Gedächtnis und kultureller Wandel: Erinnerndes Schreiben - Perspektiven und Kontroversen 9783110230987, 9783110230970

Individual remembering and forgetting is, as we know, not subject to conscious intention, but is part of a collective pr

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German Pages 288 Year 2009

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Vorwort
Sektionssitzung A (Plenarvortrag): Gedächtnis und kultureller Wandel
Sektionssitzung B: Identität und Narrativität – Subjektbildung im Erinnern
Identität und Narrativität – Individuelle und kollektive Gedächtnisproduktion
Bewältigung des nicht Bewältigbaren
Sektionssitzung C: Auslöschung und Verlebendigung
Ästhetisierung und Traditionsbildung – Memoria und Erfahrung
Sektionssitzung D: Naturalisierung und Fiktionalisierung
Backmatter
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Gedächtnis und kultureller Wandel: Erinnerndes Schreiben - Perspektiven und Kontroversen
 9783110230987, 9783110230970

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Gedächtnis und kultureller Wandel

Gedächtnis und kultureller Wandel Erinnerndes Schreiben – Perspektiven und Kontroversen

Herausgegeben von Judith Klinger und Gerhard Wolf

Max Niemeyer Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-11-023097-0 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Einband: Hubert & Co., Göttingen

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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SEKTIONSSITZUNG A (PLENARVORTRAG): GEDÄCHTNIS UND KULTURELLER WANDEL Günter Oesterle: Kontroversen und Perspektiven in der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung . . . . . . . . . . .

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SEKTIONSSITZUNG B: IDENTITÄT UND NARRATIVITÄT – SUBJEKTBILDUNG IM ERINNERN Klaus Schenk: Erinnerndes Schreiben. Zur Autobiographik der siebziger Jahre und ihren didaktischen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Jürgen Joachimsthaler: Die memoriale Differenz. Erinnertes und sich erinnerndes Ich . . . . . . . . . . . . . . . 33

IDENTITÄT UND NARRATIVITÄT – INDIVIDUELLE UND KOLLEKTIVE GEDÄCHTNISPRODUKTION Eva Kormann: Bruchstücke großer und kleiner Konfessionen. Vom gelegentlichen Widerspruch zwischen individuellem, familiärem und kulturellem Gedächtnis: Grass, Timm und Wilkomirski . . . . 53 Nils Plath: Zu Brechts kalifornischen Musterhäusern. Betrachtungen zum Weiterlesen im Arbeitsjournal, 1942–1947 . . . . 67 Ulrich Breuer: „Mich kennen die Leute“. Erinnerungsarbeit bei Rainald Goetz und Dieter Bohlen . . . . . . . 83

BEWÄLTIGUNG DES NICHT BEWÄLTIGBAREN Michael Braun: Die Wahrheit der Geschichte(n). Zur Erinnerungsliteratur von Tanja Dückers, Günter Grass, Uwe Timm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Jan Süselbeck: Das Nachzittern des Grauens. Metonymien und Erinnerung der Shoah in Texten Arno Schmidts und Thomas Bernhards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

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Inhalt

Hannes Fricke: Wer darf sich wann, warum und woran erinnern – und wer darf von seinen Erinnerungen erzählen? Über Binjamin Wilkomirski, Günter Grass, die Macht der Moralisierung und die Opfer-Täter-Dichotomie im Zusammenhang der Debatte um neurobiologische Ansätze in den Geisteswissenschaften . . . . . 125

SEKTIONSSITZUNG C: AUSLÖSCHUNG UND VERLEBENDIGUNG Timo Günther: Den Toten eine Stimme geben? Konzepte der Erinnerung bei Botho Strauß; mit einem Ausblick auf Robert Harrison . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Ostheimer: „Monumentale Verhältnislosigkeit“. Traumatische Aspekte im neuen deutschen Familienroman . . . . .

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ÄSTHETISIERUNG UND TRADITIONSBILDUNG – MEMORIA UND ERFAHRUNG Ralf Schlechtweg-Jahn: Natur- und Kulturbilder zwischen Epochenbruch und Umbesetzung . . . . . . . . . . Benedikt Jeßing: Doppelte Buchführung und literarisches Erzählen in der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Werle: Mythos und Ruhm. Zur Funktion zweier Konzepte des kulturellen Gedächtnisses in Gedichten um 1800 (Hölderlin, Goethe, Schiller) . . . . . . . . . Axel Dunker: Das ‚Gedächtnis des Körpers‘ gebiert Ungeheuer. Das Golem-Motiv als Gedächtnis-Metapher . . . . . . . . . .

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SEKTIONSSITZUNG D: NATURALISIERUNG UND FIKTIONALISIERUNG Daniel Weidner: Zweierlei Orte der Erinnerung. Mnemonische Poetik in Uwe Johnsons Jahrestage . . . . . . . Uwe C. Steiner: Dinge als Gedächtnis und Dinge als zweite Natur in der frühen kritischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Birkmeyer: Das Gedächtnis der Emotionen. Alexander Kluges Chronik der Gefühle als verborgene Erinnerungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Namenregister Sachregister

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Judith Klinger / Gerhard Wolf

Vorwort

Vom 23. bis 26. September 2007 fand in Marburg der Deutsche Germanistentag statt, der sich unter dem Titel „Natur, Kultur. Universalität und Vielfalt in Sprache, Literatur und Bildung“ mit den Herausforderungen befasste, die sich aus der Konjunktur neurophysiologischer, kognitionspsychologischer und evolutionsbiologischer Konzepte im aktuellen Diskurs der Wissenschaften für die Germanistik ergeben und deren ‚Import‘ in das Fach zu einem spannungsvollen Mit- und Gegeneinander mit dessen kulturalistischen Ansätzen geführt hat. Die Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Germanistik sind auch deswegen beträchtlich, weil es sich traditionell als Teil der nationalen Kultur verstand und teilweise immer noch versteht, dieser Sonderstatus aber aufgrund des Verschwimmens der Grenze zwischen Natur und Kultur zunehmend fragwürdig wird. Dies betrifft die Teilfächer der Germanistik gleichermaßen: In den Sprachwissenschaften wird die Diskussion über das Verhältnis von normativer bzw. präskriptiver und deskriptiver Arbeit erneut belebt, in den Literaturwissenschaften ist das Verhältnis von Realität und Fiktionalität neu zu bestimmen und für die Fachdidaktik stellt sich verschärft die Frage nach den kognitionspsychologischen Restriktionen, die jedem Spracherwerb und aller Wissensvermittlung zugrunde liegen. Kritisch zu diskutieren sind unter den neuen Vorzeichen der Standardisierungs- und Pluralitätsbedarf in der Bildung und die institutionellen Restriktionen zur Optimierung von Formulierungs- und Texterschließungskompetenzen. Noch gar nicht abzusehen sind die Auswirkungen der neuen naturwissenschaftlich geprägten Konzepte auf die Hochschullehre, wo ohnehin im Zeichen des Bologna-Prozesses eher ein gegenläufiger Zwang zum Theorieverzicht und zur inhaltlichen Entdifferenzierung dominant ist, da anders in den neuen BA-Studiengängen der geforderte Anwendungs- und Praxisbezug nicht zu leisten ist. Für die Realisation eines solchen Gesamtkonzeptes war eine Auseinandersetzung mit den in den jüngeren anthropologischen und neurobiologischen Diskussionen formulierten Fragen nach der Entstehung eines individuellen und darüber hinausgehenden kollektiven Gedächtnisses sowie die Wirkung von narrativen und sprachlichen Mustern auf eben dieses unerlässlich, so dass sich die Veranstalter entschlossen das Thema „Gedächtnis und kultureller Wandel“ in der fünften Sektion zu behandeln.1 Die eindeutige Schwerpunktbildung der –––––––— 1

Die fünf anderen Sektionen befassten sich mit den Themen Körper und Kultur (I), Ästhetik und Pädagogik des Spiels (II), Kognition und Kommunikation (III), Medialität von Sprache, Literatur und Kunst (IV) und Bildung und Wissen (VI). Beiträge aus dem Rahmen-

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ca. 40 für diese Sektion eingereichten Vorschläge auf den Bereich der Literaturwissenschaft kam dabei angesichts der aktuellen Debatten um die Vergangenheit prominenter Autoren nicht unerwartet. Der vorliegende Band enthält eine Auswahl der Vorträge, die in drei Sektionssitzungen und vier Sektionsschwerpunkten gehalten wurden. Von aktuellem Interesse war dabei die ‚Formatierung‘ eines individuellen Gedächtnisses als Medium der Vergangenheitsbewältigung – gleichgültig ob individueller oder kollektiver Provenienz etwa bei Grass, Timm und Wilkomirski. Eine diachrone Perspektive wurde eröffnet durch die Analyse der Entstehung von kollektiven Gedächtnissen und narrativen Ordnungen am Beginn der frühen Neuzeit und um 1800. Das problematische Verhältnis zwischen der Natur und der Kultur des Gedächtnisses und der Emotionen rundeten die Sektion ab. Eröffnet wurde die Sektion durch den Gießener Literaturwissenschaftler Günter Oesterle. In seinem Plenarvortrag, dessen erweiterte Fassung unter dem Titel Kontroversen und Perspektiven in der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung hier vorliegt, ging er zunächst den Gründen für die gegenwärtige Konjunktur der Erinnerungsforschung, die nicht nur für die Literaturwissenschaften zu konstatieren ist, nach und befasste sich dann mit der Tradition der verschiedenen, heute noch wirksamen Erinnerungskonzepte. Für den Gebrauch auf dem Feld der Literaturwissenschaft erscheint ihm die Rede von einem kollektiven Gedächtnis (Halbwachs) deswegen als problematisch, weil man zum einen in der Moderne die Differenz zwischen dem begrenzten Gedächtnis des Einzelnen und der unüberschaubaren Menge des Wissbaren in Rechnung zu stellen hat, zum anderen da sich aufgrund der zahllosen Alternativen kaum das eine kollektive Gedächtnis bilden kann. Auch die moderne Literatur hat an dieser „Fragmentierung des kollektiven Gedächtnisses“ einen besonderen Anteil. Wer diese Erkenntnis nicht in seine Arbeit einbezieht, läuft Gefahr den Trugbildern des „false memory“ aufzusitzen. In Erinnerndes Schreiben befasst sich Klaus Schenk mit den autobiographischen Schreibweisen der ‚Neuen Subjektivität‘, die sich fiktionalen Erzähl- und Schreibstrategien öffnet, damit jedoch den eigenen Wahrhaftigkeitsanspruch unterläuft. Dieses Dilemma der Grenzüberschreitung lässt den Inszenierungscharakter literarischer Erinnerungen und damit konstitutive Ambivalenzen der neueren Autobiographik scharf hervortreten. Die simulierte Präsenz von Erinnerung bringt diese als „imaginäre Dimension“ (S. 19) zum Vorschein, womit sie zugleich ihrer Realisierung im Schreiben verpflichtet bleibt. An Textbeispielen von Elias Canetti, Thomas Bernhard und Christa Wolf führt der Beitrag vor, wie die Medialität der Gedächtnisbildung jeweils reflektiert und die beschriebenen Aporien „in der Ambivalenz des Imaginären“ (S. 28) aufgehoben werden. In Auseinandersetzung mit solchen Entwürfen wären auch in der didaktischen Praxis – anstelle traditioneller Erinnerungs- und Authentizitätskonzepte – –––––––— programm des Germanistentages bietet der Band: Natur – Kultur. Zur Anthropologie von Sprache und Literatur, hg. v. Thomas Anz. Paderborn 2009.

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„Verwerfungen, Trugbilder und Verfälschungen“ (S. 31) und damit die imaginäre Dimension der Autobiographik zu berücksichtigen. Mit seinem Aufsatz Memoriale Differenz fokussiert Jürgen Joachimsthaler die Aufspaltung des Subjekts in ein „erinnertes und sich erinnerndes Ich“ (S. 33), die jedwede Erinnerungsarbeit zum unabschließbaren Projekt macht. Das rekonstruierende Bewusstsein entwirft eine Ich-Figur als sein Anderes, das gegenwärtigen Deutungsmustern stets auf Neue angepasst werden muss. Die Aporie solcher Rekonstruktionsarbeit, die stets auch die Differenz verstärkt, lässt zudem deutlich werden, dass sich Erinnerung nicht auf Wahrheit und Wirklichkeitsbezug ausrichtet, sondern vielmehr den Regeln der Imagination folgt. Die Narrativierung des Uneinholbaren gestaltet sich daher analog zur Konkurrenz von erzählendem und erzähltem Ich im autobiographischen Schreiben. Die geleistete ‚Identitätsarbeit‘ situiert sich freilich vor einem kulturellen Erinnerungshorizont und seinen Vorgaben für Relevanz und Repräsentativität: In der Spannung von Erinnerung und Erinnerungsrahmen artikuliert die Dialektik von (Selbst-)Versicherung und Verunsicherung ein kollektives Bedürfnis nach der Infragestellung eben solcher Rahmen. Der Widersprüchlichkeit koexistenter Gedächtnisformationen widmet sich der Beitrag von Eva Kormann. Die hier thematisierten Bruchstücke großer und kleiner Konfessionen interagieren mit einem Pluralismus kultureller GedächtnisKonstellationen, die von unterschiedlichen Mechanismen der Traditionsbildung organisiert werden. In einem „Netzwerk von Datenbanken“ (S. 54) konkurrieren die Gedächtnisarchive unterschiedlicher Gruppen, wobei sich individuelles, familiäres und kulturelles Gedächtnis in einem ständigen Austauschprozess miteinander vermitteln – oder in Widerspruch zueinander geraten. In ihrer Analyse jüngerer ‚Literaturskandale‘ betrachtet Kormann zum einen „das Verhältnis der literarischen Texte zu kulturellen Gedächtnis-Konstellationen“ (S. 57). Zum anderen werden die spezifischen Potentiale der Autobiographik als referentieller Textsorte, die sich auf der Suche nach einer noch recherchierbaren Vergangenheit begibt, in den Blick genommen. Wilkomirskis nur vermeintlich authentischer Lebensbericht wirft als „Grenzfall des Autobiographischen“ (S. 64) Fragen nach den Legitimierungsstrategien literarischer Erinnerungspraktiken auf. Konfliktfälle dieser Art erweisen sich insgesamt als Indikatoren für die Widersprüchlichkeit heterogener Gedächtnis-Konstellationen. In seinen Überlegungen zu Brechts kalifornischen Musterhäusern behandelt Nils Plath die Wechselbezügen von Ort und (schreibender) Selbstverortung, wobei es freilich nicht um eine Rückkehr zur raumorientierten Konzeption von Gedächtnis als Speicherort geht. Betrachtet werden vielmehr dialektische Prozesse der Selbstvergewisserung und -verunsicherung, die sich um den HausTopos als literarischen Bestandteil europäischer Gedächtniskultur verdichten. In dieser erkenntniskritischen Erweiterung der Motivgeschichte zeigt sich das Haus als Bezugsrahmen tradierter Wahrnehmungsordnungen sowie Gegenstand literarisierter Selbst-Reflexion in der Dichotomie von Eigentumsansprüchen und Ortlosigkeit. Die untersuchten Texte – neben Brechts Arbeitsjournal auch Ferdinand Kürnbergers Roman Der Amerikamüde (1855) – reflektieren einen

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schwierigen Prozess der Identitätsbestimmung, zumal das Bild des Hauses eine zentrale Stelle in eben jenen Diskursen besetzt, die kulturelle Unterschiede produzieren. Im Dialog des europäischen Selbstbildes mit einem fremden Amerika – gedacht als Stätte einer geschichtslosen Moderne und ‚gegenwärtiger Zukünftigkeit‘ – werden überkommene Perspektiven mobilisiert und destabilisiert. Ulrich Breuer untersucht an zwei sehr gegensätzlichen Arbeiten, der Autobzw. Biographie von Dieter Bohlen Nichts als die Wahrheit und Abfall für alle von Rainald Goetz, literarische Formen der Erinnerungsarbeit und deren Orientierung an narrativen bzw. kollektiven Mustern. Breuer zeigt, wie sich Bohlen als antiintellektualistischer Repräsentant eines deutschen Traumas, der beständigen Angst vor Geld- und Autoritätsverlust, präsentiert und er bzw. seine Mitautorin Katja Kessler sich in dieses Muster hineinschreibt, wohingegen Goetz bei seiner Erinnerungsarbeit individuelle mit kollektiven Reminiszenzen verknüpft und beide auf die kulturelle Kippfigur des Dionysos bezieht. Dementsprechend findet der Leser in der Lektüre von Nichts als die Wahrheit eher ein „Nichts unter der Maske einer kollektiven Wahrheit“ (S. 96), während er bei der Lektüre von Abfall für alle den Anteil des Kollektiven am Individuellen mit allen seinen Facetten und seinen Widersprüchlichkeiten kennenlernt. In Wahrheit der Geschichte(n) profiliert Michael Braun den „Streit der Generationen um die Erinnerung“ (S. 100), der die Arbeit an generationenübergreifender Gedächtnisbildung wie auch die Verschiebungen des nur vermeintlich gleichen Erinnerungsgegenstands umfasst. Solche „Binnendifferenzen im kommunikativen Gedächtnis“ (S. 97) sind nicht nur mit unterschiedlichen Modellen von Zeugenschaft, sondern auch mit der Dialektik von Erinnerung, Verschweigen und Vergessen verschränkt. Drei autobiographisch angelegte Werke, die sich der Zeitzeugengeneration (Günter Grass), der ,Zwischengeneration‛ (Uwe Timm) und der zweiten Nachkriegs- oder Enkelgeneration (Tanja Dückers) zuordnen lassen, sind Gegenstand einer Analyse unterschiedlicher narrativer Strategien, die Authentizität von Erinnerung zu sichern, zu brechen und kritisch zu reflektieren. Dabei nimmt auch die zentrale Differenz von angreifbarer, subjektiver Erinnerung und kanonisiertem, kollektiven Gedächtnis je unterschiedliche literarische Gestalt an. Jan Süselbeck geht in seinem Beitrag Das Nachzittern des Grauens. Metonymien und (kollektive) Erinnerungs-Bilder der Shoah in Texten Arno Schmidts und Thomas Bernhards der Frage nach, welche Wirkungen die Medien auf die Formen des Erinnerns und Wahrnehmens des Holocausts haben. Für Bernhards Drama Vor dem Ruhestand arbeitet er heraus, dass die Möglichkeiten der Fotografie sowohl Auswirkungen auf die Verbrechen der SS selbst haben wie auch „die daraus folgende ritualisierte Täter-Erinnerung an den Nationalsozialismus“ (S. 124). Schmidt selbst bedient sich zunehmend filmischer Darstellungsweisen und „baut nicht zuletzt die politische Indoktrination durch das Fernsehen kritisch in seine Texte ein“ (ebd.). Eher zurückhaltend fällt Süselbecks Bewertung neurobiologischer Erkenntnisse für die Textinterpretation aus. Allerdings sieht

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er deren Leistung bei einer „Detailbeobachtung der in den Texten abgebildeten Denk-, Assoziations- und Erinnerungsprozesse[n]“ (ebd.). Pointiert fragt Hannes Fricke nach den Bedingungen für die Erinnerung an und das Erzählen über historisch und individuell brisante Ereignisse und zugleich danach, wie neurobiologische Erkenntnisse für literaturwissenschaftliche Analysen fruchtbar gemacht werden können. Hirnphysiologische Befunde verstärken und ergänzen die kulturwissenschaftliche Einsicht, dass sich Erinnerungen als komplexe Gebilde auch durch besondere Störanfälligkeit auszeichnen. Die Kontroversen um zwei Problemfälle der jüngeren Erinnerungsliteratur (Wilkomirski, Grass) machen zudem sichtbar, dass kollektiv legitimierte Narrative spezifische Glaubwürdigkeitskrisen auslösen können. Die moralische Aburteilung beider Autoren im öffentlichen Diskurs folgt einem „polaren OpferTäter-Denken“ (S. 132), das sich Ambivalenzen sperrt und eben jene ‚Störungen‘ im Erinnerungsprozess ausschließt, die sich herrschenden Mustern der Sinnbildung zwangsläufig entziehen. Eine reflektierte Bezugnahme auf die neurobiologische Erinnerungsforschung kann gerade an solchen neuralgischen Punkten dazu beitragen, konventionalisierte Deutungsmuster aufzubrechen und neue Perspektiven zu eröffnen. Timo Günther zeigt in seinem Beitrag Dem Toten eine Stimme geben?, wie Botho Strauß’ Schauspiel Schlußchor, das das Vergessen inszeniert, und der Essay Anschwellender Boxgesang, der das Erinnern „beschwört“ ihren gemeinsamen „Fluchtpunkt“ in der Absage „an die ‚Totalherrschaft der Gegenwart‘“ (S. 143f.) haben. Ähnlich wie Breuer für Goetz diagnostiziert Günther in den beiden Werken den Kampf zwischen dem Individuum und dem Kollektiv, zwischen dem Apolliniker und dem Dionysischem. Problematisch an dem von Strauß im Schlußchor gezeigten dionysischen Wiedervereinigungsrausch und dem Verlust der Individualität ist, dass damit auch die Gesellschaft ihr Gedächtnis zu verlieren droht, ihre immanenten Gegensätze nivelliert werden, die dann irgendwann doch eruptiv zum Vorschein zu kommen drohen. Im Anschwellenden Boxgesang versucht Strauß diese Konflikte und Spannungen durch eine „Tiefenerinnerung“ an die Oberfläche des Bewusstseins zu bringen, weil sich nur so der Kreislauf der Wiederholungen und der Gewalt, der für Strauß letztlich ein Mangel an Erinnerung ist, durchbrechen lässt. Damit belegt Günther auch, dass der Vorwurf eines gewaltverherrlichenden Rechtskonservativismus oder Obskurantismus gegen Strauß zu Unrecht erhoben wird. Michael Ostheimer greift das Thema der Auseinandersetzung mit Auschwitz aus der Sicht der Enkelgeneration auf und liefert damit auch einen Beitrag zur Deutung des Booms der Familienliteratur am Beginn des 21. Jahrhunderts. Anhand zweier autobiographisch geprägter Familienromane, Judith Kuckarts Lenas Liebe und Stefan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land untersucht er, wie in dieser Gattung traumatische, aus der deutschen Vergangenheit und der jeweiligen Familiengeschichte herrührende Aspekte bearbeitet werden. Ostheimer kommt zu dem Ergebnis, dass im neuen deutschen Familienroman der Enkelgeneration der Täter psychodramatisch Generationskonflikte, die durch „das Schweigen der Familienmitglieder“ erst hervorgerufen worden sind, literarisch

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ausagiert werden. Insofern ist für Ostheimer der neue deutsche Familienroman ein „Aufbegehren gegen die Deutungshoheit der Zeitzeugengeneration und die Übermacht der politisch dominierten Erinnerungskultur“ (S. 165). Indem die Enkelgeneration jetzt ihre eigene Sicht auf die Vergangenheit durchzusetzen versucht, wird das kulturelle Gedächtnis, das sich unter der Hand ständig in Bewegung befindet, verändert. Einen Beitrag zur Frage der Bewahrung und Umorganisation kulturprägender Leitdifferenzen im kollektiven Gedächtnis leistet Ralf Schlechtweg-Jahn, der die Oppositionsbildung von Natur und Kultur über Epochengrenzen hinweg betrachtet. Anhand der im Mittelalter weit verbreiteten Alexanderromane werden exemplarische Figurationen von ‚Natur‘ und ihre Vernetzung mit den Grundstrukturen von Weltbildern systematisch analysiert. Für eine Untersuchung der Natur- und Kulturbilder zwischen Epochenbruch und Umbesetzung bieten sich die Alexanderromane an, da sie ihrerseits auf antike Traditionen zurückgreifen, zugleich aber einen Prozess stetiger literarischer Bearbeitung und Umdeutung erkennen lassen, der vom frühen Hochmittelalter bis in die Frühe Neuzeit reicht. Dem Pluralismus der ‚Natur‘-Konstruktionen lassen sich einerseits die historisch spezifischen Konzepte ablesen, die das literarische Gedächtnis einer ständischen Elite strukturieren. Andererseits weist Schlechtweg-Jahn überraschende Verbindungslinien zu neuzeitlich-modernen ‚Natur‘Konstruktionen auf. Über die Diskursverschiebungen innerhalb der erinnerten Paradigmen hinaus reflektiert der Beitrag, wie unterschiedliche Gesellschaftssysteme die vielfältigen und heterogenen Gedächtnisbilder einer Leitdifferenz organisieren. Unter einer historischen Perspektive untersucht Benedikt Jeßing in seinem Beitrag Doppelte Buchführung und literarisches Erzählen in der frühen Neuzeit den Einfluss der allmählich sich durchsetzenden kaufmännischen Computistik, die ihre wesentliche theoretische Begründung in Luca Paciolis Summa de Arithmetica (1494) fand, relativ bald den Weg nach Deutschland fand und bereits 1518 von Heinrich Schreiber übersetzt worden ist. Jeßing diagnostiziert einen erheblichen Einfluss der sich bald überall etablierenden Methode der doppelten Buchführung auf das literarische Erzählen im 16. Jahrhundert, weil in ihr ein neuer Zeitbegriff gestiftet und Zeit jetzt abgebildet wird, „als komplexe Vernetzung unterschiedlicher Ereignisse, die in einer temporalen und kausalen Folge stehen“, abstraktere[] „Ordnungsparameter“ jetzt an die Stelle einer rein chronologischen Zeitordnung treten (S. 196). Die doppelte Buchführung bringt das Erfordernis mit sich bringt, zerstreute Notizen in einen zeitlichen Zusammenhang zu bringen und eine temporal-kausale Ordnung herzustellen. Dieser neue Zugriff auf die Welt findet sich wieder in den zeitgenössischen Prosaromanen mit ihrer zunehmend einer Zeitlogik folgenden Gestaltung der Erzählung, ihrem Formelrepertoire und der Entwicklung eines biographischen Bewusstseins der Figuren, das einem Ursache-Wirkung-Schema entspricht. Mit einer zentralen Kategorie der Literatur um 1800, dem Ruhm als einem „quasi-natürlichen Prozess der Tradierung des Namens großer Individuen“ (S. 201) befasst sich der Beitrag von Dirk Werle Mythos und Ruhm. Anhand der

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vergleichenden Lektüre von Friedrich Hölderlins Hymne an Herkules, Johann Wolfgang Goethes Elegie Euphrosyne und Friedrich Schillers Hymne Siegesfest arbeitet er die unterschiedlichen Konzepte von Ruhm und ihren enger Zusammenhang mit der „Thematisierung mythologischer Stoffe“ (S. 215) heraus. So nutzt Hölderlin den um 1800 unhinterfragt bestehenden Konnex von Mythos und Ruhm, um „die selbstbewusste Glorifizierung des dichtenden Subjekts (ebd.) zu inszenieren wohingegen Goethe „die Leistung des dichterischen Rühmens Verstorbener im Sinne einer Trauerarbeit“ betont und Schiller den „Wert einer Unsterblichkeit, die allein im übertragenen Sinne verstanden wird, zur Disposition stellt“ (ebd.). So unterschiedlich ihre Intentionen auch sein mögen – gemeinsam ist den drei Autoren drei Autoren die Funktionalisierung des Ruhms als Mittel gegen die Zumutungen einer sich wandelnden Welt.. Widerständigkeiten anderer Art stehen mit einer literarischen Figuration von ‚Körpergedächtnis‘ im Zentrum des Beitrags von Axel Dunker: Das ‚Gedächtnis des Körpers‛ gebiert Ungeheuer. In Gustav Meyrinks Der Golem schreibt sich Fremdbestimmung in die Körpermaterie ein, ohne dass noch eine Integration ins Bewusstsein absehbar wäre. Dunker entschlüsselt den Roman als komplexe Konfiguration zweier epochaler Gedächtnismetaphern – ‚Magazin‘ und ‚Wachstafel‘ –, die ihrerseits mit der unlösbaren Dialektik von Erinnern und Vergessen, (Selbst-)Bewusstsein und Körper verflochten sind. Zwar lassen sich der literarischen Inszenierung Analogien zum psychoanalytischen Zugriff auf Traumata ablesen, doch vollzieht sich die „okkulte Selbstfindung“ (S. 219) im Roman eben nicht als Distanzierung von der Vergangenheit, sondern bringt „Ich-Dissoziation“ (S. 223) zum Vorschein. Der Golem erweist sich als komplexe Metapher dieser Spaltung, wobei sich das Erzählen dem widerständigen und zutiefst unheimlichen Körpergedächtnis zu stellen hat. Während die psychoanalytische Theorie Hysterie und traumatische Erinnerung durch Narrativierung zu bewältigen sucht, führt die Erinnerungsarbeit im Golem zu den vorgängigen Erzählungen Anderer, so dass sich Identität allein als Textgedächtnis herstellen kann. Bekanntermaßen ist das Werk Uwe Johnsons in besonderer Weise um die Problematik des Erinnerns konfiguriert. Daniel Weidner untersucht in Zweierlei Orte der Erinnerung die mnemonische Poetik in den Jahrestagen im Hinblick auf die von der Kulturwissenschaft stillschweigend vorgenommene Unterscheidung zwischen einem monumental und topographisch verstandenem kollektiven Gedächtnis und einem ephemeren und zeitlichen individuellem Erinnern. Im Vergleich zwischen Johnson und Proust analysiert Weidner die unterschiedlichen Erinnerungskonzepte beider Autoren. Während Proust bemüht ist, „den Erinnerungsvorgang selbst nachzuahmen und [...] damit ein bestimmtes Vorverständnis der Erinnerungserzählung geschaffen [hat], das sich kategorial im narratologischen Interesse an Perspektive und ihrem pseudodiegetischen Verzerrungen niederschlug“, konzentriert sich Johnson „auf die Wiederholungsstruktur und den episodischen Charakter des Erinnerns, das nicht aus einem Zeitfluss besteht, sondern aus einer Reihe von Punkten besteht, von denen jeder das Gedächtnis neu erzeugt“ (S. 242).

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Dem dichotomischen Verhältnis von Natur und Kultur ist der Beitrag Dinge als Gedächtnis und Dinge als zweite Natur in der frühen kritischen Theorie von Uwe C. Steiner gewidmet, in dem er sich mit dem Gedächtnis der Dinge, die eben diese Dichotomie unterlaufen, befasst. Ausgehend von der Erkenntnis dieser zweiten Natur, die bereits in der frühen kritischen Theorie bei Adorno, Bloch und Benjamin zu finden ist, plädiert Steiner für eine Abkehr von einer allzu symbol- und anthropozentrischen Vorgehensweisen der Kulturwissenschaften und diagnostiziert in dem gegenwärtigen Trend einer Naturalisierung der Kultur eine „Relativierung des Vico-Prinzips (und damit auch der hegelianischen Geistdialektik)“ (S. 254). Am Beispiel der neu entflammten Diskussion um den freien Willen zeigt Steiner schließlich, wie nahe Neuro-Naturalismus und der Subjektbegriff des Idealismus einander sind und wie mit beiden Ansätzen die „alltäglich erfahrbaren Determinanten […] durch ökonomische Verhältnisse, durch Bürokratien, Bologna und dergleichen“ (S. 255) eskamotiert werden. Mit dem Gedächtnis der Emotionen nimmt schließlich Jens Birkmeyer Erinnerungsmodalitäten und -praktiken in den Blick, die sich den herrschenden Deutungsmustern von Wirklichkeit widersetzen und entziehen. Seine Analyse von Alexander Kluges Chronik der Gefühle versteht diese Sammlung als „verborgene Erinnerungstheorie“ (S. 257) und macht dabei die Widerständigkeit des Gefühls in mehrfacher Hinsicht als produktive Energie in Erinnerungsprozessen aus. Die Wechselbeziehungen zwischen Emotionen und Vergangenheit, Emotionen und Eigensinn, Emotionen und Erinnerung, die hier systematisch entfaltet werden, konturieren insgesamt eine Gedächtnisheorie, die sich mit den Ambivalenzen, Brechungen, Disparatheiten und Wunschpotentialen befasst, die im Ordnungssystem erinnerter Geschichte stets als Gegenbewegung aufzuspüren sind. Die Analyse der Erzählprinzipien zeigt im weiteren, welche literarischen Strategien Kluge einsetzt, um dem ‚emotionalen Gedächtnis‘ narrative Gestalt zu verleihen. So entfalten sich Vorgeschichten der Gefühle jenseits kausalisierender Psycho-Logik, und die Aufladung der erzählten Geschichten mit Imagination bringt deren ereignisveränderndes Potential zum Vorschein. Erinnern erhält damit die Gestalt einer emanzipatorisch angelegten „Rückübersetzung der historischen Narrative in eine erzählbare subjektive Form“ (S. 273). Dieser Band hätte nicht erscheinen können ohne die finanzielle Unterstützung namhafter Institutionen. Unser herzlicher Dank gilt der E.ON Bayern AG – Regionalleitung Oberfranken, der Sparkasse Bayreuth, dem Universitätsverein Bayreuth, dem Deutschen Germanistenverband sowie der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam und Prof. Dr. Ute von Bloh. Dem NiemeyerVerlag und seiner Cheflektorin, Frau Brigitte Zeller, danken wir für die gute Zusammenarbeit und den Korrektoren Matthias Fejes, Hildegard Reichert, Ravna Siever und Denise Grduszak für ihre gründliche und engagierte Arbeit. Zu danken haben wir aber vor allem den hier versammelten Verfassern und Verfasserinnen für ihre überaus anregenden Beiträge.

Günter Oesterle

Kontroversen und Perspektiven in der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung

1. Einleitung: Zur Konjunktur der Erinnerungsforschung Jüngst wurde die These vertreten, was in den 60er und 70er Jahren der Begriff der Entfremdung und Utopie bedeutet habe, sei heute der der Erinnerung und des Gedächtnisses. Mit dem Rückgang einer ausschließlich futuristisch ausgerichteten Utopieforschung und einer die Vergangenheit häufig instrumentalisierenden Rezeptions- und Erbeforschung hat sich im Gegenzug Erinnerung als ein Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften etablieren können. In drei Kürzeln lässt sich diese Konjunktur skizzenhaft plausibilisieren. Erinnerung ist erstens theoriefähig und empirisch, zweitens aktuell und tief in die Geschichte oder die Geschichten zurückreichend und drittens interdisziplinärfähig und die einzelnen Disziplinen neben den Literaturwissenschaften die Soziologie, Philosophie, Kunstgeschichte herausfordernd. Erinnerung avancierte zum Faszinationstyp, weil sie – um auch hier wiederum die Dreizahl beizubehalten – in drei Arbeitsfeldern besondere Schwerpunkte zu setzen erlaubt: erstens im Bereich komplexer Modalisierung von Zeiten, zweitens im Bereich der Kulturalität und drittens in der Komparatistik länderspezifischer Erinnerungsmodi. Anders als Utopie und Erbe ist Erinnerung in alle drei Zeitmodi gleichermaßen involviert. Erinnerung geht, wie Fichte schon nachwies,1 immer von der Gegenwart aus und greift, wie Edmund Husserl phänomenologisch minutiös gezeigt hat, in Protention und Retention, in Vergangenheit und Zukunft aus. Die romantische Kunsttheorie hat Erinnerung und Ahnung als unzertrennliche Partner angesehen und Husserl hat präzis die Differenz der Konzepte Utopie und Erinnerung erörtert. „Zum Wesen des Erinnerungsbewußtseins gehört“ zwar, „daß sie vorwärts weist“ – freilich anders als Utopie – „nicht als ob sie das Vorwärts vorstellte.“2 Die Gedächtnisforschung hat wissenschaftsgeschichtlich präzis die zur ‚Sattelzeit‘ Mitte des 18. Jahrhunderts stattfindende technisch raumorientierte Memoria zugunsten einer temporal ausgerichteten Erinnerung rekonstruieren können. Kaum erforscht ist hingegen, wie und auf welche Weise raumorientierte mnemotechnische Elemente im neuen Modell der temporal –––––––— 1 2

Vgl. Oesterle, Günter: Einleitung, in: Erinnern und Vergessen in der europäischen Romantik, hg. v. Günter Oesterle. Würzburg 2001, S. 7. Husserl, Edmund: Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlass (1898–1925), in: Gesammelte Werke 23, hg. v. Eduard Marbach. Den Haag 1980, S. 296.

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Günter Oesterle

ausgerichteten Erinnerung überlebten oder aktuell zugespitzter in digitalen Medien ihr Re-entry erfahren. Neben der Wirkmächtigkeit von Raum- und Zeitvorstellungen in der Erinnerung sind es vornehmlich Fragen der Kulturalität der Erinnerung, die speziell für den ästhetisch und physiologisch interessierten Literaturwissenschaftler ein ganzes Bündel an Forschungsperspektiven eröffnet. Da ist neben Studien zur Bedeutung niederer Sinne (bspw. des Duftes und Geschmacks) und deren spezifischer Gedächtnisleistung vornehmlich eine neuere Arbeit zum Verhältnis von Schmerz und Erinnerung zu nennen. Dort heißt es schon im Vorwort: Der Memorialforschung, die Erinnerung als spezifische Kulturtechnik und zugleich als globale Erinnerungstechnik beschreibt, kann damit ein weiterer Wechselbezug hinzugefügt werden: einerseits geht Erinnerung aus dem Schmerz hervor, andererseits ist schon an der Schmerzwahrnehmung die Erinnerung beteiligt. Wie Kultur und Erinnerung, so scheinen sich auch Schmerz und Erinnerung wechselseitig vorauszusetzen.3

Für den kultursoziologisch interessierten Literaturwissenschaftler ist schließlich von Interesse, dass „nicht nur Akte kommunikativen Handelns, die Erinnerungssemantiken übermitteln.“4 Paul Connerton hat in seinem Buch How Societies Remember5 zeigen können, dass Benehmensformen wie Grußverhalten, Kleiderordnungen die Glieder einer Gesellschaft daran erinnern, wie und worin sie sich unterscheiden. Nach der komplexen Arbeit der Erinnerung im Zeitengeflecht und der Suche nach Haltestäben im Raum, nach den vielfältigen Möglichkeiten der kulturell überformten Erinnerung möchte ich noch eine dritte Forschungsrichtung nennen, die mir ertragreich und zukunftsweisend erscheint: die Komparatistik erinnerungskultureller Praktiken. Mark Arenhövel hat mit seiner weltumspannenden (d. h. von Südafrika, Argentinien und Chile bis Belgien und Italien) Untersuchung zu Demokratie und Erinnerung6 Maßstäbe gesetzt. Arenhövel kann zum Beispiel schlüssig zeigen, dass die in christlich geprägten Kulturen erprobten Aufarbeitungsmöglichkeiten von Unrecht in postdiktatorialen Gesellschaften gar nicht oder schwer zu übertragen sind auf andere Kulturen, in denen – wie z. B. in Japan – die Heroisierung der eigenen Toten im Totenkult vorrangig ist gegenüber einer Kritik an deren einst begangenen Untaten.7 Der länderspezifische Vergleich von Erinnerungskulturen bringt auch Erträge im Blick auf die antike Welt: zum Beispiel das in Ägypten Jahrhunderte lang praktizierte Gebot, vom uralten göttlichen Vorbild nicht abzuweichen8 oder in Athen das öffentliche Erinnerungsverbot an den Bürgerkrieg als Grün–––––––— 3 4 5 6 7

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Borgards, Roland (Hg.): Schmerz und Erinnerung. Paderborn u. München 2005, S. 7. Langenohl, Andreas: Erinnerungskonflikte und Chancen ihrer ‚Hegung‘, in: Soziale Welt 52.1 (2001), S. 71–91; hier S. 71. Connerton, Paul: How Societies Remember. Cambridge 1989. Arenhövel, Mark: Demokratie und Erinnerung. Der Blick zurück auf Diktatur und Menschenrechtsverbrechen. Frankfurt a. M. 2000. Arenhövel (wie Anm. 6), S. 78f.; vgl. auch Conrad, Sebastian: Transnationale Erinnerung? ‚Vergangenheitsbewältigung‘ in Japan, in: Arbeit am Gedächtnis. Für Aleida Assmann, hg. v. Michael C. Frank u. Gabriele Rippl. München 2007, S. 219–228. Assmann, Jan: Ägypten. Eine Sinngeschichte. München 1996.

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dungsimplikation der attischen Demokratie9 oder die jüdische Erinnerungspflicht mit Verweis auf die Erfahrung des Exodus.10

2. Zur Fragwürdigkeit eines kollektiven Gedächtnisses in der Moderne Man hat einmal festgestellt, dass sozialkulturelle Umbruchszeiten zugleich Hochzeiten der Erinnerung an die Erinnerung seien. Auf solche Weise kann man zusammenfassend auch die gegenwärtige Konjunktur der Erinnerungsforschung beschreiben. Die umfangreiche Forschung zur Erinnerung überblickend kann man aber nicht gerade von einer kontroversfreudigen, Konturen schaffenden Forschungsauseinandersetzung sprechen. Im Interesse der Erinnerungsforschung ist es hohe Zeit, dass, um mit Peter Burke zu sprechen, „the memories of conflict“ wieder und auch „the conflicts of memory“ werden. Speziell für die Literaturwissenschaft dürfte es von Nutzen sein, die Differenz von identitätsstabilisierenden kollektiven Gedächtnismodellen und identitätsdekomponierenden Hybridgedächtniskonzepten zu erörtern. Maurice Halbwachs hat den Begriff des kollektiven Gedächtnisses geprägt. Früh, nämlich schon 1966, lag Halbwachs’ Buch Les Cadres sociaux de la mémoire11 vor. Man wird aber sagen können, dass erst Jan Assmann diesen Forschungsansatz interdisziplinär eingeführt hat. Unter kollektivem Gedächtnis versteht Halbwachs im Rekurs auf seinen Lehrer Emil Durkheim die intersubjektiv geteilten Vorstellungen, zu denen das Individuum durch die jeweilige Gruppe (sei es Familie, Religionsgemeinschaft, Schicht, Berufsgruppe oder auch Generation) gelangt. Für den Literaturwissenschaftler interessant ist, dass „jene Inhalte des individuellen Bewusstseins, die eine gegebene Person mit den anderen Mitgliedern ihrer Gruppe oder Gesellschaft teilt“12 keineswegs nur auf traditionellem kommunikativem Wege verläuft, sondern in der „Struktur ihres Zusammenhangs“ und in der „Ordnung ihrer Details“ affektisch, emotional und symbolisch funktioniert. Es ist plausibel, dass diejenigen Ausrichtungen, die sich für „kollektive Strukturen des Gedächtnisses von Mitgliedern“ einer Gruppe interessieren, hier methodische Anschlussmöglichkeiten finden können. Alois Hahn hat freilich auf die Grenze dieses Ansatzes verwiesen. Schon der Lehrer von Halbwachs, Emil Durkheim, habe, so Hahn, darauf aufmerksam gemacht, dass –––––––— 9

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Flaig, Egon: Amnestie und Amnesie in der griechischen Kultur. Das vergessene Selbstopfer für den Sieg im athenischen Bürgerkrieg 403 v. Chr., in: Saeculum 42 (1991), S. 129– 149. Yerushalmi, Josef: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Übers. v. Wolfgang Heuss. Berlin 1988. Halbwachs, Maurice: Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925. Hahn, Alois: Erinnerung und Prognose. Zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft. Opladen 2003, S. 7.

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Günter Oesterle das kollektive Gedächtnis für die Moderne eine immer geringere Rolle spielen kann, dass es also eigentlich eher eine historische Formation des Bewusstseins ist. Mit wachsender Arbeitsteilung müssen die kollektiv gemeinsamen Inhalte der Bewusstseine aller Individuen zunehmend reduziert werden. Die Säkularisierung führt zu einer Abnahme der religiösen, die Privatisierung der Familie und der Bedeutungsverlust der Verwandtschaft zu einer Erosion der privaten Formen des Kollektivbewusstseins. Für Schichten und Klassen ließe sich das Gleiche zeigen.13

Hahn fasst die These Durkheims folgendermaßen zusammen: Die Schwächung des Kollektivbewußtseins ergibt sich daraus, daß es sich pluralisiert, und zwar sowohl bezogen auf die Gesellschaft als Ganzes als auch im Hinblick auf die heterogenen Kombinationen von Kollektivbewußtsein, die ein Einzelbewußtsein prägen.14

Kulturwissenschaftliche Forschungen zur Erinnerungskultur in der Moderne dürften sich daher stärker für die Kreuzung verschiedener Gedächtnisse, also eher für ein Hybridgedächtnis als für ein kollektives Gedächtnis interessieren. Vielleicht geht Hahn etwas zu weit, wenn er das „kollektive Gedächtnis“ in der Moderne „als eine historische Formation des Bewusstseins“ für die moderne Gegenwart verabschiedet. Ein Seitenblick auf eine Diskussion in der politischen Soziologie zeigt eine Möglichkeit der Verschränkung von kollektiven und dissoziativen Gedächtnisformationen. Andreas Langenohl referiert zunächst in seinem 2001 erschienenem Aufsatz zwei getrennt voneinander existierende Forschungsrichtungen, eine solche, die vergemeinschaftende identitäre Wirkung kollektiven Erinnerns in den Vordergrund rückt und eine andere Forschungsrichtung, die sich auf die dissoziative Wirkung von Phänomenen des kollektiven Gedächtnisses beziehen lässt (vornehmlich in Zusammenhang mit der Holocaust-Forschung). Freilich könnten in modernen Gesellschaften, so Langenohl, in denen „praktisch zu jeder Deutung der Vergangenheit eine Gegendeutung erwartbar und beobachtbar sei“15, „die dissoziativen von den integrativen Effekten kollektiver Erinnerung nicht mehr systematisch getrennt werden.“ Häufig sei es sogar so, dass „die integrativen Tendenzen sich erst aus den dissoziativen ergeben würden.“16 Die von Langenohl vorgeführte produktive Auflösung bislang getrennt argumentierender Forschungsrichtungen (gemeinschaftsstiftender versus dissoziativer Wirkungen des Erinnerns) könnte anregend wirken, auch in den Literaturwissenschaften die Differenz stärker herauszuarbeiten zwischen kollektiven identitären Gedächtniskonzepten und Erinnerungsmodellen, die gegen die offizielle Gedenkkultur gerichtet sind und die deshalb die individuel–––––––— 13 14 15 16

Hahn (wie Anm. 12), S. 7f. Hahn (wie Anm. 12), S. 8. Langenohl (wie Anm. 4), S. 73. Langenohl (wie Anm. 4), S. 73. Langenohl verweist in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten von Marcel Gauchet und Helmut Dubiel. Vgl. Gauchet, Marcel: Tocqueville, Amerika und wir. Über die Entstehung der demokratischen Gesellschaften, in: Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, hg. v. Ulrich Rödel. Frankfurt a. M. 1990, S. 123– 206; Dubiel, Helmut: Konflikt durch Integration, in: Soziale Integration. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 39 (1999), S. 132–143.

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len kryptogrammatischen bzw. karnevalesken „Schreibhandlungen“17 hervorheben mit dem Ziel, ihre jeweilige Tragweite und Anwendungsangemessenheit zu prüfen. Solche Forschungsrichtungen lassen sich in gebotener Vorsicht auf der einen Seite mit Arbeiten von Jan und Aleida Assmann, Astrid Erll und Thomas Macho und auf der anderen Seite mit Studien von Renate Lachmann, Thomas Schmidt zu Uwe Johnson und Frauke Berndt auszeichnen. Aleida und Jan Assmann kommt das wesentliche Verdienst zu, die Arbeiten von Halbwachs über die Einzeldisziplin der Soziologie hinaus bekannt gemacht zu haben. Sie haben aber auch die Grenzen des auf mündliche Kommunikation reduzierten Gedächtniskonzepts von Halbwachs bedacht und zu korrigieren versucht – freilich nicht in der Richtung eines dissoziativen, die Kreuzung und Überkreuzung verschiedener Gedächtnisse bedenkenden Form, sondern in Richtung eines schriftverwiesenen archivierenden Gedächtnisses. Jan Assmann hat 1988 in einer folgenreichen programmatisch entworfenen Einleitung zu einem Sammelband unter dem Titel Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität18 zwei unterschiedlich ausgerichtete Erinnerungskonzepte vorgestellt: das kollektive Gedächtnismodell von Halbwachs und das kulturell ikonisch ausgerichtete Gedächtnismodell des Kunsthistorikers Aby Warburg. Jan Assmann kombiniert diese beiden Modelle unter dem Aspekt der „Identitätskonkretheit“19 einer Gesellschaft. Er zeichnet zunächst den unterschiedlichen Ansatz der beiden Gedächtniskonzepte nach: Halbwachs bezieht sich gruppensoziologisch auf orale Kommunikation und sieht diese lebendige über jeweils drei Generationen reichende Gedächtniskultur durch Verschriftlichung und Verwissenschaftlichung der Erinnerung (wie übrigens im Anschluss an ihn Pierre Nora)20 bedroht. Warburg hingegen untersucht die „mnemische kontinuitätsstiftende Energie schriftlicher und bildlicher Kultur“. So unterschiedlich die beiden Gedächtniskonzepte ausfallen, so treffen sie sich doch, so Jan Assmann, in dem Verständnis der Funktion von Erinnerung. Beide Erinnerungskonzeptionen verstehen Erinnerung als auf Gruppenidentität gerichtete, organisierende und zeremonialisierte Kommunikation, die auf Verbindlichkeit, Kanon, Formativität und Normativität bezogen ist. Beide Konzepte, das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis, bewahren den Wissensvorrat einer Gruppe oder einer Nation, die aus ihm „ein Bewußtsein ihrer Eigenheit, Eigenart und Stabilität bezieht.“21 Dieser erinnerungskulturelle auf Identitätsstabilisierung abhebende Ansatz hat Schule gemacht. Die Anglistin Erll greift besonders auf den von beiden Assmanns verschiedentlich bearbeiteten Komplex der durch Schrift und Bild gesicherten und archivierten „identitätsstiftenden Langzeitkommunikation“

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Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Frankfurt a. M. 1990, S. 10. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Kultur und Gedächtnis, hg. v. Jan Assmann u. Tonio Hölscher. Frankfurt a. M. 1988, S. 9–19. Assmann (wie Anm. 18), S. 13. François, Etienne: Lieux de Mémoire. Erinnerungsorte. Berlin 1996. Assmann (wie Anm. 18), S. 13.

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zurück,22 weil sie hier in dem externalisierten Gedächtnis die mediale Vermittlung besonders ausgeprägt und gleichsam unhintergehbar findet. Die durchgängige mediale Vermittlung unserer Welt reaktualisiert ihrer Meinung nach im Wechselreiten von individuellem und allgemeinem Gedächtnis ein kollektives Gedächtnis: Nur mit Hilfe von Medien (von mündlicher Rede über Briefe, Geschichtswerke und Romane bis hin zu Kinofilmen, zu TV-Dokumentationen und zum Internet) können die Inhalte individueller Gedächntisse externalisiert, objektiviert und damit potentiell zum Gegenstand des kollektiven „Gedächtnisses“ (d. h. kultureller Wissensordnungen) werden. Umgekehrt erlangt das Individuum über Kommunikation und Medienrezeption Zugang zu solchen Wissensordnungen – und erst so kann sich sein inhärent ‚kollektives‘ Gedächtnis (d. h. sein soziokulturell geprägtes organisches Gedächtnis) ausbilden.23

Die Potentialität eines solchen medial vermittelten Wechselreitens dürfte unbestreitbar sein. Gleichzeitig aber dürfte angesichts der unendlich großen Wahlmöglichkeiten die Schnittmenge geteilter Erinnerung immer mehr schrumpfen. Im Blick auf das umfangreiche Angebot medial vermittelter Erinnerungsträger hat Hahn dieser Skepsis Ausdruck gegeben: Mit der Vervielfältigung des objektiven oder archivierten Gedächtnisses wächst nicht nur die Differenz zwischen dem, was ein Einzelner wissen kann und dem, was virtuell als aktualisierbares Wissen zur Verfügung stünde. Es reduziert sich auch die Wahrscheinlichkeit, daß irgendein Inhalt zum Moment des kollektiven Gedächtnisses wird, vor allem, dass dies auf Dauer geschieht, wird für immer weniger Inhalte vorstellbar.24

Die durch zahllose Alternativmöglichkeiten schrumpfenden Entfaltungsmöglichkeiten eines kollektiven Gedächtnisses provozieren freilich im Gegenzug eine Anstrengung, damit die Restbestände kollektiver Schnittmengen durch entsprechende werbungswirksame Inszenierungen sich behaupten können.25 Der Kulturwissenschaftler wird sich für derartige performative Behauptungsversuche der Restbestände kollektiven Gedächtnisses mit guten Gründen interessieren. Nicht weniger gilt aber seine Aufmerksamkeit moderner Literatur, die sich der Dekomposition und Fragmentierung des kollektiven Gedächtnisses widmet. So hat beispielsweise die Uwe Johnson-Forschung zu zeigen vermocht, dass Johnson in seinem Roman Jahrestage den Verfall einer kalendergestützten Gesinnungsgemeinschaft narrativ entfaltet;26 so zeigt der literaturkundige Kul–––––––— 22

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Assmann Aleida u. Jan Assmann: Exkurs. Archäologie der literarischen Kommunikation, in: Einführung in die Literaturwissenschaft, hg. v. Miltos Pechlivanos u. a. Stuttgart 1995, S. 200–206. Erll, Astrid: Medien und Gedächtnis. Aspekte interdisziplinärer Forschung, in: Arbeit am Gedächtnis. Für Aleida Assmann, hg. v. Michael C. Frank u. Gabriele Rippl. München 2007, S. 87–98; hier: S. 89. Hahn (wie Anm. 12), S. 10. Hahn (wie Anm. 12), S. 14; vgl. auch Macho, Thomas: Fest, Spiel und Schrift. Gestalten moderner Erinnerungskulturen, in: Arbeit am Gedächtnis. Für Aleida Assmann, hg. v. Michael C. Frank u. Gabriele Rippl. München 2007, S. 147–159; hier: S. 147ff. Schmidt, Thomas: Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons Roman ‚Jahrestage‘. Erinnern und Erzählen im Zeichen des Traums. Göttingen 2002.

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tursoziologe Hahn an Marcel Prousts Recherche wie dort „Konsensfiktionen“ vorgeführt werden.27 Schließlich hat Renate Lachmann ein Konzept von Intertextualität und Gedächtnis entworfen, das darauf angelegt ist Formen kollektiven Gedächtnisses kritisch zu befragen: Gegen das institutionalisierte Gedächtnis läßt sich dasjenige der kulturellen Formen aufbieten, wie es die Karnevalspraxis und die literarischen Gattungen repräsentieren, und gegen die verordneten Gedächtnishandlungen, die die offizielle Gedenkkultur erlaubt, lassen sich die individuellen Schreibhandlungen aufbieten, die die Epochengrenzen überschreitend einen chaotisch-direkten Dialog mit der Vergangenheit aufnehmen.28

Es liegt nahe, Restbestände kollektiven Gedächtnisses in massenmedial gesteuerten Feldern, wie z. B. im Sport zu suchen, Dekompositionsformen kollektiven Gedächtnisses hingegen stärker in avantgardistischen Kunsterzeugnissen zu verorten. Mir scheinen aber Formen der Erinnerung interessant zu sein, die die Zuordnung zum U- oder E-Bereich eher erschweren als einfach zulassen. Die Forschungen Ludwig Jägers, der in der Übersetzung eines Mediums in ein anderes ein Erinnerungspotential entdeckt, eröffnen diesbezüglich bedeutsame Perspektiven.29 Die zahlreichen in jüngster Zeit erschienenen Forschungen über erinnerte Dinge in der Literatur erlauben zum Beispiel, sowohl in der Alltagsästhetik kollektive Erinnerungsmuster freizulegen (z. B. beim Souvenir),30 wie in hochkomplexen Erzählformen an erinnerten Dingen Kreuzungen und Konzentrationen unterschiedlichster Gedächtnisse zu konstatieren.31 Die Aufgabe der Literaturwissenschaft könnte u. a. darin bestehen, im Spektrum gedächtnistheoretisch arbeitender Disziplinen allzu naiven Grundannahmen durch Differenzierung zu begegnen. Als ein Beispiel für eine interdisziplinäre fruchtbare kontroverse Diskussion könnte eine erinnerungstheoretisch –––––––— 27

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Hahn, Alois: Missverständnisse und Irreführungen – oder die Logik des Unausgesprochenen bei Marcel Proust, in: Marcel Proust. Sprache und Sprachen. Beiträge des Symposions Sprache und Sprachen bei Marcel Proust der Marcel Proust Gesellschaft in Trier 1990, hg. v. Karl Hölz. Frankfurt a. M. u. Leipzig 1991 (Publikation der Marcel-Proust-Gesellschaft 6), S. 84–100. Lachmann (wie Anm. 17), S. 10. Jäger, Ludwig: Zur transkriptiven Logik des kulturellen Gedächtnisses, in: Dokument/Monument. Textvarianz in den verschiedenen Disziplinen der europäischen Germanistik. Akten des 38. Kongresses des französischen Hochschulgermanistikverbandes (A.G.E.S.), hg. v. Françoise Lartillot u. Axel Gellhaus. Bern u. Berlin 2008. Vgl. die Beiträge des Katalogs: Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken. hg. v. Museum für Angewandte Kunst Frankfurt a. M. Red. Birgit Gabloski. Frankfurt a. M. 2006. Vgl. Schneider, Sabine: Die stumme Sprache der Dinge. Eine andere Moderne in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, in: Mediale Gegenwärtigkeit, hg. v. Christian Kiening. Zürich 2007, S. 265–282; Steiner, Uwe C.: Gespenstige Gegenständlichkeit. Fetischismus, die unsichtbare Hand und die Wandlungen der Dinge in Goethes ‚Hermann und Dorothea‘ und in Stifters ‚Kalkstein‘, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), S. 627–653; Hoefer, Natascha N. u. Günter Oesterle: Über ‚teure Andenken‘, unheimliche ‚Überbleibsel‘ und versteckte Erinnerungen in Literatur und Alltag des 19. Jahrhunderts, in: Die Dinge als Zeichen. Kulturelles Wissen und materielle Kultur, hg. v. Tobias L. Kienlin. Bonn 2005, S. 231–238.

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verfahrende Literaturwissenschaft zum Beispiel methodische Annahmen aus der Sozialpsychologie kritisch befragen. Die Literaturwissenschaft könnte zeigen, dass „Individualisierung und Sozialisierung“ zwar „keineswegs Gegensätze“ sind, deshalb aber noch lange nicht „zusammenfallen“32. Sie könnte geltend machen, dass in der Moderne nur noch in seltenen Fällen ein autobiographisches Ich aus einer „Erinnerungsgemeinschaft“ „schöpft“, sondern dass es fast immer zahlreiche, sogar widersprüchliche Erinnerungsressourcen sind, auf die sich ein ‚moderner‘ Mensch bezieht.33 Man könnte etwa die Literatur des vorvorigen Jahrhunderts, also etwa Goethes Wahlverwandtschaften oder Fontanes Roman Unwiederbringlich zitieren, um die in der erinnerungstheoretischen Forschung aufgestellte These zu befragen; die These nämlich: „die zentrale Kategorie menschlichen Daseins [ist] nur dann gewährleistet, wenn Menschen verlässlich heute dieselben sind, die sie gestern waren und morgen noch sein werden.“34

3. Das Paradoxe und die Ambivalenz der Erinnerung: Zur Erforschung der Beziehung eines raumorientierten Behaltgedächtnisses und einer temporalen Erinnerung Der von uns dargestellte Befund, dass wir auf der einen Seite als Zeitdiagnose der Moderne eher ein fragmentiertes, heterogen kombiniertes, hybrid organisiertes, plurales Gedächtnis vorfinden, auf der anderen Seite in der Forschung eine Suche nach identitären Haltestäben kollektiven Gedächtnisses beobachten können, lässt sich mit Niklas Luhmanns These erklären: „Je mehr selbsterzeugte Ungewißheit ein System zu bearbeiten hat, desto mehr bedarf es eines Gedächtnisses.“35 Historisch gewendet heißt dies: Die Entdeckung, dass das Gedächtnis nicht nur ein Container, ein Behaltgedächtnis ist, aus dem die schlummernden Vorstellungen wieder aufgefunden und reaktiviert werden können, sondern dass Erinnerung eine dynamische Kraft darstellt, die in der Lage ist mit Hilfe imaginativer und medialer Inszenierung neuartige Gedächtnisbilder zu produzieren – diese von John Locke und David Hume im 18. Jahrhundert gemachte Entdeckung wird als höchst ambivalent erfahren. Seither geht das Gespenst der falschen Erinnerung, der „false memory“ um – ein Binjamin-WilkomirskiGespenst – mit höchsten Verunsicherungsfolgen. David Hume zitiert Heraklit in einer neuen Wendung, dass der erinnernde Mensch nicht zweimal in den Fluss steige – und Locke diskutiert das Beispiel, dass wenn jemand felsenfest über–––––––— 32

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Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis und woraus es besteht, in: Arbeit am Gedächtnis. Für Aleida Assmann, hg. v. Michael C. Frank u. Gabriele Rippl. München 2007, S. 47–62; hier: S. 56. Welzer (wie Anm. 32), S. 56. Welzer (wie Anm. 29), S. 57. Zit. n. Arenhövel (wie Anm. 6) S. 2.

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zeugt davon ist, er habe die Sintflut miterlebt, wir ihm diese erinnernde Selbstevidenz nur mit Mühe ausreden werden können.36 Was lässt sich daraus entnehmen? Wir können einen Unterschied machen zwischen einem raum- und imaginationsbezogenen Behaltgedächtnis und einem zeitorientierten Erinnerungskonzepts. Das temporal organisierte Erinnern verfügt über eine erweiterte aber auch stärker gefährdete Qualität. Keines aber ist obsolet. Eine kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung wird sich ihrer vertrackten Verschachtelung stellen müssen. Beide, das raum- und imaginationsbezogene Behaltgedächtnis und das temporal organisierte Erinnerungskonzept haben ihre Fallstricke und ihre (auch poetologischen) Chancen. Mary Carruthers hat nachdrücklich auf die Einseitigkeit der römischen Rezeption der Mnemotechnik hingewiesen und die versteckten meditativen und handlungsbezogenen (z. T. kabbalistischen) Traditionen der Mnemotechnik rekonstruiert.37 Jochen Berns und Stefan Rieger haben an der Relation von loci und imagines die immanente komplexe Labyrinthstruktur der Mnemotechnik aufgezeigt.38 Ralf Simon hat die zeitliche Aktdifferenz zwischen dem Jetzt des Erinnerns und dem vergangenen Erinnern präzis rekonstruiert.39 Vorarbeiten sind also genug gemacht worden. Es gilt jetzt m. E. im Anschluss an Edmund Husserls Phänomenologie der Erinnerung40 die hochkomplexe Verbindung von temporalen, modalen, imaginativen, sinnenphysiologischen Elementen zu analysieren und dabei die Rolle des Wiedereintritts (Re-entry) raumorientierter Gedächtnisformen zu klären. Sie alle kennen die Schlussworte von Friedrich Hölderlins Hyperion: „So dacht’ ich. Nächstens mehr.“

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Tausch, Harald: Locke, Addison, Hume und die Imagination des Gartens, in: Der imaginierte Garten, hg. v. Harald Tausch u. Günter Oesterle. Göttingen 2001, S. 23–44. Carruthers, Mary: Rhetorische memoria und die Praxis des Erinnerns. Boncompagno da Signas ‚Rhetorica novissima‘, in: Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne, hg. v. Jörg Jochen Berns u. Wolfgang Neuber. Wien 2000, S. 15–37. Rieger, Stefan: Speichern/Merken. Die künstliche Intelligenz des Barock. München 1997. Simon, Ralf: Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder. Hamburg 1998. Trotz eines relativ ausgearbeiteten Theorierahmens der Erinnerungsarbeit wurde bislang die temporale Feinjustierung, die vornehmlich in Husserls nachgelassenen Schriften zu finden ist, nicht genutzt (vgl. Husserl, Anm. 2). Besonders ergiebig erscheint mir die von Husserl bereitgestellte Möglichkeit, Erinnerung und Latenz aufeinander zu beziehen. Hier eröffnet sich die Chance, Husserl und Luhmann erinnerungstheoretisch weiterzudenken. Vgl. den Nachruf auf Niklas Luhmann durch Alois Hahn und folgenden Hinweis: Luhmann übernimmt von Husserl „vor allem die These, daß alles sinnhafte Operieren die selektive Aktualisierung von Möglichkeiten ist, die auf die momentan nicht mit Aufmerksamkeit bedachten, aber im Horizont weiterbestehenden Möglichkeiten verweist“. Hahn, Alois: Ein Nachruf, Zeitschrift für Soziologie 27 (1998), S. 402f.; hier: S. 403.

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4. Ausblick: Gadamers Bericht einer Arbeitstagung zu Memoria 1959 Abschließen möchte ich mit einer Trouvaille. Es handelt sich um den Bericht einer Arbeitstagung vom Oktober 1959 zum Thema Memoria. Teilgenommen haben u. a. Hans Blumenberg, Klaus Dockhorn, Hans Robert Jauß, Erich Rothacker und Harald Weinrich. Den Bericht schrieb Hans-Georg Gadamer.41 Der Bericht hat selbstredend das begriffsgeschichtliche und ideengeschichtliche Gepräge der Forschungslandschaft Mitte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts festgehalten. Dieser Bericht verfügt aber über eine philosophische Tiefendimension, wie wir sie heute nur noch von Michael Theunissen, Emmanuel Lévinas, Paul Ricœur und Jacques Derrida kennen. Reflektiert wird über das Unverfügbare, Uneinholbare der Erinnerung. Gesprochen wurde über den „platonischen Mythos der Anamnesis“, die weit mehr „auf das Schauen der Ideen zielt als auf die individuale Individualität der sich erinnernden Seele.“42 Man denkt nach über Augustins religiös motivierte Grundfigur der Erinnerung, „die sich nicht auf das Vergangene einschränkt, sondern zur Überwindung der Zeit gelangen läßt.“43 Bei der Lektüre dieser Gadamerexegese Augustins erinnert man sich an die in einem Brief Heideggers an Hannah Arendt gerichtete Forderung nach einem anderen als einem historischen Gedächtnis. In dem Brief vom 12. April 1950 heißt es, dass „der Mensch […] ein anderes Gedächtnis lernen muß.“44 Man kann sich aber auch kontrastiv und korrespondierend an das von Benjamin in seinem Kafkaessay zitierte „geheimnisvolle Zentrum der jüdischen Religion“, an das „Gedächtnis als Frömmigkeit“ erinnern. „Es ist“, so schreibt Benjamin, „nicht eine, sondern die tiefste Eigenschaft sogar Jehovas, daß er gedenkt, daß er ein untrügliches Gedächtnis ‚bis ins dritte und vierte Geschlecht‘, ja bis ins ‚hundertste‘ bewahrt: der heiligste […] Akt des […] Ritus ist die Auslöschung der Sünden aus dem Reich des Gedächtnisses.“45

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Gadamer, Hans-Georg: Bericht über die Arbeitstagung vom Oktober 1959, Archiv für Begriffsgeschichte 9 (1964), S. 15–18. Gadamer (wie Anm. 41), S. 16. Gadamer (wie Anm. 41), S. 17. Arendt, Hannah u. Martin Heidegger: Briefwechsel, hg. v. Ursula Lutz. Frankfurt a. M. 1998, S. 94; vgl. Noor, Ashraf: Geschichte, Repräsentation und die Phänomenologie der Erfahrung, in: Erfahrung und Zäsur. Denkfiguren der deutschjüdischen Moderne, hg. v. Ashraf Noor. Freiburg i. Br. 1999, S. 168. Benjamin, Walter: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, in: Gesammelte Schriften II/2. hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, S. 409–438; hier: S. 429.

Klaus Schenk

Erinnerndes Schreiben Zur Autobiographik der siebziger Jahre und ihren didaktischen Konsequenzen

Die autobiographischen Schreibweisen in der deutschsprachigen Literatur der siebziger Jahre haben eine Problematik hervorgebracht, die den von ihnen erhobenen Anspruch auf Authentizität unterläuft. Vor allem in den Schreibweisen der Neuen Subjektivität zeigt sich ein Dilemma, das für ihre Autobiographik charakteristisch ist. Gerade das autobiographische Schreiben entfacht Ambivalenzen im Feld der literarischen Erinnerung, die sich nicht mehr auf traditionelle Konzepte festlegen lassen. Eng verknüpft mit dem Status literarischer Erinnerungen ist daher der Umgang mit der Medientechnik des Schreibens. An Textbeispielen von Elias Canetti, Thomas Bernhard und Christa Wolf kann gezeigt werden, wie das autobiographische Schreiben die Erinnerung in einen imaginären Raum einträgt, der sich als autofiktional kennzeichnen lässt. In einem weiteren Schritt werden didaktische Konsequenzen aus der Problematik des autobiographischen Schreibens gezogen, die den imaginären Grenzgang nutzen.

1. Erinnerung und Autobiographik Literarische Erinnerung und Autobiographik sind weniger kommensurable Felder, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Treffend hat Walter Benjamin dies in einem Passus seiner Berliner Chronik formuliert: „Erinnerungen, selbst wenn sie ins Breite gehen, stellen nicht immer eine Autobiographie dar.“1 Benjamins Bemerkung kann an grundsätzliche Fragestellungen zum Nexus von Schreiben und Erinnern anschlossen werden. Einerseits lässt sich erinnerndes Schreiben nicht auf die Gattung der Autobiographie einengen, sind doch Tagebücher, Memoiren und andere Formen der Aufzeichnung nicht nur Vorläufer, sondern ebenso anerkannte Erinnerungsträger. Andererseits kann sich die moderne Autobiographik nur schwer von fiktionalen Schreibweisen abgrenzen. In moderner Prosa erscheint Erinnerung vielmehr als imaginäre Dimension. Prozesse des Schreibens bilden dabei die Grundbedingung für das Zustandekommen wie auch für die Inszenierung literarischer Erinnerung. Die Grenzen zwi–––––––— 1

Benjamin, Walter: Berliner Chronik, in: Gesammelte Schriften 6, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1985, S. 465–519; hier: S. 488.

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Klaus Schenk

schen Faktizität und Fiktion sind offen angelegt, so dass sich die moderne Autobiographik zur Erzählung bzw. zum Roman hin öffnet. Nicht mehr der Anspruch auf Wahrhaftigkeit kann zum Maßstab des Schreibens gemacht werden. Vielmehr speist sich moderne Autobiographik aus einer Ambivalenz, die den Inszenierungen von Erinnerung zugehört, wenn sie sich zu einem semiotischen Spiel des Schreibens transformiert. Besonders in der Literatur der siebziger Jahre tritt diese Problematik von Erinnerung im Konzept des autobiographischen Schreibens hervor.

2. Autobiographisches Schreiben Der seit den siebziger Jahren mit der literarischen Bewegung der Neuen Subjektivität verbundene Begriff des autobiographischen Schreibens bildet einerseits einen fließenden Übergang zu anderen Formen des literarischen Schreibens und unterläuft andererseits die Grenzstellung zwischen Faktizität und Fiktion als fingierte Vollzugsstruktur im Bereich des Imaginären. Als Grenzfigur legt das autobiographische Schreiben grundlegende literarisch-ästhetische Fragestellungen offen. Mit der Öffnung des Autobiographischen auf ein „Paradigma des Schreibens“2 hin verschieben sich zentrale Problemlagen, wie sie in der Gattungsphilologie ausgeklammert wurden. Vor allem die zur Gattungsbegründung der Autobiographie immer wieder angeführte Subjektivität erscheint als zentrales Problem.3 Will man eine vorgängige Einheit des schreibenden Subjekts nicht mehr gelten lassen, so ergibt sich daraus die Frage, ob sich die Subjektivität nicht im Schreibprozess allererst inszeniert.4 Die Sprachzentriertheit moderner Autobiographik hat im Paradigma des Schreibens ebenso ihre medialen Bedingungen hervorgekehrt. Damit eröffnet sich ein Feld zwischen der Praxis, der Metaphorik und der Medialität des Schreibens, von dem die Grundlagen der Gattungstradition affiziert werden. Wenngleich auch in Autobiographien der siebziger Jahre, wie z. B. bei Elias Canetti, noch der Gestus der unmittelbaren ‚klassischen‘ Erinnerung beschworen wird, ist die mediale Brüchigkeit dieses Konzepts nicht mehr zu leugnen. Allzu radikal muss deshalb die Konsequenz nicht anmuten, die Manfred Schneider aus dem technisch-medialen Fortschritt im Hinblick auf die moderne Autobiographik zieht: Das Leben und das Medium nähern sich asymptotisch, aber die Koordinaten messen nicht mehr die Werte Subjekt und Wahrheit, sondern die Intensitäten Schreiben und Schrift. Der

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Vgl. Finck, Almut: Subjektbegriff und Autorschaft: Zur Theorie und Geschichte der Autobiographie, in: Einführung in die Literaturwissenschaft, hg. v. Miltos Pechlivanos u. a. Stuttgart u. Weimar 1995, S. 283–294; hier: S. 289. Mit Finck lässt sich vermuten: „Die Autobiographie macht wie keine andere Gattung die grundsätzliche Problematik jeder Art von Referentialität sichtbar. Darin läge ihr Spezifikum. Sie wäre Paradigma des Schreibens schlechthin.“ Vgl. Finck (wie Anm. 2), S. 288. Vgl. Finck (wie Anm. 2), S. 293.

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Funktionsverlust der alten symbolischen Bezugsgrößen Seele, Wahrheit, Mensch, Leben macht die Aktivität Schreiben im zwanzigsten Jahrhundert selbst zum Existential.5

Was sich in der Moderne abzeichnet, ist die performative Struktur des Schreibens und der Inszenierung von autobiographischer Erinnerung.6 Die zunehmende Medialisierung von literarischer Erinnerung auf dem Weg zur Moderne hat Aufschreibesysteme hervorgebracht, deren Schriftcharakter unhintergehbar wurde. Besonders aber in der Autobiographik der siebziger Jahre werden die Schrift und das Schreiben zu zentralen Themen. Im Folgenden wird daher einerseits nach der Praxis, der Metaphorik und der Medialität des autobiographischen Schreibens zu fragen sein und andererseits nach der semiotisch-rhetorischen Ambivalenz im Gattungsparadigma der Autobiographie.

3. Grenzüberschreitungen In der Forschung wurde von verschiedenen Seiten eine zunehmende Fiktionalisierung des Autobiographischen in der Literatur der siebziger Jahre wahrgenommen. Allerdings wird die veränderte Schreibweise vorwiegend von der Gattungsgeschichte der Autobiographie her perspektiviert.7 Zu offensichtlich aber treten Verwechslungen von Lebensgeschichte und Literatur in der Autobiographieforschung immer wieder hervor, wie sie in der Nachfolge von Roy Pascal angelegt sind. Die Gleichsetzung von auto-bios-graphia8 weist zu viele Brüche auf, als dass sie eine definitorische Abgrenzung der Gattung leisten könnte. Auch der Versuch von Lejeune, die Gattung über die Verbindung von Erzähler, Autorenname und dem Namen des Protagonisten im Text als autobiographischen Pakt vom Romanpakt abzugrenzen, bleibt gemessen an der Vielfalt von Schreibweisen moderner Autobiographik unzureichend. Wenn Philippe Lejeune darlegt: „Der autobiographische Pakt ist die Behauptung dieser Identität im Text, die letztlich auf den Namen des Autor auf dem Umschlag ver–––––––— 5 6 7

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Schneider, Manfred: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München u. Wien 1986, S. 14. Schneider (wie Anm. 5), S. 46. Vgl. Bronsen, David: Autobiographien der siebziger Jahre: Berühmte Schriftsteller befragen ihre Vergangenheit, in: Deutsche Literatur in der Bundesrepublik seit 1945, hg. v. Paul Michael Lützeler u. Egon Schwarz. Königstein/Ts. 1980, S. 202–214; zur Autobiographik der siebziger Jahre vgl. auch Holdenried, Michaela: Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman. Heidelberg 1991; Sill, Oliver: Zerbrochene Spiegel. Studien zu Theorie und Praxis modernen autobiographischen Schreibens. Berlin u. New York 1991. Vgl. Misch, Georg: Begriff und Ursprung der Autobiographie (1907/1949), in: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, hg. v. Günter Niggl. Darmstadt 1989, S. 33–55; hier: S. 38: „Sie läßt sich kaum näher bestimmen als durch Erläuterungen dessen, was der Ausdruck besagt: die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)“.

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weist“9, so sind davon vielfältige Inszenierungen moderner Autobiographik ausgeschlossen. Scheint sich die Gattung auf der Grenzlinie zwischen Fiktion und Faktizität allererst zu konstituieren, zerbricht im gleichen Moment die gesuchte Gattungseinheit hin auf fiktive Formen. Dieses Kipp-Phänomen ermöglicht eine Offenheit gegenüber anderen Gattungen, so dass Paul de Man10 darauf verzichtet, das Genre von anderen literarischen Schreibweisen abzugrenzen und die Autobiographie nicht weiterhin als Gattung betrachtet. De Mans Öffnung der Autobiographie zu einer „Lese-oder Verstehensfigur“11 geht von Figurationen der Prosopopöie als Trope der Autobiographie aus.12 Über de Man hinaus muss jedoch betont werden, dass eine wechselseitige „Angleichung der beiden am Leseprozeß beteiligten Subjekte“13 erst in ihrer imaginären Dimension gedacht werden kann, für die das Schreiben als Grenzfigur eine zentrale Rolle spielt. Was hinter der Autobiographiediskussion aufscheint, ist eine Medienproblematik von moderner Prosa, die auch andere Genres erfasst hat. Bereits in den siebziger Jahren wurden ebenso theoretische Positionen formuliert, die den Grenzbereich des Imaginären im autobiographischen Schreiben ausloten. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang vor allem das Konzept der Autofiktion, wie es seit 1977 von Serge Doubrovsky entworfen wurde und inzwischen eine rege Diskussion entfacht hat.14 Doubrovskys Konzept der Autofiktion war selbst von Anfang an als Affront gegen den von Lejeune begründeten autobiographischen Pakt gerichtet und mit Schreibweisen verknüpft, die heute bereits der Postmoderne zugerechnet werden. Abzusehen ist, dass die Schreibweise der siebziger Jahre die Autobiographieproblematik über die ästhetischen Kategorien der Moderne hinaus verschiebt.

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Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Übs. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1994, S. 27. De Man, Paul: Autobiographie als Maskenspiel, in: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. v. Christoph Menke. Übs. v. Jürgen Blasius. Frankfurt a. M. 1993, S. 131–145. De Man (wie Anm. 10), S. 134. De Man (wie Anm. 10), S. 134: „Es ist die Figur der Prosopopöie, die Fiktion der Apostrophierung einer abwesenden, verstorbenen oder stimmlosen Entität, wodurch die Möglichkeit einer Antwort gesetzt und der Entität die Macht der Rede zugesprochen wird. Eine Stimme setzt einen Mund voraus, ein Auge und letztlich ein Gesicht, eine Kette, die sich in der Etymologie des Namens der Trope manifestiert: prosopon poien, eine Maske oder ein Gesicht (prosopon) geben.“ De Man (wie Anm. 10), S. 134. Vgl. z. B. Gronemann, Claudia: ‚Autofiction‘ und das Ich in der Signifikantenkette. Zur literarischen Konstitution des autobiographischen Subjekts bei Serge Doubrovsky, Poetica 31/1-2 (1999), S. 237–262; vgl. inzwischen auch: Wagner-Egelhaaf, Martina: Autofiktion – Theorie und Praxis des autobiographischen Schreibens, in: Schreiben im Kontext von Schule, Universität, Beruf und Lebensalltag, hg. v. Johannes Berning u. a. Berlin 2006, S. 80–101.

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4. Schreiben und Erinnerung Mit ihrer medialen Realisierung im Schreiben teilt die literarische Erinnerung den Prozesscharakter. In Abgrenzung zur räumlichen Speicherung der Mnemotechnik wurde die Erinnerung häufig als Prozess beschrieben, wenn z. B. Aleida Assmann bemerkt: Im Falle des Erinnerns wird die Zeitdimension, die beim Speichern stillgestellt und überwunden ist, akut. Indem die Zeit aktiv in den Gedächtnisprozeß eingreift, kommt es zu einer grundsätzlichen Verschiebung zwischen Einlagerung und Rückholung. Während bei der Mnemotechnik die exakte Übereinstimmung von input und output entscheidend war, kommt es bei der Erinnerung zu ihrer Differenz. Dem Verfahren des Speicherns möchte ich deshalb den Prozeß des Erinnerns gegenüberstellen.15

Assmanns Unterscheidung zwischen dem Verfahren der Mnemotechnik und dem Prozess des Erinnerns ist eingebettet in eine Archäologie des kulturellen Gedächtnisses, die nicht allein literarischen Konzepten verpflichtet ist. Aus einer kultursemiotischen Perspektive hat vor allem Renate Lachmann einen intertextuellen Aspekt in die memoria-Diskussion eingebracht: Die Intertextualität der Texte zeigt das Immer-Wieder-Sich-Neu-und Umschreiben einer Kultur, einer Kultur als Buchkultur und als Zeichenkultur, die sich über ihre Zeichen immer wieder neu definiert. Das Schreiben ist Gedächtnishandlung und Neuinterpretation der (Buch-)Kultur ineins. Jeder konkrete Text als entworfener Gedächtnisraum konnotiert den Makro-Gedächtnisraum, der die Kultur repräsentiert oder als der die Kultur in Erscheinung tritt.16

Ausgehend von diesem kulturellen Gedächtniskonzept entwirft Lachmann drei Modelle der Intertextualität: das „Modell der Partizipation, der Tropik und der Transformation. Darin verbergen sich Weiter- und Wiederschreiben, Widerschreiben und Umschreiben.“17 Schreiben und literarische Erinnerung treten in eine zunehmend unauflösliche Verbindung, wobei sich vermuten lässt, „daß mit der Mnemotechnik elementare Leistungen imaginativen Erinnerns pragmatisiert worden sind, wie sie allen Akten des Schreibens als Gedächtnishandlungen zugrunde liegen“.18 Überlagern sich derart Schreib- und Gedächtnispraxis, wird davon auch die Grenzziehung zwischen Gedächtnis und dichterischer Einbildungskraft betroffen.19 Gerade die Trennung zwischen Faktizität und Fiktion, –––––––— 15 16 17 18 19

Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2003, S. 29. Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1990, S. 36. Lachmann (wie Anm. 16), S. 38. Lachmann (wie Anm. 16), S. 34. Lachmann (wie Anm. 16), S. 34: „Der literaturwissenschaftlich brisante Punkt liegt in den Weisen der Kreuzung von Gedächtnisimaginatio und dichterischer Einbildungskraft. Sind dies parallele Prozesse, die einander spiegeln oder kommentieren, oder verhält es sich nicht eher so, daß literarische Ikonographie immer auf die des Gedächtnisses rekurriert, daß der Bildspender der Literatur der nämliche wie der des Gedächtnisses ist, oder noch anders: daß sich die Bildtätigkeit des Gedächtnisses die poetische Einbildung einverleibt.“

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wie sie für die Gattungstradition der Autobiographie immer wieder geltend gemacht wurde, kann so nicht mehr aufrecht erhalten werden. Lachmann greift daher auf die von Iser vorgeschlagene Kategorie des Imaginären zurück, um intertextuelle Simulakren zu erfassen, die zugleich Bilder und Trugbilder kultureller Erinnerung offenbaren.20 Bei aller Präsenz, die sie simulieren, produzieren die medial gebundenen Erinnerungsprozesse zugleich Zeichen und deren Trugbilder. Während die mnemotechnische Kodierung von Erinnerung vorgibt, Vergangenes vergegenwärtigen zu können, mit Hilfe von angelegten Archiven und Magazinen oder Notizen, Tagebüchern, Bibliotheken und anderen kulturellen Erinnerungstechniken, bleibt ihrer literarischen Umsetzung lediglich das Eingeständnis der trugbildhaften Ambivalenz ihrer Gedächtnisstützen. Die autobiographische Dimension ist gekoppelt an ihre Medialität und kann sich nur durch ein ständiges Um-, Neu-und Fortschreiben als Erinnerungsraum entwerfen. Dieser Ambivalenz von Erinnerungsthematik und Schreibpraxis soll im Folgenden nachgegangen werden.

5. Elias Canetti: Die Farbe Rot Eine traditionelle Konzeption von literarischer Erinnerung scheint Elias Canetti in den drei Bänden seiner Autobiographie umzusetzen, deren Erzählen vorgeblich „wie am Schnürchen“21 funktioniert. Bereits aber im ersten Band mit dem programmatischen Titel Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend sind die aneinandergereihten Episoden auf komplexe Art und Weise miteinander vernetzt. So ist bereits die unter dem Titel Meine frühste Erinnerung eingeführte erste Episode mehrschichtig strukturiert, in eine vorweggenommene Präsentation des Vorfalls und eine nachträgliche Erinnerungsarbeit. Das Motiv der „geretteten Zunge“, das mit der Erzählung über die „Zufallsbekanntschaft“ des bulgarischen Zimmermädchens eingeleitet wird, ist auf traumatische Art und Weise an die Problematik von Sprechen und Verstummen gekoppelt: „Die Drohung mit dem Messer hat ihre Wirkung getan, das Kind hat zehn Jahre darüber geschwiegen.“22 Ihrem schockierenden Inhalt entsprechend wird die Erinnerung im Modus der Nachträglichkeit präsentiert, wenn die Farbe Rot der Mutter 10 Jahre später zum Erkennungszeichen dient, um den Vorfall zu datieren. Auch –––––––— 20 21

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Lachmann (wie Anm. 16), S. 42. Wiethölter, Waltraud: Sprechen-Lesen-Schreiben: Zur Funktion von Sprache und Schrift in Canettis Autobiographie, Deutsche Vierteljahrsschrift 2 (1990), S. 149–171; hier: S. 166: „Canetti erzählt, oder besser gesagt: läßt durch seinen Erzähler erzählen, als hätte es die Erschütterungen im Bereich der traditionellen Subjektvorstellungen nie gegeben: keine Unsicherheiten, kein Zögern, kein Innehalten und vor allen Dingen keine zweite oder dritte Stimme, die dem Autor ins Wort fiele. Das Erzählen vollzieht sich in klar voneinander abgegrenzten Etappen und einer ungebrochenen Kontinuität, kurz gesagt: wie am Schnürchen.“ Canetti, Elias: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Werke 7. München u. Wien 1994, S. 10.

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wenn die narrative Oberflächenstruktur der Autobiographie Canettis intakt erscheint, lassen sich dennoch ambivalente Schreibinszenierungen aufzeigen. Festgehalten werden kann, dass schon das ‚Anfangstableau‘ eine imaginäre Familiengeschichte entfaltet, die zugleich eine Sprachgeschichte ist, wie sie sich in weiteren Episoden fort- und umschreibt.23 Andererseits kann die mit dem Titel Die gerettete Zunge verbundene Eingangsszene aber auch als programmatisch für eine sprachliche Transposition verstanden werden, die das autobiographische Schreiben allererst ermöglicht, bedeutet lingua/ lengua/ langue in den romanischen Sprachen doch ebenso die ‚Sprache‘ wie die ‚Zunge‘. So findet durch eine „geheimnisvolle Übertragung“24 die Rettung von Erinnerungen statt, die sich über verschiedene Sprachen wie das Bulgarische oder die altertümlich spaniolische Umgangssprache der Kinderjahre in die spätere Schreibsprache des Deutschen transformieren: die Ereignisse jener Jahre sind mir in aller Kraft und Frische gegenwärtig – mehr als sechzig Jahre habe ich mich von ihnen genährt –, aber sie sind zum allergrößten Teil an Worte gebunden, die ich damals nicht kannte. Es scheint mir natürlich, sie jetzt niederzuschreiben, ich habe nicht das Gefühl, daß ich dabei etwas verändere oder entstelle.25

Als Medium dieser unbewussten Übersetzung fungiert ein Schreibprozess, der sich nicht, wie Canetti suggeriert, auf das ‚Niederschreiben‘ beschränken lässt. Vielmehr wird dieser Prozess im scheinbar linearen Erzählverlauf inszeniert und in die autobiographische Erinnerungsarbeit einbezogen. Die Rettung der ‚Zunge/Sprache‘ sollte deshalb auch an die Stenographie sowie an die Lektüre der Texte Hebels in einem „Lesebuch in Kurzschrift“26 gekoppelt bleiben: „Kein Buch habe ich geschrieben, das ich nicht heimlich an seiner Sprache maß, und jedes schrieb ich zuerst in der Kurzschrift nieder, deren Kenntnis ich ihm allein schulde.“27 In der Stenographie wird Canetti ein Transpositionsmedium finden, das ihn von der Problematik zwischen Muttersprache und Vaterschrift löst. Scheinbar weit entfernt von den Vorgaben einer Neuen Subjektivität in den siebziger Jahren, deutet sich bereits bei Canetti eine Öffnung der autobiographischen Problematik hin auf die Medientechnik des Schreibens an.

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Vgl. Greiner, Bernhard: Akustische Maske und Geborgenheit in der Schrift: Die SprachOrientierung der Autobiographie bei Elias Canetti und Walter Benjamin, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 34 (1993), S. 305–325; vgl. auch Steussloff, Axel Gunter: Autorschaft und Werk Elias Canettis. Subjekt – Sprache – Identität. Würzburg 1994. Canetti (wie Anm. 22), S. 17. Canetti (wie Anm. 22), S. 18. Canetti (wie Anm. 22), S. 284. Canetti (wie Anm. 22), S. 285.

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6. Erinnerungunsorte als Kellerlabyrinthe Ein gemeinsames Thema der in den siebziger Jahren veröffentlichten Autobiographik findet sich in der Auseinandersetzung mit ihrem Anspruch auf Wahrhaftigkeit, ein gemeinsames Strukturgesetz in den Inszenierungen des Schreibens. Zahlreiche Konzeptionen wären hier zu nennen, die sich die imaginäre Zwischenlage des autobiographischen Schreibens zum Thema machen. Aus einer sprachkritischen Perspektive28 hat sich vor allem Thomas Bernhard mit Strukturen des ‚Verfälschens‘ beim Schreiben auseinandergesetzt. Einen zentralen Schauplatz, an dem die Erinnerungs- und Wahrheitsproblematik des Schreibens inszeniert wird, bildet in Bernhards autobiographischer Pentalogie29 vor allem der Band Der Keller. Wie in vielen autobiographischen Texten findet sich in Der Keller eine Topographie der Erinnerung, die ebenso mnemotechnisch kodiert ist.30 Schon der Titel des Bandes weist auf einen Ort der Erinnerung hin: ‚Der Keller‘ als das Lebensmittelgeschäft von Podlaha in der „Scherzhauserfeldsiedlung“. Dass es sich dabei allerdings um eine topographische Reduktionsform handelt, wird deutlich, wenn man beachtet, dass der Schauplatz der Erinnerung über seine Grundbestandteile hinaus kaum erweitert wird. Zum Keller gehört zwar ein Nebenraum und im Nachbarhaus sogar ein Magazin,31 vom gesamten Haus wird allerdings nur noch die darüber liegende Wohnung32 erwähnt. Die Topographie der Erinnerungen gleicht einem Feld von Ruinen, die im Keller, der Ort und Buchtitel zugleich ist, zusammengeführt werden. Der Ort des Kellers erweist sich als Schreibraum, an dem sich die Erinnerungen versammeln, während die Architektur der Scherzhauserfeldsiedlung nur als eine unförmige Silhouette33 in Erscheinung tritt: Mehrere Stufen führten in der Mitte der einstöckigen Blöcke hinauf in ein enges Vorhaus, von welchem aus man beidseitig in die Behausungen, die man heute nicht Wohnungen nennen kann, hineinkam, die Wohnungen hatten ein oder zwei Zimmer, die kinderreichsten Familien hausten in den Zweizimmerwohnungen, das Wasser war auf dem Gang, es gab nur einen gemeinsamen Abort, die Wände dieser Blöcke waren aus Heraklithplatten zusammengesetzt, mit billigem Mörtel angeworfen.34

Die Wohnräume korrespondieren mit der sozialen Deklassierung, die die Bewohner der Scherzhauserfeldsiedlung erfahren. Andererseits hat sich in dieser –––––––— 28 29 30

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Vgl. Eyckeler, Franz: Reflexionspoesie. Sprachskepsis, Rhetorik und Poetik in der Prosa Thomas Bernhards. Berlin 1995. Zu Bernhards autobiographischer Pentalogie vgl. Marquart, Eva: Gegenrichtung. Entwicklungstendenzen in der Erzählprosa Thomas Bernhards. Tübingen 1990, S. 120–178. Zu Bernhards Der Keller vgl. Mittermayer, Manfred: Thomas Bernhard. Stuttgart u. Weimar 1995, S. 6ff. u. 81ff.; Schmidt-Dengler, Wendelin: ‚Auf dem Boden der Sicherheit und Gleichgültigkeit‘. Zu Thomas Bernhards Autobiographie ‚Der Keller‘, in: Autobiographien in der österreichischen Literatur. Von Franz Grillparzer bis Thomas Bernhard, hg. v. Klaus Amann u. Karl Wagner. Innsbruck u. Wien 1998, S. 141–202. Bernhard, Thomas: Der Keller. Eine Entziehung. Salzburg 1976, S. 8. Bernhard (wie Anm. 31), S. 94. Bernhard (wie Anm. 31), S. 50. Bernhard (wie Anm. 31), S. 34.

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trostlosen Architektur auch der Erinnerungsort disqualifiziert. Als Erinnerungsort kann der Keller den mnemotechnischen Inventuren nicht standhalten. Als der Ich-Erzähler von einem Bauarbeiter, der als Jugendlicher im Geschäft eingekauft und sogar gestohlen hatte, nach seinen Erinnerungen über die Zeit im Keller befragt wird,35 stellt sich heraus, dass die Namen zwar noch präsent sind, das Ich aber längst schon die Verbindung zu ihren Geschichten verloren hat. Um dem Bauarbeiter eine Antwort auf die Frage nach seiner jetzigen Tätigkeit zu geben, kann das Ich nur antworten: „Schreiben“.36 Das Schreiben bildet ebenso ein Movens wie einen Gegenstand des Textes. Bernhard führt ein Schreiben vor sowohl im Hinblick auf die Gegenrichtungen seiner Argumentationen wie auch in der Weg- und Raumstruktur der Erinnerung. In das von Bernhard inszenierte Schreiben ist auch die Frage nach Fälschung und Wahrheit eingebettet: Der Wille zur Wahrheit ist, wie jeder andere, der rascheste Weg zur Fälschung und zur Verfälschung eines Sachverhalts. Und eine Zeit, eine Lebens-, eine Existenzperiode aufzuschreiben, gleich, wie weit sie zurückliegt, und gleich, wie lang oder kurz sie gewesen ist, ist eine Ansammlung von Hunderten und von Tausenden und von Millionen Fälschungen und Verfälschungen, die dem Beschreibenden und Schreibenden alle als Wahrheiten und als nichts als Wahrheiten vertraut sind. Das Gedächtnis hält sich genau an die Vorkommnisse und hält sich an die genaue Chronologie, aber was herauskommt, ist etwas ganz anderes, als es tatsächlich gewesen ist. Das Beschreiben macht etwas deutlich, das zwar dem Wahrheitswillen des Beschreibenden, aber nicht der Wahrheit entspricht, denn die Wahrheit ist überhaupt nicht mitteilbar.37

In dieser Textpassage wird die Frage nach der Mitteilbarkeit autobiographischer Wahrheit nicht nur aufgeworfen, sondern ebenso in der Darstellung vorgeführt. Bernhard betreibt eine gegenläufige Argumentation, indem er die Aspekte „Wille zur Wahrheit“, „Fälschung“ und „Verfälschung“ mit einer Wegstruktur („ist der rascheste Weg“) verbindet, die zugleich eine Schreibspur ist. Aus dieser Position heraus kann die Frage nicht entschieden, sondern nur schreibend aufgeschoben werden. Wenige Zeilen weiter heißt es: Was hier beschrieben ist, ist die Wahrheit und ist doch nicht Wahrheit, weil es nicht die Wahrheit sein kann. Wir haben in unserer ganzen Leseexistenz noch niemals eine Wahrheit gelesen, auch wenn wir immer wieder Tatsachen gelesen haben. Immer wieder nichts anderes als die Lüge als Wahrheit, die Wahrheit als Lüge et cetera. Es kommt darauf an, ob wir lügen wollen oder die Wahrheit sagen und schreiben, auch wenn es niemals die Wahrheit sein kann, niemals die Wahrheit ist.38

Satz und Gegensatz werden bei Thomas Bernhard in einem Schreiben vorangetrieben, das sich nur noch aufschieben kann als Transport von Lüge als Wahrheit etc. In Der Keller wird eine Erinnerungstopographie des Übergangs als Raum- und Wegstruktur entworfen, die als Schreibspur Medium und Gegenstand der Erinnerung bildet. Der Raum des Buches und die Struktur des Schrei–––––––— 35 36 37 38

Bernhard (wie Anm. 31), S. 137. Bernhard (wie Anm. 31), S. 137. Bernhard (wie Anm. 31), S. 37f. Bernhard (wie Anm. 31), S. 39.

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bens bestimmen, was an Erinnerungen zugelassen wird. Bernhards Fokussierung des Schreibens bringt eine Problematik hervor, die in der Literatur der siebziger Jahre dominant wird. Die Spannung zwischen Fiktion und Faktizität stellt das autobiographische Schreiben vor Aporien, die nur in der Ambivalenz des Imaginären aufgehoben werden können.

7. Christa Wolf: Medaillon und Furche Das Misstrauen gegen vorgefertigte Erinnerungsklischees sowie Vorbehalte gegen überkommene narrative Muster werden in Kindheitsmuster39 von Christa Wolf zu einem Grundimpuls für die Inszenierung eines Schreibprozesses, der den Text in einer offenen Bewegung hält. Mit der den Text begleitenden Schreibreflexion sucht Christa Wolf zu verhindern, in vorgefertigte Darstellungsmuster zurückzufallen. Die Erinnerungsstruktur des Textes erweist sich als Diskursivität, für die die mediale Inszenierung des Schreibens konstitutitv ist. In dieser spezifischen Überlagerung von Schreibthematik und Erinnerungsproblematik findet sich ein Reflex auf die autobiographische Schreibweise Walter Benjamins. Schon zu Beginn ihres Textes beruft sich die Erzählerin auf Benjamins Erinnerungskonzept, wenn sie „ein buckliges Männchen“40 einführt. Ähnlich wie schon in Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert41 wird dabei die Uneinholbarkeit von Kindheitserlebnissen als Bruch und Überschreitung thematisiert, die die Darstellung mit sich führt. Vor allem das Bild von den zu Medaillons ‚stillgelegten‘ Erinnerungen, wie es sich in Lesen und Schreiben42 findet, legt eine Parallele zu Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen43 nahe, wenn Wolf formuliert: Jedermann führt mit sich eine Kollektion kolorierter Medaillons mit Unterschriften, teils putzig, teils grauslig. Bei Gelegenheiten werden sie hervorgeholt und herumgezeigt, weil wir Bestätigung brauchen für unser eigenes beruhigend eindeutiges Empfinden: schön oder häßlich, gut oder böse. Diese Medaillons sind für die Erinnerung, was die verkalkten Ka-

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Wolf, Christa: Kindheitsmuster. München 52000. Wolf (wie Anm. 39), S. 19. Benjamin, Walter: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, in: Gesammelte Schriften 4.1, hg. v. Tilman Rexroth. Frankfurt a. M. 1972, S. 235–304; hier: S. 302–304: ‚Das bucklichte Männlein‘. Wolf, Christa: Lesen und Schreiben, in: Dimension des Autors: Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche. 1959–1985. Ausgewählt von Angela Drescher. Darmstadt u. Neuwied 1987, S. 463–503. Vgl. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften 1.3, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1974, S. 691–704; hier: S. 702. Vgl. Growe, Ulrike: Erfinden und Erinnern: Typologische Untersuchungen zu Christa Wolfs Romanen ‚Kindheitsmuster‘, ‚Kein Ort. Nirgends‘ und ‚Kassandra‘. Würzburg 1988; siehe auch: Wilke, Sabine: Ausgraben und Erinnern. Zur Funktion von Geschichte, Subjekt und geschlechtlicher Identität in den Texten Christa Wolfs. Würzburg 1997.

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vernen für den Tuberkulosekranken, was die Vorurteile für die Moral: ehemals aktive, jetzt aber durch Einkapselung stillgelegte Lebensflecken.44

Die Metaphorik des Medaillons erinnert an das Bild von der „Monade“ bei Benjamin, ebenso wie die Kennzeichnung ‚stillgelegt‘ an die „Stillstellung des Geschehens“, freilich nun im negativ besetzten Sinn. Doch dürfen die grundsätzlichen Unterschiede nicht unterschlagen werden. War Benjamins Erkenntnisinteresse von einer messianisch-historischen Perspektive geleitet, so erstreckt sich die Erinnerungsarbeit von Christa Wolf vorwiegend auf eine autobiographische Dimension des Schreibens. Schließlich zeichnen sich die Medaillons nicht nur durch ihre verfilmbare Bildhaftigkeit aus, sondern ebenso durch ihre „Unterschrift“. Als Beispiel gibt Christa Wolf in Lesen und Schreiben folgende Szene aus ihrer Kindheitsgeschichte wieder: Auch ich habe meine Medaillons. Eines von ihnen, besonders handlich und glaubhaft, ist, genaugenommen, ein Stückchen Film. Zuerst muß die Kamera im Schlafzimmer meiner Eltern gestanden haben, anstelle des einen Nachttischs. Die Beleuchter haben Kilowatt gespart, früher Wintermorgen, Verdunkelung. Eine erregte Stimme aus dem Radio, das nebenan im Wohnzimmer steht, nennt das Datum, wir begreifen: letztes Kriegsjahr. Gepackte Koffer, Säcke, in die man Betten stopft, der Silberfuchs wird abschätzend in einer Hand gewogen und dann in den Schrank zurückgeschleudert, sinnlos gewordenes Symbol. Die Radiostimme aus dem Wohnzimmer empfiehlt eindringlich und gekränkt allen Zivilpersonen das Verlassen der Stadt: der Feind stehe vor den Toren. Gereizte Antreiberei durch die Erwachsenen.45

Die geschilderte Erinnerungs- und Medienszene illustriert die Verfilmbarkeit von Medaillons, der Christa Wolf die Forderung entgegenstellt: „Die Prosa sollte danach streben, unverfilmbar zu sein.“46 Mit Begriffen wie „subjektive Authentizität“47 oder „phantastische Genauigkeit“48 charakterisiert Wolf dabei ihr literarisches Programm. Gekennzeichnet werden kann die Schreibweise von Kindheitsmuster als eine imaginäre Archäologie, die versucht, Sichtweisen zu eröffnen, die sich nicht allein im öffentlichen Diskurs verorten lassen. Eine dokumentarische Schreibweise, wie sie vor allem in den sechziger Jahren propagiert wurde, ist von der Erzählerin nicht angestrebt. Vielmehr eröffnet der Text einen imaginären Raum, in dem sich die Erzählerin zu einer Rolle des Schreibens transformiert, wenn sie mit der Nelly-Figur ihrer Kindheit eine autofiktionale Komponente einführt. Wie vormals schon die Figur Christa T. in –––––––— 44 45 46 47 48

Wolf (wie Anm. 42), S. 478. Wolf (wie Anm. 42), S. 479. Vgl. Wolf (wie Anm. 42), S. 481. Vgl. Wolf, Christa: Subjektive Authentizität, Gespräch mit Hans Kaufmann, in: Wolf (wie Anm. 42), S. 773–805; hier: S. 780ff. Vgl. Wolf (wie Anm. 39), S. 345 u. Wolf (wie Anm. 42), S. 488. Vgl. Weber, HeinzDieter: ‚Phantastische Genauigkeit‘. Der historische Sinn der Schreibart Christa Wolfs, in: Erinnerte Zukunft. 11 Studien zum Werk Christa Wolfs, hg. v. Wolfram Mauser. Würzburg 1985, S. 81–105; hier: S. 84: Weber zeigt auf, wie sich der Begriff der „phantastischen Genauigkeit“ von Musils ‚Utopie des Essayismus‘ herschreibt, die er im 62. Kapitel seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften entwirft.

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Nachdenken über Christa T. wird die Nelly-Figur in Kindheitsmuster zum autofiktionalen Stellvertreter für eine autobiographische Subjektproblematik. Die imaginierten Szenen der Kindheit können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich zwischen der narrativen Verfügungsmacht der Erzählerin und der autofiktionalen Kinderfigur Nelly eine Kluft auftut, die in der Forschung zu sehr kritischen Bewertungen führte.49 Eine für die Thematik des Schreibens aufschlussreiche Beobachtung hat Michael Levine angestellt: This child, I would suggest, is also a figure of writing otherwise, of writing that bestirs itself independent of certain promptings in the lapses and syncopes of authorial control. It is therefore telling that the narrator usually begins to worry at those points in the novel where she seems to have too much control over the story she is telling.50

Versteht man die Nelly-Figur als „figure of writing“, dann wird deutlich, dass ihre literarische Figuration ebenso auf Simulakren des Schreibens beruht. Figurativ lesbar wird daher auch eine Schlüsselszene, wie sie bereits in Lesen und Schreiben51 als Beispiel für eine gelungene Form der Erinnerung angeführt wurde, und die auch in Kindheitsmuster an mehreren Stellen Erzählerin und Kinderfigur überblendet. Aus der Gesellschaft der Erwachsenen nimmt die Kinderfigur Zuflucht zu ihrem Versteck in einer Kartoffelfurche: Erst heute wunderst du dich, daß Nelly, die als neugierig verschrien war, nicht darauf bestand die Wahrheit zu erfahren. Sie setzte ‚ihr Gesicht‘ auf, doppelt bockig, weil Tante Emmy keine Notiz davon nahm, und zog sich zu ihrem Zufluchtsort zurück, um sich in ihr Buch aus der Schulbibliothek, vielleicht ‚Die Stoltenkamps und ihre Frauen‘ zu vergraben.52

Die „Kartoffelfurche“ dient als Rückzugsort, der aber im Unterschied zu der in Lesen und Schreiben beschriebenen Passage ebenso als Leseszene geschildert wird: Das Kind verbirgt sich hinter einem „Gesicht“, das im Volksmund ausgedrückt Ärger markiert, ebenso aber ihre Maske darstellt, die sie mit in die Kartoffelfurche nimmt. Das Maskenspiel des Textes ist dabei sehr hintergründig strukturiert. Schon die zur Hexe verkleidete Tante Emmy53 war in der kindlichen Logik als Maske und Person zugleich doppelt maskiert. Ist die Figur des autobiographischen Schreibens nach de Man in der Figuration der Prosopopöie begründet, so unternimmt es die Erzählerin, der Kinderfigur Nelly Gesichter und Stimmen zu verleihen, die sich immer wieder als unpassend erweisen, nicht zuletzt wegen der dominanten Position der Erzählerin selbst. Die Spur, die den Text durchzieht, ist dagegen eine materiell-körperliche Erinnerungsspur, die sich in der Kartoffelfurche als Versteck und als Schauplatz des Schreibens –––––––— 49

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Vgl. z. B. Ackrill, Ursula: Metafiktion und Ästhetik in Christa Wolfs ‚Nachdenken über Christa T.‘, ‚Kindheitsmuster‘ und ‚Sommerstück‘. Würzburg 2004, S. 60–121; hier: S. 103ff. Levine, Michael G.: Writing Anxiety: Christa Wolf’s ‚Kindheitsmuster‘, Diacritics 27(2) (1997), S. 106–123; hier: S. 109. Wolf (wie Anm. 42), S. 481. Wolf (wie Anm. 39), S. 89. Wolf (wie Anm. 39), S. 87.

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inszeniert: „in der Kartoffelfurche fand Nelly ihren Körperabdruck vor, eine Form, in die sie sich legte wie in einen Sarg“.54 In der Kartoffelfurche findet die Figur Nelly ähnlich wie in der Schrift des Textes einen Abdruck, der sie verbirgt und dem Leser zugleich zeigt. Andererseits korrespondiert die Ambivalenz von „Grab“ und „Form“ mit den Eingangsworten von Kindheitsmuster: „Das Vergangene ist nicht tot“.55 Die Figur Nelly als „figure of writing“ ist lesend ‚vergraben‘ in einem Buch und in der Furche, die die Schreibspur eines anderen Buches markiert, das Erinnerungsbuch Kindheitsmuster.

8. Didaktische Konsequenzen Die didaktischen Möglichkeiten des autobiographischen Schreibens wurden inzwischen vielseitig genutzt. Besonders Günter Waldmann hat anhand einer breiten Materialbasis gezeigt, wie Autobiografisches als literarisches Schreiben56 in didaktischen Kontexten umgesetzt werden kann. Die angeführten Textbeispiele von Elias Canetti, Thomas Bernhard und Christa Wolf lassen sich auch in dieser Hinsicht auswerten. So könnten Farben, Raum- oder Wegstrukturen oder ein Kinderversteck zum Erinnerungsanlass gewählt werden. Wesentlich verschieden von herkömmlichen Erinnerungskonzepten ist es allerdings, wenn man auch Verwerfungen, Trugbilder und Verfälschungen, die sich beim autobiographischen Schreiben einstellen, mit berücksichtigt. Daher gilt es, die Didaktik des autobiographischen Schreibens auf seine imaginäre Dimension hin zu öffnen. Es kann nicht mehr primär darum gehen, Authentizität zu erzeugen, sondern vielmehr soll die Ambivalenz von literarischen Erinnerungen berücksichtigt werden, wie sie sich im Schreiben inszenieren. Erinnerungen zu imaginieren, die mit Schreibspuren verbunden sind, kann daher auf die imaginäre Dimension ihrer Aufzeichnung aufmerksam machen. Im Unterschied zu vorliegenden Konzepten soll daher der Vorschlag gemacht werden, die Praxis, Metaphorik und Medialität des Schreibens stärker in den Darstellungsprozess von Erinnerungen einzubinden, wie es als literarische Möglichkeit an den Analysebeispielen vorgeführt wurde. Zunächst gilt es, Beobachtungen zum Schreibprozess in den Erzählverlauf zu integrieren. Der Schreibvorgang kann dabei eine eigene Handlungsebene bilden. In einem weiteren Schritt kann auch eine Schreibmetaphorik erprobt werden, die mit dem Erinnerungsprozess korrespondiert. Gewonnen ist somit eine höhere Reflexionsebene im imaginären Raum der Texte, die mehr leistet als das Erzählen von Lebensfakten.

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Wolf (wie Anm. 39), S. 92, vgl. auch S. 168. Wolf (wie Anm. 39), S. 9. Waldmann, Günter: Autobiografisches als literarisches Schreiben. Hohengehren 2000.

Jürgen Joachimsthaler

Die memoriale Differenz Erinnertes und sich erinnerndes Ich

Und manch liebe Schatten steigen auf; Gleich einer alten halbverklungnen Sage, Kommt erste Lieb’ und Freundschaft mit herauf; Der Schmerz wird neu, es wiederholt die Klage Des Lebens labyrinthisch irren Lauf.1

Erinnerung setzt eine Doppelung, eine Aufspaltung des Subjekts in erinnertes und sich erinnerndes Ich voraus. Die beiden stehen einander jedoch nicht als gleichberechtigte Größen gegenüber: Erinnerung ereignet sich im sich erinnernden Ich, das erinnerte ist teils passiv erlebte Heraufkunft,2 teils aktiv betriebene Re-Konstruktion des sich erinnernden. Wissen, Erfahrungen, Welt- und Selbstdeutung des sich erinnernden Ich bilden den Erinnerungshorizont, in den hereinerinnert, in den das erinnerte eingepasst wird, in den „manch liebe Schatten steigen auf“. Dabei verfügt das sich erinnernde Ich kaum je vollständig über die „verworren durcheinanderwirbelnden Erinnerungsbilder“,3 die da ‚aufsteigen‛ und aus denen es das erinnerte zusammensetzt. „[M]eist tanzen sie in wunderlichen Sprüngen wie Irrlichter, kreuz und quer, beleuchten auf einen Augenblick hier eine alte Haustüre, dort ein schwimmendes Stückchen Holz, hier ein wedelndes Hündchen, dort das Lächeln eines Menschenangesichts, das längst zu lächeln aufgehört hat.“4 Unter dem (erlebnisbedingten) Einfluss der Gehirnbotenstoffe Serotonin, Glutamat und Noradrenalin prägen sie sich je nach Situation unterschiedlich stark aus und unterschiedlich stark ins Denkzentrum ein.5 Als eigene neuronale Komplexe im Gehirn des sich Erinnernden sind sie zwar Be–––––––— 1 2

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Goethe, Johann Wolfgang: Zueignung, in: Faust. Texte, hg. v. Albrecht Schöne. Frankfurt a. M. 1999, S. 11. „Wie ihm ales zusammenfloß in dieser Nacht; es wurde hergeschwemmt, und er konnte sich nicht dagegen wehren.“ Lenz, Hermann: Verlassene Zimmer. Frankfurt a. M. 21979, S. 10. Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Übs. v. Eva Rechel-Mertens. 3 Bde. Frankfurt a. M. 2000, S. 14 [Erstausgabe 1913]. Eyth, Max: Die Brücke über die Ennobucht. (Berufstragik). Mit einem Nachwort v. Carl Heydt. Stuttgart 1957, S. 3. Zur − hier unmöglich vollständig wiedergebbaren − Diskussion um neurologische und kulturell indizierte Anteile an der Erinnerung vgl.: Markowitsch, Hans J. u. Harald Welzer: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart 2005 [Erstausgabe 1899].

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standteil desselben, altern und reifen, erkranken und werden verletzt mit ihm, bleiben aber dessen vollständiger, willkürlicher Verfügung entzogen. Mag auch das zurückblickende Bewusstsein sich reich fühlen an Erlebtem und Vergangenheit(en) „in campos et lata praetoria memoriae, ubi sunt thesauri innumerabilium imaginum“:6 Vor-Zeit bleibt widerständig, Erlebtes unterwirft sich nicht restlos seiner späteren Interpretation, Gewesenes muss oft wieder und wieder durchgegangen werden, weil es sich nicht fügen will in die Identitätsund Deutungsmuster des sich erinnernden Ich.7 Mit dem erinnerten Ich gestaltet das sich erinnernde ein mentales Abbild seiner selbst, das diese Lücken „in der unsicheren Stille des Niemandslandes“8 Erinnerung schließen soll und dabei dem rekonstruierenden Bewusstsein gegenüber doch autonom genug bleibt, um in Reibung mit ihm zu treten. Diese memoriale Differenz erweist sich als anthropologische Konstante. In unbeendbarer Auto-Reflexivität − Individualität beruht (auch) darauf9 − entwirft das sich erinnernde Ich seine Version des erinnerten immer wieder neu. „Erinnerungen halten alles ein, / was man sich je versprochen hat“10 – manchmal zumindest und solange man an ihnen arbeitet, sie sich zurechtzuformen versucht. Das erinnerte Ich kann ja nicht selbst auftreten, sondern muss vom sich erinnernden in einer Art fiktiven inneren Dialog vertreten werden. Jede Reflexion über die Bewertung der Gegenwart aus Sicht der Vergangenheit, jugendlicher Ideale, einst verinnerlichter Wertvorstellungen, Vorsätze, sich und anderen gegebener Versprechen, nicht genutzter Möglichkeiten, unerfüllter Lebenspläne etc. bleibt deshalb asymmetrisch: Der Gesprächspartner lässt für sich sprechen − ohne freilich je ganz in den Äußerungen aufzugehen, die ihm in den Mund gelegt werden. Als im Bewusstsein verankerte Ich-Figur, die sich nie völlig mit dem sich erinnernden Ich deckt, ist dieses erinnerte Ich ja nicht nur ein Produkt des sich erinnernden Ich, es steht als vom vorstellenden Ich partiell unabhängige Vorstellung einer früheren Inkarnation desselben mit ihm zugleich in einem steten Widerstreit um Grundlagen der personalen Identität und repräsentiert ihm sein ihm nächstes ‚Anderes‛. Notwendig bleibt Erinnerungsarbeit deshalb ein unabschließbares Projekt: Nie fügt Erinnerung sich vollständig dem plot, mit dessen Hilfe das sich erinnernde Ich sie sich zu runden versucht.11 Abgeschlossene, fertig gewordene, in einem endgültigen Bild erstarrte Erinnerung wäre denn auch gleichbedeutend mit dem Ende werdender, lebender Individualität: Das Ich hätte mit dem Ab–––––––— 6 7

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Augustinus: Confessiones X, 8, 12. Ein Beispiel haben untersucht Dzikowska, Elżbieta Katarzyna u. Jürgen Joachimsthaler: Blick-Wechsel: Deutsche und Polen zwischen Kriegsende und Vertreibung im Werk von Henryk Worcell, German Studies Review 29 (2006), S. 515–536. Lenz, Siegfried: Heimatmuseum. Roman. Stuttgart u. a. 1978, S. 696. Schacter, Daniel L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Übs. v. Heiner Kober. Reinbek b. Hamburg 2001. Benyoëtz, Elazar: Erinnerung, Die Zeit (7.2.2008), S. 52. „Die Erinnerung [...] widerspricht dem Gedächtnis, das sich pedantisch gibt und rechthaberisch.“ Grass, Günter: Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen 2006, S. 8.

Die memoriale Differenz

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schluss seiner Vergangenheit sein fertiges Bild von sich selbst, es hätte sein Werden eingestellt und wäre aus der fließenden Zeit herausgetreten. Versteint. Erinnertes und sich erinnerndes Ich stehen einander jedoch nicht nur als unterschiedliche Ich-Instanzen gegenüber: Das sich erinnernde Ich erinnert von einer Bewusstseinslage aus und in diese hinein, die, eingefügt in kulturelle und gesellschaftliche Deutungsgefüge, nicht die seine allein ist. Mit ihm steht dem erinnerten Ich ein dichtes Netzwerk hegemonialer Semantiken, Begrifflichkeiten, Sinngebungsversuche, Bewertungsmuster und Wertvorstellungen gegenüber. Eine ganze Gesellschaft und Kultur. Das sich erinnernde Ich gehört einem Kommunikationsraum an, in dem das erinnerte Ich, indem es in ihn hereinerinnert wird, zwangsläufig vorgeführt wird wie ein exotisches Wesen, über das man reflektieren mag, empfinden, staunen, sich unterhalten12 − nicht umsonst gibt Jean Paul seiner autobiographischen „Selberlebensbeschreibung“ die Form einer Vorlesung, in der der Autor als „Professor der Selbergeschichte“13 sich an die Zuhörer (und Leser) wendet. Er bildet mit seinem Pulikum eine Kommunikations-, Lern- und Interessengemeinschaft, in der das erinnerte Ich nicht nur die Vergangenheit des Vorlesers repräsentiert, sondern auch der Gemeinschaft aus Erzähler und Rezipienten deren objekthaft ‚Anderes‛ und ihnen gar als die „geistige[] Kraft eines frühen Bewußtseins gleichsam eine Unabhängigkeit vom verächtlichen kleinen Menschkörperchen“14 verspricht. Das erinnerte Ich wird denn auch immer gerne dazu genutzt, Erinnerungsrahmen, Erinnerungszeitpunkt und -ort zu transzendieren und jedem ‚Jetzt‛ ein ‚Nicht-Hier‛, ein durch Authentizität beglaubigtes ‚Damals‛ und ‚Anderswo‛ entgegenzusetzen. Die memoriale Differenz wird dann zum augenblicksimmanenten Entwurf biographischer oder gar kultureller Gegen-Bilder, die in binäre Opposition zum Hier und Jetzt des sich erinnernden Ich treten. Sie setzt dem Erinnerungsrahmen, wo er als „Welt der Erwachsenen“ fungiert, die Utopie (oder den Schrecken) ‚Kindheit‛ entgegen, dort, wo er als ‚Kultur‛ begriffen wird, ‚Natur‛, und dort, wo er als ‚Diesseits‛ erscheint, Reminiszenzen an „das sich hier ansammelnde / Jenseits“,15 an ein ‚Vorher‛, das womöglich gar vor aller Zeit und Kultur anzusiedeln ist. „Und da war nichts im Anfang. Und war doch wie ein Loch. Ein Was wie ein Urloch, was es war.“16 Die Distanz zwischen Erinnerungsrahmen und erinnertem Ich ist deshalb nie nur die eines in Jahren zählbaren biographischen Altersunterschieds allein. Sie beschreibt die Kluft zwischen ‚Jetzt‛ und einem unzugänglich gewordenen ‚Anderen‛, das als (einstiges) Eigenstes zugleich alles (jetzt) Eigene verunsi–––––––— 12

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Während der Podiumsdiskussion „Gedächtnis und kultureller Wandel – ein Thema für die schulische Bildung?“ auf dem Germanistentag bin ich einige Stunden nach diesem Vortrag aus dem Publikum heraus von einer Lehrerin gefragt worden, wie man die Erinnerungen von Schülern bewerten könne. Jean Paul: Selberlebensbeschreibung, in: Sämtliche Werke I/6, hg. v. Norbert Miller. Frankfurt a. M. 1996, S. 1037–1103; hier: S. 1050. Jean Paul (wie Anm. 13), S. 1048. Elazar Benyoëtz: Erinnerung, Die Zeit (7.2.2008), S. 52. Fritsch, Werner: Cherubim. Frankfurt a. M. 1989, S. 9.

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chert und gerade aufgrund seiner Unbeherrschbarkeit bereichert um assoziationsreich fluktuierende Stör-, Befreiungs- und Entgrenzungs-Bilder aus anderer Zeit, die das Bewusstsein aus jedem gerade gegenwärtigen Zustand heraus entrücken in die (jeweils gegenwärtige) Einsicht, nie nur das gewesen zu sein, was man im jeweils aktuellen ‚Jetzt‛ gerade sein muss oder sein darf. Das Ich ist als sich erinnerndes mehr als seine nur augenblickliche Konkretisation, Erinnerung gewährt innere Distanz, die das Subjekt freisetzt und innerlich unabhängig macht von jeder äußerlichen Situation, in der es, ist diese memoriale Differenz einmal aufgetan in ihm, nie mehr völlig wird aufgehen können. Systematische Erinnerungslöschung und -formung gehören nicht umsonst zu den Schreckensbildern, mit denen in Büchern und Filmen totalitäre Systeme imaginiert werden: Keine Differenz soll dort zwischen dem Individuum und seiner ihm zugemuteten sozialen Rolle bestehen. So zumindest die in diese Phantasien projizierte Angst des Individuums um seine auf memorialer Differenz beruhende personale Identität. Diese memoriale Differenz, die Individuen konstituiert (und auch zum Selbstbild ganzer kultureller Gruppen, Ethnien, Religionen oder Nationen gehören kann − sofern dort zumindest dem ‚Jetzt‛ ein besseres oder schlechteres, ein auf jeden Fall intensiveres17 ‚Vorher‛ als für das jeweilige Kollektiv identitätsbegründend entgegengestellt wird18), wird in autobiographischen Darstellungen, aber auch in Literatur und in mythisierend an Kollektivsubjekte sich wendender Geschichtsschreibung gerne zurückgeführt auf eine Schwellenerfahrung, einen Sündenfall oder eine Befreiung aus falschen Paradiesen, einen der Erinnerungsgemeinde des Erinnerungsrahmens gemeinsamen Reifungs- und Sozialisierungsvorgang, auf historische Schuld oder eine Semiosphären19 erschütternde Katastrophe, deren Opfer man wurde, auf eine Bekehrung, den Übertritt zu einer neuen Konfession oder politischen Überzeugung, auf Initiation oder Einweihung. Nicht die Jahre zählen dabei, die vergangen sind, sondern die Intensität des Bruches, der das ‚Jetzt‛ als ein ‚Nachher‛ von seinem unzugänglich gewordenen (und doch noch oft wiedergängerisch durch die Gegenwart spukenden) ‚Vorher‛ trennt. Je größer die Brüche, auf die die memoriale Differenz zurückgeführt wird, je mehr das sich erinnernde Ich vor sich selbst zu erklären hat, je mehr es hinter sich gelassen hat, was ihm einst als unhinterfragt selbstverständlich, vielleicht gar als ‚Natur‛ erschien, je mehr es in Akten des freiwilligen oder erzwungenen Abschieds Verantwortung für sich selbst und ein neuartiges Leben übernehmen musste oder durfte, desto mehr wird ihm seine Vergangenheit, das, was (es) einmal war, das erinnerte Ich, zu Rätsel und Problem. Es beginnt, sich sein –––––––— 17

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„Damals waren die Sommer heißer, die Herbste melancholischer, die Winter kälteklirrender.“ Bienek, Horst: Birken und Hochöfen. Eine Kindheit in Oberschlesien. Gütersloh 1999, S. 21. Vgl. etwa Yerushalmi, Yosef Hayim: Zachor. Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Übs. v. Wolfgang Heuss. Berlin 1996. Der Begriff „Semiosphäre“ stammt von. Lotmann, Jurij M: Über die Semiosphäre, Zeitschrift für Semiotik 12 (1990), S. 287–305.

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Leben zu erklären, Kontinuitäten zu konstruieren oder Brüche zu pointieren. Schreibprozesse, biographische Projekte, Selberlebensbeschreibungen, Geschichtsschreibung, Versuche, das, was man einmal war, das, was man nun sehnsüchtig vermisst oder nie gewesen sein will, deutend einzufangen, sich selbst in Beziehung zu setzen zu dem, was unvermutet immer wieder durch das Bewusstsein irrt − all die immer wieder neu begonnenen, immer wieder anders erzählten endlosen Narrationen visionärer Traditionssammler und (post)moderner Identitätsbastler mit ihren Patchwork-Biographien20 ergeben sich logisch daraus. Das sich erinnernde Ich entfernt sich freilich mit seiner Erinnerungsarbeit, mit dem angestrengten Haschen nach dem scheu Enthuschenden, das nur in ungestörter Freiheit durch die Imagination zu gleiten vermag, oft nur immer weiter von dem, was es auf diese Weise vergeblich einzufangen versucht. Es müht sich von sich hinfort und entgleitet sich, indem es sich sucht − und löst damit oft nur noch verstärkte Erinnerungswerkelei aus, vertreibt sich (als erinnertes) damit aber immer nur noch weiter vor sich selbst (als sich erinnerndes). Diese Aporie fungiert als einer der Hauptantriebe sich erinnernden Schreibens in einer Moderne, die Ortswechsel, Veränderungen, Diskontinuitäten, Umorientierungen, Neuanfänge, stete Umwertungen individueller und kollektiver Lebensentwürfe zu bewältigen hat und nicht aufhören kann, jeder Gegenwart ihre rasch sich ändernden Vergangenheiten immer wieder neu zuzuordnen. Man sucht sich und schreibt und schreibt und sieht den Gegenstand seines Schreibens dem einmal niedergeschriebenen Wort sofort wieder entfleuchen und muss deshalb weiterarbeiten, weiterschreiben. Solches Schreiben ist Identitätsarbeit. Ihr wieder und wieder neu entworfenes, ihr nie zur Vollendung gelangendes Ergebnis ist die Kunstfigur des erinnerten, des geschriebenen Ich. Selten gehen erinnerungspsychologisch anthropologische und narrativliterarische Strukturen so nahtlos ineinander über wie im Fall von Erinnerung und Erinnerungstexten: Die Spannung zwischen sich erinnerndem und erinnertem Ich wiederholt sich beim Schreiben in Binnenerzählungen, Ich-Texturen, narrativen Rahmenkonstruktionen im oft komplizierten Verhältnis zwischen erzählendem und erzähltem Ich, sich selbst erzählender und von sich selbst erzählter Figur. Ich-Instanzen gleichen Text-Instanzen. Was biographisch ein Identität provozierendes, produktives Problem ist, wird literarisch zu narrativer Technik, dem jeweils anderen Umgang einer Figur mit einem von ihr selbst erzählten Erinnerungsbild, das zwar Produkt der erzählenden Figur ist, von ihr gesprochen oder geschrieben wird, aber dennoch nie restlos (zumindest nicht gegen die der erzählten Figur immanente Figurenlogik) von ihr beherrscht werden kann − und dabei doch nichts anderes ist als ihre Vorstellung eines früheren Aggregatzustands ihrer selbst. –––––––— 20

Vgl. Keupp, Heiner, Thomas Ahbe, Wolfgang Gmühr, Renate Höfer, Beate Mitzscherlich, Wolfgang Kraus u. Florian Strauss: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek bei Hamburg 1999.

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Ob nun innerliterarisch fiktiver oder außerliterarisch realer Erinnerungsakt: Immer bestimmt der Erinnerungsrahmen, die Erinnerungsumgebung des sich erinnernden Ich mit ihren weltanschaulichen, politischen, sozialen und kulturellen Wertungsvorgaben mit darüber, wie das sich erinnernde und erzählende Ich die Differenz zum erinnerten oder erzählten gestaltet, ob es dieses z. B. zu rechtfertigen versucht oder zu verurteilen, zu verklären oder zu bemitleiden, es zu verstehen oder der Freude darüber Ausdruck zu verleihen, selbst nicht (mehr) gefangen sein zu müssen in den Herkunftsverhältnissen, die das erinnerte oder erzählte Ich einst so bedrückten. Das erzählende Ich ist in aller Regel viel älter als das erlebende Ich, denn es blickt meistens auf seine Lebensgeschichte zurück, oft genug im Alter, und hat zu vielen Phänomenen des Daseins eine ganz andere Meinung als ehemals, da er als junger Kerl durch die Welt reiste.21

Das sich erinnernde Ich kann sich im Akt der Erinnerung völlig von seinem Leben distanzieren − „Wenn ich noch einmal zur Welt käme, eine Bäuerin würde ich nicht mehr werden.“22 − oder gar jede Identität mit dem erinnerten Ich leugnen: „Ich bin nicht Stiller!“23 Das sich erzählende Ich kann das erzählte aber auch nutzen, um in ihm einer verlorenen Zeit, einer glücklichen Kindheit, einem besseren „Früher“ zu begegnen oder gar einen kindlich unvoreingenommenen Verbündeten zu finden gegen Zumutungen der Gegenwart. Das geschriebene Ich als auf Papier Gestalt gewinnende Figur wird dabei vom (sich) schreibenden Ich über die blinden Flecken der Selbstwahrnehmung geschrieben: Muss jeder Versuch der Selbsterkenntnis in autoreferentiellen Selbstwiderspruchsschleifen enden,24 so gewährt die narrative Fixierung erzählter oder erinnerter Ich-Figuren zumindest das Bild einer in sich abgeschlossenen vergangenen Ich-Heit. Weil vollständige Selbstbeobachtung unmöglich ist, tritt Narration an ihre Stelle, die es zudem erlaubt, von einem Erzählstandpunkt aus das Gewesene auf den Erinnerungsrahmen hin zu konturieren. „Das in der Erinnerung verbliebene Damals benötigt die Zugabe der Erfahrung des Erzählenden, wenn es ein heute Erlebbares sein soll.“25 Jedoch auch das geschriebene, das erinnerte, das erzählte Ich, „selten eindeutig“,26 gewährt dem auktorialen nie wirklich die Sicherheit einer stabilen Ich-Figur und fordert immer neue Versuche heraus, es in „Geschichten ein[zufangen], in denen es tatsächlicher als im

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Petersen, Jürgen H.: Faustus lesen. Eine Streitschrift über Thomas Manns späten Roman. Würzburg 2007, S. 71. Wimschneider, Anna: Herbstmilch. Lebenserinnerungen einer Bäuerin. München u. Zürich 52 1990, S. 152. Frisch, Max: Stiller. Roman. Frankfurt a. M. 1973, S. 9. Luhmann, Niklas: Sthenographie und Euryalistik, in: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. Ludwig K. Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1991, S. 58–82. Brězan, Jurij: Mein Stück Zeit. Berlin 2000, S. 20f. Grass (wie Anm. 11), S. 9.

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Leben zugeht,“27 es zu einer festen Gestalt zu stabilisieren, mit der sich umgehen lässt. Dass Fiktion Bestandteil von Erinnerung ist, ist deshalb unvermeidlich: Das schreibende Ich kann das geschriebene nur um den Preis schreiben, mit Worten auszuhelfen, wo Erinnerung schweigend sich entzieht und erst nach Beendigung der Niederschrift wieder spricht − ganz abgesehen davon, dass Erzähl- und Schreibvorgänge innerhalb des Erinnerungsrahmens mit seinen Erinnerungsvorgaben ihre eigene Logik, ihren eigenen suggestiven Sog entwickeln können, der auch das auktoriale Ich zu verführen und zumindest zeitweise mitzureißen vermag. Selbst Sigmund Freud erklärt, die vom Psychoanalytiker (der ja für den Patienten die bewusstseinsanaloge Rolle der auktorialen Instanz oberhalb bruchstückhaft aus dem Unbewussten sprechender Erinnerungen übernimmt) in der Therapie re-konstruierte Erinnerung sei von zweifelhaftem Wirklichkeitswert − was aber ihrem therapeutischem Wert keinen Abbruch tue: Anstatt dessen erreicht man bei ihm [dem Patienten] durch korrekte Ausführung der Analyse eine sichere Überzeugung von der Wahrheit der Konstruktion, die therapeutisch dasselbe leistet wie eine wiedergewonnene Erinnerung.28

Das erinnerte, „mein behauptetes, doch immer wieder im fiktionalen Gestrüpp verschwindendes Ich“29 ist eine Figur, mit deren Hilfe das sich erinnernde versucht, sich in den Erinnerungsrahmen einzupassen − und das als im Spannungsfeld zwischen diffuser Erinnerung und von außen her unterstützendem oder drückendem, Erinnerung konturierendem Erinnerungsrahmen (womöglich auch gegen diesen) Orientierung gewährende Figur genug Eigenleben gewinnen kann, um schließlich sogar den Erinnerungsvorgang im erinnernden Ich so zu beeinflussen, dass sich am Ende oft nicht mehr feststellen lässt, „wer wem was in den Mund gelegt hat, wer genauer lügt, Oskar oder ich, wem man am Ende glauben soll, was hier wie da fehlt und wer wem die Feder geführt hat.“30 Erinnertes und sich erinnerndes, erzähltes und erzählendes Ich befinden sich trotz der strukturellen Überlegenheit des gegenwärtigen, des sich erinnernden und das erinnerte erst hervorbringenden Ich in steter Konkurrenz. „Oskar besteht auf Vortritt, weiß alles besser und verlacht meine löchrige Erinnerung“.31 Das erinnerte Ich repräsentiert im sich erinnernden für dieses gegen dieses die Unbeherrschbarkeit nicht im Hier und Jetzt aufgehender, nicht dem Augenblicks–––––––— 27 28

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Grass (wie Anm. 11), S. 11. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke XVI, hg. von Anna Freud u. a. Frankfurt a. M. 1999, S. 53. Die Folgen solcher therapeutisch ‚gewonnener‛ Erinnerung können fatal sein, vgl.: Loftus, Elizabeth F. u. Katherine Ketcham: Die therapierte Erinnerung. Vom Mythos der Verdrängung bei Anklagen wegen sexuellen Missbrauchs. Übs. v. Karin Diemerling. Hamburg 1995; Reuter, Elisabeth: Gehirn-Wäsche. Macht und Willkür in der „Systemischen Psychotherapie“ nach Bert Hellinger. Berlin 2004; Knecht, Thomas: „Recovered“ oder „False Memories”? Pseudoerinnerung an sexuellen Missbrauch als Produkte therapeutischer Suggestion? Kriminalistik 60 (2006), S. 234–239. Grass (wie Anm. 11), S. 39. Grass (wie Anm. 11), S. 312. Grass (wie Anm. 11), S. 353.

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Bewusstsein sich unterwerfender widerständiger Ich-Momente, Assoziationen, gleitender Bilder und Anmutungen. Es gibt keine mit dem Maßstab des Wirklichkeitsbezuges messbare objektive Distanz zwischen gewesener Wirklichkeit und sich erinnernder ReKonstruktion, kein Maß für fiktionale Abweichung. Zwar ziehen Autobiographen nicht selten äußere Quellen zu Rate und gestalten die vergangene Person, die sie beschreiben wollen, nicht nur mit Hilfe dessen, woran sie sich erinnern, sondern auch mit Hilfe externer Quellen, Zeugnisse, Unterlagen, Photographien, Augenzeugenberichte und Erinnerungen Zweiter und Dritter.32 Der Erinnerungsrahmen färbt dabei mit seinen jeweiligen Objektivitätsvorstellungen auf das erinnerte Ich ab − und ermöglicht ihm schließlich sogar die Autosuggestion, selbst angelesene fremde Erinnerung sei eine (begehrte) eigene. Erinnerung ist ja als ein Akt der Imagination von frei assoziierender Fiktion nicht immer klar zu unterscheiden: Die Bilder fluktuieren und durchdringen einander. Weil Erfindung, weil Fiktion ohnehin nur möglich ist als Kombination aus Momenten, die bereits bekannt (und sei es in Traum oder Erfindung), durchlebt und erfahren sind, setzen all diese das Bewusstsein durchwabernden Vorstellungen, Reminiszenzen, Halb- und Viertelträume sich aus ohnehin bereits Bekanntem zusammen und wirken so selbstverständlich vertraut und „erinnert“, wie selbst noch der phantastischste Traum. Es mag objektiv „falsche Erinnerungen“33 geben, aber, handelt es sich tatsächlich um assoziativ durch die Erinnerung Geisterndes und nicht um taktisch und überlegt Erfundenes, keine subjektiv falschen. Deshalb ist Erinnerung manipulierbar. Die Offenheit des Imaginationsschatzes für von Außen an ihn Herangetragenes erlaubt oft keine Filterung, keine Unterscheidung der Bilder nach ihrer Herkunft. Optische Anregungen, in Medien und Propaganda geschickt verbreitete Schlüsselreize, kombiniert mit Erinnerung auslösenden Begriffen wie ‚damals‛, ‚daheim‛, ‚als alles vertrauter war‛, die in ihrer Ungenauigkeit dafür offen sind, von den Rezipienten mit ihren jeweils eigenen Assoziationen aufgefüllt zu werden, ermöglichen es daran Interessierten, Erinnerung zugleich zu stimulieren und zu simulieren, zu vermischen mit wie selbstverständlich zu den derart assoziativ aufgerufenen Reminiszenzen passenden Bildern und Erinnerung so kollektiv zu formen. Gemeinsame Vergangenheit wird durch die Beschwörung individuelle Erinnerung auslösender Worte (‚Sonne‘, ‚Haus‘, ‚Fluss‘) als kollektives Erlebnis initiiert und dann bereichert um unmerklich eingeschleuste Zusätze, ‚Hystorien‘, massensuggestiv verbreitete Erinnerungsmoden, die zahlreichen Menschen mit ähnlichen − und oft gruppentherapeutisch gestützten − (Ersatz-)Erinnerungen in eine Schicksalsgemeinschaft sich einzureihen erlauben, markieren massenmedial geformte Erinnerungsrahmen, innerhalb derer identifikatorisch rezipierte Leidensge–––––––— 32 33

Vgl. Kelletat, Andreas F.: Stichwörter. Aus einem Zettelkasten zu Manfred Peter Heins Prosabuch Fluchtfährte. Regensburg 1999, S. 40. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 265–278.

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schichten Anderer als ‚selbsterlebt‛ eigene konsumiert werden können34 − von der Möglichkeit gezielter fremdinduzierter Erinnerung ganz abgesehen.35 Dies gilt für den um die Möglichkeit der Zugehörigkeit zu einer solchen Gemeinschaft (der er nicht angehörte) bestrebten „Fall Wilkomirski“36 ebenso wie für die Welle der Erinnerungen an Kindesmissbrauch während der achtziger und frühen neunziger Jahre37 oder die nur scheinbar individuellen Erinnerungen der Mitglieder identitätspolitisch überformter Erinnerungerungskollektive wie der organisierten deutschen Vertriebenen38, die in Akten produktiver Kofabulation oft mit großer Identifikationsbereitschaft reproduzieren, was in den jeweiligen Kollektiven als „kommunikatives Gedächtnis“39 verbreitet wird. Angelesenes, Gehörtes oder Gesehenes wird adaptiert, all „das bunte gerede des An- / erlebten“,40 und als Anempfundenes der eigenen Lebensgeschiche subjektiv oft sogar ehrlich hinzugefügt (man hat ja zumindest in der Rezeption wirklich ‚erlebt‛). Erinnerung besteht so nicht selten aus angeeigneter Erinnerungsvorgabe. Ich schrieb meine erste wirkliche Erzählung: Wie die alte Jantschowa mit der Obrigkeit kämpfte, übersetzte sie ins Deutsche, und eine Zeitschrift veröffentlichte sie. Das hatte Unerwartetes zur Folge. Ich schenkte das Heft der alten Gutsarbeiterin, die uns manches Mal bei der Feldarbeit ausgeholfen hatte und oft winters auf unserer Ofenbank gesessen hatte, die ich also mein Leben lang kannte. Sie las es und rannte damit im Dorf herum, stolz, weil da über sie geschrieben war, und empört, weil ich lauter Lügengeschichten über sie verbreite. Meine ‚Lügengeschichten‛ machten sie zu einer kleinen Berühmtheit, und da Berühmte immer wieder über sich und ihr Leben berichten müssen, tat das auch die alte Jantschowa. Anfangs erzählte sie, wie es wirklich war in ihren siebzig Jahren Leben, am Ende aber so, wie ich es auf siebzig Seiten zusammengefaßt hatte − meine Lügen waren ihre Wahrheit geworden.41

Doch selbst wenn sie sich vollständig herstellen ließe: Was hälfe alle Objektivität, wenn ihr die eigenwillige Erinnerung widerspricht? In der Einleitung zu seiner Autobiographie The Motion of Light in Water unterscheidet Samuel R. –––––––— 34 35 36

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Showalter, Elaine: Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien. Übs. v. Anke Caroline Burger. Berlin 1997. Erdmann, Katja: Induktion von Pseudoerinnerungen bei Kindern. Möglichkeiten und Grenzen aussagepsychologischer Diagnostik bei suggerierten Aussagen. Regensburg 2001. Wilkomirski, Binjamin: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948. Frankfurt a. M. 1995; vgl. dazu Mächler, Stefan: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biografie. Zürich 2000; Diekmann, Irene u. Julius H. Schoeps (Hgg.): Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, ein Opfer zu sein. München 2002. Vgl. dazu die Literaturangaben in Anm. 28. Vgl. Joachimsthaler, Jürgen: Die Semantik der Erinnerung. Verlorene Heimat – mythisierte Landschaften, in: Landschaften der Erinnerung. Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht, hg. v. Elke Mehnert, Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 188–227. Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2005, insbesondere S. 185–198. Celan, Paul: Weggebeitzt, in: Atemwende, in: Gesammelte Werke in fünf Bänden 2. Gedichte II, hg. v. Beda Allemann u. Stefan Reichert. Frankfurt a. M. 1986, S. 7–108; hier: S. 31. Brězan, Jurij: Ohne Paß und Zoll. Aus meinem Schreiberleben. Leipzig 1999, S. 23.

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Delany zwischen erinnertem und tatsächlichem Ereignis, die er einander in Form zweier nicht miteinander vereinbarer Sätze gegenüberstellt: „My father died of lung cancer in 1958 when I was seventeen.“ „My father died of lung cancer in 1960 when I was eighteen.“ The first is incorrect, the second correct. [...] Now a biography or a memoir that contained only the first sentence would be incorrect. But one that omitted it [...] would be incomplete.42

Über eine seiner ‚autobiographisch‛ fundierten Figuren heißt es: „Erinnerungen verblaßten mit der Zeit und füllten sich aus lauter Langeweile mit Phantasie und Selbstüberschätzung“,43 sie löst sich schließlich als Objekt sich verbreitender Gerüchte auf in „verschiedene[] Versionen“,44 „ein System einander in höchstem Grad widersprechender Möglichkeiten und enorm beunruhigender Fakten.“45 Erinnerung erinnert ohne zu unterscheiden zwischen ‚falsch‛ und ‚richtig‛. Dies ist auch nicht ihre Aufgabe. Sie stellt dem Individuum subjektiv als seine eigenen akzeptierte Bilder für den Aufbau eigener Vergangenheit zur Verfügung. Die Gehirnbotenstoffe Serotonin, Glutamat und Noradrenalin markieren die Intensität eines Erlebens, nicht aber seine ‚Echtheit‛ − sie unterscheiden nicht zwischen Traum und Wirklichkeit, Bild und Realität, Lektüre und außerliterarischem Geschehen. Wenn der Erinnerungsrahmen, in den hereinerinnert wird, für jene ‚Kultur‛ steht, von der aus wir mit der Erinnerung an ein vorkulturelles ‚Vorher‛ nach jenem anthropologisch ‚Anderen‛ suchen, das die außerkulturell ‚natürliche‛ Grundlage der Kultur bilden soll, ihre unverfälschte Wirklichkeit sozusagen, dann haben wir keinen Zugang zu diesem ‚Außerhalb‛. Wir können den Kultur-Text nicht verlassen, dessen Bestandteil wir sind und nur durch ihn hindurch und durch ihn geformt wahrnehmen. Selbst ‚Serotonin‛, ‚Glutamat‛ und ‚Noradrenalin‛ sind innerkulturelle Bezeichnungen innerhalb des Erinnerungsrahmens und Produkte der Arbeit an ihm. Anthropologie ist ein innerkultureller Traum von Außerkulturellem. Wir dürfen ihn träumen, aber wir können von ihm jene Gewissheit über gegen-kulturell stabile Grundlagen unserer Existenz nicht einfordern, die wir in und von ihm ersehnen. Keine Kritik kann Erinnerung davor schützen, manipuliert worden zu sein (Assoziationen werden assoziiert, selbst wenn man um ihre ‚Falschheit‛ − aber was heißt das? − weiß), ihre befreiende Stärke liegt gerade im Gegenteil in ihrer Ambivalenz, ihrer systematischen Ungenauigkeit und Unbeherrschbarkeit, der Unberechenbarkeit, mit der Bilder plötzlich durch die Imagination vagieren können. Die Offenheit des Imaginationsschatzes lässt zwar Induktion von selbst –––––––— 42

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Delany, Samuel R.: The Motion of Light in Water. East Village Sex and Science Fiction Writing: 1960–1965. London, Glasgow, Toronto, Sydney, Auckland 1993, S. XXII; zu Delany vgl. auch Joachimsthaler, Jürgen: „the spaces between the columns“. Die Text-Räume und Raum-Texte des Samuel R. Delany, Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 55 (2007), S. 395–416. Delany, Samuel R.: Flucht aus Nimmerya. Übs. v. Michael Nagula. Bergisch-Gladbach 1988, S. 29. Delany, Nimmerya (wie Anm. 43), S. 23. Delany, Nimmerya (wie Anm. 43), S. 26.

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nicht real Erlebtem zu, aber jedem Versuch, sie zu festen Bildern zu stabilisieren − und damit auch jeder Manipulation − vermag sie immer neue GegenBilder entgegenzuassoziieren. Je fester die Ich-Heit zu werden droht, desto mehr destabilisieren sie ihre eigenen Assoziationen. Die Manipulierbarkeit der Erinnerung ist so zugleich die Grundlage ihrer Nicht-Manipulierbarkeit (solange man sich nicht zu festen Bildern zu versteifen sucht). Zur Widerständigkeit von Erinnerung gehört ja, dass diese sich nicht manifestiert in unwidersprechbar festgefügter Objektivität, sondern flüssig bleibt, scheu, beweglich, dass sie oft selbst dort noch widerspricht, wo das sich erinnernde Ich jeden Indizien-Prozess gegen seine eigenen Erinnerungen gewinnen könnte. Erinnerung entweicht vor jedem zu starkem Zugriff, um dann an bereits fertiggestellten Erinnerungsgebäuden, festgeschriebenen Bildern, die das sich erinnernde Ich sich vom erinnerten macht, subversiv zu graben und zu bohren und sie von unten, aus der Tiefe des Unbewussten, aus einem Unbehagen der geltenden Wirklichkeit gegenüber heraus zu destabilisieren. Es geht ihr dabei nicht prinzipiell um Wahrheit (dann bräuchten wir kein Vergessen), sondern um Alterität, um Einspruch, um ein Anders-Sein allen Versuchen des sich erinnernden Ich gegenüber, es als eine nun hoffentlich endlich einmal unveränderlich feste und sichere Gestalt in den Erinnerungsrahmen einzumauern. Das sich erinnernde Ich sucht Stabilität, das erinnerte fluktuierende Gegen-Bilder gegen das, was sich als ‚Ich‛ gerade zu festigen sucht. Die Stärke literarischer Fiktion beruht nun gerade darauf, literarische Bewältigungs- und Verknüpfungsarbeit versuchen zu können, ohne Wirklichkeitsansprüche zu erheben. Das entworfene Bild eines fiktional erzählten Ich existiert unabhängig von seiner referentiellen Richtigkeit − und bedarf zudem keiner übermäßigen Ich-Stabilität. In Narration sind ja verschiedene, sind prinzipiell endlos viele voneinander abweichende Variationen Desselben nebeneinander und gleichzeitig möglich, das fluktuierende Ich faltet sich auf in eine tendenziell unbegrenzte Anzahl gleichberechtigter Manifestationen seiner selbst, die dann etwa in Form unterschiedlicher Gestalten miteinander, gegeneinander oder auch voneinander isoliert ohne einander den literarischen Kosmos durchflirren können. Es geht dort nicht mehr um Wirklichkeit, es geht um Entfaltung durch die Imagination gleitender Möglichkeiten desselben Ich und seiner Unendlichkeiten. Diese Freiheit erklärt auch die Vielzahl literarischer Werke, von denen es heißt, sie wären ‚autobiographisch inspiriert‛ − also weder vollständig autobiographisch noch nicht-autobiographisch. Wahrheitskriterien können nicht mehr zu ihrer Beurteilung herangezogen werden. Sie interessieren nicht. Erinnerung folgt ja ohnehin nicht den Gesetzen der Wahrheit, sondern denen der Imagination (und Narration). Ganz unabhängig von der Frage nach der Zuverlässigkeit der Erinnerung ist selbst keine mit Realitätsanspruch geschriebene Autobiographie ohne Rundung,46 Stilisierung und fiktionale Momente möglich. Erinnerung –––––––— 46

„Später habe ich mir einige Situationen, denen nur mit Hilfe glückhafter Zufälle zu entkommen war, so lange in Erinnerung gerufen, bis sie sich zu Geschichten rundeten, die im

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verwandelt sich, indem sie erzählt wird, in Erzählung − und ist anders als in Form der Erzählung nicht mehr mitteilbar und ohne diese oft nicht einmal dem sich erinnernden Subjekt selbst greifbar. Die dazu nötige narrative Gestaltung gehorcht weniger den Gesetzen referentieller Wirklichkeitswiedergabe als ästhetischen und rhetorischen Prinzipien wie innerer Folgerichtigkeit, Nachvollziehbarkeit, stilistischer Eleganz und Wirkung. Hinzu kommt noch, daß nur Erinnerungen, die immer wieder ins Gedächtnis zurückgerufen werden, und das geschieht oft, um sie anderen zu erzählen, erhalten und präsent bleiben. Zu der ursprünglichen Erinnerung kommt häufig noch die Erinnerung an die Situation, in der sie erzählt wurde, hinzu. [...] Wird eine Geschichte mehrmals erzählt, verändert sie sich je nach der Situation und dem Zeitpunkt, zu dem dies geschieht. Dabei können sich im Laufe der Zeit festgefügte anekdotische Muster entwickeln, bis die Episode in der Form erstarrt, mit der der Erzähler bei seinem Publikum den größten Erfolg erzielt.47

Es gibt denn auch keinen Unterschied zwischen den Gesetzmäßigkeiten des Erzählens und darstellenden Sich-Erinnerns. Einerseits ist ja keine Verwendung von Wörtern oder Zeichen möglich, mit denen sich − und seien sie noch so phantastisch, in anderen Galaxien oder Dimensionen angesiedelt − nicht eine Bedeutungsvorstellung verbände, die letztlich nur aus dem individuellen (autobiographischen) Wissens- und Erfahrungsschatz dessen kommen kann, der solche Bezeichnungen verwendet.48 Deshalb kann man mit Michaela Holdenried „davon ausgehen, dass [...] jedes literarische Werk autobiographisch ist bzw. autobiographische Anteile hat“,49 während andererseits und umgekehrt Erinnerung als ein Akt der Imagination Fiktion nicht nur nahe steht, sondern sie auch gezielt nutzen kann zur Verdeutlichung eines nur für das ‚Jetzt‛ relevanten ‚Damals‛ (dessen Realitätsgehalt für dieses ‚Jetzt‛ gleichgültig ist), das zudem seinerseits selbst − man denke nur an Proust − großenteils aus Vermutung, Ahnung, Traum und Vision bestanden haben mag. Autobiographische Literatur ist deshalb nicht wirklich zu trennen von erinnerungsanalog fingierender Erzählliteratur: In Erinnerung ist Erzählung, in Erzählung Erinnerung immer mit anwesend. Die Unterscheidung zwischen fiktionaler und nicht-fiktionaler Literatur macht deshalb für die Analyse von Erinnerungstexturen wenig Sinn: In beiden herrscht die Spannung zwischen erinnertem bzw. erzähltem und sich erinnerndem bzw. erzählendem Ich, wobei diese Spannung dazu führt, dass der Akt der Erinnerung der jeweiligen Welt des Erinnerungsrahmens gegenüber, mag dieser nun fiktional oder nicht-fiktional sein, Imaginationen evoziert, in denen Fiktion und referentielle Bezüge zur (relativen) Wirklichkeitsebene des Erzählrahmens kaum noch zu trennen sind. Vielleicht kann in mühsam detektivischer Kleinar–––––––—

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Verlauf der Jahre immer griffiger wurden, indem sie darauf bestanden, bis ins Einzelne glaubhaft zu sein.“ Grass (wie Anm. 11), S. 145. Schuster, Frank M.: Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkrieges (1914–1919). Köln u. a. 2004, S. 78f. Vgl. Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation. Übs. v. Günter Memmert. München 1995, S. 256–279. Holdenried, Michaela: Autobiographie. Stuttgart 2000, S. 23f.

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beit bei Einzelfällen noch festgestellt werden, welche Erinnerung einer real gewesenen Vergangenheit zu hundert Prozent entspricht und welche nicht, doch ist die Funktion der Erinnerung für das sich erinnernde Ich unabhängig davon, wie gerechtfertigt sie diese oder jene Einzelheit erinnert. Erinnerung konstituiert das Individuum gegen den Erinnerungsrahmen, in den es die Erinnerung zugleich einzupassen versucht. Dieser Aufgabe gegenüber ist der Grad der Referentialität einer Erinnerung (Null-Referentialität gibt es ohnehin nicht) eher gleichgültig. Erinnerung steht in Spannung zum Erinnerungsrahmen, nicht zu Wahrheit oder Falschheit. Diese werden nur vom Erinnerungsrahmen aus gegen Erinnerung ins Spiel gebracht, um sie besser formen, Phantasien über das Eigene auf das als ‚richtig‛ Akzeptierte einschränken zu können. Tribunal und Verhör, Beichte und Therapie gehören nicht umsonst zu den Szenerien, innerhalb derer (und gegen die) Literatur Erinnerung inszeniert und die Vielfalt des Ich, mag sie nun ‚falsch‛ oder ‚richtig‛ sein, gegen die Vorgaben des Erinnerungsrahmens zu behaupten versucht. Diese Erinnerungsszenerien verbildlichen die memoriale Differenz und übersetzen in lebensweltlich verständliche Kulissen, was Erinnerungstexturen formal konstituiert, die Spannung zum Erinnerungsrahmen, von dem aus das sich erinnernde oder das erzählende Ich als (einverstandener oder innerlich widerständiger) Bewusstseinsagent von Gesellschaft und Kultur dem erinnerten oder erzählten Ich gegenübertritt, indem es es aufruft. „[H]ierher. Wo wir sind.“50 Als Zeugen oder Angeklagten, als streng und inquisitorisch Befragten oder als monologisch plappernden Clown. Narrativer ‚Normalfall‛ sind Erzähltexte, in denen eine Figur innerhalb eines wie auch immer gestalteten Erzählrahmens, also in einer Binnengeschichte, vor kritisch interessiertem Publikum eine Erinnerung aus ihrem Leben erzählt.51 Rahmenerzählung und Erzählsituation (das Gericht, das Publikum) übernehmen dabei die Funktion des Erinnerungsrahmens, in den hereinerinnert wird, die Binnenerzählung mit ihrer relativen Autonomie vertritt die provozierende Sperrigkeit zu Gestalten verdichteter Erinnerungen. In der Konstruktion des erinnerten Ich gerinnt Erinnerung dann unter dem Druck des Erinnerungsrahmens zu einer Figur und wird stabilisiert zum festen Vorstellungsbild. Was assoziativ nie definitiv gelingt, gelingt literarischer Formung auf dem Papier: Das erinnerte Ich gewinnt klare Gestalt (die freilich keine definitive Gültigkeit mehr beansprucht und jederzeit um alternative Variationen bereicherbar ist). Mit dem Erinnerungsrahmen stehen dem so gestalteten erinnerten Ich sein Publikum, ein Diskursnetz, eine ganze Kultur und Gesellschaft gegenüber. Diese suchen in ihm ihr ‚Anderes‛, von dem sie sich auf der Suche nach Bestätigung verunsichern lassen können. Soll dieses erinnerte Ich nun diskurstauglich sein und innerhalb des Erinnerungsrahmens überhaupt relevant werden können, müssen in ihm Erfahrungen –––––––— 50 51

Bobrowski, Johannes: Litauische Claviere. Roman. Berlin 21967, S. 171. Vgl. Jäggi, Andreas: Die Rahmenerzählung im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Technik und Funktion einer Sonderform der fingierten Wirklichkeitsaussage. Bern 1994.

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sich verdichten, die nicht mehr die eines einzelnen Individuums allein sein können. Das erinnerte Ich soll dort als eines rezipiert werden können, das sich ergänzend und trotz aller individuellen Besonderheit letztlich nacherlebbar, anempfindbar verhält zu den Erinnerungsbemühungen und Erinnerungsgelüsten der vielen anderen Mitglieder des Erinnerungskollektivs. Es muss dabei aber immer zugleich auch dem Erinnerungsrahmen, dem jeweiligen Erinnerungskollektiv gegenüber dieselbe widerständige Funktion und Rolle übernehmen wie dem nur individuell sich erinnernden oder erzählenden Ich gegenüber (sonst wäre es ja überflüssig und bestätigte den Lesern nur, was diese ohnehin bereits den öffentlichen Vorgaben entsprechend von sich zu halten bemüht sind). Dabei kann es als schriftlich fixiertes Ich nur noch in fester Gestalt auftreten. Die memoriale Differenz droht so mit der Publikation eines erinnerten Ich verloren zu gehen. Erinnerungsanalog angelegte Literatur muss darum die Kunst beherrschen, diese einander widerstrebenden Tendenzen auszubalancieren. Will sie nicht platt werden, das erinnerte Ich stillstellen zur bloßen Bestätigungsfigur einer im Erinnerungsrahmen ohnehin schon verbreiteten Konzeption derselben, muss sie die Kunst des gegen ihre eigenen Vorgaben anschreibenden Einspruchs gegen sich selbst beherrschen. Bewusst oder unbewusst dient das erzählte, erinnerte Ich ja immer einer Reflexion über das erzählend sich erinnernde Ich. Nicht nur die Rahmenerzählung thematisiert die Binnenerzählung, die Binnenerzählung reflektiert auch die Rahmenerzählung, den Erinnerungsrahmen, dessen Produkt sie ist. Explizit wird etwa in Martin Walsers Roman Ein Springender Brunnen52 polemisiert gegen einen (vom Erzähler selbst in den Text hineingebauten) Erinnerungshorizont, in den sein Erzähler gegen ihn anzuerinnern versucht − das Wissen um die NS-Verbrechen prägt den Erinnerungshoriziont, gegen den der Erzähler eine Kindheit mobilisiert, die von diesem Wissen frei gewesen sein soll. Doch belässt es dieser Erzähler nicht dabei, unkommentiert eine Kindheit zu erzählen, deren Subjekt von diesen Verbrechen nichts weiß: In auktorialen Erläuterungen verteidigt er die Kindheit gegen den von ihm zu diesem Zweck im Text entsprechend konturierten Erinnerungshorizont,53 in den er sie gerade dadurch ausdrücklich hereinerinnert. Sinn der Erinnerungstextur scheint es zu sein, diesen als widerlegbar angelegten Erzählrahmen zu widerlegen, was als in sich paradoxe Bewegung − schließlich ist sie Produkt des Erzählrahmens − der Erzählung gegen sich selbst zum Selbstwiderspruch führen müsste, zu immer neuen autoreferentiellen Reflexionsschleifen eines unglücklichen Bewusstseins, stünde der Erzähler nicht selbst bereits dort, wohin er das erinnerte Ich zielgenau vom Erinnerungsrahmen abweichen lässt. Dem auf der Textoberfläche thematisierten Erinnerungsrahmen steht er als dessen noch grundsätzlichere Gegen-Vorgabe von Anfang an siegreich gegenüber. Das erinnerte Ich wird stabilisiert zum widerständigen gegen den Erinnerungsrahmen, dem der Erzähler selbst nur –––––––— 52 53

Walser, Martin: Ein springender Brunnen. Roman. Frankfurt a. M. 2000. Nicht umsonst hieß ein früherer Roman Walsers Die Verteidigung der Kindheit. Frankfurt a. M. 1993.

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unfreiwillig angehört − er verfestigt das erinnerte Ich zur Marionette seines Widerspruchs, die Fluktuation der Erinnerungen wird festgehalten im Moment ihrer taktischen Benutzbarkeit für außermemoriale Zwecke, die memoriale Differenz stillgestellt in dem Moment, in dem sie der Bestätigung dient. Erinnertes und sich erinnerndes Ich vereinigen sich zu gegenseitig sich aufhebender Widerspruchslosigkeit, zum Monument ihrer sich selbst bestätigenden Botschaft. Dienende Erinnerung jedoch erinnert nicht mehr, sie sagt aus im Angesicht der Tribunale, vor die sie gestellt wird, um entlang der erinnerungsfremden ‚Wahr‛-‚Falsch‛-Unterscheidung Aussagen zu bestätigen oder zu widerlegen. Auf derartig nur scheinbar paradoxe Gegen-Paradoxa zu verzichten ist die Intention des exakt entgegengesetzten Erzählmodells, das sich völlig kommentarlos, ganz ohne explizite Rahmenerzählung auf die Perspektive des erinnerten bzw. erzählten Helden zu konzentrieren versucht. Die memoriale Differenz, der Wissensabstand zwischen erinnertem und sich erinnerndem Ich wird dadurch jedoch nicht ausgeschaltet, sondern − meist sehr bewusst − ausgelagert in die Rezeptionssituation. Er besteht jetzt im Kontrast zwischen der in solchen Fällen oft simplicianischen Sicht des erinnerten Ich auf von ihm unverstandene Phänomene und Ereignisse einerseits und dem implizit immer mitzudenkenden gemeinsamen Wissenshorizont von Autor und Lesern andererseits. Für tragisch erschütternde Effekte wird dieser Kontrast etwa genutzt von Imre Kertész im Roman eines Schicksallosen,54 dessen Held mit naivem Blick in die Hölle der Konzentrationslager geht, ohne bereits auf dem Weg dorthin zu wissen und zu verstehen, was jeder Leser bereits weiß. Die Nicht-Thematisierung des Erinnerungshorizontes, des nachträglichen Wissenstandes der Rezipienten, kann das Erzählte so in seiner Wirkungskraft gerade deshalb verstärken, weil dieser Erinnerungshorizont (ohne zu einem in sich stringenten Erinnerungsrahmen mit klaren Erinnerungsvorgaben ausgebaut zu sein) auch dann anwesend ist, wenn er nicht explizit ausgeführt wird − zumal dann, wenn kindlich oder simplicianisch naive Perspektiven dem Leser das Gefühl vermitteln können, über das, was dem erinnerten oder erzählten Ich gerade begegnet, bereits mehr zu wissen, als das erinnerte Ich selbst. Diese Technik kann sich auch unfreiwillig gegen die Erinnerungskonstruktion selbst richten überall dort, wo die Ahnungslosigkeit des erinnerten Helden nicht mehr in Kontrast mit dem unausgesprochenen Erinnerungshorizont tritt, sondern diesen schlicht und einfach zu leugnen versucht. Insbesondere in deutschsprachiger Exkulpationsliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg ist häufig von Soldaten zu lesen, die sich heldisch und ehrenhaft in immer nur kleinen Frontausschnitten bewährten, wobei der Gesamtzusammenhang eines verbrecherisch geführten Krieges bis in alle Einzelheiten hinein ausgeblendet wird.55 –––––––— 54 55

Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen. Übs. v. Christina Viragh. Reinbek bei Hamburg 2002. Vgl. etwa zu den „Landser“-Heften Stadler, Franz: Massenliteratur, in: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte, hg. v. Horst A. Glaser. Bern u. a. 1997, S. 673–692; hier: S. 687.

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Bei Kertész wird nichts ausgespart, aber durch einen ahnungslosen Blick vor einem wissenden Publikum verfremdet, in derartiger Exkulpationsliteratur aber wird verschwiegen, wovon Autor und Leser gemeinsam wissen, dass sie davon wissen − und zugleich nichts davon wissen wollen. Der Erinnerungshorizont reduziert sich als Erinnerungsrahmen einer bestimmten Erinnerungsgemeinschaft zum Horizont gemeinsamen Beschweigens, der nicht mehr befremdend erhellt, sondern durch Konsens verdunkelt. Das erinnerte Ich blockiert (auf dessen Wunsch hin) das Wissen des sich erinnernden. Freilich mobilisiert derartige Verleugnung des Erinnerungshorizonts diesen innerhalb konkurrierender Erinnerungsgemeinschaften56 erst recht: Politische Vorwürfe löst diese Technik so sicher und so unvermeidlich aus, als hätte sie sie bereits eingeplant. Egal also, ob der Erinnerungshorizont thematisiert wird oder nicht: Er lässt sich ausblenden, aber nicht ausschalten. Jeder Versuch, den Erinnerungshorizont zu erfassen und ihm gültige Gestalt zu verleihen, manifestiert sich als ein Erinnerungsrahmen, der, je nach kulturellem und politischem Kontext, unterschiedlich offen sein kann für die Erinnerungsvorgaben bestätigende, ergänzende oder von ihr abweichende Erinnerung. Jedes mitgeteilte erinnerte oder erzählte Ich fungiert im Erinnerungsrahmen als das der Erinnerung abgerungene Bild der Vergangenheit eines Einzelnen, das die widerspenstige Erinnerung mit dem Erinnerungsrahmen vermitteln soll. Erinnerungskollektive versuchen, den individuell jeweils anders geöffneten Erinnerungshorizont zu einem für alle identischen Erinnerungsrahmen zu konturieren, jedoch lässt dieser als zumeist stumme Summe kollektiver Erfahrung sich unterhalb der Ebene öffentlich erlaubter Äußerungen (Diktaturen können durch Zensur natürlich leicht die Existenz eines kollektiv gleichen Erinnerns aller vortäuschen) zumeist noch schwerer formen als das individualisierter Gestaltungsarbeit ausgesetzte erinnerte Ich. Jedoch drückt der Erinnerungsrahmen, das kommunikative Gedächtnis, immer auch (auf) individuelle Erinnerung. Ob es sich bei jener Schwelle, auf der die memoriale Differenz beruht und von der alles Erinnern ausgeht, nun um kulturspezifische Initiationserfahrungen aller Kulturmitglieder wie Schule, Krieg oder Militär handelt, um Schicksale wie Verfolgung, Hunger, unerwartete Beglückung oder Naturkatastrophen, die vielen Überlebenden dann als die entscheidenden biographischen Brüche gelten, die die Erinnerung an ein ‚Vorher‛ überhaupt erst ermöglichen und nötig machen: individuelle Erinnerung sieht sich, leitet sie ihren initialen Bruch aus solchen Erfahrungen ab, immer auch dem (unterschiedlich stark stratifizierten) kommunikativen und kollektiven Gedächtnis, also dem Erinnerungsrahmen des jeweiligen Kollektivs gegenüber, der individuelle Erinnerung mitzuformen versucht. Je stärker dieser Erinnerungsrahmen, je härter die Vorgaben für Erin–––––––— 56

Vgl. Joachimsthaler, Jürgen: Gespaltenes Gedächtnis. Deutsche Erinnerungsliteraturen, in: Germanistik in und für Europa. Faszination − Wissen. Texte des Münchener Germanistentages 2004. Im Auftrag des Vorstands des deutschen Germanistenverbands hg. v. Konrad Ehlich. Redaktion: Diana Kühndel. Bielefeld 2006, S. 325–333.

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nerungen, die in ihm überhaupt rezipiert werden, desto stärker wird bei den vielen Mitgliedern des Erinnerungskollektivs das jeweils individuelle Bedürfnis nach widerständig anderen Erinnerungen, die die Gefahr ständiger Selbstwiederholung durch stete Repetition immer derselben öffentlich-offiziellen SelbstBilder aufheben. Die memoriale Differenz erlaubt dann Widerspruch, das jähe Auftauchen nicht vorhergesehener, nicht eingeplanter Vergangenheit. Das Ich ist (sich) immer ein anderes als seine offizielle Version. Um genau diese Abweichung einzudämmen, wird nun von individueller Erinnerung öffentlich so gerne Repräsentativität gefordert: Sie soll den Anspruch erfüllen, stellvertretend für die ganze Rezeptionsgemeinschaft kollektive Erfahrung festzuhalten, die von jedem Einzelnen freilich nur noch unter Zuhilfenahme fremder Erinnerung und historischer Literatur über die Ereignisse verstanden und rekonstruiert werden kann. Erinnerung (zumindest in ihrer veröffentlichten Form) hat sich dem einzupasssen. Keiner hat ja all das selbst erlebt, was zum Verständnis seines Schicksals zu wissen notwendig ist. Erst nachträgliches Wissen, erst der Erinnerungshorizont nachträglichen kollektiven Wissens gewährt Übersicht und die − oft politisch zum klar konturierten Erinnerungsrahmen überformte − Möglichkeit, Erlittenes wissend einzuordnen (und die memoriale Differenz in historisch abgesicherte Gewissheit aufzulösen). Sich erinnernde Erzählung ist dann jedoch entgegen und gerade wegen aller Wahrheitsund Objektivitätsansprüche wieder gestaltete Erinnerung, Erinnerung gestaltende Erzählung. Fest gewordene, nach vorgegebenen Regeln fixierte Gestalt. Gegen deren Erstarrung besteht bei Vielen jener Einzelnen, die das Erinnerungskollektiv ausmachen, immer auch ein Bedürfnis nach abweichend fluktuierender Assoziation. Jedes individuell erinnerte Ich gibt bereits aufgrund seiner Individualität jeder Gegenwart ein ‚Vorher‛, dem gegenüber das Erinnerungskollektiv sich auf einem von ihm unterschiedenen Standpunkt weiß. Diese Differenz mag die Beliebtheit memorialer Literatur erklären: Je nach Verfasstheit des Textes bringt sie individuelle Besonderheit und Erinnerungsrahmen in ein Verhältnis unterschiedlichen Grades der Abweichung oder Bestätigung zueinander. So wie die memoriale Differenz Individualität provoziert und überhaupt erst ermöglicht, konstituiert sie auch das kulturelle und historische Selbstverständnis des Erinnerungskollektivs. Die Differenz zwischen ‚Vorher‛ und ‚Nachher‛ wird dabei abgebildet auf ein gesamtkulturelles Entwicklungsgefälle um entscheidende Geschichtsbrüche herum; mag dieses nun als Fortschritts- oder als Verfallsgeschichte gewichtet werden, es verallgemeinert die individuelle Erfahrung Biographie zum Geschichtsempfinden des Kollektivs. Nicht umsonst sind etliche der die memoriale Differenz begründenden Schwellenerfahrungen in scheinbar nur individueller Erinnerungs- und Gedächtnisliteratur bereits gesamtkulturelle: Ein biographisch entscheidender Lebens-Bruch z. B. wird seit Einführung von allgemeiner Schul- und Militärpflicht für alle Betroffenen gleichermaßen durch den Eintritt in gesellschaftliche Institutionen markiert (zuvor waren es Bekehrung, Erleuchtung, Konfirmation, Gesellenprüfung, Ritterschlag o. ä.) − das zwanzigste Jahrhundert ersetzte dann in zuvor ungekanntem Aus-

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maß die kollektive Umbruchserfahrung Ausbildung und/oder Initiation durch wahrlich schrecklicheres kollektives Erleben von Krieg und Gewalt. Unabhängig davon, durch welche Erfahrung sich der Erinnerungs- und Erzählrahmen von der erinnerten Binnen-Story der sich erinnernden Welt unterscheidet: er beruht auf einer Wissens- und Erfahrungsdifferenz gegenüber jenem ‚früher‛, das die Gestalt des erinnerten oder erzählten Ich einnimmt. Der Erinnerungsrahmen blickt mit ihm auf sein ‚Anderes‛, das sich intensiviert durch die Unberechenbarkeit immer wieder aufbegehrender Erinnerungssplitter. Diese chronologisierte und auf die ganze Welt projizierte memoriale Differenz wird gerne substantialisiert zu grundlegender historischer und kultureller Alterität: Bewusstsein blickt in ihm auf Vor-Bewusstsein, Kultur auf Vor-Kultur. Individuelle Entwicklung und Menschheitsgeschichte werden nicht umsonst so gerne aufeinander abgebildet. Wenn etwa die griechische Antike als Kindheitsstufe der Menschheit glorifiziert wird, die ‚edlen Wilden‛ aus Übersee mit Kindern verglichen werden oder das ‚ungebildete Volk‛ infantilisiert wird, so löst dies zwangsläufig bei jedem Diskursteilnehmer jede gegenwärtige Disziplinierung unterlaufende Assoziationen an eigene Kindheitserinnerungen, an ein ‚Vorher‛ aus, die nun auf fremde Zeiten, Völker oder Bevölkerungsschichten übertragen werden. Bereits Schillers Unterscheidung zwischen ‚naiv’ und ‚sentimentalisch’ beruht darauf: Sie sind, was wir waren [...]. Wir waren Natur wie sie [...]. Sie sind also zugleich Darstellung unserer verlorenen Kindheit, die uns ewig das Teuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmut erfüllen.57

Innere Differenz, die widerständig durch das Bewusstsein geisternden GegenBilder werden so auf Kindheit und Vor-Kultur in anderen Zeiten, Ländern oder Schichten projiziert und dadurch innerkulturell handhabbar wie ein personifiziertes ‚Anderes‛, das zugleich kulturelle oder biographische ‚Vorstufen‛ des Eigenen repräsentieren soll. Der Erinnerungsrahmen amtiert über seinem, steten Beherrschungs- und Kolonialisierungsversuchen unterworfenen, erinnerten Ich als dessen quasi postkoloniales ‚Nachher‛, das noch nach der belebenden, nach der lebensnotwendigen Alterität des unbeherrschbar ‚Anderen‛ giert, das er ausgliedert in für bereits ‚überwunden‛ erklärte Zustände (die sich dann um so angenehmer als ‚Erinnerung‛ genießen lassen). Seit Beginn der Moderne mit ihrem verstärktem Zugriff des Staates und gesellschaftlicher Institutionen wie Schule, Militär oder Arbeitswelt, Kriegs- oder Friedensordnung auf die Biographien fungiert das sich erinnernde Ich innerhalb des Erinnerungsrahmens denn auch immer häufiger als Vertreter erfahrener Sozialisierung gegenüber einem ‚Vorher‛, das sich aus Sicht dieses ‚Nachher‛ dadurch auszeichnet, von dieser Sozialisierung noch frei zu sein. Mit diesem ‚Vorher‛ und diesem ‚Nachher‛ umfasst Erinnerung die beiden Pole sozialdis–––––––— 57

Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung, in: Sämtliche Werke in fünf Bänden 5. Erzählungen und theoretische Schriften, hg. v. Wolfgang Riedel. München 2004, S. 694–780; hier: S. 695.

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ziplinierender Vergesellschaftung, die Ich-Instanzen stehen für Kulturzustände, das sich erinnernde Ich erinnert in den Erinnerungsrahmen dessen nostalgisch verklärte oder fortschrittsoptimistisch für ‚überwunden‛ erklärte Version seines eigenen einstigen ‚Noch-Nicht‛ herein − Erinnerungsliteratur konstruiert sich mit ihren erinnerten Ichs wie Reise- und Expeditionsliteratur58 durchaus gerne Kannibalen, kleine Betrüger,59 ‚edle Wilde‛ und „Lausbuben“60 als die Träume eines vorkolonial ‚Anderen‛, das einst gewesen zu sein der Erinnerungsrahmen vom erinnerten Ich als eine die dort gültigen Regeln letztlich bestätigende Regelverletzung verlangt. Sie fand ja in jenem ‚Vorher‛ statt, das als Traum, als regelfreier Schwarm ungezügelter Gegen-Bilder immer noch durch die Kultur irrlichtert und von ihr nur beherrscht werden kann, wenn sie es als nostalgisch betrauerbares, aber nun überwundenes ‚Vorher‛ aus ihrer Wirklichkeit in ihren Imaginationsschatz auslagert. Dort aber soll, dort aber muss es unberechenbar bleiben (und bildet in Zeiten der Krise ein Reservoir gesellschaftlich noch nicht verbrauchter Empfindungs- und Verhaltensalternativen). Insofern ist es sogar Aufgabe des erinnerten Ich bzw. der vielen flirrenden Bilder, aus denen es von Mal zu Mal anders zusammengestückt wird, am Erinnerungsrahmen zu rütteln. Dieser beinhaltet mit seinen Vorgaben ja immer schon auch die Anleitung, wie man sein verstecktes Bedürfnis nach Widerspruch und Verunsicherung befriedigen kann. Infragestellung des Erinnerungsrahmens in erinnerungsreflexiver Literatur erscheint so zwar als subversiver Akt gegenüber Erzähl- und Erinnerungsgeboten, die Auflagenzahlen solcher ‚Provokationen‛ aber übersteigen (man denke nur an die Blechtrommel) die der vorgabenkonformen Bücher so sehr, dass sie sehr wohl ein im Erinnerungskollektiv gegen dessen eigenen Erinnerungsrahmen gerichtetes und für diesen konstitutives Bedürfnis befriedigen müssen − wie es ja auf individueller Ebene auch dem Verhältnis zwischen sich erinnerndem und erinnertem Ich entspricht. Der Erinnerungsrahmen verlangt scheinbar eine nach seinen Vorgaben stabile Gestalt der Erinnerung und sucht doch tatsächlich nach steter Verunsicherung − nur dies mag den Erfolg jener erinnerungsanaloger literarischer Texturen erklären, die durch ihre Anlage diese Stabilitätserwartung gezielt unterwandern (wenn sie z. B. ihren Helden auf der Textoberfläche als Insassen einer Pflegeanstalt ausgeben61 oder strukturell in narrative Selbstwidersprüche verstricken, die –––––––— 58 59

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Vgl. den Titel des Erinnerungsromans von Schmidt, Kathrin: Die Gunnar-LennefsenExpedition. Köln 1998. Erinnert sei nur an die autosuggestive Geschichte, mit der Kellers „Grüner Heinrich“ als Kind ein paar ältere Jungen fälschlich kleiner Rohheiten so lange durch das Ausmalen immer neuer Details beschuldigt, bis „ich nun selbst glaubte“ − und die Angeschuldigten hart bestraft werden. Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Erste Fassung. Frankfurt a. M. 1978, S. 123. Thoma, Ludwig: Lausbubengeschichten. Aus meiner Jugendzeit. Mit 35 Zeichnungen v. Olaf Gulbransson. Textrevision und Nachwort v. Bernhard Gajek. München u. Zürich 1989. Prominente Beispiele für erinnerungsanalog aufgebaute Romane, deren Erzähler sich in behördlicher und/oder klinischer Verwahrung befinden, wären (alle drei hier bereits zitiert) Max Frischs Stiller, Günter Grass’ Blechtrommel oder Siegfried Lenz’ Heimatmuseum.

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seine Glaubwürdigkeit in Frage stellen62). Die memoriale Differenz wird so auf Ebene der Literatur, also schriftlich fixierter, fest gestalteter Erinnerung wiederhergestellt durch einen ihr inhärenten Widerspruch, der oft nicht nur einer durch die Art der Handlung ist, sondern zumindest in gelungenen Fällen auch einer durch einen Stil (abermals verweise ich auf die Blechtrommel), der in seiner Hingabe an die Suggestionskraft verstörender oder befremdender Bilder und erinnerter Sinneseindrücke die Logik jeder Handlung ebenso mit flirrenden Assoziationen verwirren kann wie die fluktuierende Imagination jeden Versuch des sich erinnernden Ich, sich ein erinnertes Ich zu fester Vorstellungsgestalt zu stabilisieren. Dann erfüllt das erinnerte Ich seine Aufgabe: Es widerspricht.

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Vgl. Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, in: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden 6. Frankfurt a. M. 1990; zur systematischen Unzuverlässigkeit dieser Erzählerfigur vgl. auch Joachimsthaler, Jürgen: Politisierter Ästhetizismus. Zu Thomas Manns „Mario und der Zauberer“ und „Doktor Faustus“, in: Literatur im Zeugenstand. Beiträge zur deutschsprachigen Literaturund Kulturgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hubert Orłowski, hg. v. Edward Białek u .a. Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 303–332. Ein weiteres prominentes Beispiel für einen unzuverlässigen Erzähler seiner Erinnerungen wäre Oskar Matzerath in Günter Grass’ Blechtrommel.

Eva Kormann

Bruchstücke großer und kleiner Konfessionen Vom gelegentlichen Widerspruch zwischen individuellem, familiärem und kulturellem Gedächtnis: Grass, Timm, Walser und Wilkomirski

Das kulturelle Gedächtnis ist eine dynamische ‚Datenbank‛ von vernetzten Texten, Bildern und Praktiken und damit eine höchst selektive und fragmentierte Konstruktion der verschiedensten Traditionsbildungspraktiken von Gesellschaften. Konstruktion ist das kulturelle Gedächtnis noch in anderer Hinsicht: Es ist eine wissenschaftliche Modellbildung, die gesellschaftliche Abläufe und Erscheinungen erklären soll. Denn es gibt kein konkretes, empirisch auffindbares Exemplar eines solchen Gedächtnisses: Am nächsten kommen ihm große Bibliotheken, Nationalmuseen, die den Fundus des repräsentativen Wissens einer Gesellschaft versammeln wollen und individuelle Gedächtnisstrukturen von Menschen mit großer, auf Repräsentatives ausgerichteter Bildung. Das derzeit größte empirisch auffindbare Gedächtnis wäre – als interkulturelles, transnationales und dem Anspruch nach globales Gedächtnis – das World Wide Web. Es scheint für moderne Gesellschaften sinnvoll, nicht von ihrem einen kulturellen Gedächtnis auszugehen, sondern von verschiedenen nebeneinander bestehenden, miteinander konkurrierenden und sich gegenseitig ergänzenden kulturellen Gedächtnis-Konstellationen verschiedener Gruppen innerhalb einer Gesellschaft.1 Ein (vor)herrschendes, privilegiertes, der Schriftkultur verpflichtetes kulturelles Gedächtnis muss einer Gedächtnis-Pluralität weichen, in der Schrift nur noch ein Speichermedium unter anderen ist, in der hierarchische, Qualitätsurteile voraussetzende Kanonbildung Konkurrenz erhält von Quantität prämierenden Marktmechanismen. Insofern lässt sich – in solchen Gesellschaften – nicht mehr kategorial zwischen einem kulturellen und einem kommunikativen Gedächtnis unterscheiden. Beide Gedächtnistypen können nur noch als die verschiedenen Pole sozialer Gedächtnis-Konstellationen gedacht werden: Das kulturelle Gedächtnis besteht dann in der langfristigen, repräsentativen Formation des institutionalisierten öffentlichen Erinnerns in Gesellschaften und das kommunikative in einer kurzzeitigeren, alltagsweltlichen, auch modischem Wandel unterworfenen Erinnerungswelt, die eher die private und massenmedia–––––––— 1

Vgl. Erll, Astrid u. Ansgar Nünning: Literatur und Erinnerungskultur. Eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorieskizze mit Fallbeispielen aus der britischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Erinnerung, Gedächtnis, Wissen, hg. v. Günter Oesterle. Göttingen 2005, S. 195, Anm. 34. Vgl. auch Erll, Astrid u. Ansgar Nünning (Hgg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Berlin 2005.

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le als eine durch Staat und Wissenschaft legitimierte offizielle Kommunikation prägt. Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen pflegen jeweils eigene ‚Archive‛ von „Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten“.2 Ausgewählt wird, was eine Gruppenidentität zu bilden und zu stützen vermag, eine Identität, die fluide ist und der keine ontologischen Gemeinsamkeiten zugrunde liegen, die aber dennoch gesellschaftlich wirksam wird. Die fragmentierten, von unterschiedlichen Gruppen angelegten ‚Archive‛ sind aber nicht unabhängig voneinander, sondern bilden ein Netzwerk von ‚Datenbanken‛, die jeweils aufeinander zugreifen, in anderen Archiven Gespeichertes umdeuten und der eigenen Sammlung einverleiben – und damit oft auch wiederum die angezapften Datenbanken verändern. Die kulturellen Gedächtnis-Konstellationen und individuelle autobiographische Gedächtnisausprägungen3 einzelner Menschen beziehen sich wechselseitig aufeinander: Das kulturelle Gedächtnis ist niemals in einem individuellen Gedächtnis vollständig präsent, aber es muss einen ‚kleinsten gemeinsamen Nenner‛ zwischen den individuellen Gedächtnisausprägungen der verschiedenen Gruppenmitglieder und dem kulturellen Gedächtnis ihrer Gruppe geben. Individuelle Erinnerungen können zudem in die Datenbanken kultureller GedächtnisKonstellationen eingegliedert werden und diese mehr oder minder stark prägen. In solche gruppenspezifischen Sammlungen kultureller Erinnerung gehen etwa Autobiographien prominenter Autoren oder Zeitzeugenäußerungen zu als repräsentativ und einschneidend erachteten historischen Ereignissen ein, und solche Erinnerungen werden wiederum zu Vorbildern für autobiographisches Erinnern und Schreiben.4 Denn auch das individuelle Gedächtnis schöpft aus dem kulturellen: Das kulturelle Gedächtnis wirkt als Dispositiv für das Gedächtnis des Einzelnen, ist Vergleichsfolie, Musterbuch und Quelle. Individuelle Erfahrungen werden dadurch speicher- und erzählbar, dass sie mit dem kulturellen Gedächtnis kom–––––––— 2

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Assmann, Jan: Kulturelles Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Kultur und Gedächtnis, hg. von Jan Assmann und Tonio Hölscher. Frankfurt a. M. 1988, S. 9–19; hier: S. 15. Vgl. auch Nünning, Ansgar: Gedächtnis, kulturelles, in: Literatur- und Kulturtheorie, hg. von A. Nünning. Stuttgart u. a. 1998, S. 180f. Das autobiographische Gedächtnis wird mit Markowitsch, Hans u. Harald Welzer: Das autobiographische Gedächtnis, Stuttgart 2005, als Reservoir der Erinnerungen eines Menschen an seinen eigenen Lebenslauf und als die Fähigkeit, solche Erinnerungen zu speichern, angesehen. Das autobiographische Gedächtnis ist dynamisch, eingespeicherte Bestände werden bei jedem Zugriff verändert. Vgl. zur Wechselbeziehung zwischen individuellem Erinnern und kulturellen GedächtnisKonstellationen Schaser, Angelika: Erinnerungskartell. Der Nationalsozialismus im Rückblick der deutschen Liberalen, in: Erinnerungskartelle. Zur Konstruktion von Autobiographien nach 1945, hg. v. Angelika Schaser. Bochum 2003, S. 49–80. Musterbeispiel für die Entwicklung eines kulturellen Gruppengedächtnisses aus autobiographischen Texten, das dann wiederum zur Mustersammlung für die Autobiographik einer religiösen Gruppierung wird, ist die „Historie der Wiedergebohrnen“ von Johann Henrich Reitz (1698–1745), vgl. Schrader, Hans-Jürgen (Hg.): Johann Henrich Reitz, Historie der Wiedergebohrnen. Tübingen 1982.

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patibel sind. Erinnerungen werden durch Daten des kulturellen Archivs in vielfältiger Weise gespeist – bis hin zum Erinnerungsirrtum infolge von Quellenverwechslung: Menschen haben den Eindruck, sich an ein bestimmtes Ereignis ihrer Vergangenheit zu erinnern, doch was sie erinnern, stammt aus einer fremden Vorlage.5 Günter Grass’ Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel reflektiert diese Eigenart des individuellen Gedächtnisses, auf „Bilder aus zweiter Hand – Filmszenen, Angelesenes“6 zurückzugreifen: Der Erzähler zeichnet sie nach, spielt mit ihr, wenn er den Versuch des Fünfzehnjährigen beschreibt, sich als freiwilliger U-Boot-Rekrut zu melden. Zwei Unteroffiziere versuchen ihn abzuwimmeln: Sie rauchten und tranken Milchkaffee aus bauchigen Tassen. Einer der aus meiner Sicht älteren Herren [...] spitzte, während ich redete, mehrere Bleistifte auf Vorrat. Oder habe ich ähnlich pedantische Vorsorge in einem Film – weißnichtinwelchem – gesehen? (G, S. 84).

Was ein einzelner Mensch an ‚Vergangenheit‛ erinnert, ist die eigene ‚Autobiographie‛,7 Wissen über ‚Geschichte‛ im Allgemeinen und – kognitive und emotionale – Erinnerung an die Vergangenheit jeweils von ihm hochvalorisierter Gruppen: von Nationen, Regionen, Religionsgemeinschaften, gesellschaftlichen Gruppen und vor allem: Familien.8 Zwischen allgemeineren kulturellen Gedächtnis-Konstellationen und dem individuellen autobiographischen Gedächtnis steht unter anderem das Familiengedächtnis, stehen die Erzählungen von Eltern und anderen Familienangehörigen, die sich ebenfalls auf das kulturelle und auf die verschiedenen individuellen Gedächtnisvermögen der Familienmitglieder beziehen und wiederum die jeweiligen individuellen Gedächtnisinhalte als Vergleich, Muster und Quelle prägen. Das autobiographische Gedächtnis will die Erfahrung eines einzelnen Menschen versammeln. Damit bezieht sich dieses individuelle Gedächtnis zwangsläufig auf kollektive Formen des Erinnerns und des Bezeichnens. Denn persönliche Erfahrung steht immer an der Schnittstelle von Diskurs und Materie, von Text und hors-texte: Wie Menschen Schmerz, Leid, Freude oder Lust erfahren,

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Vgl. Markowitsch u. Welzer (wie Anm. 3), S. 29f. Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen 2006, S. 86, im Folgenden zitiert mit der Sigle G. Wenn hier von ‚Autobiographie‛ mit einfachen Anführungszeichen die Rede ist, ist das gemeint, was ein Mensch als seinen Lebenslauf erinnert, auch wenn er diese Erinnerung nicht als geschriebenen Text offen legt. Auch nicht-schriftliche ‚Autobiographien‛ sind im Übrigen ‚geschrieben‛ im Sinne von gestaltet, sprachlich geformt und von gesellschaftlichen Diskursen geprägt. Markowitsch u. Welzer (wie Anm. 3) betonen Sprache als Voraussetzung des autobiographischen Gedächtnisses, das Abläufe in einen Zusammenhang bringt. Allerdings werden in das autobiographische Gedächtnis auch nicht-sprachliche Erinnerungen integriert: Bilder, Gerüche, Geschmackseindrücke, Töne. Vgl. zum Verhältnis von kulturellem Gedächtnis und Familiengedächtnis Welzer, Harald u. a. „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a. M. 32002.

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wie sie diese ‚erleben‛, ist weder allein diskursive Konstruktion noch ausschließlich abhängig von materiellen Stimuli.9 Solchermaßen diskursgeprägte wie materiell bedingte Erfahrung benötigt dann, soll sie in Sprache gefasst werden, wiederum Diskursmuster. Der Diskurs, oder hier schlichter und konkreter: das Repertoire an vorgegebenen Wörtern, an sprachlichen Mustern, Beschreibungsformeln und rhetorischen Gesten, all dies ist stets unhintergehbar. Selbst bei Schmerzerfahrungen und ihrem körperlichen und lautlich-nonverbalen, erst recht ihrem sprachlichen Ausdruck lassen Menschen nicht hinter sich, was vorgeformt ist. Aber diese Muster werden ergriffen, umgewandelt und persönlich angeeignet. ‚Vorgeformt‛ bedeutet schließlich nicht ein für alle mal fixiert und fest zementiert. Jede schreibende Selbstkonzeption vermittelt somit zwischen Diskurs und äußerer oder innerer, in jedem Fall nicht vom Diskurs unabhängiger Realität. Diskurse im hier verstandenen Sinn sind Teil der kulturellen Gedächtnis-Konstellationen einer Gesellschaft oder gesellschaftlicher Gruppen, sind somit in ihrem Auftreten und ihrer Wirkungsmacht geprägt durch Traditionsbildungen und in gleicher Weise wieder traditionsbildend. Auch wenn das individuelle Gedächtnis durch solche ‚Datenabgleiche‛ mit dem Familiengedächtnis und kollektiven Gedächtnis-Konstellationen meist weitgehend harmoniert, gibt es dennoch immer wieder Konfliktfälle, in denen die verschiedenen Archive Widersprüchliches beinhalten, das sich nicht oder nur schwer in Einklang bringen lässt: Erinnerungen an eigenes Erleben und Erinnerungen von Familienmitgliedern können tabuisiert sein, da sie Dinge berühren, die im aktuellen kulturellen Wertekanon verrufen sind, oder da individuelle Erfahrungen und historisches Wissen in emotionaler und kognitiver Dissonanz zueinander stehen. So hat die sozialpsychologische Forschungsgruppe um Harald Welzer das Verhältnis von historischem Wissen über den Nationalsozialismus und familiären Geschichten über Erlebnisse in dieser Zeit untersucht und dabei ermittelt, dass jüngere Familienmitglieder die Erlebnisberichte von Zeitzeugen des Nationalsozialismus aus ihrer Familie umschreiben – mit der grundlegenden Tendenz, ihre Familienangehörigen zu entlasten, Fazit: „Opa war kein Nazi.“10 Konflikte zwischen kulturellem und individuellem Gedächtnis bzw. Familiengedächtnis können autobiographisches Erzählen und Autofiktionen hervorrufen, können diese Erzählweisen motivieren, sie aber auch sprengen und geradezu unmöglich machen oder in der literarischen Öffentlichkeit Skandale auslö-

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Greyerz, Kaspar von: Erfahrung und Konstruktion. Selbstrepräsentation in autobiographischen Texten des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Berichten, Erzählen, Beherrschen. Wahrnehmung und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas, hg. v. Susanna Burghartz u. a. Frankfurt a. M. 2003, S. 220–239. Vgl. u. a. Bruner, Jerome: The Autobiographical Process, in: The Culture of Autobiography, hg. v. Robert Folkenflik. Stanford 1993, S. 38–56, und Markowitsch u. Welzer (wie Anm. 3). Welzer u. a. (wie Anm. 8).

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sen.11 Wenn hier im Folgenden Binjamin Wilkomirskis Bruchstücke (1995), Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders (2003) und Günter Grass’ Beim Häuten der Zwiebel (2006), aber auch Die Blechtrommel (1959) in den Blick geraten, wird das Verhältnis der literarischen Texte zu kulturellen GedächtnisKonstellationen analysiert. Wird hier Literatur unter dem Aspekt ‚Gedächtnis‛ und ‚Erinnerung‛ betrachtet, gerät sie nicht in erster Linie als Intertext, der Anteil am literarischen Gedächtnis hat, in den Blick. Und sie wird nicht nur als tragender, da zur Schriftkultur gehörender Teil des kulturellen Gedächtnisses angesehen. Literarisches Erzählen kann vielmehr kulturelle, familiäre und individuelle Erinnerungspraktiken abbilden und bestätigen, aber auch problematisieren und durch künstlerische Imaginationen von Alternativen konterkarieren. Für Astrid Erll und Ansgar Nünning übernimmt Literatur in Bezug auf Erinnerungskulturen12 die Funktionen der Gedächtnisbildung und der Gedächtnisreflexion, wobei Gedächtnisbildung in Affirmation herrschender Gedächtnisstrukturen und in deren Revision bestehen kann.13 Schwierig scheint mir im konkreten Einzelfall die Unterscheidung zwischen Gedächtnisbildung und -reflexion. Denn gerade dadurch, dass ein literarisches Werk kulturelle Gedächtnis-Konstellationen abbildet und in ihrer Wirkungsweise exemplifiziert und reflektiert, wird an der Bildung und Umstrukturierung kultureller Gedächtnis-Formationen gearbeitet, werden unterschiedliche Bestände in den Vordergrund gerückt, umgedeutet und möglicherweise in Zweifel gezogen. Gedächtnisreflexion in einem literarischen Werk, das in irgendeiner Weise rezipiert wird, führt stets zu einer gewissen Veränderung der kulturellen Datenbank. Entscheidend scheint mir aber der Hinweis auf die Möglichkeit von Affirmation und Revision: Literatur kann repräsentativ sein für eine kulturelle Formation und ihr bejahend, sie unterstützend zur Seite stehen – und sie kann subversiv wirken, kann die wunden Punkte einer Kultur suchen und die schwarzen Flecken im Gedächtnis einer Gesell–––––––— 11

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So ließen sich m. E. große Teile der Feuilleton-Debatte um Martin Walsers Ein springender Brunnen (1998) als Folge des Kontrasts erklären, der zwischen der – im privaten Erleben begründeten – positiven Tönung der Kindheitserinnerungen Walsers, dem emotionalen Gehalt seines autobiographischen Gedächtnisses also, und dem – ethisch und wissenschaftlich begründet – negativen emotionalen Gehalt des kulturellen Gedächtnisses an die Epoche des Nationalsozialismus besteht, in die Walsers Kindheit fiel. Gerade dieser Kontrast und die Wechselwirkungen zwischen kulturellem und individuellem Gedächtnis sind im Übrigen das zentrale Motiv des Romans: „In der Vergangenheit, die alle zusammen haben, kann man herumgehen wie in einem Museum. Die eigene Vergangenheit ist nicht begehbar. Wir haben von ihr nur das, was sie von selbst preisgibt. Auch wenn sie dann nicht deutlicher wird als ein Traum. Je mehr wir’s dabei beließen, desto mehr wäre Vergangenheit auf ihre Weise gegenwärtig. Träume zerstören wir auch, wenn wir sie nach ihrer Bedeutung fragen. Der ins Licht einer anderen Sprache gezogene Traum verrät nur noch, was wir ihn fragen.“ (Walser, Martin: Ein springender Brunnen. Frankfurt a. M. 2000, S. 9). Erll u. Nünning (wie Anm. 1) wählen den Begriff ‚Erinnerungskulturen‛ als Bezeichnung für „die historisch und kulturell variablen Ausprägungen des kollektiven Gedächtnisses“; kollektives Gedächtnis wird als Oberbegriff für kommunikatives, kulturelles und soziales Gedächtnis verwandt. Erll u. Nünning (wie Anm. 1).

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schaft ausleuchten, auch von der schmerzhaften Konfrontation zwischen kollektivem und individuellem Erinnern zeugen. Beides, Affirmation und Revision, das Repräsentative und das Subversive, sind im Übrigen keine Frage der Autorintention, und es sind keine dichotomen Kategorien: Im Rezeptionsprozess literarischer Werke kann sich deren Affirmations- und Revisionskraft verändern, die Wirkungsweise kann sich mehr zur einen oder mehr zur anderen Seite verschieben. Durch ihr subversives Potential, durch ihre Macht, auch soziales Gegengedächtnis zu sein, kann Literatur in jedem Fall eine Funktion nicht ungeprüft übernehmen: Sie lässt sich nur mit Schwierigkeiten als Quelle für herrschende Gedächtniskulturen lesen. Affirmation oder Revision bestimmter Ausprägungen des kulturellen Gedächtnisses übernehmen literarische Werke nicht nur und nicht in erster Linie über Inhaltliches, Thematisches, sondern über ihre Kommunikationsstrukturen, über die Art ihres Verfasstseins. Der Ansatz der beiden kulturwissenschaftlich ausgerichteten Anglisten Erll und Nünning betont dabei die Rolle des Fiktionalen: Die vielfältigen, auch kritischen Funktionen gegenüber Erinnerungskulturen kann Literatur für Erll und Nünning ihres fiktionalen Charakters wegen übernehmen. Doch da auch nicht-fiktionale Texte – und Autobiographien fasse ich im Folgenden mit Lejeune als Texte auf, die mit den Lesenden einen ‚pacte de vérité‛ schließen14 – narrativ gestaltet sind, müssen auch bei ihnen die verschiedenen Bezugsmöglichkeiten auf kulturelle Gedächtnisinhalte und muss auch bei ihrer Analyse das ‚Graphein‛, das ‚Wie‛ des Zugriffs, beachtet werden. Es liegt nicht am romanesken oder in anderer Weise fiktionalen Pakt, dass Literatur sich auf Erinnerungskulturen affirmierend, revidierend und reflektierend bezieht, es liegt auch und vor allem an der Art des Geschriebenseins, an der Art der narrativen Vermittlung – und dies bei fiktionalen und bei nicht-fiktionalen Texten. Zudem, so meine These, zeigen gerade die Fälle Grass und Wilkomirski, dass Praktiken der Erinnerung gerade dann um so kritischer in der Blick der Öffentlichkeit geraten, wenn die Texte einen ‚pacte de vérité‛ anbieten oder anzubieten scheinen. Ein individuelles autobiographisches Gedächtnis muss sich an kulturelle Diskurse anschließen, um ‚Erfahrung‛ enthalten und um eine sinnstiftende Lebensgeschichte vorweisen zu können. Dieser Prozess wird manifester, wenn ein autobiographischer Text aufgeschrieben wird und veröffentlicht werden soll: Institutionen und Verfahren der Traditionsbildung sind dafür entscheidend, inwieweit und in welcher Form ein Text an eine Öffentlichkeit gerät. Für Autobiographik gibt es sehr verschiedene Rezeptionsforen. Sie kann für die eigene Schreibtischschublade (d. h. ausschließlich für die eigene Traditionsbildung oder zur Selbstkonzeption), für die nähere Umgebung, für einen sehr spezifischen Leserkreis oder für eine breite Öffentlichkeit verfasst sein. Je breiter das Rezeptionsforum ist, das ein Autor oder eine Autorin erstrebt, desto stärker

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Lejeune, Philippe: Signes de vie. Paris 2005.

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muss der Text ‚Relevanz konstruieren‛.15 Relevanz wird einem autobiographischen Text dann zugeschrieben, wenn er mit kulturellen Gedächtnisstrukturen harmoniert, aber nicht vollständig übereinstimmt. Schließlich wäre ein völlig übereinstimmender Text redundant und damit überflüssig. Das heißt: Autobiographen und Autobiographinnen müssen ihre Texte den Traditionsbildungsstrukturen, den Regeln, den Wahrheitskriterien der erstrebten Öffentlichkeit und damit deren kulturellem Gedächtnis anpassen. Je erfolgreicher dieser Anpassungsprozess verläuft, desto größer werden die Chancen eines Textes, publiziert, in der Öffentlichkeit beachtet und überliefert zu werden. Überliefern meint hier einerseits ganz materiell das Erhalten des Textes im Manuskript, in Abschrift oder im Druck. Und überliefern meint andererseits auch, dass ein solcher Text im virtuellen Raum eines kulturellen Gedächtnisses verbleibt, dass er bekannt ist, gelesen und in der öffentlichen Debatte angesprochen wird. Rezeptionsästhetisch betrachtet geht der Weg genau anders herum: Auf der Suche nach den persönlichen Erfahrungen eines einzelnen Menschen kann eine literarische, politische und geschichtswissenschaftliche Öffentlichkeit nur auf solche Texte zurückgreifen, die in kulturellen Gedächtnis-Konstellationen archiviert sind, das heißt: die materiell vorhanden und kulturell aktivierbar sind. Wir nähern uns damit einer einzelnen Person und deren Erfahrung immer durch einen mehrstufigen Filter: Finden lässt sich nur, was sich erhalten hat, und lesen ausschließlich, was sich in vorhandenen Codes und Sprachmustern formulieren konnte. Der mehrstufige Filter wird generiert durch die Strukturen kultureller Gedächtnis-Konstellationen und durch die ihm zugrunde liegenden Praktiken der Traditionsbildung. Diskurse, Machtkonstellationen, Gruppenbildungs- und Geschlechterverhältnisse bestimmen diese Strukturen und Praktiken, erhalten sie aufrecht oder verändern sie. Literatur greift aber in diese Machtverhältnisse auch ein, unterstützt sie, setzt neue Akzente und kann ‚Sand ins Getriebe streuen‛. Im Jahr 2006 hat der Skandal um Günter Grass’ verschwiegene Zugehörigkeit zur Waffen-SS – nicht nur – die Feuilletons bewegt. Dieser Skandal lässt sich auch als Konflikt zwischen dem kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik und dem individuellen autobiographischen Gedächtnis des Schriftstellers Günter Grass betrachten. Aufgrund historischer Forschung gilt die Waffen-SS im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik – und weitgehend auch in den verschiedenen Formationen des kommunikativen Gedächtnisses – als Organisation, der schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit angelastet werden müssen.16 Hinzu kommt, dass Günter Grass mit seinem literarischen Werk, vor allem mit seiner Danziger Trilogie, aber auch etwa dem Butt (1977), im kulturellen Gedächtnis für eine kritische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit steht und Teil jener institutionenkritischen literari–––––––— 15 16

Sloterdijk, Peter: Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der zwanziger Jahre. München u. Wien 1978, S. 6 u. ö. Vgl. z. B. Wegner, Bernd: Hitlers Politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933–1945. Paderborn 61999.

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schen Öffentlichkeit war/ist, die erfolgreich eine demokratische Kultur in der Bundesrepublik gefördert hat. In seinen Romanen, Erzählungen und Gedichten hat er zudem verschiedene Formen des Erinnerns oder Verdrängens der nationalsozialistischen Vergangenheit reflektiert, etwa im Blechtrommel-Kapitel über den ‚Zwiebelkeller‛ die Unfähigkeit der Nachkriegsgesellschaft zur Trauer, die Unwilligkeit der Einzelnen, sich mit ihren jeweiligen Taten – oder auch mit ihrem Nicht-Handeln – auseinanderzusetzen. Zu diesem offiziellen, von Grass mitgeprägten nationalsozialismuskritischen kulturellen Gedächtnis musste aber Grass’ individuelles autobiographisches Gedächtnis im Widerspruch stehen: Aus dem war ein Makel nicht auszumerzen, er hatte sich nur – wie ein Einschluss im Bernstein – ‚verkapselt‛ (vgl. G, S. 36ff.). Dieser Widerspruch bestand offenbar hartnäckig, obwohl der Autobiograph „die Dame Erinnerung“ zur „fragwürdigste[n] aller Zeuginnen“ und zu einer „launische[n] Erscheinung“ erklärt, „der zudem der Ruf anhängt, je nach Marktlage käuflich zu sein“ (G, S. 64), d. h. der Autor erkennt die Abhängigkeit des autobiographischen Gedächtnisses von kulturellen Diskursen.17 Aber diese Abhängigkeit besteht nicht gänzlich, der 80jährige will „dies und auch das“ nachtragen aus seiner Lebensgeschichte, vor allem den einen Stein des Anstoßes: Der Fünfzehnjährige hatte sich 1943 freiwillig zur Wehrmacht gemeldet und erhielt 1944 einen Einberufungsbescheid zur Waffen-SS. Das literarische Werk des Nobelpreisträgers steht für eine erfahrungsgesättigte, facettenreiche, sinnliche Erzählung über Menschen in der Nazizeit: Erzählungen von Enge, Not, Lust, Schuld, Grausamkeit, vor allem aber: von Bequemlichkeit, von kleinbürgerlichem Gehorsam. Es waren wortreiche Geschichten. „Ein Wort ruft das andere“ (G, S. 36): Grass redete und schrieb sich mit der Danziger Trilogie, mit dem Butt und anderen Geschichten aus einer Gegend, die ihm vertraut war, um eine lebensgeschichtliche Wahrheit herum, die auch in seiner 2006 erschienenen Autobiographie nur wenige Seiten einnimmt, von der man aber bemerken kann, dass ‚ein Wort das andere ruft‛ und eine Nebenlinie der Geschichte sich an die andere reiht, um das geständige Wort noch hinauszuzögern. Die Doppelmoral eines Autors, dessen politische Reden und Schriften nicht die Weltklugheit seiner Prosa erreichen, die Feigheit eines Autors, der von anderen stets offensive Wahrheit forderte und der selbst über 55 Jahre wartete, bis er, der beichtgewohnte Ex-Katholik, sein Geständnis ablegte, soll hier nicht im mindesten beschönigt werden. Da aber das autobiographische Geständnis sich so lange Zeit verkapseln musste, ‚rief ein Wort das andere‛: Die Blechtrommel, Hundejahre (1963) und Der Butt waren unter anderem die wunderbaren literarischen Folgen. Stellvertretend für den jungen Günter Grass lief ein –––––––— 17

Grass differenziert zwischen Erinnerung, die „das Versteckspiel der Kinder“ liebe und dem „Gedächtnis, das sich pedantisch gibt und zänkisch rechthaben will“ (G. S. 8). Nach diesem Satz wäre die Erinnerung die erinnernde öffentliche autobiographische Rede, die je nach Bedarf Konflikthaftes verschweigt. Doch diese begriffliche Differenzierung wird in Grass’ Autobiographie, einem literarischen und keinem theoretischen Text, nicht durchgehalten.

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anderer in kurzen Hosen durch die Gassen des Danziger Vororts Langfuhr und ertrommelte sich ‚unter der Tribüne‛ ersatzweise für eine ganze Generation scheinbare Absolution. Wenn Oskar erzählt, wie sein subversives Trommeln eine Naziveranstaltung im Walzer-Takt zur Auflösung bringt, ähnelt dies den eigenes Verhalten beschönigenden, mögliche Subversivität betonenden Geschichten, die Welzers Enkelgeneration so gern von den älteren Mitgliedern ihrer Familie weitergibt und die auch Grass von seiner Mutter aufschreibt: „Weiß überhaupt nich, warum man so gegen die Juden ist“ (G, S. 89), soll sie gesagt haben. Doch Oskar ist – deutlich lesbar – ein unzuverlässiger Erzähler, und Grass’ Roman reflektiert auch damit subversiv den defizitären kommunikativen Umgang der Nachkriegsgesellschaft mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Auch ‚beim Häuten der Zwiebel‛ ‚ruft ein Wort das andere‛: Da wird der Gestank des Etagenklos genau so herangezogen wie der Ödipuskonflikt bemüht, da werden diverse Exkurse in das eigene dichterische Werk, in zeitgenössische filmische Machwerke und in pubertäre Sexualphantasien ausgeschrieben, um die Beichte aufzuschieben. Wenn ‚Abgekapseltes‛, das sich entkapseln, also sein Geheimnis preisgeben soll, Peinliches, Peinsames, Schuldgestehendes schon auf den ersten Seiten der Autobiographie angekündigt wird, braucht es weitere 90 Seiten, bis auf Seite 126 das Wort „Waffen-SS“ fällt: „Also Ausreden genug. Und doch habe ich mich über Jahrzehnte hinweg geweigert, mir das Wort und den Doppelbuchstaben einzugestehen. Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender Scham verschweigen. Doch die Last blieb, und niemand konnte sie erleichtern.“ (G, S. 127). Und doch verliert sich, einmal entkapselt, die Schuld in Grass’ Autobiographie recht schnell, die SS-Division „Jörg von Frundsberg“ löst sich zerrieben auf, und der Soldat der Waffen-SS wird, kaum ausgebildet, zum Teil einer geschlagenen Armee auf dem Rückzug. Jetzt ist Grass’ autobiographisches Gedächtnis wieder im Einklang mit verschiedenen Formen des kommunikativen Gedächtnisses der frühen Jahre der Bundesrepublik und deren Kriegserinnerung: Auf der Flucht vor der roten Armee, mit der Angst im Gepäck kann der einzelne erzählende Soldat das nackte Leben nur mit Glück und durch Zufall retten und den Stalinorgeln entkommen (diejenigen, die nicht entkommen sind, können schließlich nichts mehr erzählen). Der Konflikt zwischen dem Familiengedächtnis und dem kulturellen Gedächtnis – und damit die Irritation des autobiographischen Gedächtnisses –, dies ist das Thema von Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders (2003). Der autobiographische Erzähler Uwe Timm18 schildert eine intensive, auf gegenseitiger –––––––— 18

Nach Philippe Lejeunes ursprünglicher Fassung des autobiographischen Pakts (1975) besteht dieser in der Identität zwischen Autor, Erzähler und Hauptfigur, die sich in der Namensgleichheit erweist. Vgl. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Aus dem Franz. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1994 (urspr. Paris 1975). Uwe Timm heißt der Autor, der Erzähler und eine der Hauptfiguren der autobiographischen und familiengeschichtlichen Erzählung (Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders. Köln 2003). In meinem Verständnis der Autobiographie als einer Textsorte, die einen ‚pacte de

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Wertschätzung beruhende Beziehung der Hauptfigur Uwe Timm zur Mutter. Gleichzeitig verehrt diese Mutter aber auch seinen Bruder, einen Bruder, an den sich die Hauptfigur kaum noch erinnern kann. Denn der war viele Jahre älter, hatte sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet und kam bei Kämpfen zu Tode. Der in der Familie hochverehrte Bruder, geliebt von geliebten Familienmitgliedern, war somit freiwilliges Mitglieder der Waffen-SS, einer verbrecherischen Organisation: Das Familiengedächtnis wertet anders als das offizielle kulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik. Der Schriftsteller Timm fahndet nach den Beweggründen seines Bruders, nach den Werten seiner Familie und sucht sich in Am Beispiel meines Bruder seiner eigenen Lebensgeschichte zu versichern. Studenten meines Seminars zur Autobiographik nach 1945 an der Universität Karlsruhe fragten, warum diese autobiographischen, Identitätskrisen beschreibenden Texte erst so viele Jahre nach 1945 entstanden, warum gerade Autoren der 68er-Generation wie Uwe Timm nicht früher nach den wunden Punkten der eigenen und der Familiengeschichte suchten: Ein Grund könnte sein, dass die 68er-Generation, der die allgemeine Geschichte noch näher an der individuellen und der familiären Geschichte haftete, die Auseinandersetzung nicht auf individuelle, sondern auf sozialstrukturelle, makrohistorische Fragen lenkte. Ein weiterer Grund gerade für das Auftreten lebensgeschichtlichen Erzählens um die Jahrtausendwende könnte ebenso in der größeren biographischen Veränderung liegen: Das Erinnern verändert sich, das kulturelle Gedächtnis übernimmt eine andere Stellung im Verhältnis zum individuellen autobiographischen, wenn immer weniger Zeitzeugen vorhanden sind und andererseits – Stichwort: Guido Knopp – Erinnerung immer öfter fernsehöffentlich vorformuliert oder – Stichwort: Steven Spielberg – filmisch-fiktional vorgeprägt wird. Kirsten Möller stellt am Beispiel von Beim Häuten der Zwiebel fest: Die Erinnerung an die Vergangenheit wechselt mit zunehmender zeitlicher Distanz von unmittelbaren in mittelbare Modi des Erinnerns, wird institutionalisiert, organisiert und ritualisiert.19

Kultur-, sozial- und naturwissenschaftliche Gedächtnisforschung spricht nun zwar entschieden dagegen, von ‚unmittelbaren‛ Modi des Erinnerns auszugehen; dass kulturelle, familiäre und individuelle Gedächtnis-Konstellationen aber mit zunehmendem Zeitablauf stärker von institutionalisierten, organisierten und ritualisierten Mustern geprägt werden, darf als gesichert gelten. Literatur wie Timms autobiographische und familiengeschichtliche Erzählung und Martin Walsers Roman Ein springender Brunnen (1998) reflektiert diesen biologisch und medial bedingten Gedächtniswandel. Für beide Bücher gilt dabei, was Inge Stephan für Uwe Timms Erzählung und für Ulla Hahns –––––––—

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vérité‛ voraussetzt, aber einen gestaltenden Erzähler hat, kann der Erzähler nicht einfach identisch mit Autor und Hauptfigur sein, der Text setzt allerdings diese Identität in Szene. Möller, Kirsten: Zwiebelhaut und Bernsteingold. Günter Grass’ Erinnerungsbuch Beim Häuten der Zwiebel (2006) und die darum entbrannte Feuilleton-Debatte, in: NachBilder des Holocaust, hg. v. Inge Stephan u. Alexandra Tacke. Köln u. a. 2007, S. 38–52; hier: S. 41.

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Roman Unscharfe Bilder (2003) festhält: Es geht um die „Relativität der Erinnerung“, aber nicht um eine „Relativierung historischer Ereignisse“.20 Wenn Grass in Beim Häuten der Zwiebel immer wieder damit kokettiert, unfähig und unwillig zum Scheiden zwischen real erlebter individueller Geschichte und dichterisch ausgesponnenen Erzählfäden zu sein, nimmt er damit einerseits, und das Feuilleton hat ihm dies durchaus mit einigem Recht vorgeworfen,21 seiner Vergangenheitsbeichte an Ernsthaftigkeit und webt stattdessen weiter an den dichterischen Schleiern, hinter denen er sein eigenes Tun bisher verborgen hielt. Er findet aber andererseits darüber hinaus eine literarische Geschichte für die Diskursabhängigkeit unserer Erinnerung, wenn er seine lebensgeschichtlichen Anekdoten mit Prominenz wie Josef Ratzinger und Louis Armstrong anreichert (u. a. G, S. 217 und S. 373ff.) und das reale Langfuhr seiner Kindheit nicht mehr vom Wohnort des fiktiven Blechtrommlers unterscheiden zu können vorgibt – was durchaus glaubwürdig ist, da Oskars Langfuhr mit einiger Sicherheit inzwischen auch geschichtswissenschaftliche Rekonstruktionen kleinbürgerlicher Danziger Vororte prägt. Insofern erhöhen gerade Grass’ spielerische Dekonstruktionen einer nicht-fiktionalen Gattung ‚Autobiographie‛ die gedächtniskritische und -reflektierende Kraft seiner Erinnerungen, eine Kraft, die Beim Häuten der Zwiebel aber nur als Autobiographie vollständig entwickeln kann. Denn als Roman mit einem zufällig und nur um Gattungsgewissheiten zu zerstören ‚Günter‛ genannten, fiktiven autodiegetischen Erzähler hätte dieser Text keinen Finger in die klaffende Wunde zwischen offiziellem kulturellem Gedächtnis und verschiedenen individuellen Gedächtnisformationen gelegt und würde im Gegenteil einen weiteren Schritt auf dem Weg einer diskursiven medialen Überlagerung individueller Erinnerung bedeuten. Dass gegenwärtige Autobiographik sich oft selbst in die Nähe des Dichterischen, des Imaginierten rückt, zeugt nicht davon, dass Autobiographien keine nichtfiktionalen Texte sein können, sondern ist gerade ein Signal der Glaubwürdigkeit, der Gedächtnisreflexion, der Suche nach einer verlorenen Zeit. Autobiographik von fiktionalen Texten zu unterscheiden, bedeutet im Übrigen keineswegs, sie naiv als ‚Wahrheit‛ zu lesen. Es bedeutet nur, dass diese Texte mit ihren Lesern und Leserinnen einen Pakt eingehen, ihnen einen ‚Lesevertrag‛ nahelegen, sie als referentielle Texte zu lesen, als Texte, die sich auf eben diese Suche nach einer – in ihrer ursprünglichen Faktizität unwiederbringlich – verlorenen, in ihren Bildern und Gedächtnisspuren aber noch recherchierbaren Vergangenheit begeben. Wenn Autobiographien somit – nicht naiv – als nicht-fiktionale Erzählungen betrachtet werden, müssen solche Texte deshalb auch gelegentlich als lügenhaft gelten, das heißt: sie verletzen manchmal den ‚pacte de vérité‛, den sie ihren Lesenden anbieten. Romane und andere fiktionale Texte dagegen lügen nicht, –––––––— 20

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Stephan, Inge: Nachgetragene Erinnerungen. Die Wiederkehr des Nationalsozialismus in Familientexten der Gegenwart – Uwe Timm Am Beispiel meines Bruders (2003) und Ulla Hahn Unscharfe Bilder (2003), in: Stephan u. Tacke (wie Anm. 19), S. 18–37; hier: S. 35. Vgl. zur Feuilletondebatte um Beim Häuten der Zwiebel Kölbel, Martin (Hg.): Ein Buch, ein Bekenntnis. Die Debatte um Günter Grass’ Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen 2007.

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Eva Kormann

denn sie können nicht verletzen, was sie nie geltend machen wollten. Eine ganz andere Frage ist, ob Autobiographen eindeutig der Lüge überführt werden können: Wenn ihre Texte von Motivationen, Gefühlen und inneren Einstellungen künden, also von Empfindungen, die nicht beobachtbar sind, kann es keine intersubjektiv nachprüfbare Referenz geben – was aber nicht heißt, dass es keine Referenz gäbe, nur: wir können sie nicht wahrnehmen. Im Zentrum autobiographischer Texte steht die ‚Erfahrung‛ derer, die sie schreiben. Auch diese ‚Erfahrungen‛ sind letztlich nicht intersubjektiv überprüfbar. So stellen etwa Bruno Doessekkers beziehungsweise Binjamin Wilkomirskis Bruchstücke (1995) einen Grenzfall des Autobiographischen und des ‚pacte de vérité‛ dar: Literaturkritik und -wissenschaft allein können nicht entscheiden, ob der Autor Bruno Doessekker berechnend mit den Gesetzen des Literaturmarkts spielte, als er sich die Identität Binjamin Wilkomirskis erschrieb, und damit einen autobiographischen und referentiellen Pakt in betrügerischer Weise vortäuschte oder ob er zutiefst davon überzeugt war und vielleicht noch ist, Wilkomirskis ‚Erfahrungen‛ persönlich durchlebt und durchlitten zu haben.22 Dass eine internationale literarische Öffentlichkeit zunächst Wilkomirskis/Doessekkers Bruchstücke bereitwillig als Autobiographie las, lässt sich dadurch erklären, dass hier das geschilderte, den Anspruch des Autobiographischen Erhebende passgenau mit dem kulturellen und kommunikativen Gedächtnis übereinstimmte. Schließlich hatte sich der Autor bewusst oder sich über seine eigene Vergangenheit unbewusst täuschend an allgemein zugänglicher historischer Forschung, an Zeitzeugenberichten und an künstlerischen Werken, die diese Vergangenheit imaginieren, bedient: Das ‚autobiographische Gedächtnis‛ Wilkomirskis stimmt somit mit dem kulturellen Gedächtnis in geradezu idealer Weise überein: „Jahrelange Forschungsarbeit, viele Reisen zurück an die vermuteten Orte des Geschehens und unzählige Gespräche mit Spezialisten und Historikern haben mir geholfen, manche unerklärlichen Erinnerungsfetzen zu deuten, Orte und Menschen zu identifizieren, wiederzufinden und einen möglichen historischen Kontext wie auch eine mögliche, einigermaßen logische Chronologie herzustellen.“23 Aber dieser Grenzfall ist nicht zufällig zu einem Skandalon der literarischen Öffentlichkeit geworden: Wer einen Text liest, sucht nach intra-, para-, interund kontextuellen Signalen für einen ‚pacte de vérité‛ oder einen fiktionalen Pakt, sucht also nach einer Versicherung, ob der Text sich im Reich der Phantasie oder dem der Historiographie bewegt (oder ob er Phantasmagorie eines gestörten Bewusstseins ist). Denn je nach Zuordnung wird der Text anders –––––––— 22

23

Ganzfried, Daniel: Die geliehene Holocaust-Biographie. Kommt einer und behauptet, er sei im Innern der Hölle gewesen, fühlen wir gedankenlos mit. Er nimmt uns die Aufgabe ab, Auschwitz zu verstehen, Weltwoche Nr. 35/98 (27.8.1998). Mächler, Stefan: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie. Zürich u. München 2000. Bauer, Barbara u. Waltraud Strickhausen: Autobiographie oder Fiktion? Reaktionen deutscher Leser auf den Fall „Binjamin Wilkomirski“. In: www.literaturkritik.de 3 (1999), 03.08.08. Wilkomirski, Binjamin/Bruno Doessekker: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948. Frankfurt a. M. 1995, S. 143.

Bruchstücke großer und kleiner Konfessionen

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gelesen: Fiktionaler Literatur wird zumeist ein freierer kritischer Umgang, ein offeneres, auch konfliktreicheres Spiel mit den Formationen des kulturellen, familiären oder individuellen Gedächtnisses zugestanden – auch wenn sich in fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten Bruchstücke größerer oder kleinerer Konfessionen und damit zugleich auch Reflexionen des kulturellen Gedächtnisses finden lassen.

Nils Plath

Zu Brechts kalifornischen Musterhäusern Betrachtungen zum Weiterlesen im Arbeitsjournal, 1942–1947

zahl die wasserrechnung nicht, und nichts blüht mehr.1

1. Unruhe und die Aufgabe der Zentralperspektive bestimmen zunehmend die Blicke auf jenes im Verlauf der Moderne im 19. Jahrhundert zur Chiffre werdende Amerika in deutschsprachiger Literatur und Beschreibungen, auf seine Städte und Häuser. Nicht erst der Protagonist in Der Verschollene von Franz Kafka, dessen gesamtes erzählerisches Werk literaturwissenschaftlicher Perspektivgewinnung selbst zur Herausforderung wird, wenn darin beschriebene Bauten und Ortswechsel auch die Selbstpositionierung des Lesers in Frage zu stellen vermögen, erlebt das, bevor die von jenem Karl Rossmann geschilderte Erfahrung einer Versetzung in die Zentrumslosigkeit auf dem Naturtheater von Oklahoma zur Illustration einer retrospektiven Selbstbeschreibung werden konnte. So schreibt Theodor W. Adorno in einem Rückblick auf seine Zeit in den Vereinigten Staaten 1968 zu seinen wissenschaftlichen Erfahrungen in Amerika, und sieht sich darin weniger als ein Tui denn als eine in eine negative Sozialutopie bewegte Figur: Das Princeton Radio Research Project hatte sein Zentrum damals weder in Princeton noch in New York, sondern in Newark, New Jersey, und zwar, etwas improvisierender Weise, in einer unbenutzten Brauerei. Wenn ich dorthin fuhr, durch den Tunnel unter dem Hudson, kam ich mir ein wenig wie im Kafkaschen Naturtheater von Oklahoma vor.2

In Adornos Aufsatz finden sich Äußerungen zur Perspektivbestimmung eines Europäers gegenüber den USA, die Amerika dort und Europa hier in ein zeitliches Verhältnis zueinander setzen. Sie zeigen, wie sehr der Blick auf die Bewegung von hier nach dort die Selbstbestimmung am gegenwärtigen Ort als selbstgegenwärtig bestimmt und zugleich doch einer Unbestimmtheit aussetzt, weil er sie nur als eine, und zudem nachträgliche, Beziehung zum anderen Ort beschreiben kann. Indem Adorno das Fortgeschrittene andernorts zum Gegen–––––––— 1 2

Brecht, Bertolt: Arbeitsjournal. 1938–1955. Berlin-Ost 1977, S. 180. Eintrag vom 9.8.1941. Adorno, Theodor W.: Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika, in: Gesammelte Schriften. Band 10.2. Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte. Anhang, Frankfurt a. M. 1977, S. 702–738; hier: S. 706.

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stand der Betrachtung wird, verschafft er sich selbst in einer als zunehmend zentrumslos gesehenen Welt einen Standort auch gegenüber der Zeit, um sich dort, in Europa, mit seinen Beobachtungen zur Zukunft häuslich einrichten zu können: Innerhalb der Gesamtentwicklung der bürgerlichen Welt haben fraglos die Vereinigten Staaten ein Extrem erreicht. Sie zeigen den Kapitalismus gleichsam in voller Reinheit, ohne vorkapitalistische Restbestände. Nimmt man, im Gegensatz zu einer freilich hartnäckig verbreiteten Meinung an, dass auch die anderen nichtkommunistischen und nicht der Dritten Welt zugehörigen Länder auf einen ähnlichen Zustand sich hinbewegen, so bietet für einen, der weder in bezug auf Amerika noch auf Europa sich naiv verhält, Amerika die fortgeschrittenste Beobachtungsposition.3

Schon in einem 1855 erschienenen Roman, dem Adorno das Motto seiner im amerikanischen Exil entstandenen Denkminiaturensammlung Minima Moralia entnahm, der reisebericht- und entwicklungsromanhaften Schilderung eines Aufenthaltes in den USA mit abschließender Rückkehr nach Europa, werden Unruhe und zentrumslose Perspektive in der Beschreibung einer Straße lesbar: Wo nur ein Ruhepunkt? Mit jeder Seitenstraße, die einmündet, schwillt noch die Flut, denn alles drängt dem Broadway zu, wenig fließt ab von ihm. Der Schwimmer weiß zuletzt nicht mehr, schwimmt er mit oder gegen den Schwall; wohin er sich wendet, jede Richtung ist ihm eine widrige. Die Kunst des Flanierens ist eine Lokalkunst. Zu schauen und nicht zu schauen, sich zu bewegen und stehen zu bleiben, hat eine andere Technik auf den Boulevards, auf dem Long-Acre und auf dem Broadway. Der Eingeborene kennt diese Kunst, unser Fremder wird fortgespült, wie ein äthiopisches Sandkorn ins Nil-Delta. Es ist als hätte er die ganze Erde wider sich, Bewegliches und Unbewegliches. Ein Blick gegen Himmel bleibt oft der einzige Ruhepunkt.4

In Ferdinand Kürnbergers Stadtschilderung aus seinem Roman Der Amerikamüde wird das amerikanische Stadtbild augenscheinlich als etwas zu bestimmen gesucht, dem sich in Betrachtungen zu nähern heißt, als ein Wahrnehmender und Beschreibender mit Blicken Halt zu suchen. Letztendlich lassen der schweifende und stillstehende Blick und die assoziierenden Ansichten keine Zentralperspektive mehr zu. Einzig der – von Häuserfronten gerahmte – Himmel bleibt als Aussicht auf einen Fluchtpunkt, wie der Verweis auf in der alten Heimat erworbene Bildung, die die Vergleiche möglich macht. So verteidigt doch an dieser Stelle in der Abgrenzung gegenüber dem als befremdlich anders Geschilderten der Betrachter ein eigenes Erbe, eine eigene Ansicht – auch und gerade in Bezug auf einen Begriff von Natur. In Bewegung gesetzt, ins Schwimmen geraten, vorgeblich ohne Haltepunkt für seine Orientierung, findet da der Blick des Reisenden, des Besuchers, des fremden Staatsbürgers, des Repräsentanten einer anderen Denkordnung und des Anspruchs auf Kultur, auch einer antiken, der in der Unmittelbarkeit des Fremdländischen Mitteilungen nach Hause macht, auf der Straße – als ein Flaneur –, das Haus: –––––––— 3 4

Adorno (wie Anm. 2), S. 146f. Kürnberger, Ferdinand: Der Amerikamüde. Amerikanisches Kulturbild. Frankfurt a. M. 1986, S. 24 [erstveröffentlicht 1855].

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Ruhepunkt? Mit nichten! Denn was soll er zu einer Stadt sagen, wo im dritten Gestock der Schlosser hämmert, wo ein Schmiedefeuer glüht in jener Dachetage, die sonst nur das Lämpchen des Poeten kennt? Ja, das Haus ist hier kein Erbe auf Kind und Kindeskind; die Fabrik hat’s geliefert, die Fabrik verbraucht’s als vorübergehendes Werkzeug. So ist auch der Weg zum Himmel nicht frei, Lärm oben wie unten, Hammer dröhnen und Funken sprühen zu den Fenstern einer Höhe heraus, in welcher der Zeisig singen, von welcher ein Blatt des Blumenstocks niederwehen sollte.5

Jenes im Roman beschriebene, fremd erscheinende Haus, hingestellt in jenes verwirrende innerstädtische Ensemble, das dem Reisenden in der Neuen Welt den roten Faden und alle Orientierung verlieren lässt, vorgeblich faktuale Realität und zugleich Verweis auf in Reisebeschreibungen mitgeführte Bilder, Aufbewahrungsort für Ordnungsbedingungen des Sozialen und Gegenstand von Beschreibung, in denen sich der Bezug zu den Denkgebäuden vorausgegangener Zeiten vergegenwärtig und tradiert, es wird um 1850 auf amerikanischen Boden aus einer alt-europäischen Wahrnehmung endgültig entführt. Kein „Erbe auf Kind und Kindeskind“, ein Fabrikprodukt stattdessen, ist das amerikanische Haus von da an dem europäischen Blick entfremdet. Es fungiert seitdem als etwas, das Amerika von Europa trennt. Die anbrechende Moderne teilt sich in der Beschreibung des Hauses mit und auf. In der Wahrnehmung des Hauses werden die Vereinigten Staaten als Land in die Zukunft verwiesen, zu Hause im Alten Europa als geschichtslos betrachtet, als gegenwärtige Zukünftigkeit – perspektivgebend wird der Blick auf das Haus damit für den Blick auf die eigene Geschichte. Die zitierte Passage aus Kürnbergers Roman kann verdeutlichen, wie sehr die Hausbeschreibungen des Reisenden in Der Amerikamüde ihn die Bedingungen seiner eigenen Wahrnehmung reflektieren lassen: dieser schildert sich als ein jemand, der in produktiver Arbeit Worte für das Gesehene zu finden sucht, sich so als ein von Zeit- und Raum-Verhältnissen Bestimmter ausweist. Die Beschreibungen des Hauses an dieser Stelle von Kürnbergers Roman lassen die fiktiven Reiseschilderungen wie die eines Archäologen der Zukunft beim ausgrabenden Spurenverfolgen und Nachzeichnen des ihm erst Bevorstehenden erscheinen. Erzählt wird vom Erzähler, um sich in der Fremde als bei sich bleibend und dauerhaft zu zeigen: im Roman ein früher Hinweis auf die zum Schluss erfolgende Heimkehr des Amerikamüden zurück nach Europa. Die Fremdheit gegenüber einer Welt und in einer Umwelt, die dort aufgezeichnet und beschrieben wird, wo von Haus und Eigenheim die Rede ist, das heißt von jenem Symbol, in dem sich versichert wird, einen Platz beziehen zu können und einen eigenen Raum zu bewohnen, ist die einer anderen Wahrnehmung von Geschichte und der Aussicht auf Zukunft durch Arbeit und Erbe von Vergangenheit.6 –––––––— 5 6

Kürnberger (wie Anm. 4), S. 24. Für eine komprimierte Geschichte des amerikanischen Hauses, vielerorts zur Darstellung gebracht, siehe Foster, Gerald: American Houses. A Field Guide to the Architecture of the Home. Boston u. New York 2004.

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Historisch als Phänomen nicht weiter zurückgehend als bis zum siebzehnten Jahrhundert, dient das ‚Eigenheim‛ weniger dem vom Adelssitz übernommenen Anspruch zur Repräsentation, garantiert stattdessen in der Formierung von Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit Privatsphäre als Kennzeichen bürgerlichen Wohnens. Im Moment des Entstehens der ersten industriell gefertigten suburbs in den Vereinigten Staaten erfuhr diese bürgerliche Selbstverortung ihre endgültige Absage wie zugleich eine folgenreiche Neuauflage: Mit der Erfindung des Eigenheims in Fabrikbauweise zur Mitte des 19. Jahrhunderts gingen sowohl die Neuerrichtung wie der endgültige Bruch eines Bewusstseins von Innerlichkeit als ungestörter Privatheit einher. Das Produkt von industriell organisierter Herstellung und arbeitsteiliger Produktion verdrängte die Erwerbsarbeit, und zwar bis zur Einführung von Telearbeit für lange Zeit, aus dem Haus.7 In der amerikanischen Architekturgeschichtsschreibung findet sich die Jahrhundertmitte des 19. Jahrhunderts als jener Zeitraum markiert, in dem die Fabrikation des Einfamilienhauses erstmals und endgültig zu einer Sache der industriellen Produktion wurde: maßgeblich werdendes Symbol für die gesellschaftliche Selbstbestimmung des Einzelnen. Schon die angeführte Passage aus Kürnbergers Roman Der Amerikamüde liest sich dafür wie eine Belegstelle. Tatsächlich wird ebenfalls geschildert, wie den Protagonisten des Romans Erstaunen ergreift, als er auf der Straße mit einem Fertighaustransport konfrontiert wird: „Platz da! Rette sich wer kann! Die Straße verdunkelt sich, – ein langer, keuchender Pferdetrain schleppt ihn herauf, den alles überragenden Transportwagen. Ein Haus transportierte er – ein fertiges Backsteinhaus! Nur das Dach und der Schornstein fehlt, wenn sie nicht dem Ungeheuer wie in einem Strickkörbchen nachgeführt werden.“8 Dieser historische Wandel des Hauses als einer Figuration von Besitz in und über die Zeit bestimmte offensichtlich und doch unterschwellig von damals an wie weiterhin grundlegende Wahrnehmungsmuster von Raum und Zeit, wie sie die gesellschaftliche Organisation in den USA formieren. Er bewirkt überdies die Durchsetzung eines bestimmten Begriffs von Modernität wie er sich in der Darstellung auch europäischer Metropolen seit dem späten 19. Jahrhundert als bestimmend zeigt.9 Bis heute zeugen davon die gängigsten Darstellungsformen der USamerikanischen Real-Landschaften wie deren Interpretationen – sei es aus soziologischer oder stadtplanerischen Perspektive. Auch die Bildproduktionen in Literatur, Fotografie und Film werden von der mit der neuen Hausbauweise in die Wahrnehmung von Stadt und Land eingezogene Unterscheidungen von ‚Kultur‛ und ‚Natur‛ in ihren Perspektivfindungen bestimmt. –––––––— 7 8 9

Vgl. die Ausführungen zur Geschichte des Hauses als einem privaten und öffentlichen Ort bei Riley, Terence: The Un-Private House, New York 1999. Kürnberger (wie Anm. 4), S. 23. Siehe Plath, Nils u. Walter Fähnders: ‚Chicago‘ in Berlin und Moskau. Belegstellen zu einem Metropolenbild in der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts, in: Flüchtige Blicke, hg. v. Wolfgang Kissel, Bielefeld 2008 [im Druck].

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Innenstädtischer Raum und Vorstadt, beides abwechselnd vielstimmig beschriebene Schauplätze der Literatur der Moderne seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und des gesamten 20. Jahrhunderts, bildeten und wandelten sich in den USA vor der baugeschichtlich revolutionären Erfindung des so genannten balloon frame house, das – neben dem einige Jahrzehnte später entstandenen Wolkenkratzer – als erster genuin amerikanischer Beitrag zur Geschichte der Architektur gilt. Eine phänomenologische Beschreibung eines von fremden Häusertypen angefüllten amerikanischen Stadtraumes, fiktional und doch als literarisierte zeittypisch aussagekräftig (und dabei vorgreifend auf die Jahrzehnte später raumgreifenden Debatten um den Realismus und dessen Beschreibungsmöglichkeiten), sieht das amerikanische Haus in Kürnbergers Roman ausgesprochen als Produkt und als den Ort von Arbeitsprozessen, als Herausforderung somit für die Selbstverortung des sich in einer die Sichtweisen bestimmenden ungewohnten Umwelt sich Bewegenden bestimmt.10 Das Haus ist Produktionsstätte von Ansichten, die als kulturelle oder nationale immer als Produkte von Schreibverfahren und Leseprozessen zu sehen sind. Ansichten von Häusern sind so denn darauf hin zu betrachten, wie sie – in Literatur und ihren Fortsetzungen auftauchend – als Formierungen von Selbstmanifestationen dastehen, wie in ihnen die Rahmengebungen, das Einziehen von Streben und das Legen von Fundamenten in Zeit und Raum als Errichten von Abgrenzungen und Ausgrenzungen sich vollzieht. Eine solche Fabrikation von Hausgeschichten ist anfangs nicht mehr als Unterstellung: als Behauptung ein behelfsmäßiger Schutzraum, eine Bauhütte, in der Fertigbauteile und Verbindungsstücke aus einer Planskizze eine Ansichtssache machen helfen sollen.11 Die Unterstellung, von der auszugehen ist, ist ein Vorschlag zu Lektüren von deutschsprachigen literarischen und literakritischen Texten, die zwischen 1850 und 1950 entstanden – dem Jahrhundert einer vielstimmig und wechselseitig erfolgten Identitätsdifferenzausbildung von der erfolgten Massenauswanderung in die USA bis zu einem westlichen Wiedereintreten eines (Anti-)Amerikanismus in der Phase der Neuformierung von nationaler Identität in den Nachkriegsdeutschlands. Wobei mit Blick auf den Topos des Hauses und des Woh–––––––— 10

11

Mit Hinweis auf Walter Benjamins Überlegungen zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit entwickelt Marco d’Eramo Überlegungen zur Bedingtheit des Wohnbefindens: „Wie das Kunstwerk [...] kann bei der Form ‚Haus‘ die ihm bisher zuerkannte Funktion marginal werden, und im Zeitalter des Serienhauses erleben wir die Reproduktion eines für die Vervielfältigung vorgesehenen heimischen Herdes. Es bildet sich eine neue Vorstellung von Wohnen heraus, eine neue Ästhetik und ein neues Verhältnis zur Außenwelt. Was einem fremden Auge als antiästhetisch und repetitiv erscheint, ist in Wirklichkeit die kreative Lösung der industriellen Standardisierung, um zwei inkompatible Strebungen miteinander in Einklang zu bringen. Der Mensch kann so fest verwurzelt und gleichzeitig als ewiger Nomade leben.“ (d’Eramo, Marco: Das Schwein und der Wolkenkratzer. Chicago: Eine Geschichte unserer Zukunft. Reinbek 1998, S. 84. Übs. aus d. Italienischen v. Friedericke Hausmann). Die vorlegten Überlegungen verstehen sich als Teil einer Planskizze, als Fertigbauteile und Verbindungsstücke ausführlicherer Studien zum amerikanischen und deutschen Haus als Ort und Bild zur Verständigung über Identitäten in deutschsprachiger Literatur 1850–1950.

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nens einige Dispositive sichtbar gemacht und interpretiert werden können, die sich noch in gegenwärtigen Intellektuellendebatten zur deutschen wie zur europäischen Identitätsbestimmung und auch in den Beschreibungen des Fremden in literarischen Texten finden und bleibend identitätsformierend Wirkung zeigen.12 Als so illusionserzeugende wie wirkungsreiche Inszenierung aus Stückwerken.

2. „was ich gerne mache, ist das wässern des gartens. merkwürdig, wie das politische bewußtsein all diese alltäglichen verrichtungen beeinflusst. woher sonst kommt die sorge, eine stelle des gartens könnte übersehen werden, die kleine pflanze dort könnte nichts abbekommen oder weniger, der alte baum dort könnte vernachlässigt werden, weil er so stark aussieht. und unkraut oder nicht, wasser braucht, was grün ist, und man entdeckt soviel grünes in der erde, wenn man erst einmal zu gießen anfängt.“13

3. Bertolt Brechts Aufenthalt im südkalifornischen Exil wird, und damit auch die dort in Los Angeles aufgezeichneten Überlegungen zum Wohnen und Arbeiten, zum Lesen und Schreiben, dem Zufall zugeschrieben. Von Brecht selbst. Der Zufall wollte es, schreibt er, dass er sich dort wiederfand, wo er dann zum Wohnen und Arbeiten kommen soll. Einen Anlandeplatz und Aufenthaltsort findet, eine willkürlich ihn und seine Wahrnehmungen bestimmende Adresse für die eigene Verfassung und Verfasstheit – in und mit der Zeit. So wollen es Passagen aus Briefen lesen lassen, die Bertolt Brecht kurz nach seiner Ankunft im kalifornischen Exil im August 1941 verfasste. An Hoffman R. Hayes schreibt er bald nach dem Eintreffen in Kalifornien: „nach einer Fahrt von fast einem viertel Jahr sind wir nun doch in den Staaten gelandet, ganz zufällig in San Pedro“.14 Erwin Piscator berichtet er in einem –––––––— 12

13 14

Denn die in jüngeren politischen Debatten forcierte Rede vom „europäischen Haus“ ist – wie die von der auf sie zurückführbaren von der „Festung Europa“ – mittlerweile zu einem festen Bestandteil des Medien-Vokabulars und der politischen Rhetorik geworden – und bekommt ihren semantischen Gehalt doch allein vor der historischer Folie einer langen Prozessgeschichte der Haus-Metapher, die zur Unterscheidung von Eigenem und Fremden ihre Verwendung findet und als literarische Teil einer Gedächtniskultur wurde, welche ihre Darstellungsformen der Manifestation von Vergangenheiten in Szene zu setzen versteht. In diesem Sinne können Haus-Geschichten immer auch zu Gegenständen diskursanalytischer Beschreibungen werden, auch wo diese sich nicht als solche bezeichnen lassen. Brecht (wie Anm. 1), S. 304. Eintrag vom 20.10.1942. Brecht, Bertolt: Brief an Hoffman R. Hayes (Juli/August 1941), in: Briefe, hg. von Günter Glaeser, Frankfurt a. M. 1981, S. 434.

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Brief: „wie Du gehört haben wirst, setzte mich das Schiff ulkigerweise in Los Angeles an Land, und da es Sommer ist und die Reise nach New York weit ist und hier einige Bekannte sind, blieben wird zunächst“.15 An Karl Korsch notiert er Ende September 1941: „und jetzt sind wir mit dem letzten Schiff von Wladiwostok hier eingelaufen, zufällig in Los Angeles“.16 Nicht als ein Zufall hingegen kann es gelten, dass jener, der sich ganz zufällig dorthin verschlagen sieht und dort, fern des Zentrums seines Denkens und seiner Herkunft, diese Mitteilungen an Ort und Stelle schreibt und versendet, in seinen übrigen dort entstandenen Aufzeichnungen das Wohnen und Arbeiten zu einem wiederholt behandelten Gegenstand macht: in Zeitmitschriften, die nach eigenen Worten „wenig privates enthalten“, in Form von in einem Arbeitsjournal eingetragenen Aufzeichnungen, von denen der Verfasser im vornherein erwarten musste – wie er in nachträglich ihnen vorangestellten Worten sagt – sie „über grenzen von nicht übersehbarer anzahl und qualität bringen zu müssen.“17 Sich als von Ort und Zeit diktiert zu verstehen, und das immer vorläufig, bestimmt in Brechts während seiner Zeit in den USA zwischen Sommer 1941 und November 1947 angefertigten Tagebucheintragungen in bezeichnender Weise die Ansichten von: Haus und Garten, den Orten, an denen sich Brecht aufhält, um zu produzieren. Schilderungen von Häusern und Gärten finden sich an vielen Stellen seines Arbeitsjournals. Sie organisieren erkennbar die Notizen und Kommentierungen von zeitgeschichtlichen Ereignissen, ästhetischen Fragen und auch privaten Einlassungen, die Brecht in seinem Tagebuch hinterließ. Als Einfassungen für Wahrnehmungen im Konkreten, als Beschreibungen auch, die es erlauben, so von sich selbst als Aufzeichner von Befindlichkeit und Verhältnissen zu schreiben, ohne damit im Geschriebenen sich selbst gegenüber allzu privatistisch zu erscheinen. Zahlreiche der während der kalifornischen Jahre vorgenommenen Eintragungen in Bertolt Brechts Arbeitsjournal zeugen von einer fortgesetzten, und gerade dadurch aussagekräftigen Auseinandersetzung mit der Fassung von Orten und Stellen des Wohnen und Arbeitens. In regelmäßiger Wiederkehr kommt das Wort auf die Häuser, die Brecht bewohnt und besucht.18 Auf Aufenthalte daheim und bei seinen Exil-Kollegen. Das Haus: wie vielen von jenen, die dort im Süden Kaliforniens, fern der amerikanischen Ostküste mit dem kulturellen, Europa-zugewandten Zentrum New York City und ferner noch dem umkämpften alten Kontinent ein zu Hause gefunden hatten, in dem es sich einzurichten und zu überdauern galt, scheint Brecht es als einen rahmenvorgebenden Ort des Selbst-Verfassens zu sehen. So beschreibt er –––––––— 15 16 17 18

Brecht, Bertolt: Brief an Erwin Piscator (Juli/August 1941), in: Briefe (wie Anm. 14), S. 435. Brecht, Bertolt: Brief an Karl Korsch (August 1941), in: Briefe (wie Anm. 14), S. 437. Brecht (wie Anm. 1), S. 164, Eintrag vom 21.4.1941. Ein Porträt von Brechts Häusern in Santa Monica (1954 Argyle Ave., 817 25th Street und 1063 26th Street) liefert Schnauber, Cornelius: Brecht in Los Angeles. Wohnungen und Begegnungen, in: Dreigroschenoper. Informationen zu Bertolt Brecht. Heft 1/2003, S. 30– 36.

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es, wenn er das Schreiben und Lesen dort wiederholt zum Inhalt der Einträge macht: Brechts Geschichten von Häusern und Wohnorten, sie erzählen von Geschriebenem nach Lektüren. Als solche sind sie, da wo Nach-Erzählung interpretatorische Arbeit wird, die neue Überlieferungen stiftet, ins Haus eingeschrieben herauslesbar. Als solche sind sie Transportmittel zum Nachlesen. Zeitversetzt aus der jeweiligen Gegenwart herausgetragen – und in die Gegenwart der jeweiligen Lektüre von Brechts Arbeitsjournal – werden die angesichts von Häusern gemachten Reflexionen zu Schreiben und Lesen lesbare Gebrauchsanweisungen zum Lesen (und Leben) von und zu anderen Orten: das Haus ist, und darin mehr als reine Metapher, sichtbar der Zeitrahmen der eigenen Verfassung des Lesers und Schreibers, jene vier Wände, die dem darin Arbeitenden seinen Bewegungsraum vorgeben. So verweist jede Erwähnung von Häusern in Brechts in den USA gemachten Aufzeichnungen auch über das Tagebuch hinaus auf ein Dort und Dann in anderen Gegenwarten, an denen sie sich wiedergelesen finden werden.

4. „nun gibt es doch die möglichkeit, diese schreckliche kleinbürgervilla mit gärtchen loszuwerden. mein zimmer misst 11 fuß zu 12 fuß, ist stickig und hat rosa türen. da an drei wänden tische und an der vierten das schlafsofa, kann ich beim arbeiten nur drei sehr kleine schritte machen. etwas unbeschreiblich niedliches, unedles haftet dem raum an, der nicht einmal aus seine kleinheit etwas machen kann. mein schwarzer soldatenkoffer, ein episches stück, dominierend in dem lidingöer waldhaus und der helsignforser hafenkaserne, unterliegt hier schmählich und ist lediglich ‚not a nice thing‛.“19

5. Die Fabrikationen von kulturellen Unterscheidungen, so beispielgebend und exemplarisch der von Natur und Künstlichkeit, erfordern es, sollen sie denn wirksam werden für kollektive Identitätsbildungsprojekte, dass sie auf als musterhaft eingeführte und in bestimmten Diskursfeldern zirkulierende Bilder verweisen. Diese müssen eine Geschichte vorzuweisen haben oder eine solche absehbar als Kollektivsymbole wiederholt zugesprochen bekommen. Individuelle Dispositionen gegenüber dem ‚Identität‛ Genannten, dem Eigenen, das sich Perspektive durch Differenz zum Anderen schafft, sind ebenso angewiesen, sich die eigenen Verortungen und Perspektivierungen mittels entsprechender Verweise zu stabilisieren, fortzuschreiben und gegebenenfalls auch fragwürdig –––––––— 19

Brecht (wie Anm. 1), S. 288. Eintrag vom 16.7.1942.

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erscheinen zu lassen. Als ein solches verweisendes Bild dient, das nicht vereinfachend ‚Metapher‛ zu nennen ist, auch und gerade in Texten der Literatur prominent das ‚Haus‛. Gelesen als Selbstversicherungen, in denen kulturelle Stereotype ihren Auftritt und ihre kritische Kommentierung gleichermaßen bekommen können, lassen sich in literarischen Beschreibungen des ‚Hauses‛ Einstellungen sowie Vorverständigungen über kulturelle Identitätsbildungen durch die Zeiten erkennen und kommentieren: Es gilt dazu, Motivgeschichte neuerlich zu einer erkenntniskritischen auszubauen, um so epistemologische Grundannahmen als abhängig von zeitkontextabhängigen Narrativen ausweisen zu können. Als eine Angelegenheit mit anderen Worten der Produktion von Schriften, fabriziert und verfasst an bestimmten Orten. So hat bei einem ausgesprochenen Interesse an dem, was die Verfassung und Fassungen von Identitätsbildern und ihren Interpretationen verbindet und verbindlich macht, die Aufmerksamkeit der Ortsbezogenheit von Mitschriftenproduktionen zu gelten: jenen Stellen konkret, an denen diese Produktion als solche ausgewiesen wird, als Lesestelle ausweisbar, an der das Dargestellte sich als gelesen und geschrieben zeigt. Und dort mit der Zeit, und vor der sichtbar gemachten Wahrnehmung anderer Häuser und Repräsentanzverhältnisse, seinen – beschriebenen – Fundort gefunden hat.

6. „besuche jean renoir. Es sieht absolut französisch bei ihm aus. er hat das dadurch bewerkstelligt, dass er ein echtes amerikanisches haus kaufte (einen holzkasten von der art, wie man ihn in den historischen filmen sieht, keine imitation) und lauter alte amerikanische möbel. diese stücke setzte er sparsam ein, und einigen stuck schlug er mit der axt vom kamin, und jetzt wohnt er in kultivierter umgebung.“20

7. In einem Eintrag in seinem Tagebuch vom 8. Juni 1931 rekapituliert Walter Benjamin – er, der in seinen Svendborger Notizen von 1934 den Platz im Haus für Brechts selbstgerichtete Direktive wie folgt beschreiben wird: „Auf einen Längsbalken, der die Decke von Brechts Arbeitszimmer stützt, sind die Worte gemalt: ‚Die Wahrheit ist konkret.‛ Auf einem Fensterbord steht ein kleiner Holzesel, der mir dem Kopf nicken kann. Brecht hat ihm ein Schildchen umge-

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Brecht (wie Anm. 1), S. 282. Eintrag vom 29.6.1942.

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hängt und darauf geschrieben: ‚Auch ich muß es verstehen.‛”21 – ein mit Brecht während seines zeitweiligen Aufenthaltes in Dänemark geführtes Gespräch: über „meinen Lieblingsgegenstand, das Wohnen“. Brecht gehe, so gibt Benjamin ihn wieder, von zwei einander entgegengesetzten Formen des Wohnens aus. Einerseits dem so genannten „mitahmenden“: einem Wohnen, das die jeweilige Umwelt „gestaltet“, also „passend, gefügig und gefügt anordnet“ – und so eine Welt fabriziere, „in der der Wohnende auf seine Weise zu Haus ist.“22 Demgegenüber steht nach Brechts Ansicht, in Benjamins Worten, die Haltung, „sich überall nur als Gast zu fühlen.“ Benjamin referiert im Weiteren eigene, zu Brechts Ansichten sich dialektisch verhaltende Ansichten: „Ich unterscheide das Wohnen, das dem Wohnenden das Maximum und dasjenige, das ohne das Minimum von Gewohnheiten mitgibt. [...] Wahrscheinlich unterscheiden sie von den von Brecht bezeichneten sich schon dadurch, dass sie auseinanderzutreten streben, während die andern eine Neigung haben, zusammenzukommen. Das Wohnen, das dem Wohnenden das Maximum von Gewohnheit mitgibt, ist das, wie die Vermieterinnen möblierte Zimmer sich vorstellen. Der Mensch wird eine Funktion der Verrichtungen, die die Requisiten von ihm verlangen. [...] Hier werden die Dinge [...] ernst genommen, für das mitahmende Wohnen leisten sie ungefähr was eine Bühneneinrichtung leistet. Man könnte auch sagen: das eine findet in einer Einrichtung statt, das andere in einem Interieur.“23 Benjamins im Svendborger Gespräch mit dem Hinweis auf die Requisiten gegebener Hinweis auf die Bühneneinrichtungsähnlichkeit der Wohnräume kann als bezeichnend angesehen werden: die Haltung zum Wohnen wird Benjamin – und nicht nur an dieser Stelle – stellvertretend zu einer Haltung zur Funktion in der Welt, wo kein Begriff von Arbeit anwesend ist: angesprochen ist darin das Verhältnis zwischen Verrichtung und Funktion desjenigen, der sich in Einrichtung oder Interieur seinen Platz eingenommen sieht und dadurch bestimmt findet. Durch eine in seinen Eintragungen auffindbare Aufmerksamkeit für eben diese Bestimmungsverhältnisse, in die sich ein jeder, bewusst oder unbewusst, im Wohnen und – wie von ihm betont – im Arbeiten versetzt fühlt, zeichnen sich Brechts Modellhauslektüren im Arbeitsjournal aus. In ihnen findet die Reflexion der eigenen Schreibarbeit als einem Verhältnis zur gegenwärtigen – lokalen und temporalen – Umgebung wie zu den vorgängigen Schriften – als Material zur Arbeit – ihren Platz. Immer in Verhältnissen gedacht, zu Natur und Technik, Zeit und Repräsentation.

–––––––— 21

22 23

Benjamin, Walter: Notizen Svendborg Sommer 1934, in: Gesammelte Schriften 6. Fragmente. Autobiographische Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Herman Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1985, S. 526. Benjamin, Walter: Autobiographische Schriften Mai-Juni 1931, in: Gesammelte Schriften 6 (wie Anm. 21), S. 435. Benjamin (wie Anm. 22), S. 435f..

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8. „eine stelle des kleinen gartens gewährt einen würdigen ausblick, da ist man nur von grünem umringt, büschen und großblättrigen feigenbäumen (den athleten unter den bäumen). wenn man den stuhl richtig setzt, sieht man nicht von den nuttigen kleinbürgervillen mit ihren deprimierenden hübschheiten. nur ein winziges gartenhäuschen, eineinhalb meter im geviert, fällt in den blick, aber das ist zerfallen, und der zerfall veredelt es.“24

9. Brechts Wahrnehmung amerikanischer Eigenheime – befinden sich diese nun im Besitz ihrer Bewohner oder aber, wie die eigenen teilweise, nur angemietet, auf Zeit zur Nutzung übernommen und bewohnt – sind nicht einfach stereotype Äußerungen eines zeittypisch zu nennenden Amerika-kritischen Intellektuellendiskurses. Ohne Weiteres sind sie auch nicht in der Ferne verfasste Fortsetzungsgeschichten von Brechts neu-sachlicher Metropolenbeschreibungen wie sie in Aus einem Lesebuch für Städtebewohner versammelt wurden. Betrachten kann man sie als Ausdrucksversuche einer Selbstwahrnehmung von Lese- und Schreibprozessen, die nie und nirgends ortsungebunden ablaufen: Brechts Hausund Gartenbeschreibungen sind als serielle Hinweise auf die Abhängigkeit jeglicher Selbstverortung in Fassungen zu lesen, die die Fabrikationen von Schriften wie die vorbezügliche Vornahme ihrer Prätexte und deren weitere Verarbeitung zu einer Stellenlektüre liefern. Die erzählen auch von Eintrag zu Eintrag von überprüfenden Revisionen eigener Ansichten.

10. „bemerkenswert, wie hier eine alles depravierende billige hübschheit einen hindert, halbwegs kultiviert, dh würdig zu leben. in meinem gartenhaus in utting, auch ‚unter dem dänischen strohdach‛ war es möglich, in der frühe den bellum gallicum zu durchblättern, hier wäre es eine arge snoberei.“25 „ziehen um in die 26. straße in santa monica. das haus ist eines der ältesten, etwa 30 jahre alt, ein kalifornisches holzhaus, getüncht, mit oberem stockwerk, in dem 4 schlafzimmer sind. ich habe einen langen (fast 7 meter) arbeitsraum, den wir sogleich weiß tünchten und mit 4 tischen versahen. im garten sind alte

–––––––— 24 25

Brecht (wie Anm. 1), S. 278. Eintrag vom 18.6.1942. Brecht (wie Anm. 1), S. 243. Eintrag vom 23.3.1942.

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bäume (pfeffer- und feigenbaum). miete 60$ im monat, 12 $ 50 mehr als in der 25. straße.“26 „das haus ist sehr schön. in diesem garten ist der lukrez wieder lesbar.“27

11. Ein Haus, so betont Brecht, es verkörpere in den Vereinigten Staaten, wie er sie zu seiner Zeit sieht, an sich keinen Besitzstand. Es wird veräußert, ohne dass damit etwas wie Tauschwerterzählung oder Erbschaftsgeschichte entstände. Das hinterlässt Spuren im Wohnen, der Selbstverortung vor Ort. Entsprechend fällt die eigene Selbstverortung in der Landschaft aus: als Widerstand gegen Wahrnehmungsmuster, die sich an Ortsnamen halten und an ihnen orientieren, um den Einzelnen zu lokalisieren. „Wenn ich sage, wo ich wohne,“ notiert Brecht in Briefe an einen erwachsenen Amerikaner, geschrieben 1946, „sage ich immer: in Santa Monica, was stimmt. Aber jeder wiederholt: So, in Hollywood! Es sind tatsächlich verschiedene Städte, fünf Meilen entfernt voneinander, jedoch in irgendeiner Weise gehören wir zu Hollywood. So beeile ich mich zu sagen: Wir haben den Ort nicht gewählt, das Schiff von Wladiwostok setzte uns hier an Land, wir hatten kein Geld, hier waren einige andere Flüchtlinge, da bleiben wir.“28 Unter der Überschrift „Wo ich wohne“ formuliert Brecht seine Reaktion auf die Erfahrung, wiederholt eingemeindet zu werden. Er verwehrt sich, in den Augen anderer nach Hollywood versetzt zu werden. Seine Worte formulieren einen Widerstand, mit dem Eigennamen eines Ortes identifiziert zu werden, der als Synonym für eine bewusstseinsbestimmende Wiedergabe-Industrie herhalten muss: Brecht formuliert seine Distanz dagegen – und das trotz aller Versuche, selbst im Zentrum der Filmindustrie als Autor Fuß zu fassen. Dem Verortetwerden, der Platzierung in Hollywood versagt er sich, und dann doch wieder nicht. In der doppelt kritischen Reflexion des Ortes, der eigenen Position vor dem Hintergrund dessen, was als Ansichtssache nicht verkannt werden soll, wird – und das ist dann merkwürdig, festhaltend – die eigene Umgebung ruiniert, in Beziehung gesetzt zu dem, was an anderem Ort in Form von industriell gefertigter Vernichtung Gegenwart ist. Im Anschluss findet die Reflexion des Ortes in Brechts Beschreibung ihren Platz: „Ich sah keine Möglichkeit, mich zu beklagen, daß man hier sitzt? Ich sah keine Möglichkeit, bis mir der Gedanke kam, daß diese hübschen Villen hier aus dem gleichen Stoff gebaut sind wie die –––––––— 26 27 28

Brecht (wie Anm. 1), S. 293. Eintrag vom 12.8.1942. Brecht (wie Anm. 1), S. 294. Eintrag vom 17.8.1942. Brecht, Bertolt: Briefe an einen erwachsenen Amerikaner, in: Gesammelte Werke Bd. 20. Schriften zur Politik und Gesellschaft, Notizen über die Zeit 1939–1947. Frankfurt a. M. 1967, S. 293f. Die oben zitierten, nach der Ankunft im Großraum Los Angeles verfassten Briefe hatte Brecht, damals in Santa Monica wohnhaft, selbst noch mit dem Ortsnamen Hollywood versehen.

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Ruinen drüben; als hätte ein und derselbe böse Wind, der die Gebäude drüben zusammenriß, allerhand Staub und Schmutz hier zu Villen zusammengewirbelt.“29 Behausungen dieser Art wie diese vom Wind aus Staub und Schmutz errichteten Villen, die ihm wie Komplementärbauten zu den Ruinen des Alten Europa erscheinen, sind nach Brechts Worten kaum dauerhaft zu bewohnen. Darin ist, so beklagt er, kein Verhältnis aufzubauen gegenüber dem, wofür das Haus anderswo – in der Tradition der Literatur – steht. Wo es zum Motiv, zum Symbol geworden ist, als solches eingegangen in die Literatur. Zum Zeichen von Besitz und Besitzlosigkeit, Tradition und Vergänglichkeit, Herrschaft und Unterdrückung, Vergangenheit und Modernität, Stadt und Land, Zugehörigkeit und Verlust. Brecht schreibt: „Die Häuser um unseres herum haben nahezu alle, seit wir hier wohnen, die Besitzer mehrmals gewechselt. Die Leute wechseln unaufhörlich und anscheinend ohne viel nachzudenken ihre Arbeitsstellen und sogar ihre Berufe, und so ziehen sie in leichter erreichbare Bezirke oder Städte; einige ziehen, und das mehrmals, über den ganzen Kontinent. So lernen sie ihre Behausungen kaum kennen, haben weder Vaterhaus noch Heimat.“30 „Kein Wunder,“ schließt Brecht die negative Kennzeichnung seines gegenwärtigen Wohnorts, „daß etwas Unedles, Infames, Würdeloses allem Verkehr von Mensch zu Mensch anhaftet und von da übergegangen ist auf alle Gegenstände, Wohnungen, Werkzeuge, ja auf die Landschaft selber. Ein Mann, in der Frühe im Garten einen Band Lukrez lesend, wäre ein abgeschmackter Anblick, eine Frau, ihr Kind nährend, etwas Fades. Die Wohntürme von Manhattan in der Dämmerung sind atemberaubend, aber sie können keine Brust schwellen. Die Schlachthöfe in Chicago, die Elektrizitätswerke in den Kanyons, die Ölfelder Kaliforniens, alle haben diese Zurückgehaltene, Frustrierte, alle wirken wie failures.“31

12. In seiner Warenförmigkeit besitzt das Haus, das amerikanische, solcherart symbolisch geworden in Brechts brieflicher Selbstverständigung, seiner Wahrnehmung nach keinen verarbeitbaren Geschichtswert. Es weist sozusagen keinen literarisierbaren Tauschwert auf, weil nicht an eine von ihm bearbeitbare und verarbeitungsfähige Tradition gebunden: nur durch den Bezug zur eigenen Verschriftlichungspraxis – mit der sich die Autorfigur selbst als den Marktkräften vor Ort ausgesetzt sieht, und diesen mit Worten zu widerstehen sucht – macht die Gegenüberstellung zwischen dem ihm im Exil ansichtig Gegenwärtigen und der abwesenden Realität eines dort nur Vorstellbaren, die Frontstellung –––––––— 29 30 31

Brecht (wie Anm. 28), S. 294. Brecht (wie Anm. 28), S. 294. Brecht (wie Anm. 28), S. 297.

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gegen das amerikanische Haus als ein inszeniertes Sich-Einrichten durch ein vergleichendes Ins-Verhältnis-Setzen, Sinn. Was bedeutet dies für die eigene Arbeit – vor Ort? Was für die Prozesse von Lesen und Schreiben, wie sie als ortsbeziehende bei Brecht – und zwar durch die sich an unfixierbarer und doch bezeichenbarer Stelle artikulierender und positionierender Figur des Schreibenden, nicht eine ortlose Autorpersönlichkeit – beschrieben werden? Was bedeutet es für das, dann gerade in Relektüren selbstkritisch zu aktualisierende, Verhältnis von Zeit, Arbeit und Ortsbewusstsein, das zu einer beschreibenden Artikulation eines Begriffs – einer Fassung – von Realismus führt, wie in Brechts Notat zu dem von ihm in neuer Umgebung als beobachtet beschriebenen Verhältnis zur Natur: „sie haben natur hier, da alles so künstlich ist, haben sie sogar ein verstärktes gefühl für natur, sie wird verfremdet. von dieterles haus aus sieht man das fernandovalley; ein strahlend beleuchteter unaufhörlicher strom von autos bricht durch natur; aber man erfährt, dass alles grüne nur durch bewässerungsanlagen der wüste abgerungen ist.“32 Was hat diese Landschaftsbeschreibung zu besagen? In Brechts Beschreibung der Landschaft Südkaliforniens findet sich sein Blick auf Kultur und Geschichte, Natur und Gegenwart eingeschrieben: So wie alle Ansichten sich darin in Perspektive gestellt finden, beleuchtet in der Bewegung der Blickwechsel, als Landschaft aus Transportmitteln, ist kein Ort als solcher unvermittelt und für sich allein zu beziehen. Es gibt keinen Platz, keinen Beobachterstandort, der sich zu einem Haus, Wachtturm, Eigenheim erklären lässt, ohne dass da nicht etwas Unheimliches mit einzöge. Sich als Zugezogener zum Widergänger von vorgängigen Zeitbezugsäußerungen anzusehen, quasi-literarisiert wie ein den Tunnel unter dem Hudson durchquerender Adorno, eingeschrieben in den mehr als nur fiktionalen Beschreibungen der literarischen Texte. So dass der bezogene Ort der Äußerung wie der Ort, auf den sich die dort getätigten Äußerungen und Fabrikationen von Wahrnehmungsrealität in Abwesenheit beziehen, sich zugleich nie als ein Ort, ein einziger, zeigen kann und beschreibbar ist: immer Ersatz und Ergänzung, Platzhalter und unheimliches Anderes eines abwesenden, von dem zu sprechen ist, wo Häuser ihren Platz bekommen.33 So wie nach Laurence Rickels’ The Case of California Kalifornien als die andere Küste Deutschlands zur Ansichtssache wird.34 Beide sind Plätze der Auslassungen, Leerstellen, der Wüsten. Durch Zufall platzgenommen auf dieser anderen Seite des eigenen Deutschlands, in dessen anderes er zurückkehren wird, um sich dort ein Haus einzurichten, und dabei den Zufall der Zeitläufte im Spiel wissend, die eigene Zeitbegrenztheit vor Ort vor Augen, Rückkehrwünsche im Sinn, und sich ihrer mittels der zwischen eigene Worte montierten Zeitungsausrisse fortgesetzt versichernd, beschreibt Bertolt Brecht in seinem Arbeitsjournal Haus und Gar–––––––— 32 33 34

Brecht (wie Anm. 1), S. 180, Eintrag vom 9.8.1941. Eintritte dazu bei Vidler, Anthony: The Architectural Uncanny. Essays in the Modern Unhomely. Cambridge u. London 1992. Rickels, Laurence: The Case of California. Baltimore u. London 1991.

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ten als Schreib-Ort und Lese-Ort.35 Mit jedem Satz geht es um oikos und property. Um Ökonomien, und also Eigentumsansprüche auf Zeit und auf Räume – zum Weiterlesen und zum Ruhen.36

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Eine Lesespur, die sich von Brechts Aus einem Lesebuch für Städtebewohner bis zu einer Interpretation seiner Selbstinszenierungen in seiner Residenz in Buckow verfolgen ließe (zur Ansicht siehe Hecht, Werner: Am Wasser des Schermützelsees – Bertolt Brecht in Buckow. Frankfurt a. M. 2000). Aus solchen Ansprüchen heraus – so führen es Brechts Modellhauslektüren vor, liest man sie entsprechend – handeln auch wir, die da lesend und schreibend angesprochen werden. Daheim und, wie mit Anregungen von Carolin Bohn, unterwegs.

Ulrich Breuer

„Mich kennen die Leute“ Erinnerungsarbeit bei Rainald Goetz und Dieter Bohlen

Am Abend, da es kühle war, Ward Adams Fallen offenbar Picander

1. Ein Werk – Kein Werk Unter der Überschrift „Planet Pop: Rainald Goetz“ hat der Literaturkritiker Willi Winkler am 3. März 2007 in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel publiziert, der sechs Tage später in prominenter Position auch in den InternetAuftritt der Süddeutschen Zeitung integriert worden ist.1 Der Artikel erhebt gegen den Schriftsteller Rainald Goetz den Vorwurf der Werkvergessenheit. Goetz halte, so Winkler, „sich jetzt seit Jahren ohne Werk und nur als Markenartikel im Gespräch“. Er treibe zwar dies und jenes, „aber vor allem schreibt er nicht mehr. Oder veröffentlicht nicht mehr.“ Natürlich ist dem Literaturkritiker bekannt, dass der Autor Goetz weiterhin schreibt und das Geschriebene unter dem Titel Klage im Internet auch kontinuierlich veröffentlicht. Aber das ist für ihn kein Roman, kein wirkliches Werk, kein Druckwerk: „Wer das lesen will, muss es unter dem Logo von Vanity Fair tun, der Blog wird hier zu Schminktipps und Society gereicht. So geht Goetz dahin und vertreibt seine Zeit, statt was Vernünftiges zu tun.“ Vernünftig wäre für einen Schriftsteller die Publikation eines Buches, unvernünftig sind aktuelle Einlassungen, die jedermann im Internet nachlesen kann. Innerhalb desselben Internet-Auftritts der Süddeutschen Zeitung konnte der Leser unter der Rubrik „Style-Bildergalerien“ die satirische Einlassung eines Dieter von Teese zu Dieter Bohlen finden. Unter dem Titel „Bohlens schonungslose Selbstkritik“ werden 16 Fotos präsentiert, versehen mit knappen angeblichen Selbstbekenntnissen des Porträtierten. In Text und Bild soll sich Bohlen als sexistischer Frauenheld, musikalischer Versager und peinlicher Egomane enthüllen. Das vierte Foto der Serie zeigt ihn mit gerümpfter Nase vor dem auf Posterformat vergrößerten vorderen Umschlagbild seiner Autobiographie Nichts als die Wahrheit. Begleitet wird das Foto von folgendem Text: „Wenn ich mir hier so anseh, was du bei der Bewerbung in deinen Lebenslauf geschrieben hast, denk ich mir nur eins: Ist es dir nicht megapeinlich, dass du –––––––— 1

Winkler, Willi: Planet Pop. Rainald Goetz. Das Phänomen Kunstmensch, www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/75/104970/ (14.3.2007). Die folgenden Zitate ebd.

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überhaupt auf der Welt bist?“2 In diesem Fall hat also jemand ein Buch geschrieben, der es besser unterlassen hätte, weil es zuviel über ihn verrät. Auf den immensen kommerziellen Erfolg des Buches kann sich das Verdikt nicht gründen, sondern allenfalls auf die ‚Natur‘ des Verfassers und das ihr entsprechende Niveau des Buches. Popstars, so lautet das implizite Verdikt, sollten keine Bücher schreiben. Die Vorwürfe gegen Goetz und Bohlen greifen auf tief in der deutschen Kulturgeschichte verankerte Routinen zurück. Sowohl die Forderung der Werksetzung als auch die Reaktion auf Niveaulosigkeiten finden sich in ähnlicher Form schon in der Romantik bei Friedrich Schlegel. Im Gespräch über die Poesie muss sich zum einen der Dichter „in bleibenden Werken“ ausdrücken, um sich dadurch ans große Ganze anzuschließen.3 Werk und Welt sind also in enklitischer Weise aufeinander bezogen. Zum anderen gilt: In der Moderne, dem „Zeitalter der Bücher“, ist jedermann gezwungen, alle möglichen Druckwerke „durchblättern, ja sogar lesen zu müssen“.4 Darunter sind immer auch einige „von der albernen Art, und da kommt es wirklich nur auf uns an, sie unterhaltend zu finden, indem wir sie nämlich als witzige Naturprodukte betrachten.“5 Der folgende Beitrag versteht diesen Hinweis als Theorieangebot. Er liest entsprechend die populäre Auto/Biographie Dieter Bohlens/Katja Kesslers6 als (wäre sie ein) kurioses Naturprodukt und vergleicht sie mit Goetz’ autobiographischen Internet-Notaten Abfall für alle7, in denen das Populäre als eine Form der Praxis kultiviert wird. Grundlage des Vergleichs ist die autobiographische Form beider Texte. Mit ihr emergiert, wiederum nach Schlegel, gewissermaßen die Natur in den Literaturbetrieb, denn im Gespräch über die Poesie sind Bekenntnisse (neben den Arabesken) „die einzigen romantischen Naturprodukte unsers Zeitalters.“8 Bereits im „Gespräch über die Poesie“ wird jedoch zwischen dem autobiographischen Schreiben, das Schlegel als Selbstbekenntnis bezeichnet und das auch und gerade in fiktionalen Texten auftreten kann, und der Autobiographie, die als Gattung durch ein spezifisches „Begehren nach Wirklichkeit“9 und insofern auch durch die Behauptung des Verzichts auf fiktionale Darstellungsmodi gekennzeichnet ist, unterschieden und in seinem Roman Lucinde hat Schlegel diese Unterscheidung auch produktiv werden lassen.

–––––––— 2 3 4 5 6 7 8 9

Jetzt unter: www.sueddeutsche.de/kultur/bildstrecke/870/104766/p0/?img=3.5 (24.2.2008). Schlegel, Friedrich: Gespräch über die Poesie, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe 2, hg. v. Hans Eichner. München u. Paderborn u. Wien 1967, S. 284–351; hier: S. 286. Schlegel (wie Anm. 3), S. 332. Schlegel (wie Anm. 3), S. 332. Bohlen, Dieter u. Katja Kessler: Nichts als die Wahrheit. München 72003 [zuerst 2002]. Goetz, Rainald: Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt a. M. 2003 [zuerst 1999]. Schlegel (wie Anm. 3), S. 337. Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. 2., aktual. und erw. Aufl. Stuttgart u. Weimar 2005, S. 8.

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Die Differenz zwischen Autobiographie und autobiographischem Schreiben verwendet auch der vorliegende Beitrag.10 Idealtypisch lässt sich die Autobiographie als geschlossene Form kennzeichnen, in welcher der Zeitpunkt der Niederschrift als Zielpunkt des Textes aus diesem ausgelagert bleibt und allenfalls paratextuell, in einem Vor- oder Nachwort, thematisiert wird. Erinnerungen werden dann in der Regel chronologisch von der Geburt des Autors bis zum nicht mehr erzählten Zeitpunkt der Niederschrift abgearbeitet, die gegenwärtige Position des Schreibenden wird durch die Folge seiner Erinnerungen legitimiert und monumentalisiert und es werden – im Unterschied zum Roman – für die dargestellten Erinnerungen Referentialität und Faktentreue beansprucht. Da der Autor zumeist eine öffentliche Person ist oder war, bleibt das individuelle Gedächtnis stets auf das kollektive bezogen. In der offenen Form des autobiographischen Schreibens dagegen ist die Schreibgegenwart in den Text integriert und wandert mit ihm mit. Erinnerungen erfolgen daher spontan und ungeordnet im Ausgang von einer jeweils wechselnden Gegenwart, die zum primären Gegenstand einer zumeist punktuellen, zur Allgemeinheit des individuellen mehr als zu der des kollektiven Gedächtnisses beitragenden Erinnerung wird. Die Positionalität des Schreibenden wird im Text entsprechend wechselhaft inszeniert und die Fiktionalität ist Bestandteil des Authentizitätsanspruchs. Damit rückt das autobiographische Schreiben in die Nähe des Romans. Es ist vor diesem Hintergrund leicht zu sehen, dass der von Dieter Bohlen zusammen mit Katja Kessler verfasste Bestseller Nichts als die Wahrheit11 eher dem Typus der Autobiographie entspricht, während Goetz’ aus einem InternetTagebuch entstandene Buchpublikation Abfall für alle12 eher dem autobiographischen Schreiben zugehört. Der vorliegende Beitrag vergleicht beide Texte und fragt nach der Form der in ihnen geleisteten Erinnerungsarbeit. Dabei soll es besonders um das Verhältnis von kollektiver und individueller Erinnerung gehen. Die These des Beitrags lautet, dass Dieter Bohlen (von Katja Kessler) in (s)einer Auto/Biographie metonymisch als antiintellektualistischer Repräsentant kollektiver Erinnerungen entworfen wird, wodurch Gegenwart und Vergangenheit gleichermaßen entwertet werden, während Goetz einzelne Splitter wech–––––––— 10

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Vgl. Breuer, Ulrich u. Beatrice Sandberg (Hgg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 1. Grenzen der Identität und der Fiktionalität. München 2006. Zur Kritik am Wahrheitsanspruch des Textes vgl. Farian, Frank u. a.: Stupid dieser Bohlen. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit über den Pop-Hochstapler. Berlin 2004. Vgl. dazu Binczek, Natalie: Wo also ist der Ort des Textes? Rainald Goetz’ ‚Abfall für alle‘, in: Formen interaktiver Medienkunst. Geschichte, Tendenzen, Utopien, hg. v. Peter Gendolla u. a. Frankfurt a. M. 2001, S. 291–318; Schumacher, Eckhard: Das Populäre. Was heißt denn das? Rainald Goetz’ ‚Abfall für alle‘, in: Pop-Literatur, hg. v. HeinzLudwig Arnold. München 2003, S. 158–171; Meier, Albert: Realismus abstrakter Art. Rainald Goetz’ transitorische Poetik, in: Moderne, Postmoderne – und was noch? Akten der Tagung in Oslo, 25.–26.11.2004, hg. v. Ivar Sagmo. Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 175– 184.

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selnder Gegenwarten metaphorisch ins Kollektive und Kosmische ausweitet und dadurch bewahrt. Der Beitrag wird zunächst die Karriere beider Autoren sowie die paratextuelle Organisation der von ihnen verantworteten Texte vergleichen und dann an zwei themengleichen Erinnerungen der Autoren an Schultheateraufführungen sowie an zwei Erinnerungen an ihre Väter einen Stilvergleich durchführen, der abschließend hinsichtlich der Relation von individueller und kollektiver Erinnerung ausgewertet werden soll.

2. Vergleiche 2.1 Karrieren Die Karrieren von Goetz und Bohlen weisen einige auffällige Parallelen auf. Beide wurden 1954 geboren, beide schlossen Ende der siebziger Jahre ein Studium ab und beide erlebten 1983 ihren öffentlichen Durchbruch. Goetz trat in diesem Jahr in spektakulärer Weise beim Wettbewerb um den IngeborgBachmann-Preis in Klagenfurt auf, wo er sich während seines Vortrags mit einer Rasierklinge in die Stirn schnitt; Bohlen gründete im gleichen Jahr das Duo Modern Talking, mit dem er seine größten Erfolge feierte. Im Jahr 1998 hielt Goetz in Frankfurt seine Poetik-Vorlesungen ab und Bohlen gab in der Sendung „Wetten daß ...?“ die Wiedervereinigung von Modern Talking bekannt. Nach der Jahrtausendwende setzte schließlich in beiden Fällen die Phase des Ruhmes und der Ehrungen ein. Goetz wurde im Jahr 2000 der WilhelmRaabe-Preis zugesprochen, während Bohlen drei Jahre später in der ZDFSendung „Die größten Deutschen“ den 30. Platz erreichte. Die Karriere beider Autoren ist also nicht nur hinsichtlich der etwa gleichzeitigen Publikation autobiographischer Texte parallel verlaufen.

2.2 Paratexte Vergleicht man ihre autobiographischen Texte zunächst unter paratextuellen Aspekten und beginnt mit dem vorderen Buchumschlag, dann fällt in beiden Fällen die Vorliebe für die Farben weiß und rot auf, wobei der emblematischen Schrift-Bild-Kombination des Umschlags von Bohlens/Kesslers Buch eine schriftzentrierte Umschlaggestaltung des Buches von Goetz gegenübersteht. Nichts als die Wahrheit präsentiert auf schwarzem Grund ein Brustbild Bohlens, das die obere Umschlaghälfte einnimmt und besonders durch die leuchtend weiße obere Zahnreihe des Porträtierten sowie sein weißes Oberhemd auffällt. Damit korrespondiert der in weißer Schrift mit aktuellen Metallic-Effekten und in Blockbuchstaben gesetzte Autorname, der die untere Umschlaghälfte dominiert. Dem Autornamen durch die Präposition „mit“ angehängt ist der erheblich

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kleiner gesetzte Name der Koautorin und Zahnärztin Katja Kessler, dessen reines Weiß einerseits das der Zähne des Porträtierten aufnimmt, andererseits aber auch auf den unten angebrachten Verlagsnamen hindeutet. Bereits der Umstand, dass neben dem Autor eine Koautorin auftritt, widerspricht einem zentralen Bestimmungsmoment der Autobiographie, das die Namensgleichheit von Autor, Protagonist und Erzähler fordert. Diese drei Figuren werden durch die Einführung einer Koautorin tendenziell verdoppelt und in ihrer Identität verunsichert, sodass der Text zugleich als Biographie und als Autobiographie gelesen werden muss. Für die Wahrheit der Erinnerungen verbürgt sich dann Bohlen, während ihre literarische Gestaltung die Sache der Koautorin Kessler ist. Sprache und Sache treten damit auseinander. Kleiner als der Autorname und größer als der Name von Koautorin und Verlag gesetzt, findet sich der Titel des Buches zentriert und in roter Schrift ebenfalls im untersten Teil des Covers. Angesichts der Verdoppelung der Autorschaft ist er auch so lesbar, dass in diesem Falle „Nichts“ (nihil) als „die Wahrheit“ ausgegeben wird. Der Umschlag von Abfall für alle ist einfacher strukturiert. Auf rotem Grund erscheinen durchgehend zentriert von oben nach unten Autorname, Titel, Untertitel und Verlagsname, wobei lediglich für den Titel, der die Seite dominiert, eine größere Schrift gewählt worden ist. Der Autorname und der des Verlags sind überdies gesperrt gedruckt. Auf der hinteren Umschlagseite kehren sich die Verhältnisse ein Stück weit um. Der Schutzumschlag von Nichts als die Wahrheit ist nämlich ausschließlich schriftgeprägt, während Abfall für alle in emblematischer Form eine Art Stern als Ikon aufweist, unter dem das (das Wörtchen ‚ich‘ umschließende) Wort „Licht“ zu lesen ist. Ungewöhnlich ist im Fall von Abfall für alle der Buchrücken gestaltet, weil er statt der üblichen Hinweise auf Autor, Titel und Verlag die Internetadresse „www.rainaldgoetz.de“ trägt, unter der Abfall für alle zuerst zu finden und nachzulesen war. Stellt man das Buch also in eine Bibliothek ein, dann wird dieser Bibliothek – gegenläufig zur Integration von Bibliotheken ins Internet – ein Link und damit ein Verweis auf das Internet integriert. Aufgebaut ist Bohlens/Kesslers Nichts als die Wahrheit aus 29 Kapiteln, die jeweils durch ein schwarz/weiß-Photo gestartet werden. Auf eine knappe Einleitung folgen zwei längere Kapitel zur Kindheits- und Jugendgeschichte. Ein Kapitel widmet sich sodann ausführlich dem Durchbruch mit dem Duo Modern Talking, bevor 21 teilweise sehr kurze Kapitel folgen, in denen es um die Begegnung Bohlens mit verschiedenen Vertretern der Popmusik-Szene und um seine sexuellen Affären geht. Am Ende wird ein Einblick in die typische Entstehung eines Albums geboten, es finden sich zwanzig Erfolgstipps des Autors, ein knappes Nachwort und schließlich ein Anhang mit Diskographie, Personenregister und Bildnachweisen. Abfall für alle ist partiell ähnlich, aber deutlich klarer und konsequenter strukturiert. Sieht man einmal von dem komplexen paratextuellen Verweisungssystem ab, das analog zur Diskographie in Nichts als die Wahrheit den Text in das bisher erschienene Gesamtwerk des Autors integriert, dann besteht der „Roman eines Jahres“ aus sieben mit römischen Ziffern nummerierten Kapiteln,

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die jeweils durch eine schwarze Seite gestartet werden, auf der in weißer Schrift die jeweilige Ziffer erscheint. Diese Ziffer wird dann auch zur internen Strukturierung der Kapitel verwendet. Sie erscheint unterhalb von zentriert gesetzten und fett gedruckten Zwischentiteln und wird ergänzt durch arabische Ziffern, mit deren Hilfe die Zwischenabschnitte nach dem Dezimalsystem durchnummeriert werden. Außerdem sind die meisten Zwischenabschnitte mit einer Datumsangabe versehen und die einzelnen Einträge weisen in der Regel eine Zeitangabe auf. Im zweiten und dritten Kapitel finden sich darüber hinaus unter dem Titel „Praxis“ die Notizen, die Goetz seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung zu Grunde gelegt hat. Der Einstieg in den Text und der Ausstieg aus ihm erscheinen insofern nicht als gesonderte Gliederungseinheiten, sondern als integrale Bestandteile des Textkontinuums. Entsprechend gibt es keine Register.

2.3 Theater Sowohl Goetz als auch Bohlen/Kessler erinnern sich in ihren autobiographischen Texten an Theateraufführungen, die während ihrer Schulzeit stattgefunden haben. Die Erinnerungen werden allerdings sehr unterschiedlich perspektiviert und ihre Perspektivierung hängt aufs engste mit der Differenz von Autobiographie und autobiographischem Schreiben zusammen.

2.3.1 Dieters Fall In Nichts als die Wahrheit findet sich im ersten Kapitel („Der kleine Dieter“) ein Absatz, der typische Konventionen der Kindheitserinnerungen von Autobiographien aufnimmt, indem er anekdotische Rückblicke auf kindliche Kränkungen aneinanderreiht. Dabei werden auch zwei schulische Kränkungen angeführt. Die zweite von ihnen lautet: Theateraufführungen in der Schule waren der größte Horror. Ich wollte so gern als Held gehen, alle sollten mich beneiden. „Hier ist ein Badehandtuch, leg dir das um die Schultern, du bist jetzt Prinz!“, sagte meine Mutter. Damit war der Fall für sie erledigt.13

Die bis zur logischen Inkonsistenz brüchige Passage beginnt mit einer rückblickenden Kategorisierung der Schultheateraufführungen in toto: sie werden umgangssprachlich als der größte Horror bezeichnet. Da weder gesagt wird, für wen, noch inwiefern die Aufführungen so schrecklich waren, muss die Konkretisierung der Empfindung den Folgesätzen entnommen werden. Der zweite Satz besagt zunächst nur, dass die Aufführungen notorisch eine Differenz zwischen ‚ich‘ und ‚allen anderen‘ etabliert haben, weil der Autobiograph in jeder von ihnen die Heldenrolle übernehmen wollte. Sein erklärtes Ziel bestand darin, sich vor ‚allen‘ als herausragende Person zu produzieren, um von ‚allen‘ beneidet zu –––––––— 13

Bohlen (wie Anm. 6), S. 15.

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werden. Aus dieser Größenphantasie lässt sich schließen, dass der schreckliche Effekt der Theateraufführungen in einem extremen Geltungsdrang des Autobiographen begründet war. Durch die Wendung so gern wird gleichzeitig signalisiert, dass dieser Geltungsdrang wiederholt oder sogar in allen Fällen enttäuscht wurde, weil die zuständigen Lehrer dem Autobiographen – vermutlich mangels Eignung – die erhoffte Heldenrolle verweigerten. Damit ist der Erinnerung latent die Differenz zwischen einer autoritär durch Ausschlussmechanismen agierenden Hochkultur und dem ‚natürlichen‘ Geltungsdrang der von ihr Ausgeschlossenen eingeschrieben. Doch erst die abschließende Anekdote verdeutlicht, dass und warum die schulischen Theateraufführungen vom Autobiographen als schrecklich erlebt worden sind. Sie zeigt nämlich auf, dass die narzisstische Kränkung durch einen falschen Umgang mit dem Gekränkten bis ins Unerträgliche potenziert worden ist. Die Mutter des von der Hochkultur ausgeschlossenen Autobiographen hat dessen Kränkung dadurch verstärkt, dass sie ihn hier und jetzt, also auf dem Territorium des Elternhauses und nur für ihn und sich, zu einem kleinen Prinzen gemacht und ihn damit über den entgangenen großen Auftritt vor ‚allen‘ hinwegzutrösten versucht hat. Die Tröstung musste scheitern, weil das banale Badehandtuch allzu offen das Missverhältnis zwischen der rein privaten Prinzenrolle des Muttersöhnchens und der verweigerten Heldenrolle in angemessenem Kostüm vor denkbar größtem Publikum anzeigte: In der Schule hätte der Badehandtuch-Bohlen statt des erhofften Neides nur schallendes Gelächter erregt. Das Gefühl von Horror, das die Schultheateraufführungen für den Autobiographen auch im Rückblick noch freisetzen, besteht also in dem Umstand, dass die eigene Mutter den Anspruch ihres Sohnes auf maximale öffentliche Beachtung nicht ernst nimmt und damit den hochkulturellen Ausschlussmechanismus verstärkt. Während der Fall14 für sie damit erledigt ist, verwandelt sich die potenzierte Kränkung beim Autobiographen in ein traumatisch gedecktes Lebensmotiv. Es treibt ihn an, bevorzugt und gezielt jenseits der hochkulturellen Ausschlussmechanismen jene Beachtung zu finden, die sich wesentlich auf den Neid der Masse gründet. Weil die Hochkultur den kleinen Dieter aussortiert hat, musste er sich selbst zum Helden einer Schmierenkomödie machen. Das ist das Argument, das die Stilisierung der Erinnerung Dieter Bohlens durch Katja Kessler zum Einsatz bringt.

2.3.2 Rainalds Rolle Anders verhält es sich im Fall der Schultheater-Reminiszenz von Rainald Goetz. In seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen findet sich unter anderem eine Reihe von Notizen mit dem Titel „Das Tragische“. Zwischen dem Tragischen und demjenigen, was die Auto/Biographie Bohlens/Kesslers umgangssprachlich –––––––— 14

Das Wort ist hier nicht nur im juristischen Sinne, sondern auch als Derivat von fallen zu lesen.

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als den größten Horror bezeichnet, bestehen bekanntlich in der Sache nicht nur oberflächliche Beziehungen. Der erste Eintrag lautet folgendermaßen: DAS TRAGISCHE Und in der Schultheater-Aufführung, unter der Leitung von Herrn Professor Heißner, spielten wir die Bakchen des Euripides. Und ich war: Dionysos.15

Die Passage besteht aus zwei Sätzen, die beide durch die Konjunktion ‚und‘ eingeleitet werden. Ähnlich wie im Fall der Reihung von Schulerinnerungen in der Auto/Biographie Bohlens/Kesslers liegt auch hier eine Reihenbildung vor, die aber explizit ausgestellt wird und sich zunächst nur als Reihe von Sätzen erweist, die beliebig irgendwo anschließen und beliebig fortgesetzt werden können. Trotz ihrer lockeren Kohäsion sind die beiden Sätze aber semantisch durchaus kohärent. Der erste Satz informiert über eine Schultheateraufführung von Euripides’ Tragödie Die Bakchen. Es wird mitgeteilt, dass die Aufführung von einem respektvoll mit Herr Professor angeredeten Lehrer namens Heißner geleitet wurde und dass der Schreiber ausgewählt worden ist, in ihr mitzuwirken. Der zweite Satz invertiert die Stellung von Subjekt und Prädikat, verengt das wir zum ich und präzisiert die erste Information durch eine zweite. Sie setzt einen Gleichsetzungsnominativ ein und besagt, dass der Schreiber in der genannten Tragödie nicht nur mitgespielt, sondern auch die Hauptrolle übernommen hat. In den Bakchen hat er den griechischen Weingott Dionysos dargestellt. Wonach Bohlen/Kessler sich vergeblich sehnt, ist Goetz also gelungen, denn er durfte vor großem Publikum als Held agieren. Entscheidender als diese Differenz ist jedoch eine zweite. Für Bohlen/Kessler ging nämlich der tragische Schrecken unabhängig von der Spezifik der Aufführungen von der bloßen Existenz der hochkulturellen Institution Theater aus, das den selbsternannten Helden von jeder Mitwirkung ausschloss, während Goetz den tragischen Schrecken als Akteur einer ganz bestimmten Tragödie, also als Teilhaber der Institution Theater, kennen lernte, indem er eine der Ursprungsfiguren dieses Schreckens verkörperte. Die Dramatik dieser Verkörperung wird stilistisch durch den Einsatz eines Doppelpunktes markiert: Er fügt in den Gleichsetzungsnominativ eine winzige Pause ein, die den Ton der Kultur zum Klingen bringt, indem sie die Bedeutung der erinnerten Gleichsetzung mit dem kommenden Gott intensiviert und steigert. In dieser Pause strömt nämlich die kulturelle Erinnerung an die dionysische Tragik in den Text ein, eine Tragik, die im neuzeitlichen Europa von Friedrich Hölderlin und Friedrich Nietzsche adaptiert wurde und seither zu den spannungsvollsten Identifikationsmustern poetischer Existenz gehört. Die kunstvoll stilisierte, individuelle mit kollektiven Momenten verbindende Erinnerung an die Verkörperung des ekstatischen Dichtergottes erzwingt aber nicht nur die Identifikation mit dem Gott, sondern erlaubt zugleich die Distanznahme von ihm: Dionysos war immer schon (nichts als) eine kulturell ebenso hochwie grenzwertige Rolle, die der Autor Goetz schon als Schüler ‚auswendig‘ konnte. Die Schultheater-Reminiszenz rekonstruiert damit die Initiation in ein –––––––— 15

Goetz (wie Anm. 7), S. 273.

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kulturell ambivalentes, mit Drogen, Gewalt und Sexualität armiertes Identifikationsmuster poetischer Existenz und erweist zugleich diese Existenzform als entindividualisierendes Rollenmuster. An seine Verkörperung der kulturellen Kippfigur des Dionysos erinnert sich der Schreiber, wenn es im folgenden Notat heißt: Daran denke ich oft, wenn ich im Theater sitze, daran dachte ich an jenem Abend in Kresniks Hotel Lux.16

Auch im Modus der Erinnerung unterscheiden sich also die Passagen. Bohlen/ Kessler erinnert sich im Rahmen einer Reihe autobiographietypischer Kindheitsreminiszenzen an das Scheitern seiner Größenphantasie und die traumatisierende Herabsetzung durch die eigene Mutter. Damit wird dem aus dem Text ausgelagerten und als Zielpunkt des Erinnerungsprozesses fungierenden Autor Dieter Bohlen die Überwindung dieses Traumas aufgetragen: Seine Auftritte in der Öffentlichkeit holen jenseits der Hochkultur immer wieder aufs Neue nach, was dem kleinen Dieter verwehrt worden ist. In dieser Schmierenkomödie gibt es nur einen Helden, keine Mitspieler und statt des tragischen Schreckens das Spiel mit dem Neid der Masse, die sich gleich ihrem Helden von der Hochkultur ausgeschlossen fühlt. Goetz dagegen erinnert sich im Theater an eine frühe Initiation in die kulturelle Institution des Theaters und er kann exakt angeben, wann und wo er sich zuletzt daran erinnert hat. Seine Erinnerung ist plastisch und in keiner Weise traumatisch. Sie hängt unmittelbar mit seinem Selbstverständnis als Autor zusammen, der bewusst vor dem Horizont der europäischen Kultur agiert. Durch einen stilistischen Kunstgriff lässt dieser Autor die kulturelle Erinnerung an den ambivalenten Gott der Gewalt und des Lebensrausches in die individuelle Erinnerung einströmen. Dionysos wird dadurch nicht nur zu einer Initiations- und Identifikationsfigur, sondern auch zu einer Rolle, von der sich Autor und Leser je nach Bedarf distanzieren können.

2.4 Väter 2.4.1 Hans/die Gans Zu den topischen Elementen einer Autobiographie gehört das Elternporträt.17 Dieter Bohlen (Katja Kessler) porträtiert (s)einen Vater dort, wo man es erwarten würde, nämlich ebenfalls im Kindheitskapitel. Nach einem Porträt der Großmutter und der Mutter kommt auch der Vater an die Reihe, unter anderem in der Erinnerung an einen typischen Weihnachtsabend. Mit der entsprechenden –––––––— 16 17

Goetz (wie Anm. 7), S. 273. Vgl. Goldmann, Stefan: Topos und Erinnerung. Rahmenbedingungen der Autobiographie, in: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992, hg. v. Hans-Jürgen Schings. Stuttgart u. Weimar 1994, S. 660–675.

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Passage soll zugleich die permanente „Existenzangst“18 in der Familie Bohlen illustriert werden: Immer an Weihnachten spitzte sich die Situation in unserer Familie dramatisch zu, dann herrschte emotionaler Ausnahmezustand bei uns in Oldenburg. Mein Vater schloss sich mit seinen Jahres-Bilanzen in sein Büro im Anbau hinterm Wohnzimmer ein, und wenn er feststellte, dass auch dieses Jahr nix an Geld übrig geblieben war, kam er wieder zum Vorschein und wollte sich erschießen. [...] „Ich kann euch alle sowieso nicht mehr ernähren! Besser, ich bring mich um“, schimpfte er. Dann erschrak meine Mutter: „Aber Hans, so was kannst du doch nicht sagen!“, und stellte wie jedes Jahr schnell die Gans auf den Tisch. Aber auf mich verfehlten diese Worte natürlich nicht ihre Wirkung. Ich sag mal: Wie andere Kinder unterm Baum ihre Geschenke fanden, so stand da für mich mein psychologisches Päckchen mit der Aufschrift „keine Kohle“. Ich weiß nur: Ob jetzt MultiMulti-Multi-Millionär oder nicht, ich werde zeit meines Lebens von dem Druck vorwärts getrieben werden, dass ich nicht genug auf die hohe Kante geschafft habe.19

Eine Stilanalyse zeigt, dass zur Darbietung der Erinnerung Phrasen (emotionaler Ausnahmezustand, psychologisches Päckchen) und Phraseologismen (etw. auf die hohe Kante schaffen), kolloquiale Wendungen (hinterm, nix an Geld, ich sag mal, keine Kohle) sowie Hyperbeln (Multi-Multi-Multi-Millionär) eingesetzt werden. Es dominiert ein parataktischer, logisch und stilistisch brüchiger Satzbau mit einer Vorliebe für Parallelismen, die Mündlichkeitseffekte erzeugen und verstärken (Ich sag mal: – Ich weiß nur:). Unter den zahlreichen, kaum oder gar nicht motivierten Klangfiguren findet sich unter anderem ein unfreiwillig komischer Endreim (aber Hans, schnell die Gans). Außerdem werden Alliterationen (keine Kohle, Worte/Wirkung/Wie) und eine hyperbolische Wortwiederholung (Multi-Multi-Multi-Millionär) eingesetzt. Auf der semantischen Ebene verschiebt sich die Erinnerung an den Vater zur Legitimation einer den Sohn charakterisierenden Verhaltensdisposition. Es geht dabei um den neurotischen Druck des (Ko)Autors Bohlen, der ihn zum maßlosen Geldverdienen zwingt. Das eigene Zwangsverhalten wird aus dem Versagen des Vaters in seiner Rolle als Ernährer und Vorstand der Familie erklärt, einem Versagen, das den Sohn angeblich traumatisiert hat, vermutlich weil es die Autorität und mit ihr die Vorbildfunktion des Vaters zerstörte. Mit der Vermehrung und Absicherung seiner Geldreserven gewinnt dann der Traumatisierte seine durch jede Geldausgabe zutiefst bedrohte Männlichkeit zurück. Indem er dem Druck, unter dem er steht, nachgibt, empfiehlt er sich zugleich der eigenen Mutter als der bessere Lebenspartner. Die Erinnerung an die individuelle Verhaltensdisposition erweist sich freilich bei näherem Hinsehen als Erinnerung an ein kollektives Phantasma. Erzählt wird nämlich eine Standardversion der deutschen Nachkriegsgeschichte, in der die Männer nach ihrer Niederlage im Krieg, der Zerstörung der Städte und der Verarmung ihrer Familien ihre patriarchalen Privilegien zu verlieren drohten und sie durch den besinnungslosen Wiederaufbau der Wirtschaft aufs Neue zu erobern versuchten. Der fortgesetzte Erfolg sichert dann nicht nur das Patriar–––––––— 18 19

Bohlen (wie Anm. 6), S. 16. Bohlen (wie Anm. 6), S. 16.

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chat, sondern auch die männliche Sprecherposition, denn während die Väter sich für das Eingeständnis ihres Versagens ein Sprechverdikt der Mütter einhandeln (so was kannst du doch nicht sagen), korrespondiert dem Erfolgsdruck der Söhne eine veritable Artikulationslust (Ich sag mal:). Dass es sich bei dem individuellen zugleich um ein kollektives Trauma handelt, wird sowohl durch die Wahl des Ausdrucks Ausnahmezustand, der aus dem Staatsrecht entlehnt ist und auf die Kriegs- und Nachkriegszeit verweist, als auch durch die iterativen Signale der Passage unterstrichen, die den Ausnahmezustand als Normalzustand kennzeichnen. Immer an Weihnachten spielt sich die autoagressive Erniedrigung des Vaters ab und wie jedes Jahr wird sie von der Mutter durch das Nahrungsangebot entschärft, während der Sohn seit jeher und für alle Zeiten vom Zwang zur Vermeidung der Armutsfalle angetrieben wird. Das (von Kessler entworfene) Psychogramm Bohlens ist das Psychogramm der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Zu den auffälligsten Effekten dieses Psychogramms gehört die Sinnentleerung aller Gegenwarten der Betroffenen, die aufgrund der permanenten Wirksamkeit des Traumas als beängstigend erfahren werden. Wenn der Ausnahmezustand die Regel wird, zwingt er den Traumatisierten dazu, jeden Lebensmoment sofort zu verlassen und zu überschreiten. In keinem Augenblick darf er verweilen, die Besitzstandsmehrung treibt ihn weiter, macht ihn zu einer Figur der Unruhe, rückt ihn in die Nähe Fausts. Zu den Eigentümlichkeiten der Passage gehört überdies ein intertextueller Verweis. Er erschließt sich über die Selbstmorddrohung des Vaters, die in ihrem Motiv und hinsichtlich der anvisierten Tötungsart mit dem erfolgreich realisierten Selbstmord Engelbert Krulls, des Vaters des Protagonisten in Thomas Manns Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, korrespondiert. Dass es sich dabei um eine gezielte Stilisierung handelt, belegt der Titel des Kapitels „Jürgen Harksen. Oder: der Felix Krull von Hamburg“. Ähnlich wie im Fall des Endreims Hans/Gans liegt damit aber kein konsequent ausgearbeitetes Moment der Textstruktur vor, sondern ein punktuell auftretendes Textdetail, das in routinierter Weise die Spaßkultur bedient und durch seine Verweisungsarmut den Präsensverlust verstärkt.

2.4.2 Papale Abfall für alle enthält zwar ebenfalls einige Elemente zu einem Vaterporträt, sie sind aber in unregelmäßigen Abständen über den Text verteilt und nicht an einem Ort gebündelt. Im vierten Teil wird zum Beispiel in einer dem 15.8.1998 zugeordneten Notiz der Vater als Autoritätsfigur angesprochen. Es schließt sich eine vergleichende Reflexion über den Umgang mit Autoritäten in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter an: 1116. In der Jugend wurde ich von der Verwandtschaft immer damit aufgezogen, ich hätte als Kind dauernd gesagt: ABER MEIN PAPALE HAT GESAGT –. Dauernd. Offenbar gab es viel abweichende Meinung zuhause, viel Autorität, das hat dann natürlich wahnsinnig

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Ulrich Breuer genervt, in der Jugend. Später ist es ganz egal, ob man als Möchtegern-Mitläufer gegen den Strom schwimmt oder mit ihm, da ist das alles genau ein klitzekleines Materialbausteinchen, so wichtig wie die letzte Meldung in der Tagesschau oder die Melancholie des Leuchtens vom sommerlichen Abendhimmel her.20

Die Stilanalyse zeigt auf der lexikalischen Ebene den Einsatz von Kindersprache (Papale) und Diminutiven (Materialbausteinchen), einen Neologismus (Möchtegern-Mitläufer), Phrasen (wahnsinnig nerven, ganz egal sein) und Phraseologismen (jmdn. mit etw. aufziehen, gegen den Strom schwimmen) sowie eine hochpoetische Genitivmetapher (Melancholie des Leuchtens). Auf der syntaktischen Ebene prallt eine einleitende Hypotaxe in harter Fügung auf einen Einwortsatz, dem eine nachlässig gefügte Erläuterung im sprechsprachlichen Duktus folgt, während erneut ein hypotaktisches Gefüge, das in diesem Fall lyrisch ausschwingt, den Abschluss bildet. Dominant werden Wiederholungsfiguren eingesetzt, wobei das Bemühen um Variation auffällt. Es finden sich grammatische (ich hätte [...] gesagt, MEIN PAPALE HAT GESAGT) und syntaktische (dauernd, Dauernd) Modifikationen, ein Parallelismus (viel abweichende Meinung, viel Autorität) und eine Inversion (In der Jugend [...], in der Jugend.), sowie einige kunstvoll ineinander verschlungene Alliterationsfolgen (Möchtegern-Mitläufer/Materialbausteinchen, klitzekleines, wichtig wie, letzte/Leuchtens, Meldung/Melancholie). Die gesamte Notiz ist als Vertiefung und Ausweitung eines semantischen Kerns angelegt, der in der Jugenderinnerung des Schreibers an eine innerfamiliäre Hänselei besteht. Vertieft wird die Erinnerung zunächst temporal durch einen Kommentar des Erwachsenen, der die stereotypen Zitate väterlicher Machtsprüche, deren Äußerung nur über den Umweg der Verwandtenhäme noch erinnerlich ist, aus der Korrelation von familiärer Dissidenz und Autoritätsbedarf zu erklären versucht. Das Kind hat sich im innerfamiliären Streit offenbar am Vorbild seines Vaters zu orientieren versucht, indem es dessen Ansichten zu den seinigen machte. Noch innerhalb des Kommentars wechselt jedoch der Fokus von der Kindheit wieder zurück zur Jugend und zeigt den Heranwachsenden nun ebenfalls als Dissidenten, der gegen die väterliche Autorität revoltiert. Im Schlusssatz der Passage erfolgt die Ausweitung des Problemkerns, indem nun die Zeit nach Kindheit und Jugend in den Blick gerückt wird. Im Erwachsenenalter verliert sowohl der kindheitstypische Anschluss an die Autorität als auch der jugendliche Daueraufstand gegen sie an Bedeutung. Der Erwachsene kann je nach Bedarf die eine oder die andere Haltung einnehmen und das Ensemble seiner Zu- und Abneigungen zu höherstufigen Einheiten zusammenfügen. Der Diminutiv in Materialbausteinchen, unterstützt durch das alliterierende klitzeklein, nimmt dabei in kunstvoller Weise die durch Papale markierte Kindheitsperspektive auf und erweist dadurch die Welt der Erwachsenen als Wiederholung der Kinderwelt auf höherer Stufe. Die beiden abschließenden Vergleiche, die den Bedeutsamkeitsgrad des Verhaltens zur Macht veranschaulichen –––––––— 20

Goetz (wie Anm. 7), S. 525.

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sollen, weiten die Perspektive des Erwachsenen ins Eschatologische aus. Während die letzte Meldung in der Tagesschau vor dem endgültigen Eintritt der Nacht noch einmal kindlich nachplappert, was die Papales der Welt im Tagesverlauf von sich gegeben haben, wiederholt sich in der Melancholie des Leuchtens vom sommerlichen Abendhimmel her in kosmischen Dimensionen die stets zum Scheitern verurteilte Revolte des jugendlichen Lichts gegen die Finsternis. Verspannt werden beide Haltungen zur Macht durch die chiastische Alliteration zwischen den Syntagmen letzte Meldung und Melancholie des Leuchtens, letztlich also durch die Macht der Literatur. Am Ende scheint mit dem klassischen Bild der untergehenden Sonne die Figur der radikalen Abschiedstrauer21 zu dominieren. Erinnert man sich aber an das Emblem auf dem hinteren Buchumschlag von Abfall für alle, dann behält doch das Licht, und mit ihm der Aufstand von Werk und Autor gegen sämtliche Autoritäten, das letzte Wort. Für die Form der Erinnerungsarbeit folgt daraus, dass Goetz eine individuelle Erinnerung kommentiert, typisiert und bis ins Kosmische hinein erweitert, ohne dabei ihren privaten Kern preiszugeben. Bei genauerer Betrachtung schimmert freilich auch durch diese Erinnerung die deutsche Geschichte hindurch, insbesondere die kollektive Erfahrung der Protestgeneration. Anders als Bohlen/Kessler gibt Goetz aber nicht die kollektive Erinnerung der Deutschen als seine eigene aus, sondern entdeckt in erinnerten Gegenwarten mit literarischen Mitteln kollektive und kosmische Züge.

3. Schluss Während der rigide Antiintellektualismus und die Distanzhaltung gegenüber der Hochkultur in Bohlens/Kesslers Nichts als die Wahrheit von Autoren wie Goetz keine Notiz nimmt, ihre Arbeiten aber indirekt durch den expliziten Verzicht auf ästhetische Ansprüche22 und die strikte Orientierung am Kriterium des Erfolgs23 als irrelevant markiert, geht Abfall für alle wiederholt auf Bohlen ein. Goetz gesteht seine zeitweilige „Modern Talking Liebe“24, beschreibt am Beispiel von Modern Talking die Funktion von Popmusik für individuelle und kollektive Erinnerungen25 und verteidigt (mit philologischen Argumenten) einen interessanten Bohlen-Satz gegen seine arrogante Verfälschung durch einen professionellen Kritiker.26 Während also Bohlen durch seine bewusste Distanzierung von der Hochkultur die Differenz zwischen Populär- und Hochkultur anerkennt und fortwährend stabilisiert, erscheint Goetz diese Differenz als sol–––––––— 21 22 23 24 25 26

Vgl. Bohrer, Karlheinz: Der Abschied. Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin. Frankfurt a. M. 1996. Vgl. Bohlen (wie Anm. 6), S. 191. Bohlen (wie Anm. 6), S. 9. Goetz (wie Anm. 7), S. 111. Goetz (wie Anm. 7), S. 366. Goetz (wie Anm. 7), S. 546.

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che irrelevant. Er richtet seine Aufmerksamkeit vielmehr auf das Interessante und der vorliegende Beitrag ist ihm darin gefolgt. Der Vergleich beider Texte unter dem Aspekt der Erinnerungsarbeit hat ergeben, dass ihre Autoren für die Darstellung ihres ähnlichen Lebenswegs zum einen die Form der Auto/Biographie (Bohlen/Kessler) und zum anderen die des autobiographischen Schreibens (Goetz) gewählt haben. Hinsichtlich der Paratexte steht eine Dominanz der Bilder über die Schrift (Bohlen/Kessler) einer Dominanz der Schrift über die Bilder gegenüber (Goetz). Die Textstruktur ist im einen Fall (Bohlen/Kessler) topisch an positiven und negativen Bezugspersonen und der Logik des Erfolgs orientiert, im anderen Fall (Goetz) ist sie strikt chronologisch mit einer Nähe zum Tagebuch und einer Ausweitung zum Essay am JETZT27 orientiert. Der Vergleich der Schultheatererinnerungen konnte zeigen, dass Bohlen (von Kessler) in der Erinnerungsarbeit zu einem von der Hochkultur ausgeschlossenen und in ihrem Schatten agierenden Egomanen gemacht wird, während Goetz eine Form der Erinnerungsarbeit praktiziert, die mit stilistischen Mitteln individuelle mit kollektiven Reminiszenzen verknüpft und beide auf die kulturelle Kippfigur des Dionysos bezieht. Der Vergleich der skizzenhaften Vaterporträts hat ergeben, dass Nichts als die Wahrheit mit Hilfe von Phrasen und syntaktischen Brüchen die Erfolgsgeschichte des Protagonisten als angstbesetzten Dauerkampf gegen Geld- und Autoritätsverluste rekonstruiert. Hinter der individuellen Traumatisierung versteckt sich ein kollektives deutsches Trauma. Es macht den Ausnahmezustand zum Normalzustand, der zum besinnungslosen Verlassen jeder denkbaren Gegenwart zwingt und letztlich auch stilistische Nachlässigkeiten und Spielereien legitimiert. Diese Form der Erinnerungsarbeit ist als metonymisch zu bezeichnen, insofern die von Bohlen/Kessler verfasste Auto/Biographie ein kollektives Trauma als individuelle Erinnerung ihres Protagonisten ausgibt. Goetz dagegen setzt in einem thematisch ähnlichen Zusammenhang eine variable Lexik und unterschiedliche Wiederholungsfiguren ein, um typische Umgangsweisen des Einzelnen mit Autoritäten aufzuzeigen. Indem er einen individuellen Erinnerungskern vertieft und ausweitet, gelingt es ihm, dessen kollektive Einsprengsel bis in ihre kosmischen Züge hinein auszuarbeiten. Diese Form der Erinnerungsarbeit kann als archäologisch und metaphorisch bezeichnet werden, da sie spezifische Erfahrungsmomente freilegt und in wechselnde Kontexte überträgt. Wen also kennen die Leute, wenn sie Bohlens/Kesslers Nichts als die Wahrheit gelesen haben? Wenig mehr als ein N(ich)ts unter der Maske einer kollektiven Wahrheit. Und wen kennen die Leute, wenn sie Abfall für alle von Goetz gelesen haben? Sie kennen das L(ich)t und sie können sich daran erinnern.

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Goetz (wie Anm. 7), S. 200.

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Die Wahrheit der Geschichte(n) Zur Erinnerungsliteratur von Tanja Dückers, Günter Grass, Uwe Timm

„Niemand / zeugt für den / Zeugen“: So endet das 1967 erschienene Gedicht „Aschenglorie“ von Paul Celan.1 Der radikale Zweifel, das Zeugnis des Zeitzeugen von Holocaust und Krieg, Flucht und Exil sei nicht durch ein zweites Zeugnis nachprüfbar und also auch nicht authentisch übertragbar, ist nicht nur im Leben und Werk Celans selbst von großer Bedeutung. Es benennt auch mit diagnostischer Schärfe das Problem, die Erinnerungen primärer Augenzeugen an die Erinnerungen der ,zweiten Generation‛ weiterzugeben, die sich nicht auf Erlebnisse stützen kann, sondern auf Gespräche, mündliche und schriftliche Quellen. Um wie viel schwieriger ist es, wenn eine dritte Generation hinzu kommt und ebenfalls an eine Zeit erinnert, die sie selbst aber nicht bewusst oder überhaupt nicht erlebt hat, und wenn bei diesen Erinnerungen das geschieht, wozu der Buchenwald-Überlebende Jorge Semprún seine nachgeborenen Autorenkollegen aufgefordert hat: das Gedächtnis der Zeitzeugen mit ihren Erfindungen „mutig [zu] entweihen“ und die Geschichte nicht nur zu erinnern, sondern zu erfinden.2 Die Kulturwissenschaft hat sich intensiv mit dem Problem beschäftigt, dass der Gegenstand des Gedächtnisses von drei verschiedenen Generationen im Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses, das diese Generationen verbindet,3 nur scheinbar der gleiche ist, sich aber tatsächlich im Prozess des Erinnerns der jeweiligen Generation und des Einzelnen, der sich erinnert, verschiebt. Mit anderen Worten: Was erinnert wird (und was vergessen wird), verändert sich mit dem Subjekt der Erinnerung ebenso wie mit deren Modus. Gerade literaturwissenschaftlich (und -theoretisch) verdienen diese Binnendifferenzen im kommunikativen Gedächtnis großes Interesse. Denn die Fragen, woran erinnert wird, wer sich erinnert und wie erinnert wird, erlauben Rückschlüsse nicht nur auf die kulturellen Formen der in einer Gesellschaft funktionierenden Gedächtnisbildung, sondern auch auf jene Formen der Gedächtnisre-

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Celan, Paul: Aschenglorie, Gesammelte Werke in sieben Bänden 2, hg. v. Beda Allemann u. Stefan Reichert. Frankfurt a. M. 2000, S. 72. Semprún, Jorge: Laudatio auf Norbert Gstrein, in: Der Freiheit das Wort. Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 1993–2002, hg. v. Bernhard Vogel. Bornheim 2002, S. 158. Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2005.

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flexion,4 die einen mehr ästhetischen denn historischen Wahrheitsanspruch an die Geschichte herantragen. Diese Wahrheit der Geschichte(n) steht im Brennpunkt der Erinnerungsliteratur der letzten Jahre, aus der im Folgenden drei Erzählwerke von Grass, Dückers und Timm exemplarisch untersucht werden. Ihre Kennzeichen sind: die dezidierte, oft persönlich oder familiär motivierte Hinwendung zur Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts (Holocaust und Krieg, Flucht und Vertreibung); die Frage nach dem, was man noch, wenn überhaupt, aus dieser Geschichte lernen kann; die Entdifferenzierung von Täter- und Opfergedächtnis; die Auseinandersetzung mit den Erinnerungsdifferenzen der Generationen; die Auflösung rein dokumentarischer oder chronikalischer Formen des Erzählens durch Elemente der Fiktion, d. h. die Kopplung von faktualer und fiktionaler Geschichte; die Verknüpfung von Familiengeschichte und kulturellem Gedächtnis; die dialektische Beziehung zwischen Erinnern, Verschweigen und Vergessen; die Infragestellung der Zuverlässigkeit schriftlicher und mündlicher Erinnerungsquellen; die Selbstthematisierung der Erinnerung als eines Aufnahme-, Speicher- und Überlieferungsmediums; die Herausforderung der kulturellen Tradition durch den Wandel des kulturellen Gedächtnisses; die Spannung zwischen kommunikativem, kulturellem, individuellem Gedächtnis und der „Pluralismus der Gedächtniskulturen“ (Anne Fuchs); schließlich die Metamorphosen des Autors als Zeugen: neben den Primärzeugen als Opfer und den Sekundärzeugen als Boten5 tritt der „eine fremde Geschichte zur eigenen“ machende Erzähler als ,Zeuge‛.6 Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders (2003)7 und Günter Grass’ Beim Häuten der Zwiebel (2006)8 gehören bereits zu den kanonischen Werken der –––––––— 4

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Dieses hilfreiche Modell von Gedächtnisbildung („Gedächtnis der Kunst“) und Gedächtnisreflexion („Gedächtnis in der Kunst“) stammt von Gansel, Carsten: Zwischen offiziellem Gedächtnis und Gegen-Erinnerung – Literatur und kollektives Gedächtnis in der DDR, in: Gedächtnis und Literatur in den ‚geschlossenen Gesellschaften‛ des Real-Sozialismus zwischen 1949 und 1989, hg. v. Carsten Gansel. Göttingen 2007 (Formen der Erinnerung 29), S. 17f. Den besten Überblick derzeit und gute Einführungen in die Nomenklatur bieten: Agazzi, Elena: Erinnerte und rekonstruierte Geschichte. Drei Generationen deutscher Schriftsteller und die Fragen der Vergangenheit. Aus dem Ital. v. Gunnhild Schneider u. Holm Steinert. Göttingen 2005; Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart u. Weimar 2005; Fuchs, Anne u. a. (Hgg): German Memory Contests. The Quest for Identity in Literature, Film, and Discourse since 1990. Rochester, NJ 2006. Zum Zeugenbegriff in der Literatur nach 1945 vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 89f. und Blasberg, Cornelia: Zeugenschaft. Metamorphosen eines Diskurses und literarischen Dispositivs, in: Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, hg. v. Barbara Beßlich u. a. Berlin 2006, S. 21–33. Gstrein, Norbert: Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens. Frankfurt a. M. 2004, S. 31. Zitiert fortan mit der Sigle BB = Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders. Köln 2003. Weitere Sigle: EE = Timm, Uwe: Erzählen und kein Ende – Versuche zu einer Ästhetik des Alltags. Köln 1993. Vgl. auch: Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders. Text und Kommentar, hg. v. Heinz Gockel. Bamberg 2006 sowie Galli, Matteo: Kommunikatives Gedächtnis bei Uwe Timm, in: „(Un-)erfüllte Wirklichkeit“. Neue Studien zu Uwe Timms

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gegenwärtigen Erinnerungsliteratur; Tanja Dückers’ Roman Himmelskörper (2003)9 ist vergleichsweise weniger bekannt, aber als Zeugnis dafür gewürdigt worden, „dass jetzt die Enkel anfangen zu fragen“.10 Vergleichbar sind diese Werke schon allein deshalb, weil sie in unterschiedlicher Abstufung autobiographisch angelegt sind. Die Geburtsjahrgänge ihrer Autoren repräsentieren die drei Generationen, deren Erinnerungen das kommunikative Gedächtnis umfassen: Grass ist Jahrgang 1927, Timm 1940, Dückers 1968. Ihre Bücher sind sprechende Beispiele für den Streit um die Erinnerung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, der im Wesentlichen ein Streit der Generationen um die Überführung der individuellen Erfahrungen der NS-Zeit und der Nachkriegsgeschichte und der Erinnerungen der Zeitzeugen ins literarische Langzeitgedächtnis ist.11 Angesichts der Zeitzeugen als „aussterbender Minderheit“ (HZ S. 185)12 geht es darum, inwieweit und auf welche Weise Gedächtnis und Zeugnis Literatur werden. 13

Der Streit der Generationen um die Erinnerung14 Ein Anfangsdatum des Generationenstreits um die Erinnerung liefert HannsJosef Ortheils Roman Abschied von den Kriegsteilnehmern (1992).15 Der Erzähler, wie sein 1951 geborener Autor Angehöriger der ersten Nachkriegsgeneration, übernimmt von seinem Vater die Aufgabe, die Erinnerung an die Geschichte –––––––—

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Werk, hg. v. Frank Finlay u. Ingo Cornils. Würzburg 2006, S. 162–172 und die Aufsätze von Marx, Friedhelm; Niefanger, Dirk; Braun, Michael in: Marx, Friedhelm (Hg.): Erinnern, Vergessen, Erzählen. Beiträge zum Werk Uwe Timm. Göttingen 2007 (Poiesis. Standpunkte zur Gegenwartsliteratur 1). Zit. mit der Sigle HZ = Grass, Günter: Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen 2006; vgl. dazu Kölbel, Martin (Hg.): Die Debatte um Günter Grass’ Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen 2007. Sigle: H = Dückers, Tanja: Himmelskörper. Roman. Berlin 22005. H, Klappentext (wie Anm. 9). Das Zitat stammt von Christa Wolf. Und weniger eine Abwehrhaltung gegen „Normierungstendenzen des Diskurses über die NS-Zeit und den Holocaust“, so die Ausgangsthese bei Neuhaus, Stefan: Der Streit um die Erinnerung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in: Ibero-amerikanisches Jahrbuch für Germanistik 1 (2007), S. 157–178. Diese demographische Zwangsläufigkeit hat auch eine juristische Dimension: „im Jahr 2025 wird kein Deutscher mehr leben, der im juristischen Sinn Schuld an dem tragen kann, was vor dem 9. Mai 1945 geschehen ist.“ Schlink, Bernhard: Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht. Frankfurt a. M. 2002, S. 11. Vgl. Lauer, Gerhard: Erinnerungsverhandlungen. Kollektives Gedächtnis und Literatur fünfzig Jahre nach der Vernichtung der europäischen Juden, Deutsche Vierteljahrsschrift 73 (1999), S. 215–245. Lauer untersucht am Beispiel der Holocaust-Literatur der 1990er Jahre die Probleme der „Literarisierung des kollektiven Gedächtnisses“ (S. 220). Vgl. dazu Weinrich, Harald: Gebote und Verbote des Erinnerns und Vergessens. Plädoyer für eine sorgsame Gedächtniskultur, Die Politische Meinung 52 (2007) Nr. 449, S. 56–62. Ortheil, Hanns-Josef: Abschied von den Kriegsteilnehmern. Roman. München 1992. Zitate in diesem Absatz werden mit Seitenzahl nachgewiesen.

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der Familie schriftlich festzuhalten. Doch der Sohn entflieht dieser Aufgabe nach Amerika. Dort lernt er gegen allerhand fremde und eigene Widerstände, dass Schreiben ein „Sich-Erinnern, ein Hervorlocken, eine Wegkreuzung all der Stimmen ist, die den Reisenden auf seinem Schreibweg begleiten“.16 Das Grunddilemma des Erzählers ist der „Haß auf die Zeitzeugenschaft“ des Vaters (S. 107), dessen Opfererinnerung keineswegs dem auf die Juden bezogenen Opfergedächtnis entspricht, das der Sohn von ihm und von sich selbst einfordert. Sein Erinnern distanziert ihn so einerseits von dem Vater, belastet ihn aber andererseits aufgrund seiner „Mitwisserschaft“ (S. 285). Ortheils „Roman eines Generationenabschieds“17 verabschiedet nicht die Geschichten der Kriegsteilnehmer, aber erzählt sie neu im Licht der zweiten Generation der Sekundärzeugen. Zu diesen Sekundärzeugen zählen die Autoren, die aufgrund ihrer späteren Geburt ohne eigene bzw. ohne bewusste Opfererfahrung geblieben sind, aber mit den Zeitzeugen ereignisnah und direkt kommunizieren konnten. Die Primärzeugnisse sind für sie noch so nah, dass sie den Autor persönlich angehen und nicht in Ehrfurcht erstarren lassen, zugleich aber schon so in Distanz gerückt, dass er sich nicht mehr naht- und kritiklos mit den Zeitzeugen identifizieren kann. Die Memorialforschung spricht hier vom Modell einer „kritischen sekundären Zeugenschaft“.18 Ihr Hauptmerkmal ist, dass diese Zeugenschaft erst in der Vermittlung des Zeugnisses, das heißt: im transgenerationellen Dialog und in Mitwisserschaft mit den Vätern – und auch im Dialog mit deren Enkeln, also den eigenen Söhnen – beglaubigt wird. Auf diese Weise gewinnt die kritische Betrachtung der Überlieferung des Erinnerungszeugnisses an Bedeutung. Die sekundären „Zeugen der Erinnerung“ können den primären Erinnerungszeugnissen nicht unbedingt trauen, weil sie sich zuerst ebenso von deren Wahrhaftigkeit überzeugen müssen wie von der Übereinstimmung dieser Zeugnisse mit den eigenen sekundären (gehörten, gelesenen) Erinnerungen. Neben Ortheil und Timm wären hier zahlreiche andere Autoren zu nennen, die sich, in allerdings unterschiedlicher „Dosierung“, mit der Verführbarkeit von Familienmitgliedern durch den Nationalsozialismus auseinandersetzen.19 –––––––— 16 17

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Ortheil, Hanns-Josef: Das Element des Elephanten. Wie mein Schreiben begann. München 1994, S. 102. Wehdeking, Volker: Ortheils Abschied von den Kriegsteilnehmern als Generationenkonflikt und Geschichtslektion, in: Hanns-Josef Ortheil. Im Innern seiner Texte. Studien zu seinem Werk, hg. v. Manfred Durzak u. Hartmut Steinecke. München u. Zürich 1995, S. 161. Baer, Ulrich: Einleitung, in: „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, hg. v. Ulrich Baer. Frankfurt a. M. 2000, S. 19. Vgl. Bruhns, Wibke: Meines Vaters Land. Geschichten einer deutschen Familie. München 2004; Dorn, Anne: Siehdichum. Roman. Berlin 2007; Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder. Roman. München 2003; Jetter, Monika: Mein Kriegsvater. Versuch einer Versöhnung. Hamburg 2004; Leupold, Dagmar: Nach den Kriegen. Roman eines Lebens. München 2004; Maron, Monika: Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte. Frankfurt a. M. 1999; Medicus, Thomas: In den Augen meines Großvaters. München 2004; Wackwitz, Stephan: Ein unsichtbares Land. Familienroman. Frankfurt a. M. 2003.

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Das Gedächtnis der Tertiärzeugen, die als Enkelgeneration die Erfahrungen und Erinnerungen der Zeitzeugen adoptieren, ist in das Stadium der „postmemory“20 eingetreten. Es verfügt trotz der engen personalen Vernetzung mit der Großelterngeneration nicht mehr über deren Erinnerungsschatz. Das zeitferne Erfahrungsgedächtnis der Zeitzeugen mit seinen Lücken und Leerstellen steht in einem Gegensatz zu dem geballten Wissen über die Vergangenheit, mit dem die Jüngeren in Schule, Büchern und Filmen aufgewachsen sind. Wenn die jüngeren Autoren wie Marcel Beyer und Tanja Dückers also über Erlebnisse vor ihrer Geburt schreiben, sind sie dazu aufgerufen, neben historischen Quellen und Familiendokumenten gerade auch den Spielraum der eigenen literarischen Imagination zu nutzen. Im Unterschied zu den Tertiärzeugen und den ,kritisch sekundären Zeugen‛ haben die „Primärzeugen“, häufig erst nach langem Schweigen und Zögern, ihre autobiographischen Erinnerungen zu Papier gebracht. Dazu gehört die Holocaust-Literatur jüdischer Autoren von Elie Wiesel bis Ruth Klüger, aber auch die Erinnerungsliteratur seinerzeitiger deutscher Kriegsteilnehmer. Bei der Analyse dieser Werke ist man gut beraten, zwischen den differenten Rekonstruktionsweisen, Authentizitätsansprüchen und Popularisierungsmustern der Texte zu unterscheiden. Was in Günter de Bruyns Autobiographie über seine Zeit als Luftwaffenhelfer skrupulöse Rechenschaftslegung und Selbsterforschung ist, das ist in Martin Walsers autobiographischem Roman Ein springender Brunnen, der auch über die Zeit des Erzählers beim „Jungvolk“ Auskunft gibt, die Erfindung der Kindheit im Medium der Sprache21 – und das wird in Grass’ Memoiren ausdrücklich als Lizenz einer subjektiven Wahrheit der Geschichte deklariert. Diese Subjektivierung der Geschichte sollte man nicht vorschnell unter Verfälschungsverdacht stellen, weil sie sowohl für den Autor wie auch letztlich für den Leser „keine Beliebigkeitserlaubnis, sondern Aufforderung zu höchster Wachsamkeit“ ist.22

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Vgl. Hirsch, Marianne: Family Frames: Photography, Narrative, and Postmemory. Cambridge 1997 und dies.: Surviving Images: Holocaust Photographs and the Work of Postmemory, The Yale Journal of Criticism 14 (2001), S. 9: „Postmemory is a powerful form of memory precisely because its connection to its object or source is mediated not through recollection but through representation, projection, and creation – often based on silence rather than speech, on the invisible rather than the visible.“ Vom Gedächtnis unterscheidet sich „postmemory“ durch den Abstand der Generationen, von der Historie durch die enge persönliche Verbindung der Erinnerungsträger. Vgl. de Bruyn, Günter: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin. Frankfurt a. M. 1992 u. ders.: Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie. Frankfurt a. M. 1995; Walser, Martin: Ein springender Brunnen. Roman. Frankfurt a. M. 1998. Beyer, Marcel: Das wilde Tier im Kopf des Historikers, in: Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, hg. v. Stefan Deines u. a. Berlin u. New York 2003, S. 300.

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Günter Grass und der Fall der ,subjektiven Erinnerung‛ Bei Günter Grass hat es mit der Frage, wer sich erinnert, eine besondere Bewandtnis. Mit seinem Debütroman Die Blechtrommel (1959) hatte er der literarischen Erinnerungskultur der Deutschen einen hoffnungsvollen Weg gewiesen. Er schien in eine Zukunft zu führen, in der die Autoren von der Last der Erinnerung an den Nationalsozialismus zwar nicht befreit, aber so weit in die Pflicht genommen würden, dass über dieses Erbe hinfort ohne Angst und ohne Scham zu schreiben wäre. Oskar, der wachstumsunwillige Held des Romans, ist der geeignete Repräsentant dieser Erinnerungskultur, die der deutschen Literatur einen wirkungsvollen Gründungsmythos stiftet:23 alt genug, um die Väter- und Tätergeneration, die sich ihrer Schuld nicht stellte, ans Messer zu liefern, zu jung aber, um selbst zum Schuldigen werden zu können, beseelt von dem Wunsch, mehr zu sein als „Teilhaber, Mitläufer, ein Stück im Stückwerk der Geschichte“ (HZ S. 245). Die Perspektive des ewigen Kindes rechtfertigte einen Neuanfang ohne „Scham und Angst“. Diese essentiellen Eigenschaften einer kritischen Erinnerungsliteratur aber fehlen dem „grandiosen Ich“ Oskar Matzerath völlig – und es gibt Grund, mit Petra Morsbach anzunehmen, dass „Angst und Scham“ auch dem Autor Günter Grass zumindest am Anfang seiner Karriere fehlten,24 einer beispiellosen Karriere, die mit seinem ersten Buch begann und ihn zum „singulären Phänomen in der deutschen Literatur“ werden ließ.25 Mit seinem Geständnis, 1944/45 Panzerschütze der Waffen-SS gewesen zu sein, hat Günter Grass im Sommer 2006 für die heftigste Debatte der jüngeren literarischen Erinnerungskultur gesorgt.26 Sie war gut für sein neues Buch Beim Häuten der Zwiebel, dessen Erstauflage (150.000 Exemplare) binnen kurzer Zeit verkauft war, aber schlecht für den Autor. Jahrzehntelang hatte er an der Grenze zur Unbelehrbarkeit seinen Ruf als moralische Instanz der Deutschen, als sich einmischender „Bürger“27 verteidigt, hatte er an die nationalsozialistische Vergangenheit deutscher Politiker erinnert, aber von der eigenen wohlweislich geschwiegen; nun standen diese „Merk- oder Markenzeichen“ des –––––––— 23

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Schirrmacher, Frank: Abschied von der Literatur der Bundesrepublik. Neue Pässe, neue Identitäten, neue Lebensentwürfe: Über die Kündigung einiger Mythen des westdeutschen Bewusstseins, Frankfurter Allgemeine Zeitung (2.10.1990). Morsbach, Petra: Warum Fräulein Laura freundlich war. Über die Wahrheit des Erzählens. München u. Zürich 2006, S. 163. Morsbachs hellsichtige Analyse, kurz vor Grass’ Beim Häuten der Zwiebel erschienen, nimmt zentrale Argumente der Grass-Debatte vorweg, in deren Schlagschatten ihr Buch – völlig zu Unrecht – so gut wie gar nicht beachtet wurde. Neuhaus, Volker: Schreiben gegen die verstreichende Zeit. Zu Leben und Werk von Günter Grass. München 1997, S. 102. Vgl. Braun, Michael: Die Medien, die Erinnerung, das Tabu: Im Krebsgang und Beim Häuten der Zwiebel von Günter Grass, in: Tabu und Tabubruch in Literatur und Film, hg. v. Michael Braun. Würzburg 2007, S. 117–135 und ders.: Günter Grass, die Waffen-SS und die Rolle der Literatur in der deutschen Erinnerungskultur, Der Deutschunterricht 58 (2006) H. 6, S. 87–91. Vgl. Jürgs, Michael: Bürger Grass. Biografie eines deutschen Dichters. München 2002.

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Autors auf dem Spiel.28 Dabei ging es nicht um die in Grass’ Buch selbstkritisch sezierte Verführbarkeit eines Jugendlichen im „Dritten Reich“. Ein „Kainsmal“ (so Grass) wurde die doppelte Rune, die Holocaust-Überlebende zeitlebens entsetzt,29 aus einem anderen Grund. Grass hatte jahrzehntelang diesen Teil seines episodischen Gedächtnisses verschwiegen, und mit ihm hatten die prinzipiell zugänglichen Quellen, die seine SS-Mitgliedschaft dokumentieren, geschwiegen.30 Nicht das Verschwiegene, sondern das „andauernde Verschweigen“ war also das Hauptproblem für Grass, das „sich in ‚nachwachsender Scham‛ [HZ S. 127], wie er es genannt hat, zum Verschweigen des Verschweigens ausgewachsen hatte und ihn zunehmend blockierte, auch wenn es für den eigenen Blick nur zu vorübergehenden Beschwichtigungen reichte“.31 In dem Gedicht „Mein Makel“ räumt Grass ein: „Ja, es dauerte, / bis ich Wörter fand / für das vernutzte Wort Scham“.32 Wem die Geschichte seines Lebens gehört, von der er in Beim Häuten der Zwiebel vom Kriegsausbruch 1939 in Danzig bis zu dem Erfolgsdebüt der Blechtrommel 1959 erzählt, daran lässt Grass keinen Zweifel. Nur der Autor hat das Recht, seine Erinnerung zu hüten, die unzuverlässig sein kann und subjektiv sein muss. „Gedächtnislücken“ und „Blindstellen“ gehören so mit zum Erzählprogramm von Grass, dem der „Krebsgang“ der individuellen Erinnerung wichtiger ist als die auf Genauigkeit und Geradlinigkeit bedachte Historiographie. Schon ist widerlegt, was jeweils auf Wahrheit bestehen will, denn oft gibt die Lüge oder deren kleine Schwester, die Schummelei, den haltbarsten Teil der Erinnerung ab; niedergeschrieben klingt sie glaubhaft und prahlt mit Einzelheiten, die als fotogenau zu gelten haben […]. (HZ S. 9)

Schon beim Nobelpreisträgertreffen in Vilnius im Oktober 2000 hat Grass in ähnlichem Tenor bekundet: „Erinnerung darf schummeln, schönfärben, vortäuschen, das Gedächtnis hingegen tritt gerne als unbestechlicher Buchhalter auf.“33 Die Last der persönlichen Erinnerung verteilt Grass auf zwei Schultern: auf den aus der Gegenwart erzählenden Chronisten und auf sein jugendliches Alter Ego, das durch die grammatische dritte Person in zeitliche und zugleich räumli–––––––— 28 29 30

31 32 33

Kölbel, Martin: Nachwort. Herdeninstinkte. Über einen Medienskandal als ein Phänomen von Masse, in: Kölbel (wie Anm. 8), S. 336. Begley, Louis: Lügen in Zeiten des Friedens, in: Kölbel (wie Anm. 8), S. 120f. Vgl. Ascherson, Neal: Even now. Beim Häuten der Zwiebel by Günter Grass, London Review of Books (2.11.2006). Ascherson weist nicht nur auf die Archivdokumente der amerikanischen Besatzungsmacht und auf das kommunikative Beschweigen der NS-Zeit durch die Tätergesellschaft hin, sondern auch auf die Thematisierung des Schweigens in Grass’ Buch, z. B. des Schweigens über das plötzliche Verschwinden eines Mitschülers und des Lateinlehrers. Wellershoff, Dieter: Die Nachkriegszeit – Anpassung oder Lernprozeß, in: ders.: Der lange Weg zum Anfang. Zeitgeschichte, Lebensgeschichte, Literatur. Köln 2007, S. 217. Grass, Günter: Dummer August. Gedichte, Lithografien, Zeichnungen. Göttingen 2007, S. 59. Grass, Günter: Rede in Vilnius, 2. 10. 2000, in: ders.: Czesław Miłosz, Wisława Szymborska: Die Zukunft der Erinnerung, hg. v. Martin Wälde. Göttingen 2000, S. 134.

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che Distanz gerückt wird. Von dem „Jungen, der du einmal warst“, dem „Rekrut meines Namens“ (HZ S. 126), einem „uniformierten Selbst“ (HZ S. 106), später auch dem „Bildhauer, der sich als Dichter sah“ (HZ S. 460) ist die Rede; dieser entfernte Teil des „gedoppelten Ich“ (HZ S. 15) ist der Adressat des Erinnerungstabus. Eine solche Erinnerung an die Vergangenheit muss sich verkappen und verkapseln: Weil aber so viele geschwiegen haben, bleibt die Versuchung groß, ganz und gar vom eigenen Versagen abzusehen, ersatzweise die eigene Schuld einzuklagen oder nur uneigentlich in dritter Person von sich zu sprechen: Er war, sah, hat, sagte, er schwieg … Und zwar in sich hinein, wo viel Platz ist für Versteckspiele. (HZ S. 36)

Das Gleichnis für ein solches moralisches Zwei-Personen-Drama aus Mitläufer und Aufklärer liefert das Titelmotiv der Zwiebel. Das ,Häuten der Zwiebel‛ trübt den Blick, liefert unscharfe Erinnerungsbilder und wird von Grass mit der Erinnerung verglichen, weil auch diese „gehäutet sein möchte, damit freigelegt werden kann, was Buchstab nach Buchstab ablesbar steht: selten eindeutig, oft in Spiegelschrift oder sonstwie verrätselt“ (HZ S. 9). Das auf das Rätselhafte an der Geschichte, ihren „Kern“ zulaufende Pathos dieses Vergleichs ist verräterisch. Das Häuten der Zwiebel kompensiert den Mangel an Trauer in der „tränenlosen“ Nachkriegsgesellschaft und ihr „löcherige[s] Gedächtnis“ (HZ S. 373). Wenn Grass im dritten Buch der Blechtrommel die Gäste im Düsseldorfer „Zwiebelkeller“ beim Zwiebelschälen weinen lässt, so ist dies wohl als Ersatzhandlung für ihre unterdrückten „Offenbarungen, Selbstanklagen, Beichten, Enthüllungen, Geständnisse“ zu verstehen.34 Anschaulich verfolgen kann man die Funktion des unzuverlässigen Erzählers in dem Buchkapitel, das der Zeit bei der Waffen-SS gewidmet ist. Es ist ein vom Umfang kleines Kapitel mit großer Wirkung; der Titel „Wie ich das Fürchten lernte“ suggeriert dort ein böses Märchen, wo man einen selbstkritischen Bericht erwartet hätte. Demgemäß treten an die Stelle von Motivationen und Erklärungen notorische Selbstzweifel, selbstaufgestellte Erinnerungsverbote oder ein „verwischtes Bild“ der Vergangenheit (HZ S. 84). Kein Wort fällt über Totenkopfmystik und Nibelungenethos der Schutzstaffel, die sich von Hitlers persönlicher Leibwache zum Hauptinstrument des politischen und militärischen Terrors im „Dritten Reich“ entwickelte. Sehen und Wissen klaffen auseinander; die subjektive Erinnerung unterdrückt die historische Wahrheit über die Waffen-SS. Wie sehr die „Doppelrune“ (HZ S. 164) für ein Vergessen steht, das, weil nicht erzwingbar, aus Scham ‚nachwächst‛, dokumentiert der Umgang mit dem Logotyp selbst. Mit ihrem „zackigen Schriftbild“ hat sich die Vokabel aus dem „Wörterbuch des Unmenschen“ in unser kollektives Gedächtnisbild von der NS-Zeit eingeätzt, obwohl sie von der subjektiven Erinnerung der Zeitzeugen offenbar immer wieder verdrängt wird.35 Sie steht für die Dämonie und –––––––— 34 35

Grass, Günter: Die Blechtrommel, hg. v. Volker Neuhaus. Darmstadt 1987 (Werkausgabe 2), S. 649f. Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 131995, S. 77. Vgl. Kölbel (wie Anm. 8), S. 350f.

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zugleich für die – weitgehend tabuisierte und ungeschriebene – „Faszinationsgeschichte“ des Nationalsozialismus, die man vielleicht vergessen will, aber nicht vergessen kann.36 Auch der restriktive Umgang mit der Vokabel „WaffenSS“ (sechsmal kommt sie in dem einschlägigen Kapitel des Buches vor) sichert das „heroische Gedächtnis“ des Autobiographen gegen „Erfahrungen von Leid und Scham“ ab,37 die sein positives Selbstbild und seine öffentliche Wahrnehmung als „Repräsentant eines besseren Deutschland“38 beschädigen könnten.

Tanja Dückers und die innere Wahrheit der Geschichte Tanja Dückers, der nur mit Vorbehalt das Etikett des ,Fräuleinwunders‛ angehängt werden kann, weil sie sich gegen die „Mär von den jüngeren unpolitischen Autoren“ wendet und auf eine „Literarisierung des Politischen“ zielt,39 ist 40 Jahre jünger als Grass. Unfreiwillig wurde ihr Roman Himmelskörper ein Opfer der Novelle Im Krebsgang, mit der Grass 2002 versucht hatte, die Diskussion über Flucht und Vertreibung zu monopolisieren und einen deutschen Opferdiskurs zu mobilisieren. Dückers’ Buch handelt von dem gleichen Ereignis, der Flüchtlingstragödie des ehemaligen KdF-Schiffes „Wilhelm Gustloff“, das am 30. Januar 1945 in der eiskalten Ostsee von einem russischen U-Boot torpediert und mit tausenden Menschen an Bord – darunter vielen Kindern, aber auch Militärpersonen – versenkt wurde. Ähnlich wie Grass verteilt Dückers die Erinnerung an die Schiffstragödie auf die Angehörigen der Erlebnisgeneration, ihre Kinder und ihre Enkel. Ungleich stärker als Grass aber entpolarisiert Tanja Dückers Täter- und Opfergedächtnis, differenziert sie innerhalb des deutschen Opferdiskurses, kontextualisiert sie die deutsche Erinnerungskultur in einer europäischen Gedächtnislandschaft: Daß die Deutschen auch Opfer des Krieges wurden und ihnen Unrecht geschah (wie beim Untergang des ehemaligen KdF-Schiffes „Wilhelm Gustloff“ oder bei der Bombardierung des mit Flüchtlingen – in erster Linie Frauen und Kinder – überfüllten Dresden), liegt auf der Hand und kann durchaus Stoff für einen gesellschaftlichen Diskurs sein. Aber im neuen deutschen Opferdiskurs wird manches übersehen: zum Beispiel die Tatsache, daß die Gustloff in den späten Kriegstagen Tarnanstrich trug, somit visuell als Kriegsschiff wahrgenommen wurde, und auch noch einige Flaks an Deck installiert hatte. Darüber hinaus waren 918 Offiziere und Mannschaften der 2. ULD an Bord – also keineswegs nur Zivilis-

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Vgl. Kiesel, Helmuth: Am Elend vorbeigeschrieben. Zur Debatte um die Novelle Im Krebsgang von Günter Grass, Die Politische Meinung 47 (2002) Nr. 390, S. 85–91. – Auch die Kurzgeschichte „SS“ des 1969 geborenen Leander Scholz endet damit, dass die Familie des Erzählers und der Nachbar, ein ehemaliger SS-Mann, sich gegenseitig totschweigen (in: Stadt Land Krieg. Autoren der Gegenwart erzählen von der deutschen Vergangenheit, hg. v. Tanja Dückers. Berlin 2004, S. 123–134). Assmann (wie Anm. 5), S. 75f. Zimmermann, Harro: Günter Grass unter den Deutschen. Chronik eines Verhältnisses. Göttingen 2006, S. 648. Vgl. Dückers, Tanja: Morgen nach Utopia. Kritische Beiträge. Berlin 2007, S. 131, 152.

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ten. Der Transport von 162 schwerstverwundeten Soldaten dürfte die Russen keineswegs zur Nachsicht bewogen haben: Die erschöpften oder verwundeten Soldaten der Roten Armee wurden auf den langen Märschen in die Kriegsgefangenschaft von den Wehrmachtsoldaten einfach erschossen [...].40

Der Anlass des Romans von Tanja Dückers ist autobiographisch insofern, als Onkel und Tante der Autorin seinerzeit aus Gotenhafen flüchteten. Doch Tanja Dückers beleuchtet Flucht und Vertreibung nicht aus der Opferperspektive wie Grass, sondern verkapselt diesen Kontext in einem Familiengeheimnis der Täter. Die Großeltern der Erzählerin waren überzeugte, privilegierte Nazis, die „Göring eine Gratulationskarte“ schrieben und „die Gesichter ihrer Mitmenschen auf edle oder unedle Züge“ untersuchten (H S. 268); sie hatten sich auf Kosten anderer Flüchtlinge und mithilfe von Denunziationen aus Gotenhafen gerettet und sogar Hitlers Mein Kampf mit ins Fluchtgepäck genommen: eine Geschichte, die verdrängt, vergessen und durch beschönigende Erinnerungen überlagert wird. Die Brisanz des Romans besteht nun darin, wie das Geheimnis gelüftet wird. Schon früh ahnt der Leser mit der Erzählerin, dass es mit den Kriegs- und Flüchtlingserzählungen ihrer Großeltern nicht seine Richtigkeit hat. Der Großvater, der im Krieg ein Bein verloren hat, kennt nur die sentimentale und die technische Version des Krieges; die Großmutter spult, wenn sie von Krieg und Vertreibung erzählt, ihre Erinnerungsmuster ab wie eine „Reiseführerin“ (H 101). Der eine braucht also zu wenig, die andere zu viel Geschichte: „Geschichtsvergessenheit“ und „Geschichtsversessenheit“ gehen eine irritierende Mischung ein.41 Dass auch die elterliche Nachkriegsgeneration keine gemeinsame Erinnerung mehr stiftet, versucht Dückers deutlich zu machen, indem sie Erinnerungsobjekte der Eltern symbolisch darstellt, zum Teil auch übercodiert. Der Vater, als Orthopäde sinnigerweise auch zuständig für das Einrenken ,krummer Geschichten‛, kann mit dem Krieg weder Erinnerungen noch Erlebnisse verbinden; seine Frau wiederholt den Erinnerungszwang ihrer Mutter, indem sie alte Zöpfe und dritte Zähne sammelt. Die Erzählerin ist durch ihren Taufnamen Eva-Maria mit der jüdischchristlichen Tradition verbunden, durch ihren Spitznamen Freia jedoch mit der germanisch-nationalsozialistischen Ideologie verschweißt. Zugleich ist sie durch Schule und Literatur über diese Ideologie so überinformiert, dass sie bei ihren Recherchen nichts enthüllen kann, was sie „nicht schon vorher gewusst hatte“ (H S. 173). Damit vertritt sie die Erinnerungsgemeinschaft jenes „postmemory“-Diskurses, dem es auf die Imagination und das Ausspionieren von Geschichten, auf Repräsentation und Adoption, nicht auf Rekonstruktion der Geschichte ankommt. Nachdem dann, bis auf den schicksalsbegünstigten Vater (H S. 96), alle Vorfahren gestorben sind, sieht sie sich am Ende einer „langen Kette“ (H S. 26) der Erinnerungsgemeinschaft. Es entsteht das Paradox, –––––––— 40 41

Dückers (wie Anm. 39), S. 105f. Vgl. Assmann, Aleida u. Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1995.

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dass ausgerechnet die am besten über die Vergangenheit informierte und aufgeklärte Enkelgeneration zur „kumulativen Heroisierung“ der Großelterngeneration neigt: Je umfassender das Wissen über Kriegsverbrechen, Verfolgung und Vernichtung ist, desto stärker fordern die familialen Loyalitätsverpflichtungen, Geschichten zu entwickeln, die beides zu vereinbaren erlauben – die Verbrechen der ,Nazis‛ oder ,der Deutschen‛ und die moralische Integrität der Eltern oder Großeltern.42

Doch zugleich empfindet Freia sich anders – „ohne Erklärung, Geschichte, Verbindung“ (H S. 268) – als ihre weiblichen Vorfahren, die jeweils im ersten Kriegsjahr (1914 die Großmutter, 1939 die Mutter) geboren worden sind (H S. 26); das uneheliche Kind, mit dem sie schwanger geht, steht offenbar für die Durchbrechung des „geheime[n] Fiktionsvertrags“43 mit den Vorfahren und für den Neuanfang in einer Zukunft, die keiner Herkunft bedarf. Freia will den „vagen Begriff ‚Geschichte‛“ mit einer „schlüssigen Geschichte“ füllen (H S. 79). Am Ende muss sie sich eingestehen, dass Fotografien, historische Dokumente und Erzählungen die Wahrheit der Familienhistorie nicht preisgeben und „Ungereimtheiten, Erinnerungslücken und Geheimnisse in der Familie“ bleiben.44 Eine Schlüsselstelle ist das 22. Kapitel, in dem die Erzählerin mit ihrer Mutter der Ostseestadt Gdynia, die in der NS-Zeit Gotenhafen hieß, einen Besuch abstattet. Dieser Besuch ist mit allen Insignien der Entfremdung ausgestattet: Auf der Promenade tummelt sich eine bunte Touristenschar, am Kai ankern „Restaurant- und Hotelschiffe“ (H S. 297), ein Militärschiff entpuppt sich als Museumsschiff. Nur das Titelmotiv des Romans gibt ein Zeichen wahrhaftiger Erinnerung. Ausgerechnet im polnischen Gdynia entdeckt die Meteorologin Freia, wonach sie in der westlichen Welt so lange umsonst gesucht hat: einen „Himmelskörper“ namens „Cirrus Perlucidus“, eine durchsichtige, randscharfe, extrem hochstehende Wolkenformation. Dieses Bild, das im Roman wohl mehr als viele Worte sagen soll, ist so etwas wie ein „,Geschichtsspeicher‛“ (H S. 307). Der „Himmelskörper“ markiert die „schwebende Grenze“ zwischen der subjektiven Erinnerung der Erzählerin und der objektiven Historie. Tanja Dückers steht eindeutig auf der Seite einer „inneren Wahrheit“ der Geschichte. Sie entwirft das Konzept einer „sinnlichen Geschichtsschreibung“.45 Dieses Projekt ist frei von „Datum und Chronologie–––––––— 42 43

44 45

Welzer, Harald: Kumulative Heroisierung. Nationalsozialismus und Krieg im Gespräch zwischen den Generationen, Mittelweg 36 (2001), S. 63f. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2005, S. 165. Vgl. auch den Sammelband: Welzer, Harald (Hg.): Der Krieg der Erinnerung. Holocaust, Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis. Frankfurt a. M. 2007. Dückers, Tanja u. Verena Carl: Vorwort, in: Dückers (wie Anm. 36), S. 12. Haberl, Tobias: Interview mit Tanja Dückers (2004). In: www.titel-forum.de (1.8.2008). Vgl. auch Schaumann, Caroline: A Third-Generation World War II Narrative: Tanja Dückers’s Himmelskörper, in: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 4 (2005), S. 259-280; Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte. Tanja Dückers’ „Wilhelm-Gustloff“-Roman Himmelskörper, in: Beßlich (wie Anm. 5), S. 169–189.

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zwang“ (H S. 273), es soll die „Familienkette aus Schweigen, Totschlag und nochmals Schweigen“ (H S. 272) durchbrechen. Wie diese „sinnliche Geschichtsschreibung“ als Erinnerungsliteratur aussehen soll, steht freilich nicht in den Wolken, sondern auf dem „Papier“ (H S. 318), auf dem die Erzählerin ihre Geschichte in einem autodiegetischen Akt am Ende aufzuschreiben beginnt. Ein Zirkelschluss: der ,wahre‛ Ort der Erinnerung ist wiederum die Literatur.

Uwe Timm: Lehre oder Leere der Geschichte Uwe Timms Buch Am Beispiel meines Bruders ist ein Modell spannender und zugleich hochauthentischer Erinnerungsliteratur. Schon im Titel knüpft es an die Tradition der antiken Exempla-Literatur an, in der die Historie als eine vorbildliche Beispielsammlung lehrreicher Erfahrungen galt. Doch dem Autor liegt weniger an der Lehre der Geschichte als vielmehr an ihrer Leere, an ihren Auslassungen, an Erinnerungslücken und Brüchen.46 Aus „der Distanz von 60 Jahren“ (BB S. 159) geht es um die Geschichte seines älteren Bruders, der sich 1942, erst 18jährig, freiwillig zur SSTotenkopfdivision meldete, an der Ostfront kämpfte, schwer verwundet wurde und 1944 in einem ukrainischen Feldlazarett starb. Zugleich geht es um die bis in die Gegenwart reichende Geschichte seiner Familie, die der Autor als einziger überlebt hat. Erst das Schweigen der Familienmitglieder hat Uwe Timm zum Sprechen gebracht; mit dem Tod des letzten Familienmitglieds wird das kanonisierte kommunikative Familiengedächtnis durchbrochen, wird enthüllt, was an der Geschichte des Bruders so „unvollständig, widersprüchlich, lückenhaft, historisch disparat“47 gewesen ist, dass es über fast sechs Jahrzehnte hinweg einen nicht hinterfragbaren Erinnerungskonsens gestiftet hat. Die Geschichte gehört aber nicht nur dem Andenken an den Bruder und den Vater, nicht nur dem Autor, sondern auch den Erinnerungen an die Mutter, die 1991, und an die ältere Schwester, die 1998 starb. Alle Familienmitglieder werden in Miniaturerzählungen biographisch gewürdigt. Dass am Anfang, am Ende und im Mittelpunkt von Timms Buch der traumatisch erlebte Tod des Bruders steht, ist kein Zufall. An seiner Abwesenheit hat sich die Familie nach dem Krieg abgearbeitet: „in der Trauer der Mutter, den Zweifeln des Vaters, den Andeutungen zwischen den Eltern“ (BB S. 10). Timms Erinnerung stützt sich auf das Familiengedächtnis und die Medien privater Erinnerung: Tagebuch, Briefe, Fotos. Zudem werden normative Texte der kollektiven Erinnerungskultur zu Rate gezogen, Werke des historischen Täter- und Opfergedächtnisses. Diese Quellen treten in einen spannungsreichen Dialog. Wenn in den Tagebuchaufzeichnungen des Bruders die Tötung von –––––––— 46 47

Vgl. Braun, Michael: Die Leerstellen der Geschichte. Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders, in: Marx (wie Anm. 7), S. 53-67. Welzer: Das kommunikative Gedächtnis (wie Anm. 43), S. 179f.

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Zivilisten in einem Krieg der verbrannten Erde als „normaler Alltag“, im Luftkrieg über Deutschland hingegen als „Mord“ bezeichnet und Feldpostbriefen des Bruders die Erinnerung jüdischer KZ-Insassen gegenübergestellt wird, denen jeder Kontakt mit der Außenwelt untersagt war, dann zeigt sich, wie unzuverlässig jede einzelne Quelle für sich ist. Timm demonstriert, wie wichtig das kulturelle Gedächtnis als Ergänzung und Korrektiv des Familiengedächtnisses ist. Wovon das Tagebuch des Bruders schweigt, von NS-Ideologie und Antisemitismus etwa, davon müssen historische und literarische Quellen sprechen. Das Mandat des nachgeborenen Erzählers besteht darin, die Aufzeichnungen und Erzählungen der Zeitzeugengeneration, die er überlebt hat, kritisch zu reflektieren, gerade dort, wo sie Lücken und Leerstellen aufweisen. Die größte Leerstelle der Erinnerung dokumentiert das Tagebuch des Bruders, das ohnehin als zentraler Schreibimpuls für den Autor und als Schlüsselquelle seiner Erinnerung gar nicht aufmerksam genug betrachtet werden kann. Zwei Tagebuchstellen werden mehrfach zitiert. Zum einen die Notiz vom 21. März 1943 „Donez / Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG“ (BB S. 19, 36, 102). Dass an dieser Stelle die Erinnerung des Autors zunächst abbrach, liegt an der Sorge, die Einheit des Bruders, „das SS-Panzerpionier-Btl. 3, und damit auch der Bruder“ könne „an der Erschießung von Zivilisten, von Juden, von Geiseln“ beteiligt gewesen sein (BB S. 102).48 Was dazu motiviert, an den abgerissenen Erinnerungsfaden wiederanzuknüpfen, ist nicht zuletzt die verstörende literarische Qualität der Metapher „ein Fressen für mein MG“. Die andere wichtige Leerstelle des Tagebuchs ist der Schlusseintrag: „Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich für unsinnig halte, über so grausame Dinge wie sie manchmal geschehen, Buch zu führen“ (BB S. 124, 151, 159). Diese Leerstelle verhindert, dass das Tagebuch einerseits als Überzeugungstäterbericht und Belastungszeugnis, andererseits als Dokument „aufkeimenden Widerstand[s]“ (BB S. 152) gelesen werden kann. Der sich erinnernde Erzähler kann nur die Ausdrucksformen der Kälte49 und die Diffusion der Schrift im Tagebuch notieren, mit der das Handwerk des Tötens vom Bruder registriert wird: „Es spricht daraus – und das ist das Erschreckende – eine partielle Blindheit, nur das Normale wird registriert“ (BB S. 152). Wie es wirklich gewesen ist: auf diese Frage bleibt das individuelle Zeugnis der Geschichte – das Tagebuch – die Antwort ebenso schuldig wie das kollektive Gedächtnis der Vätergeneration, einer „gekränkte[n]“ und „kranke[n] Generation, die ihr Trauma in einem lärmenden Wiederaufbau verdrängt hatte“ (BB S. 106). Das Tagebuch des Bruders wird, jenseits seiner „expressiven, selbstexplorativen“ Funktion (EE S. 77), zu einem Instrument der erinnerungskritischen Geschichtsschreibung. Diese Geschichtsschreibung ist eine literarische: sie verzichtet auf histo–––––––— 48 49

Vgl. Klein, Peter (Hg.): Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Sicherheits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD. Berlin 1997. Vgl. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M. 1992.

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riographische Chronologietreue und Monokausalität zugunsten eines „zeitliche[n] Umbau[s]“ der Ereignisse in der Eigengesetzlichkeit der Erzählung (EE S. 103). Wenn es eine Lehre aus den Leerstellen der Erinnerung gibt, dann ist sie in Timms Buch als Wunsch jenseits selbstgewisser Überzeugungen oder verallgemeinerbarer Doktrinen ausgedrückt. Es ist der Wunsch, die eklatante „Lücke“ (BB S. 152) zu schließen, die die letzte Eintragung des Tagebuchs von der vorhergehenden trennt, der Wunsch, diese Lücke möge „für ein Nein stehen, für das non servo, das am Anfang der Aufkündigung von Gehorsam steht“ (BB S. 152). Mit diesem impliziten Auftrag zum zivilen Ungehorsam öffnet Uwe Timm gleichzeitig den Raum der literarischen Imagination.

Wahrheit der Geschichte(n) Während Grass in einem Akt nachholenden Gehorsams gegenüber der lange verschwiegenen eigenen Geschichte durchaus im Sinne Adornos „Aufarbeitung der Vergangenheit als Aufklärung“50 betreibt, zielt Tanja Dückers auf ein neues Verständnis der deutschen Vergangenheit und auf ihre Einordnung in größere historische Kontexte ab; beide Autoren verteidigen dabei die Lizenz zur Erfindung. „Spione“ der Vergangenheit könnte man die Autoren der jüngeren Generation mit dem 1965 geborenen Marcel Beyer nennen. Für sie kommt es darauf an, das, was „nah und zugleich ungreifbar“ an der nicht miterlebten Vergangenheit ist, mit eigenen Vorstellungen zu füllen.51 Uwe Timm hingegen nimmt – als letzter Überlebender seiner Familie – den Auftrag wahr, deren Geschichte aus divergenten Quellen, eigenen Erinnerungen, gegenwärtigen Erfahrungen und Selbstzweifeln zu rekonstruieren; dabei wird die Rekonstruktivität und Medialität des Erinnerungsprozesses in auffälliger Weise sichtbar gemacht, vor allem in den vielfachen Bezügen auf die Schrift als unsicheres Speicher- und Überlieferungsmedium (vgl. BB S. 32, 34, 95, 101). Gleichwohl haben die betrachteten Werke der Erinnerungsliteratur bemerkenswerte Gemeinsamkeiten. Zum einen bei der Suche nach den traumatischen Erinnerungsorten: die Autoren markieren ihre milieux de mémoire, finden aber keine lieux de mémoire mehr.52 Grass situiert seine Zeit bei der Waffen-SS „irgendwo weit weg in den böhmischen Wäldern“ (HZ S. 126), für Timm bleibt das Grab des Bruders in der Ukraine unauffindbar (BB S. 127), Dückers und ihre Mutter erleben in Gotenhafen ein „polnisches Mallorca“ (H S. 295). Zum –––––––— 50

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Adorno, Theodor W.: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit (1959), in: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, hg. v. Gerd Kadelbach. Frankfurt a. M. 1970, S. 28. Beyer, Marcel: Spione. Roman. Köln 2000, S. 7. Nora legt die Begriffsunterscheidung seinem siebenbändigen Werk Les lieux de mémoire (1984-1992) zugrunde; vgl. Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt a. M. 1998, S. 11–13.

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anderen ringen die Erzähler mit dem Problem, wie vertrauenswürdig die Erinnerungen sein können, ihre eigenen und die des kollektiven Gedächtnisses, und ob diese heterogenen Erinnerungsformate noch in einen gemeinsamen Gedächtnisrahmen passen. Jeder Versuch aber, die Authentizität der Erinnerung mit der Autorität des Erzählers zu besiegeln, führt zu graduell verschiedenen narrativen Lösungen. Statt einer „Erbengemeinschaft“,53 die weiß, welche Lektion ihr von der Geschichte aufgetragen wurde, tritt die „Dynamik der Generationen“ in Kraft,54 für die es keine historischen Lektionen, sondern Lesarten der Geschichte gibt. Die „Wahrheit dieser Erinnerung“ hängt nicht nur von der Frage ihrer subjektiv-individuellen Authentizität ab („richtige und falsche Erinnerungen“), sondern auch von ihrer Autorität im kollektiven Gedächtnis („politisch korrekte“ und „politisch inkorrekte“ Erinnerungen): „Ob Erinnerungen wahr sind“, schreibt Aleida Assmann, hängt auch davon ab, „ob sie in einem öffentlichen Kommunikationsraum erzählbar und akzeptabel sind“.55 Deshalb bleibt die Wahrheit der Geschichte ein schillerndes Phänomen zwischen der subjektiven Erinnerung der Zeitzeugengeneration (Grass), der literarischen Fiktion der zweiten Nachkriegsgeneration (Dückers) und dem Familien- und Gesellschaftsgedächtnis der ,Zwischengeneration‛ (Timm).

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Wagner, Richard: Sorgen der Erbengemeinschaft, Die Welt (18.8.2006). Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007, S. 31f. Assmann, Aleida: Wie wahr sind Erinnerungen?, in: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, hg. v. Harald Welzer. Hamburg 2001, S. 103–122; hier: S. 117.

Jan Süselbeck

Das Nachzittern des Grauens Metonymien und Erinnerungen der Shoah in Texten Arno Schmidts und Thomas Bernhards

Wie solche tiefgeprägte Bilder doch Zu Zeiten in uns schlafen können, bis Ein Wort, ein Laut sie weckt. – Gotthold Ephraim Lessing Nathan der Weise

„Mnemosyne hat mit dem Tod zu tun, gibt den Toten Namen und Gesicht, ist als Gedächtniskunst damit auch Trauer-Kunst, Trauerarbeit bis hin zur Nekromantie (Totenbeschwörung)“, schreiben Alo Allkemper und Norbert Otto Eke.1 Dies gilt besonders für literarische Werke, die sich mit dem Nationalsozialismus, dem Antisemitismus und der Shoah auseinandersetzen: Weil die Welt nach Auschwitz den eigenen Untergang überlebt habe, bedürfe sie „gleichwohl der Kunst als ihrer bewußtlosen Geschichtsschreibung“, bemerkt Theodor W. Adorno. „Die authentischen Künstler der Gegenwart sind die, in deren Werken das äußerste Grauen nachzittert.“2 Nicht zuletzt hat Maurice Halbwachs in seiner klassischen soziologischen Studie Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (1925) das Theorem eines „kollektiven Gedächtnisses“ entwickelt, das für die Kultur- und Literaturwissenschaft bis heute von großer Bedeutung ist.3 Es gebe keine Wahrnehmungen ohne Erinnerungen, heißt es dort, und diese seien „nichts anderes als Bilder, die seit ihrem ersten Eintreten in unser Bewusstsein als solche erhalten geblieben sind.“4 Anhand von ausgesuchten Texten Thomas Bernhards und Arno Schmidts lässt sich zeigen, wie fruchtbar diese Thesen für die Interpretation der Werke –––––––— 1

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Allkemper, Alo u. Norbert Otto Eke: Das Gedächtnis der Literatur. Zur Einführung, in: Das Gedächtnis der Literatur. Konstitutionsformen des Vergangenen in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Zeitschrift für deutsche Philologie 125 (2006) Sonderheft, hg. v. Alo Allkemper u. Norbert Otto Eke, S. 2–4; hier: S. 2. Adorno, Theodor W.: Jene zwanziger Jahre, in: Gesammelte Schriften 10/2. Kulturkritik und Gesellschaft 2. Eingriffe, Stichworte, Anhang, hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1977, S. 499–506; hier: S. 506. Ausdifferenziert wurden Halbwachs’ Erkenntnisse seit den 90er Jahren durch die kulturwissenschaftlichen Beiträge Jan und Aleida Assmanns. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Aus dem Französischen von Lutz Geldsetzer. Frankfurt a. M. 1985, S. 365.

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zweier der eigensinnigsten deutschsprachigen Nachkriegsautoren sein können.5 In der Frage nach der Art und Weise, in der bei Schmidt und Bernhard das autobiografische Gedächtnis6 zum Thema wird, ist zudem zu überprüfen, inwiefern die interdisziplinäre Einbeziehung neurobiologischer Erkenntnisse weiterführt, wie sie derzeit in der Literaturwissenschaft en vogue ist.7 Für die misanthropische Erinnerung an eine schuldbelastete nationale Vergangenheit wird zum Beispiel zum Problem, was Hans J. Markowitsch und Harald Welzer in ihrer Studie über die hirnorganischen Grundlagen und die biosozialen Entwicklungen des autobiografischen Gedächtnisses festgestellt haben – dass dieses nicht dem Individuum allein gehöre, sondern zugleich eine soziale Institution sei, „die die Synchronisierungserfordernisse moderner Gesellschaften sicherstellt.“8 Wie geht ein Individuum mit der Tatsache um, dass Teile seiner Gesellschaft einen Völkermord begangen haben, ja es vielleicht sogar selbst zu dieser Tätergruppe gehörte, ohne es wirklich wahrhaben zu wollen? Wie stellt sich im Gegensatz dazu das Problem der traumatischen Erinnerung für ein überlebendes Opfer dieser Verbrechen dar, das die Shoah ganz anders erinnert als die ihm als Mehrheit gegenüberstehenden Täter? Vor allem: Wie beschreiben die hier ausgewählten Autoren diese unüberbrückbar erscheinenden sozialen Brüche in ihren Texten? Die eigene Schuld an der Judenvernichtung wird von den zu untersuchenden Figuren Schmidts und Bernhards verharmlost. Dies geschieht in einer selbstgerechten Distanzierung von der demokratischen Neuorientierung der sie umgebenden Gesellschaft – mittels einer Polemik gegen einen politischen Wandel, den diese Protagonisten aus verschiedenen Perspektiven als verlogen wahrnehmen. So etwa der Protagonist Georg Düsterhenn in Arno Schmidts Erzählung Caliban über Setebos (1964), der zwar offensichtlich ein sozialer Außenseiter ist, aber merkwürdigerweise gleichzeitig Propaganda-Schlager für die CDU textet und dafür sogar schon einmal einen Franz-Josef-Strauß-Preis erhalten haben will – während der NS-Massenmörder Rudolf Höller in Thomas Bernhards Drama Vor dem Ruhestand. Eine Komödie von deutscher Seele (1979) seine Täterschaft sogar offensiv betont, indem er sie nach wie vor aggressiv –––––––— 5

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Dies geschieht hier in Bezug auf die grundlegenden Untersuchungen in Jan Süselbeck: Das Gelächter der Atheisten. Zeitkritik bei Arno Schmidt und Thomas Bernhard. Frankfurt a. M. 2006. Zu hirnphysiologischen Aspekten dieser Thematik vgl. Markowitsch, Hans J. u. Harald Welzer: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart 2005. Vgl. dazu auch Alfes, Henrike F.: Literatur und Gefühl. Emotionale Aspekte literarischen Schreibens und Lesens. Opladen 1995; Kandel, Eric R.: Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes. Frankfurt a. M. 2006; Ansermet, François u. Pierre Magistretti: Die Individualität des Gehirns. Frankfurt a. M. 2006. Markowitsch u. Welzer (wie Anm. 6), S. 21. Vgl. auch Maurice Halbwachs (wie Anm. 4) S. 363: „In der Tat kann eine Erinnerung, sobald sie eine kollektive Wahrnehmung hervorruft, nur kollektiv sein, und es wäre dem einzelnen unmöglich […], sich das noch einmal vorzustellen, was er sich beim erstenmal nur unter der Zuhilfenahme des Denkens seiner Gruppe vorstellen konnte.“

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rechtfertigt. Die besagten ‚Synchronisierungserfordernisse‘ werden also von beiden – zumindest innerhalb ihrer eigens konstruierten und forcierten Außenseiterrolle – zurückgewiesen. In der Interpretation von Schmidts Erzählband Kühe in Halbtrauer (1964) und Thomas Bernhards Drama Vor dem Ruhestand wird zudem deutlich, was Paul Michael Lützeler festgestellt hat: wie sehr nämlich für die „NeuGermanistik die verstärkte Wahrnehmung von Methoden und Ergebnissen der Geschichtswissenschaft und vor allem der Zeitgeschichtsforschung“ wichtig geworden ist.9 Auch bei Schmidt und Bernhard drängt sich die Einsicht auf, dass viele ihrer Anspielungen auf Ereignisse und Strukturen des „Dritten Reichs“ und der Shoah „ohne Konsultationen historischer Fachliteratur nicht zu verstehen“ sind.10

Vom Kismet, alles aufschreiben zu müsssen – Arno Schmidts Kühe in Halbtrauer Der thematische Komplex des Nationalsozialismus ist bei Arno Schmidt „als Subthema ein Dauerbrenner im Werk.“11 Jan Philipp Reemtsma spricht dabei von „Kontaminierungsphänomenen.“12 Schmidt ist also weniger ein Autor, der das Erinnern an den Nationalsozialismus mittels ‚dokumentarischer‘ Darstellungen vorantreibt. Bei ihm ist im Gegenteil eine Scheu feststellbar, eigene Erinnerungen an den Krieg offen zu thematisieren. Stattdessen sucht er in seinen Texten nach neuen Prosaformen, in deren Bilderwelt auf eher subtile Weise etwas von dem monströsen Geschehen durchscheint, an dem kein Schriftsteller nach 1945 mehr ‚vorbeischreiben‘ kann. Reemtsma konstatiert, dass sich der zeitdiagnostische Wert der Texte Schmidts immer erst im unscheinbaren Detail zeige. Diese sprachlichen Zeitbilder Schmidts,13 die in literarischen Miniaturen abbilden, wie die verleugnete Geschichte den Alltag der deutschen Nachkriegsgesellschaft unweigerlich –––––––— 9

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Lützeler, Paul Michael: Erinnerung an das andere Exil. Wolfgang Koeppen und Gert Hoffmann über NS-Kriminelle in der Dritten Welt, Zeitschrift für deutsche Philologie 125 (2006), S. 139–159; hier: S. 140. Lützeler (wie Anm. 9). Fischer, Susanne: Datierung literarischer Texte als Inszenierung der Schriftstellerbiographie. Arno Schmidts „Pharos“, Text 2 (1996), S. 97–104; hier: S. 100. Reemtsma, Jan Philipp: Der Vorgang des Ertaubens nach dem Urknall. Nationalsozialismus und Nachkrieg als Textmerkmale, in: „Vielleicht sind noch andere Wege –“. Vier Vorträge. Bargfeld 1992 (Arno Schmidt Stiftung. Hefte zur Forschung 1), S. 21–50; hier: S. 32. Auch Stefan Höppner stellt in seiner Dissertation ‚Zwischen Utopia und Neuer Welt. Die USA als Imaginationsraum in Arno Schmidts Erzählwerk‘ (Freiburg 2006, S. 234), fest: „Der prognostische Aspekt der literarischen Utopie bleibt in Schmidts Romanen dem diagnostischen klar untergeordnet.“

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durchdringt, seien „umso mehr ernst zu nehmen, als es eine sozialpsychologische Analyse solcher Kontaminierungsphänomene bis heute nicht gibt.“14 Auch die vom Autor benutzten Worte haben damit ihre Unschuld verloren und sind vom Nationalsozialismus ‚verseucht‘. Dieses Charakteristikum der Sprache nach 1945 hat sich der Schriftsteller, der dennoch in ihr weiterschreibt und mit ihr zu arbeiten hat, zu vergegenwärtigen und in seine poetologische Reflexion mitaufzunehmen. Saul Friedländer stellt fest, „daß die Unfähigkeit der Sprache, gewissen Ereignissen gerecht zu werden, zugenommen hat. Das begann lange vor Auschwitz, vielleicht mit dem Ersten Weltkrieg, um dann bei Auschwitz seinen Höhepunkt zu erreichen.“15 Diese Erkenntnis eines zumindest teilweisen Unbrauchbarwerdens, einer gesteigerten Unadäquatheit der Sprache nach der Shoah ist auch an Schmidt nicht spurlos vorübergegangen: „– wie schlecht schmeckt das im Munde, dieser vom Hitlertum sieghaft angekränkelte Wortschatz! Es fehlt nur ein ‹Reichs=› davor!“16 In der Schilderung bundesdeutschen Landlebens, wie sie Schmidt in seinen Erzählungen auf dem Weg ins Spätwerk immer weiter perfektionierte, erhellt sich besonders, wieviel Zynismus und Brutalität das Wesen der postnationalsozialistischen Nachkriegsgesellschaft bestimmten. Gerade in ihrer paradoxen Form des Bezeichnens via ‚Umschreibung‘, im Andeuten und in ihren latent unheimlichen Polysemien weisen diese Texte Schmidts einen Weg, wie das von Adorno beschriebene Problem der tendenziellen Barbarei jedes Dichtens nach Auschwitz künstlerisch produktiv gemacht werden kann. Axel Dunker stellt außerdem die für die folgenden Überlegungen wichtige These auf, es gebe nach 1945 sogar eine Literatur, die als Thematisierung von Auschwitz verstehbar sei, „ohne daß dieser Bezug ins Zentrum des Textes oder teilweise auch überhaupt nur an die Textoberfläche geführt würde. Dieses Abdrängen in den Subtext [...] ist in diesen Texten Teil der ästhetischen Antwort auf Auschwitz.“17 Bemerkenswert ist für die Untersuchung der Werke Schmidts Dunkers daran anschließende Feststellung, dass die Literatur vor allem in der Metonymie einen Weg gefunden habe, das ‚Nicht-Sagbare‘ zu sagen: Rhetorische Figuren von Ähnlichkeit, also auch die Metapher als sprachliche Form des bildlichen Vergleichs können Auschwitz demnach nicht mehr gerecht werden, da diesem Ereignis nichts Vergleichbares an die Seite zu stellen ist. Stattdessen treten die Kontiguität und die Metonymie als Topoi der Verschiebung, der begrifflichen –––––––— 14 15 16

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Reemtsma (wie Anm. 12), S. 32. Friedländer, Saul: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a. M. 1999 (Die Zeit des Nationalsozialismus), S. 94. Schmidt, Arno: Muß das künstlerische Material kalt gehalten werden? (Anmerkungen zu Extrakten aus BENN’S PALLAS und KUNST UND MACHT.), Bargfelder Ausgabe (BA, Zürich 1986ff.), Werkgruppe III/3, S. 491. Im Folgenden werden alle Texte Schmidts mit dem Kürzel BA/Werkgruppe/Seitenzahl zitiert. Dunker, Axel: Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz. München 2003, S. 12.

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Ersatzbildungen und der ‚Deckerinnerung‘ in den Vordergrund.18 Die Frage nach dem ‚Realismus‘ solcher Texte in einer Literatur nach Auschwitz beantwortete Adorno mit der Feststellung: „Die Absurdität des Realen drängt auf eine Form, welche die realistische Fassade zerschlägt.“19 In Schmidts komplexester Erzählung im Zyklus Kühe in Halbtrauer – Caliban über Setebos – ist den beiden ungleichen Protagonisten, dem ehemaligen Wehrmachtssoldaten Georg Düsterhenn und dem jüdischen ShoahÜberlebenden H. Levy, ihr Blick auf die Missstände der deutschen Gesellschaft nur von außen, also aus der selbstgewählten oder erzwungenen Distanz möglich. Aus dieser Perspektive gewinnt in Caliban über Setebos eine ‚BRD im Kleinen‘ Konturen, die im Dorf Schadewalde die Miniatur eines postnazistischen Staates abgibt, der nichts aus der Vergangenheit gelernt hat. Schon in Schmidts Roman Kaff auch Mare Crisium (1960) lauert die ungebetene Erinnerung in der autobiografischen Topografie. Als dort der Protagonist Karl durch die Gegend seiner Kriegserlebnisse gefahren wird, provoziert dies eine Assoziationsfolge, die man mit Seitenblick auf die neurobiologische Terminologie auch als literarischsarkastische Karikatur eines Gedächtnis„Chainings“20 begreifen könnte: ‚OSTERCAPPELN‘? –: „War’n wa im Einsatz.“; (ich; resigniert). – ‚IBBENBÜREN‘?: Warn wa im Einsatz.: Resickniert. ‚RHEINE‘?: Warn wa im Einsatz! / (Sie schteuern. Ich ‚Karl im Geheus‘.) ‚BENTHEIM‘?! –. (Unt ich knirrschde mit den Zähn’n, daß Sie erschraak: !): „Da war ich, ‚meine=Hertha‘, ‚in=Gefangnschafft‘: 2 Tage & 3 Nechde.“ (Dann ap; über Weetze nach Brüssel.) –

Direkt darauf fahren die Ausflügler ausgerechnet „Am Juudn=Friethoff vorbei“21. Schmidts ‚Held‘ Karl Richter enthüllt hier also nicht nur die Stationen seiner „Weltreise alla tedesca“22, sondern der Text verweist auch direkt auf ihre grausige Konsequenz, die darin bestand, ganz Europa tatsächlich in einen gigantischen „Juden-Friedhof“ zu verwandeln – auch wenn das Wort „Friedhof“ hier noch zu euphemistisch, ja vollkommen unangemessen wirkt, da die Deutschen –––––––— 18 19

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Vgl. Dunker (wie Anm. 17), S. 26, 32 und 132f. Adorno, Theodor W.: Offener Brief an Rolf Hochhuth (1967), in: Gesammelte Schriften 11. Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1974, S. 591–598; hier: S. 595. Dies ist eine Formulierung, die sich etwa auch in einer Interpretation des Werks Wolfgang Hildesheimers – als eines jüdischen Nachkriegsautors mit einer allerdings ‚anderen Erinnerung‘ an die NS-Geschichte – anschaulich machen ließe. Vgl. dazu auch Braese, Stephan: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Berlin u. Wien 2001. Vgl. Markowitsch u. Welzer (wie Anm. 6), S. 78: „Chaining“ meint eine Form des Lernens, die sich „auf eine Serie aufeinanderfolgender, oder aufeinander aufbauender Antworten“ stützt, „wobei jede Antwort die nächste bestimmt. (Dies bedeutet, daß nur mehrere Antworten, die aufeinander aufbauen, zur Belohnung führen.“ Schmidt, Arno: Kaff auch Mare Crisium, BA I/3 (wie Anm. 16), S. 277. Schmidt, Arno: Hundert Jahre (Einem Manne zum Gedenken), BA II/2.1 (wie Anm. 16), S. 148.

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bekanntlich versuchten, die Toten spurlos verschwinden zu lassen, sie in Form von Rauch und Asche in alle Winde zu zerstreuen. Solche motivischen Beobachtungen lassen sich quer durch Schmidts Werk häufen,23 und sie führen zu dem Schluss: Wenn dort (autobiografisch grundiert) von der Kriegsgefangenschaft die Rede ist, ist der Schuldkomplex der Shoah nicht weit – ja automatisch im Text mit anwesend.24 In Schmidts Beschreibung von Düsterhenns Schadewalder Rundgang in Caliban über Setebos finden zudem perspektivische Einschärfungen statt, die wie „Snapshots“ oder auch „Zooms“ funktionieren, mit denen die verdunkelte deutsche NS-Geschichte ikonografisch angedeutet wird. Es ist zudem eine Erzählung voller umherwandelnder Zombies, ein Bilderalbum aus dem Hades der Bundesrepublik: Axel Dunker hat bereits anhand von Texten W. G. Sebalds und Elfriede Jelineks gezeigt, dass das Motiv des Vampirs, des Untoten und des Wiedergängers eine typische Metonymie in derjenigen Literatur ist, die sich subtextuell auf den Holocaust bezieht.25 Auch in Schmidts Bilderwelt sind ‚semantische Höllenstürze‘26 zu beobachten: Schockhaft erlebt Düsterhenn die Szenerie in einer verlassenen Ziegelei aufgrund von Gerüchen, Bildern und Assoziationen, die über die spontane Kindheitserinnerung an einen Schulausflug vor 40 Jahren und dessen Thematisierung in einem Aufsatz hinweg plötzlich als „crematoriumsmäßig“ empfunden wird: „Das war wohl mein ganz spezielles Kismet : überalles schreibm zu müssen.“27 Hier findet eine für Schmidts Texte typische, unfreiwillige ShoahErinnerung im Sinne Marcel Prousts ihre (sogleich auch noch poetologisch kommentierte) Entsprechung als „mémoire involontaire“ des Schreckens.28 Anders sieht allerdings die in derselben Geschichte nur angedeutete NSErinnerung H. Levys aus, der Düsterhenn am Ende sogar das Leben rettet. Das Erinnern beider Protagonisten bleibt zwangsläufig so unvereinbar, dass Düsterhenn den Kondomverkäufer Levy am Ende trotz einiger tastender Annäherungen immer noch nicht richtig verstehen kann. Damit beschreibt Schmidt –––––––— 23 24

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Vgl. dazu die ausführlichen Untersuchungen und Textbelege bei Süselbeck (wie Anm. 5), S. 81–90 u. 367ff. Auch wenn die Benutzung neurologischer Termini ausgerechnet im Zusammenhang mit der Shoah problematisch erscheinen mag: Die Koppelung derartiger Assoziationen wird als unbewusst funktionierende „Priming-Form des Gedächtnisses“ beschrieben (vgl. Markowitsch u. Welzer, wie Anm. 6, S. 81). Schmidts Literatur wäre in ihrer radikalen Verknappung beschreibbar als eine konzentrierte Darstellung solcher Erinnerungsprozesse, mündend in eine schlagartige ästhetische Bewusstmachung des Verleugneten. Dunker (wie Anm. 17), S. 117. Siehe Reemtsma (wie Anm. 12), S. 35. Schmidt, Arno: Caliban über Setebos, BA I/3 (wie Anm. 16), S. 492. Vgl. Markowitsch u. Welzer (wie Anm. 6), S. 74: Geruchswahrnehmungen, wie sie Proust in der Literatur dargestellt hat, entsprechen den unbewusst ablaufenden Erinnerungsmechanismen im „limbischen System“ des menschlichen Gehirns, die mit dem Geruch assoziierte Situationen oder Ereigniskonstellationen reaktiviert. Dass die Beschreibung einer solchen unbewusst angestoßenen Erinnerungskaskade bei Schmidt über die Kindheit direkt in die Assoziation von Auschwitz-Bildern mündet, legt nahe, Caliban über Setebos auch als Shoah-Text im Sinne Dunkers zu lesen.

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nichts weniger als einen Zustand, der bis heute das institutionalisierte NSGedächtnis in Deutschland bestimmt: Eine wirkliche Verständigung zwischen der spezifisch ‚jüdischen‘ und der ‚deutschen‘ Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Shoah hat noch nicht einmal in Ansätzen stattgefunden.29

Aus Toten zusammengesetzt – Zur Täter-Erinnerung in Thomas Bernhards Vor dem Ruhestand Rudolf Höller und seine Schwester Vera gedenken in Bernhards Drama Vor dem Ruhestand mittels eines rituell durchblätterten Fotoalbums der dunklen Vergangenheit der Familie, die von ihnen selbst allerdings keineswegs als so verdüstert empfunden wird, wie man meinen sollte. Mit seiner Fokussierung des Zusammenhangs von Fotobetrachtung und Erinnerung ist das Stück nicht nur dramaturgisch geschickt konstruiert, sondern wirkt in seiner Adaption gesellschaftlicher Gedenkprozesse geradezu visionär.30 Auch Bernhard hat mit seinem Text eine Form künstlerischer Darstellung gewählt, die das ‚Unsagbare‘ nicht mehr dokumentarisch erzählt, sondern kommentarlos anklingen lässt. Weder kann der Zuschauer oder der Leser die Fotos und die grausamen Schnappschüsse aus dem Alltag der Vernichtung sehen, von denen hier die Rede ist, noch wird breit ausgeführt, woran sie erinnern oder was genau sie zeigen.31 Aus den Bemerkungen der Figuren muss der Rezipient stattdessen selbst versuchen, sich ‚ein Bild‘ des letztlich nicht mehr Darstellbaren zu –––––––— 29 30

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Vgl. dazu ausführlich Süselbeck (wie Anm. 5), S. 425–443. Hier ließe sich auch Maurice Halbwachs’ Theorem des familiär und gesellschaftlich konstruierten „Gedächtnisrahmens“ veranschaulichen. In „Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen“ heißt es, das Bedürfnis nach familiärer Kontinuität führe dazu, dass die Gesellschaft dazu neige, „aus ihrem Gedächtnis alles auszuschalten, was die einzelnen voneinander trennen, die Gruppen voneinander entfernen könnte, und darum manipuliert sie ihre Erinnerung in jeder Epoche, um sie mit den veränderlichen Bedingungen ihres Gleichgewichts in Übereinstimmung zu bringen“ (wie Anm. 4, S. 382). In Gesellschaften mit einer starken Stellung der Familie versucht sich diese laut Halbwachs „gegen die Einflüsse von außen abzuschließen, oder sie läßt doch zumindest nur das hineingelangen, was mit ihrem Geist und ihren Denkweisen übereinstimmt“ (S. 384). Das bestätigt auch die neuere soziologische Untersuchung zum Thema NS-Erinnerungen in deutschen Familien, die Welzer, Harald, Sabine Moller u. Karoline Tschuggnall vorgelegt haben: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a. M. 2002. Die Literatur vermag hier also nur, die Effekte der wahrgenommenen Bilder bei ihren Rezipienten darzustellen, nicht aber die Bilder selbst. In dieser Poetologie des Auslassens, der Lücke und der verzerrenden Spiegelungen sind sich Bernhard und Schmidt nahe, und sie haben damit ein zentrales Problem des Schreibens nach Auschwitz aufgegriffen. Übrigens lautet auch die Prämisse in Manuel Köppens luzider Studie ‚Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert‘ (Heidelberg 2005, S. 1): „Wie Kriege waren, das können weder schriftliche Zeugnisse noch Bilder oder Filme vermitteln, aber sie zeigen, wie Kriege gesehen wurden.“

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machen. Dass es sich nicht um irgendein Fotoalbum handelt, das Vera und Rudolf zwanghaft durchblättern, wird schon im ersten Akt deutlich. Vera erwartet ihren Bruder besorgt: horcht / Ich dachte schon Rudolf kommt / Er wird plötzlich schweigsam dasitzen / und das heißt / er will / daß ich ihm das Fotoalbum bringe / ich muß es umblättern / und ich muß es mit ansehen / Bild für Bild / wie jedes Jahr / er hat alles so schön geordnet / der ordentliche Mensch / zu jedem Bild hat er etwas zu sagen / etwas Furchtbares / als ob seine Erinnerung / nur aus Haufen von Toten zusammengesetzt ist / Vor dem Fotoalbum fürchte ich mich / vor sonst nichts.32

Zunächst einmal zeugt Rudolfs zwanghaftes Gedenkritual von einer gewalttätigen Libido, gerichtet auf mortifizierte Körperbilder.33 Derartig konstruierte Erinnerungen bei der Fotobetrachtung veranschaulichen gleichzeitig, wie bereits angedeutet, ambivalente gesellschaftliche Gedenkformen, die für die familiäre Konstitution eines Halbwachs’schen „Gedächtnisrahmens“34 typisch sind: Höller verordnet eine Familienerinnerung gegen alle historischen Fakten und zwingt seine Schwestern Vera und Clara zu einer Täterehrung, die Freude über etwas erzeugen soll, das rational und moralisch zu verurteilen wäre. Bei der Interpretation dieser literarischen Darstellung revisionistischer NSErinnerungsdiskurse kann nicht zuletzt die hirnphysiologische Einsicht helfen, dass Emotionen und Gedächtnisfunktionen zusammenhängen,35 da sie immer wieder neu formierte Konstrukte darstellen, die sich schließlich in sozialen –––––––— 32 33

34 35

Bernhard, Thomas: Vor dem Ruhestand, in: Stücke 3. Frankfurt a. M. 1988, S. 7–114; hier: S. 40. Die von Klaus Theweleit in seinen Männerphantasien (Frankfurt a. M. 1977/78) beschriebene, lustvolle soldatische Wahrnehmung von toten Leibern – als „blutiger Brei“, als konturlose, entgrenzte Masse – klingt hier an. Die Anonymität der toten Körper erkennt der soldatische Mann laut Theweleit als Materialisierung seines eigenen Körperhasses – und fotografiert sie, um sie mit eigentümlichem Wohlbefinden immer wieder zu betrachten. Solche letztlich pornografischen Bilder sind deshalb auch global als Zeugnisse der pervertierten Wahrnehmung des Körpers im 20. Jahrhundert lesbar, wie sie in Auschwitz ihre Kulmination fand. Die bei Bernhard angedeutete Körperwahrnehmung Höllers als Grundsubstanz seiner Erinnerung wirft auch ein Schlaglicht auf die panische Körperangst und die daraus resultierende zerstörerische Körperverachtung der historischen SS. Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien. 2. Männerkörper, Frankfurt a. M. 1978, S. 319. Siehe hierzu auch die erhellenden Aufsätze von Reifarth, Dieter u. Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Die Kamera der Täter, in: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, hg. v. Hannes Heer u. Klaus Naumann. Hamburg 1995, S. 475–503 und (im selben Band) von Hüppauf, Bernd: Der entleerte Blick hinter der Kamera, S. 504–527. Einen allgemeinen geschichtlichen Überblick zum Thema gibt auch Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten. München u. Wien 2003. Vgl. dazu auch Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 157ff. Vgl. Assmann (wie Anm. 34), S. 131f.: Bilder und Fotografien betätigten im Fall der Erinnerung einen „Affekt, der den Kern des emotionalen Gedächtnisses ausmacht“, erklärt Assmann. Solche Einschreibungen nenne man auch „Engramme“, und sie fungierten als die „flüchtigen oder überdauernden Veränderungen im Gehirn, die sich aus der Kodierung eines Erlebnisses ergeben“ – bestehend aus der neuronalen Übersetzung von „Bildern, Geräuschen, Handlungen und Wörtern“.

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Konventionalisierungen manifestieren. Solche gesellschaftlichen Kodierungen folgen zu allererst dem Streben nach Wohlbefinden und weniger dem nach schmerzhaften Eingeständnissen von Schuld. Andererseits entzieht sich Bernhards Stück in seiner dramaturgischen Radikalisierung der familiären Erinnerungsmonade im Hause Höller auch wieder solchen naturwissenschaftlichen Erklärungsmodi: Während Markowitsch und Welzer betonen, die Hirnforschung habe gezeigt, dass erwachsene Menschen ein „in ständiger Neujustierung befindliches autobiographisches Ich“ aufwiesen, „dessen Gedächtnis ebenso beständig die eigene Lebensgeschichte nach Maßgabe gegenwärtiger Anforderungen umschreibt“36 – dann ist zu konstatieren, dass Rudolf und Vera Höller diese kognitive Anpassungsleistung im Sinne ihres Geschichtsrevisionismus gerade bewusst verweigern. Um dies durchhalten zu können, haben sie sich in eine absolute misanthropische Abschottung begeben, in der sie ihre verzerrte Erinnerung durch nichts als die Betrachtung toter Bilder aus der Vergangenheit zu stimulieren und zu manipulieren vermögen. Bernhard führt die Höllers also gewissermaßen als weitere Spezies von Zombies vor, die ihr Hirn mit nichts als Fotos füttern. Mit anderen Worten: Für sie würde die an sich unhintergehbare Sozialität menschlicher Gedächtnisfunktionen37 gerade den Tod ihrer subversiv konstruierten Individualität bedeuten. Damit ist eine Grenze bezeichnet, die naturwissenschaftliche Modelle in ihrer Anwendung auf literarische Welten nun einmal haben – womit allerdings nicht gesagt ist, dass letztere bloße Phantasmagorien verkörperten. Die in diesem Zusammenhang zentrale Bedeutung der Fotografie nicht nur für die Kunst, sondern auch für die gesamte Wahrnehmung des 20. Jahrhunderts und seiner Geschichte bringt der Protagonist Franz-Josef Murau in Thomas Bernhards Roman Auslöschung (1986) auf den Punkt: Alle wollen sie fortwährend als schön und als glücklich abgebildet sein, während sie doch alle häßlich sind und unglücklich. Sie flüchten hinein in die Fotografie, schrumpfen mutwillig auf die Fotografie zusammen, die sie in totaler Verfälschung als glücklich und schön oder mindestens als weniger häßlich und weniger unglücklich zeigt, als sie sind. Sie fordern von der Fotografie ihr Wunsch- und Idealbild, und es ist ihnen jedes Mittel, und sei es die grauenhafteste Verzerrung, recht, dieses Wunschbild und dieses Idealbild auf einem Foto herzustellen.38

Walter Benjamin erklärt in seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), der gesamte Bereich der Echtheit entziehe sich diesen modernen Vervielfältigungsmethoden von ‚Realität‘ prinzipiell:39 „Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. Da die letztere auf der ersteren fundiert ist, so gerät in der Reproduktion, –––––––— 36 37 38 39

Markowitsch u. Welzer (wie Anm. 6), S. 224. Markowitsch u. Welzer (wie Anm. 6), S. 261. Bernhard, Thomas: Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt a. M. 1986, S. 127f. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. 1979, S. 12.

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wo die erstere sich dem Menschen entzogen hat, auch die letztere: die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken.“40 Bernhards fiktive Darstellungen verfälschter gesellschaftlicher Wahrnehmung von Geschichte lassen sich mit diesen Reflexionen korrelieren: Die Fotografie zeigt nur den grotesken und den komischen Augenblick, dachte ich, sie zeigt nicht den Menschen, wie er alles in allem zeitlebens gewesen ist, die Fotografie ist eine heimtückische perverse Fälschung, jede Fotografie [...] ist eine absolute Verletzung der Menschenwürde, eine ungeheuerliche Naturverfälschung, eine gemeine Unmenschlichkeit.41

Wichtig ist hier aber auch, was Günter Butzer für den Roman Auslöschung festhält und was für Vor dem Ruhestand in besonderem Maße gilt: „Die Fotografien bringen eine ‚Totenwelt‘ zum Vorschein, sie entstellen das Gesicht zur Totenmaske und lassen ihre Betrachtung als ‚Wiederkehr der Toten‘ erscheinen.“42 Damit finden sich also auch in Bernhards Texten ähnliche subtextuelle Mechanismen, wie sie uns bereits in Arno Schmidts Caliban über Setebos begegnet sind. Nicht zuletzt sei im Blick auf Rudolf Höllers Geschichtsbild daran erinnert, das schon Walter Benjamin die durch Foto und Film vorangetriebene propagandistische ‚Ästhetisierung der Politik‘ als Ausdruck des Faschismus analysiert hat: „Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt. Dieser Punkt ist der Krieg.“43 Ähnlich wie das von Benjamin zur Untermauerung dieser These herangezogene berühmte futuristische Manifest Marinettis (1909), das in Bezug auf den äthiopischen Kolonialkrieg des faschistischen Italien postulierte, der Krieg sei schön, „weil er eine blühende Wiese um die feurigen Orchideen der Mitrailleusen bereichert,“44 ästhetisieren Rudolf Höller und seine Schwester Vera die Foto-Erinnerung zur allerdings sentimentalen Revozierung ihres verlorenen Lebensfrühlings: „Wie gut die Fotos sind“, freut sich Vera, „findest du nicht / Wenn man sie nur einmal im Jahr anschaut / und nicht dem Licht aussetzt / Schwarzbach / Reichenhall / Piding / Da waren wir doch sehr glücklich nicht Rudolf / ach komm ich muß dir einen Kuß geben.“45 Diese ‚gute alte Zeit‘ ist in dem Kontext, in dem sie beschworen wird, nichts weiter als eine Metonymie der Vernichtung. Die konkreten Orte und Protagonisten der deutschen NS-Verbrechen in Vor dem Ruhestand tauchen ebenso wie die direkt daneben gestellten Schauplätze familiären Glücks nur noch als kurze Namensnennungen auf, deren ‚wahre‘ Geschichte der Rezipient selbst assoziieren muss. Bernhard baut die Erwähnung –––––––— 40 41 42

43 44 45

Benjamin (wie Anm. 39), S. 13. Bernhard (wie Anm. 38), S. 26f. Butzer Günter: Literarisches Totengedenken. Erinnern und Vergessen bei Marcel Proust und Thomas Bernhard, in: Thomas Bernhard. Traditionen und Trabanten, hg. v. Joachim Hoell u. Kai Luehrs-Kaiser. Würzburg 1999, S. 49–60; hier: S. 59. Benjamin (wie Anm. 39), S. 42. Benjamin (wie Anm. 39), S. 43. Bernhard (wie Anm. 32), S. 108.

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genau recherchierter Schauplätze von NS-Massakern in seinen Text ein und kommentiert sie mit dem verharmlosenden Erinnerungsblick Höllers: „VERA / [...] Wo war denn das / RUDOLF / In Krakau / vor der Sukenitza vor der Markthalle / VERA / Sind das Polen dahinter / RUDOLF / Ja Polen / die haben zugeschaut und gelacht / die haben gelacht wie das Bild gemacht worden ist / es war ja auch ein schöner Tag.“46

Den genaueren Hintergrund der angedeuteten Ereignisse erfährt man nicht. Es darf aber angenommen werden, dass es an diesem ‚schönen Tag‘ nicht nur Grund zu fröhlichem Gelächter gab. In und um Krakau, der Hauptstadt des so genannten Generalgouvernements im NS-besetzten Polen, wütete unter anderem das Polizeibatallion 65, das Deportationen und grausame Judenerschießungen durchführte.47 Es sorgte zwischen Juni 1942 und Mai 1943 dafür, „daß die Verbrennungsöfen von Auschwitz und Belzec Tag und Nacht brannten.“48 Derartige beiläufige Anspielungen, die auf nichts weniger als den größten Völkermord der Geschichte verweisen, gibt es in Bernhards Drama zuhauf. Am konzentriertesten vielleicht in der bloßen Namensnennung „Dejaco“49: Sie ruft den Tiroler Architekten Walter Dejaco ins Gedächtnis zurück, der im Juni 1940 in das SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt versetzt und anschließend von dort zur Bauleitung nach Auschwitz kommandiert worden war. 1972 hatte man ihn in den österreichischen Auschwitzprozessen in Wien wegen der Instandhaltung der Gaskammern angeklagt und – wie alle seine damals vor Gericht geladenen Kollegen – freigesprochen.50 Der Familie Höller ist in Bernhards Stück an derartigen Ermittlungen nicht gelegen. Die Vergangenheit wird in Rudolfs und Veras Erinnerungen stattdessen kolonisiert und zur Fortschreibung einer angeblich ‚sauberen‘, ‚reinen‘ und vollkommen ‚schuldlosen‘ Geschichte instrumentalisiert: „Die Erinnerung kann uns niemand nehmen / was unverlierbar ist / ist die Erinnerung“, sagt Vera.51 Aleida Assmann hat diese typische Konstruktion von Täter-Erinnerungen so beschrieben: „Was aufgrund ideologischer Verblendung und einer systemathischen Anästhesierung des moralischen Gefühls ausgeblendet wurde, konnte nachträglich kein Gewissen mehr belasten. Das Mitgefühl war im NS so programmiert, dass es abrupt an der Grenze der Wir-Gruppe halt machte.“52

–––––––— 46 47 48 49

50 51 52

Bernhard (wie Anm. 32), S. 100. Vgl. Goldhagen, Daniel Jonah: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin 1996, S. 236ff. Goldhagen (wie Anm. 47), S. 237. Bernhard (wie Anm. 32), S. 104. „RUDOLF: Ich weiß gar nicht / wer das Foto gemacht hat / vielleicht war es Rösch / aber der war damals gar nicht in Schitomir / der war zu der Zeit in Danzig / Wer hat das nur gemacht / vielleicht Dejaco“. Vgl. dazu auch Klee, Ernst: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt a. M. 2007, S. 110. Bernhard (wie Anm. 32), S. 108f. Assmann (wie Anm. 34), S. 83.

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Ein unbearbeitetes Feld Schmidt und Bernhard lenken ihren literarischen Fokus auf die Veränderung gesellschaftlicher Wahrnehmung von Bildern.53 In ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts nehmen beide die vielfältigen manipulativen Wirkungen der Medien zunehmend in den Blick, die diese auf die Formen des Erinnerns und Wahrnehmens haben. Beschreibt Bernhards Drama Vor dem Ruhestand unterschwellig die Auswirkungen der Möglichkeiten der Fotografie auf die SS-Verbrechen und die daraus folgende ritualisierte TäterErinnerung an den Nationalsozialismus, so nähert Schmidt seine Schreibweise zum Spätwerk hin selbst immer mehr filmischen Darstellungsweisen an – etwa in den beschriebenen ‚Snapshot‘- und ‚Zoom‘-Elementen aus Caliban über Setebos – und baut nicht zuletzt die politische Indoktrination durch das Fernsehen kritisch in seine Texte ein. Neurobiologische Erkenntnisse in interdisziplinäre Untersuchungen solcher Phänomene einzubeziehen, hilft eher im Sinne einer Detailbeobachtung der in den Texten abgebildeten Denk-, Assoziations- und Erinnerungsprozesse weiter. Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei in Zukunft vor allem der emotionalen Wirkung von Bildern und der literarischen Beschreibung solcher Affekte geschenkt werden. Oder, um mit den Worten von Arno Schmidts Figur Daniel Pagenstecher aus Zettel’s Traum (1970) zu schließen: Der Einfluß von Bildern auf Kunstwerke – (wenn Du willst: auch auf Unser minütliches Handeln!) – ist ein weitweiteres & unbearbeiteteres Feld, als Du=Dir träumen läßt, (oder gestehen möchtest!: Wie=oft werdn nicht Dichter (auch Maler meinethalbm) angeregt worden sein durch Pfootos [...] Fern=Sehen neuerdinx!: moderne Schriftsteller müßten gesetzlich dazu angehalten werdn, zu notiren, was für Sendungen sie=sich so täglich angesehen habm.54

–––––––— 53 54

Vgl. hierzu für Arno Schmidt auch Martynkewicz, Wolfgang: Bilder und EinBILDungen. Arno Schmidts Arbeit mit Fotografien und Fernsehbildern. München 1994. Schmidt, Arno: Zettel’s Traum. Stuttgart 1970, S. 158.

Hannes Fricke

Wer darf sich wann, warum und woran erinnern – und wer darf von seinen Erinnerungen erzählen? Über Binjamin Wilkomirski, Günter Grass, die Macht der Moralisierung und die Opfer-Täter-Dichotomie im Zusammenhang der Debatte um neurobiologische Ansätze in den Geisteswissenschaften

In letzter Zeit mehren sich die Stimmen, die eine Einbeziehung neurobiologischer Erkenntnisse in die Geisteswissenschaft fordern. Die Vorgehensweise dabei ist jedoch oft erschreckend verkürzt: So vertraten auch auf dem Germanistentag in Marburg Redner die These, einige Fachartikel jüngeren Datums würden bereits ausreichen, um sich, flankiert durch einige Handbuchartikel, als ein dieser Wissenschaft Fremder angemessen in die Materie einzuarbeiten. Des öfteren wurde von „Herunterschalten“ oder von „Zurechtlegung“ der Neurobiologie gesprochen (dabei blieb nicht nur unklar, was jeweils unter dem Begriff „Neurobiologie“ verstanden werden soll, sondern auch, welch einen Mehrwert entsprechende literaturwissenschaftliche Versuche haben sollten oder könnten). Die folgende Untersuchung versucht anhand einiger Schlaglichter auf die Bewertung autobiographischer Texte, die hinter den Bewertungen dieser Texte lauernden, unreflektierten Grundannahmen über (neurobiologische) Abläufe im Gehirn zu problematisieren und am Ende einige Punkte für Literaturwissenschaftler zu formulieren, die sich in einem anderen Wissenschaftsbereich als dem eigenen umtun wollen.

Erinnerung als narrative Wahrheit: Feuersturm in Dresden Am 20. April 2000 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Artikel über eine seltsame Begebenheit. Der Historiker Helmut Schnatz hatte recherchiert, ob im bzw. nach dem Angriff auf Dresden 1945 tatsächlich tieffliegende Bomber oder silberglänzende Jagdflugzeuge mit ihren Bordwaffen Jagd auf Dresdener gemacht hatten, wie so viele immer wieder erzählten – trotz den objektiv nachvollziehbaren wettertechnischen Schwierigkeiten (Wolken, starke Böen und orkanartige Winde, extrem schlechte Sichtverhältnisse)1 und obwohl für die Bomberpiloten aus flugtechnischen, -physikalischen und -medizinischen –––––––— 1

Vgl. Schnatz, Helmut: Tiefflieger über Dresden? Legenden und Wirklichkeit. Köln u. a. 2000, S. 82.

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Gründen „Manöver wie Herabstürzen aus Angriffshöhe [...] in Häuserhöhe nicht in Frage“ kamen und „in Anbetracht der behaupteten Menge der Flugzeuge Bordwaffenangriffe auf engem Raum untragbare Flugsicherheitsrisiken für die Jäger gewesen wären“.2 Doch sah sich der Historiker Helmut Schnatz bei einem Vortrag in Dresden zu seinem Erstaunen massiven Angriffen aus dem Publikum ausgesetzt: Ein alter Mann rief: Ich protestiere dagegen, dass fremde Historiker, die gar nicht in Dresden zu Hause sind, über unsere Heimatstadt schreiben dürfen. Das ist einfach eine Gemeinheit, die Sie da zu Papier gebracht haben.

Eine Frau protestierte: „Sie erzählen einfach nur Märchen!“3 Was ist hier passiert? Donald Spence hat sein Doppel-Konzept ‚historische‛ vs. ‚narrative Wahrheit‛ davon ausgehend entwickelt, dass es in der klassischen Psychoanalyse letztlich um die geschlossene (Nach-)Erzählung einer Geschichte geht (nach Sigmund Freud ist zumindest im Prinzip jede Erinnerung rekonstruierbar, sie muss nur aus der Verdrängung hervorgeholt werden). Tritt eine Geschichte in sich geschlossen auf, so entsteht für den Erzähler schnell eine narrative Wahrheit, die sich mit der historischen Wahrheit – vorsichtig ausgedrückt – nicht unbedingt decken muss. Letzten Endes kann die narrative Wahrheit durch die Kohärenz der Erzählung sogar überzeugender als die historische wirken: Narrative Wahrheit ist das, was wir meinen, wenn wir behaupten, etwas sei eine gute Geschichte, dass eine Erklärung, die uns gegeben wurde, uns überzeugt oder dass eine Lösung einer geheimnisvollen Begebenheit wahr sein müsse. Wenn einmal eine solche Konstruktion den Status narrativer Wahrheit erobert hat, wird sie so wirklich wie jede andere Wahrheit.4

Doch warum wirkt eine Geschichte überhaupt für jemanden wahr? Dan P. McAdams hat die Entwicklung persönlicher Lebensgeschichten, die Form, in der sie erzählt werden, sowie die Veränderungen untersucht, die die zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder neu erzählten Lebensgeschichten erfahren. Alle Menschen versuchen, aus den zufälligen Episoden ihres Lebens im Rückblick eine zusammenhängende, andere Menschen ansprechende und diese überzeugende Lebensgeschichte als privaten Lebensmythos zu formen, um ihr Leben im Rückblick mit Sinn zu versehen und so zu rechtfertigen. Jede Autobiographie hat entsprechend die Aufgabe, die wichtigen eigenen Erfahrungen in eine Geschichte zu integrieren, als habe von Anfang an ein mythischer Plan das –––––––— 2

3 4

Carstens, Peter: Das alte Dresden empört sich über die Thesen eines Historikers. Gingen Tiefflieger Anfang 1945 im Elbtal wirklich auf Menschenjagd?, Frankfurter Allgemeine Zeitung (20.04.2000), S. 93. Carstens (wie Anm. 2). Spence, Donald: Narrative Truth and Historical Truth. Meaning and Interpretation in Psychoanalysis. New York u. a. 1982, S. 31 (Übersetzung von H. F.).

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Geschehen bestimmt und geordnet.5 Sechs Kategorien machten eine gute Lebensgeschichte aus:6 1. Kohärenz, 2. Offenheit für die Integration zukünftiger Erlebnisse, 3. Glaubwürdigkeit, 4. die Differenzierung der Erzählung, 5. ihre Fähigkeit, in ihr widerstreitender Kräfte in Harmonie zu bringen, sowie 6. die Möglichkeit zu generativer Integration, also die Fähigkeit dazu, das Individuum in eine soziale Gemeinschaft einzubinden. Die gute Lebensgeschichte soll deshalb „den Mythosmacher in die Gesellschaft auf schöpfende, generative Art“7 einbinden. Der sechste Punkt scheint für ein Verständnis des Vorfalls in Dresden besonders wichtig zu sein.

Hirnphysiologisches Woran liegt es, dass – im Extremfall – eine erfundene Geschichte für uns nicht mehr von einer nicht-erfundenen unterschieden werden kann? Ein Ausflug in die Neurophysiologie kann hier weiterhelfen. Eric Kandel führt aus: Was wir gewöhnlich als bewusste Erinnerungen erleben, bezeichnen wir heute [...] als explizites oder deklaratives Gedächtnis. Es ist der bewusste Gedächtnisabruf von Menschen, Orten, Objekten, Fakten und Ereignissen [...]. Unbewusste Erinnerungen nennen wir implizites (oder prozedurales) Gedächtnis. Es liegt Habituation, Sensitivierung und klassischer Konditionierung ebenso zugrunde wie den Wahrnehmungs- und Bewegungsfertigkeiten. [...] Das implizite Gedächtnis ist kein einzelnes Gedächtnissystem, sondern eine Ansammlung von Prozessen, an denen verschiedene Gehirnsysteme beteiligt sind, die tief in der Großhirnrinde verborgen liegen. [...] Explizite und implizite Erinnerungen werden in verschiedenen Hirnregionen verarbeitet und gespeichert: Explizite Erinnerungen [...] werden kurzzeitig im präfrontalen Cortex gespeichert. Die Umwandlung in Inhalte des Langzeitgedächtnisses findet im Hippocampus statt; gespeichert werden die Erinnerungen dann in den Teilen des Cortex, die für die beteiligten Sinnesmodalitäten zuständig sind – das heißt in denselben Arealen, die ursprünglich die Informationen verarbeitet haben. Implizite Erinnerungen an Fertigkeiten, Gewohnheiten und Konditionierungen werden im Kleinhirn, Striatum und Amygdala gespeichert.8

Die weit verbreitete Annahme ist also falsch, es gebe im menschlichen Gehirn jeweils eine genau lokalisierbare Stelle, an der eine einzelne Erfahrung abgespeichert wurde und die nur exakt (wieder-)gefunden werden müsste, um die Erinnerung unbeschädigt und vollständig wieder ins Bewusstsein zurückzuho–––––––— 5 6 7 8

McAdams, Dan P.: The Stories we live by. Personal Myths and the Making of the Self. New York u. a. 1993, S. 32 (Übersetzung von H. F.). McAdams (wie Anm. 5), S. 91f. McAdams (wie Anm. 5), S. 113. Kandel, Eric: Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes. München 2006, S. 150.

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len. Vielmehr sind Erinnerungen komplexe Gebilde, die aus Informationen aus verschiedensten Hirnbereichen zusammengesetzt werden und als Komposition entsprechend störanfällig sind. Noch schwieriger wird es mit Erfahrungen, die unsere Fähigkeiten übersteigen, sie irgendwie sinnvoll zu verarbeiten. Traumatische, überwältigende Situationen werden im menschlichen Gehirn nämlich auf besondere Weise verarbeitet und gespeichert: Das sog. ‚kühle‛ System ist der Hippocampusregion des limbischen Systems zugeordnet und „unterliegt den Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität“. Demgegenüber übt die „Mandelkernregion [die Amygdala, s. o.] eine affektgeleitete Verstärkerfunktion aus“. Vital bedrohliche, also potenziell traumatische Reize, bewirken die Ausschüttung von Stresshormonen. Dabei werden die Hippocampusregion, also das kühle, ordnende Gedächtnis, und der Neocortex, also die steuernden, verarbeitenden und neue Konzepte bildenden Hirnregionen, in extremem Erregungszustand gehemmt und können so ihre Filter- und Ordnungsfunktion gegenüber den einstürmenden Sinnesdaten nicht länger erfüllen. Es fallen damit Sinnfragmente ohne räumlichen, zeitlichen oder kausalen Zusammenhang an, die entsprechend ohne Zusammenhang mit der Ausgangssituation und damit dekontextualisiert abgespeichert werden. Diese Sinnfragmente, „in denen olfaktorische (Gerüche), visuelle (Bildfragmente), akustische (Geräusche) und kinästhetische Eindrücke vorherrschen, treten an die Stelle geordneter Wahrnehmungsbilder“ und können meist nur „im gleichen affektiven Erinnerungszustand“ erinnert werden, „der bei deren Speicherung vorherrschte“.9 Die Speicherung erfolgt also nicht im expliziten Gedächtnis gezielt, sondern geschieht implizit bzw. ungezielt. Das hat Folgen: Ein Erinnerungssplitter wie z. B. ein in der traumatischen Situation wahrgenommener Geruch kann durch die Wahrnehmung desselben Geruchs später – sei es auch in völlig anderen Zusammenhängen – den Traumatisierten in die alte Situation zurückkatapultieren. Die traumatisierende Situation wird nicht erinnert, sondern im Flashback erneut durchlebt. Exkurs: Man sollte nicht unterschätzen wie stark auch wir uns von solchen Kategorien der Geschlossenheit selbst bei dem Verständnis von Lebensgeschichten offensichtlich traumatisierter Menschen leiten lassen: Besonders bei der Begutachtung traumatisierter Flüchtling lässt sich eine „Verbissenheit der Suche nach der letztgültigen Wahrheit“10 beobachten. Obwohl wissenschaftlich nicht einmal ansatzweise gesichert, wird die sog. „kriterienbezogene Aussagenanalyse“ bei der Bewertung der Glaubhaftigkeit von Aussagen von Asylsuchenden angewendet. Die Analyse wurde jedoch eigentlich entwickelt, um „zu klären, ob die Zuverlässigkeit eines Tatvorwurfs so sicher zu belegen ist, dass die Zeugenaussage im definitiven Sinne als sicheres und eindeutiges Beweismittel –––––––— 9 10

Fischer, Gottfried u. Peter Riedesser: Lehrbuch der Psychotraumatologie. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. München 2003, S. 147. Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (Hg.): Begutachtung traumatisierter Flüchtlinge. Eine kritische Reflexion der Praxis. Karlsruhe 2006, S. 15.

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zur Beweisführung verwendet werden kann“, jedoch nicht, „um Unglaubhaftigkeit zu erkennen oder gar zu erklären“.11 Die zur Anwendung kommenden Kriterien für die Bewertung der Glaubhaftigkeit der Aussagen Asylsuchender – also letzten Endes: der Glaubwürdigkeit der von ihnen erzählten Lebensgeschichten – ähneln aber denen, die wir auf ‚normale‛ Lebensgeschichten anwenden: „logische Konsistenz der Aussage, quantitativer Detailreichtum, raumzeitliche Verknüpfungen, Darstellungen von Komplikationen im Handlungsverlauf, Schilderung ausgefallener Einzelheiten, Erwähnung nebensächlicher Details, Schilderung unverstandener Handlungselemente“.12 Bedenkt man, wie traumatische Erinnerungen abgespeichert werden, erscheint die gegenwärtige Form der Befragung geradezu darauf angelegt zu sein, die Erfahrungen Traumatisierter in einer sequenziellen Kette von Traumatisierungen auch im Gastland nahtlos fortzusetzen. Im Fall der Erinnerungen an die Flugzeuge in Dresden könnte Folgendes passiert sein: Die Erfahrungen der hilflosen Opfer wirkten auf viele traumatisch. Ihre weder kausal noch temporal geordneten Erinnerungsfetzen wurden zu einer Geschichte zusammengebaut, die nun temporal und kausal geordnet die Erfahrungen in ihren Augen korrekt wiedergibt: Die narrative Wahrheit ist für sie eine historische Wahrheit geworden. Da die narrative Wahrheit als lebensgeschichtliche Wahrheit zum Selbstkonzept der Erzählenden bzw. in ihren Augen objektiv zu ihrer Lebensgeschichte gehört („Wir waren hilflose Opfer, die durch die Straßen gejagt wurden!“), wird jede Hinterfragung der narrativen Wahrheit von den Erzählenden als moralische Infragestellung ihrer Person gewertet. Ihre Lebensgeschichte (und damit ihr Selbstkonzept) würde an einer entscheidenden Stelle angezweifelt.

Wilkomirski Einer der interessantesten ‚Literaturskandale‛ der letzten Jahre ist inzwischen nahezu aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden: 1995 veröffentlichte Binjamin Wilkomirski sein Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948 im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp. Das Werk wurde vom Feuilleton gefeiert und als authentischer Bericht eines child survivor gewertet, das mehrere KZs überlebt hatte. Es stellte sich jedoch heraus, dass Wilkomirski zu keiner Zeit in Vernichtungslagern gelebt, sondern nach verschiedensten Heimunterbringungen und Pflegefamilienwechseln in der Schweiz u. a. seine flashbackartigen Erinnerungsfetzen zu einer Shoa-Lebensgeschichte zusammengefügt hatte. So begeistert zu Beginn Wilkomirski gefeiert wurde, so inquisitorisch wurde er nun verfolgt. Die Diskussionen um den Text zeigen paradigmatisch, wie in Unkenntnis –––––––— 11 12

Bundesweite Arbeitsgemeinschaft (wie Anm. 10), S. 59. Bundesweite Arbeitsgemeinschaft (wie Anm. 10), S. 58.

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dessen, wie Erinnerung besonders im Fall Traumatisierter funktioniert (akausale und atemporale Speicherung, Rekonstruktion als narrative Wahrheit), moralisierend geurteilt wird.13 In den Bruchstücken erzählt Wilkomirski im Rückblick sein Leben (bzw. das, was er dafür hält), und zwar nach einer Psychotherapie, die sich um die Rekonstruktion entsprechender Erinnerungen bemühte (eine entsprechende eigene Therapieform arbeitete er später mit Elitsur Bernstein aus14): Dabei verwechselt er in seiner Schilderung aber u. a. einen älteren Jungen aus einer seiner Pflegefamilien in der Schweiz mit seinem (vermutlich so nie existenten) Bruder Motti, den er – so erinnert er sich in den Bruchstücken – in Polen nach einem Zwischenfall auf einem Bauernhof nie wieder sah. Die Bäuerin auf diesem Hof in Polen war „streng und grob. Wir fürchteten ihre harten Strafen“.15 Eine Szene ist dem Jungen besonders im Gedächtnis geblieben, denn obwohl inzwischen Krieg war und feindliche Soldaten in der Nähe marschierten, blieb er eines Tages zu lange draußen: „Der Krieg hatte uns wirklich erreicht. Vom Wald her ertönten Schüsse, und wir hörten grollende Motorengeräusche“.16 Der Junge geht später zum Abort, trödelt, die Bäuerin verliert die Nerven, verprügelt ihn und sperrt ihn allein in den Keller.17 Diese Erinnerungsfetzen haben einen möglichen realen Hintergrund. Tatsächlich lebte der junge Bruno Grosjean bzw. Binjamin Wilkomirski als Kind für längere Zeit auf einem Bauernhof, fühlte sich zu einem älteren Jungen hingezogen, der wie sein in den Bruchstücken geschilderter Bruder Segelflugzeuge baute, und litt unter einer älteren Frau. Der Hof lag aber – so ergaben die Nachforschungen des Historikers Stefan Mächler – nicht in Polen, sondern in der Schweiz, und die dortige schweizerische Bäuerin war die Pflegemutter von Bruno bzw. die leibliche Mutter des Jungen mit den Modellen. Ihr Sohn erinnert sich noch an jenen Bruno und erzählt von seiner eigenen Mutter, sie sei „in furchtbare Zustände gekommen, habe hysterisch herumgeschrien, sich die Kleider zerrissen und sei mit dem Kopf gegen die Wände gerannt. Der Teufel sei dann los gewesen“. Tatsächlich habe sie Bruno manchmal in den Keller gesperrt. Auch wohnten Soldaten in der Umgebung des Schweizer Bauernhofes, die ein Bauer aus der Nachbarschaft bei sich einquartiert hatte. Ebenso seien Schüsse zu hören gewesen, denn einen Kilometer vom Dorf entfernt sei ein

–––––––— 13 14

15 16 17

Vgl. Fricke, Hannes: Das hört nie auf. Trauma, Literatur und Empathie. Göttingen 2004, S. 72–89. Vgl. Bernstein, Elitsur u. Binjamin Wilkomirsky [sic]: Die Identitätsproblematik bei überlebenden Kindern des Holocaust. Ein Konzept zur interdisziplinären Kooperation zwischen Therapeuten und Historikern, Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik 39 (1997), S. 45–57. Wilkomirski, Binjamin: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948. Frankfurt a. M. 1995, S. 28. Wilkomirski (wie Anm. 15), S. 33. Wilkomirski (wie Anm. 15), S. 34.

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Schießstand eingerichtet worden.18 Als nach ständigen Familien- und Heimwechseln Bruno schließlich von den Doessekkers adoptiert wurde, hatte er eine heillose Vergangenheit hinter sich: Gezeugt aus Unwissen und geboren am Rande des Todes [seine Mutter überlebte nur knapp einen Verkehrsunfall; die Folgen waren eine halbseitige Gesichtslähmung], wurde er seit seinem ersten Lebtag von einem Ort zum anderen herumgestoßen und schließlich in einem Heim platziert; er erfuhr, sprachlos noch, die Liebe seiner Mutter, die, selbst im Stich gelassen [der Vater Brunos war über die Entstellung ihres Gesichts entsetzt und zog sich zurück] und angeschlagen, sich ihm unaufhaltsam entfremdete; er war zeitweilig einer Frau anvertraut, die unberechenbar in seine Welt einfiel [die Bäuerin], und schließlich kam ihm seine Mutter im Chaos ständig wechselnder Orte und Gesichter gänzlich abhanden [...].19

Durch ständige Rückversicherungen und Ermutigungen auch aus seinem Umfeld, dann später durch seine Therapeutin Monika Matta versuchte der Erwachsene, sich immer genauer zu erinnern, und baute jede neu gefundene Tatsache in einen Shoah-Lebenslauf ein. Man könnte vermuten: Seine atemporal und akausal geordneten, flashbackartigen Erinnerungen an seine, ihn anscheinend zutiefst traumatisierende früheste Kindheit passte er in das von der Allgemeinheit positiv sanktionierte Narrativ ‚gutes Opfer‛ (hier: child survivor eines KZs) ein. Durch die Geschlossenheit der Geschichte wird diese auch ihm zur narrativen Wahrheit (es bleibt dabei unerheblich, ob Wilkomirski jeden Zweifel an der Wahrheit seiner Geschichte unterdrückte oder ob er letztlich seiner Geschichte nicht vollständig traute, denn er will und muss zumindest im Kontakt nach Außen demonstrieren, dass er rückhaltlos an seine immer wieder erzählte Geschichte glaubt, um nicht das Gesicht zu verlieren). Den (zum Glück wenig bekannten) Höhepunkt der moralischen Diffamierung bildeten nach den immer schärfer werdenden Attacken von Daniel Ganzfried20 die Ausführungen von Avraham S. Weinberg: Ähnlich, wie sich „raffinierte Bankräuber modernster psychologischer Methoden und technischer Geräte bedienen“ oder „wie Computerknacker sich mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen der Informatik vertraut machen, ‚studierte‛ Wilkomirski offenbar Methoden der Schauspielkunst, um in die Hülle eines Holocaust-Opfers schlüpfen zu können“.21

Grass Günter Grass‛ Aussage in einem Interview in der FAZ vom 12. August 2006, er sei Mitglied in der 10. SS-Panzerdivision Frundsberg gewesen, hat für einigen –––––––— 18 19 20 21

Mächler, Stefan: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie. Zürich u. München 2000, S. 246ff. Mächler (wie Anm. 18), S. 30f. Vgl. u. a. Ganzfried, Daniel: ... alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie. Enthüllung und Dokumentation eines literarischen Skandals. Berlin 2002. Weinberg, Avraham S.: Wilkomirski & Co. – im Land der Täter, im Namen des Volkes. Berlin 2003, S. 11.

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Hannes Fricke

Aufruhr gesorgt (Grass wurden jugendliche Dummheit, Verleugnung, Verstocktheit, Selbstgerechtigkeit, Heuchelei, Geltungsdrang und Geldgier vorgeworfen). Hatte man es mit einem genialen Publicity-Trick für seine Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel zu tun? Im Verlauf der Debatte22 stellte sich heraus, dass einige Schriftstellerkollegen (unter ihnen Robert Schindel) von Grass’ SS-Zugehörigkeit früh wussten und dass in der Wehrmachtsauskunftsstelle jeder sich leicht hätte informieren können. Drei eher willkürlich ausgewählte Äußerungen zeigen, wie stark auch hier das polare Opfer-Täter-Denken fasst: Scharf griff Klaus Theweleit Grass im Berliner Tagesspiegel vom 12./13.08. an: „Es handelt sich um die Reklameaktion eines Publicity-Süchtigen, der ein neues Buch geschrieben hat. Wenn Grass den Umfragen entnimmt, dass nicht 102 Prozent der Deutschen ihn kennen, dann fällt ihm so etwas ein.“ Daniel Johnson ging in der New York Sun vom 17.08. noch weiter: „Jetzt zeigt sich, Herr Grass, dass Sie einer der letzten Verteidiger des Dritten Reiches waren. Sie waren ein Soldat in der Waffen-SS. Um es klar zu sagen: Die Waffen-SS leitete nicht die Vernichtungslager, aber ihre Truppen – gut 900.000 am Ende – waren tief verstrickt in den Holocaust und verantwortlich für die schlimmsten Kriegsverbrechen. Wir warten mit Interesse auf Ihre Beschreibung, welchen Anteil Sie an diesen Kriegsverbrechen hatten. Aber Ihre Erinnerungen werden von den Historikern mit Misstrauen behandelt werden, nicht glaubwürdiger als die irgend eines anderen SS-Mannes, Adolf Eichmanns zum Beispiel, die er während seines Gerichtsverfahrens aufschrieb. Zweifellos wird dieser Vergleich Sie schockieren, aber Eichmann war ein Betrüger, wie Sie.“ (Übersetzung nach dem Original von H. F.). Tilman Krause wurde in Die Welt vom 18.08. noch persönlicher: „Wahrlich, es war folgerichtig – und das wird der Stachel im Leib dieses Autors sein, mehr als alle Dokumentation auf Papier, der auch ein langes Schweigen erklären kann –, es war folgerichtig, dass dieser Junge zur Waffen-SS gelangte. Für Naturen wie ihn, die von sexueller Frustration, Sozialneid, Ressentiment und seelischer Unempfänglichkeit geprägt waren, wurde sie erfunden.“

Die Opfer-Täter-Dichotomie prägt die Vorwürfe: Entweder ist Grass der Repräsentant der Flakhelfergeneration und damit unschuldiges, jugendliches Opfer – oder er wird zu einem moralisch sofort und eindeutig zu verdammenden Täter. Die Tatsache, warum er so spät ohne äußeren Druck seine Lebensgeschichte umschrieb, wurde in der Debatte nahezu völlig ausgeblendet. Und die Tatsache, dass Grass bereits in den 1960er Jahren mit mehreren Kollegen über seine Mitgliedschaft in der SS gesprochen hatte, spielte nach Bekanntwerden dieser Tatsache so gut wie keine Rolle mehr.

–––––––— 22

Für eine erste Zusammenfassung vgl. die Quellensammlung Kölbel, Martin (Hg.): Ein Buch, ein Bekenntnis. Die Debatte um Günter Grass’ Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen 2007.

Wer darf sich wann, warum und woran erinnern?

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Ordnung durch Narrative: Denkverbote in der Literaturwissenschaft Man könnte meinen, dass dies Probleme sind, die die Literaturwissenschaft nichts angehen. Doch funktioniert unsere Profession nicht anders. Nur zwei Beispiele: H. Petriconi wollte Margarete in Goethes Faust unter keinen Umständen als Täterin, sondern als unschuldiges, verführtes Opfer sehen: Der Kindesmord sei ja „nur ein zusätzliches Motiv“, es werde wohl „niemandem einfallen, daraufhin aus der Gretchentragödie eine ‚Kindermörderin‛ machen zu wollen“. Ihre „Geistesgestörtheit“ im Kerker werde nur aus einem Grunde dargestellt: In der Kerkerszene würden neben dem Ziel, durch die Schilderung ihres Wahnsinns die Tiefe ihrer Liebe zu Faust herauszustellen, „zugleich die gegen Gretchen erhobenen Anklagen, die wir ja nur aus ihrem Munde erfahren, in Frage gestellt“. Wir – d. h. alle Leser – wüssten ja nicht, „wie groß oder gering ihre Mitschuld am Tode der Mutter war, wir wissen nicht, unter welchen Umständen sie ihr Kind ertränkt hat, und ebenso wenig, was wir von ihren jähen und leidenschaftlichen Küssen halten sollen“. Vielmehr hielten sich beim Leser „Mitleid und Grauen“ in der Schwebe „und hemmen uns, ein Urteil zu fällen“.23 Auf den Punkt gebracht: Dem Leser wird vorgeschrieben, wie er Margarete zu bewerten hat, nämlich als verführte Unschuld und bedauernswertes Opfer, nicht aber als Täterin.24 In eine ähnliche Richtung weist Irmela von der Lühes Mahnung in Bezug auf den Umgang mit der sog. „Erinnerungsliteratur“: Beides [der Konsum des Schreckens bzw. der kulturindustriellen Entwertung und Entskandalisierung des Grauens] im gleichsam wertneutralen Kontext reiner Wissenschaft praktiziert zu sehen, erscheint einigermaßen unerträglich. [...] Was [...] für den engeren Bereich literaturhistorischer und literaturwissenschaftlicher Forschung entschieden angemahnt werden muß, ist Reflexion auf die Angemessenheit und Tragfähigkeit der wissenschaftlichen Terminologie, der Orientierungsbegriffe und Gattungsbildungen und damit unserer Sprache und unseres Erkenntnisinteresses. Um es deutlich zu sagen: Nicht das Thema, die Frage nach Repräsentationsformen des Holocaust in der Literatur, ist das Problem, sondern eine wissenschaftliche Zurichtung; nicht die literaturhistorische und literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Texten über den Holocaust, sondern die typologisch-funktionalistische Perspektive, aus der heraus ein Thema entdeckt und ‚besetzt‛ wird.25

Von der Lühe verlängert so aber „die auf der Gegenstandsebene herrschenden Tabus auf der Ebene der wissenschaftlichen Analyse mit ‚Theorieverboten‛ und –––––––— 23 24

25

Petriconi, H.: Die Verführte Unschuld. Bemerkungen über ein literarisches Thema. Hamburg 1953, S. 120. Vgl. in diesem Zusammenhang den im goehezeitportal erschienenen Aufsatz von Vf.: Über Nutzen und Nachteil naturwissenschaftlich-empirischer Erkenntnisse für ein Verständnis von literarischen Texten: Neurobiologie, Hinrphysiologie, Traumaforschung und Margarete im Kerker als Opfer-Täterin. Lühe, Irmela von der: Wie bekommt man ‚Lager‛? Das Unbehagen an wissenschaftlicher Zurichtung von ‚Holocaust-Literatur‛ mit Blick auf Carl Friedmanns Erzählung Vater, Text und Kritik 144 (1999), S. 67–78; hier: S. 69f.

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einem postulierten Sonderstatus dieser Literatur“.26 Die Literatur der Opfer muss aus moralischen Gründen anders als andere Literatur behandelt werden. Es wäre aber interessant, was von der Lühe zu Wilkomirskis Buch kurz nach dessen Erscheinen gesagt hätte – und dann später. Doch was geht hier vor sich? Der Neurobiologe Gerald Hüther hat versucht, das, was hier handlunsgleitend wirkt, mit dem Begriff des „inneren Bildes“ zu umreißen. Es geht um die Selbstbilder, um die Menschenbilder und um die Weltbilder [...]. Wie die Hirnforscher in den letzten Jahren zeigen konnten, ist die Art und Weise, wie ein Mensch denkt, fühlt und handelt, ausschlaggebend dafür, welche Nervenzellenverschaltungen in seinem Gehirn stabilisiert und ausgebaut und welche durch unzureichende Nutzung gelockert und aufgelöst werden. Deshalb ist es alles andere als belanglos, wie die inneren Bilder beschaffen sind, die sich ein Mensch von sich selbst macht, von seinen Beziehungen zu anderen und zu der umgebenden Welt [...]. Nur wenn wir uns der Herkunft und der Macht dieser Bilder bewusst werden, können wir auch darüber nachdenken, wie wir es anstellen, dass künftig wir die Bilder und nicht die Bilder uns bestimmen.27

Man kann dabei natürlich nicht gänzlich ohne innere Bilder als ordnende Strukturen auskommen: Da es kein Leben ohne Bedrohungen und die damit einhergehende Angst geben kann, werden auch die Bilder nie verschwinden, mit deren Hilfe Menschen all das begreifbar und mitteilbar zu machen versuchen, was sie bedroht. [...] Aber bisweilen geben diejenigen, die beim Versuch, sich in in der Welt zurechtzufinden, gescheitert sind, auch wenig hilfreiche Überzeugungen und Vorstellungen an all jene weiter, die ebenso wie sie in Zukunft noch scheitern könnten.28

Das kann fatalerweise soweit gehen, dass in der Folgezeit den inneren Bildern entsprechende, bedrohliche Situationen aufgesucht werden.29 Und das ist gefährlich: Ursprünglich handelte es sich bei den innen Bildern um nicht mehr als in Form innerer Muster entstandene und verankerte Hypothesen bestimmter Lebensformen über die Beschaffenheit der Welt und über die sich in dieser Welt bietenden Möglichkeiten zur Lebensbewältigung. Jetzt sind die von der am höchsten entwickelten Lebensform generierten Bilder zu deterministischen Instrumenten der Welt- und Selbstgestaltung geworden. Die Folgen dieser Entwicklung sind gegenwärtig nicht absehbar.30

–––––––— 26 27 28 29 30

Huntemann, Willi: Zwischen Dokument und Fiktion. Zur Erzählpoetik von Holocausttexten, arcadia 36 (2001), S. 12–45; hier: S. 25. Hüther, Gerald: Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. Göttingen 32006, S. 9f. Hüther (wie Anm. 27), S. 131, 133. Hüther (wie Anm. 27), S. 114. Hüther (wie Anm. 27), S. 47.

Wer darf sich wann, warum und woran erinnern?

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Vorschläge für einige Regeln für Literaturwissenschaftler Aus diesen Untersuchungen lassen sich bereits einige Regeln für die Arbeit von Literaturwissenschaftlern in fremdem Gebiet (wie etwa dem der Neurobiologie) ableiten: 1. Sätze, die moralisierend Modalverben verwenden („Der Autor / Interpret muss / soll / kann / darf nur ...“), sollten vermieden werden. Moralisierende Begriffe sollten nur mit äußerster Vorsicht verwendet werden (Warum wird jemand als ‚Opfer‛ respektive als ‚Täter‛ bezeichnet? Welche – auch moralischen – Vorentscheidungen wurden mit der Verwendung eines bestimmten Vokabulars bereits getroffen?). 2. Es ist unabdinglich, mit Fachvertretern aus dem neuen, fremden Gebiet wie dem der Neurobiologie, der Traumaforschung usw. in Kontakt zu kommen und diesen Fachvertretern die eigenen Texte zu lesen zu geben und mit diesen zu diskutieren. Haben diese Einwände? Kann man aus diesen Einwänden lernen? Muss ich umdenken? Und umgekehrt: Können diese Fachvertreter Nutzen aus meinen Ausführungen für deren eigene Arbeit ziehen bzw. biete ich eine ungewohnte Sichtweise etwa der Verwendung von Sprache, die diesen Fachvertretern weiterhilft? 3. Am wichtigsten aber: Hat meine Interpretation einen Mehrwert? Ermöglicht sie eine ungewohnte, neue Sichtweise des Textes? Festzuhalten bleibt: Eine neue Nomenklatur oder ein neues literaturtheoretisches Paradigma per se hilft schlicht gar nichts. Ein unreflektiertes Patchwork aus zufällig oder willkürlich angelesenen Informationen auf Feuilleton-Niveau dürfte lediglich – wenn überhaupt – zu neuem „eleganten Unsinn“ führen, wie Alan Sokal und Jean Bricmont den fahrlässigen, wenig verantwortungsvollen Umgang vieler sog. ‚postmoderner‛ Theoretiker mit Versatzstücken aus ihnen fremden Wissenschaften genannt haben.31 Versteht man aber im Sinne der oben genannten Punkte neurobiologische Erkenntnisse als erkenntnisfördernd auch für die Literaturwissenschaft (etwa: Wie funktioniert Erinnerung? Auf Grund welcher neurobiologischen Voraussetzungen bewerten wir Charaktere und Situationen? Wie werden normalerweise Lebensgeschichten erzählt?), so gelangt man nahezu sofort zu Fragen von geradezu weltpolitischer Brisanz.

–––––––— 31

Vgl. Sokal, Alan u. Jean Bricmont: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen. München 1999, z. B. S. 17.

Timo Günther

Den Toten eine Stimme geben? Konzepte der Erinnerung bei Botho Strauß; mit einem Ausblick auf Robert Harrison

Seit seinen schriftstellerischen Anfängen in den 70igern bald als neues Theatergenie gefeiert, gilt Botho Strauß spätestens mit dem 1993 erschienenen Essay Anschwellender Bocksgesang1 als äußerst kontroverser Autor, der immer zu polemischen Stellungnahmen gegen seine offensichtlichen oder auch vermeintlichen rechtskonservativen Auslassungen reizt. Wurde der Prosaband Paare, Passanten2 als akribisch beobachtetes und gezeichnetes Gesellschaftspanorama der alten Bundesrepublik aufgenommen, so sieht man den Blick des Autors auf seine Mitmenschen ab der Wende 1989 von zunehmend konservativen Tönen geprägt. Seit jenem Jahr 1993 wurden seine Publikationen in der Öffentlichkeit beinahe durchweg dahingehend diskutiert, dass sich hier ein Schriftsteller der Gegenwart in die Linie der ‚Konservativen Revolution‘ stelle. Während die Kritik ihm Revanchismus vorwirft, beharrt Strauß immer wieder darauf, den Reichtum einer Vergangenheit wiederzubeleben, die unter dem übermächtigen Eindruck der Vergehen des Dritten Reichs dem kulturellen Gedächtnis verloren zu gehen drohen. Der eminent politische Aspekt von Strauß’ Position liegt auf der Hand. Sie soll im Folgenden am Beispiel von zwei Texten näher untersucht werden, nämlich des ersten Akts des Wendedramas Schlußchor3 sowie des Anschwellenden Bocksgesangs. Eine abschließende Gegenüberstellung von Strauß’ Position zu den Themen Gedächtnis und Erinnerung mit einigen Thesen des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Robert Harrison, dessen Buch The Dominion of the Dead vor kurzem unter dem irreführenden Titel Die Herrschaft des Todes4 auf Deutsch erschien, soll dazu dienen, Strauß’ häufig provozierende Auslassungen in einem nüchterneren Licht zu betrachten. Ein Gutteil der Provokation geht gewiss auf Strauß’ gewollt dunkle und anspielungsreiche Diktion zurück, weshalb an dieser Stelle der erste Akt aus Schlußchor ausführlich besprochen werden –––––––— 1

2 3 4

Strauß, Botho: Anschwellender Bocksgesang, in: Der Spiegel (08.02.1993), S. 202–207. Der Text wurde in veränderter Fassung zuletzt publiziert in: Strauß, Botho: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. München u. Wien 2004 (Edition Akzente), S. 55–78. Ich zitiere im Folgenden nach dieser Ausgabe. Strauß, Botho: Paare, Passante. München u. Wien 1981. Strauß, Botho: Schlußchor, Theaterstücke 2. München u. Wien 1991, S. 411–464 (Uraufführung Münchner Kammerspiele, 1. Februar 1991). Harrison, Robert: Die Herrschaft des Todes. München u. Wien 2006.

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Timo Günther

soll, um einem (z.B. von Marion Gräfin Dönhoff erhobenen) Vorwurf des Obskurantismus von vornherein zu begegnen. Der Titel von Botho Strauß’ 1991 erstmals aufgeführtem Schauspiel Schlußchor mag verwundern, haben wir es doch thematisch nicht mit einem Schluss, sondern mit einem Anfang zu tun, nämlich dem Tag der Maueröffnung am 9. November 1989, an dem das Stück spielt und durch den der Prozess der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten eingeleitet wurde. Dieser Tag wurde nicht nur von einem Chor jubelnder Menschen aus Ost und West begleitet, sondern auch von dem abschließenden Satz aus Ludwig van Beethovens 9. Symphonie mit dem Text von Schillers Ode an die Freude. „Diese wird [...] zum Zeitpunkt der Demontage der Mauer, dirigiert von Leonard Bernstein, zur Aufführung gebracht und dann noch einmal 1990 am Tag vor der Wiedervereinigung, musikalisch geleitet von Kurt Masur.“5 Es ist dieser Beethovensche Schlusschor, der im dritten Akt momenthaft erklingt und dem Schauspiel sowohl seinen Titel als auch eins seiner Themen gibt. Wie das Drama in einem übertragenen Sinn im Chor endet, so beginnt es ganz buchstäblich mit ihm. „Eine Schar von fünfzehn Frauen und Männern in vier Stufenreihen zum Gruppenfoto aufgestellt“6 – so lässt die Regieanweisung verlauten, die am Beginn des ersten Akts steht. Nicht nur entspricht die Zahl der Choreuten präzise derjenigen des ausgebildeten Chors der griechischen Tragödie, so dass das bundesrepublikanische Gesellschaftsbild, das diese Gruppe darstellt, einen Widerschein eben der griechischen Antike gibt, die in der deutschen Kultur über Jahrhunderte einen besonderen Stellenwert einnahm; dieser Chor lässt sich darüber hinaus präzise bestimmen als ‚dionysisch‘, und zwar in zweifacher Hinsicht: zum einen im Hinblick auf sein ekstatisches Verhalten, das am Ende des Akts in eine rituelle Zerreißung, ein Menschenopfer mündet, zum anderen – und für unseren Zusammenhang besonders aufschlussreich – unter dem Aspekt der Gedächtnis- und Erinnerungsthematik, der hier zunächst in negativer Weise zum Ausdruck kommt, nämlich in einem signifikanten Mangel an Erinnerung, einem Vergessen, das den Chor als solchen auszeichnet, ihn besonders aber im Zustand der Ekstase charakterisiert. Durch sein Handeln stellt der Chor in Frage, was allgemein unter dem Begriff „kollektives Gedächtnis“ firmiert. Um das zu erläutern, wird zunächst ein näherer Blick auf den Text des ersten Akts von Schlußchor nötig sein. Ein Charakteristikum des Chors ist, dass seine einzelnen Glieder keine Namen tragen, sondern lediglich Nummern (von 1 bis 15) und durch „M“ bzw. „F“ einem Geschlecht zugeordnet werden. Die Regieanweisung zu Beginn des Stücks lautet: „Eine Schar von fünfzehn Frauen und Männern in vier Stufenreihen zum Gruppenfoto aufgestellt. Im Vordergrund der Fotograf, der drei Kameras an verschiedenen Positionen bedient.“7 Der Fotograf ist ein mit den modernen Mitteln –––––––— 5 6 7

Englhart, Andreas: Im Labyrinth des unendlichen Textes. Botho Strauß’ Theaterstücke 1972–1996. Tübingen 2000, S. 241. Strauß (wie Anm. 3), S. 413. Strauß (wie Anm. 3), S. 413.

Den Toten eine Stimme geben?

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der Kameratechnik bewehrter Nachfahre des Pentheus, ein Rationalist, der es genau wissen möchte, der nach Wahrheit sucht und sie im Foto festhalten will, doch unversehens vom außenstehenden Beobachter zum involvierten Opfer wird. Das deutet sich bereits in den ersten Sätzen des Dramas an, wenn M 15 mit Blick auf die Kamera sagt: „ich starre ins Auge des Reptils.“8 Dass der Fotograf bereits hier in der Perspektive des künftigen Opfers erscheint, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ein Reptil, nämlich die Schlange, zu den bevorzugten Tieren des dionysischen Rituals der Zerreißung gehört, wie etwa den Worten des Einzugschors der Euripideischen Bakchen zu entnehmen ist. Der Fotograf ist Apolliniker, seine Maxime lautet – in seinen Worten – „Sein ist Gesehenwerden,“9 und er ist Theoretiker, wie im Anschluss an diesen Satz deutlich wird, wenn er meint: „Das ganze große Universum konnte nicht darauf verzichten, ein Wesen hervorzubringen, das es beobachtet.“10 Sein Erkenntnisorgan ist das Auge, das fotografische zumal, das verspricht, Wirklichkeit unverfälscht und wahr abzubilden, sein Medium ist das Licht: „Und selbst Sie, werte Damen, Herren, verzehren sich nach dem einen Auge, das Sie überblickt, das Ihre wahre Gestalt ans Licht befördert! Erkannte wollen Sie sein!“11 Das Auge gilt seit Platon als vornehmstes Organ des Menschen, da es ihn zur theoria, zur kontemplativen Betrachtung des Sternenhimmels befähigt, und das Licht als das Medium, das sie befördert. Dagegen zählen für den Chor nicht Denken und Erkenntnis. Dem „cogito“, dem „je pense“ des Descartes, setzt er, mit den Worten von F 1 sein „je pose“12 entgegen. Das Posieren für den Fotografen wird hier zum Programm einer Geisteshaltung, die im Gestus und im Ritus, nicht im Begriff ihren eigentümlichen Ausdruck findet. Gerade Erkannte wollen die Choreuten nicht sein, sie scheuen das apollinische Licht, und eben im Glauben, sie strebten nach ihm, liegt der tödliche Irrtum des Fotografen. Der Satz „Erkannte wollen Sie sein“, ist auch sein letzter, dann donnert ihm der Chor ein „Schluß“ entgegen, stürzt sich auf ihn und zerreißt sein Opfer. Die Regieanweisung lautet: „Wenn es wieder hell wird, liegen von dem Fotografen nur noch ein Bündel Kleider und die Schuhe auf dem Boden.“13 Zuvor hatte der Fotograf den entscheidenden Augenblick verpasst, als sich die Befindlichkeit des Chors in einem Ausruf von M 8 artikuliert, der völlig unvermittelt aus der Menge heraus „Deutschland!“ brüllt: M 5: Sie wissen, wie das gemeint ist? Fotograf: Nein? M 5: Sie wissen nicht, was es zu bedeuten hat? Fotograf: Ich wüßte nicht ... M 5: Ach? Das wundert mich nun wieder. Fotograf: Tja. Damit hatte ich nicht gerechnet. M 5: Damit hatte niemand von uns gerechnet!

–––––––— 8 9 10 11 12 13

Strauß (wie Anm. 3), S. 413. Strauß (wie Anm. 3), S. 422. Strauß (wie Anm. 3), S. 423. Strauß (wie Anm. 3), S. 423. Strauß (wie Anm. 3), S. 413. Strauß (wie Anm. 3), S. 423.

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Timo Günther

F 1: Mit anderen Worten: Sie haben gar nicht abgedrückt? M 9: Und gerade in der Sekunde hätte man sich später gern gesehen!14

Das Triebhafte, das diesem Chor als Anhänger des Dionysos zu eigen ist und immer wieder in sexuellen Anspielungen der Choreuten untereinander zum Vorschein kommt, findet einen weiteren Ausdruck in dem unterschwelligen Nationalgefühl, das den Chor als Gruppe charakterisiert und im „Deutschland!“Gebrüll ebenso unkontrolliert wie unerwartet hervorbricht. So, als Deutschland nämlich, hätte sich also der Chor gern gesehen. Es kann nicht verwundern, dass der Fotograf eben den Augenblick verpasst, wo dieses Gefühl in dem Ruf hervorbricht, steht er doch als Apolliniker auf der Seite der Individuation, muss also gegenüber dem Gruppengefühl des Chors und dem Irrationalen, das in ihm zum Vorschein kommt, verständnislos bleiben. Auch an anderen Stellen des Dramas äußert sich das Nationalgefühl. Während sonst keine der Figuren des ersten Akts später noch einmal auftritt, erscheint M 8 sowohl im zweiten wie im dritten Akt. Beide Male schreit er durch eine aufgerissene Tür wie schon zuvor „Deutschland!“15 auf die Bühne. Der Trieb nach Vereinigung, der sich während des ersten Akts in der mehrfach thematisierten Promiskuität der Choreuten äußert, gewinnt damit eine politische Dimension, indem er als ein Drang nach Wiedervereinigung der getrennten deutschen Staaten erscheint, die dann im dritten Akt, der zum Zeitpunkt des Mauerfalls spielt, auch tatsächlich eingeleitet wird. Über die Tatsache des mehrfach verpassten richtigen Moments zu einem Bild hinaus erweist sich das Motiv des Augenblicks als das grundlegende Charakteristikum des gesamten Schauspiels. „Schlußchor“, schreibt Strauß in seiner Antwort auf einen Artikel von Marion Gräfin Dönhoff, gibt von der Wiedervereinigung lediglich einen Ereigniszeitraum, den Ruck, den Schrei, den Augenblick, der Seele und Sozietät – für kurz nur – geschichtlich erhebt und auch verwirrt. Es handelt in allen drei Teilen vom Auge und vom Augenblick, den man nicht gewärtigen, nicht ‚sehen‘ kann.16

Strauß will im Chor seines Stücks, mit den Worten des Fotografen, ein Bild der „Gesellschaft“ wiedergeben. Diese Gesellschaft ist in der Utopie, die für Schiller und die Romantik noch Projekt war, längst angekommen. Der Einzelne lebt nicht mehr in der von der Kulturkritik immer wieder angeprangerten Entfremdung zu seinem Nächsten, sondern in naturhafter, archaischer Gemeinschaft mit ihm. Das moderne, problembehaftete Ich hat diese Versammlung über Bord geworfen. Einer der Choreuten hält dem Fotografen vor, er habe gar nicht den Versuch unternommen, „an uns das Wesentliche zu entdecken: die – Durch die Reihen auf- und abwärts läuft in Silben getrennt das Wort ‚In-di-vi-du-al-i-tät‘.“17 Begriff und Konzept des Individuums, dieser zentralen kulturellen Errungenschaft der Neuzeit, werden hier einer parodistischen Verfremdung unterworfen, –––––––— 14 15 16 17

Strauß (wie Anm. 3), S. 416. Strauß (wie Anm. 3), S. 435, 416. Strauß, Botho: Auge und Augenblick, in: Die Zeit (2.8.1991), S. 16. Strauß (wie Anm. 3), S. 421.

Den Toten eine Stimme geben?

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die das Individuum, das Unzerteilbare, aufsplittert, indem die Artikulation des Worts entsprechend der Anzahl seiner Silben auf sieben Akteure der Gruppe verteilt wird. Strauß führt hier offensichtlich eine in Natur regredierende Gesellschaft vor, die sich zusehends zu einer triebhaft-animalischen Gemeinschaft wandelt, durchaus im Kontrast zum Fotografen, der sich durch innere Selbstbeherrschung auszeichnet, die im Vergleich zum Chor nur umso deutlicher hervortritt. Mit der Individualität hat diese Gesellschaft aber auch das Gedächtnis, die Fähigkeit zur Erinnerung verloren. Als Gemeinschaft ist sie homogen, sie kennt das immer wieder beklagte Gefühl der kulturellen und zivilisatorischen Entfremdung in der Moderne nicht. Die Sehnsucht nach dem Augenblick, den sie im Bild festzuhalten wünscht, prägt als Grundzug ihr gesamtes Dasein. Der Preis, den sie dafür zu zahlen hat, ist der Verlust von Erinnerung und Gedächtnis, die für Strauß an das Individuum gebunden bleiben. Der Einzelne allein hat ein Empfinden für Zeit und Geschichte, die Gesellschaft dagegen, der Chor, lebt im Moment und damit im Vergessen. Darin liegt für Strauß das Dionysische des Chors. Er betont hier einen gegenüber Ekstase und Wahnsinn wenig beachteten Aspekt, nämlich die mit der Ichauflösung verbundene Selbstvergessenheit, der sich der Einzelne im dionysischen Gruppengefühl überlässt. Das heißt nicht, dass nicht auch diese Gesellschaft des Chors eine Geschichte hat. Das, woran sie sich nicht erinnert, kommt als Unterdrücktes, Verdrängtes immer wieder in unkontrollierten Entladungen zum Ausdruck. Als M 8 im zweiten Akt abermals seinen „Deutschland!“-Ruf erschallen lässt, wird er gefragt: „Warum tun Sie das?“ Und er antwortet: „Ich muß mir Luft machen.“18 Wie uns in einem anderen Stück von Strauß, in Kalldewey, Farce,19 dessen Titelfigur sich unschwer als maskierter Dionysos zu erkennen gibt, die Aristotelische Reinigung am Beispiel einer Waschmaschine vor Augen geführt wird, so ähnlich hier in Gestalt eines Waschraums, den M 8 nach seinem Ausruf betreten will, dessen Tür er aber verschlossen findet. Zwar kommt es zu einer ruppig-hilflosen Entladung der aufgestauten nationalen Befindlichkeit, jedoch die Reinigung, die Katharsis bleibt ihm versagt. Die aufgestaute Gewalt des Unterdrückten, die sich in der mänadischen Zerreißung des Fotografen augenblickshaft entlädt, fordert daher ein neues Opfer. Die Gesellschaft der unterdrückten Erinnerung ist dem Zwang zur Wiederholung unterworfen. Das neue Opfer erscheint in Gestalt einer Frau, die nach dem Mord die Bühne betritt. So sanft, wie die Mänaden nun plötzlich wieder sein können, nachdem sie ihren Trieb kurzzeitig befriedigt haben, nähern sie sich entschuldigend der Frau und bitten sie mit ausgesuchter Freundlichkeit: „Hätten Sie wohl die Güte, von uns ein kleines Foto zu machen?“20 Ausgestattet mit –––––––— 18 19 20

Strauß (wie Anm. 3), S. 435. Strauß, Botho: Kalldewey. Farce, in: Strauß, Botho (wie Anm. 3), S. 7–72 (Uraufführung Deutsches Schauspielhaus Hamburg 31. Januar 1982). Strauß (wie Anm. 3), S. 423.

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geradezu divinatorischen Fähigkeiten, die auch sie als Apollinikerin erscheinen lassen, pickt sich die Frau M 8 heraus und fragt ihn: Die Frau: während sie durch den Sucher blickt Wie geht es dir, Johannes? M 8: Och, geht so. Die Frau: Die elende Zeit ist über dich gekommen. Du hast alle Freunde verloren, dein Beruf ist aus, deine Frau hat sich bitter an dir gerächt. Die Kinder sind aus dem Haus und haben dich längst vergessen. Du willst nicht leiden? M 8: Woher weißt du das alles? Die Frau: Das sehe ich. Solche wie dich spür ich überall heraus. Solche, die sich gern was vormachen...21

Zwar kann die Frau einzelne aus dem Chor isolieren und damit individualisieren, bricht damit wenigstens für kurze Zeit seine Macht. Dennoch, der Chor ist sich auch in diesem Fall seiner Sache sicher: „F 1: Bei der wird es etwas länger dauern, bis sie in der Schlinge steckt. F 7: Aber ich denke, es wird sich lohnen.“ Der Akt schließt unmittelbar darauf mit der Regieanweisung: „Der Chor fängt leise an zu summen. Es wird dunkel.“ 22 Im Summen wird der anschwellende Bocksgesang vernehmbar, den Strauß zwei Jahre nach dem Drama, in seinem gleichnamigen Essay so provokant zu beschwören scheint. Das Stück endet im dritten Akt mit dem Fall der Mauer und der sich anbahnenden Wiedervereinigung, begleitet von Beethovens Schlusschor aus der 9. Symphonie zu Schillers Ode an die Freude. Für Strauß verbindet sich mit dem politischen Ereignis jedoch keinesfalls die Hoffnung, die bisher verpasste Gelegenheit zur gesamtgesellschaftlichen Katharsis nachzuholen, die darin bestünde, die unterdrückte Erinnerung an die deutsche Vergangenheit aufzuarbeiten. Mit Beethovens Neunter, die Nietzsche, aber beispielsweise auch Hugo von Hofmannsthal paradigmatisch als die dionysische Komposition gilt, transformiert Strauß den Bocksgesang ins Symphonische und Politische. Mit ihrem Erklingen am Schluss des Dramas verwirklicht sich für ihn nicht etwa eine lang ersehnte versöhnende Utopie. Im Gegenteil. Das dionysische Versöhnungsfest im Zeichen Beethovens, das die Bevölkerung beider deutscher Staaten zu einem einzigen großen Chor formt, artikuliert verstärkt den Wunsch nach einem „Neuanfang“, nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit und damit nach dem Wunsch zu vergessen. Wie das leise Summen des Chors bildet das Erklingen von Beethovens Musik daher einen Vorschein auf die künftige Wiederholung derjenigen archaischen Gewalt, der die beiden deutschen Staaten entsprangen. „Es wird Krieg geben,“23 lautet einer der Sätze aus dem Anschwellenden Bocksgesang, die am meisten Anstoß erregt haben in diesem mit anstößigen Fomulierungen nicht geizenden Essay. Das Projekt einer utopisch ästhetischen Einheit, das seit zweihundert Jahren immer wieder in der Konstituierung einer –––––––— 21 22 23

Strauß (wie Anm. 3), S. 424. Strauß (wie Anm. 3), S. 425. Strauß (wie Anm. 1), S. 59: „Zwischen den Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens wird es Krieg geben.“

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Gemeinschaft als Gegensatz zur Gesellschaft die Aufhebung moderner Entfremdung und künftigen Friedens erhofft, erscheint in Schlußchor nur noch als Indiz der Regression in eine archaisch verstandene Naturhaftigkeit und als der Beginn eines neuen Zirkels von Gewalt. Es kann, wie die vorangehende Interpretation an einem Beispiel verdeutlichen sollte, kaum die Rede davon sein, dass Strauß in irgendeiner Form die Verbrechen der Nationalsozialisten zu relativieren oder gar zu leugnen beabsichtigt. Wenn vielmehr die „Verbrechen der Nazis [...] nicht erinnert werden“ können, wie es im Bocksgesang heißt (und als Aufforderung zum Vergessen gedeutet wurde), und „den Deutschen in die Anwesenheit der Untat“24 stellen, dann haben wir es vielmehr mit einem Gestus der Überbietung zu tun, der für alle Äußerungen von Strauß zu diesem Thema kennzeichnend ist. Die Verbrechen der Nazis werden – wie der Verlauf des Stücks im 3. Akt noch expliziter zeigt – auch in Schlußchor nicht erinnert, sondern bleiben latent, aber eben als latente umso anwesender mit der Konsequenz, dass die „Untat“ zwanghaft immer wieder reproduziert werden muss. Dass Strauß dies begrüßt, lässt sich nicht behaupten. Der erste Abschnitt des Essays schildert ein unheimliches Gleichgewicht zwischen den einzelnen Teilen der Gesellschaft (die „so schwerelos aneinander vorbeikommen“),25 das von einem gleichförmigen medialen, kommunikativen Strom erzeugt und aufrecht erhalten wird. Unter dieser Oberfläche schwillt jedoch ein „Rumoren“, das als Vorschein einer Tragödie bzw. des Tragischen verstanden wird und am Schluss in jene von der Öffentlichkeit besonders inkriminierten Sätze mündet, die im Anschluss an René Girard die zivilisationsstiftende Funktion des Opfers in Erinnerung rufen. Dem kommunikativen „Verstehensgeräusch,“26 wie Strauß es einmal nennt, entspricht im Schauspiel das permanente, inhaltsleere und zusammenhanglose Gerede der einzelnen Choreuten untereinander, das, wie es in der ersten Regieanweisung lautet, manchmal „nur die Spitze einer Verständigung“ erreicht, „so wie ein Mensch im Schlaf auflacht,“27 wobei diese Charakterisierung das Unbewusste und Triebhafte unterstreicht. Und wie im Essay das anfänglich noch unspezifische und unterschwellige Rumoren sich gegen Ende zu einem dionysischem „Mysterienlärm“28 im Bocksgesang auswächst, so im Schauspiel das leise Summen des Chors zur schlussendlichen Zerreißung seines Opfers „unter dem Lärmgott“, nämlich „Bromios“29, dem hier unter einem seiner vielen Beinamen angerufenen Dionysos. Während der Essay immer wieder das Erinnern beschwört, inszeniert das Schauspiel das Vergessen. Beider Fluchtpunkt – programmatisch formuliert im ersten, ex negativo im zweiten Text – ist die Absage an die „Totalherrschaft der –––––––— 24 25 26 27 28 29

Strauß (wie Anm. 1), S. 73. Strauß (wie Anm. 1), S. 57. Strauß (wie Anm. 1), S. 69. Strauß (wie Anm. 3), S. 413. Strauß (wie Anm. 1), S. 74. Strauß (wie Anm. 1), S. 76.

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Gegenwart“30, durch die tatsächlich existierende Gegensätze innerhalb des Gemeinwesens nivelliert werden, aber eben gerade dadurch unterschwellig auf einen unkontrollierten Ausbruch drängen: Die Schande der modernen Welt ist nicht die Fülle ihrer Tragödien, darin unterscheidet sie sich kaum von früheren Welten, sondern allein das unerhörte Moderieren, das unmenschliche Abmäßigen der Tragödien in der Vermittlung. Aber die Sinne lassen sich nur betäuben, nicht abtöten.31

In diesen Sätzen eine Billigung, eine Ermunterung, gar eine Aufforderung zu Gewalt zu sehen, wie die öffentliche Diskussion es bisweilen glaubte tun zu können, wäre völlig verfehlt. Strauß’ Absicht geht vielmehr in eine andere Richtung, und diese kann aufgezeigt werden, indem wir uns ein letztes Mal jenem griechischen Gott zuwenden, dessen Evokation für den Anschwellenden Bocksgesang gleichermaßen programmatisch ist wie für Schlußchor. Mit Blick auf die letzte Ode in Sophokles’ Antigone, die von Dionysos als dem Gott handelt, der als Verkörperung polarer Gegensätze zwischen Zivilisation und Wildheit, Rationalität und Irrationalität, Kultur und Natur steht, schreibt Charles Segal, einer der besten Kenner der griechischen Tragödie: Through this choral song the polis arrives at self-awareness of the tensions between which it exists. Embodying these tensions in art, it can confront them and work toward their mediation, even though meditation is not permitted to the tragic heroes within the spectacle itself. The play in its social and ritual contexts achieves for the society what it refuses to the actors within its fiction. Its context affirms what its contents denies.32

Den Chor in Botho Strauß’ Schlußchor, seine Dramatik insgesamt kennzeichnet eine der von Segal beschriebene vergleichbare Funktion, insofern Strauß hier mit ästhetischen Mitteln die inneren Spannungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft darstellen und durch ihre Inszenierung dem reflektierenden Bewusstsein öffnen, und d. h. dem Vergessen entwinden will. Seit seiner Zeit als Theaterkritiker, spätestens jedoch seit dem Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken33 zielt Strauß darauf ab, die „politische Kunst der Tragödie“ (Christian Meier) wiederzubeleben. Für diese Absicht zentral ist der Versuch, die Gesellschaft der Medien aus ihrem Schlaf der Vernunft zu wecken, indem Gegensätze, Konflikte und Spannungen, die in ihr bloß tagesaktuell und vermittelt aufscheinen, durch die im Bocksgesang beschworene „Tiefenerinnerung“ an die Oberfläche des Bewusstseins gehoben werden und damit jene ‚kultische‘ Erinnerung des Tragischen ermöglicht wird, das in dem von Segal beschriebenen Sinn eine ästhetische Reflexion politischer Sachverhalte begründen kann. –––––––— 30 31 32 33

Strauß (wie Anm. 1), S. 62. Strauß (wie Anm. 1), S. 67. Segal, Charles: Tragedy and Civilization. An Interpretation of Sophocles. Norman 1999, S. 205. Strauß, Botho: Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken, in: Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken. Texte über Theater. 1967–1986. Frankfurt a. M. 1987, S. 50–73.

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Wie lässt sich diese ästhetische Reflexion näher begreifen? Ausgehend von Robert Harrisons Überlegungen zum Begriff der „Wiederholung“ in seinem Buch Die Herrschaft des Todes (The dominion of the dead) will ich mich abschließend dieser Frage widmen. Harrison stellt die These auf, wonach wir den Toten eine Zukunft geben, damit wir von ihnen eine Vergangenheit erhalten. Wir helfen ihnen dabei zu leben, damit sie uns helfen, vorwärtszuschreiten. Die Kultur des Menschen unterscheide sich in ihrem Verhältnis zum Tod, soweit wir wissen, von der Natur darin, dass diese, wie Harrison sagt, von den Toten „nur in rein organischem Sinne Gebrauch macht.“34 Die Fähigkeit zur Erinnerung befähigt Menschen, eine je eigene Kultur zu begründen, die sich nur in der steten Berufung auf die Vergangenheit und damit auf ihre Vorfahren künftig erhalten und weiterentwickeln kann. In einer zu großen Teilen an Giambattista Vicos Kulturentstehungslehre aus der Scientia nuova orientierten Geschichte der menschlichen Institutionen begründet Harrison die These, dass wir als Urheber der Institutionen – nach Vico sind die grundlegenden Religion, Ehe und Bestattung der Toten – „immer und von Anfang an diejenigen [haben], die vor uns kamen.“35 Wie für Vico, so beruhen auch für Harrison auf diesen Institutionen Zivilisation und Humanität, und zwar in einem solchen Umfang, dass man beinahe von einem Determinismus sprechen muss: „Ob wir uns dessen bewußt sind oder nicht, wir erfüllen den Willen unserer Vorfahren.“36 Denn sobald unsere Wörter anfangen, etwas zu bedeuten – Freiheit, Moral, Opfer, Verantwortung – „haben sie bereits eine Vergangenheit [...], wir sprechen mit den Wörtern der Toten.“37 Kultur und Natur sind bei Harrison deutlich geschieden durch das menschliche Vermögen zur Erinnerung an die Toten: Als Homo sapiens sind wir Kinder unserer biologischen Eltern. Als Menschen sind wir Kinder unserer Toten – des regionalen Bodens, den sie besetzt halten, der Sprachen, die sie bewohnen, der Welten, die sie ins Leben riefen, der zahlreichen institutionellen, juristischen, kulturellen und psychologischen Vermächtnisse, die sie, durch uns vermittelt, mit den Ungeborenen verbinden.38

Für Harrison fällt die Geschichte der Zivilisationen weitgehend zusammen mit einer erfolgreichen Humanisierung des Menschen. Die Herrschaft der Toten (und eben nicht die des „Todes“, wie es der deutsche Titel seines Buchs will) scheint unanfechtbar. Für die unbestreitbare Realität der fehlgeschlagenen Versuche der Humanisierung sowie die manifesten Übergriffe der Inhumanität fehlt Harrison das Sensorium oder auch nur das Interesse. Und doch bricht er den vermeintlichen Determinismus, den das Gedenken der Lebenden an die Toten über erstere ausübt, in seiner Diskussion des Begriffs der Wiederholung auf, indem er eine eigentliche von einer uneigentlichen Wiederholung unterscheidet: –––––––— 34 35 36 37 38

Harrison (wie Anm. 4), S. 9. Harrison (wie Anm. 4), S. 9. Harrison (wie Anm. 4), S. 10. Harrison (wie Anm. 4), S. 113. Harrison (wie Anm. 4), S. 13.

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Das Problem bei einer uneigentlichen Wiederholung, ob auf einer existentiellen oder einer gemeinschaftlichen Ebene, besteht darin, dass sie fast immer bedeutet, dass man es den Toten gestattet, unsere ererbten Möglichkeiten für uns auszusuchen. Wenn ihre Vermächtnisse nicht aus den Randzonen unserer existenziellen und geschichtlichen Zukunft wiedergewonnen werden, wenn sie nicht frei verwandelt und erneuert werden [was das Charakteristikum „eigentlicher“ Wiederholung ausmacht – T. G.], wenn ihre Intention durch geistige Stumpfheit oder Mutlosigkeit oder schlichte Sprachlosigkeit auf Buchstäblichkeit reduziert wird, dann setzen sich die Toten gegen uns durch.39

Offensichtlich ist der Chor in Schlußchor einer solchen uneigentlichen Wiederholung unterworfen. Wenn M 8 seinen „Deutschland!“-Ruf erschallen lässt, dann erfüllt er den Willen der Vorfahren, von dem Harrison spricht, der aber anders als bei diesem nicht mit der Stimme der Humanität, vielmehr der Inhumanität der Nationalsozialisten zusammenfällt. Das kollektive Gedächtnis erinnert nicht; erinnern kann nur der Einzelne (und in dieser Setzung liegt die von Strauß getroffene Vorentscheidung aller weiteren Überlegungen). Eben hier setzt Strauß mit seinen Versuchen einer Wiedergewinnung der Vergangenheit an, die sich im Anschwellenden Bocksgesang in einem nachdrücklichen Plädoyer für das Erinnern äußern. Um nicht der uneigentlichen Wiederholung zu verfallen, gilt es, sich dem Schlaf des kollektiven Gedächtnisses – der Chor wird in der oben zitierten Regieanweisung als „wie im Schlaf“ charakterisiert – zu entziehen. Die „Anwesenheit der Untat“ besitzt die alptraumhafte Unmittelbarkeit, die den Träumenden hilflos den Mächten des Unbewussten überlässt, denen gegenüber sich das Erinnern in der Distanz in Stellung bringen will. Erinnern lässt sich nur, was vergangen, was in die Ferne gerückt und damit der Reflexion zugänglich ist, nicht das, was gegenwärtig ist und sowohl Sinne wie Verstand unter dem Eindruck seiner Unmittelbarkeit betäubt. Um den Zirkel der uneigentlichen Wiederholung zu durchbrechen, aktiviert Strauß im Bocksgesang wie auch in seinen übrigen Schriften jene „Tiefenerinnerung“, die ihn immer wieder in die Randzonen der literarischen Überlieferung aufbrechen lässt, wo er vergessene und verkannte Autoren aufsucht, um sie dem Strom der Erinnerung einzufügen. In dem 1985 erschienenen Gedicht Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war, zitiert er Gilbert Keith Chesterton – einst zur Jahrhundertwende selber ein vielgelesener, heute vergessener Autor – unter Anspielung auf dessen Plädoyer, mit dem er, wie Strauß schreibt, „für die Toten Gleichberechtigung und demokratisches Stimmrecht forderte.“40 Chesterton schreibt in seinem 1908 veröffentlichten Buch Orthodoxie: Tradition läßt sich als erweitertes Stimmrecht fassen. Tradition bedeutet, daß man der am meisten im Schatten stehenden Klasse, unseren Vorfahren, Stimmrecht verleiht. Tradition ist Demokratie für die Toten. Sie ist die Weigerung, der kleinen, anmaßenden Oligarchie derer, die zufällig gerade auf der Erde wandeln, das Feld zu überlassen. Jeder Demokrat ist dagegen,

–––––––— 39 40

Harrison (wie Anm. 4), S. 155. Strauß, Botho: Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war. München u. Wien 1985, S. 44.

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daß die Menschen durch den Zufall ihrer Geburt Nachteile erleiden; die Tradition verwahrt sich dagegen, daß sie durch den Zufall ihres Todes benachteiligt werden.41

Strauß geht es nicht etwa darum, den Erinnerungsraum im Sinne einer Relativierung der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihrer Verbrechen zu schließen, sondern im Gegenteil, ihn im Sinne Harrisons (und Chestertons) auszuweiten. Wenn die Öffentlichkeit im Zirkel der Wiederholungen gefangen ist, dann ist es das Ziel der Literaten, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Den Toten eine Stimme geben: darin liegt die programmatische Absicht von Strauß’ Ästhetik der Erinnerung.

–––––––— 41

Chesterton, Gilbert Keith: Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen. Aus dem Englischen neu übersetzt von Monika Noll und Ulrich Enderwitz. Frankfurt a. M. 2000, S. 99.

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„Monumentale Verhältnislosigkeit“ Traumatische Aspekte im neuen deutschen Familienroman

Die deutschsprachige Literatur hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Thema wiederbelebt, das in vom Wohlfahrtsstaat, den Neuen Medien und den Erwartungen der Reproduktionsmedizin geprägten Zeitläuften stark im Rückzug begriffen war: die Familie.1 Spätestens – wenn man denn ein Datum nennen möchte – seit Günter Grass’ 2002 erschienenem Buch Im Krebsgang reißt der Strom an intergenerationeller2 Erinnerungsliteratur nicht ab. Bezeichnenderweise gewannen gleich zweimal Familienromane den überhaupt erst dreimal vergebenen Deutschen Buchpreis: 2005 Es geht uns gut von Arno Geiger, 2007 Die Mittagsfrau von Julia Franck. So verblüffend diese Renaissance auf den ersten Blick sein mag, so vertraut erscheint mit dem Nationalsozialismus derjenige Phänomenkomplex, der die Familiendynamik in den Romanen dominiert. Der neue deutsche Familienroman, wie ich dieses Genre nennen möchte, beschäftigt sich mit den familiendynamischen Nachwirkungen der NS-Zeit auf Täter- und Opferseite, vor allem damit, wie die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, Krieg und Vertreibung intergenerationell kommuniziert wird. Eine heuristische Definition könnte wie folgt lauten: Der neue deutsche Familienroman ist angesiedelt an der Schnittstelle von privatem und öffentlichem Erinnerungsdiskurs und präsentiert in narrativer Weise – und oft im autobiographischen Rekurs – Ausschnitte aus der Familienvergangenheit der NS-Zeit, deren familiäre (Nicht-)Kommunikation und trans- bzw. intergenerationelle Nachwirkungen. Anstatt freilich wie das gegenwärtige Feuilleton seinen Überdruss an historisch perspektivierten Familiengeschichten zu formulieren,3 wäre zunächst zu fragen, –––––––— 1 2

3

Vgl. Koschorke, Albrecht: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Frankfurt a. M. 2000, S. 216–219. Im Unterschied zu dem Begriff ‚transgenerationell‘, der den vergleichsweise passiven Rezipientenstatus der nachkommenden Generationen akzentuiert, betont ‚intergenerationell‘ die wechselseitige Interaktion zwischen den Mitgliedern unterschiedlicher Generationen; vgl. dazu Rosenthal, Gabriele: Der Dialog über den Holocaust in Familien von Überlebenden und von Nazi-Tätern. Fragestellungen und Methode, in: Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern, hg. v. Gabriele Rosenthal. Gießen 31999, S. 11–17; hier S. 11. Vgl. Kämmerlings, Richard: Am Tellerrand gescheitert. Warum die Gegenwartsliteratur die Gegenwart meidet, Frankfurter Allgemeine Zeitung (30.1.2008), S. 35: „Der historische Familien- oder Generationenroman, gern als episches Jahrhundertpanorama, beherrscht die Szene. […] Man beginnt als Leser unter einseitiger Ernährung zu leiden. Denn es mangelt an dem, was unser Leben jenseits des Privaten formt und bestimmt: die Wirtschaft, die Technik, die Medizin, das Militär, ja selbst die Medien.“

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welche Gründe für diese Häufung namhaft gemacht werden können und welche spezifischen Spannungsverhältnisse zwischen dem Persönlichen, Politischen und Literarischen darin zum Ausdruck kommen. Für den Boom der zeitgenössischen Familienerzählungen dürfte zu einem nicht geringen Teil die biologisch unvermeidbare Tatsache verantwortlich sein, dass sich mit dem Aussterben der Zeitzeugen des Nationalsozialismus (Opferwie Tätergeneration)4 ein Erfahrungsgedächtnis auflöst, das über 50 Jahre lang für die Erinnerungskultur Deutschlands bestimmend war. Obliegt es doch nun den nachkommenden Generationen neue Formen des Erinnerns zu entwickeln. Gerade den Schriftstellern kommt hierbei, wie Jorge Semprun im Gespräch über Jonathan Littells Roman kontrovers diskutierten Holocaust-Roman Die Wohlgesinnten erläutert, eine entscheidende Rolle zu: Die Erinnerung an den Genozid wie an die Résistance stirbt, wenn sich nicht junge, nachgeborene Schriftsteller dieser Stoffe annehmen. Bald wird es keine überlebenden Zeitzeugen mehr geben. Natürlich haben wir die Zeugnisse der Opfer und die Dokumente in den Archiven. Die Historiker werden weiter über den Zweiten Weltkrieg schreiben. Aber nur die Dichter können das Erinnern erneuern.5

Semprun hat, wenn er innovative Erinnerungsliteratur auf der Basis des kulturellen Gedächtnisses fordert, sicher für die Zukunft recht. Momentan aber, und das kennzeichnet den Anfang des 21. Jahrhunderts als erinnerungspolitische Übergangszeit, knüpfen viele Autoren an die autobiographischen Erfahrungen mit ihren Familienvorfahren an, machen das zum Ausgangspunkt, was Aleida Assmann das soziale Gedächtnis6 nennt. Als das Ende authentischer Zeitzeugenschaft naht, begehrt die zweite und dritte Generation dagegen auf, dass der Holocaust, wie es der Sozialpsychologe Harald Welzer pointierte, bislang „keinen systematischen Platz im deutschen Familiengedächtnis“7 fand. Literaturgeschichtlich betrachtet ließe sich die zeitgenössische Familienliteratur als Fortsetzung bzw. Transformation der Väterliteratur8 der 1970er und 1980er Jahre bezeichnen. Als Produkt der zweiten Generation ist für die Väterliteratur die Studentenbewegung und der mit ihr zusammenhängende umfassende –––––––— 4

5 6

7 8

Vgl. zur Problematik dieses Generationenverständnisses, das Überlebende des NaziRegimes unabhängig von ihrem damaligen eigenen Alter zu einer Opfer- bzw. Tätergeneration zusammenfasst und damit eine soziale Gruppierung, deren Identität sich über die Teilnahme an einem herausgehobenen historischen Ereigniszusammenhang bestimmt, zur Gründungsinstanz einer Abstammungslinie macht, den Abschnitt Der Holocaust und seine Generationen in: Ohad Parnes u. a.: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Frankfurt a. M. 2008, S. 305–313. Semprun, Jorge: Ohne die Literatur stirbt die Erinnerung, Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.2.2008), S. 35. Vgl. zu der Unterscheidung von kulturellem und sozialem Gedächtnis Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, S. 51–54. Welzer, Harald u. a.: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a. M. 2002, S. 210. Vgl. Mauelshagen, Claudia: Der Schatten des Vaters. Deutschsprachige Väterliteratur der siebziger und achtziger Jahre. Frankfurt a. M. u. a. 1995.

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soziokulturelle Wandel ausschlaggebend. Mit dem Nationalsozialismus als negative Bezugsinstanz im Fokus leisten die Autoren nicht nur „einen Beitrag zur Aufhebung der erfahrenen Tabuisierung der nationalsozialistischen Ära“,9 sondern stellen sich auch „der negativen ‚Erblast‘ und artikulieren sie.“10 Häufig geschieht dies freilich auf der Grundlage einer starken Abwehr von konkretem Wissen und im Modus der pauschalen Kritik oder der Abrechnung, um sich von den im Nationalsozialismus verstrickten (Groß-)Vätern abzusetzen. Was die prominente Rolle der NS-Zeit ausmacht, hat sich bei den neuen Generationenromanen wenig geändert. Von Täter- wie Opferseite beantwortet man in Bezug auf den Nationalsozialismus die Frage, wie die Generationen diachronisch miteinander verknüpft werden, durch die Übertragung von Schuld oder Erinnerung. „Das Nachleben der Toten wird also als familiales bzw. genealogisches Erbe begriffen und als transgenerationelle Übertragung konzipiert.“11 Auch wenn dabei nicht an Kritik oder Missbilligung gespart wird, zielt der neue deutsche Familienroman im Gegensatz zur Väterliteratur in erster Linie nicht auf Anklage, sondern auf Empathie und Verständnis. Ist doch dort die Verstrickung selten bereits zu Beginn ausgemacht, sondern entpuppt sich überhaupt erst durch eine oft mühsame – durch Befragung von Zeitzeugen und das Studium von Dokumenten beförderte – Erinnerungsarbeit. Der Ausgangspunkt für das Bestreben, die eigene Familienvergangenheit genau(er) erforschen, ist das oft unbestimmte Gefühl von Angehörigen der zweiten und dritten Generation, auf unaufgeklärte Weise zum Gegenstand transgenerationeller Übertragungsmechanismen geworden zu sein. Der – zunächst kontraintuitiv anmutende – Zusammenhang aus unbekannter Familienvergangenheit und zugleich vermuteter Fremdbestimmung wirkt, wenn man ihn mit einem Befund aus der multigenerationellen Biographieforschung beleuchtet, alles andere als unplausibel. Haben doch Fallanalysen auf der Ebene des familiären Dialogs ergeben, daß das Schweigen, die damit verbundenen Familiengeheimnisse und die Familienmythen sowohl in Familien von Verfolgten als auch in denen von MitläuferInnen und TäterInnen zu den wirksamsten Mechanismen beim Fortwirken problematischer Familienvergangenheiten gehören. […] Je geschlossener oder verdeckter der Dialog in der Familie ist, je mehr verheimlicht oder retuschiert wird, desto nachhaltiger wirkt sich die Familienvergangenheit auf die Kinder- und Enkelgeneration aus.12

Das in Bezug auf den Holocaust von der psychoanalytischen Forschung und der empirischen Biographieforschung entwickelte Konzept der transgenerationellen Traumatisierung erweist sich, auch wenn man die strukturelle Differenz zwischen empirischer und erzählter Lebensgeschichte durchaus aufrechterhalten möchte, als höchst aufschlussreich für die Analyse von Generationenromanen. –––––––— 9 10 11 12

Mauelshagen (wie Anm. 8), S. 285. Mauelshagen (wie Anm. 8), S. 286. Parnes u. a. (wie Anm. 4), S. 315. Rosenthal, Gabriele: Der Dialog über den Holocaust in Familien von Überlebenden und von Nazi-Tätern. Gemeinsamkeiten und Unterschied im familialen Dialog, in: Rosenthal (wie Anm. 2), S. 18–25; hier S. 22.

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Vorzugsweise der oft anzutreffende Konnex von Schweigen und Trauma lässt sich mit Hilfe dieses Konzeptes plausibel rekonstruieren und nachvollziehen. Nachdem sich die Psychotraumatologie in den 1990er Jahren als eigenständiges Praxis- und Forschungsfeld innerhalb der bereits existierenden medizinisch-psychologischen Disziplinen etabliert hat,13 werden immer wieder Versuche unternommen, traumatische Erfahrungen in einer interdisziplinär agierenden Literatur- und Kulturwissenschaft zu erforschen. Vor allem Hannes Fricke und Harald Weilnböck haben einiges dazu geleistet, das Konzept des Psychotraumas für die philologischen Fächer theoretisch wie praktisch anschlussfähig zu machen.14 Beide schließen an eine Definition von Trauma an, die auch im Folgenden zugrunde gelegt wird: Psychisches Trauma ist ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.15

Eine psychotraumatologisch orientierte Literaturinterpretation freilich ist „keine Psychoanalyse von Texten oder Autoren. Das tertium comparationis ist vielmehr der Kommunikationsprozeß in Psychoanalyse und Kunst.“16 D. h. es geht darum, die individuellen literarischen Ausdrucksformen von traumatischen Erfahrungen zu erforschen, eine „neue Sprache“ oder „Meta-Sprache“, die über die bisherigen, traumagebundenen Ausdrucksmittel hinausweist und geeignet erscheint, das Paradoxon der ‚traumatischen Information‘ – mit einer Erfahrung zu leben, mit der sich nicht leben läßt – zu entschlüsseln und im dreifachen dialektischen Sinne dieses Wortes ‚aufzuheben‘: d. h. sie aufzubewahren (lat. conservare), und zwar als Erinnerung, sie zu eliminieren (tollere) und sie zugleich auf eine neue, eine ‚Metaebene‘ des Selbstund Weltverständnisses hin zu überschreiten (elevare).17

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Vgl. hierzu Fischer, Gottfried u. Peter Riedesser: Lehrbuch der Psychotraumatologie. München u. Basel 21999, S. 15–19. Vgl. Fricke, Harald: Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie. Göttingen 2004; Weilnböck, Harald: Psychotraumatologie. Über ein neues Paradigma für Psychotherapie und Kulturwissenschaften, literaturkritik.de 3 (2001), 10 URL: http://www. literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=4264 (2.10.2007); Weilnböck, Harald: Zur dissioziativen Intellektualität in der Nachkriegszeit. Historisch-psychotraumatologische Überlegungen zu Metapher/Metonymie und Assoziation/Dissoziation bei kritischen, neukonservativen und postmodernen Autoren, in: Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung, hg. v. Günter H. Seidler u. Wolfgang U. Eckart. Gießen 2005, S. 125–202; Weilnböck, Harald: „Das Trauma muss dem Gedächtnis unverfügbar bleiben“. Trauma-Ontologie und anderer Miss-/Brauch von Traumakonzepten in geisteswissenschaftlichen Diskursen, Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 16 (2007), S. 2–64. Fischer, Gottfried: Psychoanalyse und Psychotraumatologie, in: Trauma. Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 19, hg. v. Wolfram Mauser u. Carl Pietzcker. Würzburg 2000, S. 11–26; hier S. 11f.; vgl. auch den Kommentar zu den einzelnen Kriterien der Definition auf S. 12f. Fischer (wie Anm. 15), S. 15. Fischer (wie Anm. 15), S. 16.

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In der Folge werden am Beispiel von Judith Kuckarts Lenas Liebe und Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land die Interaktionsprozesse zwischen den Generationen entfaltet, konkret, wie familiäre Kommunikationsstörungen bzw. Nicht-Kommunikation zum Auslöser von Prozessen transgenerationeller Erinnerungs-, Schuld- oder Traumaübertragung geraten. Zu selten noch wird gesehen, wie sehr dem Selbst- und Weltverständnis der zweiten und dritten Generation transgenerationell vermittelt „epochale Erlebnisse und psychosoziale Erlebnisstrukturen der psychotraumatischen Überforderung zugrunde liegen, die von massiven historischen Gewalt- und Trauma-Ereignissen im Umkreis der beiden Weltkriege herrühren.“18 In beiden Romanen erscheint Familie als literarischer Erinnerungsraum, in dem retrospektiv Nachwirkungen der NS-Zeit durchsichtig und aufgearbeitet werden. Beide Bücher verbindet ein familiäres Beschweigen von Auschwitz als Erinnerungsort19 und historischem Bezugspunkt der eigenen Familiengeschichte, wodurch – Jahrzehnte später – ein Selbstverständigungsprozess der Protagonisten ausgelöst wird, der um die transgenerationellen Nachwirkungen dieser Leerstelle im Familiengedächtnis kreist.

I. Transgenerationelle Liebesunfähigkeit – Judith Kuckart: Lenas Liebe (2002) Mit ihrem vierten, nach Wahl der Waffen (1990), Die schöne Frau (1994) und Der Bibliothekar (1998) erschienenen Roman Lenas Liebe ist sich die 1959 in Schwelm (Westfalen) geborene Schriftstellerin Judith Kuckart insofern treu geblieben, als sie darin ihr Leitthema variiert: die Verbindung von romantischer Liebessehnsucht und deutscher Zeitgeschichte.20 In Lenas Liebe werden die Liebesprobleme der Hauptfiguren mit der Vergangenheit und Gegenwart des Ortes Auschwitz/Oświęcim verknüpft.21 Es geht darum, wie sich das Vernichtungsgeschehen in Auschwitz nicht nur die auf die vor Ort anwesend gewesenen –––––––— 18

19 20 21

Weilnböck (2005; wie Anm. 14), S. 189. – Vgl. dazu auch Sigrid Weigel: Télescopage im Unbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur, in: Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, hg. v. Elisabeth Bronfen u. a. Köln u. a. 1999, S. 51–76; hier S. 51: „Gerade aber mit dem wachsenden zeitlichen Abstand zu den Ereignissen von ‚Auschwitz‘ scheint die Bedeutung des Traumas zu wachsen, und zwar sowohl in den Erkenntnissen der Therapeuten und Analytiker, die mit den Überlebenden und ihren Kindern, aber auch mit den Nachgeborenen der Täter arbeiten, als auch in künstlerischen Arbeiten und in Kulturkritik und Zeitgeschichte.“ Vgl. zu Auschwitz als Erinnerungsort Reichel, Peter: Auschwitz, in: Deutsche Erinnerungsorte 1, hg. von Etienne François u. Hagen Schulze. München 2001, S. 600–621. Auch der Erzählungsband Die Autorenwitwe (2003) und der Roman Kaiserstraße (2006) leben von der auf die deutsche Zeitgeschichte zugespitzte Liebesproblematik. Vgl. dazu Harbers, Henk: „Wer erzählt, hat eine Frage“. Die Verbindung von Liebe und Auschwitz in Judith Kuckarts Roman Lenas Liebe, Literatur für Leser 29 (2006), S. 81–97.

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Kinder der Tätergeneration traumatisierend auswirkte, sondern auch noch auf das Selbstverständnis und die Liebesfähigkeit der Enkelgeneration erstreckt. Die Rahmengeschichte bildet eine vom 28. bis zum frühen Morgen des 30. Mai 2000 dauernde Autofahrt von Oświęcim nach Berlin. Eingelagert in diese – im Präsens erzählte – Rahmung (deren Anfang und Ende das erste und letzte der insgesamt 13 Kapitel ausmachen), werden eine Vielzahl von – in Vergangenheitsform erzählten – Handlungssträngen vorgestellt. Die bruchstückhafte und von häufigen Wechseln der Erzählperspektive dominierte narrative Textur bezieht sich auf den Zeitraum von 1943 bis 2000 und spielt vorzugsweise in S., die (im Ruhrgebiet befindliche) Heimatstadt der Titelfigur, und Auschwitz/Oświęcim. Im Zentrum des mosaikartig ineinander montierten Erzählgefüges stehen die Liebe von Lena und Ludwig und die von Marlis, Lenas Mutter, und Julius Dahlmann. Die beiden Liebesgeschichten, darin besteht die genuine Leistung des Buches, werden über die Verbindung zu Auschwitz in Form von Nachwirkungen und Spiegelungen miteinander vermittelt. Die Engführung beginnt, als Lena, 39-jährig, schlagartig ihr Schauspielengagement in Basel aufkündigt. Nach monatelangem Nichtstun erfährt sie vom Tod ihrer Mutter und kehrt nach mehr als zwanzig Jahren nach S. zurück. Dort gönnt sie sich eine „Verlängerung“22 ihrer Jugendliebe mit Ludwig und mietet sich bei Julius Dahlmann, dem Kindheitsfreund ihrer Mutter ein. Lenas Mutter hat sich über ihre frühe Zuneigung, dann Abneigung gegenüber Dahlmann nie äußern wollen. Explizite Gründe für diese Abwehrhaltung werden nicht genannt, auf eine entschiedene Verlegenheit bzw. ein Familiengeheimnis aber lässt die symptomatische Rolle schließen, die die elterliche Redescheu in Lenas Jugend spielt: „Schweigen, das kenne ich schon, denkt Lena, so bin ich erzogen worden.“23 Nach dem Tod ihrer Mutter versucht sie nunmehr, Aufklärung von Dahlmann zu erhalten. Dieser setzt sich, indem er von seinen Kindheitserlebnissen in Auschwitz erzählt, erstmals mit seiner Vergangenheit auseinander, was für Lena zum Anlass wird, Dahlmanns Trauma nachzuspüren und die familiengeschichtliche Leerstelle zu füllen. Gerne sprach Lenas Mutter, „wenn sie etwas Komisches erzählen wollte“, über Dahlmann: „Es sei in O. passiert, es sei alles in O. passiert.“24 Damit bezieht sie sich auf die Zeit, die dieser als junger Sohn25 eines Dorfgendarmen und späteren Hundeführers im KZ26 zwischen Frühling 1942 und Weihnachten 194427 in Auschwitz verbrachte. Konkret bezieht sie sich auf eine von Dahlmann versandte Postkarte mit „Osterblumen“, die „Weihnachten 1943 in S.“ ankam: –––––––— 22 23 24 25

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Kuckart, Judith: Lenas Liebe. Köln 2002, S. 155. Kuckart (wie Anm. 22), S. 161. Kuckart (wie Anm. 22), S. 92. Dahlmann ist an Weihnachten 1944 zwölf Jahre alt (vgl. Kuckart [wie Anm. 22], S. 138), Marlis feiert im Spätsommer 1944 ihren zwölften Geburtstag (vgl. Kuckart [wie Anm. 22], S. 135). Vgl. Kuckart (wie Anm. 22), S. 41. Vgl. Kuckart (wie Anm. 22), S. 198.

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Liebe Marlis, weine nicht, ich weine auch nicht. Hier ist es ganz schön, nur bei Westwind stinkt es aus dem Lager. Robbi Bolz sagt dann: ‚Ach, immer diese Juden.‘ Robbi Bolz ist nicht mein Freund. Kannst Du nicht kommen? Dein Julius. Ich liebe dich sehr. Von dem Tag an war Marlis überzeugt gewesen, daß Dahlmann in O. komisch geworden war.28

Über einschlägige Gründe, angesichts des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau in unmittelbarer Nähe und verständnisloser Altersgenossen à la Robbi Bolz ‚komisch‘ zu werden, macht sich Marlis keine Gedanken. Für die Zuschreibung eines abnormen Geisteszustandes reicht ihr allein das falsche Motiv auf der Weihnachtskarte: Kein Zweifel. Umgeben von ödem Brachland und Fichten am Horizont, eingesperrt jenseits dieses schwarzgrünen Zackenbands, war er ein komischer Vogel geworden. Denn nur wer komisch geworden war, schickte zu Weihnachten unbefangene Osterblumen.29

Dieses Urteil dürfte freilich einer Rückprojektion der älteren Marlis geschuldet sein, denn noch im Sommer 1944 kommt es, als Julius in den Ferien in S. zu Besuch ist, ihrerseits zu einem Liebesbeweis. Julius, der von einer Bande Jugendlicher wegen seines effeminierten Verhaltens herausgefordert wird, seine Männlichkeit mit einem Gang über ein Eisenbahngeländer unter Beweis zu stellen, verharrt ängstlich nach dem ersten Schritt. Marlis dagegen wird auf Julius’ Zuruf: „Wer kommt in meine Arme“,30 zu ihm hinüberlaufen. Während der Überquerung bekommt sie, als ein Zug unter ihr hindurchfährt, (vermutlich vor Anspannung und Nervosität) einen Orgasmus und ruft: „Julius ist mein Mann. Also ist er ein Mann. Verstanden!“31 Im Winter desselben Jahres unterschreiben sie, nachdem Julius endgültig aus Auschwitz nach S. zurückkehrte, „mit Namen und Geburtsdatum“ ihr Liebesgelöbnis: „Wir sind schon mal Mann und Frau, wir sind es schon richtig.“32 In der Folgezeit scheinen sie unzertrennlich, doch als Marlis im letzten Schuljahr vom Direktor gefragt wird, ob Julius ihr „Freund“ sei, antwortet sie: „Aber der doch nicht. Der hat doch einen Vogel.“33 Die auktoriale Erzählinstanz, die ansonsten mit Urteilen über das Verhalten der Figuren geizt, ist hier überdeutlich und deklariert den Vorgang als „Verrat“34. Besonders demütigend daran ist, dass Julius davon erfährt, als Marlis in Gesellschaft die Szene mit dem Direktor wiederholt, um etwas „Lustiges“35 zum Besten zu geben. Darüber, wie sich die Beziehung zwischen Marlis und Dahlmann nach dem Krieg entwickelt hat, schweigt sich der Roman aus. Der Leser

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Kuckart (wie Anm. 22), S. 92. Kuckart (wie Anm. 22), S. 92. Kuckart (wie Anm. 22), S. 135. Kuckart (wie Anm. 22), S. 135. Kuckart (wie Anm. 22), S. 139. Kuckart (wie Anm. 22), S. 139. Kuckart (wie Anm. 22), S. 139. Kuckart (wie Anm. 22), S. 139.

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erfährt einzig, dass Marlis am 2. Mai 1956 einen anderen Mann heiratete36 und von Dahlmann danach alljährlich am Hochzeitstag besucht wurde.37 Der „komische“ Julius mit dem „Vogel“ war für Marlis als Lebenspartner erledigt. Nach Gründen für seine einschneidende, Marlis’ Verstandes- und Affekthaushalt allem Anschein nach überfordernde Verhaltensveränderung hat sie, folgt man dem Text, nie gefragt. Diese Frage hat sie transgenerationell vermittelt an Lena weitergegeben, in deren Vorstellungen sich immer wieder folgendes Bild einstellt: „Ein kleines Fenster, im dritten Stock, jemand beugt sich heraus, vor langer Zeit.“38 Das Bild bezieht sich auf ein Ereignis, das vor Lenas Geburt stattfand und für das Verhältnis zwischen Julius und Marlis eine Schlüsselszene darstellt. Als Julius am Silvestertag 1944 aus Auschwitz zurückkehrt, ruft er Marlis, die aus dem Fenster schaut, wie ein Jahr zuvor auf dem Brückengeländer zu: „Wer kommt in meine Arme“.39 Diesmal aber kommt Marlis nicht selbst, sondern wirft ihm ihre Puppe Martha zu: Sie lag auf der Luft, bis Julius den Schritt beiseite ging. Martha schlug auf. Der Schnee lag dünn, und sie zerbrach. / Wenn Marlis heruntergefallen wäre, er wäre nicht beiseite getreten, sagte Julius später. / Ein kleines Fenster, im dritten Stock, Marlis beugte sich heraus, vor langer Zeit. / Du hast ja wohl einen Vogel, hatte sie geschrien.40

Julius’ Verhalten wird nicht nachträglich aufgeklärt, allerdings findet sich im Text eine Stelle, die hierfür augenscheinlich das Vorbild geliefert haben dürfte. Im Sommer 1944 findet Julius auf dem Dachboden des Hauses in Auschwitz einen siebenarmigen Leuchter mit einem goldenen Stern in der Mitte. Als Strafe dafür, dass Julius mit dem Leuchter – ohne dessen kulturell-religiöse Bedeutung zu kennen – spielt, droht der Vater ihn aus dem Fenster zu werfen. Julius aber kann sich losmachen und „warf sich zurück in den Raum. Er fiel hart und […] krabbelte ein Stück, panisch, ein Tier ohne Würde, ohne Stolz. In dem Moment wußte er, wie es da drüben, auf der anderen Seite vom Fluß war. Wo der Vater zur Arbeit ging.“41 Der Text geht hier ein großes Wagnis ein. Immerhin parallelisiert er Julius’ Erfahrung des schutzlosen Ausgeliefertseins, der Angst und Nahtodeserwartung mit der der Insassen des Vernichtungslagers. Julius überlebt, doch als Gezeichneter: „Ganz hinten im Hausflur […] stürzte er in jene –––––––— 36 37

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Vgl. Kuckart (wie Anm. 22), S. 265. Vgl. Kuckart (wie Anm. 22), S. 141: „An jedem zweiten Mai war Hochzeitstag, zu dem Dahlmann nachmittags kam.“ – Bei Lenas Mutter scheint eine Doppelbindung vorzuliegen: Einerseits verschmäht sie Dahlmann als Ehemann, andererseits goutiert sie seinen Besuch zum alljährlichen Hochzeitstag. Interessant daran ist, dass Doppelbindungen „als Relais der transgenerationalen Weitergabe von Psychotraumatik fungieren“ und „hohe Risiken der Re-Inszenierung und Übertragung von destruktiven Interaktionsdynamiken“ in sich tragen (Weilnböck [2005; wie Anm. 14], S. 139f.). Kuckart (wie Anm. 22), S. 109, 117, 145. Kuckart (wie Anm. 22), S. 145. Kuckart (wie Anm. 22), S. 145. Kuckart (wie Anm. 22), S. 235. – Auch Harbers (wie Anm. 21), S. 94, weist auf die Zusammengehörigkeit der beiden Szenen hin, allerdings entfaltet er sie nicht als Trauma, das sich in seinen – indirekten – Wirkungen bis hin zu Lenas Verhalten fortsetzt.

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Hocke, in der ein Teil von ihm für den Rest seines Lebens verschwand.“42 Man muss Julius’ Erlebnis nicht unbedingt mit den Vorgängen in den Vernichtungslagern vergleichen – „Alle schauten hinauf und machten Platz,“43 variiert einen Topos der Deutschen im Umgang mit den KZs: Viele haben zugeschaut und ließen es geschehen –, um hier von einem Lebenstrauma zu sprechen. Es hat den Anschein, als wolle er, als er Marlis’ Puppe auf dem Boden zerschellen lässt, die Nachwirkungen dieser traumatischen Erfahrung zumindest nonverbal andeuten. Gewissermaßen wird hier in effigie und mit vertauschten Rollen ein Vertrauensverrat nachgespielt, wie er zuvor in ähnlicher Weise ihm zuteil wurde. Marlis aber hat für seine seelische Verletzung kein Gespür, sie geht auf das ‚Kommunikationsangebot‘ nicht ein. Ohne nach einem Grund für sein Verhalten zu fragen, etikettiert sie ihn sogleich als einen psychisch Gestörten mit einem ‚Vogel‘. Auch später haben weder die beiden noch Lena und ihre Mutter über Julius’ Erfahrungen in Auschwitz gesprochen.44 Familiär beschwiegen und tabuisiert wurde also der Erfahrungshintergrund,45 der dafür verantwortlich war, dass Julius in Marlis’ Augen als Partner nicht mehr in Frage kam und damit seine Lebensliebe verlor.46 Ein Verlust, von dem er, der lebenslange Junggeselle und Alkoholiker, sich nicht mehr erholen sollte. Über das Bild der Person am Fenster also hat Lena, die mit dem Schweigen über die Gründe für den Liebesverrat ihrer Mutter groß wurde,47 transgenerationell vermittelt an Dahlmanns traumatischen Erfahrungen teil.48 55 Jahre später –––––––— 42 43 44

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Kuckart (wie Anm. 22), S. 235. Kuckart (wie Anm. 22), S. 235. Marlis’ rituell wiederholte Zuschreibung, Julius sei „komisch“ und habe einen „Vogel“ grenzt das Thema „Auschwitz“ aus der Familienkommunikation aus und hat daher eine ähnliche Funktion wie das Schweigen. Bei beiden Formen handelt es sich um eine Kommunikationsstörung. Mit dem Unterschied freilich, dass das Schweigen bei den Familienmitgliedern bloßes Nichtwissen hinterlässt, die formelhafte Wiederholung dagegen auf eine zu füllende Leerstelle im Familiengedächtnis verweist. Ergänzend wären noch zu nennen: die öffentliche Hinrichtung, der er beiwohnen musste (vgl. Kuckart [wie Anm. 22], S. 44f.), die Scham nach 1945 beim Einwohnermeldeamt – vor der ehemaligen Geliebten des einzigen Kommunisten am Ort – zugeben zu müssen, aus Auschwitz zu kommen (vgl. Kuckart [wie Anm. 22], S. 105f.) So kontrafaktisch wie treffend heißt es dazu einmal: „Dahlmann und seine Marlis waren nur in einer unsichtbaren Ordnung füreinander bestimmt gewesen“ (Kuckart [wie Anm. 22], S. 116). Dass es sich dabei um eine paraphysikalische Ordnung bzw. um eine Geisterwelt handeln könnte, deutet Dahlmann einmal an, als er Lena gegenüber berichtet, dass ihre Mutter einmal „aus der Ecke beim Fernseher gekommen“ sei und er sich mit ihr unterhalten habe (Kuckart [wie Anm. 22], S. 264). Paradigmatisch ist der folgende Dialog über Dahlmann zwischen Lena und ihrer Mutter: „Ist er ein Freund von dir, Mama? / So etwas Ähnliches, und nur bis dein Vater kam. / Und dann? / Dann weniger. / Warum? / Darum. / Weil er so komisch ist? / Wieso ist er komisch? / Weil du das sagst. Weil alle das sagen“ (Kuckart [wie Anm. 22], S. 90). Eine sachliche Begründung geht nie über die Nennung des folgenden Zusammenhangs hinaus: „Lena fällt der Satz ein, in den für ihre Mutter der ganze Dahlmann paßte: Der hat einen Vogel, der ist ja auch in Polen gewesen“ (Kuckart [wie Anm. 22], S. 162). Die transgenerationelle Weitergabe von Traumatik vollzieht sich dadurch, dass die intrapsychisch nicht zu bewältigenden Affekte interpersonalen Abwehrkonstellationen zugeführt werden, so dass sie interaktional mit den umgebenden Personen, und da vor allem mit den Kindern, ausagiert werden. – Der Text deutet die transgenerationellen

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nun machen sich beide auf den Weg nach Oświęcim. Lena, weil sie sich, indem sie auf den Spuren von Dahlmanns Erzählungen wandelt, zugleich Aufklärung über ihre eigene Person verspricht: „Wer erzählt hat eine Frage. Hat Dahlmann seine Fragen an sie weitergegeben? Dahlmann hat noch Gepäck in O., und sie will es aufmachen. Will sehen, was Dahlmann eigentlich zu tragen hat. Das soll ihr erklären, warum ihr kleines Leben manchmal so schwer ist. Daß es schwer ist, weil es leer ist.“49 Dahlmann fährt ihr hinterher, um seine „alte Heimat“50 wiederzusehen. Enggeführt wird die beziehungsreiche Konstellation aus Erinnertem, Verdrängtem und Halb- bzw. Unbewusstem dadurch, dass Lena im Flur von Dahlmanns ehemaligem Wohnort in Auschwitz, dem früheren SS-Kasino gegenüber dem Bahnhof,51 Ludwig mit dem 24-jährigen52 deutschen Fußballtorhüter Adrian betrügt.53 Damit wiederholt sie nicht nur den Liebesverrat ihrer Mutter an Dahlmanns traumatischem Ort par excellence, sondern lässt ihre eigene Angst vor Fluren mit ihrer Sehnsucht koinzidieren, wahrhaft sich selbst zu spüren. Braucht sie doch „eine Affäre“ und „ein heimliches und ungeordnetes Leben“, „um sich lebendig zu fühlen.“54 Die Logik dieses hoch aufgeladenen, um nicht zu sagen überdeterminierten Prozesses vollzieht sich nach dem Text wie folgt: Dahlmann hatte hier gewohnt. Weil er hier gewohnt hatte, war es sein Ort. Weil sie eine Zeitlang bei ihm gewohnt hatte, hatte er erzählt. Hatte sie Bilder von diesem Ort. Deshalb war sie noch einmal hergekommen. Zuerst waren es noch Dahlmanns Bilder gewesen. Seine Erinnerungen. Daraus waren ihre geworden. Ihre schwarzweißen Erfindungen.55

Indem Lena Dahlmann zuhört und seinen Erzählungen nachlebt, werden fremde Erinnerungen auf sie übertragen. Der Text verschweigt jedoch auch nicht, „Erinnerungen“ mit „Erfindungen“ zusammenbringend, die subjektiv-produktive Komponente dieses Übertragungs- und zugleich Entwicklungsprozesses, der aus Dahlmanns über 50 Jahren zurückliegenden Erlebnissen Lenas imaginäre Erinnerungsakte entstehen lässt. Während des Geschlechtsaktes erscheinen vor ihrem geistigen Auge jene Bilder, die wahrzunehmen sich ihre Mutter zeitlebens gesträubt hatte. Der Vorgang kulminiert in einer erschreckenden Bilderserie: „Bild vier. Ein Mann, eine Frau, ein Kind, so gestapelt. Weil der Stapel so besser brennt? / Bild fünf. Danach fällt Schnee auf den Stapel. / Bild sechs. –––––––—

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mit den Kindern, ausagiert werden. – Der Text deutet die transgenerationellen Übertragungsprozesse stets nur an, ohne sie explizit zu machen. So heißt es auch zur Herkunft von Lenas ‚Fenster-Bild‘ fragend: „Aus welchem Material war das Bild gemacht? War es Erinnerung? War es nur erzählt, und später wie eigene Erinnerung erinnert, weil es so festsaß?“ (Kuckart [wie Anm. 22], S. 117). Kuckart (wie Anm. 22), S. 199. Kuckart (wie Anm. 22), S. 198. Vgl. Kuckart (wie Anm. 22), S. 222. Vgl. Kuckart (wie Anm. 22), S. 193. Vgl. Kuckart (wie Anm. 22), S. 192–195. Kuckart (wie Anm. 22), S. 198. Kuckart (wie Anm. 22), S. 194.

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Dann Schnee auf Schnee.“56 Der Höhepunkt ist also keiner der rein leidenschaftlichen Lusterfüllung, sondern verknüpft mit Vorstellungen des Menschenvernichtungsgeschehens und – der Schnee steht wohl symbolisch für das Übertünchen und Unsichtbarmachen – des Vergessenwollens desselben. Um im Bild zu bleiben: Lena bringt den Schnee, der auf Dahlmanns Vergangenheit lastet und den ihre Mutter unangetastet ließ, zum Schmelzen. Gleichwohl bleibt der Vorgang ambivalent. Einerseits könnte man sagen, dass sie damit in demselben „Hausflur“57, in dem Dahlmann sich als Kind nach seiner Schreckenserfahrung verkroch, ihre Treue zu Ludwig opfert, um diejenigen traumatischen Geschehnisse aus Dahlmanns Auschwitzer Kindheit nachzuvollziehen (Konfrontation mit dem Menschenvernichtungsgeschehen), die ihre Mutter zeitlebens systematisch ausblendete – also die von ihrer Mutter verweigerte Empathie als transgenerationell Traumatisches erinnert und narrativ erschließt. Andererseits ließe sich aber auch argumentieren, dass es sich – gerade weil sie sich eher widerwillig einem von ihr nicht geliebten Mann hingibt – bloß um eine dissoziative „Pseudo-Identifikation mit den Opfern“ handelt (es erscheinen ja nur schlaglichtartige, von ihrem Selbst abgespaltene Vorstellungsbilder), die eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Tätern ebenso vermeidet wie sie sich „vor einer Empathie und Perspektivenübernahme mit den Opfern der NaziVerfolgung“ schützt.58 Dabei weist der Ort, also der Flur, nicht nur eine persönliche Beziehung zu Dahlmann auf, sondern auch eine metonymische Verbindung zu dem Zivilisationsbruch der Nazis. Lena hat „ihr Leben lang Angst vor Fluren gehabt und es sich nicht erklären können.“59 Ein Flur ist für Lena „ein Raum zwischen den Räumen.“60 Mit der gleichen Bestimmung argumentiert sie an anderer Stelle dagegen, dass das Lagergelände von Auschwitz als Museum genutzt wird: Es soll ein Raum zwischen den Räumen bleiben dürfen, den nur Tote betreten […] Man muß einen Zaun ziehen um den Zaun, der schon da ist […], um den Ort als unbegreiflichen Raum stehen zu lassen. Er gehört uns nicht. Auch die Haare in den Vitrinen, auch die nicht. Der Ort soll mit sich allein bleiben und vergehen dürfen. Er soll alles dürfen, vor allem vergehen. Damit er weiter leben kann.61

Lenas Vorschlag erinnert an den einer Gruppe polnischer Architekten und Bildhauer unter der Leitung von Oskar und Zofia Hansen. Ende der fünfziger Jahre –––––––— 56 57 58

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Kuckart (wie Anm. 22), S. 195. Kuckart (wie Anm. 22), S. 235. Rosenthal, Gabriele: Familien von Nazi-Tätern und Mitläufern in West- und Ostdeutschland. Nationalsozialismus und Antisemitismus im intergenerationellen Dialog, in: Rosenthal (wie Anm. 2), S. 345–356; hier S. 353. – Dieser Argumentation zufolge wird das Trauma von Lena nicht durchgearbeitet, sondern nur metonymisch verschoben und damit perpetuiert. Kuckart (wie Anm. 22), S. 192. Kuckart (wie Anm. 22), S. 80. Kuckart (wie Anm. 22), S. 160f. Ein weiterer metonymischer Bezug des Flurs zu dem Genozid der Nazis besteht in Lenas Ansicht, „Züge seien ein fahrender Flur“ (Kuckart [wie Anm. 22], S. 150).

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schlugen sie vor, das Lager zu verschließen. So sollte der unüberschreitbaren Kluft zwischen den über einer Millionen Toten und den Lebenden Ausdruck verliehen und eine Vereinnahmung der Lagerruinen verhindert werden. Über 40 Jahre später nun richtet sich Lenas Vorschlag auch gegen einen schablonierten Gedenkstättentourismus, der vorschnell unterstellt, „daß die Lebenden den Schritten der Opfer nachgehen, ihre Erfahrungen verstehen oder ihr Gedächtnis teilen könnten.“62 Lenas Flurangst hat also eine (erinnerungs-)politische und eine private Dimension. Die im Text gestellte Frage: „Hatte sie durch Dahlmanns Flur bis vor eine eigene, verschlossene Tür geraten wollen?“63, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine rhetorische. Lena überwindet in diesem Fall die traumatische Besetzung des Flurs, um die Tür zu ihrer familiären Vergangenheit aufzustoßen und damit auch ein Stück weit ein ihr unbekanntes Selbst zu erkennen. „[D]as von früher, das geht nicht mehr,“64 lautet ein von Ludwig mehrfach geäußerter Schlüsselsatz des Romans. Während Ludwig damit ganz pragmatisch die Zeitverhaftetheit des menschlichen Daseins akzentuiert, bedeutet das für Lena, dass sie durch die Aufklärung des transgenerationellen Übertragungsprozesses eine neue Stufe in ihrem Selbstverständnis erreicht hat. Ist ihrem Leben doch die Liebesunfähigkeit und – zumindest indirekt – der Holocaust eingeschrieben, da sie ihr Dasein der Zurücksetzung Dahlmanns durch ihre Mutter verdankt. Dahlmann repräsentiert für Lena den – bislang uneingelösten – Anspruch auf authentische Liebe; dieser Anspruch korreliert mit der Einlösung der von der Mutter verschwiegenen Erinnerungsschuld, anders gesagt, mit dem Lüften des Familiengeheimnisses. Die Tatsache, dass ihre Mutter aufgrund mangelnder Empathie gegenüber der traumatischen Erfahrungen Dahlmanns ihre Liebesbeziehung zu ihm aufkündigte und dies lebenslang verschwieg, macht Lena ihre Destruktivität in Liebesverhältnissen transparent. Kurz bevor sie in Berlin-Kreuzberg Ludwig wiedersehen wird, träumt Lena, wie sie im Auto und Ludwig auf einem Motorrad aufeinander zurasen. „Sie muß sich entscheiden“, fordert der Text, „für eine der beiden Möglichkeiten von Liebe. Beschützen oder töten.“65 Zumindest weiß sie nach ihrer in Polen erfolgten Selbstaufklärung, warum ihr bisheriges Leben von der Ambivalenz aus Lieben und Zerstören bestimmt wurde und nun in eine Entweder-OderEntscheidung überführt werden muss. Wie sich Lena in Bezug auf Ludwig entscheidet, erfährt der Leser nicht. Der Roman endet offen mit Ludwigs Frage: –––––––— 62

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Pelt, Robert Jan van u. Debórah Dwork: Auschwitz. Von 1270 bis heute. Zürich 1998, S. 414. – Vgl. zu Lenas Bedenken gegenüber einer Lager-Gedenkstätte, die Konservierung mit Authentizität gleichsetzt Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 334: „Der Hiat zwischen dem Ort der Opfer und dem der Besucher muß sinnfällig gemacht werden, wenn das affektive Potential, das der Erinnerungsort mobilisiert, nicht zu einer ‚Horizontverschmelzung‘ und illusionären Identifikation führen soll.“ Kuckart (wie Anm. 22), S. 230. Vgl. Kuckart (wie Anm. 22), S. 69, 76, 172. Kuckart (wie Anm. 22), S. 301.

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„Weißt du, was mir fast passiert wäre?“66 Damit schließt er mit einem Votum für das Erzählen. Zugleich dementiert er die Haltung des in Oświęcim praktizierenden deutschen Priesters Richard Franzen, der Lena einmal anschreit: „Was hier geschehen ist, ist schlimm genug. Darüber brauchen wir keine Romane.“67 Lenas Liebe dagegen plädiert angesichts der Verbrechen von Auschwitz und deren Beschweigen eindeutig für das Erzählen und seine therapeutischkathartische Wirkung, die sich an Dahlmann und Lena studieren lassen. „Wer erzählt, hat eine Frage.“68 Wer erzählt, der – um das Mindeste zu sagen – verbindet und gibt dem Ungeordneten eine Ordnung. „Alle Geschichten […], alle Geschichten gehören irgendwie zusammen.“69 Der Roman ist die Antwort auf die Frage, wie die vermeintlich unzusammenhängenden Geschichten einer desillusionierten Schauspielerin mit der Kindheitsliebe ihrer Mutter „irgendwie zusammengehören“. Wie erfährt der Leser freilich erst, wenn er sich darauf einlässt, die in die Familiengeschichte der Protagonistin hineinwirkenden traumatischen Geschichtserfahrungen bewusst zu machen. Also genau das entgegengesetzte Verhalten von Lenas Mutter an den Tag legt, die sich zeitlebens mit Abwehrmechanismen wie Beschweigen oder Nichtwissenwollen begnügte.

II. Transgenerationeller Extremismus – Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land (2003) Die Bücher des 1952 in Stuttgart geborenen und seit 1985 für das GoetheInstitut tätigen Essayisten und Romanciers Stephan Wackwitz verdanken sich zu einem Großteil seinen langjährigen Auslandsaufenthalten. An sein literarisches Debüt Walkers Gleichung (1995), einen satirischen Kolportageroman über die im Auslandsdienst tätige deutsche (Kultur-)Diplomatie, schließt er mit Ein unsichtbares Land insofern an, als erneut eine Tätigkeit im Ausland den Ausgangspunkt bildet. 1999 geht der Ich-Erzähler nach Krakau, um dort „ein paar Jahre lang zu arbeiten.“70 Die zunächst einmal eine rein geographische Nähe zu dem „Ort des Jahrhundertverbrechens“71 wird zum Anlass für eine familiengeschichtliche Tiefenbohrung, deren Gravitationszentrum in der Gegend um Auschwitz liegt.72 Der Erzähler versucht im Rahmen eines breit angelegten Selbstaufklärungspro–––––––— 66 67 68 69 70 71 72

Kuckart (wie Anm. 22), S. 303. Kuckart (wie Anm. 22), S. 284. Kuckart (wie Anm. 22), S. 199, 221. Kuckart (wie Anm. 22), S. 83. Wackwitz, Stephan: Ein unsichtbares Land. Familienroman. Frankfurt a. M. 2003, S. 34; vgl. ferner S. 178. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 10. Bereits der erste Satz liefert das für den Roman maßgebliche Stichwort: „Im neunzehnten und noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein hat es in der Gegend um die alte galizische Residenzstadt Auschwitz viel gespukt“ (Wackwitz [wie Anm. 70], S. 7).

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zesses zu verstehen, inwiefern der eigene Hang zum Linksextremismus, dem er sich als Post-68er in den 1970er Jahren hingegeben hat,73 letztlich einem Familienzusammenhang entspringt, der einiges mit der „welthistorischen Gespensterlandschaft“74 zu tun hat, in die er nun geraten ist. Der deutschnational gesinnte Großvater des Ich-Erzählers war zwischen 1921 und 1933 Pfarrer der deutschen Gemeinde im „damals schon polnischen Ort“75 Anhalt, knapp zehn Kilometer nördlich von Auschwitz. 1921 wurde dort der Vater des Ich-Erzählers geboren. 1933 dann zog die Familie ins ehemalige Deutsch-Südwestafrika. Obwohl der Großvater nach dem Krieg die gesamte – inzwischen in Stuttgart ansässige – Familie beständig mit seinen Memoiren versorgte, wurde Auschwitz in den Familienerzählungen nie erwähnt. „Sie haben nie darüber gesprochen, dass der Schauplatz ihrer Kindheit und der Ort des Jahrhundertverbrechens einen längeren Spaziergang und ein knappes Jahrzehnt voneinander entfernt sind.“76 Während der Ich-Erzähler für das Verhalten der Elterngeneration sogar noch Verständnis aufbringt – „Vielleicht haben sie nicht darüber nachdenken wollen. Jeder Mensch hat ein Recht auf eine geschichtslose Kindheit“77 –, gilt dies nicht für seinen Großvater, der zwischen „1964 und 1965 […] seine Erinnerungen an Anhalt und Auschwitz niederschrieb,“78 also genau zu jener Zeit, als in Frankfurt die Auschwitz-Prozesse stattfanden.79 Das schwarze Loch in der Geschichte des Jahrhunderts hatte zu Beginn der sechziger Jahre die geographische Lage des Ortes in sich hineingerissen und zugleich war in die Gespräche unserer Familie ein kleines, bedeutsames Schweigen eingeschleppt worden. Je deutlicher der Gesellschaft um uns wurde, auf welches Ereignis sich dieses Schweigen bezog, desto umfassender hat es sich unter uns ausgebreitet, desto mehr Themen und Gegenstände, Personen und Orte wurden von ihm erfasst – bis wir offenbar nur noch unter Einhaltung strenger Regeln, Sicherheitsabstände und Rituale überhaupt über etwas reden konnten.80

Die Kommunikation zwischen dem „Familienoberhaupt“81 und dem Enkel ist in mehrfacher Hinsicht gestört. So spricht der Ich-Erzähler vom „familiären –––––––— 73

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Ausführlich legt er seinen eigenen Werdegang in dem mit der Gattungsbezeichnung „Bildungsroman“ versehenen Folgeroman dar: Wackwitz, Stephan: Neue Menschen. Frankfurt a. M. 2005. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 34. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 8. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 10f. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 10f. – Mit dem „Recht auf eine geschichtslose Kindheit“ kann Wackwitz sinnvollerweise nur meinen – denn im menschlichen Dasein gibt es kein geschichtsloses Gelände – , dass das naive, von der historisch-politischen Dimension unbelastete kindliche Bewusstein auch in der späteren Erinnerung der Erwachsenen an diese Phase nicht durch nachträgliches Wissen korrumpiert, sondern ungestört beibehalten wird. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 139. Vgl. zur Dehumanisierung der Opfer durch das Schweigen der Tätergeneration im transgenerationellen Tradierungsprozess Rosenthal, Gabriele: Familien von Nazi-Tätern und Mitläufern in West- und Ostdeutschland. Nationalsozialismus und Antisemitismus im intergenerationellen Dialog, in: Rosenthal (wie Anm. 2), S. 345–356; hier S. 348. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 148. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 20.

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Totstellreflex,“82 der „trotzige[n] Schweigsamkeit“83 und „den familiären Erstarrungszuständen meines Großvaters,“84 wofür er vor allem die Tatsache verantwortlich macht, dass dieser „1939 für den Rest seines Lebens ein Schiffbrüchiger geworden war und mit dem Land, in dem er lebte, so wenig anfangen konnte wie mit seinem Enkel.“85 Der Großvater erkannte selbst, dass seine Person „geschichtlich erklärungsbedürftig“86 wurde, weshalb er begann, seine Lebensgeschichte ausführlich zu beschreiben und zu erläutern, „allerdings nicht mündlich, sondern mithilfe eines ausgedehnten schriftlich-literarischen Unternehmens.“87 Dieses familiäre Schweigen, zugleich (dissoziatives) Verleugnen der ungeheuerlichen Faktizität des Geschehens und Ausdruck eines Verlangens, sich vor der Gegenwart und ihren Ansprüchen abzukapseln, führte bei der Enkelgeneration nicht nur zur persönlichen Ablehnung, sondern auch zu einem „dramatischen Autoritätsverlust.“88 Anfänglich beschäftigt den Enkel noch die Ablehnung seines Großvaters, später kommentiert er, der zunehmend „maulfaul und vage aufsässig neben ihm am Frühstückstisch saß,“89 dessen immer geringer werdenden Einfluss auf ihn desillusioniert mit: „Mein Erwachsenwerden verdarb ihm die Laune.“90 Sukzessives Desinteresse und Ignoranz steigern sich wechselseitig bis zu einem intergenerationellen Kommunikationsfiasko. Der Enkel verbittet sich energisch Ratschläge wie denjenigen, den Abiturienten „zum Eintritt in eine möglichst nationale und […] natürlich notwendigerweise auch schlagende Studentenverbindung zu überreden,“91 der Großvater wirft dem Enkel „Transusigkeit“92 vor. Der Vorwurf der Transusigkeit attestiert dem Enkel nicht allein eine gewisse Lebensuntauglichkeit, sondern auch, indem dieser die Fremdzuschreibung als zutreffend akzeptiert,93 dass seine massive Ablehnung des Großvaters zugleich als eine starke Bindung zu verstehen ist, die sich in Selbsthass ausdrückt.94 Darein spielt auch das Erfahrungsungleichgewicht, das die zweite oder dritte –––––––— 82 83 84 85 86 87 88

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Wackwitz (wie Anm. 70), S. 19. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 24. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 21. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 26. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 25. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 25. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 29. – Hier scheint die These auf, dass die Revolte der 68er gegen die Eltern und Großeltern nicht zuletzt auf deren Schwäche zurückgeht bzw. auf deren Verdrängung und Nicht-ernst-Nehmen der zeitgenössischen Wirklichkeit. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 47. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 24. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 58. Vgl. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 55. Vgl. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 55f.: „Die Transusigkeit, ein eigentümlicher und mir selber sehr unangenehmer und peinlicher Zustand aus Gelähmtheit, resignierter Subordinationsbereitschaft, zugleich aber Insuffizienz, Verträumtheit, Scham und unterdrückter Auflehnung, die alles nur noch schlimmer macht, überfiel mich angesichts meines Großvaters und seiner Erwartungen regelmäßig.“ Traumata greifen „an einer ‚Sollbruchstelle‘ der individuellen Persönlichkeit an“ (Fischer [wie Anm. 15], S. 18) und stellen die Autonomie der Person, d. h. deren Entscheidungsund Handlungsfreiheit sowie Selbstbestimmtheit in Frage.

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das die zweite oder dritte Generation angesichts der tiefgreifenden historischpolitischen Erfahrungen der Kriegserlebnisgeneration als kollektives Unbehagen (an der mangelnden ‚Authentizität‘ des eigenen Daseins), um nicht zu sagen als ein strukturelles Minderwertigkeitsgefühl empfindet.95 Am Ende herrscht zwischen den beiden Familienmitgliedern eine „monumentale Verhältnislosigkeit,“96 kulminierend in einem „Na ja“97, womit der Großvater nach der Prüfung der Freundin des inzwischen über zwanzig jährenden Enkels sein Urteil spricht.98 Das Schweigen über den Holocaust und die „deutschnationale Behinderung“99 seines Großvaters übten, was dem Ich-Erzähler erst viel später transparent werden sollte, einen fatalen Einfluss aus.100 Dadurch erklärt er sich retrospektiv seine Sympathien für den Linksextremismus in den 70er Jahren, seinen „Flirt[] mit dem anderen Totalitarismus.“101 Die ideologische Verhärtung basierte auf einem pauschalierten Schuldurteil über die Kriegserlebnisgeneration, die für den Holocaust stand, während man sich selbst mit den Opfern identifizierte.102 Die 68er-Generation reagierte demnach auf die Essentialisierung des Nationenbegriffs, die vorhergehende Generationen vorgemacht hatten, mit –––––––— 95

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Vgl. z. B. Braun, Christina von: Stille Post. Eine andere Familiengeschichte. Berlin 2007, S. 16: „Manchmal habe ich den Eindruck, als gäbe es in meiner Generation [die Autorin ist Jahrgang 1944; M. O.] eine Art von Neid auf die existenziellen Erfahrungen, die diese Generationen haben machen müssen.“ Wackwitz (wie Anm. 70), S. 56. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 158. Vgl. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 158: „Schließlich ist dieses ‚Na ja‘ so etwas wie sein Vermächtnis an mich geworden. Es waren, zumindest für mich, seine letzten Worte. Denn er ist im gleichen Jahr noch gestorben, ohne dass ich ihn wieder gesehen hätte.“ Wackwitz (wie Anm. 70), S. 175. Die empirische Biographieforschung macht auf die massiven „psychischen Konsequenzen“ aufmerksam, die die Abwehr der Familienvergangenheit für die Nachgeborenen haben kann: „Die Abwehr bei der Aufdeckung der Familiengeschichte führt keineswegs zur Ablösung von der Familienvergangenheit; sie hält Kinder und Enkel vielmehr an die problematischen Anteile der Familiengeschichte gebunden und blockiert damit die Autonomieentwicklung“ (Rosenthal, Gabriele: Familien von Nazi-Tätern und Mitläufern in West- und Ostdeutschland. Nationalsozialismus und Antisemitismus im intergenerationellen Dialog, in: Rosenthal [wie Anm. 2], S. 345–356; hier S. 353.). – Für „die Theoriegeschichte des ‚Traumas‘“ zählt Sigrid Weigel (wie Anm. 18), S. 58, „die Tatsache, daß in der Nachgeschichte von Auschwitz die Effekte traumatischer Erlebnisse sich nicht nur auf Seiten der Überlebenden, sondern auch auf Seiten der Täter und ihrer Nachgeborenen fortzeugen, zu einem der provozierendsten Einschnitte.“ Wackwitz (wie Anm. 70), S. 233. – Traumatheoretisch handelt es sich dabei um eine posttraumatische Reaktion in Form eines leidenschaffenden Ausagierens von reaktiven Aggressionsübertragungen als destruktive Wiederholungsdynamik. Wackwitzens IchErzähler steht im unbewussten transgenerationellen Schatten seines Großvaters, in einem Gegenübertragungsverhältnis. So wird vor dem Hintergrund der im gesellschaftlichen Leben und der Familie allenthalben wirksamen Verleugnung des Holocausts der intellektuelle Extremismus und die Haltung der Subversion nachvollziehbar. Vgl. Wackwitz (wie Anm. 70), S. 258–260, 267, stellvertretend für die 68er-Generation die von Wackwitz geschilderten Juden- und Opferphantasien Rudi Dutschkes.

„Monumentale Verhältnislosigkeit“

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einem spiegelbildlichen Radikalismus, als sie Auschwitz ihrerseits zur negativen Identität der BRD umformte: Das Geheimnis meiner eigenen Zukunftslosigkeit zu Beginn der siebziger Jahre jedoch scheint mir […] verborgen zu liegen […] in jenem gespenstischen Landstrich zwischen Weichsel und Sola, zwischen Karpaten und Sumpf, zwischen Kattowitz und Auschwitz.103

Die maßgebliche Einsicht des Ich-Erzählers besteht darin, dass der sprachlose Kampf zwischen den Generationen letztlich nichts anderes war als die transgenerationelle Übertragung eines politischen Extremismus, der auf einer Essentialisierung der (negativen) Identität der Nation basiert. Erst die politische Wende 1989 bzw. die Wiedervereinigung Deutschlands machten den Weg frei für eine ‚Normalisierung‘ des Nationalverständnisses und eine unbefangenere Wiederaneignung der Geschichte. Im Zuge dieser Veränderungen hat sich der IchErzähler vom Utopiker der 1970er Jahre zum Pragmatiker des neuen Jahrtausends gewandelt.

III. Literarisches Ausagieren psychodramatischer Generationskonflikte Durch das Schweigen der Familienmitglieder aus der Kriegserlebnisgeneration werden psychotraumatische Geschichtserfahrungen transgenerationell weitergegeben und durch groß angelegte narrative Erinnerungsrekonstruktionen eingeholt, reflektiert und – und zum Teil auch – durchgearbeitet. Judith Kuckart führt vor, wie der über traumatische Holocaust-Erfahrungen vermittelte und familiär beschwiegene Liebesverzicht der Mutter ein Syndrom aus Unfähigkeit zu authentischer Liebe und Behinderung in der Autonomieentwicklung bei der Tochter hervorruft. Stephan Wackwitz entfaltet, wie die Transusigkeit als nichtintendierte Abwehrhaltung eines Nachgeborenen den großväterlichen Extremismus – in jetzt gewendeter Gestalt – wiederholt. Bei Wackwitz handelt es sich um ein vom Ich-Erzähler vorgenommenes intellektuelles und narratives Durcharbeiten von traumatischer (Geschichts-)Erfahrung; bei Kuckart hingegen bleibt offen, wie sehr das transgenerationelle Trauma auch zu einer therapeutischen Bewältigungsleistung bei der Hauptfigur Lena beiträgt. Sigrid Weigel mahnte bereits vor einigen Jahren an, dass es an der Zeit sei, die Philosophie über das Schweigen, über die Lücke und die Zäsur durch Lektüren und Deutungen der diskursiven und literarischen Erinnerungen und der vielfältigen Symbolisierungsweisen im Gedächtnis der Nachgeschichte abzulösen.104

Die Konjunktur der Familienromane nun lässt sich auch verstehen als ein Aufbegehren gegen die Deutungshoheit der Zeitzeugengeneration und die Übermacht der politisch dominierten Erinnerungskultur. Die Enkelgeneration tritt an, –––––––— 103 104

Wackwitz (wie Anm. 70), S. 59. Weigel (wie Anm. 18), S. 71.

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Michael Ostheimer

ihre Sichtweisen auf die NS-Vergangenheit und deren Nachwirkungen einzufordern. Dass dabei wie bei der 68er-Generation und der Väterliteratur Kommunikationsprobleme zwischen den Generationen im Vordergrund stehen, verwundert ebenso wenig wie die Betonung von transgenerationellen Übertragungsmechanismen. Letztere anzuerkennen ist gleichbedeutend mit der ambivalenten Erkenntnis, als Nachgeborene des Holocausts zu einem gewissen Teil fremdbestimmt und – durch die dadurch resultierende verminderte Selbstbestimmung – zugleich entlastet zu sein. Dieser Befund hat, wenn man z. B. so weit geht wie Wackwitz, der seinen Ich-Erzähler zum transgenerationell vermittelten Opfer eines sozialpsychologischen Wiederholungszwangs stilisiert, nicht zuletzt eine gewisse vergangenheitspolitische Brisanz. Der neue deutsche Familienroman ergänzt das kulturelle Gedächtnis nicht nur um zahlreiche familiengeschichtliche Binnenperspektiven, er verändert es dadurch auch.

Ralf Schlechtweg-Jahn

Natur- und Kulturbilder zwischen Epochenbruch und Umbesetzung

1. Vorüberlegungen Natur und Kultur sind keine vorgegebenen Wesenheiten, sondern gesellschaftliche Konstrukte, die einen geordneten und ordnenden Zugriff auf die Welt erlauben, und wie alles Gesellschaftliche dem Wandel unterworfen sind.1 Die moderne Unterscheidung Natur-Kultur, die sich auch in der Zweiteilung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften niederschlägt, kann nicht so ohne weiteres auf ältere Zeiten und andere Gesellschaften übertragen werden.2 Es liegt daher nahe, sich dem Begriffspaar Natur/Kultur historisch anzunähern, um so Aufschluss über seine Ausdifferenzierung und Entwicklung zu gewinnen. Es ist dabei letztlich nicht möglich, über die Naturbilder einer Gesellschaft zu sprechen, ohne auch ihre Kulturbilder in den Blick zu nehmen, sind beides doch Differenzvorstellungen, die sich wechselseitig bedingen. Na–––––––— 1

2

Mittlerweile ist diese Feststellung natürlich eine kulturwissenschaftliche Selbstverständlichkeit, wenn auch keineswegs immer so konsequent befolgt wie behauptet. Methodisch orientieren sich die folgenden Überlegungen im Wesentlichen an Luhmanns System- und Foucaults Diskurstheorie. Leider ist hier nicht der Ort, um die erkenntnistheoretischen Probleme der Natur- und Kulturbegrifflichkeit auch nur annähernd erschöpfend zu diskutieren. Vgl. zur Einführung in die Problematik Oldemeyer, Ernst: Entwurf einer Typologie des menschlichen Verhältnisses zur Natur, in: Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, hg. v. Götz Grossklaus u. Ernst Oldemeyer. Karlsruhe 1983, S. 15–42. „‚Natur und Kultur‘, das Begriffspaar [...] ist dem Mittelalter unbekannt“; Grubmüller, Klaus: Nature ist der ander got. Zur Bedeutung von nature im Mittelalter, in: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997, hg. v. Alan Robertshaw u. Gerhard Wolf. Tübingen 1999, S. 3–17; hier: S. 3. Der Begriff natûre oder natura ist im Mittelalter wesentlich auf die Schöpfung bezogen, und damit ist dann kein dem Menschen Äußerliches oder Gegensätzliches gemeint. Versteht man jedoch mit Luhmann Gott als ein Verfahren, Paradoxien im Dieseits durch Verlagerung in die Transzendenz aufzuheben (vgl. Luhmann, Niklas: Die Religion der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling. Frankfurt a. M. 2002, bes. S. 147ff.), zeigen die begrifflichen Bemühungen um den Begriff der natura auch für das Mittelalter mehr an Gegensätzlichkeit, als es mit Blick auf die theologische Diskussion zunächst scheinen mag. Dies gilt umso mehr für die weltliche Dichtung, die nicht einfach theologische Debatten und Begrifflichkeiten weiterführt, sondern ‚Natur‘ in vielfältiger, und eben durchaus auch gegenbildlicher Weise verwendet. Zum mittelalterliche Naturbegriff und seinen Wandlungen vgl. Zimmermann, Albert u. Andreas Speer (Hgg.): Mensch und Natur im Mittelalter. 2 Bde. Berlin u. New York 1991 (Miscellanea Medievalia 21), sowie Groh, Dieter u. Ruth: Zur Kulturgeschichte der Natur. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1991/1996.

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Ralf Schlechtweg-Jahn

tur- und Kulturbilder sind ein wesentlicher Teil des kulturellen Gedächtnisses, und unterliegen kulturellem Wandel. In einer stratifikatorischen Gesellschaft3 wie der mittelalterlichen wird dabei mit einer umfassenden Segmentierung der Konzepte und Weltbilder zu rechnen sein, so dass man konsequenterweise nicht nur von den Kulturen, sondern auch von den Naturen des Mittelalters sprechen muss. Mir scheint aber, dass gleichsam unter der Schwelle des rationalistischen Naturverständnisses der Moderne viele mittelalterliche Naturbilder in veränderter Form sehr wohl weiterexistieren, und auch in unserer funktional organisierten Gesellschaft die Naturbilder vielfältiger sind, als das Selbstbild der Moderne wahrzunehmen geneigt ist. Die Prozesse des Wandels solcher Natur- und Kulturbilder sind natürlich komplex und umfassen sowohl diskursive Ereignisse wie auch neue Naturerfahrungen durch Veränderungen im „Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur“4 in Frühkapitalismus und Kolonialismus. Denn so sehr Natur und Kultur auch gesellschaftliche-diskursive Konstrukte sein mögen, sind sie dennoch nicht beliebig und schon gar nicht frei und willentlich formbar, sondern entwickeln sich maßgeblich sowohl auf der Basis eines konkreten, praktisch-alltäglichen Umgangs mit ihnen, bei dem Natur und Kultur einen gehörigen, praktischen wie diskursiven Eigensinn entwickeln können, wie auch einer langen Geschichte von Weltbildwandeln, die gleichsam das symbolische Material für neue Weltbilder bereitstellt. –––––––— 3

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Luhmann versteht darunter Gesellschaften, die sich in Form hierarchisch voneinander abgeschlossener Gruppen organisieren, wie beispielsweise die mittelalterliche Feudalgesellschaft. Die Kontakte zwischen den relativ autonomen Teilgruppen sind eher punktuell, und der einzelne Mensch ist wesentlich auf seine Gruppe bezogen, weshalb auch jede Gruppe in der Gesellschaft tendenziell eigene Weltbilder entwirft. Die Moderne sieht Luhmann hingegen von einer funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft bestimmt, wonach Systeme sich wesentlich nach Funktionen – Wirtschaft, Recht, Erziehung, Familie, Religion etc. – organisieren. Der einzelne Mensch nimmt dabei stets eine Vielzahl von Funktionen war, weshalb seine Weltbilder auch nicht mehr durch eine spezifische Gruppenzugehörigkeit bestimmt sind. Stratifikatorische Gesellschaften erlauben das Nebeneinander verschiedener, gruppenbezogener Weltbilder, funktionale hingegen sind tendenziell auf eine Vereinheitlichung von Weltbildern angewiesen, um die funktionale Spaltung nicht zu einer Zerreißprobe für die Gesellschaft werden zu lassen. Eine stratifikatorische Gesellschaft erfordert also vom einzelnen Menschen eine relativ starre Einbindung in Gruppenzwänge, erlaubt aber andererseits eine immense Variabilität in ihren Weltbildern. Eine funktionale Gesellschaft hingegen erlaubt dem Individuum sehr viel mehr an Wahl- und Entscheidungsfreiheit, zahlt dafür aber den Preis einer Vereinheitlichung von Weltbildern, sichergestellt vor allem durch ein einheitliches Erziehungssystem und Massenmedien, bis hin zu politischer Propaganda und Ideologie. (Eine einzige Referenz zu nennen ist nicht einfach, da Luhmann sein Modell an vielen Stellen vorstellt, erläutert und entwickelt. Grundsätzlich siehe Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1987; nützlich ist auch Baraldi, Claudio u. a.: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a. M. 1999.) Mit dieser bekannten Formulierung beschreibt Marx die in allen Gesellschaften naturnotwendige Arbeit zur Erhaltung der Existenz des Menschen und damit auch seiner Gesellschaftlichkeit; Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie 1. Berlin (DDR) 1979 (MEW 23–25), S. 57.

Natur- und Kulturbilder zwischen Epochenbruch und Umbesetzung

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Mittelalterliche Natur- und Kulturvorstellungen sind sehr vielfältig, entsprechend schwierig ist eine weit gefasste Übersicht. Ich werde im Folgenden vor allem die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Alexanderromane als Textbasis heranziehen. Literatursoziologisch betrachtet bewegt man sich dabei wesentlich in einem höfisch-adligen Umfeld. Die Alexandertradition reicht aber weit in die Antike zurück, weshalb die höfischen Adaptionen immer auch eine Menge an Material enthalten, das man in den eigentlichen höfischen Romanen so kaum findet. Vor allem die Berichte Alexanders aus Indien hatten im Mittelalter wohl immer auch den Status von Reiseberichten, und zumindest dieser Teil des Romans gehört deshalb auch zu den mittelalterlichen Naturbüchern.5 Darüber hinaus ist Alexander durch seine Einbindung in das Modell des Weltreichewechsels, der translatio imperii, auch von geschichtlichem Interesse, und damit mehr als Fiktion.6 Die Hauptfigur des im Dienste Gottes tätigen Heiden wiederum öffnet den Stoff einem religiösen bzw. theologischen Interesse, weshalb es beispielsweise eine Kurzfassung des Romans im Großen Seelentrost, einer spätmittelalterlichen Dekalogauslegung, gibt.7 Kurzum, der Alexanderroman ist, trotz seiner höfischen Verankerung, so etwas wie eine Diskursschnittstelle und für die Untersuchung mittelalterlicher Natur- und Kulturvorstellungen deshalb hilfreich.8 Cum grano salis scheint es mir möglich, im Alexanderroman neun verschiedene Naturbilder zu unterscheiden:

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Vgl. Borst, Arno: Das Buch der Naturgeschichte. Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments. Heidelberg 1994 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse 1). Vgl. Goez, Werner: Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tübingen 1958; neuerdings Krämer, Ulrike: Translatio imperii et studii. Zum Geschichts- und Kulturverständnis in der französischen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bonn 1996 (Abhandlungen zur Sprache und Literatur 98). Vgl. Ehlert, Trude: Deutschsprachige Alexanderdichtung des Mittelalters. Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte. Frankfurt a. M. 1989 (Europäische Hochschulschriften I/1174), S. 202f. „Der zweite Teil des Epos kann [...] in einer Reihe von Szenen als Dialog zwischen Kulturanspruch und Naturverhältnis gelesen werden, der in seinen verschiedensten, mitunter nicht kompatiblen Facetten entfaltet wird. Sogar als Polylog über verschiedene Bezugsformen von Natur und Kultur lässt sich der zweite Teil auffassen“. „Der Alexanderroman thematisiert damit einen Problemzusammenhang, den auch der höfische Roman wiederholt aufnehmen wird: Es ist der Versuch, sich des eigenen kulturellen Standpunkts zu vergewissern gegenüber einer allenthalben erfahrbaren widrigen Natur“; Friedrich, Udo: Überwindung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander, in: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung im Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. Wolfgang Harms u. C. Stephen Jaeger. Stuttgart 1997, S. 119–136; hier: S. 120. Ebenso aber auch gegenüber einer amoenen Natur, wie zu zeigen sein wird.

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Ralf Schlechtweg-Jahn

2. Naturbilder 2.1. Wunschnatur Bilder einer höfisierten Wunschnatur finden sich natürlich in der gesamten höfischen Literatur zuhauf, und so auch im Alexanderroman, und zwar vor allem in der Fassung Ulrichs von Etzenbach. Wesentlich daran scheint mir die Übereinstimmung von Natur- und Kulturbeherrschung zu sein. Ebenso gesittet und gewaltfrei wie der Hof agiert, ist auch die Natur organisiert, in der dieser Hof stattfindet. Der locus amoenus ist gekennzeichnet durch eine Maiwiese o. ä., einen Garten,9 in jedem Fall durch die Abwesenheit von Wildnis und bedrohlichen Wesen. Hier gibt es keine Hinterhalte, keine überraschend hervorbrechenden Gefahren, alles ist offen und übersichtlich, zugänglich und für Männer wie Frauen zu jedem Zeitpunkt begehbar. Die frühe Moderne hat solche Naturbilder auch in Gestalt kontrollierter Gartenanlagen fortgeschrieben, die sich dann im strengen Barockgarten des Absolutismus zur Herrschaft des Fürsten über die Natur wandeln.10 Von einer solchen Herrschaft über die Natur kann allerdings in der mittelalterlichen Literatur noch nicht die Rede sein, der locus amoenus ist im Allgemeinen einfach da, und nicht geschaffen. Aus der Sicht des Höfischen zerfällt die Welt in zwei Teile, einen höfischen und einen unhöfischen, und diese Unterscheidung gilt sowohl im Kulturellen wie in der Natur. Die höfische Kultur macht sich in solchen Bildern selbst zu etwas Natürlichem, und damit auch Gottgewolltem, das seinen Platz in der göttlichen Ordnung hat. In der Straßburger Fassung des Alexanderromans Lamprechts11 findet sich eine Variante dieses Themas, nämlich der Garten mit den Blumenmädchen. In der Blumenmädchenepisode steht weniger eine im engeren Sinne höfische, als vielmehr eine schlaraffische Vorstellung12 von Natur im Vordergrund. In diesem Garten wachsen wunderschöne Frauen wie Blumen auf Bäumen, denen man sich eine ganze Saison lang in jeder Hinsicht widmen kann und die dann im Herbst folgenlos verwelken und sterben.13 In diesem höfischen Schlaraffenland ist aber auf ähnliche Weise das ausgesetzt, was auch dem locus amoenus vollkommen fehlt, nämlich die Sphäre der Produktion. Die Natur ist in einem –––––––— 9

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Vgl. Garber, K.: Der Locus Amoenus und der Locus Terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln u. Wien 1974. Vgl. Warnke, Martin: Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der Natur. München 1992. Pfaffe Lambrecht, Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Elisabeth Lienert. Stuttgart 2007 (RUB 18508). Zum Schlaraffenland vgl. Richter, Dieter: Schlaraffenland. Geschichte einer populären Phantasie. Frankfurt a. M. 1989. Friedrich (wie Anm. 8), S. 130 betont dagegen die, zweifellos vorhandenen, höfischen Aspekte der Szenerie, die sich nicht zuletzt im zuchtvollen Verhalten der Blumenmädchen finden. Pfaffe Lambrecht (wie Anm. 11), V. 4707– 4908.

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solchen Wunschzustand, dass sich niemand auf Feldern abmühen muss, um das materielle Überleben des Adels sicherzustellen. Und das bedeutet vor allem, dass der Adel sich keine Gedanken machen muss beim Zugriff auf eine Natur, die unerschöpflich und folgenlos zur Verfügung steht.14 Ähnlich gelagert sind auch die Vorstellungen von Trauben aus Edelsteinen, die an Büschen wachsen, oder Bergen aus purem Gold15 – in jedem Fall stellt die Natur unmittelbar Reichtümer zur Verfügung, die für den höfischen Adel von Bedeutung sind, deren Produktion aber keinen Platz im höfischen Weltbild hat. Absenz von Gewalt gilt hier in einem umfassenden Sinne, weder gibt es gewalttätige Auseinandersetzungen mit adligen Konkurrenten, noch gerät die gewalttätige Abpressung von Besitz und Einkünften der Bauernschaft in den Blick, und nicht einmal dem Boden selbst müssen seine Früchte abgerungen werden. Diese Wunschnatur ist im Alexanderroman aber stets zeitlich und räumlich begrenzt, womit sie deutlich ihren Wunschcharakter zeigt, und damit in gewisser Weise auch das Illusionäre eines Weltbildes, das seine eigenen materiellen Grundlagen zu ignorieren bemüht ist.16 Bilder von paradiesischer Natur begleiten auch die Moderne. So sind beispielsweise in den Südseereiseberichten des 18. Jahrhunderts Paradiesassoziationen sehr beliebt.17 Und auch in vielen ‚grünen‘ Utopien bis hin zu esoterischen Lebensentwürfen spielt der Traum von einem quasi-paradiesischen, gewaltfreien Umgang mit der Natur eine nicht unerhebliche Rolle. Jede Gesellschaft muss sich auch symbolisch an ihren Gewaltverhältnissen abarbeiten, und der Umweg über die Natur scheint dabei eine in verschiedenen Gesellschaften ähnliche Form zu sein, dies zu tun.

2.2. Feindliche Natur Diesen Bildern einer Harmonie von höfischer Kultur und höfisierter Natur stehen Entwürfe von Natur als feindlichem Lebensraum entgegen, dem nur kämpfend und mit großer Entschlossenheit begegnet werden kann. Wasserlose Wüsten, gefährliche Land- und Wassertiere, Feuerregen und Schneestürme bedrohen Alexander und sein Heer und kosten vielen seiner Krieger das Le–––––––— 14

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Vgl. Schlechtweg-Jahn, Ralf: Macht und Gewalt im deutschsprachigen Alexanderroman. Trier 2006 (LIR 37), S. 81f. Zur Unwilligkeit des Adels, sich mit den materiellen Bedingungen seiner Existenz zu befassen, vgl. Waldmann, Bernhard: Natur und Kultur im höfischen Roman um 1200. Überlegungen zu politischen, ethischen und ästhetischen Fragen epischer Literatur des Hochmittelalters. Erlangen 1983 (Erlanger Studien 38), S. 114 u. 120. Pfaffe Lambrecht (wie Anm. 11), V. 4961–5022. „Die höfische Kultur projiziert sich in einen abgeschlossenen Naturraum, der im Hintergrund Reminiszenzen sowohl an die Zeitenthobenheit des Paradieses wie an die Vertreibung daraus enthält“; Friedrich (wie Anm. 8), S. 131. Vgl. Bitterli, Urs: Alte Welt – Neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. München 1992, S. 191ff.

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ben.18 Diese Natur kann nur durchstanden werden, sie ist weder endgültig zu besiegen noch in irgendeiner Weise zu unterwerfen, wie es Alexander sonst mit fast allen menschlichen Herrschaftsbereichen gelingt. Auch die feindliche Natur steht in enger Relation zum Selbstbild höfischer Kultur, weil in sie das Gewaltpotential des Adels verlagert werden kann, welches in höfischer Natur- und Kulturumgebung nicht ausbrechen darf. Gewalt ist für den Adel an sich notwendig und identitätsstiftend, weil sie den Adel in einer mehr oder weniger staatsfreien Gesellschaft handlungsfähig sowohl bei der Aneignung bäuerlicher Produkte wie auch gegenüber adliger Konkurrenz macht. Zugleich ist Gewalt aber bedrohlich, weil sie alle Prozesse adliger Gemeinschaftsbildung vor allem an den Fürstenhöfen permanent stört.19 In der höfischen Literatur wird Gewalt deshalb gern von den Höfen weg in die Wildnis verlagert. Diese wilde Natur wird damit zu einem Raum der Bewährung, den die Ritter immer wieder durchstreifen, um anschließend in den Raum höfischer und mehr oder weniger friedlicher Natur/Kultur zurückzukehren.20 Gewalt ist für den Adel damit aber nicht nur zentrales Element seiner Identität, sondern paradoxerweise zugleich auch das Fremde und Bedrohliche schlechthin. Auf seine adlige Identität bezogen bedeutet dies, dass der Adlige in Momenten der Gewalt, des zorns, sich gleichsam selbst fremd wird, nicht mehr bei sich ist und in einen Zustand wilder Raserei übergehen kann. In seiner wilden Natur bleibt dem Adel an sich selbst etwas notwendig unzugänglich, was ihn an die wilde Natur zurückbindet. Jenseits dieser unmittelbaren Funktionalisierung und Anbindung an die für den Adel um 1200 so zentrale Gewaltproblematik kann feindliche Natur aber auch als Zeichen einer göttlichen Strafe gedeutet, als ein Wunder der göttlichen Weltordnung verstanden oder auch nur als höchst lästiges Faktum hingenommen werden. Sie bleibt aber auch dann für sich, auf Distanz, unverständlich und auf Dauer unzugänglich. Es ist nun für die Adelsliteratur geradezu notwendig, dass die Wildnis bleibt, was sie ist, weil sie als Raum der kämpferischen Bewährung gebraucht wird, in dem Gewalt nicht nur zulässig, sondern auch notwendig ist. Anders beispielsweise in der US-amerikanischen Frontier-Ideologie, die mir nur eine Zuspitzung eines allgemeinen, modernen Verständnisses vom Umgang mit der Natur zu sein scheint. In ihr geht es stets darum, die Grenze der zivilisierten Welt auf Kosten der unzivilisierten immer weiter zu verschieben und damit auch die –––––––— 18

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Ulrich von Eschenbach [eigentlich: Etzenbach]: Alexander, hg. v. Wendelin Toischer. Tübingen 1888 (BLV 183), V. 22138–22220. Zum Zusammenhang adliger Existenz, Hof und Gewalt vgl. Czerwinski, Peter: Das Nibelungenlied. Widersprüche höfischer Gewaltreglementierung, in: Einführung in die deutsche Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts, hg. v. Winfrid Frey u. a. Opladen 1979, S. 49–87. „Der ritterliche Held zieht jedenfalls als der große Nothelfer durch die abenteuerliche Welt, und was ihm dort begegnet, sind die meist ins Monströse und Dämonische verzerrten, anarchischen Potenzen der Gesellschaft, deren Teil er selber ist: Raub, Ehrschändung, Landverwüstung, Rechtsbruch“; Fischer, Hubertus: Ehre, Hof und Abenteuer. Vorarbeiten zu einer historischen Poetik des höfischen Epos. München 1983, S. 168.

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unbestellte, wilde Natur letztlich einer rationalen, ökonomischen Nutzung zu unterwerfen.21 Das führt natürlich zu dem Problem, dass irgendwann alle Wildnis urbar gemacht ist, und damit das Grenzland verloren zu gehen droht. Der fiktive Ausgriff in den Weltraum ist dann eine Möglichkeit, die FrontierIdeologie zu retten. Auch dieses Naturbild eröffnet Möglichkeiten der Bewährung für Helden, aber mit dem ganz anderen Ziel der endgültigen Einverleibung und Eingliederung wie auch der vollkommenen Beherrschung der eigenen Natur.22 Der einzige Alexanderroman, der ein wenig ähnlich verfährt, ist der Ulrichs von Etzenbach, nämlich insoweit, als der Traum dieses Textes die Überwindung der wilden Natur zugunsten der vollständigen Höfisierung der Welt zu sein scheint. Ulrichs Alexander ist dabei deutlich erfolgreicher als andere, aber eine wirklich vollständige Höfisierung der Welt gelingt auch ihm nicht, von einer Einverleibung und Besiedelung ganz zu schweigen.23

2.3. Trennende Natur Eine immer wieder auffällige Form der Naturbegegnung im Alexanderroman sind raumabgrenzende Naturhindernisse wie Flüsse und Gebirge. Diese Grenzen haben meistens die konkrete Funktion der Einfriedung von Tieren, Monstra oder Mischwesen jeder Art, aber auch der Trennung von Ländern und Heeren. Darüber hinaus haben sie offenbar eine gewisse Faszination für sich, denn sie werden häufig verblüffend ausführlich beschrieben.24 Das überrascht insofern, als die mittelalterliche Praxis der Herrschaftsausübung den beherrschten Raum tendenziell von Burgen und Orten, also von Zentren her, und mit eher diffusen Grenzen, Grenzräumen, definierte, als, wie die Moderne es gewohnt ist, von einer festen Grenzlinie aus.25 Im Alexanderro–––––––— 21

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Georg Seesslen hat darauf hingewiesen, dass das Verhältnis von Erforschung und Besiedelung durchaus widersprüchlich ist: „Im Westerner steckt also nicht nur ein idealisierter Pionier oder Siedler, sondern auch ein Forscher, der das Land nach neuen Wegen durchquert. Er will das Land kennenlernen, nicht besitzen. Wenn er den nachdrängenden Siedlern die Wege zu ihrer neuen Heimat weist, muss ihm deutlich werden, dass durch seine Hilfe die Freiheit, die er gefunden hat, zerstört werden kann. Die Tragik des Westerners liegt unter anderem darin, dass er im Kern kein kolonialistisches Verhältnis zum Land hat, aber im System der Landnahme kolonialistische Aufgaben lösen muss“; Seesslen, Georg: Western. Geschichte und Mythologie des Western-Films. Marburg 1995, S. 18. „Der Western ist das Drama der Sozialisation, in dem sich der wilde, ‚unzivilisierte‘ Naturzustand dem ordnenden, besitzergreifenden Eingriff nur anfänglich widersetzen kann, um am Ende um so wirksamer ‚kolonialisiert‘ zu werden“; Seesslen (wie Anm. 21), S. 21f. Vgl. Schlechtweg-Jahn (wie Anm. 14), S. 223ff. Der Indienbericht des Straßburger Alexander wie auch Ulrichs von Etzenbach Fassung sind voll von solchen abgeschlossenen Gebieten. Vgl. Medick, Hans: Grenzziehung und die Herstellung des politisch-sozialen Raumes. Zur Begriffsgeschichte und politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Frühen Neuzeit, in: Literatur der Grenze – Theorie der Grenze, hg. v. Richard Faber u. Barbara Naumann. Würzburg 1995, S. 211-224.

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man ist das fast immer anders, weshalb die Überwindung von Grenzhindernissen stets eine der herausragenden Leistungen des Helden ist, die auch nicht immer gelingt. Wenn diese Grenzen politische Räume wie das Makedonen- und das Perserreich voneinander trennen, handelt es sich immer um natürliche Hindernisse wie Flüsse und Gebirge, niemals um Linien auf einer Karte. Damit werden die Herrschaftsbereiche zu natürlichen Räumen und sind nicht Produkt politischer oder militärischer Entscheidungen. Nur Alexander gelingt es immer wieder, sich über diese natürlich-politische Raumordnung hinwegzusetzen, was als deutlicher Verweis auf seine Rolle als Weltherrscher und Vollstrecker des Übergangs vom zweiten zum dritten Weltreich verstanden werden kann. Auch in der Moderne spielten Vorstellungen von natürlichen Grenzen immer wieder eine Rolle in der Politik.26 Man könnte sagen, dass die Vorstellung einer natürlichen Grenze bereits aus dem Mittelalter stammt, in der Moderne aber in ganz andere politische Zusammenhänge überführt wurde. Sie dient oder diente in der Moderne vor allem der Abgrenzung von Nationalstaaten und der ideologischen Untermauerung territorialer Forderungen wie auch der Schaffung eines staatsinternen Zusammenhalts. Diese angeblich natürlichen Grenzen sind aber stets verschiebbar, denn hinter jedem Fluss liegt ein weiterer Fluss, und hinter jedem Höhenzug der nächste Höhenzug. Die Grenzen eines Herrschaftsbereiches im Alexanderroman fallen dagegen mit natürlichen Grenzen fest zusammen und können zwar überwunden, aber nicht verschoben werden – hinter den Bergen liegt Persien, und egal, wer es beherrscht, es wird immer an den Bergen beginnen, weil das die Natur der Dinge ist.

2.4. Naturnahe Kulturen und Mischwesen Interessanterweise bleibt die höfische Literatur, und vor allem der Alexanderroman, bei der einfachen Dichotomie von höfischer vs. unhöfischer, wilder Natur nicht stehen, sondern produziert eine Art Übergangsfeld in Form von naturnah, tierähnlich lebenden Menschen und verschiedenen Formen von Hybriden. Theologisch sind Mischwesen und Monstra27 relativ leicht zu deuten als Wunder Gottes, und damit als Beweise göttlicher Allmacht, der jederzeit in die Natur eingreifen und sie nach seinem Willen formen kann.28 Solche Deutungen –––––––— 26

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Vgl. Febvre, Lucien: ‚Frontiere‘ – Wort und Bedeutung, in: Das Gewissen des Historikers, hg. u. übers. v. Ulrich Raulff. Berlin 1988, S. 27–37; hier: S. 34f. Mischwesen gibt es in verschiedener Form, so als Menschen mit Hundeköpfen, aber auch zusammengesetzt aus verschiedenen Tieren, wie der Greif. Zu den Monstra zählen auch überdimensionierte Tiere wie Riesenameisen o. ä. „Naturkenntnis ist im eigentlichen Sinne Gotteserkenntnis, wobei insbesondere die Wunder (mirabilia) dazu angetan sind, die göttliche Omnipotenz zu bezeugen“; Gloy, Karen: Das Verständnis der Natur 1. Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens. München 1995, S. 147. Zumindest in theologischem Verständnis ist Natur lesbar als eine Offenbarung Got-

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spielen im Alexanderroman aber nur eine geringe Rolle, bestenfalls ist von wunderlichem die Rede, was man als etwas vagen Verweis auf theologische Deutungsmuster verstehen kann. Mir scheint, dass gerade die Figur des Heiden Alexander auch in diesem Bereich eine gewisse Lizenz schafft, die Dinge nichttheologisch anzugehen. Als Heide ist Alexander ohnehin verdammt, und ganz ähnlich wie ihn Gott dennoch zu seinem Werkzeug machen kann, kann er dem Erzähler dazu dienen, über theologisch ansonsten problematische Sachverhalte unbefangen zu sprechen.29 Bestimmend für Mischwesen und auch naturnah lebende, häufig wilde Menschen30 ist deren weitgehende Unberechenbarkeit. Mal ist es möglich, mit diesen Wesen zu kommunizieren, mal nicht. Mal sind sie gefährlich, mal friedlich. Mal sind sie leicht erreichbar, mal hinter unüberwindlichen Flüssen unerreichbar abgetrennt.31 Kommt es zum gewalttätigen Kontakt, ist, anders als gerade im Alexanderroman sonst, der Sieg für den Helden keineswegs garantiert, weshalb die Lebenswelten der Mischwesen und Wilden auch nicht wirklich einen Raum für ritterliche Bewährung eröffnen – oft genug müssen die Ritter froh sein, mit dem Leben davonzukommen.32 Alternativ bleibt ein Modus des distanzierten Staunens, der aber den höfischen Rittern eine Bewährung ebenso unmöglich macht und aus höfischer Sicht eher defizitär wirkt. Über die Mensch-Tier-Hybriden hinaus umfasst die Welt der Mischwesen im Alexanderroman aber auch so etwas wie kulturelle Hybriden, wie beispielsweise die Amazonen. Die Amazonen leben in der selben Grenzwelt wie die Mischwesen und Wilden und sind als kämpfende Frauen ebenso bedrohlich. Die Amazonen sind aber nicht nur als Kämpferinnen gefürchtet, sie stellen Alexan–––––––—

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tes, und das Naturstudium dient auch genau diesem Zweck, sich Gott zu nähern. Zur theologischen Deutung vgl. auch Röcke, Werner: Erdrandbewohner und Wunderzeichen. Deutungsmuster von Alterität in der Literatur des Mittelalters, in: Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag, hg. v. Silvia Bovenschen u. a. Berlin u. New York 1997, S. 265–284, S. 271f. So tauchen im Alexanderroman immer wieder antike oder einfach nicht-christliche Götter auf, die mitunter sogar aktiv in das Geschehen eingreifen. Deren Verhältnis zum christlichen Gott wird hingegen so gut wie nie thematisiert, obwohl dem Mittelalter dafür einige Lösungen zur Verfügung standen (vgl. Seznec, Jean: Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus und in der Kunst der Renaissance. München 1990; Bezold, Friedrich von: Das Fortleben der antiken Götter im mittelalterlichen Humanismus. Bonn u. Leipzig 1922 [Neudruck Aalen 1962]). Als naturnah bezeichne ich im Alexanderroman menschliche Gemeinwesen, die keine Felder bestellen und in der Regel auch keine Häuser bauen, sondern von dem leben, was die Natur ihnen unmittelbar bietet. Vgl. Strohschneider, Peter u. Herfried Vögel: Flussübergänge. Zur Komposition des ‚Straßburger Alexander‘, ZfdA 118 (1989), S. 85-108 und Schlechtweg-Jahn, Ralf: Hybride Machtgrenzen in deutschsprachigen Alexanderromanen, in: Herrschaft, Ideologie und Geschichtskonzeption in Alexanderdichtungen des Mittelalters, hg. v. Ulrich Mölk. Göttingen 2002, S. 267–289. Vgl. Schmitt, Kerstin: Minne, Monster, Mutationen. Geschlechterkonstruktionen im ‚Alexanderroman‘ Ulrichs von Etzenbach, in: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997, hg. v. Alan Robertshaw u. Gerhard Wolf. Tübingen 1999, S. 151–162.

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der vor allem vor ein kulturelles Dilemma. Fast jede Fassung des Romans formuliert es überdeutlich: Gegen Frauen im Kampf zu gewinnen, wäre ehrlos – gegen Frauen im Kampf zu verlieren aber erst recht. Die Lösung in den höfischen Fassungen ist fast immer die Minne, aber auch die behält einen bitteren Beigeschmack, weil das Ziel der Amazonenkönigin weniger die Minne als ein Kind von Alexander ist.33 Und das ist genau das, was sie bekommt – Alexander hingegen erhält eigentlich gar nichts. Ganz ähnlich verhält es sich auch in der Begegnung mit der Königin Candacis, die als weibliche Herrscherin ohne Ehemann nicht weniger skandalös zu sein scheint als ein Hundsköpfiger oder eine Amazone. Zwar steht ihre höfische Gesinnung außer Frage,34 aber es gelingt ihr das Unmögliche, indem sie den unbewaffneten Alexander in ihre Kemenate lockt, in der er um sein Leben fürchten muss. Damit ist sie die einzige Herrscherin, die Alexander je besiegt hat. Zum Glück will auch sie dann nur Minne und Hilfe. Nimmt man die Amazonen und Candacis mit in das Feld der Mischwesen hinein, dann zeigt sich die Bedrohlichkeit, die von Mischwesen ausgeht, in ganzer Schärfe: Sie lassen sich nicht wirklich irgendwo am Rand der Welt oder hinter reißenden Flüssen oder hohen Bergen auf Distanz halten, sondern nisten sich mitten im Höfischen selbst ein. Die so eindeutige Unterscheidung höfisch vs. unhöfisch sowohl in Kultur wie Natur droht im Kontakt mit den Mischwesen zu zerbrechen, die entweder das Höfische gleichsam von innen her zersetzen, oder aber in ihrer Wildheit von außen dem Höfischen jede Möglichkeit zu Expansion und Bewährung verweigern. Die Alexanderromane transportieren nicht nur ein bestimmtes, tendenziell höfisches Natur/Kulturbild, sondern diskutieren auf ihre Weise auch seine Grenzen. Allein Ulrich von Etzenbach findet eine gewisse Lösung für diese Problematik, nämlich im Modus der Zoologisierung. Sein Alexander lässt von allem Wilden, wenn es irgend möglich ist, ein Musterpaar einfangen, um es mit nach Hause zu nehmen.35 Damit ist das Unbewältigbare zwar immer noch nicht dem Dualismus höfisch-unhöfisch eingepasst, aber es ist zumindest neutralisiert, und –––––––— 33

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Zu den Amazonen vgl. Brackert, Helmut: Androgyne Idealität. Zum Amazonenbild in Rudolf von Ems Alexander, in: Philologie als Kulturwissenschaft. Festschrift Karl Stackmann, hg. v. Ludger Grenzmann u. a. Göttingen 1987, S. 164-178 und Schmitt (wie Anm. 32). Auf den Straßburger Alexander bezogen schreibt Friedrich (wie Anm. 8), S. 133: „Die Begegnung mit Candacis inszeniert ein ideales Bild höfischer Kultur“. Die wundersamen Besitztümer der Königin allerdings scheinen mir nicht so umstandslos im Höfischen aufzugehen. Candacis herrscht über Natur und Wunder, an denen Alexander teilweise bereits gescheitert ist. Vgl. Ehlert, Trude: Alexanders Kuriositätenkabinett. Oder: Reisen als Aneignung von Welt in Ulrichs von Etzenbach Alexander, in: Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, hg. v. Xenja von Ertzdorff u. Dieter Neukirch. Amsterdam u. Atlanta 1992 (Chloe. Beihefte zum Daphnis Bd. 13), S. 313–328. Ehlert sieht dieses zoologisierende Sammeln als eine Art Vorgriff auf spätmittelalterliche bzw. frühneuzeitliche fürstliche Kuriositätenkabinette.

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zwar so, dass die Überlegenheit des höfischen Weltbildes gewahrt zu bleiben scheint. Interessanterweise sind auch in der Moderne Mischwesen ein Problem geblieben. Dabei geht es heute natürlich nicht mehr um Hundeköpfige, aber beispielsweise um Zwitter, die nach wie vor von Gesellschaft, Justiz und Medizin zu einer eindeutigen Wahl – männlich oder weiblich – gezwungen werden. Solange eine Gesellschaft ihre Natur- und Kulturbilder binär codiert, ist alles, was in dieser Codierung nicht aufgeht, ein Problem, weil es den Konstruktcharakter des scheinbar Natürlichen aufzeigt.36 Was übrigens die Verbringung exotischer Lebewesen in Zoos angeht, so geht es im Alexanderroman vor allem um die Repräsentation der Macht des Herrschers wie auch der Macht Gottes. Die Moderne hingegen dokumentiert im Zoo ihre Macht über die Natur ebenso wie ihre neugierige Großzügigkeit, besteht doch der Tierbestand zoologischer Gärten weitgehend aus ökonomisch unnützen Tieren.

2.5. Natur und Askese Die Komplexität der Alexanderromane macht es möglich, dass Alexander nicht nur auf Gegenwelten trifft, die gleichsam spiegelbildlich-unhöfisch funktionieren, sondern auch auf Welten, die einer eigenen kulturellen Logik folgen. Besonders wichtig im Hinblick auf die Unterscheidung Natur-Kultur sind dabei die Oxidraten und die Brahmanen.37 Beide Welten werden nicht in allen Fassungen sauber unterschieden und haben auch Wesentliches gemeinsam. Die Angehörigen dieser Völker haben zwar eine Sprache, und Alexander führt ausführliche Gespräche mit ihnen, sie verzichten aber sonst auf eigentlich jede Kulturleistung und leben in einem asketischen Kulturmodell allein von dem, was die Natur ihnen unmittelbar bietet. Die Oxidraten wohnen dabei in Erdhöhlen, die später ihre Gräber sein werden.38 Die Nähe von Askese und Natur ist auffällig und unterscheidet diese Asketen auch von einer mönchischen Lebensweise im Mittelalter. Am ehesten ließe

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„Das Monster steht daher als Denkfigur für die notwendige Differenz, um das Eine, die menschliche Norm zu bestimmen, bedroht diese jedoch zugleich, indem es die dazu notwendigen Grenzziehungen von Mensch und Tier, Wildheit und Zivilisation, Natur und Kultur, Körper und Geist, Mann und Frau verwischt.“ Schmitt (wie Anm. 32), S. 151, bezieht sich zwar auf das mittelalterliche Indienbild, doch gilt die hier beschriebene Denkfigur in anderer Besetzung auch heute noch. Zur Überlieferung vgl. Pfister, Friedrich: Das Nachleben der Überlieferung von Alexander und den Brahmanen, Hermes 76 (1941) S. 143–168; zur Deutung vgl. Röcke, Werner: Die nackten Weisen der fremden Welt. Bilder einer utopischen Gesellschaft in Johann Hartliebs ‚Alexander‘-Roman, Zeitschrift für Germanistik NF 6 (1996), S. 21–34 u. Schlechtweg-Jahn (wie Anm. 14). So im Straßburger Alexander des Pfaffen Lambrecht (wie Anm. 11), V. 4380–4392.

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sich ihre Existenz mit der von Eremiten vergleichen,39 nur dass es sich hier nicht um vereinzelt lebende Menschen handelt, sondern um eine ganze Gesellschaft. Es gibt für die asketischen Völker im Alexanderroman kein wirkliches Pendant in der adligen Lebenswelt des Mittelalters. Diese asketische, auf die Natur vertrauende Lebensweise wird in den höfischen Fassungen des Alexander fast durchgehend scharf kritisiert. So nennt Alexander bei Ulrich von Etzenbach sie beispielsweise hinter ihren Bergen Eingekerkerte, deren Abgeschiedenheit sie dazu zwingt, so kulturlos zu leben, und die nun aus ihrer Not eine Tugend zu machen versuchen.40 Aus Asketen werden so kulturlose Barbaren und Provinzler. Aus höfischer Sicht ist die Nichtunterscheidung von Kultur und Natur, wie die Asketen sie versuchen, schlicht inakzeptabel. Bemerkenswert bleibt aber, dass es im Alexanderroman zum höfischen Bild von Natur und Kultur auch eine funktionierende Alternative gibt, wie sehr sie auch verurteilt werden mag. Überwunden oder vernichtet wird sie in keiner der Fassungen. In einer stratifikatorischen Gesellschaft sollte ein solches Nebeneinander von Lebensweisen an sich kein Problem sein, nur wird Alexander vom König der Brahmanen, Dindimus, stets scharf kritisiert. In der Konfrontation mit einer anderen Gesellschaftsform wird das Gemachte, NichtNatürliche der Adelsgesellschaft erkennbar, was mehr oder weniger aggressiv zurückgewiesen wird. Erst bei Johann Hartlieb verschiebt sich dann das Bild von diesen Asketen auf bemerkenswerte Weise, da sie weniger theologisch als vielmehr medizinisch argumentieren. König Dindimus begründet das asketische Leben vor allem diätetisch als eines, das für Geist und Körper gesünder sei.41 Mental wird diese gesunde Lebensweise ergänzt durch radikale Selbstbeherrschung, die Alexander fehlt.42 Bei Hartlieb haben die Asketen ihr Leben im Griff, während Alexander ein Getriebener ist, der selbst nicht erklären kann, warum er tut, was er tut. Anders als in den älteren Fassungen wird hier also die Position der Asketen nicht verurteilt. Die Verschiebung scheint mir im Wesentlichen in einer Hinwendung zum Individuum zu bestehen, das allein im Kampf mit sich selbst, mit den eigenen Begierden, zum Herrn im eigenen Haus werden kann.43 Die Natur wird dabei zugleich zum Feind, den es in Form innerer Begierden zu bekämpfen gilt, wie auch zum Freund, weil sie, wenn man gelernt hat, seine Begierden im Zaum zu halten, alles bietet, was der Mensch zum Leben braucht. Diese Hinwendung zum Individuum wird für die Moderne natürlich von großer Bedeutung sein. –––––––— 39

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Zum mittelalterlichen Mönchstum vgl. Hawel, Peter: Zwischen Wüste und Welt. Das Mönchtum im Abendland. München 1997. Ulrich v. Etzenbach (wie Anm. 18), V. 22505–22525. Ähnlich auch im Straßburger Alexander, vgl. dazu Friedrich (wie Anm. 8), S. 127f. Johann Hartliebs Alexander, eingel. u. hg. v. Reinhard Pawis. München u. Zürich 1991 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 97), Z. 4624–4632 u. 5102–5168. Hartlieb (wie Anm. 41), Z. 5040–5051. Vgl. Schlechtweg-Jahn (wie Anm. 14), S. 335.

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2.6. Technisierter Umgang mit der Natur Die Technisierung von Natur gehört vielleicht zu den überraschendsten Umgangsformen mit Natur in mittelalterlichen Texten, erwartet man eine solche Begeisterung für mechanisches Gerät spontan wohl eher in der Moderne. Diese Faszination an der Bezwingung der Natur findet man in Form mechanischer Naturnachahmung, in der großen Euphratüberquerung mit Hilfe einer Schiffsbrücke, im Greifenflug und in der Tauchfahrt Alexanders. Die Faszination zeigt sich vor allem in einem enormen Interesse am technischen Detail, das sich gegenüber der Erzählung teilweise ausgesprochen verselbständigt.44 Die mechanische Naturnachahmung findet sich beispielsweise in der Candacis-Episode des Straßburger Alexander. Königin Candacis verfügt in ihrem Wunderpalast über einen Automaten, der von einem Blasebalgsystem zum Leben erweckt wird. Friedrich spricht hier von einer höfischen Überbietungsgeste über die Natur45 und damit über eine technisch-höfische Form der Naturbeherrschung, die sich aber weiterhin an den Formen der Natur orientiert, nachahmt und nicht erschafft. Die technische Nachahmung der Natur dient nicht ihrer Kontrolle und Ausbeutung, sondern ist zugleich eine Geste der Distanzierung46 wie auch der Vereinnahmung, die im Gestus der Nachahmung symbolisch und damit folgenlos für die Natur bleibt. Natur wird zum Spiegel höfischen Selbstverständnisses. Der Greifenflug hingegen macht deutlich, dass die technische Beherrschung von Natur im Mittelalter auch problematisch sein kann, wenn sie nämlich mit von Gott gesetzten Grenzen kollidiert. Im Greifenflug wird Alexander das sehr deutlich gemacht, wenn Gott oder ein Engel Gottes ihn an einem höheren Aufstieg in den Himmel hindert. Gleichsam am anderen Ende des Spektrums steht dagegen die Einschließung wilder Völker in einer gemeinsamen Kraftanstrengung Gottes und Alexanders, die Berge verrückt und Täler von der Welt abschließt.47 Auf andere Weise als die Mischwesen, aber strukturell doch ähnlich ist der technisierte Umgang mit der Natur ein Übergangsfeld, das vor allem die Grenzziehung zum Göttlichen ebenso bestätigt wie in Frage stellt. In dieser Perspekti–––––––— 44

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Vgl. zum Greifenflug Kugler, Hartmut: Alexanders Greifenflug. Eine Episode des Alexanderromans im deutschen Mittelalter, IASL 12 (1987), S. 1-25. Friedrich (wie Anm. 8), S. 134. Vgl. ähnlich auch Fasbender, Christoph: reht alsam er lebte. Nachbildungen als Überbietung der Natur in der Epik des Mittelalters. Anmerkungen zu Texten und zu interpretatorischen Konsequenzen, in: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997, hg. v. Alan Robertshaw u. Gerhard Wolf. Tübingen 1999, S. 53–64, S. 56: nicht größtmögliche Ähnlichkeit und ggf. Verwechselbarkeit mit Natur war das Ziel solcher Mechanik, sondern ihre überbietende Nachahmung. Das erfordert aber, dass sie als mechanisch und nachgeahmt erkannt werden kann. Friedrich (wie Anm. 8), S. 135 u. Fasbender (wie Anm. 46), S. 59. Fasbender weist darauf hin, dass nachgeahmte Natur sowohl negativ als heidnische Magie, wie auch positiv als Herrschaftssymbolik verwendet werden konnte. Vgl. den Überblick bei Anderson, Andrew R.: Alexander’s Gate, Gog and Magog, and the Inclosed Nations. Cambridge (Mass.) 1932.

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ve sind dann mechanische Vögel eine Art technischer Schöpfungsakt, der – ähnlich wie der Greifenflug, wenn auch ohne dessen Konsequenzen – Gott herausfordert.48 Die Bewertung solcher Passagen schwankt deshalb stets zwischen den extremen Polen der rückhaltlosen Bewunderung für den Herrscher Alexander, der selbst noch die Natur besiegt, und der Verdammung einer curiositas, die Gott herausgefordert hat.49 Fliegen, mechanisches Spielzeug oder eine Flussüberquerung würde heute wohl kaum noch jemand als Überschreitung einer religiös gezogenen Grenze ansehen, für andere Techniken gilt das aber schon. Was im Zuge der Aufklärung eine Zeit lang wie ein Relikt der Vergangenheit schien, abgelöst durch ethische Überlegungen über die Möglichkeiten und Grenzen der Naturbeherrschung, gewinnt in Zeiten religiöser Fundamentalismen zumindest in den monotheistischen Weltreligionen überraschend an Aktualität. Man wird wohl sagen müssen, dass die Grenzziehung zwischen menschlicher und göttlicher Naturbeherrschung aus den Diskursen der Moderne nie völlig verschwunden ist, wenn sie auch lange Zeit eher ein Schattendasein geführt hat. Dass die im Alexanderroman offensichtliche Faszination an einer technischen Naturbeherrschung in der Moderne das zentrale und zentrierende Naturbild wird, bedarf dagegen kaum weiterer Ausführungen.50 Für die Moderne allerdings scheint mir eine Aufspaltung in einen kapitalistisch-technischen Aspekt der Naturbeherrschung und einen moralisch-ethischen der Problematisierung eben dieser Naturbeherrschung typisch zu sein, was im Mittelalter noch in einem Diskurs vereint ist. Möglich ist dies vor allem, weil technische Naturbeherrschung noch nicht zum zentralen Aspekt von Gesellschaft geworden ist.

2.7. Prophetische und zeichenhafte Natur Ein ganz anderes Feld betreten wir mit Prophezeiungen, die aus der Natur gewonnen werden. Im Alexanderroman geschieht das vor allem in der Begegnung mit dem Orakel von Sonnen- und Mondbaum, in den späteren Fassungen kommt die Astrologie hinzu. Die Prophezeiungen, die diese Bäume machen,

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Zum Greifenflug vgl. Kugler (wie Anm. 44). Bei Ulrich kehrt Alexander um aus Furcht vor dem Blick nach Unten, weil es eigentlich nichts zu sehen gibt und die Greife müde werden, nicht hingegen auf göttlichen Befehl (wie Anm. 18, V. 24740–24748). Hartliebs Alexander ist durch Neugierde motiviert, scheitert dann aber an Gott (wie Anm. 41, Z. 6859–6862). Von einem Wechsel zu einem tendenziell mechanistischen Weltbild kann man erst im 16. und 17. Jahrhundert sprechen; vgl. Gloy (wie Anm. 28), S. 162. Erforschung der Natur ist dann nicht mehr unmittelbar Gotteserkenntnis, sondern Erforschung der Regeln der Mechanik der Natur. Erst damit kann aus mechanischer Naturnachahmung im höfischen Spiel eine mechanisierte Naturbeherrschung werden, die nicht mehr symbolisch bleibt, sondern die Natur nachhaltig verändert.

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unterscheiden sich in den Fassungen kaum und beziehen sich auf Alexanders Weltherrschaft und seinen frühen Tod.51 Jede Prophetie steht im Mittelalter vor dem Problem ihrer Legitimität. Theologisch betrachtet verfügt allein Gott über die Zeit, und nur Prophezeiungen mit Gottbezug sind deshalb legitim. Es ist deshalb an sich von großer Wichtigkeit zu erkennen, ob eine Prophetie nicht vielleicht eine Einflüsterung des Teufels ist.52 Im Alexanderroman allerdings wird darüber nie etwas gesagt, und so bleibt es völlig offen, in welchem Verhältnis das Baumorakel zu Gott steht. Im Alexanderroman sind antike Götter, vor allem aber Amon, der vermeintliche Vater Alexanders, durchaus aktiv. Wie das möglich ist und in welchem Verhältnis diese Götter zu dem einen Gott stehen, wird so gut wie nie thematisiert, geschweige denn erklärt. Entsprechend unbestimmt bleibt auch die Vertrauenswürdigkeit von Orakeln und Prophezeiungen. Soweit diese auf Alexanders frühen Tod zielen, sind sie natürlich durch den Lauf der Geschichte bestätigt. Über ihre göttliche oder teuflische Herkunft ist damit allerdings nichts gesagt. Prophezeiungen faszinieren im Alexanderroman offensichtlich an sich und ohne weitere theologische Bedenken. Über solche sehr konkreten Prophetien hinaus hat Natur im Alexanderroman immer wieder einen eher unbestimmten Zeichencharakter, so wenn Alexanders Geburt und Tod von Erdbeben und Sonnenfinsternis begleitet werden. Eine Deutung dieser Zeichen gibt es meines Wissens in keinem der Alexanderromane. Die Verfinsterung der Sonne im Moment seines Todes assoziiert aber wohl unvermeidlich den Tod Christi am Kreuz. Das ist in diesem Fall umso naheliegender, als auch Alexander sich einen Sohn Gottes, nämlich des Gottes Amon, nennt. Da wird die Sache dann allerdings kompliziert, weil dieser Gott Amon zunächst nur eine magische Vortäuschung des Zauberers Nectanabus darstellt, der damit erfolgreich einen Ehebruch durchführen kann. Später aber erscheint in fast allen Fassungen dieser vorgetäuschte Gott Alexander im Schlaf, der dann nach dem Aufwachen eine ganz greifbare Gabe seines vermeintlichen oder nun doch echten Vaters an seinem Bett vorfindet.53 In welchem Verhältnis dieser vorgetäuschte, vermeintliche oder doch echte Gott Amon zum christlichen Gott steht, wird in keiner Fassung je erklärt. Der mittelalterliche Umgang mit antiken Göttern ist vielfältig54 und in der Literatur oft genug sehr diffus, und so ist es dann auch mit der Deutung der Zeichen der Natur: Die Erdbeben und die Sonnenfinsternis können Zeichen Gottes sein – ebenso sehr aber auch Zeichen des Teufels, wie ja auch die antiken Götter teuflische Dämonen sein können. Der Alexanderroman legt sich in diesem Punkt aber nie fest, sondern lässt seine Rezipienten bei der Bewertung der Zeichen allein. –––––––— 51

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In Hartliebs Fassung verweist sogar fast jede Prophezeiung auf Alexanders frühen Tod; vgl. Schlechtweg-Jahn (wie Anm. 14), S. 322–327. Vgl. Kieckhefer, Richard: Magie im Mittelalter. München 1995. Beispielsweise Hartlieb (wie Anm. 41), Z. 3192–3197: Alexander erhält von Ammon ein gegen Gift wirksames Heilkraut. Vgl. Seznec (wie Anm. 29) u. Bezold (wie Anm. 29).

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Bei Rudolf von Ems wird diese problematische Deutbarkeit von Naturzeichen an anderer Stelle, nämlich der Belagerung von Tyros, aufgenommen. Die Belagerten und die Belagerer deuten bestimmte Natur- und Wundererscheinungen nämlich ganz unterschiedlich und zwar, ihren Interessen folgend, als Zeichen für den baldigen Sieg.55 Erst im Nachhinein lässt sich feststellen, wer Recht hatte – das allerdings führt den Versuch, aus der Deutung von Naturzeichen die Zukunft erkennen zu wollen, eher ad absurdum. Wie bei so vielem steckt auch in Bezug auf eine zeichenhafte Natur der Alexanderroman das Spektrum der Möglichkeiten ab, das von eindeutiger Prophetie bis zu verwirrenden und letztlich nicht sicher deutbaren Zeichen bei stets zweifelhafter Legitimität des Verfahrens reicht. Eines ist dabei allerdings immer ungebrochen unterstellt, dass nämlich die Natur etwas bedeutet und dass sie prinzipiell als Bedeutungsträger gelesen werden kann. Interessanterweise hat sich daran bis in die Gegenwart eigentlich wenig geändert, obwohl die Rahmenbedingungen völlig andere sind. Der Glaube beispielweise an die Astrologie, die Möglichkeit also, aus einem Teil der Natur Vorhersagen für das eigene Leben zu gewinnen, ist ungebrochen, aller naturwissenschaftlichen Erkenntnis zum Trotz. Das Interesse an der je eigenen Zukunft ist offenbar so groß, dass die prophetische Naturbetrachtung selbst den Epochenwechsel zur Moderne fast unbeschadet überstanden hat. Geändert haben sich allerdings die Formen. So kommt moderne Astrologie nicht mehr ohne Anleihen bei der Wissenschaft aus, indem sie sich technischer Apparate bedient und einen pseudowissenschaftlichen Jargon hervorbringt.

2.8. Allegorien Auch Allegorien gehören in den Bereich der zeichenhaften Natur, sind aber doch etwas anderes, denn literarische Allegorien wie beispielweise die Minnegrotte in Gottfrieds Tristan oder das Jagen in Hadamars von Laber Minnerede –––––––— 55

Die erste Erscheinung ist ein Traum Alexanders, in dem er Trauben in der Hand hält, die er auf die Erde wirft, darauf tritt und dann Wein daraus hervortreten sieht (Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts, hg. v. Victor Junk. 2 Bde. Leipzig 1928/29 [Neudruck in einem Band Darmstadt 1970], V. 8869–8876). Die Trauben sollen die Stadt sein, der Saft (Wein) das vergossene Blut (V. 8882–8887). Innerhalb der belagerten Stadt ereignet sich dann ein erstes Blutwunder: in der esse huop sich an/ ein bluotbach der dar ûz ran (V. 8961–62). Die Tyrer deuten das prompt als ein positives Zeichen für die Kampfkraft ihrer Schwerter und Pfeile (V. 8965-68) – zu Unrecht, wie sich letztlich herausstellt. Das zweite Blutwunder ereignet sich gleich darauf bei den Belagerern: ein wunderlîchez wunder grôz:/ bluot ûz einem brôte vlôz (V. 8971–72). Da das Brot erst beim Zerschneiden, also innen, blutet, wird es so gedeutet, dass die Tyrer für ihre missetât (V. 6987) büßen müssen. Diese Deutung erweist sich letztlich als die richtige. Als letztes Wunderzeichen taucht dann noch ein merwunder auf (V. 9315), das die Kämpfer beider Seiten beunruhigt. Beide Seiten legen die Erscheinung zu ihren Gunsten aus, wobei die Belagerten darin ein Zeichen ihres Gottes Neptun sehen (V. 9347–52).

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Die Jagd,56 haben immer einen ausgesprochenen Konstruktcharakter. Hier geht es nicht um die Deutung einer wie auch immer vorfindlichen Natur, sondern um die präzise Konstruktion eines Zug um Zug auslegbaren, komplexen Bildes oder Vorgangs, welches mehr oder weniger präzise einer intellektuellen Weltsicht Form gibt.57 Im Alexanderroman spielen Allegorien im Übrigen keine Rolle, mit Ausnahme vielleicht der Fortsetzung bzw. Ergänzung zu Ulrichs Alexander.58 Die Verwendung von Naturmetaphern ist natürlich auch heutzutage noch gang und gäbe, die Allegorie im eigentlichen Sinne scheint mir aber eine der wenigen mittelalterlichen Umgangsformen mit Natur zu sein, die tatsächlich verschwunden ist. Offenbar hängt die Allegorie doch zu sehr an einer bestimmten Form mittelalterlicher Gelehrsamkeit, die mit den modernen Wissenschaften verloren gegangen ist.

2.9. Ausbeutbare Natur Natur als ökonomisches Objekt spielt in der höfisch-adligen Literatur des Mittelalters so gut wie keine Rolle. Dazu müsste die produktive Arbeit ins Blickfeld rücken, was eigentlich nie geschieht. Zwar gibt es gelegentlich Bauern in der höfischen Literatur, wie im Helmbrecht oder im Armen Heinrich, aber der bäuerliche Umgang mit der Natur ist da bestenfalls ein Nebenaspekt, und die handelnden Bauern adlige Angst- oder Wunschprojektionen. Am Rande taucht der produktive Umgang mit der Natur als Problem der milte auf, so im Pfaffen Amis und in einigen Mären des Strickers, sowie auch in der Rede Gâweins an Iwein bei Hartmann von Aue.59 Nur in solchen sehr kurzen Bemerkungen wird sichtbar, dass der Adel existentiell auf die Bestellung des Bodens durch seine Bauern angewiesen war. –––––––— 56

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Vgl. Kolb, Herbert: Der minnen hus. Zur Allegorie der Minnegrotte in Gottfrieds ‚Tristan‘, Euphorion 56 (1962), S. 221–247 und Schlechtweg-Jahn, Ralf: Hadamars von Laber Jagd als serielle Literatur, in: Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden, hg. v. Ludger Lieb u. Otto Neudeck. Berlin u. New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 40), S. 241–258. Vgl. umfassend Freytag, Hartmut: Die Theorie der allegorischen Schriftdeutung und die Allegorie in deutschen Texten, besonders des 11. und 12. Jahrhunderts. Bern u. München 1982. Vgl. Finckh, Ruth: Natur als politische Parole in Ulrichs von Etzenbach AlexanderAnhang, in: Natur im Mittelalter. Konzeptionen, Erfahrungen, Wirkungen, hg. v. Peter Dilg. Berlin 2003, S. 386–407. Im Pfaffen Amis ist der Motor der Handlung die ausufernde milte des Helden, die ihn in ökonomische Schwierigkeiten bringt, derer er durch immer komplexer werdende Betrugsmanöver Herr zu werden versucht (vgl. Ragotzky, Hedda: Die kunst der milte. Anspruch und Funktion der milte-Diskussion in Texten des Strickers, in: Gesellschaftliche Sinnangebote mittelalterlicher Literatur. Mediävistisches Symposium an der Universität Düsseldorf, hg. v. Gert Kaiser. München 1980 [Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 1], S. 77–99). Im Iwein hält Gawan Iwein das Bild eines ‚Krautjunkers‘ vor, der in quasi-bäuerlicher Existenz versinkt.

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Erst bei Johann Hartlieb scheint sich mir diese grundsätzliche Ignoranz gegenüber dem ökonomischen Zugriff auf die Natur zumindest im Alexanderroman zu ändern. Sein Held entwickelt einen gewissermaßen kolonialen Blick auf die Welt, die er in seinen Briefen an Aristoteles häufig taxiert in Hinsicht auf vorhandene Bodenschätze, Bodenproduktivität und daraus gewinnbare Arzneimittel. Bei Hartlieb werden auch Überlegungen angestellt, wie die unterworfenen Gebiete ökonomisch besser genutzt werden können, Leitbegriff ist dabei der gemeine nucz.60 Der Blick seines Alexanders auf Natur ist bereits auch ein fürstlicher, nicht mehr nur ein adlig-höfischer. Ein ähnliches Phänomen findet man wohl auch in der Melusine, wenn auch deutlich verhaltener. Dass die Moderne gerade diesen Aspekt im Umgang mit der Natur ins Zentrum gesetzt hat, bedarf keiner langen Ausführungen. In diesem Bereich kann man wohl auch mit Recht von einem wirklichen Bruch im Naturbild im Epochenwechsel zur Neuzeit sprechen. Faszinierend ist aber, wie relativ einfach es möglich ist, die mittelalterlichen Naturbilder des Alexanderromans im Sinne solcher neuzeitlichen Funktionalisierungen umzuschreiben.

3. Schlussüberlegungen Zweifellos sind die aufgeführten Naturbilder des Mittelalters nur ein Ausschnitt, da sie weitgehend aus der höfischen Literatur stammen, wobei allerdings der Alexanderroman als Schnittstelle von Gattungen und Diskursen eine verblüffende Vielfalt eröffnet. Im Unterschied zur Moderne, so scheint mir, sind die Naturbilder einer stratifikatorischen Gesellschaft wie der mittelalterlichen nicht unbedingt vielfältiger, aber gleichsam zerstreuter – es fehlt ihnen ein zentrierender Kern. Man möchte spontan wohl die Religion als ein solches Zentrum annehmen, und natürlich spielen religiös beeinflusste Naturbilder eine gewisse Rolle, auch in der höfischen Literatur. Aber hier gilt, dass auch Religion im Mittelalter gleichsam stratifikatorisch zerrieben wird und von einem irgendwie einheitlichen christlichen Naturbild nicht die Rede sein kann. Die Naturbilder der Moderne scheinen mir im Grunde ähnlich vielfältig zu sein, aufgrund der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft aber zentriert und hierarchisiert. Eine funktionale Gesellschaftsorganisation bedeutet auf der einen Seite eine größere Zersplitterung in funktional organisierte Teilsysteme, auf der anderen aber auch eine intensive Vernetzung solcher Teilsysteme, die zudem durch zentrierende Weltbilder zusammengehalten werden.61 Im Mittelpunkt einer kapitalistischen Moderne steht dabei ein ökonomisch-rationaler Naturbegriff, der im Mittelalter bestenfalls ein mögliches Naturbild neben anderen war. Die vielen anderen Naturvorstellungen, die es immer noch gibt, sind –––––––— 60 61

Vgl. Schlechtweg-Jahn (wie Anm. 14), S. 283f. Vgl. Link, Jürgen: Kollektivsymbolik und Mediendiskurse. Zur aktuellen Frage, wie subjektive Aufrüstung funktioniert, kultuRRevolution 1 (1982), S. 6–21.

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dann häufig an den Rand gedrängt, auf spezielle Diskurse beschränkt, inoffiziell oder sogar verfemt, aber dennoch lebendig und wirkmächtig. Betrachtet man diese Veränderungen als Entwicklungsprozess, könnte man diesen als ein Miteinander von Epochenbruch zur Moderne und einer Vielzahl kleinerer Umbesetzungen begreifen, zwei Prozesse, die meiner Ansicht nach Hand in Hand gehen. Die Durchsetzung eines die Vielfalt zentrierenden, rational-ökonomischen Naturbegriffs lässt sich als Epochenbruch begreifen. Das damit einhergehende Neuarrangement der vielfältigen mittelalterlichen Naturbilder wird man hingegen eher mit dem Blumenbergschen Konzept der Umbesetzungen verstehen können: Der Begriff der ‚Umbesetzung‘ bezeichnet implikativ das Minimum an Identität, das noch in der bewegtesten Bewegung der Geschichte muss aufgefunden oder zumindest vorausgesetzt und gesucht werden können. Für den Fall der Systeme von Welt und Menschenansicht (Goethe) bedeutet ‚Umbesetzung‘, dass differente Aussagen als Antworten auf identische Fragen verstanden werden können.62

Ebenso sehr gilt aber auch, dass identische oder doch zumindest ähnliche Aussagen als Antworten auf höchst unterschiedliche Fragen bzw. Problematiken verstanden werden können, dass, mit anderen Worten, Naturbilder eine Art longue durée haben63 und dabei, trotz ähnlicher Form, unterschiedliche Funktionen über Epochengrenzen hinweg wahrnehmen können. Bei solchen komplexen Prozessen von Umbesetzungen gerade über Epochenschwellen hinweg sind auch Verluste möglich, wie vor allem das fast völlige Verschwinden allegorischer Naturbilder zeigt. Im Großen und Ganzen aber überwiegt eine Neufunktionalisierung und Neuhierarchisierung vorhandener Naturvorstellungen, bei denen erstaunlich wenig Material verloren geht. Die Veränderungen in den kulturellen Selbstbildern scheinen mir dagegen im Wechsel von Feudalismus, Absolutismus und bürgerlicher Gesellschaft tiefgreifender zu sein. Während einem sich emanzipierenden Bürgertum der Adel zunehmend zum Gegenbild wird, von dem man sich abzusetzen versucht, bleibt die Natur für alle gesellschaftlichen Gruppen ein Differenz setzender Gegenpol, der offenbar sehr viel mehr an Kontinuität erlaubt.

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Blumenberg, Hans: Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner. Erweiterte u. überarbeitete Neuausgabe von ‚Die Legitimität der Neuzeit‘, vierter Teil. Frankfurt a. M. 1976, S. 17. Um auf ein bekanntes Konzept der Mentalitätsgeschichte zurückzugreifen, vgl. Braudel, Fernand: Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée, in: Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, hg. v. Claudia Honegger. Frankfurt a. M. 1977, S. 47–85.

Benedikt Jeßing

Doppelte Buchführung und literarisches Erzählen in der frühen Neuzeit

Einleitung In der Fortsetzung des Simplicissimus-Romans (1668), im 11. und 12. Kapitel, berichtet Grimmelshausens Ich-Erzähler, wie ihn, auf einem Abort, ein Stück Toilettenpapier angesprochen habe, das er gerade habe gebrauchen wollen. Das Papier erzählt seine gesamte Lebensgeschichte: Wie es aus Hanfsamen zur Hanfpflanze geworden, dann in der Flachsröste auf die bloße Faser reduziert, versponnen, verwoben und zu einem linnenen Tuche gemacht worden, verkauft und verwendet, wie es nach langer Zeit schließlich „dürr und brechhaftig“ geworden sei, mit andern Lumpen in einer Papiermühle gelandet und dort schließlich mit einer Reihe anderer Kameraden in ein Buch verwandelt worden sei. Dieses sei dem Faktor oder Buchführer eines großen Herrn verkauft worden, der „ein groß Buch oder Journal“ daraus machte – und: Dieses Buch nun […] liebte der Faktor so hoch als Alexander Magnus seinen Homerum; es war sein Virgilius […], sein Oppianus, […] seine Commentarii Plinii Junioris, […] sein Tertullian, […] sein Cornelius Tacitus, […] und […] seine Bibel, darinnen er Tag und Nacht studierte.1

Nach diesem Lebenshöhepunkt habe zunächst langsam, dann schneller, der Verfallsprozess eingesetzt, an dessen Ende die Existenz als Toilettenpapier und nun der sichere Tod stünden. Grimmelshausen bezeichnet also das große Buch der Buchführung als Homer, Vergil, Tacitus, ja als die Bibel des neuen Zeitalters, als das Buch der Bücher der bürgerlichen Zeitrechnung. Diese Gleichsetzung mit den kanonischen Texten der (nicht nur) literarischen Überlieferung erfolgt möglicherweise nicht so willkürlich, wie auf den ersten Blick erscheint. Zumindest muss genauer nach der doppelten Buchführung gefragt werden – auch nach der Legitimation dieser Gleichsetzung der Kaufmannsbücher mit den größten Texten der Literatur. Ich möchte in der Folge zunächst kurz die doppelte Buchführung thematisieren, wie sie sich im 16. Jahrhundert durchsetzte. Mein Blick geht dabei auf die diskursiven Strukturen, die sich damit etablieren, zudem auf die (auch literarischen) Traditionen, die dabei genutzt werden. In einem zweiten Teil sollen einzelne Aspekte der Beobachtungen auf bestimmte Dimensionen der erzählenden Literatur des 16. Jahrhunderts übertragen werden, um zumin–––––––— 1

Grimmelshausen, Hans Jakob Christoph von: Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, hg. und eingel. von Volker Meid. Stuttgart 1990, S. 635.

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dest die Grundzüge einer ausstehenden Erforschung eines spezifischen Kontexts dieser Literatur anzugeben.

1.

Zur Geschichte der doppelten Buchführung

In seinem epochalen ökonomiegeschichtlichen Werk Der moderne Kapitalismus skizziert Werner Sombart zu Beginn des 20. Jahrhunderts die höchste Bedeutung der doppelten Buchführung. Er tut dies vor dem Hintergrund ihrer Vorgeschichte sowie auf der Folie frühneuzeitlicher Rationalität und Wissenschaftsgeschichte. Die zunehmende Komplexität des größer werdenden Marktes und Waren- wie Handelsaufkommens, die explodierende Zahl der anfallenden Geschäftsakte und der Zwang, abstraktere und überregionale Vergleichskategorien auszubilden, erforderte neuartige, systematische Memorialtechniken. „Die Geschichte der systematischen Buchführung“, so Sombart, „wird mit dem Satze beginnen müssen: Im Anfang war das Konto: die ratio.“2 Das eine italienische Wort für ‚Rechnung‘, ragio, leitet sich unmittelbar aus dem lateinischen ratio ab,3 das andere, conto, stammt wortgeschichtlich von computus4, also dem Begriff, der die astronomische Arithmetik der mittelalterlichen Heilszeit bezeichnet, diese erscheint allerdings in säkularer Gestalt. Arithmetik und rationale Logik stellen die Buchführung unmittelbar in den Zusammenhang frühneuzeitlicher naturwissenschaftlicher und -philosophischer Theoriebildung: Die doppelte Buchhaltung ist aus demselben Geiste geboren wie die Systeme G a l i l e i s und N e w t o n s , wie die Lehren der modernen Physik und Chemie. Mit denselben Mitteln wie diese ordnet sie die Erscheinungen zu einem kunstvollen System, und man kann sie als den ersten, auf den Grundsatz des mechanischen Denkens aufgebauten Kosmos bezeichnen. Die doppelte Buchhaltung erschließt uns den Kosmos der wirtschaftlichen, genauer der kapitalistischen Welt nach derselben Methode, wie später die großen Naturforscher den Kosmos der Sternenwelt und Blutkörperchen […] aufbauen.5

Die Leistung der Erfinder der doppelten Buchführung lasse sich, so Werner Sombart, folgendermaßen zusammenfassen: Man werde schon […] bei rein ästhetischer Bewertung […] die doppelte Buchhaltung nicht ohne Staunen und Bewunderung betrachten können als eines der kunstvollsten Gebilde des wunderreichen Gestaltungsvermögens der europäischen Menschheit.6

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Sombart, Werner: Der moderne Kapitalismus II. Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus. München 1928, S. 112ff. Vgl. Sombart (wie Anm. 2), S. 124f. Vgl. dazu Borst, Arno: Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas. Heidelberg 1990. Sombart (wie Anm. 2), S. 119. Sombart (wie Anm. 2), S. 119.

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a. Vorgeschichte Ein knapper Blick auf die Vorgeschichte der doppelten Buchführung im 14. und 15. Jahrhundert lässt das von Sombart summarisch festgestellte „wüste Durcheinander von allerhand Aufzeichnungen“7 deutlicher werden. Gründe dafür waren die unsystematischere Aufzeichnungsmethode, vor allem aber die naturwüchsige Zufälligkeit der Zeitordnung, auf die die Aufzeichnungen sich bezogen.8 – So enthält etwa Das Handlungsbuch von Hermann und Johann Wittenborg9, eines der wichtigen deutschen Handelsbücher des 14. Jahrhunderts, Eintragungen, deren Datierung entweder von einer gänzlich lokalen Zufälligkeit oder aber vom Kirchenjahr bestimmt ist: „Actum a. d. et in estate, quando Hinricus Papendorp suam uxorem desponsavit [Geschehen im Jahre und zu der Zeit, als Heinrich Papendorp sich verlobte]“10 – „A. d. 58 post vestum Jacobi“ – „to bitalende to Winnacten“ u. v. a. m.11 Weiterentwickelt wird diese Buchhaltung in mehreren Schritten: Ein systematischerer Abschnittsaufbau12 tritt an die Stelle zufälliger Notizen über Kaufoder Kreditgeschäfte, mehrere Eintragsbücher differenzieren sich aus, im Runtinger Wechselbuch (1383–1407) entwickelte sich langsam eine Kontierung nach Soll und Haben.13 Die Datierung der Zahlungstermine erfolgt weiterhin nach Kirchenjahr oder lokalen Ereignissen, langsam setzen im Laufe des 14. Jahrhunderts sich die arabischen Ziffern und die Verwendung der deutschen Sprache durch, ein einheitliches und abstrakteres System fehlt.

b. Fra Luca Pacioli Als ‚Erfinder‘ der doppelten Buchführung darf Fra Luca Pacioli gelten, dessen Abhandlung über die Buchführung (1494)14 die gesamte Buchführungsliteratur –––––––— 7 8

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Sombart (wie Anm. 2), S. 111. Die beeindruckende und immer noch lesenswerte Geschichte der Buchhaltung in Deutschland, die Balduin Penndorf 1913 vorlegte, referiert sehr genau jene Vorstufen, auf die Sombart in vager Abgrenzung sich bezieht: Penndorf, Balduin: Geschichte der Buchhaltung in Deutschland. Leipzig 1913. Nachdruck Frankfurt a. M. 1966; vgl. auch den Überblick über die frühe Buchhaltung in Deutschland bei Stieda, Wilhelm: Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter, in: Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Classe. 2. Abhandlung. Berlin 1902. Mollwo, Carl (Hg.): Das Handlungsbuch von Hermann und Johann Wittenborg. Leipzig 1901. Zit. n. Penndorf (wie Anm. 8), S. 5. Zit. n. Penndorf (wie Anm. 8), S. 6. Nirrnheim, Heinrich: Das Handlungsbuch Vickos von Geldersen, hg. vom Verein für Hamburgische Geschichte. Hamburg u. Leipzig 1895. Vgl. Penndorf (wie Anm. 8), S. 14. Nach dem italienischen Original von 1494 ins Deutsche übersetzt und mit einer Einleitung über ‚Die italienische Buchhaltung im 14. und 15. Jahrhundert und Paciolis Leben und Werk‘ versehen von Balduin Penndorf. Stuttgart 1933. Nachdruck Stuttgart 1992; zur Vorgeschichte der modernen Kontierung in Italien vgl. dazu v. a. Sieveking, Heinrich: Aus

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des 16. Jahrhunderts bestimmte und die praktische Durchsetzung des Rechnungs- und Kontenwesens im deutschsprachigen Raum einleitete. Die doppelte Buchführung beruhte auf dem systematischen Gebrauch dreier Bücher: dem Hauptbuch, dem Giornale oder Manuale und dem Memorial. Die systematische Ausbildung der drei Bücher der Buchführung bildet ein ganz eigenes Modellierungsverfahren von Zeitlichkeit aus: Das erste, einfachste Buch – das auch jeder kleinste Handlungsgeselle zu führen hatte – das Memorial, zeichnete jeden Geschäftsvorfall auf; das Protokoll zufälliger Ereignisse dient der memoria, der Erinnerung; das Journal sollte diese Ereignisse in eine rein zeitliche Ordnung überführen – eine Arbeit, die der Handelsherr oder ein eigens angestellter Buchhalter leistete; die zeitliche Ordnung der Ereignisse wurde beim Übergang ins Hauptbuch teilweise wieder aufgehoben, zugunsten von Interrelationalität und Kausalität, wie noch zu zeigen sein wird. Paciolis Erläuterungen zur kaufmännischen Buchführung beginnen, weit bevor er auf die drei ‚Bücher‘ eingehen kann, mit Hinweisen zur Erstellung des Inventars.15 Dieses listet genauestens die ökonomische Ausgangsposition aller weiteren Geschäftsvorfälle auf, den Vermögenstand. Darüber hinaus lässt sich das Inventar kasuistisch interpretieren, insofern es nicht nur die Vermögensteile genauestens auflistet, sondern alle möglichen Geschäftsfälle, die sich ereignen könnten, bezeichnend vorwegnehmen soll. Denn dem Kaufmann können die Dinge niemals zu klar sein infolge der unzähligen Fälle, die im Handel vorkommen können […]. Wer kann die Vorgänge und Fälle zählen, die einem Kaufmann unter die Hände kommen, bald zu Wasser und zu Lande, bald zur Zeit des Friedens und des Überflusses und bald zur Zeit des Krieges und der Hungersnot, bald zur Zeit der Gesundheit und der Seuchen.16

Die Präzision des Inventars zu Beginn der Buchführung dient also der Kontingenzvorsorge, sie hilft, die Komplexität des ökonomischen Verkehrs zu reduzieren, und modelliert gleichzeitig das Wahrnehmungsraster, nach welchem Geschehnisse überhaupt als solche realisiert werden. Sodann kommt Pacioli auf die drei Bücher des Kaufmanns zu sprechen. Er definiert: Das Memorial […] ist ein Buch, in das der Kaufmann alle seine kleinen und großen Geschäfte eigenhändig, so wie sie kommen, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, einschreibt. In dieses Buch schreibt er ausführlich jeden Kauf und Verkauf und andere Handelsgeschäfte ein, wobei er nicht ein Jota weglassen soll, wer, was, wie und wo, mit seinen

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Genueser Rechnungs- und Steuerbüchern. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Handels- und Vermögensstatistik, in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Phil.-hist. Klasse 162 (1909), 2. Abh.; hier S. 15ff.; vgl. dazu auch: Sieveking, Heinrich: Aus venetianischen Handlungsbüchern. Ein Beitrag zur Geschichte des Großhandels im 15. Jahrhundert, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 25, S. 299–331; hier v. a. S. 309ff.; vgl. auch Sieveking, Heinrich: Die Handlungsbücher der Medici, in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Phil.-hist. Klasse 151.5 (1906), hier v. a. S. 16ff. Vgl. Pacioli (wie Anm. 14), S. 90. Pacioli (wie Anm. 14), S. 94f.

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ganzen Abmachungen und Anführungen […]. Dieses Buch führt man nur wegen des Dranges der Geschäfte, und es schreiben der Inhaber, die Gehilfen, die Lehrlinge sowie die Frauen (wenn sie es können) in Abwesenheit des einen oder anderen ein […].17

Die Stilvorgaben, die Pacioli für die Eintragung ins erste Buch macht, sind eindeutig: „Erwähne […] von Punkt zu Punkt alles vollständig im besagten Memorial […] und erzähle die Sache einfach, so wie sie entstanden ist.“18 Der rhetorische Gestus des Memorials ist also narrativ, Präzision und Vollständigkeit sind die sachlich-stilistischen Vorgaben. Der geschickte Buchhalter wird dann nach 4 oder 5 oder 8 Tagen […] den Inhalt vom Memorial in das Journal übertragen, und zwar von Tag zu Tag alles, wie die Einträge entstanden sind, doch mit dem Unterschied, daß man im besagten Journal nicht so ausführlich mit viel Wortschwall zu sein braucht wie im genannten Memorial, denn es genügt ihm, die Sache einmal im Memorial, auf das sich das Journal immer berufen soll, gut entwickelt zu haben.19

Die erzählende Ausführlichkeit des Memorials wird also reduziert bei der Überführung der Einträge in ein streng zeitlich gegliedertes Buch. Die stilistischen Vorgaben für das Journal grenzen es deutlich vom Memorial ab: „Aber die Posten des besagten Journals muß man zierlicher formen und einschreiben, wobei man weder zu ausführlich noch zu kurz sein darf.“20 Die Vollständigkeit der Memorial-Einträge wird also stilistisch zu einer präziseren narratio bearbeitet. In der Folge erläutert Pacioli vor allem die Fachausdrücke des „Per“ und des „A“, die die Konteneintragung nach Credit und Debit im Hauptbuch vorbereiten helfen.21 Die Überführung der Journaleinträge ins Hauptbuch stellt den komplexesten diskursiven Sprung dar: den Sprung in eine andere Ordnung der Dinge. Nachdem die Seiten, mindestens doppelt so viele wie im Journal, numeriert, mit Handelszeichen und Jahreszahl versehen sind, müssen auf allen Seiten Eintragspalten für die Buchungen sowie die unterschiedlichen Währungen angelegt werden. Die Eintragung selbst sieht Pacioli folgendermaßen vor: Du mußt wissen, daß von allen Posten, die Du im Journal gebucht hast, im Hauptbuch immer je zwei zu bilden sind, nämlich einer im Soll und einer im Haben […]. Auf diese Weise sind immer alle Posten des besagten Hauptbuches miteinander verkettet, aber man darf nie etwas ins Soll setzen, das nicht auch ins Haben kommt, und ebenso darf man nie etwas ins Haben stellen, das mit demselben Betrage nicht auch ins Soll kommt, und hier entsteht dann die Bilanz, die man vom Hauptbuche bei seinem Abschluß macht: es muß im Soll soviel sein wie im Haben.22

Die Ordnung der Ereignisse, die im Hauptbuch gewonnen wird, löst sich tendenziell aus der rein zeitlichen Ordnung des Journals. In die lineare Erstreckung –––––––— 17 18 19 20 21 22

Pacioli (wie Anm. 14), S. 97. Pacioli (wie Anm. 14), S. 102 [Hervorhebungen von B. J.]. Pacioli (wie Anm. 14), S. 102. Pacioli (wie Anm. 14), S. 103. Vgl. Pacioli (wie Anm. 14), S. 103f. Pacioli (wie Anm. 14), S. 108f.

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des Zeitablaufs kommt die Dimension der Interdependenz mehrerer Ereignisse, die Kausalität hinein. Die zeitliche Ordnung bleibt zwar die dominierende Dimension der Darstellung im Hauptbuch, dessen eigentliche Leistung aber besteht in der Darstellung von Soll und Haben. Durch seine Verkettung in den Soll- und Haben-Listen wird das Ereignis, der Geschäftsvorfall, nicht mehr nur als singuläres Faktum angesetzt, sondern als komplex-synthetisches. Der Vorfall, der in das Hauptbuch eingetragen werden soll, kann sich zudem zusammensetzen aus mehreren, zeitlich verschiedenen Einzelereignissen – die dann in der Eintragung zusammengeführt werden zum ‚Posten‘. Die Ereigniskategorie wird also eben nicht mehr als einzelner Punkt innerhalb der Linearität der Zeit definiert, sondern als temporal-kausal synthetische Kategorie erfunden. – Im umgekehrten Verhältnis zu dieser Komplexität reduziert das Hauptbuch stilistisch noch einmal: „Es ist hier nicht nötig, daß Du ausführlich bist, da Du es schon im Journal ausgebreitet hast, doch bemühe Dich, immer alles kurz zu fassen.“23 Die extensive narratio wird gewissermaßen zurückgenommen zugunsten der komplexen Struktur, der Ordnung der Dinge, die zur Darstellung kommen soll.24 Pacioli räumt die Möglichkeit ein, im Journal auch alltägliche, private Geldausgaben und Ereignisse zu verzeichnen25 – das Journal wird damit auch zum Protokoll des Alltagslebens, tendiert zum Rohgerüst eines autobiographischen Textes.26 Hierdurch allerdings gerät auch das Alltagsleben in den Bann der neuen Ordnung der Dinge, die durch Temporalität und Kausalität sowie durch die dargestellte Synthetizität der Ereignisse die Komplexität der frühneuzeitlichen Welt zu erfassen sucht. Paciolis Abhandlung über die Buchführung bildet den 3. Hauptteil seines größeren Werkes Summa de Arithmetica. Unter bewusster Anlehnung an die Titel theologisch-enzyklopädischer Summae mittelalterlich-scholastischer Philosophen behandelt Pacioli hier insgesamt die Rechenkunst unter ganz pragmatischen Gesichtspunkten: Der Buchführung folgt etwa eine Darstellung von Münzen, Maßen und Gewichten.27 Moderne kaufmännische Rechenkunst wird hier also in den Rang einer quasi-theologischen, aber säkularen Computistik erhoben. Im Mittelalter (seit dem 7. Jahrhundert bei Isidor von Sevilla) war der computus die Technik zur Errechnung des Ostertermins, d. h. eine auf Gelehrte beschränkte arithmetische, astronomisch beobachtende und ‚historisch‘ berechnende Fertigkeit. Eine solche Zeitrechnung war wichtiger als die Stunden- und –––––––— 23 24

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Pacioli (wie Anm. 14), S. 110. Pacioli liefert sehr anschauliche und die Reduktion der narratio zugunsten der Strukturdarstellung deutlich machende Beispiele für Memorial-, Journal- und Hauptbucheintragungen, vgl. Pacioli (wie Anm. 14), S. 118ff. Vgl. Pacioli (wie Anm. 14), S. 128. Vgl. hierzu grundsätzlich Wenzels Hinweise zum Zusammenhang von Buchführung und frühbürgerlicher Autobiographie in: Wenzel, Horst: Die Autobiographie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. 2. Die Selbstdeutung des Stadtbürgertums. München 1980. Vgl. Penndorf, Balduin: Paciolis Leben und Werk, in: Pacioli (wie Anm. 14), S. 51–82; hier S. 56f.

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Minutenmessung, da sie, wie Isidor es formulierte, die „Klammer um Weltlauf und Menschengeist“ sei.28 Schon gegen Ende des Hochmittelalters wurde unter computus nunmehr bloße Rechenkunst begriffen, schon hier (bei Wilhelm von Hirsau etwa) bekommt der Begriff die Bedeutungsvariante der Buchhaltung zugeschrieben. Der computus wurde säkularisiert, „Finanzbuchhaltung wurde [nach und nach] zur eigentlichen Geschichtsschreibung der Gegenwart.“29 Vollends mit der doppelten Buchführung geht die Kontrolle über die Zeit aus den geweihten Händen mittelalterlicher Mönche in die weltlichen Hände des kaufmännischen Bürgertums über! Pacioli setzt über Buchführungs-Abhandlung in seiner Summa den Untertitel: Particularis de computis et scripturis.30 Der Begriff des computus erscheint hier tatsächlich vollends säkularisiert und meint nur noch die arithmetische Rechnungsart; der Buchhalter, der diese Rechnungsart in unterschiedliche scripturas überführt, ist der computista: „Che sia buon ragionere e pronto computista.“31 Trotz dieser Säkularisierung bleibt die Grundlage der kaufmännischen Computistik allerdings formal die Unterordnung unter den Willen Gottes: Die Buchführung bewahrt ihre heilsgeschichtliche Zuordnung intentional auf, indem sie zwar nicht mehr Heilszeit arithmetisch vorausberechnet, doch allerdings die eigene Zeitschreibung ins Licht der göttlichen Zeitordnung stellt:32 Jeder Eintrag musste unter Verweis auf den bestimmten Tag ‚im Jahre des Herrn‘ vorgenommen werden, jede Journal- und Hauptbuchseite wird mit einer Formel des Gotteslobes begonnen: „Im Namen Gottes 1493 am 8. November in Venedig“33 – ein allgemeingültiger Kalender und – späterhin – die mechanische Uhr gelten als vorausgesetzt. Zudem sind alle Handelszeichen, die Kaufleute und Handelshäuser sich geben, Varianten des Kreuzes: in einem Spiel meist mit den Initialen des Handelsherrn wird die Kreuzform variiert. 34

c. Import nach Deutschland Heinrich Schreiber, der sich latinisiert Henricus Grammateus nannte, veröffentlichte 1518 in Nürnberg Ayn new kunstlich Buechhalten35 – der früheste Beleg für den vollständigen Import der Rechenlehre Paciolis. Ihm folgte bald das Bändchen Ein Teutsch verstendig Buchhalten, vorgelegt von Johann Gotlieb

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Borst (wie Anm. 4), S. 31. Borst (wie Anm. 4), S. 60. Pacioli (wie Anm. 14), S. 88, Anm. 3; d. i. Notizen über die Rechenkunst und die Bücher. Pacioli (wie Anm. 14), S. 89, Anm. 8. Vgl. Pacioli (wie Anm. 14), S. 90. Pacioli (wie Anm. 14), S. 91 u. ö. Pacioli (wie Anm. 14), S. 98. Grammateus, Henricus [d. i. Heinrich Schreiber]: Ayn new kunstlich Buech ... Buechhalten durch Zornal Kaps vnd Schuldbuech. Nürnberg 1518. Nachdruck London u. Tokyo 1980.

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1531 ebenfalls in Nürnberg.36 Noch deutlicher als Pacioli und Schreiber thematisiert Gotlieb die Zeitlichkeit der in den drei Büchern erschriebenen Ordnung der Dinge: [S]o einer des Puochhaltens rechten Grund kan/ so verstehet er dits vnd alle andere Puochhalten / […] so er den proceß ersicht / so weyß er ye gewißlich wie ein yeglichs auff einander volgen / vn wie sich ein yegliche rechnung schliessen soll.37

Gotlieb diskutiert die Ordnung des Diskurses explizit als Zeit-Ordnung, seine Intention geht weit darüber hinaus: Er wolle zu diser nuetzlichen kunst vnnd geschickligkeit des Puochhaltens billich reyzen vnd bewegen / damit so wir toedlich sind / eines yeden handlung / nicht allein bey unsern zeyten / sunder auch bey kindes kindern zanck vnd irrung zuuerhueten / lauter vnnd vnuertunckelt auff unser sprach mag gefunden werden.38

Die Funktion der buchhalterischen narratio wird hier explizit ans lebens- oder generationenübergreifende Gedächtnis gebunden: Die Endlichkeit des Menschen nötigt ihn, zu erzählen, nötigt zur schriftlichen, erzählerischen Fixierung sonst vergänglicher Ereignisse. Die narratio der doppelten Buchführung hat damit ausdrücklich die Funktion der alten memoria übernommen. Die buchhalterische Bücherordnung, die Struktur des komplexen synthetischen Textes tritt bei Gotlieb mit einem universellen Aufzeichnungs- und Ordnungsanspruch auf: Dann Buochhalten ist ein kuenstliche richtige wolgestelte gewisse beschribne ordnung vn pollicey / dardurch nicht allein alle Kaufmans hendel / sonder auch alle andere Rechnungen vnd Hendeln / in ein rechte gewisse vergleichte Wag / form vnd weiß / durch sonderliche vortheil ordentlich ohn eynigen jrthum zusamen vnd in eine enge moegen gebracht / Vnnd entlich (wenn man die gantzen welt verrechen wolt) auch auff ein eintzlichs blat getragen probirt vnd beschlossen werden.39

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Gotlieb, Johann: Ein Teutsch verstendig Buchhalten für Herren oder Geselschaffter inhalt wellischem proceß / des gleychen vorhin nie der jugent ist fuergetragen worden / noch in drueck kummen / durch Joann Gotlieb begriffen vnn gestellt. Nürnberg 1531. Nachdruck London 1980. – Zur Relevanz der Lehrbücher von Gotlieb vgl. etwa Kheil, Carl Peter: Valentin Mennher und Antich Rocha. 1550–1565. Ein Beitrag zur Geschichte der Buchhaltung. Prag 1898; Kheil kann hier den Nachweis führen, dass Mennher sich nach Gotliebs Journalisierungsvorschlägen richtet (S. 15), die Journalisierung sei allerdings insgesamt sehr inhomogen (vgl. S. 16ff.). Gotlieb (wie Anm. 36), S. VI*; da die Erstdrucke der Buchhaltungslehren von Gotlieb wie auch der Londoner Nachdruck keine Seitenzählung aufweisen, wird immer in römischen Ziffern paginiert, wobei das jeweilige Titelblatt als Seite I gilt; um diese ‚manuelle‘ Paginierung zu kennzeichnen, wird hier der römischer Bezifferung ein Asterisk nachgestellt. – Die Schreibweise der Texte wird grundsätzlich getreu beibehalten, allerdings wird auf das Schaft-S verzichtet. Gotlieb (wie Anm. 36), S. VII*f. Gotlieb, Johann: Buchhalten. Zwey Künstliche vnnd verstendige Buchhalten. Nürnberg 1546. Nachdruck London 1980, S. III*.

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Paciolis Bestimmungen zur stilistischen, rhetorischen Aufbereitung der buchhalterisch erfassten Ereignisse finden am differenziertesten in Wolfgang Schweickers Zwifach Buchhalten (1549)40 Widerhall: All post oder partiden in dem Giornal sollen wol gestelt / zierlichen huebschen / nit mit vberfluessigen wortten / doch klaerlichen worten anzeigent / also vleissig eingeschriben werden […] Vn was an yedlichem tag gehandelt vnd außgericht ist worden / setze vnter den selben tag.41

Schweicker argumentiert hier mit ausgewiesenen Stilkategorien der antiken Rhetorik: brevitas, luciditas, probabilitas sollen die narratio grundsätzlich kennzeichnen – der Effekt der narratio ist die klare Ordnung der neuen Zeit! Ebenso sind die eher inhaltlichen Grundfragen, die den Eintrag lenken, an der rhetorischen Topik orientiert: „Gemein Regel von Giornal vnd Haubtpuch / helt inn sechß ding / nemlich / haben / geben / was? wieuil? zeit / vnd ordnung.“42 Die zu erlernende Ordnung versetzt den Buchhalter wie den Kaufmann in die Lage, einer wachsenden Komplexität der Welt als Nacheinander und Gleichzeitiges mit einer systematischen Aufschreib- und Erinnerungstechnik Herr zu bleiben: Einem Kauffman / der handthiert / vnd teglich sein handel treibt / dem begegnen teglichs vier ding vnterschidlich / vnd in mererley gestalt / nemlich einer der da gibt / der ander der es empfahet / das drit das das geben oder empfangen wirdt / das vierdt die vrsach warumb.43

Die doppelte Buchführung ist, zusammenfassend gesagt, die frühneuzeitliche Technik der „Zeitschreibung“ schlechthin, die mit der Übernahme der arabischen Ziffern, des modernen Kalenders und einer überregional gültigen Stundenzählung schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein hohes Maß an zeitlicher Präzision erreichte. Sie etabliert ein komplexes Diskurs-System mehrerer Bücher, die jeweils immer wieder aufeinander verweisen mussten, jeweils Ausführlichkeit der narratio reduzieren konnten zugunsten einer höheren Abstraktheit: Zufällige Notizen werden in eine zeitliche Ereignisordnung, diese wiederum in eine temporal-kausale Ordnung überführt. Die Buchführung gehört in den Kontext der Memorialtechniken, der Erinnerungs-Aufschreibesysteme: „Mit wenig Worten viel zu merken“ war die zentrale Absicht aller Buchhaltungslehren.44 Dabei greift sie auf elementare Regeln der antiken narratioVorstellung zurück. Insofern ist die Doppik damit ein erzählender Text, in welchem ein komplexes System der Zeitschreibung neu erfunden wird, in welchem gleichzeitig ein neuartiger Umgang mit den Kategorien der Erfahrung, der experientia, des Ereignisses, der Temporalität und der Kausalität erprobt und model–––––––— 40 41 42 43 44

Schweicker, Wolffgang: Zwifach Buchhalten, sampt seinem Giornal / des selben Beschlus / auch Rechnung Zuthun rc. Nürnberg 1549. Nachdruck London u. Tokyo 1980. Schweicker (wie Anm. 40), S. Vr. Schweicker (wie Anm. 40), S. VIv. Schweicker (wie Anm. 40), S. Vv; Schweicker schaltet hier die Übersetzung von Manzonis Umschreibung des XI. Kapitels bei Pacioli ein. Vgl. Penndorf (wie Anm. 8), S. 109.

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liert wird. Damit stellt die doppelte Buchführung bewusstseinsgeschichtlich fundamentale neue Fertigkeiten, einen Kompetenzzugewinn im Zugriff auf die ‚Welt‘ zur Verfügung, die – so soll hier meine These für die abschließenden Betrachtungen lauten – für die Ausbildung frühneuzeitlichen Erzählens von nicht zu überschätzender Wirkung waren.

2. Doppik und literarisches Erzählen im 16. Jahrhundert Der erste Bezug zwischen doppelter Buchführung und Erzählen bzw. erzählender Literatur liegt auf der Hand: Im Worte ‚erzählen‘ steckt die Zahl, er-zählen ist gleichsam immer auch auf-zählen. Im Italienischen und Französischen ist die Wortgeschichte noch näher an unserer doppelten Buchführung angelehnt: raconter bzw. racontrare enthalten beide conte oder conto, wortgeschichtliche Ableitungen jenes computus, den Pacioli mit der Buchführung verweltlicht. Dieser Bezug aber ist gleichsam marginal gegenüber den strukturellen Korrelationen, die für die Erzähltexte, genauer die Prosaromane des 16. Jahrhundert festgestellt werden können. Die doppelte Buchführung stiftet eine neue Zeitordnung, allgemeiner gesagt, sie erfindet eine neue Zeit, einen neuen Zeitbegriff. Zeit wird hier abgebildet als komplexe Vernetzung unterschiedlicher Ereignisse, die in einer temporalen und kausalen Folge stehen, die bloße natürliche Ordnung der Zeit, ordo naturalis, wird zugunsten abstrakterer Ordnungsparameter zum Teil hintangestellt. Die Frage nach der Ereignisordnung in der Doppik legt diejenige nach der Zeitordnung im literarischen Text nahe. Zwei völlig unterschiedliche Bilder bieten sich im Blick auf die Prosaliteratur des 16. Jahrhunderts: Prosaromane wie Fortunatus (1509), Ulenspiegel (1515), aber auch noch die Historia von D. Johann Fausten (1587) erscheinen schon auf den ersten Blick episodisch reihend: Konsequent der natürlichen Zeitordnung folgend werden Episoden aneinandergereiht – die allenfalls mit einem „do“ oder auch einem Verwies auf einen Ortswechsel an die jeweils vorige angeschlossen werden. Allen drei Texten ist allerdings eines gemeinsam: Sie gestalten biographische Zeit – die Ordnung der Episoden ist am ‚Faden des Heldenlebens‘ orientiert. Bei Eulenspiegel ist dies nur eine äußerliche Klammer: Ein Großteil der Kapitel wäre austauschbar, hier gibt es keine notwendige zeitliche Folge, sondern bloß ein räumliche. Bei Fortunatus und Faust ist die Lage etwas komplizierter, da die Figurenbiographie jeweils einen Einschnitt aufweist, Feenabenteuer dort, Teufelspakt hier, der biographisches Bewusstsein ermöglicht und fokussiert; bei Faust kommt die Frist hinzu, die jede Episode, auch wenn sie nicht zeitlich der vorigen notwendig zugeordnet erscheint, auf dem Weg zur letzten Frist verortbar macht. Zum Figurenbewusstsein jedoch gleich mehr. Alle drei Texte – und sie stehen nur beispielhaft (für die sogenannten ‚Volksbücher‘ Melusine, Magelone, Hug Schapler u. a. gilt Ähnliches) – legen keinen gesteigerten Wert auf die erzähle-

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risch-explizite Realisierung der Zeitlichkeit des Geschehens, das hier in höherem Maße noch bloße Bewegung im Raum ist.45 In völligem Gegensatz zu dieser Raumordnung des Geschehens im Kontext natürlicher Zeit steht die Erzählweise Georg Wickrams. Seine Prosaromane zeichnen sich durch ein dichtestes Netz von temporalen Bestimmungen, Zeitlichkeitspartikeln, Vorgänge u. a. anzeigenden Verben usf. aus – man kann ohne Übertreibung bis zu 30 Zeitlichkeitsverweisen pro Seite zählen. Ein Beispiel aus dem Ritter Galmy (1539): Als nun Friderich gantz bereyt was / von dannen reyt / den nechsten weg nam / an die port des Moers da er zuohandt ein schiff fand / auff welches er saß / biß in Schotten land fuor. Als er nun gon Idenburg ham / zuo hant nach seinem gsellen fraget ... / ... So baldt Galmy innen ward / das Friderich sein gesell zuo land kummen was / ... / zuo im kam / in umbfieng / fründtlich wilckum sein hieß.46

Im Unterschied zur räumlichen Ordnung der obigen Texte scheint Wickram großen Wert darauf zu legen, dass alles, was er erzählt, in einen zeitlichen und – dadurch gestifteten – kausalen Bezug zueinander kommt. An die Stelle der bloßen Reihung tritt tendenziell ein völliger Verweisungscharakter aller Ereignisse auf andere – im Rahmen der Zeitlichkeit. Der Erzähler bildet damit die Fertigkeiten der Zeitgestaltung aus: Erzähltempo, Raffung, Auslassung, die Handlung des Romans erweist sich als unendlich fein gesponnenes Netz von räumlichen, zeitlichen und kausalen Bezügen zwischen den Ereignissen. In seiner immer noch lesenswerten Untersuchung zur Form der Individualität im Roman (1932) unterstellt Clemens Lugowski Wickram eine primitive Linearität der Zeitauffassung, die sich nicht mit der des Simplicissimus oder der Wielands messen könne: „Zeit ist hier das streng lineare Nacheinander.“47 Einmal abgesehen davon, dass auch das im Detail nicht ganz zutrifft, ist aber gerade das die Leistung der Romane Wickrams: Die temporale Linearität selbst ist eine narrative Errungenschaft, die an die Stelle des räumlichen Neben- und Nacheinanders tritt; Wickram stiftet eben nicht unterschiedslose Linearität der Zeit, sondern verflechtet mit einer Fülle von Partikeln, Adverbien, Konjunktionen, ingressiven u. a. Verben der Zeitreferenz ein unendlich feines Netz einer erzählten Welt, die nicht mehr primär Raum, sondern Zeit ist. – Nicht zufällig erscheint dieses die gesamte erzählte Welt auffangende zeitliche Netz im Prosaroman des mittleren 16. Jahrhunderts: Der Raum war keine sichere Größe mehr, nachdem die Entdeckung neuer Weltteile und vor allem der kopernikanische Schock den Weltenraum hatten explodieren lassen. –––––––— 45

46 47

Clemens Lugowski attestiert Eulenspiegel sogar Zeitlosigkeit: „Wenn auch alle Bewegung zeithaft ist, so weist doch andrerseits die sich wiederholende Bewegung mit einem in der Wiederholung steigenden Nachdruck auf ihr eigenes Wesen als das sie von allen anderen unterscheidende hin. Dieses Wesen ist nicht mehr zeithaft, sondern zeitlos und unbewegt.“ (Lugowski, Clemens: Die Form der Individualität im Roman. Frankfurt am Main 1994, S. 32). Wickram, Jörg: Ritter Galmy, in: Sämtliche Werke 1, hg. v. Hans-Gert Roloff. Berlin u. a. 1967 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 1), S. 220. Vgl. Lugowski (wie Anm. 45), S. 56.

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Benedikt Jeßing

Im Blick auf die Zeitordnung seiner Prosaromane scheint Wickram die komplexe Vernetzungskompetenz gegenüber Ereignisserien, die die doppelte Buchführung bereitstellte, umsetzen zu können in ein neuartiges erzählerisches Verfahren. Dieses ermöglicht ihm, die erzählte Welt ganz als Zeit (im modernen Sinne der Doppik) erscheinen zu lassen – zudem nicht unilinear, sondern mehrsträngig, geprägt von auktorialen Rück- und Vorausweisungen, die zu erläutern diesen Rahmen sprengen würde, die aber anzeigen, in wie hohem Maße das Subjekt des auktorialen Erzählens Kompetenzen aufweist, sich in dieser ‚Welt als Zeit‘ souverän zu bewegen. Die doppelte Buchführung etabliert eine Zeit- und Ereignisordnung, die die Einlinigkeit eines Geschehensablaufs aufbricht und sowohl in der Aufspaltung in Soll- und Haben-Listen als auch in der umfassenden Interdependenz aller Ereignisse mehrere gleich- oder ungleichzeitige Handlungsabläufe denkt. Mit dem jüngsten der Ereignisse ist gleichsam die temporal-kausale Kette aller früheren verbunden, die Gegenwart ist in der Lage, ihre Vergangenheit in sich zu tragen. Diese strukturelle Bestimmung der Doppik wirft ein scharfes Licht auf das Zeitbewusstsein der Figuren. Bei Fortunatus und Faust, wie oben schon erwähnt, ist die Lage komplizierter als bei Eulenspiegel. Die Figurenbiographie weist einen Einschnitt auf: das Feenabenteuer, während dessen Fortunatus das Geldsäckel wählt, den Teufelspakt Fausts. Diese beiden Einschnitte fokussieren das jeweilige biographische Bewusstsein der Figuren; wenn Faust oder Fortunatus sich rückbeziehen auf ihre eigene Vergangenheit, reflektieren sie nur die Fehlentscheidung, die sie zu dem jeweils vergangenen Zeitpunkt getroffen haben. Vergangenheit ist aus der Perspektive der Helden gleichsam eindimensional, nur ein singulärer Punkt. Auch können beide aus ihrer Vergangenheit nicht selbst lernen, da sie nie wieder in eine vergleichbare Situation gestellt sind. Ganz anders die Helden Wickrams: Ihre Vergangenheit hat hier die lineare Dimension gewonnen, biographische Tiefe. Je und je erinnern die Heldinnen und Helden etwas Vergangenes, um aktuellen Handlungsanforderungen gewachsen zu sein. Erinnerung wird als Erfahrung nutzbar gemacht, Biographie erhält den Charakter des Bewusstseins einer Kontinuität personaler Erinnerung. Diese neuartige Tiefendimension der Innenwelt von Wickrams Romanhelden reicht von kleinen individuellen Erinnerungssplittern über kollektive, Geschichts- oder Literaturerinnerungen bis hin zur aktiven Rekonstruktion vergangener Ereignisserien: Am Schluss des Ritters Galmy muss, unter der spannungssteigernden Bedingung einer Frist, also einem Zahlungsziel auf dem Aktionskonto, eine lang vergangene Intrige rekonstruiert werden; Kausalität wird in einer zunächst lose erscheinenden Folge von Handlungselementen unterstellt und erwiesen als strafbarer und infamer Schuldzusammenhang. Diese ausführlichen Brüche in der linearen Zeitfolge der Erzählung dokumentieren die Souveränität, mit der sich die Figuren, wie oben der auktoriale Erzähler, in der neuen „Welt als Zeit” bewegen. In den Helden (und gegebenenfalls Heldinnen) der frühneuzeitlichen Prosaliteratur werden Techniken und Verfahren modelliert, wie Erinnerungstätigkeit, Erfahrungsbildung und Vergangenheitsrekonstruktion

Doppelte Buchführung und literarisches Erzählen

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zum Muster einer frühmodernen Identitätskonstruktion dienstbar gemacht werden können. Über diesen erzähltechnischen Kompetenzgewinn aus der doppelten Buchführung hinaus hat diese auch auf kleinere Floskeln erzählerischen Handelns Effekte: Praktisch zeitgleich mit der doppelten Buchführung setzt sich diejenige Formel als Zusammenfassungsformel für Kapitel oder ganze Romane durch, die der gute Haushalter unter den Strich, unter einen jeden Monat setzen sollte: in summa oder summa summarum: Mit in summa fasst der Faust-Erzähler die schrecklichen Insekten- und Ungeziefer-Verwandlungen der Teufel zusammen, mit in summa beschließt eine Figur in Wickrams Nachbawrn die leidvolle Lebensgeschichte Robertis,48 und der Erzähler nutzt die Formel zur Zeitraffung und Auslassung: „In summa er macht sich in monats frist gar wegfertig.“49 Oder, um den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bei Grimmelshausen nochmals zu zitieren: „Dieses Buch nun […] liebte der Faktor […] es war […] in summa summarum seine Bibel, darinnen er Tag und Nacht studierte.“50 Hier sei folgendes zusammengefasst: Die doppelte Buchführung stellt in der frühen Neuzeit einen Kompetenzzugewinn im Zugriff auf die ‚Welt‘ zur Verfügung, der in unterschiedlicher Weise in – nicht zufälligerweise bürgerlichen – Prosaromanen des 16. Jahrhunderts als literarisch-narrative Kompetenz umgesetzt wird: erzählerische Zeitgestaltung, biographisches Bewusstsein der Figuren und ein spezifisches Formelrepertoire sind nur Beispiele für die Interdependenz von buchhalterischem und erzählerischem Diskurs, Elemente eines spezifischen Kontextes der Literatur der frühen Neuzeit, denen weiter nachgegangen werden muss.

Quellen: Das Handlungsbuch Vickos von Geldersen. Bearbeitet von Hans Nirrnheim, hg. vom Verein für Hamburgische Geschichte. Hamburg u. Leipzig 1895. Fink, August: Die Schwarzschen Trachtenbücher. Berlin 1963. Gamersfelder, Sebastian: Buchhalten Durch zwey Bücher nach italienischer Art und weise. Danzig 1570. Goessens, Passchier: Buchhalten fein kurtz zusammen gefasst vnd begriffen / nach arth und weise der Italianer. Hamburg 1594. Gotlieb, Johann: Ein Teutsch verstendig Buchhalten für Herren oder Geselschaffter inhalt wellischem proceß / des gleychen vorhin nie der jugent ist fuergetragen worden / noch in

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Wickram, Jörg: Von guoten und boesen Nachbaurn. Sämtliche Werke 4, hg. v. Hans-Gert Roloff. Berlin u. a. 1969 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 4), S. 19. Wickram (wie Anm. 47), S. 27. Grimmelshausen (wie Anm. 1), S. 635.

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Benedikt Jeßing

drueck kummen / durch Joann Gotlieb begriffen vnn gestellt. Nürnberg 1531. Nachdruck London 1980. Gotlieb, Johann: Buchhalten. Zwey Künstliche vnnd verstendige Buchhalten. Nürnberg 1546. Nachdruck London 1980. Grammateus, Henricus [d. i. Heinrich Schreiber]: Ayn new kunstlich Buech ... Buechhalten durch Zornal Kaps vnd Schuldbuech. Nürnberg 1518. Nachdruck London u. Tokyo 1980. Kheil, Carl Peter: Ueber einige ältere Bearbeitungen des Buchhaltungs-Tractates von Luca Pacioli. Ein Beitrag zur Geschichte der Buchhaltung. Prag 1896. Kheil, Carl Peter: Valentin Mennher und Antich Rocha. 1550–1565. Ein Beitrag zur Geschichte der Buchhaltung. Prag 1898. Kuske, Bruno: Quellen zur Geschichte des Kölner Handels und Verkehrs im Mittelalter 3. Besondere Quellengruppen des späteren Mittelalters. Bonn 1923. Mantels, Wilhelm: Beiträge zur Lübisch-Hansischen Geschichte. Jena 1881. Ott Rulands Handlungsbuch. Gedruckt auf Kosten des litterarischen Vereins Stuttgart 1843. Pacioli, Luca: Abhandlung über die Buchhaltung 1494, ins Dt. übers. und mit einer einl. versehen von Balduin Penndorf. Stuttgart 1992 [Erstausgabe 1933]. Schweicker, Wolffgang: Zwifach Buchhalten, sampt seinem Giornal / des selben Beschlus / auch Rechnung Zuthun rc. Nürnberg 1549. Nachdruck London u. Tokyo 1980. Sieveking, Heinrich: Aus Genueser Rechnungs- und Steuerbüchern. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Handels- und Vermögensstatistik, in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Phil.-hist. Klasse 162.2 (1909), S. 1–110. Sieveking, Heinrich: Aus venetianischen Handlungsbüchern. Ein Beitrag zur Geschichte des Großhandels im 15. Jahrhundert, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 25 (1901), S. 299–331. Sieveking, Heinrich: Die Handlungsbücher der Medici, in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Phil.-hist. Klasse 151.5 (1906), S. 1–65. Stieda, Wilhelm: Über die Quellen der Handelsstatistik im Mittelalter, in: Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Classe. 2. Abhandlung. Berlin 1902. Strieder, J.: Die Inventur der Firma Fugger aus dem Jahre 1527, in: Ergänzungsheft XVII der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Tübingen 1905.

Dirk Werle

Mythos und Ruhm Zur Funktion zweier Konzepte des kulturellen Gedächtnisses in Gedichten um 1800 (Hölderlin, Goethe, Schiller)1

Ein zentrales Konzept für die Theorie der Literatur und der Literaturgeschichte ist der Ruhm. Der Begriff wirkt in der Moderne merkwürdig unzeitgemäß. Das hat vermutlich erstens mit Prozessen der funktionalen Ausdifferenzierung kultureller Felder zu tun, die eine Vielfalt erzeugen, angesichts derer ein auf Einheitsvorstellungen abzielendes Konzept wie der Ruhm wenig Beschreibungsoder gar Erklärungskraft zu beanspruchen vermag. Zweitens hat es mit der immer stärker historischen Sichtweise zu tun, mit der seit dem 18. Jahrhundert kulturelle Phänomene perspektiviert und gedeutet werden. Der Ruhm als ahistorisches Konzept, das einen quasi-natürlichen Prozess der Tradierung des Namens großer Individuen impliziert, scheint in einer solchen historischen Situation ausgedient zu haben. Gleichwohl verlieren Konzepte des Ruhms auch in der beschriebenen Situation ihre Wichtigkeit nicht, sondern dienen der Artikulation alternativer Sichtweisen auf Geschichte und kulturelles Gedächtnis. Im Folgenden möchte ich vergleichend untersuchen, wie der Ruhm in drei Gedichten thematisiert und dargestellt wird: Friedrich Hölderlins Hymne An Herkules (1796), Johann Wolfgang von Goethes Elegie Euphrosyne (1799) und Friedrich Schillers Hymne Das Siegesfest (1803). Sie entstehen in großer zeitlicher Nähe und in einem geisteshistorisch und sogar biographisch eng verzahnten Kontext; vor allem aber wird in allen drei Gedichten die Thematisierung des Ruhms mit der Gestaltung mythologischer Stoffe verknüpft. Die drei Gedichte möchte ich im Folgenden in chronologischer Ordnung traktieren, um erstens einige Elemente einer ideengeschichtlichen Konstellation zu rekonstruieren und daraus zweitens einige allgemeinere Überlegungen zur Valenz der Konzepte Mythos und Ruhm für Gedächtniskonzeptionen und Vorstellungen kulturellen Wandels im Spannungsfeld naturalistischer und kulturalistischer Theoreme abzuleiten. Bei der vergleichenden Interpretation der Gedichte ist erstens zu fragen, in welchem Maß hier tradierte Denkfiguren und Redemuster des europäischen Ruhmdiskurses gattungsspezifisch variiert werden. In einem zweiten Schritt ist aufzuzeigen, inwieweit die Verknüpfung von Ruhm und Mythos eine spezifi–––––––— 1

Für kritische Anmerkungen und Hinweise danke ich Nele Schneidereit (Dresden) und Dieter Burdorf (Leipzig).

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sche Funktion erfüllt.2 Drittens ist nachzuweisen, wie die Gestaltungen des Ruhmkonzepts die Reaktion auf eine spezifische zeitgenössische Problemsituation darstellen, in der im Spannungsfeld von Universalität und Pluralisierung, von ‚naturalistischen‘ und ‚kulturalistischen‘ Denkmodellen nach adäquaten Beschreibungsweisen von Geschichte und kollektivem Gedächtnis gesucht wird.

I. Hölderlins vom Herausgeber des postum erschienenen Erstdrucks in den Blättern für literarische Unterhaltung, Karl Müller Rastatt, 1893 An Herkules titulierter Gedichtentwurf ist vermutlich 1796 entstanden und zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht worden.3 Das Gedicht besteht – in der Rekonstruktion aus der komplizierten handschriftlichen Überlieferung – aus sechs Strophen zu je acht in Form von Kreuzreimen angeordneten, vierhebig alternierenden Versen ohne Auftakt und mit abwechselnd weiblichen und männlichen Kadenzen. Es wird von den Herausgebern der Frankfurter Ausgabe als Reimhymne bezeich–––––––— 2

3

Auf den theoretischen Zusammenhang von Mythos und Ruhm macht bereits Detlev Schöttker aufmerksam: Ruhm und Rezeption. Unsterblichkeit als Voraussetzung der Literaturwissenschaft, in: Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, hg. v. Jörg Schönert. Stuttgart u. Weimar 2000, S. 472–487; hier S. 486. In seinen auf eine literaturwissenschaftliche Theorie des Ruhms abzielenden Beiträgen bietet Schöttker viele wichtige Beobachtungen und Literaturhinweise. Vgl. Schöttker, Detlev: Der Autor als Star der Nachwelt, in: Stars. Annäherungen an ein Phänomen, hg. v. Wolfgang Ullrich u. Sabine Schirdewahn. Frankfurt a. M. 2002, S. 248–265; ders.: Der literarische Souverän. Autorpräsenz als Voraussetzung von Kanonpräsenz, in: Literarische Kanonbildung, hg. v. Heinz Ludwig Arnold u. Hermann Korte. München 2002, S. 277–290; ders.: Wir bleiben Helden. Die Renaissancen des Rühmens, Merkur 58 (2004), S. 818–825; ders.: Die Bewunderung des Autors. Zur Theorie des literarischen Ruhms, Geschichte der Germanistik 31/32 (2007), S. 34–42. Gegenüber Schöttkers auf eine aktuell relevante Theorie abzielenden Entwürfen verfolge ich mit meinen Überlegungen das weniger anspruchsvolle Projekt einer historischen Rekonstruktion bestimmter ideengeschichtlicher Konstellationen. Vgl. auch Werle, Dirk: Vorbemerkungen zu einer Theoriegeschichte des Ruhms, Geschichte der Germanistik 29/30 (2006), S. 24–33. Eher populärwissenschaftliche Monographien zur Kulturgeschichte des Ruhms mit weiteren Hinweisen Liese, Hans-J.: Jenseits des Ruhms. Der ‚negative‘ Held in Geschichte, Kultur und Zeitgeschehen. Essen 1987; Thiele-Dohrmann, Klaus: Ruhm und Unsterblichkeit. Ein Menschheitstraum von der Antike bis heute. Weimar 2000; kurz gefasst ders.: Ruhm und Unsterblichkeit. Zur Geschichte eines Menschheitstraumes, in: Ruhm, Tod und Unsterblichkeit. Über den Umgang mit der Endlichkeit, hg. v. Konrad Paul Liessmann. Wien 2004 (Philosophicum Lech 7), S. 146–174. Ebenfalls einschlägig für die Thematisierung des Ruhms bei Hölderlin das deutlich hermetischere Gedichtfragment Der Ruhm (1811), in: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. ‚Frankfurter Ausgabe‘. Historisch-kritische Ausgabe 9. Dichtungen nach 1806. Mündliches, hg. v. D. E. Sattler. Frankfurt a. M. u. Basel ²1999, S. 79–84. Auf diesen Text weist schon Schöttker (2004; wie Anm. 2, S. 820) hin.

Mythos und Ruhm

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net.4 Für diese Gattungszuschreibung gibt es in der Tat einige Evidenz: der feierliche Ton, die appellative Struktur – es handelt sich um die Rede eines lyrischen Ich an ein Gegenüber –, die hierarchisch-vertikale Ausrichtung – ein Sterblicher konfrontiert sich dem Halbgott Herkules – und die Tendenz zur Dreigliedrigkeit – Anrufung des Herkules, ‚epischer‘ Mittelteil, der beschreibt, wie das lyrische Ich mit Herkules als Vorbild sich vom Jüngling zum Mann entwickelt, und die abschließende, selbstbewusste Aufforderung an Herkules, den Olymp mit dem erwachsen gewordenen lyrischen Ich zu teilen.5 Das Gedicht inszeniert die Spannung zwischen einem empfundenen Größenunterschied und dessen Ausgleich, zwischen Minderwertigkeitsgefühl einerseits, Selbst- und Wertbewusstsein andererseits, zwischen der Sehnsucht nach heroischer Freundschaft und tragischem Alleinstehen. Es ist einer der in der Hölderlin-Forschung vergleichsweise wenig behandelten Texte.6 In den vorhandenen Forschungsbeiträgen wurde es bisweilen allegorisch gedeutet. Einmal sozialhistorisch als „Zeugnis bürgerlicher Emanzipationsanstrengungen“7: Das vaterlose lyrische Ich (V. 29),8 das „kraft des eignen Strebens“ (V. 39) himmelan gewachsen ist, tritt an gegen den genealogisch durch Vater und Vatersvater abgesicherten „Sohn Kronions“ (V. 41), der als Allegorie des Adels gelesen wird. Für diese Lesart ist der historische Hintergrund der Französischen Revolution als Kontext relevant. Eine zweite, einflussreichere allegorische Lesart deutet das Gedicht biographisch: Das lyrische Ich wird im Rahmen dieser Lesart identifiziert mit Hölderlin selbst, Herkules dagegen mit Schiller, Hölderlins großem Vorbild, an dem er sich misst, das er aber zudem zu übertreffen strebt. Das Gedicht wäre unter dieser Perspektive zu lesen als mythologisch verschlüsselte Abrechnung mit Schiller und als Geste der Überbietung.9 Diese Interpretation besitzt sicherlich –––––––— 4

5

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Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. ‚Frankfurter Ausgabe‘. Historisch-kritische Ausgabe 2. Lieder und Hymnen, hg. v. D. E. Sattler. Frankfurt a. M. u. Basel 1978, S. 243–252; hier S. 243. Die Charakteristika der lyrischen Subgattung ‚Hymne‘ nach Kraß, Andreas: [Art.] Hymne, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 2, hg. v. Harald Fricke u.a. Berlin u. New York 2000, S. 105–107; hier S. 105. Einige wichtige Beobachtungen bei Hötzer, Ulrich: Die Gestalt des Herakles in Hölderlins Dichtung. Freiheit und Bindung. Stuttgart 1956, S. 31–47. Tismar, Jens: Herakles als Leitfigur bei Wieland, Goethe und Hölderlin, Text & Kontext 13 (1985), S. 37–48; hier S. 41. Vgl. jedoch ebd., S. 46: „Hölderlins Entwurf will [...] die Apotheose des Subjekts, das sich durch seine Taten der hohen Stellung würdig erwiesen hat. Also nicht durch prosaische, im politischen Alltag sich aufspaltende Handlungen, sondern durch die gegenwärtigen Analogien der Heldentaten, durch Gedichte.“ Verszählung nach dem ‚Konstituierten Text II‘ der ‚Frankfurter Ausgabe‘ (wie Anm. 3), S. 251f. Dass die biographische Lesart einflussreicher war als die sozialhistorische, kann man an dem Umstand ablesen, dass sie es ins Hölderlin-Handbuch geschafft hat. Vgl. Gaier, Ulrich: Rousseau, Schiller, Herder, Heinse, in: Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Johann Kreuzer. Stuttgart u. Weimar 2002, S. 72–89; hier S. 81. Zuerst scheint sie sich zu finden bei Böhm, Wilhelm: Hölderlin 1. Halle 1928, S. 214–216. Ausführlich im Sinne dieser Lesart eines „dichterischen Gesprächs“ zwischen Hölderlin und Schiller

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einige Plausibilität. Für die Plausibilisierung der These, dass Hölderlin in seiner Hymne eine Konkurrenz zu Schiller artikuliert, benötigt man jedoch derlei allegorisierende Interpretationsbemühungen nicht. Es reicht ein Blick auf die formale Gestaltung der Strophen, die analog der Gestaltung von Schillers Lied An die Freude gehalten ist.10 Hier wird ein Überbietungsgestus mithin weniger auf der inhaltlichen als vielmehr wirkungsvoller in actu auf der formalen Ebene inszeniert. Auf der inhaltlichen Ebene dagegen kommt die Interpretation durchaus ohne allegorische Lesarten aus. Der Halbgott Herkules zeichnet sich als mythischer Held dadurch aus, dass er große Heldentaten vollbringt. Er führt „Kriege“ (V. 15) in seinem „Kämpferwagen“ (V. 17), trägt Lasten (V. 19) und bewegt sich als „[k]ühner Schwimmer“ (V. 27) in des „Schiksaals Woogen“ (V. 25). Das Verdienst dieser Taten wird aber dadurch geschmälert, dass Herkules sie nicht allein aus eigener Kraft meistert, sondern dass „[h]ohe Götterkräfte“ (V. 26) ihn dazu „auferzogen“ haben (V. 27). Ebenso, und das steht nicht im Gedicht, sondern muss aus mythologischem Hintergrundwissen ergänzt werden, kann Herkules nicht völlig aus eigener Kraft unsterblich werden. Im Gedicht wird zwar der „Olymp“ als Metonymie der Unsterblichkeit als Herkules’ „Beute“ bezeichnet, als ob er ihn sich selbständig und aktiv verschafft hätte; um Unsterblichkeit zu erlangen, bedarf Herkules jedoch der Apotheose durch seinen Vater Zeus.11 Das lyrische Ich dagegen ist in der Lage, aus eigener Kraft Unsterblichkeit zu erringen, so Herkules „an die Seite“ zu treten (V. 41f.) und zu beanspruchen, den Olymp mit ihm zu teilen, obwohl es sterblich geboren ist (V. 45). Wie es das erreichen will, das wird in der Hymne selbst nicht gesagt – es bleibt bei einer vierfach gedrängten Anhäufung von dahin gehenden rhetorischen Fragen, die aber unbeantwortet bleiben: „Was erzog dem Siege mich? / Was berief den Vaterlosen, [...] / Daß er kühn an dir sich maß? / Was ergriff und zog vom Schwarme / Der Gespielen mich hervor? / Was bewog des Bäumchens Arme / Nach des Aethers Tag empor [...]“ (V. 28ff.). Eine Auflösung dieser Fragen bringt die letzte Strophe, aber nicht auf einer semantischen, sondern eher auf einer pragmatischen Ebene. In die richtige Richtung weisen zwei kleinere Beobachtungen am Text: „Sohn Kronions! an die Seite / Tret’ ich nun erröthend dir [...]“ (V. 41f.); so lauten die ersten beiden Verse der Schlussstrophe, und das Temporaladverb ‚nun‘ verweist darauf, dass die beschriebene Handlung in –––––––— Mommsen, Momme: Hölderlins Lösung von Schiller. Zu Hölderlins Gedichten AN HERKUDIE EICHBÄUME und den Übersetzungen aus Ovid, Vergil und Euripides (1965), in: Lebendige Überlieferung. George, Hölderlin, Goethe. Bern u.a. 1999, S. 53–106, das Zitat S. 103. Nicht recht zu überzeugen vermag Elida Maria Szarotas These, An Herkules stelle eine Antwort auf Winckelmanns Herkulesdeutung dar; Szarota, Elida Maria: Winckelmanns und Hölderlins Herkulesdeutung, in: Beiträge zu einem neuen Winckelmannbild, hg. v. Berthold Häsler. Berlin 1973, S. 75–87. Vgl. Mommsen (wie Anm. 9), S. 67. Vgl. Ranke-Graves, Robert von: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung (1955). Autorisierte deutsche Übs. v. Hugo Seinfeld unter Mitwirkung v. Boris v. Borresholm. Neuausgabe Reinbek 1995, S. 522–528. Zum Zusammenhang von Ruhm und Apotheose Thiele Dohrmann (2000; wie Anm. 2), S. 43–47.

LES und

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unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft des Sprechakts erfolgen soll. Und das Gedicht endet mit den Trotz, Selbstsicherheit und agonale Haltung ausdrückenden Versen: „Sterblich bin ich zwar geboren, / Dennoch hat Unsterblichkeit / Meine Seele sich geschworen, / Und sie hält, was sie gebeut“ (V. 45ff.). Die Unsterblichkeit der Seele ist in der Dichtung des 18. Jahrhunderts ein viel thematisiertes Phänomen.12 Aber sie kann wie im Fall des Herkules nur durch einen Gott garantiert werden. Eine Unsterblichkeit, die eine Seele sich selbst zu verschaffen in der Lage ist, kann aber keine buchstäbliche Unsterblichkeit sein. Es ist die Unsterblichkeit in Form des Dichterruhms, die sich der Dichter durch die Dichtung selbst verschafft, welche mit den zitierten Schlussworten ausklingt. Die Überbietung des mythischen Helden geschieht dadurch, dass dieser zwar buchstäblich Unsterblichkeit erlangen kann, aber nicht ausschließlich aus eigener Kraft. Der Dichter dagegen kann sich die Unsterblichkeit im übertragenen Sinne durch seine Dichtung selbst verschaffen, und als Nebeneffekt garantiert er dadurch auch die Unsterblichkeit des mythischen Helden in Form von Ruhm, er tritt also nicht nur dem Heros konkurrierend an die Seite, sondern auch dem Gott, von dem es andernfalls abhinge, ob der Heros unsterblich wird oder nicht.13 Das Gedicht beschreibt mithin den Umschlag von Heldenverehrung in die Selbstbehauptung des modernen Individuums – das Verehrungsbedürfnis, von Julian Hirsch als wichtiger ruhmerweiternder Faktor eingeführt, der sich insbesondere in der griechischen Heldenverehrung auspräge,14 wird auf diese Weise überwunden. Dafür braucht das lyrische Ich aber das Publikum, den Leser: Die Apotheose durch den Göttervater wird ersetzt durch die Apotheose durch die Masse. Dass es in dem Gedicht um Fragen der Unsterblichkeit geht, darauf verweist schon der Vergleich, der die gesamte zweite Strophe strukturiert: Herkules, der das lyrische Ich „aus der Kinderwiege, / Von der Mutter Tisch’ und Haus / In die Flamme [s]einer Kriege“ (V. 13ff.) mitnimmt, wird mit einem Adler verglichen, der seine Jungen „[i]n den frohen Aether“ mitnimmt, sobald „der Funk’ im Auge klimmt“ (V. 10ff.). Mit diesem Vergleich wird das Lehrer-SchülerVerhältnis betont, das zwischen Herkules und dem lyrischen Ich besteht und das eine Strophe später auch ganz explizit benannt wird, wenn das lyrische Ich sich –––––––— 12

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Vgl. im Falle Hölderlins die Hymne an die Unsterblichkeit (1790), in: Hölderlin (wie Anm. 3), S. 47–62; im Falle Schillers das Distichon Unsterblichkeit (1795), in: Schiller, Friedrich: Werke 1. Nationalausgabe, hg. v. Julius Petersen u. Gerhard Fricke. Weimar 1943, S. 259. Problemgeschichtlich dazu Unger, Rudolf: Der Unsterblichkeitsgedanke im 18. Jahrhundert und bei unseren Klassikern (1929/30), in: Gesammelte Studien 3. Darmstadt 1966, S. 9–36, der allerdings vor allem auf die Unsterblichkeit der Seele im buchstäblichen, nicht auf den Ruhm als Unsterblichkeit im übertragenen Sinne eingeht. Bereits für Walter F. Otto gestaltet die Schlussstrophe An Herkules mustergültig die antike Idee, dass „der Wille zum Ruhm den Sänger mit dem heroischen Menschen“ verbindet: „Er reicht nicht nur anderen den Kranz der Unsterblichkeit, sondern setzt ihn sich selbst aufs Haupt“; Otto, Walter F.: Tyrtaios und die Unsterblichkeit des Ruhmes, Geistige Überlieferung 2 (1942), S. 66–95; hier S. 95. Hirsch, Julian: Die Genesis des Ruhmes. Ein Beitrag zur Methodenlehre der Geschichte. Leipzig 1914, S. 56.

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als Herkules’ „Schüler“ (V. 21) bezeichnet. Jochen Schmidt hat aber darüber hinaus im Kommentar seiner Hölderlin-Ausgabe darauf aufmerksam gemacht, dass der Adler „im antiken Heroenkult ein Symbol der Apotheose und damit der Unsterblichkeit selbst“ darstellt.15 Die dritte Strophe stellt den Adler-Vergleich zudem in einen anderen mythologischen Kontext und betont eine weitere Perspektive: „Schmerzlich brannten, stolzes Licht / Mir im Busen deine Stralen, / Aber sie verzehrten nicht“ (V. 22ff.). In Verbindung mit dem Adler-Vergleich handelt es sich bei diesen Versen um eine Anspielung auf den Mythos von Ikarus, der seinem Vater auf dem Höhenflug mit selbstgebauten Flügeln folgt und dabei ins Meer stürzt. Veranschaulicht der Mythos die Folgen menschlicher Überheblichkeit und Anmaßung, sich den Göttern gleichstellen zu wollen, indem man übermenschliche Taten zu tun beansprucht, so stellt Hölderlins Text eine Überbietung dar: Das lyrische Ich wird von der Nähe zur Sonne nicht zerstört wie Ikarus; es beansprucht Übermenschliches daher zu Recht. Dieser Gestus der Überbietung des Ikarus, die den Anspruch des Dichters auf Ruhm anzeigen soll, ist antiken Ursprungs. Er findet sich bereits in der letzten Ode von Horaz’ zweitem Odenbuch.16 An Herkules weist eine dreiteilige Struktur auf, die nach den Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konzeptualisiert werden kann: Dem Rückblick auf den eigenen Bildungsprozess folgt in der letzten Strophe der Blick auf das gegenwärtige Resultat dieses Prozesses und gleichzeitig die Wendung in die Zukunft, die in Form der Unsterblichkeit den Anspruch des lyrischen Ich, dem Halbgott „an die Seite“ (V. 41) zu treten, beglaubigen wird. Ort des Ruhms ist diese in der letzten Strophe avisierte Zukunft, die aus der Perspektive der Gegenwart lediglich projiziert werden kann. Die Dreiteiligkeit des Aufbaus bildet eine strukturelle Ähnlichkeit mit einem locus classicus des europäischen Ruhmdiskurses, Horaz’ Ode III, 30, in der ebenfalls zunächst der Blick auf die Vergangenheit gerichtet wird, der allerdings anders als bei Hölderlin die Schöpfung des Dichters perspektiviert, in der dann die Gegenwart anvisiert wird und mit ihr die Situation des Sprechers und in der schließlich mit der Zukunft der Ruhm des Dichters in den Blick genommen wird.17

II. Goethe hat Hölderlins Hymnenentwurf aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gekannt, als er ein oder zwei Jahre nach ihm seine Elegie Euphrosyne verfasste. Das Gedicht, das zuerst in Schillers Musenalmanach für das Jahr 1799 erscheint, ist auf den ersten Blick schwer vergleichbar mit Hölderlins Text. Schon –––––––— 15 16 17

Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe. 3 Bde., hg. v. Jochen Schmidt. Band 1: Gedichte. Frankfurt a. M. 1992, S. 592. Hor. carm. II, 20. Hor. carm. III, 30.

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formal könnten die beiden Gedichte kaum unterschiedlicher sein: Hölderlins liedhafter, hymnischer Versform stehen bei Goethe die antikisierenden Distichen gegenüber. Aber auch auf der inhaltlichen Ebene fällt der Kontrast insofern recht deutlich aus, als Goethes Gedicht mindestens ebenso als Modell seiner Gattung, der Elegie, stehen kann wie Hölderlins Hymne. In der Tat ist Euphrosyne neben Schillers Spaziergang (1795) als Modellfall der klassischen deutschen Elegie beschrieben worden, indem es nicht nur formal in elegischen Distichen verfasst ist, inhaltlich einen traurigen Gegenstand thematisiert und hinsichtlich der Sprechhaltung des lyrischen Ich eine Stimmung der rückwärtsgewandten Wehmut ausdrückt. Zusätzlich stellt das Gedicht ein lyrisches Ich vor, das im Verlauf seiner dichterischen Reflexion über ein zentrales Problem von einem Zustand der Spannung zwischen zwei Extremen zu einer Lösung gelangt.18 Gleichwohl lassen sich auf den zweiten Blick bemerkenswerte Konvergenzen zwischen den beiden Gedichten feststellen, die mit der Thematisierung von Mythos und Ruhm zu tun haben.19 Das Gedicht beschreibt das Erlebnis eines lyrischen Ich, dem in der Einsamkeit der Berge in einem Zwischenreich,20 von dem nicht ganz klar ist, ob es sich um einen Traum, eine Vision oder die Realität handelt, die Doppelgestalt der Grazie Euphrosyne begegnet, die gleichzeitig eine dem lyrischen Ich bekannte, verstorbene Person verkörpert, ihm verschiedene gemeinsame Erlebnisse vor Augen ruft und es schließlich bittet, sie „nicht ungerühmt [...] zu den Schatten hinabgehn“ zu lassen (V. 121).21 Schließlich verschwindet die Traumgestalt, das lyrische Ich erwacht, und die Sonne geht auf. Die Alpenszenerie, in der die Handlung der Elegie lokalisiert wird, verweist als tradierter Topos auf Vorstellungen der Erhabenheit, aber auch einer idyllisch-bukolischen Situation, mithin einer ungeschichtlichen Welt. Zu dem komplex verschachtelten, in Form einer Ringkomposition symmetrisch gegliederten Gedicht ist schon viel geschrieben

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Vgl. Ziolkowski, Theodore: The Classical German Elegy 1795–1950. Princeton 1980, S. 89–101. Eine motivische Konvergenz findet sich zudem in Goethes XIX. Römischer Elegie (1795), in der Herkules wie bei Hölderlin als besonders ruhmaffiner mythischer Held auftaucht – die charakterisierende Gestaltung des Helden und die Thematisierung des Ruhms sind in dieser Elegie aber vollkommen anders durchgeführt; vgl. in der ‚Hamburger Ausgabe‘: Goethes Werke 1. Textkritisch durchgesehen und kommentiert v. Erich Trunz. München 15 1993, S. 170–172. Der Ruhm spielt auch eine nicht unwichtige Rolle in Schillers später in Der Spaziergang umbenannter Elegie, in: Schiller (wie Anm. 12), S. 260–266, bes. V. 91– 102. Diese Formulierung entnehme ich dem Titel von Bach, Rudolf: Begegnung im Zwischenreich. Goethes Elegie ‚Euphrosyne‘, Goethe. Neue Folge des Jahrbuchs der GoetheGesellschaft 11 (1949), S. 134–154. Zum rhetorischen Zusammenhang von Bergeinsamkeit und Erhebung des Dichters vgl. Burdorf, Dieter: Riese, Berggipfel, Leuchtturm. Die metaphorische Erhebung des Dichters vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Schönheit, welche nach Wahrheit dürstet. Beiträge zur deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg. v. Gerhard Kaiser u. Heinrich Macher. Heidelberg 2003, S. 1–26. Verszählung nach der ‚Hamburger Ausgabe‘ (wie Anm. 19), S. 190–195.

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worden;22 insbesondere ist es mehr noch als Hölderlins Gedicht bisweilen auf penetrante Weise biographisch gedeutet worden. Es wäre allerdings in diesem Fall in der Tat kaum möglich, alle Aspekte des Texts ohne Rückgriff auf biographisches Wissen zu erklären: Vielfältige Anspielungen und Bezüge (die in der Goethe-Forschung umfassend aufgeklärt worden sind) verweisen auf das Leben und den Tod der Schauspielerin Christiane Becker-Neumann, die unter Goethes Leitung am Weimarer Theater tätig war und früh verstarb; aber die zentrale ‚Punchline‘ des Texts wird auch in diesem Fall in einer immanenten Logik verständlich.23 Ich möchte mich hier nur auf zwei gemeinhin als zentral betrachtete Textstellen konzentrieren. Den Mittelpunkt des Gedichts bildet eine in einer doppelten Verschachtelung der Redesituation von der Figur der Euphrosyne referierte Rede des lyrischen Ich, in der es die Diskrepanz beklagt zwischen dem regelhaften Gesetz des Naturkreislaufs im Großen und dem „schwankende[n] Los“ (V. 78) der menschlichen Natur im Kleinen, das sich insbesondere in der Kontingenz des Todes manifestiert (V. 63–96). Diese wird hier als Problem herausgestellt, dessen Lösung Euphrosyne gegen Ende des Gedichts in Form des bereits oben zitierten Wunsches formuliert: „Laß nicht ungerühmt mich zu den Schatten hinabgehn! / Nur die Muse gewährt einiges Leben dem Tod“ (V. 121f.). Das widersprüchliche Phänomen des Lebens im Tod kann die Muse als Metonymie der Kulturleistung im Allgemeinen und der Dichtung im Besonderen in Form des Ruhms der Verstorbenen erzeugen. Zur Veranschaulichung –––––––— 22

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Umfassend Haas, Rosemarie: Goethes Elegie ‚Euphrosyne‘, Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts 34 (1994), S. 1–43. Des weiteren Miller, Norbert: ...du nanntest mich Arthur, / Und belebtest in mir brittisches Dichter-Gebild – zu Goethes Elegie: Euphrosyne, in: Goethe-Gedichte. Zweiunddreißig Interpretationen. Karl Richter zum 60. Geburtstag, hg. v. Gerhard Sauder. München u. Wien 1996, S. 156–167. Weniger weiterführend für den hier traktierten Zusammenhang Paulin, Roger: Art and Immortality. Goethe’s Elegy Euphrosyne, in: Papers read before the English Goethe Society 1998, hg. v. Jeremy D. Adler u.a. Leeds 1999, S. 61–69. Vgl. dagegen Litzmann, Berthold: Goethes ‚Euphrosyne‘. Ein Erlebnis und seine Gestaltung, Deutsche Rundschau 42 (1916), S. 414–438; hier S. 414f.: „Die Elegie ‚Euphrosyne‘ setzt [...] zum Verständnis die Kenntnis bestimmter positiver Tatsachen und Vorgänge voraus, die nicht aus dem Gedicht selbst erschlossen werden können, und scheint dadurch dem allgemein gültigen Satze zu widersprechen, daß jedes Kunstwerk sich selbst erklären, aus sich selbst verstanden werden muß.“ In diesem Sinne ist es aufschlussreich, dass im Inhaltsverzeichnis des Erstdrucks eine Erläuterung Hinweise zum Entstehungsanlass gibt: „Zum Andenken einer jungen talentvollen, für das Theater zu früh verstorbenen Schauspielerin in Weimar, Madame Becker geb. Neumann“ (zitiert ebd., S. 416). Eine Lektürehaltung, die zu sehr auf biographische Bezüge geachtet und zu wenig Quellenstudien betrieben hat, konnte dazu führen, dass viele Interpreten des Gedichts darauf hinwiesen, dass ‚Euphrosyne‘ eine der letzten Rollen der realen Schauspielerin gewesen sei, die Goethe im Gedicht verewigt habe. R. C. Ockenden hat dagegen darauf hingewiesen, dass es sich bei der Figur, die die Schauspielerin tatsächlich verkörpert hat, um eine Figur mit dem Namen ‚Euphrosine‘ gehandelt hat, die nicht mit der Grazie Euphrosyne identisch ist. Goethe hat mithin eine ganz neue fiktionale Figur erschaffen; vgl. Ockenden, R. C.: ‚Ein schwankendes Los‘ – the death of Euphrosyne, in: Goethe at 250. London Symposium, hg. v. T. J. Reed u.a. München 2000, S. 233–246; hier S. 233f.

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dieser Gedankenfigur evoziert Goethe die antike Vorstellung des Hades, der zwei Ebenen besitzt: Auf der einen Ebene schweben die „Schatten vom Namen getrennt“ umher (V. 124); auf der anderen Ebene dagegen wandeln die von Dichtern gestalteten „Heroen“ (V. 126): Sie besitzen durch die dichterische Gestaltung eine Form sowie einen Namen und einen individuellen Charakter. Die Idee des Hades besitzt eine andere Form der Zweiteilung als das christliche Jenseits; hier kann man nicht durch die moralische Qualität seiner irdischen Lebensführung beeinflussen, ob man ins Paradies aufgenommen wird, sondern man ist darauf angewiesen, dass man von einem Dichter verewigt und so in die Schar der mythischen Heroen aufgenommen wird, die sich vor den namenlosen Schatten dadurch auszeichnen, dass sie von den Lebenden nicht vergessen werden.24 Und so imaginiert Euphrosyne, dass sie in die Schar der mythischen Gestalten Penelope, Euadne, Antigone und Polyxena eintritt (V. 129ff.) – alles Exempla der Treue und Liebe bis in den Tod, denen Euphrosyne sich zugesellen darf, weil auch sie dem lyrischen Ich noch im Tod Liebe und Treue bewahrt. Auf der expliziten Aussageebene des Gedichts tritt noch eine weitere Begründung hinzu: Euphrosyne sieht die mythologischen Frauenfiguren als „Schwestern“ (V. 137) an, weil sie „der tragischen Kunst holde Geschöpfe“ sind, weil sie selbst im Leben als Schauspielerin der tragischen Kunst gedient hat und jetzt darauf hofft, ebenfalls durch einen Dichter verewigt zu werden: „Bildete doch ein Dichter auch mich!“ (V. 139) Die Ähnlichkeiten der hier inszenierten Denkfigur mit der in Hölderlins Gedicht sind augenfällig: Der Dichter ist in der Lage, durch seine Dichtung Unsterblichkeit in Form von Ruhm zu garantieren, und das wird einerseits im Gedicht selbst thematisiert, andererseits, ähnlich wie in Horaz’ Ode III, 30, durch den pragmatischen Sprechakt des Gedichts in der Tat eingelöst.25 Allerdings wird die subjektive Perspektive von Horaz’ Ode wie von Hölderlins Hymne in Goethes Elegie objektiviert: Hier wird nicht in der Form des Freudenlieds die Macht des Dichters ins Zentrum gerückt, sich selbst unsterblich zu machen und so mit mythischen Helden zu konkurrieren, sondern seine Fähigkeit, andere im Trauerlied zu rühmen, ihnen so Leben im Tod zu verschaffen, sie zu mythischen Figuren werden zu lassen und dadurch den Tod zu überwinden.26 Das Gedicht selbst bildet in einer selbstreferentiellen Wendung das ‚Denkmal‘, das im Gedicht gefordert wird. –––––––— 24

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Vgl. die dramatische Gestaltung des Themas in den Szenen Schattiger Hain und Hochgebirg von Faust. Zweiter Teil, vor allem die Verse 9970–9984 und 10181–10191; in: ‚Hamburger Ausgabe‘ (wie Anm. 19), Band 3, S. 301 und 308. Vgl. Ziolkowski (wie Anm. 18), S. 97. Erhellend zur poetologischen Signifikanz des Gedichts in diesem Sinne Mayer, Mathias: Liebende haben Thränen und Dichter Rhythmen: Natur und Kunst in Goethes ‚Euphrosyne‘, Goethe Yearbook 5 (1990), S. 145–162. Als „eines der Erzämter der Dichtung“ bezeichnet Bach (wie Anm. 20), S. 150 in diesem Zusammenhang „das Rühmen gelebten Lebens“. Vgl. in biographistischer Wendung auch Litzmann (wie Anm. 23), S. 435: „[...] der die künstlerische Phantasie befruchtende Urkeim ist der Wunsch, das Herzensbedürfnis, das Gedächtnis der geliebten Gestalt in einem Bilde, in einem Gedicht festzuhalten, zu verewigen [...].“ Eine humoristische Variante der Thematisierung des Ruhms bietet Goethe

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Mit der Annahme eines antiken Unterweltverständnisses, der Einschaltung eines Katalogs von Figuren aus der antiken Mythologie und der antikisierenden Idee der Erscheinung einer Grazie enthält das Gedicht eine ganze Reihe von Bezügen auf die antike Gedankenwelt. Allerdings wird diese durch das erhabene Alpenszenario, vor dem sich die Szene abspielt, und die Erwähnung eines Shakespeare-Stücks ‚modernisiert‘. Zudem erscheint der antike Unsterblichkeitsoptimismus, wie er sich etwa in der einschlägigen Horaz-Ode findet, bei Goethe gebrochen: Die Unsterblichkeit ist nur um den Preis zu haben, dass das irdische Leben vergeht.27 Der trauernde Gestus um eine Verstorbene, der ganz im Sinne der Textsorte Elegie als Klagelied gestaltet und in den Schlussversen noch einmal besonders eindringlich artikuliert wird („Unbezwingliche Trauer befällt mich“ [V. 149]; „Wehmut reißt durch die Saiten der Brust“ [V. 151]), wird durch die Einbettung der Handlung in ein zyklisches Naturgeschehen, den Wechsel von Abend und Morgen mit einem zuversichtlichen Grundton versehen. Dieser ist begründet durch die affirmative Inszenierung des Ruhms, durch den die geliebte Person weiterleben kann. In diesem Sinne steht dieses Gedicht ganz in der Tradition antiker Affirmation des Ruhms, die es erlaubt, das Problem des Todes nicht mehr als unerträgliche Zumutung zu begreifen, weil er in einer immanenten Form der Unsterblichkeit überwunden werden kann.28 Versteht man Euphrosyne weniger als konkrete Person, sondern eher in ihrer Eigenschaft als Grazie, als Personifikation der Schönheit,29 dann erschließt sich eine weitere Sinndimension der Elegie, nämlich die abstraktere Deutung, dass der Dichter, indem er den Verlust des Schönen betrauert und rühmend besingt, dasselbe allererst für das kulturelle Gedächtnis rettet. Genau das ist aber das Thema von Schillers Nänie (1800), die als Reaktion auf die Goethesche Nänie und in Konkurrenz zu derselben entstanden ist: „Auch das Schöne muß sterben!“30 (V. 1). Schillers Zentralbeispiel dafür ist der mythische Held Achilles, –––––––—

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mit dem vor 1815 verfassten Gedicht Zelebrität, in: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens 9. Münchner Ausgabe, hg. v. Karl Richter u. a. München 1987, S. 83, in dem die Bezogenheit des Ruhms auf massenhafte Verbreitung und die damit einhergehende Entwertung in den Vordergrund gestellt und selbstreflexiv auf das Schicksal der Leiden des jungen Werthers bezogen werden. Hirsch (wie Anm. 14), S. 90 zitiert aus dem Gedicht zur Illustration des Umstands, dass der Ruhm eines verbrecherischen Individuums häufig durch das Sensationsbedürfnis der Masse zustande kommt. Vgl. Mayer (wie Anm. 26), S. 158f. Auch Franz Koch deutet den Unsterblichkeitsgedanken bei Goethe als eine das Problem des Todes abmildernde Idee (Koch, Franz: Goethes Stellung zu Tod und Unsterblichkeit. Weimar 1932, S. 223f.). Allerdings sieht Koch diese Idee eingebettet in eine darüber hinausgehende Vorstellung von Unsterblichkeit, nämlich Unsterblichkeit als Phantasie der Verknüpfung von Tradition und individueller Einzigartigkeit. Allerdings bedeutet ‚Euphrosyne‘ ursprünglich ‚Frohsinn‘; vgl. den Kommentar der ‚Hamburger Ausgabe‘ (wie Anm. 19), S. 608. Verszählung nach Schiller, Friedrich: Werke 2/I. ‚Nationalausgabe‘, hg. v. Norbert Oellers. Weimar 1983, S. 326. Besonders augenfällig wird die inhaltliche Analogie anhand des Schlussdistichons: „Auch ein Klaglied zu seyn im Mund der Geliebten ist herrlich, / Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab“ (V. 13f.). Obwohl das Gedicht für den hier traktierten Zusammenhang höchst einschlägig ist, möchte ich von einer eingehenderen Be-

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der im Kampf um Troja fällt, aber durch das Klagelied der Götter verherrlicht und verewigt wird.

III. Ein weiteres Mal werden der Ruhm und seine Implikationen innerhalb von Schillers lyrischem Werk am Beispiel des Achilles thematisiert; in dem im Vergleich zu Euphrosyne und Nänie kaum weniger bekannten, aber in der Forschung deutlich weniger behandelten Siegesfest. Handelt es sich bei der Hymne An Herkules um ein Frühwerk Hölderlins und bei Euphrosyne um ein Produkt aus Goethes ‚reifer‘ Schaffensphase, so ist Das Siegesfest als Teil von Schillers Spätwerk zu klassifizieren. Und wenn man derlei werkbiographischen Erzählmustern in diesem Fall einmal folgt, so stellt man fest, dass der präpotente Ton von Hölderlins Gedicht sich dort ebenso einpasst wie der ‚abgehangen‘abgeklärte Sprechgestus bei Goethe. Und im Fall des Siegesfests fällt dann auf, dass hier ein skeptisch-desillusionierter Blick auf das Geschehen dominiert. Evident wird das durch einen von Schiller selbst nahe gelegten Vergleich. Er bezeichnet sein Gedicht gelegentlich als „ernstes Gesellschaftslied im Geschmack des Lieds an die Freude,“31 und in der Tat besitzt das Gedicht, ebenso wie Hölderlins Hymne An Herkules, dieselbe metrische Form wie das Lied An die Freude – mit dem Unterschied, dass pro Strophe auf die acht dem Lied An die Freude analogen, in Kreuzreimen angeordneten, vierhebigen Verse ohne Auftakt und mit abwechselnd weiblichen und männlichen Kadenzen jeweils noch vier refrainartige, analog gebaute Verse folgen, deren Reime umarmend angeordnet sind. Diese Variante, die eine Störung des gleichmäßigen Flusses der Verse und Reime bewirkt, indiziert eine Störung des Musters auch auf der inhaltlichen Ebene. Und wirklich bietet Schiller mit dem Siegesfest eine Kontrafaktur des Liedes An die Freude;32 eine Anti-Hymne, deren scheinbar freudigfestlicher Anlass konterkariert wird durch die Verluste, durch die er erkauft ist33 –––––––—

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handlung absehen und stattdessen auf zwei hellsichtige Spezialstudien hinweisen: Wohlleben, Joachim: Ein Gedicht, ein Satz, ein Gedanke – Schillers ‚Nänie‘, in: Wahrnehmungen im Poetischen All. Festschrift für Alfred Behrmann zum 65. Geburtstag, hg. v. Klaus Deterding. Heidelberg 1993, S. 54–72; Osterkamp, Ernst: Das Schöne in Mnemosynes Schoß, in: Gedichte von Friedrich Schiller. Interpretationen, hg. v. Norbert Oellers. Stuttgart 1996, S. 282–297. An Körner vom 10. Juni 1803; zitiert nach Schiller, Friedrich: Werke 2/II B. ‚Nationalausgabe‘, hg. v. Norbert Oellers. Weimar 1993, S. 138. Vgl. Osterkamp, Ernst: Die Götter – die Menschen. Friedrich Schillers lyrische Antike. München 2006 (Münchner Reden zur Poesie), S. 29. Helmut Koopmann klassifiziert Das Siegesfest als eine der Balladen mit „repräsentative[r] Bedeutung“ und „didaktische[n] Intentionen“, der im Anschluss an Norbert Mecklenburg so genannten „moralische[n] Erzählungen in Strophen“; Koopmann, Helmut: Schillers Lyrik, in: Schiller-Handbuch, hg. v. Helmut Koopmann. Stuttgart 1998, S. 303–325; hier S. 321; Peter-André Alt macht einerseits auf die kasuale Komponente aufmerksam, liest Das

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– es handelt sich um eine „Miniaturtragödie[]“, in der „jeder Blick in die Zukunft ein Blick in den potenzierten Schrecken ist.“34 Gleichwohl wird durch die poetische Gestaltung des mythischen Stoffs eine ‚schönere‘ Wirklichkeit als Projektion gestaltet, deren angestrebte programmatische Funktion, eine Rückzugsmöglichkeit aus der schnöden Realität zu bieten,35 durchaus erfüllt wird. Und das Gedicht trägt nicht allein Züge einer Hymne oder eines ‚Gesellschaftsliedes‘, sondern mit seiner didaktischen Ausrichtung auch eines Lehrgedichts, hinsichtlich seiner repräsentativen Bedeutung einer Parabel und mit Blick auf den Entstehungszusammenhang eines Kasualgedichts. Gleichzeitig handelt es sich inhaltlich gesehen gleichermaßen um ein Festgedicht, ein Trauergedicht und ein Reflexionsgedicht.36 Das Gedicht imaginiert die Siegesfeier der Griechen nach der Niederlage von Troja, und den Witz des Gedichts bildet die Gestaltung, in der der feierlichfrohe Ton der Hymne und der auf der Oberfläche freudige Inhalt ständig durch Momente der Trauer und des Schreckens relativiert werden. Jede Strophe bietet eine neue Perspektive: die der Griechen allgemein, die durchaus negativ als „siegestrunken“ (V. 3)37 und „[r]eich beladen mit dem Raub“ (V. 4) dargestellt werden; die der geraubten Trojanerinnen, die „[i]n das wilde Fest der Freuden“ (V. 17) den „Wehgesang“ (V. 18) über „das eigne Leiden / In des Reiches Untergang“ (V. 19f.) mischen; die des Sehers Kalchas, der den Göttern ein Dankopfer bringt, wobei diese aber nicht als Gute und Gütige, sondern als Schreckliche beschrieben werden: „Pallas, die die Städte gründet / Und zertrümmert“ (V. 27f.), „Neptun, der […] um die Länder / Seinen Wogengürtel schlingt“ (V. 29f.) und Zeus, der „Schreckensender, / Der die Aegis grausend schwingt“ (V. 31f.); die des Heerführers Agamemnon, um dessen Blick sich „des Kummers finstre Wolke“ (V. 41) zieht, weil er nur wenige seiner Soldaten wieder in die Heimat zurückbringt, so dass die refrainartigen, programmatischen Schlussverse von Strophe 1 „Stimmet an die frohen Lieder, / Denn dem väterlichen Heerd / Sind die Schiffe zugekehrt, / Und zur Heimat geht es wieder“ (V. 9–12) in der Variation von Strophe 4 deutlich machen, dass das Siegesfest eigentlich nur insofern ein Freudenfest ist, als man über das gerettete Leben froh sein kann: „Drum erhebe frohe Lieder, / Wer die Heimat wieder sieht, / Wem noch frisch das Leben blüht, / Denn nicht alle kehren wieder“ (V. 45–48). Und so weiter. Im Rahmen dieser Reihung, in der der Sieg von Troja als durchaus fragwürdige Angelegenheit dargestellt wird, findet sich eine Strophe/Szene, die auf den –––––––—

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Siegesfest andererseits „als Magazin gelehrten Wissens, als Medium literarischer Anspielungen“ und sieht das „mythologische Szenario“ durch „Sterilität“ charakterisiert; Alt, Peter-André: Schiller. Leben – Werk – Zeit 2. München 2000, S. 360–364; die Zitate S. 363. Osterkamp (wie Anm. 32; 2006), S. 27. Vgl. Alt (wie Anm. 33), S. 362. Alt ordnet das Gedicht in einen neben Ideengedichten und Balladen dritten Bereich von Schillers ‚klassischer‘ Lyrik ein, nämlich „die Lieder, die eine ausgeprägte Reflexionstendenz mit stärker lyrisch-musikalischen Grundstrukturen – durch Variation von Strophenformen, Refraintechnik oder Leserappelle – zu verbinden suchen“; Alt (wie Anm. 33), S. 248. Verszählung nach Schiller, Werke 2/I (wie Anm. 30), S. 189–193.

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ersten Blick aus dem Rahmen fällt, da sie eine positive Darstellung zu implizieren scheint: Neoptolemos, der Sohn des gefallenen Achilles, preist „unter allen irdschen Loosen“ (V. 100) das seines Vaters, da dieser durch seine Taten nach seinem Tod unsterblichen Ruhm erworben habe, und dieser sei „Von des Lebens Gütern allen“ (V. 102) „das höchste“ (V. 103). Den Ruhm stellt Neoptolemos nun in der bekannten Gedankenfigur vor, dass der „große Nahme“ (V. 104) weiterlebe, wenn der Körper bereits „in Staub zerfallen“ (V. 103) sei, und dass der „Schimmer“ (V. 105) des Ruhms des Helden im Lied des Dichters „unsterblich“ (V. 106) sein werde.38 Der Ruhm also wie bei Goethe als etwas, das die Trauer über den Verlust eines Menschen, in diesem Fall sogar des nächsten Verwandten, auffangen kann? Die Schlussverse der Strophe verhindern diese positive Lesart. Die Unsterblichkeit im Lied wird nämlich folgendermaßen begründet: „Denn das irdsche Leben flieht, / Und die Todten dauern immer“ (V. 107f.). Das ist nun ein merkwürdiger, irgendwie unstimmiger, auf jeden Fall trostloser Gedanke: Der Ruhm ist unsterblich, weil die Zeit des Todes kein Ende nimmt, die Zeit des Lebens dagegen begrenzt ist. Der alte Topos des Ruhms eines Helden, der durch den Gesang des Dichters verewigt wird, wird mithin in Schillers Anti-Hymne zwar aufgegriffen, aber mit einem zwiespältigen Beigeschmack versehen und als Konzept des Trosts einerseits, als poetologisches Konzept andererseits – der ‚Klassiker‘ reflektiert in seiner immanenten Poetologie die Bedingungen des Klassikerwerdens in Form der Erzeugung dauerhafter Resonanz39 – in Frage gestellt. Walter F. Otto konnte 1942 noch schreiben, Schillers Thematisierung des Ruhms sei „ganz im Geiste der altgriechischen Gesinnung“ formuliert.40 Ernst Osterkamp hat dagegen mittlerweile gezeigt,41 dass Schillers lyrisches Antikebild teils eine „rhetorische Konstruktion“ (S. 10) ist, die „im Medium des ästhetischen Scheins [...] den ganzen Menschen“ (S. 9) wiederherstellt, „der der universalen Zersplitterung der Moderne zum Opfer gefallen ist“ (S. 9), teils „in heroisch gesteigerter Gestalt“ (S. 10) die tragische Zerrissenheit der Moderne vorführt. Es handle sich um „eine entidealisierte, tragisch zerrissene und pathetisch aufgeladene Antike“ (S. 17), und das manifestiere sich besonders deutlich im Siegesfest, der „Inversion des humanen Griechentraums, der am Ursprung des Projekts der deutschen Klassik stand“ (S. 29). „Friedrich Schillers lyrische Antike“ sei in dieser Hinsicht „die wahre Moderne“ (S. 7). Dass der Ruhm gerade am Beispiel des Achilles aufgegriffen wird, ist kein Zufall. In der Tat kann man eine Stelle in der Ilias als eine der Urszenen des europäischen Ruhmdiskurses lesen, in der Achilles berichtet, ihm seien von seiner Mutter Thetis zwei Alternativen der Lebensführung vor Augen gestellt –––––––— 38 39 40 41

Thiele-Dohrmann (wie Anm. 2; 2000), S. 15 und 83 findet die Schiller-Verse so prägnant, dass er sie als Motti für zwei der Kapitel seiner Kulturgeschichte des Ruhms einsetzt. Erhellend zur Theorie des Klassikers Treml, Alfred K.: Klassiker. Die Evolution einflußreicher Semantik 1. Theorie. Sankt Augustin 1997. Otto (wie Anm. 13), S. 77. Osterkamp (2006; wie Anm. 32); die folgenden Seitenangaben in diesem Abschnitt beziehen sich auf diesen Aufsatz.

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worden, nämlich entweder ein langes Leben und Ruhmlosigkeit oder ein früher Tod und ewiger Ruhm42 – welche Alternative der griechische Held wählt, ist bekannt. Auf die Strophe, in der Neoptolemos Achilles rühmt, folgt eine, in der Diomedes Hektor besingt. Dem Ruhm des Siegers wird der Ruhm des Besiegten gegenübergestellt: „Wenn des Liedes Stimmen schweigen / Von dem überwundnen Mann / So will ich für Hektorn zeugen, / Hub der Sohn des Tydeus an“ (V. 109–112). Das geschieht im Sinne einer Überbietung, indem die äußere Ehre einer inneren gegenübergestellt wird: „Krönt den Sieger größre Ehre, / Ehret ihn das schönre Ziel“ (V. 115f.). Zudem ist die Ehrung aus dem Mund des Feindes besonders viel wert, und Diomedes betont ebenfalls die Wichtigkeit eines Fortlebens des Namens: „Auch in Feindes Munde fort / Lebt ihm seines Nahmens Ehre“ (V. 119f.). Die letzte Strophe der Hymne präsentiert die Perspektive der Seherin Kassandra, die von den Schiffen zurück auf die zerstörte Heimatstadt schaut. Es bleibt aber unklar, ob die folgenden Verse ihre Worte oder Gedanken oder einen Kommentar des lyrischen Ich darstellen. Jedenfalls bestreiten diese Verse nochmals den Wert des Ruhms, der der Ewigkeit der Götterwelt gegenübergestellt, so als nichtiges Menschenwesen abqualifiziert und mit den entsprechenden Metaphern und Vergleichen beschrieben wird: „Rauch ist alles irdsche Wesen, / Wie des Dampfes Säule weht, / Schwinden alle Erdengrößen, / Nur die Götter bleiben stät“ (V. 149-152).

IV. Was kann man aus der vergleichenden Lektüre dieser Konstellation von Gedichten für allgemeine Schlüsse ziehen? Erstens sicherlich, dass es sich bei der Idee einer Doppelfunktion des Ruhms, den der Dichter durch seine Dichtung einerseits den besungenen Helden, andererseits sich selbst verschafft, um einen Topos handelt, der um 1800 gerade im Zusammenhang der Thematisierung antiker beziehungsweise mythologischer Stoffe aufgegriffen und je spezifisch variiert wird.43 Bei Hölderlin –––––––— 42

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Hom. Il. IX, 410–416. Dietrich Roloff (Gottähnlichkeit, Vergöttlichung und Erhöhung zu seligem Leben. Untersuchungen zu Herkunft der platonischen Angleichung an Gott. Berlin 1970 [Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 4], S. 63ff.) zeigt, wie die in der Ilias entwickelte Vorstellung unsterblichen Ruhms in Gestalt eines Weiterlebens in der rühmenden Rede der Nachwelt, die eine Aufhebung menschlicher Vergänglichkeit darstellt, eine Erscheinungsform der Idee der Gottähnlichkeit ist, die vom Heros auf den gewöhnlichen Menschen übertragen wird und gemeinsam mit der Idee der Vergöttlichung und der Erhöhung zu seligem Leben eine Vorstufe des platonischen Gedankens der Angleichung an Gott darstellt (S. 1f.). Detlev Schöttker (Kampf um Ruhm. Zur Unsterblichkeit des Autorsubjekts, Sinn und Form 53 (2001), S. 267–273; hier S. 268) schreibt, „[m]it der Aneignung der Antike in der deutschen Aufklärung“ sei es auch zu einer Wiederbelebung des „antiken Topos der Unsterblichkeit“ gekommen; inwieweit der Topos in der vorangehenden Periode komatös darnie-

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wird die selbstbewusste Glorifizierung des dichtenden Subjekts inszeniert, bei Goethe die Leistung des dichterischen Rühmens Verstorbener im Sinne einer Trauerarbeit in den Mittelpunkt gestellt, bei Schiller schließlich wird dagegen im selben Zusammenhang der Wert einer Unsterblichkeit, die allein im übertragenen Sinne verstanden wird, zur Disposition gestellt. Es scheint, als besäßen bestimmte Gedichtarten eine besondere Affinität zu der Ruhmesthematik, insbesondere die Hymne als Freudengesang und die Elegie als Klagegesang, die beide gattungsimmanent mit der Funktion von Dichtung als Arbeit am kulturellen Gedächtnis operieren. Inwieweit hier gattungsspezifische Unterschiede der Thematisierung des Ruhms zu verzeichnen sind, kann jedoch nur im Rahmen einer umfangreicheren Studie geklärt werden, die größere Textmengen im Hinblick auf Gattungstraditionen untersucht – gerade im Falle von Elegie und Hymne, die als besonders schwierig zu definierende Gattungen gelten.44 Zweitens kann man feststellen, dass die Thematisierung des Ruhms im Zusammenhang mit der Thematisierung mythologischer Stoffe vermutlich keinen Zufall darstellt. Die einfache Erklärung für diesen Zusammenhang ist die, dass die beschriebene Denkfigur einer Doppelfunktion des Ruhms als genuin antiker Gedanke gesehen und seine Thematisierung im Kontext mythologischer Gedichte daher als passend empfunden wird. Die kompliziertere Erklärung ist in dem Umstand zu sehen, dass Ruhm und Mythos als Kategorien des kulturellen Gedächtnisses analoge Funktionen besitzen. Bei beiden handelt es sich um unhistorische Kategorien, die als Gegenkonzepte der Historie fungieren: Der Ruhm wie der Mythos haben es mit großen Helden als Leitfiguren zu tun, deren historische Realität keine relevante Frage darstellt, solange ein Name und eine Minimalnarration vorhanden sind, die kontinuierlicher Gegenstand von Umbesetzungen werden und so den je aktuellen Bedarf an kultureller Orientierung erfüllen können. Diese Orientierung schafft der Mythos durch eine Ordnungsleistung im Erzählen von Geschichten über herausragende Figuren. Der Ruhm ist in dieser Perspektive eine Teilfunktion des Mythos. Drittens ist hervorzuheben, dass die Thematisierung des Ruhms vor dem Hintergrund mythologischer Szenarien in den behandelten Gedichten die Reaktion auf mindestens zwei Problemlagen darstellt:45 Die erste betrifft das Prob–––––––—

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derlag, wäre noch etwas genauer zu untersuchen. Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts scheint er jedenfalls lebendig zu bleiben. Näher zu explizieren wäre mit Blick auf den Ruhmgedanken noch, wie sich die Orientierung an der Antike mit dem Befund verträgt, dass im 18. Jahrhundert ein dem Geniegedanken entsprechender Kanontyp entsteht, der „sich von seinen Vorgängern dadurch“ unterscheidet, „daß er sich der Weltliteratur öffnet und nicht mehr von der Auffassung getragen wird, antike Dichter seien alleinige Vorbilder für die Schriftsteller der Gegenwart“; Schöttker, Detlev: Kanon und Ruhm, in: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000, Bd. 8, hg. v. Peter Wiesinger. Bern u.a. 2003, S. 57–63, die Zitate S. 60. Im Fall der Hymne bietet eine durchdachte Explikation Burdorf, Dieter: Gibt es eine Geschichte der deutschen Hymne? Zeitschrift für Germanistik NF 14 (2004), S. 298–310. Zur Dichtung als Problemreaktionsstrategie vgl. Werle, Dirk: Modelle einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte, Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006),

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lem des Todes, dem als Zumutung der menschlichen Natur und als nicht erträglichem Skandal begegnet werden muss. Im Rahmen von Denkmodellen, die nicht auf eine übernatürliche Lösung des Problems in Form realer Unsterblichkeit setzen wollen, wird die Zumutung der Natur durch eine Kulturleistung aufgefangen: nämlich durch die Produktion von Ruhm durch Dichtung. Die zweite Problemlage hängt damit zusammen, betrifft aber eine andere Perspektive. Es geht um die Frage nach der Rolle des Dichters in der Moderne. Gegenüber den Verunsicherungen, die eine aufgeklärte, säkularisierte und sich zunehmend verkomplizierende Welt mit sich bringt, und insbesondere gegenüber einer Erfahrung der Kontingenz historischer Zusammenhänge kann der überhistorische Anspruch des rühmenden Dichters, der in geniehaftem Tun den Ruhm mythischer Figuren als quasi-natürliche Kategorie installiert, eine orientierende und eine tröstende Funktion erfüllen, indem er mit seiner Dichtung Bedeutsamkeiten produziert und der Nachwelt überliefert.

–––––––— S. 478–498; kritisch Spoerhase, Carlos: Was leistet die neuere Problemgeschichte? Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 2008 [im Druck].

Axel Dunker

Das ‚Gedächtnis des Körpers‘ gebiert Ungeheuer Das Golem-Motiv als Gedächtnis-Metapher

I. Der in Prag geborene jüdische Historiker Saul Friedländer zitiert als Motto zu seiner Autobiographie Wenn die Erinnerung kommt zwei Sätze von Gustav Meyrink: „Allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dasselbe…“.1 Sie stammen aus Meyrinks 1915 bei Kurt Wolff erschienenem Roman Der Golem.2 Friedländer, heute einer der wichtigsten Historiker des Holocaust, der als Kind mit seinen Eltern aus Prag emigrieren musste und den Zweiten Weltkrieg in einem katholischen Internat in Frankreich überlebte – seine Eltern wurden an der Schweizer Grenze verhaftet, deportiert und ermordet –, erzählt, sein Vater habe sich sehr für den „seltsamen Roman“ Meyrinks interessiert und als eines von wenigen Büchern mit ins Exil genommen.3 Mit diesem Motto will Friedländer wohl suggerieren, dass die Lücken der persönlichen Erinnerung durch geduldige Erkundung zu schließen sind – ein Motto also, das einem Historiker gut ansteht. Meyrinks Roman selbst scheint in dieser Hinsicht weniger optimistisch zu sein. Der Titel stellt ein Wesen aus der jüdischen Mythologie ins Zentrum: den Golem. Wie dieser Golem in die Welt gekommen ist, wird im Roman nicht genauer erzählt. „Dann wacht in mir die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem künstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Ghetto ein kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches Zahlenwort hinter die Zähne schob.“4 Der Unbekannte, der da umgehe, müsse das Phantasie- oder Gedankenbild sein, das jener mittelalterliche Rabbiner zuerst lebendig gedacht habe, ehe er es mit Materie bekleiden konnte, und das nun in regelmäßigen Zeitabschnitten, bei den gleichen astronomischen Sternstellungen, unter denen es erschaffen worden – wiederkehre, vom Triebe nach stofflichem Leben gequält.5

–––––––— 1

Friedländer, Saul: Wenn die Erinnerung kommt. Übs. v. Helgard Oestreich. München 1998, S. 5. Meyrink, Gustav: Der Golem. Ein Roman. Leipzig 41915, S. 133. Friedländer (wie Anm. 1), S. 25. Meyrink (wie Anm. 2), S. 45. Meyrink (wie Anm. 2), S. 85f.

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So berichtet es der kabbalakundige Archivar Hillel, der damit auf einen Zusammenhang verweist, der im Roman immer wieder auftaucht: dem zwischen den Gedanken und Vorstellungen eines Menschen, seinen Phantasien und einer Verkörperung dieser Phantasien, die ihm in der Außenwelt plötzlich entgegentritt. Von Hillels verstorbener Frau, die dem Golem einmal begegnet war, heißt es: „Sie sagte, sie sei felsenfest überzeugt gewesen, daß es damals nur ihre eigene Seele habe sein können, die – aus dem Körper getreten – ihr einen Augenblick gegenüber gestanden und mit den Zügen eines fremden Geschöpfes ins Gesicht gestarrt hätte.“6 Der Mensch begegnet sich selbst als Fremdem, was zu Panik führt. In Meyrinks Roman geschieht das sowohl auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene, auf der der Golem als „Symbol der Massenseele“7 erscheint. Gestalt erhält dieses Wesen durch das Ghetto und dessen vom Alter gezeichnete Häuser, die für den Zusammenhang mit einer unvordenklichen Vergangenheit einstehen, so dass man mit Recht von einer „Erinnerungsarchitektur“8 gesprochen hat. Pernath sagt von ihnen: Oft träumte mir, ich hätte diese Häuser belauscht in ihrem spukhaften Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daß sie die heimlichen, eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fühlens entäußern und es wieder an sich ziehen können.9

In besonderem Maße trifft dieser Projektionsmechanismus auf die Hauptfigur, den Gemmenschneider Athanasius Pernath zu. Pernath leidet unter einem umfassenden Erinnerungsverlust. Er kann sich nicht an seine Kindheit erinnern; alles, was mit dieser Zeit zusammenhängt, ist wie ausgelöscht. Der Marionettenspieler Zwakh, der eine Golem-Marionette schnitzt, erzählt von ihm, er habe einige Zeit im Irrenhaus verbracht. Zum Glück sei es gelungen, „seine Krankheit mit vieler Mühe“ ‚einzumauern‛,10 mittels Hypnose habe man in seinem Gehirn ein „‚Zimmer‛ verschlossen“11. Es ist, wie wenn man mit offenem Lichte eine verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche Tücher Decke und Wände bespannen und der dürre Zunder der Vergangenheit fußhoch den Boden bedeckt; ein flüchtiges Berühren nur und schon schlägt das Feuer aus allen Ecken.12

Doch es gibt etwas in Pernath, das über die Fähigkeit zur Erinnerung jenseits des wachen Bewusstseins verfügt: „Meine Haut, meine Muskeln, mein Körper erinnerten sich plötzlich, ohne es dem Gehirn zu verraten.“13 –––––––— 6 7 8 9 10 11 12 13

Meyrink (wie Anm. 2), S. 86. Meyrink (wie Anm. 2), S. 82. Berg, Stephan: Schlimme Zeiten, böse Räume. Zeit- und Raumstrukturen in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1991, S. 218. Meyrink (wie Anm. 2), S. 44. Meyrink (wie Anm. 2), S. 93. Meyrink (wie Anm. 2), S. 94. Meyrink (wie Anm. 2), S. 92. Meyrink (wie Anm. 2), S. 37.

Das ‚Gedächtnis des Körpers‛ gebiert Ungeheuer

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Durch einen unterirdischen Gang gelangt Pernath in ein Zimmer ohne Tür, mit einem vergitterten Fenster, in dem sich nur fußhoher Staub und altes Gerümpel befinden. Dort findet er eine Pagat-Karte aus dem Tarot-Spiel, deren Figur eine seltsame Ähnlichkeit mit ihm selbst zu haben scheint und in seiner Vorstellung schließlich zu seinem Doppelgänger wird. Um sich gegen die Kälte zu schützen, zieht er einige alte, seltsam geschnittene Kleidungsstücke aus dem Gerümpelhaufen an. Schließlich dämmert ihm eine Erkenntnis: „ich war in dem Haus, in dem der gespenstische Golem jedesmal verschwand!“14 Als er aus dem Fenster um Hilfe ruft, hält man ihn für den Golem. In einer symbolischen Lesart befindet sich Pernath hier in seinem eigenen Inneren – er ist in das verschlossene Zimmer seines Gehirns eingedrungen, der Weg ins Zimmer des Golems ist gleichzeitig ein Weg in die eigene Vergangenheit.15 Was er dort findet, ist ihm fremd und doch vertraut. Der Golem und sein Kontext werden hier eingefügt in die Kategorie der ‚Magazin-Metapher‛, nach Harald Weinrich eine der beiden großen metaphora memoriae,16 der bis in die Antike zurückführbaren Großmetaphern für das menschliche Gedächtnis. Die Magazin-Metapher „stellt die Speicherkapazität des Gedächtnisses und damit einhergehend die getreue Aufbewahrung seiner Inhalte heraus“.17 Wie wir noch sehen werden, ist im Golem-Stoff aber auch die Verwendung der anderen Großmetapher, der Wachstafel-Metapher, der – etwa bei Cicero – die Metaphorik des Schreibens, des Einritzens von Schriftzeichen in eine Fläche zugrunde liegt, angelegt. Schon bevor Pernath in das Zimmer des Golems eindringt, hatte er sich selbst unbewusst mit dem Golem identifiziert: „Kalte Finger greifen mir in den Mund und biegen mir die Zunge nach unten gegen die Vorderzähne, daß es wie ein Klumpen meinen Gaumen erfüllt und ich kein Wort hervorbringen kann.“18 Um den Golem still zu stellen, muss man in seinen Mund greifen und den Schem, den Zettel mit dem Namen Gottes, entfernen. Der Golem wird zu einer Projektion, der „Massenseele“ wie des individuellen Bewusstseins Pernaths. Meyrinks Verwendung des alten Prag und seiner Sagenwelt bringt in bildlicher Form Erkenntnisse über das Funktionieren der menschlichen Psyche zum Ausdruck, die mit denen der Psychoanalyse Sigmund Freuds durchaus vergleichbar sind. Die okkulte Selbstfindung Pernaths verläuft

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Meyrink (wie Anm. 2), S. 185. Vgl. dazu Cersowsky, Peter: Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Untersuchungen zum Strukturwandel des Genres, seinen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und zur Tradition der ‚schwarzen Romantik‛ insbesondere bei Gustav Meyrink, Alfred Kubin und Franz Kafka. München 1983, S. 44. Weinrich, Harald: Metaphora memoriae, in: ders.: Sprache in Texten. Stuttgart 1976, S. 291-294. Butzer, Günter: Gedächtnismetaphorik, in: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, hg. v. Astrid Erll, Ansgar Nünning. Berlin u. New York 2005, S. 11-30; hier: S. 11. Meyrink (wie Anm. 2), S. 124.

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parallel zu einer psychoanalytischen.19 Das Prager Ghetto ist „nicht nur geographischer Ort, sondern gleichzeitig Traumwelt, also Innenwelt.“20 Diese Doppelgesichtigkeit macht bis heute die Faszinationskraft dieses Romans aus, der seit seinem Erscheinen unzählige Neuauflagen erlebt hat. Das Symbolsystem des Buches, mit seinem kaum merklichen Übergang von der Rahmenhandlung, in der ein Ich-Erzähler über einer Buddha-Biographie21 einschläft und von einem Stück Fett träumt, von dem er dort gelesen hatte, in die eigentliche Handlung in Prag, bleibt mehrdeutig und unauflösbar. Ein verwechselter Hut, in dessen Seidenfutter mit goldenen Buchstaben der Name ‚Athanasius Pernath‛ zu lesen steht, scheint dem Ich-Erzähler eine Auflösung seines Traumes zu bringen. Und doch findet er in seinen Recherchen in Prag, dessen jüdisches Ghetto inzwischen „assaniert“ worden ist, manches wieder, was ihm im Traum begegnet war – bis hin zum eigentlichen Träger des Namens Athanasius Pernath, der dem Erzähler in einer allerdings wiederum visionären Szene als sein eigener Doppelgänger erscheint.

II. Der Ausgangspunkt für die Erlebnisse Pernaths ist ein Ereignis in seiner Kindheit: Klar stand jetzt in meinem Bewußtsein geschrieben, was ein kurzer Schimmer aus alten Tagen herübergetragen: Eine Liebe, die für mein Herz zu stark gewesen, hatte für Jahre mein Denken zernagt, und die Nacht des Irrsinns war damals der Balsam für meinen wunden Geist geworden.22

Durch „den hypnotischen Eingriff eines Arztes in [sein] Bewußtsein“23 wird ihm diese Erinnerung genommen, sie wird versiegelt, eingekapselt, was ihm ein funktionierendes Weiterleben außerhalb des Irrenhauses, an das er sich ebenfalls nicht mehr erinnert, ermöglicht. Zur Zeit der Entstehung und Publikation des Romans ist Hypnose als therapeutische Maßnahme häufig verwandt worden, vor allem während des Ersten Weltkriegs zur Behandlung von traumatisierten Soldaten, die unter ‚battle shocks‛ oder ‚shell shocks‛ litten.24 Zurückgehend auf die Behandlungsmetho–––––––— 19 20 21

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Vgl. dazu Wünsch, Marianne: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890– 1930). Definition. Denkgeschichtlicher Kontext. Strukturen. München 1991, S. 244. Mayer, Sigrid: Der Golem. Die literarische Rezeption eines Stoffes. Bern u. Frankfurt a. M. 1975, S. 198. Das Buch lässt sich identifizieren als: Leben des Buddha. Eine Zusammenstellung alter Berichte aus den kanonischen Schriften der südlichen Buddhisten. Aus dem Pali übersetzt und erläutert von Julius Dutoit. Leipzig 1906. Meyrink (wie Anm. 2), S. 157. Meyrink (wie Anm. 2), S. 448. Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 278f.

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den hysterischer Patienten durch Jean Martin Charcot und ihre Weiterentwicklung durch Josef Breuer und Freud (wobei letzterer die Hypnose als Mittel, zur Ursache der Hysterie vorzustoßen, bald verwarf), wurden allerdings keine Erinnerungen eingekapselt. Im Gegenteil ging es vielmehr darum, sie aus der Vergessenheit (ihrer Verdrängung) zu holen und zu aktualisieren, was der junge Freud, noch etwas umständlich, so ausdrückt: Wenn es gelingt, den Kranken zu einer recht lebhaften Erinnerung zu bringen, so sieht er die Dinge mit ursprünglicher Wirklichkeit vor sich, man merkt, daß der Kranke unter der vollen Herrschaft eines Affektes steht, und wenn man ihn dann nötigt, diesem Affekte Worte zu leihen, so sieht man, daß unter Erzeugung eines heftigen Affektes diese Erscheinung der Schmerzen noch einmal mit großem Ausdruck auftritt und daß von da an dieses Symptom als Dauersymptom verschwunden ist.25

Für Freud kann symptombildend „nur derjenige unterdrückte Affekt wirken, der auf eine Weise unterdrückt wird, die [...] den Affekt selbst von seiner nachträglichen Weiterbearbeitung im weiteren Zusammenhang mit bewußten kognitiven Operationen fernzuhalten tendiert, ihn gleichsam auskoppelt oder isoliert (‚einklemmt‘)“.26 Es gibt allerdings einen Vertreter der mit Hypnose arbeitenden Psychotherapie, der versucht, Erinnerungen zu verändern oder sie ganz zum Verschwinden zu bringen: Pierre Janet, Mitarbeiter Charcots in der Salpêtrière.27 „Eine der kostbarsten Entdeckungen der pathologischen Psychologie wäre es, über ein sicheres Mittel zu verfügen, um das Vergessen eines spezifischen psychologischen Phänomens herbeizuführen.“28 Janet glaubte, nach dem Verschwinden der idée fixe werde sich die durch das Trauma zerstörte „Einheit des Geistes“ wiederherstellen.29 Bei Athanasius Pernath ist das nicht der Fall. Die durch den hypnotischen Eingriff eingekapselte oder ‚eingeklemmte‛ Erinnerung dringt nach und nach wieder zum Bewusstsein vor, die ‚Einheit des Geistes‛ bleibt aber problematisch. Auslösendes Moment für die affektvolle Wiederkehr der Vergangenheit ist schließlich ein Brief, aber nicht dessen Inhalt, sondern die Unterschrift: Angelina!!! Wie ich den Namen aussprach, zerriß der Vorhang, der meine Jugendjahre vor mir verbarg, von oben bis unten. Vor Jammer glaubte ich zusammenbrechen zu müssen. Ich krallte die Finger in die Luft

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Freud, Sigmund: Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene, in: Hysterie und Angst. Studienausgabe VI, hg. von Alexander Mitscherlich u. a. 10., korrigierte Auflage. Frankfurt a. M. 2006, S. 9–24; hier: S. 20f. Ähnlich auch in Breuer, Josef u. Sigmund Freud: Studien über Hysterie. Frankfurt a. M. 62007, S. 30. Kettner, Matthias: Nachträglichkeit. Freud brisante Erinnerungstheorie, in: Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein, hg. v. Jörn Rüsen u. Jürgen Straub. Frankfurt a. M. 1998, S. 33–69; hier: S. 53. Vgl. dazu Leys, Ruth: Traumatic Cures: Shell Shock, Janet, and the Question of Memory, in: Tense Past. Cultural Essays in Trauma and Memory, hg. v. Paul Antze, Michael Lambek. New York u. London 1996, S. 103–145, bes. S. 120ff. Janet, Pierre: Névroses et Idées fixes, Bd. I. Paris 41925, S. 404 (zitiert nach Roth, Michael S.: Trauma, Repräsentation und historisches Bewußtsein, in: Rüsen u. Straub [wie Anm. 26] S. 153–173; hier: S. 163, Anm. 18). Roth (wie Anm. 28), S. 164.

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und winselte, – biß mich in die Hand: – – nur wieder blind sein, Gott im Himmel, – den Scheintot weiter leben, wie bisher, flehte ich. Das Weh stieg mir in den Mund. – Quoll. – Schmeckte seltsam süß, – wie Blut.30

Das erinnert stark an die oft beschriebenen hysterischen Anfälle, die keineswegs nur bei Frauen, sondern auch bei Männern beobachtet und beschrieben und erst nachträglich zu einer ‚Semiotik der Weiblichkeit‛31 stilisiert wurden. In der Überlieferung des Golem-Stoffes wird ein unbelebter Körper durch eine in ihn eingefügte oder in ihn eingezeichnete Schrift zum Leben erweckt. Es wird ihm entweder ein Zettel mit dem (geheimen) Namen Gottes in den Mund gelegt, oder das hebräische Wort aemaeth (Wahrheit) wird ihm auf die Stirn geschrieben.32 Wenn der Ich-Erzähler als Pernath dann von sich sagt: „Die schmalen, verborgenen Steige sind’s, die in die verlorene Heimat zurückführen: das, was mit feiner kaum sichtbarer Schrift in unserem Körper eingraviert ist, und nicht die scheußliche Narbe, die die Raspel des äußeren Lebens hinterlässt, – birgt die Lösung der letzten Geheimnisse“33, so knüpft er damit an die Metaphorik des Körpergedächtnisses an, die „den Körper meist als Einschreibefläche“34 fasst. Die Nähe der Metaphorik der Körperschrift, die hier als Variation der Wachstafel-Metapher verwendet wird, zur Ätiologie des Golem macht aus diesem Motiv im Zusammenhang mit dem Motiv des türlosen Zimmers insgesamt eine Gedächtnis-Metapher, in der sich die beiden von Weinrich namhaft gemachten Bildbereiche miteinander verbinden. Etwas im Körper Verzeichnetes aus der Vergangenheit bestimmt über die Gegenwart. Das Körper-Gedächtnis35 triumphiert über das Bewusstsein – die Wirkung ist ‚unheimlich‛. „Das Trauma“, so die Definition A. Assmanns, „kann man [...] als eine dauerhafte Körperschrift bezeichnen, die der Erinnerung entgegengesetzt ist“:36 Trauma wird hier als eine körperliche Einschreibung verstanden, die der Überführung in Sprache und Reflexion unzugänglich ist und deshalb nicht den Status von Erinnerungen gewinnen kann. Das für Erinnerungen konstitutive Selbstverhältnis der Distanz, welches Selbstbegegnung, Selbstgespräch, Selbstverdopplung, Selbstspiegelung, Selbstverstellung,

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Meyrink (wie Anm. 2), S. 194f. Vgl. Schneider, Manfred: Hysterie als Gesamtkunstwerk. Aufstieg und Verfall einer Semiotik der Weiblichkeit, Merkur 39 (1985), S. 879-895. In der Fallbeschreibung der Marie durch Janet, auf die Breuer und Freud als ‚dem unsrigen Verfahren analog‛ (Breuer, Freud [wie Anm. 25], S. 31) verweisen, kommt es am Ende jedes hysterischen Anfalls zum Erbrechen von Blut – eine seltsame Koinzidenz zu Meyrinks Beschreibung, in der das Schmecken des Blutes im Mund allerdings in den Status einer Metapher überführt wird. Vgl. Scholem, Gershom: Die Vorstellung vom Golem in ihren tellurischen und magischen Beziehungen, in: ders.: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Frankfurt a. M. 61989, S. 209– 259. Meyrink (wie Anm. 2), S. 139. Zumbusch, Cornelia: ‚Gesteigerte Gesten‘. Pathos und Pathologie des Gedächtnisses bei Warburg und Freud, in: Übung und Affekt. Formen des Körpergedächtnisses, hg. v. Bettina Bannasch u. Günter Butzer. Berlin u. New York 2007, S. 269–289; hier: S. 269. Einen Überblick über den Wortgebrauch von ‚Körpergedächtnis‛ in den Kulturwissenschaften gibt Beise, Arnd: ‚Körpergedächtnis‛ als kulturwissenschaftliche Kategorie. In: Bannasch u. Butzer (wie Anm. 34), S. 9–25. Assmann (wie Anm. 24), S. 247.

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Selbstinszenierung, Selbsterfahrung ermöglicht, kommt beim Trauma nicht zustande, das eine Erfahrung kompakt, unlösbar und unlöschbar mit der Person verbindet. Die Metapher für diesen komplexen Sachverhalt ist die ‚körperliche Einschreibung‛.37

Das Verhältnis zwischen Pernath und dem Golem ist keine solche reflexive Selbstverdoppelung, sondern eine Ich-Dissoziation, auf die schon in der Rahmenhandlung zu Beginn des Romans verwiesen wird, wenn es heißt: „mein Körper liegt schlafend im Bett, und meine Sinne sind losgetrennt und nicht mehr an ihn gebunden. – Wer ist jetzt ‚ich‛“. Eine solche Dissoziation erinnert eher an den mit der Hysterie verbundenen hypnoiden Zustand der „Bewusstseinsspaltung“, wobei der Golem dann für den sprach- und bewusstlosen Teil der unzugänglichen Erinnerung stünde.38 Bei Meyrink ist der Golem nicht greifbar – er ist kein in corpore auftretendes Monstrum, sondern entsteht performativ in der Gegenwart der Romanhandlung nur durch die unbewusste Identifikation Pernaths mit ihm. Pernath bekommt Besuch: Wenn ich mich nicht getäuscht habe in der Empfindung, daß jemand in einem gewissen, gleich bleibenden Abstand hinter mir die Treppe heraufkommt, in der Absicht, mich zu besuchen, so muß er jetzt ungefähr auf dem letzten Stiegenabsatz sein. Jetzt biegt er um die Ecke [...] Nun tastet er sich an der Wand entlang, und jetzt, gerade jetzt, muß er, mühsam im Finstern buchstabierend, meinen Namen auf dem Türschild lesen. Und ich stellte mich aufrecht in die Mitte des Zimmers und blickte zum Eingang. Da öffnete sich die Türe, und er trat ein. Nur wenige Schritte machte er auf mich zu und nahm weder den Hut ab, noch sagte er ein Wort der Begrüßung. So benimmt er sich, wenn er zu Hause ist, fühlte ich, und ich fand es ganz selbstverständlich, daß er so und nicht anders handelte.39

Der Unbekannte, der Pernath so eigentümlich vertraut mit seiner eigenen Wohnung zu sein scheint, überreicht ihm ein Buch, in dem er die in Gold gefasste Initiale des Kapitels „Ibbur“, „die Seelenschwängerung“, restaurieren soll. Pernath ist so fasziniert von diesem Buch, dass er gar nicht mitbekommt, dass der Fremde wieder verschwindet. Auch kann er sich nicht daran erinnern, wie er ausgesehen hat, weder an seine Kleidung, noch an sein Alter oder an seine Haar- oder Bartfarbe. Da kam mir ein seltsamer Einfall. [...] Ich zog meinen Mantel an, setzte meinen Hut auf und ging hinaus auf den Gang und die Treppen hinab. Dann kam ich langsam wieder zurück in mein Zimmer. Langsam, ganz langsam, so wie er, als er gekommen war. [...] Und ich versuchte den Unbekannten nachzuahmen in Gang und Mienen und konnte mich an sie doch gar nicht erinnern. – Wie sollte es mir auch glücken, ihn nachzuahmen, wenn ich keinen Anhaltspunkt mehr hatte, wie er ausgesehen haben mochte.

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Assmann (wie Anm. 24), S. 278. Unveränderlicher Teil der Überlieferung des Golem-Stoffes ist die Stummheit dieses Wesens, was mit dem Fehlen einer Seele erklärt wird. Meyrink (wie Anm. 2), S. 28f.

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Aber es kam anders. Ganz anders, als ich dachte. Meine Haut, meine Muskeln, mein Körper erinnerten sich plötzlich, ohne es dem Gehirn zu verraten. Sie machten Bewegungen, die ich nicht wünschte und nicht beabsichtigte. Als ob meine Glieder nicht mehr mir gehörten! Mit einem Male war mein Gang tappend und fremdartig geworden, wie ich ein paar Schritte im Zimmer machte. Das ist der Gang eines Menschen, der beständig im Begriffe ist, vornüber zu fallen, sagte ich mir. Ja, ja, ja, so war sein Gang! [...] Ich trug ein fremdes, bartloses Gesicht mit hervorstehenden Backenknochen und schaute aus schrägstehenden Augen. Ich fühlte es und konnte mich doch nicht sehen. Das ist nicht mein Gesicht, wollte ich entsetzt aufschreien.40

Pernath verwandelt sich hier in den Golem, dessen Äußeres später genau so beschrieben wird. Er wird hier also nicht nach den überlieferten Riten der Sagen oder der Literatur generiert, sondern indem die Hauptfigur des Textes seinem Körper, dem Gedächtnis seines Körpers, die Herrschaft überlässt und dieser Körper, der dem Gehirn nicht mehr zu unterstehen scheint, bringt agierend – performativ – den Golem hervor, der sich dann verselbständigt, scheinbar autonom, bewegt. Damit aber ist der Golem auch nicht zu vernichten: er taucht in regelmäßigen Abständen (alle 33 Jahre) wieder auf. Zwar liegt dem Roman, wie Thomas Anz feststellt, „die Idee der erlösenden Vereinigung des Menschen mit sich selbst zugrunde, die er nur über den beschwerlichen Weg der ‚Rückerinnerung‛ und Selbstbewußtwerdung erreichen kann“,41 doch kann das im Roman nur in der okkulten Sinnschicht des Textes eingelöst werden. Das Golem-Motiv selbst widersteht dem durch die Eigenschaften seiner Stoff-Geschichte. Das Heteronome, das Meyrink mit diesem nicht von ihm geprägten Stoff in seinen Roman hineinholt – neben den verschiedenen Wiedergaben der Golem-Sage gibt es im 19. Jahrhundert Bearbeitungen von Clemens Brentano, Annette von DrosteHülshoff, Theodor Storm, Gottfried Keller, Wilhelm Raabe, Detlev von Liliencron, um nur die bekanntesten zu nennen –, entspricht dem dunklen Anderen, der für das Bewusstsein nicht zugänglichen Körperschrift, für das der Golem in Bezug auf Pernath steht. In der aus der jüdischen Sage bezogenen Schauermotivik findet Meyrink eine komplexe Metapher für die Spaltung des Menschen in ein dem Bewusstsein nicht zugängliches, aber im Körper verzeichnetes Gedächtnis und das beschränkte Ich-Bewusstsein der Gegenwart. Der Kontext des Ersten Weltkriegs mit seinen plötzlich gesellschaftlich wieder aktuell werdenden Rückgriffen auf Charcot, Janet, Breuer und Freud mit der gleichzeitigen Umschrift von der Semiotik der Weiblichkeit im fin de siècle zu einer „virtual epidemic of male hysteria during the war“42 bilden den auch kulturhistorisch –––––––— 40 41 42

Meyrink (wie Anm. 2), S. 37f. Anz, Thomas: Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus. Stuttgart 1977, S. 175. Leys (wie Anm. 27), S. 103.

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interessanten Rahmen für diese Vorstellungen, die bei Meyrink allerdings von jeder Aktualität wegzuführen scheinen, aber doch die Latenz dieses Vorstellungskomplexes in den Zehner Jahren des 20. Jahrhunderts vor Augen führt.

III. Der Golem als Gedächtnis-Metapher – das ist in dieser Weise bei Meyrink sicher singulär. Doch gibt es fast genau hundert Jahre früher, in der ersten berühmten Verwendung des Golem-Motivs, in der 1812 publizierten Erzählung Isabella von Ägypten, Kaiser Karls des Fünften erste Jugendliebe von Achim von Arnim, Parallelen. Angeregt von Jacob Grimms kurzer Nacherzählung der Golem-Sage in der Zeitung für Einsiedler43 entwirft Arnim hier einen weiblichen Golem, der zugleich ein Doppelgänger der Titelfigur, der Zigeunerprinzessin Isabella ist. Der Golem vereinigt alle sinnlich-materiellen Eigenschaften Isabellas in sich. Geschaffen wird er nach der bekannten Weise auf einem Jahrmarkt von der mit deutlich antijüdischen Zügen versehenen Figur eines Juden. Damit der Golem Doppelgänger-Eigenschaften bekommt, muss Isabella in einen „Kunstspiegel“ sehen, in dem dann ihr Bild „festgemalt“ erhalten bleibt.44 Dieser Golem weiß alles, „was Bella bis dahin erfahren“.45 Neue Erfahrungen kann der Golem als seelenloses Wesen nicht machen. Er bleibt an die Vergangenheit fixiert, trägt das Gedächtnis Isabellas in sich, aber nicht ihre geistigen Eigenschaften, die ersetzt sind durch das, „was in des jüdischen Schöpfers Gedanken gelegen, nämlich Hochmut, Wollust und Geiz“46. Zwar trägt er auf seiner Stirn das Wort aemeth (Wahrheit), doch fehlt ihm der Geist, um diese Qualität tatsächlich zu verkörpern. Er ist das Gedächtnis als reiner (durch seine Fixierung an die Sinnlichkeit der Materialität eigentlich unreiner) Körper, der ohne die Bewegung in der Zeit, ohne die prozesshafte Veränderung auch des Gedächtnisses eigentlich tot ist, schon bevor das Aleph in aemeth wieder ausgelöscht wird, was aus dem Wort meth (Tod) macht. Die Körperschrift geht hier ein in ein semiotisches Spiel: Das Urbild Isabella trägt eine Fackel. Wenn es dann von ihr heißt: „sie löschte ihre Fackel wie ein guter Genius, der nicht mehr helfen kann“,47 figuriert sie als Tod in der durch Gotthold Ephraim Lessing bekannt gemachten Weise: ‚wie die Alten den Tod –––––––— 43

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Grimm, Jacob: Die Entstehung der Verlagspoesie, in: Zeitung für Einsiedler. In Gemeinschaft mit Clemens Brentano hg. v. Ludwig Achim von Arnim bei Mohr und Zimmer. Heidelberg 1808. Nr. 7, 23. April 1808 (Fotomechanischer Nachdruck Darmstadt 1962, S. 55). Arnim, Achim von: Isabella von Ägypten, Kaiser Karls des Fünften erste Jugendliebe, in: Werke in sechs Bänden 3. Sämtliche Erzählungen 1802–1817, hg. v. Renate Moering. Frankfurt a. M. 1990, S. 622–744; hier: S. 687. Arnim (wie Anm. 44), S. 688. Arnim (wie Anm. 44), S. 688f. Arnim (wie Anm. 44), S. 713.

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gebildet‛.48 Als es schließlich zu einer Konfrontation zwischen Isabella und ihrem Golem-Doppelgänger kommt, das Aleph tatsächlich ausgewischt wird und der Golem augenblicklich zu einer formlosen Menge Sand zusammenstürzt, fällt Isabella „die Fackel aus der Hand“49 – in einer inversen Bewegung verliert sie das Zeichen ‚Tod‛ und wird wieder zur ‚Wahrheit‛. Die ‚Unschuld‛ der zu Beginn der Erzählung völlig naiven Isabella lässt sich aber nicht wiederherstellen. Die Existenz des Golems verweist nicht nur semiotisch auf die Fremdbestimmung des menschlichen Seins der jeweiligen Gegenwart durch eine im Körper verzeichnete – vergangene – Äußerlichkeit, für die in dieser Erzählung der Spiegel des Juden steht. Auch hier ist das Gedächtnis des Körpers in seiner Geist- und Bewusstlosigkeit – im eigentlichen Sinne des Wortes – ungeheuerlich. Dass sich diese Entäußerlichung des Menschen in ihrer Verkörperung des durch den Menschen selbst geschaffenen Golems durch das Auslöschen der Schrift einfach rückgängig machen lassen möge, ist Teil des GolemPhantasmas. Es gehört zur Ambivalenz dieses Motivs – der Golem als zum Dienen geschaffenes Objekt und ‚unheimliches‛ Eigenleben entwickelndes Wesen –, dass dies aber nicht wirklich funktioniert. Die Veräußerung des Körpergedächtnisses, um es dann auslöschen zu können, bleibt ein Wunsch, der nur im Traum seine Erfüllung findet. Die Golem-Texte Meyrinks und Arnims verschieben die Wunscherfüllung auf eine jeweils andere Ebene – eine okkulte oder eine phantastisch-mythologische, der zumindest bei Arnim ihre Unerfüllbarkeit auf die Stirn geschrieben ist, indem er für die zeitgenössischen Leser erkennbar50 bei der Schluss-Apotheose der Isabella als Erlöserin ihres Volkes auf die Unzuverlässigkeit seiner (schriftlichen) Quellen verweist.

IV. Das Ziel der Hysterie-Therapie sowohl bei Janet als auch Breuer und Freud war die Überführung der „traumatic memory, which merely and unconsciously repeats the past“ in eine „narrative memory, which narrates the past as past“.51 –––––––— 48

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Lessing, Gotthold Ephraim: Wie die Alten den Tod gebildet, in: Werke 6. Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1974, S. 405–462, bes. S. 424, 434 u. ö. Arnim (wie Anm. 44), S. 719. Arnims Erzähler nennt als Quelle den „berühmten Reisenden Taurinius“ (wie Anm. 44, S. 740) und gibt an, eine Pergamentrolle mit dem Bericht darüber habe er „von Magister Uhsen wieder übersehen und sehr verbessern lassen“ (wie Anm. 44, S. 741). Die Reisebeschreibungen des Buchdruckergesellen Damberger, der sich hinter Taurinius versteckte, galt den Zeitgenossen als notorisch unzuverlässig, und über den Polyhistor Erdmann Uhse (1677-1730) hatte Clemens Brentano sich in zwei Satiren lustig gemacht (vgl. den Kommentar von Moering in Arnim, Werke 3 [wie Anm. 44], S. 1309f.). Leys (wie Anm. 27), S. 120.

Das ‚Gedächtnis des Körpers‛ gebiert Ungeheuer

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Die Narrativierung, die vor allem Meyrink in seinem Roman vornimmt – ein Ich-Erzähler erzählt träumend seinen aktuellen Traum – führt allerdings nicht zu einer solchen außerkraftsetzenden Distanzierung der Vergangenheit. Zwar ist das alte Ghetto am Schluss des Romans verschwunden, „assaniert“, wie es heißt, und damit das Ghetto „als allegorische Schrift jenes kollektiven Unbewussten, das sich im Golem manifestiert“,52 unlesbar geworden, der Erzähler findet aber trotzdem Spuren der Vergangenheit im Prag der Gegenwart. Im noch erhaltenen Salon Loisitschek53, der in der Geschichte Pernaths eine bedeutende Rolle gespielt hatte, trifft der recherchierende Ich-Erzähler auf einen alten Mann, den er aus seinem Traum zu kennen meint: Das Gesicht zur Wand gekehrt, alt wie Methusalem, eine Spieldose, so klein wie eine Zigarettenschachtel, in zitternden Skeletthänden sitzt ganz in sich zusammengesunken – der blinde, greise Nephtali Schaffranek in der Ecke und leiert mit der winzigen Kurbel.54

Der altersdebile, angeblich 110 Jahre alte Mann, der unentwegt die musikalische Schrift auf der Walze einer Spieldose im Kreis dreht, ist aus der Zeit gefallen: „niemand kennt weder ihn noch seinen Namen. Er selbst hat ihn vergessen. Er ist ganz allein auf der Welt.“55 Dieser Schaffranek könnte aus eigener Anschauung Auskunft geben über den dem Ich-Erzähler selbst rätselhaften Status der verschiedenen Wirklichkeitsebenen: Denken Sie einmal nach! – Haben Sie nicht vor etwa 33 Jahren einen Gemmenschneider namens Pernath gekannt?“ „Hadrbolletz! Hosenschneider!“ – lallt er asthmatisch auf und lacht übers ganze Gesicht, in der Meinung, ich hätte ihm einen famosen Witz erzählt. „Nein, nicht Hadrbolletz: – – Pernath!“ „Pereles?!“ – er jubelt förmlich. „Nein, auch nicht Pereles. – Per – nath!“ „Pascheles?!“ – er kräht vor Freude. –– Ich gebe enttäuscht meinen Versuch auf.56

Der Alte spricht hier keine sinnlosen Laute aus, sondern mit den Namen von Meir Perles (Pereles) (1666-1739) und Wolf Pascheles (1814-1857) benennt er die Namen zweier Quellen, aus denen Meyrink sich für seine Golem-Geschichte bedient hat. Perles hat die Lebensgeschichte Rabbi Löws aufgezeichnet, Pascheles ist der Herausgeber einer Sammlung jüdischer Volkssagen (Sippurim57), in denen auch die Geschichte von Rabbi Löw und der Erschaffung des Golems –––––––— 52 53 54 55 56 57

Müller-Tamm, Jutta: Die untote Stadt. Prag als Allegorie bei Gustav Meyrink, Weimarer Beiträge 50 (2004), S. 558–575; hier: S. 567. Lojsitschek ist der Name eines Zitherspielers, der in der berüchtigten Altprager Kneipe ‚Bataillon‛, auf die auch an anderen Stellen in Meyrinks Roman angespielt wird, auftrat. Meyrink (wie Anm. 2), S. 491 (Hervorhebung im Original). Meyrink (wie Anm. 2), S. 491. Meyrink (wie Anm. 2), S. 492. ‚Sippurim‛. Eine Sammlung jüdischer Volkssagen, Erzählungen, Mythen, Chroniken, Denkwürdigkeiten und Biographien berühmter Juden, hg. v. Wolf Pascheles. Prag 1847– 1856.

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Axel Dunker

erzählt wird. Der Ich-Erzähler auf der Suche nach der Identität seines eigenen Ich wird verwiesen auf die Vorvergangenheit des heteronomen Stoffs und zugleich auf Narrativierungen, die der Autor des Romans Der Golem intertextuell – und das heißt auch: kulturelles Gedächtnis stiftend – aktualisiert. Die Herstellung von individueller Ich-Identität bleibt aus, im Verweis auf die Arbeit an der Golem-Mythe wird Identität einzig im Sinne einer literarischen Kollektiv-Erinnerung als ‚Gedächtnis des Textes‛58 hergestellt. Die Literatur setzt sich selbst als (kulturelles) Gedächtnis schaffende Kraft.

–––––––— 58

Vgl. Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1990.

Daniel Weidner

Zweierlei Orte der Erinnerung Mnemotische Poetik in Uwe Johnsons Jahrestage

Führt man sich das breite Feld kulturwissenschaftlicher Gedächtniskonzepte vor Augen, so kristallisieren sich zwei Extremwerte heraus: Die lieux de mémoire und die mémoire involontaire. Handelt es sich doch bei jenen um eine geradezu extrem materielle gedachte Stabilität des Vergangenen, das nicht nur zerebral lokalisiert, sondern ganz manifest verräumlicht und externalisiert wird – eine Vorstellung des Gedächtnisses gegenüber der alle naturwissenschaftlichen Theorien des Gedächtnisses geradezu mentalistisch sind. Auf der anderen Seite ist die mémoire involontaire Prousts zum Paradigma des ephemeren und streng subjektiven Erinnerns geworden, das sich nicht nur der Verfügbarkeit entzieht, sondern gerade in seiner Seltenheit einen auratischen Wert gewinnt, auf den ein ganzes Leben zulaufen kann. Beide Extreme berühren sich in literarischen Texten und können daher in ihnen paradigmatisch untersucht werden. Der folgende Beitrag wird zeigen, wie Uwe Johnsons Jahrestage eine Poetik des Mnemonischen entwickelt, die aus der Verschränkung der beiden Modelle lebt, aus der Spannung von Verräumlichung und Veräußerlichung des Gedächtnisses einerseits, seiner ephemeren und ungreifbaren Natur andererseits. Konzeptuell wird es dabei darum gehen, die Kategorie der ‚Erzählung‘ zu reflektieren, zu differenzieren und zu problematisieren, die für die literaturwissenschaftliche Untersuchung von Gedächtnis und Erinnerung eine Schlüsselrolle spielt. Daher wird zunächst ein kurzer Blick auf die Entwicklung der Narratologie und insbesondere deren Verhältnis zu Prousts Erzähl- und Erinnerungskonzeption geworfen (1.), was sich um so mehr anbietet, weil Johnsons Jahrestage in der Forschung oft mit Prousts Recherche kontrastiert worden ist (2.). Will ein solcher Vergleich über die expliziten Gedächtnisdiskurse beider Autoren auch die Erzählpraxis einbeziehen, muss er die kompositionelle Rolle der beiden Erzählebenen und -weisen (3.), der Orte und des topischen Erzählens (4.) sowie der die Zeit organisierenden Chronotopoi (5.) der Jahrestage in die Untersuchung miteinbeziehen. Nach einem Seitenblick auf die Strategien der Autofiktionalisierung Johnsons (6.) wird schließlich die spezifische Erzähltechnik der Johnsonschen Mnemopoetik versuchsweise als ,Erzählprojektion‘ formuliert, die der von der Narratologie ins Zentrum gerückten Erzählperspektive zur Seite zu stellen wäre (7.).

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1. Nicht nur literarische Texte, sondern auch literaturwissenschaftliche Theorien sind Gedächtnismodelle oder implizieren doch solche. In der literaturwissenschaftlichen Diskussion über Erinnerung und Gedächtnis1 ist wohl immer noch der Zusammenhang von ,Erinnerung‘ und ,Erzählung‘ der wichtigste, scheint doch hier Literatur ganz unmittelbar mit Zeit und damit auch mit Gedächtnis zu tun zu haben. Das hat vor allem theoriegeschichtliche Gründe: Seit den siebziger Jahren hat sich die Narratologie als eigene Disziplin mit reicher Terminologie, hoher analytischer Operativität und zahlreichen philosophischen und interdisziplinären Anschlüssen herausgebildet; sie hat das Erbe von Strukturalismus und hermeneutischer Metaphysikkritik übernommen und ist in den Kulturwissenschaften breit rezipiert worden. Tatsächlich zeigt die narratologische Untersuchung kultureller Erzählungen geradezu paradigmatisch die Möglichkeit einer kulturwissenschaftlich interessierten Literaturwissenschaft, in der die Verfahren der letzteren Disziplin auf Gegenstände außerhalb des Faches angewandt werden. Allerdings ist das, was die Narratologie unter ,Erzählung‘ versteht, nicht selbstverständlich und in den letzten Jahren auch mehrfach der Kritik unterzogen worden.2 Wie alle starken Konzepte ist die narratologische ,Erzählung‘ ein Konstrukt, das nicht ohne weiteres mit der empirischen Vielfalt von Erzählungen verwechselt werden darf, sondern aus bestimmten theoretischen Problemkonstellationen hervorgeht und sich an bestimmten Paradigmen orientiert. Dabei war wohl kein Text wichtiger für die Herausbildung der modernen Narratologie als Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, insbesondere was den Zusammenhang von Erzählen und Erinnern betrifft. Schon 1955 hatte Hans Robert Jauß Prousts Werk „als Kunstwerk der Erinnerung und als Roman des Romans ineins“3 gelesen und betont, dass die Erfahrung des Misslingens für die Struktur des Textes nicht weniger wichtig ist als das Aufblitzen der temps retrouvé, weil gerade durch den dargestellten Widerstand der Zeit „die Zeitentiefe der Erinnerung selbst in die Erzählung eingegangen ist und in der allgegenwärtigen Distanz zwischen erinnerndem und erinnertem Ich unmittelbar Ausdruck findet.“4 In Proust Palimpseste (1966) betonte Gérard Genette in diesem Sinne, man solle lieber Prousts wirkliche Verfahren untersuchen als seine explizite Poetik der mémoire involontaire zu wiederholen und eröffnete damit die ausgesprochen fruchtbare dekonstruktive Linie der Proust-Kritik, der bald auch die sich immer klarere philologische Einsicht zur Hilfe kam, dass –––––––— 1

2 3 4

Vgl. insgesamt zur Übersicht Erl, Astrid u. Ansgar Nünning (Hgg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin 2005. Einflussreich war etwa die Kritik von Strawson, Galen: Gegen die Narrativität, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53 (2005), S. 3–22. Jauß, Hans Robert: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu. Frankfurt a. M. 1986, S. 13; Jauß (wie Anm. 4), S. 247.

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Prousts Werk weniger Endprodukt als Momentaufnahme eines unendlichen Revidierens und Umschreibens ist. Rainer Warning hat später betont, dass die romantische Poetik der vergegenwärtigenden Erinnerung zu der frühesten Textschicht der Recherche gehörte und in der vorliegenden Fassung nur noch als ,Widerlager‘ fungiere, das beständig durch serielle Auflösung des Einmaligen und ähnliche Verfahren dekonstruiert werde.5 Schon lange vorher hatte Paul de Man gezeigt, dass Prousts Betonung der integrativen Kraft der Metapher in seinen explizit poetischen Äußerungen mit einer viel eher auf Metonymie und Allegorie basierenden Schreibweise verbunden ist.6 Genette selbst legte die geforderte Analyse im Discours du récit (1972) vor, dem eigentlichen Grundbuch der Narratologie. Proust ist hier nicht nur deshalb paradigmatisch, weil sein Werk einen „état intermédiaire“ bwz. ein „système polytonal (polymodal)“ zwischen den Normen klassischen Erzählens und deren Abwesenheit in einer denkbaren Auflösung all dieser Normen darstellt.7 Es sind insbesondere die Phänomene des Pseudo-Erzählens, die Genette an Proust interessieren und in denen sich jene Grenzüberschreitung manifestiert: etwa das pseudoiterartive Erzählen, in dem einmalige und sich wiederholende Ereignisse ineinander bilden, führt zur Ausbildung einer autonomen Zeitlichkeit des Romans (die nach Proust die Zeitlichkeit der Erinnerung selbst ist),8 oder das pseudodiegetische, in der sich berichtete Erzählungen Dritter fortschreitend in Erzählungen des Subjekts verwandeln. Gerade diese Formen zeigen, dass sich in der Erzählung nicht nur die Aneignung von Erinnerung und Vergangenheit durch das Subjekt vollziehen, sondern dass sich das Subjekt auch auflöst in die unendliche Häufung der Ereignisse und die Fülle fremder Erzählungen. Das Interesse am Pseudo-Erzählen führt auch dazu, dass das, was die ältere Forschung ,Perspektive‘ oder ,Point of View‘ genannt hatte, jetzt in die beiden Formen von ,Fokalisation‘ und ,Stimme‘ gespalten wird und eine ganz besondere Rolle spielt. Denn hier, in der ,subjektiven‘ Sichtweise wie in der Narration selbst, findet sich scheinbar am deutlichsten die Spur des Subjekts im Text und zugleich auch die Auflösung der Subjektivität in textuelle Spuren. Die ,Perspektive‘ (bzw. das stets komplexe Verhältnis von Fokalisierung und Stimme) hat daher auch in der weiteren Entwicklung der Narratologie eine entscheidende Funktion gehabt, auch wenn sie, wie zu zeigen sein wird, keineswegs für alle Arten von Erzählung gleich zentral ist.

–––––––— 5 6 7

8

Vgl Warning, Rainer: Proust-Studien. München 2000, bes. S. 141ff. de Man, Paul: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust. New Haven u. London 1979. Genette, Gérard: Figures III, Paris 1972, S. 223. Tatsächlich ist natürlich die implizite These der Narratologie, dass eine solche Auflösung eigentlich nicht möglich ist und die eine oder andere Rückbindung an ,Gesetze‘ der Erzählung sich notwendig und auch gegen den Willen zur radikalsten Modernität einstellt. Vgl. Genette (wie Anm. 7), S. 180f.

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2. In Uwe Johnsons Jahrestage gibt es eine Reihe von deutlichen Referenzen auf Proust, insbesondere im expliziten Gedächtnisdiskurs des Buches. So reflektiert Gesine angesichts der traumatischen Erinnerung, im Beisein ihrer Mutter fast ertrunken zu sein (,Regentonnengeschichte‘) scheinbar ganz im Sinne der proustschen Theorie über die Schwäche des willkürlichen Gedächtnisses: „[I]hr kam es an auf eine Funktion des Gedächtnisses, die Erinnerung, nicht auf den Speicher, auf die Wiedergabe, auf das Zurückgehen in die Vergangenheit, die Wiederholung des Gewesenen: darinnen noch einmal zu sein, dort noch einmal einzutreten. Das gibt es nicht.“9 Diese Stelle ruft die topoi alter und moderner Gedächtnistheorie auf und spricht vom „Depot des Gedächtnisses“, das „Fakten, Zahlen Fremdsprache, abgetrennte Gesten“ enthalte, aber „gerade auf Reproduktion nicht angelegt“ sei (S. 63). Aber auch gegenüber der mémoire involontaire ist Gesine fundamental skeptisch: „halte ihm [dem Gedächtnis] hin einen teerigen, fauligen, dennoch windfrischen Geruch, den Nebenhauch aus Gustafssons berühmten Fischsalat, und bitte um Inhalt für die Leere, die einmal Wirklichkeit, Lebensgefühl, Handlung war; es wird die Ausfüllung verweigern“ (S. 63f.). Im Kontrast zur Proustschen Madeleine kann der Fischsalat die Vergangenheit nicht wieder erwecken; diese bleibe vielmehr „verschlossen gegen Ali Babas Parole, abweisend, unnahbar, stumm und verlockend wie eine mächtige graue Katze hinter Fensterscheiben“ (S. 64). Diese grundsätzliche Kritik an der Leistungskraft der Erinnerung zeichnet auch sonst den Gedächtnisdiskurs der Jahrestage aus. Nicht nur ist Gesines Erzählung vom beständigen Misstrauen durch die „Tricks der Erinnerung“ (S. 125) geprägt, es gibt auch einen breiten Diskurs über Gedächtnisstützen, Hilfsmittel und Medien der Erinnerung, die jede Vorstellung einer unmittelbaren Epiphanie der Vergangenheit naiv erscheinen lassen: Das Tonband, das Gesine für Marie aufnimmt „für wenn ich tot bin“ (S. 385) erhöht die Distanz sogar, indem es bündig konstatiert: „Wo ich her bin das gibt es nicht mehr“ (S. 386).10 Vor allem aber ist die Erinnerung nachhaltig durch die politische Geschichte gestört. Symmetrisch zur Unmöglichkeit der Erinnerung thematisiert der Roman daher auch die Unmöglichkeit des Vergessens, etwa wenn Gesine heftig die in einem behavioristischen Gedächtnisexperiment aufgestellte Behauptung ablehnt, der Mensch würde unangenehme Erinnerungen vergessen (27. und 28. 10.). In einer der längsten Auseinandersetzungen mit dem Erzähler kritisiert sie das Experimentaldesign, das mittels einer künstlichen Sprache aus Worten wie DAX und CEF und der Konditionierung von deren Assoziationen durch Stromschlägen arbeitet: „Eine Sprache, deren Worte keine Beziehungen unterhalten“, –––––––— 9 10

Johnson, Uwe: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Frankfurt a. M. 1988, S. 63. Das Werk wird im Folgenden mit einfachen Seitenzahlen im Fließtext zitiert. Vgl. zum vielfältigen Einsatz der Medien Steiner, Uwe: Das ,Handwerk des Erzählens‘ in Uwe Johnsons Jahrestagen, Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 32 (2000), S. 169–202.

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verzerre das Ergebnis, außerdem unterschlage der Versuchsaufbau die „Reifezeit im Gedächtnis“ (S. 228). Gesine entwirft stattdessen ein virtuelles Gegenexperiment, das die psychologische Kunstsprache durch die politische Sprache des Nationalsozialismus und deren Wirkung auf Gesines persönliche Lebensgeschichte ersetzt: Ausdrücke wie ,Weltjudentum‘ oder ,Roosevelt‘ waren für sie in ihrer Kindheit ebenso leer und künstlich wie jene Abkürzungen, weil sie eben keine Anschauung von ihnen hatte: „Sie waren keine Worte, nur Behältnisse, tönende, die nicht zu ihnen gehörten [...]. Sie waren so unwirklich, daß sie am besten nur mit Anführungszeichen unter die Leute gehen sollten“ (S. 231). Sie seien aber keineswegs vergessen worden, nachdem Gesine schockhaft – durch ein KZ-Foto – das Grauen des Nationalsozialismus erfahren hatte: „Es ist nichts vergessen. Es ist angeschlagen, es meldet sich nicht im Gespräch mit Juden [...]; es ist da, vorhanden, behalten“ (S. 234). Dem Subjekt schmerzhaftes wird also weniger vergessen als entstellt; die deutsche Schuldgeschichte wird so zum bleibenden Movens, aber auch zur dauerhaften Störung der Erinnerung. Die Forschung hat diese Erinnerungskonzeption schon früh bemerkt und oft ins Zentrum der Interpretation der Jahrestage gestellt, nicht selten gerade im Kontrast zu Proust: „Die Erinnerungsarbeit der Jahrestage ist ein Kampf gegen die Verführungen der mémoire involontaire.“11 In Abgrenzung zu Prousts Erinnerungskonzept wird Johnson eine stärker politische, eine Benjaminsche oder gar eine jüdisch-messianische Konzeption der Erinnerung unterstellt.12 Allerdings basiert diese Gegenüberstellung nicht nur auf der ,romantischen‘ Interpretation Prousts, sie beschränkt sich auch im wesentlichen auf die ideologische –––––––— 11

12

Bürger, Christa: Uwe Johnson. Der Erzähler, in: Prosa der Moderne, hg. v. Peter Bürger. Frankfurt a. M. 1992, S. 353–382; hier S. 371. Nachdem Sigrun Storz-Stahl (Erinnerung und Erfahrung. Franfurt a. M. u. a. 1988) das Proustsche Erinnerungskonzept relativ bruchlos auf die Jahrestage übertragen hatte, wird jetzt meist der Kontrast betont. Vgl. neben Bürger etwa Schulz, Beatrice: Lektüren von Jahrestagen. Tübingen 1995, S. 188ff., 431– 448, sowie Zschachlitz, Ralf: Zur privaten und politischen Erinnerung in Uwe Johnsons Roman Jahrestage. Ein Vergleich mit Marcel Proust, Internationales Uwe-Johnson-Forum 5 (1996), S. 139–158. Zschachlitz unterscheidet auch stilistisch die Proustsche Hypotaxe von der Johnsonschen Parataxe, freilich den ordnungsstiftenden Aspekt der ersten ebenso überbetonend wie die Offenheit der letzteren. Bernd Auerochs umfassende Diskussion der Verhältnisse von Proust und Johnson klammert die dekonstruktive Proust-Interpretation explizit aus (Auerochs, Bernd: ,Alles das brachte die verlorene Zeit nur wieder als einen Gedanken.‘ Proustbezüge und Proustkritik in Uwe Johnsons Jahrestagen, GermanischRomanische Monatsschrift 47 [1997] S. 431–448; bes. S. 432). Die Forschung zum Erinnerungskonzept Johnsons ist natürlich breit; vgl. jüngst Schmidt, Thomas: Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons Roman Jahrestage. Ein Beitrag zum Problem des kollektiven Gedächtnisses. Göttingen 2000; Elben, Christian: Ausgeschriebene Schrift. Uwe Johnsons Jahrestage: Erinnerung und Erzählen im Zeichen des Traumas. Göttingen 2002; Krellner, Ulrich: Was ich im Gedächtnis ertrage. Untersuchungen zum Erinnerungskonzept von Uwe Johnsons Erzählwerk. Würzburg 2003. Mit Ausnahme der letztgenannten neigen diese Arbeiten zur spekulativen Überdehnung, typisch ist etwa die Verbindung von metikulöser technischer Analyse nach Genette und eher haltlosen Zuschreibung eines ,hebräischen Zeitbewusstseins‘ bei Jahn, Kristin: ,Vertell, vertell. Du lüchst so schön.‘ Uwe Johnsons Poetik zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Heidelberg 2005.

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Ebene der Texte, d. h. sie nimmt Proust ebenso beim Wort seiner ästhetischen Ideologie wie sie Johnsons mehr angedeutetes, aber dadurch nicht weniger nachdrückliches Selbstverständnis als ,Realist‘ und wesentlich politischer Autor perpetuiert.13 Aber Prousts Werk ist nicht die Madeleine so wenig wie Johnsons Werk die Schuldmoral Gesines ist. Anstatt weiterhin Johnson und Proust wie Kunst und Politik gegeneinander ausspielen sollte die Interpretation lieber jene Wendung zur Analyse narrativer Formen mitvollziehen, die in der Proust-Kritik durch die erwähnte dekonstruktive und narratologische markiert wird. Das ist schon deshalb sinnvoll, weil erstens Johnsons Selbstaussagen und die ,offizielle Poetik‘ seiner Bücher hochgradig irreführend sind, weil sie zweitens auf heute kaum mehr nachvollziehbaren politischen Implikationen beruhen: der (schlechten) Alternative zweier politischer Systeme.14 Es wird darüber hinaus bei den zitierten Beispielen auch dadurch nahe gelegt, dass es sich hier von vornherein und deutlich auch um poetologische Texte handelt: Gesines Reflexion über die Schwäche der Erinnerung wird im Rahmen eines Gespräches mit Mr. Shuldiner erzählt, dass das Ineinandermontieren von Gespräch, Erinnerung, innerem Monolog und auktorialen Kommentaren paradigmatisch vorführt, das für die Jahrestage so charakteristisch ist; das Gedankenexperiment kreist um den Unterschied von einfachen Worten und solchen „mit Anführungszeichen“ (S. 231) betrifft auch damit eine für die Vielstimmigkeit von Johnsons Roman zentrale Technik. Statt Johnsons Selbstmystifizierung zu wiederholen oder ihn politisch zu ,retten‘, sollte man also lieber die Frage stellen, wie die Erzählweise der Jahrestage Erinnerung konstituiert und problematisiert, um so mehr, als der Text hier im Gegenzug auf manche blinde Flecken der Narratologie und der in ihr vorausgesetzten Konzeption von Erzählung und Erinnerung hinweisen kann. Das kann im Folgenden natürlich nur abrisshaft geschehen, mit besonderer Hinsicht auf die Orte der Erinnerung, die für Johnsons Erzählen eine so wichtige Rolle spielen.

3. Was bei einer Lektüre der Jahrestage wohl als erstes ins Auge fällt, ist die Unterscheidung zwischen zwei Handlungsebenen, zwei Orten und auch zwischen zwei Erzählweisen. Insbesondere die Jerichow-Ebene wird über weite Strecken klassisch realistisch erzählt, oft in geradezu betonter Weise: Aufgefor–––––––— 13

14

Zur Unverlässlichkeit von Johnsons Selbstcharakterisierung vgl. Neumann, Uwe: ,Er stellte seine Fallen öffentlich aus.‘ Zu Uwe Johnsons poetologischen Äußerungen, in: Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne. Internationales Uwe-Johnson-Symposium, hg. v. Carsten Gansel u. Nicolai Riedel. Berlin u. New York 1995, S. 55–80. Die politische Zeitbedingtheit von Johnsons Entwurf ist zwar allgemein bekannt, wird aber selten ausgesprochen, vgl. Golisch, Stefanie: Johnson auszählen. Einige kritische Anmerkungen zum gegenwärtigen Stand der Johnson-Forschung, Internationales Uwe-JohnsonForum 5 (1996), S. 191–195.

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dert etwa, ihre eigene Geburt vorsichtiger zu erzählen „als sei es dir erzählt worden“ (S. 203), geht Gesine doch gleich wieder in eine allwissende Erzählung von geradezu epischer Breite über. Allerdings wird diese Episierung immer wieder auch gebrochen durch Paralipsen, Multiperspektivität, das Einmontieren fremder Stimmen und den unvermittelten Wechsel von Sie- und IchErzählung. Typisch ist etwa der Anfang der Jerichow-Erzählung: „Im August 1931 saß Cressphal in einem schattigen Garten an der Travemündung, mit dem Rücken zur Ostsee, und las in einer englischen Zeitung, die fünf Tage alt war“ (S. 16). Die Erzählung beginnt klassisch ,realistisch‘, im epischen Präteritum, mit Zeit- und Ortsangabe und geht abschließend zu einer genauen Beschreibung Cresspahls über, die aber unvermittelt mit der Wendung abschließt „wie auf dem Bild in seinem Reisepaß, den ich ihm zwanzig Jahre später gestohlen habe“ (S. 16). Das plötzliche Auftreten der Erzählerin zerstört nicht nur die mimetische Unmittelbarkeit, sondern lässt die ganze vorige Beschreibung in neuem Licht erscheinen: Die auktoriale Schilderung einer Szene rückt plötzlich in die Nähe einer durchaus personal getönten Bildbeschreibung, auf die auch der letzte Satz dieser Passage zweideutig zurückkommt: „Das Bild ist chamois getönt, vergilbend“ (S. 17). Demgegenüber wird die New York-Ebene auf den ersten Blick dezidiert modern erzählt: bestimmt durch schnell wechselnde und oft unklare Fokalisierung, durch Verwirrspiele der Erzählinstanzen und umfassenderen Gebrauch der Montage – wie überhaupt schon die beständige Aufnahme der Zeitungsmeldungen einen distanzierenden Effekt hat. Allerdings sind auch auf dieser Ebene die Fälle wirklich harter Montage eher selten, es überwiegt die vorsichtige Einbettung des Materials und die Motivierung der Übergänge. So geben die Zeitungsmeldungen in aller Regel auch die Perspektive Gesines wieder und stehen oft in assoziativer Verbindung mit dem Inhalt des Kapitels. Angesichts eines Leichenfundes in der Nachbarschaft (21. 9.) scheint die Erzählung zwar unvermittelt zwischen den Reaktionen Gesines, Maries und des Fahrstuhlführers Mr. Robinson hin und her zu springen, tatsächlich sind diese aber vielfältig motivisch und durch pseudoperspektivische Überleitungen verknüpft. Auch hier gibt es also Elemente der klassischen Moderne: Multiperspektivität setzt Pseudoperspektivität voraus. Die Verteilung der Erzählformen auf die beiden Handlungsebenen ist auf den ersten Blick paradox: Die Jerichow-Geschichte ist nicht wie zu erwarten personal, sondern viel stärker auktorial erzählt; dagegen tritt der auktoriale Erzähler in der New York-Geschichte zurück, obwohl diese nach der Basisfiktion vom heterodiegetischen ,Genossen Schriftsteller‘ aufgezeichnet sein soll. Diese Konstruktion trägt zur Verfremdung bei, die insgesamt durch die Verschränkung der zwei Erzählweisen produziert wird. Dabei kommt es nicht zu einer (pseudodiegetischen) Verschmelzung der verschiedenen Stimmen des Romans, sondern die Konstruktion hat eher den Effekt, dass die beiden Erzählungen sich gegenseitig beleuchten. Gebündelt wird dieses Verfahren in der Figur Maries: Auf der einen Seite wird durch ihren Wunsch – sie habe wissen wollen „wie es gewesen sein mag, als Großmutter den Großvater nahm“ (S.

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143) – die realistische (,naive‘) Erzählweise plausibilisiert, auf der anderen Seite problematisiert sie aber auch die Metadiegese in den zahlreichen Episoden, in denen sie Gesines Erzählen befragt, anzweifelt oder sogar einer Prüfung unterziehen will (vgl. etwa 21. 10., 15. 11., 15. 12.). Beide Erzählweisen implizieren sich so wechselseitig und sind nur im Rahmen der Gesamtkomposition zu verstehen.

4. Für diese Komposition sind die Orte von zentraler Bedeutung. Sie sind bei Johnson sowohl Gedächtnisstützen als auch Erinnerungsorte, lokalisieren sowohl das Erinnerte wie auch das Erinnern. Einerseits produziert die Ortsgebundenheit vieler Erzählungen den Anschein dokumentarischer Exaktheit. Johnson hebt selber gerne seine „logistische[n] Forschungen“15 hervor, die oft Ortsbegehungen sind; gerade die New York-Ebene der Jahrestage ist aus Ortsbeschreibungen hervorgegangen, ihre erste Spur in Ein Brief aus New York geht aus der puren Verwunderung über den fremden Ort hervor: Die Beobachtung „Gelb ist hier anderswo“ leitet hier eine lange Liste dessen ein, was in New York Gelb ist und bedeutet, eine Passage die später in den Roman übernommen wird (vgl. 1690ff.).16 Andererseits werden besonders die erinnerten Orte meist symbolisch aufgeladen, nicht selten gerade im Kontrast von stabiler Natur und flüchtiger Geschichte. Typisch wird etwa davon berichtet, dass Cresspahl 1935 „zwei Sachen“ anfing (S. 467): Lange und indirekt wird davon erzählt, wie er beginnt, am Militärflugplatz mitzuarbeiten und sich dadurch in Schuld zu verstricken; unmittelbar wird die andere (erste) Sache eingeführt: „Das eine war, er machte sich einen Garten.“ (S. 467). In fast legendarischer Weise wird erzählt, wie die ganze Familie in seltener Eintracht einen bukolischen Frieden der Natur ,schafft‘: „Und im kalten kalten Mai war das Land ein Garten. Das war angefangen, und es sollte dauern“ (S. 468). Aber auch erzähltechnisch spielen die ,Orte‘ bei Johnson eine entscheidende Rolle. Norbert Mecklenburg hat überzeugend das für Johnson charakteristische topische Erzählen herausgearbeitet.17 Topisch sind die Listen wie die im Brief aus New York, die Liste von Äußerungen, mit denen Marie eingeführt wird (25. 8.) oder die Liste der Seen, in denen Gesine in ihrem Leben geschwommen –––––––— 15 16 17

Johnson, Uwe: Begleitumstände. Frankfurt a. M. 1980, S. 417. Johnson, Uwe: Ein Brief aus New York (1967), in: Johnsons ‚Jahrestage‘, hg. v. Michael Bengel. Frankfurt a. M. 1985, S. 30–34; hier S. 30. Vgl. Mecklenburg, Norbert: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Frankfurt a. M. 1997, bes. S. 281ff. Mecklenburg spricht auch gelegentlich von topographischem (vgl. S. 16, 339ff.) oder „topisch-topographischem Erzählen“ (S. 344), diese Erörterungen sind aber meist auf den Kontext von ,Regionalismus‘ und ,Heimat‘ verengt verstanden worden und systematisch erst noch auszuschöpfen.

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ist (20. 4.). Topisch sind aber auch die zusammenfassenden Überschriften wie die ,zwei Sachen‘ vom 17. 12., das „So hieß es, und so wurde gesagt“ (S. 414), das die Meinungen über Cresspahl abschließt oder das „Wenn Jerichow zum Westen gekommen wäre“ (1240), das eine lange modale Beschreibung eines bundesrepublikanischen Jerichow umrahmt; im weiteren Sinne topisch ist natürlich schon die Verteilung der Handlung auf die Tage des Kalenders, insbesondere auf die wiederkehrenden (Samstag ist ,Tag der South Ferry‘). In allen Fällen geht die Ordnung des Textes nicht in der Erzählung auf, sondern bleibt als solche sichtbar; gerade deshalb werden die in den Text eingeordneten Elemente auch nicht restlos in die Narration eingeschmolzen. Durch die topische Organisation können schließlich auch die beiden Erzählweisen aufeinander bezogen werden, ohne zu einer Erzählung zu werden oder einander explizit über– oder untergeordnet zu werden.

5. Die Beziehung der beiden Ortschaften der Jahrestage wird oft selbst wieder durch Orte symbolisiert, vorzugsweise durch solche, die sowohl für die Erinnerung als auch für das Erinnerte stehen und zugleich Entsprechung und Kontrast, Assoziation und Dissoziation von Vergangenheit und Gegenwart ausdrücken. Beispiel für einen solchen Chronotopos ist das ,Haus‘, um das die Einträge vom 7. und 8. 11. kreisen. Zunächst wird D.E.s Haus in New Jersey als mögliche Heimat beschrieben („Hier könntest Du wohnen, Gesine Cressphal“; S. 269), als Haus des Lebens und der Erinnerung, in dem D.E.s Mutter den ganzen Abend von der Vergangenheit erzählt, wobei nicht nur das Erinnerungssymbol der Katze, sondern auch die den Roman abschließende Wendung vom „Kind das ich war“ auftauchen: „Unter der Dunkelheit des Himmels quoll der Innenraum des Hauses auf, dehnte sich aus mit Licht und Wärme und menschlichem Leben. Als Marie kam, eine Katze auf der Schulter, habe ich sie verwechselt mit dem Kind, von dem ich träumte, dem Kind das ich war“ (S. 270). Aber Gesine glaubt gleichzeitig den Erzählungen von Frau Erichson nicht wirklich und beobachtet das Haus immer auch kritisch als „von Grund auf neu ausgedacht“, ja „gefälscht“ (S. 268f.). Überhaupt steht D.E. für sie, durchaus nicht immer gerecht,18 für das Gegenteil einer lebendigen Erinnerung: Seine Vergangenheit „achtet er gar nicht für Wirklichkeit“, sie ist „weggeräumt wie in ein Archiv“: „Gewiß, es ist alles noch vorhanden, beliebig abrufbar, nur nicht lebendig“ (S. 339). Vor allem wird das Kapitel wie oft bei Johnson durch eine Rahmung relativiert: Der Anfang, der überraschte Ausruf „Nein! Nein! Nein! rief Frau Erichson“ (S. 268) stellt das ganze Kapitel schon unter einen Vorbehalt und stellt auch gewissermaßen die vorweggenommene Antwort auf den Schlusssatz dar: „So stellt D.E. sich mein Leben vor“ (S. 272). –––––––— 18

Über die Beschränktheit von Gesines Sicht vgl. Mecklenburg (wie Anm. 17), S. 410ff.

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Der nächste Tag führt den Leser zu Cresspahls Haus in Jerichow, dem sich der Text langsam, im Präsens und in der zweiten Person („Wende dich rechts über die Schulter“; S. 273) annähert, um das Ankommen vorzubereiten: „Jetzt bin ich zu Hause“ (S. 274). Aber auch hier gibt es eine Gegenbewegung gegen diese erinnerte Präsenz. Mag die Einsamkeit und Stille des Hauses noch für dessen Eingebettetheit in die Natur stehen („Nach Süden, Westen, Norden hin war es leer um den Hof. Nur der Wind sprach“; S. 274), so ist das Haus auch sonst als tot charakterisiert. Es ist lange nicht bewohnt, die Vorgänger haben nur „unbrauchbares Gerümpel“ hinterlassen, ein Versuch Licht zu machen, zieht einen fast tödlichen Stromschlag nach sich. Das Haus hat kein Leben und auch keine Vergangenheit: „es waren weder von Liebespaaren noch von Katzen Spuren zu sehen“ (S. 274). Man kann also die beiden Häuser nicht so leicht gegenüberstellen wie Vergangenheit und Gegenwart oder Leben und Tod. Gerade in ihrer Verbindung, in ihren Symmetrien ebenso wie den Nicht-Entsprechungen, problematisieren sie Erinnerung, die an keinem der beiden Orten des Textes als reine möglich ist, immer aber verortet ist. Die Spannung zwischen beiden Orten löst die Erinnerung aus, und treibt damit auch den Text voran. Zusammengeführt werden die beiden Häuser, das vergangene wie das gegenwärtige in gewisser Weise im Hausmodell, das Marie Gesine schenkt, um zu „versuchen, was das denn wäre, wovon Du erzählst“ (S. 538), und das man insgesamt als Allegorie des Textes verstehen kann: Es stellt das Haus in Jerichow dar und weckt lebendige Erinnerungen, zugleich ist es so künstlich wie das Haus D.E.s; unter einem Laken verhüllt, erscheint es Gesine als etwas „Totes“, „Abgetanes“, „was nicht wiederkommt“ (S. 538).

6. Die grundsätzliche Ambivalenz des Dargestellten betrifft auch die Figuration der auktorialen Subjektivität. Zu den Bedingungen des Erzählens der Recherche wie der Jahrestage gehört ein erhöhter und zugleich zweideutiger Einsatz des Autors. Nicht umsonst ist Prousts Buch lange als Autobiographie gelesen worden, denn die Darstellung der Zeit kann sich, wie Jauß zeigte, nur in erster Person vollziehen, ebenso wie sich umgekehrt die Subjektivität in den Raum unendlichen Schreibens auflöst. Auch die Jahrestage setzten eine komplizierte Autorschaft voraus, setzten sie doch einen in souveräner Regiefunktion agierenden Erzähler voraus, dem zugleich das Werk nicht vollständig zugeschrieben werden soll, um seine Stimmenpluralität nicht aufzuheben. Daher wird die Souveränität des Erzählers bereits im Text selbst untergraben in den Momenten, in denen der ,Schriftsteller Uwe Johnson‘ selber zum Gegenstand von Erzählung wird, etwa bei seinem gescheiterten Auftritt vor dem Jewish American Congress (3. 11.) oder den oft recht respektlosen Auseinandersetzungen Gesines mit ,ihrem‘ Autor. Diese Strategie der Selbstfiktionalisierung wird in zahlrei-

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chen Paratexten wiederholt und gesteigert. So schreibt Johnson 1978 in einer Einführung in die Jahrestage: „Und dann traf ich jemanden wieder, das war diese Gesine Cressphal. Sie ist wie andere Personen, die ich angeblich erfunden habe, für mich eine ziemlich wirkliche Person, wirklich in dem Sinne, wie für Sie das Angedenken von Leuten ist oder die Erinnerung an Leute, die nicht gerade hier im Raum sind.“19 Fiktional wird hier die Autorschaft (die ,angebliche‘ Erfindung), wirklich die erfundene Person, die ja schon in den älteren Texten Johnsons, besonders in den Mutmaßungen über Jakob ihren Ort hat. Johnson steigert dieses Verfahren in den Begleitumständen, indem er seinen eigenen New York-Aufenthalt mit im wesentlichen denselben stilistischen Mitteln der Jahrestage beschreibt und damit fiktionalisiert, während die Begegnung mit Gesine erneut und sogar noch präziser als wirklich inszeniert wird: Hieß es 1978 noch: „Ich kann ihnen die Stelle nicht sagen in New York, wo ich sie wiedertraf,“20 so ist das zwei Jahre später bereits lokalisiert und zu einer narrativen Szene ausgebaut. Nachdem Johnson dem Leser seine ersten Arbeitsnotizen aus der New Yorker Zeit präsentiert − darunter: „Zu vermeiden den Eindruck hier wolle jemand lediglich in seine Kindheit zurueck“ – trifft er seine Protagonistin: „Am Dienstag der folgenden Woche sah ich Mrs. Cresspahl auf der Südseite der 42. Strasse auf die Sechste Avenue zugehen“21 und imaginiert ein Gespräch, in dem das Romanprojekt als sexueller Übergriff erscheint, von Gesine kommentiert „Oh no. Not again.“22 Hier wird also nicht wie in der pseudodiegetischen Erzählung Prousts alles narrative Wissen der erzählenden Subjektivität einverleibt und diese damit latent aufgelöst, sondern die Narration selbst wird mystifiziert (als wirkliche) und zugleich paradox verdoppelt, indem sie zugleich fiktionalisiert wird und ihre eigene Fiktionalität vehement bestreitet. Johnson übernimmt hier radikale Techniken der Moderne und negiert sie im selben Atemzug. Treffender als die Situierung Johnsons zwischen Realismus und Moderne ist daher wohl jene ,zwischen Vormoderne und Postmoderne‘,23 denn die Techniken vormodernen, oft als mündlich figurierten Erzählens stehen im Rahmen einer insgesamt seriellen Komposition. Die scheinbar naive Behauptung, so sei es wirklich gewesen, verbindet sich mit der selbstverständlichen Fiktionalisierung des Autors. Das verändert auch die Sicht auf sein ,realistisches Erzählen‘, denn für den Leser wird zunehmend deutlich, dass Gesines kritische Äußerungen über die Naivität der Erinnerung und die Tricks der Darstellung nur an der Oberfläche der viel grundlegenderen Struktur des Textes liegen, die als solche nicht enthüllt wird. Denn zumindest ein Effekt der paradoxen Verdoppelung der Autorschaft besteht ja darin, jede Rückfrage nach –––––––— 19 20 21 22 23

Johnson, Uwe: Einführung in die ‚Jahrestage‘, in: Johnsons ‚Jahrestage‘ (wie Anm. 16), S. 15–27; hier S. 20. Johnson (wie Anm. 19), S. 20. Johnson wie Anm. 15), S. 406. Johnson (wie Anm. 15), S. 409. Vgl. den von Gansel und Riedel herausgegebenen Sammelband dieses Titels (wie Anm. 13) .

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der auktorialen Gestaltung des Textes oder einer hinter dem Text liegenden Intention zu blockieren bzw. wieder in die Fiktion zurückzuverweisen: In den Begleitumständen erfährt man vor allem, dass das ,wirkliche‘ New York Johnsons exakt derselbe Ort ist wie das fiktive New York Gesines und dass auch seine ,Erklärung‘ der Jahrestage auf derselben Ebene stehen wie dieser Text selbst. Daraus wird ein weiteres Mal deutlich, dass auch die anderen so gerne zitierten poetologischen Äußerungen Johnsons keinesfalls weniger fiktional sind als die Texte, die sie erklären sollen, sondern ganz im Gegenteil dazu neigen, das Schreiben zu mystifizieren und die Fiktion der Romane gegen jeden Metadiskurs, auch den des Autors selbst, zu immunisieren.24

7. Johnsons Rückgriff auf realistisches Erzählen in den Jahrestagen ist also keinesfalls ein Rückschritt ins neunzehnte Jahrhundert oder gar einen „Rückfall in die deutsche Innerlichkeit,“25 sondern dient wie die ,offizielle‘ Proustsche Poetik der Vergegenwärtigung eher als Widerlager eines ganz anderen Erzählens. Auch dieses Erzählen hat seine Form wie vor allem der Schluss der Jahrestage zeigt. Auf dem Weg nach Prag trifft Gesine ihren alten Lehrer Kliefoth, übergibt ihm ein Romanmanuskript und geht schließlich zusammen mit Marie entlang der Ostsee: „Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war“ (1891). Die Forschung hat meist die Offenheit dieses Schlusses betont, gerade im Kontrast mit Proust. Hier finde sich keine Epiphanie, die Metadiegese erreiche auch am Schluss die Diegese nicht und habe sich ihr auch nicht wesentlich angenähert. Die Manuskriptübergabe sei nur ein äußerlicher Kunstgriff, und der zitierte Schlusssatz halte schon durch seine grammatische Konstruktion (den Wechsel vom ,wir‘ zum ,sie‘ zum ,ich‘) die Differenz von Erinnern und Erinnertem fest.26 Allerdings finden sich auch Hinweise, die auf eine ganz andere Lesart und einen viel abgerundeteren Schluss hindeuten. So stehen die Hand in Hand Gehenden ja auch für ein realisiertes Gedächtnis der Generationen, auch findet sich unmittelbar vor der zitierten Stelle Johnsons eine durchaus an Proust gemahnende Referenz auf ein Körpergedächtnis, die Erinnerung an eine Berührung –––––––— 24

25 26

Vgl. Jahn (wie Anm. 12), S. 342: „Johnsons Poetikvorlesungen belegen, daß der Dichter seinem fiktiven Erzählen verfallen ist. Das Dichten nimmt kein Ende und es führt außerhalb der Romane erst recht nicht zur Reflexion des Dichtens [...]. Johnson mystifiziert mit einer fortschreitenden Dichtung über die Umstände seines Schreibens sein Schreiben“. Jahn spricht auch von Johnsons „Regelpoetik [...] deren oberste Regel es war, über sie keine Auskunft außerhalb der Romane zu geben“ (S. 349). Neumann, Bernd: Utopie und Mimesis. Zum Verhältnis von Ästhetik, Gesellschaftsphilosophie und Politik in den Romanen Uwe Johnsons. Kronberg 1978, S. 299. Vgl. die oben in Anm. 10 genannten Arbeiten.

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Jakobs: „Ich glaub das geschieht einem im Leben ein einziges Mal“ (1891). Vor allem muss man eine etwaige Geschlossenheit des Textes bei Johnson nicht nur auf der Ebene der narrativen Stimmen und Perspektiven bzw. der pseudodiegetischen Verschmelzung suchen, sondern auf der Ebene der Komposition. Und hier bietet sich ein anderes Bild: So nimmt die Szene Bezug auf den Anfang des Romans am Meer sowie den wichtigen Anfang des dritten Bandes am Wasser (20. 4.), verschiedene andere Motive greifen ebenfalls zurück, etwa ,das Kind, das ich war‘ auf die Hausgeschichte vom 7. 11., die Erinnerung an Jakobs Berührung ebenfalls auf den 20. 4. Insofern löst das Ende die Absichtserklärung der Begleitumstände durchaus ein, „dass hier einmal einer Katze es gelingen sollte, den eigenen Schwanz zu fangen.“27 Ist also schon der Proustsche Schluss nicht einfach eine Erfüllung – auf das Wiederfinden der Zeit im Hof der Guermantes folgt schließlich noch die lange Beschreibung des Alterung der Gäste, der Entschluss zum Schreiben liegt schließlich immer noch in der Zukunft −, so ist der Johnsons auch nicht schlicht deren Negation; auch insofern wäre es sinnlos, Johnson mit oder gegen Proust hier auf einer irgendwie linearen Skala von Realismus bis Postmoderne einzuordnen. Was der Vergleich allerdings deutlich machen kann, sind die unterschiedlichen erzählerischen Verfahren und ihre theoretischen Implikationen. Denn die Frage der pseudodiegetischen Auflösung der Subjektivität in ihre Erzählungen scheint für die Jahrestage tatsächlich in gewisser Hinsicht das falsche Kriterium zu sein. Erinnerung und Erzählung vollziehen sich hier nicht unbedingt auf der Ebene der Subjektivität und sie vollziehen sich weniger durch einen bestimmten Blick auf oder einen bestimmten Weg durch die Vergangenheit, als durch eine Streuung von Erinnerungen, nicht zufällig steht am Schluss ja auch nicht die (zukünftig auszuschreibende) Vokation des Schriftstellers, sondern ein existierendes Manuskript. Vielleicht ist deshalb auf diesen Schluss und auf das ganze Werk die Kategorie der ,Perspektive‘ nur bedingt anwendbar, vielleicht könnte man ihr, einer Anregung Robert Stockhammers folgend, die Kategorie einer Erzählprojektion zur Seite stellen, für die der Text kein Fenster zur Welt wäre, sondern eine Oberfläche, auf der die Welt verzeichnet würde wie auf einer Karte.28 Anders als die Zentralperspektive setzt das geometrische Verfahren der Projektion keinen Zentralpunkt voraus und könnte daher solche Erzählphänomene bezeichnen, die von einer besonderen ,subjektiven‘ Perspektive absehen; gegenüber der die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung betonenden Rede vom ,Sehen‘ und ,Sprechen‘ (Modus und Stimme) der Erzählung würde die Projektion das materiale und konstruktive Verfahren betonen. Sie beträfe viel von dem oft als ,Montage‘ Beschriebenen, wobei aber ,Projektion‘ zugleich das Referentielle des Textes betont, das mit dem Johnsonschen Realismus notwendig verbunden –––––––— 27 28

Johnson (wie Anm. 15), S. 416. Vgl. Stockhammer, Robert: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur. München 2007, bes. S. 80ff. Stockhammer betont, dass schon die Genettssche Nullfokalisierung bereits bei Genette als Metapher (,point de vue de Dieu‘) eingeführt werde und eben eigentlich keine Perspektive darstelle.

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bleibt. Ihr Gedächtnis wäre kein virtueller Raum, sondern eine Karte, der ihre Virtualität durch ihren Zeichencharakter ja immer schon eingeschrieben ist. Prousts Recherche beanspruchte, den Erinnerungsvorgang selbst nachzuahmen und hat damit ein bestimmtes Vorverständnis der Erinnerungserzählung geschaffen, das sich kategorial im narratologischen Interesse an Perspektive und ihren pseudodiegetischen Verzerrungen niederschlug. Die Jahrestage entwerfen dagegen kein subjektives Gedächtnis und stellen dementsprechend auch nicht die Dezentrierung des Subjekts in seiner Erinnerung dar. Sie konzentrieren sich eher auf die Wiederholungsstruktur und den episodischen Charakter des Erinnerns, das nicht aus einem Zeitfluss, sondern einer Reihe von Punkten besteht, von denen jeder das Gedächtnis neu erzeugt. Weil sich Erinnerung immer wieder neu vollzieht und immer wieder anders, bilden sie eine Art Verhaltenslehre des Erinnerns, das ganz verschiedene Formen und auch ganz verschiedene Reflexionsniveaus aufgreift und in gewisser Weise zeigt, wie auch die komplexesten Formen der Erinnerungen ,naive‘ Erzählungen voraussetzen, wie aber auch ,naive‘ Erinnerung durch ihre Wiederholung und Variation im Alltäglichen komplex werden. Daher handelt es sich auch hier, bei aller Konstruiertheit, um eine Form von Erzählung, nur um eine andere als die narratologischen Kategorien (üblicherweise) beschreiben. Insofern ist die Lektüre von Literatur immer mehr als die Anwendung literatur- oder kulturwissenschaftlicher Theoreme. Sie zwingt diese Theoreme auch zur beständigen Revision ihrer selbst.

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Dinge als Gedächtnis und Dinge als zweite Natur in der frühen kritischen Theorie

I. Die Postmoderne hatte, ihren Kritikern zufolge, das Geschäft der Kulturalisierung von allem und jedem, einschließlich der Natur, betrieben.1 Auch darum konnten Projekte der Naturalisierung von Kultur einigen Distinktionswert gewinnen.2 Sie folgen aber auch sachlichen Zwängen: In dem Maße, in dem sich die Moderne resp. Postmoderne als „Fortschritt im Bewußtsein der Künstlichkeit vollzieht“3 und begreift, stößt sie auf das Problem der Unverfügbarkeit ihrer Voraussetzungen. Die „explizit gemachte Biomechanik des Gehirns“, beispielsweise, bleibe menschlichen Wesen ebenso fremd wie sich die „atmosphärischen und klimatischen Bedingtheiten der Kultur“ in ihrer Erosion als unzuhanden herausstellen.4 Schon das Hybridphänomen Klima bezeugt aber darüberhinaus die Notwendigkeit, einen Begriff von Natur zu denken, in dem nicht mehr nur das materiell oder prozessual Vorausgesetzte, sei es strukturell oder kausal, erfasst wird. Kulturen hängen nicht nur von einer Natur ab, die ihr vorausgeht. Sondern vielmehr von einer Natur, oder gar von Naturen, die sie selbst geschaffen haben. Im Ozonloch, um Bruno Latours berühmtes Beispiel in Erinnerung zu rufen, versammeln sich chemische, physikalische, politische, ökonomische, mediale und diskursive Realien.5 Schon seit alters, spätestens seit Aristoteles,6 hat die topische Rede von der zweiten Natur der wechselseitigen Durchdringung von Natur und Faktur Rechnung getragen. Nun bezeugt sich die Erfahrung, dass das Gesetzte (thesis) den Charakter des von sich aus Daseienden (physis) annimmt, immer wieder in der Literaturgeschichte der Dinglichkeit. Ausgerechnet das Problem der Dinge, der Artefakte, weist die kulturalistische These in ihre Schranken: Die These, dass Geschichte und Gesellschaft, Umwelt und Mitwelt, Politik und Wissen, Ge–––––––— 1 2

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Eagleton, Terry: Was ist Kultur? Eine Einführung. München 2001, S. 129 u. ö. Vgl. aus evolutionstheoretischer Sicht Menninghaus, Winfried: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt a. M. 2003; Eibl, Karl: Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn 2004; ders.: Wie aus Natur Kultur wurde. Geschichten über den Anfang der Menschheit, Kulturpoetik, Journal for Cultural Poetics 6 (2006), S. 114–120. Sloterdijk, Peter: Schäume, in: Sphären 3. Frankfurt a. M. 2004, S. 69. Sloterdijk (wie Anm. 3), S. 85f. Latour, Bruno: Wir sind niemals modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M. 1998. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übs. v. Adolf Lasson. Jena 1909, S. 160.

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schlecht und Kommunikation zunächst und vor allem kulturell ‚gemacht‘ sind. Es zeigt an, dass die obligaten Anti-Essentialismen und formelhaften Distanzierungen von ontologischen Modellen einer Revision bedürfen. An Dingen offenbart sich, wie das Gemachte ins Gewordene eintritt, um dann, gleichsam als naturales Milieu, agierend ins kulturelle Geschehen einzugreifen. Wer „die Zirkulation zwischen den narrativen und sprachlichen Mustern einer Kultur und dem Verhalten der von ihr geprägten Menschen“7 untersucht, stößt rasch darauf, dass narrative und sprachliche Muster einer Kultur ein Gedächtnis in den Dingen innehaben.8 Dergestalt, dass diese nicht nur als passive Speicher, sondern Agentien (Agencies) von Kultur selbst figurieren. Die Dichotomie von Natur und Kultur, so lautet meine erste These, wird von Dingen unterlaufen, die gleichsam eine zweite Natur ausmachen. Und zwar, indem sie als Gedächtnis(medien) figurieren. Aus der ersten ergibt sich die zweite These: Die mittlerweile geläufige Rede von einer dinglichen Agency lässt sich aus der medialen und aus der Gedächtnisqualität der Dinge begreifen. Diesem Sachverhalt hat die Kritische Theorie Rechnung getragen hat, etwa unter dem schillernden Begriff der ‚Verdinglichung‘.9 Eingedenk der Tatsache, dass Kritische Theorie den Schein von Natur auf Geschichte und Gesellschaft zurückführen wollte, nötigt das Phänomen dinglicher Agency aber auch, so meine dritte These, zur Relativierung von naturalistischen Konzepten: „Die bereits bei Hegel kritisch tingierte Theorie der zweiten Natur ist einer negativen Dialektik unverloren. Sie nimmt die unvermittelte Unmittelbarkeit, die Formationen, welche die Gesellschaft und ihre Entwicklung dem Gedanken präsentiert, tel quel an, um durch Analysis ihre Vermittlungen freizulegen, nach dem Maß der immanenten Differenz der Phänomene von dem, was sie von sich aus zu sein beanspruchen.“10

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So hieß es im Ausschreibungstext zur Sektion 5 des Germanistentages 2007: Gedächtnis und kultureller Wandel; Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 53 (2006), S. 355. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München ²1997, S. 20, 39. Wenig hilfreich für ein Verständnis dieses historisch aufgeladenen Begriffs ist das so betitelte Buch von Axel Honneth. Es übersetzt das Problem der Verdinglichung in das der Anerkennung und fällt damit in eine anthropozentrierte Sichtweise von Sozialität zurück, die die Dinge gerade nicht in den Blick bekommt. Vgl. Honneth, Axel: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie. Frankfurt a. M. 2005. Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit, in: Gesammelte Schriften 6, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1970, S. 48.

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II. „Es ist in Wahrheit die zweite Natur die erste.“11 Mit dieser dialektischen Pointe beschließt der junge Theodor W. Adorno seinen Vortrag Die Idee der Naturgeschichte. Adorno lehnt sich dabei eher an die antike Tradition an, den determinierenden Charakter von Sitten und Gewohnheiten als „zweite Natur“ zu bezeichnen, als dass er Hegel folgte, der den im Recht sich als Freiheit verwirklichenden Geist als eine „zweite Natur“ bezeichnet hatte.12 Dass die zweite Natur die erste sei, sollte eben nicht besagen, der Geist läge der Natur realiter zugrunde oder ginge ihr zumindest epistemisch voraus. Vielmehr ist gemeint: Das Gesetzte und Gemachte erscheint als Gewordenes nämlich nicht nur naturförmig, es wirkt auch real als äußere Macht quasi erster Natur. Daher zeichnet Adorno programmatisch nach, dass und wie „die geschichtlichen Stoffe selber sich in Mythisches und Naturgeschichtliches (verwandeln).“13 Adornos Gegenbegriff zu Natur, dialektisch mit ihm verschränkt, lautet also ‚Geschichte‘. Von Kultur zu sprechen vermeidet er wohl nicht nur aus Gründen der Abgrenzung gegen die zeitgenössischen Tendenzen in der Kulturphilosophie. Zu sehr steht der Begriff, Cassirers und des Neukantianismus, aber auch Simmels wegen, um 1930 in einer transzendentalen und anthropozentrischen Tradition. Dem Konzept der Naturgeschichte hingegen ist es dezidiert um die „Überwindung des subjektivistischen Standpunkts“ zu tun, darum, der Auflösung aller „Seinsbestimmungen [...] in Denkbestimmungen“ zu opponieren,14 ja, um nichts geringeres als den flagranten Idealismen oder kritizistischen Reduktionismen und Selbstbescheidungen in Sprach- und Symbolphilosophie, Neukantianismus oder transzendentaler Phänomenologie eine „ontologisch[e] Umorientierung“ oder „Wendung“ entgegenzuhalten.15 Sich am Gegenständlichen zu orientieren, das mag noch heute irritieren: Sowohl der Kulturalismus, als auch der Naturalismus, etwa in Gestalt der Neurowissenschaften, pflegen ein Faible für konstruktivistische Modelle.16 Noch in seinen späten Hauptwerken, der Negativen Dialektik und der Ästhetischen Theo–––––––— 11

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Adorno, Theodor W.: Die Idee der Naturgeschichte, in: Gesammelte Schriften 1. Philosophische Frühschriften, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1973, S. 345–365; hier: S. 365. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke 7, hg. v. Karl Markus Michel u. Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M. 1986, S. 46; Adorno (wie Anm. 10), S. 351. Adorno (wie Anm. 11), S. 365. Adorno (wie Anm. 11), S. 346. Adorno (wie Anm. 11), S. 355, S. 361. Ich unterschlage hier, dass Adorno den Begriff ‚ontologisch‘ strategisch gebraucht und am Ende dialektisch relativieren wird. Wenn, z. B., Gerhard Roth ein reales und ein wirkliches Gehirn unterscheidet, setzt er schlicht die neuronale Hardware an die Stelle des transzendentalen Subjekts. Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1994, S. 325, 293. Zur Kritik vgl. Seel, Martin: Der Konstruktivismus und sein Schatten, in: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, hg. v. Martin Seel. Frankfurt a. M. 2002, S. 101–122; hier: S. 109ff.

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rie, wird Adorno hingegen leitmotivhaft den „Vorrang des Objekts“, ja gegen alle vordergründige Verdinglichungskritik „das Wahrheitsmoment am Dinghaften“ herausstellen.17 Objekt- bzw. Dinghaftigkeit bedeutet nun so ziemlich das Gegenteil einer subjektdisponiblen Masse. Vielmehr nötigt sie Adorno zur dialektischen Rehabilitierung der ontologischen Frage. Dank ihr vermag die Kritische Theorie das Erklärungspotential transzendentalistischer Theoriebildungen zu überbieten. Ein Jahr zuvor, 1931 in seiner Antrittsvorlesung Die Aktualität der Philosophie, hatte Adorno frech behauptet, es sei ein historisch brisantes Ding, nämlich die „geschichtliche Figur der Ware und des Tauschwerts“, das die zeitgenössisch etwa im Neukantianismus oder der transzendentalen Phänomenologie nach wie vor virulente Ding-an-sich-Problematik zwar nicht löse. Aber es bringe sie schlicht zum Verschwinden.18 Man hört noch heute das Auditorium nach Luft ringen. Adornos Überlegung ist freilich kaum von der Hand zu weisen: Weil nämlich die Ware als ein konstituiert-konstituierendes Ding begriffen werden muss, in dem ein schimärischer Tausch- den Gebrauchswert überformt, der, so Marx, in einem subjektlosen „gesellschaftlichen Prozeß hinter dem Rücken der Produzenten“ entsteht.19 Ein Ding, das „das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen“ die „phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen“ annehmen lässt.20 Ein notwendiger, gleichsam realer Schein, wie zu betonen Adorno nie müde wird.21 Die Ware vergesellschaftet real, und zwar durch scheinhafte Verhältnisse. Sie ist darum einerseits historischer Akteur, andererseits aber auch „gesellschaftliche Hieroglyphe“22. Diesen letztgenannten Aspekt gleichsam methodisch auszubauen, formuliert Adornos Vortrag die Idee der Naturgeschichte. Und zwar, indem er das Theorem der zweiten Natur aus Lukács’ Theorie des Romans mit dem Allegorie-Begriff aus Benjamins Trauerspielbuch engführt. Lukács hatte die in den Romanen begegnende geschichtliche Welt als entfremdete beschrieben, „als Welt der vom Menschen geschaffenen und ihm verlorenen Dinge.“23 Die Dinge mögen Petrefakte und auch Akteure der Entfremdung darstellen. Sie sind gleichwohl lesbar. Sie bedeuten: Im Anschluß an Benjamin entwickelt Adorno den Gedanken, „daß die Momente Natur und Geschichte nicht ineinander aufgehen, sondern daß sie zugleich auseinanderbrechen und sich so verschränken, daß das Natürliche auftritt als Zeichen für Geschichte und Geschichte [...] als –––––––— 17 18 19 20 21

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Adorno (wie Anm. 10), S. 192, 368; vgl. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, in: Gesammelte Schriften 7, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1970, S. 166 u. ö. Adorno, Theodor W.: Die Aktualität der Philosophie, in: Gesammelte Schriften 1. Philosophische Frühschriften. Frankfurt a. M. 1973, S. 325–344; hier: S. 337. Marx, Karl: Das Kapital. Erster Band, in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 23, Berlin 1979, S. 59. Marx (wie Anm. 19), S. 86. „Die Naturwüchsigkeit der kapitalistischen Gesellschaft ist real und gesellschaftlich notwendiger Schein zugleich.“ (Adorno, Theodor W.: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit. Vorlesung 1964/1965, in: Nachgelassene Schriften IV/13, hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 2001, S. 167, 170. Marx (wie Anm. 19), S. 88. Adorno (wie Anm. 11), S. 355.

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Zeichen für Natur.“ Damit ist der sachliche und methodische Kern der Kritischen Theorie in nuce benannt: in der deutenden Analyse, „die konkrete Geschichte“, d. h. nicht zuletzt die Geschichte, wie sie materiell in den Konkreta vorliegt, „als Natur auszulegen und die Natur im Zeichen der Geschichte dialektisch zu machen.“24 Es ist denn auch insbesondere die Literatur, die von der „Übermacht der Dingwelt“ kündet, selbst und gerade dann, wenn sie sich in Gestalt der literarischen Moderne „von den Konventionen gegenständlicher Darstellung [...] lossagt.“25 In den Dingen, um es abbreviaturhaft auszudrücken, bewahrt Geschichte das Gedächtnis von Natur und bekundet sich Natur umgekehrt als Archiv von Geschichte.

III. Womöglich fordert die Idee der Naturgeschichte noch heute kulturalistische wie naturalistische Positionen heraus. Die These, die „Objektivität des geschichtlichen Lebens (sei) die von Naturgeschichte,“26 ficht nämlich, das muss man klar sehen, das Gründungstheorem der historischen und der Kulturwissenschaften an: das von Vico statuierte Axiom der - wenn auch aufgeschobenen - Transparenz der Geschichte und der kulturellen Artefakte. Vico zufolge sei die historische Welt „ganz gewiß von den Menschen gemacht worden“, ihre und die Erkenntnis der kulturellen Gegenstände bedeute letztlich Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes:27 Menschen erkennen nicht nur, was sie gemacht, hergestellt und angerichtet haben, sie erkennen darin zumal sich selbst. Mit dem Vico-Prinzip war mithin der anthropozentrische Gestus geprägt, alle kulturellen Tatsachen und Dinge auf die angeblich ihnen zugrundeliegende oder ihnen vorausgehende Figur des Menschen zurückzuführen. Schon die frühe Kritische Theorie – samt Umkreis – bezweifelt dieses Axiom. Und zwar, indem sie sich auffällig häufig den Dingen widmet. In Ernst Blochs Spuren, zwei Jahre vor Adornos Vortrag erschienen, findet sich im letzten, „Dinge“ überschriebenem Abschnitt eine poetisch-philosophische Meditation mit dem Titel Der Rücken der Dinge. Sie liest sich in toto als Anfechtung des Vico-Prinzips. Ihr zufolge sind Menschen mit der geschaffenen Welt der Kultur viel weniger vertraut als mit der gewachsenen der Natur: „Obst, Rosen, Wälder gehören auch ihrem Material und Lebenslauf nach zu den Menschen, aber die Kerze aus Stearin, selbst aus Wachs, der schöne Schrank aus Holz, gar aus Eisen, das steinerne Haus, die Glut im Ofen, gar in der elektrischen Birne gehören einer anderen –––––––— 24 25 26 27

Adorno (wie Anm. 11), S. 360. Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur, in: Gesammelte Schriften 11, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1989, S. 47. Adorno (wie Anm. 10), S. 347. Vico, Giambattista: Neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker 1. Tlbd. Hamburg 1990, S. 18; vgl. Böhme, Hartmut u. a. (Hgg.): Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek b. Hamburg 2000, S. 67.

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Welt, einer in die menschliche nur eingesprengten.“28 Nicht dass die sogenannten natürlichen Dinge menschenförmig sein. Sie „gehören“ aber, so Blochs Formulierung, „dem Menschen zu.“ Und zwar ihrer Stofflichkeit nach, und in ihrer Zeitlichkeit, ihrem „Lebenslauf“. Zwischen Obst, Rosen, Wäldern und Menschen gibt es sozusagen eine konsubstantielle und konviviale Assoziation. Hingegen scheinen gerade die Artefakte einer fremden, einer „queren Welt an(zu)gehören:“29 Dinge, die durch Arbeit verwandelte Stofflichkeit und die in menschliche Zwecke gezwungenen Energien, allen voran der noch nicht lange in Netzsystemen verbreitete Strom.30 Die Utensilien sind wie Wesen aus einer anderen Welt. Bloch illustriert das mit jenem Märchen, dem Der Rücken der Dinge seinen Titel verdankt: Sindbad erleidet Schiffbruch und rettet sich auf eine kleine idyllische Insel. Die aber entpuppt sich, man hatte ein Feuer entfacht, als bloßes Sediment auf dem Rücken eines riesigen Kraken. Der hatte Jahrhunderte über dem Meeresspiegel geruht und gibt nun, vom Feuer gepeinigt untertauchend, die Schiffer dem Ertrinken preis. Kultur, so Bloch, sei nichts anderes als die prekäre Einrichtung auf dem Rücken der Dinge. Der Dinge, deren Unterseite wir ebensowenig sehen wie das Medium, „worin das Ganze schwimmt. Man kennt nur die Vorderseite oder Oberseite ihrer technischen Dienstwilligkeit, freundlichen Eingemeindung; niemand weiß auch, ob ihre (oft erhaltene) Idylle, Lockung, Naturschönheit das ist, was sie verspricht oder zu halten vorgibt.“31 Blochs Meditation erhebt versonnenen Einspruch gegen den Glauben, die menschengemachte sei eine vom Menschen verstandene, beherrschte, ihm angemessene Welt. Er bestreitet nicht nur, dass das Verhältnis zum Ding bloß instrumentell verstanden werden könne. Er begreift zudem die Dinge als Mitsubjekte. Immer wieder beschwören die Spuren das faktisch gestörte Zusammenleben menschlicher und gegenständlicher Akteure, und darum auch die Utopie einer friedlichen Assoziation, so z. B. das „gestillte Leben zwischen Mensch und Dingen“, oder gar die „Kameradschaft mit den Dingen.“32 Auch das rückt ihn in die Nähe zu Walter Benjamin. Benjamin hat nicht nur eine Methode begründet, Artefakte naturgeschichtlich lesbar zu machen. Sondern in den geschichtlichen Dingen das Agieren transhumaner, eben nicht anthropomorpher, nicht semantisch oder kommunikationsförmig konfigurierter Kräfte wahrgenommen. Konvivialität und Konsubstantialität mit der Dingwelt sind, seiner Diagnose zufolge, längst aufgekündigt: „Die Gegenstände des täglichen Gebrauchs“, befindet die Einbahnstraße, „stoßen den Menschen sacht aber beharrlich von sich ab. In summa hat er tagtäglich mit der Überwindung der –––––––— 28 29 30 31

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Bloch, Ernst: Spuren, in: Gesamtausgabe 1. Frankfurt a. M. 1969, S. 174. Bloch (wie Anm. 28), S. 173. Vgl. Hughes, Thomas P.: Networks of Power. Electrification in Western Society. 1880– 1930. Baltimore u. London 1983. Bloch (wie Anm. 28), S. 175. In bezug auf solche Artefakte, die wir für gewöhnlich Medien nennen, spricht Boris Groys vom „submedialen Raum“. Vgl. Groys, Boris: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien. München u. Wien 2000, S. 19, 21, 27ff. Bloch (wie Anm. 28), S. 160, 163.

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geheimen Widerstände [...], die sie ihm entgegensetzen, eine ungeheure Arbeit zu leisten.“ Nicht allein um den Aufstand zivilisatorisch geformter Materie handelt es hier. Vielmehr nimmt das Verhalten der Menschen selbst dingförmig tückische Züge an. Der „Entartung der Dinge“, ihrer Kälte, geht die Verhärtung der Menschen einher, die sich als Funktionäre und „Vertreter einer aufsässigen Materie“ gerieren.33 Die Dinge agieren, indem sie Gesellschaften und Mentalitäten formieren. „Die Konstruktion des Lebens liegt im Augenblick weit mehr in der Gewalt von Fakten als von Überzeugungen.“34 So fulminant hatte gleich der erste Satz der Einbahnstraße Benjamins materialistische Wende eingeläutet. „Fakten“, das sind Tatbestände und –zusammenhänge, in denen Wünsche, ideelle Projekte und Projektionen von Subjekten auf den Widerstand objektiver Instanzen stoßen. Fakten konfrontieren mit der Akteursqualität von Dingen. Dieses erste Denkbild, mit Bedacht Tankstelle überschrieben, stellt nun einen dinglichen Zusammenhang aus, um ihn nachgerade allegorisch, emblematisch zu deuten. An der Tankstelle könne der auf gesellschaftliche Wirksamkeit bedachte kritische Schriftsteller lernen, dass er, anstatt die „universale Geste“ auszustellen, besser wohlabgemessene Dosen von Meinung in den „Riesenapparat des gesellschaftlichen Lebens“ injiziert. So wie der Mechaniker Öl in die nur ihm geläufigen „verborgene(n) Nieten und Fugen“ einer Maschine spritzt.35 Die Tankstelle und die ihr assoziierten Gegenstände, Motor, Maschine und Treibstoff – sie nehmen die zahllosen Dinge in und auf der Einbahnstraße vorweg, die einem kaum verhohlenen Ziel zustreben. Landstraßen, Architektur, Interieurs, Möbel – z. B. das Sofa, auf dem die Tante nur ermordet werden kann – , Kinderspielzeug, Antiquitäten, Galanterie- und Kurzwaren, Bürobedarf, und immer wieder das Geld: die Einbahnstraße handelt von Dingen, von Fakten und Artefakten, die nicht einfach nur zeichenhaft auf Sachverhalte außerhalb ihrer verweisen. Angefangen von den alltäglichen Gegenständen, über die Waren, bis hin zu den hochgerüsteten Produktiv- und Destruktivkräften in Industrie- und Kriegstechnologie sind die Dinge als Akteure an der „Konstruktion des Lebens“ beteiligt. Laut Benjamin schaffen Artefakte Fakten, an die keiner ihrer Produzenten je gedacht hätte. Dinge agieren jenseits konstituierender Bewusstseine oder handelnder Menschen.

–––––––— 33

34 35

Benjamin, Walter: Einbahnstraße, in: Gesammelte Schriften 4/1, hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt a. M. 1972, S. 99. Benjamin bedient hier einen Topos der Kultur- und Zivilisationskritik, der sich vom bürgerlichen Lager bis weit heraus auf die linke und rechte Extreme gleichermaßen verteilt und der etwa bei Simmel, Jünger, Freyer, Bonhoeffer u. a. begegnet. Benjamin (wie Anm. 33), S. 85. Benjamin (wie Anm. 33), S. 85.

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IV. Weil Dinge agieren, und weil Dinge Gedächtnischarakter besitzen, lassen sie sich als Übersetzungsmedien zwischen kulturellen Mustern und Menschen begreifen. Sie speichern Gefühle, Mentales, Mentalitäten, Symbolisches. Und sie übertragen es und prägen Verhalten: „Die Dinge sind Geigenleiber, / von murrendem Dunkel voll; / drin träumt das Weinen der Weiber, / drin rührt sich im Schlafe der Groll / ganzer Geschlechter [....].“36 Auch und gerade Rilkes Lyrik antizipiert das gegenwärtig starke Interesse der Sozial- und Kulturwissenschaften, mensch-dingliche Assoziationen zu denken. Die „Durchmischungen technischer, ästhetischer und sozialer Normen“ zu beschreiben, „die gerade heute für die technisierte und ästhetisierte Lebenswelt charakteristisch sind.“37 Dass auch kleine Dinge, gleichsam die materiellen Minima, immer schon Moralia sind, davon besaß bereits die Kritische Theorie ein deutliches Bewusstsein. Inwiefern, lässt sich am Phänomen der Geste erhellen. Ein repräsentativer Aphorismus, der §19 der Minima Moralia, reflektiert am Beispiel der Ersetzung von Türklinken durch drehbare Knöpfe die Vermischung von sittlichen und materiellen Vollzügen: Die Technisierung macht einstweilen die Gesten präzis und roh und damit die Menschen. Sie treibt aus den Gebärden alles Zögern aus, allen Bedacht, alle Gesittung. Sie unterstellt sie den unversöhnlichen, gleichsam geschichtslosen Anforderungen der Dinge. So wird etwa verlernt, leise, behutsam und doch fest eine Tür zu schließen. Die von Autos und Frigidaires muß man zuwerfen, andere haben die Tendenz, von selber einzuschnappen und so die Eintretenden zu der Unmanier anzuhalten, nicht hinter sich zu blicken, nicht das Hausinnere zu wahren, das sie aufnimmt. Man wird dem neuen Menschentypus nicht gerecht ohne das Bewußtsein davon, was ihm unablässig, bis in die geheimsten Innervationen hinein, von den Dingen der Umwelt widerfährt.38

Ein Türöffner zählt nicht eben zur avancierten Hochtechnologie. Und doch programmiert die vergleichsweise unaufwendige Apparatur nicht nur das ihm gewidmete pragmatische Verhalten. Eine unscheinbare und zugleich allgegenwärtige Mechanik formt vermittels der Geste einen Kollektivcharakter. Sie wirkt hinein in die Sittenwelt. Schließlich schillert die „Tendenz“ mancher quasi autonom agierenden Tür, „von selber einzuschnappen“, charakteristisch zwischen der wörtlichen Bedeutung des mechanischen Vorgangs und der metaphorischen, die eine psychosoziale Reaktion beschreibt. Der Leistung der Metapher in der semantischen Wirklichkeit vergleichbar, agiert die Geste in der physischen Realität: sie übersetzt das Gedächtnis der Dinge in Verhalten. Der Begriff der Geste ermöglicht es denn auch, den nicht –––––––— 36 37

38

Rilke, Rainer Maria: Das Buch der Bilder. Sämtliche Werke 1, hg. v. E. Zinn. Frankfurt a. M. 1986, S. 401. Eßbach, Wolfgang: Antitechnische und antiästhetische Haltungen in der soziologischen Theorie, in: Technologien als Diskurse. Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern, hg. v. Andreas Lösch u. a. Heidelberg 2001, S. 123–136, S. 126. Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: Gesammelte Schriften 4, hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1980, S. 43f.

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zumutungsfreien Gedanken einer Agency der Dinge präziser zu fassen. Und zwar, indem man sich auf den Zusammenhang von Werkzeug und Geste besinnt, wie ihn André Leroi-Gourhan beschrieben hat. Ihm zufolge unterscheidet nicht schon das Benutzen von Werkzeugen den Menschen vom Tier. Vielmehr die im Ding, im Artefakt vollzogene Trennung von Werkzeug und Geste. Diese Trennung macht den womöglich entscheidenden Schritt zur Hominisation, ja, die Möglichkeitsbedingung von Kultur aus. Beim Tier, so der französische Paläontologe, sind „Werkzeug und Geste in ein und demselben Organ vereinigt, so dass zwischen dem motorischen und dem Handlungsanteil eine vollkommene Kontinuität besteht.“39 So sind die Scheren der Krabbe an deren Kiefer vermöge eines Verhaltensprogramms operativ gekoppelt. Die Ablösung der Werkzeuge vom Körper erlaubt nun nicht nur die von Gehlen so benannten Techniken der Organverstärkung, des Organersatzes und der Entlastung.40 Sie separiert vielmehr die technische von der organischen Evolution und ermöglicht den Abhub der ersten.41 Von nun an ermöglichen, speichern und übertragen Artefakte kulturelle Programme, die Sozietäten formen und Mentalitäten prägen. Die Sozialund Mentalstruktur von Agrarkulturen resultiert aus der Assoziation von Acker, Geräten, dem dinglich und symbolisch gespeicherten Wissen (etwa vom Wetter, von den Pflanzen, von den Zyklen der Aussaat und Ernte usw.) und den in ihnen codierten Praktiken. Technische Systeme42 integrieren immer schon Gesellschaften und formen mensch-dingliche Assoziationen und Milieus: den Bergbau mit seiner prägnanten Montankultur,43 die Fabrik, das jungdynamische Start-UpUnternehmen. Warenverkehr hat immer auch Kulturtransfer bedeutet. Dass der Mensch die Dinge mache, dieser geläufige Satz erscheint aus dieser Perspektive nicht einmal mehr als Trivialität. Viel eher gilt der – in dieser unilinearen Zuspitzung wiederum zu simple – Satz, dass Dinge Menschen machen. Schon für Durkheim, darauf macht Bernward Joerges aufmerksam, galt als ausgemacht, dass „materielle Artefakte [...] Sachtechnik wie Häuser oder Verkehrsanlagen [...] als institutionelle Gebilde begriffen (werden müssen), die den subjektiven Handlungsorientierungen Einzelner vorgeordnet sind und deren Wirkungsweise –––––––— 39 40 41

42

43

Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Übers. v. Michael Bischoff. Frankfurt a. M. 21984, S. 296. Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Reinbek 1957, S. 8. „Die ganze menschliche Evolution läuft darauf hinaus, all jenes, was in der übrigen Tierwelt der Anpassung der Arten unterliegt, außerhalb des Menschen zu stellen. Die eindrucksvollste Tatsache im materiellen Bereich ist gewiß die ‚Befreiung‘ des Werkzeugs, aber die fundamentale Tatsache ist in Wirklichkeit die Befreiung des Wortes und jene einzigartige Fähigkeit des Menschen, sein Gedächtnis aus sich heraus in den sozialen Organismus zu verlegen“ (Leroi-Gourhan [wie Anm. 39], S. 295). Vgl. Hughes (wie Anm. 30), ferner Joerges, Bernward u. Ingo Braun: Große technische Systeme: erzählt, gedeutet, modelliert. Berlin 1993; Joerges, Bernward: Technik. Körper der Gesellschaft. Arbeiten zur Techniksoziologie, Frankfurt a. M. 1996. Vgl. Böhme u. a. (wie Anm. 27), S. 166; Böhme, Hartmut: Geheime Macht im Schoß der Erde. Das Symbolfeld des Bergbaus zwischen Sozialgeschichte und Psychohistorie, in: Natur und Subjekt, Frankfurt a. M. 1988, S. 67–144.

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sich nicht nur aus einer Analyse der Gedanken erschließen läßt, die sich einzelne Nutzer von ihnen machen.“44 So bezeugt sich denn auch in der Geste, dass „nicht wir [...] das Werkzeug (führen), das Werkzeug führt uns.“45 Die Geste übersetzt die in den Dingen gespeicherte individuelle und kollektive Erfahrung in aktuelle Performanz und bindet dieselbe an die „Geschichte des Brauchens, Hantierens und Deutens“46 zurück. „Wie manchen Dingen Gesten, und damit Weisen des Verhaltens einbeschrieben sind“, sinniert denn auch Adorno einmal mehr in den Minima Moralia, und führt ein possierliches Beispiel für einen dinglich sich manifestierenden Groll ganzer Geschlechter an: „Pantoffel – ‚Schlappen‘, slippers – sind darauf berechnet, daß man ohne Hilfe der Hand mit den Füßen hineinschlüpft. Sie sind Denkmale des Hasses gegen das sich Bücken.“47 Ein Verständnis des Gedächtnisses der Dinge, eine Theorie, die kulturelle Artefakte naturgeschichtlich zu beschreiben weiß, ermöglicht einen innovativen Blick auf die literarische Perspektivierung von Dinglichkeit. Sie erlaubt z. B. wahrzunehmen, dass der Liegestuhl in Thomas Manns Zauberberg die dekadente Leisure-Mentalität der Sanatoriumsgäste und Patienten nicht einfach nur symbolisch bzw. metonymisch repräsentiert. Das Kurmöbel überträgt vielmehr faktisch diese Kultur quasi in einer operativen Synergie von Werkzeug, Geste48, physischer und mentaler Haltung auf den Protagonisten Hans Castorp. Das Ding ist konstitutives Medium und Message zugleich, Akteur in einer medialen Übersetzung vom Materiellen über das Mentale zum Symbolischen. Es lehrt ihn gleichsam die Performanz des laissez-faire. Das Liegen wird ihm schließlich „zur einzig denkbar gewordenen Lebenshaltung.“49 Die „Codierungsmacht“ technischer Gegenstände lässt sich zumal „im privaten Leben“50 mannigfach daran ablesen, dass Gesten zu Allegorien avancieren. Wer mobiltelephonierend den öffentlichen Raum durchmisst, stellt ja signifikant den Ellenbogen in einer sozialphysiognomisch lesbaren Weise aus. Die Geste, anders gesagt, lässt sich entziffern, weil sie Naturgeschichte zu erkennen gibt. Wie Dinge kulturelle Muster in Mentalität und menschliche Handlung übersetzen, lässt sich, ein weiteres Beispiel, in Peter Handkes Wunschloses Unglück studieren. Die als solche ausgeflaggte Erzählung situiert ihr Sujet, Leben und Sterben der Mutter des Autors, im Übergang von einer dörflichen Mängelwirtschaft, in der noch das neunzehnte Jahrhundert bis weit ins zwanzigste hineinreicht, in einen bescheidenen Wohlstand, wie er sich z. B. in ersten Haushaltsmaschinen manifestiert. Handke beschreibt, wie Leben und Identität der –––––––— 44 45 46 47 48 49 50

Joerges (wie Anm. 42), S. 61. Selle, Gert: Siebensachen. Ein Buch über die Dinge. Frankfurt a. M. u. New York 1997, S. 73. Selle (wie Anm. 45), S. 72. Adorno (wie Anm. 38), S. 124. Vgl. Leroi-Gourhan (wie Anm. 39), S. 296. Mann, Thomas: Der Zauberberg. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe 5.1, hg. v. Michael Neumann. Frankfurt a. M. 2002, S. 633. Böhme u. a. (wie Anm. 27), S. 179.

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Mutter gleichsam zerfallen. Dem Prozess realer Dissoziation entspricht poetologisch eine zunehmende Fragmentierung des Textes: Je weiter er voranschreitet, je disparater nimmt er sich aus. Er zerfällt in kürzere, auch typographisch abgesetzte Episoden und Fragmente. Am Ende liest man schließlich nur noch isolierte, für sich stehende Sätze. Wenn dort ein Satz auf einschlägige Art und Weise ein Ding in seiner Umgebung, in seinem Bewandtnisganzheit fokussiert, übernimmt dieser Gegenstand, um mit Genazino zu sprechen,51 nicht nur die Darstellung der Situation. Er erhellt zugleich die Spannung zwischen existenzieller Tiefendimension und der flachen Prosa des Alltags: „Die Eierlikörflasche in der Kredenz!“ (WU 102).52 Man stelle sich, nebenbei bemerkt, diesen Satz in einem pop- oder populärliterarischen Text der jüngeren Gegenwart vor! Dort hätte die Eierlikörflasche einen gänzlich anderen semantischen Hof um sich versammelt. Und das nicht etwa, weil menschliche Praxis oder Bedeutungszuweisung der dinglichen Agency kategorial vorgeordnet wäre! Wunschloses Unglück führt nicht nur die Codierungsmacht von Dingen einschlägig vor: Der Text erzählt mehr noch von einer fatal identitätsbildenden bzw. –zerstörenden Macht alltäglicher Dinge. So insbesondere in Gestalt der Hantierungen und Gesten, die in ihnen gleichsam gespeichert sind: „Sie wurde ein neutrales Wesen“, heißt es einmal, „veräußerte sich in den täglichen Kram“ (WU 38). Subjekte werden im Innersten von der Äußerlichkeit der Objekte geformt, mit denen sie pragmatische und konviviale Assoziationen immer schon eingegangen sind: „Durch den täglich gleichförmigen Umgang mit immer denselben Sachen“ (WU 53) gerät die einst lebensbejahende Frau auf die abschüssige Bahn einer, wie es ein Psychologe, aber nicht Handkes Text nennen würde, sich somatisch manifestierenden klinischen Depression. Gemütszustände, subjektive Befindlichkeiten einerseits und Dinge, materielle Konfigurationen andererseits sind nicht nur auf der Ebene literarischer Symbolisierung einander substituierbar, sondern auch in der empirischen Realität. Handke beschreibt einmal die „Umgebung eines Gegenstands [...], der einem ganz besonders die überstandene Verzweiflung bezeichnete: eine Waschschüssel mit abgesprungenen Email, eines winzigen Elektrokochers, schwarz von der immer wieder übergegangenen Milch“ (WU 69). Dinge, das weiß nicht nur Handkes Lyrik, das weiß auch seine Prosa, bilden gleichsam die Außenwelt der Innenwelt. Und die Innenwelt dieser Außenwelt, die Innenwelt der Dinge, zu erhellen, hat sich Literatur seit je zur Aufgabe gemacht.53 Nur wer den geläufigen Klischees der Rezeption nachhängt, dürfte überrascht sein, dass sich eine Linie ziehen lässt von der ‚Kritischen Theorie‘ über Handke bis hin zur Popliteratur im weitesten Sinne. Eine Prosa wie diejenige Max Goldts, die sich „die Welt individueller Aufmerk- und Empfindsamkeit“ –––––––— 51 52 53

Vgl. Genazino, Wilhelm: Die Kassiererinnen. Reinbek 1998, S. 88. Zitate aus Handke, Peter: Wunschloses Unglück. Frankfurt a. M. 161987 werden im Folgenden unter der Sigel WU, gefolgt von der Seitenzahl, direkt im Text belegt. Vgl. den 1969 erschienenen Gedichtband Handke, Peter: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Frankfurt a. M. 141997; insbes. das titelgebende Gedicht S. 127ff.

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vornimmt, steht durchaus in der Tradition der Minima Moralia.54 Und so trifft Goldts Prosa mit verlässlicher Regelmäßigkeit auf die Präsenz der Dinge. Ein Titel, der eine „Mademoiselle 25 Watt und das Verschwinden des Befeuchtens der Finger vorm Umblättern“ nebeneinanderstellt,55 übersetzt exemplarisch materielle Konfigurationen in Moralia und Humaniora, in Sitten und Gebräuche, in eine signifikante Geste. Heutige mittelalte Erwachsene sind im Zeichen des Überflusses und des Überflüssigen sozialisiert worden. Sofern sie über einen Horizont gemeinsamer Erfahrung verfügen, wird dieser kaum von epochalen historischen Ereignissen gebildet, sondern gleichsam von den materiellen Prägungen der, wie es bei Nicholson Baker einmal heißt, gefühlten Peripherie des Lebens: In Gestalt von Gebrauchs- und Genussgegenständen, Trivia, medialen Erinnerungen, durch „Süßigkeiten, Popsongs, Fernsehserien und Modeartikel.“56 Folglich vergewissert man sich in der von Goldt so benannten Praktik des „Erinnerungssports“ seiner individuellen oder seiner Generationenidentität, indem man der leiblich und mental gespeicherten Präsenz verschwundener Dinge eingedenkt. Goldts Dingprosa formuliert die Moralistik eines Zeitalters, das in den Dingen nicht nur das real existierende Gedächtnis einer Kultur er-, sondern Dinge zugleich als Mitsubjekte oder Sozialpartner anerkennt. Zeitgleich beschreibt denn auch die Soziologie der Artefakte, wie Objekte „zunehmend Menschen als Beziehungspartner und Einbettungsumwelten deplazieren.“57

V. Der gegenwärtige Trend zum Naturalismus deutet womöglich einen Paradigmenwechsel in den Kulturwissenschaften an. Nämlich die Relativierung des Vico-Prinzips (und damit auch der hegelianischen Geistdialektik) und des ihm inhärenten Anthropozentrismus, der sich zumal in der deutschen Theorielandschaft über einen vornehmlich symbolisch definierten Kulturbegriff fortgeschrieben hat. Freilich neigt man dazu, Naturalisierung am untauglichen Objekt zu betreiben: Neurophysiologie und Evolutionstheorie. Worauf es ankäme: im Inneren der Kulturwissenschaften selbst Natur zu finden. Der Kulturalismus erfährt seine Grenzen an der Tatsache, dass Kultur zweite Natur ist. Der Naturalismus komplementär aber daran, dass die zweite Natur historisch, und, dialektisch gesehen, eigentlich die erste ist. (Wir sind determiniert, aber historisch.) Ist es nicht seltsam, dass Debatten zwischen Neurowis–––––––— 54 55 56 57

Goldt, Max: ‚Mind-boggling‘. Evening Post. Zürich 1998, S. 150. Goldt (wie Anm. 54), S. 7ff. Goldt, Max: Ä. Zürich 1997, S. 171. Knorr-Cetina, Karin: Sozialität mit Objekten. Soziale Beziehungen in post-traditionalen Wissensgesellschaften, in: Technik und Sozialtheorie, hg. v. Werner Rammert. Frankfurt a. M. 1998, S. 93f.

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senschaftlern, die die Determination durch das Gehirn vor jedem bewussten Willen, und Philosophen, die den freien Willen lehren, solche Aufmerksamkeit in der interessierten Öffentlichkeit finden? Bemerkenswert an diesem Streit ist vielleicht nicht einmal so sehr, dass er das seit den Materialismus- und Reduktionismus-Debatten des 19. Jahrhunderts eingespielte Schema bedient. Signifikant ist vielmehr folgendes: So sehr sich die konträren Positionen zu widersprechen scheinen, in Wahrheit stimmen sie frappierenderweise in einer für beide Positionen undurchsichtigen Voraussetzung überein: Sowohl der NeuroNaturalismus hier, als auch die Philosophie des Subjekts in der Nachfolge des Idealismus dort glauben, dass über Determination oder Freiheit im Inneren entschieden werde: Im Gehirn oder aber im Geist. Beide Positionen dürfen anthropozentrisch genannt werden. Sie veranschlagen keinen objektiven Geist, keine Kultur, kein Soziales, keine Medien, und erst recht keine menschdinglichen Assoziationen, kein Gedächtnis der Dinge. Warum, so könnte man durchaus in der Tradition der ‚Kritischen Theorie‘ fragen, diskutiert man so eifrig, ob mein Gehirn mich determiniere oder ein autonomer Wille mir Freiheit ermögliche? Und warum nicht über die realen, alltäglich erfahrbaren Determinationen etwa durch ökonomische Verhältnisse, durch Bürokratien, Bologna und dergleichen? Könnte der Begriff der zweiten Natur die Kulturwissenschaften veranlassen, zentrale ihrer Gegenstände, Konzepte und Verfahren zu naturalisieren? Vielleicht. Er nötigt freilich zugleich zu einem Verständnis von Naturalisierung, das sich vom geläufigen signifikant abhebt. Naturalisierung bezeichnet hier nicht die Reduktion mentaler, sozialer oder kultureller Tatsachen auf determinierende Elementarvorgänge, die naturwissenschaftlich, z. B. physikalisch oder evolutionstheoretisch beschreibbar sein müssen. „Naturalisieren“ heißt ja ursprünglich soviel wie „in den einheimischen staatsverband aufnehmen“, „mit dem recht oder den freiheiten seiner nation begaben“58. In Gestalt der Dinge, ihres Agierens und ihres Gedächtnisses begegnet man einer Determination, die zugleich kulturell und natürlich erfolgt. Die ebenso materiell ist wie historisch, autochthon und konstituiert, so gegenständlich wie performativ. Die kulturellen Dinge zu naturalisieren, hieße, sie einzubürgern. Sie, wie Latour wohl sagen würde, aufzunehmen in die Verfassung all dessen, was Kulturwissenschaften bislang allzu symbol- und anthropozentriert beschrieben haben.

–––––––— 58

Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch 7, bearb. v. Matthias von Lexer Leipzig 1889, Sp. 441, s. v. „naturalisieren“.

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Das Gedächtnis der Emotionen Alexander Kluges Chronik der Gefühle als verborgene Erinnerungstheorie

Jeder Mensch besitzt Erinnerung und stammt aus einer Vergangenheit; ohne Horizonte, d. h. Zukunft, wäre er nicht lebendig. Seine Phantasie, die kein Befehl anzuhalten vermag, verbindet ihn mit dem Konjunktiv und dem Optativ, also mit der Möglichkeitsform und der Wunschform.1 Alexander Kluge

Für Eva Im Abschnitt über „Selbstregulierung“ ihres Gemeinschaftswerkes Geschichte und Eigensinn unternehmen Oskar Negt und Alexander Kluge den Versuch, menschliches Erinnern und Vergessen als eine spezifische Art der Selbstregulation zu formulieren. Regulierung wird hierbei als eine tätige „Auseinandersetzung der lebendigen Arbeit mit sich selbst“2 verstanden, als eine letztlich unbewusste Ordnung, die sich in ein subjektives, autonomes System eingenistet habe. „Nicht der bewusste Wille entscheidet über Vergessen und Erinnern, sondern diese menschlichen Vermögen regulieren sich nach eigenen Gesetzen.“3 Entscheidend dürfte hierbei die Annahme der Autoren sein, die als unbewusste Ordnung gedachte Erinnerungs-Vergessens-Praxis folge weder natürlichen, bewussten noch unbewussten Kräften, sondern kooperativen Absichten: „Es geht um eine unbewusste Ordnung, weil sie kooperativ ist.“4 Gerade weil die geschichtlichen Gründe dieser Vorgänge aber, sowohl hinsichtlich des kollektiven wie, unter ganz anderen Bedingungen, des individuellen Erinnerns ins „Unbewusste abgezogen wurden“5, stellt sich hieran anschließend die Frage, wie die dialektische Konstellation von Geschichte und Emotionen im Modus des Erinnerns überhaupt beschrieben oder vorgestellt werden könne. –––––––— 1 2 3 4 5

Kluge, Alexander: Büchner-Preis-Rede. www.deutscheakademie.de/druckversionen/ buechner_2003.html (22.6.2007). Negt, Oskar u. Alexander Kluge: Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden. Bd. II. Geschichte und Eigensinn. Frankfurt a. M. 2001, S. 60. Negt u. Kluge (wie Anm. 2), S. 60. Negt u. Kluge (wie Anm. 2), S. 60. Negt u. Kluge (wie Anm. 2), S. 60.

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Da aber Wahrnehmungen von Wirklichkeit ebenso wie die Erinnerungen unmittelbar immer auch an die subjektiven Wünsche der Menschen gekoppelt sind, lässt sich die subjektive Phantasietätigkeit der Individuen stets auch als Reflex gegen die jeweils herrschende Wirklichkeit verstehen. Für Alexander Kluge ist dieser Fluss als ein unkontrollierbarer Bewusstseinsstrom vorzustellen, dessen inhärentes Montageprinzip keinen bewussten Entscheidungen unterliegt, sondern einen komprimierten, historisch langwährenden Prozess repräsentiert: „seit einigen zehntausend Jahren gibt es Film in den menschlichen Köpfen – Assoziationsstrom, Tagtraum, Erfahrung, Sinnlichkeit, Bewußtsein.“6 Aus diesen Abläufen innerer wie äußerer Natur ergeben sich nun emotionale Situationen, die in historischen Kontexten beheimatet sind, ohne mit ihnen jedoch auf einer faktischen Ebene identisch zu sein. Hiervon handeln die Geschichten aus Kluges Erzählband Chronik der Gefühle, deren zahlreiche Prosastücke komprimiert die Erfahrungsmasse des 20. Jahrhunderts enthalten.

Emotionen und Vergangenheit In einer solchen historisch perspektivierten Gefühlsbilanz werden punktuelle Erzählgeschehnisse in das komplexe historische Koordinatensystem eingetragen und Verbindungen des Subtilen mit den langen historischen Linien der unsichtbaren Vorgeschichte hergestellt. Die Geschichten sind insofern um historische Motive herum gruppiert, die nicht Geschichte illustrieren sollen, sondern mögliche Reaktionsmuster in Extremsituationen zueinander in Beziehung setzen, etwa im Abschnitt „Lebensgrundsätze am Schwarzen Freitag“, der von Verhaltensmotiven in Bankrottsituationen handelt.7 Es sind gerade auch „die Träume, Wünsche, Mythen und Märchen, die hier im Rahmen der Aufdeckung einer zweiten, inneren Geschichte“8 verhandelt werden. Kluge betreibt Gefühlsstudien im Sinne einer Fahndung nach den subjektiven Seiten der sog. wirklichen Ereignisse: Mich interessiert an den Gefühlen, was ist davon völlig gleichbleibend, stur, unbeeinflussbar, was ist da konstant und was ist metamorphosefähig, flexibel. Beide Arten des Gefühls gibt es. Und was ist davon unentdeckt? Mich interessieren sehr die Gefühle, die man nicht sofort als Gefühle erkennt, die also eingebaut sind in den Institutionen, die überhaupt erst in Erscheinung treten im Ernstfall durch Selbstvergessenheit, also im Einsatz, wie man so sagt.9

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Kluge, Alexander: Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode. Frankfurt a. M. 2002, S. 208. Kluge, Alexander: Chronik der Gefühle. Bd. I. Basisgeschichten. Frankfurt a. M. 2000, S. 127–142. Steinacker, Thomas von: Literarische Foto-Texte. Bielefeld 2007, S. 178. Kluge, Alexander: Verdeckte Ermittlung. Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann. Berlin 2001, S. 43.

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In diesem Erzählprojekt geht es um „Konstellationen, um Zusammenhänge zwischen den subjektiven Gefühlslandschaften, die als individuelle Glückssuche in jedem Lebenslauf eine andere Gestalt annehmen, und der harten geschichtlichen Faktizität, an der sich die menschlichen Motive abarbeiten müssen, wenn sie nicht vor ihr kapitulieren wollen.“10 Gefühle (Wünsche, Sehnsüchte, Affekte, Eigensinn, Urvertrauen, Selbstbehauptung usw.) sind zwar in individuellen Biographien beheimatet und trivialerweise auch an diese gebunden, doch verfügen sie zugleich über eine ungewusste historische Genese, an der Kluge in besonderem Maße interessiert ist. Entscheidend ist hierbei, dass Gefühle ihrerseits auch Ausdruck und Ort der Berührungspunkte von Vergangenem, Vergangenheit und gegenwärtigem Erleben repräsentieren. Gefühle sind gewissermaßen Erinnerungen an jenen Umstand, dass diese Gefühle nicht in den historischen Konstellationen, ihren Vergegenständlichungen und Institutionen aufgehen. Wenn Erinnerungen nun als historisch aufgestaute Räume beschädigter und zugerichteter, doch niemals unabgegoltener und vollständig domestizierbarer Gefühle der Menschen gedacht werden, dann lassen sich die Geschichten der Chronik der Gefühle als ihr Narrativ lesen und deuten. Kluge verortet diese Ambivalenzen im Spannungsfeld des bürgerlichen Zivilisationsprozesses und seiner ihm eigenen Dialektik, deren Dynamik dafür sorgt, dass die historisch aufgeladenen Lebensläufe der Individuen und Kollektive beschädigt und zerrissen verlaufen und sich weitgehend zwischen den Polen Nähe und Ferne, Rationalität und Sinnlichkeit, System und Lebenswelt, Universalität und Heimat, Abstraktion und Konkretheit, Entfremdung und Aneignung abspielen.11 Anzuführen wäre hier etwa die kollektive Niederlage der Wehrmacht vor Stalingrad, die ja unter anderem auch deshalb so hartnäckig als politischer Zusammenbruch betrachtet wurde, weil der faktische millionenfache individuelle Zusammenbruch der Kriegsteilnehmer nicht als subjektive kollektive Befreiung empfunden wurde, d. h. die kollektive Katastrophe wurde privatisiert, traumatisiert, enthistorisiert und damit letztlich auch mythisiert, nicht aber gesellschaftlich-kollektiv bearbeitet. Diesem Umstand der privatisierten Kollektivkatastrophe wird beispielsweise narrativ Rechnung getragen, indem die zwar objektive, jedoch nicht wahrzunehmende Totalität des historisch Geschehenen nicht mehr aus der individuellen Perspektive eines vereinzelten point of view punktuell erzählt wird.12 Stattdessen soll eine kritische Erinnerungsar–––––––— 10 11

12

Schulte, Christian: Die Lust aufs Unwahrscheinliche. Alexander Kluges „Chronik der Gefühle“, Merkur 55 (2001), S. 344–350; hier: S. 345. Vgl. hierzu Großklaus, Götz: Katastrophe und Fortschritt. Alexander Kluge: Suche nach dem verlorenen Zusammenhang deutscher Geschichte, in: Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, hg. v. Christian Schulte. Osnabrück 2000, S. 175-202. Kluge, Alexander: Die fünf Sinne – Sinnlichkeit des Zusammenhangs (1975), in: Alexander Kluge. In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, hg. v. Christian Schulte. Berlin 1999, S. 123–126. Hierzu heisst es in Negt, Oskar u. Alexander Kluge: Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen. Frankfurt a. M. 1992, S. 332: „Nur gesellschaftlich bewußte, kollektive Arbeit vermag das Gespensterdasein des Vergangenen, das die gegenwärtigen Zukunftsplanungen durchkreuzt, aufzuheben und den tödlichen Wieder-

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beit in Geschichten durch die Matrix der Vervielfachung aus Montagen, Simulationen und Perspektivwechsel den mikrologischen Gefühlsraum mit dem Makrokosmos der Geschichte konfrontieren und zugleich zusammenführen. Hier ließen sich Adornos Gedanken einer besonderen Teilhabe (Methexis) der Kunst am Finsteren heranziehen, um Kluges narratives Erinnerungskonzept näher zu beschreiben: Worauf die Sehnsucht an den Kunstwerken geht – die Wirklichkeit dessen, was nicht ist –, das verwandelt sich ihr in Erinnerung. In ihr vermählt sich was ist, als Gewesenes, dem Nichtseienden, weil das Gewesene nicht mehr ist. Seit der Platonischen Anamnesis ist vom noch nicht Seienden im Eingedenken geträumt worden, das allein Utopie konkretisiert, ohne sie an Dasein zu verraten.13

Kluges Anamnesis zielt auf jenen Augenblick des Erlebens, in dem die Konstellation beteiligter Gefühle eine Art Verdichtung derart darstellen, dass sie sowohl lesbare Signaturen der Geschichtsverläufe enthalten als auch die kollektiven Zusammenhänge bergen, die am isolierten Einzelnen gar nicht zu registrieren sind. Authentizität ist in dieser Sichtweise nicht länger der hybride Standpunkt des um Ausdruck ringenden Subjekts, sondern das synthetische Geflecht disparater und multipler Sichtweisen, gewissermaßen die vielen Augen in einem einzigen Augenblick und „darin die Bündelung literarischer und außerliterarischer Verweisungsmöglichkeiten (aber nicht -notwendigkeiten).“14 Diese Komprimierung ist die Substanz eines Erinnerungsgeschehens, das nicht mehr an das einzelne Subjekt als allein erinnerndes gebunden ist, sondern an dem Erinnerung als synergetischer Effekt sicht- und ablesbar wird, genauer gesagt, in dessen Gefühlsökonomie die Grammatik der Zeitverläufe eingebettet ist.15 Dieses Erinnerungsmodell steht nicht zufällig in der Nähe von Walter Benjamins im Kern topographischem16 und temporärem Verständnis des sowohl –––––––—

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holungszwang zu brechen, der Wiederkehr des Verdrängten Einhalten zu gebieten. Transformation der kulturellen Erbschaft in gegenwärtige, gesellschaftliche Gestaltungen ist jedoch an den öffentlichen Umgang mit der Geschichte gebunden, der nur unter bestimmten Bedingungen Lernimpulse entfaltet.“ Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, hg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1973, S. 200. Reemtsma, Jan Philipp: Unvertrautheit und Urvertrauen – Die „Gattung Kluge“. Laudatio auf Alexander Kluge, in: Jahrbuch 2003, hg. v. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Göttingen 2003, S. 169–176; hier: S. 173. Alexander Kluge kommentiert in einem Interview sein Erzählverfahren in diesem Zusammenhang folgendermaßen: „Meine Realitätskontrolle lautet so: Ist das, wenn ich es erfinde, noch im Bereich der Toleranz? Der Anschein der Montage entsteht oft durch Auslassung. Deswegen ist es ein Fehler, wenn man nur Material häuft: Grundsätzlich braucht man eine Gegenbewegung, eine Verdichtung.“ Zit. nach Hage, Volker: Zeugen der Zerstörung. Die Literatur und der Luftkrieg. Essays und Gespräche. Frankfurt a. M. 2003, S. 207. Vgl. hierzu bes. Kluge, Alexander: Die schärfste Ideologie: dass die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft (1975), in: ders.: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, hg. v. Christian Schulte. Berlin 1999, S. 127–134. Bezogen auf Benjamins Berliner Kindheit um 1900 bemerkt Heinz Brüggemann: „Literarisch besteht das Verfahren in der metonymischen Verschiebung der Erkundung eines residualen Raums individuellen Erinnerns, zumeist der Kindheit, zur synkretistischen Raum-

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individuell-biographischen als auch kulturell-historischen Gedächtnisses.17 Das theoretische Bemühen um den spekulativen, messianisch-theologischen Topos eines kairologischen Eingedenkens im stillgestellten dialektischen Bild blieb allerdings unabgeschlossen. Benjamins Bemühen, den Schlüsselbegriff „Jetztzeit“ (z. B. Thesen über den Begriff der Geschichte, Passagenwerk) in ein anwendbares Analysekonzept einzubinden, das nicht die Vergangenheit erhellen oder der Einsicht zuführen soll, sondern im Medium des Denkbildes den unmittelbaren und zeitenthobenen Kurzschluss zwischen Gegenwart und Vergangenem denken sollte, blieb aus. Die Chronik der Gefühle lässt sich diesbezüglich als ein fulminantes Projekt lesen, Benjamins Ansatz narrativ fortzuführen, indem diese Geschichten jenen Moment darlegen, in dem die erzählten Geschehnisse sich mit Vergangenem und den weiterführenden optativen Möglichkeiten überkreuzen. Es soll hier gezeigt werden, wie der Gedanke des καιρός (Kairos), im Anschluss an Benjamins philosophische Epistemologie, bei Kluge als Gedächtnis der Gefühle von der spekulativen auf die narrative Ebene verlagert wird. Für Benjamin meint Kairos vor allem jenen unerwarteten Augenblick, in dem die Ansprüche der Vergangenheit im Präsentischen zur Geltung gelangen und auf ein Gegenwärtiges treffen, das sich seinerseits im Horizont des Vergangenen als Gemeintes erkennt. Die kairologische Zeitstruktur zielt ab auf die „geräuschlose Detonation jenes Zeitpunkts, in dem die Gegenwart sich in der Vergangenheit als gemeint erkennt“ und zwar im Sinne der Ankunft „eines alles entscheidenden Moments.“18 Kluges Prosaminiaturen sondieren unter dem Aspekt anthropologischer Konstellationen hierbei ein kulturelles Feld, das sich als Beitrag zu einer zeitgemäßen und weiterführenden Erinnerungstheorie nach Benjamin beschreiben lässt. Es wird ein Material an der Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion ausgebreitet, das sich strukturell und diskursiv als kulturanthropologisch inspirierte Gedächtnistheorie mit einem kairologischen Zeitkern kennzeichnen lässt. Entscheidend für Kluges Gedächtnisnarrative ist indes, dass nicht über oder von Erinnerungen erzählt wird, sondern die Aggregatzustände der Gefühle, als „die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe“ (Kluge), diese Erinnerungen selbst konstituieren. Es geht vor allem darum zu aufzuzeigen, wie Gefühle in –––––––—

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konstruktion und -phantasie aus geschichtlichen Hohlformen, abgelebten kulturellen Symbolen und Diskursgestalten.“ Brüggemann, Heinz: Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie. Würzburg 2007, S. 303. Vgl. Birkmeyer, Jens: Rettendes Erinnern. Die Ordnungen des Gedächtnisses im Werk Walter Benjamins, in: Erinnerungsarbeit in Schule und Gesellschaft. Ein interdisziplinäres Projekt von Lehrenden und Studierenden der Universität in Zusammenarbeit mit dem Geschichtsort Villa ten Hompel, hg. v. Jens Birkmeyer, Thomas Kleinknecht u. Ursula Reitemeyer. Münster 2007, S. 35–55. Konersmann, Ralf: Walter Benjamins philosophische Kairologie, in: Walter Benjamin. Kairos. Schriften zur Philosophie. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Ralf Konersmann. Frankfurt a. M. 2007, S. 327–348; hier: S. 348. Siehe auch Birkmeyer, Jens: Die Aura der Kinderliteratur. Walter Benjamins vergessene Mahnung, Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 1 (2008), S. 28–39.

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verschiedenen Kontexten unterscheidbare Aggregatzuständen annehmen und sich heterogen auswirken. Die organisatorische Anordnung der Texte, darauf hat Kluge immer wieder hingewiesen, entspreche sogar selbst dem Strukturprinzip der Erinnerung, denn der erste Band enthält die neuen, der zweite hingegen die älteren Geschichten. Was als Gegenprinzip zum Ablaufschema einer historischen Chronik, die naturgemäß mit den älteren Beständen beginnt, angelegt ist, meint indes mehr als nur eine metaphorische Analogie zum autobiographischen Gedächtnis. Die umgekehrte Chronologie verweist vielmehr auf das kritische Formbewusstsein selbst, das den Zusammenhang von Vergangenheit und historisch aufgeladener Gegenwart gerade nicht zeitchronologisch, sondern verdeckt montiert und unbewusst sprunghaft versteht. Wenn es also so etwas wie eine Gefühlgeschichte gibt, dann lässt sie sich auch als eine narrative Praxis dechiffrieren, die ihrerseits eine Version des Erinnerns repräsentiert. Kluge fahndet insofern in und mit seinen Texten auch nach den inneren Zusammenhängen zwischen dem menschlichen Erinnerungsvermögen und den emotionalen Grundorientierungen und Energiequellen menschlichen Lebens. „Emotionen sind an sich keine Handlungen, wohl aber die innere Energie, die uns zum Handeln antreibt“19, ließe sich mit Eva Illouz umschreiben, dass es sich bei Emotionen um die energetische Dimension des Handelns handelt. Für Kluge ist die Annahme von Bedeutung, bei dem „natürlichen Aggregatzustand der Gefühle“20, dem eine anarchisch strukturierte Libido zugrunde liegt, handele es sich um einen disparaten und heterogenen Mischzustand aus Libido, Bedeutung und Teilsprache. Weil Kluge Gefühlen einen eminent hohen anthropologischen Status zubilligt, werden sie selbst zu einer Kategorie literarischer Erinnerung. In einem Interview wird hierzu ausgeführt: Man sagt ja die Kelten sind überall, man sieht sie bloß nicht. Das war ein Ausspruch der Römer. So ist es auch mit den Gefühlen. Sie sind überall und an unvermuteten Stellen. Sie leben etwa in den Institutionen, die fest und dauerhaft werden, solange sie von Gefühl erfüllt sind. Das gilt genauso für die Buddenbrooks wie für eine Versicherungsgesellschaft oder das deutsche Reich. Gleichzeitig sind die Gefühle auch in Form von Irrtümern, Fehlleistungen und von Schweigen gegenwärtig. Es ist gar nicht so einfach, ein Gefühl zu entdecken und zu beschreiben, wie es sich verhält. Gefühle sind vielfältiger, reichhaltiger als der Verstand sie verstehen kann. Das Herz hat einen Verstand, das der Verstand selbst nicht versteht, sagt Pascal. So könnte das Motto über der ‚Chronik‛ lauten. Das ist nicht eine Parteinahme für oder gegen Gefühle, aber eine Aufmerksamkeitsrichtung. Was sich in den Menschen bewegt, ist tatsächlich stärker und kraftvoller als alles, was äußerlich geschieht.21

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Illouz, Eva: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2004. Aus dem Englischen von Martin Hartmann. Frankfurt a. M. 2007, S. 9f. Stollmann, Rainer: Die Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis. Gespräche über Geschichten mit Alexander Kluge. Berlin 2005, S. 65. Kluge, Alexander: Erzählen ist die Darstellung von Differenzen. Alexander Kluge im Gespräch mit Jochen Rack, Neue Rundschau 1 (2001), S. 73–91; hier: S. 73.

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Kluges Geschichten sondieren die Produktionsweisen von Gefühlen, weil sie als autonome, weitgehend unbeherrschbare Speichermedien und Gedächtniskonstellationen aufgefasst werden. Gefühle werden zum einen als menschliches Eigentum verstanden, das – in einer sozialen Dimension – auf die Brauchbarkeit für das Gemeinwesen und die Autonomie zu überprüfen ist. „Was drängt in diesem Gefühl zum Gemeinwesen? Was führt freiwillige Taten an? Was befähigt dazu? Was macht Vertrauensverhältnisse?“22 Hierzu gehört auch, die Trennungsprozesse zu untersuchen, die in modernen Gesellschaften die Beziehungen der Individuen zueinander regulieren und in der Form sozialer Funktionen und Rollen erscheinen, womit die Gesellschaft sich als Kältesphäre und „Ordnungsgefüge abstrakter Funktionen“23 darstellt. Die Geschichten sind als Ermittlung, Untersuchung und als Bilanz angelegt, um zu eruieren, welche Gefühle als Eigentum des Menschen überhaupt vorliegen und am Projekt der Emanzipation, am Widerstand gegen das Erkaltete, Fremdbestimmte, Verdinglichte und Lebensfeindliche mitwirken können. Das Eigentum an Gefühlen, die immer ungleichzeitig sind, stellt in dieser Denkfigur einen Eigensinn dar, den es literarisch zu verfolgen und zu beschreiben gilt.24 Dieser Eigensinn, darauf hat Winfried Menninghaus zu Recht hingewiesen, ist jedoch nur eine notwendige, nicht jedoch hinreichende Bedingung für Emanzipation, weil von einer Theorie des Eigensinns als einer politischen Ökonomie der Arbeitskraft, die auf gattungsgeschichtlichen Prämissen beruht, noch keine Antwort auf die Frage gegeben wird, wie dieser menschliche Eigensinn überhaupt mit den unverstandenen Zusammenhängen der Historie umgeht, in Verbindung tritt und kommuniziert.25

Emotionen und Eigensinn Negt und Kluge charakterisieren diesen Eigensinn in Abgrenzung von einem Naturtrieb und einem voluntaristischen Postulat als eine „natürliche Gegenwehr“ gegen Zwangsverhältnisse im Sinne einer „Umproduktion von nichtidentischen Verhältnissen in identische, vermöge der Selbstregulation von Erfahrung.“26 Eigensinn wird hier als ein Protestgefühl gefasst, das auf dem nicht vorhandenen identischen „Zusammenhang der Grundbedürfnisse des Men–––––––— 22 23 24

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Alles Kanon oder was? Chronik der Gefühle. Ein Gespräch mit Alexander Kluge, Der Literaturbote 18 (2003), S. 35-50; hier: S. 36. Voss, Dieter: Dialektik der Grenze. Würzburg 2001, S. 176. Zum Theoriekontext dieses Erzähluniversums zur Kritischen Theorie siehe bes.: Scherpe, Klaus R.: Die Entdramatisierung der Kritischen Theorie in der Literatur: Hans Magnus Enzensberger und Alexander Kluge, in: La Scuola die Francoforte, hg. v. Giovanni Scimonello. Rom 2001, S 141–160. Menninghausen, Winfried: Geschichte und Eigensinn. Zu Hermeneutik-Kritik und Poetik Alexander Kluges, in: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit, hg. v. Hartmut Eggert u. a. Stuttgart 1990, S. 258–272. Negt u. Kluge (wie Anm. 2), S. 510.

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schen“27 beruht. Damit wäre Eigensinn auch keine politische Kategorie, weil erst Widerstand (Entziehen, Entgegensetzen usw.), im Gegensatz zum Eigensinn, den herzustellenden Gemeinsinn anstrebt, der ja gerade davon lebt, die natürliche Form des Eigensinns zurückzunehmen. Eigensinn wird unmittelbar gekoppelt mit dem Begriff der Selbstregulation, als verdichtete, komprimierte Selbstregulation, die als Naturprinzip auf Menschen übertragen wird. Damit wird Eigensinn schließlich als Synthese antirealistischer und antihistorischer Motive der Selbstregulation verstanden. In Geschichte und Eigensinn wird mit einer luziden Deutung des Grimmschen Märchens Das eigensinnige Kind die Schlüsselkategorie Eigensinn zu einem anthropologisch getönten Analysebegriff ausgedehnt und in den Diskurs kritischer Theoriebildung überführt.28 Im Kapitel „Deutschland als Produktionsöffentlichkeit“ gehen Negt und Kluge auf Mythen und Märchen ein, die als verdichtete und verarbeitete historische Erfahrung gewertet werden, aber gerade nicht als dargestellte oder symbolisierte, sondern als „Frage nach dem Wie der Wünsche“29. Es geht ihnen darum nachzuvollziehen, „wie ein Märchen reale Erfahrungen umkehrt“ und dies unter der Prämisse, es gäbe eine „Plausibilität von Entsprechungen zwischen Geschichtsverlauf und Märchenantwort“ und damit auch eine „spezifische Ökonomie der Phantasietätigkeit“30. Um anzudeuten, welche Frageperspektiven sich für die Autoren hieraus ergeben können, sei das kürzeste Märchen der Brüder Grimm an dieser Stelle vollständig zitiert: Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.31

Für Negt und Kluge ist die Eigensinnigkeit des Kindes eine ins Individuum und Subjekt zurückgenommene kollektive Erfahrung, eine Erfahrung vieler, über lange Zeiten hinweg, und der Schrecken, die Gewalt, der Terror ist die Bestrafung für etwas, was viele begangen haben, „vielleicht eine Revolution, Hungerrevolten, Verweigerung von Folgebereitschaft, und was ihnen, als es scheiterte, namenloses Leid eingetragen hat.“32 In der hartnäckigen Gegenwehr des Kindes liege der Eigensinn historisch erfahrener, gelebter und erlittener Rebellion ver–––––––— 27 28

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Negt u. Kluge (wie Anm. 2), S. 510. Diesen Aspekt habe ich bereits an anderer Stelle ausführlicher behandelt: Birkmeyer, Jens: Eigensinn und Anerkennung. Anthropologische Phantasie bei Peter Weiss und Alexander Kluge, in: Diese bebende kühne, zähe Hoffnung. 25 Jahre Peter Weiss Die Ästhetik des Widerstands, hg. v. Arnd Beise u. a. St. Ingbert 2008, S. 115–142. Negt u. Kluge (wie Anm. 2), S. 754. Negt u. Kluge (wie Anm. 2), S. 757. Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Marburg 1991, S. 272. Negt u. Kluge (wie Anm. 2), S. 765.

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puppt. So betrachtet repräsentiert das tapfer hochgestreckte Ärmchen aber weder Ereignisgeschichte noch symbolisiert es ein reales Geschehen. Erst eine assoziierende Lektüre, die zwischen Textsegmenten und profundem Geschichtswissen mäandert, vermag das Märchen als Kokon eines erschütternden Bildes zu lesen, in dem die anonyme Leidensgeschichte einer Epoche festgefroren ist und im Märchen als individuelle Tragödie aus der Namenlosigkeit der Volksgeschichte auftaucht. Mit der anthropologischen Perspektive ist an dieser Stelle der Grenzbereich zwischen Gefühlen und Instinkten gemeint. Der hier angesprochene intuitive und an den menschlichen Körper gebundene Eigensinn repräsentiert jene verlässliche „Sehnsucht der Zellen“33, die ein unerschöpfliches Wunschpotential darstellt, das sich gegen die Zumutungen des entmündigenden Geschichtsprozesses und seiner unterdrückenden Wirklichkeit zur Wehr setzt.34 Geschichte und Eigensinn handelt vom ungeheuren Laboratorium der menschlichen Eigenschaften, die sich in den Kriegen (Vernichtung), in den Beziehungen (Liebe, Wissen) und in der Industrie (Arbeit, Ausbeutung) ausdrücken. Menschliche Eigenschaften dieser Art – so die Grundthese der Autoren – entstehen grundsätzlich aus Trennungsprozessen in der Geschichte, deren Phantasma gerade darin besteht, darauf zu beharren, nur das dinglich Produzierte sei tatsächlich real, nicht jedoch das historisch nicht Hervorgebrachte: Die Vorstellung, dass nur das, was Realität geworden ist, das Produzierte sei, abstrahiert nämlich von dem, was in den einzelnen mannigfaltigen Produktionsprozessen der Geschichte nicht Realität wurde, was in seinem Realwerden umgedreht und gegen sich gerichtet wird, und abstrahiert schließlich auf das Ergebnis und gegen den Prozeß. Ein solcher Verwertungsmechanismus ist eine kollektiv produzierte Art und Weise der Verarbeitung der Wahrnehmung.35

Menschen sind jedoch mit Eigensinn ausgestattet und neigen dazu, sich gegen diese Trennungen zu wehren. Von dieser Annahme ausgehend, wird die geschichtliche Organisation menschlichen Arbeitsvermögens dargelegt. Eigensinn meint hier „Eigen-Sinn, eigener Sinn, Eigentum an den fünf Sinnen“36, aber auch die Fähigkeit, Umwelt genau zu beobachten. Die grausame Strafe, die das renitente Kind von der ungewöhnlich und doch auch erstaunlich grausamen Mutter bis unter die Grabdecke erfährt, wird als moralische Antwort auf eine –––––––— 33 34

35 36

Alexander Kluge: Die Kunst, Unterschiede zu machen. Frankfurt a. M. 2003, S. 9. In der Dialektik der Aufklärung heißt es bereits eindringlich: „Unter der bekannten Geschichte Europas läuft eine unterirdische. Sie besteht im Schicksal der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften. Von der faschistischen Gegenwart aus, in der das Verborgene ans Licht tritt, erscheint auch die manifeste Geschichte in ihrem Zusammenhang mit jener Nachtseite, die in der offiziellen Legende der Nationalstaaten und nicht weniger in ihrer progressiven Kritik übergangen wird. Von der Verstümmelung betroffen ist vor allem das Verhältnis zum Körper.“ Horkheimer, Max u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Adorno GS 3. Frankfurt a. M. 1981, S. 265. Negt u. Kluge (wie Anm. 2), S. 505. Negt u. Kluge (wie Anm. 2), S. 766.

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„vorausgegangene kollektive Enteignung der Sinne“37 gedeutet, die jedoch nicht abschließend gelungen ist. Denn wäre diese Enteignung der Sinne des Volkes je vollständig geglückt, dann wäre auch eine solche penetrante und grausame Verfolgung erst gar nicht nötig gewesen, lautet das Argument dieser soziologischen Phantasie. Wenn der Eigensinn aus Not selbst bereits als Ausdruck und Resultat eines weit fortgeschrittenen Autonomieverhaltens gelten darf, dann belegt jenes Märchen in diesem Denkzusammenhang, dass es einen urwüchsigen Protest gegen den langen Prozess der Enteignung der eigenen Sinne, die zur Außenwelt führen, in den Erzählungen aufzuspüren gilt. So betrachtet legen Märchen auch Zeugnis darüber ab, dass nur diejenigen, denen selber Gewalt angetan worden ist, auch über die Sinnlichkeit der Leidenserfahrung verfügen. „Wenn Eigensinn in den enteigneten Sinnen begründet ist, dann lebt er auch unter der Erde fort, als kollektive Erinnerung, die nur durch ein gesondertes Ritual der Versöhnung zu brechen ist, nicht durch den einfachen Tod.“38 Negt und Kluge sehen den Weg aus der Selbstentfremdung als ein Bedürfnis und als eine Notwendigkeit an. Der Mensch habe kaum noch Räume, in denen er Orte, Zeiten und Gegenstände zur Verfügung habe. Aus diesem Wirklichkeitsverlust entsteht jene Notwendigkeit des Widerstands, und so nimmt Gegenproduktion im eigensinnigen Subjekt ihren Anfang.39 Von hier aus entfaltet sich Kluges Erzähluniversum in zwei Richtungen: die objektive Seite tendiert zur Beschreibung der Verdinglichungsprozesse, die negativ im Phänomen des Krieges kulminieren; auf der subjektiven Seite hingegen werden die Spektren der Gefühle freigelegt, die ein Irritations- und Störpotential gegen die verkrusteten Ordnungen und hegemonialen Diskurse von Macht, Herrschaft und Willkür darstellen, zugleich aber immer auch für das Subjekt Hilfestellungen, Orientierung und Lösungswege in ausweglosen Lagen anbieten.40 Anders als bei Hegel, der im Eigensinn nur eine begrenzte und partikulare Form der „Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehen bleibt“41, ausmacht, bedeutet Eigensinn bei Kluge die unhintergehbare Renitenz gegen Fremdbestimmung selbst und damit eine anthropologisch gestiftete Opposition gerade gegen jedwede Unterdrückungsformen, die darauf beruht, dass die produzierte und für real gehaltene geschichtliche Realität immer auch das enthält und mittransportiert, „was in den einzelnen mannigfaltigen Produktionsprozessen der Geschichte nicht Realität wurde“42, z. B. Gefühle und Eigensinn. Damit wird der Begriff für die kritische Theorie rehabilitiert, indem er nicht als Reak–––––––— 37 38 39

40 41 42

Negt u. Kluge (wie Anm. 2), S. 766. Negt u. Kluge (wie Anm. 2), S. 767. Vgl. zum Kontext von Gegenproduktion und Märchenstoff Birkmeyer, Jens: Kritische Märchentheorie im 20. Jahrhundert. Rekonstruktion eines vergessenen Diskurses, in: Von der Wirklichkeit der Volksmärchen, hg. v. Jürgen Janning. Hohengehren 2005, S. 89–105. Vgl. Wolf, Burkhardt: Sichtverhältnisse im Krieg. Zur historischen Dokumentation und Spurensicherung bei Alexander Kluge, Weimarer Beiträge 1 (2002), S. 5–23. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M. 1983, S. 155. Negt u. Kluge (wie Anm. 2), S. 505.

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tionsweise der Bornierten, als starrköpfige Willensbehauptung gefasst wird, in der die selbstbezüglichen Prozesse extrem übergeneralisiert werden, ohne dass die eigenen Handlungsmöglichkeiten differenziert abgewogen wären oder hinsichtlich angemessener Situationen plausibel gemacht worden wären. Eigensinn steht nicht ausschließlich für skurrile Egomanie, sondern eher für unbezwingbare Persistenz. Eigensinn wird als kontinuierlich emanzipative Arbeitskraft gegen eine unzulänglich eingerichtete Welt verstanden, nicht jedoch als ideologisch instrumentelle Anthropologisierung oder naives humanistisches Pathos. Bei Alexander Kluge wird der Mensch dezidiert als ein notorisch glücksuchendes Wesen verstanden, das unablässig von Zeugnissen toter Arbeit umgeben ist (Machtkomplexe, bürokratische Apparate, kulturelle Traditionen etc.). Der Eigensinn ist zugleich Ausgangspunkt aller kollektiven und subjektiven Prozesse und Ort unerfüllter Wünsche, die sich im Laufe der Zeit ansammeln. Dieses Unabgegoltene macht sich stets bemerkbar, kehrt als Motiv zurück, lässt sich nicht gänzlich still stellen. Die aufgestauten Wünsche und unerfüllten Sehnsüchte sind gleichermaßen Ausgangspunkt für politisch-kulturelle Projekte wie für eigensinniges, eigenwilliges und selbstbestimmtes Leben, das auf dem Eigentum an den fünf Sinnen und der damit ermöglichten Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber der Umwelt beruht. Wird Eigensinn nicht mehr negativ moralisch konnotiert und als Starrsinnigkeit diskriminiert, sondern positiv-essentialistisch als hartnäckige und eigenständige unhintergehbare Subjektivität verstanden, in der die eigene Sinnentätigkeit ebenso aufgehoben ist wie die Logik eigenständigen, letztlich nicht steuerbaren Selbstbewusstseins, dann markiert Eigensinn auch den Ort individuell unhintergehbarer Authentizität (nicht Identität) als Ensemble der Effekte von Bedürfnissen, Wünschen, Handlungsweisen und Erfahrungen der Menschen, die sich an diesen Eigensinnigkeiten immer wieder abarbeiten und orientieren müssen. Der im 20. Jahrhundert durch die cultural studies wieder entdeckte Eigensinn umfasst hier die Trias: Eigensinn – über die eigenen Sinne – zum eigenen Sinn und meint damit in einer freiheitserschließenden und emanzipativen Dimension mehr als Subjektivität oder Individualität: eigensinnige Wahrnehmung, eigensinnige Kulturaneignung, eigensinnige Gegenproduktion und Kritik der Macht.

Emotionen und Erinnerung In einer temporären Dimension erscheinen die Gefühle gleichfalls als hartnäckige Invariablen, die historischen Ereignissen und Entwicklungen zugrunde liegen. In dieser Dimension der Emotionen, nämlich Fundament, Quelle und Kreuzungspunkt historischer Abläufe gleichzeitig zu sein, liegt ihre Qualität als überindividuelles Gedächtnis, das gegenüber seiner üblichen rationalistischen Verachtung rehabilitiert werden soll. In der Dialektik der Aufklärung, die Kluge

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immer wieder als sein Grundbuch bezeichnet, weisen etwa Adorno und Horkheimer im Exkurs über „Juliette oder Aufklärung und Moral“ darauf hin, dass das „Verdikt über die Gefühle [...] in der Formalisierung der Vernunft schon eingeschlossen“43 ist. Gegen diesen falschen Aufklärungsbegriff zieht die Chronik der Gefühle ebenfalls zu Felde. Das epistemologisch weitgehend unerforschte Verhältnis von Gefühlen und Historie, von Emotionen und Vergangenheit wird zum aufmerksamen Terrain der Beobachtungen, die, als Narrative Erinnerungen und Gedächtnis repräsentierend, über die komplizierte Frage räsonieren, woran es denn liege, dass Menschen so schwer über starke Gefühle kommunizieren und diese miteinander organisieren können: „Je weiter ich von etwas Distanz habe, desto leichter kann ich mich mit anderen darüber einigen. Administration ist offenkundig einfach zu organisieren. Gefühle nicht.“44 Die Selbstregulation der Gefühle und des Erinnerungsvermögens ist kein Garant für deren Kommunizierbarkeit. Gefühle existieren nur in Form ihrer Ungleichzeitigkeit und verfügen über einen Wirklichkeitskern, der als Gedächtnis in der erzählten Geschichte fungiert. Zu diesem aberwitzigen Projekt einer Enzyklopädie emotionaler Grundmuster des Menschen gehört ein nicht leicht zu fassender konzeptioneller Verständigungsrahmen darüber, was nun genau unter Gefühlen zu verstehen sei. Da das Innere des Menschen hochgradig vergesellschaftet ist, entfaltet sich neben dem Gedächtnis der Emotionen auch eine Konstellation des Vergessens, die nicht psychologischer Natur ist, vielmehr eine Abwehrmaßnahme, deren Grammatik unsichtbar ist. Als Reservoir von erzählter Erfahrung repräsentieren die Texte mithin Gedächtnisse der Emotionen. Mit dem Gedächtnis der Emotionen ist hier keine inhaltliche Bestimmung auf der Ebene der narrativen histoire gemeint, sondern vielmehr eine verdichtete Aufmerksamkeit und komponierte Wahrnehmung jener Gefühle, die als spezifischer Eigensinn in Erscheinung treten und mehr bedeuten, als bloße psychophysische Reaktionen auf Umweltreize, wie es traditionell die naturwissenschaftliche Forschung nahe legt. Im einleitenden Abschnitt der „Eigentümer und seine Zeit“ des ersten Bandes wird etwa die Anekdote des Mario G. aus dem Süden Portugals erzählt, der in der Frankfurter Protestbewegung der Studenten 1967 „26 Genossinnen geschwängert“ hat. In H. D. Müllers Notizen, auf die Kluges Text zurückgeht, wird der Protagonist als „Gefühls-Bolschewist“ und „Leninist des Gefühls“ bezeichnet. Damit ist gemeint, dass sich Mario G. auf die „Theorie der subjektiven Zuspitzung“ beziehe, die darin bestehe, dass der portugiesische Genosse in die Reserven des aufgestauten subjektiven Vermögens eingedrungen sei, die es im Selbstverständnis der revolutionären Kämpfer in dieser Phase der politischen Auseinandersetzungen gar nicht geben dürfte. „Alle sagen: In den nächsten fünf Jahren gilt nur der Kampf. Wir haben keine –––––––— 43 44

Horkheimer u. Adorno (wie Anm. 34), S. 111. Kluge, Alexander: Der Mensch ist das Medium. Alexander Kluge über die Ursprünge des Kinos, über Erfahrung und Öffentlichkeit und Nahtstellen, an denen Chaos und Glück entstehen, Freitag (2.3.2007) http://www.freitag.de/2007/09/07091601.php (1.6.07).

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Zeit für Liebe, Kinder oder Privatheit. Keine Zeit für Karrieren oder Studium. Die nächste Generation soll dann leben. IN DER SUBJEKTIVEN REVOLUTION folgen die Generationen einander nicht im Rhythmus von dreißig Jahren, sondern von drei oder fünf. Und in die Lücke, die diese Raschheit öffnet, stößt der junge portugiesische Adlige.“45 Erinnert wird hier an eine skurrile emotionale Konstellation, die quer verläuft zu den offiziellen Verabredungen und Ideologien dieser Milieus und einen Gedächtnisblitz auslöst, der sich weder vom ideologischen oder politischen Impuls speist noch einen historiographischen Zugriff auf die Genese der Studentenbewegung illustrieren soll. Im Gegenteil: Der junge portugiesische Adlige „hatte in gefährlichen Zeiten, im Sinne einer evolutionär günstigen Ausbreitung seiner Gene, sein Leben inflationiert, 26 persönliche Parallel-Universen erzeugt, von denen das eine offenbar nichts vom anderen wusste.“46 Eine Konstellation entgegengesetzter Art findet sich etwa in der Geschichte „Das Gefühl besteht aus Unverbrauchtem“, weil hier die beteiligten Frauen in ihrem Zusammentreffen am Strand „ein solches Zwischenstadium zwischen Klärung und Nichtklärung [als] ein Gefühl [erleben], das eine Balance hält.“47 Weil sie ein gemeinsames Erlebnis, das auf einem Missverständnis beruht, teilen, sind gewisse „Erinnerungsumrückungen“ möglich, die es erlauben, dass „blitzartig ganze Jahrzehnte des Sparens hineinschießen.“ Gemeint ist hier ein Umstand, in dem sich in einem balancierten Gefühlszustand eine verdichtete Zeitwahrnehmung ergibt und zugleich den Moment des Erinnerns durchdringt. Wenn Erinnerung sich nicht direkt auf die Bestände jener historischen Umstände und Materialien bezieht, die nur geschehen sind und historisch vorliegen, sondern hätten geschehen können bzw. geschehen sollen, dann meint Erinnerung in diesem Zusammenhang gleichermaßen einen Modus des Optativs, der die unerfüllten und aufgeschobenen Wünsche, die in der Geschichte generiert und angehäuft, aber nicht erfüllt wurden, in den Blick nimmt. Erinnerung als ethischer Optativ bezieht sich auf die Wirkungsweise uneingelöster Wünsche und Hoffnungen, gewissermaßen auf Versprechungen, die nicht Wirklichkeit wurden, jedoch gerade hierdurch ruhende und in gewisser Weise auch wartende Wirklichkeit sind. Dieser materialen Seite der Erinnerung stehen immer die persönliche, subjektiv-private Erinnerung einerseits und die objektiv-öffentliche andererseits gegenüber, so dass Erinnerung, wie sie hier verstanden werden soll, jenen Dialog bezeichnen mag, der zwischen dem Erfahrungsmodus und der Materialerschließung (Zitate, Texte, Kunst, Erzählungen, Kulturüberlieferung, Wissensdomänen etc.) in Gang kommt und so etwas wie eine antizipierende Phantasie freisetzt, die den Zusammenschluss aus Vergangenem und zu Denkendem zu reflektieren und zu artikulieren vermag. Die Bewegungsform dieses Dialoges als Erinnerung zu theoretisieren bedeutet im Zeitkontinuum, Zukünftiges sei nur –––––––— 45 46 47

Kluge (wie Anm. 7), S. 48f. Kluge (wie Anm. 7), S. 47. Kluge (wie Anm. 7), S. 34.

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dann zu denken, wenn ein Dialog mit dem Unabgegoltenen des Vergangenen in Form eines systematischen Unterscheidungsvermögens gelinge. Gerade die freizulegenden Phantasieareale sind es, die Erinnerung qualifizieren und ausmachen, denn als poetische Qualität ist der Phantasierohstoff in den menschlichen Köpfen selbst vororganisiert (Assoziationsvermögen, Strukturierungsqualität, Vernetzungsintelligenz, Bildkontextualisierung, Zitatverwertung etc.) und strebt nach Produktion von nötigem Zusammenhang. Die Nähe zu Benjamins Denken bestünde bereits hier in dem Umstand, dass Innehalten und Innewerden dessen, womit wir es in der unabgeschlossenen Vergangenheit zu tun haben (auch in den Formen der Kunst), Zukunft aufsprengen kann. Als gesellschaftliche Praxis zielt Erinnerung immer auch auf die Produktion und Herstellung von Öffentlichkeit gegenüber einer stets übermächtigen Realität, die ohne Distanz des Erinnerns gar nicht angemessen wahrzunehmen und zu denken ist. Hierin ihren Gebrauchswert auszumachen, bedeutet, ihren Nutzen darin anzuerkennen, dass Erinnerung als reflexives Unterscheidungsvermögen Öffentlichkeiten in Form von Erinnerungsgemeinschaften und letztlich Gemeinsinn hervorbringen will, um Brennpunkte der Beobachtung und Fokusse der Aufmerksamkeit zu produzieren. Die Narrative des Erinnerns sind dann ihrerseits wieder theoretischen Abstraktionen zugängig, die Vereinfachungen generieren, Kommunikation und generationelle Verständigung ermöglichen.48 So entstehen unablässig Gegentexte gegen die Übermacht der Wirklichkeit: ein Erinnerungsarchiv der Gegengeschichten. Ein radikaler Effekt der übermächtigen Wirklichkeit für die Erinnerung wird im Erzählstück „Die fünfte Art des Vergessens“ behandelt. Hier wird im Schlussabschnitt „Der lange Marsch des Urvertrauens“ des 2. Bandes dem Patienten psychoanalytisch ein Vergessen diagnostiziert, das weder organische Ursachen hat noch auf Verdrängungsleistungen zurückzuführen ist. Unter der fünften Art des Vergessens werden Überlagerungen im Erinnerungsvermögen verstanden, so dass die Geistesgegenwart Vergangenheiten löscht. So wie die Macht des Faktischen das subjektive Vorstellungsvermögen attackiert, so gilt für das Präsentische: „Gegenwart frißt Gegenwart“.49 Kluge weist mit dieser Geschichte auf das häufig unbedachte Phänomen hin, dass Erinnern und Vergessen einen wechselseitigen begrifflichen Zusammenhang darstellen, in dem Erinnern immer an Vergessen, Vergessen immer an Erinnern geknüpft ist. Erinnert werden kann doch nur, was zuvor vergessen wurde. Jedes Erinnerte ist zudem noch ein Privilegiertes im unendlichen Fluss des Vergessenen, und es verdeckt sogar noch das, was gerade durch diese Erinnerung nicht erinnert wird. Erinnerung soll Konsistenz garantieren und Kontingenz reduzieren. Weil das Gedächtnis laufend Vergessen ermöglicht, kann es nur erinnern: –––––––— 48

49

Vgl. Birkmeyer, Jens u. Cornelia Blasberg (Hgg.): Erinnern des Holocaust? Eine neue Generation sucht Antworten. Münstersche Arbeiten zur Internationalen Literatur Bd. 2. Bielefeld 2006. Kluge, Alexander: Chronik der Gefühle. Bd. II. Lebensläufe. Frankfurt a. M. 2000, S. 987.

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Sie müssen das so sehen, dass viele Ihrer Erinnerungen unter einem Haufen von Schrott liegen. Unter Trümmern vergraben. Und das ist nicht krankhaft? Es ist nicht irreversibel? Es beruht auf Überlagerung. Sie können solche INTERFERENZ auch bei elektrischem Strom erzeugen. Es beunruhigt mich, weil es meinen Handlungsspielraum eingrenzt. Plötzlich, am Telefon, weiß ich nicht, was ich sagen wollte. Es ist die fünfte Art des Vergessens. Die Informationen werden einander zu ähnlich. Sie bilden Haufen? Nicht einmal das. Sie bilden ein weißes Rauschen. Fühle ich mich deshalb im Moment wohl? Ja, und es entsteht daraus eine Vergangenheit. Dann muss ich mich doch an ein Früheres, etwas Unverwechselbares besonders stark erinnern? Nein. Das Rauschen des FÜNFTEN VERGESSENS ist sehr substantiell. Ich glaube, daß Erlebnisse, die sich in der Erinnerung nicht voneinander unterschieden und die im Moment, in dem Sie sie erlebten, für Sie etwas Wichtiges waren, jetzt einen Block bilden. Sie lösen körperliche Reaktionen aus.50

Kluges Erzählungen haben immer die emotionalen Zustände im Blick, an die Erinnerungen auch tatsächlich gebunden sind, und eine objektive Erinnerung kann es schon deshalb nicht geben, weil die aktuellen Gefühle des Subjektes, die es mit Erinnerungsgehalten verbindet, nicht auf andere Personen übertragbar sind. „Ich möchte Geschichten erzählen, wieso die Gefühle nicht ohnmächtig sind“51, heißt es nahezu programmatisch im Vorwort zum Filmband Die Macht der Gefühle.

Emotionen und Narration Kluges Erzählprojekt ist auf einem montierten Terrain, bestehend aus disparatem und heterogenem historischen Material, über- und quergelagerten Ereignissen und Materialfragmenten, hell ausgeleuchteten mikrologischen Machtstudien, faits divers, politischen Maßverhältnissen und grundsätzlich unberechenbaren Gefühlen samt ihrer schwer zu kalkulierenden, sprunghaften Dichotomien angesiedelt. Der Bogen spannt sich vom misslungenen Folterversuch, im KZ nämlich zwei sterilisierte Liebende zum Zwecke der Euthanasie zur Intimität zu nötigen („Ein Liebesversuch“), bis zum völlig unerwarteten Verhalten einer Pflegerin, bei der geplanten Übergabe eines Kindes („Übergabe des Kindes“). Immer folgen Gefühle als mentale Phänomene aber ihrem körperlichen Eigensinn. In den disparaten Erzählungen dieser „Eröffnungsbilanz des 21. Jahrhunderts“ (Kluge) werden Erregungszustände literarisch komponiert (Genauigkeit, Scharfsinn, Vorstellungskraft, Einfühlung, Lakonie, unsentimentale Komik, –––––––— 50 51

Kluge (wie Anm. 49), S. 987. Zit. nach Heißenbüttel, Helmut: Rede auf Alexander Kluge zur Verleihung des KleistPreises. http://www.kluge-alexander.de/heissenbuettel-kleistpreis.shtml (1.6.07).

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radikale Nachahmung) und mit kühlem antipsychologischem Blick arrangiert, um sie dem enzyklopädischen Gedächtnissystem über die Relevanz emotionaler Konstellationen unsystematisch zuzuführen. Nicht die psychologisch motivierte Innenweltdarstellung der Figuren ist bei den ca. 800 Geschichten auf 2000 Seiten entscheidend, weil Erinnerungen hier nicht „Bewusstseinsinhalte“52 im Felde rhetorischer Inszenierungen sind, sondern Erinnerungen sind emotionsbasierte Geschichtskonstellationen. Insofern liegt dem monströsen Erzähluniversum ein Gedächtnisverständnis zugrunde, das sich deutlich davon unterscheidet, Ereignisse und Fakten zu erinnern. Es geht vielmehr um das Erinnern jener Emotionen und Affekte, die mit diesen Ereignissen in Zusammenhang stehen, so dass dieses emotionale Gedächtnis Bezugspunkte herstellen kann, um Traditionen zu festigen, Erfahrungen tradieren und Identitäten beschreiben zu können. Ein strukturelles Muster dieser Erzählform ist es, menschliche Verhaltensweisen und Reaktionsmuster auf frühe geschichtliche Wurzeln zurückzuführen, ohne psychoanalytische Wahrnehmungsmuster in Anspruch zu nehmen. So wie die Geschichte der Anita G. eine lange Vorgeschichte hat, ohne die ihre skurrilen Verhaltensweisen im weiteren Verlauf nicht zu verstehen sind, so hat auch der Faschismus selbst eine langwährende komplexe Vorgeschichte, die mit diesem Lebenslauf verbunden ist. Dieses stille und unmerkliche Fortwirken der langen Vorgeschichten in den Gefühlsräumen der Lebensläufe konstituiert Erinnerung, die sich nicht auf Ereignisse bezieht, sondern Ereignisse hervorbringt. Kluge interessiert sich hier für das Zusammentreffen der subjektiven Gefühlslagen (Wünsche, Phantasien usw.), die als individuelle Glückssuche in jeder Biographie unterschiedliche Formen annimmt, und den historischen Umständen, an denen diese Biographien sich abarbeiten müssen, wobei entscheidend ist, dass diese Gefühle ihrerseits über eine lange Entwicklungsgeschichte verfügen, von der die Subjekte in der Regel nichts wissen. Das Mädchen Anita G. musste beispielsweise die Deportation ihrer Großeltern mit ansehen, doch die Geschichte liefert keine kausalen Hinweise dafür, inwiefern diese Traumatisierung dann tatsächlich im weiteren Verlauf der Geschehnisse ihre Verhaltensweisen (Diebstähle, freiwillige Rückkehr ins Gefängnis, vagabundierendes Leben usw.) plausibel machen kann. Von „Lernprozesse(n) mit tödlichem Ausgang“ ist bei Alexander Kluge daher die Rede, weil die meisten Geschichten nicht glücklich ausgehen. Kluges Geschichten sind grundsätzlich gegen diesen geschichtsfatalistischen Konnex geschrieben; es sind Gegen-Geschichten, deren sprunghaft-elliptische Form noch disparateste und fragmentierteste Wirklichkeitsfetzen miteinander in assoziative Beziehungen setzen kann. Diese assoziativen Erinnerungsflächen folgen dem Prinzip der Verdichtung von Erfahrung zu Erinnerungen aufgrund komprimierter Emotionen, die in der Chronik inventarisiert werden sollen. –––––––— 52

Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of Memory“, Berlin u. New York 2005, S. 171.

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Ein anderer weit verbreiteter Geschichtentypus rekonstruiert in dieser unchronischen Chronik nicht Episoden und taucht sie ein in das Magnetfeld gewaltiger historischer Anziehungskräfte, um die verborgenen Grammatiken der Emotionen zur Darstellung zu bringen, sondern formuliert im konjunktivischen Modus Geschichten so um, dass sie durch Imaginationen aufgeladen den tatsächlichen Verlauf überraschend unterbrechen oder umlenken, immer jedoch, um unerwartete Perspektiven, die auch möglich gewesen wären, ins Spiel zu bringen. Nach seinem Tod betritt etwa Adorno in der grotesk-komischen Erzählung „Der Todeskandidat“ den Parnass und findet alles anders als erwartet vor. „Hier begrüßt ihn kein Voltaire, Bonaparte, kein Musiker wie Monteverdi, Schönberg oder Schubert. Der Kandidat kommt vielmehr gedächtnislos. [...] Das Sprechen ist abhanden gekommen. Unter so überraschenden Verhältnissen musste sich der Gelehrte, praktisch ohne Gegenüber und Erlerntes, rasch orientieren.“53 Mit Erinnerungstätigkeit hat diese Episode insofern zu tun, als sie mit der frei erfundenen Schreckenserfahrung Adornos, am Parnass seiner Arbeitswerkzeuge (Sprache, Gedächtnis, Gegenüber, Status etc.) beraubt zu sein, im mythischen Gedankenspiel die Besinnung auf das Wesentliche und Unverzichtbare andeutet, das offenbar einen längeren Erinnerungsvorgang über scheiternde Selbstbehauptung und Trennungsprozesse beim Leser in Gang setzen soll. Erinnerung hat aber auch der Frage nachzugehen, was und wann etwas hätte geschehen müssen, damit Katastrophen in der persönlichen wie realen Geschichte hätten vermieden werden können. In dieser temporalen Perspektive kommt auch Kairos ins Spiel, die Suche nach dem richtigen und gelungenen Augenblick, jenem Moment, der auch gerade noch eine Katastrophe abwenden könnte. Der antiken griechischen Unterscheidung folgend, wird Kairos als die komprimierte, erfüllte und dem Menschen gehörende Zeit aufgefasst, während Chronos die fortwährend ablaufende, periodische Ereigniszeit bezeichnet, die unaufhaltsam ihre Kinder frisst und dem Tode zustrebt. Von einem derartig verdichteten Augenblick erzählt etwa die Episode „Feigheit ist die Mutter der Grausamkeit“. Aus Furcht vor politischer Kompromittierung und weil er pünktlich in der Oper erscheinen will, verzichtet Reichskanzler a. D. Fürst Bülow darauf, Rosa Luxemburg zu retten. Während nämlich Bülow sich auf einen Opernbesuch vorbereitet, wird zeitgleich Luxemburg im Hotel verhört. Nun kommt es aus ganz trivialen, doch eben nicht unvermeidlichen Gründen im Eden nicht zu einer durchaus denkbaren und möglichen Geste des Politikers, die unter Umständen Rosa Luxemburg noch hätte retten können. Erinnern bedeutet in Kluges Erzählkonzept hiermit grundsätzlich eine Rückübersetzung der historischen Narrative in eine erzählbare subjektive Form, die Unterscheidungsvermögen ausbilden kann, ohne dem subjektivistischen Pathos (Einfühlung, Empathie, Mitfühlen) des psycho-moralischen Diskurses anheim zu fallen. Das variierte und kombinierte Geschichtsmaterial wird so lange mit ungewohnten und experimentierenden Sichtweisen, Bezügen und Assoziationen angereichert, bis es als Erfahrungsrohstoff im Lesevorgang erneut angeeignet –––––––— 53

Kluge (wie Anm. 7), S. 864.

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werden kann. Dies bedeutet auch, eine Dialektik des Erzählens in Gang zu bringen, die dokumentierte Zeitgeschichte zudem so zu beleben, dass ihre nichtsachlichen Seiten überhaupt erst wieder in Erscheinung treten können. „Wir haben eine lange Erinnerungsfähigkeit, das sind wirklich die Gefühle“54, bemerkt Alexander Kluge in einem Interview. Aus einer evolutionären Perspektive betrachtet verfügen hier Menschen über zweierlei humanspezifische Gedächtnisfunktionen: über die autopoetische, die ein sich seiner selbst bewusst werdendes Erinnern ermöglicht, und über das ausgelagerte Gedächtnis, das an Personen, Institutionen und Medien übertragen wird. Streng genommen wäre literaturgestütztes Erinnern als ein Produktionsprozess zu beschreiben, dessen Rohstoff Erfahrung in geschichtlichen Zusammenhängen ist, wobei die Produktion dann emanzipatorischen Zielen folgt, wenn eine Umproduktion von Erfahrung und Erinnerung in Richtung humanes Gemeinwesen erfolgt.55 Hierzu müssen alle Grundsituationen menschlicher Gefühle, alle Tugenden und Untugenden (gewissermaßen in einer virtuellen Gesamtoper) auf ihre Konsequenzen für Emanzipationsprozesse hin betrachtet, untersucht und bewertet werden, zumal Gefühle sich als angereicherte geschichtsmächtige Kräfte in den unterschiedlichen Aggregatzuständen und unterscheidbaren Zusammenhängen natürlich auch ganz verschieden auswirken können.56 Bezogen etwa auf die Katastrophengeschichte des Nationalsozialismus schlägt Kluges monströses Erinnerungsensemble nicht in ideologische Konstruktionen um, darauf wäre heute besonders hinzuweisen, weil er, mit Sebald gesprochen, „mit der Nachbesserung des Bildes, das man von sich überliefern wollte“57, mit dem literarischen Gedächtnisversagen vieler Autoren dieser Generation, nichts gemein hat. Kluge fahndet maulwurfartig nach den noch nicht chiffrierten subkutanen Gefühlsenergien, die unterhalb der „öffentlich lesbare(n) Chiffre“58, unterhalb bereits öffentlich gewordener und artikulierter Reaktionen und Äußerungen noch nicht ausgesprochen und formuliert verborgen sind. Mit chirurgischer Akkuratesse und einem schier unbestechlichen Blick für Wesentliches, das gemeinhin jedoch als unwichtig abgetan wird, werden aus Lebensläufen, Katastrophenereignissen, Institutionen, Kriegsepisoden, Bürokratieentscheidungen, Alltagsunfällen, großen und kleinen Dramen und Tragödien, Gewaltszenarien und scheiternden Liebesversuchen etc. immer wieder die irrwitzigen Emotionsstauungen herauspräpariert und freigelegt – die Variationen hierzu sind nahezu zahllos. –––––––— 54 55 56

57 58

Kluge, Alexander: Verdeckte Ermittlung. Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann. Berlin 2001, S. 45. Negt u. Kluge (wie Anm. 2), S. 1164ff. Die kulturtheoretische Konjunktur der Emotionsforschung hat diese Zusammenhänge gerade auch im Werk Alexander Kluges erst noch grundlegend auszuarbeiten. Eine grundlegende Anregung zur Phänomenologie der Gefühle findet sich etwa bei Demmerling, Christoph u. Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn. Stuttgart 2007. Sebald, W. G.: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. Frankfurt a. M. 32003, S. 7. Negt u. Kluge (wie Anm. 2), S. 97.

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Minutiös karthographiert Alexander Kluge in der Doppelrolle als Anatom und „Wissenspoetiker“59 einen historischen Atlas der Gefühlszustände, ihrer in der Vergangenheit entstandenen Zeitzonen und „Intensitätsgrade“60: Leutnant Bertrams abgespaltener Gesamtpersönlichkeit vor Stalingrad, dessen militärischer Funktionskörper immer schneller handelt als die verzögert nachfolgende Persönlichkeit. In ihm agiert heftig das Gefühl verraten worden zu sein, allerdings verspätet und „unterhalb der Sprache“: Als Patient durchläuft er verschiedene Reservelazarette, von seinem Obergefreiten getrennt. Seine Persönlichkeit folgte allmählich nach; traf er im März ein, so kann er schon Ende April ihre Wiederankunft fühlen. Es ist das Gefühl: ‚schmählich’, ‚unverzeihlich’ ‚im Stich gelassen’ zu sein. ‚Feige Etappenärsche, die sich nicht rührten.’ Was sollen die Worte! Es ist ein Gefühl. Er hat ausreichend Zeit, daß diese Gefühle, allerdings unterhalb der Sprache, in ihm anlangen.61

Nach einem unerfüllten Heimaturlaub von der Ostfront fühlt der Obergefreite Eilers Heimat gerade dort, „wo ich den persönlichen Eindruck habe, dass alles Sinn und Zweck hat und die Zusammenarbeit klappt. Das kann ich vom gewesenen Weihnachtsfest nicht sagen. Dagegen muß ich es hinsichtlich der Stellung, die wir hier ‚um jeden Preis‛ halten, behaupten. Ich hätte sonst überhaupt nichts übrig.“62 Die disziplinierte und selbstlose Turmbeobachterin Zacke will mitten im Bombenhagel des Luftangriffs auf Halberstadt plötzlich „nicht auf dem steinernen Gesims des Turmgangs ‚abbrennen‛“63 und flüchtet zum Überleben in den brennenden Kirchturm hinab. All diese Beispiele und Ausschnitte, die hier im Grunde nur angedeutet werden können, belegen dennoch grundsätzlich eines: der menschliche Gefühlshaushalt ist selbst ein unermessliches Erinnerungsreservoir, das Kluge als „verdeckter Ermittler“ mit den Mitteln seiner Wissenspoetik zu sichern trachtet.64 Im Schlusstext „Heiner Müller und das Projekt Quellwasser“ des 2. Bandes der Chronik der Gefühle wird das Poetische selbst als Sammelvorgang metaphorisiert, dessen besondere Qualität darin besteht, eine hartnäckige und leidenschaftliche Suche zu betreiben. Eine Suche wonach? Wenn das Poetische ein Einsammelvorgang ist wie die Beeren- und Kräutersuche, dann zeigt sich die Qualität des Poetischen in der Zähigkeit, Vollständigkeit, Hartnäckigkeit und

–––––––— 59 60 61 62 63 64

Scherpe, Klaus: Stadt. Krieg Fremde. Literatur und Kultur nach den Katastrophen. Tübingen u. Basel 2002, S. 328. Negt u. Kluge (wie Anm. 12), S. 45. Kluge (wie Anm. 49), S. 18f. Kluge (wie Anm. 7), S. 723. Kluge (wie Anm. 49), S. 36. Es reicht daher der Hinweis nicht aus, Gefühle seien das, was noch nicht dem Organisationsprinzip unterliege, so z. B. bei Amir Eshel: „‚The feelings‛ mark precisely what is not to be captured by means of organizing reason. They are the fleeting, yet lasting elements that will not dissolve in any explanation or interpretation.“ Eshel, Amir: The Past Recaptured. Günter Grass and Alexander Kluge at the Turn of the Century, in: Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts im Spiegel der deutschsprachigen Literatur, hg. von Moshe Zuckermann. Göttingen 2003, S. 181–203; hier: S. 197.

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Leidenschaft der Suche. Es geht um ein Sich-selbst-zwar-vollständig-oder-fast-vollständigEinsammeln. Eine schwer lesbare Handskizze dazu ist Müllers letztes Werk.65

Die Herausbildung von Gedächtnis, dessen psychischer Rohstoff die Gefühle sind, die nicht ohnmächtig erscheinen, ist hierfür nur ein anderer Ausdruck. Hiervon zu erzählen, ist Alexander Kluges Beitrag zur kulturkritischen Emotionsforschung, die nicht für die Erneuerung eines gefühlspathetischen Diskurses der Einfühlung plädiert.66 Kluges Erzähluniversum steht hingegen dafür ein, die Bedeutung der Gefühle so zu ergründen, dass sie für die kollektive Gedächtnisbildung und die praktischen Emanzipationsprojekte der Menschen zu rehabilitieren sind.67

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Kluge (wie Anm. 49), S. 1010. Die Dynamik der Emotionsforschung der vergangenen Jahre lässt sich hier nicht nachvollziehen. Einen instruktiven Literaturbericht gibt es von Anz, Thomas: Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung. (http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php? rez_id =10267). Kluge lotet hier ein gewaltiges „Kraftwerk der Gefühle“ aus. Diese Metapher stammt aus Alexander Kluges Film Die Macht der Gefühle (1983) und bezeichnet die Kunstform Oper (siehe hierzu auch Birkmeyer, Jens: Die Allegorie des geschichtsfernen Augenblicks. Adornos Huldigung an Zerlina zähmt Don Giovanni, in: Don Juan – Spuren des Verführers, hg. v. Hans-Joachim Jürgens. Hamburg 2008, S. 177–199). – Im hier vorliegenden Erzählkontext wird der Blick – über die Operngeschichte hinaus – nahezu auf die gesamte Menschheitsgeschichte ausgeweitet. Fünf große Themenkreise, in denen es immer auch um das unterschätzte, aber wirksame authentische Potential der Gefühle geht, lassen sich hier unterscheiden: Themen der Revolutionen (Französische Revolution, Oktober- und Novemberrevolution), der Kriege, der Ideen und Ideologien, der individuellen Lebensläufe (Geschichten des Eigensinns) und der Zeitmaße im Leben.

Namenregister

Achilles 210–214 Adorno, Theodor W. 67, 68, 80, 110, 113, 116–117, 244–247, 250, 252, 260, 262, 265, 268, 273, 275 Antigone 144, 209 Anz, Thomas 224, 274 Arenhövel, Mark 10, 16 Arnim, Achim von 225–226 Aristoteles 184, 243 Armstrong, Louis 63 Assmann, Aleida 10, 11, 13, 14, 23, 40, 98, 106, 111, 113, 120, 123, 150, 160, 220, 222–223 Assmann, Jan 10, 11, 13, 14, 54, 244 Beethoven, Johannes van 138, 142 Benjamin, Walter 18, 19, 25, 28, 29, 71, 75, 76 Bernhard, Thomas 19, 26, 27, 28, 31 Beyer, Marcel 101–102, 110 Bloch, Ernst 247–248 Böhme, Hartmut 247, 251–252 Bohlen, Dieter 83–93, 95–96 Borst, Arno 169, 188, 193 Brecht, Bert 68–81 Brentano, Clemens 224–226 Breuer, Josef 221–222, 224, 226 Butzer, Günter 122, 219, 222 Canetti, Elias 19, 20, 24, 25, 31 Celan, Paul 41, 97 Charcot, Jean–Martin 221, 224 Chesterton, Gilbert Keith 146–147 Dionysos 90–91, 96, 140–141, 143–144 Doessekker, Bruno 64, 131 Dückers, Tanja 101, 105–108, 110–111 Düsterhenn, Georg 114, 117–118 Durkheim, Emil 11–12, 251

Ems, Rudolf von 176, 181–182 Etzenbach, Ulrich von 170, 172–173, 175–176, 178, 183 Euphrosyne 201, 206–211 Euripides 90, 204 Fischer, Gottfried 128, 152, 163 Freud, Sigmund 39, 126, 219, 221–222, 224, 226 Friedländer, Saul 116, 217 Ganzfried, Daniel 64, 131 Genette, Gérard 230–231, 233, 241 Goethe, Johann Wolfgang 15, 16, 33, 95,133, 185, 201, 203– 204, 206–211, 213, 215 Goetz, Rainald 83–91, 94–96 Goldt, Max 253–254 Gotlieb, Johann 193–194, 199–200 Grammateus, Henricus 193, 200 Grass, Günter 34, 38–39, 44, 51–53, 55, 57–63 Grimm, Jacob 225, 255 Grimmelshausen 187, 199 Gstrein, Norbert 97–98 Hahn, Alois 11–12, 14–15, 17 Hahn, Ulla 62–63, 101 Halbwachs, Maurice 11, 13, 113–114, 119–120 Handke, Peter 252–253 Harrison, Robert 137, 145–147 Hartlieb, Johann 177–178, 180– 181, 183–184 Hölderlin, Friedrich 17, 90, 201–207, 209, 211, 214 Höller, Rudolf und Vera 114, 119–123 Horaz 206, 209–210 Horkheimer, Max 265, 268 Hume, David 16–17 Husserl, Edmund 9, 17 Isidor von Sevilla 192 Jäger, Ludwig 15, 126

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Janet, Pierre 221–222, 224, 226 Jauß, Hans Robert 18, 230, 238 Johnson, Daniel 13, 14, 132 Johnson, Uwe 13–14, 229, 232– 234, 236–241 Kandel, Eric R. 114, 127 Keller, Gottfried 51, 224 Kertész, Imre 47–48 Kesslers, Katja 84, 86–87, 89–90, 95–96 Kluge, Alexander 257–276 Kürnberger, Ferdinand 68–71 Kuckart, Judith 153–161, 165 Lachmann, Renate 13, 15, 23–24, 228 Langenohl, Andreas 10, 12 Lejeune, Phillipe 21–22, 58, 61 Leroi–Gourhan, André 251–252 Lessing, Gotthold Ephraim 113, 225–226 Levy, H. 117–118 Locke, John 16–17 Lützeler, Paul Michael 21, 115 Mächler, Stefan 41, 64 Mann, Thomas 38, 52, 93, 252 Markowitsch, Hans J. 33, 54–56, 114, 117–118, 121 Marx, Karl 168, 246 McAdams, Dan P. 126–127 Mecklenburg, Norbert 211, 236– 237 Menninghaus, Winfried 243, 263 Meyrink, Gustav 217–220, 222–227 Müller, Heiner 275–276 Negt, Oskar 257, 259, 263– 265, 272, 274–275 Nora, Pierre 13, 111 Pacioli, Luca 189–196, 200 Penndorf, Balduin 102, 189, 193 Proust, Marcel 15, 33, 44, 118, 122, 229–234, 238–241 Reemtsma, Jan Philipp 115– 116, 118, 260

Namenregister

Riedesser, Peter 128, 153 Schiller, Friedrich 50, 138, 140, 142, 201, 203–207, 210–214 Schmidt, Arno 113–119, 122, 124 Schnatz, Helmut 125, 156 Schneider, Manfred 20–21, 222 Schreiber, Heinrich 193–194, 200 Schweickers, Wolfgang 195 Sebald, W. G. 118, 274 Semprun, Jorge 97, 150 Sloterdijk, Peter 59, 243 Sombart, Werner 188–189 Spence, Donald 126 Stockhammer, Robert 241 Strauß, Botho 137–144, 146–147 Theweleit, Klaus 130, 132 Timm, Uwe 53, 57, 61–63, 97– 100, 108–111 Vergil 187, 204 Vico, Giambattista 157, 247, 254 von der Lühe, Irmela 133–134 Wackwitz, Stephan 101, 161– 166, 169 Wagner-Egelhaaf, Martina 22, 84 Walser, Martin 46, 53, 57, 62, 101 Warning, Rainer 231, 329 Weigel, Sigrid 153, 164–165 Weilnböck, Harald 152–153, 156, 160 Weinrich, Harald 18, 100, 219, 222, 227 Welzer, Harald 16, 33, 40, 47, 54– 56, 69, 97, 107–108, 111, 114, 117–118, 121, 139, 150 Wickram, Georg (Jörg) 197– 199, 205–206 Wilkomirski, Binjamin 16, 41, 53, 58, 64–65, 125, 131, 134, 138 Wolf, Christa 19, 28, 37, 99

Sachregister

Abschiedstrauer 95 Agency 244, 251, 253 Amazonen 175–176 Amerika 67–69, 77 Angriff auf Dresden (1945) 125– 126, 129 Antiintellektualismus 85, 95 Anthropologie 42 Apotheose 204–206, 226 Artikulationslust 93 Askese 177–178 Astrologie 180, 182 Asylsuchende 128–129 Ausschlussmechanismus 89 Auschwitz 113, 116–117, 123, 153–159, 161–162,164–165 Authentizität 19, 29, 31, 35, 85, 101, 111, 163, 260, 267 Autobiographie 19–22, 24–26, 41, 43, 54–55, 58, 60–64, 84– 85, 87, 91 – autobiographisches Gedächtnis 54–55, 57–61, 114, 262 – autobiographischer Pakt 21– 22 – autobiographisches Schreiben 19–22, 25–26, 28, 30–31, 84– 85, 88, 96 – autobiographische Texte 26, 58, 64, 86, 125, 192 Autofiktion, autofiktional 19, 22, 29–30, 56, 229 Automaten 179 Autorität 92–96, 111 Autornamen 21, 86–87 Behaltgedächtnis 16–17 Bibliothek 24, 53, 87 Brahmane 177–178 Chaining 117 Chor 138–144, 146 Chronotopos 229, 237

Computistik 192 curiositas 180 Dichterruhm 205–206, 214 Didaktik 31 Dinglichkeit 243, 252 Diskographie 87 Diskurs 29, 45, 50, 55–56, 58– 60, 180, 184, 194, 199, 232, 264, 266, 273, 276 Diskursivität 28 Distanznahme 90 Doppelgänger 219, 220, 225–226 Doppelte Buchführung 187– 190, 193–196, 198–199 Doppik 195–196, 198 Eigensinn 168, 257,259, 263–268 Elegie 201, 206–207, 209–210, 215 Elternportrait 91 Emblem, emblematisch 86, 95, 249 Engramme 120 Epochenbruch 184–185 Eremit 177 Erinnerung – explizite und implizite Erinnerungen 127 – individuelle, persönliche, personale Erinnerung 40–41, 48– 49, 54, 57–58, 63, 86, 91, 95– 96, 103, 104, 198, 217, 257 – kulturelle Erinnerung 24, 54, 86, 90–91 – Erinnerungsarchitektur 218 – Erinnerungsarbeit 17, 24–25, 29, 34, 37, 151 – Erinnerungshorizont 33, 46–49 – Erinnerungskollektiv 41, 46, 48–49, 51 – Erinnerungskultur 10, 12, 57– 58, 102, 105, 109, 150, 165

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– Erinnerungsliteratur 49, 51, 98, 99, 101–102, 108, 110, 133, 150 – Erinnerungsprozess 24, 31, 91, 110, 124 Erwachsenenalter 93 Erzählprojektion 229, 241 Exil 68, 72–73, 79, 97, 217 Familie 11–12, 92, 110, 119, 123, 149, 151, 162 – Familiengedächtnis 55–56, 61–62, 108–109, 111, 153 – Familiengeschichte 25, 62, 98, 100–101, 153, 161 – Familienroman 149, 151, 153, 165–166 Faschismus, faschistisch 122, 272 Fiktion, Fiktionalisierung, Fiktionalität 20–23, 28–30, 39–40, 43–44, 56, 58, 62–65, 71, 80, 84–85, 98, 111, 169, 229, 238– 240, 261 Flashback 128–129, 131 Fokalisation 231, 235 Frontier-Ideologie 172–173 Gedächtnis – autobiographisches Gedächtnis 54–55, 57–61, 114, 262 – deklaratives Gedächtnis 127 – emotionales Gedächtnis 120, 268, 271–272 – heroisches Gedächtnis 105 – implizites (oder prozedurales) Gedächtnis 127 – individuelles Gedächtnis 14, 54–56, 58–60, 62, 65, 85, 98, 261 – kollektives Gedächtnis 11– 16, 48, 56, 85, 105, 110–111, 113, 138, 146, 202, 228, 276 – kommunikatives Gedächtnis 13, 41, 48, 53, 59, 61, 64, 97– 99, 108

Sachregister

– kulturelles Gedächtnis 13, 23, 53–65, 98, 109, 137, 166, 168, 201, 210, 215, 228, 261 – literarisches Gedächtnis 57 – Priming-Form des Gedächtnisses 118 – Gedächtnisbildung 57, 97, 276 – Gedächtnis-Chaining 117 – Gedächtnisforschung 9–13, 62, 100 – Gedächtnismedien 109, 232, 244 – Gedächtnisreflexion 57, 63, 65 Gedenkformen 120 Gehirn 33, 125, 127–128, 134, 218–219, 224, 243, 254–255 Gehirnbotenstoffe 33, 42 Geltungsdrang 88–89, 132 Generationenroman 150–151, 153 Geschichtsschreibung 36–37, 108, 110, 113, 193 Geschlechterverhältnis 59 Geste 56, 179, 203, 232, 249– 254, 273 Gewalt 50, 90–91, 141–144, 171–172, 249, 264, 266 Gewaltverhältnis 171 Golem 217–219, 222–228 Grenzen 19–24, 172–180 Grenzziehung 173, 179–180 Haus, Häuser 26, 68–80, 237–238 Heldenverehrung 205, 215 Heroenkult 206 Heros (unsterblich) 205–206 historische vs. narrative Wahrheit 125–127, 129–131 Hochkultur, hochkulturell 89– 91, 95–96 Holocaust 97–98, 103, 118, 131–133, 149–151, 160, 164– 166, 217 Holocaust-Literatur 101 Hybrid 175 Hybridgedächtnis 11–12 Hymne 201–207, 209, 211–215

Sachregister

Hypnose 220–221 Identifikation 40–41 Identifikationsmuster 90–91 Identität 34, 36–38, 54, 71, 74, 87, 172, 185, 228, 252 Ikon 87 Individualität 34, 49, 141, 267 Initiation 36, 48, 50, 90–91 innere Bilder 134 Internet-Tagebuch 85 Intertextualität 23 Jugend 93–94, 154 – Jugenderinnerung 94 – Jugendgeschichte 87 Kairos 261, 273 Katharsis 141–142 Karriere 86, 102 Kindheit 28–31, 35, 46, 50, 63, 93–94, 101, 131, 159, 162, 233 Kindheitsgeschichte 29, 87 Kindesmord 133 Koautor 86–87, 92 kollektives Phantasma 92 kollektive Reminiszenz 35, 40, 96 kolonialer Blick 183 Kolonialkrieg 122 Kontaminierungsphänomen 115– 116 Körpergedächtnis 222–224, 240 Körperschrift 224–225 Krieg 50, 61, 97–98, 106, 108– 109, 119, 130, 149, 155, 162, 265–266 kriterienbezogene Aussagenanalyse 128 kritische Theorie 243–244, 246– 247, 250, 253, 255, 264, 267 Kulturalismus 245, 254 Kulturgeschichte 84 kumulative Heroisierung 107 Lebensgeschichte 21, 38, 41, 58, 60, 62, 121, 126–129, 132, 151, 163, 188, 227, 233 Lebensmythos 126 lieux de mémoire 111, 229

281

limbisches System 128 Literatur der Opfer 134 literaturtheoretisches Paradigma 135 longue durée 185 Macht 58–59, 94–95, 134, 177, 209, 245, 253, 266–267, 270 Magazin-Metapher 219 Mänaden 141 Männlichkeit 92, 155 Maueröffnung 138 mémoire involontaire 118, 229– 230, 232–233 Metonymie der Vernichtung 122 milieux de mémoire 111 Minne 176 Mischwesen 173–179 Mnemosyne 113 Mnemotechnik 17, 23–24, 26–27 Monstra 173–174 Mythos 201, 206–207, 215 Nachkriegsgesellschaft 60–61, 93, 104, 115–116 Nachkriegsgeschichte 92, 99 Narrativ 37–38, 43–45, 58, 131, 133, 227–228, 239–242, 259– 262, 268, 270, 273 narrative memory 226 narrative Wahrheit 125–126, 129– 131 Narratologie 229–231, 234, 241–242 Nationalsozialismus 56, 101– 102, 105, 113, 115–116, 124, 149–151, 233, 274 Naturalisierung 243, 254–255 Naturalismus 245, 254–255 Naturbücher 169 Naturhindernis 173–174 Naturmetapher 183 Neue Subjektivität 19, 25 Neurobiologie 114, 117, 124– 125, 134–135 Neurophysiologie 127, 254 NS-Massaker 122

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Opfergedächtnis 100, 105, 109 Opfer-Täter-Dichotomie 125, 132 Orakel 180–181 Patriarchat 92 Popliteratur 83–85, 253 Popmusik 87, 95 Positionalität 85 Postmemory 101, 107 Postmoderne 22, 135, 239, 241, 243 Präsensverlust 93 Projektion 212, 218–219, 241, 249 Prophezeiung 180–182 Prosopopöie 22, 30 Protestgeneration 95 Psychoanalyse 126, 152–153, 219 Quellenverwechslung 55 Re-entry 10, 17 Referentialität 45, 85 Register 87–88 Reihenbildung 90 Reisebericht 68, 169 Revolte 95 Romantik 84, 140 Ruhm 201–216 Schlaraffenland 170 Schrift-Bild-Kombination 86 Selbstbekenntnis 83–84 Selbstwahrnehmung 38, 77 Shoah-Lebenslauf 131 Simulakrum 24, 30 Sinnentleerung 93 Soziologie der Artefakte 254 Spaßkultur 93 Sprechverdikt 93 Stilanalyse 92, 94 Stilisierung 43, 89, 93 Stilvergleich 86 Stimme 146, 231, 240–241 Symbolphilosophie 245 Tätergedächtnis 98, 105, 109 Textgedächtnis 228, 230 Theater 88–91 topisches Erzählen 229, 236

Sachregister

Tagebuch 19, 24, 73–75, 96, 109–110 Tragödie 90, 138, 143–144, 265, 274 Trauma, traumatisiert 91–93, 96, 110, 128–131, 151–154, 156, 165, 220–223, 259, 272 Überbietungsgestus 143, 179, 203–204 Übersetzungsmedien 250 Umbesetzung 185 Unsterblichkeit 202, 204–206, 209–210, 213–215 Untertitel 87 Untote 118 unzuverlässiger Erzähler 52, 61, 104 Vaterportrait 93, 96 Väterliteratur 150–151, 165 Vampir 118 Verdinglichung 244 Vergangenheit 9–12, 34–37, 42, 48–49, 55, 57, 59–60, 62–64, 101, 103–104, 107, 110, 119– 121, 123, 142, 145–147, 198, 206, 218–219, 221–222, 225, 227–228, 231–232, 237–238, 261–262, 268, 270–271 Vergessen 98, 104, 138, 141, 143–144, 257, 268, 270–271 Vertreibung 98, 105–106 Vico-Prinzip 247, 254 Wachstafel-Metapher 219 Waffen-SS 59–62, 102, 104–105, 111, 132, 153 Weltbilder 134, 168, 184 Werkvergessenheit 83 Werkzeug 175, 251–252 Wiedergänger 118 Wiedervereinigung 138, 140, 142, 165 Wundererscheinungen 182 Wunder Gottes 174 Wunschnatur 170–171 Zombie 118, 121