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German Pages 328 [336] Year 1989
MEDIEN IN FORSCHUNG + UNTERRICHT Serie A Herausgegeben von Dieter Baacke, Wolfgang Gast, Erich Straßner in Verbindung mit Wilfried Barner, Hermann Bauainger, Hermann K. Ehmer, Helmut Kreuzer, Gerhard Maletzke Band 28
Manfred Durzak
Literatur auf dem Bildschirm Analysen und Gespräche mit Leopold Ahlsen, Rainer Erler, Dieter Forte, Walter Kempowski, Heinar Kipphardt, Wolfdietrich Schnurre und Dieter Wellershoff
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989
CIP-Tilcluul'nahmc der Dcutschcn Bibliothek Durzak, Manfred: Literatur auf dem Bildschirm : Analysen und Gespräche mit Leopold Ahlsen, Rainer Erler, Dieter Forte, Walter Kempowski, Heinar Kipphardt, Wolfdictrich Schnurre und Dieter Wcllcrshoff / Manfred Durzak. - Tübingen : Niomcycr, 1989 (Medien in Forschung + Unterricht: Ser. A ; Bd. 28) NE: Medien in Forschung und Unterricht / A ISBN 3-484-34028-2
ISSN 0174-4399
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhcberrechtgesctzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: arco-druck GmbH, Hallstadt.
Inhaltsverzeichnis
Der Schriftsteller und das Fernsehen. Anmerkungen zu einem belasteten Thema
1
Der Dramatiker und das Fernsehen: Gespräch mit Dieter Forte
29
Erfolg ist ein Aberglaube. Über die Fernsehspiele von Dieter Forte
51
Der Romancier und das Fernsehen: Gespräch mit Dieter Wellershoff
. . . .
69
Das Erbe der Literatur einbringen: Zu Dieter Wellershoff Fernsehspiel «Glücksucher» und seinen literarischen Spiegelungstexten Dokumentation und aufklärerische Wirkung: Gespräch mit Heinar Kipphardt
97 119
Näher ans Authentische der Wirklichkeit. Vom Fernsehen zur Literatur. Das März-Projekt von Heinar Kipphardt
139
Science Fiction im Fernsehen: Gespräch mit Rainer Erler
157
In Sorge um unsere Zukunft. Zu den Science-Fiction-Filmen von Rainer Erler
179
Die Ergänzung der Literatur durch die Fernsehadaption: Gespräch mit Walter Kempowski
197
Alltag im Dritten Reich — doppelt belichtet. Fechners filmische Kempowski-Adaptionen
211
Der Medienautor und seine Arbeitserfahrungen: Gespräch mit Leopold Ahlsen
233
Der Anwalt der Literatur im Medienapparat. Zu den Fernseharbeiten von Leopold Ahlsen
255
Serien im Fernsehen: Gespräch mit Wolfdietrich Schnurre
277
Gratwanderung zwischen Schreibtisch und Kasse. Zu Wolfdietrich Schnurres Fernsehspiel «Ein Fall für Herrn Schmidt» und seiner Serie «Levin und Gutman»
299
Nachbemerkung
323
Namenregister
325
Register der Literatur- und Medienwerke
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1
Der Schriftsteller und das Fernsehen. Anmerkungen zu einem belasteten Thema
I. Der Schriftsteller Max von der Grün, der in den letzten Jahren immer wieder fürs Fernsehen gearbeitet hat und dessen Romane durch ihre Fernsehverfilmungen ein breites Publikum erreicht haben, hat einmal1 folgende hypothetische Überlegung angestellt: "Hätte es zum Ende des 18. Jahrhunderts schon Fernsehen gegeben, vielleicht hätte Schiller seine Räuber als Film gedreht, Goethe seinen Götz als Fernsehspiel, hätte es Rundfunk gegeben, wäre vielleicht der Don Carlos als Hörspiel gesendet worden. Das gab es nicht, aber es ist legitim, darüber zu spekulieren." 'S. 19) Für viele - und nicht nur die traditionellen Hüter des Kulturbetriebs, sondern auch für Schriftstellerkollegen - wirkt eine solche Überlegung ketzerisch, als Sündenfall wider den Geist der wahren Kultur und Literatur. Zu Recht oder zu Unrecht? Man könnte dem Gedankenspiel von der Grüns den Tagtraum des Kritikers Jörg Drews gegenüberstellen, den er 19792 mit kulturkämpferischem Elan so beschrieb: "Was wir brauchen, ist aber die größere [Utopie], nämlich: Das Fernsehen muß verschwinden, es hat keine Existenzberechtigung, es ist ein Übel, ein Irrweg. Außer der Tatsache, daß es das Fernsehen gibt, gibt es kein ernstzunehmendes Argument dafür, und jeder weiß das auch." (S. 593) Rhetorische Übermmpelungstaktik, die wie bei Drews mit Unterstellungen statt Argumenten um die Zustimmung des Lesers buhlt, ist freilich ein wenig überzeugender Advokat. Dabei versucht ja von der Grüns Überlegung nur auf einen bestimmten Sachverhalt aufmerksam zu machen: Die Literatur ist an die Mittel ihrer Verbreitung gebunden, und diese Mittel sind historisch zu sehen. Die im Buch verbreitete Literatur ist von der Erfindung des Buchdrucks nicht abzulösen. Vorher war sie an eine mündliche Überlieferung gebunden: der Erzähler, der seine Geschichten vor einem Kreis von Zuhörern vortrug, der Poet, der seine Lieder und Balladen vorsang. Geschriebene Literatur existierte nur als exklusive Ausnahme: in wenigen Handschriften vervielfältigt und für eine winzige gebildete höfische Minderheit gedacht. Auch das Theater hat ja, zumindest in Deutschland, erst im 18. Jahrhundert allmählich gegen vielerlei Widerstände für die Gesellschaft jene kulturelle Geltung angenommen, die wir heute ganz selbstverständlich mit dieser Institution verbinden.
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Ich beziehe mich auf den Beitrag von der Grüns zum XIV. Loccumer Kulturpolitischen Kolloquium (1982), das unter dem Leitthema stand «Kunst, Künstler und Massenmedien». Von der Grüns Beitrag ist abgedruckt in den »Loccumer Protokollen» 4/1982, S. 19-20. «Welt ohne Fernsehen», in: «Merkur» 33/6 (1979), S. 593-597.
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Von der Grüns Überlegung scheint also so ketzerisch nicht: "Wenn ich also für den Zeitgenossen schreibe, und das tut jeder Autor, dann muß ich ein Interesse daran haben, daß ich den Zeitgenossen erreiche. Ich kann das natürlich über das Buch, aber wir wissen, daß nur sieben Prozent der Bevölkerung lesen. Also muß ich, will ich konsequent sein, mich der modernen Medien bedienen, um das, was ich sagen will, an Leute zu bringen, nicht an hunderttausend, sondern an Millionen." (S. 20) Natürlich setzen hier die Probleme ein. Die Fronten scheinen scharf gezogen, zumindest aus der Sicht der traditionellen Hüter und Weichensteller des Kulturbetriebs. Und das sind die Literaturkritiker, die Lektoren der Verlage, die Dramaturgen der Theater, die Feuilleton-Strategen der großen überregionalen Zeitungen. Die Literatur, so heißt es, gibt ihr Eigentliches auf. Sie betreibt Anpassung aus opportunistischem Marktinteresse und verspielt damit zugleich die kulturelle Identität der literarischen Arbeit, die im Mediensog ausgelaugt werde. Der Schriftsteller Horst Krüger 3 nimmt so die Gegenposition zu von der Grün ein. Für Krüger gilt: "Das Medium Fernsehen ist, wie ich meine, seiner ganzen Konstruktion nach literaturfremd [...] die Bilder des Schriftstellers sind von ganz anderer Natur als die Fernsehbilder." (S. 63) Krüger begründet diese prinzipielle Fremdheit in einer Weise, die erkennen läßt, daß er eine bestimmte historische Schlüsselrolle, die der Schriftsteller im Kontext der Aufklärung gespielt hat, zur Definitionsformel des Autors schlechthin erhebt: "Sein Standort ist die Phantasie, wahrscheinlich der letzte Freiraum in unserer Gesellschaft^..] Hätten wir nicht die Literatur und den neuen deutschen Film, muß man hinzufügen - wo wären die Bilder einer anderen Welt? Eine Gesellschaft ohne Vision und Utopie ist schon abgestorben, auch wenn sie noch meint zu leben. [...] Die Funktion der Literatur, global gesehen, ist sicher die Humanisierung der Gesellschaft, die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechtes, wie Lessing und Herder es nannten." (S. 61/2) Gewiß, das mag nach wie vor das Identifikationsbild des Schriftstellers sein, der in der spätbürgerlichen Gesellschaft die aufklärerische Position zu verteidigen versucht, auch wenn er an die utopischen Zukunftsbilder der Aufklärung angesichts einer umfassenden Wirklichkeitszerstörung nicht mehr zu glauben vermag. Es hat jedoch lange historische Phasen gegeben, in denen der Autor mit seiner literarischen Arbeit vielfältigen gesellschaftlichen Zwecksetzungen unterworfen war. Der Autor in der höfischen Gesellschaft ist ein langes Kapitel dieser sozialen Leidensgeschichte. Die Gloriole, Statthalter der Utopie und des ideellen Fortschritts zu sein, hat er sich gegen zähe historische Widerstände erst im 18. Jahrhundert erkämpft. Goethe hat diese Pathographie des Autors in der höfischen Gesellschaft in seinem «Torquato Tasso» ebenso reflektiert, wie er in seinem bürgerlichen Trauerspiel «Clavigo» den problematischen Aufstieg des Schriftstellers zum Repräsentanten einer neuen, bürgerlich bestimmten Gesellschaft darstellt. Der von der Schwester des «Literatur und Fernsehen. Essay über die Angst des Schriftstellers vor dem Medium», in: «BertelsmannBriefe» H. 99 (Juli 1977), S. 60-65.
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Fürsten, der Prinzessin Leonore, mit dem Lorbeerkranz bekränzte Tasso verfällt dem Wahn, damit sei die antike Verschmelzung von Dichter und Held wiederhergestellt, die soziale und poetische Wirklichkeit wieder ins Gleichgewicht gebracht. Der Handlungsverlauf des Stückes belehrt ihn darüber, daß es diese Balance von Kunst und Realität schon längst nicht mehr gibt, daß die Kunst zur dekorativen Beigabe der höfischen Elite geschrumpft ist, ein schönes Spiel, ein Surrogat darstellt. Clavigo, der das Amt eines königlichen Archivars am spanischen Königshof bekleidet, ist in erster Linie Schriftsteller und Herausgeber einer einflußreichen Zeitung, die den programmatischen Titel «Der Denker» trägt und seinen Ruhm in Spanien und darüber hinaus verbreitet hat. Der schriftstellerischen Arbeit kommt also eine Dimension der gesellschaftlichen Wirkung zu, die Clavigo, Aufklärungs-Leitfigur nach außen hin, selbst folgendermaßen beschreibt: "Der König hat viel Gnade für meine geringe Dienste, und das Publikum viel Nachsicht für die unbedeutende Versuche meiner Feder, ich wünsche, daß ich einiger maßen etwas zu der Verbesserung des Geschmacks in meinem Lande, zur Ausbreitung der Wissenschaften beitragen könnte. Denn sie sind's allein, die uns mit den andern Nationen verbinden, sie sind's, die aus den entferntesten Geistern Freunde machen und die angenehmste Vereinigung unter denen selbst erhalten, die leider durch Staatsverhältnisse öfters getrennt werden."4 Clavigo redet wie ein französischer Enzyklopädist, als sei er Diderot oder d'Alembert und habe sein ganzes Denken und Wirken in den Dienst der Aufklärung gestellt, in den Dienst des Fortschritts der menschlichen Verhältnisse, der sich durch Ausbreitung der Wissenschaften, durch Anhebung des kulturellen Niveaus, durch Überwindung nationaler Beschränktheiten zum Nutzen einer umfassenden Gemeinschaft der progressiven Geister seiner Zeit auszeichnet. Was man in der Folgezeit so gern ikonisiert und als ideales Muster schriftstellerischer Aktivität im Aufklärungskontext verabsolutiert hat, wird jedoch bereits von Goethe in seiner Ambivalenz und inneren Fragwürdigkeit dargestellt. Nach außen hin mag Clavigo zwar diese Galionsfigur der europäischen Aufklärung scheinen. Tatsächlich fehlt ihm jedoch die moralische Legitimation seiner Erkenntnisaufgabe. Die schriftstellerische Arbeit ist auch bei ihm nur Dekoration, Mittel zum Zweck, Instrument einer Öffentlichkeitswirkung, die ihm die große Karriere ermöglichen soll. Das Marie von Beaumarchais gegebene Heiratsversprechen und das bürgerliche Glück an der Seite einer gesellschaftlich unscheinbaren Frau sind nur ein Hindernis auf diesem Weg. Goethe ist also wesentlich skeptischer in der Einschätzung der gesellschaftlichen Wirkungsdimension des Aufklärungsliteraten als die Nachgeborenen, die diese historische Konstellation, die die Schriftsteller zeitweise zum Reflexions- und Artikulationsorgan des bürgerlichen Fortschritts werden ließ, häufig aus einem Wunschden-
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Zitiert hier nach der Münchner Ausgabe, Band 1.1: «Der junge Goethe 1757-1775», hg.v. Gerhard Sauder, S. 705/6.
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ken heraus harmonisieren. Das ist der These Krügers vom Schriftsteller als Statthalter der Utopie im Sinne einer historischen Korrektur entgegenzuhalten. Wie historisch inkonsequent Krügers Argumentation streckenweise ist, verrät er eher beiläufig, indem er "den neuen deutschen Film" neben die Literatur stellt als jene Kunstformen, die heutzutage die utopischen Bilder entwerfen. Krüger hat hier eine Revision des kulturellen Kanons nachvollzogen, die in den ersten Jahrzehnten des neuen Mediums Film kaum vorauszusehen war, da diese offenbar der Massenunterhaltung dienende Illusionsapparatur mit Kultur- und Literaturvernichtung identisch zu sein schien. Ich will diese höchst kontroverse Kino-Debatte hier nicht im einzelnen aufblättern5, aber vieles von dem, was aus einer gewissen kulturkonservativen Position heraus dem Medium Fernsehen zur Last gelegt wurde und wird, hat man seinerzeit auch dem neuen Medium Kinofilm vorgeworfen. Führt man sich die historische Ausgangssituation des Films vor Augen, nämlich daß man ihn lediglich als neues technisches Spektakel rezipierte und die mitgeteilten Bildinhalte als nebensächlich ansah 6 , deutet die heutige Anerkennung des Films als eigenständige künstlerische Disziplin auf eine ganz erstaunliche Veränderung der kulturellen Wahrnehmung hin. Eine andere historische Fallstudie7 für diesen Prozeß sich radikal ändernder kultureller Werthaltungen ließe sich am Beispiel der Geschichte des Rundfunks skizzieren. In seinem Vortrag «Literatur und Rundfunk»8 hat Alfred Döblin die Haltung vieler Schriftsteller gegenüber diesem neuen Medium so resümiert: "Von den Autoren will noch immer ein mächtiger Teil, man möchte sagen unbesehen, nichts vom Rundfunk wissen, weil er den Rundfunk für etwas Vulgäres, für Unterhaltung und Belehrung plumper Art hält. Das ist die Auffassung: der Rundfunk verfügt über eine ungeheure Hörermasse; aber das hat gar keinen Wert, denn die Hörermasse ist absolut unreif für Literatur [...]" (S. 230) Man könnte ohne weiteres Rundfunk durch Fernsehen ersetzen und fände eine Haltung dokumentiert, wie sie heute - und nicht zuletzt von Autorenseite - noch vielfach gegenüber dem jüngsten Medium eingenommen wird. Inzwischen ist die Gattung ® Vgl. dazu im einzelnen die Dokumentation «Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909-1929», hg.v. Anton Kaes, Tübingen 1978. 6 Vgl. dazu die Schilderung Rudolf Oertels in seinem Buch «Filmspiegel: Ein Brevier aus der Welt des Films» (Wien 1941): "Das Publikum meinte, die Sensation bestünde darin, die Erfindung an sich kennengelernt zu haben. Nachdem man dann ein- bis zweimal hingegangen war, schien die Sache erledigt. Daß der Inhalt des Films das Interessante sein könnte, daß man also künftig ständig Kinobesucher werden würde, um der neuen Programme oder der Schauspieler willen, das begriff man erst nach Jahren, als inzwischen eben die Filme eine richtige Handlung bekommen hatten, länger wurden, durch ihren Inhalt zu fesseln verstanden." (S. 99) 7 Man könnte in diesem Zusammenhang auch auf die Fotografie verweisen, die bei ihrem ersten Auftreten als Totengräberin der Malerei diffamiert wurde (auch wenn sie in der Tat einen Erwerbszweig der Malerei des 19. Jahrhunderts, nämlich die Porträtmalerei, liquidiert hat) und der heute längst in den herausragenden Zeugnissen ihrer wichtigen Vertreter Kunstcharakter zugestanden wird. ο Zitiert hier nach der Dokumentation von Gerhard Hay «Literatur und Rundfunk 1923-1933», Hildesheim 1975, S. 230-236.
Hörspiel längst als eigenständige neue literarische Form anerkannt. Der Funkessay, das Feature - man braucht nur an die Rundfunkarbeiten Arno Schmidts zu erinnern stellen neue mediale Formen der Literatur dar, die aus den technischen Möglichkeiten des Mediums Rundfunk heraus entwickelt wurden. Döblins Sympathie und Fürsprache für die neuen Medien Film und Rundfunk sind dabei keineswegs bloß progressiver Affekt, der mit der Provokation und Irritation der Schriftstellerkollegen spielt, sondern sind getragen von der Erkenntnis, daß sich die soziale und ökonomische Wirklichkeit seiner Zeit durch Formen der industriell technisierten Produktion so vielfältig verändert, daß die tradierten, mit einem andern historischen Produktionsstand verknüpften Formen der Literatur und Kunst nicht mehr ausreichen, dieses vielfältig erweiterte und unübersichtlich werdende Wirklichkeitsensemble abzubilden. In seinem «Berliner Programm»9 hat er die neue Arbeitssituation des Schriftstellers und die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind, sehr hellsichtig beschrieben: "[...] die Arbeitsmethode ändert sich, wie die Oberfläche der Erde in den Jahrhunderten; der Künstler kann nicht mehr zu Cervantes fliehen, ohne von den Motten gefressen zu werden. Die Welt ist in die Tiefe und Breite gewachsen. [...] Die Darstellung erfordert bei der ungeheuren Menge des Geformten einen Kinostil. In höchster Gedrängtheit ..und Präzision hat 'die Fülle der Geschichte' vorbeizuziehen. Der Sprache das Äußerste der Plastik und Lebendigkeit abzuringen. [...] Von Perioden, die das Nebeneinander des Komplexen wie das Hintereinander rasch zusammenzufassen erlauben, ist umfänglicher Gebrauch zu machen. Rapide Abläufe, Durcheinander in bloßen Stichworten; [...] Das Ganze darf nicht erscheinen wie gesprochen, sondern wie vorhanden. [...] Die Hegemonie des Autors ist zu brechen." (S. 15,17,18) Wenn der Kritiker Herbert Ihering, einer der nicht sehr zahlreichen progressiven Literaturbeobachter der Weimarer Zeit, ausgeführt hat: "In Döblins Roman ist die Filmform vorgezeichnet. Er war, übertrieben gesagt, ein geschriebener Film."10, so ist das keineswegs abfällig gemeint, sondern signalisiert die Umsetzung der von Döblin im «Berliner Programm» geforderten neuen epischen Darstellungstechniken, die den Roman, vor allem durch den vielfältigen Einsatz der Montage, an Darstellungsformen des Films annähern. Das geschieht nicht auf dem Wege der Anpassung und Imitation, sondern produktiv, indem auf die geänderte Wirklichkeit - hier die Wirklichkeit einer modernen Großstadt - mit neuen Darstellungsmitteln reagiert wird: "In der Montage von zahllosen Handlungsfragmenten, von Dialogfetzen, knappen Ortsbeschreibungen, Ausschnitten aus amtlichen Meldungen, Zeitungsartikeln und Plakattexten will Döblin die Großstadt erzählen. Sie soll als Raum in
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«An Romanautoren und ihre Kritiker», in: A.D., «Aufsätze zur Literatur», Ölten 1963, S. 15-19. So in seiner Rezension des ersten «Alexanderplatz»-Films im «Berliner Börsen-Courier» v. 9.10.1931, zitiert hier nach der Dokumentation «Materialien zu Alfred Döblins 'Berlin Alexanderplatz·», hg.v. Matthias Prangel, Frankfurt a.M. 1975, S. 241.
6 Erscheinung treten, der von lauter gleichzeitigen Geschehnissen, Sachverhalten, Eigenschaften und Beziehungen erfüllt ist."11 Auch Döblins Appell für eine produktive Einstellung des Autors zum Rundfunk macht auf solche Möglichkeiten der Veränderung erstarrter literarischer Darstellungsweisen aufmerksam und damit zugleich auf die Chance zur Weiterentwicklung tradierter literarischer Sprachformen: "Für die Musik und die Journalistik bedeutet der Rundfunk im wesentlichen kein Novum, er ist da nur ein neues technisches Mittel der Verbreitung. Für die Literatur aber ist der Rundfunk ein veränderndes Medium. [...] Der Buchdruck, die Drucktype hat, um es ruhig auszusprechen, die Literatur und uns alle in einer unnatürlichen Weise zu Stummen gemacht; bestimmt hat dadurch unsere Sprache Schaden genommen, die lebende Sprache ist in ungenügender Weise in die geschriebene eingedrungen, und so hatte die Buchdruckerkunst bei uns offenbar eine Anämie und Vertrocknung der Sprache im Gefolge. Da tritt nun im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts überraschend der Rundfunk auf und bietet uns, die wir mit Haut und Haaren Schriftsteller sind, aber nicht Sprachsteller, und bietet uns wieder das akustische Medium, den eigentlichen Mutterboden jeder Literatur." 12 Zwar unterschlägt Döblin keineswegs die Tatsache, daß im Rundfunk nicht der Modus der unmittelbaren sprachlichen Kommunikation anzutreffen ist, sondern die sprachliche Kommunikationssituation artifiziell ist, durch bestimmte funkmediale Formen wie Reportage oder Interview geprägt ist. Dennoch ist die hier verwendete Sprache nicht die literarisierte und ästhetisch ritualisierte Schreibsprache einer kleinen gebildeten bürgerlichen Elite, sondern steht in einer viel engeren Verbindung zur Sprache des täglichen Umgangs: "Die große Literatur ist bald für 1000, bald für 10000, höchstens für 1000000 Menschen da. Gelegentliche Massenauflagen können darüber nicht wegtäuschen. Diese überaristokratische Haltung sterilisiert uns, sie ist ungesund und unzeitgemäß. Wieder tritt da der Rundfunk vor uns, die er eben aufgefordert hat, die Drucktype zu verlassen, und fordert uns auf, unseren kleinen gebildeten Klüngel zu verlassen." (S. 233) Tatsächlich spielt der Erzähler Döblin in der Entwicklung des modernen deutschen Romans auch deshalb eine Schlüsselrolle, weil er die Vorherrschaft der literarisierten Sprache, wie sie Döblins Zeitgenosse Thomas Mann nochmals bis zur Vollendung beherrscht hat, brach, den Roman als gegen die Wirklichkeit abgeschottetes sprachliches Gebilde nicht nur inhaltlich öffnete, sondern auch formal durchlässig machte für sprachliche Ausdrucksformen, die aus der zeitgenössischen Wirklichkeit stammten und nicht aus dem abgeschlossenen Kanon einer literarischen, von den Bildungsprivilegien einer bürgerlichen Schicht getragenen Tradition. 13
Ekkehard Kaemmerling: «Die filmische Schreibweise», in: «Materialien zu Alfred Döblin 'Berlin Alexanderplatz'» (Anm. 10), S. 185-198, Zitat S. 185.
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Anm. 8, S. 232.
Es ist so konsequent, daß nicht Thomas Mann, sondern Alfred Döblin zum literarischen Wegweiser einer ganzen Generation von nachgeborenen Schriftstellern geworden ist, angefangen bei Wolfgang Koeppen bis hin zu Uwe Johnson und Günter Grass. Es ist aufschlußreich, daß der bedeutende Romancier Hans Erich Nossack diese sprachliche Wasserscheide in der deutschen Literatur ganz analog
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Läßt sich nun diese hier dokumentierte historische Beispielreihe in die Gegenwart verlängern und tendenziell auf das jüngste Medium, das Fernsehen, beziehen? Aber was wären die Argumente, die eine solche hypothetische Konstruktion stützen? Vollzieht sich im Fernsehen so etwas wie die Vergesellschaftung der literarischen Kultur mit dem Blick auf die zahlreichen Literaturverfilmungen? Oder ist es nicht viel eher ein Vorgang, den man als Kolonisierung 14 der Literatur durchs Fernsehen bezeichnen muß? Die Analogie läßt sich in ihren Konsequenzen so ausspinnen, daß viele Klagen von Autoren über die Ausbeutung der Literatur durch das neue Medium darin ihren Platz finden könnten. Die Literatur ist vielfach nur ein Waren-Musterlager für die Programm-Macher des Fernsehens. Man ist unermüdlich auf der Suche nach neuen Stoffen. Man plündert das literarische Erbe. Setzt man für Literatur und Fernsehen die konkrete Beziehung Autor und Fernsehanstalt ein, werden die Belastungen dieses Verhältnisses noch deutlicher. Aus dem Schriftsteller wird häufig der Textzulieferer. Sein Manuskript stellt im Höchstfall eine Arbeitsvorlage dar. Im (durch viele Vermittlungsstationen gefilterten) Ergebnis erkennt sich der Autor, das schwächste und am wenigsten durch Bürokratie gepanzerte Glied in der Produktionskette, zum Teil nicht mehr wieder, wie ihn auch, den permanenten Einzelgänger, die zum Verwaltungslabyrinth aufgeblähte Institution Fernsehanstalt abstößt: "Der Heimarbeiter, das graue Haustier, tritt ein in jene Kulturpaläste des Fernsehens, Anstalten des Öffentlichen Rechts genannt. [...] Das Studio, auf Hochtouren laufend, ist für den Schriftsteller nichts als eine perfekte Zwangsneurose, die blüht und blitzt. [...] Es ist ungeheuer langweilig für einen Schriftsteller, was sich hier im Studio abspielt. Eine endlose Kette von Banalitäten, dieses Puzzlespiel der Technik, dieser Sisyphuskampf mit den Geräten." 15 Aber entscheidender ist wohl, daß das Selbstverständnis des Autors unterminiert wird, daß die ihm traditionell zugeschriebene Rolle im Kulturbetrieb und die damit verbundenen Privilegien keinen Bestand mehr haben. Das liest sich mit den Worten eines Fernseh-Managers wie Gerhard Prager 1 6 so: beschrieben hat: "Es gibt nämlich zwei Arten Deutsch zu schreiben. Die eine möchte ich das humanistische Deutsch nennen. Es klingt in der Satzbildung wie aus dem Lateinischen übersetzt [...] Es handelt sich um eine hochkultivierte Schriftsprache [...] Und dann gibt es zumindest seit Luther und dann wieder im Sturm und Drang, bei Büchner, bei Wedekind und anderen ein zweites Deutsch, das jeder von uns im Alltag benutzen kann, ohne aufzufallen. Ein nicht minder einwandfreies Deutsch, also keineswegs naturalistischer Jargon. Ein Sprechdeutsch also. Unverschachtelte, sachliche Sätze, deren Poesie nicht in der Wortwahl liegt, sondern in der Spannung zu der Situation, in der sie gesprochen werden." (Zitiert nach einem noch teilweise unveröffentlichten Werkstattgespräch mit Nossack. Teile davon liegen vor in meinem Buch «Gespräche über den Roman. Formbestimmungen und Analysen», Frankfurt a.M. 1976, S. 369-399.) 14
Vgl. Heiner Müllers Feststellung: "Und da die Kolonisierung des Theaters durch das Fernsehen hier viel weiter fortgeschritten ist als in der DDR, kann man die meisten Stücke, die hier geschrieben werden, auch ohne Gesichtsverlust sofort im Fernsehen machen oder sogar verfilmen [...]" (H.M., «Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche», Frankfurt a.M. 1986, S. 108/9)
15
Horst Krüger (Anm. 3), S. 63 u. 65.
16 «Das mühsame Verhältnis des Autors zum Fernsehen. Der Fernsehautor aus der Sicht seiner Auftraggeber», in: «Fernsehen in Deutschland. Macht und Ohnmacht der Autoren», hg.v. Christian Lon-
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"Im Zeichen einer deutlichen Entliterarisierung beginnt sich folgerichtig das klassische, bislang ziemlich homogene Berufsbild des Schriftstellers aufzulösen.[...] Sie stempelt den poetischen Schreiber zu einer anachronistischen Figur und sein gewissenhaftes Drehbuch mit linker und rechter Seite zu einer Partitur, die den modernen Instrumentalisten immer öfter vom Notenpult rutscht. (S. 105) Der Zynismus, der sich hinter dieser Bestandsaufnahme verbirgt, zeigt sich unverhüllt in dem Wunschbild eines künftigen fernsehgerechten Autors: "Das Fernsehen von heute und morgen braucht zur Aufdeckung der Wirklichkeit und manchmal auch zur Verhüllung der Wahrheit eine besondere Gattung von Autoren: spezialisierte, medienstrategisch geschulte Schnellschreiber. Da mag der Geschichtenerzähler sehen, wo er bleibe. Wer weint um Torquato Tasso?" (S. 106) In einer solchen Argumentationsweise erscheint die Entliterarisierung wie ein Naturgesetz. Der Autor, der mit den Texten ja auch die Inhalte liefert, wird zur Funktion des Apparats gemacht. Anpassung um jeden Preis ist die Devise. Es handelt sich buchstäblich um eine betriebsblinde Perspektive, da sie über die bürokratisch aufgeblähte Institution Fernsehanstalt nicht mehr hinausblickt und das reibungslose Funktionieren dieser Apparatur zum obersten Kalkül erhebt. Der Autor, dessen ideelles Privileg (äußere Umstände des Geldverdienenmüssens und der wirtschaftlichen Fürsorgepflicht für seine Angehörigen einmal abgerechnet) ja gerade darin besteht, daß er in Zeiten der sich immer mehr verästelnden Arbeitsteilung mit seiner Arbeit identisch ist, ja sich seiner Identität in seiner schriftstellerischen Arbeit versichert, soll gerade dieses Privileg aufgeben, sich zu einer entfremdeten Autorenarbeit bekennen. Gibt er sich damit nicht selbst auf? Wenn also Grund besteht, die Position der Literatur und damit auch die Rolle des Autors zu verteidigen, so nicht aus einer zementierten Hierarchie kultureller Wertzuordnungen heraus, sondern im Rekurs auf die gesellschaftliche Funktion des Autors, die ihm historisch im Projekt der Aufklärung zukam: Advokat und Avantgarde der Emanzipation zu sein, die utopische Dimension und das heißt: das auf die Selbstverwirklichung des einzelnen gerichtete, sich nicht verdinglichende Erkenntnisstreben in seinen literarischen Texten so ästhetisch zu strukturieren, daß diese Utopie eine Stimme und eine Wirklichkeit erhielt, die als Gegenbild zur pragmatischen Wirklichkeit verstanden werden konnte. Auf diesem Hintergrund betrachtet, ist es nicht pures Relikt wahnhafter Selbstüberschätzung der Schriftsteller, wenn, wie die Meinungserkunder Karla Fohrbeck und Andreas Wiesand in ihrem «Autorenreport» 17 herausgefunden haben, das Selbstverständnis der Autoren unterschwellig noch auf diesen golius, Mainz 1973, S. 101-106. Prager hat bezeichnenderweise seinen Überlegungen die folgenden Verse aus Goethes «Torquato Tasso» als Motto vorangestellt: "Euch zu gefallen, war mein höchster Wunsch,/Euch zu ergötzen, war mein letzter Zweck." (S. 101) Die von ihm damit zitierte Traditionsfolie der Autorenrolle verkürzt die Geschichte entscheidend, indem nur die höfische Position zitiert wird, aber nicht die für den modernen Autor viel entscheidendere im Kontext der bürgerlichen Aufklärung. 17
Reinbek 1972.
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Aufklärungszusammenhang verweist, der, von Fohrbeck und Wiesand schon nicht mehr reflektiert, gleichsam als Größenwahn-Symptom der Autoren registriert wird: Der klassische-triviale Totalanspruch des 'Dichters', wie er in diesen antiquierten Zitaten und Berichten munter überlebt, das Bild eines Menschen, der seine moralischen (und sprachlichen) Fähigkeiten so vollkommen ausgebildet hat, daß er den anderen den (richtigen) Weg weisen, ihnen helfen, sie trösten kann verbindet sich zwar vorwiegend mit dem bereits gestorbenen Poeten. In etwas gemäßigter, aber ähnlich diffuser und wenig konkreter Form pflegen heutige Autoren (auch wenn sie keine Dichter sind) ihre tradierte Rolle als 'Gewissen der Nation'." (S. 355) Ein Autor wie Heinrich Boll hat unter dieser moralischen Repräsentanz, die ihm die Öffentlichkeit aufdrängte, eher gelitten und hat sie jedoch zugleich in seinem vielfältigen couragierten Engagement gegen politischen Anpassungs- und Gruppenkonsens so wahrgenommen, daß die historische Aufklärungsdimension noch deutlich erkennbar blieb. Über den Autor Grass ließe sich ähnliches sagen. Wäre hier nicht dieser historische Kontext vorhanden, konstituierte nicht der Autor mit seiner Haltung und seinem Werk emanzipatorische bürgerliche Öffentlichkeit, würde sich diese Wirkung gar nicht einstellen. Sie ließe sich schon gar nicht vom Autor selbst in narzißtischer Selbstüberschätzung von der Gesellschaft einfordern. Gewiß, diese Rolle ist vom Autor immer schwieriger wahrzunehmen. Mit dem Historischwerden seiner vertrauten Medien - und das sind die Printmedien, sei es nun Zeitung, Zeitschrift oder Buch -, mit der geringer werdenden gesellschaftlichen Repräsentanz einer Lese- und Buchkultur in der gegenwärtigen Gesellschaft sieht er nicht nur sein Selbstverständnis, sondern auch seine bisherige gleichsam autonome Produktionssituation (die Produktionssituation eines Heimarbeiters) in Frage gestellt. Der Kritiker Rupert Neudeck 18 hat zu Recht hervorgehoben: "Im Fernsehen wird viel entfremdete AutorenArbeit geleistet:" (S. 1139), aber zugleich konstatiert: "Inzwischen wird das Medium auch von den Gebildeten unter seinen Verächtern höher geschätzt; insgesamt sind ja die elektronischen Medien für viele Schriftsteller die wichtigsten Auftraggeber geworden." (S. 1139) Tatsächlich ist es so, daß die Schriftsteller sich eine kulturkonservative Haltung, die die elektronischen Medien und die von ihnen verbreiteten fiktionalen Programmformen als kultur- und literaturfremd brandmarkt, viel weniger erlauben können als diejenigen, die, in tradierten Positionen des Kulturbetriebs operierend, überregionalen Zeitungsfeuilletons beispielsweise19, Vermittlerfunktionen für die Öffentlichkeit 18
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«Fernsehfilme lesen», in: «Merkur» 33/11 (1979), S. 1139-1145.
Kennzeichnend dafür ist noch immer der miserable Status der Fernsehkritik. Während Theaterinszenierungen in München, Berlin, Hamburg, ohnehin nur regional wahrzunehmen und von einer zahlenmäßig sehr kleinen Besucherschicht frequentiert, in den großen Feuilletons breit rezensiert werden, ist die Fernsehkritik auf kurze Glossen beschränkt, in denen kaum Informationen, vielmehr in der Regel die Spontanurteile junger Zeitungsschreiber dominieren. Vgl. dazu auch Karl Prümm «Tendenz: allgemein lustlos... Zur gegenwärtigen Situation der Literaturkritik», in: «BertelsmannBriefe» H. 99 (Juli 1979), S. 10-16. Bezeichnend ist auch, daß ein Schriftsteller, Walter Jens, über mehrere Jahrzehnte in seiner Momos-Kolumne in der « Z e i t » den Versuch machte, Fernseh-Kritik so zu betreiben: "...den Leser zu einer kritischen Haltung gegenüber dem technisch pro-
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wahrnehmen sollen, aber im Grunde nur ihr überholtes Kulturverständnis vermarkten.
Angesichts
des
neuen
Mediums
Rundfunk
hatte
Döblin
seinen
Schriftstellerkollegen warnend vorgehalten: "denn es besteht bei einer Gleichgültigkeit der Schriftsteller gegen den Rundfunk die Gefahr, daß es mit dem Rundfunk so geht wie mit dem Film, der ja eigentlich völlig abgerutscht ist zur Industrie und zu deren Angestellten." 20 Tatsächlich ist es so, daß sich die Schriftsteller aus pragmatischen Gründen mit dem neuen Medium zu arrangieren beginnen, während die Angestellten des noch konservativ bestimmten Kulturbetriebs indigniert über das neue Medium hinwegsehen oder ihm per se Kulturfeindlichkeit attestieren. Diese Haltung hat fatale Folgen, da auch die Schriftsteller, die sich mit dem neuen Medium einlassen, gleichsam als Deserteure angesehen werden, die ihren kulturellen Auftrag verraten. Selbst für den auf Konzilianz bedachten Horst Krüger scheint hier die Situation klar: "Es wird immer wieder junge Autoren geben, die man für das Fernsehen gewinnen kann - eine Weile wenigstens [...] sobald dieser junge Autor sich etwas gefunden, auch etwas gesettelt hat, ökonomisch, wird er, wenn er wirklich ein Schriftsteller ist, unweigerlich desertieren vom Fernsehen. Er wird zu den primären Quellen, zu den klassischen Ausdrucksformen der Literatur überlauten. Er wird zum Roman, zur Erzählung, zum Gedicht drängen. Der Einzige und sein Eigentum: der Schriftsteller und die Sprache werden sich immer wieder suchen, finden, vereinen wollen. Das ist das unendlich Anachronistische und Eigensinnige der Schriftsteller-Existenz [...]' Der Schriftsteller, der sich zu dem neuen Medium bekennt, gibt also seine Identität auf, während doch die eigentliche Frage lauten müßte, ob er aus einer geänderten historisch-sozialen Situation heraus im Blick auf sich grundlegend ändernde Distributionsformen kultureller Aktivitäten nicht notwendig diese Identität ändern muß. Die kulturellen Wertnormen, die sich an der Haltung Krügers als Beispiel demonstrieren lassen, sind ja tatsächlich weitverbreitet und werden im Grunde noch von jenen geteilt, die bei den Einschaltquoten der Fernseh-Programme statistisch erfaßt werden. Mit andern Worten: auch die Fernsehkonsumenten, auf ihre kulturelle Wertorientierung hin befragt, bekennen sich zu diesen Normen. In einer demoskopischen Erhebung des kulturellen Verhaltens der Bundesbürger von Mitte der achtziger Jahre 2 2 wird dieses gespaltene Verhalten eindrucksvoll dokumentiert: Für 84,5 % der Bundesbürger
gressivsten (und darum besonders verführerischen) Medium [zu] verleiten [...] an ausgewählten Beispielen Aspekte einer möglichen Fernseh-Dramaturgie zu entwerfen und dabei die Praktikabilität von Gegen-Mustern zu erweisen [...]" (Walter Jens: «Fernsehen - Themen und Tabus. Momos 19631973», München 1973, S. 7) Eine zweite Sammlung von Momos-Rezensionen erschien 1984: «Momos am Bildschirm 1973-1983», München 1984. 20 21
A n m . 8 , S . 230. Anm. 3, S. 64.
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Jürgen Kesting: «Von Goethe reden, aber J.R. sehen. Der Michel und die Musen. Der STERN fragte die Bürger, was sie über Kultur denken, welche Geistesgrößen sie am meisten schätzen und wie sie mit den schönen Künsten im Alltag umgehen», in: «STERN» Nr. 21 v. 17.5.1984, S. 24-28.
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"gehört der Geheime Rat aus Weimar und Olympier der Schulbücher knapp vor Mozart, Bach, Rembrandt, Luther und Volksliedern unbedingt zur Kultur [...] Nur 10,6 von 100 Bundesbürgern glauben hingegen, daß auch das Fernsehen und Video zur Kultur gehören, und das heißgeliebte musikalische Monstrum, der Schlager, wird gar nur von einer echten Minderheit (8,5 Prozent) der Kultur zugeschlagen. Nur in der Freizeit hält man sich nicht an die kulturellen Einsichten, läßt Goethe im Regal und sieht lieber fern und da eher Ohnesorg als Iphigenie." (S. 24) Gut Dreiviertel der zur Verfügung stehenden Freizeit - das trifft mit geringen Abweichungen auf alle Altersgruppen zu - gilt der Lieblingsbeschäftigung, dem Fernsehen. Das Bücherlesen rangiert abgeschlagen auf Platz 8: "Über siebzig Prozent kämen ohne alle Literatur und fast achtzig Prozent ohne Theater aus. Bei der Party, als Freizeitgestaltung höher geschätzt als der Filmbesuch, plaudert man lieber über Film und Fernsehen als über Bücher;" (S. 27) Sicherlich wäre nichts schlimmer, als eine solche statistische Erhebung so auszulegen, daß ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat von einer Lese- zu einer Medienkultur und daß die Schaltstellen der Bewußtseinsindustrie heute buchstäblich in den großen Fernsehanstalten zu finden sind und nicht mehr in den traditionellen Umschlagplätzen (Verlagen, Zeitungen, Zeitschriften, Theatern, Konzertsälen etc.) des Kulturbetriebs. Dann würden diese Ergebnisse unter der Hand in ein Alibi für eine vermeintliche gesellschaftliche Repräsentanz der neuen Medien umgemünzt. Ein solcher Prozeß ist sicherlich schon im Gange und dokumentiert sich in der institutionalisierten Bürokratie von Medieninstanzen, die ihre Apparaturen als Indiz ihrer Wichtigkeit ausgeben und glauben, dadurch hinreichend legitimiert zu sein, die Bedingungen kultureller Arbeit diktieren zu können 23 . Der Anteil der Kultur an diesen neuen Medien ist allerdings völlig diffus, wie auch der Terminus Medienkultur nur noch eine quantifizierende Vokabel darstellt und keinerlei Wertbindung mehr an das verrät, was wir als kulturelles Erbe bezeichnen können. Worauf die Ergebnisse einer solchen Erhebung aufmerksam machen, ist vielmehr eine sich ständig ausweitende Kluft zwischen dem Anteil der Buch- und Lesekultur an den gesellschaftlichen Aktivitäten der Menschen und der die Freizeit der Menschen aufsaugenden, sie zur Passivität des Konsums abrichtenden Unterhaltungsmaschine, als die das Fernsehen für viele dient: "Wer keine Chance auf Bildung hat, füllt Freizeit am liebsten mit Fernsehen und Zeitungslesen, Verwandtenbesuch und Radiohören aus und stellt das Feste-Feiern, Kartenspielen und den Sport deutlich über Kinobesuche, Weiterbildung, Briefeschreiben, Theater- oder Konzertabende oder so anstrengend ak23 Ich verweise nur auf ein kleines, aber bezeichnendes Beispiel, daß der Drehbuchautor und Dramaturg Erich Kröhnke mitteilt: "Ich habe mit den anderen über einen älteren Romandichter von hohem Ansehen unverschämt gegrinst, der uns bei der Verfilmung seines letzten Romans beraten wollte und tief erschrak, als wir ihm bewiesen, daß er die entscheidenden Höhepunktszene zu schreiben unterlassen hatte. Aber die brauchten wir." («Taktlosigkeiten. Vom Umgang mit Leuten, die mehr zu sagen haben», in: «Fernsehen in Deutschland» (Anm. 16), S. 83-97, Zitat S. 85. Diese Arroganz demonstriert auch die (schon erwähnte) Forderung Gerhard Pragers nach dem spezialisierten, medienstrategisch geschulten "Schnellschreiber".
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tive Tätigkeit wie Musizieren und Malen. Höchstens ein Zehntel leistet sich diese aktive Kulturfreizeit." 24 Es käme also primär darauf an, diese Tendenz umzukehren, diese Kluft also nicht noch dadurch auszuweiten, daß beispielsweise die literarische Bildung zur Domäne einer kulturellen Elite erklärt und aggressiv gegen den Zugriff des Fernsehens verteidigt wird (psychologisch einleuchtende Gründe für eine solche Haltung gibt es freilich mehr als genug) und das Fernsehen als Verdummungsapparatur einer ohnehin verblendeten Mehrheit überlassen wird. Literatur und Fernsehen wären einander anzunähern, freilich nicht nur unter dem reinen Informationsaspekt, daß literarische Neuerscheinungen in Kulturmagazinen vorgestellt und Leser dafür geworben werden 2 5 . Daß das Fernsehen hier tatsächlich auch Eigeninitiativen der Literaturförderung entwickeln kann, verdeutlicht der seit 1979 im Zweiten Deutschen Fernsehen existierende «aspekte»-Literaturpreis, der, von einer Jury von zwei Fernseh-Redakteuren und fünf Literaturkritikern vergeben, sich der Förderung junger Autoren verschrieben hat, die mit ihrem ersten gedruckten Buch auf wenig Resonanz im Literaturbetrieb gestoßen sind und denen das Kulturmagazin auf diesem Wege eine literarische Öffentlichkeit schafft 26 . Die Annäherung zwischen Literatur und Fernsehen muß vielmehr in erster Linie im Zeichen eines Medien-Transfers gesehen werden. Gewisse Aufgaben und Funktionen, die der Literatur traditionell zukamen, sind an das Fernsehen abgegeben worden. Diese Aufgaben und Funktionen büßen nicht ihre literarische Substanz ein, nur weil sie nun in einem elektronischen Medium erscheinen. Man könnte genauso gut argumentieren, daß das Medium sich literarisiert, indem es Teilbereiche der Literatur integriert. Der tschechische Romancier Milan Kundera 2 7 hat diesen Medien-Transfer mit dem Blick auf einen auffälligen Funktionswandel, der sich an der Gattung Roman gegenwärtig vollzieht, aufschlußreich beschrieben. Der realistische Roman des 19. Jahrhunderts war auch ein Instrument der Erkenntnisverbreitung und -beschleunigung. Er nahm auf weiten Strecken Informationsaufgaben wahr, indem er - man braucht nur an die enzyklopädisch angelegten Romanreihen eines Balzac oder Zola zu erinnern - sozialhistorische Kompendien der eigenen Zeit schuf, enzyklopädische Panoramen entwarf, in denen die arbeitsteilig aufgesplitterten Teilansichten der Realität nochmals zusammengefaßt
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Resting (Anm. 22). S. 28.
Vgl. dazu den Bericht von Dieter Schwarzenau «Literatur im Fernsehen: Mehr als Annäherungen? Aspekte zum Thema Buch und Fernsehen» (in: «BertelsmannBriefe» H. 99 [Juli 1979], S. 40-43), der am Beispiel des ZDF-Magazins «aspekte» Beispiele für eine solche konkrete verkaufsfördernde Wirkung nennt. Da jeder der Juroren die Möglichkeit hat, semen eigenen Vorschlag in einer der Sendungen vorzustellen, beschränkt sich diese Öffentlichkeit nicht nur auf den späteren Preisträger, sondern umfaßt alle für den Preis nominierten Autoren. Vgl. dazu im einzelnen Thomas Hocke: «Der jungen Literatur eine Chance», in: «Materialien zum Programm. 20 Jahre 'aspekte'. Kulturvermittlung im Fernsehen» (= ZDF Schriftenreihe Heft 33), Mainz 1986, S. 80-84.
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Ich beziehe mich hier auf die hochinteressanten Reflexionen seines Essay-Bandes «Die Kunst des Romans», München 1987.
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wurden. Diese Informationsaufgabe ist weitgehend an die neuen Medien, vor allem das Fernsehen, übergegangen. Der Roman, der heutzutage noch an einer solchen sozialhistorisch ausgerichteten Darstellungssynthese festhält, wird unfreiwillig epigonal, fällt hinter die historisch notwendig gewordenen neuen Darstellungsmöglichkeiten der erzählenden Literatur zurück. Mit den Worten von Kundera: "Es gibt einerseits den Roman, der die historische Dimension der menschlichen Existenz erforscht, und andererseits den Roman, der Illustration einer historischen Situation ist, Beschreibung einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt, in Romanform gefaßte Geschichtsschreibung [...] all das sind Romane, die die Erkenntnis, die nicht romanspezifisch ist, in die Sprache des Romans übertragen. Nun, ich werde immer wiederholen: Die einzige Existenzberechtigung eines Romans besteht darin, zu sagen, was nur der Roman sagen kann." (S. 44) Das bedeutet beispielsweise, die Darstellungsprinzipien des psychologischen Realismus im Roman, der mit festen Normen der Abbildbarkeit operiert (der umfassenden Information über die Romanfigur, der psychologischen Erläuterung der Motivationsstruktur ihres Handelns und der Erläuterung ihrer Geschichte, dem Verschwinden des Autors hinter der realistisch scheinenden Fingiertheit seiner Erzählfiktionen), als historisch überlebte Erzählweise aufzugeben bzw. sie abzugeben an das Medium, das durch die Verbindung von Sprache und Bild die Informationsverdichtung perfektioniert hat. Zu dieser perfekten Fingiertheit der Informationen im Fernsehen gehört ja auch, daß die Informationen den einzelnen nicht nur über den Verstand, sondern auch über die Gefühle erreichen, da die Suggestivkraft der Bilder die Informationen weit stärker emotionalisiert, als es einem Buchtext je möglich wäre. Die Möglichkeiten der gegenwärtigen Literatur, des gegenwärtigen Romans liegen woanders: "Die einzige Existenzberechtigung eines Romans besteht darin, daß er einen unbekannten Aspekt des Lebens entdeckt. Und nicht nur das allein, sondern einen Aspekt, den überhaupt nur der Roman entdecken kann. Ein Roman, der nicht einen bislang unbekannten Bereich der Existenz entdeckt, ist unmoralisch. Erkenntnis ist die einzige Moral des Romans." 28 Der solcherart kompliziert gewordene avantgardistische Roman, von Joyce bis zu Beckett, verweigert sich daher ebenso dem Zugriff der Verfilmung, wie es andererseits einleuchtet, daß das Fernsehen mit Vorliebe die realistische Literatur des 19. Jahrhunderts oder des frühen 20. Jahrhunderts zu adaptieren unternommen hat. Von daher wird ein Erzähler wie Lion Feuchtwanger, der die realistische Schreibweise anachronistisch zur Routine perfektioniert hat, in den Fernseh-Verfilmungen seiner Romane «Exil» und «Geschwister Oppermann» 29 sozusagen rehabilitiert, während er als Romancier hoffnungslos antiquiert wirkt und lediglich durch seine politische und moralische Parteinahme Respekt verdient.
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Kundera, S. 13.
29 Vgl. dazu die Dokumentation «Fernsehfilm 'Geschwister Oppermann' von Egon Monk nach dem Roman von Lion Feuchtwanger», Frankfurt a.M. 1982.
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Es handelt sich hier nicht um eine Konkurrenzsituation von Roman und Fernsehen, um einen Prozeß, der dadurch charakterisiert scheint, daß das Fernsehen Gattungsgelände der Literatur okkupiert, vielmehr hat dieser Prozeß, dessen Nutznießer sicherlich das Fernsehen zum Teil geworden ist, historische Wurzeln, die mit dem Medium selbst gar nichts zu tun haben oder nur insoweit, als das Medium selbst Teil dieser historischen Situation ist. Diese historische Situation steht im Zeichen einer unüberschaubar werdenden Informationsaufsplitterung, die den Roman, wenn er seine Erkenntnisaufgabe ernst nimmt, zu immer komplizierteren und sich dem naiven Leserzugang verwehrenden Erzählstrukturen drängt. Die Philosophin Hannah Arendt 30 hat diesen Umbruch einmal so umschrieben: "Gleichsam mit einem Schlage ist die bisher verständlichste, dem großen Publikum zugänglichste Kunstform zu der schwierigsten und esoterischsten geworden." (S. 147) Man könnte das in der gegenwärtigen Situation durchaus am Beispiel eines die vertrauten epischen Rezeptionsmuster rigoros außer Kraft setzenden Romans wie «Der junge Mann» 31 von Botho Strauß verdeutlichen, der das Realismusschema des psychologischen Romans, das das Fernsehen perpetuiert, mit am weitesten hinter sich gelassen hat32. In ähnlicher Weise läßt sich in Heiner Müllers Stücken seit «Hamletmaschine» (1977) ein rigoroser Abschied von den vertrauten dramaturgischen Konventionen des Theaters erkennen: in Textformen, die sich in den Druckvorlagen kaum mehr als Theaterstücke zu erkennen geben, sondern als Textmaterialsegmente, die in der theatralischen Umsetzung in eine Form eingeschmolzen werden müssen: "ein Drama, das als Prosagedicht konzipiert ist. changiert zwischen dialogischen Szenen, Pantomime und monologischer Prosa."3 Wenn der Roman hingegen mit den modernen Informationsmedien noch zu konkurrieren versucht, wie es beispielsweise Grass in seinem Buch «Die Rättin» 34 versucht hat, das in der Sprache des fingierten Berichts alle Krisensymptome der aktuellen Wirklichkeit panoramatisch zusammenzuzwingen versucht und gerade deshalb bei einer abstrakten Kompilation landet, ohne poetische Versinnlichung, ohne poetischen Erkenntniszuwachs, kann ein solches Unternehmen nur mißlingen. Das läßt sich noch viel eindringlicher an einem andern Buch von Grass belegen, das unfreiwillig bezeugt, daß der Autor seine darstellerischen Mittel angesichts des zu 30 31
«Hermann Broch und der moderne Roman», in: «Der Monat» 1/8,9 (1947), S. 147-151. München 1984.
32 Vgl. Henriette Herwig: «'Romantischer ReflexionsRoman' oder erzählerisches Labyrinth?», in: «Strauss lesen», hg.v. Michael Radix, München 1987, S. 267-282. 33 Genia Schulz: «Heiner Müller», Stuttgart 1980, S. 149. Interessanterweise sieht Müller diese Radikalität in den Theaterstücken von Strauß keineswegs. Er wirft ihm vor: "Botho Strauß ist ein Fotograf. Er fotografiert die Bundesrepublik, das ist in Ordnung. Mehr sehe ich nicht. Man kann sich darüber streiten, ob das Dramatik ist." (Anm. 14, S. 148) 3 4 Darmstadt 1986.
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erfassenden Gegenstands, des überbordenden Elends in einer Megastadt der Dritten Welt, selbst in Zweifel zieht. Dieses Buch «Zunge zeigen» 35 ist auf der einen Seite Informationsrecherche, ein tagebuchartiger Bericht über Grass' mehrmonatigen Kalkutta-Aufenthalt, andererseits Versuch, die in der Beschreibung nicht erreichte Versinnlichung durch die zahlreichen, dem Buch beigefügten Zeichnungen über das Großstadtelend gleichsam auf einem Ersatzweg dennoch zu erreichen, und zum dritten ein langes erzählerisches Gedicht, das eine poetische Umschmelzung des disparaten Informationskonglomerats intendiert. Als das Buch im September 1988 in einer Sendung des «Bücheljournals» 36 vorgestellt wurde, demonstrierte man das Großstadtelend Kalkuttas in einer Reihe von Filmsequenzen, die die alltägliche Misere dieser Stadt viel einprägsamer und emotional aufwühlender dokumentierten als die entsprechenden abstrakten Beschreibungspartien von Grass. Grass' beschreibende Darstellung erweist sich dem Medium Film gegenüber hoffnungslos unterlegen37. Dieser Medien-Transfer, den ich an einigen Beispielen zu erläutern versucht habe, zielt also auf strukturelle Veränderungen im Prozeß der Abbildbarkeit von Wirklichkeit. Da, wo die Literatur traditionell Informationsaufgaben - und das ist die realistisch beschreibende, die gleichsam gegenständlich abbildende Literatur - wahrnahm, sind sie an die neuen elektronischen Medien übergegangen. Die Literatur hat ihre Existenzberechtigung keineswegs eingebüßt, nur ihr Aktionsfeld ist schmaler geworden. Sie konzentriert ihre Erkenntnismöglichkeiten auf die Bereiche, die sich dem gegenständlichen Zugriff versagen. Die Literatur ist damit zugleich komplizierter geworden. Das Lesevergnügen schrumpft, und die Erkenntnisanstrengung wächst. Mit dem Blick auf die Konkurrenz von Literatur und Fernsehen hat das Adorno einmal so sarkastisch formuliert: "Über Beckett triumphiert die Christel von der Post." 38 Walter Benjamin hat in seinem dem epischen Werk des russischen Schriftstellers Nikolai Lesskow geltenden Essay «Der Erzähler» 39 diesen historischen Wandlungsprozeß unter anderen Aspekten beschrieben. Er sieht ihn bereits vorbereitet in der Ablösung der Erzählung durch den Roman, verursacht auch hier durch die Einführung eines neuen Mediums, den Buchdruck:
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3B 37
Darmstadt 1988. Es handelt sich um die im ARD-Programm ausgestrahlte Sendung vom 6.9.88.
Der Kritiker Peter von Becker hat in seiner Besprechung des Buches «Die Rache der Göttin Kali» (in: «Der Spiegel» 42/Nr. 34 v. 22.8.1988, S. 154-162) mit guten Gründen argumentiert: "Doch ist das ein fahrig vorbeihuschendes Erwähnen von Orten und Namen, die einen mit Kalkuttas Geschichte oder Topographie unvertrauten Leser (also fast allen Lesern) nichts bedeuten. Nur wenige Schilderungen, die über drei, vier Sätze hinausgehen - [...] Sonst notiert Grass eher Termine denn Erlebnisse, häuft dabei teils unsinnige Details zusammen: ein Diarium als Talkover, mit angestrengten Kalauern [...] Ein Notizblock als Literatur ausgegeben." (S. 156 u. 159) 38 «Kann das Publikum wollen?», in: «Vierzehn Mutmaßungen über das Fernsehen», hg.v. Anne Rose Katz, München 1963, S. 55-60, Zitat S. 57. 3 9 Zitiert hier nach der Ausgabe «Schriften» Bd. II, Frankfurt a.M. 1955, S. 229-258.
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"Was den Roman von der Erzählung (und vom Epischen im engeren Sinne) trennt, ist sein wesentliches Angewiesensein auf das Buch. Die Ausbreitung des Romans wird erst mit Erfindung der Buchdruckerkunst möglich. Das mündlich Tradierbare, das Gut der Epik, ist von anderer Beschaffenheit als das, was den Bestand des Romans ausmacht." (S. 233) Für die Epik ist die mündliche Überlieferung konstitutiv. Erzählt wird aus dem Reservoir der eigenen Erfahrung, und zwar so, daß sie für die Zuhörer nachvollziehbar ist. Man könnte auch sagen, daß sich die Wirklichkeit im Filter dieser persönlichen Erfahrung vermitteln und veranschaulichen läßt: "Der Erzähler nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung; aus der eigenen oder berichteten. Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören. Der Romancier hat sich abgeschieden. Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag [...]" (S. 234) Das elektronische Medium - Benjamin denkt hier in erster Linie an die Presse, aber Rundfunk und Fernsehen schließen sich konsequent daran an - hat die Erfahrung, die im Roman bereits durch Psychologisierung und Soziologisierung, durch die Anbindung an die Norm der realistischen Wahrscheinlichkeit vergegenständlicht worden ist, vollends aus dem Zugriff des Subjekts gelöst und abstrakt werden lassen: "Und es zeigt sich, daß sie der Erzählung nicht weniger fremd, aber viel bedrohlicher als der Roman gegenübertritt, den sie übrigens ihrerseits einer Krise zuführt. Diese neue Form der Mitteilung ist die Information. [...] Die Information aber macht den Anspruch auf prompte Nachprüfbarkeit. [...] es ist für die Information unerläßlich, daß sie plausibel klingt. Dadurch erweist sie sich mit dem Geist der Erzählung unvereinbar. Wenn die Kunst des Erzählens selten geworden ist, so hat die Verbreitung der Information einen entscheidenden Anteil an diesem Sachverhalt." (S. 235) Das läßt sich ja durchaus so verstehen, daß die Möglichkeiten des realistischen Fingierens von mitgeteilter Wirklichkeit in den neuen Medien unvergleichlich zugenommen haben 4 0 und so den Roman - zumindest in dieser Hinsicht - überrunden. Wenn nicht alles täuscht, reflektiert Benjamin hier bereits Zusammenhänge, die von einer anderen Basis aus auch Milan Kundera thematisiert. Auf den gleichen Sachverhalt macht konzeptionell auch Marshall McLuhan 41 aufmerksam, wenn er die strukturelle Differenz zwischen Buch und Film so beschreibt: "Von anderen Medien aus, wie dem Buchdruck, betrachtet, besitzt der Film das Vermögen, eine große Menge von Informationen zu speichern und zu vermitteln. In einem Augenblick stellt er eine Szene mit Gestalten dar, wozu mehrere Seiten Prosa nötig wären. Im nächsten Augenblick schon kann er diese detailreiche Information wiederholen. Der Schriftsteller aber hat keine Möglichkeit, dem Leser eine Menge von Einzelheiten en bloc oder als Gestalt vor Augen zu Der Publizist Eugen Kogon hat das in seinem Beitrag «Wo ist das Fernsehen unschlagbar?» (in: Anm. 38, S. 121-127) unter technisch-formalem Aspekt präzisiert: "Die lebendige Bild-Wort-Darstellung macht nach Regeln, die nicht die gleichen sind wie beim Film, das Wesen des Fernsehens aus. Sie vollzieht sich, sofern sie 'stilgerecht' ist, in der Weise, daß die Bild- und Wort-Aussage einander je spezifisch ergänzen. [...] Eine derartige Ergänzung erfolgt, unter der Voraussetzung, daß es im Fernsehen richtig geschieht, bei keinem anderen Darbietungsmedium in derselben und in einer gleich intensiven Weise." (S. 124) «Die magischen Kanäle. Understanding Media», Düsseldorf 1970.
halten. Wie die Fotografie den Maler zur abstrakten, plastischen Kunst drängte, festigte der Film den Schriftsteller in seiner Sprachökonomie und seinem Tiefensymbolismus, wo der Film nicht mit ihm rivalisieren kann." (S. 314) Ich sehe durchaus die Gefahr, daß man den Sachverhalt, um dessen Erklärung es geht, in seiner historischen Konkretheit verfehlen könnte, wenn m a n Erklärungsgründe, die aus so unterschiedlichen, ja disparaten Positionen stammen, solcherart egalisiert und in einem Punkt zusammenlaufen sieht. Man könnte jedoch auch ganz umgekehrt argumentieren: Wenn der zur Erklärung anstehende Sachverhalt aus so unterschiedlichen Perspektiven jeweils ähnlich gesehen wird, spricht alles dafür, daß das zugrundegelegte Erklärungsmodell Plausibilität besitzt.
II. Nun hat das Medium Fernsehen, so relativ jung es sein mag, nicht nur auf Grund der suggestiven Wirkung, mit der es die kulturellen Gewohnheiten der Zuschauer verändert, breite Spuren hinterlassen, sondern ist auch in einen solchen dichten Kontext von widersprüchlichen Wertungen eingelagert, daß jeder Ansatz einer Theorie bereits Teil einer Kontroverse ist. Die dabei am häufigsten - nicht zuletzt unter Vertretern des traditionellen Kulturbetriebs - vorgetragene Position sieht das Medium als gigantische Nivellierungsmaschine, die alles unter sich begräbt, was in Jahrhunderten kultureller Entwicklung hervorgebracht wurde, und die Menschen in den Stand des Analphabetentums zurückversetzt: "Das Leben ist sehr menschenfeindlich geworden, das Fernsehen zum Beispiel ist eine Geißel. Es trennt die Menschen voneinander, hindert sie, miteinander zu sprechen, hindert Paare einander zu lieben, und die Kinder, mit ihren Eltern zu reden. Ich halte das für eine Katastrophe, für eines der schlimmsten Übel der Erde.'" 42 Enzensberger 4 3 hat sich mit solcher affektgeladenen Medienfeindschaft am Beispiel der Neuen Linken auseinandergesetzt. Sein Begründungsversuch läßt sich auch auf jene medienkritischen Haltungen ausweiten, denen ganz andere Wertnormen zugrunde liegen: "Diese Widerstände und Ängste werden durch eine Reihe von kulturellen Faktoren verstärkt, die zum größten Teil unbewußt wirken, und die aus der Sozialgeschichte der heutigen linken Bewegungen, nämlich vor ihrem bürgerlichen Klassenhintergrund zu erklären sind. Oft scheint es nämlich gerade an ihren progressiven Möglichkeiten zu liegen, daß die Medien als bedrohliche Übermacht erfahren werden: daran, daß sie die bürgerliche Kultur und damit die Privilegien der bürgerlichen Intelligenz zum ersten Med von Grund auf in Frage stellen, und zwar weit radikaler als jeder Selbstzweifel, den diese Schicht vorbringen kann. In der Medien-Feindschaft der Neuen Linken scheinen alte bür- ' gerliche Ängste wie die vor dem 'Massenmenschen' und ebenso alte bürgerliche Sehnsüchte nach vorindustriellen Zuständen in progressiver Verkleidung wiederzukehren [...] Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär.[...f Ten-
So die französische Autorin Sagan in einem Gespräch «Ich muß nicht lügen, nicht so tun, als ob», in: «Der Spiegel» 42/Nr. 37 v. 12.9.88, S. 183-196, Zitat S. 193. Diesem Bekenntnis ließen sich unzählige andere an die Seite stellen, die in der Tendenz übereinstimmen. «Baukasten zu einer Theorie der Medien», in: «Kursbuch» 20 (März 1970), S. 159-186.
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denziell heben die neuen Medien alle Bildungsprivilegien, damit auch das kulturelle Monopol der bürgerlichen Intelligenz auf. Hier liegt einer der Gründe für das Ressentiment vermeintlicher Eliten gegen die Bewußtseins-Industrie." (S. 164 u. 167) Sieht man einmal von McLuhan ab, dem Enzensberger zwar eine Theorie testiert, der "alle analytischen Kategorien zum Verständnis gesellschaftlicher Prozesse fehlen" (S. 177), dem er aber andererseits zugesteht: "Von der Produktivkraft der neuen Medien hat er jedenfalls im kleinen Finger mehr verspürt als alle ideologischen Kommissionen der KPdSU in ihren endlosen Beschlüssen und Richtlinien." (S. 177), so fällt es schwer, Theoretiker ausfindig zu machen, die jenseits einer apologetischen Position (wie sie für beruflich mit den Medien verbundene Betrachter gilt) die Funktion vor allem des Mediums Fernsehen positiv beschreiben. Das gilt durchaus auch mit dem Blick auf die Fernseh-Praxis in den USA, wo die Kommerzialisierung von Anfang an die Entwicklung bestimmte und eine von zahllosen, jeweils mit Werbung finanzierten Programmangeboten überschwemmte Alltagsrealität ein gespenstisches Aussehen angenommen hat: "99% aller Familien in diesem Lande [den USA] besitzen wenigstens ein Fernsehgerät. An einem durchschnittlichen Abend sehen mehr als 80 Millionen Leute gleichzeitig fern. 30 Millionen von ihnen sehen dabei dasselbe Programm. In einem Durchschnittshaushalt ist das Gerät sechs Stunden pro Tag in Betrieb. Der durchschnittliche Amerikaner sieht pro Tag vier Stunden fern. Und rechnet man 8 Stunden für Schlaf und nochmals 8 Stunden für Arbeit ab, verbringt der erwachsene Amerikaner ungefähr die Hälfte seiner freien Zeit vor dem Bildschirm [...] Amerika ist zur ersten Kultur geworden, die vermittelte, sekundäre Erfahrungen gegen direkte Erfahrungen der Wirklichkeit eingetauscht hat."44 Die vier Argumente, die der ehemals erfolgreiche Werbemanager und Wirtschaftswissenschaftler Mander für die Abschaffung des Fernsehens anführt, sind die folgenden: 1) Das Fernsehen ist ein Instrument der Entfremdung des einzelnen von der Wirklichkeit, indem es eine künstliche Wirklichkeitserfahrung schafft, die gleichsam als Ersatzumgebung den Menschen umschließt, und nicht nur seine Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen Realität und Schein verwirrt, sondern auch nur jene Erfahrungsimpulse elektronisch filtert, die auf dem Bildschirm besonders wirkungsvoll sind. Und das sind nach Mander vor allem die elektronischen Abbilder von Produkten, während fundamentale, auf mentalen und philosophischen Traditionen fundierende Sachverhalte als nicht reproduzierbar absorbiert werden und den einzelnen gar nicht mehr erreichen.
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Jerry Mander: «Four Arguments for the Elimination of Television», New York 1978, S. 24 (Zitat in der Übersetzung des Verf.s).Zu Manders und anderen amerikanischen Publikationen vgl. im einzelnen den Literaturbericht des Verf.s «Ein Medium wird historisch. Beobachtungen und Anmerkungen zu aktuellen amerikanischen TV-Publikationen», in: «Fernsehforschung und Fernsehkritik», hg.v. Helmut Kreuzer (= LiLi Beiheft 11), Göttingen 1980, S. 205-221.
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2) Das Fernsehen ist der gleichgeschalteten, passiv rezipierenden Masse völlig entzogen und kann nur von der kleinen Gruppe jener kontrolliert werden, die die wirtschaftliche Macht in den Händen halten. 3) Das Fernsehen ist ein Instrument der Bewußtseinsgleichschaltung und kann ganz im Sinne der Werbung für Industrieprodukte - von den Leuten, die die Hand am Hebel haben, als manipulatorisches Instrument eingesetzt werden, ohne daß es die Betroffenen selbst merken. 4) Das Fernsehen ist ohne jedes demokratische Potential, da es von der Struktur seiner Technologie her autokratische Machthierarchien ausbildet und das Spektrum der menschlichen Erfahrung auf einige Grundmuster einengt, die von oben her manipulatorisch dirigiert werden können. Manders Kritik 45 - das muß man nochmals hervorheben - ist sicherlich ausgerichtet an der gegenwärtigen amerikanischen Fernseh-Praxis. Doch wenn man bedenkt, daß es in Deutschland seit einigen Jahren ein sich ständig erweiterndes Privatfernsehen gibt, das überwiegend kommerziell ausgerichtet ist 46 , daß durch die Konkurrenzsituation auch die beiden großen Anstalten des Öffentlichen Rechts dazu übergegangen sind, die Einschaltquoten zur wichtigsten Norm der Programmeffektivität zu erheben, lassen sich auch hierzulande Tendenzen erkennen, die in eine analoge Richtung weisen. Beschleunigend wirken sich dabei spezifische Symptome einer eigenen deutschen Misere aus, wenn man an die vom Parteienproporz und wichtigen gesellschaftlichen Gruppen (wie Kirche oder Gewerkschaften) besetzten Gremien denkt, die Programmaufsicht betreiben, in der Praxis ihre eigenen Interessen berücksichtigt sehen wollen und mit dem fatalen Appell zur Ausgewogenheit faktisch verdeckte Zensurfunktionen wahrnehmen. Es scheint interessant, sich auf diesem Hintergrund nochmals die Position zu vergegenwärtigen, die Enzensberger Anfang der siebziger Jahre in seinem Essay «Baukasten zu einer Theorie der Medien» einnahm. Und das nicht nur, weil es sich hier um eines der wenigen Beispiele einer konstruktiven, prognostischen MedienAuseinandersetzung handelt, sondern sicherlich auch im theoretischen Anspruch um einen der ambitioniertesten Versuche. Enzensberger geht aus von einer Feststellung, die inzwischen durch die Expansion der Mikroelektronik noch zusätzlich an Gewicht gewonnen hat: "Mit der Entwicklung der elektronischen Medien ist die Bewußtseins-Industrie zum Schrittmacher der sozio-ökonomischen Entwicklung geworden. Sie infiltriert alle anderen Sektoren der Produktion, übernimmt immer mehr Steue4
® Sie ist weit radikaler und daher auch interessanter als die - in Deutschland sehr populäre - kritische Position des amerikanischen Medien-Kritikers Neil Postman, etwa in seinem Buch «Das Verschwinden der Kindheit», Frankfurt a.M. 1983. 46 Vgl. dazu die «Spiegel»-Recherche «Privatfernsehen: Nur noch Volksverdummung?», in: «Der Spiegel» 33/Nr. 51 v. 17.12.79, S. 39-62.
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rungs- und Kontrollfunktionen und bestimmt den Standard der herrschenden Technologie." (S. 159) Diesem gesellschaftlichen Gewicht einer auf umfassende Vernetzung zielenden Informationsindustrie steht eine Haltung der linken Intelligenz gegenüber, die von Ambivalenz gekennzeichnet ist, "zwischen Angst und Verfallenheit" (S. 160) schwankt. Die - auch unter den linken Intellektuellen - verbreitete Deutung dieser Informationsvernetzung, wie sie in "George Orwells Schreckbild einer monolithischen Bewußtseins-Industrie" (S. 161) eine weite Verbreitung gefunden hat, weist Enzensberger mit pragmatischen Argumenten der Systemtheorie als Mystifikation zurück, da ein Kommunikationsnetz, "sofern es eine gewisse kritische Größe überschreitet, nicht mehr zentral kontrollierbar, sondern nur noch statistisch berechenbar ist." (S. 161) Damit sieht er auch die Begründungsbasis für das entzogen, was den zentralen kritischen Angriffspunkt der linken Intelligenz auf die neuen Medien darstellt: nämlich den Vorwurf der zentral gesteuerten Manipulation. Am Beispiel der Pariser Studentenrevolte von 1968 stellt er anschaulich dar, welch traditioneller Mittel sich die Rebellierenden z.B. bei der Herstellung von Plakaten bedienten: "Der strategisch richtige Zugriff auf die fortgeschrittensten Medien unterblieb: Nicht das Rundfunkhaus, sondern das traditionsreiche Odeon-Theater wurde von den Aufständischen besetzt." (S. 165) Auf der einen Seite sieht er eine puritanische politische Praxis, die den Mediensektor als manipulativ abschreibt, und auf der andern Seite eine subkulturelle private Nutzung dieser Medien im privaten Bereich, ohne daß zwischen beidem noch eine Verbindung hergestellt würde. Enzensberger versucht, dieser Zwiespältigkeit auf die Spur zu kommen, indem er einerseits hinter der Berührungsangst vor diesen Medien unterschwelliges Beharren auf bürgerlichen Bildungsprivilegien erkennt und zum andern gleichsam den Begriff der Manipulation entideologisiert, da er Manipulation als "bewußtes technisches Eingreifen in ein gegebenes Material" (S. 166) deutet, das bei jeglicher Nutzung von Medien unabdingbar sei. Wenn solche Vorbehalte überwunden werden, öffne sich auch der Blick für die revolutionären Möglichkeiten, die mit der Nutzung der neuen Medien verbunden sein könnten: einmal der durchgreifenden Aufhebung aller bürgerlichen Bildungsprivilegien durch die auf Egalisierung ausgerichtete kollektive Struktur der Medien und zum andern durch die Erkenntnis, daß diese Medien Konsumtions- und Produktionsmittel zugleich sind. Er demonstriert das am Beispiel des Telefons, das von jedem Teilnehmer auch aktiv eingesetzt werden könne und eine neue Qualität des Informationsaustausches herbeigeführt habe im Unterschied zum Telegrafen, der administrativ verwaltet werde und der direkten Nutzung entzogen bleibe. Denkt man daran, daß im Zuge der Computervernetzung gerade das Telefon zu einer entscheidenden Informationsschnittstelle geworden ist, so läßt sich das von Enzensberger gewählte Beispiel inzwischen noch zusätzlich unterstreichen.
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Man darf nicht vergessen, daß Enzensbergers Traktat aus der politischen Aufbruchstimmung der achtundsechziger Studentenbewegung geschrieben wurde und daß sein eigentliches Ziel darin besteht, eine Strategie zu skizzieren, die die Neue Linke motiviert, sich die Wirkung der neuen Medien nutzbar zu machen. Von daher ist die Frage nach den Inhalten, die mit der Nutzung der neuen Medien verbunden ist, für ihn auch nicht aus der gegenwärtigen Medienpraxis - und das gilt 1970 genauso wie 1988 - heraus zu beantworten, sondern wäre erst zu stellen nach dem Erreichen des nur politisch umsetzbaren Ziels: nach der Vergesellschaftung der Medien. Diese Frage der Inhalte ist von zentraler Bedeutung. Sie läßt sich auch umschreiben mit der Fragestellung: Was macht diese Medien so attraktiv für die Zuschauer? Ist diese Attraktion - vor allem mit dem Blick auf das Fernsehen - nur das Ergebnis einer kollektiven elektronischen Gehirnwäsche, also Beweis für eine umfassende Verblendung und damit sehr wirkungsvolle Manipulation? Enzensbergers Antwort lautet, zumindest 1970, noch anders: "Die elektronischen Medien verdanken ihre Unwiderstehlichkeit nicht irgendeinem abgefeimten Trick, sondern der elementaren Kraft tiefer gesellschaftlicher Bedürfnisse, die selbst in der heutigen depravierten Verfassung dieser Medien durchschlagen." (S. 171) Diese gegenwärtige depravierte Verfassung des Fernsehens sieht er davon bestimmt, daß der Illusionscharakter vieler Programme in der Schaustellung einer alle Wünsche scheinhaft erfüllenden Konsumwelt gipfelt, die surrogathaft die real vorhandenen Mängel aufzuheben vorgibt: "Doch ist ein Betrug von solchen Dimensionen nur denkbar, wenn er sich auf ein massenhaftes Bedürfnis einläßt. Dieses Bedürfnis, ein utopisches, ist vorhanden. Es ist das Verlangen nach einer neuen Ökologie, nach einer Entgrenzung der Umwelt, nach einer Ästhetik, die sich nicht auf die Sphäre des 'Kunstschönen' beschränkt [...] das Bedürfnis nach neuen Formen der Interaktion, nach Befreiung von Ignoranz und Unmündigkeit, das Bedürfnis nach Selbstbestimmung. 'Überall dabeisein': einer der erfolgreichsten Slogans der Bewußtseins-Industrie." (S. 172) Das Fernsehen weckt diese Bedürfnisse und beutet sie zugleich aus, indem es den Menschen "in illusionären Spielformen" (S. 173) nur Surrogate anbietet. In einem emanzipatorischen Mediengebrauch, dessen einzelne Schritte der Verwirklichung Enzensberger auflistet47, würde sich dieses utopische Energiereservoir der Massen nicht nur in eine neue kulturelle Aktivität, sondern auch in politische Aktivität umsetzen lassen. Das, was im historischen Aufriß der Aufklärung die utopische Dimension der Literatur einmal ausgemacht hat und auch historisch zum Teil umgesetzt worden ist, sieht Enzensberger auf neue Art auf die neuen Medien übergehen. Die Zeit des auratischen literarischen Kunstwerkes als einer bürgerlichen Schöpfung von einzelnen sieht er im Rekurs auf Walter Benjamins zentrale Abhandlung «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» historisch geworden.
47
Vgl. S. 173.
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Die neuen Medien sind an die Stelle von Schrift und Buch getreten, und sie haben vor allem im Zeichen der Informationsbeschleunigung und Informationsperfektionierung "eine der fundamentalsten Kategorien der bisherigen Ästhetik, die der Fiktion, außer Kraft gesetzt [...] Die Opposition Fiktion/Nicht-Fiktion ist ebenso stillgelegt wie die im 19. Jahrhundert beliebte Dialektik von 'Kunst' und 'Leben'." (S. 183) Historisch geworden sind freilich auch die politischen Hoffnungen, von denen Enzensbergers Traktat 1970 motiviert wurde. Inzwischen sind fast zwei Jahrzehnte vergangen. Rein theoretisch betrachtet, hätte die inzwischen durchgesetzte Verbreitung von Video- und Camera-Recordern die Verwandlung des Mediums Fernsehen von einem reinen Konsumtions- in ein Produktionsmittel voranbringen können. Das ist jedoch höchstens in Ansätzen im privaten Bereich geschehen. Viel eingreifender hat sich auf die Medien-Situation das Vordringen der privaten Programm-Anbieter im Sinne einer durchgreifenden Kommerzialisierung ausgewirkt. Das heißt: die - in Enzensbergers Terminologie - kapitalistische Verfiigbarmachung des Mediums Fernsehen ist inzwischen nicht aufgebrochen, sondern eher noch perfektioniert worden. Von daher ist es plausibel, daß Enzensberger achtzehn Jahre später in einer Nachschrift zu seinem «Baukasten zu einer Theorie der Medien» seine damalige Position weitgehend revidiert hat: «Die vollkommene Leere. Das Nullmedium oder Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind» 48 . Dieser Essay ist nicht nur eine sarkastische Auseinandersetzung mit der bisherigen Medienkritik, die er auf vier Varianten hin systematisiert und zu widerlegen versucht, sondern auch ein Widerruf auf die politischen Hoffnungen, von denen seine MedienReflexionen von 1970 noch bestimmt wurden. Enzensberger sieht diese kritischen Standpunkte, die These von der umfassenden Manipulation, die Nachahmungsthese, die Simulationsthese, im Grunde auf die vierte These zulaufen, die er als "Verblödungsthese" (S. 236) apostrophiert: "Die Medien greifen, wenn man ihr [der Verblödungsthese] folgt, nicht nur das Kritik- und Unterscheidungsvermögen, nicht nur die moralische und politische Substanz ihrer Nutzer an, sondern auch ihr Wahrnehmungsvermögen, ja, ihre psychische Identität. Sie produzieren somit, wenn man sie gewähren läßt, einen Neuen Menschen, den man sich, je nach Belieben, als Zombie oder Mutanten vorstellen kann." (S. 236) Enzensberger läßt keine dieser Thesen gelten, sondern sieht hier kulturkonservative Motive am Werk, die ein vertrautes Muster erkennen lassen: "Die Motive, die in ihr [dieser Form der Medienkritik] wiederkehren, lassen sich schon im 18. Jahrhundert nachweisen, in den vergeblichen Warnungen, welche die frühe Kulturkritik vor den Gefahren der Romanlektüre erschallen ließ." (S. 234)
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In: «Der Spiegel» 42/Nr. 20 v. 16.5.1988, S. 234-244.
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Das sind, aus seiner ironischen Perspektive betrachtet, überflüssige Befürchtungen. Enzensberger stellt McLuhans zum Slogan gewordenen berühmten Satz: "The medium is the message." 49 gleichsam auf den Kopf. McLuhan hat damit gemeint, daß neue technische Verfahren der Medien neue Inhalte strukturieren und damit gleichsam kreieren. Man kann das an einfachen Beispielen erläutern. In der Frühphase des deutschen Fernsehens in den fünfziger Jahren wurden beispielsweise Theaterstücke vor laufender Kamera ohne Unterbrechung "live" gespielt. Das Fernsehen war reines Transportmittel einer Theateraufführung. Ein inhaltlich sich auswirkender Unterschied hatte gleichfalls eine technische Voraussetzung. Der panoramatisch offene Blick des Zuschauers im Theater wurde kanalisiert, wenn mit mehreren Kameras gearbeitet wurde und die Kamera jeweils die Funktion des Auges eines Betrachters annahm, der sich auf bestimmte Ausschnitte des Gesamtbildes konzentriert. Erst mit der filmischen Aufzeichnung und der Verwendung der im Film längst etablierten wesentlich komplizierteren Apparaturen ließ sich nachträglich am Schneidetisch auch eine differenziertere quasi filmische Struktur umsetzen: etwa durch Montage-Techniken. Mit der technischen Perfektionierung des wesentlich kostengünstigeren MagnetAufzeichnungs-Verfahrens, das punktuelle Schnittfolgen wesentlich komplizierter macht, hat sich in der Praxis des letzten Jahrzehnts eine Herstellungsweise durchgesetzt, die größere Sequenzen kontinuierlich aufzeichnet. Man könnte sagen, daß erst damit eine fernsehspezifische Produktionsweise entstanden ist, da sowohl die Nähe zum Theater (wie am Anfang) als auch zum Film (wie in der mittleren Phase) nicht mehr konstitutiv ist, sondern mit der elektronischen Kamera auch eine eigene Bildersyntax entwickelt worden ist, die unmittelbar mit inhaltlichen Konsequenzen verbunden ist: beispielsweise kommt zeitliche Kontinuität viel stärker zum Ausdruck, wenn zusammenhängende Sequenzen hintereinander montiert werden. Ich will zur Verdeutlichung noch ein anderes Beispiel heranziehen, das McLuhan bringt: "Um es gegenüber der Filmaufnahme abzugrenzen, bezeichnen viele Regisseure das Fernsehbild als 'detailarm' im Sinne einer Vermittlung von wenigen Details und einem geringen Ausmaß von Information, sehr ähnlich, wie es bei der Karikatur der Fall ist. Eine Fernsehgroßaufnahme vermittelt nur so viel Information wie ein kleiner Ausschnitt einer Halbnahaufnahme auf der Filmleinwand. Aus purer Nichtbeachtung eines so zentralen Aspekts des Fernsehbildes haben Programm-'Inhalts'-Kritiker von der 'brutalen Wirkung des Fernsehens' dahergeredet. Kritiker, die der Zensur das Wort reden, sind bezeichnenderweise halbalphabetisierte, rein vom Buch beeinflußte Individuen, die in der Grammatik der Zeitung, des Radios oder des Films nicht versiert sind, aber alle Medien mit Ausnahme des Buches verdreht und verschroben sehen. [...] Wenn diesen Zensoren einmal klar würde, daß in allen Fällen 'das Medium die Botschaft ist', d.h. die Hauptquelle der Wirkungen, würden sie die Medien selbst zu verbieten versuchen, statt eine Kontrolle des Programm'inhalts' anzustreben. Die verbreitete Annahme dieser Menschen, daß die Programmgestal49
Es handelt sich um die Uberschrift des ersten Kapitels von McLuhans Buch «Die magischen Kanäle» (Anm. 41), S. 13.
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tung oder der Inhalt derjenige Faktor ist, der die Anschauungen und die Handlungsweise beeinflußt, stammt vom Medium des Buches her mit seiner strengen Trennung zwischen Form und Inhalt." (S. 342/3) Das gilt zwar für das Transportmittel des Buches oder besser des Buchdrucks. Aber man müßte zugleich anfügen, daß die Einschätzung der ästhetischen Qualität der Literatur ja auch davon bestimmt ist, eine Einheit von Form und Inhalt manifestiert zu finden. In diesem Sinne könnte man dem Satz McLuhans vom Medium als der Botschaft das Diktum Hofmannsthals gegenüberstellen: Die Gestalt erledigt das Problem. Nur haben die Formen in der Literatur als über Jahrhunderte überlieferte archaische Techniken einen solchen Status von ästhetischen Strategien angenommen, daß wir sie nicht mehr als Techniken sehen, während wir bei einem Medium wie dem Fernsehen auf der einen Seite nur die Techniken sehen und auf der andern Seite die Inhalte, die uns großenteils in anderen ästhetischen Realisationen vertraut sind und die wir von dieser Vertrautheit her zu beurteilen versuchen. Ich erwähne das hier nur mit einiger Ausführlichkeit, um der inzwischen habituell gewordenen Versimpelung der Maxime McLuhans zu widersprechen. Eine solche Versimpelung läßt sich im Ansatz auch bei Enzensberger erkennen, dessen ironische Gedankenspielerei auf den Punkt hinausläuft: "Aus dieser Perspektive erscheint als das eigentlich Neue an den Neuen Medien die Tatsache, daß keiner ihrer Veranstalter jemals auch nur einen Gedanken an irgendwelche Inhalte verschwendet hat. [...] Es werden Milliarden aufgewendet, um Satelliten in den Weltraum zu schießen und ganz Mitteleuropa mit einem Kabelnetz zu durchziehen; eine ganz beispiellose Aufrüstung von 'Kommunikationsmitteln' findet statt, ohne daß irgend jemand die Frage aufwürfe, was da eigentlich mitgeteilt werden soll." (S. 236) Seine Antwort, welche die bisherige Programm-Praxis sarkastisch persifliert, lautet ganz einfach, das Fernsehen versuche sich in letzter Konsequenz jeden Programms zu entledigen und habe erst, wenn dieser Zustand erreicht sei, seine wahre Bestimmung erfüllt: "Neu an den Neuen Medien ist die Tatsache, daß sie auf Programme nicht mehr angewiesen sind. Zu ihrer wahren Bestimmung kommen sie in dem Maß, in dem sie sich dem Zustand des Nullmediums nähern." (S. 238) Die Fernsehmacher seien konsequent auf diesem Weg, auch wenn es noch immer wieder Rückfälle gebe, die sie vor allem "zur Kannibalisierung der Alten Medien" (S. 241) verleiten würden, die - wie beispielsweise die Literatur - rigoros ausgeplündert würden. Aber das Fernsehen als "utopisches Projekt" (S. 244) habe, wenn es denn einmal endgültig zum Nullmedium geworden sei, durchaus eine gesellschaftliche Funktion: "Das Fernsehen wird primär als eine wohldefinierte Methode zur genußreichen Gehirnwäsche eingesetzt; es dient der individuellen Hygiene, der Selbstmeditation. Das Nullmedium ist die einzige universelle und massenhaft verbreitete Form der Psychotherapie." (S. 244)
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Das hat als geistreiche sarkastische Gedankenspielerei durchaus seine kulinarischen Meriten und sticht wohltuend ab von der zähnefletschenden Fernseh-Bilderstürmerei so manchen Kulturkritikers in der Art von Jörg Drews. Aber bezieht man diese Äußerungen Enzensbergers auf seinen hochangesetzten theoretischen Versuch von 1970, über die Operationalisierung des utopischen Potentials in den neuen Medien zu einem neuen, sich auch politisch auswirkenden Kulturbegriff zu gelangen, so läßt sich dieser Text auch als das Dokument einer Revision, als Bekenntnis des Scheiterns lesen und dokumentiert insgesamt die von Ambiguität gezeichnete Haltung der Intellektuellen den neuen Medien gegenüber.
III. Ich habe daher im folgenden nicht den Versuch gemacht, die Materialien und die Ausführungen dazu auf eine hypothetisch ausgezirkelte Theorie zu beziehen. Vielmehr wird versucht, im Sinne einer empirisch angelegten Feldstudie den MedienTransfer von Literatur und Fernsehen an konkreten Beispielen zu beleuchten und von diesen konkreten Beispielen her zu Aufschlüssen zu kommen, die einen Fragenkomplex präzisieren, den ein wichtiger deutscher Erzähler, nämlich Alfred Andersch 50 , schon vor Jahren so formuliert hat: "Die Dramaturgie von Film und Fernsehspiel ist die Dramaturgie einer visuellen Form der Literatur, genau wie das Theater. Das wissenschaftliche, das ästhetische Kernproblem einer solchen Schule ist das Problem der Ausformung eines spezifischen Zweiges von Literatur." (S. 33) Es geht also um die Präzisierung dieses spezifischen Zweiges von Literatur, den wir als visuelle Literatur bezeichnen können oder als Medien-Literatur, und zwar auf dem Hintergrund des skizzierten Prozesses, daß gewisse Aufgaben, die die Literatur bis zu Anfang unseres Jahrhunderts wahrgenommen hat, an das neue Medium Fernsehen übergegangen sind, weil seine aus einer neuen Technik entstehenden Darstellungsmöglichkeiten diese Form der Literatur adäquater umsetzen können. Das Stichwort für diesen Prozeß ist der Begriff Medien-Transfer. Es hat sich in der Medien-Forschung eingebürgert, die vermeintliche Trivialität des Mediums dadurch methodisch zu nobilitieren, daß man die Zeichenstruktur der auf dem Fernsehschirm abgebildeten Bilderwelt mit komplizierten zeichentheoretischen Modellen zu formalisieren versucht. Ich will die Legitimation solcher Unternehmungen, wie sie beispielsweise in den Abhandlungen von Gerd Albrecht, Gerhard Maletzke, in den Büchern von Friedrich Knilli/Erwin Reiss oder Christian Metz vorlie«Befeuert das Fernsehen nur die technische Phantasie oder auch die Autoren-Phantasie?», in: «Vierzehn Mutmaßungen über das Fernsehen» (Anm. 38), S. 28-33. Andersch ist interessanterweise einer der deutschen Autoren, der sich immer intensiv mit der Entwicklung des Films auseinandergesetzt hat, vgl. etwa seinen Essay «Das Kino der Autoren», in: A A , «Die Blindheit des Kunstwerks. Literarische Essays und Aufsätze», Zürich 1979, S. 61-81. In diesem Essay heißt es u.a.: "Wir sind uns bewußt, welche Gefahr für die traditionellen Formen der Literatur wir heraufbeschwören, indem wir versuchen, den Film zur Literatur zu erklären. [...] Daß das Kameraauge erst wahrhaft sehend würde, wenn es von einem literarischen Bewußtsein sich leiten ließe, möchten wir angedeutet haben.* (S. 81)
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gen 51 , keineswegs in Frage stellen, bezweifle jedoch mitunter die Erklärungseffizienz der theoretischen Modelle, wenn die zu erreichende Transparenz des Gegenstandes hinter einer Barriere von theoretischen Formalisierungen verschwindet oder aber das nachvollziehbare Ergebnis der Exegese in keinem Verhältnis zum theoretischen Begriffsaufwand steht. Ich mache mir hier eine pragmatische Haltung zu eigen, mit der Medienforscher wie Knut Hickethier und Joachim Paech zu Recht einer Argumentation wie der von Werner Faulstich in seiner «Einführung in die Filmanalyse» 52 widersprochen haben, der beispielsweise schreibt: "Wenn im vergangenen Jahrhundert die Überwindung des weitverbreiteten Wortanalphabetismus ein legitimes Ziel sein konnte, entspricht dem in unserem optischen Zeitalter die Überwindung des Bild-Analphabetismus." (S. 3) Der Unterstellung, ohne ein Erlernen des visuellen Alphabets sei eine strukturierte Rezeption von filmischen Bildern nicht möglich, haben Hickethier und Paech 5 3 entgegengehalten: "Natürlich müssen wir das Filmsehen erst lernen, müssen wir den raschen Wechsel bewegter Bilder erst strukturieren lernen und in ihnen Sinnstrukturen erkennen, doch dies geschieht nicht durch das Studium wissenschaftlicher Einführungen oder anderer Fibeln. Die filmischen Codes lernen wir vielmehr durch das Anschauen von Filmen selbst. Die Filmgeschichte ist voller Beispiele über die Form, wie das Publikum mit der Entwicklung der filmischen Ausdrucksmittel und Darstellungsmöglichkeiten schrittweise auch seine Wahrnehmung veränderte." (S. 14/5) Adorno hat Mitte der fünfziger Jahre in seinen schon erwähnten Reflexionen über das Fernseh-Publikum «Kann das Publikum wollen?» 54 den Weg, den die ProgrammMacher des Fernsehen inzwischen eingeschlagen haben, als den irrigsten bezeichnet, nämlich den Weg der plebiszitären Beeinflussung des Programms durch die Zuschauer. Denn das bedeutet im Grunde ja der Maßstab der Einschaltquoten, mit dem die Effektivität der einzelnen Programme gemessen wird. Er weist hier auf einen Verblendungszusammenhang hin, der nicht, wie Enzensberger meint, mit einer Verblödung des Publikums zu tun hat, sondern mit der vergesellschafteten Verdinglichung ihrer Lebensumstände, in denen sie gefangen sind und gefangen bleiben wollen, auch wenn sie zu einer eigenen Entscheidung darüber aufgerufen werden: "Je dichter das Netz der Vergesellschaftung geflochten und womöglich ihnen über den Kopf geworfen ist, desto weniger vermögen ihre Wünsche, Intentionen, Urteile ihm zu entschlüpfen. Gefahr ist, daß aas Publikum, wenn man es Ich beziehe mich im einzelnen auf Gerd Albrecht: «Die Filmanalyse - Ziele und Methoden», in: «Filmanalysen 1-2», hg.v. Brüne/Everschor, Düsseldorf 1964, S. 233 ff; Gerhard Maletzke: «Kritik und Analyse von Fernsehsendungen», in: «Rundfunk und Fernsehen» 5/2-3 (1957), S. 184 ff; Friedrich Knilli/Erwin Reiss: «Einführung in die Film- und Fernsehanalyse», Gießen 1971; Christian Metz: «Semiologie des Films», München 1972. Diese Auflistung ließe sich noch mit einer Vielzahl von Titeln weiterführen. 52
53
Tübingen 1976.
Ich beziehe mich auf die Einleitung «Zum gegenwärtigen Stand der Film- und Fernsehanalyse» des von ihnen herausgegebenen Buches «Didaktik der Massenkommunikation 4. Modelle der Film- und Fernsehanalyse», Stuttgart 1979, S. 7-23. 54 Vgl. Anm. 38.
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animiert, seinen Willen kundzutun, womöglich noch mehr das will, was ihm ohnehin aufgezwungen wird. [...] Gäbe es einen Willen des Publikums, und folgte man ihm unmittelbar, so betröge man das Publikum um eben jene Autonomie, die vom Begriff seines eigenen Wollens gemeint wird." (S. 57) Damit beschreibt er exakt den Teufelskreis, innerhalb dessen sich die Begründungen der Programm-Macher bewegen: Das Programm-Niveau wird immer mehr abgesenkt, weil immer mehr Zuschauer scheinbar durch ihre Zuschaltungsquoten dafür optieren, so daß auf diesem Wege die Programm-Alternativen immer mehr ausgedünnt werden und die Wahlmöglichkeiten der Zuschauer sich laufend reduzieren. Adornos Vorschlag, diesen Kreislauf zu durchbrechen, mag auf den ersten Blick von der Arroganz des Intellektuellen zeugen, der sich anmaßt, über den Verblendungszusammenhängen zu stehen, hat aber dennoch Plausibilität, wenn man sich verdeutlicht, wer damit konkret gemeint sein könnte. Er führt nämlich aus: "Nicht die plesbiszitäre Mehrheit dürfte über kulturelle Phänomene, die an die Massen sich richten, entscheiden, und auch nicht die abgefeimte Weisheit von Patriarchen, die tun, als ob sie gütig darüber wachten, was den Massen zuträglich ist. Befinden sollten allein Menschen, die sachlich zuständig sind; die ebensoviel von Kunst verstehen wie von den sozialen Implikationen der Massenmedien." (S. 57) Greife ich zu hoch, wenn ich die Schriftsteller, um deren Medienerfahrungen und Medienarbeiten es im folgenden geht, zu dieser Gruppe der sachlich Zuständigen rechne, auf die Adorno hinweist? Ich glaube nicht. Gewiß, die sieben Autoren, um die es im folgenden geht, stehen in unterschiedlichen Interdependenz-Verhältnissen, was ihre Beziehung zur Literatur und zum Fernsehen betrifft. Ein Autor wie Wolfdietrich Schnurre scheint trotz seiner quantitativ umfangreichen Arbeiten fürs Fernsehen in seinem Selbstverständnis noch am stärksten in der traditionellen Literatur verhaftet, während ein Autor-Regisseur wie Rainer Erler in seinen Arbeiten schon kaum mehr mit vertrauten literarischen Kategorien zu beschreiben ist. Innerhalb dieses Spektrums bewegen sich die anderen fünf Autoren. Für alle gilt, daß der verschiedentlich angesprochene Medien-Transfer unmittelbar Teil ihrer Arbeitserfahrung ist, daß sie die sich andeutenden Funktionsveränderungen der tradierten Literatur an ihren Arbeiten selbst erlebt haben, mit Verlusterfahrungen, was ihre literarischen Vorstellungen betrifft, mit Frustrationen, was die Auseinandersetzung mit den bürokratischen Institutionen des Mediums Fernsehen betrifft, mit Leiderfahrungen im Hinblick auf die realisierten Resultate und gelegentlich auch in dem Bewußtsein, in dem neuen Medium etwas in einer Intensität erreicht zu haben, was in vertrauten literarischen Formen so nicht möglich gewesen wäre. Hier, in der Beschäftigung mit ihren Erfahrungen und Medienarbeiten sollen Indizien, Argumente und Begründungszusammenhänge erarbeitet werden, die es möglich machen, die Implikationen dieses Medien-Transfers genauer zu erfassen und die Umrisse einer neuen Literatur, einer Medien-Literatur abzustecken. Das Erkenntnis-
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interesse, das dahinter steht, weiß sich durchaus jener Absicht verpflichtet, die Adorno seinerzeit so formuliert hat: "Verhängnisvoll wäre es, wenn unter den Bedingungen formaler Demokratie etwas Ahnliches sich anbahnte; wenn Majorisierung Ähnliches bewirkte wie dort das Dekret der Diktatoren. [...] Die langfristige Bedingung dafür wäre Erziehung, wofern die Zeit bleibt. Beschlagnahmt die Kulturindustrie schon die Kinder und Halbwüchsigen, um die Infantilisierung des Ganzen zu betreiben, so wäre dem im Unterricht [...] entgegenzuarbeiten." (S. 59) Die konstruktive Arbeit, die beispielsweise schon eine Reihe von Autoren geleistet haben, die ironischerweise von den Vertretern des traditionellen Kulturbetriebs dafür bestraft werden, indem man ihnen unterstellt, ihre literarischen Ambitionen dem Geldverdienen geopfert zu haben, ist zu rekapitulieren. Hier wird am ehesten ein Brückenkopf sichtbar, der dem Dekret der Majorität zu widerstehen vermag und eine Ahnung darüber vermittelt, daß auch ein anderer Weg in der Entwicklung dieses Mediums denkbar ist: nicht der Weg in die verabsolutierte Unterhaltungsmaschine, die die Infantilisierung der Zuschauer auf die Spitze treibt, sondern der Weg in eine bewußte Nutzung der neuen Möglichkeiten, die das Medium bereithält, und das bedeutet auch: seine Verfügbarmachung für Darstellungschancen einer visuellen Literatur, die sich der tradierten Literatur durchaus ergänzend und nicht negierend an die Seite stellen könnte.
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Der Dramatiker und das Fernsehen: Gespräch mit Dieter Forte
Theater, Massenmedien und Kunstkritik D: Herr Forte, Sie gehören mit Tankred Dorst und jüngst Dieter Wellershoff zu den wenigen Autoren der Gegenwart, die sich verstärkt dem Fernsehen zugewandt haben. In den letzten Jahren haben Sie mit großer Kontinuität auf der poetisch-literarischen Ebene für das Fernsehen gearbeitet. Sie haben Fernsehspiele geschrieben. Angefangen aber haben Sie als Dramatiker, der für das klassische Veröffentlichungsmedium eines Bühnenschriftstellers geschrieben hat, eben für die Theaterbühne. Wie ist es dazu gekommen, daß Sie sich verstärkt dem Medium Fernsehen gewidmet haben und die Bühne als Veröffentlichungsforum sichtbar in den Hintergrund treten ließen? Könnten Sie diese Entwicklung, die sich dahinter verbirgt, rein biographisch etwas erläutern? F: Eigentlich habe ich immer schon für alle drei dramatischen Medien gearbeitet. Ich habe Hör- und Fernsehspiele verfaßt und Theaterstücke geschrieben. Für mich ist es selbstverständlich, dieses Medium als Autor zu benutzen, es ist da, es ist in der Welt, es ist das Massenmedium schlechthin. Warum soll ein Autor dieses Medium nicht benutzen? Ich glaube, daß lediglich traditionelle Kunstkriterien einer intensiveren Nutzung des Fernsehens durch Autoren im Wege stehen. Theater ist Kunst. Die Kritik bescheinigt es, und der Staat subventioniert das Theater. Theater muß also Kunst sein, denn man wirft ja kein Geld zum Fenster hinaus. Beim Fernsehen ist es anders, da zahlt der Zuschauer, und was sich die Leute kaufen, ist immer etwas Fragwürdiges und nicht von vornherein Kunst. Aber ich weigere mich einfach, mir von einer sehr traditionellen Kunstkritik vorschreiben zu lassen, wo Kunst stattfinden darf und kann und wo nicht. Es ist doch schon immer so gewesen, daß die Massenmedien als ästhetisch minderwertig ausgegrenzt wurden. Das fängt schon mit dem Buchdruck an. Nur ein von Hand geschriebenes Buch galt als Kunstwerk. Und wie das gedruckte Buch, so wurden in der Folge die Presse, der Rundfunk, der Film, die Schallplatte und das Fernsehen als unkünstlerisch verworfen. Diese Massenmedien waren tendenziell immer demokratisch, das heißt sie waren immer für eine breite Masse zugänglich. Wie sie zu nützen waren, blieb selbstverständlich zunächst offen. Aber schon bei einer frühen Zeitung hat ein Mann wie Balzac mitgewirkt, und Filme, die früher als Klamotten verschrien wurden, sind heute Klassiker, die man fast wie Gottesdienste besucht, wenn sie wieder einmal laufen. Der Name Chaplin steht hier für
viele andere. Beim Rundfunk war es das Hörspiel, anfangs durchaus keine
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Kunstgattung, aber Leute wie Brecht und Döblin haben sofort mitgewirkt. Heute sind der Rundfunk und das Hörspiel etwas in den Hintergrund getreten, und Hörspiele werden für eine Minderheit produziert. Dadurch sind die heutigen Hörspiele teilweise auch sprachlich sehr elitär geworden. Hier ist ein Prozeß der Ab- und Ausgrenzung zu beobachten. Und das heutige Theater beteiligt sich, um diesen Gedankengang abzuschließen, an diesem Prozeß der Ausgrenzung. Ich glaube, daß hier eine große Gefahr für das Theater liegt. Denn man ist sich überhaupt noch nicht darüber klargeworden, daß das Theater durch Massenmedien, die einfach nur neue Sprachformen, vielleicht auch neue Kunstformen entwickeln, ins Abseits gedrängt wird, ja, daß sich das Theater noch zusätzlich durch eine Überästhetisierung selbst ins Abseits stellt. Erzählmedien: Sprache und Kamera D: Diese historischen Gründe leuchten mir ein, die Sie angeführt haben, um die Ablehnung von künstlerischen Ansprüchen, die Fernsehformen stellen können, ein bißchen zurechtzurücken. Andererseits könnte man aber auch sagen, daß durch bestimmte eingefahrene Vorstellungen des Kulturbetriebes allein eine solche Ablehnung nicht begründet werden kann, daß vielmehr auch gewisse Mechanismen, die zu der Apparatur dieses elektronischen Mediums gehören, Kunstansprüche fragwürdig werden lassen. So hat zum Beispiel Ihr Kollege Dieter Wellershoff einmal zu Recht hervorgehoben, daß das Fernsehen literarische Vorlagen für Präsentationen auf dem Bildschirm als 'Wegwerfliteratur' betrachtet: Ein Fernsehspiel wird einmal inszeniert und verschwindet dann in den Archiven. Vielleicht hat es das Glück, noch ein- oder zweimal wiederholt zu werden, aber es hat sich bisher noch nicht so etwas wie ein literarischer Kanon von Fernseharbeiten herausgebildet. Es sind also gewisse sehr materielle, in der Apparatur des Fernsehens verankerte Mechanismen, die Barrieren aufrichten. Und mir scheint, daß das Gewicht solcher Barrieren schwerer wiegt als die Vorurteile traditioneller Kunst- und Literaturkritiker. Aber mit meiner Frage nach Ihrer Umorientierung vom Theater zum Fernsehen ging es mir eigentlich auch darum, einmal rein biographisch zu fragen, wie sich dieser Weg dargestellt hat. Möglicherweise könnte man von ihrem privatem Weg zum Medium Fernsehen eine Art Modell abstrahieren. Sie haben sich ja nicht von einem Tag zum anderen hingesetzt und sich gesagt: "So, nun schreibe ich fürs Fernsehen". Da muß es bestimmte Vorbereitungsstadien, bestimmte Anstöße gegeben haben, und die interessieren mich ganz konkret. F: Es stimmt schon, daß da eine Entwicklung vorliegt. Man setzt sich nicht einfach hin und beschließt, nun für das Fernsehen zu arbeiten, nur weil es das Fernsehen gibt. Es gibt Dinge, Stoffe, Themen, die man mit der Kamera, dem genaueren Wort für Fernsehen, intensiver und präziser erzählen kann als auf der Bühne. Einen sol-
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eben Stoff wie «Sonntag» beispielsweise hätte ich auf der Bühne überhaupt nicht darstellen können. Es wäre bestenfalls ein sehr naturalistisches Stück geworden, weil dieser Stoff Szenen gebraucht hätte, in denen Dialoge stattfinden und die die Schauspieler zur Aktion treiben. Im Gegensatz dazu kann eine Kamera fast klinisch beobachten. Eine Kamera ersetzt zunächst einmal sehr viel Dialog, weil sie eine eigene Bildsprache schafft, und diese Bildsprache wiederum ist ja auch Sprache, die vom Autor zunächst geschrieben, dann von der Kamera umgesetzt wurde. Es entstehen also sehr reizvolle Möglichkeiten. Und für mich bestand Fernsehen auch nicht nur aus Barrieren. Wenn man diesen Betrieb einmal näher kennengelernt hat und mit den vielfältigen technischen Möglichkeiten einigermaßen vertraut ist, dann ist es sehr reizvoll, damit zu spielen. Die Möglichkeiten sind für mich jetzt noch immer unendlich. Und ich glaube auch nicht, daß der Begriff der 'Wegwerfliteratur' die Sache trifft. Ein Fernsehspiel erreicht an einem Abend mehr Zuschauer als das erfolgreichste Theaterstück, das Jahrzehnte läuft. Ich möchte den Autor sehen, den es nicht reizt, so viele Menschen zu erreichen. Die Wirklichkeit, die Sehweise und das Bild D: Das ist zwar richtig, obwohl man auch sagen könnte, daß das Massenpublikum des Fernsehens nicht unbedingt mit einer literarischen Öffentlichkeit identisch ist. Zu einer literarischen Öffentlichkeit des Fernsehens würde beispielsweise auch gehören, daß sich die Literaturkritik umorientierte und auch Fernsehspiele analysierte, reflektierte und dadurch erst bewußt machte. Vielleicht lassen Sie mich mit dieser Problematik gleich eine Frage verbinden, die ich pointiert mit einem Zitat des Semiotikers Metz herausstellen will. Metz hat einmal gesagt, das Bild sei so schwer zu erklären, weil es so einfach sei. Die breite Zuschauermasse nun, die das Fernsehen hat, kommt sicher auch dadurch zustande, daß die bildliche Wiedergabe von Wirklichkeit den Charakter einer quasi zweiten Natur annimmt. Das, was auf dem Bildschirm erscheint, wird genauso wahrgenommen wie die Wirklichkeit, gerade weil die Bilder so konkret und dicht sind. Die Formen des Machens, die mit diesem Bild der Wirklichkeit auf dem Fernsehschirm verbunden sind, werden gar nicht wahrgenommen, und Fernsehen wird daher sozusagen automatisch rezipiert. Für einen Autor, der literarisch ambitionierte Texte für das Fernsehen schreibt, scheint sich daraus die große Schwierigkeit zu ergeben, den Fernsehzuschauern seine Stücke als literarische Arbeiten bewußt zu machen. Wie kann er sich angesichts der beschriebenen Rezeptionsweise zum Beispiel von irgendwelchen Serienproduktionen unterscheiden? Und wie haben Sie sich selbst dieser Schwierigkeit gestellt? Haben Sie in Ihrer Arbeit Möglichkeiten gefunden, diese Schwierigkeiten anzugehen? F: Ich glaube, durch alle meine Fernseharbeiten geht der Versuch, die Herstellung des Bildes zu zeigen. Ich versuche zu zeigen, daß Fernsehen gemacht und daß ein
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Bild produziert wird. Ein Bild ist nie identisch mit der Wahrheit, und die Gefahr des Fernsehens liegt darin, daß es ein Bild der Wirklichkeit liefert, das dann für die Wirklichkeit selbst gehalten wird. Schon der Kamerawinkel und die Farben besagen ja etwas und zeigen unter einer bestimmten Perspektive einen Ausschnitt von Wirklichkeit. Ich halte es für wichtig, diesen Sachverhalt immer klarzumachen und auch zu versuchen, die Sehweise mitzuerzählen. Die Sehweise selbst gehört mit in ein Fernsehspiel hinein. Es muß aber außerdem auch die Relativierung eines Bildes gezeigt werden. Der Zuschauer muß sehen, daß es auch anders hätte sein können. Dazu bieten sich im Fernsehen auch die entsprechenden Möglichkeiten, solche, über die beispielsweise die Bühne überhaupt nicht verfügt. Der Bühne steht nur der klassische Rollenwechsel, der Maskenwechsel und so etwas zur Verfügung. Aber das sind alles sehr alte Dinge, die man zu Genüge kennt und die man im Fernsehen vollkommen neu angehen und auch näher an unsere Wirklichkeit heranführen kann. Wenn zum Beispiel ein Personalchef in «Achsensprung» seine Autorität und seine Stellung verliert, dann kann man im Fernsehen viel deutlicher zeigen, daß Autorität und Charakter gar nicht mehr mit der Person als solcher verbunden sein können, sondern nur noch mit der Stellung, die sie einnimmt. Und wenn der Personalchef seine Stellung verliert, dann verliert er auch das, was er im bürgerlichen Sinne als Persönlichkeit bezeichnet hätte. Der Fernsehautor und das Publikum D: Nun ist der Fernsehautor selbstverständlich nicht allein mit der Schwierigkeit konfrontiert, gegen das bewußtlose Rezipieren von Fernsehproduktionen aller Programmsparten auf dem Bildschirm anarbeiten und damit sozusagen Reflexion stimulieren zu müssen. Eine zweite Schwierigkeit besteht offenbar auch darin, auf der anderen Seite auch gewisse Zugeständnisse an das Medium Fernsehen machen zu müssen. Der Femsehautor darf seine Arbeit nicht so elitär und hermetisch schreiben, daß er sein Publikum darüber verfehlt. Er muß auch kulinarische Bedürfnisse seines Publikums berücksichtigen. Führen diese Ansprüche nicht dazu, daß ein Autor, der für das Fernsehen arbeitet, Kompromisse machen muß? Wie sieht das aus Ihrer Schreiberfahrung heraus aus? F: Um das gleich zu Anfang zu sagen: Total anders! Ich glaube nicht, daß man mit Blick auf kulinarische Bedürfnisse Konzessionen machen muß, um das Publikum am Apparat zu halten. Sollte dies der Fall sein, dann gilt das ebenso für das Buch und für das Theater. Wenn sich ein Buch nicht verkauft, wird es sofort verramscht und damit wirklich zu 'Wegwerfliteratur'. Und bei einem Theaterstück ist es nicht anders. Im Gegenteil, ein Theaterstück muß unterhaltsam inszeniert sein. Auch gegen den Willen des Autors müssen Partien des Stückes eingestrichen werden, um auf einen Abend zu kommen, der dem Publikum noch erträglich ist und es im Theater hält. Es
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ist nämlich körperlich sehr viel mühseliger, ins Theater zu gehen und dort auszuharren, als vor dem Fernseher zu sitzen. Nach meiner Erfahrung ist es sogar so, daß im Theater der kulinarische Wert und das Vergnügungsangebot sehr viel höher sein müssen als beim Fernsehen. Beim Fernsehen habe ich - ich will jetzt nur von mir reden - bisher anspruchsvolle Themen realisieren können. Ich habe bisher auch keine sehr großen Schwierigkeiten gehabt, meine Themen durchzuboxen. Selbstverständlich gibt es keine Kritik, die das reflektiert. Praktisch gibt es nur die Einschaltquoten, Ziffern für Intendanten und Fernsehdirektoren, was allerdings auch im Zusammenhang unseres Gesprächs durchaus ganz sachlich anzuführen ist. Selbst bei den ästhetischsten Fernsehspielen wie «Sonntag» und «Achsensprung» waren die Einschaltziffern unüblich hoch, obwohl es bei beiden sehr anstrengend war zuzusehen. Der Schwierigkeitsgrad einer Fernsehproduktion entscheidet also nicht darüber, ob die Leute ein- oder abschalten. Wer so denkt, unterschätzt das Publikum vollkommen. Als mir beispielsweise bei «Sonntag» die Kritiker noch attestierten, dieses Fernsehspiel sei so ästhetisch und perfekt geschrieben und so glatt und äußerlich, daß es keinen Menschen erreiche, da hatte ich schon einen großen Berg Briefe bekommen und das Fernsehen ebenso. Wir haben sehr viel Ärger gehabt, weil sich die Leute durch diese ästhetische Form von «Sonntag», die offenbar voll traf, so angegriffen fühlten, daß sie mir praktisch das Schreiben verbieten wollten. Man schrieb mir, so etwas sei nicht einmal mehr durch das Grundgesetz gedeckt. Und an den Drehorten, in einer Satellitenstadt bei Freiburg, mußten wir unendlich viele Diskussionen führen, die weitaus härter und stürmischer waren als bei meinem Theaterstück «Luther und Münzer». Das Fernsehspiel «Sonntag»: Wirklichkeitsbild und Publikum D: Diese Informationen sind für mich neu. Aus meinen Erfahrungen mit «Sonntag» muß ich allerdings sagen, daß sie mich nicht überraschen. Ich habe dieses Fernsehspiel schon einige Male mit Studenten in Seminaren diskutiert, und häufig ist von verschiedenen Seiten die Frage gestellt worden, ob die Form von gehobenem, komfortablem Wohnen in einer Vorstadt, die bei Ihnen so negativ dargestellt wird, im Grund genommen nicht eine zivilisatorische Errungenschaft darstellt. Es wurde gefragt, ob nicht die Denunzierung dieser Lebens- und Wohnform als automatisches Vegetieren in einem goldenen Käfig die Wirklichkeit überspitze. Möglicherweise stehen diese Fragestellungen in einem Zusammenhang mit den heftigen Erregungen, die Ihr Stück bei den Fernsehzuschauern ausgelöst hat. Und vielleicht fühlten sich die Diskussionsteilnehmer an den Drehorten deshalb angegriffen, weil Sie ihre wirtschaftlichen Leistungen und Erfolge und ihren Stolz darauf so negativ dargestellt haben.
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F: Unter den Diskussionsteilnehmer gab es zwei Gruppen. Die einen fühlten sich in ihrer Lebensform, in ihrer vermeintlichen Idylle angegriffen. Das waren Leute, die sich ein Häuschen gebaut oder eine Eigentumswohnung gekauft hatten. Diese Leute kamen also aus einer ganz bestimmten Schicht der Siedlung, waren Eigentümer und damit von anderen Siedlungsbewohnern, von anderen Schichten der Siedlung unterschieden. Auf der anderen Seite gab es Leute, die uns vorwarfen, wir hätten das ganze Leben in dieser Trabantenstadt noch verharmlost und gemildert, in Wirklichkeit sei alles noch viel schlimmer. Diese Leute schilderten uns dann verschiedene Fälle, und ich muß einfügen, daß sich allein während der vierwöchigen Dreharbeiten drei oder vier Leute das Leben genommen hatten. Ein Mann stand auf und erzählte, er habe gerade beim Osterkaffee gesessen, als die Nachbarin über ihm über den Balkon gesprungen sei. Das habe ihm das ganze Osterfest versaut. Zu dieser zweiten Gruppe der Kritiker gehörte noch eine kleine abgeschlossenen Gruppe von Polenauswanderern. Die verwiesen auf die ausgebrannten Keller und die zerstörten Fahrstuhlschächte und vieles weitere und meinten, wir hätten all das noch viel härter und brutaler zeigen sollen. Sicherlich hätte uns das dann keiner mehr geglaubt. Diese Erfahrungen mit «Sonntag» habe ich übrigens auch mit anderen Fernsehspielen gemacht, zum Beispiel mit «Gesundheit»: Es gibt immer eine Gruppe von Leuten, die sich angegriffen fühlen, die sagen: "Nein, so ist es nicht, so kann es nicht sein, so kann das gar nicht möglich sein", und eine Gruppe von Leuten, die mir Beispiele schildern, die noch viel grauenhafter sind als die von mir gezeigten, Leute, die mir dann ganze Akten mit ihren Fällen und ihren Erlebnissen zuschicken. Fernsehproduktionen: Erzählformen, Publikum und technischer Apparat D: Nun ist es in «Sonntag» aber doch nicht so, daß Sie das Ganze als soziologisches Exempel für die Zuschauer durchexerziert haben. Das Entscheidende an «Sonntag» scheint doch darin zu bestehen, daß Sie das Ganze als Deformierung von menschlichem Leben aus der Perspektive von Kindern darstellen. Offenbar wird diese kindliche Perspektive nicht nur durch die ständig wiederholte Schlüsselszene hervorgehoben, den Totschlag unter den Kindern, sondern auch durch die Kameraperspektive, die die Perspektive von Kindern zu sein scheint. Ich erinnere an die Eingangssequenz, in der die Kamera über dieses tote Betonarenal gleitet und beispielsweise in einer Apotheke Abbildungen des menschlichen Körpers zu sehen sind. Technisch gesehen gleitet die Kamera aus der Froschperspektive über das Arenal, aber diese Froschperspektive ist ja auch zugleich die von Kindern. Und Kinder sind auch in dieser Eingangssequenz präsent: Sie erscheinen in verschiedenen Fenstern und Türen, hocken passiv und leblos herum und machen alles andere als einen aktiven Eindruck. Das bewirkt, daß der Angriff auf diese Form von nicht mehr menschlich zu nennendem Leben oder von Leben, das die menschlichen Attribute zu verlieren beginnt, als gerechtfertigt erscheint, weil die Kamera die Partei der Kinder ergreift und aus ihrer
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Situation heraus das ganze Problem darstellt. Und für mich liegt hier auch die Legitimation dieses, wenn Sie so wollen, denunziatorischen Potentials, das auch in diesem Fernsehspiel steckt. Wie dem auch sei, es ist ungeheuer wichtig festzuhalten, daß dieses Fernsehspiel so starke Reaktionen hervorgerufen hat. Und die Tatsache, daß es diese unterschiedlich akzentuierten Reaktionen in solch einer Fülle gegeben hat, spricht eigentlich bereits für die Qualität von «Sonntag». Sie widerlegt zudem eindeutig auch Kritiken, die das Fernsehspiel entwaffnen und als bloße Geschmacksfrage abtun wollten. Hier taucht allerdings trotzdem wieder die Frage nach den Zugeständnissen an das Kulinarische auf, die ich weiter anhand von vier Fernsehspielen diskutieren möchte, die unter dem Titel «Fluchtversuche» als Buch erschienen sind. Diese vier Fernsehspiele unterscheiden sich unter anderem durch den Schwierigkeitsgrad der Darstellung. In «Sonntag» wird ein wesentlicher Teil der Analyse durch die beschreibende Kraft der Kamera geleistet. Es gibt keinen eindeutigen Helden. Bestenfalls könnte man die Kinder als einen soziologischen Typus von Helden bezeichnen, aber es gibt kein einzelnes Kind, das als Mittelpunktfigur zentral wäre. Weil das so ist, läßt sich das Beschreiben der Kamera relativ leicht nachvollziehen und verstehen. In «Achsensprung» ist das ganz anders. Hier wird das Nachvollziehen und das Verstehen allein schon durch den komplizierten Einsatz formaler Mittel erschwert: Es gibt ein Überlappen von Bild- und Tonsequenzen, Blue-Screen, Überschneidungen und anderes mehr. «Der Aufstieg», Ihre bislang letzte Arbeit, kehrt dagegen wieder zu einer einfacheren Erzählweise zurück, die durch die biographische Chronologie einer Mittelpunktsfigur bestimmt ist. Ist es möglich, daß gewisse verzögerte Rezeptionsaspekte bei «Achsensprung» dazu geführt haben, daß Sie in «Aufstieg» zu einer einfacheren Darstellungsweise zurückgekehrt sind? Oder hat das alles nichts miteinander zu tun, sind das jeweils individuell entwickelte Fernseharbeiten, die nicht in einem biographischen Lernkontext stehen? F: Diese Fernseharbeiten stehen wahrscheinlich schon in einem Zusammenhang. Es könnte schon sein, daß da eine literarische Rezeption bei «Achsensprung» versagt hat. Es gab zwar Kritiken, die «Achsensprung» sehr genau erfaßt haben, aber im Ganzen? Die Sache war von der Form her sehr weit vorwärts getrieben und forderte beispielsweise auch den Sender in seiner ganzen Produktionskapazität. Wir haben das Drehbuch mit dem technischen Ingenieur wirklich von der ersten bis zur letzten Seite durchgehen müssen, und der technische Leiter mußte bei der Produktion sein, um zu sehen, ob es auch geht. Und es ging alles, und darin liegt auch heute noch mein handwerklicher Stolz. Zusammen mit dem Techniker habe ich vier Wochen im Studio verbracht. Die Produktion ging bis an die Grenzen der technischen Leistungsfähigkeit des Mediums, teilweise auch bis an die Grenzen des Verständnisses der Redakteure. Die waren so etwas nicht gewohnt, obwohl «Achsensprung» teilweise Erzählformen benutzt, die vom Roman her schon sehr lange bekannt sind. Die Kritik hat das nicht bemerkt und nicht aufgenommen, und selbstverständlich hilft das nicht
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eine Entwicklung weiterzuführen, an der mir liegt und die ich bestimmt noch weiterführen werde. In «Der Aufstieg» habe ich versucht, ein Kamerateam bei der Arbeit zu zeigen und zu zeigen, wie die Wahrheit hergestellt wird, nämlich, indem Bilder produziert werden. Und ich wollte zeigen, wie die Wahrheit niemals zu Tage kommt. Selbst wenn der Film zu Ende ist, weiß man eigentlich nicht, was wahr und was unwahr ist. Aber man weiß, es ist ein Porträt entstanden, das irgendwann einmal gesendet wird, ein Porträt, das freilich niemals die Wahrheit ist, weil das Fernsehen niemals die Wahrheit produzieren kann. «Der Aufstieg» arbeitet mit der klassischen biographischen Form. Es gibt zwar auch sehr viele Rückblenden, aber die finden nur sprachlich statt. Das erleichtert die Rezeption. «Achsensprung» dagegen bricht mit der Form traditionellen Erzählens und ist damit wohl mein anspruchsvollstes Fernsehspiel. Aber das Anspruchsvollste kann man selbstverständlich auch nicht jeden Tag im Fernsehen machen. Das Fernsehspiel «Achsensprung»: Polysensorisches Erzählen und das Publikum D: Ich stimme Ihnen zu. Vergleicht man «Sonntag» und «Achsensprung», dann fällt auf, daß die Sprache in «Achsensprung» eine ganz andere Dimensionierung erfährt. In «Sonntag» wird meistenteils in Bildern erzählt, und die eigentlichen Dialogpartien beschränken sich auf eine Art Stummelsprache, auf die Alltagssprache, die zu dieser sonntäglichen Langeweile gehört. In «Achsensprung» hingegen ist die Sprache auf einem hohen literarischen Niveau und hat damit auch eine ganz andere Bedeutung. Sie montieren zum Beispiel bewußt Zitate in diese Sprache hinein. Ich denke unter anderem an den Motivstrang, der sich um Textstellen aus Piatons Dialog «Kriton» gruppiert. Dieser Motivstrang wird nicht visuell umgesetzt. Er bleibt für den Zuschauer nur als akustisch konkretisierte Sprache vorhanden. Der Zuschauer muß also zugleich auf zwei Kanälen empfangen, dem visuellen und dem akustischen, und das wird für ihn umso schwieriger, als die beiden Kanäle über verschiedene, sich nicht berührende Themen handeln. Für mich stellt sich die Frage, ob Sie mit dem angesprochenen Sokrates-Motivstrang, der nur akustisch präsent ist, die Zuschauer nicht überfordert haben. Der Motivstrang und das Fernsehspiel selbst beginnen ja mit einem Zitat, das Rene Deltgen spricht. Und Rene Deltgen ist den Zuschauern selbstverständlich als Figur des Theater- und Fernsehbetriebs vertraut. Deltgen löst verschiedene Assoziationsvorgänge in den Köpfen der Leute aus, solche allerdings, die eigentlich auf die Figur dieses Schauspielers ausgerichtet sind und bestenfalls wenig mit dem Text zu tun haben, den er spricht. So ergibt sich die Situation, daß der Text, der an sich schon anspruchsvoll genug ist, über die Köpfe der Leute hinweggeht. Beschreibe ich mit meiner Beobachtung eine objektive Schwierigkeit oder sehen Sie das aus Ihrer Perspektive anders?
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F: Ich sehe das anders. Ich habe nicht nur ganz bewußt mit Sokrates angefangen, sondern auch mit Ren6 Deltgen. Deltgen ist von der Stimme her sehr bewußt ausgewählt worden. Wir wollten diese Stimme haben. Denken wir zunächst einmal ganz sprachlich und lassen die Kamera und die Stilistik der Kamera außer acht: Dann sehe ich die Möglichkeit, auch rein sprachlich ein Fernsehspiel gleich zu Anfang so auf eine Höhe zu führen, daß die nachfolgende Bild-Realität, die die meisten Zuschauer kennen oder annähernd kennen, in einer ganz anderen Beleuchtung erscheint. Man hebt von vornherein die Bildrealität auf eine grundsätzlichere Ebene, die die Leute von Anfang an dazu zwingt, entweder hinzuhören oder abzuschalten, weil sie über das Bild allein nichts mitbekommen. Bleiben die Leute am Bildschirm dran, dann hat man sie fast sicher im Griff, und sie müssen mitdenken und mitschauen und versuchen, das Fernsehspiel zu verstehen. Das ist also ein Kunstgriff, den ich bewußt anwende und den ich auch jetzt wieder bei einer neuen Arbeit angewendet habe. Indem ich gleich zu Anfang mit einem Monolog ganz hoch einsteige, zwinge ich die Zuschauer sofort zu der von Ihnen beschriebenen Anstrengung. D: Aber muß der Autor nicht auch die Rezeptionsschnelligkeit und -fähigkeit der Zuschauer mit einkalkulieren, und ist das nicht eines der Zugeständnisse, die er möglicherweise beim Medium Fernsehen zu machen hat? Hat dieses abrupte Einsteigen
auf eine
hohe
literarische
Ebene
für
die Zuschauer
nicht
einen
Überrumpelungseffekt, der sich negativ für das Verständnis der Fernseharbeit auswirkt? Nehmen wir noch einmal die von Ihnen verwendeten Platon-Zitate als Beispiel. Sokrates steht anfangs vor der Entscheidung, ob er die über ihn verhängte Todesstrafe hinnehmen oder dem Rat Kritons und anderer Freunde folgen soll. Aus der Einsicht in die Dummheit der Leute, die ihn verurteilt haben, ziehen die den Schluß, er solle den Tod nicht auf sich nehmen und fliehen. Damit beginnt auch Ihr Fernsehspiel. Und es endet mit einem weiteren Platon-Zitat, das sinngemäß lautet: Die Menschen sind weder eindeutig gut noch eindeutig böse, sie sind vielmehr unentschlossen; weil sie so unentschlossen und undifferenziert sind, entsteht das Übel und das Ungerechte, wie es sich im Todesurteil gegen Sokrates äußert. Sokrates entscheidet sich nach seinem eigenen moralischen Empfinden, das allein für ihn entscheidend ist, und nimmt den Tod auf sich. Hinter diesem Modell Sokrates steht nun die für Ihr Fernsehspiel zentrale Frage: "Wie ist Integrität des Ichs, wie ist Autorität in unseren heutigen Lebensumständen noch möglich?" Ich frage mich nun, ob nicht die Wirkung Ihres Fernsehspiels von vornherein dann reduziert wird, wenn diese literarischen Anspielungen über die Platon-Zitate, die den Zuschauer auf Ihr Thema einstimmen sollen, verloren gehen. Müßte der Autor nicht eine literarische Strategie entwickeln, die es den Zuschauern eindeutiger ermöglicht, das nachzuvollziehen, was das Stück an sie heranträgt? F: Sie meinen, daß das Stück selber sein Thema so bringen muß, daß sich die Frage im sokratischen Sinne von selbst stellt, ohne die Zuhilfenahme von Platon-Zitaten?
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D: Richtig, ja! Die Frage nach dem richtigen Leben und die Fernsehspiele F: «Achsensprung», wissen Sie, ist eine Möglichkeit, ist ein Gehversuch. Es ist der Versuch, eine zunächst banale Alltagsgeschichte, die Entlassung eines Personalchefs, in einen - sagen wir - abendländischen Denkrahmen zu stellen. Indem das Stück mit Platon-Zitaten beginnt und endet, weist diese Alltagsgeschichte mit ihrer Einzelproblematik über sich hinaus und führt zu der Frage: "Wie soll man leben?" Das ist die eigentliche Zentralfrage in «Achsensprung» und auch in vielen anderen Stücken von mir. "Wie soll man leben?" Das ist die Frage in «Aufstieg» und auch in «Sonntag». Die Kinder, die ich in «Sonntag» gezeigt und für die ich Partie ergriffen habe, sind heute kurz vor Ostern '81 zwischen 15 und 20 Jahre alt, und sie demonstrieren heute auf den Straßen gegen diese Betonwelt. Ich habe noch lange über dieses Wort 'Denunziation', das im Zusammenhang mit «Sonntag» fiel, nachgedacht. Ist es nicht so, daß diese Kinder heute eigentlich ihre Eltern denunzieren? Vielleicht habe ich nur ein bißchen früher und ein bißchen genauer hingeschaut. Die Frage, wie man leben soll, muß man immer wieder unerbittlich stellen. Und da gibt es selbstverständlich verschiedene literarische Strategien und auch Kamerastrategien. Bilder sind ja auch eine Form von Sprache. Sie zitierten eingangs den Semiotiker Metz, und es gibt ja auch die Volksweisheit, daß ein Bild mehr als tausend Worte sagt. Ein Bild erzählt unheimlich viel, und man kann sogar einen ganzen Text entlarven. Die Schwierigkeit im Fernsehen besteht sicher darin, Bilder zu finden, die sich aus der Masse des täglich Gebotenen herausheben. Nur so kann man im Fernsehen etwas sagen. Für ein einzelnes Fernsehspiel oder für einen Fernsehfilm kommt die Schwierigkeit hinzu, daß im Fernsehprogramm insgesamt in der Regel ja auch nur alltägliche, aussagearme Bilder geboten werden. Da muß man sich etwas überlegen. Aber im Sinne von Kultur stellt sich diese Schwierigkeit ja auch in anderen Medien. Die wenigsten Verlage machen Literatur, die meisten bedrucken nur Papier. Und auch in den Zeitungen finden Sie nicht mehr sehr viel Kultur. Das Feuilleton gibt es nur noch in den traditionellen bürgerlichen Zeitungen. Es findet allgemein eine Reduzierung von Literatur und Kultur statt, und davon ist das Fernsehen, zumal das der Zukunft, ganz bestimmt nicht ausgenommen. Das Fernsehen der Zukunft wird mit Blick auf Kultur noch unter einem viel härteren Druck stehen. Radikaler Pessimismus als Grundhaltung D: In dem, was Sie zuletzt gesagt haben, klingt eine gewisse pessimistische Grundeinstellung durch. Diese pessimistische Grundeinstellung stellt möglicherweise sogar eine Verbindung her zwischen der doch sehr negativen Darstellung der Lebensumstände in «Sonntag» und den sehr negativen Resultaten, die Sie an ver-
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schiedenen Lebensläufen - Familie Lahnstein, der Philosophieprofessor - herausheben. Denn das sind ja alles Leute, die Zugeständnisse machen und die sich angleichen. Am pointiertesten ist das an Frau Lahnstein dargestellt, die anfangs tatsächlich noch konkret zu helfen vermag, die sich engagiert und soziale Mißstände angreift. Frau Lahnstein wird dann aber durch parteipolitische Intrigen und Strategien auf einen Hinterbänklerplatz im Landtag manövriert und kann da nur noch ihre Stimmkarte hochheben. Lediglich im privaten Bereich zahlt sich ihr 'politisches Engagement' noch aus: Sie verhilft ihrem Mann durch Beziehungen zu einem neuen Job. Dieses absolut negative Bild einer Entwicklung wiederholt sich an Lahnsteins Sohn, der sich als Student am Ende seinem Philosophieprofessor, dem Bild eines Opportunisten, anbiedert. Dieser Philosophieprofessor sagt einmal an einer Stelle: "Ich habe mein ganzes Leben lang Dinge gemacht, die ich nicht gerne getan habe, und Sie sehen, wie weit ich gekommen bin". Und Lahnsteins Sohn hält schließlich ein Seminarreferat, das nichts mehr von den kritischen Widerständen zeigt, die er in einer vorangegangenen Sequenz gegenüber dem Professor zum Ausdruck brachte. Auch dieser Student hat sich angeglichen und wird wahrscheinlich als Assistent eine Karriere an der Universität machen. Wir haben also verschiedene Lebensläufe, die alle in die totale Anpassung einmünden, und das hinterläßt als Gesamtbild wie in «Sonntag» letztlich den Eindruck, daß diese moderne Wirklichkeit in ihren Komponenten so negativ ist, daß Selbstverwirklichung und Integrität nicht mehr möglich sind. Ist das nicht als negatives Resultat an die Adresse des Zuschauers eine zu sehr ins Schwarze eingefärbte Darstellung der Wirklichkeit? F: Ich glaube das nicht. Selbstverständlich steht dahinter auch ein Teil der persönlichen Biographie, aber darauf können wir ja vielleicht noch zurückkommen. «Achsensprung» zum Beispiel werden wir nie mehr sehen, weil der Schauspieler Wackernagel, der den Studenten spielte, aus der Anpassung ausbrach, die noch im Fernsehspiel gezeigt wurde, und zum Terroristen Wackernagel wurde. Wir waren also allein mit «Achsensprung» sehr dicht an der Realität, und diese Realität ist so schwarz. Ich glaube schon, daß man als Autor sehr verzweifelt sein kann. Ich bin persönlich sogar sehr verzweifelt, weil ich mich ziemlich hilflos einer Situation ausgesetzt sehe. Ich kann zwar sehr viele Leute erreichen und bekomme auch ungeheuer viel Post, auch zustimmende Post. Ich kann mit sehr vielen Leuten über meine Themen und Sichtweisen reden und treffe Leute, die mir recht geben. Jeder Manager eines multinationalen Konzerns sieht das alles ein und stimmt mir zu: Aber am anderen Morgen geht er doch in sein Büro, weil die 'Sachzwänge' ihn offenbar dazu zwingen. Ja, es sehen sehr viele Menschen ein, daß unser Leben nicht gut ist und daß es so nicht weitergehen kann und daß unsere Welt wohl nicht richtig zusammengefügt ist: Aber am anderen Tag stehen sie doch auf und gehen wie gewohnt zur Arbeit. Ich verstehe das heute sogar. Früher habe ich das überhaupt nicht verstanden, und ich habe immer darüber gegrübelt, wie das 'Dritte Reich' nun tatsächlich die Macht überneh-
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men konnte. Heute weiß ich, daß der Alltag darin besteht, daß die Leute morgens aufstehen und zur Arbeit gehen. Sie haben zwar am Abend vorher im Theater etwas zu bedenken bekommen und haben es vielleicht auch noch kurze Zeit bedacht, aber dann sind sie eingeschlafen, und am nächsten Morgen stehen sie unverändert auf und gehen wieder in den Alltag über. Offenbar ist der Mensch nur durch Katastrophen aus seinem Lebenstrott zu reißen, aber man kann ja einem Menschen keine Katastrophen wünschen. Und so steht man als Mensch - ich will hier das Wort Künstler vermeiden, weil es so fragwürdig ist -, als Mensch, der schreibt, der dadurch nichts besonderes ist, der aber nur überleben kann, indem er das aufschreibt, was er spürt und sieht, hilflos vor der beschriebenen Situation. Diese Situation wird dadurch noch kritischer, daß man als Autor ja selbst in sogenannte Sachzwänge eingebunden ist. Es geht ja schon gar nicht mehr darum, ob man als Autor etwas bewirken kann oder nicht. Das sind Fragen von vor 10 oder 15 Jahren. Inzwischen ist es so, daß man als Schriftsteller oder Fernsehautor voll in den Produktionsprozeß eingegliedert ist. Es ist ein Irrtum zu glauben, wir Schriftsteller hätten noch einen Freiraum. Ob beim Fernsehen, beim Hörfunk, beim Theater oder bei der Buchproduktion, überall haben wir Produktionstermine. Der Streß und die Einengung durch Produktionstechniken sind enorm. Der Künstler als freier Mensch, der machen kann, was er will, der das schönere Leben hat, während die anderen ins Büro oder ans Fließband müssen, dieser Künstler existiert nicht mehr. Vielleicht hat es diesen Künstler auch nie gegeben. Ich bin nicht alt genug, um beurteilen zu können, ob es die Boheme so, wie sie auf der Bühne gezeigt wird, wirklich je gegeben hat. Heute ist es auf jeden Fall so, daß die Schlinge immer enger wird. Man produziert für einen riesigen Apparat, von dem man weiß, daß er bestenfalls schöne Dinge macht und gut funktioniert, daß er letzten Endes aber wirkungslos ist: Ein Perpetuum Mobile. Pessimismus, Kunstproduktion und Utopie D: Sie haben jetzt sehr negative Grundüberzeugungen formuliert, die man als Erfahrungssumme eines zurückgelegten Lebens akzeptieren muß. Aber meine Frage zielte auch etwas auf den Aspekt der utopischen Befreiung, die ja auch zur künstlerischen Arbeit gehört. Allein die Darstellung der Realität in all ihren beängstigenden Aspekten mag dazu führen, daß man die Dinge in der negativen Verschränkung ihrer Faktoren sehr viel klarer sieht. Darin liegt ein gutes Stück Aufklärung und auch Befreiung. Aber die Befreiungsfunktion von künstlerischer Arbeit liegt doch auch darin, Möglichkeiten auszuleuchten, wie man aus diesen Verkettungen ausbrechen kann. Künstlerische Arbeit liegt auch im Entwerfen von Gegenmodellen. Und solche Gegenmodelle bedeuten ja, daß aus einer bestimmten Phantasiebewegung heraus Dinge hoffnungsvoller dargestellt werden können, wenn auch nur als denkbare oder nicht realisierbare oder nicht direkt realisierbare Auswege. Wird dieser mögliche Befreiungsaspekt künstlerischer Arbeit nicht völlig ausgeblendet, wenn wie in
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«Achsensprung» das ganz und gar negative Bild verschiedener Lebensläufe als Bild der augenblicklichen konkreten Lebenswirklichkeit vor den Zuschauer gestellt wird? Darin liegt doch auch für den Zuschauer etwas Beängstigendes und Depressives. F: Das muß nicht unbedingt so sein. Manchmal liegt in einer solchen Darstellungsform wie in «Achsensprung» auch etwas Befreiendes. Die Zuschauer sehen ihre Probleme exakt dargestellt und erkennen, daß es nicht ihre persönlichen, sondern allgemeine Probleme in dieser Gesellschaft sind. Aber ich weiß nicht, ob der Autor nicht überfordert ist, wenn er nun auch noch Priester, Arzt und der Ingenieur der Zukunft sein soll. Ich glaube, jeder Autor sollte an diesem Punkt zunächst einmal äußerst mißtrauisch sein. Es ist nicht unsere Aufgabe, neue Utopien zu entwerfen, die am Ende die Menschen nur wiederum ins Unglück stürzen. Eine Utopie kann einen Menschen genauso ins Unglück stürzen wie die tragische Schilderung eines Geschehens. Es gibt so viele falsche, so wenige wirkliche Utopien auf ein billiges HappyEnd. Gut, ich mag auch Produktionen, die ein 'Ja' zum Leben mitgeben. Ich denke an die Komödien von Frank Capra. Und ich denke, manchmal würde ich auch gerne so etwas machen, den Menschen helfen, ihren Wunsch zum Leben stärken oder ganz schlicht verhindern helfen, daß Menschen vom Balkon springen. Mit solchen Vorstellungen und Vorschlägen rennen sie übrigens beim Fernsehen offenen Türen ein, da sagt jeder Redakteur sofort: "Ja, wunderbar, so drei, vier Personen und ein bißchen heiter und ein guter Dialog und ein Happy-End". Mit anderen Worten: Es läuft dann sehr schnell in ein von Hollywood sehr breit vorgestanztes Klischee hinein. Im Fernsehen neue Modelle zu entwickeln, die nicht nur ein billiges Happy-End, sondern auch den Menschen Hoffnung bringen: Das ist äußerst schwer. Ich weiß, daß es von uns verlangt wird. Aber woher die Hoffnung nehmen, wenn man sie selber nicht mehr hat? D: Sie haben Frank Capra als Beispiel genannt. Ich glaube, das ist ein sehr treffendes Beispiel, gerade weil diese Filmkomödien in der amerikanischen Depressionszeit entstanden sind. Die Schlüsse dieser Filme sind ja zudem eigentlich nicht mit dem Begriff 'Happy-End' abzudecken, es sind vielmehr ganz phantastische euphorische Aufschwünge. Und dem Zuschauer ist ganz deutlich bewußt, daß sie de facto nicht realisierbar sind. Aber diese Schlüsse sind so im künstlerischen Kontext piaziert, daß sie im Zuschauer so etwas wie eine physiologische Befreiungsenergie auslösen, und diese Wirkung legitimiert sie auch. Nicht von ungefähr kann man diese Filme j a auch heute noch mit Vergnügen sehen, während andere Produktionen dieser Zeit pures Klischee geworden sind. Und von daher stimmen Sie doch zumindest indirekt der Möglichkeit zu, daß die künstlerische Arbeit auch eine solche Befreiungsfunktion haben kann oder zumindest früher haben konnte. Sie verneinen aber offensichtlich für sich selber die Möglichkeit, heute noch Wege ä la Capra gehen zu können. Ich denke da zum Beispiel an Ihr Fernsehspiel «Der Aufstieg». Auch hier finden wir die sehr negative Darstellung eines Lebenslaufes. Das Stück endet mit dem Tod des In-
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dustriellen, und der Zuschauer wird mit der Frage zurückgelassen, was eigentlich zu diesem Tod geführt hat. Es ist also ganz anders als im «Tatort»-Klischee, das am Anfang dieses Fernsehspiels vom Kamerateam angesprochen wird, wo der Tote am Beginn des Stückes steht und dann ein Rätselspiel stattfindet, das zur Auflösung der Umstände dieses Todes führt. In «Der Aufstieg» steht der Tote am Ende, und der Zuschauer wird im Zweifel und im Selbstzweifel zurückgelassen, wenn er darüber nachzudenken versucht, was wirklich passiert ist. Können Sie als Autor die eindeutige Antwort geben, bei diesem Tod habe es sich um Selbstmord gehandelt? Oder betrifft die Unbestimmtheit über diesen Todesfall, die sicherlich mit zur Absicht des Stückes gehört, auch den Autor selbst? Komödie oder Tragödie: Lebenswirklichkeit und künstlerische Aussage F: Es ist offengelassen. Ich habe es bewußt so offengelassen. Sie haben recht, die Frage nach der Todesart stellt sich. Wir haben in der Redaktion sehr lange diskutiert, ob es ein Happy-End oder keines geben sollte. Es ist halt die alte Frage: Komödie oder Tragödie? Aber diese Frage ist im Menschen selbst angelegt, und je nach Stimmung kann eine Komödie helfen oder auch die Tragödie des Ödipus. Es ist beides im Menschen, und in diesem Fall habe ich sehr lange den Schluß überlegt, das heißt, wie er gezeigt werden soll. Und ich habe mich schließlich dazu entschieden, daß der Schluß nur zu hören ist und daß unklar bleibt, was wirklich ganz genau geschehen ist. Der Schluß als solcher allerdings, der Tod des Industriellen, war für mich schon sehr früh klar. Es wäre mir eine Lebenslüge gewesen, wenn sich dieser Mensch, den ich so beschrieben und damit so gekannt habe, blind davongestohlen hätte. Es wäre mir eine Lebenslüge gewesen, wenn das Kamerateam weggefahren und er wieder zu seinen Alltagsgeschäften übergegangen wäre. Der Schluß erst löst für mich überhaupt die Fragen aus, warum und weshalb dieses Leben schiefgegangen ist, woran man Leben messen kann, was Erfolg ist und ob ein solches Leben lebenswert sein kann. Kann man das Leben nur in Zahlen messen oder gibt es noch andere moralische Maßstäbe in diesem Leben? Offenbar nicht. Wenn das Leben nur an Zahlen zu messen ist, dann hat es auch eine gewisse Konsequenz, an der man sich nicht vorbeimogeln kann. Man kann dann hinterher nicht sagen: "So, jetzt mache ich noch etwas Utopisches", so daß die Menschen doch beruhigter ins Bett gehen. Das Fernsehspiel «Gesundheit» und autobiographische Erfahrungen D: Sie haben vorhin angedeutet, daß hinter Ihren Fernsehstücken, die man auch als Spielmodell bezeichnen könnte, auch persönliche Erfahrungen stehen. Man könnte nun den Eindruck haben, daß diese persönlichen Erfahrungen vielleicht am stärksten in einem Fernsehspiel ausgeprägt sind, über das wir bisher nicht gesprochen haben. Ich meine Ihr Stück «Gesundheit». Auch dieses Fernsehspiel entwickelt sich an einer
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biographischen Chronologie, und der Protagonist Färber artikuliert Erfahrungen, die mir als Zuschauer sehr deutlich mit der Biographie des Autors Forte verankert zu sein scheinen. Ist das tatsächlich der Fall? Und können Sie diesen Zusammenhang, falls er denn gegeben ist, vielleicht etwas näher charakterisieren? F: Sie haben mit Ihrer Vermutung recht, aber über die genaueren Zusammenhänge möchte ich nichts sagen. «Gesundheit» ist wahrscheinlich das biographischste Stück von allen, obwohl in allen meinen Stücken persönliche Erlebnisse oder Erfahrungen stecken. Das gilt sogar für «Der Aufstieg», obwohl ich kein Konzern-Mensch bin. «Gesundheit» ist am stärksten, konkretesten und genauesten mit meiner Biographie verknüpft. Es ist ziemlich biographisch, freilich in abgemilderter Form. Ich habe dem Zuschauer eigentlich nicht die volle Wahrheit zugemutet. Ich habe immer wieder zurückgenommen und dem anderen, der sich meines Erachtens falsch benimmt, ein Pardon gegeben. Fernsehautor, Drehbuch und Produktionsprozeß D: Trotzdem könnte man sagen, daß auch hier am Ende ein sehr negatives Resümee steht. Färber sieht ja die Möglichkeit des Weiterexistierens nur innerhalb des Sanatoriums. Hier kann er selbst helfen, während er sich in der normalen Alltagswirklichkeit stigmatisiert sieht. Dort sieht er keine Möglichkeit der Eingliederung, und es ist nur eine Randwirklichkeit, die ihm noch zur Verfügung steht. Soziologisch gesehen repräsentiert Färber den Typus des mittleren Angestellten. Nehmen wir nun aus soziologischer Perspektive die Figuren aus Ihren anderen Fernsehspielen hinzu den Konzernchef Mann, den leitenden Angestellten Lahnstein, den Prokuristen Kemp und den Einzelhändler Postberg in «Sonntag», Glinka, den kleinen Angestellten nicht zu vergessen - dann haben wir in dieser Auffächerung soziologischer Typen ein erstaunlich vollständiges Reservoir von Wirklichkeitsfiguren, die unsere zeitgenössische Realität vorstellen. Und in allen Fällen akzentuieren Sie letztlich ein sehr negatives Ende. Ich möchte aber nun den Aspekt der Umsetzung von biographischer Erfahrung in den angeführten Figuren verlassen und auf das Verhältnis des Fernsehautors zum Produktionsprozeß zu sprechen kommen. Wenn man die als Buch erschienenen Texte der vier Fernsehspiele liest, dann fällt besonders bei «Sonntag» auf, daß es zwischen Textvorlage und filmischer Realisierung starke Veränderungen gegeben hat. Es gibt in «Sonntag» einige Sequenzen die, wenn ich recht sehe, gar nicht in der Schreibvorlage enthalten sind, etwa das Spiel mit dem kleinen Roboter, der in den Swimmingpool plumpst. Der junge Martin Kemp steht im Mittelpunkt dieser Sequenz, der Junge, der den anderen erschlagen hat. Oder ich denke an die Szene auf dem Spielplatz, in der ein Kind gezeigt wird, das beständig eine Trettrommel bedient, im Grunde genommen also eine monotone und sinnlose Aktivität ausführt. In den anderen Fernsehspielen sind solche Veränderungen der Schreibvorlage seltener,
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aber es hat auch dort offenbar Umplazierungen von Sequenzen gegeben. In solchen Veränderungen scheinen sich Schwierigkeiten zu dokumentieren, die ein Autor hat, der sich mit dem Produktionsapparat des Fernsehens auseinandersetzen muß. Sie haben zwar am Anfang unseres Gesprächs einmal gesagt, daß Sie in dieser Hinsicht eigentlich wenig Schwierigkeiten gehabt haben, aber diese Umänderungen deuten für mich doch darauf hin, daß in ihrem schriftstellerischen Arbeitsvorgang auch Kräftefaktoren aus dem Bereich der Fernsehbürokratie eine Rolle gespielt haben. F: Hier spielen verschiedene Dinge eine Rolle, auch solche, die das Theater betreffen und die ich deshalb gerne mit einbeziehen möchte. Beim Theater sind es die Regieinterpretationen, und wenn man «Nathan der Weise» schon hundertmal gesehen hat und einer macht jetzt ein Kasperletheater daraus, dann ist das eben eine tolle Interpretation von Lessing. Für das Theater ist es im Hinblick auf einen gespielten Text im Prinzip immer der gleiche Vorgang: Schauspieler treten auf, Regisseure führen Regie, Bühnenbildner machen Bühnenbilder, und es entstehen Veränderungen, Abweichungen, Interpretationen der ursprünglichen Textvorlage. Die genannten Leute sind ja kreative Menschen, denen man ihre Kreativität lassen muß. Man muß sogar versuchen, diese kreativen Energien mit einzubeziehen. Beim Fernsehen ist es grundsätzlich nicht anders, aber es kommen spezielle Probleme hinzu. «Sonntag» zum Beispiel hatte ich nach einer Satellitenstadt geschrieben, die bei Düsseldorf liegt. Da das Fernsehspiel aber von einer süddeutschen Sendeanstalt realisiert wurde, mußten wir aus praktischen Gründen in diesem Raum eine Satellitenstadt suchen. Das habe ich mit Niels-Peter Rudolph als Regisseur gemacht, und der hat zunächst einmal die ganze Siedlung fotografiert. Natürlich entsprach die Siedlung nicht in allem der meiner Schreibvorlage. Es gab da zum Beispiel kein Radiogeschäft, dafür aber eine Tankstelle. Und die Spielplätze waren auch ein wenig anders als die bei Düsseldorf. Das sind so ganz einfache Sachen. Wir haben also dann die Dinge behutsam angeglichen und uns dem vorgefundenen Drehort langsam angenähert, ohne dabei das Drehbuch aus den Augen zu verlieren. Bei diesem Prozeß der Angleichung von Drehbuch und Drehort spielt selbstverständlich auch das Profil des jeweiligen Regisseurs, spielen seine Stärken und seine Schwächen eine Rolle. Dann gibt es zweitens Veränderungen, die sich aus einer bestimmten Situation heraus ergeben. Gerade bei einem Fernsehspiel wie «Sonntag», das sehr wenig Text hat, kommt es immer wieder vor, daß ein Schauspieler sagt: "Ich brauche hier jetzt noch dieses oder jenes, will dieses oder jenes tun, um das darstellen zu können". Drittens gibt es dann aber auch schon einmal Schwierigkeiten der szenischen Darstellung, Einwürfe, die vom Sender kommen. In einer ersten Fassung von «Sonntag» beispielsweise wollte ich zeigen, wie dieses Kind von dem anderen mit einem Gewehr erschlagen wird. Das steht auch so in meinem Drehbuch, und wir haben es auch zunächst einmal so gedreht. Das ist vom Sender sehr ungern gesehen worden, und man hat lange darüber diskutiert. Wir haben also anhand der Bilder die Sache noch einmal verändert und angepaßt.
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Das hat sehr große Schwierigkeiten bereitet - ein Tötungsdelikt, um es einmal so formal zu nennen - läßt man nicht gern über die Mattscheibe gehen. Wir haben verschiedene Möglichkeiten versucht, um dieses Tötungsdelikt adäquat zu zeigen. Schließlich hat Niels-Peter Rudolph eine Lösung ausgetüftelt. Er hat diese Spielsituation, diese Siedlung fast noch einmal in klein nachbauen lassen, und daraus hat sich dann die jetzige Filmlösung ergeben. Im Ganzen waren hier also verschiedene Aspekte zu berücksichtigen. Wichtig ist nur, daß man letztlich hart bleiben und sich durchsetzen muß. Dann bringt man seine Vorstellungen auch durch. Ja, man muß kämpfen beim Fernsehen, aber ist es beim Theater viel anders? Produktionsfreiräume des Autors im Theater und im Fernsehen D: Aber verläuft die Produktionsweise für das Fernsehen nicht viel stärker in eine Richtung, die man als Auftragsarbeit bezeichnen könnte? Ich will damit nicht sagen, daß eine Fernsehanstalt an einen Autor durch einen Dramaturgen herantritt und ein Thema vorschlägt. Es kann durchaus sein, daß sich ein Thema zunächst auf dem Schreibtisch des Autors bildet und nähere Umrisse gewinnt. Aber dann ist es doch so, daß der Autor der Fernsehanstalt zuerst nur eine reine Beschreibung seines Vorhabens und dann ein Treatment vorlegt. Und dieses Treatment kann dann doch durch bestimmte Vorstellungen des Produktionsstabes verändert werden. Beim Theater ist es aber in aller Regel anders. Der Dramaturg bekommt in den meisten Fällen eine fertige Fassung vorgelegt. Die Veränderungen, die nun selbstverständlich an dieser fertigen Fassung stattfinden können, unterscheiden sich aber meines Erachtens wesentlich von denen bei einer Fernseharbeit, werden sie doch in einem sehr viel späteren Stadium des schriftstellerischen Produktionsvorganges getätigt. Sehen Sie das auch so? F: Ich bin bis auf einen Fall immer mit meinen Ideen zum Fernsehen gegangen und habe meine Vorstellungen vorgetragen. Wurden sie akzeptiert, so habe ich mich an die Arbeit gemacht und dann das fertige Buch abgegeben. Dann gab es noch einmal ein Gespräch, und das war es. Zu Änderungen kam es dann immer erst im konkreten Produktionsprozeß, in der Zusammenarbeit mit dem Regisseur und den Schauspielern. Hier ging es dann aber um künstlerische Dinge. Bei den letzten Inszenierungen mit Peter Patzak haben wir über viele Dinge lange gesprochen. Ein Regisseur stellt sich halt manche Szenen anders vor, er hat einen anderen Rhythmus oder einen anderen Schnitt oder ein anderes Zeitgefühl und möchte dieses mehr und jenes weniger betonen. Da muß man sich dann zusammenraufen, und ein Regisseur hat ja schließlich auch sein Recht. Man muß sich also einigen, und wenn man sich versteht und weiß, was man gemeinsam will, dann kommt es auch nicht zu einer Situation, wo der Autor sagt: "Jetzt verändert der mein Buch". Im Theater, da ist das sehr stark der Fall, denn dort hat der Regisseur eine Position, die es ihm erlaubt, jedes Stück, selbst
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das eines zeitgenössischen Autors nach Belieben umzuschreiben oder anders zu inszenieren. Theaterleute kommen auch viel eher mit Auftragsarbeiten und haben dann auch noch die Eigenart, sehr früh ein Manuskript sehen und mitreden zu wollen. Und vergessen Sie nicht den Theaterverlag, der auch eine Vorstellung darüber hat, wie heutiges Theater und heutige Stücke aussehen müßten. Die Hierarchie und die Tradition, das Selbstwertgefühl der Theatermacher gegenüber dem Autor - vom Theaterverlag über den Intendanten bis zum Dramaturgen und zum Regisseur - sind viel stärker als das Gefühl angestellter Redakteure beim Fernsehen, die ihre Aufgabe im wesentlichen darin sehen, eine Art Hebamme zu sein. Die Redakteure versuchen, die technischen Möglichkeiten zu schaffen und das Projekt, das der Autor und mit ihm der Regisseur vorlegt, im Hause durchzubringen. Der Redakteur ist in aller Regel eigentlich mehr ein technischer Administrator, der Kostenrechnungen erstellt und die Produktionszeit festlegt. Er ist ganz selten ein Mann, der ein Buch zensiert, und in solchen Fällen läuft es eh fast immer auf eine Ablehnung hinaus. Die Situation ist also sehr klar: Nimmt ein Redakteur ein Projekt an, dann macht er es auch, und dann ist es auch mein Buch. D: Ihre Darstellung kehrt tatsächlich die üblichen Annahmen, auch meine eigene ins genaue Gegenteil. Aber jetzt frage ich mich, warum es unter den von Ihnen beschriebenen Umständen nicht möglich sein sollte, ein so hochinteressantes Stück wie «Achsensprung» in einer neuen Inszenierung auf die Bühne oder ins Fernsehen zu bringen. «Achsensprung» als Fernsehspiel ist ja dadurch blockiert, daß Christoph Wackernagel Terrorist geworden ist und auf einem bundesdeutschen Bildschirm als Filmschauspieler nicht mehr erscheinen darf. Hat ein Autor Möglichkeiten, diesen allgemeinen Kreislauf der einmaligen Produktion und ein- oder zweimaliger Wiederholung durch ein Überzeugungsplädoyer von der literarischen Substanz des Stükkes her zu durchbrechen? Sehen Sie für sich also Möglichkeiten der Einflußnahme, die darauf hinausliefen, daß beispielsweise «Achsensprung» nochmals aufgeführt, aufgezeichnet und gesendet würde? F: Eigentlich nicht. Sie sprechen hier etwas an, das im Fernsehen noch ganz unklar ist. Ich kann mich kaum an ein Fernsehspiel erinnern, das noch einmal neu inszeniert worden wäre. Ich würde mir auch gar nicht zutrauen, das zu erreichen. In den Köpfen der Verantwortlichen sitzt ganz fest die Vorstellung, daß ein einmal inszeniertes Fernsehspiel fertig ist und nach einer oder wenigen Ausstrahlungen ins Archiv gehört. Jeder Sender sagt: "Ja Gott, das ist ja schon mal gewesen", und man wiederholt es lieber einmal, und dann ist es gut. Korrekturmöglichkeiten des Autors im Theater und im Fernsehen D: Man könnte doch sagen, daß dadurch für den Autor beim Fernsehen das Risiko größer ist. Setzen wir den Fall, daß eine Inszenierung für das Fernsehen aufgrund be-
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stimmter Außenfaktoren mißlingt, die der Autor selbst nicht beeinflussen konnte. Dann ist doch der literarischen Fehlschlag, der mit dieser Arbeit verbunden ist, für die Zuschauer nur mit dem Namen des Autors verbunden, während er in Wirklichkeit zum Beispiel von dem Produktionsstab zu verantworten ist. Der Autor hat in einer solchen Situation offensichtlich keine Korrekturmöglichkeiten. Im Theater ist das anders. Selbst wenn eine Inszenierung schief und falsch gelaufen ist, gibt es aus der Tradition dieses Kultursektors heraus immer noch die Möglichkeit, daß ein anderer Regisseur das Stück aufgreift und das verzerrte Bild korrigiert. F: Das ist, weder theoretisch noch von der Tradition noch von der heutigen Praxis her gesehen,
richtig.
Gut,
ein
Fernsehspiel
kann
beispielsweise
aus
rein
produktionstechnischen Gründen schiefgehen, aber als Autor haben Sie doch bis zu einem gewissen Grade die Möglichkeit der Korrektur. Bei jeder Produktion gibt es Szenen, die daneben gegangen sind und die falsch gedreht wurden. Aber in einem gewissen tolerierbaren Rahmen kann der Autor dann immer noch verlangen, daß diese Szenen neu gedreht werden. Und diese Szenen werden dann auch neu gedreht. Man kann also Szenen bis zu einem gewissen Umfang reparieren. Aber selbstverständlich kann ein Film auch total schiefgehen. Der wird zwar dann von der aktuellen Fernsehkritik verrissen, aber das ist eigentlich nicht sehr tragisch, und das Risiko ist minimal. Die offizielle Literaturkritik nimmt das sowieso nicht wahr. Beim Theater hingegen ist das Risiko inzwischen übergroß, und das ist nicht allein meine Erfahrung, sondern auch die anderer Autoren. Die Uraufführung eines neuen Stückes ist mittlerweile arg belastet. Da reist dann die gesamte Kritik an, und alles entscheidet sich am ersten Abend. Dabei ist die Uraufführung nur ganz selten die beste Aufführung eines Stückes. Bei der Uraufführung ist der Streß viel zu groß, und manchmal kommt sie auch einfach zu früh. Mir ist das jetzt schon zweimal passiert. Alle Beteiligten, der Regisseur, der Bühnenbildner und ich haben noch bis Mitternacht gesessen und gearbeitet, und wir wußten, daß die unmittelbar bevorstehende Aufführung noch nicht fertig war. Und jeder hat für seinen Bereich gesagt, wieviel Zeit er noch braucht, und wir kamen auf ein Minimum von zwei Wochen. Aber der Premierentermin stand fest, und der Intendant wollte das Stück nicht absetzen, und kommt ein Stück nicht zum angekündigten Premierentermin heraus, dann ist es ganz weg. Wir wußten alle, daß wir nicht das erreicht hatten, was wir wollten. Und daß es nicht den Theaterabend geben würde, den wir uns vorgestellt hatten. Selbst die Schauspieler wußten das. Und dann kommt die Premiere: Die Kritik reist an, und die Kritik verreißt das Stück. Und dann spielt kein Theater dieses Stück nach, Sie können noch so viele feste Verträge mit anderen Theatern haben. Die lösen dann nach dem Verriß einer Uraufführung den Theatervertrag nicht ein und spielen das Stück einfach nicht. Es gibt eine Welle von Premieren, kaum aber zweite Aufführungen. Jeder Regisseur hetzt hinter Uraufführungen her, weil er nur auf diese Weise die Kritik anlocken kann.
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Fernsehkritik durch Fernsehproduktionen D: Das ist eine interessante Wendung, die unser Gespräch jetzt nimmt. Ich bin eigentlich davon ausgegangen, daß Sie eher in das doch einigermaßen bekannte Klagelied des Autors einfallen würden, der für das Fernsehen schreibt oder gar schreiben muß. Ihrer Erfahrung nach sieht es aber so aus, daß die Schwierigkeiten und die Klageumstände eher beim Theater gegeben sind. Mein Versuch, die Schwierigkeiten etwas hervorzuheben, die auch das Fernsehen als bürokratischer Apparat für den Autor darstellt, ist auch etwas davon geleitet gewesen, daß sich in Ihren Fernseharbeiten immer auch sehr pointierte Reflexionen über das Fernsehen zeigen. In «Der Aufstieg» ist es am augenfälligsten. Fast könnte man meinen, dieses Fernsehspiel sei auch als eine Persiflage auf die beliebteste Serienform im deutschen Fernsehen, auf die Krimiserie angelegt worden. Und von daher könnte man den Eindruck haben, daß Sie bei ihrer primär von literarischen Motiven geleiteten Arbeit für das Fernsehen doch auch die Struktur des Fernsehens berücksichtigen. Sie tun das, indem Sie bewußt Reflexionswiderstände einbauen und in «Der Aufstieg» beispielsweise von Anfang an bestimmte Wahrnehmungsklischees der Zuschauer attackieren. Damit begegnen Sie der Gefahr, daß die Zuschauer bei einem solchen Stoff und bei einem solchen Fall von vornherein in bestimmte Wahrnehmungsmuster verfallen und so das Stück in seiner Absicht völlig verfehlen. F: Selbstverständlich ist es hier nicht meine Aufgabe, das Fernsehen zu verteidigen. Das machen die Fernsehleute viel besser. Wenn ich für das Fernsehen schreibe, dann kritisiere ich auch wiederum die Strukturen des Fernsehens, so wie ich jetzt auch die Strukturen des Theaters kritisiert habe. Solche anfechtbaren Strukturen sind auch im Fernsehen ganz unweigerlich vorhanden, und dazu gehört zum Beispiel die dauernde Reproduktion bestimmter Darstellungsformen, die sich dann in der Weise von Sehgewohnheiten bei den Zuschauern einschleifen. Ein «Tatort» beginnt meist mit einem Schuß, und dann wird mühselig recherchiert, um schließlich die Antwort auf die Frage zu bekommen, wer geschossen hat und warum der Schuß gefallen ist. Auf solche Muster habe ich mich beispielsweise in «Der Aufstieg» ganz bewußt bezogen, und es ist ein umgedrehter «Tatort» dabei herausgekommen. Der Schuß erst am Ende läßt den Zuschauer auch fragen, warum bei mir das übliche Muster auf den Kopf gestellt ist. Ich habe also die Sehgewohnheiten in Frage gestellt. In «Der Aufstieg» gibt es sogar Anspielungen auf Serien ä la «Das war mein Leben», die vorgeben, eine gewisse Wahrheit über eine Person herzustellen. Diese Wahrheit aber kann ja niemals hergestellt werden. In meinem Fernsehspiel ist es dagegen so, daß nur so getan wird, als wenn nun die Geschichte eines Lebens erzählt würde. Wie auch immer, die ganze Fragwürdigkeit des Fernsehverbrauchs, auch der Verschleiß von Personen durch das Fernsehen sollten schon gezeigt werden. Und die eingeschliffenen Sehgewohnheiten sind ganz sicher auch eine große Gefahr, zumal wir viele Serien in
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Amerika einkaufen. Diese Serien sind also in einer etwas verschiedenen Kultur entstanden, und wir übernehmen sie einfach ohne groß zu überlegen, ob sie unserem Niveau entsprechen oder ob man etwas Neues daraus entwickeln könnte. Innovation im Fernsehen und interkultureller Austausch D: Jetzt könnte man allerdings sagen, daß die Entwicklung in Amerika durchaus auch positive Momente aufweist. Es gibt dort eine ganze Reihe von Autoren, die sich als primär literarisch orientierte Schriftsteller auch auf dem Bildschirm durchgesetzt haben. Ich denke etwa an die Leute, die die «Mary-Taylor-Moore-Show» geschrieben und damit einen sehr anspruchsvollen, sehr witzigen und pointierten Dialog auf dem Bildschirm durchgesetzt haben. Es ist sogar zum Teil so, daß solche literarisch anspruchsvollen Serien in den letzten Jahren mit zu den erfolgreichsten Serien überhaupt gehörten. Diese Serien benutzen die Sprache nicht als puren Transportträger für irgendwelche kriminalistischen oder situationskomischen Verwicklungen, sondern sie ironisieren sie ganz bewußt als Kommunikationsinstrument. Leider werden solche Serien nur ganz selten auch im deutschen Fernsehen gezeigt. Man begnügt sich nach wie vor damit, die negativen Beispiele einzukaufen. Damit können diese positiven Entwicklungen in Amerika kaum für deutsche Fernsehautoren und Fernsehproduktionen fruchtbar gemacht werden. F: Ja, ich glaube, man muß das Neue aus der eigenen Art heraus entwickeln. Denken Sie zum Beispiel an England und an Autoren wie Pinter, Wesker und Osborne, die von Anfang an sowohl für die Bühne wie für das Fernsehen gearbeitet haben. Diese Art ihrer Stücke - man hat oft von Küchendramaturgie gesprochen - war teilweise durch die etwas veraltete technische Ausstattung der BBC bedingt, die gewisse Dinge gar nicht erlaubte. Aber es hat sich da etwas Spezielles entwickelt. Und ich glaube, wir müßten genauso aus unseren eigenen Möglichkeiten, aus unserer Sprache und unserer allgemeinen Kulturtradition und unserer sehr hohen und ernsten literarischen Tradition heraus das Neue entwickeln.
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Erfolg ist ein Aberglaube. Über die Fernsehspiele von Dieter Forte
I. Als 1970 nach umfangreichen historischen Recherchen das erste Theaterstück Dieter Fortes «Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung» 1 uraufgeführt wurde, war die Öffentlichkeitswirkung so intensiv, daß nicht nur die deutsche Gegenwartsdramatik um eine neue originelle Stimme bereichert schien, sondern die Initiation des Theaterautors Forte in mancher Hinsicht von ähnlichen Vorzeichen begleitet schien wie 1963 das im doppelten Wortsinn dramatische Debüt Rolf Hochhuths mit seinem Stück «Der Stellvertreter». Hochhuth 2 hatte mit seinem Stück die pastorale Selbstgefälligkeit der Institution katholische Kirche angeprangert, die in ihrem Repräsentanten Pius XII. während der Jahre der Hitler-Diktatur ihre moralische Verpflichtung zur Hilfe der verfolgten Juden aus durchsichtigen politischen Nützlichkeitserwägungen heraus weitgehend vernachlässigt hatte. Die von zahlreichen Protesten katholischer Interessenverbände begleiteten Aufführungen seines Stückes wurden als kirchenfeindliche Polemik angeprangert, aber erwiesen sich im Rückblick als heilsame therapeutische Aufarbeitung eines Kapitels historischer Verdrängungen. Fortes die historischen Fakten zu einer neuen Lesung zusammenfügende Darstellung der frühbürgerlichen Revolution zu Anfang des 16. Jahrhunderts, als der ehemalige Adlatus Luthers, der Geistliche und Gelehrte Thomas Münzer, Luthers reformatorische Bewegung so radikalisierte, daß er, zum ideologischen Kopf der Bauernaufstände in Thüringen geworden, zum Gegner des um Ausgleich bemühten Luthers wurde, läßt die religiöse Glaubensauseinandersetzung zur ideologischen Staffage machtpolitischer Konstellationen werden, deren eigentlicher Drahtzieher Jakob Fugger ist. Sein riesiges Kapital wird so geschickt eingesetzt, daß Kaiser und Reich seinen Absichten dienen, daß Luthers moralisches Prestige als Reformator zur Niederdrückung der Bauernaufstände eingesetzt wird, daß sein bilanzierendes Hauptbuch jenes Buch der Bücher, die Bibel, schon längst verdrängt hat, auch wenn die Proklamationen der Reformation vorgeben, dieses Buch wieder zum Grundbuch der Wirklichkeit machen zu wollen. Diese sicherlich auch von der ideologiekritischen Aufbruchbewegung der Studentenbewegung getragene nüchterne Geschichtsanalyse wurde Forte von offiziellen Vertretern der evangelischen Kirche vom Hamburger Bischof Wölber bis hin zum Theologieprofessor Thielicke als marxistische Geschichtsklitterung angekreidet, als Attentat gleichsam auf die
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Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 1971. Vgl. dazu die von Reinhart Hoffmeister zusammengestellte Dokumentation «Rolf Hochhuth. Dokumente zur politischen Wirkung», München 1980.
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über alle Zweifel erhabene Autorität Luthers 3 . Das Stück wurde seinerzeit von dreißig Bühnen nachgespielt, verursachte Theaterskandale in Köln und Berlin und provozierte überall, wo es gespielt wurde, intensive Diskussionen. Aber während die sicherlich noch intensivere Öffentlichkeitswirkung von Hochhuths «Der Stellvertreter» kaum von der Einsicht begleitet wurde, hier handle es sich nicht um ein pathetisches epigonales Ideendrama Schillerscher Provenienz, sondern um die vielversprechende Talentprobe eines neuen Dramatikers, war die Situation in Fortes Fall ganz anders. Der Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft stellte an das Ende seiner Besprechung der Berliner Aufführung die rühmenden Sätze: "Fazit: hier haben wir einen vorzüglichen Szenenmacher deutscher Zunge. Forte hat Theatersinn. Seine Sprache ist an Bosheit und Treffsicherheit nur der Dürrenmatts zu vergleichen. Er hat Lust am Schrecken und jene amüsante Lehrhaftigkeit, wie sie seit Shaw nicht mehr aufs Welttheater kam."4 Der Stuttgarter Kritiker Peter Iden hat durchaus stellvertretend für die Meinung seiner Zunft damals resümiert: "Das deutschsprachige Theater hat einen neuen Autor." 5 Forte hat diesen in seinem ersten Stück eingeschlagenen Weg in den folgenden Jahren auf beiden Ebenen fortzusetzen versucht. Das zeigt sich einmal in seiner Auffassung historischer Überlieferungskonventionen, die konsequent gegen den Strich gelesen werden, und zum andern in seiner Bereitschaft, auch jeweils dramaturgisch neue Wege zu gehen und sich nicht mit einem einmal erprobten theatralischen Darstellungsmuster zufrieden zu geben. So wie er im Erstlingsstück konsequent von einem Kapitel weit zurückliegender Geschichte (der Reformation und den Bauernkriegen) Schicht für Schicht den ideologischen Firnis abträgt und wirtschaftspolitische Kausalitäten als tatsächlichen Motor des Geschehens dahinter sichtbar macht, konzentriert er sich in seinem Stück «Jean Henry Dunant oder Die Einführung der Zivilisation»6 auf ein panoramatisches Geschichtsbild des mittleren 19. Jahrhunderts und seine sich andeutenden Sozialkonflikte, die die bürgerlichen Emanzipationshoffnungen, die Ideen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit des Philanthropen Henry Dunant, der tatsächlichen Entwicklung der Zeit hoffnungslos unterlegen zeigen. Auch hier wird der einzelne mit seiner Vision einer wünschbaren Welt im Widerspruch zu jenen Kräften gezeigt, die, fasziniert von der Herrschaft der Zahlen, den Bilanzkolonnen in den Rechnungsbüchern, den idealistisch eingestellten einzelnen aufreiben. Der zu Ansehen und Reichtum aufgestiegene Bankier Dunant, der gegen die Physik der
Vgl. dazu im einzelnen Franz Norbert Mennemeier: «'Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung'. Versäumte Vermittlung», in: «Geschichte als Schauspiel», hg.v. Walter Hinck, Frankfurt a.M. 1981, S. 371-379; desgleichen Manfred Karnick: «Martin Luther als Bühnenfigur», in: «Text + Kritik» (1983), S. 178-204. 4
Zitiert hier nach Michael Töteberg: «Dieter Forte», in: «Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur» (1984), S. 1-8, Zitat S. 2. ® «Dieser Luther: ein Heuchler», in: «Frankfurter Rundschau» v. 7.12.1970. 6
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Macht, die den Menschen zum Opfer degradiert, seine humanitäre Organisation des Roten Kreuzes gründet, wird von den herrschenden Militärs funktionalisiert, denen ein modernes Lazarettwesen eine willkommene Ergänzung moderner Kriegsführung ist. Dunants humanitäres Credo erweist sich angesichts dieser Wirklichkeit als reine Wunschvorstellung: "Dies ist ein zutiefst egoistisches Jahrhundert. Die Menschheit ist schlecht, ohne Zweifel, aber Intoleranz und Heuchelei sollten sie nicht noch schlechter machen, als sie in Wirklichkeit ist. Der Geist der Solidarität ist ein Mittel, um sowohl Klassen als auch Nationen einander näherzubringen, um auch in Friedenszeiten zu lernen, Unglückliche mit Augen zu sehen und mit Händen anzufassen, wie man es bisher nicht kannte. Solidarität bedeutet, den Ruf nach Menschlichkeit zu erheben, indem man die Glücklichen auf den endlosen Schrei des Leidens aufmerksam macht, der sich am Boden der Gesellschaft erhebt, an der Spitze aber im Taumel des Vergnügens überhört wird." (S. 63/4) Dunant, der mit seinem Vermögen für seine Überzeugungen eintritt, landet am Boden dieser Gesellschaft in dem Augenblick, als seine Finanzen erschöpft sind und er als Bankrotteur von der Gesellschaft ausgespien wird, um schließlich als Clochard zu enden. Zwischen dem technologisch-zivilisatorischen Fortschritt jener Jahrzehnte und dem moralischen Verhalten der Menschen klafft ein unüberbrückbarer Gegensatz. Mit der Hektik der Progression verlieren die moralischen Wertorientierungen immer mehr an Bedeutung. Fortes dramaturgische Konzeption im Dunant-Stück zerlegt die historische Zeit in exemplarische Situationsquerschnitte, die durch die Erfahrungsperspektive der Mittelpunktsfigur episch verklammert werden. In seinem dritten Stück «Kaspar Hausers Tod» 7 hat sich sein dramaturgischer Einstieg ein weiteres Mal verändert. Indem die Leichenfeier für Kaspar Hauser, den rätselhaften Findling, der, so unerklärlich wie letztlich sein Auftauchen, 1833 ermordet wird, als grundlegende Handlungssituation in den Mittelpunkt tritt, kehrt er in gewisser Weise zum Muster eines geschlossenen, die Einheiten von Raum und Zeit einhaltenden Dramas zurück und legt am Beispiel der Trauergemeinde einen Querschnitt durch die Gesellschaft der Zeit. Die historische Analyse Fortes läßt sich auch hier ein weiteres Mal erkennen. Sein Paradigma ist ein restaurativ geducktes, kleinstaatlich zerfranstes Deutschland, das in Reaktion auf die öffentlichen Demonstrationen des süddeutschen radikalen Liberalismus auf dem sogenannten Hambacher Fest des Jahres 1832 den Beschluß der über vierzig souveränen Staaten des damaligen Deutschen Bundes zur strikten Unterdrückung solcher Tendenzen zum Restaurationsfanal werden läßt. Die Ermordung des mysteriösen Findlings Kaspar Hauser wird im Verhalten der Betroffenen zum Katalysator des eigenen Zustands: Die im Geist der bürgerlichen Aufklärung vollzogene Emanzipation, die am Beispiel Hausers vom Zustand des Sprachlosen, des Lebendigbegrabenen zum artikulationsfähigen, intelligenten Mitmenschen führt und durch den Mord an ihm abrupt unterbrochen wird, findet in Häuser eine politische Metapher 7
Frankfurt a.M. 1979.
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für den Zustand jener nach Freiheit verlangenden Bürger, die den Zugriff der Restauration verspüren. Freilich hat die damals bereits sprichwörtlich gewordene Tendenzwende der späten siebziger Jahre mit dazu beigetragen, daß die politische Sensibilität des Theaters, die von Stücken wie Hochhuths «Der Stellvertreter», Peter Weiss' «Marat/de Sade» oder Tankred Dorsts «Toller» eingeleitet und verstärkt worden war, damals bereits schon fast wieder verschüttet war. Diese neuentstandene Hemmschwelle der Wirkung für Stücke, die nicht auf theatralische Turbulenz, sondern auf analytische, aber keineswegs lehrhaft platte Aufklärung ausgerichtet waren, hat auch die Resonanz von Fortes drittem Theaterstück nachhaltig eingeengt, zumal öffentlichkeitswirksame Kritiker, die sein Erstlingsstück enthusiastisch begrüßt hatten, bereits beim DunantStück meinten, dramaturgisches Versagen diagnostizieren zu müssen 8 . Forte, der, zuvor Regieassistent, von 1971 bis 1975 als Hausautor am Basler Theater wirkte und zudem als Lektor beim NDR-Fernsehen intensive dramaturgische Erfahrungen gesammelt hatte, hat seitdem als Dramatiker kontinuierlich an Boden in der Öffentlichkeit verloren. Sein bisher letztes Bühnenstück «Das Labyrinth der Träume oder Wie man den Kopf vom Körper trennt» 9 ist ein erneuter Versuch, einerseits die unvoreingenommene Analyse der Historie fortzusetzen, diesmal mit dem Blick auf die jüngste deutsche Vergangenheit, und andererseits wiederum ein neues dramaturgisches Darstellungsmodell einzusetzen. Forte spricht von einem "Phantasiestück in piranesischer Manier über den ewigen Versuch, aus dem carceri unseres Bewußtseins zu entfliehen in eine durch Kunst und falsche Mythen verwandelte 'bessere, schönere' Welt. Ein Nachtstück über das Innere von Menschen, die ihre Welt als Gefängnis inszenieren, gegen die sie rebellieren, indem sie immer neue, größere Kerkerwelten errichten."™ Es ist in jeder Hinsicht ein hochkompliziertes Stück, das sich alternierend auf zwei Massenmörder der jüngsten deutschen Geschichte konzentriert: auf den im Verborgenen operierenden Düsseldorfer Massenmörder Kürten, der eine ganze Region in Angst und Schrecken versetzte, und auf den in der politischen Öffentlichkeit wirkenden Massenmörder Hitler, der sein Unwesen mit großem theatralischen Pomp inszenierte. Es handelt sich zugleich, bezogen auf den geschichtlichen Prozeß, um die Regression und Pervertierung des großen Projektes der Aufklärung. Die Vernunft hat sich verabschiedet. Alpträume und Phantasien werden theatralisch agiert. Kürten und Hitler verhalten sich komplementär zueinander. Die nackte mörderische Destruktion Kürtens ist bei Hitler in eine ästhetische Kulissenlandschaft integriert, die das ο
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Beispielhaft sei auf Peter Iden verwiesen, der 1978 ausführte: "Wer von Geschichte so wenig weiß und verstanden hat, und dem Theater nun aber auch gar nichts anbieten kann, soll viel lesen und dann, wenn er unbedingt muß, für den Kinderfunk schreiben - auf einer Bühne hat er nichts zu suchen.'' («Autor, Ensemble, Intendant: bankrott», in: «Frankfurter Rundschau» v. 3.4.78). Der Ton dieser Besprechung kommentiert sich selbst. Frankfurt a.M. 1983. So der Selbstkommentar auf dem Schutzumschlag der Buchausgabe.
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Grauen, das aus seinen Handlungen folgt, nur tarnt und deshalb noch um vieles gefährlicher ist. Das Stück endet an einem bezeichnenden historischen Punkt, nämlich kurz vor der Machtergreifung. Als Kürten zur Hinrichtung geführt wird, sind die Weichen für den Triumph der NS-Partei gestellt, die die Massen in ein Verhängnis führt, in dem Millionen von Menschen ihr Leben einbüßten. Dieses kontrapunktisch aufgebaute dramaturgische Handlungsmodell des Stückes macht schon in seiner Form auf eine fragmentierte Geschichte aufmerksam, in der keine von der Vernunft gesteuerte Kausalität mehr wirkt, sondern die irrationalen Schübe regressiver Phantasien das Gesetz des Handelns abgeben. Diese Schwierigkeit hat Forte noch dadurch gesteigert, daß er die einzelnen Szenen des Dramas jeweils auf die Radierungen Giovanni Battista Piranesis «Carceri d'invenzione» von 1761 bezieht. Der zentrale ikonographische Stellenwert dieser verrätselten Bildersprache Piranesis in der europäischen Romantik ist bekannt. Norbert Miller 11 hat dazu ausgeführt: "Man fand die eigenen Alpträume in der unendlichen Flucht seiner Gänge und Treppen wieder, das eigene Entsetzen vor und die geheime Lust an einer verstörten Realität, in der die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt gefallen waren, das Spiel mit der mächtigen Sphäre des Unterbewußten, die sich im Haschisch und Opium-Rausch aus den Einfriedungen der Vernunft befreit. Von da an waren es Piranesis 'Carceri', die für die wechselnden Generationen der künstlerischen Avantgarde zum hieroglyphischen Text über die Geheimnisse einer vom Subjekt nur mehr scheinbar beherrschten Wirklichkeit wurden, zu einer chiffrierten Botschaft, deren Aufschlüsselung Einsicht in die je eigene Befindlichkeit versprach." (S. 11/2) Dieser geschichtsphilosophische Kontext schließt auch das Stück Fortes durchaus ein, auch wenn Zweifel erlaubt sind, ob er in seiner dramaturgischen Umsetzung in der gleichen Weise die Perspektive auf jene Abgriinde öffnet, in denen die Vernunft sich verliert und monströse Phantasiebilder die Wirklichkeit zu bestimmen beginnen. Einer Überprüfung jedoch, die sich allein durch eine theatralische Umsetzung ergeben würde, verweigert sich das gegenwärtige Theater bereits, wie Forte mit Bitterkeit erfahren mußte.
II. Es wäre zu einfach zu folgern, der mangelnde Erfolg im Theater habe gleichsam die Energie des Dramatikers Forte auf das Fernsehen verlagert. Die modernen Medien, Rundfunk und Fernsehen, haben von Anfang an eine wichtige Rolle für ihn gespielt, wie seine Lehrjahre am NDR-Fernsehen bezeugen. Und es wäre ebenso irrig zu unterstellen, das auf ein Massenpublikum hin angelegte elektronische Medium Fernsehen habe Forte veranlaßt, mit anspruchsloseren Arbeiten im Fernsehen zu überwintern. Der Dramatiker der Bühne und der des Fernsehens lassen sich nicht auseinanderdividieren. Vielmehr ist es für Forte geradezu bezeichnend, daß er
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«Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi», München 1978.
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sowohl seinem formalen Innovationsdrang als Dramatiker wie seiner moralischen Energie als Geschichtsanalytiker treubleibt. Seine Beispielstoffe sind freilich nicht mehr dem Vergangenheitsreservoir der Geschichte entnommen, sondern der sozialen Gegenwart des Hier und Jetzt. Es sind Zeitstücke 12 , die nicht bloß gegenwärtige Wirklichkeit abbilden, sondern Defizite und Mißstände unter der glänzenden Oberfläche sichtbar machen. In seinem dritten Fernsehspiel «Gesundheit» 13 äußert die autobiographische Spiegelungsfigur Färber, dessen Krankheit seine berufliche Funktionstüchtigkeit immer mehr einschränkt und ihn zur Belastung für sein Berufsumfeld werden läßt, voller Bitterkeit an einer Stelle: "Humanität ist kein deutsches Wort." (S. 116) Dieser Satz über die Humanität könnte als Grunddiagnose über den Fernsehspielen Dieter Fortes stehen. In allen vier Arbeiten geht es darum, Krankheitszustände, Krankheitsvoraussetzungen unserer zeitgenössischen bundesdeutschen Gesellschaft ins Bewußtsein zu heben. In dem Stück «Gesundheit» wird das am direktesten thematisiert. Die auf Grund ihrer asthmatischen Veranlagung den permanenten Druck beruflicher Tätigkeit nicht ertragende Mittelpunktsfigur erfährt ihre Krankheit in den Reaktionen der Umwelt als Stigmatisierung und wird, obwohl beruflich hochqualifiziert, am Ende abgeschoben. Der Kranke wird durch die Berührungsangst der auf Jugendlichkeit und permanente Leistung gedrillten Gesellschaft vor der Krankheit, vor dem Alter, vor dem Tod zum Unberührbaren gemacht, da niemand durch ihn an das erinnert werden möchte, was man in einem Leben der atemlosen Rotation so erfolgreich verdrängt. Jene Gastarbeiterin, die der Stigmatisierte während eines Krankenhausaufenthaltes kennenlernt und die in aktiver Menschlichkeit sich der Kranken und Gebrechlichen annimmt, macht ihm klar, daß Humanität, mitmenschliche Verantwortung, das Mitleiden mit den andern und das Helfenwollen eine moralische Kraft darstellen, die sich in der zeitgenössischen Gesellschaft ebenso fremd ausnimmt wie das Wort Humanität, von dem die fremde Krankenhelferin glaubt, es sei ein deutsches Wort. Unmenschlichkeit als soziales Krankheitssyndrom steht bereits im Mittelpunkt von Fortes erstem Fernsehspiel «Sonntag» 14 , das unterschwelligen Aggressionsstau und zerstörerischen Gewaltausbruch aus den Lebensvoraussetzungen einer Umwelt ableitet, die sich nach außen hin mit den Attributen des erreichten Lebensstandards brüstet, aber als in Beton erstarrte, denaturierte Lebenswirklichkeit die Menschen (insbesondere die Kinder, die in dieser Wirklichkeit wie fehl am Platze wirken) zu Aggressionsritualen und zur Selbstzerstörung reizt.
12 Fortes vier Fernsehspiele liegen als Buch vor: «Fluchtversuche», Frankfurt a.M. 1980. 13
A n m . 12, S. 115-186.
14
A n m . 12, S. 11-49.
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Zur Diagnose einer sozial kranken Gesellschaft trägt auch Fortes drittes Fernsehstück «Achsensprung»15 bei. Auf dem Hintergrund der Studentenbewegung der späten sechziger Jahre wird die Legitimationskrise der älteren Generation, die sich der Sachlogik wirtschaftlichen Denkens ganz und gar verschrieben hat und über ihren Autoritätsschwund bei den jungen Leuten nur noch zu lamentieren, aber Autorität nicht mehr vorzuleben vermag, als Syndrom einer Anpassungsstrategie um jeden Preis enthüllt. In allen Stücken werden die verdeckten Krankheitsherde einer äußerlich intakt scheinenden Wirklichkeit analysiert. Es ist die zeitgenössische Leistungsgesellschaft, in deren seelenlosen Betonarealen die Menschen bis zur Sprachlosigkeit verkümmern und damit auch ihre Kommunikationsfähigkeit einbüßen (wie in «Sonntag»), die Leistungsgesellschaft, die den körperlich labilen Angestellten wie einen von Materialschwäche befallenen Gegenstand zum Lebensmüll erklärt (wie in «Gesundheit»), die Leistungsgesellschaft, deren Widersprüche der Student in «Achsensprung» zwar am Beispiel seines Vaters erlebt (der als Personalchef eines Industrieunternehmens mit dem Postulat der wirtschaftlichen Vernünftigkeit Arbeitsplätze wegsaniert und, bei der Fusion seines Unternehmens mit einem größeren plötzlich selbst zum Opfer dieser Vernünftigkeit geworden, arbeitslos wird, den Schein des erfolgreichen Managers vor seinen Verwandten aufrechterhält und schon als älterer Mann nur durch die Beziehungen seiner politisch aktiven Frau einen neuen Posten erhält), die aber am Ende seine eigene kritische Position aushöhlt: Er beschreitet gleichfalls den Weg der Anpassung, wird zum Assistenten bei jenem Professor, der einmal im Gespräch mit ihm bekennt: "Ich habe mein Leben lang immer nur Dinge getan, die mich nicht interessierten. Das bringt einen ganz schön weit." (S. 105) Diese Leistungsgesellschaft, deren Gesetze der gescheiterte Konzernchef Lanz in Fortes viertem Fernsehspiel «Der Aufstieg. Ein Mann geht verloren» 16 so souverän zu beherrschen lernte, daß er ganz weit nach oben stieg, wird nun von ihm, nachdem er durch undurchsichtige wirtschaftliche Umstände ganz tief nach unten gestürzt ist, als das erkannt, was sie ist: "Das war doch völliger Wahnsinn, was ich da dreißig Jahre lang getrieben habe.[...] Eine Firma an die andere gehängt. Um den Globus gerast. Aufträge, Finanzierungen. Repräsentation. Verhandlungen. Wozu? Für den Konzern. Und jetzt? Ich war da nur die Galionsfigur." (S. 257) Die Leistungsgesellschaft mit ihrem die individuelle Widerstandskraft des einzelnen, seine moralische Integrität aufzehrenden Sog ist das soziale Krankheitsfeld, das Forte von Stück zu Stück unter neuen Aspekten und unter Erprobung neuer formaler Ansätze in seinen Fernsehspielen kartographiert.
15
A n m . 12, S. 49-113.
16
A n m . 12, S. 191-264.
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III. Daß ein Autor wie Dieter Forte sich dem neuen Medium Fernsehen zugewandt hat, ist ein Glücksfall, ein Glücksfall freilich, an dem verschiedene Umstände beteiligt sind. Daß Forte von der Bühne zum Bildschirm konvertierte, ist sicherlich auch mitbedingt durch die schon erwähnte Umorientierung des Theaters, das sich dem zirkusähnlichen Bühnenspektakel und einer kulinarischen Unterhaltungsabsicht verschrieben hat und nun in Gegenreaktion auf ein doktrinär-didaktisches Lehrtheater auch jenes Theater der Analyse und Erkenntnisvermittlung nicht mehr gelten lassen will, das als "Theater des wissenschaftlichen Zeitalters" mit dem Namen Brechts verbunden ist. Das Fernsehen, das schon seit langem "im Verhältnis zu unseren Schriftstellern... die Rolle eines im Grunde verachteten Mäzens" 1 7 spielt, ist der Nutznießer dieser Situation, aber nicht nur das Fernsehen, auch sein Publikum. Denn es ist keineswegs so, daß hier ein Schriftsteller in kleiner Münze an das Fernsehen weitergibt, was an sich für die Goldwährung des Theaters gedacht war, dessen Publikum zwar eine Minderheit, aber kraft der Bildungsvoraussetzungen eine Minderheit elitären Zuschnitts darstellt. Das Millionentheater des Fernsehens ist ein demokratisches Medium in dem Sinne, daß es egalitär angelegt ist und in seinen fiktionalen Programmformen das bei seinen Zuschauern vorhandene Vorwissen niedriger ansetzen muß. Von daher leuchtet es ein, daß Forte in seinen Fernsehspielen (vorerst) die geschichtlichen Sujets seiner Theaterstücke, deren Verständnis historische Vorkenntnisse voraussetzt, verlassen hat und die zeitgenössische Gegenwart als Spielfeld in seinen Fernseharbeiten wählte. Freilich wird diese Gegenwart nicht einfach in ihrer kunterbunten Tatsächlichkeit abgespiegelt, sondern Lebens- und Erfahrungssituationen, die dem einzelnen unmittelbar zugänglich scheinen, werden analytisch eingekreist und dem Zuschauer als Situationsmuster bewußt gemacht, die direkt oder indirekt in sein eigenes Leben hineinreichen können. Der Appell der Aufklärung, der für die Theaterstücke Fortes gilt, ist also keineswegs verstummt, sondern hat sich nur auf die Gegenwartssujets seiner Fernsehspiele verlagert. Forte ist als Vertreter einer Generation, die bereits mit den Massenmedien groß geworden ist (er ist mit ihrer Arbeitsweise zudem auch durch seine frühere Berufstätigkeit im Rahmen der Werbebranche vertraut), dabei glücklicherweise von jenem rituellen Inferioritätskomplex frei, der für viele Schriftsteller der älteren Generation gilt, die sich unter inneren Widerständen an das Fernsehen "verkaufen", aber an ihrem elitären Selbstverständnis als Schriftsteller festhalten. Der Fernsehautor Oliver Storz hat diese Situation selbstkritisch folgendermaßen beschrieben: "Eine Elite - und anders als elitär hat sich der Schriftsteller in diesem Land nie verstanden, anders ist er auch nie verstanden worden - eine Elite, wirtschaftlich Oliver Storz: «Wer schreibt denn warum Fernsehspiele? Auskünfte für einen Herausgeber», in: «Fernsehen in Deutschland. Macht und Ohnmacht der Autoren», hg.v. Christian Longolius, Mainz 1973, S. 143-156, Zitat S. 153.
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in Absatzschwierigkeiten, betreibt Marktöffnung, stellt um auf Massenproduktion, ist dabei, sich medial gesund zu schreiben, ohne daß es dafür Anzeichen gäbe, sie habe das Elitäre ihres Selbstverständnisses geändert, geschweige denn, die traditionelle Vorstellung vom 'Kunstwerk'-Charakter ihrer Produkte." (S. 150) Dieter Forte ist der Gegenbeweis. Daß dieser Hochmut mancher Schriftsteller gegenüber dem Fernsehen entstehen konnte, ist freilich auch ein Ausdruck von Verwundungen, die Autoren besonders in der Vergangenheit bei der Zusammenarbeit mit dem Fernsehen zugefügt wurden, und zwar besonders von jenen administrativen Zwischenträgern, die sich in großer Zahl kompetenzheischend zwischen den Autor und den Regisseur zwängen und die Arbeit für den Sender häufig zum Dornenweg für den Schreibenden werden ließen, der am Ende vielfach auf der untersten Sprosse der Kompetenzleiter Platz nehmen mußte. Mitbeteiligt an dieser problematischen Situation ist auch das traditionelle Übergewicht einer vorwiegend literarisch bestimmten Kultur, die die Fernseh-Produktionen, auch wenn sie gelegentlich wiederholt werden und ein Millionenpublikum erreichen, durch die maßgeblichen Weichensteller des Kulturbetriebs (in den Feuilletons der großen Zeitungen) zur Wegwerfliteratur deklarieren ließ. Das zeigte (und zeigt) sich nicht zuletzt im Argumentationsniveau der sich mit wenigen Zeilen im Feuilleton begnügenden professionellen Fernsehkritik, auch wenn sich da in den letzten Jahren einiges geändert hat. Ein Schriftstellerkollege Fortes, Dieter Wellershoff 18 , der sich gleichfalls in den letzten Jahren intensiv dem Fernsehspiel zugewandt hat, beklagte sich durchaus stellvertretend über "die Rezeption, wie sie sich in der Kritik zeigt, wie pauschal und auf welch niedrigem Wahrnehmungsniveau da reagiert wird." Die Veröffentlichung von Fernsehspielen wie die von Tankred Dorst, Dieter Wellershoff oder Dieter Forte - um nur einige Beispiele zu nennen - könnte am ehesten die Voraussetzung dafür schaffen, daß sich so etwas wie eine neue literarische Kanonbildung des Gattungszwitters Fernsehspiel entwickelt, von dem die einen meinen, es sei ein Chamäleon, das sich ständig seiner Umgebung angleiche, und die andern sowieso die Ansicht vertreten, es handle sich bei dieser Gattung um eine pure Mystifikation. Wenn sich das Fernsehspiel als neue Gattungsmöglichkeit einer medienzugewandten Literatur herausbilden könnte, dann nur auf dem Wege einer solchen allmählichen historischen Identitätsgewinnung. Die Veröffentlichung der Textvorlagen stellt einen ersten wesentlichen Schritt dazu dar, der die Anonymität der elektronischen Ausstrahlung durchbricht und den Umsetzungsprozeß von der schriftlichen Vorlage zum realisierten Ergebnis auf dem Bildschirm überprüfbar macht. Auch unter diesem Aspekt stellen die Fernsehstücke von Dieter Forte ein wichtiges Dokumentationsbeispiel für die künstlerischen Möglichkeiten dieser neuen Gattung dar. 18
«Für das Fernsehen schreiben.» Ein Gespräch zwischen Karl Prümm und Dieter Wellershoff, in: D.W., «Glücksucher», Köln 1979, S. 315-335, Zitat S. 332.
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Bereits die Erstlingsarbeit «Sonntag» ist dafür bezeichnend. Es wäre undenkbar, diesen Text auf einer traditionellen Theaterbühne, die Konflikte und Kollisionen in Dialog aufzulösen hat, umzusetzen. Es handelt sich um einen extrem dialogarmen Text, der in einer der bereits zu unserem Alltag gehörenden Satellitenstädte am Beispiel von drei Familien spielt, deren unterschiedliche Wohnmöglichkeiten den Unterschied im sozialen Status signalisieren: Der kaufmännische Angestellte Glinka wohnt mit seiner Familie in einem Mietshochhaus, der Tankstellenbesitzer (in der Fernsehfassung) Possberg nennt ein Reihenhaus mit kleinem Garten sein eigen, der Prokurist Kemp, Geschäftsmann und Fitness-Fanatiker, residiert mit Frau und Sohn in einem Atrium-Bungalow mit Swimming-Pool. Unmittelbare Beziehungen zwischen den drei Familien gibt es nicht, es sei denn Affekte des Sozialneids, die besonders die Kinder, die die Verstellung der Erwachsenen nicht mitmachen, in ihrem Verhalten untereinander und den Erwachsenen gegenüber agieren. Die Stummel-Sprache dieser Menschen, die sich auf Kommandos, Flüche, stereotype Redensarten beschränkt und die Fähigkeit zum Gespräch verloren zu haben scheint, ist mit ein Ergebnis der auf den ersten Blick komfortablen, aber denaturierten Lebensumstände in dieser HochglanzWelt aus Betonkästen, die zur Außenhaut der abgestorbenen Innenwelt der Menschen geworden ist. Am Beispiel des Lebenstrotts, der an einem durchschnittlichen Sonntag das Verhalten der drei Familien bestimmt, wird erschreckend deutlich, daß jener Freiraum zur individuellen Entfaltung nur noch kalendermäßig existiert. Die Aktivität, die Phantasie, die diesen Freiraum ausfüllen könnte, ist längst geschrumpft. Die vor allem von den Kindern empfundene und ausgesprochene Langeweile spricht das Urteil über jene leeren Rituale, die noch familiäre Gemeinsamkeit vortäuschen: das gemeinsame Frühstück, das Dösen auf der Terasse, das Rasenmähen, die umständlichen Vorbereitungen zum Mittagessen, der Nachmittagsspaziergang, das Autowaschen usw. In einer assoziativ verknüpften Bildtextur hat Forte in seinem Stück diese Rituale minutiös registriert und macht sie als seelische Zwangsjacke sichtbar, die die Erwachsenen nicht nur bewußtlos über sich selbst stülpen, sondern auch über die Kinder, die vergeblich dagegen aufbegehren in Gesten, die kaum mehr etwas Spielerisches an sich haben, sondern die Aggressionslatenz der Erwachsenen so aufstauen, daß sich ein Zustand der psychischen Bedrohung herstellt. Forte hatte das Glück, in Niels-Peter Rudolph einen Regisseur zu finden, der die Intention seines Textes so weiterentwickelte, daß er auch da, wo er über den fixierten Wortlaut hinausging - in der Spielepisode um den Jungen Martin Kemp, der seinen Roboter ins Wasser des Schwimmbassins plumpsen läßt und damit bildlich sein eigenes Schicksal vorwegnimmt; in der leitmotivisch eingeblendeten Trettrommel auf dem Spielplatz, die die Rotation der sonntäglichen Rituale in einem Schlüsselbild zusammenfaßt; in der Veränderung der Totschlagszene zwischen den spielenden Kin-
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dem -, dessen Implikationen dennoch erfüllte. Da ist kein Berichterstatter aus dem Off, der die Kritik für den Zuschauer vorbuchstabiert, sondern es bleibt allein der bildlichen Beschreibungskraft der Kamera überlassen, die mitleidlos registriert und in ihren Fahrten und Schwenks, in ihren perspektivischen Verfremdungen - es ist einleuchtend, daß die Kameraeinstellung dabei sehr häufig der Perspektive von Kindern entspricht, den Opfern dieser Lebens-Unwirklichkeit - die eigentliche Aktivität und Bewegung entfaltet, während die Menschen nur noch funktionieren. Die immer wieder in Abständen eingeblendete und in Zeitlupe verfremdete Szene des Totschlags markiert dabei in rhythmischer Gliederung ständig jenen Punkt, an dem die Gewaltlatenz der Umgebung, im Verhalten der Menschen untereinander, in einem irrationalen Schub tatsächlich in Gewalt umschlägt. Die spielenden Kinder, die auf einem unbenutzten Fleckchen Erde in der Nähe der Mülldeponie ihre Umwelt mit Häuserblocks, Wegen und Ziergärten nachgebaut haben - Rudolph hat hier durchaus sinnvoll den Streit um ein Luftgewehr, den Forte zum Auslösemoment des Totschlags in seinem Text werden Iäßt, verändert - und in ihrer verkümmerten Phantasie nur ihre Umwelt reproduzieren können, sind diejenigen, die die Gewalt agieren. Als der Junge Glinka die im Spiel entworfene Wohnanlage des insgeheim beneideten, reichen Martin Kemp mit einem Ziegelstein als vordringendem Panzer zerstört, erschlägt ihn jener, der von einem autoritären Vater zur perfekten Verdrängung seiner Gefühle und Äußerungsmöglichkeiten gedrillt wurde, in einem jähen Ausbruch mit einem Ziegelstein. Die Inventarisierung der alltäglichen Rituale, die die Kamera am Beispiel der drei Familien vornimmt, findet hier ihre eigentliche Begründung: nicht im Sinne einer kausalen Ableitung, aber als Verdeutlichung eines unentrinnbaren Lebensklimas wird in dem Gewaltausbruch des Jungen nur die Konsequenz aus einer Situation gezogen, die in den Ritualen des Alltags hundertfach angelegt ist. Einen anderen, wiederum neue Möglichkeiten des Mediums erprobenden Ansatz, nämlich den der bildlichen Simultanüberblendung, wobei sich bei der neu eingeblendeten Sequenz ein Kontrast zwischen dem Bild der neuen und dem Text der vorangegangenen Sequenz herausbildet und so der visuellen Verdeutlichung von sich überlappenden Bewußtseinsvorgängen dient, läßt sich in Fortes zweitem Fernsehspiel «Achsensprung» erkennen. «Achsensprung» ist über den bloß technischen Begriff 19 für bildliche Verfremdung hinaus zugleich ein inhaltliches Signalwort, das auf einen Krisenmoment im Leben der drei Protagonisten aufmerksam macht: des Managers
19 Als Fachterminus für einen ruckartigen Positionswechsel der Kameraeinstellung bezeichnet der Begriff eine Technik der Szenenverknüpfung, deren Prinzip eben gerade nicht nahtloser Übergang ist, sondern bewußte Hlusionsbrechung. Auch das hier eingesetzte Verfahren der Blue-Box, das vorproduzierte Studio-Szenen auf künstliche Hintergründe projiziert, läßt sich als Mittel der Illusionsdurchbrechung deuten. Freilich kommt hier noch eine weitere Funktion mit hinzu: Indem Forte solcherart raumzeitliche Kausalbezüge kappt, versucht er, die Reflexions- und Erinnerungssyntax seiner Protagonisten zu visualisieren. Alles das läßt «Achsensprung» auch formal zu einem der ambitioniertesten Fernsehspiele in der Geschichte dieses Genres in den deutschen Medien werden.
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Lahnstein, der plötzlich aus der Erfolgskurve seines Lebens getragen wird, seiner Frau Annegret, die als Kommunalpolitikerin den Menschen, die sie mit ihren Alltagsproblemen aufsuchten, noch wirklich zu helfen vermochte, aber gerade durch ihr humanes Engagement die geölte Maschinerie ihrer Partei gefährdete und sich zur ohnmächtigen Hinterbänklerin des Landesparlaments wegloben läßt, wo sie dann allerdings über so viele "Beziehungen" verfügt, daß sie ihrem beruflich gescheiterten Mann zu einem neuen Posten verhelfen kann; des Sohns Michael, der, bei einer Studentendemonstration verhaftet, das appellative Pathos und Wahrheitsethos der Studentenbewegung in die Wirklichkeit projizieren will, jedoch nicht einmal in der Wirklichkeit eines Universtätsseminars bei seinem Professor damit durchdringt und sich schließlich dann auch nach dem allein seligmachenden Erfolgsrezept der Anpassung auf die Seite des akademischen Establishments schlägt. (Ironischerweise hat der Student Christoph Wackernagel, der in Rolf von Sydows Fernseh-Inszenierung den Part des Michael Lahnstein spielte und damit zum Teil seine eigene Situation schauspielerisch umsetzte, in Wirklichkeit einen ganz anderen Weg, den Weg der anarchistischen Gewalt um jeden Preis, eingeschlagen20.) Im Unterschied zum Erstlingsstück, wo die Menschen fast zur Staffage der BetonUmwelt geschrumpft sind und die Bildersprache der Kamera die eigentliche Sprache an Bedeutung weit überlagert, wird hier das soziale Krisenthema, das an der familiären, häuslichen und beruflichen Wirklichkeit einer zeitgenössischen Familie des oberen Mittelstandes veranschaulicht wird, auch vom Autor her auf die Ebene der verbalen Reflexion gehoben: sei es in den akustischen Einblendungen der Zitate aus dem Platonischen «Kriton»-Dialog, wo der gefangene und seinen voraussichtlichen Tod erwartende Sokrates mit seinen Schülern und Freunden über das Ideal von moralischer Wahrhaftigkeit reflektiert, sei es in den Einblendungen aus einer Konferenz-Rede des ehemaligen Personalchefs Lahnstein über den Begriff Autorität. Die Anpassung, die der Tribut des Erfolgs ist, führt gerade zur Aushöhlung der moralischen Integrität des einzelnen, die allein die Basis von Autorität sein könnte. Ist die Kamera im Erstlingsstück das Instrument der kritischen Analyse und die Reflexion Teil der bildlichen Textur, so überrascht «Achsensprung» durch die Erprobung der gegensätzlichen Möglichkeiten: durch ein vorwiegend verbal geknüpftes Reflexionsnetz, das die Bildsequenzen jenseits jeder handlungsmäßigen Chronologie allein nach der Gesetzmäßigkeit des erinnernden und reflektierenden Bewußtseins der Protagonisten arrangiert und in seinen Maschen die Widerstände, die Frustrationen, die Niederlagen der Betroffenen einfängt. Auch hier ist die Katastrophe greifbar nahe: In einer aus der Perspektive Lahnsteins suggestiv ineinandergeblendeten Serie von Großaufnahmen, die wie in einem "Lebensfilm" die einzelnen Phasen seines zu20
Wackernagel, seit 1978 im Gefängnis, hat sich in der Zwischenzeit von den Zielen der R A F losgesagt und hat mit den beiden Erzählbüchern «Nadja» (Frankfurt a.M. 1984) und «Bilder einer Ausstellung» (Reinbek 1986) beachtliche schriftstellerische Texte vorgelegt.
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rückgelegten Weges zusammenfassen (Take 59), scheint der Sog der Selbstliquidation das Bewußtsein des Betroffenen verführerisch anzuziehen. Daß der Absturz vermieden wird, ist eher zufällig. Der Angestellte Färber in Fortes drittem Fernsehspiel «Gesundheit» hat mit der Katastrophe, dem Zusammenbruch seiner Gesundheit, ständig zu leben. Aber das ist ein Problem, mit dem er existieren könnte, wenn seine Umwelt bereit wäre, ihn noch als Menschen zu akzeptieren und nicht als Kranken, der als Risiko-Faktor im Geschäftsleben stört, dessen gelegentliches körperliches Versagen gleichsam in einen moralischen Defekt umgemünzt wird, weil er nicht "vertrauenswürdig" sei. Selbst auf der privatesten Ebene, in der Beziehung zu seiner Verlobten, führt dieser Zustand, keinen verläßlichen Wechsel auf eine bürgerliche Zukunft zu haben, zur Vergiftung des Gefühls. Färbers immer erneut unternommener Versuch einer beruflichen Integration, selbst unterhalb seines tatsächlichen Ausbildungs- und Leistungsvermögens, wird zu einem permanenten Spießrutenlauf, dessen Torturen indirekt von allen jenen Menschen ausgeübt werden, mit denen er beruflich und privat in Berührung kommt, die ihn als Außenseiter brandmarken und schließlich in ein soziales Abseits abdrängen. Als Krankenhelfer in einem Behindertenzentrum lebt er schließlich jene mitmenschliche Hilfe vor, die ihm die andern draußen so gedankenlos verweigert haben. In der formalen Konzeption läßt dieses Fernsehspiel jene innovativen Impulse vermissen, die die beiden ersten Stücke Fortes auszeichnen. Es wird aus der Perspektive der Mittelpunktsfigur in biographischer Chronologie dargestellt. Nur in der Mitte des Fernsehspiels wird in einer Serie von Rückblenden die Chronologie zur Vergangenheit hin durchbrochen, indem in verschiedenen Bildsequenzen bestimmte Entwicklungssituationen Färbers aus Kindheit und Jugend veranschaulicht werden, die alle bereits auf seine Vereinzelung als Kranker und damit als gesellschaftlicher Außenseiter verweisen. Freilich mag man Zweifel haben, ob diese nur visuell eingeblendeten Erinnerungstableaus, die nicht mit erklärendem Text, sondern nur mit Musik unterlegt sind, in sich so aussagekräftig sind, als biographische Kausalitätsmomente den späteren Zustand Färbers zusätzlich zu erhellen. Das sind Fragen, die primär von der Regiearbeit Peter Patzaks ausgelöst werden. Wenn beispielsweise im 53. Take der aus dem Krankenhaus wieder ins normale Leben zurückkehrende Färber auf der Straße euphorisch die "Schönheit des Lebens", wie es im Text heißt, erlebt, so macht die Kamerafahrt durch die großstädtische Straße in der Fernseh-Umsetzung eher auf die gegenteilige Bedeutung aufmerksam: als sei Färber erneut einer lärmenden chaotischen, ihn zutiefst beunruhigenden Welt ausgesetzt. Daß es dennoch der filmischen Umsetzung auf weiten Strecken gelungen ist, in einem erstaunlichen Reichtum von präzis gesehenen Details die alltägliche gedankenlose Grausamkeit der Menschen untereinander, vor allem in dem von Neid und Konkurrenzdenken erfüllten Angestelltenmilieu,
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in dem Färber als Werbefachmann vorübergehend Fuß faßt, zu dokumentieren, ist auch eine Leistung des Schauspielers Ralf Schermuly, der jene Sensibilität und Verletzlichkeit bereits gestisch-körperlich vermittelt, die zur Person und zum Leben Färbers gehören. Die Werteskala des materiellen Erfolges, die das Leben der Menschen auf unterschiedliche Weise in diesen drei Fernsehspielen bestimmt und der sich alle unterzuordnen versuchen, erweist sich als eine gesellschaftliche Erosionskraft, die das Ich geradezu aushöhlt und all seine Immunisierungskräfte gegen diesen Sog lähmt. Die Regulierungsmacht des Erfolges, dem alle nachstreben, wird damit auf paradoxe Weise zur Voraussetzung des existentiellen Scheiterns.
IV. Der am Ende seines Lebens geschäftlich gescheiterte ehemalige Multimillionär und Selfmademan Manz äußert in Fortes bisher letztem Fernsehspiel «Der Aufstieg. Ein Mann geht verloren» vor dem Fernsehteam, das ihn voyeuristisch in seiner Niederlage zu einem umfangreichen Interview aufsucht: "Wenn ich das Wort Erfolg höre, ersticke ich fast, da krieg ich einen Herzanfall. Erfolg. Was ist das? Doch nur, was die anderen von Ihnen erwarten. Kein Mensch kann es definieren. Aber alle erwarten es von Ihnen. [...] Erfolg. Das ist der pure Aberglaube. Das ist wie im Mittelalter. Alles rennt einem bunten Regenbogen nach, ohne ihn jemals zu erreichen. Wahrscheinlich existiert er überhaupt nicht. Eine Chimäre. [...] Wenn Sie das Wort Erfolg hören, dann laufen Sie so weit Sie können, sie laufen nämlich um Ihr Leben." (S. 219/20) Diese Diagnose trifft im Grunde schon auf «Gesundheit» zu, wo eine in ihrem moralischen Verhalten "kranke" Gesellschaft ihre eigenen Gebrechen in einer übertriebenen Ideologie von körperlicher Fitness verdrängt und damit zugleich diejenigen stigmatisiert, die sie als Kranke an diesen Verdrängungsprozeß erinnern könnten. Bezogen auf den Multimillionär Manz, der mit Geschick und Chuzpe einen großen Konzern im Nachkriegsdeutschland aufbaute und sich jäh als gescheitert vor dem Eingangsportal seines einstigen Konzerns sieht, bedeutet der Untertitel zum einen den "Aufstieg und Fall eines Mulitmillionärs", wie es das Fernseh-Team, das den Gescheiterten zu einem Interview aufsucht, auf die Formel bringt, zum andern jedoch die exemplarische Aushöhlung der eigenen Identität in einem Amoklauf des pausenlosen Erfolgs. Manz ist ein verwandelter Christian Maske aus Sternheims Schauspiel «1913», wo der zum Großkapitalisten gewordene Aufsteiger, nun alt und einsichtig geworden, an seiner Tochter Sofie die zur puren Ideologie gewordene Gewinnsucht des Kapitalisten begreift: "Weil der massenweise Verschleiß aller Lebensutensilien ihn erzogen hat, auf das einzelne nicht mehr zu achten, und er Gefühle, Urteile und sich selbst hin-
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wirft und verbraucht wie das Übrige und ihnen keine Qualität mehr geben kann." 21 Auch Manz, der dem Fernseh-Team bereitwillig die Stationen seiner industriellen Karriere von bescheidensten Anfängen bis zum hochkarätigen Wirtschaftsboss in der andern Gründerzeit, der des Wirtschaftswunders nach 1945, berichtet, läßt am Ende keinen Zweifel daran, daß er seinen Absturz, an dem undurchsichtige, auch von ihm nicht zweifelsfrei zu benennende Umstände mitgewirkt haben, auch als Befreiung versteht, als Befreiung zu seinem bisher unterdrückten eigentlichen Ich und damit zu einem möglichen neuen Leben. Die Kausalität, die an seinem Erfolg beteiligt war, sieht er im Rückblick nun so: "Die Zeit nach dem Krieg. In einer festgefügten Gesellschaft ist es sehr schwer aufzusteigen. In einer ungeordneten, chaotischen Situation, in der alle gleich sind, erwischt man schon einmal den Fahrstuhl nach oben." (S. 207) Das Stück, das auf den ersten Blick linear konzipiert scheint, arbeitet mit dem Prinzip der doppelten Brechung: Es ist gewissermaßen als Spiel im Spiel angelegt, es setzt das Fernseh-Interview als eine standardisierte Medienform ein und reflektiert durch die Darstellung der Entstehung eines solchen Interviews, der Widerstände und Unzulänglichkeiten dieser Form, zugleich die Erkenntnismöglichkeiten des Fernsehens. Im fingierten Interview wird die mögliche Wahrheitsfindung des elektronischen Mediums selbstkritisch parodiert und im Anfangsgespräch der technischen Helfer über einen kurz vorher gesehenen «Tatort»-Kriminalfilm die analytische Fabel des Stücks ironisch in ein kriminalistisches Umfeld gerückt. In dem am Ende dann jäh erfolgenden Schuß, der Manz unmotiviert tötet und dessen Kausalität eben nicht eindeutig geklärt wird, löst Forte nicht nur das Geschehen in kriminalistische Vieldeutigkeit auf, sondern auch das sich dem Zuschauer anbietende Formmuster des «Tatort»-Kriimnalfilms, das sich hier als Sackgasse erweist. Die Parodie auf das standardisierte Erkenntnismuster des Kriminalfilms wird spätestens an dieser Stelle ganz und gar deutlich. Denn hier, wo der konventionelle Kriminalfilm einsetzen würde, um hinter dem Mord an dem gescheiterten Industriellen ein psychologisches Motivations- und Kausalitätsgeflecht aufzudecken, endet Fortes Stück und läßt damit die Recherche nach den Gründen für das Scheitern des Industriellen in jene rätselhafte Unerklärlichkeit einmünden, die Manz selbst am Ende als eigentliches Individuations-
21 Zitiert hier nach der Ausgabe «Aus dem bürgerlichen Heldenleben» (Neuwied 1963), das die sechs Stücke dieses Dramenzyklus enthält, Zitat S. 284. Die Analogie zu der Sternheim-Figur läßt sich auch noch unter anderen Aspekten begründen. Wenn Manz an einer Stelle über seine Tochter äußert, die einen französischen Grafen geheiratet hat und zu der er den Kontakt aufgibt, um ihr als Selfmademan gesellschaftlich nicht zu schaden: "Ich habe ihr einen französischen Grafen besorgt. Sie wollte ihn, sie lieben sich. [...] Sie hat es immer noch schwer genug. Sie ist jetzt zwar eine Gräfin, aber natürlich noch meine Tochter. [...] Mein Enkel wird es schon wesentlich leichter haben. Der wächst als Graf heran, in den richtigen Kreisen, drei Generationen braucht man mindestens, um nach oben zu kommen." (S. 221/2), so deckt sich das mit dem familiären Aufstieg von Theobald Maske über den in den Adel einheiratenden «Snob», den Sohn Christian, bis hin zu seiner Enkelin, der Gräfin Sofie von Beeskow in «1913».
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gesetz seines Lebens in seinen bereitwilligen Auskünften für das Fernseh-Team kommentiert hat. Als er sich im Stadium der Befreiung glaubt, scheitert er ein weiteres Mal. Sein Tod ist noch unerklärlicher als sein wirtschaftlicher Absturz: "Jeder Mensch hat seine Wahrheit, und die soll man ihm auch lassen." (S. 259) Indem der Tod sich nicht in einen x-beliebigen Kriminalfall auflösen läßt, sondern mit der Person von Manz identisch wird, bringt er auf paradoxe Weise zum Ausdruck, daß die unverwechselbare Identität, zu der sich Manz am Ende seines Weges bekennt, nicht aufgehoben wird, auch wenn sich die Umsetzung dieser Identität in einem neuen Leben verweigert. Gewiß, das trägt einen resignativen Akzent, wenn man die sozialpolitische Analyse, die auch diesem Stück zugrunde liegt, auf die Antwort befragt. Zugleich macht Forte jedoch in der parodistischen Verwendung des Fernsehens in seinem Fernsehspiel darauf aufmerksam, daß die Mittel der Wahrheitsfindung in diesem Medium begrenzt sind, daß die Recherche zwar das "öffentliche Bild" beleuchtet, aber dahinter auf jenen unerklärlichen Rest stößt, wo die Wirklichkeit des einzelnen eigentlich erst beginnt. Interessant ist, daß Dieter Wellershoff in seinem zweiteiligen Fernsehspiel «Phantasten» 22 ein ähnliches Sujet aufgegriffen hat, wobei er freilich zugleich bestrebt ist, ein umfassendes Bild des gesellschaftlichen Kräftespiels mit seinen verschiedenen Gruppen und Machtformationen zu geben, während sich Forte ausschließlich auf die Person und Perspektive seiner Mittelpunktsfigur konzentriert und deren wirtschaftliche Aktionen nur in ihren rückblickenden Worten veranschaulicht. Unter diesem Aspekt läßt sich auch hier die subjektiv gelagerte Personen-Perspektive erkennen, die bereits den Aufbau von Fortes «Gesundheit» bestimmt. Forte ist in «Der Aufstieg» etwas Außerordentliches gelungen: Er hat - von der imponierenden darstellerischen Leistung Ernst Schröders in der Rolle von Manz wirkungsvoll unterstützt - in einer Phase der deutschen Nachkriegswirklichkeit, die als Wirtschaftswunder-Epoche inzwischen schon wieder mit Zügen einer Legende vergoldet wird, das Personengleichnis einer großen Unternehmer-Persönlichkeit, die ja in verschiedene zeitliche Bezüge eingelagert ist 23 , als Brennpunkt gewählt, um die von irrationalen Impulsen gesteuerte Hektik einer Wirklichkeitsrotation zu dekuvrieren, die man als wirtschaftspolitische Leistung der Politiker-Ikone Ludwig Erhard zuschlägt, obwohl Ehrgeiz, Aufstiegshunger und Skrupellosigkeit der einzelnen den Motivationswust ausmachen, der sich hier irrationalistisch ausgewirkt hat. Manz, der letztlich an einem Zufall gescheitet ist, an der Habgier eines Verwandten, von dem er
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Vgl. «Glücksucher» (Anm. 18), S. 143-243.
Man denke an "gründerzeitliche" Figuren wie Schlieker, Borgward, Herstatt bis hin zu Figuren der jüngsten Vergangenheit wie Esch, aber auch an "oben gebliebene" Repräsentanten der Anfangsphase wie Oetker, Grundig oder Mohn.
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sich durch Geld befreien wollte, der aber damit an der Börse zu spekulieren begann und dabei Informationen verwandte, die er sich heimlich von Manz besorgt hatte, so daß das Ganze als Insider-Geschäft wirkte, das mit Beteiligung von Manz gelaufen zu sein schien - am Ende erkennt er den sich immer stärker beschleunigenden Kreislauf seiner unternehmerischen Aktivitäten als das, was es eigentlich ist: "Sie können als Kind auch nicht nur Karussell fahren, wenn Sie mich verstehen. Irgendwann müssen Sie mal absteigen, und dann sehen Sie, daß dieses Karusell sich auch ohne Sie weiterdreht." (S. 219) Auch in diesem Fernsehspiel betreibt Forte historische Aufklärung, gerichtet auf Verhaltensweisen, Zwangsmechanismen und ideologische Positionen unserer aktuellen Gegenwart. Er macht es nicht moralisierend, sondern mit analytischer Erkenntnisenergie und erschließt dem Medium damit eine Dimension der Wahrheitsfindung, die es häufig genug verfehlt. Diese routinierte Funktion der Medien läßt Forte von seinem Protagonisten an einer Stelle so beschreiben: "Die Presse [...] verbreitet keine Nachrichten und keine Informationen, sie verbreitet hämische Bilder von den Menschen und der Welt, in der sie leben. Das versetzt die Presse in die unvergleichliche Lage, ständig darüber berichten zu können, wie entsetzlich doch die Zustände sind. Die Presse erschafft sich so ständig das, was sie tagtäglich verbreitet. Eine durch Neid und Schadenfreude verkäuflich gemachte Welt." (S. 227) Die Intensität der sprachlichen und bildlichen Durchdringung unserer zeitgenössischen bundesdeutschen Wirklichkeit in den Fernsehspielen Dieter Fortes ist außerordentlich. Das Reservoir der formalen Entwürfe, mit denen Forte die Möglichkeiten des Mediums erkundet und sich dabei jeder routinierten Produktionsweise verweigert, ist ebenso bemerkenswert wie die analytische Kraft, mit der er den Zuschauer dazu bringt, in den Bildern, mit denen er sich zu unterhalten scheint, die Kurzschlüsse und Defekte seiner eigenen historischen Lage zu erkennen.
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Der Romancier und das Fernsehen: Gespräch mit Dieter Wellershoff
Fernseharbeit: Verrat an der Literatur? D: Herr Wellershoff, nicht zuletzt vor dem Hintergrund Ihrer literarischen Entwicklungsgeschichte zählen Sie unter den Autoren, die in den letzten Jahren eingehender für das Fernsehen geschrieben haben, zu den interessantesten. Sie haben anfangs vor allem theoretisch gearbeitet, über Benn promoviert, eine Tätigkeit im Verlag ausgeübt und zahlreiche Literaturkritiken verfaßt. Sie sind daher ein Autor, der offensichtlich sehr stark von konzeptionellen Ansätzen ausgeht. Erst relativ spät haben Sie dann begonnen, auch literarisch zu arbeiten, und in kurzer Zeit ist es Ihnen gelungen, sich einen bedeutenden literarischen Status in der deutschen Gegenwartsliteratur zu erschreiben. In einem weiteren Entwicklungsschub, etwa Mitte der 70er Jahre, haben Sie dann begonnen, intensiv für das Fernsehen zu arbeiten, ohne dabei allerdings Ihre bisherigen literarischen Ansätze fallen zu lassen. Sie haben den Versuch gemacht, auch für dieses Medium literarisch ambitioniert zu arbeiten. Andererseits aber haben Sie in theoretischen Äußerungen auch darauf hingewiesen, daß die Literatur zunehmend durch die Konkurrenz der Massenmedien und des Fernsehens im besonderen an Spielraum verliere. Könnte man auf einem solchen Hintergrund nun nicht sagen, daß sich ein Autor, der sich primär literarisch engagiert hat, angesichts der gegenwärtigen kulturpolitischen Situation, die von der Konkurrenz zwischen der Literatur und den anderen Medien bestimmt ist, ganz und gar auf die Seite der Literatur stellen und in einer Abwehrhaltung gegenüber den Massenmedien verharren müßte? Steht Ihre Arbeit für das Fernsehen nicht in einem Widerspruch zu Ihren eigenen theoretischen Einsichten? W: Zunächst einmal muß ich sagen, daß ich neben meiner Arbeit an Büchern auch immer schon für die Medien gearbeitet habe. Ich habe beispielsweise lange Zeit Hörspiele geschrieben. Und ich habe das auch nie als eine Treulosigkeit gegenüber der Literatur empfunden, zumindest nicht in dem Sinne, daß es meine eigenen Schreibmotivationen betroffen hätte. Ob ich nun ein Hörspiel schreibe oder eine Erzählung, einen Roman, ein Theaterstück oder ein Fernsehspiel - die Motivation ist zunächst immer dieselbe. Es geht darum, meine Erfahrungen und mein Verhältnis zur Welt zu artikulieren. Aber selbstverständlich kommen noch andere Motivationen hinzu. Ich kann zum Beispiel von meinen Büchern nicht leben, das würde ökonomisch keine ausreichende Basis sein. Bis jetzt habe ich auch noch immer als Verlagslektor gearbeitet. Aber in diesem Jahr mache ich damit Schluß. Ich brauchte und brauche also
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neben meinen Büchern eine weitere Verdienstmöglichkeit. Das Fernsehen ist eine, die ich allerdings nicht gewählt hätte, wenn damit nicht auch ein neuer Schreibreiz für mich verbunden gewesen wäre. Dieses Medium kommt mir insofern entgegen, als ich im Schreiben immer schon sehr stark optisch orientiert gewesen bin. Das kann man, glaube ich, beim Lesen meiner Bücher schnell feststellen. Aber auch mein psychologisches und soziologisches Interesse kann im Fernsehen gut zum Tragen kommen. Und dann bietet das Fernsehen gegenüber dem Roman eine neue Möglichkeit, das Zusammenspiel von Menschen darzustellen. Der Dialog beispielsweise ist vorherrschend. Wie auch immer, auf jeden Fall habe ich grundsätzlich kein Problem damit, daß ich für das Fernsehen arbeite. Das bereitet mir kein schlechtes Gewissen, und als Treulosigkeit gegenüber der Literatur empfinde ich es auch nicht. Ich glaube, daß ich für mich persönlich sogar eine Verbindung zwischen zwei Sorten von Publikum herstellen kann, und Überläufer aus dem einen in den anderen Bereich gibt es ja auch. Mit meinen theoretischen Äußerungen, die Sie anführten, habe ich das Folgende gemeint: Die Literatur ist tatsächlich dabei, ihre traditionelle Führungsrolle im kulturellen Bereich zu verlieren. Das liegt aber nicht allein daran, daß ihr Spielraum durch das Sachbuch und durch die neuen Medien äußerlich immer mehr eingeschränkt wird, und es liegt auch nicht allein daran, daß ihr andere vielfältige kulturelle Veranstaltungen das Wasser abgraben. Es liegt auch an den veränderten Rezeptionsgewohnheiten von Literatur. Kinder beispielsweise, die mit dem Fernsehen aufgewachsen sind und die es gewohnt sind, jeden Tag fernzusehen, werden vermutlich keine besonders guten Leser, weil sie die dazugehörige Autonomie nicht aufbringen können. Zum guten Leser gehört die Fähigkeit, sich abzusondern und sich langfristig zu konzentrieren. Für diese Kinder dürfte also die Literatur ein zu asketisches und zu spirituelles Medium sein oder werden. Und insofern besteht sicherlich eine ernsthafte Konkurrenz zwischen den beiden Medien Literatur und Fernsehen. Autor und Rezipient in der Medienlandschaft D: Muß man es nicht noch schärfer formulieren? Die augenblickliche Situation sieht doch in etwa so aus, daß man schon vorausberechnen kann, wann das Buch wieder so einen exotischen Status als Bildungsträger angenommen haben wird, daß nur noch eine kleine Elite von Literatur angesprochen sein wird. Ich denke da an statistische Erhebungen, die aussagen, wieviele Jugendliche überhaupt noch ein Buch in die Hand nehmen und wieviele Jugendliche andererseits bereits bis zu 12 Stunden wöchentlich vor dem Fernseher verbringen. W: Sie müssen das ja noch besser beurteilen können als ich, weil Sie beruflich mit jungen Menschen zu tun haben und wissen, inwieweit doch noch Lesegewohnheiten eingeübt sind beziehungsweise wie problematisch Lesegewohnheiten bei jungen Leuten bereits geworden sind. Ich denke aus der Perspektive von Schriftstellern heraus,
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und es sind nicht die Schriftsteller, die diese neue mediale Situation geschaffen haben. Der Schriftsteller befindet sich in dieser Gesellschaft und in dieser Situation, und wenn er sich ausdrücken will, dann muß er in der gegebenen Situation und mit den Instrumenten der gegebenen Situation sprechen. Als es noch keinen Buchdruck gab, trug man seine Texte laut vor. Und jetzt ist wieder eine Veränderung im Ausdrucksinstrumentarium eingetreten, und eine bloße Verweigerung würde gar nichts nützen. Es ist besser zu versuchen, das Erbe der Literatur auch in den neuen Medien aufrechtzuerhalten und weiterzuführen. D: Man sollte also das neue Medium bewußt einsetzen, um auf diesem Umweg wieder Leser für die Literatur zu gewinnen? Da sehe ich nun aber die große Schwierigkeit, daß dieses Medium in Programmstrukturen eingebettet ist, die sich wohl kaum mit Kategorien in Übereinstimmung bringen lassen, die man aus der Literatur heraus entwickeln würde. Soweit es um Fiktionales geht, sind diese Programme überwiegend sehr trivial und von daher nur sehr schwer mit Literatur in Berührung zu bringen. Und dann ist es doch auch so, daß die Sendeanstalten selbst eigentlich kein Selbstbewußtsein entwickelt haben, das die Literatur stützen würde. Welche Möglichkeiten hätte also ein Schriftsteller überhaupt, über einen listigen Gebrauch des Mediums Fernsehen für seine eigene Literatur zu arbeiten? Vielleicht können Sie das an Ihrer eigenen Person und anhand Ihrer eigenen Erfahrungen darstellen. W: Vom Produktionsvorgang her gesehen besteht ja zunächst einmal eine durchgeführte Identität des Sehens. Es ist immer ein und derselbe Autor, der einen Roman über heute lebende Menschen schreibt oder der einen Film darüber macht. Er arbeitet unter verschiedenen Medienbedingungen, aber er tut es im Ansatz aus demselben Interesse, nämlich, sein Verhältnis zur Welt zu artikulieren. Und ich glaube, daß zumindest für diejenigen, die meine Bücher gelesen haben, auch meine Filme nicht sehr fremd sind, weil sie eine Fortführung und Fortschreibung bereits bekannter Themen darin finden. Ich weiß aber auch von einzelnen Fällen, daß ich dadurch Leser gewonnen habe, daß man zunächst einmal einen Film von mir gesehen hat. Bei Lesereisen kommt es beispielsweise vor, daß mich das Publikum auch auf meine Filme anspricht. Es werden dann auch Verbindungen zwischen den verschiedenen medialen Ausdrucksformen hergestellt. Wie ist ein Motiv oder ein Thema im Buch und wie im Film dargestellt? Solche Fragen gibt es öfter. Die Arbeits Situation des Schriftstellers und des Fernsehautors D: Ich entnehme daraus unter anderm auch, daß Sie in bezug auf den Einsatz intellektueller Möglichkeiten keinen Unterschied zwischen der Arbeitssituation des Schriftstellers und der des Fernsehautors sehen. W: Ich sehe schon Unterschiede in den Arbeitssituationen. Der Schriftsteller, der ein Buch schreibt, ist bei dieser Arbeit und in dieser Hinsicht autonom. Er hat keinen
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Apparat und er hat keine von außen definierten Bedingungen. Er schreibt sein Buch, und da redet keiner hinein und schreibt etwa 100, 200 oder 300 Seiten vor. Die Arbeitssituation beim Fernsehen ist davon massiv unterschieden. D: Das ist richtig. Aber ich hatte mehr an die psychologischen Ausgangssituationen gedacht. Man sagt doch beispielsweise nicht: "So, für dieses Medium schreibe ich nur mit einigen Fingern meiner linken Hand". W: Das sicherlich nicht. Aber ich mache schon Unterschiede zwischen Prosa und Fernsehen. Die Rezeptionsbedingungen sind einfach jeweils andere. Ich habe einmal sogar einen zu großen Unterschied gemacht. Als ich meinen Roman «Die Schattengrenze» in das Fernsehen übertragen habe, habe ich ein zu starkes Zugeständnis an das Medium Fernsehen gemacht. Mir ist auf jeden Fall klar, daß ein Buchleser in einer anderen Situation als ein Fernsehzuschauer ist. Der sieht vielleicht das ganze Abendprogramm und hat nicht die Möglichkeit, die Bilder anzuhalten oder 'zurückzublättern'. Der Leser kann entscheiden, ob er nun 10 Seiten oder 500 an einem Stück liest, ob er bestimmte Abschnitte mehrmals liest oder ganze Passagen einfach wegläßt. D: Obwohl man sagen kann, daß sich die Rezeptionssituation im Fernsehen durch die Videotechnik immer mehr der des Buches annähert. W: Ja, das ist wahr. Das habe ich eigentlich noch gar nicht richtig begriffen und bedacht. Für mich ist das immer noch mehr eine Situation, die nur für ein paar Fachleute gegeben ist. Aber Verkaufszahlen von Videogeräten geben uns ja noch keine Auskünfte über die tatsächliche Nutzung. Werden Fernsehfilme oder Fußballspiele aufgezeichnet? Das ist doch eine ganz entscheidende Frage! D: Ganz zweifellos. Man brauchte Untersuchungen, die Auswahlkriterien und -gewohnheiten der Videobesitzer dokumentieren. Aber zurück zu Ihrer Arbeit. 'Realismus der Kölner Schule' und das Medium Fernsehen D: Als Außenbeobachter könnte man zu dem Schluß kommen, daß sich bei Ihnen die Kontinuität zwischen literarischer Arbeit und Arbeit für das Fernsehen daraus ergibt, daß Sie in den 60er Jahren versucht haben, eine neue Schreibweise in der Literatur einzuführen und durchzusetzen. Das Stichwort lautet 'Realismus der Kölner Schule'. Sie haben sich damals gegen ein Schreiben ausgesprochen, das zu spontan und zu unkontrolliert auf Phantasie setzt. Sie haben sich für ein phänomenologisch orientiertes Schreiben eingesetzt, das Details sorgfältig und präzise registriert und die Alltagswelt ausleuchtet. Andererseits gibt es von Ihnen auch Äußerungen, die das Fernsehspiel unter anderem dadurch vom Film abgegrenzt sehen, daß das Fernsehspiel als Basis eine mittlere Vernünftigkeit wählen müsse, die am Wahrneh-
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mungshorizont der Mehrzahl der Zuschauer orientiert ist. Ist das nicht auch 'Realismus der Kölner Schule', nun aber mit Blick auf das Medium Fernsehen formuliert? W: So unmittelbar sehe ich die Beziehung nicht. Ich habe damals keineswegs gemeint, man solle Bücher mittlerer Vernünftigkeit schreiben. Ich habe damals lediglich gemeint, daß innerhalb eines als realistisch zu definierenden Konzepts die Möglichkeit besteht, neuartige interessante Bücher zu schreiben. Das Ganze ist ja eigentlich auch gar kein Programm gewesen, sondern eine Anregung und eine momentane Bemerkung zu der damaligen literarischen Situation. Ich habe jedenfalls nicht dazu aufgefordert, konventionelle Bücher zu schreiben. Ich habe durchaus eine Perspektive des Realismus gehabt, die davon ausgeht, daß das Verhältnis der Menschen zur Wirklichkeit unendlich variabel ist und deshalb auch unentwegt neue Einstellungen, Sehweisen und Zuwendungen erfordert. Und es ist auch kein registrierender Realismus gemeint gewesen, sondern einer, der ganz von den subjektiven Erfahrungen des jeweiligen erlebenden Autors oder der handelnden Personen ausgehen sollte. Insofern besteht überhaupt keine Verbindung zu meiner Äußerung, das Fernsehspiel tendiere dazu, eine mittlere Vernünftigkeit durchzusetzen. Ich meinte damit eher etwas Inhaltliches. D: Aber es ist doch richtig zu sagen, daß Ihre Äußerungen über den Realismus aus den 60er Jahren mit gewissen polemischen Spitzen gegen eine Literatur gerichtet waren, die etwa Günter Grass mit seinen frühen Romanen vertritt. Einen Typus wie Oskar Matzerath, eine Spielfigur, die als Katalysator für bestimmte Absichten der Darstellung fungiert, haben Sie doch deshalb abgelehnt, weil sie eigentlich nicht in die Realitätserfahrung des Lesers übertragbar war und ist. Gegen den Typus Matzerath haben Sie Protagonisten gesetzt, die sozusagen in das Wirklichkeitsumfeld der Leser verpflanzbar waren. Ist dieses Insistieren auf realitätsnahem Personal bei Ihnen nicht doch analog zu dieser Linie der mittleren Vernünftigkeit zu sehen? W: Ich sehe diesen Begriff nicht in diesem Zusammenhang. Eine realistische Darstellung des Lebens bedeutet in meinem Verständnis nicht Bestätigung von Vorurteilen und Konventionen des Lebens. Eine realistische Darstellung des Lebens kann genauso verblüffend und schockierend sein wie eine phantastische, spielerische oder allegorische. In bezug auf Grass habe ich damals mehr gemeint, daß ein Stil wie in der «Blechtrommel» eher bei einer Welt berechtigt ist, die der Erfahrung schon nicht mehr zugänglich ist. Nehmen Sie als Beispiel die deutschen Ostgebiete. Das ist eine Welt, die bis zu einem gewissen Grad zur Mystifizierung freigegeben war. Da kann man so schreiben, wie Grass schrieb. Aber über das Leben hier in unserer Umwelt, in der Bundesrepublik der 60er, 70er und 80er Jahre, da muß man mit anderen Methoden schreiben. Sonst erscheint es irgendwie unglaubhaft, gemacht, künstlich, rhetorisch. Und obwohl ich sicherlich nicht schuld daran bin, hat sich ja auch die
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Gesamtliteratur in die Richtung des Realismus entwickelt, gar bis hin zum dokumentarischen Mißverständnis des Realismus. D: Ja, diese Kontinuität, die ich bei Ihnen vermutete, ist wahrscheinlich dann doch bloß meine Konstruktion. In den literaturtheoretischen Äußerungen der 60er Jahre haben Sie auch dafür plädiert, sich gleichsam von außen an die Wirklichkeit und an die Menschen in dieser Wirklichkeit heranzutasten und die traditionelle psychologische Introspektion zu vermeiden. Diese Äußerungen waren sicherlich auch durch den zeitgenössischen neuen französischen Roman beeinflußt. Retrospektiv gesehen, haben Sie damit aber auch Tendenzen vorweggenommen, die sich nun auch bei den Fernsehspielen entdecken lassen. Hier hat die Kamera die Funktion der Außenbeobachtung, der Abtastung der Außenwelt übernommen. W: Ich sehe diese Beziehung wirklich nicht. Für mein Gefühl enthält mein damaliges Votum für eine realistische Literatur nichts, was in diese Richtung weist, und wie schon zuvor gesagt, sollten die Äußerungen schon gar nicht ein Votum für konventionelle Literatur sein. Ich habe mich nur dagegen gewandt, die Wirklichkeit phantastisch zu übersteigern und das auch nur bei bestimmten Sujets. Mein Einwand damals gegen Günter Grass' «Blechtrommel» bezog sich ja nicht auf dieses Buch und sein Thema und seinen Erzählhorizont. Ich fand nur, daß das keine Methode sei, alltägliche, gegenwärtige Erfahrungen darzustellen. Eine Schreibweise, die dem Hier und Jetzt gerecht werden sollte, müßte meiner Meinung nach realistisch, nicht aber phantastisch sein. Realistisch aber meinte gerade nicht, von konventionellen Sehweisen auszugehen - ganz im Gegenteil. Ich habe mich immer darum bemüht darzustellen, daß Realismus nicht ein für allemal ein und dasselbe sein kann. Das Verhältnis zwischen Realität und Subjekt ist so komplex, daß es immer zugleich auch ein Konstrukt ist. Jeder Mensch konstruiert Wirklichkeit, indem er sich ein Bild von ihr macht, und das muß im Schreiben zum Ausdruck gebracht werden. Dieses Realismusverständnis ging also vom schöpferischen Ansatz des Subjektes aus, von seinen Interessen, Erfahrungen und Erkenntnissen. Vor allen Dingen gab es in diesem Realismusverständnis auch keine Beschränkung auf eine deskriptive Art des Sehens. Die Chance, den Menschen als ein Wesen darzustellen, das eine Innen- und eine Außenwelt hat, die in einem dauernden Austausch stehen, sollte genutzt werden. Meine Bücher zeigen das auch. Das Thema meiner Bücher sind die Grenzbereiche zwischen Innen und Außen, zwischen dem Echo des Äußeren im Inneren und umgekehrt. Es geht um die Formung der Außenwelt durch innere Ideen bis hin zu Wahnideen, die zu einer neurotischen Realitätsverkennung führen. Die Illusion ist ein Thema meiner Bücher. Und da sehe ich allerdings Grenzen des Mediums Fernsehen. Das Fernsehen hat nicht dieselbe Flexibilität wie das Buch, das Innen- und Außenwelt vertauschen und die Übergänge darstellen kann. Das Buch kann mühelos in die Gedanken, Gefühle und Sensibilitäten der Personen eindringen. Das Fernsehen kann das nicht. Im Fernsehen sieht man Personen immer als komplette Figuren von außen innerhalb eines festen Mi-
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lieus. Und Traumsequenzen oder Innenweltdarstellungen haben für mich im Fernsehen immer etwas Konstruiertes. Literarisches und Kulinarisches: Die Doppelstrategie des Fernsehautors D: In einer Anmerkung, die Sie zu Ihrem Fernsehspiel «Schattengrenze» geschrieben haben, sagen Sie, daß Sie hier Phantasie-Lizenzen an die Kolportageliteratur mit eingearbeitet haben. An diese Formulierung könnte man die Überlegung anknüpfen, dies sei eine schriftstellerische Strategie, die gerade beim Fernsehen geboten scheint. Da die Zuschauer nicht in die Rezeption literarischer Werke eingeübt sind, muß man sie mit Ködern, mit kulinarischen Anleihen locken. Andererseits könnte man aber auch argumentieren, daß darin eine große Gefahr für die schriftstellerische Arbeit liegt. Die Programmstruktur des Fernsehens sieht ja so aus, daß Triviales und Kolportagehaftes streckenweise dominiert. Ich denke da nur an die sehr beliebten Fernsehserien. Mir scheint also, daß für den Schriftsteller im Fernsehen eine Art widersprüchlicher Doppelstrategie geboten ist: Er muß sich einerseits an diese Kolportage angleichen, um Zuschauer anzulocken, und er muß andererseits die Zuschauer mobilisieren, über die Eingewöhnung in die Kolportage hinauszugelangen. Darin aber liegt ganz offensichtlich eine spezifische Schwierigkeit für denjenigen, der ambitioniert literarisch für das Fernsehen arbeiten will oder muß. Wie haben Sie sich selbst mit dieser Schwierigkeit auseinandergesetzt? W: Die Grenze zwischen Literatur und Kolportage war meines Erachtens nie so starr, wie Sie das jetzt dargestellt haben. Es hat viele Schriftsteller gegeben, die in ihre Werke Kolportageelemente eingearbeitet haben. Bei Faulkner ist das zum Beispiel sehr deutlich. Was ist überhaupt unter Kolportageelementen zu verstehen? Auch die Szenarien von Shakespeare haben Kolportageelemente, hoch zugespitzte dramatische Situationen der Eifersucht, der Leidenschaft und der Beziehung zwischen Tod und Liebe. Das sind auch Elemente der Kolportage, und ich würde sie als einen Teil des vitalen Untergrundes von Literatur betrachten. Es kommt eben darauf an, daß sich eine kolportagehafte Sicht nicht als Ideologie verfestigt. Vielleicht sollte man auch eher von Elementen des Kulinarischen als von Kolportage sprechen. Ein Fernsehspiel
nun muß ja
deutlicher
als ein Roman
auch
einen
gewissen
Unterhaltungswert haben. Gerade über diesen Unterhaltungswert nähert sich ja der Zuschauer dieser Gattung des Fernsehprogramms. Er geht primär davon aus, daß er von diesem Programmtypus unterhalten wird. Und wenn er auf dieser Ebene den Einstieg findet und dann gleichzeitig auch noch an Fragestellungen herangeführt wird, die ihn zum Nachdenken veranlassen, dann ist eigentlich die Strategie der literarischen Arbeit erreicht. Die Gefahr ist eben immer die, daß nur das Kulinarische wahrgenommen wird und daß das Kulinarische allein als Maßstab für die Beurteilung
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der literarischen Arbeit im Fernsehen gilt. Für mich hat der Begriff Kolportage auf jeden Fall einen zu stark wertenden Beigeschmack. Strukturen von Fernsehspielen und von Literatur D: Kann ein Schriftsteller überhaupt so verfahren, dem Publikum einen Köder hinzuwerfen, um ganz andere Interessen damit zu verfolgen? Ich kann das nicht recht sehen. Das würde ja nie eine Einheit werden. Das, was Sie das Kulinarische nennen, und das, was man das Literarische nennen könnte, müssen schon irgendwie miteinander verschmolzen werden, sei es auf einer strukturellen Ebene oder dadurch, daß Themen differenzierter gesehen und behandelt werden. Um es an einem Beispiel zu demonstrieren: In Ihrem Fernsehspiel «Die Freiheiten der Langeweile» beginnen Sie mit einer Sequenz, die am Ende wiederholt wird. In dieser Sequenz wird ein Kriminalfall, ein Mord dargestellt. Diese Sequenz hat kulinarischen Charakter, weil das Stoffelement den Zuschauern aus dem Kontext von Kriminalfilmserien vertraut ist. Im Gegensatz aber zum Schema der Kriminalfilmserien - Mord, Entdeckung, kriminalistische Auflösung unter Aufdeckung der jeweiligen Handlungsmotive - liegt bei Ihnen das Schwergewicht eindeutig auf der filigranen Rekonstruktion der Vorgeschichte des Kriminalfalles. Deshalb wird zum Schluß auch noch einmal die Mordsequenz wiederholt, quasi als handlungslogische Konsequenz des Fernsehspiels. Im Grunde genommen aber beginnen auch Sie mit einem kulinarischen Einstieg, der mir vor allem aus den Rezeptionsgewohnheiten des Fernsehpublikums, weniger aber aus der Thematik des Fernsehspiels heraus motiviert scheint. Die Zuschauer werden durch die Analogie zu gewöhnlichen Kriminalfilmserien zum Weiterschauen stimuliert. W: Es gehört aber doch auch zu der Struktur von literarischen Werken, daß ein Schlüsselereignis gleich zu Anfang mit einigen Signalen erscheint. Es wird dann abgebrochen, und weite Teile des Textes erzählen dann in einer Rückblende die ganze Geschichte. D: Das ist richtig. Aber in Ihrem Fernsehspiel ist dieses Verfahren an einen Stoff gebunden, der etwas Sensationelles, etwas Schockhaftes und von daher einen gewissen Stimulationscharakter für den Zuschauer hat. Traditionell im literarhistorischen Kontext ist an Ihrem Fernsehspiel vor allem aber nur die zyklische Form. W: Ich will jetzt nicht diese Filmmuster verteidigen. «Die Schattengrenze» ist beispielsweise ein Film, der mir in dieser Hinsicht nicht besonders gut gelungen ist. Aber die verunglückte Inszenierung hat den Film verdorben. Fast das ganze erste Drittel des Filmes war unbrauchbar und mußte wegfallen. Die Unsicherheitsmomente im Drehbuch, die im Roman noch sehr viel deutlicher zu finden sind, sind alle nicht in die Filmversion übernommen worden. Das Drehbuch ist also auf den Rest des Brauchbaren zusammengestrichen worden, und daraus hat man einen Film
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zusammengeschnitten. Insofern möchte ich diesen Film überhaupt nicht verteidigen. Und das Kolportagehafte habe ich dann auch in diesem bombastischen Schluß sehen können, in diesem Tod auf der Müllkippe. Die Assoziation zu Kriminalfilmen war durchaus da, allerdings nicht zu solchen wie denen aus der «Tatort»-Serie. Ich fühlte mich mehr an Filme wie «Der eiskalte Engel» erinnert, die aus der Perspektive gemacht werden: Ein bißchen grandioser als das Leben. Das Fernsehspiel zwischen Soziologie und Literatur D: Sicherlich lassen sich auch in «Die Schattengrenze» solche kulinarischen Elemente ausmachen. Aber in «Die Freiheiten der Langeweile» sind sie noch greifbarer. Vielleicht wird das deutlicher, wenn ich noch ein Gegenbeispiel in die Diskussion einbringe. Ich meine Ihr neues Fernsehspiel «Flüchtige Bekanntschaften». Die Personen in diesem Fernsehspiel haben Probleme, sich in neue Rollen hineinzufinden und einen gewissen Leerlauf in ihrem Leben zu überwinden. Sie stellen das ohne solche kulinarischen Aspekte wie Spannungsschürzung, sensationelle Handlungen oder explosive Konflikte dar. «Flüchtige Bekanntschaften» ist eigentlich eine Reproduktion der Alltagsmonotonie durch die präzise Deskription der Alltagswirklichkeit der Personen, und der alltägliche Leerlauf wird ästhetisch nicht dergestalt umgesetzt, daß beim Leser ein Erkenntnisschock ausgelöst wird. Man wird selbstverständlich abwarten müssen, wie die Fernsehinszenierung aussehen wird - von der Lektüreerfahrung habe ich jedenfalls den Eindruck, daß in «Flüchtige Bekanntschaften» das Kulinarische weitgehend fehlt. Sollte die Fernsehinszenierung daran festhalten, dann sehe ich allerdings das Problem, daß die Zuschauer sagen könnten: "Ja, das ist alles ganz richtig, so grau und trist ist es, und diese Probleme hat man, und so versandet das alles". Die Zuschauer könnten also das Fernsehspiel als Auszug aus einer soziologischen Fallstudie aufnehmen, die sich mit einer bestimmten Gruppe von Alltagsmenschen beschäftigt. Damit würde dann selbstverständlich das Literarische des Fernsehspiels verfehlt. W: Das sehe ich wieder einmal ganz anders. Für mich enthält das Drehbuch sehr heftige Situationen. Die Auseinandersetzung mit dem Vater, die Selbstdemontage des Handelsvertreters, dieses protzenden, phallisch protzenden Mannes, die Heiterkeit, mit der die Frauen dann unterwegs zunächst einmal versuchen, durch einen Ausflug eine eigene Lebenswelt zu zelebrieren - das hat für mich schon dramatische Dimensionen. Und dann ist es für mich auch ein Spiel aus vielfältigen menschlichen Begegnungsarten, in dem durchaus auch Unbewußtes mitschwimmt. Es zeigt die Suche nach Kontakt bei Menschen, die schon wissen, daß diese Suche vielleicht ergebnislos sein wird, die aber im Ausgehen so einen Ersatz von Veränderungen suchen. Das Stück hat für mich also durchaus seine Transzendenz und ist nicht etwa eine bloße Fallstudie. Es ist die Konzentration von Lebensmotiven an einem Wo-
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chenende, und man ist danach in der Lage - so hoffe ich wenigstens bis in das Innere der Menschen hineinzusehen. Ich sehe also «Flüchtige Bekanntschaften» völlig anders als Sie. D: Sicher, ja. Aber im Alltagsritual dieser Figuren steckt doch so vieles, was allen Leuten mehr oder minder vertraut ist. Man geht aus, tanzt ein wenig, betrinkt sich ab und zu, schwadroniert ein wenig herum - alles Dinge, die ganz im Rahmen millionenfacher Alltäglichkeit bleiben. Weder der Handlungseinstieg noch alle anderen Handlungssequenzen stellen herausgehobene Situationen dar. Banal gesagt: Es wird zum Beispiel keiner totgeschlagen. W: Ja, es stirbt keiner. Die Menschen leben weiter und werden am nächsten Wochenende vielleicht wieder etwas Ähnliches tun. Man weiß das nicht. D: Genau, es ist so alltäglich, daß es sich unbestimmt lange fortsetzen könnte. Und statt des jungen Mannes, der am Schluß eine Beziehung zu Susanne aufnimmt, könnte am nächsten Wochenende ein anderer da sein. Alles könnte ad infinitum weitergehen. W: Und das ist genau die Erschütterung, die der Film bringen muß. Es geht um das Wissen, daß zwischen dem Wunsch nach Leben und den Realisierungsmöglichkeiten, die diese Menschen haben, ein unüberbrückbarer Graben ist. Genau das muß deutlich werden. Der Film kann also meiner Meinung nach sehr viel Emotionalität und Sinnlichkeit haben, und für Kulinarisches gibt es im Drehbuch genug Vorlagen. Denken Sie allein an die Szenen im Tanzlokal oder an die Privatpartie und den Striptease dieses Mannes oder an die Bilder, wie diese Frau allein inmitten des Menschengewühls durch die Stadt geht, wie sie den Abend bei ihrem Kind zu Hause verbringt und mit ihm unter die Decke kriecht. Und dann ruhigere Szenen dazwischen. Also ich gehe davon aus, daß das packend ist. Die Verpflichtung auf das Relevante D: Sie haben einmal davon gesprochen, daß das Fernsehen und auch das Fernsehspiel unter einem Relevanzzwang stehen. Ihre Begründung war die, daß eine Produktion, die sehr kostenintensiv ist, von den verantwortlichen Fernsehadministratoren nur dann gewagt wird, wenn sich in etwa voraussagen läßt, daß eine möglichst große Anzahl von Zuschauern von diesem Programm angezogen wird. Neben diesem pragmatischen Aspekt könnte man freilich auch rein literarisch argumentieren und sagen, daß der Relevanzzwang auch darin bestehen könnte, in Fernsehspielen ein Personal aufzugreifen, daß eine bestimmte Repräsentanz besitzt. Die Personen müßten in ihren Aktionen und Interaktionen wichtige Bereiche des gesellschaftlichen Miteinanders ausleuchten, so daß gleichzeitig mit den Spielhandlungen um diese Personen auch gesellschaftliche Informationen an den Zuschauer weitergegeben würden.
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In Ihrem Fernsehspiel «Phantasten»
sehe ich diese Art von Relevanzzwang in
hervorragender Weise eingelöst. Sie leuchten da den Wirtschaftsbereich aus, so wie er sich heute mit allen Krisenmomenten darstellt, und die drei Protagonisten - der Bankier Sollier, der Bauunternehmer Breysig und der Lokalpolitiker Hammerich repräsentieren ganz ausgezeichnet eine bestimmte Menschengruppe in unserer Gesellschaft. Hier werden Sachverhalte, die man sonst nur in Fernsehmagazinen oder im Wirtschaftsteil der Zeitungen kurz angetippt findet, ausgiebig dargestellt und thematisiert. Sie stellten immer wieder den hohen Informationsgrad und die Relevanz der thematisierten gesellschaftlichen Probleme heraus. Bei Ihren anderen Fernsehspielen scheint mir das nicht in vergleichbarer Weise der Fall zu sein. Die dominierende Figur in Ihrem Fernsehspiel «Die Freiheiten der Langeweile», der Jugendliche Bernd, ist ein Außenseiter. Bernd wird sicherlich innerhalb seines Milieus und mit den psychologischen Hypotheken, mit denen er belastet ist, anschaulich und einsichtig dargestellt, aber ich sehe nicht recht die Möglichkeit, Ihre konkrete Darstellung in gesellschaftliche Erfahrungen zu transformieren, die größere Bereiche betreffen. Bei Susanne in dem neuen Stück «Flüchtige Bekanntschaften» scheint es mir ebenso zu sein, und vielleicht trifft es auch auf Berger in «Die Schattengrenze» zu. Sind diese Versager, Scheiternden, Außenseiter nicht in gewisser Weise Randfiguren, denen das Spektrum an Aussagefähigkeit fehlt, das die drei Protagonisten in «Phantasten» haben? Und könnte man nicht mit dem Begriff der Besonderheit als ästhetischer Kategorie sagen, daß nur solche Personen, die Kreuzungspunkte gesellschaftlicher Entwicklungen sind, in der Lage sind, durch die Erzählung ihres Lebens gesellschaftliche Sachverhalte darzustellen? Stellt man Ihre Fernsehspiele in einer Art Synopse nebeneinander und vergleicht sie, dann tauchen doch unter dieser theoretischen Vorgabe einige Probleme auf. W: Für mich nicht. Was Sie über die Mehrzahl meiner Stücke sagen, ist mir ganz fremd. Ich würde sogar sagen, daß Filme wie «Phantasten» und «Die Freiheiten der Langeweile» ein bißchen zu repräsentativ, zu sehr Lehrbeispiele sind. «Die Freiheiten der Langeweile» ist für mich ein klassischer Fall von Aggressivität, die aus IchSchwäche, Minderwertigkeitsgefühlen und inneren Ziellosigkeiten entsteht. Das Ganze ist ein Modellfall, und ich habe dafür auch reale Fälle studiert. Ich glaube, die Kriminologie kann bestätigen, daß Aggression eine Kompensation von Ich-Schwäche, von Bedeutungslosigkeit, also Depressionsabwehr sein kann. Solche Menschen stehen vor der erfühlten Alternative, an ihrer Ziellosigkeit, Nichtigkeit und Hilflosigkeit zu zerbrechen oder andere zu zerbrechen. Und das erzählt dieser Film in lakonischen Situationen. Er erzählt, wie sich solche Leute geradezu suchtartig in ein wahnhaftes Bild von sich selbst steigern und aus diesem Selbstbildnis heraus agieren. Nachher stoßen Sie dann mit einer Realität zusammen, der sie nicht gewachsen sind und in der sie sofort zusammenbrechen. Wie gesagt, ich finde es eher zu exemplarisch als abseitig. Die drei Protagonisten aus «Phantasten» finde ich nur deshalb legitim, weil
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ich nicht bei Stereotypen und bloßer Funktionalisierung stehen geblieben bin, sondern diese Figuren auch individualisiert habe. Ich habe zum Beispiel gezeigt, daß Sollier ein Mensch ist, der im Grunde genommen für seine Funktion überhaupt nicht geeignet ist. Er ist ein Mann, der nur zwangsweise erwachsen geworden ist und starke Abhängigkeitsbedürfnisse hat. Das sieht man an seinem Verhältnis zu seiner Schwägerin. Seine Frau hat ihn in eine Rolle genötigt, die er nicht ausfüllen könnte, weil er unter Entscheidungsschwäche leidet. Im Beruf aber muß er entscheiden und steht auch durch den Aufsichtsrat unter Erfolgszwang. Deshalb kann er auf einen Menschen wie den Bauunternehmer Breysig nur wehrlos reagieren, weil Breysig all das repräsentiert, was ihm fehlt. In diesem Film kreuzen sich also durchaus individuelle Ausgangssituationen mit den gesellschaftlichen Bedingungen. Zeigte der Film nur die gesellschaftlichen Bedingungen und die Entstehung eines Bauskandals, dann wäre «Phantasten» nur ein Lehrstück. Die Notwendigkeit der Individualisierung D: Diese Individualisierung ist ganz sicher die konkrete Besonderheit dieser einzelnen Spielfiguren. Im Charakterbild von Breysig tauchen beispielsweise durchaus Züge auf, die sympathisch sind und die im Widerspruch zu seinen geschäftlichen Verhaltensweisen stehen. Diese charakterliche Widersprüchlichkeit macht ja die Figuren erst zu Personen. Auch Hammerich kann man als Leser oder Zuschauer nicht in ein 'Schema F' bringen, und weil das so ist, ergeben sich partielle Identifikationsmöglichkeiten des Zuschauers mit den Personen. Solche Identifikationsmöglichkeiten durch die Darstellung eines differenzierten und widersprüchlichen Charakterbildes kann ich aber, bezogen auf die Repräsentanten Ihrer anderen Stücke, nur sehr schwer sehen. Bei Berger, dem Autovertreter in «Schattengrenze», der in solch dunkle Geschäfte hineingerät, scheint das schon äußerst schwierig zu sein, ganz und gar unvorstellbar aber in bezug auf den Bernd in «Die Schattengrenze». So wie Sie ihn dargestellt haben, ist er für mich zu sehr definiert und in vorgegebene Kategorien der Sozialwissenschaften auflösbar. Da ist kein persönlicher Rest vorhanden, der es ermöglichte, sich in diese Figur hineinzuversetzen und ihr damit eine gewisse Sympathievorgabe zuzubilligen. Bernd ist so sehr Fallstudie und Einzelfall, daß er von vornherein aus der menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeit des Zuschauers herausgerät. An ihm wird lediglich etwas demonstriert. W: Was soll ich dagegen sagen, wenn Sie das so sehen. Dagegen kann ich kaum anführen, daß es auch bei Berger und Bernd individuelle Züge gibt. Aber es ist wohl wahr, daß ein Jugendlicher wie Bernd ein so unvollständig entwickelter Mensch ist, daß die Verhaltens- und Gruppenschemata sehr viel deutlicher in Erscheinung treten als bei einem Bankier, der ein sehr viel elaborierteres Verhalten hat und auch in komplizierteren Sozialzusammenhängen agiert. Aber eigentlich geht es mir immer
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um diesen individuellen und besonderen Moment, und ich meine, daß den auch Bernd hat. Diese Szene, als er sich bei dem Mädchen ausspricht, das beim Autostopp zu ihm einsteigt: da erzählt er vieles über seinen Werdegang, und das ist ein Konglomerat von Größenwahn und Verletzlichkeit und Verletztheit und von einer forcierten Sicht der Welt als Kampf ums Dasein. Einmal will er groß herauskommen. Das heißt, einmal will er in den Augen anderer eine Identität haben. Ich glaube, man lernt ihn schon als ein Individuum kennen. Das gilt auch für seine Beziehung zu seinen Eltern. Bernd repräsentiert allerdings auch einen typischen Fall von Kriminalität. D: Bei meinen Überlegungen denke ich auch an Ihre theoretischen Äußerungen über Literatur und ihre Aufgaben. Literatur sei Phantasie und Wirklichkeit, beschränke sich nicht allein auf die Abbildung von Bestehendem, sondern praktiziere auch Spielmodelle und nehme neue Möglichkeiten der Wirklichkeitsgestaltung vorweg. Von Ihnen gibt es die Aussage, daß sich das Weiterleben nur dann lohne, wenn man die Möglichkeit hat, eine neugestaltete Zukunft ausfindig zu machen. Ohne diese Perspektive sei ein Weiterleben sinnlos. W: Ich habe aber nie daran gedacht, utopische Literatur zu schreiben! Verstehen und Identifizieren D: Ich will jetzt Ihre Aussage auch nicht gleich in ein Genre übersetzen und von Ihnen utopische Literatur einklagen. Aber ich meine, daß dieses Zukunftspotential für den Zuschauer auch in bestimmten ästhetischen Formen Ihrer Fernsehspiele auffindbar sein müßte. Und es müßte auch am Beispiel gewisser Sympathievorgaben auffindbar sein, die der Zuschauer den Protagonisten geben kann, weil sie in ihrer widersprüchlichen Lage dargestellt sind und nicht ausdefiniert werden können. W: Sie meinen also, ein Junge wie Bernd wirke nur unsympathisch? D: Ja, ganz und gar unsympathisch. Die beiden Kumpels von Bernd sind ja mehr oder minder Staffage. W: Nein, jeder ist eine Person, und das kommt auch zum Vorschein in bestimmten Szenen, in denen das stereotype Verhalten zerbricht. Der Freund von Bernd, Eddi, der Bodybuilder, macht zum Schluß eine schreckliche Erfahrung mit sich. Er sitzt in diesem Bus und sagt immer wieder: "Ich denke immer, es ist alles in Ordnung". Und dabei gerät er fast ins Weinen. Das Leben ist vorbei, obwohl es noch gar nicht richtig begonnen hat. Er weiß gar nicht recht, was passiert ist. Er ist eigentlich gar nicht das Subjekt seiner Tat. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man sich dem gegenüber ganz gleichgültig verhält. Er ist gar nicht das Subjekt seiner Tat, er hat gehandelt wie ein spielendes Kind. Aber seine Handlung hat ungeheure Wirkung gehabt. Plötzlich erwacht er aus seinem phantastischen Agieren und sieht die Wirklichkeit.
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D: Ja schon, aber der Zuschauer wird eigentlich in der Situation gelassen, daß er zwar verstehen kann, was passiert ist, und daß er verstehen kann, auf welchem Hintergrund Bernd und seine Kumpels so gehandelt haben. Aber er kann diese drei nicht in dem Sinne verstehen, daß er sich selber in diese Situation und diese Charaktere hineinversetzte. Das Verstehen des Zuschauers bleibt ganz an diese Figuren geknüpft, ist nicht auf ihn selbst oder auf andere beziehbar. Der Zuschauer versteht sozusagen 'kalt'. Und das liegt meines Erachtens daran, daß die Figuren zu statisch, zu lücken- und widerspruchslos gezeichnet sind. W: Das sagen Sie jetzt sehr apodiktisch, so, als ob alle Zuschauer so wie Sie reagieren müßten. Hätte ich mich selbst nicht bis zu einem gewissen Grade in diese jungen Leute hineinversetzen können, hätten ihre Erfahrungen nicht bis zu einem gewissen Grade auch Selbsterfahrungen bedeutet, dann hätte ich das Ganze gar nicht schreiben können. Da ich die Sache geschrieben habe, muß ich bis zu einem gewissen Grade eine Vorstellung von solchen Menschen gehabt haben, auch eine, wenn Sie so wollen, existentielle Anteilnahme. D: Wahrscheinlich liegt es wirklich daran, daß wir andere Antennen haben. So wie Sie es jetzt darstellen, kann ich Ihnen das schon abnehmen. W: Das ist ja auch ganz in Ordnung so. Der eine reagiert auf dieses, der andere auf jenes, das eine ist jenem fremd, diesem aber vertraut. Jeder reagiert ja auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Geschichte. Ich wähle auch ganz subjektiv die Bücher aus, die ich lese. Realismus zwischen Versagung und Hoffnung D: Mir geht es aber auch um ihre Simulationsmodelle von Wirklichkeit, nicht allein nur um ihren oder meinen subjektiven Eindruck. Und Ihre Simulationsmodelle sind ja nicht nur Buchliteratur, sondern müßten eigentlich auch Medienliteratur sein. Damit sie das sein können, brauchen sie aber auch so etwas wie einen ästhetischen Mehrwert, und der fehlt meines Erachtens bei Ihnen. Der Zuschauer müßte aufgrund des Spielmodells 'unbestimmte Personen' auf Möglichkeiten aufmerksam gemacht werden, die er dann als eigene Erfahrungen aufnehmen könnte. Diese dargestellten Möglichkeiten müßten als Erfahrungen oder Selbsterfahrungen in seinem Kopf weiterarbeiten. Möglichkeit als essentielle Kategorie der Zukunft: Beim Zuschauer müßte eine gewisse Euphorie ausgelöst werden, der Eindruck, hier wird etwas Neues, Unbekanntes und Wünschenswertes gezeigt, das auch mich betreffen könnte und sollte. Mit Blick auf «Die Freiheiten der Langeweile» und auf «Die Schattengrenze» ist mir - ich betone mir - das nur sehr schwer möglich, und auch bei «Flüchtige Bekanntschaften» habe ich Schwierigkeiten. Mir fehlt einfach der utopische Überschuß, von dem Sie in theoretischen Äußerungen ja selbst sprechen. Ich will nun nicht so weit gehen und sagen, daß Sie nur auf Stoffe und Personen fixiert sind, für die das
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Scheitern und Versagen grundlegend sind. Neues als wünschenswerte Zukunft blitzt ja auf dieser negativen Folie immer wieder einmal auf. Aber müßten nicht auch Leute in Ihren Stücken vorhanden sein, die nicht unterliegen und eine Möglichkeit finden, die für viele ein Ausweg sein könnte? W: Es gibt kein Gesetz, das das fordert, und keine literaturimmanente Regel, die das fordern könnte. Der Schriftsteller kann nur seine persönliche Wahrheit schreiben. Er kann nicht Erwartungen erfüllen, die beispielsweise einen neuen Weg oder eine Sinngebung für das Dasein einklagen. Wenn sich das nicht ganz von selbst aus der Phantasie des Autors heraus ergibt, dann geht es eben nicht. Als Schriftsteller kann man das nicht konstruieren oder bei irgendeiner Weltanschauung ausleihen. Übrigens, welcher Schriftsteller hat das überhaupt getan? Der alte Faulkner, als er begann, christliche und humanitäre Legenden zu schreiben. D: Sam Peckinpah gab seinem Film «The Getaway» diesen märchenhaften Schluß, daß der Einzelgänger schließlich doch gegen eine ganze Bande siegt. Er kann in dem Auto zusammen mit seiner Freundin nach Mexiko fliehen, und die Gangster jagen ihn vergeblich. Im Kontext des ganzen Films hat dieser Schluß einen solchen ästhetischen Steigerungswert, daß er schon wieder authentisch wirkt. Das hat selbstverständlich nichts mit Authentizität im Sinne von Kriminalstatistiken zu tun, die sich mit solchen Fällen befassen; ganz im Gegenteil. Aber hier wird gegen die statistisch verifizierbare, negative Gegenwart fiktiv die Wirklichkeit einer besseren Zukunft realisiert, und man geht mit einem merkwürdigen Glücksgefühl aus diesem Film heraus und gerät ins Nachdenken. Eigentlich ist es dieser Schluß, der den Film im Gedächtnis des Zuschauers haften läßt - das Bewußtsein oder auch das Wissen von einer besseren Zukunft. Ich denke auch an die Komödien von Frank Capra aus der amerikanischen Depressionszeit - da gibt es märchenhafte Einschübe, in denen das Positive eigentlich nur in der ästhetischen Form existiert und nicht in die vorfindbare Realität zurückübersetzbar ist. Isoliert man diese Einschübe, dann sind sie bloße Kolportage. Aber innerhalb der ästhetischen Gesamtstruktur der Filme gewinnen sie eine ganz neue, zukunftsweisende Dimension. W: Ich möchte behaupten, daß es auch in meinen Büchern und Filmen Momente von Utopie, von Versöhnung und Glück gibt. Es sind dies aber sicherlich nicht die Schlußsituationen. Insofern sind meine Werke kritischer oder auch resignativer. Ich lege es nicht darauf an, nur eine ganz monotone und aussichtslose Schattenwelt darzustellen. Ich deute wenigstens die besseren Möglichkeiten der Figuren auch an. Zum Beispiel ist diese Begegnung zwischen Susanne und Michael in «Flüchtige Bekanntschaften» eine sehr humane Situation. Wenn auch nicht als dauerhaftes Konzept, so ist doch für einen Augenblick die Freiheit von Leistungszwängen und gegenseitigen Erwartungen hergestellt, und Spontaneität und Aufeinanderzugehen haben Raum. Einen Moment lang ist das realisiert. Und nehmen Sie die Beziehung zwischen Su-
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sänne und ihrem Kind. Diese Beziehung ist ja im Grunde durch die Verhältnisse ganz zerstört. Aber als das Kind dann nachts aus dem Bett kommt und Kontakt zur Mutter sucht, da begreift die Mutter das und nimmt das Kind zu sich. Und sie spielen, daß sie beide in einem Zelt sitzen und Brüderschaft trinken. Das ist dann auch ein Moment von geglücktem Leben. Und solche Momente muß es geben, und sie sind in meinem Büchern und Filmen. Es muß sie auch noch in den schlimmsten Szenen geben, insofern, daß man merkt, daß die Figuren eigentlich Erwartungen haben, die ihrem tatsächlichen Handeln widersprechen. Der ganze Film «Flüchtige Bekanntschaften» handelt letztlich von so einer utopischen Erwartung. Man geht aus seinen Verhältnissen heraus und findet einen anderen Menschen. Den muß es auch geben im Film. Aber gleichzeitig handelt der Film auch davon, daß diese Erwartung aus vielen Gründen, die in der Situation liegen, enttäuscht wird. Beides ist drin in diesem Film, und es bleibt in einem gewissen Zwielicht. Momente des Gelingens und solche der Gelöstheit scheinen also möglich zu sein. Ein weiteres Beispiel dafür ist jene Szene in dem Tanzcafe, dieses alberne Reden der Personen untereinander. Einerseits ist das ein Nonsensdialog, der gerade Kommunikation verweigert. Aber für mein Gefühl enthält er auch ein Moment der Gelöstheit und der Freiheit. Es sind also keine einfachen Situationen. Und ich denke auch an Irmchen und Tulli, Randfiguren im Grunde genommen, die ihr Spiel eigentlich schon verloren haben und nur noch so mitlaufen. Die bilden eine Lebensgemeinschaft, eine Symbiose, die noch auf irgendeine Weise funktioniert und die ein Geheimnis enthält: Wieso halten sich die beiden aneinander fest, obwohl sie so seltsam und grotesk miteinander wirken? Solche Konstellationen und Situationen müssen in einem realistischen Stück vorkommen. Aber ich glaube nicht, daß ich dazu verpflichtet bin, ein Märchen, eine rein fiktive Befriedigung von Sehnsüchten zu schreiben. Das kann vielleicht einmal so werden, falls ich einmal resigniert genug sein sollte. Wer Märchen schreibt und bewußt signalisiert, daß er jetzt ein märchenhaftes Gelingen darstellt, der schreibt ja indirekt gleichzeitig mit, daß es in der Realität nicht so zugeht. Das ist wie bei Shakespeares Komödien: Der Dichter gewährt eine Versöhnung, aber dann läßt er den Narren singen und sagen, daß draußen der Regen fällt, und wenn der Zuschauer rauskommt, dann fällt der Regen. Text und filmische Adaption: Ein Reduktionsprozeß D: Bezogen auf «Flüchtige Bekanntschaften» mag das alles richtig sein. Mein Urteil ist momentan abstrakt, da ich nur vom Text her urteile und verurteile. Die visuelle Konkretisierung wird sicherlich ein ganz anderes und wesentlich konkreteres Bild ergeben. Insofern gilt mein Urteil nur unter Vorbehalt. Neben den bisher diskutierten Arbeiten für das Fernsehen haben Sie aber ja auch solche gemacht, die ganz unmittelbar die Nahtstelle zwischen traditioneller Buchliteratur und neuer Medienliteratur bezeichnen. Ich denke an die direkte Übertragung von literarischen Vorlagen ins Fernsehen, zum Beispiel also an Romanverfilmungen. Ging es dabei nur um die äs-
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thetische Verknappung komplizierter literarischer Strukturen in spielbare Fernsehskripte, oder haben Sie beim Schreiben auch neue Dimensionen herausgearbeitet und in die Fernsehskripte eingearbeitet? Mit anderen Worten: Fielen die Fernsehskripte gegenüber den literarischen Vorlagen nur ab, oder gingen sie teilweise sogar über diese durch die Erschließung neuer inhaltlicher wie ästhetischer Dimensionen hinaus? W: Die beiden Filme, die Sie ansprechen, sind wesentlich simpler als die literarischen Vorlagen. «Eskalationen» war meine erste Fernseharbeit, und der Auftrag war schon gleich begrenzt. Der Regisseur und ich waren uns darüber einig, daß im Film eine solch komplizierte subjektivistische Struktur wie im Roman nicht realisierbar sei, vor allen Dingen auch nicht in einem Fernsehfilm mit einem Massenpublikum. Und wir haben eigentlich darauf gesetzt, daß die Story des Romans im Film durch die Kraft der sichtbaren Situation, durch die Darsteller und durch die lakonische Erzählweise eine andere Legitimität entfalten könnte. Ähnlich war es bei der «Schattengrenze». Ich habe trotzdem versucht, am Anfang etwas von dieser komplizierten Romanstruktur mit in den Film hineinzunehmen und einen langen Unsicherheitszustand zu erzeugen, in dem zunächst nur suggestive Bilder aus der Geschichte dieses Mannes erscheinen, die sich erst allmählich zu einer chronologischen Ordnung verdichten. Man sollte erst langsam in die Geschichte hineinkommen. Zuerst sollte nur eine Beunruhigung, eine emotionale Beziehung hergestellt werden. Und das ist bei der Realisierung des Films leider unter den Tisch gefallen, weil das das abgedrehte Material, das mir dann gezeigt wurde, einfach nicht hergab. Es war mißglückt. Und der Film, den wir dann auf dem Schneidetisch zusammengeschnitten haben, war der letzte Kompromiß, auf den wir uns noch einigen konnten. Wir fanden, daß es so immerhin noch ein in sich geschlossener Film sei, der eine Story erzählt, die eine gewisse Bedeutung hat. Es gab auch noch einige suggestive Bilder, und so hatte der Film im Ganzen eine eigene Legitimität. Aber vom Roman war er ganz weit entfernt. Allerdings würde ich heute auch einen Roman nicht mehr so schreiben. Der Roman hat auch etwas Willkürliches und Künstliches in seiner Struktur. D: Es war also eher ein Prozeß der Vereinfachung unter künstlerischen Einbußen, den Sie hinnehmen mußten? W: Sicherlich, ich hatte ja gehofft, daß durch die Wucht der Bilder und des Geschehens eine neue Authentizität entstehen würde. Zum Teil ist das meiner Meinung nach auch gelungen - die Bahnfahrt zu Beginn oder das Bild der Autofriedhöfe beispielsweise. Ja, es gibt Situationen, wo der Film eine Glaubhaftigkeit hat. Aber er ist eben doch wesentlich simpler als der Roman. D: Warum haben Sie nicht nur den stofflichen Kern Ihres Romans genommen und damit völlig neue Möglichkeiten ausprobiert? Formvariationen wären doch sicherlich möglich gewesen.
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W: Der Stoff ist ja auch ein wenig verändert worden. In «Schattengrenze» beispielsweise endet der Mann in einer Wahnvorstellung, und ich habe zunächst versucht, das zu filmen. Aber den Blick eines Menschen zu filmen, der eine Wahnwelt sieht, die gleichzeitig Realität ist, ist wahnsinnig kompliziert, und das hat mich wieder von meiner Idee abgebracht. Ich wußte, daß es unter den gegebenen Produktionsbedingungen nicht gelingen würde. Es gibt auch jetzt noch im Film eine Traumsequenz, die nicht gelungen ist. Das ist die Angstvorstellung, wie er von dem Auto verfolgt wird. Ich finde, diese Sequenz hat etwas merkwürdig Gestelltes und Kompaktes und nicht die schwebende Authentizität von Traumwahrnehmungen. Text und literarische Adaption: Ein Innovationsprozeß D: Unter Ihren Arbeiten gibt es auch zwei Erzählungen oder Geschichten, die Sie in einem Fernsehspiel sozusagen neu geschrieben haben: «Doppelbelichtetes Seestück» und «Gedicht von der Freiheit». Gegenüber der literarischen Vorlage weist dieses Fernsehspiel völlig neue Strukturierungen auf, und neue Dimensionen sind zustande gekommen. Dem Leser der beiden Geschichten fällt unmittelbar auf, daß hier die Dinge sehr viel stärker aus der Perspektive der Hauptfigur dargestellt werden. Die Frau stellt viel entschiedener eine Reflexperson dar. Auf der anderen Seite ist es aber so, daß bei der Frau auch neue Aspekte hinzugekommen sind. In den Geschichten wird sie aus der Perspektive des Autors sehr viel kritischer dargestellt. Die Kamera im Film ist objektiver, sie modelliert das Bild der Frau positiver. W: Welche Personen oder Charaktere man schließlich im Film zu sehen bekommt, hängt schon von der Besetzung der Rollen ab. Die Frau, die ich im «Gedicht von der Freiheit» dargestellt habe, wirkt bizarrer als die Isa des Films, und sie muß auch bizarrer vorgestellt werden. Isa ist zwar in gewisser Weise auch eine verrückt und neurotisch handelnde Person, aber sie ist doch wiederum auch eine sehr kompetente, eine sehr interessante und liebenswerte Person. Die Frau in der Geschichte ist auch in ihrem Verhalten deutlich wahnhafter. D: Aber im Film wirkt sie auch sehr viel kritischer und negativer. W: Sie wird sehr viel kritischer aus der Perspektive des Mannes gesehen, der etwas zu verdrängen hat. D: Auch als äußere Erscheinung wird sie anders dargestellt. Der Autor hat ja auch seine Perspektive, er ist sozusagen die Kamera. W: Im Film werden die Kostüme vom Kostümbildner ausgesucht. Gerade in dieser Hinsicht ist es mir bei Fernsehproduktionen schon oft passiert, daß die Dinge verwischt werden. In «Phantasten» beispielsweise hat die Schwester ein deutlich niedrigeres soziales Niveau als Frau Sollier, aber im Film ist sie mindestens genauso ele-
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gant gekleidet, und selbst ihre Wohnung steht der der Solliers um nichts nach. Auch bei den «Glücksuchern» ist so eine gewisse Glättung in die Sache hineingekommen. D: Für mich ist aber die zusätzliche Dimensionierung das eigentlich Interessante. W: Es stimmt schon, ich habe den Stoff der Erzählungen noch einmal ganz neu und anders interpretiert. Im Buchtext spielt sich ja alles zwischen der Hauptfigur, seiner Ehefrau, der anderen Frau und der Frau A. im Hintergrund ab. Im Film ist ein Nebeneinander von Paarbeziehungen entstanden, und das schafft ganz neue Dimensionen: Odenthal und Isa, Isa und ihr Mann, Odenthal und seine Frau, das Freundespaar Monika und Georg - alle diese Paare spiegeln sich gegenseitig in ihrem Verhalten mit. Wie wird man mit Krisen fertig? Verdrängt man sie, geht man darüber hinweg, oder trifft man Vereinbarungen, stellt man das Formale in den Vordergrund, oder sucht man eine neue Spontaneität, will man das Alte halten oder etwas verändern - um solche Fragen drehen sich doch die Personen in ihren wechselnden Paarbeziehungen. Text und Glmische Adaption: Wechselwirkungen im Rezeptionsprozeß D: Von der Rezeptionsseite her gesehen ist es sehr interessant, daß sich die beiden Geschichten wie Kommentare oder zusätzliche Erläuterungen zu dem Fernsehspiel lesen. Damit wird die tatsächliche Entstehungschronologie ja gänzlich auf den Kopf gestellt. W: Es kommt darauf an, was man zuerst rezipiert. D: Entstehungsgeschichtlich gesehen, ändert das nichts. Durch den Film ist ja der Stoff sozusagen in der Totalen präsentiert worden, man hat das volle Panorama bekommen, und wenn man jetzt die Geschichten dazu liest, hat man die zusätzliche Möglichkeit der perspektivischen Beurteilung. In «Ein doppelbelichtetes Seestück» ist ja die Ehefrau als Person sehr viel greifbarer da als in dem Fernsehspiel, in dem sie von vornherein ganz deutlich an der Peripherie ist. Es kommt also durch die verschiedenen medialen Formen eine ganz interessante wechselseitige Erhellung zustande. W: Es ist auch für einen Autor reizvoll, einen Stoff immer noch einmal anders zu bewegen und das von seinen wechselnden Erfahrungssituationen her. D: Für mich ist es eine durchaus positive Möglichkeit, von einem Fernsehspiel aus zusätzliche Dimensionen für die Literatur zu erschließen. Man liest nun die beiden Geschichten mit einer deutlich geschärften Wahrnehmung. W: Obwohl die Geschichten den Film nicht brauchen.
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D: Man braucht den Film nicht, aber die Kenntnis des Films erweitert den Kontext der Geschichten. Darin sehe ich eine fruchtbare Wechselwirkung zwischen traditioneller Buchliteratur und Fernsehspielen. W: Das könnte aber auch im Grunde genommen zwischen zwei Büchern stattfinden. Nehmen Sie zum Beispiel den Roman «Die Schönheit des Schimpansen»: Würde ich dieselbe Geschichte aus der Perspektive der Frau noch einmal erzählen, dann würde auch jene Metastruktur entstehen, die Sie zwischen Film und Erzählung sehen. Das hängt letztlich nicht von einer medialen Vielfalt ab, sondern davon, daß man einen Stoff überhaupt weiterbewegt und mit einem neuen Ansatz darstellt. D: Wobei aber zu bedenken ist, daß bestimmte Medien auch bestimmte formale Forderungen stellen. Es gibt einen bestimmten Rahmen von Bedingungen, an den man sich zu halten hat. Für den Fernsehfilm kommt beispielsweise durch die Kamera eine größere Objektivität in die Darstellung der einzelnen Personen hinein. W: Ja, das stimmt. Wenn auch mit einiger Distanz, so hat man die Personen im Film doch immer vor Augen. Man sieht sie in ihrem Milieu und so weiter, und man ist an ihnen nie so nahe dran oder in ihnen drin wie in der Prosa. D: Ich sehe auf jeden Fall in der von mir beschriebenen Wechselwirkung zwischen den Medien eine Möglichkeit, die weiterentwickelt werden könnte und sollte. Es gibt ja Beispiele wie Kipphardts «März» - erst Fernsehspiel, dann Roman, schließlich Theaterstück -, bei denen in jeder Werkform neue Aspekte hinzugetreten sind. Es hat eine zusätzliche Dimensionierung stattgefunden, und man hat sogar etwas wie ein Gespräch der Gattungen untereinander. Auf diese Art und Weise wird die Literatur für den Rezipienten in die anderen Medienbereiche integriert. W: Grundsätzlich glaube ich, daß es bei jedem Schriftsteller, der ein Thema hat, überhaupt eine Metastruktur zu entdecken gibt. Hat er ein Thema, dann sieht man nämlich, daß er durch alle Bücher, durch alle Filme und Hörspiele und alle Formen und Medien hindurch eine Geschichte schreibt. Bei Kipphardt müßte man die «März»-Geschichte auch mit anderen Stücken in Verbindung bringen. Das ergäbe eine noch größere und tiefer blickende Perspektive. Produktionsbedingungen und ästhetische Qualität D: Ich habe eben von den Bedingungen gesprochen, die jedes Medium an den Schriftsteller heranträgt. Beim Medium Fernsehen erscheint der Rahmen der Möglichkeiten durch die visuelle Konkretion schmaler als beispielsweise beim Buch, und das könnte negative Folgen für die schriftstellerische Arbeit haben. Sie haben selbst einmal davon gesprochen, daß durch die Gewöhnung, für dieses Medium zu arbeiten, gewisse Grenzen und Beschränkungen vom Autor verinnerlicht werden. Es bestehe die Gefahr, daß die Imaginationsfähigkeit des Autors verarme und daß sich
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unterschwellig eine Routine einstelle, die zu einer Dimensionierung, zu einer Eintrocknung führe.
geringeren
ästhetischen
W: Es ist vielleicht ein bißchen ungerecht, wenn man das Fernsehen mit dem Theater vergleicht. Im Theater kann man ja auch nicht alles machen. Der Raum ist klein und begrenzt, und man kann da beispielsweise nicht ein Flugzeug landen lassen. Das Theater hat noch viel engere Grenzen als das Fernsehen, die Zwänge des Mediums sind hier viel zupackender. Solche Zwänge können einen Autor aber auch produktiv machen. Nein, beim Fernsehen ist es mehr der Produktionsprozeß selber, der einengt, denn da bekommt man es von vornherein mit allen möglichen administrativen Dingen zu tun. Wenn ich jetzt einen neuen Film im Fernsehen machen will, den ich aber erst Ende nächsten Jahres zu schreiben beginne, dann muß ich schon in nächster Zukunft einen Vertrag mit der Sendeanstalt machen. So lange ist das im voraus geplant, aber ich habe ja auch andere Dinge im Kopf. Ich will jetzt erst einen Roman schreiben, und ob es mich danach tatsächlich reizt, einen oder gerade diesen Film zu schreiben, weiß ich selbstverständlich noch gar nicht so recht. Aber für das Fernsehen muß ich meinen Vorschlag jetzt machen und muß mich terminlich binden. Weil ich noch nicht allzu tief in der Sache drinstehe, mache ich jetzt nur ein Exposd, das von einer notwendig noch oberflächlichen Sicht des Stoffes ausgeht. Dieses Expose dient dem Redakteur zur Stoffbewilligung. Er muß einen Antrag stellen, daß dieser Film gedreht werden soll. Das Expose muß also Elemente enthalten, die deutlich machen, daß dieser Stoff für dieses große Medium von irgendeiner Bedeutung ist. Und damit legt man sich selbst möglicherweise schon eine Falle. Denn bei allen Auseinandersetzungen, die sich später notwendigerweise mit dem Redakteur und dem Regisseur ergeben, weiß man, daß über das Expose eine mehr oder minder bindende Ausgangssituation wiederzitierbar ist: Das war das Thema, das waren die Akzente, und so und so soll der Film werden. Daran ist man immer ein bißchen gebunden, obwohl man sich auch davon entfernen kann. Wie sehr man gebunden ist, hängt davon ab, ob der Redakteur flexibel ist oder nicht. Aber ganz kommt man von dem Expose nicht wieder los. D: Implizit klingt da noch eine archaische Vorstellung von der Freiheit des Autors am Schreibtisch an. Diese Eingebundenheit des Autors in gewisse Produktionsschemata ist im Grunde doch das Ergebnis einer arbeitsteiligen Welt, die sich in allen Produktionsbereichen auswirkt. Warum soll die schriftstellerische Arbeit als einzige davon ausgenommen sein? Es gibt doch auch in anderen künstlerischen Bereichen Auftragsarbeiten - bei Malern, Bildhauern und Komponisten. W: Ich wehre mich auch nicht grundsätzlich gegen diese Produktionsform. Wenn ich das unzumutbar fände, würde ich keine Fernsehfilme schreiben. Ich bin allerdings der Meinung, daß die Phantasie des Autors bis zu einem gewissen Grade von dem Blick und von der Kontrolle der Gesellschaft befreit werden muß. Sonst kann er nichts
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wirklich Tiefgreifendes, Eigenartiges und Originelles schreiben. Es wäre gut, wenn der Autor vom Zwang zu vorzeitigen Legitimationen befreit wäre, von Fragen, warum etwas wichtig ist und wen man ansprechen will, um das Projekt durchzusetzen. Der Autor kommt viel zu früh unter Legitimationszwang, und er muß sich viel zu früh Strategien zurechtlegen. Beim Schreiben darf er ja keine Angst haben vor Abwegigkeiten, auch vor solchen moralischer Art, und er muß sich auf seine Phantasie verlassen dürfen. Aber natürlich, das Fernsehen ist ein kollektives Medium, ein ganz enger Kanal, vor den diverse Filter gesetzt sind. Bücher jeder Art können nebeneinander geschrieben werden. Sie bleiben dann vielleicht im Regal liegen und finden keine Käufer, aber sie können zunächst einmal veröffentlicht werden. Aber die wenigen Programmplätze im Fernsehen müssen für Arbeiten reserviert bleiben, von denen die Verantwortlichen sagen können: "Ja, das lohnt sich, das kann man machen". Im Fernsehen kann sich nicht jeder Individualidiotismus austoben. Hier bestimmen Legitimationszwänge darüber, was durchkommt und was unter den Tisch fällt. D: Die Gefahr für den Autor liegt also in dieser Einbindung in bestimmte äußerliche Stationen des Produktionsweges. Er muß bestimmte Normen und Notwendigkeiten berücksichtigen, um Kontrollstationen passieren zu können. Dadurch besteht die Gefahr, daß sich der unmittelbare Anlaß verflüchtigt, der beim Autor das Schreiben auslöst. Im Extremfall wird das Ganze nur noch zu einer Fleißarbeit, die man abzuliefern hat. W: Im schlimmsten Falle ist es so. Aber die Realität sieht immer etwas anders aus. Man kennt ja den Redakteur, mit dem man zusammenarbeitet, und man hat Möglichkeiten, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Da spielt die eigene Persönlichkeit, die eigene Überzeugungskraft eine nicht unwesentliche Rolle. Häufig gibt es auch einfach die Überzeugungskraft des bereits Gelungenen. Ich kann beispielsweise eine Szene schreiben, die völlig aus der ursprünglichen Konzeption ausbricht, die aber so gut ist, daß man sie einfach machen muß. Man sieht einfach, daß das besser als das anfängliche Konzept ist, das man vereinbart hatte. Beurteilungsinstanzen bei Fernseharbeiten D: 'Gelungen' als Maßstab kann sich aber doch nicht allein auf die Meinung des verantwortlichen Redakteurs beziehen, sondern muß auch die konkreten Öffentlichkeitsreaktionen, zum Beispiel die Einschaltquoten berücksichtigen. W: Zunächst einmal spreche ich nur über den Produktionsprozeß. Es gibt keine normative Ästhetik, an der mit Verläßlichkeit gemessen werden könnte, was taugt und was nicht taugt. Das 'Gelungen' oder 'Mißlungen' entsteht aus dem Gespräch über eine Sache. Bei Fernsehskripten hebt das mit unmittelbaren Leseeindrücken an. Selbstverständlich kann es sein, daß diese Leseeindrücke bereits dadurch präformiert sind, daß ein Redakteur bereits andere Produktionen dieses Autors gesehen hat und
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mit der öffentlichen Rezeption vertraut ist. Ich muß mich also beispielsweise eventuell mit einem Redakteur auseinandersetzen, der bereits «Die Freiheiten der Langeweile» gesehen hat und der Ihr Urteil teilt. Dann kommt es darauf an, daß ich mit ihm gemeinsam in meinen neuen Text gehe und meine Einstellungen schildere. Und entweder bleibt er dann bei meiner Vorgabe, oder er versucht, modifizierte Vorstellungen durchzudrücken. Sehen Sie, gesellschaftliche Kontrolle findet immer statt. Hier ist sie institutionell durch Programmdirektoren, verantwortliche Redakteure und Regisseure gegeben, die ein Entscheidungs- und ein Mitspracherecht haben. Gesellschaftliche Kontrolle findet auch durch öffentliche Kritik statt. Fragen, die an mich als Autor gestellt werden, sind auch lauter Fragen der gesellschaftlichen Kontrolle: "Weshalb haben Sie das gemacht, und was wollten Sie damit sagen?" - alles gesellschaftliche Kontrolle. Als Autor wird man sozusagen permanent sozial verantwortlich gemacht. D: Aber als Maßstab für Erfolg oder Mißerfolg gibt es doch auch die Zuschauerreaktionen. Davon haben Sie ja auch in anderen Zusammenhängen früher schon gesprochen. W: Das ist ein Maßstab. Was er aussagt, ist eine andere Frage. Zumindest im literarischen Sektor sagt er gar nichts mehr aus. Verkaufsschlager sind jedenfalls nicht die besten Bücher. Marktwert und künstlerischer oder geistiger Wert klaffen oft meilenweit auseinander. Ein Verkaufserfolg hängt auch von der Reklame, vom Namen und so weiter ab. Die Zuschauer D: Welche Momente haben denn die Zuschauer in bezug auf Ihre Fernsehspiele geltend gemacht? Was fand man gut und was schlecht, und an welchen Maßstäben wurden diese Urteile gefällt? W: Viele Menschen werden daran gehindert, ein intensives und abwechslungsreiches Leben zu führen. Man spricht wohl heute im Jargon von fehlenden Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Und diese Menschen werden in einem Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit und Spontaneität zerrieben. Es ist ein Glücksanspruch da, der die Menschen auch illusionär werden läßt und sie sehr sensibel macht. Die Menschen hängen Phantasien nach und Illusionen, auch die sogenannten Realisten, die ich in den «Phantasten» eben 'Phantasten' genannt habe. Das sind die Probleme, die ich sehe, und die ich darzustellen versuche. Und genau so klingt es auch aus den Zuschriften der Zuschauer. D: Gibt es auch Leute, die Sie anrufen, wenn ein Fernsehspiel gerade gesendet worden ist? W: Ja, die gibt es auch.
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D: Identifizieren sich diese Leute dann zumeist mit Figuren der Fernsehspiele? Sie haben einmal im Zusammenhang mit den «Glücksuchern» an einer Stelle geschrieben, daß eine ältere Frau zu Ihnen gekommen sei und gesagt habe, sie sei die Isa jetzt 30 Jahre später. W: Ich habe viele positive Reaktionen bekommen, und es gab eine Phase in meinem Leben, wo mir diese Reaktionen sehr geholfen haben. Aber ich habe auch ganz aggressive Reaktionen bekommen, wo von bürgerlichem Quatsch und so weiter die Rede war. Es gebe wichtigere Dinge als die in den «Glücksuchern» verhandelten, und überhaupt interessiere diese individualistische Problematik und Perspektive nicht. D: Das bezog sich sicherlich auf die Idiosynkrasien dieses Schriftstellers. Viele - ich gehöre nicht dazu - haben sicherlich diese Repräsentanzkraft vermißt, in der sich eine große Zahl unmittelbar wiedererkennen kann. Vordergründig ging es ja 'nur' um einen Intellektuellen in einer gewissen Situation. W: Wenn Sie sich die Reaktionen darauf genauer anschauen, sehen Sie, daß jeder in seinem Lebenshorizont geantwortet hat. Jeder hat von seinen Abwehrmechanismen, Wünschen und Vorstellungen aus agiert. Es gibt also eigentlich keine Objektivität der künstlerischen Rezeption. Man kann wohl zwischen oberflächlichen und sehr intensiven Antworten unterscheiden - man spürt beispielsweise die Betroffenheit und erkennt, daß sich jemand bis in die Details mit der Sache beschäftigt hat. Es gibt also wohl deutliche Unterschiede an Glaubwürdigkeit und Zuständigkeit, aber es gibt keine Objektivität oder Wahrheit oder sonst etwas, das einfür allemal und für alle verbindlich wäre. Fernsehkritik D: Sie haben sich in anderen Zusammenhängen völlig zu Recht schon über das niedrige Argumentations- und Reflexionsniveau der Fernsehkritik im deutschen Feuilleton beklagt. Hat sich in Ihrer Beobachtung auf diesem Gebiet in den letzten Jahren etwas verändert? Es gibt ja jetzt einige Feuilletons, die regelmäßig am nächsten Tag über Fernsehsendungen berichten. Ich denke da zum Beispiel an die «FAZ». Auch «Der Spiegel» macht eine sehr intensive Medienberichterstattung, auch wenn sie sich weniger auf bestimmte Programmbeispiele bezieht und überwiegend im Kontext von Titelgeschichten oder anderen aktuellen Themen steht. W: Mag sein, daß sich da einiges verändert hat. Aber ich habe mir aus Gründen der seelischen Hygiene eine große Abstinenz verordnet. Ich lese kaum solche Kritiken, und ich lese gar nicht, was so auf dem Literaturmarkt geschieht. Das, was ich machen will, sehe ich vor meinen eigenen Augen, und da will ich mir nicht hineinreden lassen. Von einem Zeitungskritiker habe ich auch noch nie irgendetwas lernen können. In
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Gesprächen ist das anders, aber die Kenntnis der Kritik im Feuilleton bringt mir für meine Arbeit überhaupt nichts. D: Andererseits aber sind Sie selbst Literaturwissenschaftler und haben lange als Literaturtheoretiker, Literaturkritiker und Programmorganisator von Verlagen gearbeitet. In diesem Sektor kennen Sie sich bestens aus. Und klingt nun im Kontext dieser früheren Tätigkeiten Ihre Defunktionalisierung des Kritikers nicht ein wenig überzogen? Als maßgeblicher Kopf des sogenannten 'Kölner Realismus' haben Sie ja auch viele Leute in das literarischen Leben eingeführt, und die Viten dieser Leute bezeugen, daß Sie als Theoretiker und Kritiker mit Gewinn und Erfolg gearbeitet haben. W: Schon richtig, aber ich habe ja betont, daß ein Gespräch zum Beispiel mit einem Kritiker für einen Schriftsteller durchaus von Gewinn sein kann. Mit den Schriftstellern, von denen Sie sprechen, habe ich anhand von Texten über Tage hin sehr intensiv gesprochen. Wir haben uns damals den Text Satz für Satz angeschaut, und das halte ich durchaus für fruchtbar. Auch ich habe Menschen, mit denen ich mich unterhalte, und ich schätze das Urteil dieser Menschen. Meine Kritik richtet sich gegen die Tageskritik, die sich zum Teil in bloßer Beweisrhetorik erschöpft. Da wird zwar so getan, als analysiere man Texte, aber schon die Art und Weise, wie zitiert wird, zeigt, daß es nur um ein Herausstellen von Trophäen und Beweisstücken geht. D: Sie haben da sicherlich recht. Im Augenblick verfolge ich wieder einmal die Feuilletons sehr intensiv und wundere mich beispielsweise darüber, was in der «Zeit» den meisten Raum bekommt. Im Moment stehen Theater und Film im Vordergrund, und Bücher sind in den Hintergrund getreten. Das Fernsehen hat nur die Legitimation der wöchentlichen Kolumne von Walter Jens, und damit ist es abgehakt. Jens selbst verhält sich äußerst selektiv und tippt die Sachen wirklich nur an. Es scheint, ihm gehe es vor allem darum, kleine brillante rhetorische Kunststückchen dahinzuzaubern. Ihm scheint es weniger um den Aufbau einer Fernsehkritik zu gehen. Kritik der Kritik W: Über Kritik und Kritiker müßte man lange reden. Das wäre das Thema eines eigenen Gespräches. Die Kritik soll ja im Auftrag des Publikums und des Marktes überflüssige Komplexität beseitigen. Und daß es die gibt, ist ja schon klar, wenn man sich von Saison zu Saison die Wanderdünen der neuen Bücher ansieht. Wer soll sich da zurechtfinden? Der Leser, der Markt braucht dazu den Kritiker, der 'ja' und 'nein' sagt und das auch noch mit ein bißchen Argumentation absichert. Wie dankbar sind alle, wenn ein paar Vorurteile entstehen, die sich einer Instanz mit Autorität verdanken. Aber dem Kritiker ergeht es ja nicht anders. Eine normative Ästhetik gibt es nicht, aber er braucht dafür Ersatz: Meinungen, Geschmack, Vorlieben, Vorurteile,
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Hörensagen. Anders kann er gar nicht zurechtkommen. Er schwimmt im Strom, dann mal wieder ein paar Stöße gegen den Strom, aber es ist schwer, festen Grund unter die Füße zu bekommen, bei dieser - wie sagt man - pluralistischen Situation, dieser ungeheueren Produktion, diesem verwirrenden Nebeneinander des Verschiedenen und Ungleichzeitigen. Im Grunde muß sich der Kritiker improvisierend verhalten, mit Rückendeckung bei ein paar Vorurteilen und Vorlieben, sonst kommt er hinter der Buchproduktion nicht hinterher. Und wenn er sich auf seine Liebhabereien verläßt, dann ist das eben zufällig. Mann kann natürlich ein paar Kriterien für eine kompetente Kritik angeben. Sie muß sich zunächst einmal am Werk bewähren, muß es nachkonstruieren, muß deutlich machen, wie und warum das Werk sich selbst limitiert und so seine besondere Gestalt gefunden hat. Dann muß es im Gesamtzusammenhang des schriftstellerischen Werkes gesehen werden und ebenso vor dem Kontext der literarischen Situation. In einer Diskussion über Kritik habe ich bewußt provozierend gesagt, eine kompetente Kritik müsse im Grunde dreimal so lang sein wie das analysierte Werk selber. Eine solche Kritik müßte nämlich die ganze Komplexität eines literarischen Werkes ausleuchten, müßte alle Ebenen erfassen und vorstellen, auf denen das Werk realisiert ist. Jede andere Form von Kritik beruht auf einem Abstraktionsprozeß, der zur puren Meinungsbilderei führt. Diese enorme Abstraktion ist für mich sehr fragwürdig, denn hier maßt man sich an, auf fünf Seiten etwas über 500 Seiten zu sagen, in drei Tagen etwas über die Arbeit eines oder mehrerer Jahre zu schreiben. Diese Kritiken sind ja auch gar nicht für die Autoren geschrieben, sondern für die Kritiker selbst und für das Lesepublikum. D: Aber das sind ja auch Bedingungen, die etwas mit der Literaturform 'Kritik' zu tun haben. Ihre ideale Kritik ist ja de facto undenkbar. W: Das kann ich so nicht unterschreiben. Einige Autoren haben ja das Glück, daß immer wieder über sie geschrieben wird. Es entstehen unter Umständen sogar ganze Bibliotheken an Sekundärliteratur, die zwar auch viel Überflüssiges enthalten, letzten Endes aber doch als Ergebnis einer kollektiven Arbeit ein komplexes, vielseitiges und differenziertes Bild eines Autors entwickeln. Und darauf muß man setzen, auf diese langfristige Verarbeitung, in der das vorschnelle Tagesurteil überschritten wird. Der Fernsehautor als Regisseur D: Sie haben vorhin von den Schwierigkeiten gesprochen, die mit einer literarischen Produktion für das Fernsehen verbunden sind, und Sie haben in diesem Zusammenhang auf die verschiedenen Instanzen verwiesen, die man dabei durchlaufen muß. Tankred Dorst und Rainer Erler stehen für die Möglichkeit, daß sich Autoren selbst direkt produzierend in diesem Medium durchsetzen und selber ihre Filme umsetzen. Ist das eine Möglichkeit, die Sie in der Zukunft auch für sich selber sehen, oder haben Sie Erfahrungen gemacht, die Sie eher davon abhalten würden?
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W: Das Z D F hat mir so etwas schon einmal angeboten. Bei mir ist das immer eine Frage der Vorrangigkeit gewesen, und ich sehe mich immer noch mehr als Autor von Romanen und Erzählungen. Die will ich auch weiterhin schreiben. Es ist also auch eine Frage des Zeitbudgets. Es würde mich schon reizen, selbst einmal einen Film zu machen. Aber es würde mich wahrscheinlich ein halbes Jahr kosten, mich richtig einzuarbeiten und die Regie bis zum Ende zu führen. Das wäre ein halbes Jahr, in dem ich nichts anderes schreiben könnte. Es ist eine sehr schwere Entscheidung, ob man so viel Gewicht auf diese Seite der Produktion legen soll. Eigentlich müßte man mehrmals Regie führen, um auch Erfahrungen zu sammeln. Man kann nicht davon ausgehen, daß man gleich etwas Tolles schafft. Man müßte sich festlegen. Ich bin mir noch nicht im klaren, ob ich das tun soll.
also längerfristig
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Das Erbe der Literatur einbringen: Zu Dieter Wellershoffs Fernsehspiel «Glücksucher» und seinen literarischen Spiegelungstexten
I. Als Anfang 1981 die filmische Adaption von Dieter Wellershoffs Erzählung «Der schöne Mann» 1 , der in vieler Hinsicht problematische Fernsehfilm des Regisseurs Peter Keglevic unter dem Titel «Ein ungleiches Paar» ausgestrahlt wurde, erschien in einer norddeutschen Provinzzeitung eine Besprechung mit dem Tenor: Ein Autor, der es offenbar nicht geschafft habe, in die Oberliga der deutschen Gegenwartsautoren aufzurücken, ruiniere nun offenbar im Fernsehen sein literarisches Ansehen endgültig2. Das ist eine Feststellung, die in vielerlei Hinsicht symptomatisch ist. Sie ist Symptom für das von Wellershoff selbst verschiedentlich beklagte niedrige Niveau der Fernsehkritik, die, im traditionellen Feuilleton ohnehin ein Schattendasein fristend, in wenigen Zeilen Fernsehproduktionen im Schnellschußverfahren erledigt und den Autor verantwortlich macht für ein filmisches Ergebnis, an dem er nur noch mittelbar beteiligt ist und gegen dessen Vergröberung im Produktionsprozeß er sich vergeblich gewehrt hat, für dessen Mißlingen er dennoch verantwortlich gemacht wird 3 . Der niedrige Informationsstand dieser Art von Fernsehkritik korreliert auf befremdliche Weise mit dem Überlegenheitsdünkel einer kunstrichterlichen Attitüde, der der Kritiker Dieter E. Zimmer in seinem Essay «Notizen zur Psychologie des Verreißens und Verrissenwerdens» 4 bescheinigt: "Mit den lockersten Gesten 'vernichtet' die Fernsehkritik;" (S. 122) Symptomatisch ist dieses benannte Beispiel auch für eine im Literatur- und Kulturbetrieb noch weithin verinnerlichte Festschreibung von kulturellen Wertzuweisungen, die das Massenmedium Fernsehen nur weit unterhalb der Literatur rangieren läßt und einem Schriftsteller, der es unternommen hat, seine Phantasie und Arbeitskraft in dieses Medium einzubringen, einen von finanziellen Erwägungen diktierten Ausverkauf seiner literarischen Ambitionen unterstellt. Betrachtet man die zahlreichen Arbeiten, die Wellershoff in den letzten anderthalb Jahrzehnten für dieses Medium vorgelegt hat, so bildet sich nicht nur ein komplizierter Erfahrungsprozeß eines Schriftstellers im Umgang mit diesem Medium ab, sondern auch ein medienliterari1
ο
Enthalten in dem Erzählungsband Wellershoffs «Die Körper und die Träume», Köln 1986, S. 68-119. Ich beziehe mich hier auf eine Information von Wellershoff. Das ließe sich beispielsweise durchaus an Wellershoffs Erfahrungen bei der Verfilmung seiner Erzählung im einzelnen belegen. Ahnlich negativ waren auch seine Erfahrungen bei der Verfilmung seines Romans «Der Sieger nimmt alles» (Köln 1983), der unter dem Titel «Pattbergs Erbe», mit Marianne Lüdcke als Regisseurin, im Mai 1987 ausgestrahlt wurde. Die gegen den Willen von Wellershoff durchgesetzten Veränderungen waren hier so einschneidend, daß er seinen Namen als Autor zurückzog.
4
In: «Literatur und Kritik», hg.v. Walter Jens, Stuttgart 1980, S. 120-132.
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sches Werk, in dem sicherlich auch Niederlagen, aber ebenso außerordentliche Höhepunkte zu verzeichnen sind, so daß das Urteil eines andern Kritikers viel mehr Berechtigung besitzt: "Dieter Wellershoff hat die Herausforderungen des Mediums produktiv gemacht und ist gerade deshalb zu einem der wichtigsten Fernsehspielautoren der Gegenwart geworden." 5 Die Vorurteile, die der literarischen Leistung - auch im Medium Fernsehen - Wellershoffs dennoch entgegenstehen, sind sicherlich mittelbar auch verknüpft mit dem komplizierten Status, den er im Literaturbetrieb der Gegenwart einnimmt. Auch wenn Wellershoff von Anfang an geschrieben hat und die schriftstellerische Tätigkeit ihm immer als die eigentlich erwünschte erschien®, hat er seinen literarischen Weg gleichsam auf der andern Seite des Literaturbetriebs begonnen und durch eindrucksvolle Leistungen gefestigt: als Literarhistoriker, als Literaturtheoretiker, als Essayist, als Verlagslektor und Lotse einer jungen Literatur, die er im Rahmen des Kiepenheuer & Witsch Verlages auf die Linie eines neuen Realismus zu lenken versuchte. Es spiegelt durchaus einen stereotypen Konsens, wenn ein Literaturkritiker 7 diesen literarischen Status von Wellershoff so rekapituliert: "Dieter Wellershoff sollte nicht mehr schreiben. Darauf hat man sich früh und ohne Diskussion geeinigt. Er sei zu klug, zu analytisch, zu rational, um Literatur schreiben zu können. [...] man nehme die Arbeiten Wellershoffs zwar zur Kenntnis, aber die eigene produktive Phantasie werde nicht in Gang gesetzt. Diese Literatur, so lauten weitere Meinungen, ist zu gewalttätig, zu aggressiv, zu neurotisch und zu sehr mit dem Leben beschäftigt, zu wenig Kunst, nicht humorvoll, nicht strukturell verständlich, in viele seiner Romanpersonen könne man sich überhaupt nicht einfühlen, das Ganze sei eine konstruierte Literatur und oft überzogen mit kunstgewerblicher Politur." (S. 146/7) Daß Wellershoff sehr frühzeitig die Werke Gottfried Benns in einer Ausgabe ediert hat, die bis in die unmittelbare Gegenwart Bestand hat und erst seit kurzem durch eine neue im Erscheinen begriffene Ausgabe ersetzt zu werden beginnt, daß er den literarischen Standort Benns in einer monographischen Abhandlung «Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde» 8 auslotete, die nach wie vor in der Benn-Forschung ihren
® So Karl Prümm in seinem Aufsatz: «Protokolle beschädigten Lebens. Die Drehbücher Dieter Wellershoffs», in: «Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik» H. 36 (1979), S. 87-99, Zitat S. 99. β
7
Das dokumentiert seine autobiographische Bestandsaufnahme «Die Arbeit des Lebens» (Köln 1985) (wo er, jeweils von den Wohnungen und Häusern, in denen er verschiedene Lebensabschnitte verbracht hat, ausgehend, Querschnitte durch seine Lebensgeschichte legt) unter vielen Aspekten und mit einleuchtender Konsequenz. Auf dem Hintergrund einer von narzißtischer Larmoyanz bestimmten autobiographischen Trend-Literatur hebt sich dieses Buch Wellershoffs außerordentlich wohltuend ab. Christian Linder in seinem Wellershoff-Essay «Der Tag der Drachentötung. Über Dieter Wellershoff», in: Ch.L., «Die Träume der Wunschmaschine» (Reinbek 1981), S. 146-205.
ftKöln 1958. Ich beziehe mich auf die Ullstein-Taschenbuchausgabe von 1964.
99 Rang behauptet hat, daß er sich in einer Reihe von Essay-Bänden9 als ein mit vielen Literaturen vertrauter analytischer Kopf von eindrucksvoller intellektueller und darstellerischer Brillanz erwies, daß er in seinem jüngst erschienenen Buch « D e r Roman und die Erfahrbarkeit der W e l t » 1 0 eine von Cervantes und Sterne ausgehende und bis zu Beckett und Pynchon reichende Gesamtdarstellung der europäischen Romanentwicklung vorgelegt hat, die durch imponierende Kenntnis, Aufdeckung historischer Strukturen und gleichsam narrative Anschaulichkeit Vorstellungen einer vergleichenden Literaturwissenschaft nicht nur einlöst, sondern übertrifft 11 , alles das hat sicherlich mit dazu beigetragen, dieses Vorurteil über Wellershoff zu festigen, seine Domäne sei die zergliedernde analytische Begrifflichkeit und nicht die sinnliche Kraft der Poesie. Wellershoff ist sich dieser diffusen Autoren-Identität selbst bewußt: "Ich wollte schreiben, aber auch am Leben bleiben; langsam habe ich in den letzten zehn Jahren meine Existenz wieder umgebaut. Jetzt treffe ich manchmal Leute, die kennen mich als Herausgeber von Benns Werken, andere kennen mich als Lektor, andere als Literaturtheoretiker, die einen kennen mich als Hörspiel- und die anderen als Romanautor, als sei da eine sehr widersprüchliche und konfuse Identität entstanden. Aber ich meine, das sind isolierte Sedimente der Imagebildung, Stereotype, die für sich genommen weniger über mich sagen als über den Literaturbetrieb. 2 In der Tat wird diese literarische Identitätsbildung noch durch andere literarische Gattungserkundungen zusätzlich erschwert, durch ein Theaterstück, das Wellershoff geschrieben hat 13 , Fernseharbeiten 15 ,
durch Gedichte,
die
er veröffentlichte 14 , durch
zahlreiche
die kontinuierlich im letzten Jahrzehnt entstanden sind und rein
quantitativ neben den Romanen Wellershoffs den zweiten zentralen Hauptstrang seines schriftstellerischen Werks bilden. Auf diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß das Rezeptionsecho, das Wellershoffs Arbeit bisher im Literaturbetrieb gefunden hat, so dissonant geblieben ist, daß eine auf Ordnungsmuster gedrillte literarkritische Perzeption sich von der Vielfalt und sicherlich auch Heterogenität dieses Werks überfordert fühlt und mit allen Symg Ich erwähne als Beispiele: «Der Gleichgültige. Versuche über Hemingway, Camus, Benn und Beckett» (Köln 1963), «Literatur und Veränderung» (Köln 1969), «Literatur und Lustprinzip» (Köln 1973), «Das Verschwinden im Bild» (Köln 1980) und «Wahrnehmung und Phantasie» (Köln 1987). 1 0 Köln 1988. Ein Kritiker wie Werner Fuld erweist sich in seiner Besprechung «Ein Gespenst kehrt zurück. Dieter Wellershoffs Ansichten über den Roman» (in: « F A Z » Nr. 7 v. 9.1.1989, S. 22) nicht nur als "gänzlich antiquiert und provinziell", der Wellershoff vorhält: "[...] durch die enge Anlehnung an Lukäcs ist Wellershoff immerhin stilistisch ein einzigartiges Kunststück gelungen: nämlich noch langweiliger zu schreiben als Lukäcs selbst." Fuld ist auch von jeglicher Kenntnis Lukäcs' gänzlich unberührt. 12 In: «Zwischenbilanz - autobiographische Notizen», in: «Der Schriftsteller Dieter Wellershoff. Interpretationen und Analysen», hg.v. R. Hinton Thomas, Köln 1975, S. 161-167, Zitat S. 167. 13 «Annie Nabels Boxschau», Köln 1962. 11
14
Abgedruckt in dem Band «Doppelt belichtetes Seestück und andere Texte», Köln 1974, S. 223-280.
Die literarischen Vorlagen dieser Fernseharbeiten sind in zwei Bänden veröffentlicht worden: «Glücksucher. Vier Drehbücher und begleitende Texte» ( Köln 1979) und «Flüchtige Bekanntschaften. Drei Drehbücher und begleitende Texte» (Köln 1987).
100
ptomen der Desorientiertheit auf dieses Werk reagiert. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, daß ein Literaturbetrieb, der seine Betriebsamkeit nicht zuletzt durch zahlreiche Preisverleihungen und Auszeichnungen auf nachgerade inflationäre Weise zu dokumentieren bemüht ist, Wellershoff nahezu zwanzig Jahre überging, bevor ihm nach dem Kritikerpreis für Literatur von 1969 der Heinrich Böll-Preis der Stadt Köln 1988 verliehen wurde. Dabei hat Wellershoff ein erzählerisches Werk vorgelegt, das nicht nur eine interessante, ja originelle Facette im Entwicklungsspektrums des deutschsprachigen Romans der letzten Jahrzehnte darstellt, sondern zumindest auch mit zwei Arbeiten, dem Roman «Einladung an alle» 16 und der langen Novelle «Die Sirene» 17 , erzählerische Leistungen vorweist, die sowohl unter dem Aspekt eines innovativen Erzählens (in «Einladung an alle») als auch in der verwandelnden Weiterführung eines erzählerischen Erbes (von Thomas Manns «Tod in Venedig» in «Die Sirene») seinen Rang nachhaltig unterstreichen. Wellershoff war bereits Anfang vierzig, als seine beiden ersten Romane «Ein schöner Tag» 1 8 und «Die Schattengrenze» 19 erschienen. 1965 hatte er auf sich aufmerksam gemacht, als er als Lektor des Kiepenheuer & Witsch Verlages im engen Kontakt mit einer Gruppe von jungen Autoren, zu denen Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Günter Herburger, Günter Seuren, Günter Steffens zählten, die Konzeption einer phänomenologisch orientierten Literatur eines "Neuen Realismus" 20 entwikkelte. Er beschreibt diese Position, die sich deutlich von der einer fabulierenden Phantasieüberhöhung in den Romanen «Die Blechtrommel» oder «Hundejahre» von Günter Grass absetzt, aber auch von den metaphysischen Romanen eines Kafka oder Beckett, folgendermaßen: "An Stelle der universellen Modelle des Daseins, überhaupt aller Allgemeinvorstellungen über den Menschen und die Welt tritt der sinnlich konkrete Erfahrungsausschnitt, das gegenwärtige alltägliche Leben in einem begrenzten Bereich. Der Schriftsteller will nicht mehr durch Stilisierung, Abstraktion, Projektion seiner Erfahrungen in ein Figurenspiel eine abgeschlossene Geschichte, Allgemeingültigkeit und beispielhafte Bedeutung erreichen, sondern versucht möglichst realitätsnah zu schreiben, mit Aufmerksamkeit für die Störungen, Abweichungen, das Unauffällige, die Umwege, also den Widerstand der Realität gegen das vorschnelle Sinnbedürfnis. Weil die allgemeinen Vorstellungen und Begriffe nicht mehr regieren, dringt überall das Konkrete hervor, stellenweise kommt es zu einer Inflation der sinnlichen Einzelheiten. [...] Dargestellt wird eine Welt im Zustand der Unruhe [...]. Die phantastische, groteske, satirische Literatur hat die Gesellschaft kritisiert, indem sie ihr ein übersteigertes verzerrtes Bild gegenüberstellte, der neue Realismus kritisiert sie immanent durch genaues Hinsehen." 16
Köln 1972.
17
Köln 1980.
18
Köln 1966.
19
Köln 1969.
20
So der Titel eines kurzen Thesenpapiers, das Wellershoff 1965 in der Zeitschrift seines Verlages «Die Kiepe» (13/1 [1965], S. 1) veröffentlichte.
101 Und in einer «Prinzipien des Romanschreibens» überschriebenen Skizze von I96021 wird die grundlegend veränderte Position des Erzählers mit aller Deutlichkeit so gekennzeichnet: "Nichts erklären, nichts interpretieren. Reflexionen sind nur als Reflexionen der handelnden Personen zulässig, nicht als handlungstranszendente Ebene, auf der sich Autor und Leser über das Geschehene verständigen. Die Phänomene nicht rational auflösen." Natürlich drängen sich konzeptionelle Analogien zum "Nouveau Roman" eines Robbe-Grillet oder einer Nathalie Sarraute auf, und als deutsche Varianten einer solchen Schreibstrategie sind die beiden ersten Romane von Wellershoff durchaus von Interesse, auch wenn dieses methodische Erzählen - das im Romanerstling22 die neurotisch gestörten Kommunikations- und Verhaltensmuster in einer durchschnittlichen Kölner Familie auslotet, und in der «Schattengrenze» 23 den Verfolgungswahn eines kriminell gewordenen Außenseiters detailliert aufzeichnet, der, in einer permanenten Flucht vor der Gesellschaft begriffen, sich in seinen pathologischen Verhaltensmustern unentrinnbar verstrickt - zu diszipliniert wirkt, um gerade das zu erreichen, was Wellershoff vorschwebt: die Wirklichkeit zu fragmentieren und die Irrationalität an den Bruchstellen einströmen zu lassen. Aber bereits in der «Schattengrenze» zeigt sich in der Figur dieses Autohändlers, dessen Identität sich in einem obsessiven Persönlichkeitszerfall auflöst und ihn in kriminelle Konflikte mit der Gesellschaft manövriert, der geradezu prototypische Protagonist Wellershoffs: Es ist der psychisch gestörte gesellschaftliche Außenseiter, in dessen Wahrnehmungsperspektive die Wirklichkeit jegliche logische Konsistenz und Folgerichtigkeit einbüßt, sich auflöst in ein fremdartiges unerklärliches Konglomerat von Dingen, die den einzelnen bedrängen und ihn aufzusaugen scheinen. Es wäre zu einfach, in dieser mitunter manische Züge aufweisenden Fixiertheit Wellershoffs auf solche von Versagen und Scheitern, von krimineller Anomalie und psychotischer
Wirklichkeitsverzerrung
gezeichneten
Einzelfiguren
die
literarisch
the-
rapeutische Projektion eigener latenter Konflikte und Probleme erkennen zu wollen. Aber durchaus im Sinne von Kipphardts Fasziniertheit an dem in der Sicht der Gesellschaft psychisch Kranken Alexander März, der in der eigenen Lebensgeschichte verdrängte und unterdrückte Möglichkeiten des Autors alternativ auslebt und die routinierte soziale Anpassung der eigenen Existenz damit in Zweifel zieht, erfüllen diese psychotischen Grenzgänger der sozialen Realität auch für Wellershoff die 21 Es handelt sich um einen meines Wissens unveröffentlichten Text, den mir Wellershoff als Manuskript zugänglich gemacht hat. 22 Vgl. dazu die Interpretation von Robert Burns: «Ein schöner Tag - Neuer Realismus oder psychologisierter Naturalismus?», in: «Der Schriftsteller Dieter Wellershoff» (Anm. 12), S. 15-40. 23 Vgl. die Interpretation von Tony Phelan: «Die Schattengrenze - "strukturelle Logik" und Utopie» (Anm. 12), S. 41-65. Zu den beiden Erstlingsromanen vgl. auch die Münsteraner Dissertation von Eike H. Vollmuth: «Dieter Wellershoff - Romanproduktion und anthropologische Literaturtheorie. Zu den Romanen 'Ein schöner Tag" und 'Die Schattengrenze'», München 1979.
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Funktion, Existenzmöglichkeiten zu simulieren, die als verdrängtes Droh- und Schreckbild auch im Untergrund des eigenen Ichs vorhanden sind. Darüber hinaus hat Wellershoff im Kontext seiner Vorstellungen von der Erkenntnisaufgabe der Literatur noch eine andere einleuchtende Begründung für seine Konzentration auf diese durch soziale Funktionsunfähigkeit und psychotische Störungssyndrome gezeichneten Protagonisten gegeben. In seinem Essay «Ich-sagen mit und ohne Auskunft» 24 führt er dazu aus: "Das Schreiben ist ein suchendes Eindringen in etwas Unbekanntes, wobei die sich immer wieder herstellenden Erlebnisschablonen wie Hindernisse aufgelöst werden müssen. Aber auch der Leser löst sich ja, geführt von dem Text, von seiner gewohnten Lebenssituation und läßt sich ein auf andere Erfahrungen, wagt sich vor in fremdes Terrain. [...] Ich habe immer Menschen dargestellt, die in ihrem Verhalten, ihrem Selbstverständnis, ihrem Umweltbezug so gestört sind, daß sie in eine unabsehbare Krise hineingeraten, die alles verändern kann. [...] Ich habe von Verbrechern, Verrückten und Gestörten geträumt, die vom Weg abkamen und die es aufmerksam machte, vom Weg abgekommen zu sein, una das Schreiben war eine Übung abzuweichen in diesen sich verlierenden Spuren der Verirrten, denen die Gewohnheiten von den Augen gefallen waren und die nun nichts mehr erkannten, aber alles wahrnahmen, alles wahrnehmen, weil sie nichts mehr erkannten, oder um es anders zu sagen, nur das Unbekannte ist eine Information." (S. 286/7/9) Auf diesem Hintergrund zeichnet sich in Wellershoff erzählerischem Werk eine unterirdische Vernetzung ab zwischen Figuren wie dem Protagonisten der «Schattengrenze», dem zum Mörder werdenden vagabundierenden Kleinkriminellen Bruno Findeisen in «Einladung an alle», dem sozial an der Gesellschaft gescheiterten, in seinem Verhalten pathologisch deformierten und zum Affekt-Mörder einer Zufallsbekanntschaft werdenden Klaus Jung in dem Roman «Die Schönheit des Schimpansen» 25 , oder dem der Suggestion des Geldes verfallenden, vorübergehend durch Heirat in der Gesellschaft Fuß fassenden und schließlich das Unternehmen seiner Frau in den Bankrott manövrierenden haltlosen Abenteurers Ulrich Vogtmann in «Der Sieger nimmt alles» 26 . Man könnte diese Galerie von sozialen Außenseitern noch durch entsprechende Protagonisten in den Erzählungen von Wellershoffs Sammlung «Die Körper und die Träume» erweitern. Aber während der großangelegte Roman «Der Sieger nimmt alles», bei dem sich die widersprüchliche Rezeptionsgeschichte von Wellerhoff in höchst kontroversen Einschätzungen erneut konkretisierte 27 , relativ traditionell erzählt ist und im Spannungsaufbau durchaus auf kulinarische Effekte zielt, zeichnet sich der künstlerische Rang von «Einladung an alle» erst recht im Rückblick dadurch aus, daß Wellershoff die unterschiedlichen 24
In: «Doppelt belichtetes Seestück» (Anm. 14), S. 283-302.
25
Köln 1977.
26
Köln 1983.
27
Vgl. dazu etwa die Ausführungen von Norbert Schachtsiek-Freitag in seinem Wellershoff-Artikel des «Kritischen Lexikons zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur» (Stand 1984): "Die Literaturkritik hat das Buch extrem unterschiedlich bewertet; das Spektrum der Urteile reicht von 'vernichtenden' Kritiken bis zur Zuordnung des Romans zu Gipfelwerken der Weltliteratur." (S. 9)
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Wahrnehmungsweisen des großen Personenensembles - der gejagte Findeisen auf der eine Seite und der Polizeiapparat mit dem Kriminaloberrat Bernhard an der Spitze, seinen Untergebenen und zahlreichen Zuträgern unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen auf der andern Seite, die sich alle zur Treibjagd auf den kriminell Stigmatisierten zusammenfinden - in spezifische Darstellungsweisen übersetzt. Die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen werden nicht nur beschrieben, sondern unmittelbar in der Sprache abgebildet, so daß der Roman, der auf umfangreichen Materialrecherchen Wellershoffs zum Fall des historischen Bruno Fabeyer aufbaut, zu einer faszinierender Montage von Erzählerbericht, eingeblendeten Dokumenten aus Büchern der Kriminologie, von Auszügen aus Polizeiberichten und Pressemitteilungen, von Gedanken- und Assoziationssplittern der betroffenen Personen wird. So plausibel Wellershoffs Entscheidung für solche Außenseiter-Protagonisten auch theoretisch sein mag, so läßt sich jedoch unschwer ein damit ursächlich verbundener Irritationseffekt für seinen Leser erkennen. Das psychotisch grundierte Verhalten seiner Protagonisten ist ohne jegliche Identifikationsmöglichkeit für den Leser. Erotische Aktionen sind mit Gewaltanwendungen unentwirrbar verquickt. Der körperliche Akt der Liebe wird ganz von außen in seiner zynisch wirkenden Faktizität vorgeführt, jenseits humaner Gefühlsempfindungen, schockhaft und abschreckend für den Leser. Die Tötungs- oder Sterbeszenen werden in Wellershoffs Büchern wie unmenschliche Rituale registriert. Die Kälte der gesellschaftlichen Aktionsräume, in denen seine Protagonisten agieren, erstreckt sich als psychische Dimension unmittelbar auf den Leser. Gerade auf diesem Hintergrund zeigt sich der Glücksfall seiner Novelle «Die Sirene», weil der Protagonist, ein erfolgreicher Universitätsprofessor mittleren Alters, glücklich verheiratet und in einem Forschungsfreisemester mit einer größeren wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt, innerhalb der sozialen Normen einer bürgerlichen Existenzweise vorgeführt wird und dem Sog der Irrationalität widersteht: den regelmäßigen Telefonanrufen einer fremden Frau, die, von ihrem Liebhaber verlassen, sich hilfesuchend vampirhaft an Elsheimer klammert und die gesellschaftliche Basis seiner Existenz, seine Rolle in Familie und Beruf, zu unterminieren und zu zerstören droht. Freilich ist Elsheimer für die Verlockung der Sirene anfällig, weil er sich, ohne es selbst präzis wahrzunehmen, in einer Lebens- und Alterskrise befindet, seine wissenschaftliche Arbeitsenergie blockiert sieht, den Todesfall eines bekannten Kollegen, an dessen Beerdigung er teilnimmt, als Vorwegnahme seines eigenen Sterbens empfindet. Gerade weil der Protagonist der «Sirene» nicht zum psychotischen Einzelfall verabsolutiert wird, sondern als zwar gefährdetes, aber innerhalb seiner sozialen Bezüge vermitteltes Individuum vorgeführt wird, erreicht Wellershoff eine Glaubwürdigkeit der Darstellung, die sich in anderen epischen Arbeiten nur abgeschwächt einstellt.
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II. Zwischen diesen epischen Arbeiten Wellershoffs und seinen Fernseharbeiten existieren zahlreiche Verbindungslinien. Einige von ihnen hat Wellershoff unmittelbar als filmische Adaptionen von epischen Arbeiten geschrieben, so das 1974 entstandene Drehbuch für den von Claus Peter Witt realisierten Film «Eskalation», hinter dem der Roman «Einladung an alle» als Vorlage sichtbar wird. Filmische Adaption des Romans « D i e Schattengrenze» ist auch der gleichnamige Film, den Wolf Gremm 1978/79 produzierte 28 . Hinter den Filmen « D i e Schönheit des Schimpansen» und «Ein ungleiches Paar» 2 9 lassen sich der gleichnamige Roman bzw. die Erzählung «Ein schöner Mann» als Vorlagen erkennen 30 . Auch bei diesen Arbeiten betont Wellershoff ausdrücklich, daß er sie als Medientexte nicht von vornherein unterhalb der literarischen Vorlagen eingestuft sehen möchte, denn "die Legitimation eines Werks hängt nicht vom Reichtum des jeweils gewählten medialen Repertoires ab, sondern allein davon, wie der Autor mit den gewählten Mitteln sein Thema gestaltet hat."31 Mit andern Worten: Wellershoff weist die normative Vorstellung einer Hierarchie der künstlerischen Formen mit den literarischen Gattungen an der Spitze als Voreingenommenheit zurück und macht die künstlerische Leistung vom Einsatz des Autors und von seiner Bewältigung im Rahmen des gewählten Formmusters her abhängig. Von daher wäre es auch sicherlich zu einfach, den Adaptionsvorgang als nahezu problemlos anzusehen auf Grund schon vorhandener struktureller Analogien seiner literarischen Arbeiten zum Film: "Beim ersten Blick auf Dieter Wellershoffs Romane und Erzählungen drängt sich die Möglichkeit ihrer visuellen Umsetzung unabweisbar auf. Zu deutlich sind wesentliche Textelemente am Film und seinen Grundprinzipien ausgerichtet. [...] Das erzählerische Arrangement nähert sich der filmischen Einstellung durch das Piazieren der Figuren in den genau erfaßten Räumen, durch die Angabe von Blickwinkeln und Perspektiven. Wellershoffs besondere Aufmerksamkeit für optische Details ist überall spürbar, im Herausgreifen von Gegenständen und bizarren Objekten durch eine überscharfe Detailaufnahme, in der genauen Beschreibung von Photographien und Plakaten bis in die Farbgebung hinein." 32 Eine solche Gleichsetzung, so berechtigt sie punktuell sein mag, führte zu einem Mißverständnis, wenn man daraus folgerte, bei einer strukturell so filmisch angeleg2g Die Drehbücher zu diesen literarischen Adaptionen finden sich alle in dem Buch «Glücksucher» (Anm. 15).
29 Die Drehbücher sind abgedruckt in dem Band «Flüchtige Bekanntschaften» (Anm. 15). 30
Vgl. auch Wellershoffs Hinweis in «Warum Drehbücher veröffentlichen?» (in: «Flüchtige Bekanntschaften» [Anm. 15], S. 7-13): "Ich habe vier Drehbücher geschrieben, die Umsetzungen eigener Romane und Erzählungen sind, und ebenfalls vier Originaldrehbücher (eins davon ein sogenannter Zweiteiler), die keine literarischen Vorlagen haben." (S. 8)
31
Dieses Zitat stammt wie auch die folgenden aus dem Vorwort «Warum Drehbücher veröffentlichen?» (Anm. 30), S. 7.
32
Prümm: «Protokolle beschädigten Lebens» (Anm. 5), S. 87. Allerdings macht Prümm im Verlauf seiner Untersuchung dann auch auf Einschränkungen aufmerksam.
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ten Schreibweise seien die Widerstände bei der Umsetzung von literarischem Text in einen Film deutlich geringer. Wellershoff selbst läßt keinen Zweifel daran, daß das Gattungsrepertoire des Romans am reichsten ist, daß sich die Totalität der Wirklichkeit hier am ehesten einfangen läßt, da der Roman die innere Welt des Helden wie die äußere Welt der Geschichte mit gleicher Intensität darstellen und in ihrer wechselseitigen Durchdringung zeigen kann: "Der Romanautor kann die Welt aus der Vogel- und Froschperspektive betrachten. Dialog, Innerer Monolog, Erlebte Rede, Erzählung, Bericht, Hypothese, Reflexion, Zitat, Dokument - alle rhetorischen Formen und Textsorten stehen ihm zur Verfügung, wie er auch zwischen Ich-, Er- und Erzählelperspektive wechseln kann. Die gattungsgemäße Breite, der beliebige Umfang des Romans ermöglichen es dem Autor, weiträumige Ereignisketten und Entwicklungen ebenso darzustellen wie die Gleichzeitigkeit vieler nebeneinanderherlaufender Geschehnisse und Prozesse, und überhaupt kann keine Darstellungsform eine solch riesige Fülle an Stoff bewältigen, ohne daß ein ungestaltes und unverständliches Chaos entstünde." Die Darstellungsweise des Films ist viel stärker auf die sichtbare Welt hin orientiert. Es fällt ihm viel schwerer, formal umzusetzen, wie Wirklichkeit im Durchgang durch einen subjektiven Wahrnehmungsfilter gebrochen, fragmentiert und verfremdet wird. Die Vorgänge der Innenwelt müssen an Veränderungen an der Oberfläche der Außenwelt, notwendig verkürzt also, dargestellt werden. Das formale Repertoire zur Darstellung der Übergänge von der Außen- zur Innenwelt und umgekehrt ist viel begrenzter und schwieriger zu handhaben: "Die Mittel, die der Film hat, um Innenwelt darzustellen, wirken gemessen an der Unaufdringlichkeit und Beweglichkeit der Sprache, immer etwas schwerfällig und oft gewaltsam oder hinzuaddiert. Man kann eine Erinnerung als Rückblende erzählen und eine Phantasie als eingeblendeten Spot. Aber jedesmal gibt es einen Ruck, als habe man einen Widerstand zu überwinden gehabt und sei durch eine unsichtbare Wand hindurch in eine andere Dimension gelangt." (S. 8) Den gesamten affektiven und emotionalen Bereich, aber auch den kognitiven Bewußtseinsbereich, den der Romanautor detailliert auszumessen und darzustellen vermag, sieht Wellershoff von den filmischen Möglichkeiten nur unzureichend erfaßt: "Nur ein geringer Teil dieser Innenzustände wird sichtbar als Verhalten, Geste und mimischer Ausdruck. [...] Lange gedankliche Prozesse, wie sie im Inneren Monolog möglich sind, würden jeden Film erschlagen." (S. 9) Und wo der Film wiederum versuche, durch hochsubjektive Bildsequenzen eine emotionale Wahrnehmungstextur auszudrücken, gerate er schnell in die Gefahr, "ins Vage und bloß Stimmungshafte oder [...] in cineastische Symbolik" (S. 9) abzugleiten. Aus der Erkenntnis dieser Unterschiede kommt Wellershoff zur Feststellung bestimmter formaler Direktiven, die den Adaptionsvorgang seiner Übertragungsarbeit vom Buch zum Film bestimmt haben und sich generell als zentrale Darstellungsprinzipien beim Medien-Transfer bezeichnen lassen: 1) Eine in der literarischen Dar-
33
«Warum Drehbücher veröffentlichen?» (Anm. 30), S. 8.
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Stellung vielfältig verflochtene Zeitstruktur, die Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft im Bewußtseinsraum des Protagonisten, der die perspektivische Darstellung bestimmt, komplex miteinander verschmilzt und die Chronologie außer acht läßt, muß gleichsam bei der filmischen Adaption entwirrt und in das Muster der objektiven Chronologie wieder zurückübersetzt werden: "So erschien es mir interessanter, die Geschichten, die ich zu erzählen hatte, konsequent als gegenwärtig ablaufendes Geschehen, szenisch und dialogisch zu entwickeln, wie es sich einem unsichtbar anwesenden Zeugen darbieten würde, der die agierenden Personen vor Augen hat, aber nicht in ihr Inneres blicken kann." (S. 10) In der Adaption entsteht also wieder eine Kontinuität der zeitlichen Abläufe, wobei das dargestellte Zeitspektrum allerdings nicht insgesamt als geschlossene Einheit vorgestellt wird, sondern in einzelne Segmente, Geschehens- und Ereignisfälle, eingeteilt werden kann, innerhalb derer jedoch zeitliche Kontinuität gewahrt wird. 2) Diese Veränderung der Zeitstruktur führt zu einer Veränderung der Dramaturgie der dargestellten Ereignissequenzen, die in ihren Entstehungsvoraussetzungen und Konsequenzen viel umfassender begründet und deshalb viel stärker dem Kausalitätsprinzip untergeordnet werden müssen: "Bei den Adaptionen eigener Romanstoffe machte ich dabei die Entdeckung, daß ich im Roman zwar insgesamt mehr Situationen und Vorgänge dargestellt hatte, aber andererseits, dank der Zusammenhänge, die schon im Bewußtsein der Personen entstanden, mit einer viel lückenhafteren Vorstellung vom äußeren Ablauf des Geschehens ausgekommen war. Jetzt mußte ich die Kontinuität rein szenisch herstellen, mußte die Voraussetzungen und Ausgangslagen des Geschehens [...] wie ein Dramatiker sichtbar vorführen [...] Der Vorzug lag in der suggestiven Wucht linear fortschreitender Handlungen [...]" (S. 11) 3) Aus diesem formalen Appell zu einer größeren dramaturgischen Plausibilisierung und damit zu einer kausalen Vernetzung einzelner Handlungsschübe, was sich auch in der Betonung von zeitlicher Kontinuität und in der Verlagerung von Innenvorgängen auf sichtbare Reaktionsweisen der Protagonisten zeigt, entsteht für Wellershoff - deutlich vor den bildlichen Umschreibungsmöglichkeiten des Films - eine Dominanz des Dialoges und damit generell eine strukturelle Annäherung der Adaption an das Gattungsmuster des Dramas: "Die beherrschende Bedeutung, die ich den Dialogen eingeräumt habe, ist für Drehbücher ein wenig ungewöhnlich und rückt sie in die Nähe von dramatischen Texten. Das hängt mit den konfliktträchtigen Situationen zusammen, aus denen sich die Handlungen aufbauen, und berücksichtigt nebenbei auch die Erfahrung, daß das Bild auf dem kleinen Bildschirm nicht die gleiche Wirkung hat wie auf der Kinoleinwand und deshalb im Fernsehen dem Dialog eine größere Wichtigkeit zukommt als im Film." (S. 11/2) Was Wellershoff hier als Erfahrungsextrakt seiner eigenen Adaptionsarbeit vorlegt, erweist sich implizit als Theorie einer medialen Adaption, auch mit dem abschließenden Hinweis auf ein - aus der Sicht des Autors - zentrales Defizit einer solchen Adaption, nämlich die produktionsästhetische Pluralität, die die literarische Dominanz des Autors in einem entscheidenden Punkt beschränkt: 4) Alles, was der
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traditionelle Autor jenseits von Dialog und szenischen Entwicklungsverkettungen an Wirklichkeitsdarstellung durch bildliche Beschreibung und narrative Erzähltechniken einbringt, geht an die Kompetenz des Regisseurs, des Kameramanns und später des Cutters am Schneidetisch über: "Im übrigen ist in den Drehbüchern die optische Umsetzung des Geschehens weit weniger elaboriert als die Dialoge und das Verhalten der handelnden Personen. Ich habe mich im wesentlichen auf die Beschreibung der Schauplätze und die Bewegungen der Personen im Raum beschränkt, aber kaum Anweisungen für Kameraführung und Schnitt gegeben. [...] Ich habe das Feld wie die Arbeit von Regisseur, Kameramann und Cutter weit offen gelassen [...]. Die Geschichte, die ich zu erzählen hatte, ist innerhalb meiner Kompetenzen zu Ende erzählt. [...] Ich habe ein Interesse daran, das, was ich geschrieben habe, festzuhalten und kontrollierbar zu machen. Denn ich möchte nicht für die Arbeit eines anderen, sondern für meine eigene verantwortlich gemacht werden." (S. 12/3) Diese Bausteine zu einer Adaptionstheorie aufgreifend, wäre es sicherlich reizvoll, im einzelnen an Beispielen zu untersuchen, zu welchen konkreten Auswirkungen das bei Wellershoff im Einzelfall geführt hat, in welcher Weise er Positionen dieser impliziten Theorie umgesetzt, aber auch konkret revidiert oder verändert hat. Aber damit wäre methodisch ein Untersuchungsfeld gewählt, daß im Rahmen dieser Untersuchung bereits unter anderen Stoff-Perspektiven behandelt wird. Ich will daher im folgenden einen andern Weg einschlagen und mich auf die Fernseharbeiten konzentrieren, die Wellershoff eigens für dieses Medium geschrieben hat. Auch diese Arbeiten lassen sich sicherlich nicht produktionsästhetisch als reine Medienarbeiten isolieren, sondern sind durch ihre Themen, Motive, Figuren-Psychogramme und Wirklichkeits-Szenarien, durch ihre spezifische Wirklichkeitsspiegelung auf vielfältige Weise mit dem übrigen literarischen Werk Wellershoffs vernetzt. Das läßt sich an den beiden herausragenden Arbeiten Wellershoffs in diesem Teil seines Werks unmittelbar präzisieren. Ich meine damit das zweiteilige Fernsehspiel «Phantasten» 34 , das, unter der Regie von Peter Beauvais entstanden, 1979 erstmals gezeigt wurde und in einem umfassend dargestellten Gesellschaftsensemble, in dem drei zentrale Protagonisten, der Bauunternehmer Breysig, der Bankier Sollier und der Kommmunalpolitiker Hammerich als Vertreter bestimmter gesellschaftlicher Aktionsräume und als Kollaborateure im Dienst einer expansiven Wirtschaft herausragen, einen differenzierten Querschnitt durch die vielfältig verflochtene und von Symptomen der Korruption gezeichnete sozialgeschichtliche Gegenwart der bundesrepublikanischen Gesellschaft legt, die, von der Suggestion des Geldes als metaphysischem Surrogat angetrieben, sich im 'Tanz um das goldene Kalb" 35 auflöst und zugrunde richtet. Wellershoff hat zu Recht betont:
34
Das Drehbuch enthält Wellershoffs Band «Glücksucher» (Anm. 15): «Phantasten I», S. 143-194, «Phantasten II», S. 195-243. 35 So lautet der Titel über dem Begleittext Wellershoffs zu «Phantasten», in: «Glücksucher» (Anm. 15), S. 310-312.
108 "Der Film ist aber kein bloßes kammerspielartiges Drama der Macher und Drahtzieher, sondern versucht, ein möglichst umfassendes Bild eines gesellschaftlichen Prozesses zu geben, mit Einblicken in die verschiedensten Lebensbereiche und soziale Gruppen, die mehr oder minder an dem Geschehen beteiligt sind oder von ihm betroffen werden." (S. 311) In der Tat gelingt es ihm in den «Phantasten», die unterirdische Verflochtenheit beider Bereiche darzustellen, die Mechanik eines expansiven Wirtschaftsprozesses, der vom Diktat des Geldes als "Instrument unserer Vergesellschaftung" (S. 312) bestimmt wird, und die irrationalen, von den Akteuren selbst nicht mehr kontrollierten Antriebe, die diesen Prozeß so beschleunigen, daß er in Selbstzerstörung einmündet. Die gesellschaftliche Wahrheit von Wellershoffs Darstellung zeigt sich nicht zuletzt darin, daß der in einen vielfältigen Korruptionsfilz verstrickte Kommunalpolitiker als einziger überlebt, weil seine Partei ihn in dem grade angelaufenen Wahlkampf nicht mehr auszuwechseln vermag, ohne den Sieg der Partei selbst in Frage zu stellen. Es läge nahe, dieses differenzierte analytische Gesamtbild sozialpolitischer Gegenwart 3 6 Wellershoffs Roman « D e r Sieger nimmt alles» gegenüberzustellen, der ja auch den Versuch unternimmt, im Brennpunkt der Erfahrungen der UnternehmerFigur Ulrich Vogtmann, der auf ähnliche Weise wie die Akteure des Fernsehfilms zum Phantasten wird, d.h. der Suggestion des Geldes so erliegt, daß die rationale Beherrschbarkeit der Wirtschaftsvorgänge schrittweise abgebaut wird und Vogtmann in einen selbstzerstörerischen Strudel gerät, wirtschaftsgeschichtliches Geschehen analytisch zu durchleuchten. Das Überraschende ist, daß die subjektive Darstellungsperspektive des Romans aus dem Bewußtseinshorizont der Hauptfigur das wirtschaftliche Geschehen nur fragmentiert zu vermitteln vermag, während der von vornherein objektiver verfahrende Darstellungsgestus des Films gerade das erreicht: die Interdependenz von rationalem Kalkül und irrationalem Irritationsschub aufzudecken, mit dem Ergebnis, daß die kontrollierte Planung, die sich aus einem verabsolutierten Wirtschaftsdenken heraus über alle Skrupel hinwegsetzt, in einen irrationalistischen Kreislauf der Zerstörung einmündet 37 . Ich will auf diese Zusammenhänge hier nicht im einzelnen eingehen, sondern meine Aufmerksamkeit auf ein anderes Werksegment richten, in dem literarischer Text und Fernsehspiel nicht in einem unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnis stehen, sondern 36
Ursprünglich hatte Wellershoff vorgehabt, diesen Stoff in einem Roman zu bearbeiten, vgl. seine Hinweise in dem am Ende des Bandes «Glücksucher» abgedruckten Gespräch «Für das Fernsehen schreiben» [ (Anm. 30), S. 315-335]: "Den Stoff für «Phantasten» dagegen hatte ich für einen Roman vorbereitet, hatte auch Versuche gemacht, diesen Roman zu schreiben. Das wäre sehr viel umfangreicher geworden, ein Roman von 500-600 Seiten wahrscheinlich. [...] Es wäre ein Roman geworden, der formal an «Einladung an alle» angeknüpft hätte, mit dokumentarischen und essayistischen Partien, und mit sehr vielen Figuren und Schauplätzen, ein Kollektivroman." (S. 321/2) 37 Ich bin diesen Zusammenhängen zwischen Fernsehspiel «Phantasten» und dem Roman «Der Sieger nimmt alles» in einer Studie nachgegangen, die in Kürze in einem dem Werk Dieter Wellershoffs gewidmeten Band erscheinen wird: «Dieter Wellershoff - Erzähler, Literaturtheoretiker, Essayist, Medienautor. Analysen und Beobachtungen zu seinem literarischen Werk», hg.v. M. Durzak u. H. Steinecke, Köln 1990 (im Erscheinen).
109 unter der Perspektive der Variation und Modifikation aufeinander bezogen sind und die verschiedenen medialen Ausdifferenzierungen des Themas sich gegenseitig spiegeln und kommentieren. Auch hier stellt sich an einem konkreten Beispiel die Frage, ob die literarische Konkretisierung tatsächlich von vornherein der medienliterarischen überlegen ist oder ob nicht auf ähnliche, aber andersartige Weise als bei «Phantasten» und « D e r Sieger nimmt alles» auch hier die Realisierung als Fernsehspiel den literarischen Spiegelungstexten überlegen ist.
III. Die Beispiele, die im folgenden in den Mittelpunkt gerückt werden, sind Wellershoffs Fernsehspiel «Glücksucher» 3 8 und die beiden Erzählungen «Doppelt belichtetes Seestück» und «Ein Gedicht von der Freiheit» 3 9 . Obwohl die beiden Erzähltexte zeitlich früher entstanden sind, hat Wellershoff nirgendwo den Versuch gemacht, in der literarischen Erzählform bereits Fixiertes bewußt zu übertragen. Schon zu den beiden Erzähltexten läßt sich sagen, daß sie, perspektivisch verschoben, bestimmte Sichtweisen von Ereignissen und Erfahrungen präsentieren, die sich im Erlebnismuster einer Lebenskrise abbilden, die für den autobiographische Züge aufweisenden Erzähler zugleich eine Krise seiner menschlichen Kommunikationsfähigkeit in der langjährigen Partnerschaft mit seiner Ehefrau bedeutet. Wellershoff hat im Kommentar zum «Glücksucher»-Drehbuch « D i e Wünsche, der Rückzug und die Trauer» 4 0 plausibel darauf aufmerksam gemacht, daß diese private Züge aufweisende Lebenskrise durchaus einer lebensgeschichtlichen Erfahrung zugeordnet ist, die jedem Menschen irgendwann zuteil wird 41 : "Man hat diese Krise, die jeder für sich erleidet, in jüngster Zeit deutlicher erkannt und beschrieben als eine Strukturkrise von ähnlicher Bedeutung wie die Pubertät. Man hat sie die Krise der mittleren Jahre genannt. [...] Wir leben länger, wir sind mit Ende Vierzig noch nicht alt. Andererseits aber verändert sich die Welt rascher, alte Erfahrungen werden schnell entwertet, alte Erfolge haben auf einmal keine Bedeutung mehr [...]. Der Schatten des Todes fällt über das Leben und weckt tiefe Ängste, die jahrzehntelang überdeckt waren durch Geschäftigkeit und Erfolg. Aus dieser plötzlich aufgedeckten T i e f e kommt auch das Aufbäumen, die Suche nach einem neuen Sinn und einem neuen Anfang [...]." (S. 308/9) In «Doppelt belichtetes Seestück» ist dieser Ausbruchversuch in einer Krise scheinbar bereits Vergangenheit. Die Reise, die der Erzähler an der Seite seiner Frau in ein 38 Abgedruckt in Wellershoffs gleichnamigem Band (Anm. 15), S. 79-142. D i e Erstsendung weist als Datum den 25.1.1977 auf. 39 Beide Erzähltexte, die in ihrer Entstehung auf 1973 und 1974 datiert sind, sind enthalten in Wellers4 0 41
hoffs Band «Doppelt belichtetes Seestück und andere Texte» ( A n m . 14), S. 33-57 u. S. 58-127. A n m . 15, S. 307-310. Die
Darstellung
dieser
Lebenskrise
am
Beispiel
von
Wellershoffs
Erzähltext
unter
tie-
fenpsychologischer Perspektive in dem Aufsatz von Peter Dettmering: « E i n e Krise in der Lebensmitte. Dieter Wellershoff: 'Ein Gedicht von der Freiheit'» (in: «Praxis der Psychotherapie» XXII/1-6 [1977], S. 225-230) wirkt relativ flach und schematisch, wenn Dettmering die Losung der Krise so beschreibt: "Lebens- und Todeswille haben sich getrennt; er selbst hat sich für das Überleben entschlossen, während Isa ihrem Ende entgegengeht." (S. 229)
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winterlichen Seebad an der belgischen Nordseeküste macht, hat er "fast genau vor einem Jahr" (S. 33) schon einmal unternommen, damals an der Seite von A, von der er sich angezogen fühlte und von deren Hingabe und Forderungen an seine Zukunft er sich zugleich fürchtete. Diese Α taucht dann gleichfalls in der Erzählung «Ein Gedicht von der Freiheit» auf. Der Protagonist, der mit dem Schriftsteller Odenthal aus «Glücksucher» identisch ist, verläßt seine Frau und zieht vorübergehend zu A, obwohl sich hier erotische Anziehung und Gefährdung Odenthals durch Α auf die Person der Isa Seibold verlagern, die aus ihrer Ehe ausbricht und an der Seite von Odenthal von einem neuen Leben träumt. Mit Isa macht Odenthal dann in «Glücksucher» die Reise an die winterliche Nordsee. Schon an diesem Beispiel wird deutlich, wie Wellershoff jeweils die dargestellte Situation umschichtet, jeweils andere Facetten und damit auch andere Personen stärker konturiert. Im Handlungsgeschehen von «Ein Gedicht von der Freiheit» ist Α nur eine Randfigur. In «Glücksucher» taucht sie überhaupt nicht auf. In «Doppelt belichtetes Seestück» ist sie gewissermaßen der Erinnerungsschatten seiner Krise, der seiner Frau und ihm folgt, der in Gesprächen zwischen den beiden unmittelbar angesprochen wird oder zu dem die Gedanken und Assoziationen des Erzählers zurückkehren. Α wird hier genau in der psychischen Ausgangslage von Isa gezeigt, glaubt an "ein gemeinsames Leben mit ihm" (S. 35) und durchschaut seinen Vorschlag zur Reise als getarntes Trennungsmanöver: "Du willst mich abschaffen, hatte sie ihm gesagt. Diese Reise ist deine Abzahlung. Du willst dich retten, und ich soll dir dabei helfen." (S. 34) Die doppelte Belichtung, die so zustande kommt, daß die Umstände seiner Reise mit Α sich in seiner Reise an der Seite seiner Frau spiegeln und umgekehrt, verdeutlicht, daß die Krise nur verdrängt und nicht bewältigt worden ist, daß seine Entscheidung zur Rückkehr in die Partnerschaft mit seiner Frau keinem emotionalen Reifungsprozeß entspricht, sondern daß seine "Angst von Α verschlungen zu werden. Angst vor seiner Lust von Α verschlungen zu werden." (S. 42) die Angst vor einer anderen unbekannten Möglichkeit seiner Existenz ist, die sein bisheriges normal geregeltes Leben zerstören könnte: "[...] manchmal fühlte er, wie tief er bereits gespalten war. Er hatte zweierlei Ansichten über alles. [...] Er suchte trotzdem weiter nach einer Einheit. Er begann eine Theorie zu entwickeln, daß das praktische Leben der Bereich der Not sei, was Anpassung bedeutete oder Einsicht in das Notwendige, wie man es gelernt hatte und von anderen erwartete, und daß es daneben Träume und Phantasien gab, in denen das ungelebte Leben wiederkehrte [...]." (S. 41) In der Begegnung mit Α ist diese Spaltung seines Ichs aufgebrochen, Α versucht vergeblich, ihm Mut zu diesem ungelebten Leben zu machen. In der Ehe mit seiner Frau wird diese Spaltung durch Anpassung und pragmatische Überlebensstrategien
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überdeckt, wie dem Erzähler während der Reise gerade durch die ständige Rückbeziehung auf Α bewußt wird: "Jahrelang hatten sie sich kein neues besseres Bett gekauft, weil sie nicht wußten, ob sie zusammenblieben. Und doch waren sie ein beständiges Paar, ein Paar der neuen Anfänge." (S. 47) Diese Balance gerät immer wieder außer Kontrolle, durch zufällige Signale, die ihn überfallartig aus seinem Alltag herausreißen und zu Α zurückführen: "[...] er hatte eine Frau gesehen, die ihr glich. Oder es war scheinbar nichts, nur eine treibende Unruhe, die sich in ihm ausbreitete, bis sie ihm plötzlich [...] bewußt wurde, als das, was sie war, das Verlangen Α zu sehen [...]. (S. 52) Am Ende von «Doppelt belichtetes Seestück» wird dieses Bewußtsein der Spaltung, das ja keineswegs im Sinne eines schizophrenen Syndroms etwa mißzuverstehen und damit klinisch zu neutralisieren ist, sondern die Krisenerfahrung in der Lebensmitte meint: "Wie alt bist du, was bleibt noch zu tun, gibt es noch ein neues, ein anderes Leben?" (S. 54), im nächtlichen Gespräch mit der Ehefrau reflektiert, damit zwar nicht gelöst, aber doch bewußt gemacht als eine Krisenerfahrung, zu deren Bewältigung beide gemeinsam aufgerufen sind: "Man müßte zweimal leben können. Dann wäre alles einfach. [...] wenn du mir die Hand gibst, kann ich dabei schlafen." (S. 56/7) Die körperliche Berührung, die Nähe und Beruhigung ausstrahlt, ist ein ganz vorsichtiges utopisches Signal, das auf die Zukunft verweist. Diese in den Bewußtseinsraum des Erzählers verlagerte Krisenbewältigung wird in der Erzählung «Ein Gedicht von der Freiheit» in gewisser Weise wieder zurückgenommen. Die aufgebrochene Krise wird in vieler Hinsicht verschärft. Die Erzählperspektive verlagert sich viel stärker nach vorn in jene Zeitdimension, die in «Doppelt belichtetes Seestück» bereits Vergangenheit ist und nur in der Erinnerungsretrospektive auftaucht, obwohl andererseits auch hier der Erzähler, der bei einem schweren Autounfall mit dem Leben davon gekommen ist und dieses Ereignis als Einschnitt und auf paradoxe Weise als Rettung aus seiner Krise empfindet, den Blick zurück in die Vergangenheit richtet: auf jene Erfahrungen, die er an der Seite von Isa machte. Diese Isa, die den hier namenlosen Erzähler, hinter dem sich der Schriftsteller Odenthal aus «Glücksucher» verbirgt, liebt, hat nach einer seiner Lesungen in einer Provinzstadt seine Bekanntschaft gesucht und macht auf ihn den Eindruck einer nicht unattraktiven reichen Frau, die, mit allen Insignien des Wohlstands an der Seite eines erfolgreichen Unternehmers ausgestattet, in ihrem Leben auf ähnliche Weise erstickt wie der Erzähler selbst: "Und sie erzählte mir, daß sie Depressionen habe. [...] Sie wolle endlich ihr eigenes Leben entdecken, sie sei jetzt vierzig Jahre alt und habe noch nicht gelebt. Immer sei sie nur für andere dagewesen, bewußtlos und gehorsam, solange sie denken könne. [...] Von Anfang an war sie in den Dienst seiner Karriere ge-
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treten, wurde eine perfekte Hausfrau, eine Ausstellungspuppe, eine Gesellschaftsdame und hatte dafür seine höfliche Dankbarkeit bekommen. Er war jetzt Vorstandsvorsitzender eines großen Walzwerkes und saß in zahlreichen anderen Aufsichtsräten [...]." (S. 68) Es fällt auf, daß der Erzähler, der sich ja selbst in einer Krise befindet, während der Liason mit Isa seine Frau verläßt und an der Seite von Α vergeblich einen neuen Anfang versucht, Isa eher als lästig empfindet, für ein erotisches Abenteuer an ihrer Seite nicht unempfindlich ist, aber ihr in ihrem Krisenzustand bei weitem nicht jene Ernsthaftigkeit zubilligt, die er für sich selbst beansprucht. Indem seine Sichtweise die Erzählperspektive dominiert, erscheint Isa dem Leser stets durch den Filter seiner Wahrnehmung, ist damit eine Reflex-Person des Erzählers, wird parteilich dargestellt, ohne jene Objektivität, die sich als Prinzip epischer Gerechtigkeit charakterisieren läßt. Sie erscheint als Person von vornherein in negativer Beleuchtung: eine reiche Frau, die materiell alles hat, die an der Seite eines anderweitig beschäftigten Ehemannes alles tun kann, die sich Ende der sechziger Jahre in die obligaten "emanzipatorischen Bücher" (S. 69) vertieft, sich ihre Krise aus der Sicht des Erzählers sozusagen anliest, nach Kontaktmöglichkeiten Ausschau hält, einen "Diskussionskreis" (S. 69) gründet, in der "Schulpflegschaft" (S. 69) und in der "Telefonseelsorge" (S. 69) tätig ist, an Tagungen über die Befreiung der Frau teilnimmt, schließlich eine Psychoanalyse beginnt und abbricht, als der Analytiker nicht bereit ist, die Therapie in eine Liebesbeziehung einmünden zu lassen. In diesem kursorischen Überblick des Erzählers erscheint sie, eindeutig negativ akzentuiert, als latente Hysterikerin, auf ununterbrochener hektischer Kontaktsuche, bei der Odenthal eine Möglichkeit unter vielen anderen wird: "Und was erwartete sie von mir? Mit mir sprechen, über alles mit mir sprechen, sie brauchte das, sie hatte niemand, der sie verstand. Ich sah sie an. Nichts stimmte an ihr. Das großflächige, ungeprägte und schon ein wenig matronenhafte Gesicht mit dem kleinen Mund, der unentwegt redete, ihre üppigen nackten Arme, die großen Brüste und die metallisch gespannte Stimme, die aber einen Sprung, einen Bruch hatte, die dicke Perlenkette, die Krokotasche, das goldene Feuerzeug, alle diese Wohlstandsinsignien, die sie bewußtlos mitschleppte, und der angelernte kritische Jargon, in dem sie mir ihr Leben beschrieb [...]." (S. 69) Der mitleidlose, abweisende Blick des Erzählers inventarisiert die Erscheinung Isas. Es ist nicht der Blick auf einen menschlichen Partner, kein Blick der Sympathie und Teilnahme, sondern ein Blick des Abschätzens und ein abschätziger Blick obendrein, der die Einheit der Person fragmentiert, sie in isolierte körperliche Attribute, die durch die hinzugefügten Adjektive negativ konnotiert sind, zerfallen läßt und die Wahrnehmung ihrer körperlichen Erscheinung mit der ihrer modischen Ausstattung unterschiedslos durcheinandermengt. Es ist zugleich ein Blick der Abwehr und unterdrückten Angst vor der Gefahr für seinen eigenen Zustand, die mit dieser Begegnung verbunden ist, und verdeutlicht damit zugleich die unkontrolliert ablaufende Strate-
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gie des Erzählers, die Gefahr zu bannen, indem er Isa als nicht sonderlich attraktiv, als modisch herausgeputzt und geschwätzig für sich zu charakterisieren versucht: "Ich brauchte ein neues geklärtes Bild von meinem weiteren Leben, und für Isa war kein Platz darin." (S. 63) Dieser gleichsam böse Blick des Erzählers auf Isa entwertet ihre Person von vornherein und kennzeichnet ihre Erscheinung im Kontext der ganzen Erzählung. Dieser Negationssog steigert sich sogar im Verlauf der Erzählung. In dem Maße, in dem sie Forderungen an den Erzähler richtet, eine Reise mit ihm machen will, von einem gemeinsamen Leben an seiner Seite träumt und damit zunehmend lästig für ihn wird, erscheint sie als "lebloses, arrangiertes Bild" (S. 67) auch immer negativer in seiner Beleuchtung bis hin zu jener späten Begegnung, als sie, bereits von Krebs verwüstet, brustamputiert und vom Tode gezeichnet, den Erzähler endgültig als körperliches Wrack abstößt: "Ich will nicht sagen, daß mich der Schrecken sofort erfaßte. [...] Sie war dick geworden. Das Gesicht, aufgedunsen und bleich, war mir zugewandt, schien mich aber noch immer zu suchen durch irgend etwas hindurch, das für sie zwischen uns war." (S. 121) Bezogen auf die Person der Isa, liegt das wesentliche künstlerische Plus ihrer Darstellung in «Glücksucher» nicht nur darin, daß diese endgültige Demütigung ihrer Person durch die Katastrophe der Krankheit ausgespart bleibt 4 2 und daß der sich wieder mit seiner Frau arrangierende Odenthal nicht der in jeder Beziehung Siegreiche und Überlebende ist, sondern daß die Kamera die Voreingenommenheit der Erzählerperspektive korrigiert und damit jene epische Gerechtigkeit verwirklicht, die ihr der Erzähler vorenthält. In «Glücksucher» ist sie in jeder Beziehung Odenthal gleichwertig, und ihre Anziehungskraft und die Gefahr, die mit ihr für Odenthal verbunden sind, werden dadurch um so glaubwürdiger. Und auch das Ende wird widersprüchlicher, offener und entlarvt Odenthals Arrangement an der Seite seiner Frau als Scheinharmonie. Die Versöhnungsfeier mit dem befreundeten Ehepaar Georg und Monika scheitert in doppelter Hinsicht. Die Krise, die Odenthal und seine Frau glauben gerade bewältigt zu haben, bricht in der Ehe der Freunde offen aus. Der ambivalente Witz, mit dem Odenthals Krisenbewältigung am Ende charakterisiert wird, deutet auf Lebensverweigerung, Erstarrung, auf Abwehr und pure Fassadenbereinigung hin: "Das baltische Fräulein wird gefragt: 'Freilein, warum tanzen Se nech?' [...] Sagt sie: 'Tanz ich nech, schwitz ich nech, stink ich nech.'" (S. 142) Sicherlich muß der Erzählung als künstlerische Absicht konzidiert werden, die Ereignisse nicht von außen berichten zu wollen, sondern aus dem Bewußtseinshorizont
Wellershoff hat in «Für das Fernsehen schreiben» (Anm. 30) folgende Begründung dafür gegeben: "Nach der Publikation der Erzählung ist Krebs und Brustkrebs zu einem Thema der Illustriertenpresse geworden durch Hildegard Knef und Betty Ford. Deshalb wollte ich das Motiv nicht mehr." (S. 330)
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der männlichen Mittelpunktsfigur, deren Krisenerfahrung in allen Symptomen und Erlebnissplittern abgetastet wird. Von daher ist es sicherlich formal konsequent, wenn sich die Erzählung nicht an die Chronologie der Ereignisse hält, sondern in den dargestellten Erinnerungs- und Erfahrungsschüben zwischen den verschiedenen Zeitebenen hin- und herspringt und die Erzählstruktur so komplex vernetzt, daß sie in gewisser Weise zur Bewußtseinsstruktur des Erzählers wird. Das hat durchaus seine Plausibilität, wie auch die Zentrierung aller Ereignisse auf ein Schlüsselereignis hin plausibel wirkt, das, so etwa wie der Rahmen der Erzählung, die einzelnen Elemente miteinander verbindet: die Scheidungsparty, zu der Isa Odenthal und seine Frau einlädt und in deren Verlauf sie jenes Gedicht von der Freiheit vorträgt, das ihre Sehnsüchte nach einem neuen Leben, nach einem Stück verwirklichter Utopie im Privaten ausdrückt. Die Erzählung setzt ein mit den Vorbereitungen des Ehepaars Odenthal zum Besuch dieser Party, und die Darstellung der Geschehnisse auf dieser Party, die Demonstration des sozialen Umfeldes, zu dem Isa durch ihren Mann gehört, ihr Versuch, Odenthal zur gemeinsamen Reise zu überreden, die sichtbaren Spannungen, die zwischen Seibold und Isa einerseits und Odenthal und seiner Frau andererseits hervortreten, lassen diese Party als Hauptereignis in den Mittelpunkt der Erzählung rükken. Es ist wiederum bezeichnend, wie diese von dem Erzähler dominierte Darstellungsperspektive die Wirklichkeit subjektiv aussortiert und er das berichtet, was ihm selbst wichtig ist. So erscheint Isas Gedicht von der Freiheit nicht als Text, sondern nur im von unterdrücktem Ekel bestimmten Kommentar des Erzählers: "Sofort erstarb alles in einer allgemeinen Lähmung. Ich hatte den Eindruck, daß manche mit dem Kauen aufhörten und mit dem Mund voller Speisebrei hinüberstarrten. Sie begann über ihr Manuskript gebeugt zu lesen. [...] die gespannte und tote Stimme, die ein unsägliches Gedicht über die Freiheit vortrug, cfie Freiheit, in die wir alle einstimmen müssen, die Freiheit, die Mut braucht, die Freiheit wie ein Gesang, ich weiß nicht mehr, was sich da aneinanderreihte an unwidersprechbaren Allgemeinheiten [...]." (S. 111) Der Erzähler vernichtet ihr Gedicht, ohne dem Leser die Möglichkeit zu geben, die Gründe für diese Vernichtung nachzuvollziehen. Aber noch entlarvender ist, daß er selbst, von Isa um einen Kommentar zu diesem Text gebeten, sich mit einem geistreichen Spruch aus der Affäre zieht, der seine wahre Einstellung hinter Phrasen versteckt, die von den Anwesenden zugleich als kompetentes Urteil eines Literaturprofis beklatscht werden: "Sie haben ein Gedicht geschrieben, das einen Vorsprung vor der Wirklichkeit hat. Und das scheint mir das große Problem des Gedichtes zu sein. Es kann an einigen Stellen nicht konkret werden. Aber in Wirklichkeit ist das unser Problem. Und diesen Abstand, unser Zurückbleiben, das haben Sie deutlich gemacht. Und deshalb ist es gut, daß Sie das Gedicht geschrieben haben." (S. 112) Was der Erzähler äußert, ist eine pure Wortgirlande, nichtssagend und obendrein heuchlerisch. Nun wäre es zwar möglich daraus zu schließen, hier sei indirekte Selbstkritik im Spiel, hier entlarve sich der Erzähler gleichsam selbst. Aber nicht nur die Tatsache, daß Isa "glücklich" (S. 113) über seinen Kommentar ist und der Erzäh-
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ler durchaus geschmeichelt die Komplimente anderer Anwesender darüber akzeptiert, relativiert eine solche auf Selbstkritik verweisende Lesart, sie wäre zudem erst dann überzeugend, wenn sich im Text eine Differenz zwischen der Perspektive Odenthals und der Erzählperspektive abzeichnen würde. Das Fehlen einer solchen Differenz bedeutet auch das Fehlen eines epischen Spielraums für behutsam distanzierende Kritik. Wenn von einer Selbstkritik Odenthals gesprochen werden kann, dann nicht im Sinne einer epischen Darstellungsstrategie, sondern einer unfreiwilligen Selbstentlarvung. In «Glücksucher» hat Wellershoff interessanterweise diese Szene des Gedichtvortrags ausgespart. Eine Reihe von Hinweisen, die sich aus punktuellen Vergleichen zwischen erzählerischen Spiegelungstexten und Fernsehspiel ergeben, hat bereits darauf aufmerksam gemacht, daß die Variation und Weiterführung dieses Stoff- und Themenkomplexes der beiden Erzählungen in «Glücksucher» nicht mit ästhetischen Einbußen verbunden ist, sondern mit einem ästhetischen Zugewinn. Das läßt sich durch zusätzliche Belege vervollständigen und abrunden. Der objektivierende Darstellungsgestus, den die Form des Fernsehspiels dem Autor in gewisser Weise gattungsimmanent abverlangt, führt keineswegs zu einer Vergröberung der dargestellten Wirklichkeitsausschnitte, sondern nur zu einer Zurückdrängung ihrer subjektiv gesteuerten Fragmentierung. Das, was Wellershoff auf dem Hintergrund seiner Arbeitserfahrung für das Medium Fernsehen als Bausteine zu einer Theorie der Adaption entwickelt hat, läßt sich auch hier in seiner Relevanz erkennen: die Einhaltung konziser Zeitabläufe innerhalb von Geschehenssequenzen und die kausale Verkoppelung solcher Geschehenssequenzen, die Verlagerung von Erfahrungen und Empfindungen in Dialoge und szenisches Geschehen, die Einbringung von sozialer Umgebung und realistischem Umfeld der Personen, die Verdeutlichung von Erfahrungsprozessen an den Handlungs- und Reaktionsweisen der Protagonisten. Vieles von dem, was nur verkürzt und assoziativ im «Gedicht von der Freiheit» angedeutet ist, wird nun in «Glücksucher» kontinuierlich entwickelt. Der Schriftsteller Odenthal bleibt nach wie vor die Mittelpunktsfigur des Geschehens, und von daher nimmt er im Ensemble der anderen Figuren eine herausragende Stellung ein, aber das präsentierte Bild der Wirklichkeit schrumpft nicht mehr auf seinen subjektivistischen Ausschnitt zusammen, und die anderen Personen fungieren nicht mehr als Reflexpersonen seines Ichs, sondern agieren in der abgebildeten Wirklichkeit mit eigener Kompetenz. Das gilt vor allem für Isa. Doch auch die Krisenerfahrung Odenthals wird bedeutsam erweitert. Es ist nicht nur die Krise der Lebensmitte, sondern auch eine Krise seiner schriftstellerischen Identität, der Rolle, die er im Literaturbetrieb spielt, und der Bedeutung, die er der Literatur beimißt. Das ist eine ganz entscheidende Erweiterung, die das privatistische Krisenumfeld der Kommunikationsprobleme in seiner Ehe auf seine beruflichen Kommunikationsprobleme hin erweitert. Die auch in der Erzählung angedeutete Lesung, nach der Odenthal Isa kennenlernt,
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wird nun in einem eigenen Handlungssegment vorgeführt, wobei zugleich in nuce ein Porträt des Literaturbetriebs der frühen siebziger Jahre geliefert wird mit einem auf Spontaneität und geschickte Anbiederung beim Publikum eingestellten jungen Schriftsteller-Kollegen, der Odenthal bei der Lesung in jeder Beziehung die Schau stiehlt und als konservativen bürgerlichen Schriftsteller erscheinen läßt. Odenthal, der kurz vorher im Hotelzimmer seiner Frau telefonisch klarzumachen versuchte, daß er einige Zeit allein leben muß, um wieder zu sich zu kommen, erscheint dann auch im ersten Teil von «Glücksucher» viel stärker von seiner schriftstellerischen Krise bestimmt als von der Kommunikationsschwierigkeit in seiner Ehe oder anders gesagt: Seine Kommunikationsunfähigkeit in menschlichen Beziehungen wird wesentlich mitverursacht durch das Gefühl der Sinnlosigkeit bei seiner schriftstellerischen Arbeit: "Es ist die Frage, mit welcher Berechtigung man schreibt. Je mehr Gründe wir finden, um so weniger können wir daran glauben. Das ist wie mit dem Leben. Entweder es versteht sich von selbst, oder es bleibt völlig unbegreiflich."43 Die Bildsequenzen, wo Odenthal in seinem Dachzimmer vor der Schreibmaschine sitzt und jedes mit einigen wenigen Zeilen beschriebene Blatt wegwirft, vertiefen diese mentale und existentielle Schreibhemmung eindringlicher als jeder Selbstkommentar. Das gilt auch für jene Szene mit Isa in seinem Dachzimmer, als er ihr beschreibt, was sie sieht, wenn sie aus dem Dachfenster blickt, und was in der trostlosen dinglichen Erstarrung, in der die alte Frau wie zu einem Gegenstand unter anderen Gegenständen geworden ist, die Erstarrung seines eigenen inneren Zustandes hervortreten läßt: "Soll ich Ihnen beschreiben, was Sie sehen? Eine Hauswand, eine schwärzliche Ziegelmauer mit tief ausgebröckelten Zementfugen und in jedem Stockwerk drei rechteckige Fenster. Schmutziges erblindetes Fensterglas und Gardinen aus vergilbtem Tüll, fast alle zugezogen in starren Falten. Im Fenster gegenüber steht eine blaue Majolikavase mit goldenem Rand, wie man sie bei Verlosungen gewinnen kann. Eine bauchige Vase. Sie ist leer. Im Fenster darunter einige Töpfer mit Blattpflanzen und Kakteen. Dort sitzt manchmal eine alte Frau." (S. 102/3) Das ist ganz konkret dinglich beschrieben, nirgendwo mit symbolischem Doppelsinn befrachtet und ist doch die Beschreibung eines sinnlosen Ensembles von Dingen, ein erstarrtes Tableau von toten Gegenständen und damit indirekt Odenthals Beschreibung von seiner Erfahrung von Wirklichkeit. Dieser Krisenzustand Odenthals wird auch dadurch verständlicher und glaubwürdiger gemacht, daß er in der Haltung des Freundes Georg Liebenzell, eines erfolgreichen Rundfunkredakteurs gespiegelt wird, der mit einer ironischen Überlegenheitsattitüde alle Probleme überspielt und damit im Kontrast den Intellektuellen verkörpert, der sein Ich im hektischen Kulturbetrieb längst eingebüßt hat und mit seinen krampfhaft witzigen Sprüchen nur noch eine Fassade aufrechterhält. Wenn Georg vor der Hier und im folgenden nach dem Drehbuch von «Glücksucher» (Anm. 15) zitiert, S. 100.
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Fernsehdiskussion mit dem Kritiker Alberts beim Schminken der Diskussionspartner äußert: "Dabei ist Charakter nur eine erstarrte Verwüstung." (S. 106), so ist auch das eine Beschreibung, die mittelbar auf seinen eigenen Zustand zielt. Ebenso wichtig sind die zusätzlichen Konturierungen, die der Person Isas zuteil werden. Sie löst sich hier aus dem perspektivischen Diktat des Erzählers im «Gedicht von der Freiheit», gewinnt in den verschiedenen Gesprächen mit Odenthal nun auch die intellektuelle Kompetenz einer Partnerin und wird damit als Bedrohung und Verlockung für Odenthal, den die Angst vor einer ungewissen Zukunft wieder in die Konvention seiner Ehe zurücktreibt, auf ganz neue Weise glaubwürdig. Und selbst da, wo sie während des Picknicks am Waldrand - eine Szene, die bezeichnenderweise die Gesellschaft hinter sich gelassen hat und einen naturgeschichtlich utopischen Akzent trägt - den Traum von einem gemeinsamen Leben mit Odenthal in einem alten Bauernhaus entwickelt: "Oh, du schreibst wunderbare poetische Bücher, denn du hast das Leben entdeckt und deine Einstellung zu allem hat sich geändert. Ich werde für dich kochen, deine Korrespondenz führen und Übersetzungen machen." (S. 111), ist sie nicht nur sentimentales Närrchen, sondern in der daran anschließenden Szene, wo beide, barfuß im Bach watend, im kindlichen Spiel das Wasser stauen, beide tätig werden und in einem gegenzivilisatorischen Bereich das gewünschte Leben spielerisch vorwegnehmen, zeigt sich, daß diese Möglichkeit nicht nur billiger Wunschtraum ist, sondern realisierbar sein könnte, wenn Odenthal den Mut dazu fände. Die Flucht Odenthals vor der Bitte Isas, mit ihr zusammen zu verreisen, ist ein Zeichen seiner Schwäche. Seine Versuche, bei den Dünenspaziergängen im Angesicht der winterlichen Nordsee, sein Inneres auszusprechen, sein gestörtes Ich gleichsam schriftstellerisch auszubeuten und seine Monologe mit einem mitgeführten Kassettengerät aufzuzeichnen, rücken ihn in die Nähe der Lächerlichkeit. Diese kritische Distanz ist nirgendwo im Erzähltext zu finden, wo die perspektivische Dominanz des Erzählers dergleichen
ausschließt.
Diese
Schwäche
Odenthals
zeigt
sich
in
«Glücksucher» noch verstärkt angesichts der Entschlossenheit Isas, ihn nicht einfach aufzugeben. Sie reist ihm gegen seinen Willen nach, und sie verbringen jene gemeinsame Zeit am Meer, die der Erzähler in «Doppelt belichtetes Seestück» an der Seite von Α erlebt. Isa ist in dieser Situation auch die moralisch Überlegene, wenn sie während der Auseinandersetzung mit Odenthal in den Dünen äußert: "Geh nicht immer weiter wie ein Uhrwerk, als ob alles schon entschieden wäre! [Sie hält ihn fest.] Ich habe alle meine Kraft gebraucht, um zu dir zu kommen, weil ich weiß, daß wir eine Chance haben." (S. 135) Odenthal sieht nur "Wilde Phantasien und Umarmungen wie beim Ertrinken." (S. 136). Er verweigert sich ihr mit dem entlarvenden Satz:
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"Mein Gott, ich will Ruhe, ich will wieder arbeiten, davon hängt mein Leben ab!" (S. 136) und vermag dennoch nicht Isas Gegenargument zu entkräften: "Hast du keine Angst zu erstarren? Wie willst du schreiben, wenn du dich immer weiter zurückziehst vom Leben?" (S. 136) Odenthals Blick auf den gleichförmigen monotonen Sandstrand, der vor ihm liegt und den er auf die Zukunftserwartung seines Lebens bezieht, ist ein Eingeständnis seiner mentalen Selbstaufgabe und seiner Niederlage vor Isa: "Ich überschaue mein Leben bis zum Ende hin. Es ist wie dieser Strand da. Und das beruhigt mich." (S. 136) Die Rückkehr in seine Ehe und das Versöhnungsritual mit seiner Frau besiegeln diese Selbstaufgabe ebenso, wie die zwischen dem befreundeten Ehepaar Siebold aufbrechende Krise demonstriert, daß alles nur Schein ist, ein Abkommen der Verdrängung und Erfahrungsverweigerung, das letztlich auch die künftige schriftstellerische Arbeit Odenthals als pure Schreibroutine in Zweifel zieht. Wellershoffs Fernsehspiel «Glücksucher» im Kontext der beiden erzählerischen Spiegelungstexte betrachtet, führt also zu dem bemerkenswerten Ergebnis, daß durch formale Differenzierung und dramaturgische Präzisierung die thematisierte Lebenskrise im Fernsehspiel künstlerisch viel reichhaltiger instrumentiert und überzeugender umgesetzt worden ist als in den beiden Erzähltexten. Die Lücken und strukturellen Ambiguitäten der literarischen Fassung werden in der ästhetischen Struktur des Fernsehspiels plausibilisiert. Der Kritiker Michael Schwarze 44 hat mit guten Gründen ausgeführt: "Fraglos ein herausragendes Fernsehspiel. Warum? Weil das Milieu sehr authentisch gezeichnet wurde, weil strikt auf den moralisierenden Gestus verzichtet worden ist. Die Figuren sind nicht gut und sie sind nicht böse, Täter und Opfer werden ernst genommen und nicht ausgestellt. Sie verfehlen das Glück [...], doch der Zuschauer kann sich kaum mit dem Gefühl trösten, das alles gehe ihn nichts an, hier werde nicht auch sein Leben verhandelt, er ist betroffen. Betroffenheit ist freilich das, was wir vor dem Fernsehschirm höchst selten empfinden."
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«Wellershoff, 'Zukunft und Tod'», in: «FAZ» v. 10.2.1977.
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Dokumentation und aufklärerische Wirkung: Gespräch mit Heinar Kipphardt
Frühe Affinität zwischen Theater- und Fernseharbeit D: Herr Kipphardt, als Theaterautor sind Sie eigentlich im Rahmen einer bestimmten Entwicklung des modernen deutschen Dramas berühmt geworden, die man mit dem Etikett 'das dokumentarische Theater' bezeichnet. In diesem Kontext ist es besonders Ihr Stück «In der Sache J. Robert Oppenheimer» gewesen, das Sie berühmt gemacht hat. Interessant ist nun, daß dieses Stück ganz streng genommen zuerst als Fernsehspiel Premiere gehabt hat, und zwar, wenn ich mich recht entsinne, im Januar 1964. Von daher könnte man annehmen, daß bei Ihnen schon von Anfang an eine starke Affinität zwischen Ihrer Theaterarbeit und dem Fernsehen vorgelegen hat, eine Affinität, die dann in der Arbeit an dem Fernsehfilm über Alexander März kulminierte. So stellt es sich zumindest aus der Außenperspektive dar. Wie aber sieht das aus Ihrer Perspektive aus? War diese Affinität tatsächlich bereits Mitte der 60er Jahre bei Ihnen vorhanden? K: Eigentlich sind diese beiden Sachen ganz verschieden. Daß «Oppenheimer» zuerst als Fernsehspiel gesendet wurde, war eher zufällig. Ich hatte das Stück von Anfang an als Theaterstück konzipiert, aber ich hatte damals nicht genügend Geld, um die lange Arbeit am Stoff zu finanzieren. Das Fernsehen hat mir dann die Zeit finanziert, aber es war für mich immer klar, daß «Oppenheimer» ein Theaterstück ist. Es erwies sich dann, was ich zunächst einmal auch noch nicht wußte, daß sich der Stoff auch gut mit filmischen Mitteln erzählen ließ. Bei «März» war der Ansatz ein ganz anderer. Da hatte ich Lust zur Fernseharbeit. Nach einer langen Zeit als Theaterautor hatte ich gegen das Theater eine gewisse Abneigung entwickelt und Abstand zu ihm gewonnen, und ich dachte, daß man den Stoffumkreis von «März», an dem ich lange gearbeitet hatte, im Film erzählen könnte. Der Ansatz um den Fernsehfilm «März» ist also ein filmischer Ansatz. Es war eine gewisse Täuschung, denn ich glaubte, im Film sehr viel mehr unterbringen zu können, als dann tatsächlich hineinpaßte. Ich merkte das dann erst unter der Arbeit, doch halte ich den Film dennoch für gelungen. Ich habe von Anfang an mit dem Regisseur zusammengearbeitet, und wir haben auch zusammen gedreht. Viele Aspekte des Stoffes ließen sich filmisch einfach nicht erzählen. Der Film hat ja zum Beispiel generell nur bedingte Möglichkeiten zur Reflexion, und so wurde mir also während der Filmarbeit klar, daß ich aus
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dem Stoff auch noch einen Prosatext machen würde. Ich wählte dann halt die Romanform. Das sogenannte 'Dokumentarische' D: Ich möchte noch etwas genauer auf das «Oppenheimer»-Stück eingehen. Durch die Fernsehrealisierung ist der «Oppenheimer» indirekt mit zu einem auslösenden Faktor für eine ganze Welle von dokumentarischen Stücken im Fernsehen geworden. Der Durchbruch des dokumentarischen Theaters vollzog sich ja nicht allein auf der Bühne, sondern beinahe gleichzeitig auch auf dem Bildschirm. Aus diesem Kontext heraus könnte man argumentieren, daß Sie in dem «Oppenheimer»-Stück bereits bestimmte mediale Ausdrucksformen verwirklicht haben, die auf die Bühne und auf den Bildschirm zielen. Andererseits aber scheint doch der «Oppenheimer» dadurch charakterisiert, daß der Diskurs überwiegt, daß die Sprache argumentativ sehr stark eingesetzt wird und das bildliche Element sehr stark zurückgedrängt ist. K: Das mag so sein. Aber vielleicht sind Autoren nicht so sehr geeignet, bestimmte ästhetische Prinzipien aus ihren Stücken abzuleiten. Die im «Oppenheimer» gewählte Form, die Prozeßform, die Form des Hearings ist für mich eine sehr offene Theaterform, die es erlaubt, sehr verschiedene Standpunkte und Betrachtungsweisen an einen Ort zu bringen. Es ist so etwas wie eine Naturform von epischem Theater, wenn man es in verkürzter Rede bezeichnen wollte. Die Termini 'dokumentarisches Drama' oder 'dokumentarisches Theater' habe ich nicht gewählt, und keiner der Leute, die unmittelbar damals etwas mit dieser Literatur zu tun hatten, hat davon gesprochen. Ich habe später oft über diese Bezeichnungen nachgedacht, und ich glaube, ich bin dabei auf einen großen Irrtum der Germanistik gestoßen. Alle Literatur hat ja einen Umgang mit Tatsächlichem, nämlich entweder mit dem Tatsächlichen des eigenen Lebens, über Erzählungen, Lektüre und Beobachtung mit dem fremdem Leben oder mit dem Tatsächlichen, daß sich in journalistischer oder wissenschaftlicher Manier aus dem Studium von bestimmten Quellen ergibt. Diese letzte Weise des Umgangs mit Tatsächlichem kann als Vorarbeit zu einem Stück oder zu einem Prosatext betrachtet werden. Ist aber diese Vorarbeit abgeschlossen, dann bewegt man sich selbstverständlich frei im Stoff, und die Subjektivität des Autors kommt in eben der Weise zum Tragen wie bei anderen literarischen Arbeiten. Es ist daher ein Irrtum zu glauben, daß etwa ein Stück, das von realen historischen Ereignissen handelt, mit der Schere herzustellen wäre. D: Da haben Sie völlig recht. Diese Legitimierung des dokumentarischen Theaters als genuines Kunstprodukt ist völlig akzeptabel. Und ich denke, daß die Bezeichnung 'dokumentarisches Theater' auch nicht mehr sein kann als eine Trendmarkierung in Hinblick auf die damalige Entfaltung eines bestimmten Musters von Bühnenstück. Ein großer Naturalist wie Emile Zola hat ja bereits ähnlich mit authentischen Fakten
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gearbeitet - Büchner auch und man kann sagen, daß Vorgehensweisen wie die der 'Dokumentaristen' ursprünglich zur schriftstellerischen Arbeit gehören. Es kommt immer nur auf die Gewichtung der Momente an, auf die Frage, ob das Dokumentarisch-Authentische oder die Phantasie stärker gewichtet ist. Es ergeben sich Verlagerungen, und das allein macht den Unterschied. K: Ja, da stimme ich Ihnen zu. Ich glaube zudem, daß die Literaturentwicklung und die Etikettierung von Literatur auch etwas mit der Gewichtung unserer verschiedenen alltäglichen Wahrnehmungsweisen zu tun haben. Jede Ästhetik, aus welchem Gebiet auch immer, steht ja mit sozialen, politischen und ökonomischen Veränderungen in ihrer Zeit in einem engen Zusammenhang. Alle Wirklichkeiten und Bewegungen einer Zeit spielen hier eine große Rolle. Unsere Zeit hat beispielsweise einen unübersehbaren Zug zum Dokumentarischen und zum sachlich Nachprüfbaren. Diese Tendenz können Sie unter anderem auch in vielen Periodika und Zeitschriften ausmachen. In unserer Zeit spielt das Foto, das heißt eine Art von Oberflächendokument, eine viel größere Rolle als in früheren Zeiten. Und da ist es für mich eine beinahe logische Folge, daß ein Typus von historischem Drama entstanden ist, der näher am Faktischen und Authentischen unserer Zeit ist. Das ist es doch zunächst einmal, was wir heute wahrnehmen. Wir sind doch heute alle einer Fülle von Informationen ausgesetzt, und unsere Wahrnehmung richtet sich auf diese Informationen. Für die meisten Leute ist diese Fülle an Informationen sogar unüberschaubar. Je mehr Informationen sie bekommen, um so deutlicher haben sie das Gefühl, die wirklichen Vorgänge nicht mehr beurteilen zu können. Es entsteht ein Agnostizismus aus einem Übermaß an Oberflächeninformation, und darin sehe ich den Grundwiderspruch unserer heutigen Wahrnehmungsweisen. Dieses Übermaß an Oberflächeninformation bewirkt ja, daß die Kausalitäten der Vorgänge mystifiziert und verschleiert werden. Hier ist eine neue Art von Machtausübung zu beobachten. Den Leuten wird das Gefühl vermittelt, über diesen merkwürdigen Kasten Fernsehen alles über die Welt ins Haus zu bekommen. Sie glauben sich an ein Informationsnetz angeschlossen und bekommen doch nur die unwichtigen Nachrichten über die Vorgänge in der Welt. Die wichtigen Dinge werden doch zugunsten der unwichtigen ausgefiltert. Dieser Kasten hat also in Wirklichkeit sehr viel mit der Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen zu tun, und das gilt für unser Land wie für alle anderen Länder. Medien und Aufklärung D: Diese Wendung in ihrer Argumentation überrascht mich jetzt aber doch. Als ich dem ersten Teil Ihrer Ausführungen zuhörte, hätte ich fast die Folgerung gewagt, daß Sie dem Fernsehen eine aufklärerische Funktion zuschreiben. Ich hätte gedacht, für Sie könnte das Fernsehen in Zusammenhänge einführen, die in einem mit traditio-
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nellen fiktionalen Mitteln arbeitenden Theater nicht mehr darstellbar sind. Und ich habe auch daran gedacht, daß Sie noch vor wenigen Jahren geäußert haben, das Theater sei Ihnen eigentlich sehr fremd geworden: Die erzählende Prosa und der Film seien nun mediale Formen, die eine höhere Aktualität hätten. Haben Sie jetzt nicht zum Schluß Ihrer Ausführungen eine Kehrtwendung gegen das Fernsehen und gegen den Film gemacht? K: Nein, nein, keine Kehrtwendung. Ich bin ein großer Freund der neuen Medien, und wir Schriftsteller können mit ihnen umgehen oder lernen, mit ihnen umzugehen. Wir müssen unsere Weisen des Umgangs erlernen. Ich sehe das in einem Zusammenhang, und ich begrüße ausdrücklich die reichen Informationen. Sie bringen große Vorteile. Aber ich verachte die Manipulation, die Verhinderung des Versuchs, zu Ursächlichkeiten vorzustoßen. Hören Sie sich nur einmal den Sprachsalat an, den die Kommentatoren ununterbrochen von sich geben. Da wird immer vermieden, zu Ursächlichkeiten vorzustoßen, und das deshalb, weil sie sonst ganz schnell ihren Job verlieren. Im Unterschied dazu versuchen ernsthafte Produkte, die mit Faktischem umgehen, auch zu Kausalitäten vorzustoßen. Sie wollen die Oberflächeninformation überschreiten und das Wie und Warum zeigen. In diesem Zusammenhang zitiere ich gerne einen engen Freund, der schon vor langer Zeit verstorben ist und der viel mit dem Montieren zu tun hatte, nämlich John Heartfield, der mir einmal sagte: "Weißt Du, wir haben ja eigentlich die Fotomontage gemacht, weil das Foto so sehr lügt". Das Foto gebe bloß den Augenblick und täusche so eine riesenhafte Genauigkeit vor. Über die Zusammenhänge lasse es nichts vermuten, und die könne es auch nicht bringen. Die Zusammenhänge müsse 'man' erbringen. D: Ja, sicher, aber ich würde auch sagen, daß die Informationsvermittlung in einem traditionellen Print-Medium wie der Tageszeitung auch nicht umfassend ist und eigentlich auch auf dem gleichen Niveau der Oberflächeninformation stehen bleibt. K: Wir müssen aber nicht da stehen bleiben! D: Selbstverständlich nicht! Und es gibt ja auch Entwicklungen im Fernsehen, die über diesen unbefriedigenden status quo hinausgehen. Ich denke an die «60 minutes» von CBS im amerikanischen Fernsehen, ein Nachrichtenmagazin, in dem pro Sendung etwa drei hochbrisante und politisch aktuelle Themen eingehend und tief behandelt werden. Diese «60 minutes» wären im deutschen Fernsehen undenkbar, und das nicht zuletzt wegen der bürokratischen Arbeitsweise des deutschen Fernsehens. Aber diese bürokratische Arbeitsweise finden sie bei uns eben auch in den meisten Print-Medien, selbst bei einem Journal wie dem «Spiegel», der sich doch immer als ein Magazin zu präsentieren versucht, das Hintergründe aufdeckt oder aufhellt. K: Ganz entscheidend ist aber doch, in wessen Händen sich die Medien eigentlich befinden. Wie der Herr, so das Gescherr. Auf jeden Fall strömen in die Medien immer die Leute, die denen passen, die das Sagen haben. Die Zeitungen oder das Fern-
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sehen sind so gut wie die angepaßten oder nicht angepaßten Köpfe in ihnen. Da aber die Zeitungen und das Fernsehen die Tendenz haben, nur Leute ohne Ecken überleben zu lassen, kommt es zu dieser enormen, unerträglichen Konformität und zu diesem Meinungsbrei in unseren Medien. Wenn ich in diesen Medien etwas mache, dann verstehe ich das als Ergänzung oder als Kontrast. Ich sage nicht, daß mir die Ergänzung oder der Kontrast immer gelingt, aber ich versuche immer, so zu arbeiten. Arbeitserfahrungen mit dem Medium Fernsehen D: Das ist ein sehr weitläufiges Thema, das wir nun angeschnitten haben. Ich schlage vor, wir brechen hier ab und kommen noch einmal auf Detailfragen zu sprechen. Wie war das damals bei der Fernsehinszenierung des «Oppenheimer»-Stücks? Haben sich damals für Sie bestimmte Arbeitserfahrungen mit dem Medium Fernsehen ergeben, oder haben Sie nur ein fertiges Manuskript an die zuständigen Redakteure übergeben und denen ohne eigene Einflußnahme die Fernsehrealisierung überlassen? Hat Sie die eigentliche Fernsehrealisierung überhaupt interessiert? K: Bei «Oppenheimer» war es so, daß ich mit den Leuten einen Vertrag gemacht habe und ihnen später dann ein fertiges Manuskript vorgelegt habe. Das wurde dann gedreht, und dabei hatte ich nur einen geringen, einen beratenden Einfluß. Ich wurde zum Beispiel zu bestimmten Kürzungen oder Besetzungen gefragt, und ich habe auch einmal einen Tag lang mit den Schauspielern geredet. Aber ansonsten habe ich mit der Produktion wenig zu tun gehabt. Bei «März» aber war es beispielsweise grundlegend anders. Ich hatte den Stoff von vornherein filmisch konzipiert, und ich hatte mit einer Anzahl von anderen Filmen auch mittlerweile die Erfahrung gemacht, daß es gut ist, wenn man gleich einen starken Einfluß auf den Regisseur und auf die Besetzung hat. Ich habe also dann die Abmachung getroffen, daß ich mir praktisch den Regisseur selbst aussuchen kann, und das war gerade bei «März» eine außerordentlich glückliche Geschichte. Ich entwickelte also auch ein fertiges Buch, und das wurde dann gedreht. D: Darf ich an dieser Stelle mit der Frage einhaken, ob es schon während der Arbeit am Buch eine Zusammenarbeit zwischen Ihnen und dem Regisseur Voitek Jasny gegeben hat? Gab es beispielsweise Anregungen, die aus der technischen Arbeitserfahrung des Regisseurs abgeleitet waren, und die Sie dann in der Herstellung des Buches umgesetzt haben? K: Naja, wir versuchten sicherlich, voneinander zu lernen. Ich muß in diesem Zusammenhang auch den Kameramann, Igor Luther, erwähnen. Wir drei haben eigentlich jeden Abend den nächsten Tag vorbereitet und genau besprochen, was wir machen wollten und wie wir es machen wollten. Am nächsten Tag haben wir dann zusammen gedreht. Jasny als Regisseur hatte ich selbst vorgeschlagen. Ich hatte einen
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Film von ihm gesehen, den es nur in der tschechischen Version gab und der in deutschen Kinos gar nicht lief. «Unsere lieben Landsleute» wäre so etwa der deutsche Titel, und dieser Film hatte mich sehr beeindruckt. Ich habe dann Jasny angesprochen, und wir haben eine Anzahl von Gesprächen geführt. Das Buch zu «März» war aber zu diesem Zeitpunkt bereits fertig, und das ZDF, das heißt, die Redaktion Segler hatte bereits eine Filmfirma mit dem Projekt beauftragt. Und ich muß hier einflechten, daß Segler ein besonders angenehmer Partner ist, nicht nur kundig und anregend, sondern auch sehr hilfsbereit. Er hat mir viele Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt, und so konnte ich in aller Regel die Besetzung wählen, Übereinkünfte treffen und Vorschläge machen. Auf diesem Felde war ich zu damaliger Zeit aufgrund meiner Theatererfahrung auch einfach kundiger als beispielsweise Jasny, der noch nicht so lange in der Bundesrepublik war. D: Die Zusammenarbeit zwischen Ihnen als Autor und den Leuten, die dann die technische Umsetzung versucht haben - also Regisseur, Kameramann, Schauspieler -, scheint ja wirklich sehr intensiv gewesen zu sein. K: Es ist zu wenig, wenn Sie bloß von technischer Umsetzung sprechen. Damit tun Sie den Produktionsleuten unrecht. Ich habe auch außerordentlich viel von Jasny gelernt, und auch bei Luther gab es viel zu lernen. Wir haben unsere gemeinsame Arbeit ja dann auch später bei zwei weiteren Projekten fortgesetzt. Ich habe also von den beiden sehr viel beispielsweise über das ganz andere Herstellen von Räumen gelernt. Zwischen dem Raum im Film und dem auf dem Theater - also, da liegt schon einiges dazwischen. Wichtig in so einer Situation ist aber auch, daß man eine Antenne für den anderen hat. Und es ist gar nicht so leicht, sich so intensiv miteinander einzurichten, wenn man sich noch nicht sehr lange kennt. D: Daß diese intensive Zusammenarbeit wirklich funktioniert hat, sieht man ja nicht zuletzt an der außerordentlichen Qualität dieses Ferasehspiels. Es hat hervorragende Kritiken bekommen und ist mit einem sehr renommierten italienischen Fernsehpreis ausgezeichnet worden. In der noch relativ jungen Geschichte von deutschen Fernsehspielen gilt es allgemein als einer der Höhepunkte. Zu dieser glückhaften Leistung hat sicherlich auch diese intensive Zusammenarbeit, von der Sie sprachen, entscheidend beigetragen. Und es war sicherlich wichtig, daß Jasny und Luther mehr hinzugefügt haben als nur die Handhabung von technischen Materialien. K: Ja, ganz und gar. Man muß auf diesen Stand der Zusammenarbeit kommen, um sich gegenseitig beflügeln zu können. Jasny und Luther haben nicht nur technisch gearbeitet, sie haben mit mir die Lust am Stoff und an der Frage entwickelt, wie dieser Stoff entfaltet werden kann. Sie waren voll dabei. Selbstverständlich treten dann auch und immer noch in der Produktion bestimmte Zwischenfälle auf, und man muß beispielsweise eine Szene verlegen. Ich erinnere mich unter anderem an eine Darstellerin, die sehr gut war und auf die wir nicht verzichten wollten. Sie spielte die Hanna,
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hatte dann aber einen Unfall und mußte einen Knöchelgips tragen. Die vorgesehene Szene war selbstverständlich in der Weise nun nicht mehr möglich, und wir mußten eine andere Szene entwickeln, eine Szene, in der sie nicht wie ursprünglich beabsichtigt einen Spaziergang machen mußte. Wir konnten sie ja nicht mehr gehend zeigen. Es gibt also bei solchen Produktionen häufig Dinge, die umgedacht werden müssen. Ich erinnere mich jedenfalls sehr gerne an die Arbeit an «März». Wichtig ist aber auch, und das möchte ich ganz ausdrücklich in diesem Zusammenhang hervorheben, daß ein Autor oder ein Filmmensch oder wer auch immer lebend in seiner Zeit steht: Er muß erlebend und erleidend und an der Zeit verzweifelnd auf die richtigen Stoffe stoßen. Diese Stoffe kann er dann auch umsetzten. Die Stoffwahl ist nicht alles, aber ich halte das Finden eines richtigen Stoffes für eine ästhetische Kategorie. Stoff und Medium: Das Beispiel «März» D: In der Beschreibung der Ausgangssituation Ihrer Arbeit an «März» haben Sie vorhin eine kurze Anmerkung gemacht, die mich überrascht hat. Sie haben gesagt, der Stoff sei von Anfang an filmisch konzipiert gewesen. Nun haben Sie aber diesen Stoff danach noch zweimal aufgegriffen und in traditionelle literarische Formen umgesetzt. Sie haben einen Roman und ein Schauspiel daraus gemacht. Es könnte jetzt der Eindruck entstehen, daß diese Staffelung von Fernsehfilm, Roman und schließlich Schauspiel in Ihrer Vorstellung auch eine stufenartige Rangfolge von literarischen Formen ergibt. Dieser Eindruck wird dadurch bekräftigt, daß Sie im Nachwort zu der Schauspielfassung sinngemäß geschrieben haben, dies sei nun für Sie die endgültigste literarische Ausprägung dieses Stoffes. Steht das nicht in Widerspruch zu der von Ihnen behaupteten ursprünglichen filmischen Konzeption des Stoffes? Offenbar hat sich Ihnen doch diese filmische Konzeption aus dem Stoff heraus aufgedrängt. Und dann wären diese Umarbeitungen, diese Rückgliederungen des Stoffes in die traditionellen literarischen Gattungen doch notwendig mit ästhetischen Einbußen verbunden, mit dem Kappen von Dimensionen, die eben zur filmischen Form dieses Stoffes gehören. Wie stellt sich das aus Ihrer Perspektive dar? K: Ich sagte schon eingangs, daß das Dritte beurteilen müssen. Autoren sind nicht dazu da, ihre eigenen Arbeiten zu bewerten, und manchmal können sie es aus übergroßer Nähe auch gar nicht. Man sieht zwar manches, aber ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich auch zum Generalinterpreten ihrer Arbeiten machen möchten. D: Völlig konzediert. Ich meinte meine Frage auch nur im Sinne von funktionsästhetischen Hinweisen. K: Also gut. Für mich stellt es sich ganz anders dar. Wie gesagt, ich dachte, den «März»-Stoff in einem Film erzählen zu können. Dabei habe ich nicht so sehr an die Größe des Bildschirms gedacht als vielmehr an die Leinwand. Und es war vielleicht auch ein Fehler von uns, nicht von vornherein die Kinoversion ins Auge zu fassen. Als
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ich an den Stoff heranging, hatte ich also diese etwas naive Vorstellung, ich könnte in drei Geschichten erzählen, was Leuten in ihrem Leben zugestoßen ist und in welchem Zusammenhang das zu dem psychischen Zusammenbruch, zu dem Zusammenbruch eines Sozialverhältnisses steht. Ich wollte die Psychose zeigen und erklären. Ich merkte dann sehr schnell, daß man große Mühe hat, auch nur einen Fall darzustellen oder diesen einen auch nur halb. Hanna kommt also vor und auch andere Figuren mit Rudimenten ihrer Biographie - aber ich merkte, daß der Film halt den Stoff nicht so bringen konnte, wie ich ihn sah. Ich war in dieser Form auch erst kurz zuvor auf diesen Stoff gestoßen. Sie wissen, daß mein früherer Beruf der des Psychiaters war. Bisher war ich in meiner Arbeit nie auf diesen früheren Beruf zurückgekommen. Doch plötzlich sah ich in meinem früheren Beruf und in meinem Leben große Dunkelfelder, und das war der Impuls, dieses Feld des psychisch Erkrankten, der Psychose also, ganz neu zu betrachten. Wo fängt es an? Was hat es also mit dem Außenseitertum auf sich? Wie steht es um den Nichtangepaßten in unserer Gesellschaft und wie um die Tabuisierungen, die erfolgen? Ich merkte, daß dieses umfassende Feld im Film nicht zu erschöpfen war. Im Film blieben ungeheuer viele Seiten dieses Stoffes unbeachtet oder mußten unbeachtet bleiben. Sehen Sie, ich würde nie auf den Gedanken kommen, einen bestimmten Stoff einfach in verschiedene Gattungen umzuwandeln und es zu verwerten, auch dann nicht, wenn ich sehr lange an diesem Stoff gearbeitet habe. Wenn das jemand tut, dann ist das sein gutes Recht, und ich würde ihm keinen Vorwurf daraus machen. Mich reizt das aber nicht. Wenn Sie also einmal die verschiedenen «März»-Versionen nebeneinanderstellen und sehen beziehungsweise lesen, dann sehen Sie sehr deutlich, daß der Film beispielsweise ganz andere Absichten verfolgt und ganz andere Dinge erzählt als der Roman. Der Roman ist nicht etwa ein ausgeführtes Drehbuch, sondern ist etwas ganz Eigenständiges. Der Autor als 'Weltzusammensetzer' D: Gar kein Zweifel! Im Roman beispielsweise stellen Sie den authentischen Informationshintergrund der Misere der Psychiatrie in Deutschland durch die Einblendung von Informationsstenogrammen umfassender dar als im Film. Was im Film die vorklinischen Karrieren des Alexander M. genannt wird, kommt im Roman auch deutlicher heraus. Andererseits erscheint aber nirgendwo im Roman der vom traditionellen Gattungstypus her vertraute dominierende Erzähler. Auch im Roman ist durch die Montagestruktur eine 'Bewußtseinssyntax* verwirklicht, die der ähnelt, die sich für den Betrachter der Fernsehrealisierung ergibt. Wenn also zum Beispiel an einer Stelle des Romans steht: "Foto" und dann eine bestimmte Situation, die auf dem Foto dargestellt ist, beschrieben wird und wenn dann durch diese Beschreibung bestimmte Reflexionen ausgelöst werden, dann sind das für mich auch Umsetzungen bestimmter Bildsequenzen, die in der Fernsehfassung erscheinen. Selbstverständlich kann das Fernsehen ein solches Detail viel intensiver ausnutzen: Das Standfoto und
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der Erzähler erscheinen aus dem Off. Aber die strukturellen Übereinstimmungen sind doch unübersehbar. K: Ich befürchte, da irren Sie sich. Vom Wissenschaftlichen her kann man das vielleicht so sehen, aber nach meinem Verständnis als Autor ist das nicht richtig. Ich würde eher sagen, hier kommt vor allem das Verhältnis des Autors in der Betrachtung der Welt zum Ausdruck. Der Autor ist ein Weltzusammensetzer, er ist stets in Nähe zur montierenden Methode, zum antithetischen und also dialektischen Denken. Aus diesem Grunde sind mir die Montageprinzipien in allen Formen der Kunst so nahe, und der Film ist halt auch eine Kunst der Montage. Daraus erklärt sich vielleicht auch, daß ich niemals große ästhetische Schwierigkeiten mit Medien hatte. Ich habe mich beispielsweise niemals plagen müssen, filmisch zu denken oder etwas in das Filmische zu übersetzen. Dieser Tage habe ich zum Beispiel eine Arbeit abgeschlossen, ein neues Buch, Traumprotokolle, die ja auch etwas Montierendes sind, und nun wollte ich im Anschluß eine Kinderliebesgeschichte schreiben. Diese Liebesgeschichte kann ich natürlich nicht aus der Position eines Dritten schreiben, sondern ich muß mir sofort eine Konstruktion suchen und überlegen, wie ich an den Bewußtseinszustand von 14- oder 15-jährigen komme. Ich war zwar auch einmal in dem Alter, aber durch die zeitliche Distanz nützt das wenig. Ich muß also eine Kiste mit authentischen Materialien finden, so daß ich aus verschiedenen Perspektiven erzählen kann. Sehen Sie, auch ich weiß ja die Lage der Welt nicht ganz, zum Beispiel die der Welt der Jugendlichen, und so kommt also in meine Betrachtung etwas Relativierendes, eine Zurückhaltung im Urteil hinein. Ich und das Material, mit dem ich arbeite - wir ergänzen uns und montieren ein Stück Welt. D: Aber gibt es nicht auch unmittelbare Berührungen? Wenn zum Beispiel im Roman der Alexander März beschrieben wird, dann legt doch diese Beschreibung die bildliche Darstellung durch den Schauspieler Ernst Jacobi nahe. K: Das ist völlig richtig, das ist doch ganz klar. Wenn ich den Roman geschrieben hätte, ohne je den Film gemacht zu haben, dann gäbe es selbstverständlich bestimmte Teile und Beschreibungen nicht. Da hätte ich vielleicht auf die eine oder andere Beschreibung verzichtet. Umgekehrt aber: Was für mich im Film ganz eindrucksvoll war, hat wohl meine bildliche Vorstellungskraft für den Roman gefördert und im Roman eine Ausprägung und Erweiterung gefunden. Ich muß also noch einmal betonen, daß ich den Roman niemals geschrieben hätte, wenn sich mir der Stoff nicht über den Fernsehfilm hinaus erweitert hätte. Und nach dem Roman war es wieder so. Ich dachte zunächst, mit dem Roman sei der «März»-Stoff endgültig für mich abgeschlossen. Aber das kann man nicht kommandieren. Ich wurde also wieder in diesen Stoffkreis hineingezogen, und ich schrieb noch eine ganze Anzahl von «März»-Betrachtungen, «März»-Aufsätzchen und «März»-Gedichten, die so weder im Roman noch im Film vorlagen. Vor allen Dingen aber sah ich immer wieder neue Aspekte
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dieses Stoffes. Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie feststellen, daß mein Interesse langsam immer mehr zu den Patienten hinging. Da gibt es einen Weg vom Film über den Roman bis zu dem Stück hin. Ich identifiziere mich auch immer mehr mit den Patienten. Das Elend der Psychiatrie wird immer mehr als bekannt vorausgesetzt und nicht neu behandelt, und das Interesse konzentriert sich immer ausschließlicher auf dieses Anderssein. Literarische Qualität und einzelne Medienfassungen: Das Beispiel «März» D: Von der Betrachtung der Schauspielfassung her könnte man jetzt freilich auch sagen, daß sich das Interesse auch stärker auf die Psychiater verlagert hat. Kollegen von Kofler erhalten in der Schauspielfassung ein ganz anderes Gewicht als in den frühen medialen Fassungen. Zwei Ärztinnen treten auf, und Feuerstein wird viel stärker in den Mittelpunkt gerückt. Demgegenüber sehe ich doch einige Vorzüge bei der Fernsehfassung. Dort gibt es ja diese doppelpolige Konzentration auf Alexander März einerseits und auf Kofler andererseits. Und Kofler hat gleichzeitig die traditionelle Rolle der Psychiatrie und sein Selbstverständnis als Psychiater problematisiert und damit den Reflexionsvorgang des Zuschauers nicht allein auf die Figur des Patienten hin gelenkt, sondern ebenso auf die Figur des Psychiaters. Dann liegt für mich ein Vorzug der Fernsehfassung in diesem zyklischen, bildlichen Zusammenschluß des Ganzen durch dieses bestürzende Bild des sich selbst als Christus hinrichtenden März. Am Ende des Films wird diese Szene wiederholt, und März stirbt. In der Schauspielfassung taucht diese Szene auch in etwa auf, aber ohne diesen formalen, sich aufdrängenden Zusammenschluß. Die Schauspielfassung ist für mich im übrigen die problematischste aller «März»-Versionen. Ich habe mich lange gefragt, inwiefern diese Fassung dem «März»-Stoff noch eine zusätzliche, ergänzende ästhetische Dimensionierung gegeben hat. Das gilt gerade mit Blick auf die Romanfassung, die im Sinne einer ästhetischen Orchestrierung wohl die reichste und gültigste Ausformung ist. Aber vielleicht muß man auch mehr wirkungsästhetisch denken. Die Fernsehfassung hat sicherlich sehr viel mehr Leute erreicht als der Roman, und durch die strenge Komposition und die bildliche Unmittelbarkeit hat sich der Stoff wohl am unmittelbarsten in die Aufmerksamkeit der Zuschauer eingeätzt. Wo aber liegen die Vorzüge der Schauspielfassung? Da habe ich den Eindruck, daß sich für Sie als Autor durch bestimmte traditionelle Formalien der Gattung und durch Traditionen der Institution Theater die Notwendigkeit ergeben hat, Formungen hineinzubringen, die dem Stoff selbst nicht entspringen. Ich denke etwa an die Fabelkontinuität, die Konstruktion eines Handlungsmusters, das auch in eine fünfaktige Aufgliederung einteilbar ist. Diese Fabelkontinuität steht aber doch im Widerspruch zu dem Leben der Mittelpunktsfigur des Alexander März. März prägt sich dem Zuschauer oder Leser doch deshalb auf so beunruhigende Weise ein, weil sein Leben durch die Negation jeder Kontinuität charakterisiert ist. Außerdem müssen Sie in der Schauspielfassung
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mit technischen Hilfsmitteln arbeiten, um eine Erfassung von Details zuwege zu bringen, die im Roman und in der Fernsehfassung problemlos möglich ist. Zum Beispiel müssen Sie die 'Camera Lucida' einführen, um die Vergangenheit von März nachzeichnen zu können. Und die Reflexionen Kofiers können nicht wie im Roman als Blöcke montageartig erscheinen oder wie in der Fernsehfassung als Stimme aus dem Off zu der Bildsequenz hinzugefügt werden, sondern sie sind nur mitteilbar, indem Kofier an die Rampe tritt und 'ad spectatores' spricht, wie es ja auch in der Bühnenfassung heißt. Sie müssen also Hilfskonstruktionen anwenden, die aus dem Repertoire der traditionellen Gattung 'Bühnenstück' entstammen, Hilfskonstruktionen, die meiner Meinung nach zu der Konzentration der Formung im Widerspruch stehen, die die Fernsehfassung und der Roman bieten. Ich könnte weitere Beispiele nennen. Insgesamt entsteht also der Eindruck, daß Sie durch die Wahl des Gattungsmusters Schauspiel zu Formungen gezwungen wurden, die partiell dem Stoff inadäquat sind. K: Ich halte das nicht für richtig, aber ich behaupte ja auch nicht, ein kompetenter Interpret meiner Arbeiten zu sein. Mir fällt auf, daß Sie viel stärker von Formen ausgehen, als ich das tue. Auch bei der unmittelbaren Arbeit denke ich nicht so sehr an Formen. Das Drama begreife ich nicht wie Sie als einen bestimmten festen Zustand, sondern als eine Form, die eine Geschichte hat und die sich also ununterbrochen verändert. Mit dem Drama ist es ja nicht anders als mit anderen Gattungen oder Kunstformen. Form ist für mich immer das Ergebnis der Bemühung, etwas auf die mir bestmögliche Weise zu erzählen. Ich weiß nicht, ob Sie eine Aufführung des «März»-Schauspiels gesehen haben - ich vermute, nein. Vielleicht ergibt sich für Sie einmal die Möglichkeit, an einer guten Aufführung Ihre eigenen Behauptungen zu kontrollieren. Schauen Sie, das Schauspiel trägt ja den Titel «März - ein Künstlerleben», und mich interessierte die verkappte Form des außenseiterischen, jenseits der Gesellschaft lebenden Künstlers. Und diese Lebensform steckt auch in einer Verkappung im Leben des asylierten kranken Künstlers. Mich interessierte sehr das künstlerisch produktive Moment, das auch in jeder produzierten Psychoseform zu finden ist, auch wenn der Kranke nicht malt oder schreibt, dieses Erzeugen einer Welt als produktiver Vorgang, der vielleicht mit unserer Produktivität im Traum zu vergleichen ist. Auf der Bühne interessierte mich beispielsweise außerordentlich die Sprache, die Subsprachen, die Sprachen des Körpers und all die anderen jenseits des Verbalen. Diese Sprachen werden von der Psychiatrie wenig beachtet. Sie interessiert sich wenig etwa für die Ausdrucksformen des Körperlichen im Kontext der sogenannten Psychosen, und diese Ausdrucksformen werden auch in unserem alltäglichen Leben wenig beachtet. Überall sehen wir diese Reduzierung auf das Verbale. Das ist eine ungeheure Verarmung, die ich auch in der Literatur zu vermeiden versuche. Auch dort versuche ich, andere Wahrnehmungsweisen und Subsprachen zum Tragen kommen zu lassen. Es mag nun sein, daß man sich manchmal in Bereiche begibt, die
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technisch aussehen, wenn man Formen zu entwickeln versucht, die so etwas erfassen können. Für Sie wirkt das Schauspiel reduziert, weil beispielsweise die Sozialisation des März im Gegensatz zu den anderen Versionen keine sehr große Rolle mehr spielt. Aber sie ist dennoch da, nicht extensiv, aber intensiv durch die Einordnung in ein komplexes Ganzes. Es gibt da zum Beispiel diese stichwortartigen oder ausschnitthaften Aussagen von Vater und Mutter, die in einen Zusammenhang mit bestimmten Szenen im Asyl gesetzt sind. Intensität wird also hier durch Komplexität erreicht. Gut, ich weiß nicht, ob mir das so gelungen ist, wie ich es jetzt gerade beschrieben habe. Das müssen die anderen beurteilen. Aber es war schon meine Absicht, einen Dramentypus herauszuarbeiten, der meinen Stoffwünschen entsprach. Ich erinnere hier auch noch daran, daß es als Episode die Gegenwelt in Graubünden gibt, die auch im Roman rudimentär vorhanden ist. D: Nicht nur rudimentär, meine ich, sondern eigentlich recht ausführlich. Die beiden letzten Szenen «Graubünden» und auch die Rückkehr in der Handlungsfügung orientierten sich doch deutlich an der Romanfassung. Rein stofflich gesehen ist das selbstverständlich eine Hinzufügung zur Fernsehfassung. K: Also mir lag jedenfalls daran, in der Schauspielfassung auch die denkbare Gegenwelt anzudeuten. Ich habe zunehmend die Psychose, den Zusammenbruch eines Sozialfeldes also nicht nur als bloßes Negativum gesehen, sondern als einen verkrüppelten, zerstückelten, schwer erforschbaren und schwer zugänglichen Entwurf anderer, besserer Lebensweisen. Das Schauspiel zeigt mehr als die anderen Fassungen positive Momente dieses Andersseins. In allen drei Fassungen gibt es den Blick vom psychotisch Erkrankten auf die sich normal nennende Welt, und unsere Welt enthüllt sich unter diesem Blick als tief verfolgungssüchtig und paranoid. Aber in der Schauspielfassung ist dies in der entschiedensten Weise durchgeführt. Damit will ich nicht sagen, daß mit dem Schauspiel auch die definitivste und also endgültigste Ausprägung dieses Zusammenhangs erreicht wurde. Aber das Schauspiel bietet die radikalste, die am meisten an die Wurzel gehende Ausprägung. D: Ja, Sie schreiben wörtlich: "Das Stück verfolgt weitergehende Ziele als der Roman und ist die entschiedenste Ausprägung des Stoffes". K: Die entschiedenste Ausprägung des Stoffes, ja. D: Also ich habe doch meine Schwierigkeiten mit dieser Schauspielfassung. Aber Sie haben völlig recht, ich sehe das bisher nur als eine Partitur für ein Theaterstück und müßte es auf der Bühne sehen. K: Das Stück ist ja mittlerweile von einer Reihe von Bühnen gespielt worden, und die Wirkung war eine sehr eindringliche. Das Theaterpublikum fühlte sich ziemlich herausgefordert. Der Text eines Dramas ist ja in der Tat ziemlich schwer zu lesen, er
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sperrt sich, und die visuelle Realisierung, die der Autor beim Schreiben mit im Blick hatte, ist ja in der Form nicht mitgeschrieben. D: Das ist zwar so richtig, aber bei dem «März»-Projekt gab es ja bereits ästhetische Dimensionierungen des Stoffes. Liest man die Theaterfassung, dann drängen sich unmittelbar Vergleichsmöglichkeiten auf, und man beginnt zu fragen. Und beim Theater ist es doch so, daß selbst die modernsten technischen Möglichkeiten nicht den radikalen Szenenwechsel des Films und die strukturbedingte Assoziationsvielfalt des Romans erlauben. K: Das wäre auch nicht wünschenswert. D: Bleibt für mich aber immer noch Ihre Aussage, daß sich Ihnen in der Ausgangsphase der Arbeit an «März» die filmische Ausprägung des Stoffes aufgedrängt hat. Ich habe das anfangs verkürzt als 'Bewußtseinssyntax' bezeichnet. Im Film wird ja nirgendwo geradlinig eine Geschichte erzählt, und es wird immer assoziativ gebrochen. So entsteht ein vielschichtiges Gewebe, das auch den Zuschauer davon abhält, sich unvermittelt einer Geschichte auf dem Bildschirm auszuliefern. Er wird immer wieder beunruhigt und aus Wahrnehmungsmustern aufgeschreckt, die ihm andere Programmtypen beständig nahelegen. Darin sehe ich einen enormen Vorteil der Fernsehfassung des «März»-Stoffes. Diese 'Bewußtseinssyntax' ist also in dem Film realisiert worden, und ich frage mich, ob eine solche 'Bewußtseinssyntax' auch im Gattungsrahmen des Theaterstücks möglich gewesen wäre. In Ihrem «März»-Stück nun sieht es beispielsweise so aus, daß in bezug auf die auftretenden Personen bestimmte Auffächerungen vorgenommen wurden: Die Ärzte werden als Kollektiv stärker personalisiert, was andererseits zur Folge hat, daß sich die Konturen von Kofler etwas verwischen. An einer Stelle im Schauspiel sagt Kofler zu einem Patienten, seine Frau sei weggelaufen, und das ist dann schlaglichtartig ein Hinweis auf eine Misere, die auch in der Biographie Kofiers vorhanden ist. Das kommt aber einigermaßen abrupt, und Kofler tritt auch dadurch sehr viel stärker in den Hintergrund, daß nun auch seine Kollegen eine Rolle spielen. Selbstverständlich werden damit auch mehr Szenen im Schauspiel möglich, und es erhöht sich die Handlungsvariabilität. Aber Kofler als eine der entscheidenden Figuren tritt eben stärker in den Hintergrund. Auch jetzt noch kann ich nur an einer Stelle im Schauspiel eine inhaltliche und formale Erweiterung gegenüber den vorhergehenden Fasssungen erkennen, und das ist, wenn ich mich recht entsinne, die fünfzehnte Szene im dritten Akt. Die Szene, die ich meine, ist mit «Sexualität im Asyl» überschrieben. Ein Patient unterhält sich mit einer der Ärztinnen, und diese Situation des Amputiertseins von Geschlechtlichkeit wird sehr konkret dargestellt. Gleichzeitig entsteht damit auch auf der diskursiven Ebene ein Kommentar zu der Liebesgeschichte zwischen Hanna und März. Das ist etwas, was nach meiner Erinnerung sowohl in der Fernsehfassung wie in dem Roman fehlt. Ansonsten aber sehe ich in der Schauspielfassung nur sehr viele technische
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Hilfsmittel, eine Auffächerung der Personen, eine Annährung an die traditionelle Theaterfabel und damit eine Durchlöcherung dessen, was ich als 'Bewußtseinssyntax' bezeichnet habe. K: Ich kann Ihnen da wirklich überhaupt nicht folgen. Wenn beispielsweise der Film als Medium tatsächlich so überlegen wäre, müßte er ja zum Beispiel diesen Stoff sehr tief und vielleicht auch erschöpfend darstellen können. Immerhin, rein technisch gesehen, und darauf hoben Sie in Ihrer Argumentation ja ab, hat er zum Beispiel durch die bewegliche Kamera alle Vorteile auf seiner Seite. Ein Film hat unheimlich viele Bilder. Wie wir aber alle wissen, nimmt der Film diese Bilderflut in den meisten Fällen nur als ein Reizmittel und dringt so nicht in die Mitte eines Stoffes ein. Der Film schafft das nur äußerst selten. Ich will damit nicht sagen, daß dem Film prinzipiell die Möglichkeit zu einer umfassenden Tiefe fehlt, aber bedenken Sie auch, daß der Film ein Industrieprodukt ist. Nach meinem Verständnis erschien es mir jedenfalls konsequent zu sein, zu einer Konzentration des ganzen Stoffumkreises zurückzukehren und die Veränderungen mit einzubeziehen, denen der Stoff in mir ausgesetzt war. Ich wollte eine möglichst objektive Form, und das Drama ist für mich eine objektivere Form als der Film. Der Stoff hat mich einfach so lange in Anspruch genommen, er hat mich und meine Erfahrungen verändert und mich gezwungen, mit mir selbst ins Gericht zu gehen - es ergaben sich einfach Stadien der Arbeit, die über den Film hinausgingen und die ich fixieren mußte. Gattung und Form D: In einem anderen Gespräch haben Sie einmal über die Nachteile des traditionellen psychologischen Theaters gesprochen. Das traditionelle psychologische Theater konzentriert sich auf bestimmte Personen und geht davon aus, daß bestimmte Prozesse und Entwicklungen im Abbild der psychischen Prozesse dieser Zentralfiguren in ihrem Erlebnisumfeld darstellbar seien. Sie weisen in diesem Gespräch diese Hoffnung in bezug auf die gegenwärtige Situation als Konstruktion zurück. Das traditionelle psychologische Theater sei angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen letztlich überfordert. Ks Sicherlich, aber in meinem «März»-Stück habe ich ja eine ganz offene Form. Ich glaube, es gibt kein Stück mit so vielen Szenen. D: Und dennoch haben Sie an dem traditionellen fünfaktigen Gliederungsrhythmus des psychologischen Dramas festgehalten, und eine bestimmte Konfliktschürzung ist auch unübersehbar. Auch in der reicheren Ausgestaltung der 'dramatis personae' sehe ich noch die formale Linie des psychologischen Dramas eingehalten. Aus meiner Perspektive ist Ihr Schauspiel also so etwas wie ein 'Rückschritt', Rückschritt in dem Sinne, daß Sie sich stark den Anforderungen der Gattung 'Schauspiel' überantwortet und so Formmöglichkeiten reduziert haben. Indem Sie aber gleichzeitig auf der theo-
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retischen Ebene das psychologische Drama als eine für die gegenwärtige Situation überholte Form darstellen, ergibt sich für mich aus dieser Konstellation ein Widerspruch. Aber wie schon zuvor müßte ich an dieser Stelle vielleicht auch wieder den Wirkungsaspekt mit in meine Überlegungen einbeziehen. Die hervorragende Fernsehfassung wird wahrscheinlich nicht über eine begrenzte Anzahl von Wiederholungen hinauskommen und schließlich aus dem Kommunikationskontext der Zuschauer ganz ausgegliedert werden. Das Theaterstück hingegen hat die Chance, in ein Repertoire aufgenommen und so immer wieder auf dem Theater aufgeführt zu werden. Dadurch könnte diese Anonymität, in die letztlich auch heute noch die hervorragendste Fernseharbeit hineingerät, mittelbar aufgehoben werden. K: Solche Überlegungen mag der arbeitende Schriftsteller vielleicht einmal mitdenken, sein Arbeitsansatz aber können sie ganz sicher nicht sein. Meine Kritik am psychologischen Drama ist ja nicht so zu verstehen, daß es im zeitgenössischen Drama etwa keine differenzierte Darstellung innerpsychischer Vorgänge mehr geben sollte. Was ich kritisiert habe, ist, daß eine bestimmte Form des Dramas so tut, als würde psychisches Verhalten den Gang der Welt bestimmen, als würde die Welt von uns aus so entstehenden psychischen Sekundärtugenden bewegt. Wenn ich etwas darstelle, dann versuche ich, psychische Prozesse in einem Kontext zur Welt zu zeigen, in dem die Kategorien von Ursache und Wirkung in einem dynamischen Verlauf auswechselbar sind. Und lassen Sie mich auch noch etwas zu der Figur Kofiers sagen, die ja in Ihrer Argumentation eine gewichtige Rolle spielt. Ich sehe diese Figur etwas anders, und jedenfalls war meine Absicht eine andere. Auch innerhalb dieser Ärzte gibt es ja ganz unterschiedliche Leute, solche mit traditionellen und weniger traditionellen Zügen. Aber in meinem Stück ist keiner verteufelt, und selbst der Leiter der Klinik ist besser als die meisten Leiter deutscher Kliniken. Er ist immerhin noch ein Mann mit Reformideen, einer, den man in der Realität immer noch selten antrifft. Mich hat an Kofler die deutliche Annäherung an seine Patienten interessiert. Warum geht er überhaupt in so eine Klinik? Warum versucht er überhaupt in einer Station von Patienten mit chronisierten Psychosen eine Therapie? Das ist doch eigentlich eine etwas wunderliche Idee. Aber an diesem Verhalten von Kofler sieht man ein ganz starkes Interesse und auch ein starkes Leiden an der Welt. In dieser Szene, die Sie anführten, wollte ich zeigen, wie weit das bei ihm geht. Kofler sucht Rat, und er sucht ihn bei seinen Patienten. Das Herrschaftsverhältnis innerhalb der Medizin, hier der Arzt und dort der Patient, ist also aufgehoben. Ich bin der tiefen Überzeugung, daß die Medizin nur dann gedeihen kann, wenn sie dieses Herrschaftsverhältnis aufhebt und wenn der Arzt der Partner des Patienten wird. Das gilt nicht nur für die Psychiatrie. Ich kritisiere und verachte diese heilige Medizin, diese weiße Theologie, die sich anmaßt, allgemeingültige Normen zu setzen. Ich versuchte also, dieses merkwürdige Verhältnis der Annäherung zu zeigen. Schlüsselhaft ist es in der 'Schnee'-Szene angelegt. Ein Arzt wird vom Patienten abgewiesen, und der redet nicht mehr, sondern legt sich in
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den Schnee und läßt auf sich schneien. Und ein Arzt legt sich neben ihn und läßt ebenfalls auf sich schneien. Das ist eine sehr revolutionäre ärztliche Haltung, denn dieser Vorgang des dauernden Kämpfens um einen Patienten und des dauernden Abgewiesenwerdens ist ja die auf den Kopf gestellte Medizin. Sonst muß ja der Patient immer dem Arzt nachrennen, und der Arzt versucht immer ihn loszuwerden. Und dann würde ich auch denken, daß es im Stück doch eine ganze Anzahl von Biographien gibt, die analog zu März entwickelt werden. Ob Folgener, Ebert oder Albert - sie alle sind Scheiternde. Vielleicht ist das auch nur die Behauptung eines Autors, aber ich meine doch, daß im Stück mehr neue Züge sind, als Sie zu sehen vermögen. Problemfeld Psychiatrie: Heinar Kipphardt und Ken Kesey D: Sehen Sie, mit meinen Hinweisen wollte ich gar nicht bestreiten, daß der Stoff von einer ungeheueren Brisanz ist. Das Stück greift ja ein sozialpolitisches Problemfeld auf, dem sich sogar die Bundesregierung durch eine Enquete-Erhebung genähert hat. Ob freilich dieses Problemfeld durch diese Enquete-Erhebung wirklich aufgearbeitet worden ist, wie behauptet wird, möchte ich stark bezweifeln. Nur die wenigsten haben sich die Materialien beschafft, und das, was dokumentarisch und faktenmäßig zusammengetragen wurde, ist nicht dazu angetan, an eine Überwindung der Tabuisierung zu glauben. Nein, der Stoff sollte in diesen ästhetischen Realisierungen eine möglichst breite Wirkung finden. Das macht ja auch den Fernsehfilm so wichtig. Sehen Sie übrigens für Ihren «März» Parallelen zu Ken Kesey's «Einer flog über das Kuckucksnest»? Ich komme darauf, weil ja auch dieser Roman verfilmt worden ist und so eine internationale, massenhafte Verbreitung gefunden hat. Gut, eine Figur wie die Kofiers fehlt ganz. Der amerikanische Film setzt ganz auf die Konfrontation zwischen den Patienten auf der einen und den äußerst repressiven Ärzten auf der anderen Seite. Die Durchlöcherung dieser Fronten und die Problematisierung auch der Psychiatrie in ihrem Fernsehfilm stellt da ganz ohne Zweifel eine wesentliche Erkenntniserweiterung dar. Aber vielleicht sehen Sie ja doch Möglichkeiten des positiven Vergleichs? K: Es ist sicherlich nicht meine Rolle, als Filmkritiker aufzutreten. Und meinen Film gab es ja schon vor dem amerikanischen - er hat mich also nicht beeinflußt. Aber wenn Sie so fragen: Mir hat dieser außerordentlich reich und gut gemachte Film von seiner Struktur her sehr mißfallen. Ich halte ihn für einen ganz reaktionären Film. Allein schon die Fabel: Da kommt ein Gesunder durch ein Mißverständnis in eine psychiatrische Klinik und mischt diese Klinik mit diesen komischen psychotischen Figuren, die so eine gewisse skurrile Liebenswürdigkeit haben, auf. Nicholson spielt das übrigens sehr gut. Geheilt wird nur einer und das in einer Art und Weise, die aus «Reader's Digest» sein könnte: Er kommt mal zu einem Coitus mit einem Mädchen. Und es ist ganz amerikanisch und ganz puritanisch, daß das Böse nicht in
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der Welt liegt, sondern in dieser bösen Überfrau, die nicht von ungefähr auch der Teufel der Klinik ist. Solche Sichtweisen machen ja diese amerikanische Kultur so unerträglich. In seiner Fabel finde ich also diesen ansonsten sehr gut gemachten Film sehr reaktionär und sehr kommerziell. Man hat mir aber gesagt, daß man dem Roman gegenüber diesen Vorwurf nicht machen könne. D: Wie steht es aber um diesen stummen Indianer, der ja auch Patient ist und am Ende aus seiner Stummheit erwacht? K: Das ist doch der reine Kintopp. Wenn ich nicht irre, läuft er am Schluß in den Wald. D: Ja, nach dem Ausbruch läuft er nach Kanada. K: Das sollte vielleicht etwas Metaphorisches haben, war aber für mich nur kindisch. D: Dieser Film ist also für Sie nur im negativen Sinne als Kontrastfolie zu gebrauchen? K: Also, ich bin kein Filmkritiker und mag ungerecht sein. D: Nein, nein! Es geht ja um dieses hochbrisante Thema von großer sozialpolitischer Bedeutung. Und dieser amerikanische Film ist ja gegen die Widerstände des amerikanischen Filmapparates mit großen Schwierigkeiten und großem finanziellen Einsatz gemacht worden. Er hat eine deutliche Außenseiterfunktion. So ist es jedenfalls nach meinen Informationen, aber vielleicht bin ich da auch der Mythologiebildung der amerikanischen Filmindustrie aufgesessen. K: Was glauben Sie, was Nicholson für eine Gage bekommt, wenn Sie mit ihm einen Film machen. Aber das sind Sachen, die mich gar nichts angehen. Ich will nur deutlich machen, warum dieser Film so kritikkonform ist. Der Film beschränkt sich doch total darauf zu sagen, daß man ein bißchen netter mit den liebenswürdigen Verrückten umgehen sollte. Ich versuche doch, viel radikaler in Frage zu stellen. Ich frage mich doch, ob es da nicht Entwürfe ganz anderer Art gibt, die über unsere beschissene Welt hinausgehen, über unsere Welt, die alles in Anpassungszwänge verwandelt und die uns zu phantasielosen und uniformen Wesen macht, die überhaupt nicht mehr ihre eigenen produktiven Möglichkeiten verfolgen. Das geht doch, so hoffe ich zumindest, über eine bloße Kritik an der Psychiatrie hinaus. Das tut doch «Einer flog über das Kuckucksnest» in keinster Weise. Er stellt doch die Welt überhaupt nicht in Frage und macht bestenfalls angeblich schlechthin böse Einzelne aus. D: Gut, ich habe dieses Beispiel ja nur als eine zusätzliche Assoziation mit in die Diskussion gebracht und will deshalb Ihr Urteil akzeptieren. K: Nein, ich meine, wir können es auch ganz und gar weglassen. Ich befinde mich einfach in einer etwas unglücklichen Situation, wenn ich zu einem Produkt Stellung
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nehme, das in einem ähnlichen Umkreis fischt wie ich selbst. Mir ist nicht ganz wohl dabei, in einer solchen Situation zu urteilen, weil man dann mit einer zu großen Schärfe sieht und das Urteil so - paradoxerweise - oftmals trüber wird als sonst. Medienvielfalt und schriftstellerische Produktivität D: Wir haben eingangs schon andeutungsweise über eine gewisse Entfremdung gesprochen, die sich zwischen Ihnen und dem deutschen Theater vollzogen hat. Ich finde es interessant, daß diese Entfremdung nun offenbar durch das Schauspiel «März» zumindest im Ansatz wieder zurückgenommen wird. Könnte das gleichzeitig auch bedeuten, daß eine kontinuierliche Weiterverfolgung des Weges, den der Fernsehfilm «März» nahezulegen schien - die Funktionsveränderung der Literatur im Medium Fernsehen weiterzutreiben und weiterhin konzentriert für das Fernsehen zu arbeiten - daß dieser Weg nun auch zurückgenommen wird? Werden Sie sich künftig wieder auf Ihr 'traditionelles' Medium, auf das Theater konzentrieren? K: Ohne die Absicht zu haben, hat es sich in meinem Leben so ergeben, daß ich ein Schriftsteller geworden bin, der in allen Gattungen und in allen Medien arbeitet. Darüber bin ich eigentlich ganz froh. Und Sie haben nicht ganz unrecht: Das Dramatische war mir früher die vertrauteste Form, und ich dachte lange Zeit, es werde auch ganz im Zentrum meiner Arbeit stehen bleiben. Aber andere darstellbare Gattungen wie zum Beispiel der Film lagen mir auch immer schon nahe. Film und Drama sind ja in der Geschichte durchaus nicht so gegensätzlich gewesen, wie man heute oftmals denkt. Wenn auch die Unterschiede heute riesig sind, so stand der Film doch in seinen Kinderjahren dem Dramatischen sehr nahe. Nun, heute mache ich auch noch Prosa und Lyrik, und eigentlich möchte ich das auch so beibehalten. Ja, sicher, am heutigen Fernsehen muß jeder, der genügend Hirnzellen hat, Kritik üben. In jüngster Zeit hat sich ja auch gerade im darstellerischen Bereich durch diese trostlosen Serien und das ganze Zeug eine schreckliche Verengung ergeben, und gleichzeitig sind die seriöseren und die ernsteren sinnlichen Auseinandersetzungen wie der Fernsehfilm reduziert worden. Und über diese aufgeblähte Bürokratie, die recht überflüssig ist und alles Geld schluckt, braucht man auch kein Wort zu verlieren. Aber bei aller Kritik, berechtigten und notwendigen Kritik, muß ich sagen, daß meine eigenen Erfahrungen mit einer Reihe von Redaktionen ganz reibungslos waren. Ich habe Redakteure wie Segler und Witte und andere mehr getroffen, die mir nie irgendeine Schwierigkeit in den Weg gelegt haben. Ich bezweifle in keiner Weise, daß es vielen anderen gerade umgekehrt widerfahren ist, daß sie unter Zensurmechanismen von oben zu leiden gehabt haben oder sich diese Zensur dann in ihren Köpfen festgesetzt hat - die gefährlichste Form von Zensur übrigens. Solche Fälle von Filmzensur sind ja auch öffentlich geworden. Ich würde aber die Unwahrheit sagen, wenn ich behauptete, ich hätte solche Schwierigkeiten gehabt. Unter anderem deshalb werde ich
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auch künftig weiter für das Fernsehen arbeiten. Es gibt schon einen bestimmten Stoff, den ich machen will und für den ein ähnliches Vorgehen wie bei «März» vorgesehen ist. Ich werde also in Verbindung mit dem Fernsehen einen Film daraus machen, und ich weiß schon jetzt im Gegensatz damals zu «März», daß auch ein Prosastoff, eine längere Erzählform daraus werden wird, die man auch Roman nennen könnte. «März» - ja, mit dem Theaterstück habe ich schon wieder eine Annäherung an das Theater versucht. Es ist ein tastender Versuch: Wie reizt dich das, und reizt das die Leute und auch die Theaterleute? Ich werde auch in nächster Zeit wieder ein Stück machen, das zu Teilen bereits existiert, und einen halbfertigen Roman gibt es auch. Und im Herbst erscheint auch ein formal ziemlich ungewöhnliches Buch mit Traumgeschichten, die ich aus eigenen Traumprotokollen entwickelt habe. Das Buch benutzt die Traumdramaturgie und beschreibt andere, nicht alltägliche Wahrnehmungsweisen. Sie sehen, es ist eine richtige Breite an Produktionen zustande gekommen, und darüber bin ich im Grunde genommen ganz froh. Ich selber würde jedem Schriftsteller wünschen, daß er genug eigene Widerstandskraft hat, um sich nicht ständig zu reproduzieren. Dazu kann es auf diesem Markt leicht kommen. Wenn jemand Erfolg hat und etwas Bestimmtes kann, dann bleibt er nicht selten darauf kleben. Es setzt ein enormer Druck auf ihn ein, dieses eine immer wieder zu reproduzieren. Ganz klar, daß das oftmals zu einer großen Verarmung im schriftstellerischen Ausdruck führt. Ich bin also ganz froh, daß ich mich nach wie vor in diese bescheidene, auch qualvolle Lust des Schreibens in verschiedenen Bereichen begeben kann.
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Näher ans Authentische der Wirklichkeit. Vom Fernsehen zur Literatur: Das März-Projekt von Heinar Kipphardt
I. Der Fernsehfilm Heinar Kipphardts «Leben des schizophrenen Dichters Alexander März» 1 , zu Recht als einer der Höhepunkte in der Programmgeschichte des deutschen Fernsehens gerühmt, verweist in seiner Entstehung offenbar auf eine Krisensituation in der wechselvollen Lebensgeschichte dieses Schriftstellers, dessen Schauspiel «In der Sache J. Robert Oppenheimer» 2 nicht nur der Form des dokumentarischen Theaters Mitte der sechziger Jahre zum Durchbruch verhalf, sondern den Autor zugleich weltweit berühmt machte. «In der Sache J. Robert Oppenheimer» war in der Bundesrepublik das meistgespielte Stück der Spielzeit 1964/65 und intensivierte seinen Erfolg auf vielen Bühnen des Auslands. Kipphardt, der von 1950 bis 1959 am Deutschen Theater Wolfgang Langhoffs als Dramaturg tätig gewesen war und hier mit seinem Stück «Shakespeare dringend gesucht» seinen ersten großen Erfolg als junger Theaterautor verzeichnen konnte 3 , war, ursprünglich ein politischer Zuwanderer in der DDR, nach zahlreichen kulturpolitischen Querelen wieder in die Bundesrepublik zurückübersiedelt, in seine niederrheinische Herkunftsregion in der Nähe von Düsseldorf, wo er am Schauspielhaus tätig geworden war. Ab 1970 war er, der ausgebildete Psychiater, der seine Assistenzarztjahre an der berühmten Charite in Ost-Berlin absolviert hatte, Chefdramaturg an den Münchener Kammerspielen geworden und hatte u.a. dem jungen Franz Xaver Kroetz mit dessen ersten Stücken den Weg zum Theater geebnet. In dieser von der Studentenbewegung agitatorisch aufgewühlten Phase, die streckenweise Züge einer Kulturrevolution trug, alles Kulinarisch-Ästhetische aus Literatur und Kunst verbannte, die gesellschaftliche Relevanz als einzigen Maßstab künstlerischer Produkte und die agitatorische Veränderungsenergie als einzige Wirkung gelten ließ, war 1970 Wolf Biermanns Stück «Der Dra-Dra. Die große Drachentöterschau in acht Akten mit Musik» 4 auf den Spielplan gesetzt worden. Die politische Verklammerung der Thematik dieses Stückes mit der aktuellen Situation in ^ Das Drehbuch, zwischen 1973 und 1975 entstanden, erschien 1976 im Klaus Wagenbach Verlag Berlin. 2 Vgl. dazu die mit reichhaltigem dokumentarischen Material vorgelegte neue Ausgabe des Stückes in den von Uwe Naumann betreuten «Gesammelten Werke in Hinzelausgaben», Reinbek 1987. Die Ausgabe des Oppenheimer-Stückes trägt hier den Untertitel «Ein Stück und seine Geschichte». 3 Er erhielt im Jahr der Uraufführung des Stückes 19S3 als Auszeichnung dafür den Nationalpreis der DDR. 4 Es handelt sich um eine Bearbeitung eines russischen Stückes, das von dem Satiriker Jewgenij Schwarz stammt. Biermanns Stück erschien 1970 im Klaus Wagenbach Verlag.
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Deutschland hatte Biermann in einer "Anmerkung zur Aufführung" unmittelbar akzentuiert: "Diese Drachentöterschau braucht Regisseure und Schauspieler, die nicht schon selber zur Drachenbrut gehören. Revolutionäre Künstler werden sich nicht damit bescheiden, dieses Stück gegen alle möglichen Drachen der Welt zu spielen, sondern werden es gegen ihre eigenen Drachen in Szene setzen." (S. 5) Die Dramaturgen-Kollegen Kipphardts nahmen diesen Hinweis gewissermaßen wörtlich. Denn als das Stück im April 1971 in einer Inszenierung von Heyme auf die Bühne kam, "war der größte Theaterskandal in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik" 5 die Folge. Paradoxerweise wurde diese hektische Reaktion nicht so sehr vom Stück selbst, sondern von einem Begleitmoment ausgelöst, dem Programmheft, das auf zwei Seiten Porträtaufnahmen von vierundzwanzig Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik der Bundesrepublik enthalten sollte, Ikonen aktueller Drachenbrut gewissermaßen. Darunter auch das Bildnis des damaligen Bürgermeisters von München, Hans Jochen Vogel, der diesem nur geplanten Programm-Theatercoup, für den Kipphardt nicht persönlich, sondern nur durch seine Funktion verantwortlich war, unterstellte: "Es ist der Stadt nicht zuzumuten, einen Mann zu beschäftigen, der zur Ermordung des Oberbürgermeisters auffordert." 6 Kipphardt, der kurz vorher seinen Vertrag aus formalen Gründen gekündigt hatte, um von ihm gewünschte Verbesserungen durchzusetzen, sah sich von einer aufgebrachten Öffentlichkeit als Gewaltverherrlicher und Sündenbock stigmatisiert und zum publizistischen Spießrutenlauf freigegeben, wobei politisch aufgeklärte Kollegen wie Günter Grass, der gerade im Landtagswahlkampf in Schleswig-Holstein die Verteufelung des dortigen SPD-Vorsitzenden Jochen Steffen durch die gegnerische Partei miterlebt hatte, ironischerweise die schärfsten Schläge austeilten: "[...] gewiß hat der Ostberliner Autor [Biermann] als jemand, der seit Jahren auf der Abschußliste seiner heimischen Alt- und Neustalinisten steht, nicht vorgehabt, mit seinem Stück im Westen Abschußlisten zu inspirieren. - Kipphardt war so frei. [...] Er arbeitet mit Abschußlisten, er reiht in Paßphotoformat Bildchen neben Bildchen und sagt - das sind sie. Die üble Mordparole der Rechtsradikalen "Scheel und Brandt an die Wand!" findet in Leuten Epigonen, denen üblicherweise Moral die Stimme salbt."7 Dieser von Moral gesalbten Stimme des Günter Grass, der, bezogen auf Kipphardt, genau das initiierte, was er ihm andererseits vorwarf, stand immerhin die Solidarität des Ensembles der Münchener Kammerspiele gegenüber, das diesen Eingriff der Politik in die Freiheit der künstlerischen Arbeit abzuwehren versuchte, sich vor Kipp-
® Adolf Stock: «Heinar Kipphardt mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten», Reinbek 1987, S. 97.
e 7
Zitiert nach dem Nachruf Benjamin Henrichs auf Kipphardt «Lehrer ohne Lehre», in: «Die Zeit» v. 26.11.1982. «Abschußlisten», in: «Süddeutsche Zeitung» v. 30.4.1971.
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hardt stellte und, als Kipphardts Vertrag dennoch nicht verlängert wurde, mit "allen Regisseuren und der Mehrzahl der Schauspieler"8 das Theater verließ. In dieser Krisensituation, so scheint es, begann die politischem Druck nachgebende Institution Theater, die bisher stets der zentrale Orientierungspunkt von Kipphardts schriftstellerischer Arbeit gewesen war, deutlich an Anziehungskraft für ihn zu verlieren und das neue elektronische Medium Fernsehen fand Kipphardts verstärkte Aufmerksamkeit. Doch diese plausibel wirkende Kausalität ist nur zum Teil richtig. Medienliterarische Ansätze spielen bei Kipphardt schon wesentlich früher eine wichtige Rolle, wobei nicht nur ökonomische Gründe den Ausschlag gaben, als er 1959 wieder in der Bundesrepublik Fuß zu fassen versuchte. 1961 geht er einen Lektorenvertrag für Fernsehbearbeitungen beim Bertelsmann Verlag ein. Sein 1963 produziertes und im Zweiten Deutschen Fernsehen gezeigtes Fernsehspiel nach Melvilles Erzählung «Bartleby» ist ein Ergebnis dieser Zusammenarbeit. Bereits mit der Arbeit am Oppenheimer-Stoff beschäftigt, arbeitet er "für die Bavaria, mit der ich ja in einem Autorenvertrag bin"9, zugleich an zwei Fernsehspielen von Stoffen, von denen dann auch Dramenfassungen vorgelegt werden: «Der Hund des Generals» und «Die Geschichte von Joel Brand», beides 1964 von der ARD ausgestrahlt. Auch der Oppenheimer-Stoff ist nicht von vornherein ein Dramenentwurf, sondern die ursprüngliche Konzeption ist eine Fernseharbeit, wie er in einem Brief vom Oktober 1961 ausdrücklich hervorhebt: "[...] ich muß im Dezember mit der Niederschrift OPPENHEIMER weil es einen terminierten Vertrag mit dem Fernsehen gibt und weil nach jahrelangen Vorarbeiten auch endlich fertig werden will. Ich Stoff für einen großen Glücksfall, und ich habe Lust, endlich wieder Stück zu machen." 10
beginnen, das Stück halte den ein neues
Als Fernsehspiel, das 1964 die ARD ausstrahlte, begann in der Tat der Siegeszug von «In der Sache J. Robert Oppenheimer», und es spricht viel dafür, daß die aus parzellierten Dokumenten zusammenmontierte dramaturgische Form, die bereits für die Fassung des Fernsehspiels charakteristisch ist 11 und die später als dramaturgische Bauform des dokumentarischen Theaters gesehen wurde, tatsächlich diesen medialen Ursprung hat. Zwar gibt es in der Korrespondenz Kipphardts zu Beginn der sechziger Jahre immer wieder Hinweise wie den folgenden: "Ich denke, das Fernsehspiel wird doch nur sehr entfernt das Stück sein."12, und er hat auch später in einem Gespräch eingeräumt: "Ursprünglich wollte ich das in Form der Shakespeareschen Historien 8
9
Stock (Anm. 5), S. 101.
So im Brief an Peter Hacks vom 24.4.63, zitiert nach: H.K., «In der Sache J. Robert Oppenheimer. Ein Stück und seine Geschichte», hg.v. Uwe Naumann, Reinbek 1987, S. 204. 10 Zitiert nach Anm. 9, S. 122. 11
Die Veröffentlichung des Stückes in der «edition suhrkamp» 1964 präsentiert den Text der Fernsehfassung, und erst ab der 5. Auflage mit dem 51. Tausend gedruckter Exemplare wurde der "szenische Bericht" durch die "Schauspiel' -Fassung ersetzt. 12 So im Brief vom 17.7.62 an seine spätere zweite Frau Pia, vgl. Anm. 9, S. 125.
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schreiben." 13 , aber er gab dann dieses dramaturgische Modell auf, teils weil die Kammerspiele ihn drängten, bei der Prozeßform der Fernsehfassung zu bleiben 14 , teils weil er einsah, daß das Shakespearesche Historienmodell den Stoff unzulässig verengen würde. Aus der Perspektive von 1979 begründete er das im Rückblick in einem Gespräch so: "Als ich solche Szenen schrieb, fand ich es dem Stoff unangemessen, private Situationen, Personen, Vorgänge privater Art zu erfinden, und ich entschloß mich, ganz nahe und belegbar an den Fakten zu bleiben, und benutzte die vom Leben vorgeprägte Form des Theaters, das Verhör, die Prozeßform. Sie können jede Figur in ihren Widersprüchen kraß zeigen, sie können die Beziehungen zu anderen leicht herstellen, die Perspektiven wechseln und dabei die Geschichte der sehr facettenreichen Sache erzählen. Der Prozeß ist eine Naturform der Episierung des Dramas." 15 Wie zahllose Fernsehserien von «Perry Mason» bis «Ironside» bezeugen, bedient sich das Fernsehen schon lange dieser dramaturgischen Naturform des Prozesses. Entscheidend für die dramaturgische Inkubation des Oppenheimer-Projektes bei Kipphardt ist, daß sich bereits hier ein Weg bei ihm abzeichnet, der dann erneut für sein März-Projekt gilt, daß er gleichsam den umgekehrten Weg der üblichen Literaturvermittlung im Fernsehen geht. Nicht die in einer der traditionellen Literaturgattungen verwirklichte Form des Stoffes ist bei ihm primär und wird dann auf dem Wege der Verknappung und vielfältigen Reduktion zur Fernsehfassung vereinfacht, vielmehr geht er den umgekehrten Weg: von der medialen Erprobung zur vertrauten literarischen Umsetzung, wobei die mediale Verwirklichung auf formale Konsequenzen aufmerksam macht, die dann auch die literarische Modifikationsform entscheidend bestimmen. Als das Stück Anfang der achtziger Jahre angesichts einer neuerwachten Wahrnehmung für die zahlreichen schwer zu kalkulierenden Gefahren, die mit der Errichtung von immer mehr Atomkraftwerken einhergingen, erneut aktuell wurde, hat es wiederum als - in Einzelheiten bearbeitetes - Fernsehspiel seine intensive Wirkung unter Beweis gestellt. Die traditionelle kulturelle Hierarchie, die die Literatur weit vor die fiktionalen Programmformen der elektronischen Medien rückt, das eine als Kunst deklariert und das andere im Höchstfall als Bastard von Kunst und Unterhaltung, ist bei Kipphardt bereits außer Kraft gesetzt. Das zeigt sich nicht nur auf der produktionsästhetischen Ebene Kipphardts, sondern in gewisser Weise auch auf der Ebene der Rezeption. So erhielt er zwar für die Dramenfassung des Oppenheimer-Stoffes 1964 den Gerhart-
13 14
Anm. 9, S. 274.
Vgl. dazu den brieflichen Bericht Kipphardts an den damaligen Leiter der Theaterabteilung des Suhrkamp Verlages Karlheinz Braun: "Sie wissen, daß den Kammerspielen die Fernsehfassung Oppenheimer sehr gefällt, und daß sie mich etwas bedrängen, auch beim Stück im Hearing zu bleiben. So verlockend das aus arbeitsökonomischen Gründen für mich ist, möchte ich bei meinem Vorsatz der Scenenfolge im Historienstil bleiben." (Anm. 9, S. 133/4) 1 ® Zitiert nach dem Gespräch mit Stefan Lohr «Zur Geschichte und Aktualität des OppenheimerStückes», in: Anm. 9, S. 273-279, Zitat S. 274.
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Hauptmann-Preis, aber viel zahlreicher und auch hochkarätiger sind die Preise, die er für die Fernsehspiel-Fassung des Oppenheimer-Stoffes empfing: 1964 den Fernsehpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste, Frankfurt a.M., den Kritiker-Preis beim Internationalen Fernseh-Festival in Prag, den Adolf-Grimme-Preis des deutschen Volkshochschulverbandes und den Hauptpreis der Jury der Fachpresse. Daß sich Kipphardt also 1971 nach dem Kammerspiele-Debakel um das Programmheft von Biermanns «Der Dra-Dra» intensiv dem Fernsehen zuwandte und, Anregungen aus den Veröffentlichungen psychopathologischer Texte des österreichischen Psychiaters Leo Navratil und besonders Texte des psychotischen Dichters Herbrich aufgreifend, dem März-Projekt zuwandte und in enger Zusammenarbeit mit dem tschechischen Regisseur Voitek Jasny und dem Kameramann Igor Luther den Fernsehfilm «Leben des schizophrenen Dichters Alexander M.» realisierte, bedeutete grundsätzlich für ihn keinen Neubeginn in einem ihm noch unvertrauten Medium. Eher das Gegenteil: Er begann konsequent einen Weg fortzusetzen, den er schon Jahre vorher, parallel zu seinen literarischen Produktionen, gegangen war. Die Symbiose von Literatur und Fernsehen existierte bereits seit langem, als das März-Projekt in den Mittelpunkt seiner Arbeit rückte. Den umgekehrten Weg - von der Fernsehfassung zur Literatur - war Kipphardt bereits im Oppenheimer-Stück gegangen. Er ging ihn nun ein weiteres Mal und wiederum mit höchst erstaunlichen Konsequenzen, was die produktiven Auswirkungen auf die sich daran anschließenden literarischen Arbeiten desselben Stoffes betrifft.
II. In dem März-Fernsehfilm bzw. in der in drittem Anlauf entstandenen Dramenfassung «März, ein Künstlerleben»1® gibt es eine Schlüsselszene, die sich im Bericht der Mutter folgendermaßen abspielt: "An einem Sommerabend hab' ich noch gebügelt, Bügelautomat, und mir einen Kriminalfilm angesehen, noch spät, da kam er rein und stellt mir ohne ein Wort den Fernseher ab. Warum? Schluß. Reißt den Stecker aus der Wand, schmeißt den schweren Kasten durch das Fenster auf die Straße. Er werde verhindern, daß er auf ganz brutale Weise abgehört und abgefühlt werde, via Fernsehen. Da habe ich gewußt, er ist verrückt geworden." (S. 25) Aus der Perspektive der Mutter betrachtet, ist das der endgültige Schritt aus der Normalität heraus in den Zustand der Verrücktheit. Er wird denn auch in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Aus der Perspektive von Kulturkritikern betrachtet, von Jörg Drews bis Jerry Mander 17 , wäre hingegen eine ganz andere Reaktion denkbar: Dem Mann gebührt ein Orden. Endlich jemand, der sich der Gehirnwäsche der elektronischen Unterhaltungsmaschine rigoros widersetzt. Anstatt also diesen
1 6
Köln 1980. Vgl. dazu die Ausführungen im Einleitungskapitel.
144 Alexander März in eine psychiatrische Klinik einzuliefern, wäre es denkbar, ihn zum Mitglied des "Klingenmünster Kreises" zu machen, einer Bürgerinitiative, die sich Anfang Juni 1981 der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Diese Vereinigung hat sich zusammengefunden zur "Förderung des naheliegenden Gedankens, daß wir nicht mehr Fernsehen brauchen." 18 Man wolle sich die Beziehungen zu den Mitmenschen durch den elektronischen Vampir 1 9 , der Bilder ausspeit und Bewußtsein aufsaugt, nicht noch weiter vergiften lassen. Der damalige Sprecher dieser Bürgerinitiative, Albrecht Müller - dem Bericht der « Z e i t » zufolge hauptberuflich seinerzeit Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt - stellte tatkräftige Aktionen in Aussicht, die auf der Linie von Alexander März zu liegen schienen. Ein Journalist der « Z e i t » hat denn auch nicht unzutreffend in seiner Glosse als mögliche Aktion vorweggenommen: "Ein Mitglieder-Happening, bei dem Antennen demoliert und TV-Kabel durchgeschnitten werden - das wäre schon was, bei dem selbst die bürgerinitiativsatten Bundesbürger sicher wach würden." Er hat freilich dann den ironischen Satz angefügt: "Möglicherweise sagt aber vorher jemand den Aktivisten - vielleicht der Kanzler -, daß in jedes handelsübliche TV-Gerät serienmäßig ein Knopf eingebaut ist. Und damit kann jeder, der das möchte, das Fernsehen abschalten."20 Bedarf es als eigentlich dieser - auf neue Weise - bilderstürmenden Aktion? Bedeutet es nicht geradezu eine Untergrabung des Erkenntnisvermögens der Zuschauer, wenn man ihrem Urteil, ob und wann und wie lange sie die elektronische Bildermaschine benutzen wollen, nicht mehr vertraut und nur noch Rettung in einer Radikalkur sieht? Haben sie sozusagen schon alle den televisionären Vampirbiß erduldet, der sie zu Sucht- und Zwangszuschauern macht? Ist man von der elektronischen Bilderdroge nur zu kurieren, indem man die Bildermaschine zerstört? Handelt es sich da wirklich um eine elektronische Apokalypse, die auf den einzelnen zukommt, nach der Devise: Nach uns die Sintflut, wobei die Sintflut die permanente Bilderberieselung per Glasfiberkabel und Satellit rund um die Uhr und auf zwei Dutzend Kanälen und mehr meint 21 ? Nicht zu vergessen der Großflächen-Bildschirm und die elektronischen Bildspeichermaschinen 22 im heimischen Wohnzimmer?
18 19
Zitiert nach einem Bericht « D e r K n o p f » in der « Z e i t » Nr. 24 v. 5.6.1981, S. 16. Vgl. dazu auch die Glosse von Michael Schwarze «Weihnachten ohne Fernsehen», in: M.Sch.,
«Weihnachten ohne Fernsehen. Kulturpolitische Essays, Glossen, Porträts», Frankfurt a.M. 1984, S. 19-21. 20 D i e beiden Zitate nach Anm. 18.
21
Vgl. dazu den Bericht «Privatfernsehen: Nur noch Volksverdummung?» in: « D e r Spiegel» 33/51 v. 17.12.1979, S. 39-62.
22 Vgl. dazu die Dokumentation von Doris Angela Zimmermann «Bildschirmwelt. Die neuen Informationstechniken», München 1988.
u. Bernhard
Zimmermann:
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Alles das, was als kulturelle Errungenschaften den historischen Emanzipationsweg des Bürgertums einrahmt, Literatur, Theater, der ganze Sektor der Print-Medien 23 wird und würde (und wird ja schon zum Teil) von dieser elektronischen Bilder-Invasion hoffnungslos überspült und weggespült. Unterspült würden damit zugleich die Fundamente unserer kulturellen Identität. Diese kulturkritische Argumentationslinie soll hier nicht weitergeführt werden. Vielmehr soll auf dem Hintergrund der engen produktionsästhetischen Verzahnung von literarischer Arbeit und Medienumsetzung in der Entwicklung von Kipphardt das Eingangszitat aus «März» wieder in den Mittelpunkt treten, da doch das März-Projekt in vieler Hinsicht als Paradigma fungieren könnte, festgefahrene Positionen im Kulturbetrieb, die mit der kontroversen Einschätzung des Verhältnisses von Literatur und elektronischen Medien zu tun haben, aufzubrechen. Denn Kipphardt hat ja bei seinem März-Projekt nacheinander drei verschiedene formale Konkretisierungen versucht, deren Gattungszuordnung jeweils die Untertitel signalisieren: 1975 «Leben des schizophrenen Dichters Alexander M. Ein Film» (genauer: Ein Fernsehfilm), 1976 «März. Roman» 2 4 und 1980 «März, ein Künstlerleben. Schauspiel». Es ist also - wie schon beim Oppenheimer-Projekt - erneut der umgekehrte Weg: vom Fernsehen über den Roman zur Theaterpartitur. In der Regel verläuft der Weg ja anders: vom Buch zum Fernsehfilm, ein Weg der formalen Einbußen, der künstlerischen Austrocknung. Die Literatur fungiert lediglich als großes Stoffreservoir für Bildergeschichten, in deren Zweidimensionalität die eigentlichen Tiefendimensionen, die Anspielungsnuancen, der intellektuelle Tiefgang und die Zwischentöne der literarischen Vorlagen verlorengehen. Literatur im Fernsehen - und auch wenn sich die Autoren selbst daran setzen, die eigenen Bücher in TV-Skripte umzumodellieren scheint immer einen Vorgang der ästhetischen Einbußen zu meinen. Reinhard Baumgarts Feststellung, 1978 auf der PEN-Tagung über das Rahmen-Thema «Literatur und Fernsehen» 25 gesprochen: "Literatur als solche kommt im Fernsehen nicht vor - allenfalls nähert man sich ihr vom Rande - Verfilmung ist schon ein Stück Vernichtung." hat nachgerade kanonische Geltung. Die in Bildsequenzen, in eine sinnliche Zeichensprache übersetzte literarische Struktur im Fernsehfilm löst - so der weitverbreitete Konsens - die monologische Bewußtseinsinstanz des einzelnen Lesers, seine individuelle Vorstellungssyntax, in eine von vornherein allgemeiner angelegte kommunikative Bilder-Syntax auf. Gewiß, die ästhetische Bandbreite ist hier deutlich schmaler. Die Assoziationskurven pendeln sich auf einer mittleren Linie ein. Aber 23
Vgl. dazu den Bericht «Ausgelesen. Wie Fernsehen dem Buch in den Rücken fällt», in: «Stern» 38/42 v. 10.10.1985, S. 64-68. 24 München 1976. Wichtig ist die erweiterte Ausgabe im Rahmen der «Gesammelten Werke in Einzelausgaben»: «März. Roman und Materialien», Reinbek 1987. 25 In: «epd/Kirche und Rundfunk» Nr. 34 (1978), S. 5.
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die kommunikative Öffnung der Kunst-Konsumtion bedeutet ja nicht notwendig die Zerstörung des Kunst-Charakters im literarischen Werk. Es ist ja zumindest denkbar, daß die literarische Arbeit für das Medium Fernsehen traditionelle Gattungen der Literatur produktiv beeinflußt und verändert, zu strukturellen Mutationen führt, die die Gattungskonventionen verjüngen und innovativ verändern, daß das Fernsehen also unmittelbar zu einem produktiven Faktor im literarischen Arbeitsprozeß werden kann. Läßt sich eine solche Hypothese nicht in der Tat am Beispiel Kipphardts dokumentieren? Als die Fernseh-Realisation «Leben des schizophrenen Dichters Alexander M.» im Juni 1975 vom Z D F ausgestrahlt wurde, war auch die Öffentlichkeitsresonanz außerordentlich. Eine der tabuisierten Grauzonen unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die Wirkungsweise einer repressiven Psychiatrie, die den nicht anpassungswilligen, an der Gesellschaft Gescheiterten zum seelisch Kranken stigmatisiert und mit Elektroschocks, operativen Gehirneingriffen, mit Psychopharmaka und Kasernierung in Anstalten durch eine institutionalisierte Inquisition gleichsam einer sich als normal und gesund gerierenden Gesellschaft unterwirft, wird von Kipphardt am Beispiel des Schizophrenen Alexander März, hinter dem sich die reale Figur des Alexander Herberich bzw. Ernst Herbeck 2 6 verbirgt, ins Bewußtsein gebracht. Ken Keseys Roman «Einer flog über das Kuckucksnest» und auch der bemerkenswerte kontroverse Film darüber signalisieren die Gewichtung des Themas über eine rein deutsche Perspektive hinaus. Kipphardt hat zugleich den im Zuschauer-Bewußtsein angelegten Tabuisierungsmechanismus, nämlich die biographischen Trümmer dieser Personen-Vita nur als Fallstudie eines von der Gesellschaft ausgegrenzten Kranken anzusehen, dadurch außer Kraft gesetzt, daß er Alexander März zugleich als einen an der Gesellschaft gescheiterten Künstler sieht. Indem er so das Stigma des Kranken und gleichzeitig die Gloriole des Künstlers als gesellschaftliche Wertungsvorgaben widerlegt, unterläuft er die Immunisierung der Mittelpunktsfigur als Krankheitsfall, läßt er hinter der Schizophrenie eine Möglichkeit menschlichen Scheiterns aus individuellen Konfliktlagen heraus erkennen, die jeden betreffen. Die in 82 Takes segmentierte Filmhandlung wird in ihrer fragmentierten Struktur, die chronologische Gradlinigkeit und Entwicklungskontuität entschlossen aufhebt, zum Ausdruck der diskontinuierlichen Lebensgeschichte der Hauptfigur. Dieses Leben ist von keiner sich kausal auswirkenden Zukunftsperspektive bestimmt, sondern ist ein Bündel von widersprüchlichen Erfahrungszuständen, die auf Ich-Aushöhlung und Ich-Verweigerung ausgerichtet sind und nicht auf Entwicklung der Anlagen und 2Q
Vgl. dazu auch den Bericht des österreichischen Psychiaters Leo Navratil «Alexanders seelische Krankheit und die Entstehung seines literarischen Werkes», in dem von Navratil hg. Band: «Alexanders poetische Texte», München 1977, S. 11-30.
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Voraussetzungen, die auch in diesem Ich vorhanden sind. Es entsteht das Bild eines Lebens ohne Individuationsmöglichkeit, angefangen bei dem Geburtsfehler der Gaumenspalte, der Erziehungszwangsjacke eines autoritären Vaters, der gluckenhaften Gefühlsentmündigung durch die Mutter, der unterschwelligen, nie verarbeiteten Eifersucht auf die später geborene, von allen vorgezogene Schwester bis hin zu den verschiedenen Niederlagen der vergeblichen Sozialisation in einem Beruf, in der Beziehung zu Frauen, in der Orientierung auf eine Umwelt, die ihm nur Widerstände entgegenzusetzen scheint und als institutionalisierter Widerstand ihn schließlich in der psychiatrischen Landesklinik einschließt und seine Ansätze zu einer eigenen Persönlichkeitsentwicklung wegtherapiert. Die zeitliche und räumliche Mobilität der elektronischen Kamera entwickelt in der Aufeinanderfolge der einzelnen Bildsequenzen einen assoziativen Montagestil, der die Aufmerksamkeit des Zuschauers nicht zur Ruhe kommen läßt und obendrein eine vordergründige Mitleidsidentifikation verhindert. Die Leidensgeschichte des Protagonisten wird so nicht im Mitleid des Zuschauers neutralisiert, sondern in der Rückbeziehung auf die konkreten gesellschaftlichen Details der jeweiligen Misere provokativ ins Bewußtsein des Zuschauers eingeätzt. Die Lebenssplitter aus der Kindheit, der vorklinischen Existenz des Alexander März, erweitern sich in der Aufeinanderfolge der einzelnen Sequenzen nicht zur äußerlichen Allgemeinheit der Lebensgeschichte, sondern werden auf eine andere Allgemeinheit hin transparent: auf die der konditionierenden Kräfte, die diese Lebensansätze von vornherein zu einem entfremdeten Leben machen. "Manchmal ist Ich sehr schwer."27, äußert März an einer Stelle. Ja, Kipphardts Diagnose geht darüber hinaus: Der Versuch, ein Ich zu werden, wird unterbunden, wenn man ins Räderwerk der institutionalisierten Normen gerät. Kipphardt, der in der filmischen Realisierung engstens mit seinem Regisseur Voitek Jasny zusammenarbeitete, die üblichen Widerstände der Produktionsmaschinerie deutlich einebnen konnte und in dem sensiblen Schauspieler Jacobi eine geradezu ideale Besetzung für die Rolle des März fand, gelingt es so, die Geschichte des Alexander März, die retrospektiv aus charakteristischen Erfahrungsfragmenten zusammengesetzt und auf der Gegenwartsebene durch die Beziehung zwischen März und dem ihn behandelnden Psychiater Kofier zusammengebunden wird, weder zur Allegorie psychiatrischer Inquisition auszutrocknen, noch über das Einzelschicksal des Alexander März den Blick für die Zustände dahinter zu verlieren. Er erreicht eine seltene Balance von diskursiver Darstellung, am Beispiel sprechender Argumentation und emotionaler Intensität, die aus der Schmerzerfahrung der Hauptfigur spricht. Keine noch so genaue Beschreibung der Wirkung von Elektroschocks löst einen vergleichbaren Erkenntnisschock aus, wie das in Großaufnahme während einer 27
Zitiert nach der Romanfassung, S. 225, im Drehbuch auf S. 79.
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solchen Behandlung gezeigte, vom Schmerz in Besitz genommene und gleichsam leergefegte Gesicht des Schauspieler Ernst Jacobi, der den Alexander März in der Fernseh-Realisierung spielt. Die diskursive Darstellungslinie hat Kipphardt in der Figur des Psychiaters Kofier personalisiert, der den Patienten März betreut, immer stärker den Menschen, den Künstler und nicht den mit psychischen Defekten behafteten Patienten in ihm sieht und zugleich die Behandlungsmethoden der Psychiatrie immer mehr anzweifelt. Diese diskursive Linie zeigt sich in den zu Anfang leitmotivisch eingeblendeten Bildsequenzen, die den Direktor der Anstalt bei einer Besichtigungstour durch die Klinik mit einer Delegation aus Malawi zeigen, der er das Hohenlied von den Fortschritten der modernen Psychiatrie singt. Dieses Öffentlichkeitsbild der Selbstrepräsentation, das sicherlich der subjektiven Überzeugung der meisten Ärzte entspricht, und die faktische Destruktionswirkung der Psychiatrie am Beispiel von März' Geschichte stellen die unüberbrückbare Kluft dar, die im 68. Take, einem einmontierten dokumentarischen Exkurs direkt auf den Begriff gebracht wird: "In der Bundesrepublik Deutschland gibt es gegenwärtig etwa 600 000 Kranke des schizophrenen Formenkreises, mehr als 1 Million Alkoholiker, 7 Millionen behandlungsbedürftige Neurotiker. Wegen psychischer Erkrankungen werden jährlich 200 000 Bundesbürger in 130 spezielle Kliniken eingewiesen. 59 Prozent bleiben länger als 2 Jahre, 31 Prozent sogar länger als 10 Jahre in einem Fachkrankenhaus. [...] Ein heute in der Bundesrepublik geborenes Kind hat eine mehrfach größere Chance, in eine Heilanstalt zu kommen, als auf eine Universität. 8 Die sozialpolitische Perspektive, die hier unverhüllt durchschlägt, verleiht der klinischen Geschichte des Beispiels März ihre eigentliche Brisanz. Der Damm, den die Gesellschaft errichtet hat, ist ein kollektiver Verdrängungsakt. Die Institution, die im Dienste dieser Verdrängung funktioniert, die Psychiatrie, ist nicht an Rehabilitation, sondern an Gettoisierung interessiert. Sie ist keine Schutzmaßnahme für den einzelnen, sondern eine Schutzmaßnahme der Gesellschaft. Auch unter formalem Aspekt ist dieser Exkurs bemerkenswert. Dokumentiert er doch eine jener Nahtstellen, an denen sichtbar wird, daß eine solche Erkenntnisausweitung im Sinne einer beispielhaften Information mit filmischen Mitteln nur sehr schwer umzusetzen ist, daß der Film sozusagen gezwungen ist, seine fiktionale Bildersprache an einer solchen Stelle zu durchbrechen und - vergleichbar einem Illusionsbruch im Theater - hier diese Information als kompakten Textblock einzumontieren. Sicherlich wäre auch die Möglichkeit gegeben, Kofier diesen Text aus dem Off sprechen zu lassen, aber er würde dann nicht nur auf einen Kommentar zu dem konkreten Fall März eingeengt, sondern würde durch die Zuordnung auf den Erfahrungshorizont des Psychiaters auch personalisiert, verlöre die intendierte Allgemeinheit einer Information über einen objektiven Tatbestand. An solchen Stellen setzt dann auch primär die Darstellungs-
2 8
Zitiert nach dem Drehbuch (Anm. 1), S. 77/8.
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weise des Romans ein, der solche Übergänge vom konkreten Erzählbeispiel zum generellen Informationshintergrund sehr viel leichter bewerkstelligen kann. Das ist dann auch eine der zusätzlichen Dimensionen, die in der Romanfassung des MärzProjektes hinzukommt. Daß der einzelne, der schon Opfer der Gesellschaft ist, noch ein zweites Mal von der Psychiatrie zum Opfer der Gesellschaft gemacht wird, wird im sich bestätigenden Zusammenschluß von Anfang und Ende durch ein suggestives Zentralbild betont. Als Kofier, ein junger Assistenzarzt an der Landesklinik, sich an einem Herbsttag im Auto der Klinik nähert, macht ihn der "Ecce homo"-Schriftzug auf einem Stop-Schild vor der Klinik auf folgendes Bild aufmerksam: "Er bemerkt einen Mann, gekreuzigt im Apfelbaum. Der Mann ist nackt, die Seite wie blutbeschmiert, die Füße wie durchbohrt, auf dem Kopfe allerdings einen goldenen Lorbeerkranz. Kofler, tief erschrocken, erkennt den Mann. Es ist sein Patient Alexander März." (S. 7) In dem kurzen sich daran anschließenden Gespräch äußert März die Sätze: "Ich, wäre ich Christus, wäre recht. [...] Daß er wie ich von seinesgleichen ermordet wurde. [...] Ich bin nichts wert. Ich kann mich nicht einordnen." (S. 7) Am Ende dieses Filmes steht eine Wiederholung dieses scheinbaren Happenings mit einer schockauslösenden Variation: "[...] er sieht im Nebellicht der Scheinwerfer tatsächlich wieder den nackten Alexander gekreuzigt im Baum stehen, lächelnd, eine Zigarette im Mund. [...] Nach einer Pause zündet sich der Gekreuzigte wie damals die Zigarette an. Eine wilde Feuersbrunst fährt über den Mann und den ganzen benzinübergossenen Baum." (S. 92) Aus dem Rollenspiel ist Wirklichkeit geworden, nachdem die institutionalisierte Ichunterdrückung auch jene zaghafte Individuationshoffnung in der Liebe mit Hanna ausgelöscht hat und März die Konsequenz aus seinem Zustand zieht. Das Entsetzen Kofiers ist auch das Entsetzen des Zuschauers, da Kofiers in seinem Umgang mit März immer stärker werdende Zweifel an der Funktionsweise der Psychiatrie und an seiner eigenen Rolle in dieser Institution im gesamten Film jene Fähigkeit zur kritischen Einsicht artikulieren, die der Film hier, in einem Personengleichnis gebündelt, zugleich an den Zuschauer weitergeben will. Unter dem Aspekt dieser Erkenntnisfunktion ist Kofler zugleich der Agent des Zuschauers: Er bleibt in seinem Handeln zwar immer noch an das Organisationssystem Psychiatrisches Krankenhaus gebunden, erkennt aber immer stärker die Fragwürdigkeit seines Handelns und stößt in seiner Kommunikation mit März zugleich in Bereiche vor, die die klinischen Zuweisungsmuster seiner Profession aufheben und eine Ebene der menschlichen Begegnung zwischen März und ihm antizipieren. Das ist letztlich auch das Erkenntnisziel, zu dem der Film den Zuschauer hinzufuhren versucht.
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III. Die große Resonanz, die dieser Fernsehfilm Kipphardts in der Öffentlichkeit gefunden hat, galt auf andere Weise auch für die Romanfassung 2 9 , obwohl es andererseits überraschend ist, daß die professionelle Literaturkritik die ursprüngliche Fernseh-Realisierung nahezu wie einen eher beiläufigen Probelauf überging und den Stoff erst in dieser traditionellen Literaturgattung als literarisch ernstzunehmende Gestalt akzeptierte. Dabei läßt sich hier am Beispiel des März-Romans ein analoger entstehungsgeschichtlicher Sachverhalt erkennen, wie er bereits bei dem Oppenheimer-Stück festzustellen war: Die ästhetische Form der Fernsehfassung hat da wie dort die literarische Fortschreibung entscheidend beeinflußt. Die dramaturgische Struktur des Hearings als formaler Grundriß von «In der Sache J . Robert Oppenheimer» hat ihren Ursprung ebenso in der formalen Organisation der Fernsehfassung, wie auch die komplizierte Montageform des Romans, der zahlreiche Sprachelemente, März-Texte, Tagebuchnotate Kofiers, Auszüge aus den vorklinischen Krankheitsgeschichten, dokumentarisches Material von Kranken-Geschichten und nicht zuletzt fünfundzwanzig Gedichte Herbecks 3 0 in modifizierter Form, in das Prosagewebe integriert, auf die Montageform des Films zurückweist. Die aus einzelnen Szenensegmenten montierte Form des Films ist konsequent in die literarische Struktur übersetzt worden, die mit Dokumenten, Zitaten, kurzen Erzählpartikeln aus ständig wechselnden Perspektiven die Form des Films gleichsam fortschreibt. Einzelne gefrorene Augenblicke der Darstellung weisen nicht nur unmittelbar auf die filmische Vorlage zurück - die physiognomische Beschreibung des März im Roman läßt nicht nur unmittelbar an den Schauspieler Ernst Jacobi denken -, darüber hinaus wirken Textpartien wie etwa die Ausdeutungen von Familienfotos, in denen Vergangenheit vergegenwärtigt wird, unmittelbar wie die Übertragung von Standbildern, die von einem Berichterstatter aus dem Off in der Fernseh-Realisierung erläutert werden. Gewiß, der Erzähler des Romans erreicht nicht annähernd die kombinatorische Flexibilität
der
Kamera.
Wo
eine
kurze
Bildsequenz
in einem
bestimmten
Montagekontext assoziativ Bedeutung akzentuiert, muß der Erzähler vorbereiten, einleiten und zum Teil umständlich miteinander verzahnen. Das Bild besitzt eine explosive Bedeutungskraft, die die Sprache nur umschreibend erreichen kann. Dafür erfassen im Gegenzug die erzählerischen Rückblicke des Romans mehr biographisches Material, mehr Wirklichkeitsstoff und Informationselemente. Der Roman geht auch noch in einer anderen Beziehung weiter als die Fernseh-Vorlage: E r vertieft den Überzeugungs-Diskurs gegen die herrschende Praxis der 29
Vgl. etwa die Besprechungen von Albert v. Schirnding in: «Süddeutsche Zeitung» v. 26.5.1976, Ulrich Greiner in: «Frankfurter Allgemeine» v. 10.7.1976 oder Elisabeth Endres: «Heinar Kipphardts Durchbruch», in: «Merkur» 339 (1976), S. 785-788, ferner die Materialien in der Ausgabe des Romans innerhalb der «Gesammelten Werke in Einzelausgaben» (Anm. 24). 30 Vgl. dazu auch den abwegigen Plagiatsvorwurf des österreichischen Kritikers Paul Kruntorad: «Nur 'beeindruckt'?», in: «Frankfurter Rundschau» v. 14.10.1977, dazu auch Kipphardts Erwiderung in der Nr. v. 15.10.1977.
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Psychiatrie als von der Gesellschaft eingesetzte Verdrängungsinstanz. Die von der kombinatorischen Mosaikstruktur der Fernseharbeit deutlich bestimmte Montagestruktur des Romans mag letztlich in der ästhetischen Orchestrierung reicher sein, ob der Roman jedoch der Wirkungsintensität des Fernsehfilms auch nur vergleichsweise nahekommt, ist sehr zu bezweifeln. Läßt sich die ästhetische Bearbeitung dieser Vorlage noch steigern? Gerade das scheint Kipphardt zu implizieren. Wie anders wäre es zu erklären, daß er 1980 noch eine weitere formale Realisierung versucht - auch ein Hörspiel war dazwischen geschaltet -, und zwar als Schauspiel: «März, ein Künstlerleben». Kipphardt hat zugleich von dieser Version gemeint: "Das Stück, von meinem Roman «März» ausgehend, ist keine Dramatisierung des Romans. Es verfolgt weitergehende Ziele und ist die entschiedenste Ausprägung des Stoffes." 3 1 Hier beginnen nun auch auf der Ebene des Autors die Probleme. Warum das Verschweigen der doch exemplarisch gelungenen dramatischen Ausgangsform in der Fernseh-Realisierung? Ist das die unterschwellige Abwehr des Vorwurfs einer bloßen Verdoppelung in einem neuen Gattungsrahmen, der möglichen Unterstellung einer optimalen Auswertung des Stoffes in allen möglichen Gattungsmustern, ohne daß es bei diesem literarischen Mutationsprozeß dann wirklich noch um die Herausarbeitung der sich aus dem Stoff am adäquatesten herausschälenden Form geht? Der Roman, in seiner narrativen Montagestruktur ohnehin dem Assoziationsgeflecht der filmischen Sequenzen engstens verschwistert, hat die Dimensionen der Fernseh-Realisierung zwar angereichert und vertieft, aber die Intensität der Wirkung nicht übertroffen, den die Ursprungsfassung ausstrahlt. Die Flexibilität der Kameraführung und der Schnittechnik, die es erlauben, die Kontinuität von räumlichen und zeitlichen Situationen zu parzellieren und neu zu kombinieren, spiegelt sich so auch in der narrativen Linienführung des Romans, in der Verschlungenheit der assoziativ verknüpften Erzählpartikel. Vom traditionellen Roman ist das denkbar weit entfernt: kein auktorialer Erzähler, keine auf längeren Strecken dominierende Personen-Perspektive des Erzählens, keine eindeutig modellierte und den Erzählprozeß dominierende Mittelpunktsfigur, keine chronologische Kontinuität, keine Entwicklungsperspektiven und finale Zielausrichtung. Unter diesem Aspekt läßt die Romanfassung, gespiegelt im formalen Inventar der Gattungskonvention, durchaus auch gattungsinnovatorische Züge erkennen, die Elemente der ursprünglichen Fernsehfassung übernehmen und anverwandeln. Richtet man den Blick auf die Dramenfassung, verläuft der Prozeß eher umgekehrt. Das Drama erweist sich in dieser Konstellation von Gattungsmutationen als die konservativste, am stärksten die Konventionen der Gattung bewahrende Form. Der un31
Zitiert nach dem Nachwort der Dramenfassung, Köln 1980, S. 115.
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beweglichere Theaterapparat beschwert die freie Handhabung der poetischen Imagination. Das zeigt sich nicht nur in der Übernahme der fünfaktigen Gliederung des Stoffes, Prolog und Epilog nicht eingerechnet, sondern auch in dem damit halbherzig übernommenen Appell, die Disparatheit des Stoffes einem finalen Handlungsschema zu unterwerfen, das im Sinne einer sich entwickelnden, in Konflikten verknoteten Fabel formal Kontinuität vorgibt, wo inhaltlich keine vorhanden sein kann. Das führt dann dazu, daß die den einzelnen Aufzügen in durchlaufender Leuchtschrift vorangestellten Überschriften einen Zusammenhang suggerieren, der trügerisch bleibt. Als Stilzug des epischen Theaters müßte das eigentlich der kognitive Hinweis auf den objektiven historischen Prozeß sein, dem sich die episch gegliederten Szenen, die nicht mehr an das finale Handlungsschema des Aristotelischen Theaters gebunden sind, einfügen. Bei Kipphardt ergäbe einen Zusammenhang höchstens das klinische Modell einer sich entwickelnden Schizophrenie, was aber seiner tatsächlichen Darstellungsabsicht zuwiderliefe. So bleiben die Überschriften vor den einzelnen Aufzügen, ganz besonders im vierten und fünften Akt, die "Szenen in Graubünden" und "Die Rückkehr" überschrieben sind - wo Kipphardt in der Tat nur stofflich eine Erweiterung des Romans dramatisiert, nämlich den Ausbruchversuch von März und Hanna: die kurze vergebliche Liebesgeschichte der beiden in der Schweiz -, nur äußerliche Informationshilfen für den Zuschauer. Wo sowohl die Fernseh-Kamera als auch die erzählerische Imagination im Roman Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft in Situations-, Erinnerungs- und Wunschsequenzen spontan ineinander montieren können, erlaubt die schwerfällige Apparatur des Theaters die Umsetzung einer solchen Bewußtseins-Syntax in den hier vorhandenen formalen Möglichkeiten lediglich in Ansätzen. Rückblenden müssen umständlich eingeleitet werden und kompakter ausgespielt werden. Kipphardt greift dabei entweder zu filmischen Hilfsmitteln 32 , etwa der "Camera lucida", die in vielen Szenen "zum Nachzeichnen der Vergangenheit" (S. 27) eingesetzt wird, oder dem akustischen Hilfsmittel des Abhörens von Tonbändern, auf denen die Berichte der Eltern eingespielt werden. Oder er läßt Kofier sogar mit der Videokamera filmen. Gerade hier, wo in der Fernseh-Realisierung die optisch präsentierte Sequenz mit der Stimme der jeweiligen Person aus dem Off gekoppelt und höchste Konkretisierung der Vergangenheitseinblendung erreicht wird, zeigt sich die Schwerfälligkeit der formalen Ausdrucksmöglichkeiten auf der Theaterbühne. Das gilt auch für die Darstellung der Reflexionsszenen Kofiers. Wo im Fernsehfilm die aus dem Off kommende Stimme Kofiers zu seiner Bewußtseinsstimme wird, die eine Bildsequenz begleitet und kommentiert, wo im Roman die Reflexion durch die Montagestruktur direkt akzentuiert werden kann, muß Kofier im Drama wie ein Schillerscher Held an 32
Das ist eine auf Piscator zurückweisende Technik, die auch «In der Sache J. Robert Oppenheimer» eingesetzt wurde.
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die Rampe treten und "ad spectatores" (S. 27) deklamieren, oder er spricht seine Reflexionstexte in die Diktiermaschine. Man könnte sicherlich argumentieren, daß Kipphardt die diskursive Darstellungslinie im Drama nachdrücklicher zeichnet, indem er hier in der Handlung sowohl die März umgebenden anderen Patienten stärker modelliert und szenisch berücksichtigt als auch Kofiers Kollegen, den Klinikdirektor Feuerstein, die Ärztinnen Hoffe und Herbst stärker in den Vordergrund rückt und ihnen in der Dramenhandlung mehr Gewicht verleiht. Aber erweist sich das als ein qualitativer Zugewinn? Entspringen diese Erweiterungen nicht eher aus der Notwendigkeit des Dramas nach mehr szenischer Variabilität durch die Einführung zusätzlichen Personals und nach mehr auf der Bühne sichtbar vorhandener Handlung? Die realistische Abbildfunktion des Dramas verlangt nach mehr Wirklichkeit zur Konturierung des Protaganisten. Wo sich die Fernseh-Version und auch der Roman auf die Bewußtseinsprozesse von März und Kofier konzentrieren und von hieraus die Verdrängungsinstanz der Psychiatrie problematisieren, wird die Wirkungsweise der Psychiatrie nun gleichsam objektiver dargestellt, indem Kofler beispielsweise im Verhalten seiner Kollegen gespiegelt wird. Die sozialpolitische Schärfe, die die Fernseh-Fassung und auch der Roman haben, wird damit jedoch abgeschwächt. Nur in einer einzigen Szene, der 15. des dritten Aufzugs, die "Sexualität im Asyl" (S. 52) überschrieben ist und die Ärztin Else Herbst im Gespräch mit dem Patienten Albert Zenger zeigt, kommt ein entscheidender Aspekt neu hinein. Die "psychische Folterung in der Anstalt" (S. 52), die hier zur Sprache kommt, ist die institutionelle Verwandlung der Patienten aus Geschlechtswesen in paralysierte Neutren, mit denen beliebig verfahren werden kann. Das stellt auf der diskursiven Darstellungslinie eine wichtige Ergänzung zu der Liebesbeziehung zwischen März und Hanna Graetz dar, einer Liebesbeziehung, die von der Anstalt als etwas Verbotenes geahndet wird und die Flucht der beiden veranlaßt. Aber sonst? Ästhetische Signifikanz, die über den Fernsehfilm und die Romanfassung hinausreicht, läßt sich in der Dramenversion schwerlich ausmachen. Kipphardt hat, so könnte man zugespitzt sagen, im letzten Arbeitsgang den Stoff in ein Gattungsmuster gepreßt und dabei zugleich entscheidende ästhetische Dimensionen amputiert, die sowohl den Fernsehfilm als auch den Roman zur wichtigeren, ja, gültigeren Realisierung machen. Es erhebt sich die Frage nach dem Warum. Ist es nur der Drang, sich literarisch weiter auf einem Weg zu profilieren, der Kipphardt im Literaturleben der Gegenwart Erfolg gebracht hat: der Weg als Dramatiker der Stücke «Shakespeare dringend gesucht», «Die Stühle des Herrn Szmil», «Der Hund des Generals», «Joel Brand. Die Geschichte eines Geschäfts» und besonders «In der Sache J. Robert Oppenheimer»? «März, ein Künstlerleben» ist seit der vielbeachte-
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ten Uraufführung im Oktober 1980 am Düsseldorfer Schauspielhaus 33 in derselben Spielzeit noch in Frankfurt, Köln, Darmstadt, München, Augsburg und Freiburg aufgeführt worden und hat auch seinen Weg ins Ausland gefunden. Wenn nicht alles täuscht, löst sich diese Paradoxie unter diesem Distributionsaspekt. Selbst ein hochgerühmtes und mit Kulturpreisen versehenes Fernsehstück wie «Leben des schizophrenen Dichters Alexander M.» wird, aus der Programmaktualität einmal herausgeraten, von den Fernsehanstalten unfreiwillig als Wegwerfliteratur behandelt. Einige wenige Male in langen Abständen wiederholt, wird es archiviert und allmählich vergessen. Die öffentlichen Anstalten, die gewiß nicht spartanisch mit ihren Mitteln umgehen, tun von sich aus wenig oder nichts, um in den traditionellen Kulturbetrieb vorgetriebene Brückenköpfe der Leistung abzusichern, ein Medium ohne geschichtliches Bewußtsein, zumindest zur Zeit noch. Daß sich ähnlich wie auf dem Theater ein Repertoire herausragender Stücke bilden könnte, daß man Fernseharbeiten von neuen Regisseuren und neuen Schauspielern nach Ablauf mehrerer Jahre nochmals realisieren läßt, scheint zur Zeit völlig undenkbar. Was einmal dagewesen ist, wird abgehakt. Während ein Dramatiker immerhin noch die Chance hat, in der zweiten und dritten Inszenierung endlich von einem Regisseur durchgesetzt zu werden, hängt das Schicksal der Fernsehautors von der einen Realisierung ab. Und selbst wenn sie wie in Kipphardts Fall exzeptionell gelingt, wird sie vom Apparat wieder vergessen. Nur was neu ist, zählt. Auf diesem Hintergrund wird es verständlich, daß ein Autor wie Kipphardt die dramatische Fassung seines März-Projektes in die Distributionskontinuität des Theaters einschleust, auch wenn die ästhetische Umsetzung in diesem Gattungsrahmen hinter der Roman- und Fernseh-Fassung deutlich zurückbleibt. Erst wenn die permanente technische Reproduzierbarkeit auch auf die Fernseh-Produktionen 34 ausgedehnt wird, wenn sich ein Repertoire von herausragenden Fernseh-Produktionen bildet und damit auch ein neuer Kanon einer Medien-Literatur, wird sich die am Beispiel Kipphardts dokumentierte Paradoxie auflösen lassen. Kipphardts März-Projekt ist also auf zweifache Weise Paradigma, bezogen auf die Konfrontation zwischen Buch-Literatur und Medien-Literatur: Das Medium kann literarisch produktiv werden und aus Stoffen Formen hervortreiben, die den traditionellen Gattungen überlegen, zumindest gleichwertig sind. Doch die Geschichtslosigkeit der gegenwärtigen Medienpraxis, die sich in der Distributionssituation dokumen-
33 Vgl. etwa die Besprechungen von Heinrich Vormweg «Ein Gekreuzigter heute» in: «Süddeutsche Zeitung» v. 18./19.10.1980, von Jochen Schmidt «Faszination der Psychose», in: «Frankfurter Allgemeine» v. 21.10.1980 oder Helmut Schödel «Der Schatten der Freiheit», in: «Die Zeit» v. 24.10.1980. 34 In der negativen Variante ist das zum Teil schon Realität durch die endlosen Wiederholungen mediokrer Filme, die den Sendern von einigen wenigen monopolistischen Programm-Pool-Besitzern (wie etwa Leo Kirch) in großen Programm-Pakten aufgenötigt wurden und die solcherart aus rein ökonomischen Gründen die Kosten wieder einspielen müssen.
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tiert, verhindert zugleich, daß die Integration dieser Leistung in das noch immer geltende Kulturbewußtsein vollzogen wird. In einem von Kipphardts letzten Büchern, dem Band «Traumprotokolle»35 findet sich unter dem Datum des 5.4.1981 die folgende Eintragung: "Ich besuchte Oppenheimer, der in einem großen vergammelten Schloß wohnte, einem Gutsbetrieb. Die hölzernen Gutstore waren elektronisch gesichert und öffneten sich, sobald man von Sensoren abgetastet worden war. [...] Wir unterhielten uns über deutsche Literatur; Ob das Bilderlesen nicht wie in Amerika die Zukunft sei?" (S. 202)
35
München 1981.
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Science Fiction im Fernsehen: Gespräch mit Rainer Erler
Fernseharbeit als Schreibarbeit D: Herr Erler, in Hinblick auf die Funktionsveränderungen, die die Literatur unter dem Einfluß des Mediums Fernsehen genommen hat, sind Sie in gewisser Weise der interessanteste Fall. Sie sind erst zum Schriftsteller geworden, als Sie sich im Bereich des Fernsehens bereits durchgesetzt hatten. Die große Zahl von Preisen für Filmarbeiten spricht deutlich für Ihr Renommee im Medium Fernsehen, und Ihr Bekanntheitsgrad als Regisseur und Filmemacher ist außergewöhnlich hoch. Als Schriftsteller aber sind Sie der Öffentlichkeit zur Zeit nur begrenzt bekannt. Verfolgt man Ihre Biographie, dann läßt sich ein Zeitpunkt ausmachen, ab dem bestimmte schriftstellerische Absichten in Ihren Produktionsgewohnheiten einen größeren Stellenwert eingenommen haben. Und unter diesem Aspekt würde ich Sie durchaus als einen Autor sehen, der nicht traditionsgebunden in erster Linie für ein Publikum schreibt, das auf den Informationsträger Buch fixiert ist, sondern der bereits früh davon ausgegangen ist, daß die Vermittlung des Wortes auch über den Film und über den Bildschirm erfolgen kann. Aber trotzdem haben Sie ja auch Bücher geschrieben. Nun könnte es ja nach dem bereits Gesagten so sein, daß Sie auch mit Ihrer genuin schriftstellerischen Arbeit, das heißt mit ihren Büchern Absichten verfolgen, die sich von denen traditioneller Buchautoren unterscheiden. Wie sieht das aus Ihrer eigenen Perspektive aus? Sehen Sie die Schriftstellerei nur als ein zusätzliches Element in Ihrer sonstigen Arbeit, oder gehört sie wesentlich zu Ihrer Selbstdefinition als Künstler? Sie haben ja ganz zu Anfang auch Theaterstücke geschrieben, was den Schluß zulassen könnte, Rainer Erler habe seit eh und je schriftstellerische Ambitionen gehabt. E: Der Wunsch, Filme zu machen und zu drehen, ist bei mir sehr alt. Ich war 12 oder 13 Jahre alt, als ich nach dem Krieg zum ersten Mal mit amerikanischen Filmen in Berührung kam. Dann kamen die französischen Filme. Die große weltweite Produktion, die den Deutschen vorenthalten worden war, kam nun in dieses Land, und es war ungeheuer reizvoll für mich, das Medium Film zu erleben. Die Liebe galt damals schon dem Theater, aber das Interesse war beim Film. Für mich war es selbstverständlich, daß man erst einmal ein Autor sein muß, um einen Film zu machen, da jeder Film eine Vorlage verlangt. Und es war mir klar, daß diese Vorlage nicht literarisch sein darf, sondern nach dramaturgischen Grundsätzen und Regeln erstellt werden muß. Es muß ein Drehbuch sein. Das alles hatte ich im Laufe der Zeit gelernt. Als ich dann nach dem Abitur beim Film als Regieassistent anfing, wußte ich, daß ich schreiben können muß. Und das habe ich zu diesem Zeitpunkt einige Male
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probiert. Ich habe Drehbuchfragmente geschrieben, die nie verfilmt worden sind, andere Texte und auch die Theaterstücke, die Sie erwähnt haben. Die Arbeit beim Film und beim Fernsehen war und ist für mich mit ganz wenigen Ausnahmen immer zuerst eine Schreibarbeit. Zuerst wird ein Konzept angefertigt. Erst wenn die Konzeption stimmt und die Dialoge in Ordnung sind, kann man anfangen, einen Film daraus zu machen. Autor und Regisseur D: Auf den ersten Blick leuchtet das ein. Andererseits ist es aber auch so, daß die Autoren, die zunächst für ein traditionelles Lesepublikum gearbeitet haben, beim Medium Fernsehen immer wieder diese Erfahrung der Degradierung machen. Sie sind in der administrativen und hierarchischen Leiter der Produktionsorganisation Fernsehen ziemlich weit unten angesiedelt und werden in der Regel von denjenigen, die die Produktionsapparatur beherrschen, nur als Textzulieferer eingestuft. Sie selbst berichten an einer Stelle der Romanfassung der «Delegation» von einem Nachwuchsautor, der von zwei Redakteuren fertiggemacht wird, und später kommt eine Stelle, wo Sie sagen, jetzt gebe es wieder einen, dem man sein Selbstbewußtsein untergraben und die Illusion geraubt habe, er habe Talent und könne schreiben. Vielleicht ist es nicht ganz ungerechtfertigt, solche fiktiven Erfahrungen auch ein wenig an Ihrer eigenen Entwicklung festzumachen. Es fällt ja auf, daß Ihre literarischen Ambitionen der Anfangsjahre immer mehr zurücktraten und schließlich nur noch in einem funktionalen Kontext erkennbar blieben. Sie haben dann nur noch Texte für Film- und Fernseharbeiten geschrieben. Ist also die Entscheidung für das Medium Film und das Medium Fernsehen nicht auch bei Ihnen mit einer gewissen Unterdrükkung des schriftstellerischen Impulses verbunden gewesen? E: Ja, aber ehrlich gesagt, habe ich mich nie unterdrückt gefühlt. Das mag daran liegen, daß ich in bezug auf die Realisierung meiner Arbeit ungeheuer stur bin. Ich wollte damals nicht Bücher schreiben, wollte mich nicht irgendwie literarisch verwirklichen. Ich wollte Filme machen! Buch und Film, das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Einen Film zu machen bedeutet, eine Handlung, ein Schicksal oder sonst etwas darzustellen. Im literarischen Medium aber beschreibt man. Wenn heute ein Autor für den Film und für das Fernsehen arbeitet, dann muß er wissen, daß der Regisseur der Urheber eines Filmwerks ist. Der Regisseur macht den Film. Der Autor kann als Literat immer nur die Vorlage liefern. Er ist der Urheber dieser Vorlage, aber er ist nicht der Urheber des Filmwerks selbst. So ist es auch, zumindest in den Konmientaren zum neu gefaßten Urheberrecht festgeschrieben worden, und das entspricht auch durchaus der Praxis. Filmwerke sind selbstverständlich sehr komplex. Dramaturgen und Redakteure arbeiten in Hebammenfunktion mit. Der Regisseur braucht unter Umständen auch mal zwei oder gar drei verschiedene Drehbuchauto-
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ren, um das bereits vorhandene literarische Werk eines Dritten in eine filmische Vorlage umsetzen zu lassen. Der Autor kann eigentlich nur sagen: "Ich bin bereit, mein Werk verfilmen zu lassen". Und dann muß er das auch mit allen Konsequenzen durchstehen, muß billigen, daß man seine literarische Vorlage filmisch verändert. Und
eventuell
sogar
mißbraucht.
Weil
die
Auflage
hoch
ist
und
Best-
sellerverfilmungen sich gut verkaufen. D: Man könnte jetzt sagen, das Theater sei das Modell für diese Art der Produktion gewesen. Beim Theater hat ja auch ein gewisser Produktionsapparat seit langer Zeit die Aufgabe übernommen, den literarischen Text auf den Weg der Kommunikation zum Publikum zu bringen. Anders aber als bei Film und Fernsehen hat der Theaterautor seine Rolle als der eigentlich Schöpferische behaupten können. Seine Stellung ist niemals ernsthaft unterhöhlt worden. Wie es bei Film und Fernsehen zugeht, mag eine kleine Episode am Rande beleuchten. Vor einigen Tagen wurden die «Phantasten» von Dieter Wellershoff wiederholt. Der Fernsehansager stellte das Fernsehspiel als Film von Peter Beauvais vor, und der Name des Autors wurde überhaupt nicht erwähnt. Als dann der zweite Teil gebracht wurde, hat man vielleicht aufgrund von Protesten den Namen des Autors genannt: Aus Dieter Wellershoff wurde allerdings Dieter Wellerhoff. Ist diese Anekdote nicht doch für eine gewisse Unterbewertung des Autors bezeichnend? E: Nein, ich würde fast widersprechen. Die Anekdote ist kennzeichnend für Pannen, die in einem großen administrativen Apparat zwangsläufig immer wieder auftauchen. Vermutlich hat sich der Autor selbst beschwert. In der Tradition des Films war es eigentlich bisher immer so, daß irgendwo auch stand, wer die ursprüngliche literarische Vorlage geliefert hatte. Bei Hitchcock's «Die Vögel» wurde dann auch Daphne du Maurier genannt, und irgendwo konnte man auch lesen, wer erstens und zweitens und drittens am Drehbuch mitgewirkt hatte. Das ist der große Unterschied zur Bühne. Wer heute als Regisseur ein Theaterstück inszeniert, der ist ein Interpret. Von Theaterkollegen höre ich ungern: "Ich habe das Stück völlig neu aufgefaßt, ich habe es ungeheuer eingestrichen und bearbeitet, ich habe eine absolut neue Konzeption entwickelt". Ich halte diese Form der arroganten Kreativität für falsch und für überheblich. Für das Theater liegt eine dramaturgisch-literarische Form vor, und wenn man als Regisseur für das Theater arbeitet, hat man als Interpret bescheiden zu sein. Man hat dieses Stück - und den Autor - zu respektieren und gemäß den Intentionen des Urhebers zu interpretieren und nicht sich selbst anhand und auf Kosten dieses Werks zu verwirklichen. Ich bin da puristisch. Beim Film ist es anders. Der Film lebt erst durch die Bildsprache und die Bilddramaturgie. Und die kann nur durch den Regisseur geschaffen werden. Da ich auch Autor und genauso wie im Bundesverband der Regisseure auch in Schriftstellerverbänden bin, möchte ich mir in diesem Punkt den Freiraum der Objektivität
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zusprechen. Ich möchte, daß man mir hier aufgrund meiner Zugehörigkeit zu beiden Lagern Glauben schenkt. Beim Fernsehen funktioniert es völlig anders als beim Theater. Die Realisierung des Wortes auf der Bühne, die Wortdramaturgie lebt von der Sprache, die im übrigen auch gelesen werden kann. Das Lesen eines Drehbuchs ist nur für Insider interessant. Im Drehbuch stehen neben den Dialogen vor allem auch technische Anweisungen. Und der Film selbst lebt von einer Bilddramaturgie, die nur im Film selbst zu finden ist. Ich setze hier bewußt Schwerpunkte, um die Differenz deutlich werden zu lassen. Aus dieser Differenz heraus sehe ich übrigens keinen Sinn darin, die Kinematographie zur Illustrierung der Literatur zu mißbrauchen. Bis auf «Joseph und seine Brüder» sind meines Wissens mittlerweile alle großen 'Thomas Manns' verfilmt. Neulich erst habe ich eine große und teure Verfilmung eines Romans von Thomas Mann gesehen. Das Buch habe ich vor Jahren mit großem Interesse gelesen, den Film allerdings nur mit unendlicher Langeweile durchgestanden, weil das eine Medium dem anderen nicht gerecht werden kann. Thomas Mann kannte ja das Medium Film. Wenn er gewollt hätte, hätte er ja durchaus Filmvorlagen schreiben können. Aber er hat es nicht getan; er war ja Literat. Wir lieben bei ihm - als Beispiel - diese kunstvollen komplizierten Schachtelsätze, die, von einem Schauspieler gesprochen, unendlich manieriert klingen. Wenn wir aber heute nach einer eigenen spezifischen 'Fernsehdramaturgie' suchen, dann sind wir allerdings leider auf dem Holzweg. Die Dramaturgie des Theaters ist uralt, und als der Film erfunden wurde, kam ergänzend eine neue 'Bilddramaturgie' hinzu. Als dann das Hörspiel erfunden wurde, war wieder eine neue Ästhetik im Gespräch. Und schließlich sagten die neu ernannten Fernsehgelehrten: "So, und jetzt erfinden wir eine nagelneue Dramaturgie", eine eigenständige 'Fernsehdramaturgie' nämlich. Aber das hat leider nicht funktioniert. Denn das Fernsehen greift vornehmlich auf die Bilddramaturgie des Films zurück. Und da man eigentlich alles darstellen und zeigen kann, was auf Zelluloid oder Magnetbänder fixierbar ist, wurde das Fernsehen zu einer Art 'Transportmittel'. So wie das Kino ein 'Projektionsmedium' ist, das es erlaubt, in einer Art Gruppenerlebnis - in einem großen Saal - ein Werk mit der Wirkungsästhetik des großen Bildes vorzuführen. Diesen Effekt bringt das Fernsehen - stark verkleinert - nun nach Hause. Kommen wir auf die Urheberschaft eines Werkes zurück: Beim Fernsehen war es 20 Jahre lang stets der Autor, der zuerst genannt wurde. Denn das Fernsehen kam ursprünglich vom Rundfunk. Und im Rundfunk - beim Hörspiel - war der Autor die Nummer Eins - und nicht der Interpret - der Regisseur. Wenn Sie heute im Fernsehen den Vorspann zu einem Film sehen, dann lesen Sie: "Ein Film von...", und dann kommt, unter Umständen der Name eines Mannes, einer Frau, die aus einer Romanvorlage ein Fernsehspiel 'montiert' haben. Dazu brauchen sie vielleicht nur ein langes
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Wochenende. Denn die Dialoge standen im Roman. Der Rest war eine Fleißaufgabe. Bisher stand also immer der Autor des Fernsehspiels an erster Stelle. Bei Spielfilmen der Name des Regisseurs. Ihre Anekdote mit Wellershoff ist untypisch, die große Ausnahme. D: Dieser Gipfelsturz, von dem ich gesprochen habe, ist nun wirklich ein Faktum. Jeder Autor, der von der Buchliteratur herkommt und dann für das Fernsehen arbeitet, erlebt ihn. Als Buchautor in seinem schöpferischen Schreibzimmer hat er sich als Demiurg gefühlt, der die Welt bewegt hat. Es kam ein Text zustande, und der stand genau so da, wie er ihn wollte. Kommt er aber nun mit diesem Text zum Fernsehen, dann wird er von ein paar Redakteuren fertiggemacht in eben der Weise, die auch Sie selbst dargestellt haben. Diese Redakteure sind doch meistens Leute, die unter der Decke der Anonymität arbeiten, und ihre Qualifikation ist nicht auf den ersten oder zweiten Blick erkennbar. Das scheint mir ein Faktum zu sein, das zum Bereich 'Literaturverarbeitung im Fernsehen' gehört. Ich glaube auch nicht, daß man die von Ihnen genannten Faktoren so säuberlich trennen kann: Hier ist die Literatur, da das Fernsehen und dort die Bilddramaturgie; nun gilt es noch, die technischen Dinge zu erledigen, die vorhandenen Bausteine zusammenzusetzen, und fertig ist ein Fernsehfilm. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie als Autor in eben dieser Weise gearbeitet haben, als Sie die Filme, die Sie vorher produziert hatten, literarisch umgesetzt haben. Ihre literarischen Werke sind ja keine Drehbücher, die nun einfach abgedruckt wurden, sondern neue und eigenständige Produkte. In der «Delegation» beispielsweise haben Sie versucht, eine eigene Ästhetik der Romanform zu entwickeln. Die Sachverhalte scheinen mir also generell weitaus komplizierter zu sein. Ja, Thomas Mann hat keine Drehbücher geschrieben, aber dies doch wohl auch deshalb, weil er in eine bestimmte Marktsituation und -tradition eingebettet war. Musil hat einmal gesagt, man schreibe Novellen, weil das Publikum gerne Novellen lese und weil es Jahrbücher gebe, die solche Texte veröffentlichen. Heute ist das sicherlich anders, aber das zeigt doch einerseits, daß der Markt in den Überlegungen des Autors durchaus eine Rolle spielt und andererseits, daß das Verhältnis von Literatur, Film und Fernsehen nicht durch unumstößliche Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist. E: Mir ging es auch nur darum, Schwerpunkte zu setzen, die den Sachverhalt anschaulich machen sollten. Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel nennen, das ebenfalls zeigt, daß der Autor im Fernsehen durchaus nicht zum fünften Rad am Wagen werden muß. Der Autor Daniel Christoff hat sich vermutlich bei der filmischen Realisierung seiner Bücher nicht ganz wohl gefühlt. Er hat dankenswerterweise den Ehrgeiz entwickelt, seine Filme selbst zu machen, und hat als Autor schließlich selbst Regie geführt. Er hat sich nicht mehr allein auf seine Schreibmaschine verlassen, sondern hat sich gesagt: "Wenn ich mit dem neuen Medium arbeiten will, dann muß ich auch die Kamera zur Realisierung meiner Ideen benutzen". Das hat er dann auch gelernt, vorzüglich gelernt, und die filmische Umsetzung seiner Ideen ist vorzüglich gelungen.
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Es ist ganz klar, daß ich mich als zeitgenössischer Autor so wie Christoff den technischen Problemen und Zwängen des Mediums Fernsehen stellen muß, wenn ich mich nicht in der Tat zum Textlieferanten degradieren lassen will. Der Literat, der sich mit dem Wort und mit seinen Ideen in sein Kämmerchen zurückzieht, ist fast ein Anachronismus. Daß ich selbst irgendwann angefangen habe, Romane zu schreiben, hat einen ganz einfachen Grund. Ich war von der bloßen Darstellung der Geschichten nicht befriedigt. Ich wollte diese Geschichten auch noch schreiben und beschreiben. Ich kann zeigen, daß ein verzweifelter Mensch neben einer Tür steht: Die Szene ist zuende, und ich blende ab. Ich kann aber auch noch über vier Seiten genau beschreiben, was in seinem Kopf passiert, und genau das erschien mir reizvoll und wichtig. Filmisch war ich dazu nicht in der Lage. So mußte ich wieder auf das literarische Medium, auf den Roman nämlich zurückgreifen. Diese Romane haben selbstverständlich den Vorteil, daß sie nach dramaturgischen Gesetzen gebaut sind. Sie waren ursprünglich für den Film geplant. Diese dramaturgischen Gesetze nun zeichnen die Romane als spannend aus. Die dramaturgische Konstruktion, angewandte Psychologie mit einer Tradition von über 2000 Jahren, ist nun das Salz dieser Bücher. Die Frage ist doch: "Wie zwinge ich Zuschauer oder auch Leser, einer Handlung zu folgen?" Die Frage ist uralt, und die Gesetze, die auf sie antworten, finden wir bereits in der Antike. Von diesen Gesetzen sollten wir lernen, wenn wir Filme, vielleicht auch dann, wenn wir Romane machen. Sicherlich, so episch, wie das Ganze einmal in der Literatur gedacht war, geht es heute nicht mehr. Die Zeit ist zu schnellebig, und wer gelangweilt wird, wendet sich ab, blendet sich aus und tut etwas anderes. Ich bin ein Anhänger der klassischen Dramaturgie, denn sie ist anwendbar; Auf den Film, auf das Theater, aber auch auf die Literatur. Fernsehdramaturgie - Literaturdramaturgie D: In diesem Kontext stört mich das Adjektiv 'klassisch': Was für einen Inhalt hat dieses Wort 'Klassisch': Ist das etwas Tradiertes, das immer Geltung gehabt hat? Das würde ich allerdings bezweifeln. Ich glaube, daß Normen aus geschichtlichen Situationen heraus entstehen, beispielsweise aus bestimmten Marktverhältnissen heraus. Und die Marktgesetzlichkeiten ändern sich. Heute übernehmen andere Informationsträger die Funktionen, die in der Tradition das Theater und das Buch hatten. Film und Fernsehen sind heute die Informationsträger schlechthin. Und mit diesen neuen geschichtlichen Gegebenheiten hat sich der Autor in seiner Situation konkret auseinanderzusetzen. Er kann sich nicht mehr auf eine klassische Dramaturgie zurückziehen und sagen, daß es ja schon immer so gemacht worden ist. Er kann nicht sagen: "Das Gilgamesch-Epos hat diese und jene dramaturgischen Gesichtspunkte berücksichtigt, und wenn ich die jetzt modifiziere, dann hat das auch heute noch Geltung". Ich glaube, es wäre sehr ungeschichtlich, so zu argumentieren.
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Ε: Unter klassischer Dramaturgie verstehe ich das Skelett der Konstruktion, jene Regeln, die bei der Errichtung eines Hauses Statik bedeuten. Heute macht das der Computer, aber die Tempel der Griechen stürzen nicht deshalb ein, weil sie ohne Computer und bloß nach aus der Erfahrung gewonnenen Regeln erbaut sind. Nur unter Beachtung bestimmter Regeln ist eine Geschichte tragfähig, ein Tempel, ein Film oder ein Stück Literatur. Die antiken Dramen weisen Regeln auf, die auch ein Shakespeare respektierte und die ein Schiller vorzüglich beherrschte. Es geht nicht um jede einzelne Regel, aber um die Grundregeln, um das Regelskelett, das, was ich als angewandte Psychologie bezeichnet habe. Und da sich die menschliche Psyche seit der Antike nur unwesentlich verändert hat - ob zu ihrem Guten, bleibe dahingestellt -, gilt auch immer noch dieses Regelskelett. Auch heute noch kann man die Menschen durch eine bestimmte Abfolge von Höhepunkten und retardierenden Momenten zum Zusehen, zum weiteren Verfolgen einer Handlung oder zum Weiterlesen zwingen. Man erweckt Interesse, und man eröffnet Identifikationsmöglichkeiten mit den handelnden Personen. Das verstehe ich unter klassischer Dramaturgie. Es geht also nicht um einzelne Handlungsteile. Die kann man einsetzen, wenn man das Skelett hat. Man kann mit Ziegeln oder mit Marmor bauen, wenn das Bild erlaubt ist, aber bitte immer nach statischen Grundregeln. Und die werden heute leider wenig beachtet. Hitchcock, ein professionell arbeitender Mann, hat es vorzüglich verstanden, mit diesen dramaturgischen Regeln umzugehen. Ich war neulich wieder in Monte Carlo. Nachdem ich dort in den letzten 12 Jahren dreimal die 'Goldene Nymphe' bekommen habe, setzte man mich freundlicherweise nun einmal auch in die Jury des Wettbewerbs. Und ich mußte feststellen: Die Mißachtung dramaturgischer Regeln, die zwangsläufig zur Langeweile führt, ist weltweit zu beobachten. Wir Jury-Mitglieder haben uns bei diesem Festival bei manchen Filmen unendlich gequält. Von 35 Produktionen, die wir gesehen haben, waren wirklich nur fünf richtig packend. Bei den 30 anderen wußte man, daß man jetzt 90 Minuten 'absitzen' mußte. Science Fiction in Deutschland D: Vor allem das Bild aus der Architektur leuchtet mir ein. Will man ein Haus bauen, dann muß man bestimmte Gesetze der Statik beherrschen, und in dem Sinne muß selbstverständlich auch ein literarisches Werk funktionieren. Es muß ein tragfähiges Gerüst da sein. In diesem Sinne kann ich auch Ihr Bekenntnis zur klassischen Dramaturgie akzeptieren. Mich überrascht eigentlich, wie problemlos Sie Ihre Identität als Autor in der Konfrontation mit dem Medium Fernsehen behaupten können. Beide Arbeits- und Identitätsbereiche scheinen sehr schön ineinander integriert, und meine anfängliche Vermutung, Ihre literarischen Ambitionen seien durch die Arbeit für das Fernsehen ein wenig unterdrückt worden, scheint unzutreffend. Bei Ihrer filmischen Arbeit nun, die ich hier in ihrer ganzen Vielfalt gar nicht zur Sprache bringen und angemessen würdigen kann, scheint mir allein von der Publikumswirkung her
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der Bereich 'Science Fiction' von besonders großem Interesse zu sein. Sie haben einige sehr anerkannte Science-Fiction-Filme gedreht, und ich frage mich, wie Sie selbst die Situation von Science Fiction im deutschen Fernsehen beurteilen. Ein sehr frühes Beispiel ist j a die Serie «Raumschiff Orion», eine Produktion, die immer wieder sehr lobend erwähnt wird. Welchen Stellenwert hat diese Serie mit Blick auf bestimmte Publikumsgewohnheiten gehabt, und wie hat sie die Konsumgewohnheiten des Publikums Science Fiction gegenüber verändert? Im Moment läuft j a im Fernsehen in einer Wiederholung die amerikanische Serie «Star Trek» wieder an, die in verschiedenen Ländern eine große Wirkung gehabt hat. Ich könnte mir vorstellen, daß der Erfolg von Science Fiction im deutschen Fernsehen auch vor dem Hintergrund von «Raumschiff Orion» gesehen werden muß. E: Ich bezweifele fast, ob ich kompetent bin, Ihre Fragen zu beantworten. Lassen Sie mich mit biographischen Überlegungen beginnen. Ich habe als Neunjähriger Dominik gelesen. Es war Krieg, und es erschien mir ungeheuer reizvoll, mich aus Alltagsproblemen wie Fliegeralarm und Bombenangriffen in eine futuristische Welt zurückzuziehen. Es mußte nicht immer Karl May sein. Mag sein, daß das Entfliehenwollen aus der bedrohlichen Alltagswelt ein starker Impuls war. Heute würde ich jedenfalls sagen, daß die Beschäftigung mit Science Fiction einen ganz simplen Grund hat. Wir sind neugierig, und wir sind alle in Sorge. In Sorge um unsere Zukunft. Wir möchten wissen, was morgen passiert und was an Unheil auf uns zukommen wird. Vielleicht möchten wir auch ein wenig auf diese Zukunft vorbereitet sein, vielleicht auch gewissen Entwicklungen entgegensteuern. Mit Science Fiction verbindet sich also eine Art politischer Anspruch. Deswegen interessieren mich Filme wie «Orion» eigentlich überhaupt nicht. Das habe ich damals auch der Produktionsgesellschaft, der Bavaria gesagt. Die hatte damals eine sehr gute und sehr erfolgreiche Serie, die hieß «Isar 12». Das war eine Funkstreifenbesatzung, die durch München raste, um Verbrechen aufzuklären oder Unheil zu verhüten. Das fand ich sehr interessant. Für mich war «Orion» eigentlich nur die Transformation dieser Idee ins Kosmische, mit einem Akzent, der mir persönlich nicht gefiel. Diesen Akzent würde ich 'faschistoid' nennen, denn die Leute in «Orion» benahmen sich 'heldisch': Das Gute mußte unbedingt siegen, egal mit welchen Mitteln, und die Mittel waren durchaus nicht immer gut. Das andere waren die dort auftretenden Weiber, ja, es waren Figuren, die eigentlich nur ein Frauenhasser geschrieben haben konnte. Die Schauspielerinnen, gar kein Zweifel, haben ausgezeichnet gespielt, aber die Figuren, die sie darstellen mußten, waren Militär-Emanzen, weibliche Feldwebel und Zack-Zack-Generäle. Ich gebe zu: Die Serie war sehr erfolgreich, das Publikum hat sich daran delektiert, und ich möchte jetzt hier nicht über diese Art der Unterhaltung den Stab brechen. Aber ich persönlich hatte mir unter Science Fiction etwas anderes vorgestellt, und ich machte mir entsprechende Gedanken dazu. Dabei kamen Produktionen wie die fünf Filme «Das blaue Palais» heraus. Ich habe mich mit dem sogenannten Segen 'wissen-
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schaftlicher Erkenntnis' auseinandergesetzt - und mit 'Fortschritt'. Ich habe mich gefragt: Was passiert künftig mit unseren heutigen Erkenntnissen und Erfindungen? Wohin läuft das? Antwort: Es läuft - unkontrolliert - fast immer in die Katastrophe. Wir können die Kräfte, die uns aufgrund unserer Forschung plötzlich zugeströmt sind, einfach nicht richtig handhaben. Das ist die Crux der heutigen Wissenschaft. Ich habe das dann nicht mehr Science Fiction sondern Science-Thriller genannt, um der falschen Schublade zu entgehen, die für triviale 'Science-Fiction-Träume' so weit und so einladend offensteht. Denn Science Fiction galt in Deutschland lange Zeit nur als schlicht unterhaltsam, und das 'Unterhaltsame' erhielt von Seiten der Kritik, besonders der Literaturkritik, stets das Attribut des 'Trivialen'. Heute ist das leider nicht viel anders. Wenn Sie heute eine bekannte Literaturverfilmung anbieten, bekommen Sie Ihre Prämien und Produktionsgelder wesentlich leichter. Versuchen Sie aber, von irgendeinem Gremium Subventionsmittel für einen guten Science-Fiction-Film zu bekommen, dann laufen Sie vermutlich gegen Wände. Bei der Verfilmung von Literatur, zumal von etablierter, werden die Juroren unserer Kultur-Mittel-Vertriebssysteme gleich hellhörig, selbst wenn das Ganze letzten Endes nur auf eine langweilige filmische Realisierung hinausläuft. Bei Science Fiction muß man etwas absolut Neues schaffen. Das bedeutet Risiko und Unsicherheit, weil es keine Tradition gibt, auf die man wie auf einen literarischen Text zurückgreifen könnte. Und das wird dann fatalerweise als reine Unterhaltung, als etwas Leichtes und Seichtes abgestempelt. Bestenfalls, so wird geurteilt, kann dabei etwas 'Spannendes' herauskommen. Die anderen Dimensionen werden nur selten gesehen. Mit dem «Blauen Palais» habe ich beispielsweise versucht, in Science Fiction einen bestimmten gesellschaftspolitischen Hintergrund hineinzubringen: Die ethischen Grundsätze der Wissenschaft, die überschritten werden. Das hat das Publikum offenbar verblüfft, aber es ist hervorragend angekommen. Da die Themen der Filme ganz offensichtlich nicht erledigt werden konnten, war das für mich der Grund, die 'Stories' in Romanform zu ergänzen. Ich möchte das Verhältnis von Film und Buch noch unter einem ganz anderen Aspekt darstellen: dem der persönlichen Reife. Ich habe einige Jahre an der Hochschule für Film und Fernsehen unterrichtet, also viel mit jungen Leuten zu tun gehabt. Mit 18 Jahren ist man überzeugt, daß man jederzeit einen Film realisieren kann. Denn die Welt bietet sich einem dar und wartet nur darauf, abgefilmt zu werden. Wenn man das geschickt und talentiert macht, dann kommt sogar etwas ganz Passables dabei heraus. O b der Film sein Publikum findet, ob Form und Themen die Leute interessieren, ist natürlich eine andere Frage. Mit dem Schreiben von Büchern ist es etwas völlig anderes. Bücher zu schreiben heißt doch, in gewisser Weise Erfahrungen verarbeitet zu haben und diese dann entsprechend formulieren zu können. Das, glaube ich, kann man erst, wenn man ein gewisses Maß an Einsichten gewonnen hat. Damals vor 20 Jahren, als ich anfing, als Au-
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tor und Regisseur Filme zu drehen, gab es keinen Grand für mich, Bücher zu schreiben, mich also literarisch zu betätigen. Man muß erst einmal mit einem Stück Leben konfrontiert worden sein, um dann von dieser Begegnung, von dieser Konfrontation berichten und schreiben zu können. Science Fiction und gesellschaftspolitisches Engagement D: Sie haben nun klar gemacht, daß sich ihre Arbeit in diesem Genre sozusagen nach ihren eigenen Gesetzen entwickelt hat. Die Aktualität, die dieses Genre in Amerika und dann auch in Deutschland gewonnen hat, hat Sie offenbar zumindest nicht unmittelbar beeinflußt. Sie haben immer wieder Ihre eigene Sorge um die Zukunft in den Vordergrund gestellt. Man könnte sich jetzt freilich fragen, warum Sie Ihre Sorge um die Zukunft ausgerechnet in einem Genre artikulieren, das als Genre selbst von Vorurteilen überzogen ist und sich als solches erst einmal durchsetzen müßte. Wäre es nicht angebrachter, knallharte politische Filme zu machen und somit einen direkten Zugang zum Zuschauer zu wählen? Ich frage mich, ob diese innere Beteiligung, die Sie immer wieder betont haben, im Genre 'Science Fiction' nicht so verklausuliert worden ist, daß sie dem Zuschauer zumindest auf den ersten Blick nicht erkennbar geworden ist. Mit anderen Worten: Haben Sie nicht zwischen Ihre Sorge und den Zuschauer durch die Wahl des Genres 'Science Fiction' eine Rezeptionsbarriere gestellt, die der Unmittelbarkeit Ihres Anliegens abträglich gewesen ist? E: Ich möchte da gleich widersprechen. Ich halte meine Filme durchaus für politische Filme. Sie sind zwar spekulativ, deshalb aber keinesfalls unpolitisch. Dürrenmatt hat einmal gesagt: "Die Komödie ist eine Falle; wenn die Leute lachen, schlukken sie die bittere Pille". Diesen Satz möchte ich auch für meine Filme in Anspruch nehmen. Zugegeben: Man kann gewisse Informationen in Form von Dokumentarfilmen ganz unmittelbar, ganz direkt an das Publikum herantragen. Das sind dann die harten politischen Aussagen, von denen Sie sprechen, die allerdings ungeheuer negativ deprimierend ausfallen müssen, denn unsere heutige Welt - und unser Verhalten in dieser Welt - ist grauenvoll, und es wird täglich schlimmer. Es fängt bei dem sauren Regen an und hört bei der Dummheit und bei der Korruption in der Politik auf. Sollen negative Informationen dieser Art beim Zuschauer hängenbleiben und etwas bewirken, dann kann das nur über Emotionen laufen. Film ist meines Erachtens ein Medium, das Emotionen nicht nur freisetzen kann, sondern auch freisetzen muß. Nach Frederic Vester - «Denken - Lernen - Vergessen» - lernt der Mensch nur über mindestens zwei Emotionswege. Bestimmte Tatbestände gehen nur unter die Haut über eine emotional befrachtete unterhaltsame Story. Der Zuschauer wird in das Gespinst von Einzelschicksalen über Erschrecken, Mitbangen, Identifizieren und so weiter einbezogen. Mit 80% Spannung oder Unterhaltung und
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20% Information habe ich - pädagogisch gesehen - optimal viel erreicht. Ich habe bei meinen Film
«Fleisch»,
einem
Schocker
über
unfreiwillige
Organspender,
festgestellt, daß der Film in der Programmflut, die seither gesendet worden ist, nicht untergegangen ist. Fast jeder Zuschauer, der diesen Film gesehen hat, hat ihn noch lebhaft in Erinnerung. Ich habe damals noch einen anderen Film gedreht, «Die letzten Ferien». Dieser Film war nur scheinbar ein harmloser Thriller um ein junges Mädchen, dem es ans Leben ging. Letzten Endes ging es um sehr viel Geld und um das Auseinanderbrechen von Familienbindungen bis hin zu einem geplanten Mord. Auch dieser Film blieb bei der Mehrzahl der Zuschauer haften. Ich glaube, selbst heute nach sechs Jahren käme bei vielen Zuschauern ein 'positiver Recall', sobald man nur einige Bilder aus dem Film antippte. Science Fiction als Schocktherapie D: Vielleicht kann ich als Beispiel eines Zuschauers dazu unmittelbar etwas sagen. Ich habe damals beide Filme gesehen, und es gibt Sequenzen, die tatsächlich mit einer Schockwirkung verbunden sind. Und eine Schockwirkung hat selbstverständlich eine sehr gute Chance, das Langzeitgedächtnis zu erreichen. Wenn ich aber jetzt zurückdenke und versuche, mir die Filme ganz in Erinnerung zu rufen, dann ist die differenzierte Filmstruktur großenteils weggesackt. Im Gedächtnis sind nur die auf sehr archaische Muster konzentrierten Schockeffekte geblieben. Und das ist doch eigentlich für die von Ihnen erhoffte Wirkung zu wenig. Eine Mobilisierung von tiefen und fundierten Emotionen bleibt ja - zumindest bei meiner Person - aus. Vielleicht ist es auch anderen Zuschauern so ergangen, und man sagt sich: "Ja, das war diese Sequenz, da wurde das Mädchen gejagt, das war grauenhaft, aber Gott sei Dank ist es dann doch nicht so schlimm gewesen". Und dann kommt möglicherweise die weitere Assoziation: "Da gab es ja auch noch diesen amerikanischen Film, da wurde das in einem größeren Maßstab gemacht". Und plötzlich wird alles in einen Topf geworfen, und ein paar Gruseleffekte ergeben den gemeinsamen Nenner, der dann noch im Gedächtnis vorhanden ist. E: Sie sprechen von den Primäreffekten. Es geht mir nicht darum, daß die Leute einen Film in guter oder schöner oder grausiger Erinnerung behalten. Es geht mir um einen zweiten, zusätzlichen Effekt, um die Veränderung des Bewußtseins. Der Bezug auf die Umwelt, die Sichtweise dessen, was täglich um uns herum passiert, sollen verändert werden. Die Befürchtungen für ein künftiges Leben sollen geweckt und in das Bewußtsein gebracht werden. Und es mag überheblich klingen, aber ich glaube, das mit meinen Filmen teilweise erreicht zu haben. Das Publikum hat sich nach Ansicht der Filme zu den gestellten Komplexen eine Meinung gebildet, und die besteht auch heute noch, wenn nicht andere Dinge zu einer weiteren Veränderung gefuhrt haben. Anders ausgedrückt: Mit dem «Blauen Palais» habe ich einen Film über wissen-
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schaftliche Themen gedreht. Ich habe die Leute mit einer spannenden Handlung konfrontiert, und ich habe ihnen gezeigt, wie es in der wissenschaftlichen Forschung bisweilen zugeht und was dabei herauskommt. Das war sicherlich im Augenblick ein Schock, aber damit glaube ich bewirkt zu haben, daß die Leute der großen Hoffnung, die Wissenschaft werde uns das goldene Zeitalter bescheren, skeptischer gegenübertreten. Mehr ist im Moment als Wirkung gar nicht gefragt. Aber ich glaube, diese Wirkung haben wir erreicht. 'Wir' - es ist ja immer ein ganzes Team von Leuten, die diesen Film gemacht haben - haben uns diese Wirkung vorgenommen, und ich bin sicher, daß dieser Erfolg
auch eingetreten ist. Seit 1968/69, seit mein Film
«Delegation» gedreht wurde, ist eine Menge an Bewußtseinsveränderungen auf das Publikum losgelassen worden, und wie ich meine: mit Erfolg! 1969 gab es in den Köpfen der Zuschauer noch eine goldene Zukunft. Erinnern Sie sich nur an die erste Mondlandung. Die Meinung war: "Alles ist machbar, wenn man die Mittel nur so einsetzt, wie es die amerikanische NASA vorexerziert hat. Man muß reinklotzen, investieren, und dann funktioniert das auch". Und man dachte folgerichtig weiter, manche denken offenbar immer noch so: "60 oder 70 Kernkraftwerke in Deutschland, und wir haben genügend Energie und keine Arbeitslosigkeit". Aber inzwischen haben wir erfahren und lernen müssen, daß dieser Gedankengang nur eine absolut kriminelle, tödliche Illusion ist. Wir müssen mit unseren Ressourcen auskommen und neue, alternative Energieformen finden. Oder unsere ganze Zivilisation, auf die wir so stolz sind, geht vor die Hunde! Fazit: Es geht also nicht nur darum, einen unterhaltsamen Abend mit einigen Hintergedanken für ein Millionenpublikum abzuliefern. Die Hintergedanken müssen auf der ganzen Ebene des täglichen Bewußtseins nachwirken. Nur so ist Veränderung möglich. Science Fiction und Gegenwartsbezug D: Vielleicht sollten wir das Verhältnis von beabsichtigter und tatsächlicher Wirkung einmal an einem ganz konkreten Beispiel diskutieren. «Operation Ganymed» ist für mich ein faszinierender Film, vor allem auch deshalb, weil er sich auf die psychologische Perspektive dessen, was da geschieht, konzentriert. Sie haben dargestellt, welche Veränderungen und Opfer sich in der Psyche dieser Menschen abspielen. Das pseudowissenschaftliche und technologische Brimborium, durch das sich der durchschnittliche Science-Fiction-Film in einem durchaus negativen Sinne schmückt, ist dabei ganz im Hintergrund. Aber andererseits - ich habe den Film jetzt mehrere Male gesehen, und ich habe zu zweifeln begonnen. "Meine Güte", habe ich mir gedacht, "diese Situation in dieser Einöde, und diese männerbündische Gruppe, die plötzlich ganz archaische Strukturen herausgebildet hat: Einer, der führt, und die anderen, die mitmachen - das sind doch eigentlich Strukturen, die man in Western-
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Filmen oder in Chicago-Krimis der späten 40er Jahre findet". Ich frage mich, ob Sie damit nicht psychische Muster reaktiviert, gewisse Saiten im Zuschauer zum Schwingen gebracht haben, die eigentlich nicht in die Zukunft weisen, sondern nur Erinnerungen an Bekanntes wachrufen. Die entscheidende Sequenz in diesem Zusammenhang scheint mir die zu sein, als sich unter den Astronauten plötzlich die Angst ausbreitet, es habe eine nukleare Katastrophe stattgefunden. Viereinhalb Jahre engster Zusammenarbeit in dieser engen Röhre sind urplötzlich vergessen, und der fast rassisch-politische Konflikt zwischen dem Amerikaner und dem Russen bricht wieder auf. Sie reagieren ganz archaisch, triebhaft wie Tiere, und dann kommt dieser Mann, der die Führung hat, und erschießt den anderen. Ich finde, das ist eine Szene, die dem Zuschauer archaische Strukturen in affirmativer Weise vorbuchstabiert. Der Zuschauer sieht einen Mann, diesen Fanatiker, der von einer Situation überwältigt wird, der ausschließlich affektiv reagiert, und einen anderen, der unter allen möglichen Schwierigkeiten der Anführer bleiben muß und auch bleibt, sei es auch um den Preis des Menschenopfers. Hier wird ein Klischee reproduziert, das auf dem Hintergrund dieser Führernatur fast so etwas wie faschistoide Tendenzen erkennen läßt. Diese unterschwelligen Tendenzen sind da, werden aber bestenfalls nach mehrmaligem Sehen und nach einigem Nachdenken wahrgenommen. E: Das Beispiel ist gut, denn jetzt kommen wir wieder auf die Frage zurück, inwieweit Science Fiction spekulativ sein kann. Meine Science-Fiction-Filme spielen ja nicht im Jahre 2500, wo man um die Galaxien herumrast; sie spielen eigentlich heute. Indem ich sage, daß es morgen so sein könnte, möchte ich zeigen, wie es heute ist. Insofern ist es nicht Spekulation, wenn ich Science Fiction mache - letzten Endes mache ich gar keine. Ich benutze vielleicht einige Versatzstücke, um eine Zukunft zu zeigen, aber diese Zukunft ist bereits greifbar. Gerade «Operation Ganymed» zeigt nun, wie Menschen für das Mensch-MaschineSystem konditioniert werden, und der Film zeigt ebenfalls, wie diese Menschen nun funktionieren. Letzten Endes aber nehmen sie auf die "längste Reise der Raumfahrt", wie es im Film heißt, all ihre Ängste und ihre archaischen Verhaltensweisen von heute mit. Ich will zeigen, daß sich die Menschen absolut nicht verändert haben: In Extremsituationen fallen sie wieder in archaische Verhaltensweisen zurück, und das ist selbstverständlich ein Klischeeverhalten. Das technische Spektakel - Raumfahrt und alles, was dazugehört - ist bloß Unterhaltung, das beim Zuschauer Interesse wecken soll. Es vergrößert auch den Kontrast zu dem, was dann wieder auf der Erde passiert. Im Raumschiff bricht wieder alles auf, was die Astronauten an psychologischem Ballast auf die Reise mitgenommen haben. Den werden sie nie loswerden. Denn uns sitzt die Angst im Nacken und das Denken aus der Steinzeit. "Wenn ich den anderen totschlage, brauche ich keine Angst mehr vor ihm zu haben". Diese archaische Grundhaltung habe ich in diesen
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Film mit eingebracht. Und insofern ist es ein deprimierender Film. Aber im Augenblick werden jeden Monat 500 bis 1000 Kassetten von diesem Film verkauft, und ich bin sehr verblüfft, daß sich hier ein Interesse und ein Markt auftun, von denen ich nichts geahnt habe. Das gilt übrigens auch für das «Blaue Palais». Bei dem Film «Genie» sind wir zum Teil sogar während der Produktionszeit von den Erkenntnissen der Wissenschaft eingeholt worden. Wir haben zum Beispiel gezeigt, daß man Gedächtnismoleküle, Informationsmoleküle, also chemische Substanzen von einem Gehirn auf das andere übertragen kann. In unserem Film werden solche Versuche an Ratten gemacht. Und während wir produzierten, erfuhren wir, daß Professor Ungar in Los Angeles tatsächlich solche Versuche macht. Was ich fiktiv konstruiert hatte, war also bereits wissenschaftlicher Alltag geworden. Genauso ist es uns mit Laserstrahlen ergangen. Wir hatten einen Fachberater, einen ganz berühmten Wissenschaftler, der sich immer wieder in die Diskussion über unsere fiktiven Erfindungen innerhalb der Story mit eingeschaltet hat. Ich habe irgendwann einmal das Stichwort 'Antimaterie' in die Diskussion eingebracht, und er hat gesagt! "Das ist ja nun wirklich Science Fiction". 14 Tage später ruft er an und sagt: "Antimaterie geht, sie können tatsächlich mit Laserstrahlen Antimaterie herstellen, im Lebedev-Institut in Moskau wird es bereits gemacht, die erzeugen 10"14 Gramm pro Laserschuß". Dieser Mann lebt mittlerweile in Australien und hat dort ein eigenes Forschungsinstitut. Dort beschäftigt er sich vermutlich mit - Antimaterie! Sie sehen also, was man sich als Realität einer näheren oder ferneren Zukunft erdacht hat, kann unter Umständen schon heute aktuell geworden sein. Katharsis Di «Genie» ist ein wirklich gelungener Film, wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, komplizierte naturwissenschaftliche Vorgänge und Entwicklungen in Bilder zu setzen und Informationen über die Vorgänge und Entwicklungen an Laien weiterzugeben. Das haben Sie meiner Meinung nach in «Genie» zweifelsohne erreicht. Was beispielsweise in der Biochemie passiert, dürfte selbst dem naiven Zuschauer in einer kleinen Potenz begreifbar geworden sein. Aber ich möchte noch einmal bei der Wirkung von «Operation Ganymed» einhaken. Provokativ formuliert, frage ich mich, ob diese große Wirkung im Grunde nicht ein Schuß ist, der nach hinten losgeht. Möglicherweise gibt diese Wirkung dafür einen Beleg ab, daß die archaischen Muster im Film mit bestimmten tradierten Emotionen verbunden sind, die durch den Film wieder mobilisiert werden. Ihre eigentliche Absicht, darauf hinzuweisen, welche Bewußtseinsdeformationen durch bestimmte Lebensformen erzeugt werden, geht so eigentlich verloren. Bei den Zuschauern bleiben nur die archaischen, gruppendynamischen Zusammenhänge zurück, die als solche weder in ihrer Entstehung gezeigt noch in ih-
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rer Problematik hinterfragt werden. Bei den Zuschauern wird kein Erkenntnisprozeß ausgelöst; eine Syntax von Gefühlen, die dem Zuschauer auch Selbsterkenntnis ermöglichen würde, wird nicht 'ausgeschrieben'. Als Vergleichsmuster zu Ihrem Film ist mir Goldings «Lord of the Flies» eingefallen, die Darstellung einer Gruppe englischer Zöglinge, die auch stranden und dann auch archaische Muster und ganz primitive Riten herausbilden. Aber im Unterschied zu Ihnen argumentiert Golding sozusagen beständig gegen den Strich, er macht beständig darauf aufmerksam, daß diese Verhaltensmuster auf Regression beruhen. E: Ja, bei mir bleibt die Regression kommentarlos. Aber damit sind wir bei einem anderen Schlagwort, nämlich - Psychotherapie. Das Drama hat ja eine anerkannt psychotherapeutische Wirkung, und als Therapie hat es eigentlich - ursprünglich - begonnen. Die Kunstspiele der Griechen waren ja angewandte Psychotherapie. Es waren archaische Konflikte, die in diesen Dramen aufbereitet und zur Schau gestellt wurden, auf eine packende, überhöhte Weise, was im Unterbewußtsein des Zuschauers Dinge in Fluß brachte und dadurch eine Art 'Reinigung' bewirkte. Wenn wir heute über Brutalität im Fernsehen reden, gibt es zwei kontroverse Lager. Die konservative Seite sagt, Brutalität im Fernsehen stimuliere, die andere Seite behauptet, dargestellte, dramaturgisch begründete Gewalt baue Aggressionen ab. Meiner Meinung nach werden Aggressionen auf jeden Fall durch die Darstellung von Aggressionen abgebaut. Und ich vertrete die These, daß durch einen Film wie «Operation Ganymed» im Moment zwar Instinkte geweckt werden, die scheinbar keine Auswirkungen auf den Kopf haben, daß archaische Gefühle evoziert werden, die der Zuschauer allein mit seinem Bauch - gewissermaßen mit seinem 'Solar Plexus' - aufnimmt: daß dadurch aber therapeutische Wirkungen entstehen, weil sich der Zuschauer mit seinen eigenen trivialen und archaischen Verhaltensmustern auseinandersetzen muß. Wir haben damals mit einem Psychologen zusammengearbeitet, der Gruppendynamik lehrt, und wir haben festgestellt, daß sogar die Darsteller des Films tatsächlich selbst in Zwangssituationen geraten sind, die für unsere Absichten und die Arbeit ungeheuer erhellend - und erfolgreich! - waren. Für mich als Regisseur war das ganze Unternehmen sehr riskant, denn die Schauspieler fühlten sich bei dieser Methode natürlich absolut isoliert und alleingelassen. Ich habe mit ihnen nicht zu Abend gegessen. Keiner vom Drehteam. Keinerlei persönliche Kontakte außer vor der Kamera. Wir drehten damals auf Fuerteventura und auf Lanzarote, also auf Wüsteninseln, und ich bin abends ins Hotel, habe mich zurückgezogen. War nicht mehr vorhanden und bin erst am nächsten Tag hinter der Kamera wieder aufgetaucht. Ich durfte nicht der Gruppentherapeut sein, der am Abend die ganzen Aggressionen, die ich tagsüber evoziert habe, weder abbaut. So hatte ich schließlich die Schauspieler endlich in der verzweifelten Stimmung, die ich für diese Arbeit, für
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diese Situation brauchte. Sie gingen zuerst auf mich und dann - untereinander - auf sich selbst los. Der Darsteller des sensiblen, kreativen Mannes im Film, der 'Wissenschaftler' in der Raumschiff-Crew, drehte schließlich völlig durch. Er neigte ohnehin schon zu gewissen paranoiden Schüben, und die wurden so stark, daß auch in der Zukunft eine Zusammenarbeit gefährdet schien. Schauspieler sind sensible Menschen, und dieser wurde durch die Rolle, in die er sich hineingesteigert hatte und hineinsteigern ließ, und durch die Isolierung in der Inselwüste so aufgewühlt, daß man ihn von außen her kaum noch beeinflussen konnte. Das funktionierte nur noch über sein Unterbewußtsein. Ein riskantes Regie-Experiment, das allerdings gelungen ist. Nur - aufgrund solcher Erlebnisse ist mir der Film nicht unbedingt in positiver Erinnerung. Die Realisierung war aufgrund dieser etwas außergewöhnlichen Konzeption ausgesprochen schwierig und unangenehm. Horst Frank, ein vorzüglicher Profi, im Film der Commander, also der Leithammel der 'Crew' , hat das Ganze aufgrund seiner Persönlichkeit immerhin solange zusammenhalten können, bis auch er in der Geschichte schließlich verschlissen wird. Die Story war so konzipiert: Zerstörung eines Heldenmythos. Wer weiß, vielleicht war dieser Film, das Schreiben und die Realisierung auch für mich eine Art Therapie. Ich habe allerdings keinen Analytiker, der das nachträglich feststellen könnte. Film und Buch: Die Beispiele «Genie» und «Delegation» D: Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf den Film «Genie» eingehen. Auch in «Genie» werden ja bestimmte archaische Schichten wieder verlebendigt. Am Ende des Films wird durch dieses existierende körperlose Hirn die Frankenstein-Mythe ironisch aktualisiert. Und dadurch wird man als Zuschauer an eine der größten Sehnsüchte überhaupt erinnert, an jene, als materieloser Geist Unsterblichkeit zu erlangen. Diese Sehnsucht ist ja auch schon in der Frankenstein-Mythe angelegt, in diesem Wunsch, dem Schöpfergott gleich zu werden und ein Anderes, das dennoch Ich ist, in die Welt zu setzen. Aber wie schon angedeutet, setzen Sie diese archaische Schicht am Ende des Films sehr ironisch ein. Es werden viele Assoziationen freigesetzt, und es wird ein Nachdenken auf einer Ebene gefördert, die auf den ersten Blick mit der der eigentlichen Spielhandlung nicht in Verbindung gebracht werden kann. In «Genie» werden also archaische Muster nicht um ihrer selbst willen evoziert. Diese Regression, die ich bei «Operation Ganymed» zu sehen glaube, ist hier nicht gegeben. An ihre Stelle treten antizipatorische Momente, Impulse, die auf eine bedenkenswerte wie bedenkliche Zukunft verweisen. Diese philosophische Reflexion, die Sie unter anderem mit «Genie» der Science Fiction erst eigentlich zugeführt haben, finde ich besonders in der «Delegation» ausgeprägt. Sie kommt sogar in der Buchfassung von «Delegation» noch stärker zum Ausdruck als im Film, denn dort wird von Ihnen am Ende die Frage thematisiert, warum unsere gegenwärtige, auf Hypertechnisierung zusteuernde Zivilisation in die Katastrophe führen muß. Die
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menschlich-moralische Entwicklung erscheint im Lichte der rapiden technischen Progression als ein 'Auf der Stelle treten', und diese beiden Entwicklungsreihen klaffen immer weiter auseinander. Indem Sie diese Bruchstelle diskutiert haben, haben Sie der Science Fiction meines Erachtens eine philosophische Fragestellung von eminenter Bedeutung unterlegt. Überzeugend ist aber auch, wie Sie diese Gegenwarts- und Zukunftsanalyse filmdramaturgisch umgesetzt haben. Als Perspektive haben Sie im Film die Haltung gewählt, die der durchschnittliche Intellektuelle zu diesem mit trivialer Bedeutung versehenen Bereich der Science Fiction hat. Indem dieser Journalist im Film schrittweise seine Skepsis gegenüber Science Fiction abbaut, indem er immer stärker von ihr fasziniert wird, werden die relevanten Einsichten für den Zuschauer anschaulich und überzeugend. In der Figur des Journalisten wird der Zuschauer selbst an die Hand genommen. Im Buch haben Sie ja diesen Prozeß noch um eine weitere Drehung fortgeführt. Stand dahinter die Absicht, die Filmaussagen noch zusätzlich zu verdeutlichen? E: Es ist schwierig, sich das nach zehn Jahren noch einmal zu vergegenwärtigen, aber ich will es versuchen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, zu diesem Thema noch nicht genug gesagt zu haben. Ich hatte noch so viele Antworten. Und da habe ich mir die Fragen selbst gestellt. Ich habe mir gedacht: "Also jetzt mache ich Fiction in der Fiction in der Fiction, so wie bei diesem Etikett, das Mädchen mit der Flasche, auf dem Etikett wieder ein Mädchen mit der Flasche und so weiter". Ich habe dann also sozusagen einen Regisseur ins Spiel gebracht und das Ganze noch einmal nachvollziehen lassen, so, als sei das Material, das ich als Regisseur schon gedreht hatte, mir in die Hände gefallen. Ich recherchiere dann scheinbar, wo das Filmmaterial denn nun letzen Endes wirklich herkommt. Und wie authentisch - oder manipuliert - es ist! Das Ganze war ein Kunstgriff, von dem ich heute allerdings nicht mehr sagen kann, aus welchen Gründen ich darauf verfallen bin. Das Buch war das erste einer ganzen Reihe. Anschließend kamen dann die "Faust'schen Träume" des «Blauen Palais», das "Allumfassende Wissen", "Macht über den Anderen", "Unsterblichkeit" und so weiter. Aber damals - bei der «Delegation» - ging es mir auch um ein religiöses Problem, um dieses eschatologische Prinzip, auf das Heil zu warten, statt es selbst zu suchen. Wir sind ja auf diesem kleinen blauen Planeten ziemlich alleingelassen, und ich halte es für falsch, auf UFOs, auf die 'Götter' des Herrn von Däniken oder gar auf die Wiederkehr Jesu oder auf sonst eine Hilfestellung aus dem All oder dem Jenseits zu warten. Wir müssen selbst sehen, daß wir mit unserer Macht wie mit unserer Ohnmacht zurechtkommen. D: Vergleicht man die Fassungen von «Genie» und von «Delegation», dann fällt auf, daß der Umarbeitungsprozeß vom Film zum Buch bei «Delegation» viel umfangreicher war als bei «Genie». Das «Genie»-Buch ist zweifelsohne der in Beschreibung übersetzte Film. Die einzelnen Film- und Buchsequenzen lassen sich ein-
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ander zuordnen, und die Subjektivität des Autors liegt allein im technischen Bereich: Schreibfertigkeit, Arrangement und so weiter. E: Das hat sich dann aber ja bei den anderen Projekten geändert. Im letzten Band des «Blauen Palais» - «Der Gigant»- war es dann so, daß der Film nur noch etwa ein Drittel der Geschichte ausmachte. Nur «Genie» fällt als Versuch, das gebe ich zu, etwas aus diesem Rahmen. Medienliteratur: Neue Perspektiven für ein altes Medium D: «Genie» ist durchaus eine wirkungsvolle literarische Umsetzung des Films. Bestimmte Sachverhalte, die im Film auf kurze Sequenzen beschränkt sind, kommen im Buch ausführlicher heraus und erschließen sich so stärker in ihrer Plausibilität. In diesem Sinne hat das Buch durchaus die Funktion, den Film zusätzlich zu verdeutlichen. Buch und Film sind einander in eindeutiger Weise zugeordnet, das heißt das Buch ist dem Film unter kreativem Aspekt untergeordnet. Bei der «Delegation» würde ich das schon nicht mehr so ohne weiteres sagen. Da kommt schon viel deutlicher der Autor Erler zum Sprechen. Es gibt Hinweise auf historische Persönlichkeiten, auf Kollegen, auch aus dem Fernsehbereich, und es kommen bestimmte autobiographische Erfahrungen mit hinein. An einer Stelle sprechen Sie über diese Vorführung des Films «Helden» und über die Reaktionen der Zuschauer, und so ließen sich weitere subjektive Elemente anführen, die insgesamt dazu führen, daß dieser Autor konkret wird. Gleichzeitig wird dieser Autor ja auch in einer bestimmten Haltung vorgeführt: In bezug auf den amerikanischen Way of Life weicht eine anfängliche Skepsis einer immer deutlicher werdenden Fasziniertheit, und das geht mit einer starken Entwicklung der Beobachtungsfähigkeit dieses Mannes einher. Zum Teil ist das Ganze ja auch ein sehr interessantes Buch über Amerika, nicht zuletzt deshalb, weil die Perspektive dieses Autors so deutlich in den Vordergrund gerückt wird. So wird das Buch aus dem nur Science-Fiction-haften, aus dem nur Sensationell-Spekulativen auf eine Ebene gerückt, die einer Aufforderung an den Leser gleichkommt, sich selbst zu befragen, wie er sich in einer ähnlichen Situation verhalten und welche Beziehung er zu diesen Phänomenen entwickeln würde. Für mich liegt hinter der Eröffnung solcher Fragestellungen ein künstlerischer Artikulationsprozeß, der in dieser Form in der Filmfassung nicht vorhanden ist. Im Film ist alles auf diesen Reporter und auf diesen Moderator zugeschnitten, der dann immer wieder eingeblendet wird und die verschiedenen Rollen ankündigt. Im Buch werden diese einzelnen Filmrollen in einer Weise eingeblendet, die sehr viel effektvoller ist. Die dramaturgische Plausibilität ist eine ganz andere. Zusammenfassend also würde ich sagen, daß Sie in der Buchfassung in einer Weise anwesend sind, die im Sinne von zusätzlicher künstlerischer Differenzierung als substantielle Leistung des Schriftstellers Erler gewertet werden muß. Ich könnte mir vorstellen, daß dieses Buch auch dann eine Wirkung hat,
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wenn der betreffende Leser den Film nicht gesehen hat. Und das ist für mich in der Tat ein überraschendes Ergebnis. Denn hier weicht ein Mann, der primär filmisch gearbeitet und das Literarische primär funktional gesehen hat, in einer bestimmten Situation des Schreibens plötzlich von diesem vorgesetzten Schema ab und beginnt doch wieder literarisch eigengesetzlich zu arbeiten. Er wird dadurch zu einem Romanautor, ist nun nicht länger 'bloß' einer, der im nachhinein die Beschreibung eines Films geliefert hat. Darin sehe ich ein sehr wichtiges Moment in einem Prozeß, den man die Neukonstituierung der Literatur nennen könnte. Am Beispiel der «Delegation» scheint es so zu sein, daß sich die Literatur vom Film abgestoßen und eine Struktur zustande gebracht hat, die in sich literarisch lebensfähig ist. Dieses Stück Literatur wird von den filmischen Vorgaben nicht absorbiert. Es ist Medienliteratur in einem völlig positiven Sinne. Ich frage mich nun, was Sie dazu gebracht hat, im Buch in der beschriebenen Weise Ihre Subjektivität stärker zu artikulieren? E: Diese Abwendung vom Medium Film, diese Hinwendung zur Literatur übt auf mich einen merkwürdigen neuen Reiz aus. Mein vorletzter Roman trägt den Titel «Delay - Verspätung». Eine Mischung aus Aussteigerbekenntnis, 'Midlife-Blues' und Polit-Thriller, angesiedelt in Indien. Und ich behaupte nun von diesem Roman, er sei unverfilmbar! Denn die Handlung ist ein einziger Monolog. Nun habe ich das Manuskript einigen Produzenten-Kollegen zu lesen gegeben, also Leuten, die etwas vom Film verstehen. Und jetzt kann ich mich vor Angeboten nicht mehr retten - alle wollen das Buch verfilmt sehen. Engländer, Inder, Australier und das Westdeutsche Fernsehen warten auf das Drehbuch. Sicher: Der ganze Action-Bereich wird einen effektvollen Psycho-Thriller mit hochaktuellen politischen Bezügen abgeben, aber das wird dann keinesfalls mehr das Buch sein. Noch ein Beispiel: Mein Roman «Reise in eine strahlende Zukunft» - verfilmt unter dem Titel «News» und in den USA, Kanada und weiteren 35 Ländern als «Nuclear Conspiracy» ein großer Kinoerfolg, wurde auch durch den Einschub von aktuellen, skandalösen, authentischen Meldungen über Kernkraftwerke und Wiederaufbereitung von Spaltstoffen zu einem völlig eigenständigen literarischen Werk, das absolut ohne Film und Filmhandlung existiert. Und außerdem habe ich gerade einen Sammelband mit 13 phantastischen Liebesgeschichten abgeschlossen, der demnächst auf den Markt kommen wird (Titel: «Orchidee der Nacht»). Viele der Geschichten sind bereits in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht worden. Gott sei Dank sind aber all diese Geschichten nun wirklich absolut unverfilmbar: weil sie sich nämlich im Kopf
des Lesers abspielen!
Es ist sinnlos, eine Kamera hinzuhalten, um phantastische Vorgänge abzubilden, die ausschließlich in der Imagination des Lesers entstehen. Kurzgeschichten zu schreiben, das ist ein Hobby, das mich ungeheuer reizt. Und ich kann mir dieses Hobby leisten. Es konfrontiert mich mit völlig neuen Perspektiven, die mir im Augenblick sehr wichtig erscheinen.
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D: Neue Perspektiven sind ja immer gut. Aber wenn Sie das Schreiben als Hobby bezeichnen, könnte das zu Mißverständnissen führen. E: Unter Hobby verstehe ich das, was vom Brotberuf wegführt. Es ist ja wirklich nicht so, daß man in irgendeiner Weise von Kurzgeschichten leben könnte. Wirtschaftlich gesehen sind Kurzgeschichten absolut unrentabel. Über viele Wochen hinweg feilt man immer wieder an solchen Kurzgeschichten herum, bis diese Miniatur schließlich die Form hat, die einen befriedigt. Die aufgewandte Zeit steht zum Honorar in keinem Verhältnis. Das ist bei Filmproduktionen, die weltweit verkauft werden, selbstverständlich ganz anders. Wir arbeiten gerade wieder an einem Film, der in Australien und in den USA spielen wird. Außer dem Ostblock und großen Teilen Afrikas habe ich inzwischen eigentlich alle Kontinente und Länder mit meiner Kamera und mit meinem Team bereist. Wenn man sich dann hier in diese bayerische Einöde zurückzieht und Kurzgeschichten schreibt, dann rutscht einem ein Wort wie 'Hobby' natürlich schon einmal leicht über die Lippen. D: Ja, es ist ja bei Ihnen ganz offensichtlich vor allem der Reiz, mit dem Material der Sprache zu arbeiten, es sind genuin schriftstellerische Ambitionen, die Sie zum Schreiben gebracht haben. Mit vergnüglicher Freizeitbeschäftigung ä la Hobby hat das ja nur sehr vordergründig etwas zu tun. Diese Individuation des Autors Rainer Erler, die beinahe über Jahrzehnte unterbrochen war, setzt sich nun also wieder fort und entwickelt sich weiter. Und ich kann mir gut vorstellen, daß es für einen Autor sehr schwierig ist, im Sinne von rationaler Durchsichtigkeit darzulegen, was ihn wie in Ihrem Falle lange vom Schreiben abgehalten und dann doch wieder zum Schreiben gebracht hat. Unsereiner hat ja immer die Illusion, daß solche Prozesse auch für Außenstehende begreifbar gemacht werden können. Man glaubt und hofft, der Autor könne die Vielzahl der Prozeßfaktoren wie Mosaiksteinchen zu einem schönen und einsichtigen Muster ordnen. Selbstverständlich ist das in der Realität kaum zu leisten. Könnten Sie zum jetzigen Zeitpunkt für sich wissen und sagen, die Zeit der ScienceFiction-Filme und Science Thriller sei nun ein für allemal abgeschlossen, und es beginne nun die Zeit der Literatur? Auffällig ist ja immerhin, daß Ihre jüngsten literarischen Versuche offenbar auch das Phantastische zum Gegenstand haben. E: Diese Kurzgeschichten und Erzählungen sind nur zum Teil das, was man heute im weitesten Sinn 'Science Fiction' nennt - 'phantastisch' sind sie alle: Da verliebt sich ein junger Lehrer in ein Mädchen, das bereits 139 Jahre tot ist. Umgekommen bei einem Schiffsuntergang. Er findet den Abschiedsbrief in einer Flasche am Strand und weiß mit unerschütterlicher Gewißheit, daß er der 'Geliebte' ist, an den der letzte Gruß gerichtet war. Oder: Der Held einer Geschichte fällt anläßlich einer Fahrt durch den Nebel vierzig Jahre zurück in die finsterste Vergangenheit dieses Landes: in die letzten Tage des Krieges im Mai 1945. Er wird geschnappt, predigt - aus seiner Sicht und der
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Erfahrung der letzten 40 Jahre heraus - Frieden. Ausgerechnet in einer Befehlsstelle vor deutschen Offizieren, die den Endkampf organisieren - und wird zwangsläufig zum Tode verurteilt. In seiner Todeszelle zeugt er noch ein Kind mit einer Taubstummen, die ihn für einen Gott hält, der zur Erde kam, um die Menschheit zu retten. E r stirbt zwar im Kugelhagel. Aber das Kind, der Sohn, ist nun ein vierzigjähriger Friedensprediger, der in Los Angeles so seine Probleme hat... Dabei hat sich alles erst letzte Nacht zugetragen! Oder: Der 'Commander* eines Raumschiffs erkennt plötzlich, daß er nur noch aus einem körperlosen Gehirn besteht, das in eine Testapparatur eingebaut ist - und keineswegs durch die Galaxis kreist. Oder ist er nur noch ein 'Chip', eine mit Informationen und Erfahrungen gefütterte Speichereinheit eines Simulations-Computers? Der Biochemiker, dem seine papierfressenden Bakterien entkommen und die nun alles bedruckte Papier, Geld wie auch die Bestände der Staatsbibliothek in Zucker und Stärke verwandeln, hat die abendländische Kultur auf dem Gewissen. Und wenn er sich in der Aula der Universität erhängt, ist das nur allzu gerecht. Sicher: Das alles läßt sich verfilmen. Aber warum sollte man das tun, wo es doch so schön, so eindringlich, so bildhaft beschrieben wurde. Plädoyer für Literatur D: Sie haben einmal irgendwo gesagt, daß die geschriebene Science Fiction der filmischen eigentlich immer dadurch überlegen bleibe, daß sie die Möglichkeit hat, die Phantasie des Lesers zu stimulieren. Beim Lesen entstünden in der Phantasie des Lesers Dinge, die man bildlich nicht nachvollziehen könne. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus sieht das allerdings anders aus. Die stärksten Eindrücke, die Science Fiction bei mir hinterlassen hat, gehen auf filmische Beispiele zurück. Zumindest bei mir hat die Visualität des Materials eine größere emotionale Durchschlagkraft. E: Auch wenn sich das zu widersprechen scheint: Wir haben beide recht. Wenn sich eine Science-Fiction-Idee zur filmischen Aufbereitung eignet, dann ist die Wirkung des filmischen Bildes in der Tat größer als literarische Bemühungen. Daher rührt auch das Unbehagen bei vielen Lesern, die ihr Lieblingsbuch verfilmt sehen. Sie werden von diesem großen Bild und seiner Wirkung vergewaltigt und vermissen trotzdem eine ganze Menge - denn Verfilmungen sind immer nur darstellbare
'Ausschnitte'
einer Handlung. Ein Großteil der Science Fiction bleibt besser unverfilmt, weil sonst nicht allein die Produzenten ruiniert würden - denn Science-Fiction-Filme sind üblicherweise immens teuer! -, sondern ebenso die Phantasie der Rezipienten. Und viel-
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leicht bewirkt die angeregte Phantasie letztendlich mehr als das konsumierte Bild. Aber das muß man von Fall zu Fall entscheiden. Es gibt da keine endgültige Antwort. D: Eigentlich ist das ein schönes Resümee. Es weist darauf hin, daß die Literatur auf diesem Hintergrund, den Sie charakterisiert haben, doch noch eine Überlebenschance hat. Offensichtlich hat sie ihr Lebensrecht doch noch nicht völlig eingebüßt. Und Sie selbst stehen ja mit Ihren filmischen und literarischen Arbeiten für die Möglichkeit, daß beide Kunstformen friedlich nebeneinander existieren können.
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In Sorge um unsere Zukunft. Zu den Science-Fiction-Filmen von Rainer Erler
I. Der Filmemacher und Autor Rainer Erler gehört zu den ungewöhnlichsten Erscheinungen in einem Bereich, in dem sich Literatur, Film und Fernseharbeit überschneiden oder anders gesagt: nebeneinander existieren in einer Symbiose, die von einem Kulturbetrieb, der, in seinem Kern konservativ geprägt, gewöhnt ist, in GenreSchablonen zu denken, eher mit Mißtrauen und Zögern wahrgenommen wird. Der 1933 geborene Erler ist unter den sieben Beispielfiguren, die das thematische und entwicklungsgeschichtliche Spektrum dieser Untersuchung repräsentieren, einer der jüngsten und vielleicht auch deshalb derjenige, dessen kreative Wandlungsfähigkeit und Mobilität am größten ist. Damit ist freilich auch ursächlich eine spezifische Rezeptionsschwierigkeit seiner Wirkung verbunden: Weil sich seine Arbeit nicht ausschließlich von einem Betätigungsfeld her beschreiben und definieren läßt - sei es nun der Film, das Fernsehen oder die literarische Arbeit -, sondern weil seine Produktivität sich in allen Bereichen dokumentiert, entzieht er sich einer definitorischen Beschreibungsformel oder macht es schwierig, eine solche Formel zu finden. Das mag sicherlich mit daran beteiligt sein, daß der qualitative Rang dieser Leistung den Status Erlers im gegenwärtigen Kultur- und Medienbetrieb nicht mit jener Nachdrücklichkeit befestigt hat, wie es eigentlich zu erwarten wäre. Erler, der in seinen filmischen Arbeiten Autor, Regisseur und Produzent vielfach in Personalunion ist und seine Ideen und Vorstellungen daneben auch immer wieder in rein literarischen Entwürfen umsetzt, ist ein Grenzgänger. Als solcher steht er quer zum eingefahrenen Routinebetrieb und widerstrebt damit auch zum Teil den eingespielten Vermarktungsgesetzen dieses Routinebetriebs. Damit soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, Erler sei verkannt oder gar erfolglos, höchstens, daß die antizipatorische Dimension seiner Leistung nicht angemessen gewürdigt wird 1 . Die Vielfalt dieser Leistung ist beeindruckend und hat ihn oft genug ins Rampenlicht der Öffentlichkeit geführt. Erler begann mit neunzehn Jahren als Regieassistent bei Rudolf Jugert und hat seine achtjährige Lehrzeit (bei Jugert, Harald Braun, Wolfgang Liebeneiner, Paul Verhoeven, Franz Peter Wirth und Kurt Hoffmann) in der Mitarbeit an ca. 30 Kino1
So weist Karl PrUmm in seiner Untersuchung «Vom Buch zum Fernsehfilm (und umgekehrt). Varianten der Literaturverfilmung» (in: «Fernsehsendungen und ihre Formen», hg.v. Helmut Kreuzer, Stuttgart 1979 [S. 94-114]) zu Recht darauf hin, daß beispielsweise im Kontext der Kinofilm-Produktionen Anfang der 60er Jahre Erlers politische Satiren «Seelenwanderung» (1962) und «Orden für die Wunderkinder» (1963) ausgesprochen antizipatorisch und kühn wirken (vgl. S. 103).
180 Spielfilmen absolviert, begann dann Anfang der 60er Jahre mit eigenen Filmen für Kino und Fernsehen und hatte bis Ende 1969 bereits 27 Filme geschrieben und produziert 2 . Diese intensive Produktionsweise ist Ausdruck einer enthusiastischen Besessenheit und führte keineswegs zu hektischer Serienproduktion, sondern zu filmischen Höhepunkten, die auch von der Öffentlichkeit anerkannt wurden. Erlers Film «Seelenwanderung» von 1962 wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet 3 . Ähnliches gilt für die Filme «Orden für die Wunderkinder» 4 , «Die Delegation» 5 und «Operation Ganymed» 6 . In den 70er Jahren wandte sich Erlers Interesse verstärkt dem Genre des ScienceFiction-Films zu. Die beiden zuletzt genannten Filme sind die herausragenden Beispiele dafür. Aber auch die fünf Filme der Reihe «Das blaue Palais» - «Das Genie», «Der Verräter», «Das Medium», «Unsterblichkeit» und «Der Gigant» - ordnen sich diesem Themenbereich zu. Mit Ausnahme von «Operation Ganymed», wo die Buchveröffentlichung im wesentlichen nur das Drehbuch umfaßt 7 , existieren zu all diesen Filmen Erlers auch Romanfassungen 8 . Es handelt sich also weder um die gedruckten Drehvorlagen der Filme noch um die filmischen Erfolgen aus reinen Marktgesichtspunkten nachgeschobenen sogenannten "Bücher zum Film", sondern um durchaus eigenständige Versuche, die filmisch umgesetzten Themen von den ganz anderen Gattungsvoraussetzungen der Romanform her neu zu gestalten. Das deckt sich in der Intention also durchaus mit dem vielschichtigen Arbeitsprozeß, der sich am «März»Projekt Kipphardts feststellen läßt. Freilich hat diese Parallelität dennoch dazu geführt, daß diese Romane als literarische Arbeiten kaum zur Kenntnis genommen worden sind. Das hat wohl auch mit den festgefahrenen Wertungspositionen im Kulturbetrieb zu tun.
II. Dieses mit literarischer Arbeit permanent vernetzte filmische Werk Erlers soll im folgenden nur in einem beispielhaften Auszug näher betrachtet werden. Das geschieht unter der thematischen Perspektive von Erlers Science-Fiction-Beschäftigung. Science Fiction, die Erler in seinen Filmen und Romanen thematisiert, ist freilich auf spezifische Weise definiert. Es fehlt die Dimension der vorweggenommenen Zukunft. Das Team von Wissenschaftlern, das im «Blauen Palais» bestimmte Projekte er2
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Bei diesen Informationen beziehe ich mich auf das sehr informative Gespräch der Zeitschrift «Film» mit Erler «Ich bin eine Art Märchenerzähler», in: «Film» 1/1 (1963), S. 45-46. Er erhielt u.a. dafür: 1962 den Prix Italia Verona, 1963 die Goldene Nymphe Monte Carlo, 1964 den Otto-Dibelius-Preis der Internationalen Filmfestspiele Berlin, 1965 den Ernst-Lubitsch-Preis Berlin. 1963 I. Preis Anica Mailand, 1964 Goldene Nymphe Monte Carlo u.Prix Italia Genua. 1970 Goldene Kamera, 1978 Goldener Asteroid als bester Science-Fiction-Film des Jahres. «Heimkehr, Operation Ganymed. Drehbuch zum Film», München 1976. Alle Titel sind gegenwärtig noch als Goldmann Taschenbücher verfügbar. In der Reihenfolge der erwähnten Titel: 3701, 3743,3757, 3767,3858,3909.
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forscht, arbeitet hier und jetzt. Die sozialen Rahmenbedingungen, in denen sie leben, sind wiedererkennbar die der Gegenwart. Es handelt sich also nicht um prognostische Simulationsspiele, die mit einem künftigen Jahrtausend verbunden sind. Die futurologische Komponente gibt sich unter andern Aspekten zu erkennen. Was die konventionelle Science Fiction 9 gleichsam axiomatisch voraussetzt, den nach vorn verlagerten Anachronismus einer künftigen zivilisatorischen Entwicklung, die man zu simulieren versucht, wird in der Konzeption des «Blauen Palais» als Ausgangspunkt reflektiert. Die jungen Wissenschaftler, die sich hier zusammengefunden haben, sind in gewisser Weise Außenseiter des Wissenschaftsbetriebs, haben sich gleichsam zur Tarnung hinter die blaue Fassade eines altertümlichen Palais, das abgeschieden von der normalen Welt in einem verwilderten Park liegt, zurückgezogen. In dieser Denkfabrik konzentrieren sie ihre Forschungsenergie auf jene Probleme und Bereiche, um die der traditionelle Wissenschaftsbetrieb eher einen Bogen macht: Grenzbereiche des Wissens, die Okkultes, Parapsychologisches berühren. In dem Film «Das Genie» arbeitet die Forschungsgruppe beispielsweise an Versuchen, die in sogenannten Gedächtnismolekülen materialisierte Intelligenz auf andere Lebewesen zu übertragen. In «Unsterblichkeit» geht es darum, daß ein Biologe eine Formel entwickelt hat, mit der sich das genetische Programm höherer Lebewesen beeinflussen und ändern läßt. Ein materieller Schlüssel zur Unsterblichkeit scheint gefunden. Es sind also Fragestellungen und Probleme, die aus der Gegenwart heraus entwickelt werden und Aspekte der naturwissenschaftlichen Wissensprogression thematisieren, deren Voraussetzungen keineswegs fiktional sind, sondern Entwicklungen in der Gegenwart aufgreifen und weiterdenken. Auch die beiden wichtigsten Science-Fiction-Produktionen, die Erler bisher vorgelegt hat, die Filme «Die Delegation» und «Operation Ganymed» sind nicht im zeitlichen Niemandsland einer vagen Zukunft angesiedelt, sondern spielen in der historischen Gegenwart. Er entwirft in diesen Filmen also nicht von phantastischen Einfallen bestückte Zukunfts-Szenarios, die mit pseudowissenschaftlichen Requisiten vollgestopft sind und damit den Anschein prognostischer Zukunftsvorwegnahme erwekken, während sie im Grunde nur eine Imponierfassade errichten, hinter der sich ur-
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In das semantische Labyrinth, das diesen Begriff umschließt, will ich mich an dieser Stelle nicht hineinwagen, sondern zur topographischen Vermessung dieses unübersichtlichen Terrains auf einige neuere Hilfsmittel verweisen: Ulrich Suerbaum/Ulrich Broich/Raimund Borgmeier: «Science Fiction. Theorie und Geschichte, Themen und Typen, Form und Weltbild», Stuttgart 1981; Reimer Jehmlich: «Science Fiction», Darmstadt 1980; Hans-Joachim Schulz: «Science Fiction», Stuttgart 1986; Karl Ermert (Hg.): «Neugier oder Flucht? Zur Poetik, Ideologie und Wirkung der Science Fiction», Stuttgart 1980; immer noch nützlich als forschungsgeschichtlicher Querschnitt: Eike Barmeyer (Hg.): «Science Fiction», München 1972. Darko Suvin hat in seinem Buch «Poetik der Science Fiction. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung» (Frankfurt a.M. 1977) seinen gattungsgeschichtlichen Klärungsversuch zu Recht unter die Überschrift gestellt "Science Fiction und der Gattungsdschungel" (S. 38). Dieser Dschungel ist nach wie vor vorhanden. Die meiner Einschätzung nach plausibelste analytische Spurensuche liegt in der zweibändigen Darstellung Stanislaw Lems vor: «Phantastik und Futurologie» I u. II, Frankfurt a. M. 1977 u. 1980.
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alte Handlungsklischees verbergen 10 . Erler entgeht damit jener Gefahr, die Lern dem Großteil von SF-Produktionen vorgeworfen hat: "Eines der wahnwitzigsten Geheimnisse der SF (welches aber nicht einmal streng gehütet wird) ist die Tatsache, daß so um 98-99% ihrer Autoren die gelehrten Schriften und Handbücher, die es heute gibt und die diese Herren mit ihrem Wissen über das Jahr 6000 zu überbieten bereit sind, selbst dem Titel und dem Namen der Verfasser nach nicht kennen. Wenn ein Autor die Physik im Rahmen des Schulunterrichts beherrscht, wird er deshalb [...] in vollem Ernst hochgepriesen und als Musterbeispiel den Autoren vorgestellt, die augenscheinlich nach drei Klassen wegen allgemeiner Gehirnschwäche den Schulunterricht abbrechen mußten. Das Publikum scheint von solchen interessanten Tatsachen nichts wissen zu wollen, wahrscheinlich, weil es solche Nachrichten verstimmen könnte." 11 Diese sarkastische Bestandsaufnahme 12 ist sicherlich berechtigt und läßt sich allein durch apologetische Rhetorik 1 3 nicht aus der Welt schaffen. Die höchst kontroverse Forschungsdiskussion dieses Genres ist einerseits so umfangreich und andererseits so diffus, daß sie hier gar nicht aufgerollt werden soll. Es kommt mir mit dem Blick auf Erler nur darauf an, auf eine spezifische Voraussetzung seiner fiktionalen SF-Entwürfe aufmerksam zu machen, nämlich ihre Gegenwartsverklammerung, die ja zugleich mit einer entscheidenden Konsequenz verbunden ist: Das Wahrscheinlichkeitspotential ist viel stärker der Kontrolle und Überprüfbarkeit durch den gegenwärtigen Wissens- und Erkenntnisstand unterworfen und muß daher viel nachhaltiger um Plausibilisierung bemüht sein als die Entwürfe von Autoren, die sich, ungehemmt fabulierend, in einem Zukunftsvakuum bewegen, in dem gleichsam alles möglich bzw. nicht möglich sein kann, also das Prinzip der X-Beliebigkeit dominiert. Diese Gegenwartsverankerung von Erlers Spielmodellen läßt sich auch qualitativ als realistische Darstellungsabsicht bezeichnen. Er entwirft seine Handlungsmuster und Konfliktzuspitzungen immer im konzeptionellen Rahmen bereits gegenwärtig erkennbarer Entwicklungstendenzen und ist damit primär an der Geschichtlichkeit des gegenwärtigen Augenblicks interessiert und nicht an vagen Zukunftsprojektionen. Es kommt jedoch noch ein anderes Moment mit hinzu, daß die Besonderheit von Erlers SF-Standpunkt ausmacht. Die konventionelle SF erliegt der Faszination futuristischer technologischer Apparaturen und verschwendet einen Großteil ihrer Energie auf die Ausfüllung solcher technizistischen Aspekte. Der Mensch, sofern er in dieser
Das hat einer der wichtigen Mitarbeiter Steven Spielbergs an seinem SF-Film «Close Encounters of the Third Kind», nämlich der für die Licht-Effekte des Films verantwortliche Douglas Trumbull zutreffend so beschrieben: "The hardest thing about this picture was that we didn't have the advantage of being out in space creating a fantasy. We had to be down on Earth with totally believable illusions." («Filmmaker's Newsletter» 11/2 [1.11.1977]) 11
«Science Fiction. Ein hoffnungsvoller Fall - mit Ausnahmen», in: «Polaris 1. Ein Science Fiction Almanach», hg.v. Franz Rottensteiner, Frankfurt a.M. 1973, S. 11-59, Zitat S. 31. 12 Man braucht in der deutschen Situation nur auf die industriell hergestellte und massenhaft konsumierte Perry-Rhodan-SF zu verweisen, vgl. dazu C. Hallmann: «Perry Rhodan. Analyse einer Science-Fiction-Romanheftserie», Stuttgart 1979. 13 Vgl. dazu etwa Hans-Joachim Schulz: «Science Fiction», Stuttgart 1986.
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von futuristischen Requisiten vollgestopften galaktischen Bühne überhaupt noch eine Rolle spielt, ist zum Anhängsel dieser technizistischen Apparaturen geworden, hat gegenüber all den wesentlich funktionstüchtigeren Androiden, Cyborgs, Replikanten und Robotern ohnehin nur noch wenig zu melden, ist faktisch zur reinen Gehirnfunktion mutiert, da er seine Körperlichkeit weitgehend eingebüßt hat, in einem medizinischen Recycling generalüberholt und quasi unsterblich gemacht werden kann, im Tiefschlaf der Kältekammern riesige galaktische Entfernungen problemlos übersteht oder sich gar in Entmaterialisierungsstationen über solche Entfernungen im Bruchteil von Sekunden hinwegstrahlt und am Ziel wieder körperlich synthetisiert. Uralte mythische Vorstellungen, die den Menschen über Raum und Zeit erheben und ihn seiner naturgeschichtlichen Anfälligkeit auf magische Weise entheben, feiern hier in technizistischer Verkleidung ihre Wiederauferstehung. Erlers Darstellung geht von der naturgeschichtlichen und sozialen Existenz des Menschen aus und hat in der Problematisierung gerade dieser Dimension einen ihrer Schwerpunkte. In der Tat spricht die riesige Entwicklungszeiträume umfassende Evolution des Menschen - in der Eingangssequenz von Stanley Kubricks SF-Film «Odyssee im Weltraum» (1968) wird das paradigmatisch thematisiert: die in die Luft geschleuderte Knochen-Waffe des Steinzeit-Menschen wandelt sich zum Raumschiff, das einem fernen Ziel entgegenfliegt gegen die naive Unterstellung, als gelinge es dem Menschen sozusagen in einem qualitativen Sprung seine körperlichen Fehlersysteme aufzuheben und gleichsam seine naturgeschichtliche Existenz durch Technisierung unantastbar zu machen. Dieser unvorstellbar lange Evolutionsprozeß hat das Bio-System Mensch nicht wesentlich verändert, auch wenn die einzelnen entscheidenden Entwicklungsschübe seine zerebralen Kapazitäten entscheidend erweitert haben. Im Grunde beweisen das sogenannte Space Operas wie «Star Wars» 14 oder «Battiestar Galactica» 15 gegen ihre eigene Absicht 16 , indem sie das psychologische und soziale Verhalten ihrer zu galaktischen Helden stilisierten Personen im Grunde von jenen Antrieben bestimmt zeigen, die graduell schon für den steinzeitlichen Menschen galten: Konkurrenzdenken, Eifersucht, feindliche Auseinandersetzung, Vernichtung des Schwächeren, Machtausdehnung - wie immer man diese Antriebe im einzelnen differenzieren mag.
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Vgl. dazu im einzelnen die Ausführungen von John Brosnan in seinem Buch «Future Tense. The Cinema of Science Fiction», New York 1978, S. 239 ff. Dieser 1978 von Glen Larson produzierte Fernsehfilm (der außerhalb Amerikas als Kinofilm in den Verleih kam) versuchte mit Hilfe von John Dykstra, der schon für die speziellen Effekte von «Star Wars» verantwortlich gewesen war,«Star Wars» vom Jahr zuvor zu übertreffen, ist aber nicht mehr als eine schwache Kopie.
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Wobei man allerdings dem Regisseur von «Star Wars» George Lucas konzedieren muß, daß er selbst die Machart seines Films von der ernstzunehmenden SF abgesetzt hat und durchaus selbstkritisch bekennt: "Stanley Kubrick made the ultimate science fiction movie and it is going to be very hard for somebody to come along and make a better movie, as far as I'm concerned. I didn't want to make a «2001», I wanted to make a space fantasy that was more in the genre of Edgar Rice Burroughs;" (zit. nach «Rolling Stone» No. 246 [1977]).
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Für Erler ist dieses schwer zu verbessernde, stets anfällige Bio- und Psycho-System Mensch der Faktor, dem er die größte Aufmerksamkeit schenkt und der die sozialgeschichtliche und psychologische Dimension seiner S F begründet und sie damit von vornherein der zur puren Trivialität tendierenden Anhäufung von technizistischen Versatzstücken entzieht.
III. Über die Entstehungssituation des Filmes «Die Delegation» hat E r l e r 1 7 berichtet: "Der Film «Die Delegation» entstand vom Manuskript her im Jahre 1968. Das war eine Zeit des großen politischen und gesellschaftlichen Umbruchs in Europa, nicht nur in der Bundesrepublik. Das war auch die Zeit, wo wir technisch wirklich noch gläubig waren, wo die großen Kernkraftwerke geplant wurden, wo die Mondlandung dicht vor der Tür stand, wo ich selbst Erspartes in ein paar Aktien umgewandelt habe, weil ich glaubte, daß die technische Zukunft positiv sein würde." (S. 80) Gerade angesichts der von Erler geschilderten psychosozialen Rahmenbedingungen ist es bemerkenswert, daß der Film keineswegs wie eine naive Projektion dieser weitverbreiteten Vorstellung von der technischen Machbarkeit der naturwissenschaftlichen Erkenntnisexpansion wirkt. Es ist kein technizistisches Zukunftsmärchen, das Erler erzählt, sondern die sich auf den Weltraum richtende Entdeckungsperspektive, die motiviert wird von der Frage nach anderem intelligenten Leben im All, wird reflektierend gebrochen. Die den Film formal organisierende Perspektive ist die einer Indizien sammelnden Recherche, die verschiedenartig auslegbares Material sammelt und um ein zweifaches rätselhaftes Ereigniszentrum dabei kreist: einerseits um die Frage, ob tatsächlich so etwas stattgefunden hat wie eine Begegnung der dritten Art mit Kundschaftern einer andern galaktischen Welt, was der Femsehreporter Will Roczinski zu recherchieren versucht, und andererseits um den rätselhaften Tod dieses Reporters, dessen Wagen südlich von Los Angeles von einer Brücke des San Diego Freeway gestürzt ist, wobei nicht klar ist, ob es sich um einen Unfall, einen Verzweiflungsschritt oder um einen getarnten Mord dabei handelt. Zur Hinterlassenschaft Roczinskis gehören elf Filmrollen und sein fragmentarisches privates Tagebuch, die Material enthalten, das es bis zu einem gewissen Grade ermöglicht, den Weg seiner journalistischen Recherche, ob es tatsächlich so etwas wie eine Begegnung mit extraterrestrischen Delegierten gegeben hat, ob ein Raumschiff von einem andern Stern landete, zu rekonstruieren. Diese relativ komplizierte Plot-Konstruktion arbeitet also mit einer doppelten Brechung. Die Recherche des zu Tode gekommenen Roczinski wird nachrecherchiert, um Aufschlüsse zu erlangen, ob der Reporter sein Ziel tatsächlich erreicht hat und ob sein rätselhafter Tod damit in irgendeiner Verbindung steht. Die formalen KonseJörg Weigand/Rainer Erler: «'Ich möchte das Bewußtsein verändern...' Ein Interview mit dem Regisseur Rainer Erler»,in: «Neugier oder Flucht?» (Anm. 9), S. 77-81.
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quenzen sind vielfältig. Der Film arbeitet mit einem dokumentarischen Darstellungsgestus, der quasi journalistisches Material analytisch ineinandermontiert und erkenntniskritische Spurensuche betreibt, und er bezieht damit zugleich in der Mittelpunktsfigur Roczinski und seiner sich allmählich verändernden Einstellung zu seinem Sujet, von Skepsis und Unglauben über zweifelnde Annäherung bis hin zur möglichen Überzeugtheit von der Faktizität der Ereignisse, auf dem Wege der Projektion die Haltung des Zuschauers in die Darstellungsweise des Films mit ein. Der im Muster der analytischen Fabel zustandekommende Film, der das vorhandene Material auswertet, reflektiert und zusammenmontiert, ergibt somit noch einen zusätzlichen Reflexionsfilter, der den Identifizierungsprozeß zwischen Mittelpunktsfigur und Zuschauer ständig unterbricht und einer Reflexionskontrolle unterzieht. Die Machart von Erlers Film erinnert an Spielbergs «Unheimliche Begegnung der dritten Art» (1977), denn auch Spielberg arbeitet mit einer formalen Doppelstrategie. Ein dokumentarisch recherchierender Darstellungsgestus, in dessen Mittelpunkt der von Truffaut gespielte französische Wissenschaftler Claude Lacombe steht, der mit seinem Forschungsteam überall auf der Welt Indizien extraterrestrischer Besuche auf der Erde oder Phänomene, die damit in Verbindung stehen könnten, untersucht, und ein an konkreten Beispielen erzählender Handlungsstrang, der sich auf die beiden Personen Jillian Guiler, deren kleiner Sohn offenbar von den außerirdischen Besuchern entführt wurde, und den Techniker Roy Neary richtet, dessen normales Leben durch den visuellen Kontakt mit Ufos völlig aus der Bahn geworfen wird, sind alternierend ineinander montiert. Durch den ständigen Wechsel von dokumentarischem und fiktionalem Darstellungsgestus setzt Spielberg Reflexionssignale und verhindert es, daß die visuelle Suggestion des fiktionalen Handlungsstrangs die Aufmerksamkeit der Zuschauer völlig okkupiert. Die dokumentarischen Einschübe schaffen Distanz, stimulieren Reflexion und provozieren das Nachdenken über die fiktionalen Handlungspartien des Films. Erlers Darstellungsprinzip, das man als filmische Recherche einer journalistischen Recherche bezeichnen kann, erreicht durch diese doppelte Brechung etwas Analoges: Der Film provoziert Skepsis gegenüber Phänomen wie Ufos und dokumentiert andererseits die Unsicherheit all jener institutionellen Strukturen, die das Dogma von der rationalen Durchschaubarkeit der Welt vertreten, und arbeitet damit einer Haltung vor, die in einer authentischen Dokumentareinblendung ganz zu Anfang des Films von dem Pionier der Raketenforschung Hermann Oberth so formuliert wird: "Ich fühle mich einfach als Forscher, der die Wahrheit ergründen möchte, der die Wahrscheinlichkeit der Annahmen gegeneinander abwägt, jederzeit kritisch und jederzeit bereit, dem abzuschwören, was er gestern noch geglaubt hat. [...] Was nun die UFOs sind, das wissen wir, genau genommen, noch nicht ganz sicher. Aber angesichts der Tatsachen scheint die Hypothese, es könnten Raum-
186 schiffe von anderen Welten sein, am allerwahrscheinlichsten. Diese Hypothese konnte bis jetzt noch nicht widerlegt werden!" 1 8 Dieser internationale Weltkongreß der Ufo-Forscher ist eine der ersten Stationen Roczinskis bei seinem Versuch herauszufinden, inwieweit an den aktuellen Ufo-Sichtungen etwas dran sein könnte, und präsentiert ihn eher skeptisch und ungläubig, in einer Haltung also, die j a im wesentlichen auch für die Haltung der breiten Öffentlichkeit und konkret der Zuschauer gilt. So ist beispielsweise sein Bericht über den Ufo-Kongreß in Mainz negativ eingestimmt, was die Beweisfähigkeit der dort vorgebrachten Indizien betrifft, die Kontakte mit Außerirdischen wahrscheinlich machen sollen. In der Romanfassung wird dieser von Unglauben und Skepsis bestimmte Ausgangspunkt der Recherche noch dadurch intensiviert, daß der Autor, dem die hinterlassenen Materialien Roczinskis übergeben worden sind, damit er das Rätsel des mysteriösen Todes von Roczinski löst, nicht nur den Spuren von Roczinskis Recherche folgt, sondern seinerseits Indizien sammelt, so beispielsweise den Präsidenten der "Deutschen-UFO-IFO-Studiengesellschaft" aufsucht 1 9 , um sich ein Bild von den vermeintlichen Fakten zu machen. Der in den Filmrollen Roczinskis dokumentierte Weg seiner Recherche durchläuft eine Reihe von Stationen: angefangen bei einem Gespräch mit einem amerikanischen Luftwaffen-Oberst, der die offizielle Einschätzung solcher Phänomene von Seiten des Pentagon referiert, obwohl auch hier die außerplanetarische Herkunft solcher Flugobjekte nicht ganz ausgeschlossen wird, über einen Besuch bei einem farbigen amerikanischen Ehepaar, das, ohne daß es selbst eine Erinnerung an den Vorfall hat, auf einer Autoreise nach Cleveland sich plötzlich in El Paso an der mexikanischen Grenze wiederfand, offenbar von Außerirdischen dort hingebracht, ein Rätsel, das auch bei allen von verschiedener Seite aus angestellten offiziellen Untersuchungen nicht völlig geklärt werden kann. Die Voreingenommenheit Roczinskis, hier könne es sich nur um Phantastereien handeln, weicht einem Zweifel, den der Film solcherart auch beim Zuschauer provoziert: "Ist das, was ich annehme, absurd und verrückt? Ist nicht vielmehr jene Idee absurd und verrückt, daß wir, die Bewohner dieses Planeten Erde, wir halbzivilisierten Barbaren, die einzigen 'intelligenten' und bewußt lebenden Wesen in diesem unermeßlichen Universum sein sollen ?" (S. 87) In der Nach-Recherche, die der Erzähler der Romanfassung anstellt, wird dieser Aspekt noch zusätzlich betont, wenn es im Kontext dieser Situation an einer Stelle heißt: "Dem Leser, dem Zuschauer, werden keine Erklärungen aufgezwungen. Ein gefundenes Fressen zwar für Aberglauben und Spekulation, aber diese 'Reportage ohne Beweis und Antwort' vermittelt auf jeden Fall interessante Denkanstöße." (S. 91)
18 Zitiert hier nach der Romanfassung «Die Delegation», München 1978, S. 30/1. 1 9
Vgl. «Die Delegation», S. 48 ff.
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Diese dialektisch strukturierte Darstellungsweise erreicht ihre sich allmählich intensivierende Beweiskraft für den Zuschauer gerade dadurch, daß sie indirekt seine eigenen Zweifel und Vorbehalte thematisiert und damit gleichzeitig aus dem Weg räumt. Während die konventionelle Science Fiction ihre alle empirische Wahrscheinlichkeit außer Kraft setzenden Tatbestände einfach axiomatisch behauptet und die Überzeugtheit des Zuschauers davon einfach voraussetzt, stellt Erler in seinem Film am Beispiel der zur Identifikation einladenden Mittelpunktsfigur des Journalisten den allmählichen Übergang von der faktischen Unwahrscheinlichkeit zur möglichen Wahrscheinlichkeit dar 2 0 . Dieser Prozeß der Recherche, der noch eine Reihe von zusätzlichen Stationen durchläuft, die das Unwahrscheinliche zunehmend wahrscheinlicher werden lassen, nimmt eine neue Qualität an - und hier greift Erler auf ein Requisit der traditionellen Science Fiction zurück -, als Roczinski beim Besuch einer weiteren Zeugin, der kanadischen Lehrerin Verena Cumber, die unmittelbaren visuellen Kontakt mit Außerirdischen gehabt haben will, auf ein faktisches Indiz stößt, das die Lehrerin anschließend in ihrer Handtasche vorgefunden hat und dessen Herkunft sie sich nicht erklären kann: eine kleine Kristall-Pyramide. Dieses Roczinski übergebene rätselhafte Objekt läßt er in wissenschaftlichen Labors untersuchen. Die ungewöhnliche Materialität wird wissenschaftlich dokumentiert und gibt zu der Vermutung Anlaß, daß es sich um eine Art Relais handeln könnte, um "eine Kombination von Empfänger, Verstärker und Sender" (S. 168), um eine extraterrestrische Wanze gewissermaßen, die die Gehirnströme der Trägerin ausforscht und ausstrahlt. Dieses rätselhafte Objekt, das Roczinski später in einer Phase der Depression ins Meer schleudert, wird zum Wendepunkt in Roczinskis Verhalten. Die im Auftrag eines FernsehMagazins übernommene Recherche verselbständigt sich im gleichen Maße, wie er nun zunehmend davon überzeugt wird, daß tatsächlich so etwas wie eine Begegnung mit einer Delegation von Außerirdischen stattgefunden haben könnte. Die Wirkung dieser Kristall-Pyramide auf Roczinski läßt sich in Analogie setzen zu der Wirkung des Bildzeichens vom Tafelberg, der in Spielbergs «Close Encounters» dem Bewußtsein der Mittelpunktsfiguren Roy Neary und Jillian Guiler so eingeprägt ist, daß der Drang, dieses Zeichen immerzu darzustellen, ihre soziale Handlungsfähigkeit
Freilich ist diesem an sich plausiblen Gedanken, wieso dieser kleine - im galaktischen Maßstab unbedeutende Stern Erde als einziger von intelligenten Lebewesen bewohnt sein soll, jene einschränkende Überlegung entgegenzuhalten, die Isaac Asimov in seinem Buch «Außerirdische Zivilisationen» (Köln 1979) entwickelt hat, ausgehend von der Überlegung, daß angesichts der ungeheuren zeitlichen Entwicklungsdimensionen, die intelligentes Leben braucht, eine Gleichzeitigkeit von unterschiedlich entwickelten intelligenten Zivilisationen im Kosmos höchst unwahrscheinlich sei: "Da die Menschen etwa in der Mitte der Lebenserwartung unseres Planeten aufgetaucht sind, dürfte etwa die Hälfte der bewohnbaren Planeten in der Galaxis die 'Intelligenzphase' bereits hinter sich haben, während die andere Hälfte noch auf die Götterdämmerung wartet - vorausgesetzt, wir können auch in diesem Fall die irdischen Erfahrungen auf die Planeten insgesamt übertragen. Nirgendwo jedoch würden wir dann auf einen Planeten stoßen, dessen Zivilisation weiter entwickelt ist als die irdische." (S. 242).
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Iähmt und Neary schließlich von Frau und Kindern verlassen wird. Ähnlich setzen bei Roczinski die sozialen Kontrollmechanismen aus: Er verliert seinen Auftrag beim ZDF, die Mittel werden ihm entzogen, er entschließt sich dennoch, auf eigene Faust seine Recherche fortzusetzen. Dieser Bruch in seinem Verhalten kommt in der Reflexion des Erzählers im Roman noch deutlicher zum Ausdruck: "Wann war der Umschwung geschehen, das alles verändernde Urerlebnis? Wann hatte er seine Vision gehabt, die aus dem Saulus einen Paulus machte? Wann hatte er seine Skepsis begraben? Wir suchten immer noch eine Antwort auf diese Fragen." (S. 206) Die Handlungsentwicklung beschleunigt sich ebenso wie die Spannung des Films, da Roczinski, von verschiedenen Indizien motiviert, den Eindruck gewinnt, die Landung des Raumschiffs könne in Peru stattgefunden haben, auf der Ebene von Nazca, einem Gelände mit rätselhaften gewaltigen in den Steinboden gefrästen Zeichnungen 2 1 bedeckt, als handle es sich hier um einen Flughafen aus prähistorischer Zeit. Es kommt zum visuellen Kontakt mit einem fliegenden Objekt. Bei dem Versuch, sich dessen Landeplatz zu nähern, werden die beiden Mitarbeiter Roczinskis von dem Hitzeschild des Raumschiffes verbrannt. Roczinski überlebt. Auf dem beschwerlichen Rückweg kommt es in einem Indio-Dorf zu einer seltsamen Begegnung. Die Indios, die einen Arzt in ihm vermuten, führen ihn in eine Hütte zu einem sterbenden Mann: "Der Mann war weiß, weiß und farblos, seine Haut fast durchsichtig. Er war kahl, hatte weder Wimpern noch Brauen. Ein fremdartiger Blick aus tausendjährigen Augen." (S. 308) Ein fremdartiges, menschenähnliches sterbendes Wesen in seiner kreatürlichen Einsamkeit ist letztlich das Ergebnis der Suche: eine Situation des hoffnungslosen Ausgesetztseins, in dem sich die existentielle Situation des Menschen spiegelt. Während die konventionelle Science Fiction immer von einer zivilisatorischen Entwicklungsdifferenz ausgeht, die die Außerirdischen als weit überlegen und deshalb auch zumeist als äußerst gefährlich - Spielberg bricht in den «Close Encounters» mit diesem Klischee - beschreibt, verlagert Erler seine Perspektive völlig von der technizistischen Oberfläche auf anthropologisch-philosophische Dimensionen. Das wird gegen Ende des Filmes im Gespräch zwischen Roszinski und dem peruanischen Intellektuellen Estrella verstärkt, der glaubt, daß die nuklearen Explosionen von Hiroshima und Nagasaki in der Ferne des Kosmos registriert wurden als Signale einer Zivilisation, die dabei war, mittels dieser Energie den Sprung in eine neue Entwicklungsphase zu tun und zu der man deshalb eine Delegation gesandt habe. Freilich sei dieser Entwicklungssprung nur äußerlich geblieben: "Nur technischer Fortschritt ohne 21 Es handelt sich hier um ein Lieblingsspekulationsobjekt Erich von Dänikens, dem Asimov (Anm. 20) freilich zu Recht entgegenhält: "Demgegenüber sind die Archäologen sicher, daß selbst die Pyramiden mit den vor viereinhalbtausend Jahren verfügbaren Mittel gebaut werden konnten. Es wäre ein Fehler anzunehmen, die Menschen vor 5000 Jahren seien weniger intelligent gewesen als wir heute. Ihre Technik war primitiver, ihr Gehirn aber nicht." (S. 254).
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moralische Qualifikation." (S. 315) Die menschliche Zivilisation nutze die neue Energiequelle nur zur Vernichtung der andern und damit auch zur potentiellen Selbstvernichtung. Der qualitative Entwicklungssprung, der sich in einer Überwindung der atavistischen kriegerischen Überlebenskämpfe und in einer Beendigung der ökologischen Zerstörung der Erde auswirken könnte, habe nicht stattgefunden. Ausdrücklich wird damit die naive pseudoreligiöse Erlösungshoffnung der konventionellen Science Fiction zurückgewiesen, als könne der Kontakt mit den quasi außerirdischen Göttern einer fernen Galaxie die Lösung aller Probleme auf der Erde bringen. Erler - und das läßt die Reflexionsstimulation durch die Machart seines Films auch inhaltlich in substantielle Erkenntnis einmünden - sieht die einzige Veränderungsmöglichkeit zum Guten im Verhalten der Menschen: in der Bändigung der atavistischen Zerstörungsenergien, in der Begründung und Festigung eines neuen moralischen Bewußtseins.
IV. Diese moralisch-philosophische Darstellungsebene läßt sich noch stärker in dem zweiten Filmbeispiel Erlers erkennen, das gleichfalls im Genre der Science Fiction angesiedelt ist, aber zugleich dieses Genre eindrucksvoll übersteigt: «Operation Ganymed». Der Film behandelt eine Raumexpedition zum Planeten Jupiter, zu einem seiner Monde, der den Namen Ganymed trägt. Dieser größte Planet unseres Sonnensystems, dessen gigantische Ausmaße 1400 Erdkugeln in sich fassen könnten 22 , stand schon immer im Zentrum astronomischer Beobachtungen. Galilei gelang im Jahre 1610 mit dem Fernrohr die Entdeckung der Jupitermonde und damit der empirische Beweis für die Kopernikanische Lehre, die das geozentrische Weltbild, nicht zuletzt der katholischen Kirche, nachhaltig erschütterte, da sich die Erde als ein Planet unter andern erwies, von einem Mond umkreist, ähnlich wie Jupiter von vier Monden umkreist wird 23 . Seit 1973 haben insgesamt vier unbemannte Raumsonden des Typs Pionier und Voyager mit ihren Meßgeräten die Umgebung Jupiters und den Planeten selbst erforscht. Da der Mond Ganymed mit 5200 Kilometern Durchmesser der größte der Jupiter-Trabanten ist und zudem zur Hälfte aus Gestein und gefrorenem Wasser - während beispielsweise die Dichte des Jupiter viermal geringer als die der Erde ist - besteht, ist es als Hypothese von Erlers Film nicht unwahrscheinlich, daß die Vereinten Nationen eine Raumexpedition zum Ganymed geschickt haben, um ein friedliches Zusammengehen der beiden Machtblöcke USA und Sowjetunion zu demonstrieren und nach Spuren von organischem Leben auf dem fernen Himmelskörper zu suchen. Diese Raumexpedition nimmt auf Grund der ungeheuren Entfernungen über vier Jahre in Anspruch. Von den ursprünglich gestarteten zwei Raumschiffen befindet sich eines auf dem Rückflug zur Erde, während das andere mit seiner Mannschaft einer Havarie im Weltall zum Opfer fiel. Der Film konzen22
Ich beziehe mich hier auf die Informationen in dem Buch «Astronomie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart» (Düsseldorf 1986) von Susanne Päch. Inzwischen hat sich die Zahl der entdeckten Jupiter-Monde auf sechzehn erhöht.
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triert sich nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, auf die Durchführung dieser Expedition und die vielen zu überwindenden Gefahren, sondern setzt beim Rückflug des Raumschiffs zur Erde ein. Das sich andeutende Happy-End einer erfolgreich zu Ende geführten Raumexpedition, die in der Wunschvorstellung der Astronauten mit einer Konfetti-Parade in Manhattan triumphal gefeiert werden wird, scheint sich für die fünf überlebenden Astronauten jedoch nicht so ohne weiteres einzustellen. Auf Grund der ihnen vorliegenden Berechnungen erfolgt ihre Rückkehr um einige Tage zu früh. Hinzu kommt, daß alle Versuche, eine Funkverbindung zur Bodenstation in den USA herzustellen, scheitern. Ihre Funksignale bleiben unbeantwortet. Was den Astronauten erst allmählich klar wird, nämlich daß man sie auf der Erde aufgegeben hat und mit ihrer Rückkehr gar nicht mehr rechnet, wird zu Anfang des Films in einer Nachrichten-Sequenz aus den Vereinten Nationen direkt dokumentiert: Seit dem Eintritt des Raumschiffs in die Jupiter-Atmosphäre ist jede Funkverbindung zur Erde abgerissen, und die Bodenstation geht daher von einem Scheitern der Mission aus. In einem Akt der ungeheuren Disziplinierung und Funktionalisierung des menschlichen Körpers haben diese Astronauten Jahre in einer engen Metallröhre zugebracht, das technische Großsystem Raumschiff durch ihre Intelligenz und ihren Körper komplettiert, durch Medikamente ihre Sexualität unterdrückt und durch systematisches Fitness-Training gegen den Muskelschwund im luftleeren Raum angekämpft, sind selbst zur Funktion des Systems geworden. Lediglich der Wissenschaftler unter den Astronauten, der mit der Suche nach Lebensspuren auf Ganymed betraut war - es ist der von Dieter Laser gespielte Don - unterbricht im Anflug auf die Erde die Routine. Er möchte den blauen Planeten beim Anflug sehen. Als der Kommandant schließlich das Raumschiff dreht und die Erde im Sichtfenster erscheint, kommt es zu einem euphorischen Freudenausbruch der Astronauten, dem freilich zugleich die Antiklimax folgt. Die fünf Astronauten befinden sich in einer absurden Lage. Statt des Triumphzugs in Manhattan erwartet sie niemand. Da zudem ihre Energieressourcen zu Ende gehn, fällt der Kommandant des Raumschiffs die Entscheidung, das Wagnis einzugehen und die Mannschaft mit dem Kargo-Container abzusprengen. Der in seiner psychischen Konstitution am labilsten wirkende Don fällt in dieser Situation eine verhängnisvolle Entscheidung. Er gibt vor, den Medikamenten-Container aus dem Raumschiff zu holen, läßt jedoch die Medikamente zurück und rettet statt dessen jene Proben von Gestein und Flüssigkeit, die Spuren des Lebens auf Ganymed bezeugen. Der wissenschaftliche Ertrag der Mission ist ihm offenbar wichtiger als das Überleben. Schon die Ausgangssituation des Filmes verdeutlicht also, daß Erler nicht an technizistischen Effekten interessiert ist, sondern seine Darstellungsperspektive konzentriert sich auf die ungeheuren Belastungen, denen die Astronauten ausgesetzt sind. Dem technischen Regelkreis Raumschiff stellt er das Bio-System Mensch in seiner
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Schwäche und Anfälligkeit gegenüber und stellt die Frage nach der Verträglichkeit beider Systeme. Der sich allen rationalen System-Erwartungen sklavisch unterordnende Mensch, der damit zugleich gegen seine eigene Natur verstößt und sich zum funktionierenden Automaten abrichtet, erweist sich als die eigentliche nicht zu kalkulierende Größe. Erler thematisiert das im Film in der Gegenüberstellung des (von Horst Frank gespielten) Kommandanten Mac mit Don. Mac, ein ehemaliger TestPilot, hat alle Autoritätsposen so verinnerlicht, daß menschliche Regungen wie Unsicherheit und Angst von ihm völlig verdrängt worden sind und Don, der gerade solche Regungen zeigt, als labiler Sicherheitsfaktor von ihm eingestuft wird. Die psychologische Differenzierung dieses Verhältnisses gelingt Erler mit eindrucksvollen filmischen Mitteln. Die Gegenwartsdimension der Filmhandlung wird immer wieder durch Erinnerungsrückblenden unterbrochen, die im Bewußtsein Dons spielen. Der Bewußtseinsraum seiner Person wird dadurch veranschaulicht. Seine so zum Ausdruck gebrachten Ängste und Wünsche verdeutlichen aus der Perspektive des sich systemkonform diszipliniert verhaltenden Mac zwar Dons psychische Labilität, aber im Verlauf des Films wird immer deutlicher, daß eine andere Lesart von größerer Plausibilität ist: daß er als einziger seine Gefühle nicht unterdrückt, ein menschliches Gedächtnis besitzt und aus diesem Erinnerungsvermögen Kräfte schöpft, die sein physisches Überleben letztlich ermöglichen. Denn der in der Ausgangssituation des Films am anfälligsten und schwächsten wirkende Don wird der einzige sein, der letztlich überlebt. In diesen Erinnerungsrückblenden im Bewußtsein Dons dokumentiert Erler eine Dimension seines Persönlichkeitsbildes, die der vom technischen System geforderten umfassenden Funktionalisierung des eigenen Ichs widersteht. Es ist ein letztes Refugium menschlicher Konstitution, der irrationale Kern seiner Persönlichkeit einerseits, aber andererseits eine anthropologische Grundbefindlichkeit, die das Bio-System Mensch auch qualitativ von einem technischen Regelkreis unterscheidet. Als der Kargo-Container der Raumkapsel beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre abgesprengt wird und es keineswegs sicher ist, ob die körperliche Konstitution der Astronauten dieses nicht vorgesehene Manöver überleben wird, blitzt in Dons Bewußtsein eine Angstvision auf: Er sieht sich im freien Fall abstürzen, ohne daß sich sein Fallschirm öffnet, d.h. er empfindet Todesangst. In einer später einmontierten Handlungsrückblende wird diese Todesangst psychologisch zusätzlich kommentiert und erweist sich als unbewußter Wunsch nach Bestrafung für eine Schuld, die Don auf sich geladen hat. Gegen Ende der Mission auf Ganymed ist Don, der beim Anflug auf den Trabanten einen Kratersee entdeckt zu haben glaubte, in Begleitung von zwei anderen Astronauten auf die Suche nach diesem Kratersee gegangen. Sie finden in der Tat diesen See, dessen Wasser der deutlichste Beweis für hier vorhandenes organisches Leben ist. Einer der Astronauten seilt sich ab, um Proben aus dem See zu entnehmen. Bei der Rückkehr beschädigt er am scharfen Gestein der Kraterwände
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seine Sauerstoff-Zuleitung. Ein anderer Astronaut versucht ihm zu Hilfe zu kommen. Don, der die Kabelwinde zu kontrollieren hat, verursacht durch Unachtsamkeit den Absturz des Astronauten, der den andern, dem er zu Hilfe kommen wollte, mit in die Tiefe reißt. Beide kommen im Kratersee um. Dieser entsetzliche Preis für einige wissenschaftliche Proben von vorhandenem Leben ist zugleich eine Antizipation der entsetzlichen Verlustrechnung insgesamt, die ihrer Mission am Ende gegenübersteht. Der von seiner Schuld belastete Don intensiviert diese Schuld zudem noch, indem er die für ihn zum Fetisch gewordene Wissenschaft potentiell auch über das Leben seiner Gruppe stellt, da er eben statt der später lebensnotwendigen Medikamente seine wissenschaftlichen Proben aus der verlassenen Raumkapsel rettet. Erler verdeutlicht die ungeheure Überforderung des Bio-Systems Mensch nicht nur dadurch, daß er die körperliche Funktionalisierung der Astronauten über einen riesigen Zeitraum in der Metallröhre der Raumkapsel konkret werden läßt, er verdeutlicht diese Überforderung auch am Beispiel der Person von Don, dessen Wissenschafts-Ethos in Konflikt mit seiner moralischen Sensibilität tritt, der, indem er sich als Wissenschaftler konsequent verhält, als Mitmensch zugleich inhuman wird. So ist Dons Schuldbewußtsein nicht nur ein Zeichen von Überforderung und Verstörung, sondern dokumentiert zugleich seine intakt gebliebene moralische Sensibilität. Diese menschlich gebliebene Empfindungsfähigkeit wird an verschiedenen Stellen auch in einem anderen Erinnerungsstrang verdeutlicht. Das an die Innentür der VakuumKammer befestigte Reklamebild einer schönen jungen Frau, die, eine attraktive erotische Ikone, dem Betrachter eine Flasche Coca Cola verführerisch anbietet und auf die sich Dons Blicke während des Vorbereitungstrainings heften, blitzt immer wieder in seinem Bewußtsein auf als Zeichen für das, was unter dem Anspruch der Wissenschaft aus seinem Leben und dem Leben der andern verdrängt worden ist: menschliche Erfüllung, Liebe, Partnerschaft. So wird die Angst-Sequenz des sich nicht öffnenden Fallschirms und des eigenen Todessturzes von einer utopischen Hoffnungs-Sequenz gefolgt: Don sieht sich glücklich auf der Erde liegen, seine Hände greifen ins Erdreich und kosen sein Gesicht damit; die schöne Frau des Reklame-Bildes beugt sich über ihn und küßt ihn. Die innere Person Dons ist gleichsam noch intakt. Seine Ängste, Gefühle und Träume sind noch lebendig in ihm und werden als Widerstand gegen die Funktionalisierung und Verdinglichung seiner Person im übergeordneten technischen Regelkreis erkennbar. Die Haupthandlung des Films läuft nun auf zwei Ebenen ab. Die fünf Astronauten sind in eine menschenleere Wüste Mexikos verschlagen. Sie versuchen, nur mit geringem Wasservorrat und wenig Nahrungsreserven versehen, ihr Überleben zu organisieren: ohne technisches Hilfssystem nun ganz auf ihr eigenes Bio-System angewiesen. In einer ironischen Umkehrung thematisiert Erler darin zugleich die Situation von Astronauten, die auf einem fremden Stern ausgesetzt sind und in ihrer kreatürlichen Menschlichkeit hilflos und ohne Hoffnung ihrem sicheren Tod entgegengehen.
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Die Situation in der Trostlosigkeit der mexikanischen Wüste unterscheidet sich nur graduell von der Situation auf Ganymed, wenn dort ihr technisches Hilfssystem ausgesetzt hätte. Der nackte Überlebenskampf, den Mac mit für solche Situationen eintrainierten Verhaltensweisen zu organisieren versucht, ist die eine Ebene der Handlung. Die andere Ebene ist die einer sich unmerklich verstärkenden graduellen Regression, die das Disziplinierungsschema, das Mac aufrechtzuerhalten versucht, zersetzt und im Gruppen-Verhalten atavistische zerstörerische Verhaltensmuster zum Vorschein bringt. Die zivilisatorische Tünche wird gleichsam von der Sonne aus den Körpern der halb Verdursteten und Verhungerten gebrannt. Die Entdeckung einer verlassenen menschlichen Ansiedlung und eines in der Wüste zurückgelassenen Flugzeugs wird in der Vorstellung des (von Jürgen Prochnow) gespielten russischen Astronauten zum Indiz eines möglichen nuklearen Vernichtungsschlages, der die menschliche Zivilisation zerstört hat und auch sie, die längst von atomaren Strahlen verseucht sein können, umbringen wird. Plötzlich brechen uralte Haß-Reaktionen auf. Was der russische Astronaut nur als Angstvorstellung geäußert hat, wird in dem Bewußtsein des (von Claus Theo Gärtner gespielten) amerikanischen Astronauten zum geschehenen nuklearen Angriff der Russen auf Amerika. In einer atavistischen Reaktion erschlägt er den Russen und wird bei seinem Amoklauf von Mac mit einer Leuchtkugel erschossen, die in einer Lichtfontäne unter fürchterlichen Schmerzensschreien seinen Körper zerreißt. Es ist eine Szene von schockhafter Grausamkeit, die endgültig die rationale Disziplinierungsstrategie Macs, der faktisch zum Mörder geworden ist, ad absurdum führt. Aus dem hochqualifizierten eingespielten Team von Experten ist eine steinzeitliche Horde von Wilden geworden, die sich gegenseitig umbringt, kannibalistisch übereinander herfällt und elendiglich krepiert. Der vermeintliche Schwächling Don, dessen menschliche Erinnerungsfähigkeit ihn auf paradoxe Weise letztlich am widerstandsfähigsten machte, erreicht gegen Ende des Films, ohne seine wissenschaftliche Ausbeute, die er als überflüssigen Ballast schließlich zurückläßt, eine von Menschen bewohnte Siedlung. In einer Traumsequenz sieht er sich selbst zum Mittelpunkt eines voyeuristischen Presse-Rituals gemacht, das an der Leidensgeschichte dieses Überlebenskampfes mit keinem Wort interessiert ist, sondern nur die sensationellen Aspekte seines Falls ausbeutet. Die kritischen Perspektiven, die Erler hier akzentuiert, sind unverkennbar. Die mit so ungeheuren Leiden für die Betroffenen verbundene Weltraum-Mission erweist sich als reines politisches Demonstrationsereignis, das im Grunde seinen Zweck schon erfüllt hat, als das Raumschiff gestartet war. Der kleine Ganymed-Stein, den einer der Astronauten als Talisman (gegen alle wissenschaftliche Vorschriften) in der Hosentasche zur Erde geschmuggelt hat und den er an der Küste schließlich als nutzlos und überflüssig ins Meer schleudert, ist als Gegenrechnung zu dieser ungeheuren Leidenssumme ebenso belanglos wie die wissenschaftlichen Proben, die Don lange Zeit zu retten versucht. Erler kritisiert eine Weltraumforschung, die die finan-
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ziellen Ressourcen der Erde auf geradezu gigantische Weise verschwendet und zur Lösung der Probleme auf dieser Erde nichts beiträgt. Der wichtigste Aspekt seiner Kritik zeigt sich in seiner Konzentration auf die Verlustrechnungen, die bei solcher zum Selbstzweck erhobenen Wissenschaft für den Menschen damit verbunden sind. Gerade darin zeigt sich bei ihm ein realistisches Gegengewicht zur routinierten Science Fiction, die die körperliche Kreatürlichkeit des Menschen mit illusionistischen Tricks zu immunisieren versucht: Die Astronauten können ihre Körperlichkeit gleichsam überwinden, indem sie sich auf langen galaktischen Reisen in Tiefschlaf versetzen (wie in Kubricks «2001») oder sie dematerialisieren und materialisieren ihre Körper wieder je nach Wunsch und Laune (wie in der populären amerikanischen TV-Science-Fiction-Serie «Star Trek») oder verpflanzen, gleichsam immateriell geworden, ihr Gehirn in Maschinenmenschen, Replikanten, Mutanten, Cyborgs und was auch immer. Daß Erler an dieser körperlichen Konstitution des Menschen festhält und von dorther die Zukunfts-Szenarios der Science Fiction in Frage stellt, hat seinen plausiblen Sinn, wenn man sich die Überlegung verdeutlicht, die Stanislaw Lern im ersten Band seiner Abhandlung «Phantastik und Futurologie I» entwickelt: "Bisher war die Technoevolution eine unabhängige Variable der irdischen Zivilisation und die gattungsbiologische Norm des menschlichen Organismus war der feste Parameter dieser Zivilisation. Jetzt geht es darum, daß die Technoevolution diesen Parameter nicht aufsaugen und ihn sich nicht unterwerfen konnte, was aber eintritt, wenn der Mensch sich - unter dem Druck der geschaffenen technoevolutionären Gradienten - genötigt sieht, sich geistig und physisch den Maschinen und der gesamten synthetischen Umgebung, die sich ihm im Verlaufe der letzten Jahrhunderte 'erbaut haben', anzupassen. Sein einziger Zufluchtsort, sein paratechnologischer Stützpunkt könnte dann die Kultur mit den ihr eigenen, autonomen Werten sein." 24 Wenn Lern am Ende dieser Ausführungen hervorhebt: "Die Unreife der Science Fiction zeigt sich leider daran, daß sie die genannte Problematik nicht einmal in marginalen Versuchen aufgegriffen hat." (S. 244), so ist Erler mit seinen Filmen ein Gegenbeispiel dazu. Der programmatische emanzipatorische Fortschritt der Aufklärung läßt sich unter einem zentralen Aspekt auf den Punkt bringen: in der Erringung und Durchsetzung der Menschenrechte als oberste Norm allen Handelns im politischen und gesellschaftlichen Raum. Von diesem Fortschritt zehren wir immer noch. Das bedeutet ja nichts anderes als das, was Lern