „eigendiche" Lösung von Rechtsfällen, gibt es wie erwähnt nur für einzelne ausgewählte Detailprobleme. Herbert Fiedler, der Nestor der deutschen Rechtsinformatik, stellte vor etwas über zehn Jahren fest, daß „keines der ihm bekannten Beispiele juristischer Expertensysteme derzeit mit Sicherheit dem Stand eines gewinnbringenden Praxiseinsatzes zuzurechnen" sei.17 Beispielsweise der im IBM-Forschungszentrum Heidelberg in Kooperation mit der Universität Tübingen unternommene ambitionierte Versuch, ein funktionierendes „Juristisches Expertensystem" zu Fragen des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) zu schaffen, ist, wenn man sich nicht selbst etwas vormachen will, gescheitert. „Computer im Recht" scheinen danach auch heute über ihr Schattendasein als komfortable Schreib- und Datensuchmaschinen nicht hinausgelangen zu können. Legt man demgegenüber die in der allgemeinen Informatik, insbesondere in den Teilbereichen „Künsdiche Intelligenz" und „Expertensysteme" vertretenen Auffassungen zugrunde, ergibt sich ein diametral entgegengesetztes Bild: „Es gibt nunmehr in der Welt Maschinen, die denken, lernen und schöpferisch tätig sind. Darüber hinaus wächst ihre Fähigkeit auf diesen Gebieten zunehmend". 18 Kritische Einschätzungen werden schroff zurückgewiesen: „Uber solche Äußerungen kann ich mich jedesmal nur ärgern ... Diese Kritiker wollen nicht wahrhaben, daß Rechner denken können." „Im Prinzip" gebe es „keine Unterschiede zwischen menschlichen Denkleistungen und Denken auf dem Rechner". 19 Folgt man dem, steht der „Kollege Computer" zumindest unmittelbar vor der Tür: „Große, teure Maschinen wird man" bald „nur noch mit einer bestimmten eingebauten Intelligenz kaufen. Fehler werden durch aktive, intelligente Einheiten selber diagnostiziert. Die Maschinen werden sich entweder selbst reparieren oder einem Techniker per gesprochener Sprache gleich mitteilen, wo etwas defekt ist, welche Werkzeuge er mitbringen soll 16 So bereits kurz zuvor die Formulierung bei Max Weber Rechtssoziologie (1926), 1960, S. 281. 17 Vgl „DIE WELT" vom 23.1.1989, S. 17: Wird der Verkehrssünder bald vom Computer vernommen?. 18 Siekmann in: „DIE WELT" vom 7 11.1988, S. 2. 19 Siekmann (vgl Fn 18): „Wir sind von der Entwicklung bereits überrollt worden".
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und an welcher Stelle Reparaturen durchzuführen sind, um sich schließlich zu verabschieden: ,Paß auf, daß du nicht wie beim letzten Mal wieder deinen Schraubenschlüssel liegen läßt'." 20 II. Die erforderliche Wahrung eines Bezugs zur Realität Daß gegenüber einer derartigen Euphorie grundlegende Skepsis angebracht ist, geht schon daraus hervor, daß das erste Zitat („Es gibt nunmehr ...!") bereits aus dem Jahr 1958 stammt, und die sich selbst reparierenden Waschmaschinen den Weissagungen aus dem Jahr 1988 zufolge schon seit dem Jahr 2000 den Markt beherrschen müßten. Von „Juristischen Expertensystemen" sind wir nach wie vor mindestens ebenso weit entfernt wie von selbständig denkenden Waschmaschinen.21 Der nach den Prophezeihungen der Informatiker längst überfällige „Evolutionsschritt" bzw. die „Neuorientierung des Homo sapiens zum Homo Sapiens informaticus" 22 ist erst recht ausgeblieben. Auf solche Entwicklungen zu setzen, erscheint daher illusorisch. Ungeachtet aller überschäumenden Zukunftserwartungen der Informatiker ist vielmehr bei Wahrung des erforderlichen Bezugs zur Realität die nüchterne Frage zu stellen, ob bzw. inwieweit sich eine juristische Fallösung mit der heute verfügbaren Hardware und der für sie zwar noch nicht vorhandenen, aber programmierbaren Software automatisieren läßt. Die Beantwortung dieser Frage erfordert zum einen eine Analyse der einzelnen juristischen Tätigkeiten, aus denen sich eine Fallösung zusammensetzt, zum anderen die Prüfung der (bauartbedingten) Möglichkeiten, einen Computer so zu programmieren, daß er diese Tätigkeiten selbsttätig (automatisch) vornimmt. III. Die zu automatisierenden Einzelschritte bei der juristischen Fallösung Die Methode der Fallösung ist die Methode des Erkennens eines fraglichen rechtlichen Verhältnisses (Recht, Pflicht, Rechtsverhältnis) in einem einzelnen Fall. Sie besteht in der Subsumtion gegebener Tatsachen (Sachverhalt) unter den Tatbestand eines staatlichen Gesetzes. Die vollautomatische Ausgabe der Lösung eines Rechtsfalles durch eine Maschine würde daher vier Einzelschritte erfordern: a) Die Verfügbarkeit eines dem Gesetzesinhalt entsprechenden, maschinell abzuarbeitenden Programms für die Bearbeitung der Daten des Einzelfalls. 20
Siekmann (vgl Fn 18). Vgl dazu die lesenswerte Satire von Stanislaw Lern Die Waschmaschinen-Tragödie, in: Stern-Tagebücher, Berlin 1990, S. 296 ff. 22 Barr/Feigenbaum Handbook of Artificial Intelligence, zit. nach Jackson Expertensysteme, 1987, S. 2. 21
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b) Die automatische Erfassung des individuellen Sachverhalts, auf den das Gesetz anzuwenden ist. c) Die selbsttätige Gesetzesanwendung, d. h. den automatischen Schluß, ob die allgemeinen Merkmale des Gesetzestatbestands auf den Einzelfall zutreffen. d) Die automatische Ausgabe einer Niederschrift der einzelnen Lösungsschritte, der jeweiligen sachlichen Begründungen sowie der Ergebnisse. a) Die Programmierbarkeit von dem Gesetzesinhalt entsprechenden Verarbeitungsbefehlen O b es gelingen kann, in einen Computer einen Programmablauf zu erzeugen, der dem Inhalt eines juristischen Gesetzes entspricht, hängt von der allgemeinen Struktur (und dem jeweiligen Inhalt) der juristischen Gesetze ab. Die Antwort auf die gestellte Frage erfordert daher eine Klärung des juristischen Gesetzesbegriffs. Ungeachtet der Komplexität dieses Themas lassen sich die in Rechtsprechung und Schrifttum hierzu vertretenen Auffassungen im wesentlichen in einem Satz zusammenfassen: „Es handelt sich um einen universellen Wenn-Dann-Satz, dessen DannKomponente eine Norm ausdrückt". 23 Würde man dem folgen, stünden einer Programmierung des Gesetzesinhalts zwei (unüberwindliche) Hindernisse entgegen: - Ein „Satz", also ein mit Hilfe einer Sprache formulierter Inhalt, läßt sich nicht in eine Programmiersprache übertragen, ohne diesen Inhalt zu verändern. Der Einwand gilt schon für die Ubersetzung eines Satzes von einer natürlichen Sprache in eine andere, erst recht aber für die Ubersetzung in eine „formale" (Programmier-)Sprache. Kurz zusammengefaßt: Der Computer versteht weder Deutsch noch Englisch, sondern überhaupt keine „Sprache". 24 Daß mit (binär zu codierenden) Maschinenbefehlen" bestimmte maschinelle Abläufe erzeugt werden können (so wie bei einem Fahrkartenautomaten durch Geldeinwurf und Knopfdruck der Ausdruck eines Fahrscheins ausgelöst werden kann), ist etwas völlig anderes. - Würde die „Dann-Komponente" des „Wenn-Dann-Satzes" eine „Norm" ausdrücken, wäre das Bedingte ein „Sollen". Auch dies würde eine Programmierung von vornherein ausschließen: Einem Computer „begreiflich" machen zu wollen, was er tun „solle", oder ihn zu befragen, welches Verhalten „gesollt" ist, wäre ein Versuch am untauglichen Objekt. 23 Koch/Rüßmann Juristische Begründungslehre, München 1982, § 4 I a, S. 18. Mit „universell" ist dabei lediglich (zutreffend) die notwendige Allgemeinheit des Gesetzes, nicht etwa seine weltweite Geltung gemeint. 24 Das Wort Programmiersprache" beruht auf einem ungenauen bildhaften Vergleich.
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Bei exakter Analyse erweist sich jedoch schnell, daß beide scheinbaren Hürden gegenstandslos sind: - Der „Wenn-Dann-Satz" ist lediglich die sprachliche Formulierung des Gesetzesinhalts, der sich - und sei es umständlich - in welcher Sprache auch immer ausdrücken läßt. Der Gesetzesbegriff bezieht sich in Wahrheit nicht auf die sprachlichen Zusammenhänge, sondern hat ein hypothetisches „WennDann"- Urteil (im Sinne der geläufigen Terminologie der Logik) zum Inhalt. - Selbst wenn man der auf Binding zurückgehenden „Normenlehre" folgt, ist der „weitgehend üblich gewordene gleichbedeutende Gebrauch der Worte ,Rechtssatz' und ,Rechtsnorm"' 25 falsch. Binding selbst hob hervor: „Die Rechtsnorm ist nicht der Rechtssatz". 26 Ob aber dem Strafgesetz „Gebote und Verbote der Rechtsordnung (die Normen)" „vorgelagert"27 sind, kann hier offen bleiben. Ein Gesetz enthält danach gerade keine „Verhaltensanforderungen durch Normen, d.h. nach Richtmaßen oder Regeln"28, sondern bezieht sich auf hypothetische Zusammenhänge: Die Rechtswirkung tritt immer dann ein, wenn er Tatbestand vorliegt. Das Bedingte ist kein „Sollen", sondern die Entstehung, inhaltliche Änderung, der Ubergang oder das Erlöschen eines rechtlichen Verhältnisses.29 Diese Gegebenheiten und die sich aus ihnen ergebenden Konsequenzen sind im Schrifttum zutreffend wie folgt zusammengefaßt worden: „Ein rechtliches Gesetz ist ein allgemeines hypothetisches Urteil des Inhalts, daß, wenn ein Tatbestand einer bestimmten Art vorliegt, eine Wirkung einer bestimmten Art eintritt". 30 Ein Rechtsgesetz bezieht sich danach auf einen Notwendigkeitszusammenhang: 31 „Ein Tatbestand ist die Ursache einer Rechtswirkung". 32 Eine Ursache sind die Bedingungen, bei deren Vorliegen eine Wirkung eintritt.33 Diese Feststellungen betreffen nicht etwa nur die „logische" bzw. „formale" „Struktur" von Gesetzen, sondern beziehen sich auf deren Begriff und Inhalt: 25
Heinrich Henkel Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, S. 62. BindingOie Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, Aalen 1991, § l i e , S. 81 ff, 85. 27 So die Zusammenfassung der „Normentheorie" bei Jescbeck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl 1996, § 22 I, S. 201. 28 So aber z.B. Henkel (vgl Fn 25), S. 61. 29 Ungenau, aber im Ergebnis wohl ebenso Jescheck/Weigend (vgl Fn 27, aaO) für die Strafgesetze: sie stellen „nur die Sanktion" auf. 30 Ernst Wolf Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, u.a. 1982, § 6 A I, S. 259, A II h, S. 262. 31 Ernst Wolf (vgl Fn 30), § 1 A VI b 15, S. 29. 32 Ernst Wo//(vgl Fn 30), § 6 A I, S. 259. 33 Ernst Wo//(vgl Fn 30), § 1 A IV b 1, S. 14. 26
Lösung von Rechtsfällen mit Computern?
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Ein Gegenstand beschleunigt mit 9,81 m/sec 2 , wenn die Bedingungen des freien Falls gegeben sind. Das staatliche Recht zur Bestrafung mit lebenslanger Freiheitsstrafe entsteht, wenn ein Mensch einen anderen rechtswidrig und schuldhaft unter Vorliegen eines Mordmerkmals tötet. Y < = xl, x2, x3, x4 ... xN. Aufgrund der intern als sog. Maschinenbefehl zur Verfügung stehenden Weichenstellung „IF ... THEN ... ELSE" kann ein Computer ohne weiteres auf jeden dieser Gesetzesstruktur entsprechenden Ablauf festgelegt werden: - Liegen sämtliche Bedingungen vor, die zum Tatbestand gehören, ist damit die Ursache der Rechtswirkung vollendet, so daß diese notwendig eintritt und der Computer so programmiert werden kann, daß er die für diesen Fall vorgesehenen nächsten Arbeitsschritte auslöst. - Fehlt eine Bedingung (gleichgültig welche), tritt die Wirkung nicht ein, so daß auch für diesen Fall die sich - ebenfalls notwendig - ergebenden nächsten Schritte festliegen und damit programmiert werden können. Die Programmierbarkeit von Computern besteht gerade in der Möglichkeit, derartige „IF ... THEN ... ELSE"-Zusammenhänge (den individuellen Erfordernissen der individuellen Anwendung entsprechend) festlegen zu können. Die Implementierung des Inhalts von (auch juristischen) Gesetzen bereitet daher keinerlei grundsätzliche Schwierigkeiten. b) Die Unmöglichkeit einer auch nur teilweise automatisierten Sachverhaltserfassung Für die automatische Erfassung oder auch nur Bearbeitung von erfaßten Sachverhalten ergibt sich demgegenüber eine völlig andere Beurteilung: - Die automatische Erfassung von komplexen Sachverhalten durch Bildund Tonverarbeitung gehören nach dem heutigen Stand der Technik in den Bereich science fiction. Daß es zunehmend gelingt, aus maschinellen Bearbeitungen von Bild- und Tonaufnahmen einzelne - als aussagekräftig angesehene - Informationen herauszufiltern, ändert an der Richtigkeit dieser Feststellung nichts. Zu meinen, daß z.B. die zur automatischen Auswertung des Materials von Videoüberwachungen eingesetzten Computer das aufgezeichnete Geschehen wirklich erfassen können, wäre ein naives MißVerständnis. - Selbst die automatische inhaltliche Analyse einer bereits sprachlich ausformulierten Sachverhaltsschilderung hat sich als illusorisch erwiesen. Die mühsamen Fortschritte auf dem Gebiet der maschinellen Übersetzung sind nicht etwa ein Gegenargument, sondern beweisen vielmehr, daß die umfassende automatische Verarbeitung von Bedeutungen ein
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Wunschtraum ist, so daß bei Übersetzungsprogrammen zu (für bestimmte Zwecke völlig ausreichenden) Notlösungen gegriffen werden muß. Für juristische Anwendungen würde demgegenüber eine fehlerfrei und ohne Einschränkungen funktionierende Sachverhaltsauslegungsmaschine benötigt, die, wenn es sie denn gäbe, übrigens auch ohne weiteres zur Auslegung von Gesetzen und rechtsgeschäftlichen Erklärungen imstande wäre. Die Programmierung eines solchen Supercomputers scheitert jedoch daran, daß eine Programmierung des für alle diese Anwendungen benötigten menschlichen Erfahrungswissens aufgrund seines gigantischen Umfangs und seiner ständigen Veränderung ausgeschlossen, selbsttätig „lernende", „denkende" und „entscheidende" Computer aber nicht verfügbar sind und - aufgrund der damit verbundenen Eigenständigkeit - auch keine Hilfe, sondern autonom wären.
c) Die Unmöglichkeit einer Automatisierung der erforderlichen Subsumtion Subsumtion ist ein logisches Schlußverfahren der Ableitung eines Einzelurteils (Schlußurteil) aus einem Allgemeinurteil (Prämisse). Selbst eine perfekte Sachverhaltsauslegungs- und -Verarbeitungsmaschine wäre nur dann zu einer automatischen Subsumtion imstande, wenn sie die programmierten Verarbeitungsbefehle automatisch auf den erfaßten Sachverhalt beziehen, also erkennen könnte, daß z.B. eine Schachtel Zigaretten eine bewegliche Sache ist, und eigenständig beurteilen könnte, wer Eigentümer dieser Zigarettenschachtel ist. Ein solcher Superjurist aus Prozessoren, Platinen und Festplatten scheitert an demselben Hindernis wie der Sachverhaltserfassungsautomat: Das erforderliche Erfahrungswissen kann weder vollständig codiert noch von der Maschine selbsttätig erlernt bzw. produziert werden. Eine automatische Ableitung von individuellen Datenverarbeitungsresultaten aus allgemeinen Prämissen ist aber nur möglich, wenn für jeden erforderlichen Zwischenschritt die benötigten Verarbeitungsbefehle verfügbar sind: Der dem Eigentümer möglicherweise gestohlene „ Waldi" ist ein Dackel, ein Dackel ist ein Hund, ein Hund ist Tier, ein Tier ist angeblich keine Sache (§ 90a S. 1 BGB), aber wie eine Sache zu behandeln, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist (§ 90a S. 3 BGB). Da dies für den Diebstahl von Hunden nicht der Fall ist, führt die Analyse endlich zu dem Ergebnis, daß „Waldi" e ine Sache i.S.v. § 242 StGB ist. Selbst wenn diese Einzelschritte erfolgreich programmiert würden, müßte die Prozedur für den Schäferhund des Nachbarn und die Katze des Untermieters, kurz: für jedes einzelne Tier dieser Welt wiederholt werden. Eine solche (illusorische) „Automatisierung" ist gegenüber der juristischen Fallösung unter Verwendung von Gesetzbüchern, Kugelschreiber und Papier durch einen Menschen jedenfalls keine Arbeitserleichterung.
Lösung von Rechtsfällen mit Computern?
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d) Zwischenergebnis Eine vollautomatische Gesetzesanwendung ist aufgrund der Unmöglichkeit einer maschinellen Sachverhaltserfassung und Subsumtion ausgeschlossen, ein „Rechtsautomat" Illusion: Ein Computer kann nicht wahrnehmen, erkennen und schließen, also auch keine Rechtsfälle lösen. Der Grund hierfür liegt jeweils darin, daß die Maschine aufgrund ihrer Bauweise keine Bedeutungen erfassen und verarbeiten kann, sondern auf eine streng formale, d.h. gerade bedeutungsunabhängige Zeichenverarbeitung nach starren Regeln beschränkt ist.
C . Möglichkeiten der P r o g r a m m i e r u n g von Arbeitshilfen für die Gesetzesanwendung per C o m p u t e r Die bisher getroffenen Feststellungen dürfen nicht zu dem vorschnellen Schluß verleiten, ein Computer sei als Hilfsmittel bei der Gesetzesanwendung ungeeignet: - Aus der Unmöglichkeit einer automatischen Erfassung des Sachverhalts folgt lediglich, daß nicht die Maschine, sondern nur deren Benutzer den Sachverhalt erfassen kann. - Aus der Unmöglichkeit einer automatischen Subsumtion folgt nur, daß auch die Beurteilung, ob ein Tatbestandserfordernis im Einzelfall gegeben ist, nicht von der Maschine, sondern nur vom Benutzer getroffen werden kann. Dies schließt nicht aus, in einem Computerprogramm jeden einzelnen Arbeitsschritt festzulegen, der vom Benutzer bei der Anwendung juristischer Gesetze vorgenommen werden muß, ihn inhaltlich exakt zu bestimmen und dem Benutzer ggf. zu erläutern, unter welchen Bedingungen das jeweilige Erfordernis im Einzelfall zu bejahen oder zu verneinen ist. In Abhängigkeit von dem - durch den Benutzer zu ermittelnden - Ergebnis der Bearbeitung kann in methodischer Reihenfolge der jeweils nächste Schritt der Fallösung ermittelt werden. Möglich ist also eine komplexe automatisierte Arbeitsanleitung, die den Benutzer bei der Anwendung des Gesetzes im Einzelfall führt, und ihm lediglich die Beurteilung überläßt, ob ein auf diese Weise maschinell abgefragtes Tatbestandserfordernis vorliegt oder nicht. Eine solche programmierte Arbeitshilfe ist zwar in ihrer Grundstruktur äußerst einfach („IF ... T H E N ... ELSE ..."), aber deswegen nicht etwa trivial, sondern auch für einen versierten Juristen eine unschätzbare Hilfe: - Gewährleistet werden insbesondere Vollständigkeit, Widerspruchsfreiheit und methodische Folgerichtigkeit. - Jeder einzelne Arbeitsschritt kann in dem vom Benutzer gewünschten Umfang erläutert und mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Schrifttum versehen werden.
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- Werden vor Beginn der Fallösung vom Benutzer einige zentrale Daten des Sachverhalts des zu lösenden Einzelfalls abgefragt (z.B. die in § 200 StPO genannten Angaben über Alter, Staatsangehörigkeit und Wohnsitz des Angeschuldigten, Tatort und Tatzeit usw.), lassen sich hieraus automatisch eine Vielzahl von allgemeinen Konsequenzen für Verlauf und Ergebnisse der Fallösung herleiten (z.B. Anwendbarkeit von Jugendstrafrecht, ggf. ausländerrechtliche Konsequenzen der Tat, Gerichtsstände, Verjährungsfragen usw.). Die auf diese Weise programmierbaren Arbeitshilfen bilden daher nicht etwa einen umständlich abzuarbeitenden stereotypen Fragenkatalog, sondern eine den individuellen Angaben des Benutzers angepaßte Anleitung zur Lösung des jeweiligen Einzelfalles. Die gewünschte Komplexität der abzuarbeitenden Zwischenschritte und der zu gebenden Hilfen läßt sich den Benutzereingaben entnehmen. Die Grundstruktur eines solchen Programms lautet wie festgestellt: „SY