Gattung und Geschlecht: Weiblichkeitsnarrative im galanten Roman um 1700 9783110459883, 9783110455786

Around 1700, German novels featured chivalrous narratives with female protagonists, but only went on to become a "l

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German Pages 468 Year 2016

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Danksagung
Inhalt
1. Einleitung: Romane, die es nicht gegeben haben soll? Problematik der Quellenlage, Forschungsüberblick, Fragestellung
2. Theoretische Überlegungen: Der galante Roman in gattungsund genderorientierter Perspektive
2.1 Gattungsproblematik und Gattungsdynamik
2.1.1 Prozessuale Gattungsperspektive
2.1.2 Arbeitsdefinition Galanter Roman
2.2 Weiblichkeit und Text – Gendernarrative im Roman?
2.2.1 Weiblichkeit, poetisches Motiv, soziokulturelles Konzept
2.2.2 Galante Romane – kulturhistorische Quelle oder literarisches Weiblichkeitsnarrativ?
2.2.3 Text und Paratext
2.3 Mehrdimensionales Gattungskonzept – Mediale, soziale und poetische Kontexte
3. Der galante Roman in den Grenzbereichen ökonomischer, sozialer und poetischer Ordnungssysteme
3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch
3.1.1 Der galante Roman im Chaos der Belles Lettres
3.1.2 Konkurrenzen im Buchgewerbe um 1700
3.1.2.1 Der offizielle Markt: Neue Konkurrenten
3.1.2.2 Kolportage- und Hausierhandel: Scheurenkrämer, Scarteckenträger, Studenten in prekären Lagen
3.1.3 Lukratives Nebengeschäft: Privilegienmissbrauch, Nach- und Raubdrucke
3.1.3.1 Handelspreise von Romanen und Kleinunternehmertum
3.1.3.2 Herstellungs- und Druckkostenkalkulation
3.1.3.3 Nebenartikel Roman – Vergütung der Autoren?
3.1.3.4 Soziale Strukturen und (illegitime) Praktiken
3.1.3.5 Wechselnde Autor-Verleger-Beziehungen
3.1.3.6 Autorenbindung: Bohse und der Verlag Gleditsch & Weidmann
3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane
3.2.1 Vermittlungsinstanz Universität
3.2.2 Poetische Fehden und Selbststilisierungen junger Autoren
3.2.2.1 Bohses Selbstinszenierung als studentischer Autor
3.2.2.2 Poetische Fehden I: Bohse/Talander und Hunold/ Menantes
3.2.2.3 Poetische Fehden II: Rost/Meletaon und Hunold/ Menantes
3.2.2.4 Poetische Fehden III: Rost/Meletaon und Celander
3.2.3 Zwischenbilanz I: Expandierender Buchhandel, junge Autoren und poetische Kommunikation
3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman
3.3.1 Antizipierte Leserin und literarisches Feld – Historische Perspektiven zum Verhältnis von Gattung und Geschlecht
3.3.2 Weiblichkeit und Romanlektüre – Die lesende Frau als neue Rezipientin ‚männlicher‘ Unterhaltungsliteratur
3.3.2.1 Die männliche Imago der Leserin
3.3.2.2 Liebe und Laster als Materien der Lektüre von Frauen
3.3.2.3 Wirkungskonzept des Lasters: Vergnügen und Nutzen der weiblichen Romanlektüre
3.3.2.4 Gefährdung der Leserin: Romankritik bei Rost/Meletaon
3.3.3 Förderung der weiblichen Lektüre durch Verleger und Autoren
3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft
3.4.1 Romanreflexionen und poetologische Konzepte
3.4.1.1 Bohse: Poesie zwischen Scherz und Ernst (1692)
3.4.1.2 Galante Sittenkritik zwischen Historie und Fiktion
3.4.1.3 Hunold: Satyrische Schreib-Art (1706)
3.4.1.4 Selamintes: Ingenium der Wollust (1711) oder Systematisierung der Gattung?
3.4.2 Galante Romanpraxis und Weiblichkeit – Poetologische Perspektiven
3.4.2.1 Weiblichkeitsnarrative zwischen Erfindung und Authentizitätsfiktion
3.4.2.2 Die Protagonistin als Medium der Sittenund Gesellschaftskritik
3.4.2.3 Satirische Weiblichkeitsnarrative: Der Roman als Machtinstrument
3.4.3 Zwischenbilanz II: Gattung, Geschlecht, Poesie, galanter Roman
4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman
4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper in Die Versteckte Liebe im Kloster (1694) und Der Entlarffte Ritter im Nonnen=Kloster (1711)
4.1.1 Publikationsformen und erotische Erzählstrategien
4.1.2 Satire und Erotik: Das Klostermotiv im galanten Roman
4.1.3 Körper – Interaktion – Genderordnung: Erzähltes Gendercrossing
4.1.3.1 Die fremde Geliebte: Anonymität und Stabilität der Paarbeziehung
4.1.3.2 „Noch eine Zeit unbekannter weise leben“: Fiktives Mann-Mann-Verhältnis
4.1.3.3 „Die allerzarteste Gemüthsneigung“: Fiktives Frau-Frau-Verhältnis
4.1.4 Modifikation preziöser Liebes- und Geschlechtermodelle im galanten Roman (I)
4.1.5 Fazit: Kombination und Variation
4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion in Bohses Constantine (1698) und Rosts Atalanta (1708)
4.2.1 Reisende Hauptfiguren: Constantine und Atalanta
4.2.2 Motivationen weiblichen Reisens: Leid, Abenteuerlust, Flucht vor der Ehe
4.2.3 Die Liebe auf Reisen: Modifikation preziöser Liebesund Geschlechtermodelle im galanten Roman (II)
4.2.3.1 Ehefeindlichkeit und Liebesmisstrauen
4.2.3.2 Scudérys ‚Carte de Tendre‘
4.2.3.3 Galante Affektentwicklung: Freundschaft oder Erotik, Liebe oder Liebeskrieg?
4.2.3.4 Galante Liebe als reziprokes Modell: Reflexion des preziösen Romans im galanten Roman
4.2.3.5 Galante Liebe ? Fantasie oder Realität, Arrangement oder persönliche Wahl?
4.2.4 Atalanta oder die Gefahren der Liebesreise
4.2.4.1 Kleidertausch und Geschlechterwechsel
4.2.4.2 Gefahren der Reise
4.2.4.3 Wiederfinden: Atlanter und Pallamedes
4.2.5 Fazit: Reisemotiv, Liebessujet und narratives Liebesund Geschlechtermodell
4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle: Weiblichkeit und Stand in Bohses Ariadne (1699) und Rosts Die Unvergleichliche Heldin unserer Zeiten (1715)
4.3.1 Geschlecht, Alter, Stand: Vertikale und horizontale Differenzen
4.3.1.1 Widerstand gegen die ständische Heiratspolitik: Freie Liebeswahl
4.3.1.2 Transformation des preziösen Esprit-Begriffs: Der Verstand der Protagonistin
4.3.2 Macht der Jugend: Alters- und Generationenkonflikte
4.3.2.1 Standesübergreifende Liebes- und Geschlechterkonstellation
4.3.2.2 Konvenienzehe ? Versteckte Liebe ? Galante Liebe
4.3.2.3 Alter und Geschlecht: Reziproke, egalitäre Beziehungsstruktur
4.3.3 Modifikation galanter Weiblichkeitsnarrative nach 1710
4.3.3.1 Tochter-Eltern-Konflikt und Tilgung des Fluchtmotivs
4.3.3.2 Einschränkung des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs
4.3.3.3 Sanktionierung galanter Weiblichkeit in der Ehe
4.3.4 Fazit: Eskalation und Deeskalation
5. Schlussbetrachtung: Gattung im Prozess und die Variabilität galanter Weiblichkeitsnarrative
6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur
7. Bibliografie (1680–1720): Ein vorläufiges Korpus weiblichkeitszentrierter Roman(-Prosa)texte
Personenregister
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Gattung und Geschlecht: Weiblichkeitsnarrative im galanten Roman um 1700
 9783110459883, 9783110455786

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Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

56

Katja Barthel

Gattung und Geschlecht Weiblichkeitsnarrative im galanten Roman um 1700

De Gruyter

Herausgeber: Thomas Bremer, Daniel Cyranka, Elisabeth De´cultot, Jörg Dierken, Robert Fajen, Daniel Fulda, Wolfgang Hirschmann, Yvonne Kleinmann, Heiner F. Klemme, Andreas Pecˇar, Jürgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Laurenz Lütteken, Jean Mondot, Alberto Postigliola, Peter Hanns Reill Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Landesforschungsschwerpunktes Sachsen-Anhalt: Aufklärung – Religion – Wissen. Transformationen des Religiösen und des Rationalen in der Moderne. Diss. phil. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2013 Redaktion: Ricarda Matheus

ISBN 978-3-11-045578-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045988-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045922-7 ISSN 0948-6070 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.  2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck  Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung

Ein Buch verdankt sich nie einer einzelnen Person. In dieses sind die Unterstützung, die kritischen Gespräche und Anregungen zahlreicher Personen eingegangen, so dass es schwer fällt, alle namentlich zu nennen. Mein besonderer Dank gilt meinen Betreuern Prof. Dr. Daniel Fulda und Prof. Dr. Uwe Wirth sowie dem Graduiertenkolleg Aufklärung ‒ Religion ‒ Wissen. Transformationen des Religiösen und des Rationalen in der Moderne (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) und dem International Graduate Centre for the Study of Culture (Justus-Liebig-Universität Gießen). Ohne die institutionelle, fachliche und finanzielle Unterstützung von beiden Seiten hätte dieses Buch nicht entstehen können. Ich danke in diesem Zusammenhang Prof. Dr. Heinz Thoma, Prof. Dr. Ansgar Nünning, Prof. Dr. Wolfgang Hallet und all meinen MitkollegiatInnen. Ebenso unerlässlich für die Entstehung dieses Buches war die fachkompetente Betreuung und außerordentliche Gastfreundschaft an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Hier gilt mein Dank der Dr. Günther-Findel-Stiftung für die Unterstützung der Recherchen vor Ort sowie Dr. Jill Bepler, Dr. Volker Bauer und Gerlinde Strauß, um nur stellvertretend Wenige zu nennen, die den Aufenthalt in Wolfenbüttel zu einem Forschungserlebnis besonderer Art gemacht haben. Ich danke ebenso der Fazit-Stiftung Frankfurt am Main und der Fritz-Thyssen-Stiftung für ihre großzügige Unterstützung. Zugleich möchte ich Prof. Dr. Ruth Florack und dem Seminar für Deutsche Philologie Göttingen danken, deren Interesse für mein Projekt nach der Dissertation neue Wege für mich eröffnete. Besonders danke ich zudem Prof. Dr. Wolfgang Adam, der es mir ermöglicht hat, meine Forschung in neuen Kontexten weiterzuverfolgen. Zuletzt, eigentlich zuerst, gilt mein Dank all den Freunden, Familienangehörigen und Kollegen, die mich in meiner Arbeit unterstützt haben. Ich danke Olaf Simons, Astrid Erll, Dirk Rose, Isabelle Stauffer, Rüdiger Singer, Annette Cremer, Erdmut Jost, Helmut und Christina Barthel, Elvira Friedrich, Katharina Thiemer und Lysann Benndorf, Christian Driesen, Marcel Liebing, Carsten Röser, Katja Lißmann, Silke Förschler, Juliane Haase, Marian Burchardt, André Reichert, Theresa Elze, Jutta Schinscholl und Christian Biemann. In besonderem Maße verdankt sich diese Publikation aber der einen und wichtigen Person, die mich ermutigt, begleitet, beraten und kritisiert hat und immer an meiner Seite war, Alexander Friedrich. All den vielen anderen danke ich anonym ‒ Herzlichen Dank! Frankfurt am Main 2015

Katja Barthel

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 1. Einleitung: Romane, die es nicht gegeben haben soll? Problematik der Quellenlage, Forschungsüberblick, Fragestellung. . . . . . . . 2. Theoretische Überlegungen: Der galante Roman in gattungs und genderorientierter Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Gattungsproblematik und Gattungsdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Prozessuale Gattungsperspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Arbeitsdefinition Galanter Roman. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Weiblichkeit und Text – Gendernarrative im Roman? . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Weiblichkeit, poetisches Motiv, soziokulturelles Konzept . . . . . 2.2.2 Galante Romane – kulturhistorische Quelle oder literarisches Weiblichkeitsnarrativ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Text und Paratext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Mehrdimensionales Gattungskonzept – Mediale, soziale und poetische Kontexte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 13 13 16 20 25 29 32 35 45

3. Der galante Roman in den Grenzbereichen ökonomischer, sozialer und poetischer Ordnungssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch . . . . . . . . . . . 55 3.1.1 Der galante Roman im Chaos der Belles Lettres. . . . . . . . . . . . . 58 3.1.2 Konkurrenzen im Buchgewerbe um 1700. . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.1.2.1 Der offizielle Markt: Neue Konkurrenten . . . . . . . . . . 63 3.1.2.2 Kolportage- und Hausierhandel: Scheurenkrämer, Scarteckenträger, Studenten in prekären Lagen . . . . . . 67 3.1.3 Lukratives Nebengeschäft: Privilegienmissbrauch, Nach- und Raubdrucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.1.3.1 Handelspreise von Romanen und Kleinunter nehmertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.1.3.2 Herstellungs- und Druckkostenkalkulation . . . . . . . . . 78 3.1.3.3 Nebenartikel Roman – Vergütung der Autoren?. . . . . . 82 3.1.3.4 Soziale Strukturen und (illegitime) Praktiken . . . . . . . 88 3.1.3.5 Wechselnde Autor-Verleger-Beziehungen . . . . . . . . . . 93 3.1.3.6 Autorenbindung: Bohse und der Verlag Gleditsch & Weidmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

VIII

Inhalt

3.2.1 Vermittlungsinstanz Universität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.2.2 Poetische Fehden und Selbststilisierungen junger Autoren. . . . 115 3.2.2.1 Bohses Selbstinszenierung als studentischer Autor . . 116 3.2.2.2 Poetische Fehden I: Bohse/Talander und Hunold/ Menantes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3.2.2.3 Poetische Fehden II: Rost/Meletaon und Hunold/ Menantes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3.2.2.4 Poetische Fehden III: Rost/Meletaon und Celander . . 134 3.2.3 Zwischenbilanz I: Expandierender Buchhandel, junge Autoren und poetische Kommunikation . . . . . . . . . . . . . 141 3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3.3.1 Antizipierte Leserin und literarisches Feld – Historische Perspektiven zum Verhältnis von Gattung und Geschlecht. . . . 147 3.3.2 Weiblichkeit und Romanlektüre – Die lesende Frau als neue Rezipientin ‚männlicher‘ Unterhaltungsliteratur . . . . 156 3.3.2.1 Die männliche Imago der Leserin. . . . . . . . . . . . . . . . 160 3.3.2.2 Liebe und Laster als Materien der Lektüre von Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 3.3.2.3 Wirkungskonzept des Lasters: Vergnügen und Nutzen der weiblichen Romanlektüre. . . . . . . . . . . . . 172 3.3.2.4 Gefährdung der Leserin: Romankritik bei Rost/Meletaon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 3.3.3 Förderung der weiblichen Lektüre durch Verleger und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft. . . . . . . 192 3.4.1 Romanreflexionen und poetologische Konzepte. . . . . . . . . . . . 193 3.4.1.1 Bohse: Poesie zwischen Scherz und Ernst (1692). . . . 193 3.4.1.2 Galante Sittenkritik zwischen Historie und Fiktion. . . 199 3.4.1.3 Hunold: Satyrische Schreib-Art (1706). . . . . . . . . . . . 209 3.4.1.4 Selamintes: Ingenium der Wollust (1711) oder Systematisierung der Gattung? . . . . . . . . . . . . . . 216 3.4.2 Galante Romanpraxis und Weiblichkeit –  Poetologische Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 3.4.2.1 Weiblichkeitsnarrative zwischen Erfindung und Authentizitätsfiktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 3.4.2.2 Die Protagonistin als Medium der Sitten und Gesellschaftskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 3.4.2.3 Satirische Weiblichkeitsnarrative: Der Roman als Machtinstrument. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 3.4.3 Zwischenbilanz II: Gattung, Geschlecht, Poesie, galanter Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

Inhalt

IX

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper in Die Versteckte Liebe im Kloster (1694) und Der Entlarffte Ritter im Nonnen=Kloster (1711). . . 253 4.1.1 Publikationsformen und erotische Erzählstrategien . . . . . . . . . 256 4.1.2 Satire und Erotik: Das Klostermotiv im galanten Roman. . . . . 262 4.1.3 Körper ‒ Interaktion ‒ Genderordnung: Erzähltes Gendercrossing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 4.1.3.1 Die fremde Geliebte: Anonymität und Stabilität der Paarbeziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 4.1.3.2 „Noch eine Zeit unbekannter weise leben“: Fiktives Mann-Mann-Verhältnis. . . . . . . . . . . . . . . . . 275 4.1.3.3 „Die allerzarteste Gemüthsneigung“: Fiktives Frau-Frau-Verhältnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 4.1.4 Modifikation preziöser Liebes- und Geschlechtermodelle im galanten Roman (I). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 4.1.5 Fazit: Kombination und Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion in Bohses Constantine (1698) und Rosts Atalanta (1708). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 4.2.1 Reisende Hauptfiguren: Constantine und Atalanta . . . . . . . . . . 302 4.2.2 Motivationen weiblichen Reisens: Leid, Abenteuerlust, Flucht vor der Ehe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 4.2.3 Die Liebe auf Reisen: Modifikation preziöser Liebes und Geschlechtermodelle im galanten Roman (II) . . . . . . . . . . 312 4.2.3.1 Ehefeindlichkeit und Liebesmisstrauen. . . . . . . . . . . . 313 4.2.3.2 Scudérys ‚Carte de Tendre‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 4.2.3.3 Galante Affektentwicklung: Freundschaft oder Erotik, Liebe oder Liebeskrieg? . . . . . . . . . . . . . 323 4.2.3.4 Galante Liebe als reziprokes Modell: Reflexion des preziösen Romans im galanten Roman. . . . . . . . . 329 4.2.3.5 Galante Liebe ‒ Fantasie oder Realität, Arrangement oder persönliche Wahl?. . . . . . . . . . . . . 332 4.2.4 Atalanta oder die Gefahren der Liebesreise . . . . . . . . . . . . . . . 335 4.2.4.1 Kleidertausch und Geschlechterwechsel. . . . . . . . . . . 339 4.2.4.2 Gefahren der Reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 4.2.4.3 Wiederfinden: Atlanter und Pallamedes . . . . . . . . . . . 344 4.2.5 Fazit: Reisemotiv, Liebessujet und narratives Liebes und Geschlechtermodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle: Weiblichkeit und Stand in Bohses Ariadne (1699) und Rosts Die Unvergleichliche Heldin unserer Zeiten (1715). . . . . . . . . . 347

X

Inhalt

4.3.1 Geschlecht, Alter, Stand: Vertikale und horizontale Differenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 4.3.1.1 Widerstand gegen die ständische Heiratspolitik: Freie Liebeswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 4.3.1.2 Transformation des preziösen Esprit-Begriffs: Der Verstand der Protagonistin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 4.3.2 Macht der Jugend: Alters- und Generationenkonflikte . . . . . . . 360 4.3.2.1 Standesübergreifende Liebes- und Geschlechter konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 4.3.2.2 Konvenienzehe ‒ Versteckte Liebe ‒ Galante Liebe. . 368 4.3.2.3 Alter und Geschlecht: Reziproke, egalitäre Beziehungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 4.3.3 Modifikation galanter Weiblichkeitsnarrative nach 1710 . . . . . 377 4.3.3.1 Tochter-Eltern-Konflikt und Tilgung des Fluchtmotivs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 4.3.3.2 Einschränkung des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 4.3.3.3 Sanktionierung galanter Weiblichkeit in der Ehe . . . . 383 4.3.4 Fazit: Eskalation und Deeskalation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 5. Schlussbetrachtung: Gattung im Prozess und die Variabilität galanter Weiblichkeitsnarrative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 6.1 Primärliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 6.2 Sekundärliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 7. Bibliografie (1680–1720): Ein vorläufiges Korpus weiblichkeits zentrierter Roman(-Prosa)texte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455

1. Einleitung: Romane, die es nicht gegeben haben soll? Problematik der Quellenlage, Forschungsüberblick, Fragestellung

Es fehlet Dieser höchstwürdigsten und in aller Welt belobten Dame in keinem Stücke nichts; Was Sie nur hat / das ist galant und propre, mit einem Worte: Man muß ihr das Prae in allen lassen. (Talander: Constantine, 1698)

In deutschen Bibliotheken lagern galante Romane in überraschender Vielzahl, die bis heute kaum bekannt sind. Etliche dieser Texte rücken weibliche Hauptfiguren ins Zentrum der Erzählung und exponieren die Protagonistin schon im Titel. Erzählt werden die Geschichten der Königlichen Printzeßin Ariadne (1699), der Getreuen Sclavin Doris (1696), der Liebenswürdigen Europäerin Constantine (1698); es erscheinen Die Türckische Asterie (1700), Die Amazonische Smyrna (1705), Die getreue Bellandra (1708), Die Unglückseelige Atalanta (1708), Die Rachgierige Fleurie (1715) und viele andere. Romane mit weiblichen Titelfiguren scheinen im Buchhandel um 1700 ein begehrter Lesestoff gewesen zu sein. Im Zeitraum zwischen 1690 bis 1720 stieß ich auf ein Korpus von knapp 100 Romanen dieser Art.1 Zwei Jahrzehnte nachdem mit Anton Ulrichs Römischer Octavia (publ. 1677–1707) eine Frau als zentrale Figur des Barockromans auftritt und ein halbes Jahrhundert bevor Gellerts Schwedische Gräfinn von G*** (1747/48) für die Protagonistin im empfindsamen Roman neue Standards setzt, erfreuen sich zentrale Frauenfiguren im galanten Roman reger Beliebtheit. Die formale Wahl des Personals, über das die Geschichte erzählt wird, rückt Handlungs- und Konfliktstrukturen in den Vordergrund, die sich aufs engste mit der Kategorie Geschlecht verbinden. Um diesen thematischen Schwerpunkt zu betonen, wird in der vorliegenden Studie vom weiblichkeitszentrierten Roman gesprochen.2 Formale und inhaltliche, gattungs- und genderspezifische Aspekte prägen die narrative Weiblichkeitskonstruktion und sollen in ihrer Interdependenz untersucht werden. 1 2

Vgl. Auflistung der Primärquellen im Anhang. Das Geschlecht der Protagonistin leitet diese Kategorisierung. Da in der galanten Romantradition auch Texte mit männlichen Haupt- und Titelfiguren oder männlichen und weiblichen Hauptpaaren auftreten, wird dieser Begriff verwendet. So ist es möglich, das Korpus im engeren Sinne einzugrenzen und den weiblichkeitszentrierten Roman als Gattungsvariante oder Subgenre des deutschen galanten Romans zu behandeln. Männliche Hauptfiguren im galanten Roman u.a. bei Meletaon [Johann Leonhard Rost]: Der Verliebte Eremit, 1711; Talander [August Bohse]: Der Eyfersüchtige Kupler, 1697.

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1. Einleitung: Romane, die es nicht gegeben haben soll?

In der Germanistik ist das Korpus aus unterschiedlichen Gründen unbekannt. Der galante Roman zählte lange Zeit weder zum Gegenstand der Literaturwissenschaft noch konnte die galante Publizistik in ihrer Gesamtheit bisher vollständig erfasst werden. Dies hat zum Teil materielle Gründe. Von den originalen Auflagen sind heute nur noch einzelne Exemplare vorhanden, die unter den Beständen deutscher Bibliotheken ein isoliertes Dasein fristen. In jüngster Zeit entstehen Digitalisate, der Großteil der Texte ist jedoch nur in den Originalausgaben einzusehen. Ediert ist bisher kaum ein Text. Als Einzelexemplare stießen die weiblichkeits­zentrierten Romane nie auf das Interesse der Forschung, da nicht einzuschätzen war, wie umfangreich jene Textproduktion um 1700 eigentlich gewesen ist. Eine systematische Aufarbeitung des Korpus fehlt bislang. Dies hat auch literaturhistorische Gründe. Bis ins 21. Jahrhundert wurde der galante Roman marginalisiert und blieb aus den Kanones der Literaturgeschichtsschreibung ausgeschlossen. Bereits zur Entstehungszeit waren die Texte stark umstritten. Vor allem Theologen warnen vehement vor der Romanlektüre, da sie zu Wollust und Laster reize, Lügen verbreite, die Gesundheit angreife, Zeitvergeudung sei oder dem Gemeinwohl schade.3 Liebhaber hingegen preisen die Lektüre als „vergönnte Gemüts=Ergötzung“ der müßigen Nebenstunden. Einzelne sehen im Roman sogar ein Medium der nützlichen Lektüre, die der Vermehrung von Wissen diene oder gar eine höhere Weisheit enthalte. Im 18. Jahrhundert setzt schließlich eine umfassende Marginalisierung der galanten Romanproduktion ein – Gottsched polemisiert gegen die galante Dichtung,4 Gellert warnt in seinen Leipziger Poetikvorlesungen vor galanten Autoren wie Talander, Menantes, Menander und ihren Werken: „Wenn sie noch ge­lesen würden, so wäre es Pflicht, einen jeden dafür zu warnen. Aber da die Zeit an ihnen gethan hat, was manchmal der Verstand nicht thut: so wollen wir ihrer nicht gedencken“.5 Mitte des 18. Jahr-

3 Gotthard

Heidegger: Mythoscopia Romantica oder Discours von den so benanten Romans. Faksimileausgabe nach dem Originaldruck von 1698. Hg. v. Walter Ernst Schäfer. Bad Homburg 1969, hier S. 62–73; Wolfgang Martens: Hallescher Pietismus und schöne Literatur. In: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Hg. v. dems. Tübingen 1989, S. 76–181, bes. S. 87–92. 4 Zu Gottscheds Kritik an der galanter Dichtung, die selbst seine Gegner Bodmer und Breitinger teilen, Dirk Rose: Conduite und Text. Paradigmen eines galanten Literaturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold/Menantes. Berlin/Boston 2012, S. 75, 270, 336, 413–415. Zur Kritik an der galanten Poesie in den Moralischen Wochenschriften Gabriele Ball: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler. Göttingen 2000, S. 66f. In der Breslauer Anleitung zur Poesie (1725) heißt es: „Die anderen [Romane] die nichts als Liebes-Possen in sich begreiffen, dergleichen viele von Talanders, lohnen sich nicht für die Mühe, daß sie gelesen, geschweige gerühmet werden“, zit. nach Stefanie Stockhorst: Reformpoetik. Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten. Tübingen 2008, S. 293. 5 Christian Fürchtegott Gellert: Gesammelte Schriften. Bd. VII: Religiöse Selbstbekenntnisse, tägliche Aufzeichnungen, Bibliothek der schönen Wissenschaften, Dokumente zu Leben und Werk. Hg. v. Kerstin Reimann u. Sibylle Schönborn. Berlin/New York 2008, S. 239.

1. Einleitung: Romane, die es nicht gegeben haben soll?

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hunderts wird der galante Roman als moralisch anstößig und ästhetisch mangelhaft stigmatisiert, aus dem Buchhandel verdrängt und geriet lange in Vergessenheit. Als im 20. Jahrhundert einzelne galante Romane erneut Beachtung fanden, erkannte die Literaturwissenschaft der 1960er Jahre in ihnen lediglich eine „Schwundstufe“ barocker Erzählformen, die von ‚modernen‘, aufklärerischen oder verbürgerlichten Romanformen Mitte des 18.  Jahrhunderts (Schnabel, Gellert, Wieland) „überwunden“ worden sei, so die Ansicht namhafter Galanterieforscher wie Arnold Hirsch, Herbert Singer, Peter Rau u.a.6 Enttäuscht war man zum einen von der ästhetischen Qualität der Texte, die sich mit den Kategorien und Wertvorstellungen der germanistischen Literaturwissenschaft nicht in Einklang bringen ließ – Herbert Singer spricht geradezu von einer „poetologischen Anarchie“,7 die in den Texten herrsche. Zum anderen erregten moralische Aspekte Widerstand: „Die labyrinthischen Verwicklungen der erotischen Beziehungen […] sind das eigentliche Thema des galanten Romans“, urteilt Singer und konstatiert eine „moralische Indifferenz“, welche „die ethische und theologische Bedeutung der Welt und des Menschen ignoriert und sich damit begnügt, ‚unser moralisches Gefühl zu neutralisieren‘ (Schiller).“8 Neben späteren Höhenkamm-Autoren wie Wieland, Goethe, Schlegel konnten galante Romanautoren, z.B. August Bohse alias Talander (1661–1740), Christian Friedrich Hunold alias Menantes (1680–1721), Johann Leonhard Rost alias Meletaon (1688– 1727), Celander, Selamintes, Behmeno und ihre anonymen Mitstreiter das Interesse der Literaturwissenschaft nicht gewinnen. Aufgrund ästhetischer und moralischer Wertvorstellungen wurden die Texte erneut marginalisiert. Der galante Roman kam, wenn überhaupt, nur als zu vernachlässigendes Zwischenstadium in den Blick der Literaturgeschichtsschreibung, vor dessen Hintergrund sich maximal die „Geburt des modernen Romans“ erzählen ließ.9 Auch eine umfangreiche Romanbibliografie von Ernst Weber und Christine Mithal, die Anfang der 1980er Jahre deutlich machte, dass deutschsprachige Romane um 1700 viel häufiger auftreten, als zunächst vermutet, konnte dieses Urteil nicht revidieren, ebenso wenig wie Quellen­sammlungen zur Romantheorie von Eberhard Lämmert und Fitz Wahrenburg (1971), Ernst Weber (1974) oder Hartmut Steinecke (1984).10 Überspitzt formuliert etablierte sich in der

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Kritische Auseinandersetzung mit der „Schwundstufen-These“ und Forschungsüberblick der Positionen von Arnold Hirsch (1934), Herbert Singer (1961/63), Norbert Miller (1968), Hans Wagner (1969), Eckhardt Meyer-Krentler (1974) und Peter Rau (1994) bei Florian Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland. Tübingen 2007, S. 1–16, 29–34, hier S. 12. Herbert Singer: Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko. Köln 1963, S. 5. Herbert Singer: Der galante Roman. Stuttgart 1961, S. 45, 51. Kritische Einordnung bei Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 12f. Ernst Weber u. Christine Mithal (Hg.): Deutsche Originalromane zwischen 1680 und 1780. Eine Bibliographie mit Besitznachweisen. Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik. Berlin 1983; Eberhard Lämmert u. Fritz Wahrenburg (Hg.): Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland. 2 Bde., Köln 1971; Ernst Weber (Hg.): Texte zur

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1. Einleitung: Romane, die es nicht gegeben haben soll?

Germanistik eine Geschichte des deutschen Romans, die vom Mittelalter und der Frühen Neuzeit direkt ins 18. Jahrhundert springt.11 Seit einigen Jahren erfahren die Forschung zur Galanterie und damit die Zeit zwischen Spätbarock und Frühaufklärung in der interdisziplinären Literatur- und Kulturgeschichte erneut Beachtung – etwa durch die Arbeiten von Simons (2001), Borgstedt und Solbach (2001), Kraft (2004), Quester (2006), Kaminski (2006), Gelzer (2007/2008/2012), Rose (2009/2012), Stauffer (2009/2014), Losfeld (2009), Steigerwald (2009/2011), Fulda (2009), Wiggin (2011), Florack und Singer (2009/2012) u.a.12 Als historische ‚Interimphase‘, die sich den Epochenschemata von Barock und Aufklärung weitgehend entzieht, ist die Zeit um 1700 durch vielfältige Ambivalenzen gekennzeichnet, die aufgrund der Vielzahl ungesichteter Quellen erst nach und nach erschlossen werden. Die Galanterie­forschung hat sich in den letzten Jahren stark differenziert, wobei mit Blick auf den Roman zwei Tendenzen auffallen: Zum Romantheorie I (1626–1731). Mit Anmerkungen, Nachwort und Bibliographie. München 1974; Hartmut Steinecke (Hg.): Romanpoetik in Deutschland. Von Hegel bis Fontane. Tübingen 1984; Hartmut Steinecke u. Fritz Wahrenburg (Hg.): Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Stuttgart 1999. 11 Auch in neueren Gesamtdarstellungen zur Romangeschichte wird der galante Roman nur knapp zwischen Barock- und Aufklärungsroman behandelt, Volker Meid (Hg.): Geschichte des deutschsprachigen Romans. Bearbeitet v. Heinrich Detering u.a. Stuttgart 2013, S. 57‒65. 12 Isabelle Stauffer: Zwischen Frankreich und Deutschland übersetzen. Landes- und Sprachgrenzen in der galanten Literatur. In: Die Erschließung des Raumes. Konstruktion, Imagination und Darstellung von Räumen und Grenzen im Barockzeitalter. Bd. 2. Hg. v. Karin Friedrich. Wiesbaden 2014, S. 781‒798; Ruth Florack u. Rüdiger Singer (Hg.): Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit. Berlin/Boston 2012; Dirk Rose: Conduite und Text. Paradigmen eines galanten Literaturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold (Menantes), Berlin/Boston 2012; Jörn Steigerwald: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650–1710). Heidelberg 2011; Bethany Wiggin: Novel Translations. The European Novel and the German Book 1680‒1730. New York 2011; Daniel Fulda (Hg.): Galanterie und Frühaufklärung. Halle a.S. 2009; Ruth Florack u. Rüdiger Singer: Politesse, Politik und Galanterie. Zum Verhältnis von Verhaltenslehre und galantem Roman um 1700. In: Konjunkturen der Höflichkeit in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Gisela Engel. Frankfurt a.M. 2009, S. 300–321; Dirk Rose: Galanter Roman und klassische Tragödie. Hunolds ‚Europäische Höfe‘ und Schillers ‚Prinzessin von Zelle‘ im gattungsgeschichtlichen Kontext. In: Aufklärung und Weimarer Klassik im Dialog. Hg. v. André Rudolph u. Manfred Beetz. Tübingen 2009, S. 1–28; Isabelle Stauffer: Verführende SchriftKörper? Liebe, Eckel und Tod bei Christian Friedrich Hunold. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1 (2009), S. 128–144; Florian Gelzer: Konversation und Geselligkeit im ‚galanten Diskurs‘ (1680–1730). In: Konversationskultur in der Vormoderne. Geschlechter im geselligen Gespräch. Hg. v. Rüdiger Schnell. Köln 2008, S. 473‒524; Yong-Mi Quester: Frivoler Import. Die Rezeption freizügiger französischer Romane in Deutschland (1730 bis 1800). Tübingen 2006; Stefan Kraft: Geschlossenheit und Offenheit der ‚Römischen Octavia‘ von Herzog Anton Ulrich, ‚der roman macht ahn die ewigkeit gedencken, den er nimbt kein endt‘. Würzburg 2004; Thomas Borgstedt u. Andreas Solbach (Hg): Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle. Dresden 2001; Olaf Simons: Marteaus Europa oder der Roman, bevor er Literatur wurde. Eine Untersuchung des deutschen und englischen Buchangebots der Jahre 1710 bis 1720. Amsterdam 2001.

1. Einleitung: Romane, die es nicht gegeben haben soll?

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einen wird der galante Roman als kulturhistorische Quelle genutzt, um über den literarischen Text soziokulturelle Konzepte, Praktiken, Verhaltens- und Kommunikationsformen zu untersuchen. Zum anderen ist er aber auch eine literarische Textform, die im Kontext von Rhetorik, Sprachpflege und Poesie zu verorten ist. Wie dieses Verhältnis zu beschreiben sei, bietet bis heute enormen Diskussionsbedarf. Ein kurzer Überblick zum Forschungsstand fasst die grundsätzlichen Positionen zusammen, die an entsprechender Stelle der Arbeit detailliert besprochen werden. Dem buchhandelshistorischen Umfeld des galanten Romans widmet sich Olaf Simons und verortet die galante Publizistik im Rahmen europaweiter Buchhandels­ netze. Florian Gelzer, Ruth Florack, Rüdiger Singer, Jörn Steigerwald und Christophe Losfeld untersuchen das Verhältnis des galanten Romans zur Verhaltens- und Konversationskultur. Hier treten vor allem transnationale Rezeptionsprozesse in den Blick, die den Einfluss Frankreichs auf die galante Entwicklung in Deutschland deutlich machen. Die Galanteriebewegung ist als gesamteuropäisches Mode- und Kulturphänomen zu begreifen, das unter anderem in einer spezifischen Text- und Literaturproduktion europaweit Spuren hinterlassen hat (soweit bisher ersichtlich vor allem in Frankreich, Deutschland, England). Zuletzt hat Dirk Rose die Bedeutung der galanten Textproduktion für die Ausprägung einer galanten Conduite, d.h. für galante Kommunikations- und Interaktionsformen, herausgestellt. Der galante Text (auch der Roman) zeichne sich, so Rose, sowohl durch eine „Modell-“ als auch eine „Modellierungsfunktion für eine galante Conduite“ aus, d.h. der Text gelte als „Ausgangs- und Orientierungspunkt“ für galantes Verhalten und Kommunizieren und für die Generierung von galanten Verhaltens- und Kommunikationsformen in „spezifischer Differenz“ zum unterstellten Modell.13 Diese Beobachtung ist besonders für gender- und gattungsspezifische Fragestellungen interessant und wird in Kapitel 2.2.2 ausführlicher diskutiert. Als kulturhistorische Quelle konnte der Forschungsgegenstand rehabilitiert werden, doch ist die ästhetische Bewertung des galanten Romans weiterhin umstritten. In der Galanterie­forschung dominiert bis heute ein Interesse an den soziokulturellen Implikationen der galanten Romantradition. Allein Florian Gelzer hat die Entwicklung einer Roman­typologie unter ästhetischen Gesichtspunkten angeregt, doch distanzierte er sich wieder davon.14 Nachträglich reflektiert er damit die Problematik, dass der galante Roman nicht ohne Weiteres in bekannte Gattungstypologien einzuordnen ist, weil er unter­schiedliche Gattungstraditionen aufnimmt und sie modifiziert. Ähnliches legen auch die romantheoretischen Arbeiten von Voßkamp, Lämmert, Weber und Steinecke nahe, da der Roman bis zum 18. Jahrhundert nicht zum Gegenstand systematischer Romantheorien wird. Sie zeigen jedoch, dass sich 13 14

Rose: Conduite und Text, S. 9‒13, 167‒170. Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 258–260 (galante Romantypologie); Ders.: Thesen zum galanten Roman. In: Florack u. Singer: Die Kunst der Galanterie, S.  377–392 (Relativierung).

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gattungsrelevante Reflexionen im Roman selbst und seinen Paratexten finden lassen, d.h. ein gattungsrelevanter Diskurs findet textimmanent innerhalb der Romane statt.15 Die vorliegende Studie ist diesem Hinweis nachgegangen und schlägt vor, den galanten Roman aus einer historisch-prozessualen Gattungs­perspektive zu untersuchen, die nach Dynamiken und Transformationen im Rahmen der Gattungspraxis fragt (Kapitel 2.1). Da der Paratext eine wichtige Quelle für die rekonstruierende Analyse ist, denn er gibt z.B. Hinweise zu Publikationsbedingungen, zum Text- und Romanverständnis galanter Autoren, zu Konzepten (männlicher) Autorschaft und zu den antizipierten Leserkreisen, wird das Verhältnis von Text und Paratext theoretisch genauer bestimmt (Kapitel 2.2). Der Gender- und Weiblichkeitsaspekt wird in der Galanterieforschung immer wieder betont, ohne bisher zum Gegenstand einer systematischen Untersuchung gemacht worden zu sein.16 Vor allem im Zusammenhang mit der Rezeption der preziösen Romantradition Frankreichs (Scudéry, La Fayette) sind Genderaspekte evident. Gelzer stellt fest, dass in der preziösen Salonkultur die Frau als „zivilisatorische Instanz und Kraft“ stilisiert wird, die maßgeblich „Ton, Regeln und Grenzen der Konversation bestimmt“ und zentraler Mittelpunkt preziöser Konversations- und Verhaltensmodelle ist.17 Französische Autorinnen des 17. Jahrhunderts nutzen den Roman, um preziöse Kommunikations-, Liebes- und Geschlechtermodelle zu entwerfen, die die Stellung der Frau enorm stärken.18 Wie dieser geschlechterspezifische Aspekt in Deutschland rezipiert wurde, ob und gegebenenfalls wie er die deutsche Gattungsentwicklung beeinflusst hat, blieb in Gelzers Studie ausgespart. Gelzer widmet sich vor allem moralphilosophischen Modifikationen preziöser Verhaltens- und Kommunikationsmodelle im deutschen Kontext, ohne dem Gender­aspekt eigens Rechnung zu tragen. Auch Steigerwald betont, dass im Zentrum der galanten Ethik eine Liebesethik stehe, in der „eine umfassende Neuordnung der Geschlechterbeziehungen vorgenommen wird“,19 wobei es ihm weniger um Konzepte von Weiblichkeit geht, als vielmehr um Soziabilitäts­konzepte im Allgemeinen und um ständische Einflüsse der höfischen Kultur, denn die Galanterie entfaltet sich in Frankreich in einem hö-

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Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg. Stuttgart 1973, S. 53; Weber: Texte zur Romantheorie I, S. 612. Zuletzt explizit im Sammelband von Florack u. Singer: Die Kunst der Galanterie (2012), v.a. in den Beiträgen von Alain Montandon, Caroline Emmelius, Jörn Steigerwald, Isabelle Stauffer. Gleichwohl sehen die Herausgeber diesbezüglich weiterhin ein „dringendes Desiderat der Forschung“ (S. 14). Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 40, 45; ähnlich S. 43, 49f., 88.; Ders.: Konversation und Geselligkeit, S. 483, 501, 506; ähnlich Jörn Steigerwald: Fabrikation einer natürlichen Ethik, S. 75, Anm. 121. Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 60f.; Jörn Steigerwald: Galanterie als Kristallisations- und Kreuzungspunkt um 1700. Eine Problemskizze. In: Galanterie und Frühaufklärung. Hg. v. Daniel Fulda. Halle a.S. 2009, S. 51–79, hier S. 67. Ebd., S. 66.

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fisch-aristokratischen Milieu. Auch der Sammelband von Florack und Singer Die Kunst der Galanterie fokussiert auf die Adaption französischer Geselligkeitskonzepte und legt zugleich literarische Traditionslinien offen, die bis zur Minnedichtung des Mittelalters und in die italienische Renaissance reichen.20 Der Beitrag von Isabelle Stauffer in diesem Band zeigt eindrücklich die Vermittlungsfunktion, die der preziöse Roman und seine deutschsprachigen Übersetzungen für die Rezeption der französischen Galanterie in Deutschland übernehmen.21 In adlig-höfischen Kreisen (Catharina Regina von Greiffenberg und Sigmund von Birken) wird schon um 1670 eine genderspezifische Kommunikation adaptiert, die Scudérys Roman Clélie und die Carte de Tendre prägt, und die im deutschen Raum in freier Nachahmung aufgenommen wird. Die Rezeption und Übersetzungstätigkeit regt eine produktive, auch variierende Aneignung der preziösen Liebeskommunikation an, denn Birken und Greiffenberg modifizieren literarische Motive und Plots, sie wandeln sie um und passen sie dem eigenen soziokulturellen Kommunikationskontext an. Für die vorliegende Studie ist daher von besonderem Interesse, wie sich Adaption und Modifikation preziöser (Roman-)Vorbilder und geschlechterspezifischer Strukturen des Textes durch weitere Akteure des literarischen Feldes gestalten, insbesondere bei jungen Akademikern des Bürgertums. Bisher existieren kaum Untersuchungen, die Aufschluss geben, wie Frauenfiguren im galanten Roman konkret gestaltet werden und wie die Kategorie Geschlecht die Textgestaltung prägt. Auf einer begrenzten Materialbasis widmete sich Stauffer dem weiblichen Figurenpersonal und Körpernarrativen in Hunolds Die Verliebte und galante Welt (1700) und im Satyrischen Roman (1706).22 Vor dem Hintergrund einer „Theorie der Verführung“23 zeigt sie, dass über weibliche Figuren positive wie negative, verführende oder abstoßende „Illusionen von Körperlichkeit“24 inszeniert werden, die es einerseits erlauben, eine affirmative Rezeptionshaltung zwischen Text und Leserschaft zu kreieren bzw. andererseits ein galantes Verhaltensideal konturieren, indem Abgrenzungen „zwischen ‚wahrer‘ und ‚falscher‘ Galanterie“25 inszeniert werden. Stauffers Beitrag macht deutlich, dass sich mit der Kategorie Geschlecht unterschiedliche Funktionen verbinden können; Geschlecht wird auf verschiedenen Ebenen und im Hinblick auf disparate Aspekte wirksam (Poetik, Verhaltenslehre, Körperkonzeptionen). Da sich Stauffers Aufsatz auf weibliche Nebenfiguren konzentriert, stellt sich die Frage, wie weibliche Hauptfiguren im galanten Roman nar20

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Florack u. Singer (Hg.): Die Kunst der Galanterie, v.a. der Beitrag von Hartmut Bleumer: Ritual, Fiktion und ästhetische Erfahrung. Wandlungen des höfischen Diskurses zwischen Roman und Minnesang. In: Ebd., S. 51‒92. Isabelle Stauffer: Die Scudéry-Rezeption im Pegnesischen Blumenorden. Galanterietransfer aus genderkritischer Perspektive. In: Florack u. Singer: Die Kunst der Galanterie, S. 251–273. Stauffer: Verführende SchriftKörper, S. 128–144. Ebd., S. 128, 130f. Ebd., S. 135. Ebd., S. 140.

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rativiert werden (denn als Hauptfigur richtet sich auf sie die Aufmerksamkeit der Leserschaft), welche Funktionen sich mit der weiblichen Figurenkonzeption verbinden können und auf welchen textuellen, paratextuellen und extratextuellen (textexternen) Ebenen die Kategorie Geschlecht wirksam wird. Rose vermerkt hier noch ein Desiderat, wenn er feststellt: „Über die Ursachen für die Betonung der konstitutiven Rolle des weiblichen Parts für ein galantes Modell herrscht noch immer zu wenig Klarheit.“26 Das Forschungsinteresse der vorliegenden Studie richtet sich daher auf das Verhältnis von Gattung und Geschlecht im galanten Roman um 1700, d.h. untersucht werden Dynamiken der literarischen Gattungsentwicklung im Wechselspiel mit geschlechterspezifischen Repräsentationen und Implikationen der Texte. Im Anschluss an die literaturwissenschaftliche Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, die (sozialhistorische) Frauen- und Geschlechterforschung und die historische Buchhandelsgeschichte sollen diese Interdependenzen erschlossen werden. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive interessiert zunächst, welche narrativen Konstruktionen von Weiblichkeit die Texte überhaupt anbieten. Um die Quellen zu erschließen, werden einzelne Romane einer exemplarischen Erzähltextanalyse unterzogen, die Zentrum und Abschluss der Studie bildet (Kapitel 4). Untersucht werden narrative Darstellungsformen, Argumentations- und Erzählstrategien sowie Funktionspotentiale, die sich mit der weiblichen Hauptfigur verbinden. Da die Figuren- und Konfliktgestaltung im galanten Roman komplex und widersprüchlich ausfallen kann, interessieren Erzählerkommentare, Formen der Leserlenkung und paratextuelle Hinweise, durch die sich, abstrahierend von den einzelnen Handlungssequenzen, eine allgemeinere Perspektive auf die Protagonistin eröffnet. Diese umfassende Perspektivierung soll als ‚Weiblichkeitsnarrativ‘ beschrieben werden (Kapitel 2.2.2). Um zu vermeiden, dass historische Weiblichkeitsstereotype und Genderkonzepte auf das Korpus übertragen werden – etwa die Gelehrte, die Empfindsame (Bovenschen), Hure, Heilige (Davis), Femme fatale, Femme fragile (Catani), HausfrauMutter-Gattin (Kittler), Prophetin oder Hysterika (Dohm) –, konzentriert sich die Analyse auf die narrativen Textstrukturen. Dabei soll die Kategorie Geschlecht (sex und gender, biologisches und soziokulturelles Geschlecht) als relationale Kategorie begriffen werden, die im Verhältnis zu weiteren Analysekategorien untersucht wird, wie dies die Intersektionalitätsforschung vorschlägt (Kapitel 2.2). Übertragen auf den Roman bedeutet dies, dass die Protagonistin bzw. die weibliche Figurenkonzeption in Interferenz mit raumzeitlichen, interaktionalen und standesspezifischen Strukturen der Erzählung (Körper, Raum, Stand) in den Blick tritt. Von Interesse sind erzählerische Formen und Strategien, die das Figurenhandeln im Umgang mit dem eigenen und fremden Körper, den Zugang zu bzw. den Ausschluss aus räumlichen Sphären sowie den Umgang mit Standesnormen und Standes­konventionen

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Rose: Conduite und Text, S. 66.

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strukturieren, so dass über das Figurenhandeln spezifische Aktions- und Restriktionsmomente zum Ausdruck kommen. So können narrative Konstruktionsprinzipien und diskursive Repräsentationsformen erschlossen werden, die das Weiblichkeitsnarrativ textstrukturell prägen. Darüber hinaus untersuche ich Textstrategien, womit Optionen der Referentialisierbarkeit zwischen Text und extratextuellen Kontexten konstruiert bzw. in den Text implementiert werden, denn erst dadurch werden Referentialisierungen zwischen Text und Kontexten möglich. Für die genderorientierte Fragestellung der vorliegenden Studie ist die Tatsache ent­scheidend, dass das Korpus von jungen Männern verfasst wurde  –  die untersuchten Texte stammen ausschließlich aus der Feder junger Akademiker und Studenten. Der weiblichkeitszentrierte Roman vermittelt ein spezifisches Sprechen (junger) Männer über Frauen und generiert männliche Weiblichkeitsnarrative. Auch das publizis­tische Umfeld ist durch männliche Akteure bestimmt. Der weiblichkeitszentrierte Roman findet seine Förderer und Vermittler in Verlegern, Buchführern und Zwischenhändlern des männlich dominierten Buchhandels um 1700. Männer müssen auch als Leser galanter (Liebes-)Romane angenommen werden, die ebenso wie Frauen zum Publikum der Texte zählen. Trotzdem oder gerade deswegen – eine Frage, die noch zu klären ist – entfalten die vorgestellten Romane ein überraschend breites Spektrum an Deutungsmöglichkeiten von Weiblichkeit. Die Romane erzählen von jungen Protagonistinnen, die als Abenteurerinnen oder (Vergnügungs-)Reisende ihre Heimat verlassen und die Welt erkunden. Unabhängig von männlichen Vormündern genießen sie freien Zugang zu territorialen und sozialen Sphären außerhalb des engeren Familienkreises. Selbstständig wählen sie Reiserouten und bestimmen die Dauer ihrer Aufenthalte. Dabei wechseln sie, wenn es die Situation erfordert oder es ihnen günstig erscheint, ins männliche Geschlecht. Kühn und im eigenen Sinne kalkulierend, nehmen sie die Vorteile männlicher und weiblicher Geschlechterrollen in Anspruch. Auch erotische Freiheiten stehen den Protagonistinnen unabhängig von einer Eheschließung offen. Zudem streiten sie für eine freie Liebeswahl und sind nicht bereit, sich ständischen Heiratskonventionen zu beugen. Um die persönliche Liebeswahl zu verteidigen, verweigern sie bewusst den Gehorsam gegenüber dem Vater oder den Eltern. Damit ignorieren sie patriarchale Familien- und Autoritätsstrukturen sowie ständische Heiratskonventionen. Bei aller Provokation werden die Protagonistinnen durchgängig als positive Identifikationsfiguren gestaltet. Es handelt sich nicht um Spott- oder Satiredarstellungen von Weiblichkeit, wie sie aus der Tradition früh­neuzeitlicher Tugend- und Laster-Schriften bekannt sind und dort der Frauenschelte dienen. Es drängt sich daher die Frage auf, warum gerade im männlich dominierten Milieu des Buchhandels Tendenzen der Publizistik entstehen, die einen so unkonventionellen Umgang mit Fiktionen des Weiblichen anregen, dass die Texte potentiell Autonomie-Impulse für das weibliche Geschlecht setzen. Um diese Frage zu beantworten, muss der Analyse- und Interpretationsrahmen erweitert werden. Aus einer rein textimmanenten Perspektive lassen sich die ga-

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lanten Weiblichkeits­narrative nicht hinreichend erklären. Grundsätzliche Fragen zur Produktion, Distribution und Rezeption der galanten Publizistik sind einzubeziehen. Unter welchen medialen, sozialen und poetischen Bedingungen entfaltet sich ein galantes Erzählen über Geschlecht und wie wird die Romanpraxis dadurch beeinflusst? Sozial- und kulturhistorische Einordnungen ergänzen daher die Textanalysen (Kapitel 3). Die Paratexte erweisen sich auch hier als reiche Quelle, um weiterführende Hinweise zur Verortung der Romane im sozioökonomischen und poetischen Kontext zu rekonstruieren. Zu­nächst werden Strukturen und Bedingungen der Buch- und Verlags­landschaft um 1700 vorgestellt, die das Umfeld des Romans und seine Stellung im expandierenden Buchhandel betreffen (Kapitel 3.1). Die Arbeit konzentriert sich auf den sächsischen Raum und Leipzig als ein Zentrum galanter Romanproduktion. Weitreichende Strukturen einer Raubdruckökonomie, eines (illegitimen) Kolportage- und Hausierhandels sowie anonyme und pseudonyme Publikationsformen prägen um 1700 den Buchhandel. Aufstrebende Verlage und Kleinunternehmen des nord- und mitteldeutschen Raums entdecken in der Publikation populär-deutschsprachiger Schriften ein ausbaufähiges Geschäftsfeld. Die Studie fragt nach ökonomischen und sozialen Strukturen sowie (illegitimen) Praktiken des Romanmarktes (Umgang mit Raub- und Nachdrucken, Autor-Verleger-Beziehungen, Druckkosten). Desweiteren sind poetische Kontexte und literarische Moden bedeutsam, auf die Verleger, Autoren und Leserschaft reagieren. Durch die preziöse Romantradition französischer Autorinnen wie Madeleine de Scudéry (1607–1702), Marie-Madeleine de La Fayette (1634–1693), Marie de Rabutin-Chantal alias Marquise de Sevigné (1626–1696), Marie-Catherine d’Aulnoy (1650/51–1705) u.a. sind Romane bereits seit der Mitte des 17.  Jahrhunderts europaweit bekannt. Preziöse Romane gelten bei deutschen Lesern und Leserinnen als beliebte Mode­lektüre und kursieren im deutschen Raum in Original und Übersetzungen. Für Verleger scheint es daher aussichtsreich, auch Romane deutscher Autoren zu publizieren, Roman­adaptionen in Auftrag zu geben, ebenso wie Autoren mit eigenen Schriften an die franzö­sische Mode anschließen. Für die vorliegende Studie ist von besonderem Interesse, welches Liebes- und Geschlechtermodell sich mit dem preziösen Roman Scudérys verbindet, der lange Zeit als stilprägend für die deutsche Gattungsentwicklung gilt. Die Textanalysen in Kapitel 4 rekonstruieren exemplarisch, wie ein preziöses Liebes- und Geschlechtermodell im galanten Roman adaptiert und modifiziert wird und welche Effekte daraus für galante Weiblichkeitsnarrative entstehen. Im Gegensatz zu Frankreich findet der galante Roman im deutschen Raum seine Urheber nicht im gehoben-aristokratischen Milieu adliger Frauen, sondern im studentisch-akademischen Umfeld junger Akademiker. Die Gattungsentwicklung in Deutschland wird entscheidend durch junge Männer geprägt, die während oder nach ihrer Studienzeit Romane verfassen. Sozialhistorische Kontexte einer jungen Akademikerschicht werden somit ebenfalls relevant (Kapitel 3.2). Galante Autoren wie Bohse, Hunold, Rost, Celander, Selamintes, Behmeno u.a. nutzen die Paratexte des

1. Einleitung: Romane, die es nicht gegeben haben soll?

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Romans, um sich im Schutz des Pseudonyms als studentische Autoren zu stilisieren und diese Selbstdarstellungen dem Publikum zu unterbreiten. Die Paratexte geben auch hier Hinweise zum sozialen Umfeld, zu poetischen Präferenzen der Produzenten und zum dichter­ischen Selbstverständnis. Zunehmend geraten auch Frauen in das Blickfeld von Autoren und Verlegern und sollen für die Romanlektüre gewonnen werden (Kapitel 3.3). Anhand des Textkorpus lassen sich textuelle und paratextuelle Leserinnenkonstruktionen aufzeigen, durch die Frauen (als antizipierte Leserinnen) zur Lektüre aufgefordert werden, so dass sich vermuten lässt, dass gerade der weiblichkeitszentrierte Roman auf die Erschließung weiblicher Leserkreise zielt. Obwohl in der Forschung angenommen wird, dass Frauen um 1700 eine prozentual unterrepräsentierte Lesergruppe sind, weisen die Texte explizite Referenzen zu Frauen auf (‚Imago der Leserin‘), die einer Integration von Frauen in den Romanmarkt potentiell zuarbeiten. Allerdings wird den weiblichen Lesern (auch in der Rolle als ‚nur‘ antizipierte Rezipientinnen) eine Lektüre unterbreitet, die sich bisher an junge Männer richtete, von jungen Männern gelesen und verfasst wird. Vorgestellt werden Argumentationen, mit denen galante Autoren versuchen, Liebe und Laster als angemessene Themen einer weiblichen Lektüre zu legitimieren („Vergnügen am Laster“). Ebenso ist danach zu fragen, wie solche Leserinnenkonzepte im diachronen Verlauf bewertet werden, denn zunehmend befürchten galante Autoren in den eigenen Texten eine sittliche Gefahr für das weibliche Geschlecht. Eine nachträgliche geschlechterspezifische Reformierung des Romans scheint sich aus der Auseinandersetzung junger Autoren mit dem eigenen Schreiben zu ergeben. Es soll daher erneut nach poetischen Aspekten gefragt werden, insbesondere nach Hinweisen zum allgemeineren Dichtungsverständnis junger Autoren, zu Konzepten von Poesie27 und (männlicher) Autorschaft (Kapitel 3.4). Junge Autoren nutzen den Roman und seine Paratexte, um die Romanpraxis gattungsimmanent zu reflektieren. Die Gattungspraxis intensiviert ein Nachdenken über das eigene Schreiben, das im Prozess des Schreibens bzw. in Folge sukzessiver Publikationen reflektiert wird. Fragen zu (männlichen) Autorschaftsmodellen, das Verhältnis zur poetischen Tradition und die Auslegung poetologischer Konzepte im aktuellen Kontext werden anhand von Bohse/Talanders Poesie zwischen Scherz und Ernst (1692), Hunold/Menantes Satyrischer Schreibart (1706) und Selamintes Ingenium der Wollust (1711) diskutiert. Im Zentrum der Arbeit steht die Frage nach Wechselwirkungen und Interdependenzen von gattungs- und genderrelevanten Aspekten. In welcher Weise beeinflussen Gattungs­formen und Gattungsreflexionen die Konstruktion galanter Weiblich27

Da galante Autoren ihr Schreiben explizit im Bereich der „Poesie“ verorten – im 17. und 18. Jahrhundert eigentlich die Be­zeich­nung für anspruchsvolle Vers­- und nicht Prosadichtung  –  wird auch in der vorliegenden Studie, soweit nicht anders notwendig, der Begriff des Poetischen, der poetischen Praxis usw. verwendet; hierzu Simons: Marteaus Europa, S. 115‒132.

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1. Einleitung: Romane, die es nicht gegeben haben soll?

keits- und Gender­narrative? Und umgekehrt: Welche Effekte verbinden sich mit der Thematisierung weiblicher Hauptfiguren und weiblichkeitszentrierter Plotstrukturen für den Umgang mit der Gattung? Prägen Gattungsformen die Inszenierung von Geschlecht im Roman oder regt vielmehr die Thematisierung von Geschlecht gattungsspezifische Formalisierungen an? Die vorliegende Arbeit verfolgt die These, dass die Spezifik und Ambiguität galanter Weiblichkeitsnarrative aus der Dynamik eines offenen Gattungsprozesses zu erklären sei, der sich als komplexes Zusammenspiel von gattungs- und genderspezifischen, poetischen, sozialen und medialen Aspekten beschreiben lässt. Die galanten Weiblichkeitsnarrative sind einerseits Resultat, andererseits Movens einer poetischen Praxis, deren Dynamik im medialen, sozialen und poetischen Kontext genauer zu erfassen ist. Die weibliche Hauptfigur ist in diesem Zusammen­hang einerseits poetisches Form- und Funktionselement des Textes, sie ist Teil des Figurenpersonals, über das die Geschichte erzählt wird (Funktion der Protagonistin als formaler Handlungsträger der Narration). Andererseits ist sie aber auch Trägerin der sozialen Kategorie Geschlecht, die nicht nur das Figurengeschlecht markiert, sondern auch extratextuelle Lebenswelten strukturiert und daher eine spezifische Refentialität zu soziokulturellen Genderordnungen suggeriert (soziokulturelle Implikationen als geschlechtsspezifisch markierte Figur). Diese Doppelstruktur birgt ein Komplikationspotential eigener Art, das diskutiert werden soll. Aus dem Gesamtkorpus habe ich exemplarisch sechs Romane aus dem Zeitraum zwischen 1694 und 1715 ausgewählt. Ergänzend beziehe ich weitere Romane und Schriften in die Untersuchung ein, die aus dem Umfeld der Romane stammen und die Textproduktion im weiteren Sinne erhellen. Die Wahl der Primärtexte folgte thematischen Überlegungen  –  vorgestellt werden galante Romane mit weiblichen Hauptfiguren, deren Konfliktgestaltung maßgeblich durch die Motive Körper, Raum oder sozialer Stand geprägt ist. Diachron (im zeitlichen Kontrast der Texte untereinander) und synchron (in Bezug auf dasselbe Motiv) lassen sich auf diese Weise semantische und erzählformale Variationen galanter Weiblichkeits­narrative darstellen. Das folgende Kapitel erläutert nun einige theoretische Vorüberlegungen, die für die Untersuchung relevant sind.

2. Theoretische Überlegungen: Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

2.1 Gattungsproblematik und Gattungsdynamik Das Konzept der Gattung stellt neben dem Begriff der Epoche ein zentrales Strukturierungsprinzip der Literaturwissenschaften dar. Immer wieder wird die „Gattungsgebundenheit literarischer Formen und Inhalte betont“, so dass Gattungen auch „als Selektionen aus einem Repertoire literarischer Möglichkeiten (Wilhelm Voßkamp)“ beschreibbar sind.1 Rezeption wie Produktion bewegen sich im Rahmen übergeordneter Gattungskonzepte und eines Gattungswissens, das implizit den „Erwartungshorizont“ von Lesern und Autoren prägt.2 Für die Produktionsseite bedeutet dies, dass mit der Wahl einer Gattung bestimmte formale und inhaltliche Kriterien selektiert und favorisiert werden, wodurch die Bandbreite dessen, wie Stoffe und Motive formalästhetisch umzusetzen seien, zu einem gewissen Grad konventionalisiert erscheint; Romane und Erzähltexte folgen einer anderen Ästhetik als Lyrik oder Dramatik. Auch wenn seit der Moderne gerade der Roman als vergleichsweise ‚offene‘ Ausdrucksform gilt, die für Form- und Inhaltsexperimente geradezu prädestiniert scheint, ist die narrative Textform durch bestimmte formale Bedingungen geprägt (Kapitel 2.1). Gleichwohl zeigt der Blick in die Literaturgeschichte, dass Gattungen keine unveränderlichen, ahistorischen Größen sind. Während Gattungsbegriffe und theoretische Gattungskonzepte vergleichsweise stabile „Ordnungskonstrukte zur (wissenschaftlichen) Verständigung“ darstellen, die auf eine „Zusammenfassung aller Fälle durch den Begriff [zielen], gleichgültig, wann und wo und wie diese Fälle ‚in der Zeit‘ als geschichtsbildende und geschichtsbeein­flusste Textereignisse auftauchen“, erweisen sich einzelne Gattungsexemplare als die „besondere und sich von anderen besonderen Fällen der Gattung unterscheidende Erfüllung der statischen, allgemeinen Gattung“, als eine Art „Auftauchen eines konkreten Falls einer Gattung in der Zeit“.3 Kurz: „Gattungsbegriffe homogenisieren, während die [Gattungs-]Geschich-

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Marion Gymnich u. Birgit Neumann: Vorschläge für eine Relationierung verschiedener Aspekte und Dimensionen des Gattungskonzepts: Der Kompaktbegriff Gattung. In: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Hg. v. Marion Gymnich, Birgit Neumann u. Ansgar Nünning. Trier 2007, S. 31–52, hier S. 31. 2 Gymnich u. Neumann: Kompaktbegriff Gattung, S. 32. 3 Rüdiger Zymner: Gattungstheorie, Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn 2003, S. 191.

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

te gerade das bunte Allerlei, die Heterogenität ‚produziert‘ oder erkennen läßt.“4 Thomas Borgstedt fasst das Verhältnis von Gattungstheorie und Gattungspraxis mit den Worten zusammen: Wir haben es einerseits mit bestimmten Gattungsvorstellungen zu tun, die man als systematische Gattungsmodelle beschreiben kann, und andererseits mit Gattungsexemplaren, die bestimmten Gattungen explizit oder implizit und auch mehr oder weniger eindeutig zugeordnet werden. […] [E]inerseits zielen Gattungsmodelle beschreibend auf alle bislang anerkannten Gattungsexemplare, andererseits orientieren sich neue Gattungsexemplare […] am Modell der Gattung, seiner expliziten Poetik, vor allem aber an ihren bislang bekannten Exemplaren.5

Häufig wird, so Borgstedt, „diese Beziehung als eine von Regel und Erfüllung gedacht. Dabei wird jedes neue Gattungsexemplar als Konkretation des Modells gefasst, durch das die Gattung eigentlich repräsentiert wird.“6 Um so gesehen überhaupt von einer Gattung sprechen zu können, sind vorbildhafte Texte notwendig, die als Konkretation des Modells aufzufassen sind und eine Kodifizierung erlauben, insofern sie Theoriebildungen anregen, die ihrerseits die Gattungspraxis beeinflussen: „Die Theorien der Gattung liefern nicht nur die verzerrten Bilder ihrer Gegenstände, sie generieren solche Gegenstände auch selbst, indem sich die Textproduzenten nicht nur an den vorliegenden Texten, sondern auch an den Metatexten der Poetik orientieren.“7 Fraglich ist allerdings, ob sich „Gattungspflege tatsächlich generell in der Form einer normierenden Poetik vollzieht“.8 Borgstedt schlägt vor, den Blick auf die Historizität von Gattungen und auf Gattungsdynamiken zu richten, um sie „in Form einer sozialen und kulturellen Praxis, die auf offenere Weise beschrieben werden muss“, zu untersuchen.9 Die Übertragung des Gattungsbegriffs auf den galanten Roman scheint problematisch, da es sich um eine Kategorie der modernen Literaturwissenschaft handelt, die im galanten Romankontext nicht gebraucht wird. Galante Autoren sprechen von ihren Texten als Romain, Romans, Liebes=Historien, Liebes=Bücher, Liebes=und=Staatsgeschichten oder Liebes=und=Helden=Gedicht.10 Wenn sie über die Gesamtheit der Romanproduktion nach­denken, so benutzen sie die Begriffe Classen oder Gruppen; der Begriff Gattung wird sowohl für Romantexte als auch Autoren verwendet, allerdings erst nach 1710 und dann nicht konsistent (Kapitel 3.4.1.4). Eine verbindliche Terminologie existiert um 1700 nicht. Ähnlich schwie­ rig gestaltet sich die Frage nach Gattungsexemplaren, an denen sich die poetische

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Ebd., S. 191f. Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Tübingen 2009, S. 113. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 112. 8 Ebd., S. 113. 9 Ebd. 10 Weber: Texte zur Romantheorie I, S. 82, 92, 148f., 262, 377. 5

2.1 Gattungsproblematik und Gattungsdynamik

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Produktion orientiert. Deutsch­sprachige Romane sind seit dem Mittelalter und Barock bekannt; ein be­grenzter Leserkreis kennt neben antiken und fremdsprachigen Romanen mittelalterliche Ritter- und höfisch-historische Barockromane, pikareske Schelmen- oder Schäferromane (letztere in Versform).11 Allerdings blenden galante Autoren diese Traditionen des deutschen Romans weitgehend aus. Obwohl die Texte zur Verfügung stehen, scheinen sie für galante Autoren nicht attraktiv gewesen zu sein. Sie beziehen sich stattdessen auf ausländische Romanmoden, insbesondere die preziöse Romantradition Frankreichs, und auf andere Traditions- und Gattungszusammenhänge der deutschen Poesie (Kapitel 3.4). Nicht zuletzt fehlen um 1700 auch romantheoretische Schriften, wodurch der Roman, so Hartmut Steinecke, „lange Zeit als traditionslos, damit als Gattung der Willkür ohne Regeln und Form“ gilt.12 Erst im 18. Jahrhundert, als die Romanproduktion signifikant steigt, wird der Roman poetologisch so weit aufgewertet, dass er als Gegenstand eigenständiger Romantheorien Interesse findet (Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, 1774).13 Derart entsteht um 1700 eine gattungs­historische Situation, in der der Roman als Textform zwar bedient wird, aber keine Kodifizierung in Romantheorien oder Poetiken erfährt. Text- und Quellensammlungen von Eberhard Lämmert, Ernst Weber, Hartmut Steinecke sowie Studien von Wilhelm Voßkamp und Stefanie Stockhorst zeigen jedoch, dass sich gattungsimmanent, d.h. im Roman selbst, Auseinandersetzungen finden lassen, die als theoretisierende Gattungsreflexionen gewertet werden können.14 Während einzelne kanonisierte Autoren und deren Werke in den Blick kamen (etwa Bucholtz, Grimmelshausen, Birke, Weise), zeigt die vorliegende Studie, dass sich auch nicht kanonisierte Autoren wie Bohse, Hunold, Rost, Selamintes,

11 Zesen:

Adiatische Rosemunde (1645), Bucholtz: Herkules und Valiska (1659f.), Ders.: Herkuliskus und Herkuladisla (1665), Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch (1668f.), Anton Ulrich: Aramena (1669ff.), Stockfleth: Macarie (1669ff.), Zesen: Assenat (1670), Anton Ulrich: Römische Octavia (1677ff.), Happel: Der Insulanische Mandorell (1682), Lohenstein: Arminius (1689f.) u.a. 12 Steinecke: Romantheorie, S. 15. 13 Ebd., S. 14. 14 „Verfahren der Poetik, eine Gattung literatursystematisch zu erfassen“, übernehmen im 17. Jahrhundert vor allem Romanvorreden, Weber: Texte zur Romantheorie I, S. 612; Stefanie Stockhorst: Reformpoetik. Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten. Tübingen 2008, S. 322–343 (behandelt Barockromane seit 1615, der galante Roman bildet keinen Schwerpunkt); Eberhard Lämmert u.a. (Hg.): Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland. 2 Bde., Köln 1971; Voßkamp: Romantheorie in Deutschland, S. 53; Steinecke: Romantheorie, S. 33–99; Frieder von Ammon u. Herfried Vögel (Hg.): Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Berlin 2008, bes. S. VI–XXI (Funktionen frühneuzeitlicher Paratexte). Die vorliegende Studie geht nicht wie Weber von einem „systematischen“ Verfahren der Gattungserfassung aus. Galante Romanreflexionen erfolgen lange Zeit nur einzeltextbezogen und keineswegs systematisch. Nach Ansicht Simons spielt die systematische Erfassung lange Zeit überhaupt keine Rolle, Simons: Marteaus Europa, S. 27, 36f., 194.

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

Behmeno oder anonyme Verfasser reflektierend mit der eigenen Roman­praxis und dem Roman als poetischer Form auseinandersetzen.15 Besonders in Paratexten (wie Vorreden und Zuschriften), aber auch intradiegetisch (im Rahmen der erzählten Geschichte, auf der Handlungs- und Gesprächsebene der fiktiven Figuren) behandeln galante Autoren gattungsrelevante Fragen oder verlagern diese Reflexionen in andere Text­sorten (Briefsteller, Gedichtsammlungen, Konversations- und ConduiteBücher). Sie verteidigen oder kritisieren Inhalte und Sujets des Romans, diskutieren Wirkungsabsichten und versuchen, die eigene Textproduktion gegenüber anderen Romanen und deren Autoren zu verorten (Kapitel 3.2). Gelzer zufolge lassen sich um 1700 sogar vereinzelt Präferenzlisten finden, in denen vorbildhafte und weniger empfehlenswerte Romane genannt werden, wodurch bereits wertende Kategorisierungen vorgenommen werden oder, wie Gelzer es nennt, „immanente Traditionszuschreibungen und Kanonbildungen“.16 Für die Gattungsentwicklung sind solche Ausein­ andersetzungen entscheidend, konstituieren sich Gattungskriterien oder mögliche Gattungs­modelle doch im Wechselspiel von Romanpraxis und Romanreflexion.17 Es kann daher um 1700 durchaus von einem ‚Textsortenbewusstsein‘ ausgegangen werden – vor allem in Relation zu anderen Textsorten des Buchhandels (religiöse, gelehrte Schriften, Gebrauchstexte, dramatische, lyrische Texte) wird der Roman um 1700 als eigene Textform wahrgenommen. Weber und Voßkamp sprechen von einer „sich neu konstituierenden Gattung“, deren Reflexion und Theoretisierung im Roman selbst einen Austragungsort findet.18 Im Laufe sukzessiver Publikationen und im Prozess des Schreibens bemühen sich galante Autoren, die Spezifik des Romans zu ergründen, zu verbalisieren, aber auch zu systematisieren. In heuris­tischer Absicht scheint die Verwendung des Begriffs Gattung daher angemessen, auch wenn um 1700 kein verbindliches oder kanonisierungsträchtiges Gattungskonzept des galanten Romans auszumachen ist. 2.1.1 Prozessuale Gattungsperspektive Die vorliegende Studie nimmt die These des Romans als einer „sich neu konstituierenden Gattung“19 (Weber) auf und schlägt eine prozessuale Gattungsperspektive vor, die den Roman um 1700 in einem dynamischen und zunächst ergebnisoffenen Formierungs- und Formalisierungsprozess verortet. Dies ist als Versuch zu verste-

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In Bezug auf galante Konversations- und Interaktionsformen („Verhaltensideale“) beobachtet dies auch Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 289–315. Ebd., S. 223–238, hier S. 223. Weber: Texte zur Romantheorie I, S. 610f. Ebd., S. 611; Voßkamp: Romantheorie in Deutschland, S. 53 („eine neu entstehende literarische Gattung“). Weber: Texte zur Romantheorie I, S. 611.

2.1 Gattungsproblematik und Gattungsdynamik

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hen, den galanten Roman als literaturwissenschaftlichen Gegenstand nicht gänzlich aufzugeben und die Texte ‚nur‘ noch als kulturhistorische Quelle zu diskutieren. Gleichzeitig soll vermieden werden, das Korpus nach vorgängigen literaturwissenschaftlichen Typologien zu strukturieren und normative Wertungen zu übernehmen, wie dies in der Forschung zum Teil geschehen ist. So bemerkt Herbert Singer in seinen Studien zum galanten Roman, er habe „Charakteristisches“, „scharfgeprägte Formen“ oder „eindeutige und geschlossene Gattungen“ vergeblich gesucht.20 Die galante Romanproduktion sei stattdessen durch „oft planlose Modifikationen, Umdeutungen [und] Funktionsverschiebungen der tradierten Gattungselemente“ ge­kennzeichnet, was Singer als „poetologische Anarchie“ und Zeichen des ästhetischen Verfalls deutet.21 Florian Gelzer distanziert sich in seiner Studie Konversation, Galanterie und Abenteuer von diesem wertenden Urteil, bestätigt aber, dass von klar abgrenzbaren Romanformen oder gar einem „hypothetischen Idealtypus“22 des galanten Romans nicht gesprochen werden kann. Er schlägt vor, von verschiedenen „Erzählmodellen“ oder „Registern“ auszugehen und entwirft eine Typologie von vier Modellen, die jeweils eigenen Form- und Inhaltskonventionen folgten (das galant-heroische, galant-höfische, galant-moralische und galant-akademische Modell).23 Idealtypisch be­schreibt er die einzelnen Modelle durch Kriterien wie Figurenpersonal (eine Hauptfigur, ein Hauptpaar, verschiedene Paare), das soziale Milieu oder Setting (Hof, studentisches Milieu usw.), variable Stil- und Sprachkonventionen (pathetisch, moralisch, frivol) sowie thematische Schwerpunkte und Konfliktmuster (Liebe, Abenteuer, Staatsgeschichte usw.).24 Er spricht von einem „Normierungs­zwang“, der durch „die Definitions- und Legitimationsbestrebungen anderer Gattungen“, d.h. durch das kodifizierte Gattungssystem, ausgeübt würde.25 Bei allem „Grad an Offenheit“ ent­stünden Form-und-InhaltsZwänge, in denen Gelzer eine gewisse „Verbindlichkeit“26 erkennt: etwa dass im galant-heroischen Modell ranghohe Protagonisten auftreten, deren Staats- und Liebesgeschichte jedoch nicht tragisch ende (wie in der Tragödie), sondern zum guten Ausgang führe; frivole Streiche auf das studentische Milieu begrenzt seien usw. So fruchtbar Gelzers Typologie ist, indem sie zwischen inhaltlichen und formal­ ästhetischen Elementen der Erzählung unterscheidet und grundsätzlich als flexibles Beschreibungs- und Analyseinstrumentarium gedacht ist, wirft sie dennoch Fragen auf. Die Romane, an denen Gelzer seine Kategorisierung entwickelt und die er als Beispiele zitiert, weisen die postulierten Merkmale niemals durchgängig auf,

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Singer: Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko, S. 5.

21 Ebd. 22

Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 257f. Ebd., S. 258‒260, 268 („Erzählregister“). 24 Ebd., S. 258–260. 25 Ebd., S. 24. 26 Ebd., S. 279; im Folgenden S. 258‒260. 23

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

sondern zeigen sich immer als Mischformen. Die Typologie kommt in ihrer Idealform niemals zum Tragen. Zu den besonderen Eigenschaften galanter Romane, so schließt Gelzer daraus, gehöre es geradezu, dass die Texte verschiedene Modelle bedienten, die sich in der Kombination vielfältig überlagern („amalgamieren“) und „in der Praxis gegeneinander ausgespielt“ („kontrastiert“) werden können.27 Gelzer versucht zwar, Singers wertendes Urteil durch eine neue typologische Perspektive zu entkräften, geht aber weiterhin von vorgängigen Erzählmodellen und festgelegten „Konventionen“ aus.28 Es scheint, als projiziere er feststehende Modelle, Formund Inhaltskonventionen auf die Gattungspraxis zurück und bestimmt sie nicht als Ergebnis seiner Erzähltypologie bzw. der Gattungsentwicklung, sondern als Voraussetzung der galanten Romanpraxis. Zu fragen wäre hingegen, wie zwin­gend Inhalt, Form und Erzählmodelle um 1700 tatsächlich konventionalisiert sind und wie sinnvoll es ist, zu einem Zeitpunkt, als der Roman als relativ unreglementierte Textform einen recht großen Spielraum für Inhalts- und Formexperimente eröffnet, von verbindlichen Erzählmodellen und spezifischen Gattungskonventionen auszugehen. Entsprechend stößt Gelzer auf einen „zum Teil flagrante[n] Widerspruch“ zwischen „theoretische[m] Anspruch und Erzähl­praxis“,29 die er als „Aporien“ interpretiert.30 Warum galante Romanformen so variabel und modifizierbar erscheinen, ist dadurch jedoch nicht hinreichend geklärt. Im Gegensatz dazu schlägt Dirk Rose vor, die Gattungsdiskussion vollkommen aufzugeben. Wie Singer und Gelzer stellt er fest, dass der galante Roman eine „strukturelle poetologische Konsistenz“ vermissen lasse, weswegen „wesentliche Kriterien für eine ‚Merkmalsvergabe‘, die einen Gattungstyp im Rahmen einer immanenten Poetik konstituieren können, weitgehend aus[fallen].“31 Der Roman sei „kaum aus einer Gattungstradition herzuleiten“, sondern in Rekurs auf seine Kontexte zu bestimmen.32 Rose plädiert für einen pragmatischen Textbegriff, der auf die „Modell- und Modellierungsfunktion“ des Romans „für eine galante Conduite“ fokussiert, d.h. auf die Generierung eines galanten Kommunikations- und Interaktionsmodells,33 das auch in Gelzers Studie im Zentrum steht. Nicht durch eine poetologische und gattungstypologische Perspektive ließe sich dieses Funktionspotential explizieren, sondern durch die Verortung des Romans im Rahmen soziokultureller Kontexte und Praktiken. So gewinnbringend Roses Studie in theoretischer und sons-

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„Das Hauptprinzip galanten Erzählens besteht in der Kombination der oben charakterisierten Erzählregister“, die „in der Praxis gegeneinander ausgespielt“ bzw. kontrastiert werden können (ebd., S. 268); „Amalgamierung“ (ebd., S. 258). 28 Ebd. u. S. 268. 29 Ebd., S. 24. 30 Ebd., S. 289–315, hier S. 314. 31 Rose: Conduite und Text, S. 158f. 32 Ebd., S. 160. 33 Ebd.

2.1 Gattungsproblematik und Gattungsdynamik

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tiger Hinsicht ist, vernachlässigt er wiederum poetologische und gattungstypologische Aspekte, die für die galante Romanpraxis durchaus entscheidend sind. Die vorliegende Studie schlägt daher vor, Gelzers Ansatz gattungstheoretisch zu modifizieren und mit Roses pragmatischem Ansatz zu verbinden. Die Formenvielfalt der galanten Romanpublizistik (nach Singer die „poetologische Anarchie“, Gelzer: „Kombinatorik, Amalgamierung und Kontrastierung“, Rose: nicht erkennbare „poetologische Konsistenz“) kann auch als Indiz eines gattungsimmanenten Formierungs- oder Formalisierungsprozesses ge­deutet werden. Die neuere Gattungstheorie hat darauf verwiesen, Gattungen und Gattungsmodelle grundsätzlich als offene und historisch variable Systeme zu konzipieren, deren Formen und Funktionen wandelbar sind. Gattungen sollten in ihrem prozessualen Charakter erfasst werden.34 Verbunden damit ist ein Perspektivwechsel von der Resultatebene des Dargestellten auf die Prozessebene seiner Darstellbarkeit. Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass im deutschen Sprachraum um 1700 gerade keine streng verbindlichen Gattungs­ muster und Gattungskonventionen für den galanten Roman zur Verfügung stehen.35 Inhalts-, Darstellungs- und Funktionspotentiale konkretisieren sich stattdessen sukzessive im Laufe der Gattungspraxis und lassen sich erst nachträglich systematisieren, formalisieren und valorisieren. Prinzipiell steht es Textproduzenten in jeder Epoche offen, einen kreativen Umgang mit Gattungen und poetischen Formen zu suchen. Dennoch ist die Rede von Gattungen nur sinn­voll, wenn zumindest einige relativ konstante Merkmale benannt werden, durch die sich ein Korpus textübergeifend auszeichnen lässt. Marion Gymnich und Birgit Neumann schlagen in ihrer gattungstheoretischen Studie vor, zwischen „konstitutiven“ (verbindlichen) sowie „typischen Merkmalen“ (variabel) zu unterscheiden, die von Textproduzenten flexibel gehandhabt werden können.36 Dieser Ansatz kann für die folgende Untersuchung genutzt werden. Zuvor soll aber ein kurzer Blick in deutsche Poetiken des 17. Jahrhunderts klären, was vor 1700 alles unter einem „Roman“ verstanden werden kann.

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Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Textsortenlehre  –  Gattungsgeschichte. Hg. v. Walter Hinck. Heidelberg 1977, S. 27–44; nach den „Möglichkeiten der Geschichte einer Gattung“ fragt Zymner: Gattungstheorie, S. 191–213, hier S. 197; theoretische Perspektiven: Marion Gymnich, Birgit Neumann u. Ansgar Nünning (Hg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Trier 2007. Eine exemplarische Gattungsgeschichte des Sonetts liefert Thomas Borgstedt und stellt fest, dass sich bisher „die Bedingungen historischer Tradierung und historischen Gattungswandels […] nicht einmal ansatzweise in die Theorie integriert“ finden, Borgstedt: Topik des Sonetts, S. 10; ferner Stockhorst: Reformpoetik. 35 Dies bedeutet nicht, den galanten Roman traditionslos im ‚luftleeren Raum‘ zu verorten. Zur Rezeption, Adaption und Modifikation der französischen (preziösen) Romantradition und poetischer Traditionen des deutschen Sprachraums, Kap. 2.3 Mehrdimensionales Gattungskonzept – Mediale, soziale und poetische Kontexte. 36 Gymnich u. Neumann: Kompaktbegriff Gattung, S. 37.

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

2.1.2 Arbeitsdefinition Galanter Roman Sucht man nach Gattungskriterien für den Roman in deutschen Poetiken des 17. Jahrhunderts, so wird man enttäuscht. In der Regel behandeln Dichtungstheorien vor 1700 den Roman nicht, er gilt nicht als ernst zu nehmende Textform.37 Eine seltene Ausnahme ist die Einleitung zu den Eigentlich so benahmten Poetischen Gedichten (1688) von Albrecht Christian Rotth.38 Dieser Fund ist interessant, weil Rotth im Rahmen der Helden- und Hirtendichtung und der Satiren versucht, eine allgemeine Beschreibung des Romans zu liefern. Im kurzen Abschnitt Von den Romainen oder Liebes=Gedichten39 wird deutlich, wie ortlos der Roman im traditionellen Klassifikationssystem der Poesie erscheint. Romane werden nicht als Erzählung, sondern als (Liebes-)Gedichte eingeführt und rücken somit in die Nähe der Liebeslyrik ‒ eine Zuordnung, die dem Liebessujet, d.h. einem inhaltlichen Kriterium, geschuldet ist. Da genauer die „Liebe zur reinen Tugend“ erweckt werden solle, sei der Roman auch dem Heldengedicht ähnlich (dem heroischen Epos in Versform), obwohl sich beide in Form und Inhalt unterscheiden.40 Als vorbildhafte Texte werden wiederum höfisch-

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Voßkamp: Romantheorie in Deutschland, S. 59: Frühneuzeitliche Quellen zum Roman finden sich kaum. In Rhetorikhandbüchern, nicht aber in Poetiken, ist sehr selten vom Roman die Rede, allerdings als „Gedicht“. In den Poetiken von Martin Opitz Buch von der Deutschen Poeterey (1624), Georg Philipp Harsdörffers Poetischer Tichter (1647), Bergmanns Poetische Schatzkammer (1677), Rotths Vollständige Deutsche Poesie (1688) wird der Roman nicht erwähnt. Eine Ausnahme bildet Sigmund von Birkens Teutsche Redebind- und Dicht-Kunst (1679), die als einzige Barockpoetik den Schäferroman in Versform nennt und dem höfisch-historischen Roman unter der Bezeichnung „Romanzi, Romains“ vier Seiten widmet, Stockhorst: Reformpoetik, S. 341, 414. Daniel Georg Morhof verweist in seinem Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (1682) auf die Romane von Bucholtz und Anton Ulrich von Wolfenbüttel, ohne nähere Erläuterungen anzuschließen. Er stellt fest, dass in Deutschland Übersetzungen ausländischer Romane dominieren, u.a. der preziösen Autorinnen Scudéry und La Fayette, Daniel Georg Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie / deren Ursprung / Fortgang und Lehrsätzen / Samt dessen Teutschen Gedichten […] / Lübeck und Franckfurt / In Verlegung Johann Wiedemeyers / M.DCC [1700] [Erstausgabe Kiel: Reumann, 1682], S.  627–632. Erst nach 1700 mehren sich theoretische Schriften, die den Roman aufnehmen, ohne dass von einer systematischen Behandlung gesprochen werden könnte, z.B. Jacob Friderich Reimmann Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam (1708), Caspar Gottschling Einleitung in die Wissenschafft guter und meistentheils neuer Bücher (1713), Gottlieb Stolle Kurtze Anleitung zur Historie der Gelahrheit (1718), Simons: Marteaus Europa, S. 133–160. 38 Albrecht Christian Rotth: Kürtzliche / Doch deutliche und richtige Einleitung zu den Eigentlich so benahmten Poetischen Gedichten / i.e. den Feld=und Hirten=Gedichten / zu den Satyren / zu den Comödien und Trägödien / wie auch zu den Helden= und Liebes=Gedichten / […] deren Ursprung […] Wachsthum und Beschaffenheit / theils wie sie noch itzo müssen eingerichtet werden […] / Der studirenden Jugend zum besten […] / Leipzig: Friedrich Lanckischen Erben / Anno 1688. Unter den deutschen Barockpoetikern ist Albrecht Christian Rotth der einzige, der den „Liebesroman“ überhaupt erwähnt, Stockhorst: Reformpoetik, S. 414. 39 Rotth: Einleitung zu Poetischen Gedichten, S. 348–355. 40 Ebd., S. 348. Erst Gottsched, so Stockhorst, entkoppelt den Roman von der Versepik, dem Heldengedicht, Stockhorst: Reformpoetik, S. 293.

2.1 Gattungsproblematik und Gattungsdynamik

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historische Barockromane genannt (Hercules, Aramena, Octavia), der Abenteuerroman mit satirisch-humoresken Elementen (Insulanische Mando­rell),41 außerdem wird unbestimmt von den „Romainen“ der „Frantzosen“ gesprochen.42 Zwischen unterschiedlichen Gattungstraditionen, deren inhaltlichen und formalen Kriterien keineswegs kompatibel sind, verortet sich der Roman in einem seltsamen Vakuum. Entsprechend vage fällt Rotths Beschreibung aus. In Abgrenzung zum Heldengedicht bestimmt er den Roman als eine Form der Poesie, in der keine „vornehmen Helden=Thaten“, sondern eine „Liebes=Geschichte“ erzählt wird.43 Hinsichtlich des Personals sei es nicht „gar zu nöthig / daß die liebenden Per­sonen […] vornehm oder bekant seyn müsse[n]. Denn auch mittelmäßige / doch erbare Personen; auch gar unbekante und erdichtete“44 können in einem Roman auftreten. Die Rede ist ungebunden, der Stil nicht zu hoch und nicht zu niedrig (d.h. das genus mediocre, die mittlere Stillage, sei einzuhalten).45 Die Geschichten können „warhafftig geschehen oder nur erdichtet“46 sein. Sie sind „mit allerhand anmuthigen Erfindungen zur Vollkommenheit zu bringen und auff Poetische Manier in anständiger Ordnung vorzu­tragen“.47 Letztlich ziele der Roman darauf, die „Liebe zur wahren Tugend“48 zu erwecken und „dem Leser mit der Lust zugleich allerhand nützliche Sachen bey[zu]bringen“,49 d.h. die „Tugend [solle] gelobt und die Laster gescholten“ werden.50 Rotths Beschreibung des Romans bleibt so allgemein, dass sie letztlich beliebigen Aus­legungen Tür und Tor öffnet. Hohes oder niederes Personal, Liebe oder Tragik, Abenteuer oder Moraldidaxe, ungebundene Rede oder Versform, Held oder Heldin,51 all diese Elemente können sich mit Heldengedicht, höfisch-historischem Roman,

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Gemeint sind Andreas Heinrich Bucholtz: Hercules (1659/60), Ders.: Herculiskus (1665), Anton Ulrich von Wolfenbüttel: Aramena (1669–73), Ders.: Octavia (1685–1707), Eberhard Guerner Happel: Der Insulanische Mandorell (1682) und zwei weitere, Rotth: Einleitung zu Poetischen Gedichten, S. 351. 42 Ebd., S. 348. 43 Ebd., Hervorh. K.B. 44 Ebd., S. 349, Hervorh. K.B. 45 Ebd., S. 349f. 46 Ebd., S. 351, Hervorh. K.B. 47 Ebd., Hervorh. K.B. 48 Ebd., S. 348. 49 Ebd., S. 350, Hervorh. K.B. 50 Ebd. 51 Im Abschnitt zum Heldengedicht (in dessen Nähe der Roman steht) vermerkt Rotth: Es kann die Geschichte eines „Heldens oder Heldin (denn auch diese werden simpliciter nicht ausgeschlossen / absonderlich wenn dero Verrichtungen gantz ungewöhnlich sich befinden)“ erzählt werden (ebd., S. 277, Hervorh. K.B.). Anton Ulrich von Wolfenbüttel hatte mit der Aramena und Octavia bereits weibliche Hauptfiguren im höfisch-historischen Roman salonfähig gemacht. Und auch Birken, obwohl er vom (männlichen) Helden des Romans spricht, nennt Aramena und Octavia als Vorbilder, womit weibliche Figuren als Personal des Romans benannt werden, Der Erwachsene [Sigmund von Birken]: Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst / oder Kurtze Anweisung zur Teutschen Poesy / mit Geistlichen Exempeln […] / Nürnberg: Christof Riegel, 1679, S. 303.

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

Abenteuerroman oder dem Liebesgedicht verbinden. Thematische Einschränkungen werden nicht getroffen. Vor allem aber bleiben Fragen zur Textgestaltung offen. Tugend, Liebe, Laster, Lust, Erfindung, Wahrhaftigkeit, die mittelmäßige Person ‒ all dies sind Begriffe und Konzepte, die nicht erläutert werden. Ihre Auslegung wird als bekannt und feststehend vorausgesetzt. Rotths Bestimmung des Romans rechnet mit Autoren, die den normativen Gehalt der Begriffe kennen und es vermögen, sie „auf poetische Manier“ in die „anständige Ordnung“ zu bringen. Dass diese Ordnung gerade von jungen Autoren gestört werden könnte, scheint Rotth zu antizipieren, wenn er warnt, dass die „Studirende Jugend […] nichts als erdichtete Schatten in ihren Kopf / und vielleicht wegen des besorgenden Missbrauchs etliche verliebte Grillen hineinbringet“, weswegen der Roman nicht für die tägliche Lektüre zu empfehlen sei.52 Die Problematik wird deutlich. Bei einer so unpräzisen Bestimmung des Romans bedarf es nur der nötigen „Kühnheit“ (Bohse), um aus den angeführten Elementen eine Erzählung zu gestalten, die mit Rotths Vorstellung von Poesie nicht viel gemein haben muss. Was Rotth vorschwebt, ist aus literaturhistorischer Sicht leicht zu vermuten – nämlich ein Roman, der die Konventionen der dichterischen Freiheit (licentia poetica) einhält. Torheiten und Laster werden im barocken Roman beschrieben, um bestraft zu werden; die Leser sollen erbaut, zur Tugend und Gottgefälligkeit ermahnt werden.53 Birken spricht vom höfisch-historischen Roman unter der Maßgabe, dass er – mit „christlicher Feder“ geschrieben – den „frommen und unsträflichen Helden“ präsentiere.54 Weitere poetologische Prinzipien und Kategorien (Wahr­ scheinlichkeit, Wahrhaftigkeit, Vergnügen vs. Nutzen) reglementieren die Darstellung. Während für andere Gattungen exakte Vorgaben existieren, wie Figurenwahl (Ständeklausel), Stoffe (tragische Konflikte in der Tragödie; Spott und Satire in der Komödie), Stillage (grande – mediocre ‒ humile), Konflikt- und Endgestaltung (tragisches Scheitern – glückliche Versöhnung), zum Teil Versmaß und Reimschemata (im Sonett) zu gestalten sind, stellt sich Rotths Beschreibung des Romans als eine Ästhetik des ‚So-oder-so‘, des ‚Sowohl-als-Auch‘ dar. Gestaltungsfreiräume eröffnen sich für die poetische Praxis gerade dann, wenn Gestaltungs­vorgaben ausgeblendet oder nicht expliziert werden. Werden Gattungskriterien jedoch in einem weiteren Rahmen gesucht, wie es Gymnich und Neumann vorschlagen,55 so lassen sich auch für den galanten Roman Kriterien formulieren, die die Textproduktion prägen. Als konstitutiv (verbindlich) gilt seit 1700 ‒ anders als noch im barocken Schäferroman in Versform ‒ die narrative

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Rotth: Einleitung zu Poetischen Gedichten, S. 351. Stockhorst: Reformpoetik, S. 325, 343. 54 Birken: Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst, S. 306. „Aller Thon / alle Rede und Schrift / sol Gott loben […]. Und wann schon das Absehen nicht eigentlich auf Gott zielet / soll doch iedes Gedicht also abgehandlet werden / daß es anmuthig zur Gottes-Ehre und Tugend-Lehre gereiche“ (ebd., S. 185). 55 Gymnich u. Neumann: Kompaktbegriff Gattung, S. 31–52, hier S. 37. 53

2.1 Gattungsproblematik und Gattungsdynamik

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Schreibweise. Sie integrierte vielfältige Erzählinstanzen und Sprecherrollen und ist im Roman um 1700 mit einer Betonung der Handlungsebene verbunden. Anders als lyrische oder dramatische Texte ist der Roman in freier, ungebundener Rede verfasst. Einzelne Szenen, Handlungs- und Konfliktkonstellationen können erzähltechnisch beliebig ausgedehnt werden, was sich in der Dramatik schon aus Gründen der Aufführbarkeit beschränkt. Während die Perspektivierung der Handlung in Drama oder Oper auf den Dialog und Monolog konzentriert ist, vervielfältigen sich im Roman potentiell die Erzählinstanzen. Ein erhöhter Grad an Polyperspektivität (und Ambiguität) wird möglich durch die unbegrenzte Zahl der Sprecher. Zudem können im Roman paratextuelle Sprecherinstanzen in Vorreden oder Zuschriften zu Wort kommen (Autor, pseudonymer Verfasser, zweiter Vorredenverfasser usw.), die mit dem Erzähler  –  im galanten Roman meist eine auktoriale Instanz  –  erzähllogisch nicht identisch sind (Kapitel 2.2). Auch innerhalb der Romanhandlung vervielfältigen sich die Sprecherrollen durch die Figurenrede, wobei Briefe und Arien im galanten Roman beliebte Darstellungsmittel sind, um Handlung und Konflikte weiter aufzufächern. Grundsätzlich stehen im galanten Roman die Ereignisse des äußeren Handlungsverlaufs im Vordergrund, die anhand spezifischer Sujets (Liebe, Abenteuer, Reise, Staatsgeschichte u.a.) entwickelt und durch diese motiviert werden. Figurenkonzeptionen werden nur insofern ‚individualisiert‘, als dass die Protagonisten in je spezifischer Weise auf äußere Konflikt­situationen reagieren. Teilweise eröffnen sich dadurch interpretatorische Rückschlüsse auf innere Entwicklungen der Figuren. Doch insgesamt ist der galante Roman durch das Fehlen eines psychologischen Erzählens geprägt. Gelzer spricht von einer charakteristischen „Unbestimmtheit“ der Gefühlsdarstellung im galanten Roman; der Darstellung von Empfindungen wird ein geringer Stellenwert beigemessen, vage Epitheta lassen stattdessen offene Interpretationsspielräume zu.56 Wie Weber feststellt, vollzieht sich im Roman vom 17. zum 18. Jahrhundert ein grundsätzlicher „Wandel […] im Verhältnis von Handlung und Charakter, und, parallel dazu, in dem von Innen und Außen. Das Primat der Handlung und der Beschreibung der Außenwelt wurde [im 18. Jahrhundert] ersetzt durch eine im Charakter motivierte Romanhandlung.“57 Diese Beobachtung bestätigt sich auch am weiblichkeitszentrierten Roman um 1700: Formen einer subjektivistische Darstellungsweise (wie innerer Monolog, Bewusstseinsstrom, aber auch die auktoriale Explikation von Empfindungen und Emotionen) zählen nicht zum Ausdrucksrepertoire des galanten Romans. Stattdessen dominieren handlungsorientierte Darstellungsformen: Der auktoriale Erzähler dirigiert die Handlung, allerdings wird das Geschehen in der Regel extern fokalisiert;58 zu Innenperspektiven der Figuren gibt 56

Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 114. Weber: Texte zur Romantheorie I, S. 623. 58 Der Begriff der externen Fokalisation nach Gérard Genette beschreibt den Modus („Sicht“), aus der das Erzählte vermittelt wird, als „neutrale Außensicht“. Das Verhältnis zwischen dem Wissenshorizont von Erzähler und Figuren ist disproportional: „Der Erzähler sagt weniger, als 57

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

der Erzähler kaum Auskunft, explizite Erzähler­kommentare sind in den untersuchten Texten vor 1700 selten und daher, wenn sie auftauchen, von besonderer Wichtigkeit. Gespräche, Briefe, Arien oder Gedichte subsumieren die fehlende Psychologie und geben mehr oder weniger formalisiert Einblick in die Innenperspektive der Figuren. Als variable, veränderbare oder noch nicht verbindliche Gattungsmerkmale (nach Gymnich und Neumann „typische“ Kriterien) müssen hingegen viele Merkmale angesehen werden, die mit der Theoretisierung des Romans im 18.  Jahrhundert kanonisiert worden sind. Seit Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774) solle der Roman ein „Seelengemälde“ sein, das Innerlichkeiten, Gefühle und Empfindungen narrativiert, Emotionalität repräsentiert und eine identifikatorische oder emphatische Lesehaltung ermöglicht.59 Der Roman verdichtet sich zur Darstellung des „Charakters“ und dessen innerer Entwicklung, die exemplarisch den „zeitgenössischen Menschen“ und das menschliche „Seyn“ repräsentierten.60 Blanckenburg fordert, der Roman solle Einsicht in das Verhältnis von „Mensch und Welt“ geben und wird, so Weber, zum Medium „repräsentativer Wirklichkeit“.61 Damit verbinden sich formalästhetische Forderungen wie Rationalität, Kausalität und Stringenz als Leit­prinzipien der Darstellung, Wahrscheinlichkeit des Inhalts, Perfektibilität und psychologische Plausibilität der Figuren.62 Für den galanten Roman um 1700 können diese Gattungskriterien jedoch nicht als verbindlich vorausgesetzt werden. Obwohl Kritiker die mangelnde „Wahrhaftigkeit“ und „Wahrscheinlichkeit“ galanter Romane bemängeln und einfordern,63 gehen galante Autoren recht unbekümmert darüber hinweg (Kapitel 3.4.1.2). Dasselbe gilt für die Bestimmung des Romans als „Lehranstalt“ der sittlichen und moralischen Erziehung, als Medium zur Unterweisung in Tugend und Moral. Diese Forderung ist in den Poetiken seit der Antike zentral und galante Autoren nehmen sie durchaus auf (wenn sie vorgeben, den Roman

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die Figur weiß“, Martias Martinez u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 5. Aufl., München 2003, S. 63–67, hier S. 64. Diese Form der „scheinbar objektiven Erzählung“ (ebd., S.  66) tritt nach Genette häufig in Kriminal-, Abenteuer- oder Entdeckungsromanen auf, die den Leser durch ein „Geheimnis“ zu fesseln versuchen, so dass Informationen zu Figuren und Handlung nicht sofort offengelegt, sondern zurückgehalten werden. Im Mittelpunkt steht die Figureninteraktion, ohne dass der Erzähler Einblick in Gefühle, Gedanken, Motivationen gibt. Um ein Verständnis der Erzählung zu entwickeln, sind die Leser auf den äußeren Handlungsverlauf angewiesen, Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Aufl., München 1998, S. 134–138, hier S. 135. Diese narratologische Beschreibung, die Genette für Romantypen der Moderne entwirft, umreißt exakt die Spezifik des galanten Erzählens im weiblichkeitszentrierten Roman (Kap. 4). Angelika Schlimmer: Der Roman als Erziehungsanstalt für Leser. Zur Affinität von Gattung und Geschlecht in Friedrich von Blanckenburgs ‚Versuch über den Roman‘ (1774). In: Das achtzehnte Jahrhundert 29/2 (2005), S. 209–221, hier S. 216. Blanckenburg: Versuch über den Roman (1774), zit. nach Schlimmer: Der Roman als Erziehungsanstalt, S. 213f., 216. Weber: Texte zur Romantheorie I, S. 623. Schlimmer: Der Roman als Erziehungsanstalt, S. 214f., 217. Polemik des Theologen Gotthard Heidegger: Mythoscopia Romantica, S. 66, 71–73 gegen den Roman: „wer Romans list / der list Lügen“, der Roman reize zu Traum, Fantasie und Imaginationen.

2.2 Weiblichkeit und Text – Gendernarrative im Roman?

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als „Sittenlehre“ zu konzipieren); doch unbekümmert entwerfen sie auch Konzepte einer satirischen Sittenkritik, die sich mit dem „Vergnügen am Laster“ verbindet (Kapitel 3.3.2.3). Im Wechselspiel von konstitutiven und variablen Gattungskriterien entfaltet sich das Ausdruckspotential des galanten Romans. Junge Autoren adaptieren bekannte Sujets, experimentieren mit Konflikt- und Handlungskonstellationen, installieren unterschiedliche Sprecherinstanzen oder erproben Formen der Figurencharakterisierung durch die transgenerische Integration anderer Gattungen in den Roman (Arie, Brief, Gedicht). So vielfältig und offen dieses poetische Experiment ausfallen kann, findet es dennoch im Rahmen der textuellen Strukturen statt, die der Roman als narrative Gattung zur Verfügung stellt (Gattungsgebunden­heit und Variabilität). Eine handlungszentrierte Erzählliteratur, deren Ausdruckspotential sich in erster Linie auf der Handlungsebene der Texte entfaltet, entwirft eine andere poetische Bildsprache, als sie der Roman des 18. Jahrhunderts für den modernen Leser geläufig gemacht hat. Von Interesse ist daher die Spezifik dieser poetischen Bildsprache und deren Effekte für die Konstruktion galanter Weiblichkeitsnarrative.

2.2 Weiblichkeit und Text – Gendernarrative im Roman? Wenn der Roman eine weibliche Hauptfigur ins Zentrum der Erzählung rückt, wird ausgehend von der Protagonistin der Handlungs- und Konfliktaufbau des gesamten Textes strukturiert. Auch wenn andere Figuren auftreten und interagieren, referieren Inhalt und Form in besonderem Maße auf die weibliche Figur, auf sie richtet sich die Aufmerksamkeit der Leser(innen). Je nachdem, welche Plot- und Konfliktmuster favorisiert werden und wie die Protagonistin dabei in Szene gesetzt wird, bringt der Text bestimmte (Inter-)Aktionsformen und Restriktionen zur Anschauung. Unterschiedliche Formen der Figurencharakterisierung konnotieren die Figur im Sinne bestimmter Eigenschaften und Attribute und prägen die Figurenkonzeption. Auch Raum- und Zeitdarstellungen verbinden sich mit der weiblichen Figur  –  ob eine Protagonistin in entfernte Länder reisen kann oder ihr familiäres Umfeld niemals verlässt, ob oder wie viel Zeit ihr bei der Wahl eines Partners zur Verfügung steht, bestimmt gleichfalls, welche Räume und Zeiten der Protagonistin zugewiesen werden.64 Die Kategorie Geschlecht prägt die Textgestaltung auf unterschiedlichen Ebenen – wie kann sie konzeptualisiert werden? Die vorliegende Studie schließt an Ansätze der Frauen- und Geschlechterforschung an, die seit den 1990er Jahren bevorzugt nach „Konstruktionen von Geschlecht“ in

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Vera Nünning u. Ansgar Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart 2004.

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

unterschiedlichen historischen Kontexten und Medien sucht.65 Die Gender-Studies stellen essentialistische Konzepte von Geschlecht in Frage und weichen die Definitions- und Abgrenzungslogik einer Dichotomie von femo- und androzentrischen Entwürfen auf.66 Stattdessen werden sex und gender (soziokulturelles und biologischanatomisches Geschlecht) als Resultat institutionalisierter Praktiken und Diskurse verstanden, die von Männern und Frauen zeit- und kulturspezifisch hervorgebracht werden (doing gender). Geschlechterordnungen sollen in ihren sozialen, kulturellen, politischen, juristischen, ökonomischen Dimensionen analysiert werden, um ihre Spezifika, Bedingungen und ihren Wandel aufzuzeigen; bilden jene Strukturen doch die Matrix, in der sex- und gender-Konzepte entworfen werden und zum Tragen kommen. Dieser Ansatz wurde entscheidend durch die feministische Theorie Judith Butlers angeregt und ist auch für eine genderorientierte Literaturwissenschaft von Interesse. Butler weitet die feministische Kritik an sozialen gender-Konzepten aus, indem sie (in Kategorien der Logik und Sprachphilosophie) die Vorgängigkeit geschlechtlicher Identität radikal in Frage stellt und sowohl soziokulturelle Geschlechterkonzepte (gender) als auch biologisch-anatomische Geschlechtskategorien (sex) als Resultat sprachlich-diskursiver, sozialer und institutioneller Performanzen beschreibt.67 Geschlecht wird als relationale Kategorie konzipiert, die sich durch reziproke Referenzbeziehungen konstituiert. Butler bestreitet zwar nicht, dass sich die Bestimmungen einer ‚weiblichen‘ Position disjunktiv zu dem verhält, was sie nicht ist ‒ in der Regel dem, was als ‚männlich‘ gilt ‒,68 aber sie betont, dass disjunkte Verhältnisse notwendig Differenzen generieren und Identität nur relational und reziprok ermöglichen. Insofern sich Identität (gedacht als Einheit) nur in Differenz zu dem bestimmen lässt, was darin nicht einschlossen ist (wovon es sich also abgrenzt), erzwingt allein die Frage nach Identität die Produktion von Differenz.69 In vielen Gesellschaften hat sich eine bipolare Geschlechterstruktur als tragfähig er­wiesen, um Identitätsbildungsprozesse durch geschlechterspezifische Differenz-

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Claudia Opitz-Belakhal: Geschlechter-Geschichte. Frankfurt a.M. 2010, S. 18, 10‒34 auch im Folgenden; Nünning u. Nünning: Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 1–29. Stephanie Catani: Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925. Würzburg 2005, S. 16. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Katharina Menke. Frankfurt a.M. 1991 (amerik. Erstausgabe 1990), S.  49f.; Dies.: Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie. In: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Hg. v. Uwe Wirth. Frankfurt a.M. 2002, S. 301–320. Zu Entwicklung und Auslegung der Kategorien sex und gender in der Frauen- und Geschlechterforschung Opitz-Belakhal: Geschlechter-Geschichte, S. 11–18. Die „innere Kohärenz oder Einheit jeder Geschlechtsidentität“ (als Einheit von sex und gender) konstituiert sich aufgrund eines „festen und zugleich gegensätzlich strukturierten heterosexuellen Systems“, nämlich „wenn der Begriff Geschlecht so verstanden werden kann, daß er […] sich durch ein gegensätzliches Verhältnis zum anderen Geschlecht […] differenziert“, Butler: Unbehagen der Geschlechter, S. 45. Ebd., S. 45.

2.2 Weiblichkeit und Text – Gendernarrative im Roman?

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setzungen zu normieren und zu stabilisieren. Geschlecht sei zwar „Verhandlungssache“, allerdings eine Verhandlungssache unter Zwang; Butler spricht von der „Institutionalisierung einer naturalisierten Zwangsheterosexualität“.70 Prägend ist bis heute eine Vorstellung personaler Identität, die sich wesentlich über die Identifikation mit einem anatomischen Geschlecht (sex) und sozialen Geschlechterrollen (gender) konstituiert, welche als männ­lich oder weib­lich definiert werden. Die bipolare Struktur macht es scheinbar einfach, von Subjekten als Frau zu sprechen (insofern sie nicht Mann ist), ebenso wie dadurch von Subjekten als Mann ge­sprochen werden kann (insofern er nicht Frau ist). Ließen sich keine Differenzen finden, anhand derer (Geschlechts-)Identitäten zu bestimmen wären, würde die Frage nach der Identität des Subjekts prekär oder müsste anders gestellt werden. Butler dekonstruiert die binäre Struktur bzw. Polarität von Mann und Frau als zirkuläre Logik und kommt zu dem Schluss, dass es keine vorgängige Geschlechtsidentität gibt, sondern nur „Äußerungen“, die eine vermeintliche Identität konstituieren  –  wobei Geschlecht im Nachhinein als vorgängige Konstante ausge­wiesen wird und damit ausgeblendet bleibt, dass dies doch erst Resultat der Bestimmung geschlechterspezifisch markierter Differenzen sei, letztlich also durch Subjekte selbst hervor­gebracht wird.71 Damit stellt sich die Frage, wie denn Geschlecht – wenn es nicht vorgängig bestimmt ist – ‚hervorgebracht‘ wird und unter welchen Bedingungen es sich konstituiert. Butler schlägt vor, den „Konstruktionsweisen“ von Geschlecht nachzugehen, um dessen scheinbare Eindeutigkeit mit der Mannigfaltigkeit seiner Repräsentationsformen zu konfrontieren: Wenn die regulierenden Fiktionen von Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (gender) selbst vielfältig angefochtene Schauplätze der Bedeutung sind, bietet gerade die Mannigfaltigkeit ihrer Konstruktionen die Möglichkeit, mit ihrer Pose scheinbarer Eindeutigkeit zu brechen.72

Für eine genderorientierte Literaturwissenschaft eröffnet sich damit ein weites Forschungs­feld, handelt der literarische Text doch stets von Figuren, die geschlechtlich markiert sind und Geschlechterrollen figurieren. Allerdings lassen sich literarische Genderfiktionen nicht mit soziokulturellen Geschlechterkonzepten und Genderkategorien gleichsetzen. Bevor daher erläutert wird, wie im Rahmen dieser Studie Geschlecht im Roman analysiert wird, soll der Genderbegriff noch weiter differenziert werden. Die Studie schließt hier an Ansätze der Intersektionalitätsforschung an. In der Intersektionalitätsforschung wird die sex-gender-Diskussion aufgegriffen und erweitert. Geschlecht sei keine singuläre Kategorie, sondern selbst Produkt vielfältiger Kategorisierungen und Differenzkriterien. Was Geschlecht umfasst, lässt sich nicht aus der bloßen Feststellung biologistischer und soziokultureller Merkmale 70

Ebd., S. 46. Ebd., S. 49. 72 Ebd., S. 59. 71

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

ableiten, sondern in der Regel spielen weitere differenzgenerierende Faktoren eine Rolle. In der amerikanischen und anglis­tischen Forschung fanden zuerst Kategorien wie Klasse, Rasse, Ethnizität (class, race, ethnicity) Berücksichtigung, z.B. in Kimberle Cranshaws Studie zu Ungleichheitsstrukturen und Ausschlussmechanismen im US-Unternehmen General Motors.73 Cranshaw macht auf die „Überkreuzung“ (intersection) rassischer und genderspezifischer Kategorien aufmerksam.74 Am Beispiel des amerikanischen Unternehmens zeigt sie, dass „Schwarze Frauen“ in der Einstellungspolitik des „Weißen Arbeitgebers“ benachteiligt sind (Ausschlussmechanismen), ohne dass dem Unternehmen im juristischen Sinne rassische Diskriminierung nachzuweisen sei, weil „Schwarze Männer“ zu den Arbeitnehmern zählen; ebenso wenig wie das Argument sexistischer Diskriminierung juristisch gilt, weil das Unternehmen „Weiße Frauen“ einstellt. „Schwarze Frauen“ fallen durch das Raster, wofür weitere Gründe zu suchen sind. Gender­kategorien interferieren mit rassischen, klasse- oder schichtspezifischen Kategorien, impli­zieren Machtstrukturen und beeinflussen Zugangschancen bzw. Ausschlussmechanismen hinsichtlich sozialer Positionen. Intersektionale Ansätze bezogen in der Folge weitere Differenzkriterien ein. So verweisen Helma Lutz und Norbert Wenning auf Kriterien wie Alter, Religion, Herkunft, Nationalität, Sexualität, geografische Lokalität.75 Unterschiede zwischen den Geschlechtern, ebenso wie zwischen Akteuren desselben Geschlechts, können durch soziale Herkunft, Alter, sexuelle Orientierung, religiöse oder ethnische Gruppenzugehörigkeit verstärkt oder ausgeglichen werden. Zudem wurde die Metapher der Kreuzung (intersection) kritisch diskutiert. Walgenbach u.a. plädieren dafür, genderkonstituierende Kategorien in einem dynamischen und sich wechselseitig modifizierenden Verhältnis zu begreifen, anstatt in additiver Reihung oder ‚Überkreuzung‘. Geschlecht sei selbst eine interdependente Kate­gorie.76 Intersektionale Ansätze wirken der Universalisierung und erneuten Essentialisierung der Kategorie Geschlecht entgegen, da Weiblichkeit nicht auf ein einzelnes (allgemei-

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Kimberle Crenshaw: Mapping the Margins. Intersectionality, Identity Politics and Violence against Women of Color. In: Stanford Law Review 43/6 (1991), S. 1241–1299. 74 Zit. nach Katharina Walgenbach: Gender als interdependente Kategorie. In: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Hg. v. Katharina Walgenbach u.a. Opladen/Farmington Hills 2007, S. 23‒64, hier S. 48f. auch im Folgenden. 75 Helma Lutz u. Norbert Wenning: Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatte. In: Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Hg. v. Helma Lutz u. Norbert Wenning. Opladen 2001, S. 11–24. 76 Die Kritik zielt auf die additive Struktur von intersection (Kreuzung), die suggeriert, es gäbe vor und nach dem Zusammentreffen isolierte, singuläre Kategorien, hierzu Walgenbach: Gender als interdependente Kategorie, S. 49; Nina Degele u. Gabriele Winker: Intersektionalität als Beitrag zu einer gesellschaftstheoretisch informierten Ungleichheitsforschung. In: Berliner Journal für Soziologie 21 (2011), S. 69–90; Cornelia Klinger: Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht. In: Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II. Hg. v. Gudrun-Axeli Knapp u. Angelika Wetterer. Münster 2003, S. 14–48.

2.2 Weiblichkeit und Text – Gendernarrative im Roman?

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nes) Konzept ‚der Frau‘ festgelegt werden kann, sondern es darum geht, der Pluralität und Diversität von Weiblichkeitsentwürfen gerecht zu werden.77 Auch in der historischen Frauen- und Geschlechterforschung werden intersektionale Ansätze berücksichtigt. „In der Tat spricht gegen eine allzu starre Festschreibung von Weiblichkeit und weiblichen Identitäten vor allem die historische Evidenz selbst“, so Claudia Opitz-Belakhal.78 Andrea Griesebner plädiert in ihren Methodischen Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit dafür, Geschlecht als „mehrfach relationale Kategorie“ zu konzipieren, da „die Relevanz der geschlechtlichen Markierung nur in Relation zu anderen Differenzen analysiert werden“ kann, z.B. sozialer Stand, Konfession, Familienstand.79 Auch im galanten Roman werden (soziale) Differenzkriterien wie Herkunft/Stand, Alter, Körper/Sexualität, Territorialität/Lokalität im Zusammenhang mit der weiblichen Hauptfigur relevant. Da es sich allerdings um fiktionalisierte und keine soziokulturellen Repräsentationen handelt, sind weiterführende Überlegungen notwendig, wie das theoretische Angebot der Intersektionalitätsforschung für die historische Erzähltextanalyse fruchtbar gemacht werden kann. 2.2.1 Weiblichkeit, poetisches Motiv, soziokulturelles Konzept Ein Erzählen über Geschlecht und Weiblichkeit findet im galanten Roman stets im Rahmen spezifischer Sujets und poetischer Motive statt. Das Liebessujet ist für das gesamte Korpus relevant; Geschlechterverhältnisse spielen im galanten Roman grundsätzlich eine wichtige Rolle. Um die Kategorie Geschlecht im Roman als relationale Kategorie zu rekonstruieren, schlage ich vor, Weiblichkeit (Geschlecht) in Interferenz mit raumzeitlichen, interaktionalen und standesspezifischen Strukturen (Körper, Raum, Stand) zu untersuchen. Körper/Körperlichkeit, Raum/territoriale Grenzüberschreitungen und Stand/ständische Strukturen spielen im Figuren- und Konfliktaufbau eine wichtige Rolle und prägen die weibliche Figurenkonzeption. Indem untersucht wird, welche Handlungsoptionen und Restriktionen sich für die Protagonistin im Umgang mit dem eigenen und fremden Körper eröffnen,80 werden grundlegende Parameter sichtbar, die Aufschluss geben über narrative Konzeptionen von Weiblichkeit. Gleiches gilt für den Zugang zu bzw. den Ausschluss aus räumlichen Sphären und Strukturen sowie für den Umgang mit Standesnormen und Stan77

Walgenbach: Gender als interdependente Kategorie, S. 12. Opitz-Belakhal: Geschlechter-Geschichte, S. 57. 79 Andrea Griesebner: Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodische Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit. In: Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Beiträge der 9. Schweizerischen Historikerinnentagung 1998. Hg. v. Veronika Aegerter u.a., Zürich 1999, S. 129‒137, hier S. 134. 80 Dies betrifft z.B. Optionen/Restriktionen sexueller Handlungen (Erotik/Körpernarrative), den Umgang mit Symbolsystemen und deren Genderkonnotationen (Kleidung, Namensgebung, äußere Erscheinung), über die Figuren geschlechtlich markiert werden. 78

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

deskonventionen, die in der erzählten Geschichte Sozialkontakte verhindern oder ermöglichen. Zudem lassen sich Körper, Raum, Stand mit den erzähltheoretischen Kategorien Figurenkonzeption, Raumdarstellung, fiktionaler Sozialraum vermitteln. Durch die je spezifische Art und Weise, wie das weibliche Figuren­personal in den raumzeitlichen, interaktionalen und standesspezifischen Strukturen des Romans inszeniert wird, gewinnt die weibliche Figurenkonzeption an Kontur. Zugleich sind Körper, Raum, Stand wie die Kategorie Geschlecht (Weiblichkeit) aber auch soziale und kulturelle Kategorien bzw. Konzepte. Nicht nur in der Fiktion des Romans, sondern auch in der sozialen Wirklichkeit prägen sie Einstellungen, Formen und Praktiken, die sich auf körperliche, räumlich-territoriale oder schichtspezifische Strukturen beziehen und diese modulieren. Indem die Textanalysen Weiblichkeit in Interferenz zu Körper, Raum, Stand fokussieren, werden einerseits fiktionale Bestimmungen von Weiblichkeit im Rahmen des Erzähltextes sichtbar, die andererseits auf soziokulturelle Konzepte referieren (oder applizierbar sind), die ihrerseits soziale Wirklichkeiten oder extratextuelle Lebenswelten strukturieren. Damit ist noch keine Aussage über Wirkung und Wirksamkeit galanter Romane/Weiblichkeitsnarrative in sozialhistorischen Kontexten getroffen; dies wäre eine Aufgabe künftiger Studien. Die Festlegung wurde bewusst allgemein gehalten  –  beispielsweise verzichtet das Motiv Raum auf eine Spezifizierung im Sinne von ‚Haus‘, der ‚Blick durchs Fenster‘ oder der ‚Garten als Übergangszone zwischen Privatem und Öffentlichem‘, wie dies in einzelnen Studien vorgeschlagen wurde.81 Mit solch einer Spezifizierung von Räumen werden bereits geschlechterspezifische Implikationen oder Stereotype reproduziert, da z.B. das Haus in vielen Texten von Frauen des 18. und 19. Jahrhunderts als Ort der Unterdrückung durch den Ehemann oder als (schützender) Ort der Familie, Intimität und Privatheit behandelt wird ‒82 Assoziationen, die für den späteren Zeitraum zweifellos zutreffen, für die Analyse galanter Romane um 1700 aber irreführend wären. Um die textuellen Strukturen galanter Weiblichkeitsnarrative genauer zu erfassen, greife ich Überlegungen der genderorientierten Erzähltextanalyse auf. Diese differenziert zwischen der Ebene des Dargestellten und der Ebene der Darstellungsformen bzw. der erzählerischen Vermittlung (story und discourse).83 Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass ein und dieselbe Geschichte (story) durch die

81

Z.B. Grewe-Volopp (2002), Plummer (2000), zit. nach Natascha Würzbach: Raumdarstellung. In: Nünning u. Nünning: Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 49–71, hier S. 53f. 82 Ebd., S. 53. 83 Vera Nünning u. Ansgar Nünning: Von der feministischen Narratologie zur gender-orientierten Erzähltextanalyse. In: Nünning u. Nünning: Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 1–32, hier S. 14. Die Begriffe story und discourse gehen auf Seymour Chatman zurück, Gérard Genette spricht von histoire (Geschichte), récit (Erzählung als narrativer Text in seiner sprachlich-semiotischen Verfasstheit) und narration (Akt des Erzählens). Erzähltheoretische Kategorien, um inhaltliche und formalästhetische Strukturen von Erzähltexten zu beschreiben, sind z.B. Handlung, Figuren, Raum, Erzählreihenfolge, Erzähldauer, Erzählhäufigkeit (Frequenz), Erzählinstanz, Er-

2.2 Weiblichkeit und Text – Gendernarrative im Roman?

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Auswahl und Anordnung ihrer erzählerischen Vermittlungsformen (discourse) ganz unterschiedlich erzählt werden kann, wodurch prinzipiell immer auch verschiedene Erzählungen (z.B. über Weiblichkeit) entstehen. Von einer strikten Trennung auszugehen, wäre allerdings irreführend. Die inhaltliche Ebene ist von der formal­ ästhetischen nicht zu trennen: Semantiken lassen sich nicht von den sprachlichen Strukturen isolieren, mittels derer sie artikuliert bzw. narrativiert werden.84 Es handelt sich lediglich um eine analytische Differenzierung, um Form und Inhalt in Bezug auf das weibliche Figurenpersonal unter folgenden Aspekten zu untersuchen: – Aufbau und Konstruktion von Handlungssequenzen; Handlungs- und Konfliktaufbau und Geschlechtsmarkierung der handelnden Figuren – Körpernarrative: Umgang der Figuren mit Erotik und Sexualität, Formen der Leserlenkung zur Deutung erotischer Körperszenen im Roman, Integration poetischer Motive (Kleider-, Rollen-, Geschlechtertausch) und ihre Effekte für die weibliche Figurenkonzeption – Zugänglichkeit/Ausschluss von Räumen und räumlichen Sphären (territoriale Grenzüberschreitungen und Grenzbarrieren), Standort und Beweglichkeit der Figuren, Entwicklung von Konfliktstrukturen im Zusammenhang mit räumlicher Mobilität – Umgang mit ständischen Strukturen, standesspezifischen Konventionen und Reglements, erzählerische Legitimationsstrategien in Bezug auf ständische Konventionsbrüche (Interdependenz von Alter und sozialem Stand: Recht der Jugend, Standeskonventionen zu ignorieren) – Formen der Figurencharakterisierung: Wertung und Deutung durch den Erzähler (Erzählerkommentar), Figurencharakterisierung auf Gesprächs- und Handlungs­ ebene des Figurenpersonals, Schlussgestaltung im Hinblick auf die Protagonistin – Verhältnis von Erzähltext und Paratexten (Vorreden, Zuschriften), Relation von extra-, para-, intradiegetischen Instanzen (Autor ‒ pseudonymer Verfasser – Erzähler – Figuren) Exemplarisch untersucht die Studie sechs Romane aus dem Zeitraum zwischen 1694–1715. Jeweils zwei Texte, in denen das entsprechende Motiv (Körper, Raum oder Stand) dominant auftritt, werden vergleichend nebeneinander gestellt. Auf diese Weise soll illustriert werden, wie variabel das jeweilige Motiv in den Roman integriert werden kann, wie es die weibliche Figurenkonzeption prägt und welche unterschiedlichen Weiblichkeitsnarrative dadurch entstehen. Darüber hinaus ermöglicht es dieses Vorgehen, die Gattungsentwicklung sowohl synchron als auch diachron darzustellen: Während sich die Untersuchung von Weiblichkeit und Körper zählmodus, Stil usw., Peter Wenzel: Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier 2004, S. 7f., 15, 19. 84 Jon Adams: Narrative Explanation. A pragmatic theory of discourse, zit. nach Wenzel: Erzähltextanalyse, S. 17.

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

auf Romane aus den Jahren 1694 und 1711 konzentriert, wird die Inszenierung von Weiblichkeit und Raum an Texten von 1698 und 1708 verglichen. Die Analyse von Weiblich­keit und Stand erfolgt an Romanen von 1699 und 1715. Diachron (im zeitlichen Kontrast der Texte untereinander) und synchron (in Bezug auf dasselbe Motiv) lassen sich auf diese Weise semantische und erzählformale Variationen galanter Weiblichkeitskonstruktionen darstellen. 2.2.2 Galante Romane – kulturhistorische Quelle oder literarisches Weiblichkeitsnarrativ? Die Galanterieforschung widmet sich dem galanten Schrifttum in der gesamten Breite, ohne Texte aufgrund ästhetischer Wertungen von vornherein auszuschließen. Mittlerweile werden galante Schriften vor allem als kulturhistorische Quelle genutzt. Galante Texte, auch galante Romane, werden bemüht, um Rückschlüsse auf soziokulturelle Konzepte und Praktiken eines galanten Verhaltens und Kommunizierens zu ziehen – um 1700 als galante Conduite bezeichnet. Uneinigkeit besteht darüber, ob es sich bei diesen Ver­haltens- und Kommunikationsformen um ein klar zu konturierendes „Ideal“ (Borgstedt und Solbach, Gelzer, Stauffer), eine sich im Vollzug gestaltende „Praxeologie“ mit ent­sprechender Ethik und Sozialpraktiken (Steiger­wald) oder um ein offenes „Modell“ (Rose) handelt.85 Diskussionsbedarf besteht zudem darüber, wie das Verhältnis von Conduite und Text zu begreifen sei – reproduziert der Text vorgängige Formen des Verhaltens und Kommu­nizierens oder werden diese durch die Textgestaltung erst konstituiert?86 Zuletzt sprach Rose davon, dass es die „Aufgabe einer galante Textproduktion“ sei, „den situativen Vollzug galanter Interaktions- und Kommunikationssituationen ‚auf Dauer zu stellen‘“, wobei die textuelle „Archivierung“ Bedingung und Grund dafür ist, dass die galante Conduite überhaupt einen „Modellcharakter“87 erhalten kann, insofern der Text die sprachlich repräsentierten Formen des Galanten der Rezeption zugänglich macht. Gleichzeitig entfalte der Text – als Referenz oder „Ausgangs- und Orientierungspunkt“ für die erneute Umsetzung des Modells in sozialen Kontexten und weiteren Texten ‒ eine „Modellierungsfunktion“, da er galantes Ver-

85

„Verhaltens- und Kommunikationsideal“ (Borgstedt u. Solbach: Der galante Diskurs, S.  10); galantes „Kommunikations- und Verhaltensideal“ (Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S.  51, 70, 116f., 141f., 371); „Verhaltensideal“ (Stauffer: Verführende SchriftKörper, S.  140); galante „Ethik und soziale Praxis“, „Praxeologie“ oder „Habitusform“ (Steigerwald: Galanterie als Kristallisations- und Kreuzungspunkt, S. 66f.); „Galantes Interaktions- und Kommunikationsmodell“ (Rose: Conduite und Text, S. 8, 163–190). 86 Borgstedt und Solbach sprechen von einem „Verhaltens- und Kommunikationsideal – der galanten Conduite ‒, von dem die literarischen Erscheinungsformen abgeleitet werden“, Borgstedt u. Solbach: Der galante Diskurs, S. 10; sie setzen damit ein Reproduktions- oder Abhängigkeitsverhältnis voraus. Im Gegensatz dazu Rose: Conduite und Text, S. 1–13. 87 Ebd., S. 11.

2.2 Weiblichkeit und Text – Gendernarrative im Roman?

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halten und Kommunizieren in je spezifischer Weise sprachlich moduliert.88 Sucht man in zeitgenössischen Texten indes nach einer klaren Definition des Galanten oder der Conduite, so stößt man vor allem auf Aussagen, was nicht damit gemeint ist.89 Die entscheidende Schwierigkeit tritt auf, dass Konzepte des Galanten bzw. der galanten Conduite um 1700 nicht theoretisiert werden. Rose spricht von einer „terminologischen Uneinholbar­keit“ ‒90 was das Galante sei, lässt sich nicht definieren, sondern immer nur im konkreten Vollzug exemplifizieren.91 Zentral wird in diesem Zusammenhang das Stilideal eines je ne scay quoy (‚ich weiß nicht was‘),92 eine spezifische Form des Esprit, die weder erlernt noch in Regeln gezwungen werden kann, und die gerade in einer stets leicht variierenden, uner­warteten und somit potentiell uneinholbaren Umsetzung dessen zu Tage tritt, was als ‚galant‘ gilt. Der galante Text, vor allem der Roman,93 eigne sich, so Rose, besonders gut, um Formen des Galanten zu beschreiben, weil er stets konkrete Handlungs- und Kommunikationssituationen vorführt: Wenn sich eine galante Conduite tatsächlich nicht definieren ließ, sondern immer in der konkreten Situation selbst zu erweisen hatte, so bildeten eben diese Situationen die Grundlage des Modells, für das sie einen Modellcharakter beanspruchen konnten. Sollte dieser auch jenseits des konkreten Vollzugs seine Bedeutung nicht verlieren, bedurfte es gewissermaßen einer ‚Archivierung‘ dieser Situationen. Genau das konnten entsprechende Texte leisten. Auf diese Weise gewann die galante Textproduktion eine Modellfunktion für eine galante Conduite. Und zwar nicht nur, indem sie tatsächliche Interaktions- und Kommunikationssituationen auf Dauer stellte, sondern auch dadurch, daß die in ihnen vorgeführten Situationen eine prinzipielle Referentialisierbarkeit auf ähnlich gelagerte und als modellhaft verstandene Situationen suggerierten.94

Der „Roman [wird] selbst zum Modell für eine galante Conduite“,95 erschöpft sich aber nicht in einer „einfachen Reproduktion des galanten Modells“. Conduite und Text stehen in einem konjunktiven und disjunktiven Verhältnis gleichermaßen;96 sie referieren aufeinander, ohne jemals deckungsgleich sein zu können. Vielmehr „boten galante Texte einen Ausgangs- und Orientierungspunkt für die Umsetzung des Modells in je spezifischer Differenz in je kon­kreten Situationen.“97 Der Text (res-

88

Ebd., S. 13. Z.B. nicht die pedantische Schulgelehrsamkeit oder die zurückgezogene Lebensart des Scholastikers, nicht die „unlebhafte“ und „wenig leutselige Manier“ zu kommunizieren, keine „Affektation“, Zwang oder Plumpheit usw. (ebd., S. 4f., 13). Zur Adaption des preziösen Darstellungsprinzips ex negativo und Integration in den galanten Roman; weiterführend Kap. 4.2.3 Modifikation preziöser Liebes- und Geschlechtermodelle im galanten Roman II. 90 Rose: Conduite und Text, S. 6. 91 Ebd., S. 7. 92 Ebd. 93 Ebd., S. 11, 13. 94 Ebd., S. 11. 95 Ebd., S. 11; ähnlich S. 13. 96 Ebd., S. 12. 97 Ebd., S. 13. 89

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

pektive der Roman) wird zu einer Art Transmitter, der galantes Verhalten und Kommunizieren modellhaft ausstelle und zugleich zu seiner modellierenden Aneignung anrege („prinzipielle Referentialisierbarkeit auf ähnlich gelagerte Situationen“). Rose erklärt: „So zeigte der galante Roman […] in konkreten Episoden modellhaft eine galante Conduite und lehrte zugleich, wie diese zu erscheinen habe, um als solche erkannt und anerkannt zu werden.“98 Wenn diese These stimmt, dann ist von Interesse, was das für die Inszenierung von Weiblichkeit bedeutet und weiterführend für Frauen, die die Romane lesen (sollten). Was bedeutet es, wenn Modell und Konkretation weder deckungsgleich sein können noch sollen? Wenn sogar im Gegenteil die leicht variierende Abweichung vom unterstellten Modell das konsti­tutive Prinzip des Galanten sei?99 Entwirft der weiblichkeitszentrierte Roman Modelle für Weiblichkeit, d.h. für das Verhalten und Kommunizieren von Frauen „in je konkreten Situationen“? Folgt der galante Roman überhaupt einem Modell – des Verhaltens und Kommunizierens (galante Conduite) bzw. des eigenen Erzählens (wiederkehrende Plotmuster u.a.)? Oder konterkarieren andere Einflüsse, Faktoren, Emergenzen die Modellierungsfunktion galanter Texte? Ist die Vielfalt und Variabilität galanter Frauenfiguren etwa auf den (ästhetischen) Zwang zur Differenz, zur ‚kleinen Abweichung vom Modell‘ zu begreifen? Möglicherweise wurde bisher zu vorschnell von einer „prinzipiellen Referentialisierbarkeit“ des galanten Textes „auf ähnlich gelagerte Situationen“100 ausgegangen, von einer Übertragung der Narration auf Modelle des Verhaltens und Kommunizierens in sozialen Kontexten. Die vorliegende Studie schlägt daher vor, den Textbegriff galanter Autoren weiter zu schärfen.101 Vorweggenommen sei: Der galante Roman eröffnet durchaus die Option einer prinzipiellen Referentialisierbarkeit zur extratextuellen Lebenswelt, er baut sie textuell sogar explizit auf (Kapitel 3.3). Doch wird diese Referenz gebrochen durch eine grundsätzliche Verortung des Romans im Bereich der Erfindung (Fiktion), wodurch die Textgestaltung von Verbindlichkeiten und Reglements der sozialen Lebenswelt entbunden ist (Kapitel 3.4).102 Die Nähe des galanten Romans zur Anlei-

 98 Ebd.,

S. 161. S. 13. 100 Ebd., S. 11. 101 Mit der Frage nach einem galanten Textbegriff verbinden sich grundsätzliche Definitionsfragen zum Begriff ‚Literatur‘, die hier nicht behandelt werden. Die vorliegende Studie unternimmt einen Versuch, den galanten Textbegriff zu schärfen und fordert dezidiert zu weiterführenden Untersuchungen auf. 102 Damit kommt die vorliegende Studie zu einem anderen Ergebnis als Rose, der von einer „Situierung [des Romans] im Feld der ‚Historien‘“ ausgeht. Er bezieht sich dabei auf Erdmann Neumeister, problematisiert aber nicht, dass Neumeister keineswegs von der Historie im Sinne einer ‚wahren‘ Geschichte (Aristoteles) spricht, sondern Romane als „erdichtete Historien“ beschreibt, Rose: Conduite und Text, S. 159‒162, Zitat von Neumeister auf S. 160.  99 Ebd.,

2.2 Weiblichkeit und Text – Gendernarrative im Roman?

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tungs- und Verhaltensliteratur ist in der Forschung vielfach betont worden,103 doch irritieren galante Frauenfiguren diese These und fordern dazu auf, galante Textmodelle zu differenzieren. Wie schon erwähnt, können weibliche Figurenkonzeptionen im galanten Roman sehr heterogen und widersprüchlich ausfallen. Um analytischmethodisch zwischen der Darstellung der Protagonistin in den einzelnen Szenen des Romans und einer allgemeineren Perspektive zu unterscheiden, die retrospektiv aus der Gesamtkomposition des Romans erkennbar wird, schlage ich vor, zwischen weiblicher Figur und Weiblich­keitsnarrativ zu unterscheiden. Die Texte stellen die Protagonistin in vielfältigen Handlungs- und Konfliktsituationen dar, im Kontakt und in der Interaktion mit unterschiedlichen Figuren der Romanwelt. Intradiegetisch wird die weibliche Figur aus variablen Perspektiven dargestellt und charakterisiert (Selbst- und Fremdcharakterisierung durch Figurenrede, Verhaltensweisen, Nebenfiguren usw.). Dieses Erzählen wird über den Erzähler ver­mittelt, der als auktoriale (allwissende) Instanz ‚mehr‘ zu wissen scheint als die handelnden Figuren.104 Interessant sind daher Formen der Leserlenkung, die eine wertende oder verallgemeinernde Perspektive auf die Protagonistin entwerfen (Erzählerkommentare, Erklärungen des Erzählers). Darüber hinaus sind Aussagen wichtig, die in den Paratexten (Vorreden, Zuschriften) über die Protagonistin getroffen werden. Im Sinne von ‚Regieanweisungen‘ verbinden sich mit paratextuellen Aussagen Hinweise, die die Be­wertung der Figur beeinflussen. In der Gesamtheit der Romankomposition – im Wechselspiel zwischen intradiegetischer Figurendarstellung, kommentierender Erzählerperspektive und paratextuellen Hinweisen  –  generiert sich ein spezifisches Weiblichkeitsnarrativ, das Rück­schlüsse auf allgemeinere Deutungsweisen zur Protagonistin und damit zu Genderperspektiven im galanten Roman zulässt. Erst diese textuelle Re­konstruktion narrativer Weiblichkeit kann dann mit einem soziokulturellen Geschlechterwissen und historischen Kontexten des Romans in Beziehung gesetzt werden. 2.2.3 Text und Paratext Die Kategorie Geschlecht wird im Erzähltext auch in paratextuellen Ansprachen der Verfasser bedeutsam. Um den galanten Textbegriff weiter zu differenzieren und zu untersuchen, auf welchen Ebenen die Kategorie Geschlecht noch auftritt, sind verschiedene Textebenen zu unterscheiden. Aussagen zu Funktionen und Zielsetzungen des Romans finden sich häufig im Paratext formuliert, in Vorreden und Zuschriften. Für die vorliegende Arbeit ist der Paratext eine ent­scheidende Quelle, um nähere Details zum Textverständnis galanter Autoren zu gewinnen, denn Stoffe und Ma-

103 Gelzer (2007/2008/2012); Florack u. Singer (2009/2012); Rose (2012); Steigerwald (2009/2011);

Stauffer (2009/2012/2014) u.a.; Forschungsüberblick in Kap. 1. Einleitung. u. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 64.

104 Martinez

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

terien, Wirkungsabsichten mit Blick auf mögliche Leserinnen, poetolo­gische Diskussionen (zu Historie und Fiktion, Rolle der Satire usw.) werden in den Para­texten thematisiert. Darüber hinaus bieten sich die Paratexte an, um weiterführende Fragen zu erörtern, z.B. zum verlegerischen Umfeld, zu soziokulturellen Hintergründen der Autoren oder zur sozialen Verortung der antizipierten Leserinnen ‒ auch wenn dabei ‚geflunkert‘ werden kann. Genette beschreibt den Paratext als das „Beiwerk“, das einen Text, eine Erzählung rahmt, worunter er nicht nur Vorreden versteht, sondern auch Angaben wie Verfassername, Verlagsimpressum, Illustrationen, Drucktypen, Formate, Fußnoten u.a.105 Alle Textelemente, die unmittelbar mit dem materiellen Buch (dem Roman) verbunden sind, bezeichnet Genette als paratextuellen Peritext.106 Zum Paratext zählt er zudem Epitexte, die sich als eigenständige Textform in räumlicher und/oder zeitlicher Entfernung zum Buch befinden, wie Briefe, Lexikaeinträge, kommentierende Abhandlungen. Auf die unmittelbar in der Publikation auftre­tenden Peritexte beschränke ich mich, wenn in der vorliegenden Arbeit vom Paratext ge­sprochen wird.107 Verlegerische Peritexte, wie Verlagsimpressen oder Jahreszahlen von (Nachdruck-)Auflagen liefern entscheidende Indizien, um den Publikationsprozess galanter Romane zu verfolgen. Allerdings ist Vorsicht geboten, bei der Bewertung solcher Informa­tionen – nicht selten werden Impressen um 1700 fingiert, d.h. es handelt sich um erfundene Angaben, bei denen nicht erkennbar werden soll, dass sie erfunden sind (Täuschungsversuch).108 Hier ist stets danach zu fragen, wer diejenigen sind, 105 Gérard

Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a.M. 2001, S. 10, 12. 106 Genette: Paratexte, S. 12f., auch im Folgenden. Der Begriff „Buch“ wird hier nur unter Vorbehalt übernommen, da Bücher im 17.  Jahrhundert nicht dieselbe Erscheinungsform aufweisen wie typischer Weise in der Moderne. In der Regel werden sie ungebunden gehandelt und erst nachträglich vom Buchbinder geschnitten, gebunden usw. 107 Durch diese Beschränkung soll vermieden werden, dass der Paratextbegriff allzu stark ausgeweitet wird und eine Differenzierung zu (medialen, sozialen, poetischen) Kontexten unscharf wird. In der historischen Arbeit können Kontexte zum Text zwangsläufig nur über Textquellen erschlossen werden, die Genette als Epitexte bezeichnen würde. Um terminologische Verwirrung zu vermeiden, wird auf den Begriff Epitext verzichtet. 108 Gottfried Gabriel unterscheidet fingiert und fiktiv wie folgt: Beide Aussagemodi beziehen sich auf erfundene Aussagen. Während fiktive Aussagen jedoch offen als Erfindungen erkennbar sind (erfundene Aussage ‚ohne Täuschungsversuch‘), werden fingierte Aussagen in täuschender oder lügnerischer Absicht formuliert, bei der verschleiert werden soll, dass es sich um eine erfundene Aussage handelt (erfundene Aussage ‚mit Täuschungsversuch‘), Gottfried Gabriel: Art. Fiktion. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg. v. Klaus Weimar u.a. 3. Aufl., Berlin 1997, S. 594–598, hier S. 595. Die Frage, an welchen Kriterien erkennbar wird, ob es sich um eine absichtlich verschleiernde oder um eine offensichtliche Erfindung handelt, betrifft die Definition von Fiktion, Fiktionalität, Fiktivität generell und wird in der Fiktionstheorie kontrovers diskutiert. Text- und darstellungsbezogende Ansätze (Käthe Hamburger) begreifen Fiktionalität als sprachlich-grammatikalisches Phänomen und suchen nach spezifischen Fiktionalitätssignalen im Text (z.B. das epische Präteritum). Produktions- oder rezeptionsbezogene Ansätze (Searle, Walton, Eco) gehen hingegen davon aus, dass die Unterscheidung zwischen

2.2 Weiblichkeit und Text – Gendernarrative im Roman?

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die Aussagen treffen bzw. fingieren, wen sie damit täuschen wollen und wen nicht. Das fingierte Verlagsimpressum „Cölln bey Pierre Marteau“ z.B. bezeichnet um 1700 einen Verlag, der real nie existierte und von Druckern und Verlegern vielfältig genutzt wurde, um Zensurbehörden zu täuschen.109 Lieb­haber derartiger Schriften kannten hingegen das Impressum; es wurde geradzu zum Marken­zeichen, durch das signalisiert werden konnte, dass hier eine Publikation vorlag, deren wahrer Ursprung verschleiert werden soll. Auch weiblichkeitszentrierte Romane erscheinen unter dem fingierten Impressum „Pierre Marteau / Peter Hammer“ (Kapitel 3.2.2.1). Informationen, die sich über verlegerische Peritexte rekonstruieren lassen, sind daher wichtige Hinweise, um die Publikationsumstände der Texte zu erhellen. Wichtiger noch werden Paratexte, wenn es um die Komposition und Komplexität des Gesamttextes geht. Durch Paratexte multiplizieren und differenzieren sich textuelle Ebenen und Strukturen; sie führen zu einer gesteigerten Komplexität des Gesamttextes. Besonders in Gattungen, die in kodifizierten Poetiken nicht ausführlich behandelt werden, können Paratexte poetologische Funktionen übernehmen, aber auch satirisch umfunktioniert werden, wie von Ammon und Vögel feststellen.110 Sie spielen zudem eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, brisante (religiöse, wissenschaftliche, politische) Inhalte öffentlich kommunizierbar zu machen.111 Nach Ansicht von Ammon und Vögel erzwingt die Publikationspraxis des 17. Jahrhunderts geradezu eine Ausweitung des Paratextes; Paratexte wurden gewissermaßen zum „ubiquitären Phänomen“.112 Die Differenzierung von Peri- und Epitext, von paratextuellen Elementen inner- und außerhalb des Buches, so von Ammon und Vögel, greift als sinnvolle Unterscheidung im Grunde erst, nachdem im 18. Jahrhundert ein moderner Buchmarkt entstanden war, der den Umgang mit dem Buch von einem ‚Außerhalb‘ der Bücher organisierte.113 Zu­vor war der wichtigste Ort, um das Buch zu kommunizieren, das Buch selbst. Wert und Bedeutung einer Publi-

fingiert und fiktiv keine Texteigenschaft, sondern eine Rezeptions- und Kommunikationsweise ist, deren Deutung und Verwendung von den Nutzern (Produzenten, Rezipienten) abhängig ist. Dieser Position folgt auch die vorliegende Studie in Anschluss an Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001, S. 15, 16f. 109 Karl Klaus Walther: Die deutschsprachige Verlagsproduktion von Pierre Marteau/Peter Hammer Köln. Zur Geschichte eines fingierten Impressums. Leipzig 1983. 110 Ammon u. Vögel: Pluralisierung des Paratextes, S. VI–XXI; als Beispiel nennen sie Cervantes Don Quijote, 1605/1615 (ebd., S. XI). Zu paratextuellen Strategien im Don Quijote vgl. Uwe Wirth: Spuren am Rande zwischen genuiner und degenerierter Indexikalität. In: Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger. Hg. v. Heike Gfrereis u. Marcel Lepper. Göttingen 2007, S. 181– 195, bes. S. 185–189. 111 Ammon und Vögel: Pluralisierung des Paratextes, S. XIV nennen Texte von Luther, aber auch die Encyclopédie als Beispiele, in denen Paratexte ostentativ harmlos oder devot gestaltet sind, um schließlich im Haupttext brisante Inhalte (versteckt) einzustreuen. 112 Ebd., S. XIII. 113 Ebd., S. XII.

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

kation bemaß sich an Qualität und Quantität der Aufmachung (Größe des Formats, Papier- und Druckqualität, Aufwand, der für Kupferstiche, Goldimpregnierungen u.ä. betrieben wurde), vor allem aber an der Anzahl der Widmungen, Dedikationen, Vorreden, Ehrengedichte usw. Je mehr Dedikationen und Vor­reden ein Buch aufwies, desto imposanter nahm es sich aus.114 Auch alle Informationen rund um die Publikation – den Autor vorzustellen, sein Schreiben zu rechtfertigen, die Leser für die Lektüre zu gewinnen, Werbung für Autor oder Verlag zu machen –, wurden im Text selbst untergebracht: „die Funktionen der Epitexte mußten noch von den Peritexten erfüllt werden“.115 Umso bedeutsamer waren Peritexte damals und umso aufschlussreicher sind sie heute. Paratextuelle Rahmungen treten im weiblichkeitszentrierten Roman in Fülle auf – Zuschriften und Dedikationen, Vorreden, Verteidigungspamphlete der Autoren, Titellisten der Verleger (allerdings keine Herausgeber­schriften) rahmen den Erzähltext;116 mitunter finden sich in den Romanen auch beigefügte Traktate eigenen Inhalts oder, wie in der vierten Auf­lage von Bohses Constantine, eine Dramenfassung des gleichnamigen Romans. Die textuellen Ebenen differenzieren und multiplizieren sich auch hier, weswegen die vorliegende Studie da­nach fragt, wie junge Autoren um 1700 mit paratextuellen Formen und Strukturen umgehen. In Ermangelung einer verbindlichen Terminologie wird zwischen Paratext (Vorreden, Zu­ schriften, Titelblatt, Impressum u.a.) und Erzähl- oder Haupttext im engeren Sinne unterschie­den (als der Teil des Textes, wo erzählerisch und typografisch erkennbar die ‚eigentliche‘ Romanhandlung einsetzt – in der Regel markiert durch peritextuelle Signale wie Kapitelüberschriften „Erstes Buch“, Schmuckleisten, Ornamente oder die einsetzende Pagi­nierung).117 Alle Textebenen und Elemente, die sich mit der erzählten Geschichte im engeren Sinne verbinden, werden als romanintern oder intradiegetisch bezeichnet. Textebenen und Elemente, die sich ‚außerhalb‘ oder um

114 Ebd.,

S.  VIIf.: Gedichtsammlung des Freiherrn von Canitz, deren Vorreden, Zuschriften, Erklärungen zu den Zuschriften, Kupfertiteln usw. mit über 300 Druckseiten den Hauptteil – die Gedichte – geradezu verdrängen. 115 Ebd. 116 Das Fehlen von Herausgeberschriften könnte auf die geringe Wertschätzung des Romans zurückzuführen sein. Verleger profitieren zwar von der Publikation, sind aber offenbar nicht bereit, mit Namen dafür zu zeichnen. Galante Autoren schreiben Vorreden und Zuschriften stattdessen selbst. Dramenfassung der Constantine in Talander [August Bohse]: Die Liebens=würdige Europäerin Constantine […] Franckfurt/Leipzig 1735. Die Lustspielfassung von fremder Hand erschien bereits im Jahr der Romanerstausgabe (1698) als eigenständiger Druck, Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. 2. Aufl., Stuttgart 1990, S. 738 (im Folgenden zit. als Personalbibliographien). 117 Terminologische Unklarheiten: Genette spricht vom Paratext als „Beiwerk“ und vom Gesamttext als dem „Buch“. In literaturwissenschaftlichen Einzelanalysen finden hingegen oft die Begriffe „Paratext“ und „Haupt- oder Basistext“ Verwendung, was allerdings implizieren kann, dass es sich beim Haupttext um den wichtigeren Teil des Gesamttextes handelt – eine Frage, die in der Paratextforschung umstritten ist.

2.2 Weiblichkeit und Text – Gendernarrative im Roman?

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die erzählte Geschichte ansiedeln, werden paratextuell genannt. Roman­interne und paratextuelle Ebene, Haupt- und Paratext, sind als gleichermaßen konstitutiv für den Gesamttext zu verstehen, zumal ihre Grenzen fließend sein können. Dennoch ist diese Unterscheidung wichtig, damit der Gesamttext in Relation zu weiteren extratextuellen Kontexten bestimmt werden kann.118 In welchem funktionalen Verhältnis Vorreden (Paratext) und erzählte Geschichte (Haupt­text) als Teil des Gesamttextes stehen, ist in der Forschung eine strittige Frage. Ältere wie neuere Studien zum Paratext kommen lediglich darin überein, dass die Vorrede  –  in der antiken Tradition des exordiums stehend –119 der Ort ist, an dem ein „Autor“ (Weber, Genette)120 bzw. eine „extradiegetische Instanz“ (Wirth) versucht,121 den Leser zur Lektüre zu bewegen und Anweisungen gibt, etwa zur Absicht und Ordnung des Textes, zum gewünschten Leser, zur Entstehungsgeschichte, gegebenenfalls zu (literarischen) Vorbildern, Auftraggebern, zu Fragen der Gattung oder Textgestaltung.122 Uneinigkeit herrscht hingegen in einer Vielzahl weiterer Folgefrage: Gehört der Paratext zum Text, konstituiert sich der Text durch den Paratext oder stehen beide als singuläre Textformen isoliert nebeneinander?123 Welche Aussageinstanz steht eigentlich hinter der Rede des Paratextes – ein empirischer Autor, ein pseudonymer Verfasser oder eine andere Instanz, die nur die Rolle des Autors

118 Für

die Erfassung paratextueller Strukturen sind die erzähltheoretischen Begriffe extra- und intradiegetisch nur bedingt geeignet, denn beide bezeichnen Ebenen des Erzähltextes, sind also schon auf die erzählte Geschichte bezogen. Dies könnte bei der Vielzahl paratextueller Strukturen zu Unklarheiten führen. Ich nutze daher, wenn nötig, alternativ die Begriffe roman­intern (Erzähl-/Haupttext) ‒ paratextuell (Paratext) – extratextuell (mediale, soziale, poetische Kontexte), hierzu Kap. 3.4.2.1 Weiblichkeitsnarrative zwischen Erfindung und Authentizitätsfiktion. 119 Ernst Weber: Die poetologische Selbstreflexion im deutschen Roman. Zu Theorie und Praxis von Roman, Historie und pragmatischem Roman. Stuttgart u.a. 1974, S. 19. 120 Ebd.; Genette: Die Erzählung, S. 178. 121 Uwe Wirth: Das Vorwort als performative, paratextuelle und parergonale Rahmung. In: Rhetorik. Figuration und Performanz. Hg. v. Jürgen Fohrmann. Stuttgart 2004, S.  603–628, hier S. 609. 122 Weber: Poetologische Selbstreflexion im deutschen Roman, S. 19f.; Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800. Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. München 2008, S. 87f. 123 Anders formuliert: Steht das Vorwort vor dem Text und hat metakommunikative Funktionen oder ist es Teil des Erzähltextes und fügt sich ihm ein oder unter? Kuk-Hyun Cho und Genette vertreten die These, dass der Paratext den Erzähltext ergänzt und somit funktional untergeordnet ist. Hans Jürgen Pötschke und Jaques Derrida sind hingegen der Ansicht, dass der Paratext eine Textform zweiter Ordnung sei, der dem Erzähltext prinzipiell übergeordnet ist, den Umgang mit ihm und seine Deutung beeinflusst. Genette meint, dass der Text erst durch den Paratext überhaupt zum Buch bzw. Werk wird. Wirth plädieren dafür, Paratext und Text in ihrer wechselseitigen Symbiose zu verstehen – der Paratext rahmt den Erzähltext und wirkt auf ihn ein, ebenso wie der Erzähltext konstitutive Bedingung dafür ist, dass der Paratexte überhaupt existiert. Dem schließe ich mich an. Zu den verschiedenen Positionen Wirth: Das Vorwort, S. 611.

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

übernimmt bzw. die Funktion Autor ausfüllt?124 Welche Glaubwürdigkeit kommt Aussagen im Paratext, welche hingegen im Text zu? Kann ein Paratext, nur weil er einem Autor oder einer anderen extratextuellen Instanz zugeschrieben wird, für glaubhafter gelten als der eigentliche Haupttext, die fiktionale Erzählung? Und wie lässt sich überhaupt zwischen fiktionalem oder nicht-fiktionalem Modus in Hauptund Paratext unterscheiden? Vielfältige Fragen schließen sich an, die im Rahmen dieser Arbeit ausgeblendet bleiben müssen. Um den Paratextbegriff für die folgende Untersuchung fruchtbar zu machen, sollen drei grundsätzliche Vorannahmen getroffen werden. (1) Differenzierung der Sprecherinstanzen. Galante Romane werden anonym, meist aber pseudonym veröffentlicht. Gründe für die auffällige Verwendung des Pseudonyms sind bisher ungeklärt: Handelt es sich um eine Strategie, um als Urheber eines Romans nicht identifizierbar zu sein, oder gerade im Gegenteil, um überhaupt als Verfasser auftreten zu können? Sind Pseudonyme lediglich eine Mode des Romanmarktes um 1700 oder wird Pseudonymität bewusst als ästhetische Strategie eingesetzt, um die Komplexität von Autorrollen zu steigern? Vorerst können diese Fragen nicht entschieden werden.125 Da galante Autoren aber auf Pseudonyme zurückgreifen und offensichtlich eine Differenz zu ihrer Existenz als Privat­person ziehen, soll dieser Tatsache Rechnung ge­tragen werden.126 Es kann diskutiert werden, ob der Autorbegriff im galanten Kontext überhaupt relevant ist; die vorliegende Studie nutzt ihn indes, um zwischen dem Autor als empirischer bzw. historischer Person (z.B. August Bohse) und pseudonymem Verfasser (Talander) zu differenzieren. Mit der Übernahme eines Pseudonyms transfiguriert sich der empirische Autor in eine poetische Aussageinstanz, was die Erzähltexttheorie als Verdopplung, partage, Transfiguration, Trennung, oder Ebenendifferenzierung beschreibt.127 Man könnte

124 Diese

Fragen betreffen Auseinandersetzungen um den ontologischen Status des Autors, kritisch diskutiert u.a. von Roland Barth, Philippe Lejeune und Michel Foucault. Aus poststrukturalistischer Sicht stellt die ‚Funktion Autor‘ einen Konnex zwischen Text/Werk und einer Urheberoder Eigentumsinstanz her und ersetzt einen essentialistischen Autorbegriff, der im Autornamen eine konstante, unzweifelhaft erscheinende Instanz ‚hinter‘ dem Text suggeriert. In der Regel ist das der empirische/historische Autor gleichen Namens, der als moralische, poetische, juristische Instanz für den Text haftbar zu machen sei. Aus poststrukturalistischer Sicht handelt es sich dabei um eine Strategie und Funktionalisierung des Autornamen, um Text, Werk, Autor, empirische Person als Union begreifen und sie unter den Vorstellungen, die in einer Epoche über den Autor, das Werk usw. vorherrschen, subsumieren zu können, hierzu Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hg. v. Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner u. Bernd Stiegler. Stuttgart 2000, S. 233–247. 125 Die Problematik des Pseudonyms, das i.B. auf einen konkreten Autor transparent bzw. referentialisierbar sein soll, ohne diesen als bürgerliche Person haftbar machen zu können, regt Rose: Conduite und Text, S. 38–45, 321 am Bsp. Hunold/Menantes an. 126 Die in der Studie behandelten Autoren sind ausschließlich junge Bürgerliche. 127 Wirth: Geburt des Autors, S.  91‒186: „Trennung“ (nach Genette, S.  144), „Transfiguration“ (Marinez-Bonati, S. 91), „Partage“ (Foucault, S. 91, 107), „Ebenendifferenzierung“ (Wirth/Bi-

2.2 Weiblichkeit und Text – Gendernarrative im Roman?

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sagen, dass die Übernahme des Pseudonyms in der galanten Tradition strukturell gleichbedeutend ist zur Übernahme der Funktion Autor durch den real Schreibenden (Foucault). Während der moderne Autor mit seinem bürgerlichen Namen als derjenige fungiert, der als Autor identifiziert werden kann (und somit die Funktion Autor übernimmt), schaltet sich in der galanten Tradition das Pseudonym dazwischen. Da in der Galanterieforschung einige, aber nicht alle Pseudonyme aufgelöst werden konnten, nimmt die vorliegende Studie eine pragmatische Vereinfachung vor: Wenn das Pseudonym des empirischen Autors bekannt ist, gehe ich davon aus, dass sich in der Rede des Pseudonyms (Talander) auch die Stimme des empirischen/historischen Autors (Bohse) ver­nehmen lässt, obwohl sie nicht identisch sind. Wenn eine Differenzierung nicht explizit notwendig ist, spreche ich allgemein vom Autor; worunter auch diejenigen fallen, deren Pseudonym unaufgelöst ist. Gegebenenfalls sind weitere Instanzen zu differenzieren, da häufig nicht nur ein, sondern mehrere Pseudonyme Verwendung finden,128 ebenso wie sich durch die Vervielfältigung von Paratexten auch diese Redeinstanzen vervielfältigen können (Kapitel 3.4.2.1). Solche Ebenendifferenzierungen sind interessant in ihrem Verhältnis von Nähe und Distanz zueinander. Alle Sprecher­instanzen des Paratexts kommen zwar innerhalb des Gesamttextes, aber außerhalb der erzählten Geschichte zu Wort. Sie sind daher von weiteren Aussageinstanzen zu unter­scheiden. Dies betrifft vor allem den auktorialen Erzähler, die typische Erzähl­instanz im weiblichkeitszentrierten Roman, weswegen andere Erzählertypen außer Acht ge­lassen werden. Der auktoriale Erzähler ist eine vom empirischen Autor gestaltete Erzählinstanz, die selbst nicht als Figur der erzählten Geschichte auftritt, aber Funktionen des Erzählens im Erzähltext übernimmt.129 Die Rede des Erzählers ist Teil der erzählten Geschichte; es handelt sich

ckenbach, S.  102, 159), „Verdopplung“ (Wirth, S.  186f.). Diese Überlegungen beziehen das Pseudonym nicht ein, sondern dienen vor allem der Differenzierung zwischen empirischem Autor (als realer Person) – Herausgeber – Erzähler usw. Sie sind aber prinzipiell auf das Verhältnis zwischen empirischem Autor und Pseudonym übertragbar, da es sich um ähnliche Formen der Selbstdistanzierung und Ebenendifferenzierung handelt. 128 Z.B. Bohse (alias Talander, Gustav Hobes) oder Celander, der auch als Musophilus veröffentlicht haben soll, [anonym]: Art. Gressel. In: Beyträge zur Oettingischen politischen=kyrchlichen= und gelehrten Geschichte […]. Oettingen: Johann Heinrich Lohse / Hochfürstl. Buchdr. 1773, S. 257. In diesem Zusammenhang müsste diskutiert werden, wie Autorschaft in anonymen Romanen zu begreifen sei: Liegt der anonymen Publikation keine Autorfunktion zugrunde oder jedes Mal eine neue? 129 Über die Stimme des auktorialen Erzählers wird das gesamte Geschehen des Romans vermittelt: Die Abfolge der erzählten Ereignisse in ihrer raumzeitlichen Struktur, Aussagen und Informationen zu Figuren, Orten, Umständen usw. werden über die auktoriale Instanz präzisiert, zusammengefasst oder auch ausgespart. Der auktoriale Erzähler muss keinesfalls eine zuverlässige Instanz sein, aber durch seine Kommentare und Erläuterungen erweitert sich die Perspektive auf die Figuren-, Handlungs- und Konfliktgestaltung, da er über einen gewissen ‚Wissensvorsprung‘ vor den Figuren verfügt, d.h. er weiß oder behauptet mehr zu wissen, als die handelnden Figuren (Genette spricht von Nullfokalisation), Martinez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 64.

42

2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

um eine romaninterne Instanz, deren Aussage nicht mit der Rede des Autors oder pseudonymen Verfassers gleichzusetzen ist – auch dann nicht, wenn sich aus Paraund Haupttext eine Referentialität zwischen beiden Erzählinstanzen rekonstru­ieren lässt. Herausgeberinstanzen treten im weib­lichkeitszentrierten Roman nicht auf, sie kommen lediglich durch peritexuelle Hin­weise von Verlegern (z.B. Titellisten) ins Spiel. Die Differenzierung der Aussageinstanzen wird wichtig, weil sich mit ihnen die Frage nach der Aussagequalität und dem Adressatenkreis verbindet. Grundsätzlich gilt, dass Glaub­haftigkeit oder Ernsthaftigkeit einer Aussage dadurch bestimmt werden, welche Aussage­instanz sie an welchem Ort an wen richtet und welche Funktion oder Absicht sich damit verbindet. Wenn beispielsweise der Autor in der Vorrede Hinweise zum eigenen Text und Text­verständnis gibt, kommt dieser Rede eine größere Ernsthaftigkeit zu (was nicht notwendig heißt Glaubwürdigkeit) als etwa der Figurenrede in einer humoresken Szene. Dies ist im Einzel­fall zu überprüfen. Peritextuelle Signale spielen auch hier eine Rolle – wenn Erzählerkom­mentare oder einzelne Phrasen in Fettdruck erscheinen, ist davon auszugehen, dass die Aussage betont werden soll, so dass zu prüfen ist, welche Funktionen sich damit verbinden können. (2) Autorschaft und Text im Rahmen von Paratexten. Vorreden galanter Romane be­schränken sich nicht auf Aussagen zum Text, zur eigentlichen Romanhandlung. Aufgrund der exordium-Tradition ist dies naheliegend, doch folgen galante Vorreden keiner strengen Exordialtopik.130 In freier Form werden die Themen behandelt, die dem jeweiligen Autor wichtig erscheinen. Dies ist insofern interessant, weil nicht nur Informationen für die Leserschaft formuliert werden, sondern sich der Autor über seine Rede gleichsam selbst präsentiert und Auskunft gibt, wie er vor dem Publikum erscheinen möchte. Vorreden im galanten Roman sind ein wichtiges Medium auktorialer Selbstinszenierung. Um Roses Begriff des offenen Modells aufzunehmen: Aus Vorreden lassen sich modulierte Autorschaftskonzepte rekonstruieren, die ihrerseits modulierend wirksam werden, ohne deswegen verbindlich sein zu müssen.131

130 Laut

Weber folgen Romanvorreden im späten 17. und 18. Jahrhundert einer nach antiken Rhetoriken ausgebildeten Exordialtopik, doch lässt sich diese Beobachtung für den galanten Roman nicht bestätigen. Gängige Topoi (Dank an Leser für frühere Gunst, Hoffen auf erneuten Zuspruch, Hinweise zur Entstehungsgeschichte und zu künftigen Publikationen) finden sich zwar in den meisten galanten Vorreden, doch lassen sich weder einheitliche Struktur noch wiederkehrender Aufbau erkennen, Weber: Poetologische Selbstreflexion im deutschen Roman, S. 19f. 131 Man könnte sagen, dass galante Autoren durch die Schreibpraxis mit Fragen der Textgestaltung und der eigenen Funktion als Textproduzent konfrontiert werden, die sie zu bewältigen versuchen, indem sie diese Aspekte in späteren Schriften reflektierend aufnehmen. Durch die Publikation werden, wie Rose richtig bemerkt, diese Entwürfe ‚auf Dauer‘ gesetzt, allerdings ohne dass das Entworfene einem endgültigen (einem gewünschtem, autorisierten) Konzept entsprechen muss. Zu Modellbegriff und Modellierungsfunktion galanter Texte vgl. Rose: Conduite und Text, S. 9–17, bes. S. 13. Konzept, Modell, Entwurf verwende ich synonym, verstehe sie

2.2 Weiblichkeit und Text – Gendernarrative im Roman?

43

In zweierlei Hinsicht entfalten sie eine Modellierungs­funktion: Zum einen wenn der Autor in späteren Vorreden auf seine früheren Publikationen Bezug nimmt, an Stoffe, Schreibart, Absichten anschließt oder erklärt, warum er sie verändert (Verhältnis zur eigenen Autorschaft). Zum anderen wenn nachfolgende Autoren in früheren Verfassern ein Vorbild erkennen, ihnen nacheifern oder eigene Autorschaftskonzepte entwickeln, mit denen sie sich von bekannten Autoren und deren Romanen abgrenzen (Verhältnis zur fremden Autorschaft). In der ständigen Selbst- und Fremdreflexion werden Autor­schaftsmodelle entworfen, stabilisiert oder modifiziert. Dabei können unterschiedliche Grade der Distanz zum eigenen ‚Werk‘ eingenommen werden. Selbstdarstellung und Selbstmaskierung greifen in der galanten Romantradition Hand in Hand. In der Regel achten galante Autoren darauf, als Verfasser ihrer Schriften nicht ver­kannt zu werden, indem sie (zum Teil mehrere, aber) wiederkehrende Pseudonyme benutzen. Gleichzeitig distanzieren sie sich von der eigenen Urheberschaft – z.B. indem sie fremden Autoren unterstellen, den Text unautorisiert verändert zu haben, sich lediglich als dokumentierende Historienschreiber stilisieren oder ihre Texte als Auftragsarbeit für Verleger, mitunter auch eines höheren Prinzips (z.B. Amor, der Liebe) ausgeben.132 Galante Autor­schaftskonzepte lassen sich nicht mit bekannten Konzepten, z.B. des gelehrten poeta doctus oder poeta eruditus, gleichsetzen und sollen daher in ihrer Spezifik beschrieben werden. Gleichzeitig verbinden sich mit diesen Formen der Selbstdarstellung und Selbst­ legitimation auch Auseinandersetzungen zum Textbegriff, der sich dadurch, dass er thematisiert wird, gleichsam konkretisiert  –  etwa im Hinblick auf Fragen zum Verhältnis von Historie und Fiktion, zur Rolle der Satire oder zur Kreativität und Originalität (inventio, ingenium, licentia poetica). (3) Paratext als parergonale Rahmung. Indem Fragen zu Autorschaft und Textbegriff in den Vorreden reflektiert und als romanstrukturierende Konzeptionen überhaupt erst entworfen werden, übernimmt der Paratext parergonale Rahmungsfunktionen. In Bezug auf Schriften der Frühen Neuzeit hat Erich Kleinschmidt die parergonale Funktion von Paratexten untersucht; theoretisch differenziert hat Uwe Wirth parergonale Strukturen an Romanen von Cervantes, Jean Paul, E.T.A. Hoffmann erläutert.133 Nur einzelne Überlegungen, die für die Untersuchung wichtig sind, sollen hier vorgestellt werden. Der Begriff des „Parergon“ geht auf Kant

aber grundsätzlich als prozessuale Kategorien. Selbstinszenierungen galanter Autoren lassen sich nicht als klar strukturierte Konzepte beschreiben, sondern gestalten sich recht variabel, häufig ändern sie sich im Laufe der Biografie. Es muss sogar davon ausgegangen werden, dass sich die Selbstpräsentation nach Gattungen unterscheidet – je nachdem, ob ein Autor über sich im Rahmen des Romans, Briefstellers, Verhaltensratgebers u.a. spricht. 132 Kap. 3.2.2, Kap. 3.3.3, Kap. 3.4.2; Autorschaft im Dienste eines höheren Prinzips im zweiten Teil von Bohses Amor am Hofe (1696), Vorrede, unpag. [A 1b]. 133 Erich Kleinschmidt: Gradationen der Autorschaft. Zu einer Theorie paratextueller Intensität. In: Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Hg. von Frieder v. Ammon u. Herfried Vö-

44

2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

zurück, der in der Kritik der Urteilskraft das „Par­ergon der Schönen Künste“ als dasjenige bestimmt, „was nicht in die ganze Vorstellung des Gegenstandes als Bestandstück innerlich, sondern nur äußerlich als Zutat gehört“ – als Bei­spiel nennt er den Rahmen, die Einfassung eines Gemäldes,134 man könnte aber auch, wie Derrida vorschlägt, von Paratext und Text sprechen. Während Kant das Parergon als „Zier­rat“ begreift, das einem Werk (dem Ergon) nur äußerlich sei, es umgibt und ihm hinzugefügt ist, weitet Derrida die Kant’sche Definition aus und beschreibt das Parergon als dasjenige, was „von einem bestimmten Außen her“ in das Werk hineinwirkt und „im Inneren des Verfahrens mit[wirkt]“.135 Wirth stellt in Bezug auf den Erzähltext fest, dass das Vorwort eine „parergonale Kraft des Hineinwirkens“ in den Text entfalte, der seinerseits auf das Vorwort ‚wirkt‘, weil der Text Bedingung und Grund dafür ist, warum das Vorwort überhaupt existiert  –  Paratext und Erzähltext bedingen einander.136 Gleichzeitig haben parergonale Strukturen aber auch die Tendenz „sich nicht abzuheben, sondern zu verschwinden, zu versinken“ und somit die inneren und äußeren Grenzen eines (Kunst-)Werks wieder in Verges­ senheit geraten zu lassen.137 Bezogen auf den galanten Roman ließe sich sagen: Das Vorwort markiert den Ort, wo Hinweise zu Konstruktions- und Darstellungsprinzi­pien (favorisierte Inhalte, Wirkungsabsichten, Konzeption der weiblichen Hauptfigur) außerhalb der erzählten Geschichte artikuliert werden, die innerhalb der erzählten Geschichte wirksam werden (sollen), anschließend aber wieder zurücktreten (‚vergessen werden‘) und die Lektüre den Lesern überlassen. Das Vorwort wirkt jedoch im Inneren des Verfahrens mit, weil alle Informationen, die es liefert, nicht nur Einfluss darauf nehmen, wie sich Leser und Leserin der Romanhandlung nähern (auch wenn sie dies scheinbar ‚vergessen‘); sondern das Vorwort schärft auch den Blick des Autors für die Spezifik des eigenen Textes, da er über den Text reflektiert, indem er das Vorwort formuliert.138 Leser werden auf bestimmte Rezeptions- und Lektüre­weisen eingestimmt, ebenso wie die poetologische Selbstreflexion des Autors dessen weiteres Schreiben beeinflussen kann. So entfaltet das Sprechen/Schreiben im Paratext parergonale und, wie Wirth feststellt, performative Potentiale. Im konkreten Sprachhandlungsvollzug realisiert sich die Äußerung, die ihre eigene, selbstreferentiell hergestellte Autorität oder Legitimität durch den deklarativen Akt an sich gewinnt. Indem sich der Schreibende im Vorwort äußert, bringt er im Akt der Rede hervor (er ‚schafft‘), was er selbst behauptet:

gel. Berlin 2008, S. 1–17; Wirth: Geburt des Autors, bes. S. 99‒118; Ders.: Das Vorwort; Ders.: Genuine und degenerierte Indexikalität. 134 Zit. nach Kleinschmidt: Gradationen der Autorschaft, S. 2; Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1974, S. 142. 135 Wirth: Das Vorwort, S. 605. 136 Ebd. 137 Ebd. 138 Ebd., S. 615.

2.3 Mehrdimensionales Gattungskonzept – Mediale, soziale und poetische Kontexte

45

Das Vorwort wird zu einem Ort, an dem wie im Falle der Unabhängigkeitserklärung der Unterschreibende sich durch einen noch nicht autorisierten, deklarativen Akt selbst das Recht zuschreibt, unterschreiben und vorschreiben zu dürfen. Das Vorwort erweist sich aber auch als Selbst-Darstellung des Konzepts [des Textes/Romans, K.B.], da es eine Zone darstellt, in der deklarativ-autopoetische Akte vollzogen werden – Akte, die dadurch, daß sie geäußert werden, das schaffen, was sie behaupten […].139

Wenn junge galante Männer die Vorreden zu ihren Romanen selbst verfassen (statt durch einen Herausgeber legitimiert zu werden), präsentieren sie sich nicht nur als Verfasser ihrer Texte, sondern sie setzen sich gewissermaßen selbst als Instanz ein, die es erlaubt, den Lesern und Leserinnen eine Geschichte zu präsentieren und zu erläutern, wie sie zu lesen sei. Dieser Umstand ist besonders für junge Autoren wichtig, die kein gelehrter poeta doctus sind und genau genommen keinerlei Autorisierung genießen, als Autoren auftreten zu ‚dürfen‘. Indem sie sich im Vorwort als pseudonyme Verfasser/Autoren stilisieren, stellen sie selbst eine Art Legitimation her, um schreiben und publizieren zu können. Mehr noch – erst dadurch, dass sie sich zum Text und dem eigenen Schreiben äußern, verleihen sie dem Gestalt, was der galante Roman oder der galante Autor sei. Allerdings vollziehen sich solche Aushandlungs­prozesse nicht im luftleeren Raum. Es soll daher abschließend versucht werden, die bisherigen Überlegungen in einem mehrdimensionalen Gattungskonzept zusammenzuführen, das es erlaubt, einem offenen Gattungsprozess und somit der Historizität des galanten Romans im medialen, sozialen und poetischen Kontext um 1700 nachzugehen.

2.3 Mehrdimensionales Gattungskonzept – Mediale, soziale und poetische Kontexte Die vorangegangenen Überlegungen konzentrierten sich auf die Frage, wie der galante Roman um 1700 konzeptualisiert werden kann, so dass einerseits seine genderrelevanten Implikationen klarer zu Tage treten und andererseits die Gattungs­ entwicklung in ihrer Dynamik Beachtung findet. Am Beginn meiner Ausführungen stand Borgstedts Hinweis, Gattungsgeschichte als „soziale und kulturelle Praxis“ zu verstehen, „die auf offenere Weise beschrieben werden muss“.140 Vielfältige Aspekte beeinflus­sen die Gattungsentwicklung: „Gattungsgeschichte erweist sich als eine Auseinandersetzung mit einem in vielerlei Hinsicht heterogenen Gegenstand“.141 Um dieser Heterogenität beizukommen, greift meine Studie ein mehrdimensionales Gattungskonzept auf, das Gymnich und Neumann vorschlagen,142 und das anhand 139 Ebd.,

S. 618. Topik des Sonetts, S. 113. 141 Ebd., S. 2. 142 Gymnich u. Neumann: Kompaktbegriff Gattung, S. 31–52. 140 Borgstedt:

46

2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

des galanten Romans erweitert werden soll. Gattungen lassen sich angesichts ihrer Komplexität und historischen Variabilität, so Gymnich und Neumann, „nicht auf der Grundlage eines einzigen – sei es formalen, inhaltlichen oder funktionalen – Kriteriums bestimmen“.143 Sie schlagen vor, „erstens formale und inhalt­liche Merkmale auf einer textuellen Ebene, zweitens die kulturell-historische Dimension in ihrer synchronen und diachronen Achse, drittens eine kognitiv-individuelle Dimension und viertens funktionale Aspekte“ in den Blick zu nehmen.144 Sinnvoll füllen lässt sich dieses Theorieangebot am konkreten Textkorpus, wobei ich in der historischen Studie die kognitiv-individuelle Ebene ausklammere. Die folgende Abbildung gibt einen schematischen Überblick zu relevanten Ebenen und Aspekten, die als dynamisch-prozessuales Gattungsmodell zu verstehen sind und im Folgenden erläutert werden (Abb. 1). (1) Methodische Überlegungen zur textuellen Ebene wurden in Kapitel 2.2 diskutiert. Wichtig sind vor allem die Differenzierung von Paratext und Erzähltext als unterschiedliche Textebenen und Aussagemodi des Romans; die Unterscheidung von inhaltlichen und formalen Elementen (story und discourse); die Fokussierung auf Weiblichkeit im Rahmen poetischer Motive, die zugleich soziokulturelle Konzepte sind (Weiblichkeit/Gender und Körper, Raum, Stand) sowie die Unterscheidung zwischen intradiegetischer und gesamtkonzeptioneller Inszenierung (weib­ liche Figur versus Weiblichkeitsnarrativ). (2) Um die Romane auf einer historisch-kulturellen Ebene zu verorten, werden mediale und sozioökonomische Kontexte untersucht. In das Blickfeld tritt die Buchund Medien­landschaft um 1700, die durch Tendenzen der Expansion und Umstrukturierung geprägt ist, die unter anderem die Generierung neuer Lektüreformate begünstigen und einen erhöhten Bedarf an Textproduzenten erzeugen (Kapitel 3.1). Da Studenten und junge Männer als Autoren galanter Romane identifiziert werden können, sind soziale Einflüsse auf die Romanpublizistik im Milieu junger Akademiker zu suchen (Kapitel 3.2). Darüber hinaus sollen Hinweise zur antizipierten Leserin und zu Konzepten der Romanleserin aus den Paratexten rekonstruiert werden (Kapitel 3.3). (3) Um die thematische Weiblichkeitszentriertheit der Romane aus dem poetischen Kontext zu deuten – und somit die textuelle Ebene an die historisch-kulturelle Ebene zurückzubinden –, werden Rezeptionsprozesse der preziösen Romantradition untersucht. Die Verortung des galanten Romans im Kontext einer deutsch-französischen Romanrezeption erlaubt es, insbesondere die genderrelevante Dimension der Gattungsentwicklung genauer zu erschließen. Die Forschung ist sich einig, dass die Romane von Madeleine de Scudéry (1607–1701), aber auch ihre Gespräche (Entre-

143 Ebd.,

S. 32; ähnlich Borgstedt: Topik des Sonetts, S. 16, 18. u. Neumann: Kompaktbegriff Gattung, S. 34f.

144 Gymnich

2.3 Mehrdimensionales Gattungskonzept – Mediale, soziale und poetische Kontexte

47

Abb. 1: Mehrdimensionales Gattungsmodell zur Untersuchung des galanten Romans um 1700

tiens), Porträts und lyrischen Kleinformen durch die europaweite Verbreitung eine „immense Breitenwirkung“ entfalteten.145 Zunächst publizierte Scudéry anonym oder pseudandronym unter der Kuratel ihres Bruders Georges, weswegen ihre Ro-

145 Gerhard

Penzkofer: ‚L’art du mensonge‘. Erzählen als barocke Lügenkunst in den Romanen von Mademoiselle de Scudéry. Tübingen 1998, S.  27; Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 51. Scudérys Werk wurde ins Deutsche, Englische, Italienische, Spanische, Arabische übersetzt, Jane Donawert u. Julie Strongson (Hg.): Madeleine de Scudéry. Selected Letters, Orations, and Rhetorical Dialogues. Chicago 2004, S. 1. Auch die frühneuzeitliche Bibliotheksforschung bestätigt Scudérys Popularität, ihre Werke finden sich in Adelsbibliotheken deutschlandweit in Exemplaren, die z.T. intensive Gebrauchsspuren aufweisen.

48

2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

mane im Ausland oft unter männlichem Verfassernamen firmierten.146 Der preziöse Roman gewann in der europäischen Öffentlichkeit enorm an Interesse und Bewun­ derung, auch als (oder gerade weil) bekannt wurde, dass die Verfasserin eine Frau sei.147 Christian Thomasius weist die überlangen, ausufernden Romane Scudérys ebenso als Prototyp des vorbildlichen Romans aus wie die knappere Kurzform, die Scudéry mit der Novelle Célinte (1661) beginnt und die von Marie-Madeleine de La Fayette (1634–1693) weitergeführt wird.148 Im ersten Band der Monatsgespräche (1688) stellt Thomasius Scudérys Romane vor: Im Dialog zwischen dem Kaufmann Christoph und dem Gelehrten Benedict lobt der Gelehrte den in der Tat moralisch lehrreichen und gleichsam unterhaltsamen Roman Clélie (1654–60) und schätzt die Publikation gerade deswegen, weil sie von einer Frau stammt: Aber mich [den Gelehrten Benedict] wundert, daß Herr Christoph unter denen andern Frantzösischen Romanen, derer er etliche genennet, die Clelie des Herrn Scudery vergessen, in welcher ich, als ich sie durchlesen, auch in Wahrheit so viel scharffsinnige Moral= Discurse angetroffen, als ich nicht leichtlich in einem Philosophischen Buche beysammengesehen. […] und halte ich diesen Roman desto mehr für lobens=würdig, weil viel Gelehrte der Meynung sind, daß ihn nicht der Bruder sondern die Schwester Mademoiselle Scuderi verfertiget […] [Hervorh. K.B.].149

Scudéry gilt als „ungemein Exempel nicht nur eines gelehrten Frauenzimmers, das manchen Gelehrten unter uns [den Männern] beschähmen solte, sondern [kan] auch zum Muster einer sonderlichen und raren modestie [Bescheidenheit] dienen“.150 Ihre Romane werden zum Muster eines scharfsinnigen und moralischen Schreibens und zum Vorbild einer weltlich-unterhaltsamen Poesie, die zugleich spezifische Verhaltens- und Konversationsformen popularisiert und als Conversation à la française stilprägend wird für die galante Conduite (Kapitel 4.1.4).151 Der Roman dient nicht

146 [anonym]

[Christian Thomasius]: Schertz= und Ernsthaffter, Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken, über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen […] / Franckfurth/Leipzig: Moritz Georg Weidmann 1688. Photomechan. Reprod. Frankfurt a.M. 1972, S. 113, Anm. 134. Deutsche Übersetzungen weisen die Scudéry als Mann aus, z.B. Ferdinand Adam von Pernauer: Almahide / oder / Leibeigne Königin Andere Theil, Aus des Herrn Scudery Französischem ins Hochteutsche übersetzet […]. Nürnberg: Johann Hofmann 1685. 147 In Deutschland stößt die Scudéry-Rezeption besonders im Umfeld des Pegnesischen Blumenordens und der Fruchtbringenden Gesellschaft auf positive Ressonanz, wo Scudérys weibliche Autorschaft bald bekannt ist, Sabine Koloch: Kommunikation, Macht, Bildung. Frauen im Kulturprozess der Frühen Neuzeit. Berlin 2011, S. 151f., 156. 148 Thomasius: Scherz- und Ernsthafte Gedanken, S. 108; Jörn Steigerwald: Affekt-Erzählungen. Die galanten Novellen Scudérys und Villedieus. In: Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. v. Ruth Florack u. Rüdiger Singer. Berlin/Boston 2012, S. 179‒196, hier S. 180. 149 Thomasius: Scherz- und Ernsthafte Gedanken, S. 112f. 150 Ebd., S. 113. 151 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 38–45; Rose: Conduite und Text, S. 3f., 10f.

2.3 Mehrdimensionales Gattungskonzept – Mediale, soziale und poetische Kontexte

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nur der Unterhaltung, sondern er transportiert auch ein „verhaltenspragmatisches Konzept“,152 dessen Genderaspekte gleich noch interessieren. Zunächst ist bedeutsam, dass auch junge galante Autoren Scudérys Romane kennen und die Autorin sowie ihre Texte als Vorbild nennen. Bohse preist in der Vorrede von Amor am Hofe (1689/96) die deutsche Übersetzung der Clélie, die seit 1664 in Deutschland kursierte.153 Das Titelblatt der deutschen Clelia hatte die Autorin als Mann angekündigt und auch Bohse hält Scudéry zunächst für einen männlichen Autor. Er lobt und empfiehlt den deutschen Lesern Scudérys Erfolgsroman: „des Herrn von Scuderi seiner Clelie“.154 Außerdem rühmt er die Romane des Engländers Barclay, des Italieners Assarino,155 mehr jedoch noch die deutschen Übersetzer, welche „durch ihre Ubersetzung denen Schrifften der Ausländer einen neuen Schimmer bey­gelegt“ haben.156 Deutsche Autoren nennt er nicht, stattdessen ist er der Meinung, dass es nunmehr Zeit sei, auch in Deutschland Romane nach ausländischem Vorbild zu „erfinden“: Daß ich allezeit meine eigene Gedancken auffs Papier bringe / und mich nicht mit Übersetzungen frembder Schrifften behelffe / wird mich verhoffentlich nicht staffbar machen. Denn warumb solte es uns Teutschen nicht eben so wohl vergönnet seyn / in eigener Erfindung zugelassene Romanen zu schreiben / da die Italiäner und Frantzösen sambt andern Ausländern in dergleichen Arbeit so rühmlich bemühet sind: Und ist es eben kein Gebot / daß wir ihre netten Schrifften allezeit müssen abborgen und uns mit derselben Verteutschung behelffen? [Hervorh. K.B.]157

Die Romane preziöser Autorinnen werden, neben italienischen und englischen Schriften, zum Vorbild und Anstoß für die deutsche Gattungsentwicklung.158 Bohse übersetzt La Fayettes La Princesse de Clèves (1678) und druckt den Roman 1703 in der Zeitschrift Helicon, deren Redaktion er betreut.159 Gleichwohl sehen sich galante Autoren nicht in einem strengen Nachahmungszwang. In der Vorrede zum Neu=eröffneten Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimers (1694) bekennt Bohse, seine

152 Gelzer:

Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 70. von Stubenberg]: Clelia. Eine Römische Geschichte / Durch Herrn von Scuderi, Königl. Französ. Befehl=habern zu unser Frauen de la Garde […] Nürnberg 1664. 154 Talander [August Bohse]: Amor am Hofe / Oder / Das spielende Liebes=Glück Hoher Standes=personen / Cavalliere und Damen […] / Dresden: Johann Theodoro Boetio 1696 [Erstausgabe Dresden: Christoph Mathesius, 1689], Vorrede unpag. [A 3b]. 155 „Es bleibet […] denen geschickten Dolmetschern des Barclaji seiner Argenis, des Herrn von Scuderi seiner Clelie […], des Assarino Statonica […] und andern mehr ihr billicher Ruhm“, Talander: Amor am Hofe (1696), Vorrede, unpag. [A 3bf.], Hervorh. K.B. 156 Ebd., Vorrede, unpag. [A 4a]. 157 Ebd. Vorrede, unpag. [A 3b]. 158 Wiggin: Novel Translations, S. 147f. 159 Florian Gelzer: Nachahmung, Plagiat und Stil. Zum Roman zwischen Barock und Aufklärung am Beispiel von August Bohses Amazoninnen aus dem Kloster (1685/96). In: Daphnis 1/2 (2005), S. 255–286, hier S. 258. 153 [Johann Wilhelm

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

Publikation nach der „Frantzösischen Schreib=Art“160 eingerichtet zu haben, doch will er sich entschuldigt wissen, wenn „ich ihnen [den französischen Schriften und Briefen] nicht ähnlich gekommen / so werde ich doch darumb in keine Lebens=Strafe verfallen seyn / zumahl da ich nichts als die Art von ihnen entlehnen wollen“.161 Und auch Hunold sinniert: „Ja die Lateiner haben ihre Verse von den Griechen machen lernen / gleichwol haben sie es ihnen nicht in allen nachgethan […]; Warum solten denn wir Teutschen solche Sclavische Bärenhäuter seyn?“162 Solche Hinweise verdeutlichen, dass galante Autoren ihre Romanpraxis durchaus als etwas Eigenes verstehen und sich – trotz der Orientierung an der französischen Mode ‒ das Recht eines innovativen Umgangs mit der Gattung herausnehmen. Der Wunsch nach eigenen Umgangs­weisen mit dem Roman wird sich verstärken. Zunehmend distanzieren sich jüngere Autoren nicht nur von der preziösen, sondern auch von der galanten Tradition, z.B. Hunold/Menantes: „Ach da wird […] die Madem. Scudery, der Herr Talander [Bohse] zu Hause bleiben müssen / wo du hinkommst […]“.163 (4) Dies führt zur Frage nach den Autoren und zur Rückbindung der textuellen Ebene an soziale Kontexte. Galante Autoren sind in der Regel junge Männer zwischen 20 und 35 Jahren, die sich entweder noch in der akademischen Ausbildung oder in einer Übergangsphase zwischen Studium und Beruf befinden. Bohse beginnt mit 22 Jahren poetische Texte zu veröffentlichen, Hunold ist bei seinem ersten ‚Bestseller‘ 20 Jahre alt und auch Rost beginnt als 20-Jähriger Romane zu publizieren. Im preziösen Roman finden junge Männer eine poetische Mode vorgeprägt, die zwar nicht unumstritten ist,164 beim Publikum aber europaweit Interesse erregt und von einzelnen Theoretikern (Huet, Thomasius) wohlwollend forciert wird. Aus Frankreich erfährt man, dass selbst Frauen Romane schreiben (Scudéry, La Fayette, Mont­

160 Talander

[August Bohse]: Neu=eröffnetes Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimers / Oder: Curiose Vorstellung der unterschiedlichen Politic u. Affecten / Welcher sich alle galante Damen im Lieben bedienen / Vorgestellet von Talandern. Leipzig: Friedrich Groschuff 1694, Vorrede an den Leser, unpag. [A 11a]. 161 Ebd., Vorrede an den Leser, unpag. [A 11af.], Hervorh. K.B. 162 Menantes [Christian Friedrich Hunold]: Die Allerneueste Art / Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen […]. Hamburg: Gottfried Liebernickel 1707 [Erstauflage Hamburg: Liebernickel 1702], S. 49. 163 Brief von Hunold an Benjamin Wedel vom 06.10.1703. In: [anonym] [Benjamin Wedel]: Geheime Nachrichten und Briefe von Herrn Menantes Leben und Schrifften. Cöln: Johann Christian Oelschnern 1731, S. 115f. Hunold wendet sich an seinen Freund und Verleger Wedel, der zwar selbst keine Romane verfasst, aber ihren Druck befördert. 164 In Frankreich regen sich schon Mitte des 17. Jahrhunderts kritische Stimmen gegen die preziöse Publizistik, die zur regelrechten Preziösen-Satire gerät, etwa durch Molières Satire-Komödie Les Precieuses Ridicules: Comédie, Sur l’Imprimé à Paris. Amsterdam 1660 (Erstaufführung Paris 1659). Zur Preziösen-Kritik vgl. Wolfgang Zimmer: Die literarische Kritik am Preziösentum. Meisenheim a.G. 1978; Christophe Losfeld: Galanterie in Frankreich. Genese und Niedergang eines Verhaltensideals. In: Galanterie und Frühaufklärung. Hg. v. Daniel Fulda. Halle a.S. 2009, S. 13–50. Dennoch zeigt die Verfügbarkeit preziöser Schriften im deutschen Buchhandel, dass es um 1700 ein enormes Interesse an den Texten französischer Autorinnen gab.

2.3 Mehrdimensionales Gattungskonzept – Mediale, soziale und poetische Kontexte

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pensier, Sevigné, d’Aulnoy u.a.), obwohl das Geschlecht der Verfasserin falsch eingeschätzt werden konnte („der Herr Scuderi“). Doch auch Männer beschäftigen sich in Frankreich mit der preziösen Mode (Vincent Voïture, Michel de Pure u.a.). Mit ihren Texten beanspruchen französische Autorinnen und Autoren keineswegs, Produkte ‚ernsthafter Gelehrsamkeit‘ zu verfassen. Sie publizieren zum Vergnügen und sind keine gelehrten Poetae; im Gegenteil wird Gelehrsamkeit sogar abgelehnt.165 Dies könnte insbesondere für junge Männer ein Impuls gewesen sein, sich ebenfalls im Romanschreiben zu versuchen. Gerade für junge, wenig be­kannte und kaum etablierte Autoren eröffnet sich mit dem Roman die Möglichkeit, relativ frei von den Zwängen der gelehrten res publica literaria zu publizieren bzw. überhaupt poetisch tätig zu werden. (5) Insbesondere in den Jahren vor 1700 ist die preziöse Romantradition ein starker Impuls für den deutschen galanten Roman. Für die genderspezifische Fragestellung der vorliegenden Studie ist vor allem die Tatsache entscheidend, dass preziöse Autorinnen weibliche Hauptfiguren exponieren und im Roman ein spezifisches Geschlechter- und Liebesmodell entwerfen, das sie über die Publikation einem weiteren Leserkreis zugänglich machen. Die poetische Rezeption importiert geschlechterspezifische Momente, die auch die deutsche Gattungs­entwicklung beeinflussen. Im preziösen Modell nimmt die Frau eine zentrale Rolle ein und wird geradezu als „zivilisatorische Instanz und Kraft“ stilisiert,166 als Inkorporation der Tugend und des Guten. Studien zur Preziosität von Pelous, Godenne, Baader, Kroll, Zimmermann, Büff u.a. zeigen, dass sich mit dem preziösen Modell eine ideelle Aufwertung der Frau verbindet, insofern die Preziösen für eine Verbesserung der weiblichen Erziehung und Bildung eintreten, patriarchale Ehekonventionen und Heiratspraktiken kritisch reflektieren sowie Freundschafts- und Liebeskonzepte ent­werfen, die die Position der Frau enorm stärken.167 Im Mittelpunkt der preziösen Affektenlehre

165 Renate

Büff: Ruelle und Realität. Preziöse Liebes- und Ehekonzeptionen und ihre Hintergründe. Heidelberg 1979, S. 101; Gelzer: Konversation und Geselligkeit, hier S. 481, Anm. 22. 166 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 40. 167 U.a. Jean-Michel Pelous: Amour précieux, amour gallant (1654‒1675). Essai sur la représentation de l’amour dans la littérature et la société mondaines. Paris 1980; Rosmarie Zeller: Die Bewegung der Preziösen und die Frauenbildung im 17. Jahrhundert. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Hg. v. August Buck u.a. Hamburg 1981, S. 457–465; René Godenne: Les romans de Mademoiselle de Scudéry. Genève 1983; Renate Baader: Dames de Lettres. Autorinnen des preziösen, hocharistokratischen und ‚modernen‘ Salons (1649–1698). Mlle de Scudéry, Mlle de Montpensier, Mme d’Aulnoy. Stuttgart 1986; Renate Kroll: Femme poète. Madeleine de Scudéry und die ‚poésie précieuse‘. Tübingen 1996; Alain Viala: L’esprit galant. In: L’esprit galant au XVIIᵉ siècle. Hg. v. Francois Lagarde. Paris 1997, S. 53–74; Christine Schamel: Vom Kampf der Geschlechter zur Utopie des Ausgleichs. Die Überzeitlichkeit der Mann-Frau-Beziehung bei Madeleine de Scudéry, Ninon de Lenclos, Crébillon fils, Laclos, Preziösensatirikern und Romankritikern. Frankfurt a.M. 1999; Alain Niderst u.a. (Hg.): Chroniques du Samedi. Suivies de pièces diverses (1653‒1654). Madeleine de Scudéry, Paul Pellisson et leurs amis. Paris 2002; Gelzer: Konversation und Geselligkeit, S.  473–524; Jörn Steigerwald: L’appropriation

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2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

steht das Ringen um eine sozial wie erotisch sublimierte Freundschafts-Liebe zwischen Mann und Frau (amitié tendre), bei der  –  im Anschluss an Traditionen der französischen Troubadours und des mittelalterlichen Minnedienstes – die Frau als Gunst gewährende und verweigernde Herrin (maîtresse) auftritt, der Mann hingegen als Dienender (amant), der sich den Wünschen und Zielsetzungen der Frau bedingungslos unterwirft. Die kultivierte, ‚reine‘ Liebe entsteht unter der Direktion der Frau bzw. des weiblichen Parts und ist an ein strenges Keusch­heitsverdikt für beide Geschlechter gebunden: Die dauerhafte, reine Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau, in der der Mann als Dienender, die Frau als gewährende oder verweigernde Herrin fungiert, ist das Kernstück jedes ScudéryRomans und seiner zahlreichen Nebenhandlungen. ‚Amour pure‘ und ‚Amitié tendre‘ bilden den Lebensinhalt der Heldinnen und Helden. Nur in einer idealen Sphäre, wie sie die Welt des Romans oder unter Umständen auch die […] Salonwelt darstellen, ist eine Verwirklichung dieser Formen der Liebe möglich [Hervorh. K.B.].168

Zum Geschlechtermodell der Romane La Fayettes heißt es in ähnlicher Weise, dass das vollkommene Glück der amitié tendre „nur dem Liebhaber vorbehalten“ ist, der sich „durch die völlige Unterwerfung unter den Willen der Geliebten Zugang zu ihrem Herzen zu verschaffen weiß“, indem er die „durch den preziösen Liebeskodex vorgeschriebenen Regeln“ befolgt.169 Das preziöse Ritual dient der Affektdisziplinierung und Sublimation der Leidenschaften, was als Kultivierung im Sinne einer ‚tugendhaften‘ Liebesfähigkeit und sittlichen Vervollkommnung, insbesondere des Mannes, begriffen wird. Scudéry entwirft ein asymmetrisches Geschlechtermodell, das das Verhältnis von Mann und Frau nach Maßgabe des weiblichen Parts strukturiert. Im „fiktiven Schutzbereich“170 der Poesie (respek­tive des Romans, den die Preziösen favorisieren) und im sozialen Schutzraum einer adligen Salonkultur (die Mlle. Scudéry mit ihren wöchentlichen Samedis oder Samstagstreffen pflegt), regen adligen Frauen eine Diskussion um Würde, Wert und Fähigkeiten des weiblichen Geschlechts an, die in der Forschung zum Teil als „verlorene weibliche Aufklärung“ (Baader) ge­wertet wurde.171

culturelle de la galanterie en Allemagne. Christian Thomasius lecteur de Madeleine de Scudéry. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1/2 (2008) S.  31–46; Alexandra-Bettina Peter: Vom Selbstverlust zur Selbstfindung. Erzählte Eifersucht in Frankreich des 17. Jahrhunderts. 2. Aufl., Berlin 2011; Stephanie Bung: Spiele und Ziele. Französische Salonkulturen des 17. Jahrhunderts zwischen Elitendistinktion und belles lettres. Tübingen 2013. 168 Büff: Ruelle und Realität, S. 218. 169 Margot Schneider: ‚Amour Passion‘ in der Literatur des 17. Jahrhunderts, insbesondere im Werk Mme. de La Fayettes. Darmstadt 1983, S. 58. 170 Büff: Ruelle und Realität, S. 218. 171 Renate Baader: Die verlorene weibliche Aufklärung – die französische Salonkultur des 17. Jahrhunderts und ihre Autorinnen. In: Frauen‒Literatur‒Geschichte. Hg. v. Hildtrud Gnüg u. Renate Möhrmann. 2. Aufl., Stuttgart 1999, S. 52–71, hier S. 54; zur Salonkultur vgl. Bung: Spiele und Ziele, S. 265‒350; Niderst: Chroniques du Samedi.

2.3 Mehrdimensionales Gattungskonzept – Mediale, soziale und poetische Kontexte

53

Reichweite und soziale Wirksamkeit des preziösen Modells sind indes stark umstritten. Der semiöffentliche Bereich der preziösen Salonkultur, wo das Modell entstand, eröffnet zwar ein Rückzugsgebiet, das patriarchale Strukturen eindämmt und durch ritualisierte Interaktionsformen umcodiert (Baader: „Schutz- und Fluchtraum“, Büff: „ideale Scheinwelt“),172 doch waren realhistorische Dominanzstrukturen dadurch nicht aufzuheben. Zeugnisse der Preziösen (Briefe, Tagebücher) lassen den Schluss zu, dass an eine reale Änderung bestehender Geschlecherverhältnisse nicht zu denken war, und dass die Preziösen in der Praxis (z.B. in Fragen der Heiratspolitik) durchaus widersprüchlich zum eigenen Modell agierten.173 Zudem legt das preziöse Modell Mann und Frau erneut auf eine starre hierarchische Struktur fest, wenn auch unter der Ägide der Frau (zur galanten Modifikation Kapitel 4). Als fiktionaler Entwurf im Roman zieht das preziöse Modell jedoch weite Kreise in Europa. (6) Für die deutsche Gattungsentwicklung ist entscheidend, dass galante Autoren vom preziösen Roman weibliche Hauptfiguren, weiblichkeitszentrierte Konflikt- und Handlungsstrukturen und ein preziöses Liebes- und Geschlechtermodell übernehmen, das sie in ihren Texten modifizieren. Die Textanalysen zeigen an ausgewählten Motiven (esprit, amour-passion, amour heroïque u.a.) detaillierter, welche Elemente und Strukturen des preziösen Modells aufgegriffen und wie sie im galanten Roman verändert werden.174 Die Untersuchung schließt an diesem Punkt wieder an die textuelle Ebene sowie an soziale und poetische Kontexte an, indem ästhetische und sozialhistorische Aspekte erneut in den Blick treten. Ohne bereits auf die Problematik des galanten Liebes- und Geschlechtermodells einzugehen, lässt sich sagen, dass junge Autoren im Roman ein geeignetes Medium finden, um die strikte Weiblichkeitszentriertheit des preziösen Modells zu kritisieren. Die Handlungsfähigkeit des Mannes wird aus der starren Position des Dienenden befreit und das asymmetrische Verhältnis zugunsten eines symmetrischen, reziproken Kooperationsmodells der Geschlechter modifiziert. Die Textanalysen werden diese Fragen genauer erörtern. (7) Als Gattung, die in den kodifizierten Poetiken und Dichtungstheorien nicht explizit behandelt wird, bietet der galante Roman einen recht großen Spielraum für das poetische Experiment. Gleichwohl enthalten die Paratexte Hinweise zu funktionalen Aspekten der Gattungspraxis. So lassen sich Wirkungskonzepte rekonstruieren, mit denen junge Autoren ihre Romanpraxis als eine ‚Poesie zwischen Scherz und Ernst‘

172 Baader:

Dames des Lettres, S. 3; Büff: Ruelle und Realität, S. 180, auch im Folgenden. Heiratspraxis, Mitgift und Geldinteressen in preziösen Kreisen (ebd., S. 184–192); zur historischen Umsetzung des Modells (ebd., S. 308–310). 174 Esprit vs. Vernunft, Abwehr der Liebe/Keuschheitsgebot vs. erotische Freiheiten, passiv vs. aktiv, der Mann als Dienender vs. als Liebender, Stigmatisierung der amour-passion vs. ihre versittlichende Funktionalisierung, Ehefeindlichkeit/Liebesmiss­trauen vs. galante Liebe, Sublimation der Affekte vs. Emotionalisierung, Kap. 4. Gendernarrative im galanten Roman. 173 Zur

54

2. Der galante Roman in gattungs- und genderorientierter Perspektive

rechtfertigen. Die Texte werden mit einem satirisch-scherzhaften Modus belegt, der gleichsam behauptet, sich eines gewissen Ernstes nicht zu enthalten. Der Roman kreiert Ambiguität und Ambivalenz und legitimiert sie im Rahmen paratextueller Selbstreflexionen als poetologisches Programm. Indem die Untersuchung solche inhaltlichen Ambivalenzen, die durch formalästhetische Strukturen verschärft werden, mit funktionalen Aspekten in Verbindung bringt (Konzepte von Poesie), kann das Genderpotential der Romane genauer konturiert und zur Gattungsdynamik in Beziehung gesetzt werden. Auf diese Weise wird Gattungsgeschichte konzipierbar als eine soziale und kulturelle Praxis junger Männer ‒ die ihrem Autor-Sein recht unbeküm­mert begegnen. Mögliche ‚Fehler‘, Pannen oder Fehlinterpretationen entschuldigen sie kurzerhand mit ihrem Anfängerstatus als Poeten. Bohse dankt der „missgünstigen Kritik“, ermuntere sie ihn doch, sich noch intensiver mit dem eigenen Schreiben auseinanderzusetzen. Freimütig ergänzt er: Solange keine besseren Romanautoren auftreten (als er), wird er weiterhin publizieren und sich auch von der Zensur nicht hindern lassen, getragen lediglich von der Hoffnung, dass Erfahrung und Übung auch aus ihm mit der Zeit einen ‚Autor‘ machen würden: Nun gestehe ich gerne / daß diese Materie [des Romans] so reich an Verwirrungen und Glücksfällen / daß ich wohl zu derselben vollkommener Ausarbeitung ihr eine geschicktere Feder als die Meinige gönnen wolte; Allein die es besser können / seynd zu rar mit ihrer Arbeit / daß sie dieselbe solten der Welt mittheilen; oder zu ehrgeitzig / als daß sie sich der alles durchziehenden Tadler ihrem spitzigen Urtheil unterwerffen solten. Weil mich aber eine besondere Neigung zu dergleichen Schreibart träget / und ich der mißgönstigen Censur wenig achte / will ich so lange in selbiger fortfahren / biß ich durch fleissige Ubung mir endlich auch werde schmeicheln können / mit der Zeit darinnen einige Fertigkeit zu gewinnen.175 (August Bohse alias Talander, 1696)

175 Talander: Amor

am Hofe. Anderer Theil (1696), Vorrede, unpag. [A 2af.], Hervorh. K.B.

3. Der galante Roman in den Grenzbereichen ökonomischer, sozialer und poetischer Ordnungssysteme

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch So wächst doch die Anzahl der Liebes=Bücher immer höher auf […]. Und wo die Herren Verleger keines guten Abgangs versichert / würden sie nicht begehren / ihnen mehrere auszufertigen. (Meletaon 1714) Ob sie aber alle eine gleichgültige Artigkeit an sich haben / kan ich nicht versichern, der ich ohne dem nicht versichert bin / ob nicht etliche Störrische Köpffe / mich durch die Hechel ziehen werden. (Celander 1709)

Das Buch- und Verlagswesen, an das die Produktion, Distribution und Rezeption galanter Romane gebunden ist, erfährt im 16. bis zum 18. Jahrhundert einen grundlegenden Strukturwandel, der technische, organisationsstrukturelle und konzeptionelle Veränderungen mit sich bringt.1 Besonders der Leipziger Buchhandel, so stellt Sabine Koloch fest, ist „vom Standpunkt der Frauenforschung her eines der interessantesten Kapitel der deutschen Buchhandelsgeschichte“, denn in „keiner Stadt Deutschlands wurde zu jener Zeit ‚Frauenlektüre‘ so groß geschrieben wie in Leipzig.“2 Da zum Produktions- und Publikationskontext galanter Romane kaum Forschungen vorliegen, soll das buchhandelshistorische Umfeld etwas ausführlicher dargestellt werden. In der Galanterieforschung hat zuerst Olaf Simons auf buchhandelshistorische Aspekte aufmerksam gemacht.3 Obwohl Genderaspekte dabei keine spezifische Beachtung fanden, hat Simons Rekonstruktion eines europäischen Romanmarktes mit dem Fokus auf England und Deutschland die vorliegende Studie maßgeblich dazu angeregt, auf die Bedeutung des expan­dierenden Buch- und Verlagswesens um 1700 zu achten.4 Den Blick nach Frank­reich zu richten, auf poetische Rezeptionsprozesse der französischen Romantradition, lag nahe, da galante Autoren

1

Hans Erich Bödeker: Aufklärung als Kommunikationsprozeß. In: Aufklärung als Prozess. Hg. v. Rudolf Vierhaus. Hamburg 1988, S. 89‒111; Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. München 1999, S. 82‒120. 2 Koloch: Kommunikation, Macht, Bildung, S. 34. 3 Simons: Marteaus Europa (2001); Wiggin: Novel Translations (2011). 4 Ich danke Olaf Simons für zahlreiche Anregungen, Hinweise auf Quellen und Diskussionen.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

nicht nur auf Schriften des englischen, sondern vor allem des französischen Raums Bezug nehmen. Warum und wie können junge, in der Regel unbekannte Autoren um 1700 publizieren und mit ihren Texten so viel Kritik und Begeisterung hervorrufen? Einzelne Aspekte, die für die vorliegende Untersuchung wichtig sind, haben Olaf Simons und Dirk Rose bereits herausgestellt  –  etwa die Präsenz (ehemaliger) Studenten und junger Männer als Produzenten und Leser galanter Romane sowie Formen der Intertextualität bzw. Referentialität von Texten und Autoren, die unter anderem in bissigen Fehden zum Ausdruck kommen.5 Simons schlug vor, den galanten Roman im Zusammenhang mit der „Entstehung einer unkontrollierten Öffentlichkeit“ zu untersuchen;6 Rose spricht von einer „skandalösen Öffentlichkeit“, an der galante Autoren partizipieren.7 Die vorliegende Studie nimmt diese Beobachtungen auf, um konkreter nach den Strukturen und Umbrüchen in der deutschen Verlagslandschaft und deren Effekte für eine weiblichkeitszentrierte Erzählliteratur zu fragen. Der Buchhandel tritt in den Fokus der Studie, weil sich hier der soziale, medien­ geschichtliche und ökonomische Ort ausmachen lässt, an dem Produktion, Distribution und Rezeption des Romans zusammenlaufen. Damit verbinden sich verschiedene Funktionen: Zum einen reagiert der Buchhandel auf Lektürebedürfnisse der Leserschaft und generiert sie zugleich; die inhaltlichen Kategorien und Sparten des traditionellen Tausch- und Messbuchhandels wandeln sich um 1700 grundlegend und lassen Rückschlüsse auf veränderte Rezipientenstrukturen, Lesebedürfnisse und Rezeptionsformen zu (Kapitel 3.1.1). Zudem ist das Verlags- und Buchwesen ein ökonomischer und sozialer Zusammenhang, in dem Produzenten und Distribuenten  –  vom Papiermacher, Kupferstecher über den Buchdrucker, Autor, Buchführer bis hin zum Hausierer und „Scarteckenträger“  –  aufeinandertreffen, teils ihren Lebensunterhalt verdienen, teils anderen Interessen folgen. Die sich ausdifferenzierenden Strukturen von Zunfthandwerk und Handel bieten unterschiedlichen Akteuren ein Betätigungsfeld, so dass vielfältige Konkurrenzen und Allianzen zwischen herstellenden und verbreitenden Gewerben entstehen (Kapitel 3.1.2). In Zeiten fehlender Urheberrechtsbestimmungen ist der expandierende Handel immanent von Strukturen einer Kolportage- und Nachdruckökonomie durchwoben, die günstige Distributionsbedingungen für Texte zur Verfügung stellen, die im Tauschund Messbuchhandel der res publica literaria schwer unterzubringen waren. Anonyme und anonymisierende Strukturen, Nach- und Raubdruckpraktiken prägen den Buch­handel um 1700 und werden anhand galanter Autoren und ihrer Verleger dargestellt (Kapitel 3.1.3). Während zur Raubdruckproblematik und Geheimliteratur

5

Simons: Marteaus Europa, S. 295–317; Rose: Conduite und Text, S. 97–125, bes. S. 107f. Simons: Marteaus Europa, S. 8; ferner S. 5–10, 194f., 295–321, 662–690, 711–715. 7 Rose: Conduite und Text, S. 97–125, bes. S. 99, 107, 125. 6

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

57

im 18. Jahrhundert vielfältige Arbeiten vorliegen,8 fehlen für den Zeitraum um 1700 vergleichbare Studien. Die wichtigsten Arbeiten erschienen Ende des 19., Anfang des 20.  Jahrhunderts von Emil Weller, Albrecht Kirchhoff, Johann Goldfriedrich u.a., die Verlagsbücher, Rechnungen und Briefkorrespondenzen deutscher Verleger sichteten oder fingierte Verlagsimpressen entschlüsselten.9 Für die vorliegende Studie sind diese Arbeiten von besonderem Wert, da die Zeit um 1700 in der Buchhandelsgeschichte ansonsten ein eher unterbelichteter Forschungsgegenstand geblieben ist. Nur wenige Forscher wie Reinhart Wittmann, Hans Erich Bödeker, Monika Estermann, Karl Klaus Walther schenkten dem Zeitraum um 1700 überhaupt Beachtung.10

 8

U.a. Ulrich Eisenhardt: Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1496–1806). Ein Beitrag zur Geschichte der Bücher- und Pressezensur. Karlsruhe 1970; Reinhard Wittmann: Der gerechtfertigte Nachdrucker? Nachdruck und literarisches Leben im Achtzehnten Jahrhundert. In: Buch und Buchhandel in Europa im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Giles Barber. Hamburg 1981, S. 294–320; Stephan Füssel: Studien zur Verlagsgeschichte und zur Verlegertypologie der Goethe-Zeit. Berlin 1999; Robert Darnton: Die Wissenschaft des Raubdrucks. Ein zentrales Element im Verlagswesen des 18.  Jahrhunderts. München 2003; Werner Greiling u. Siegfried Seifert (Hg.): ‚Der entfesselte Markt‘. Verleger und Verlagsbuchhandel im thüringisch-sächsischen Kulturraum um 1800. Leipzig 2004; Reinhard Siegert: Nachdruck und ‚Reichsbuchhandel‘. Zu zwei Stiefkindern der Buchhandelsgeschichte. In: Buchkulturen. Beiträge zur Geschichte der Literaturvermittlung. Festschrift für Reinhard Wittmann. Hg. v. Monika Estermann, Ernst Fischer u. Ute Schneider. Wiesbaden 2005, S.  265–281; Wilhelm Haefs (Hg.): Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Göttingen 2007; Monika Estermann, Ernst Fischer u. Reinhard Wittmann (Hg.): Parallelwelten des Buches. Beiträge zu Buchpolitik, Verlagsgeschichte, Bibliophilie und Buchkunst. Festschrift für Wulf D. von Lucius. Wiesbaden 2008; Christine Haug u. Winfried Schröder: Geheimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert. Tagungsbericht zur 15. Jahrestagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte. In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 18 (2009), S. 379–386.  9 Emil Weller: Die maskirte Literatur der älteren und neueren Sprachen. Leipzig 1856; Ders.: Die falschen und fingierten Druckorte. Repertorium der seit Erfindung der Buchdruckerkunst unter falscher Firma erschienenen deutschen, lateinischen und französischen Schriften. 2. verm. u. verb. Aufl., Leipzig 1864; Albrecht Kirchhoff: Lesefrüchte aus dem Archiv der kursächsischen Bücher-Commission zu Leipzig. In: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels 8 (1883), S. 78–122 (im Folgenden zit. als AGB); Johann Goldfriedrich: Geschichte des deutschen Buchhandels vom Westfälischen Frieden bis zum Beginn der klassischen Litteraturperiode (1648– 1740). Leipzig 1908 (im Folgenden zit. als Deutscher Buchhandel). 10 Walther: Verlagsproduktion von Pierre Marteau/Peter Hammer; Ders: ‚Eine kleine Druckerei, in welcher manche Sünde geboren wird‘. Bambergs erster Universitätsbuchhändler. Die Geschichte der Firma Göbhardt. Bamberg 1999; Eberhard Mertens: Innovation und Tradition: Die Weidmannsche Verlagsbuchhandlung 1680‒2005. In: 60 Jahre Georg Olms – 325 Jahre Weidmann. Hildesheim 2006, S. 33‒43; Monika Estermann: Memoria und Diskurs. Der Buchhandel in der Frühaufklärung. In: Strukturen der deutschen Frühaufklärung 1680–1720. Hg. v. Hans Erich Bödecker. Göttingen 2008, S. 45‒70.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

3.1.1 Der galante Roman im Chaos der Belles Lettres Die Frage, wie verbreitet galante Romane um 1700 eigentlich waren, lässt sich kaum beantworten. Verlässliche Quellen oder Statistiken zu Produktionshöhe und Vertrieb existieren nicht. Bibliografien älterer wie neuerer Provenienz stehen vor der Problematik, dass ein Teil der Publikationen verschollen ist, anonyme und pseudonyme Nach- oder Raubdruckauflagen in Messkatalogen und bibliografischen Verzeichnissen der Zeit, wenn überhaupt, dann nur unvollständig vermerkt werden. Häufig handelt es sich zudem um (anonyme) Übersetzungen ausländischer Romane, vor allem aus Frankreich und den Niederlanden, deren Ursprungstext (Prätext) nicht immer erschlossen werden kann.11 Lange Zeit ging die Romanforschung davon aus, dass im deutschen Sprachraum zwischen 1690 und 1720 lediglich sechs Romantitel pro Jahr erschienen, insgesamt also nur 180 Titel in geringer Auflagenhöhe – die Werke deutscher Autoren, Übersetzungen, heute nicht mehr auffindbare Exemplare und romanhafte Texte eingeschlossen.12 Neueren Schätzungen nach muss dieses Verhältnis korrigiert werden: 1710 erschienen in Deutschland vermutlich um die zwanzig, 1720 fast dreißig deutschsprachige Romantitel pro Jahr.13 Obwohl die Produktion regional wie temporal diskontinuierlichen Schwankungen unterliegt und absolute Zahlen nicht vorliegen, kann zwischen 1690 und 1720 mit Vorsicht von geschätzten 450 galanten Romantiteln ausgegangen werden.14 Wie ältere Statistiken zeigen, steigt die Romanproduktion seit den 1740er Jahren deutlich an, in der zweiten Hälfte

11

Ernst Weber u. Christine Mithal: Deutsche Originalromane zwischen 1680 und 1780. Eine Bibliographie mit Besitznachweisen. Bundesrepublik Deutschland u. Deutsche Demokrat. Republik, Berlin 1983; Wilhelm Heinsius: Alphabetisches Verzeichnis der von 1700 bis zu Ende 1810 erschienenen Romane und Schauspiele, welche in Deutschland und in den durch Sprache und Literatur damit verwandten Ländern gedruckt worden sind. Unveränd. fotomechan. Nachdr. der Originalausg. v. 1813. Leipzig 1972; Christian Gottlob Kayser: Christian Gottlob Kayser’s vollständiges Bücher-Lexikon […]. Leipzig: Schumann, 1972; Michael L. Hadley: Romanverzeichnis. Bibliographie der zwischen 1750 und 1800 erschienenen Erstausgaben. Bern 1977; Dünnhaupt: Personalbibliographien; Statistiken zum Verhältnis von Roman zu anderen poetischen Gattungen bei Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1987, S.  44; sie setzen aber erst 1740 ein. Statistiken zum Verhältnis einzelner Buchsparten wurden für den Zeitraum vor 1740 von Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 17 erstellt, doch erfassen sie den Roman nicht als einzelne Kategorie, sondern vermitteln ihn in der allgemeinen Sparte „Poesie“. Zur unstematischen Erfassung galanter Romane in Katalogen und Bücherverzeichnissen um 1700, Simons: Marteaus Europa, S. 27, 36f.,194. 12 Weber u. Mithal: Deutsche Originalromane, S. 79. 13 Das Internetportal www.pierre-marteau.com bietet eine von Olaf Simons, Anton Kirchhofer u.a. gepflegte Datenbank: The Novel in Europe 1670‒1730, URL: http://www.pierre-marteau.com/ resources/novels/novels-1710.html [05.10.2010]. 14 Für den Zeitraum 1690–1710 wurden 9‒12 Romane pro Jahr registriert, 1710‒1720 bereits 18‒24 (ebd.).

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

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des 18. Jahrhunderts gestaltet sich das Wachstum sogar drastisch.15 Zweifellos lässt sich ein signifikanter Anstieg der Romanproduktion vom späten 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ausmachen.16 Für den Zeitraum um 1700 zeigt sich hingegen noch ein anderes Bild. Obwohl schon damals von einer „ungemeinen Menge an gedruckten Romanen“ die Rede ist, „womit die Buchläden aller Orten angefüllet“17 seien und die Zeitgenossen von einer enormen „Anzahl derer in der Welt herumfliegenden Romans“ sprechen,18 ist der prozentuale Anteil des Romans im buchhändlerischen Gesamtsortiment äußerst überschaubar. Korreliert man die neueren Zählungen mit den jährlich geschätzten Gesamtvolumina an Druckschriften im deutschen Raum (die nicht vollständig, aber tendentiell in den Frankfurter und Leipziger Messkatalogen erfasst werden),19 so macht der Roman einen äußerst geringen Anteil von 0,6 bis 1,5 % (1690‒1710) aus, der bis 1720 auf ca. 2,9 % steigt; es ergibt sich ein Mittelwert von lediglich 1,7 %.20

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Bereits Weber u. Mithal: Deutsche Originalromane, S. 79 zählen zwischen 1730‒1740 um die 102 Romanpublikationen, deren Zahl 1740‒1750 auf 187 Romane und 1770‒1780 auf 574 Veröffentlichungen steigt. Laut Schön: Verlust der Sinnlichkeit, S. 44 nimmt der Roman 1770 mindestens 11,7 % der Gesamtproduktion ein. Meletaon [Johann Leonhard Rost]: Curieuse Liebes=Begebenheiten. Aus dem Frantzösischen übersetzet / Und mit den darzu gehörigen Kupfern nebst einer Vertheidigung wider Celandern, an das Licht gestellet von Meletaon. Cölln [s.n.] gedruckt im Jahr 1714, Vorrede an den Leser, unpag. [A 1b], [A 9a]. Le Content: Accademischer Frauenzimmer=Spiegel / Das ist curieuse Liebes=Begebenheiten / So sich in der That auf einer wohlbekandten Sächsischen Universität vor einigen Jahren zugetragen. Ausgefertiget von Le Content. Im Jahr 1718 [s.l.], Vorrede, unpag. [A 2a]. Die Messkataloge stellen heute die einzigen umfassenden, wenn auch nicht vollständigen Quellen zum Buchangebot um 1700 dar. Als buchgeschichtliche Quellen sind sie zwar umstritten (Hans-Joachim Koppitz), doch vermitteln sie zumindest einen Annäherungswert an damalige Produktions- und Distributionsverhältnisse. Nur ein Teil der Drucke gelangt überhaupt auf die Messen und nicht alle Titel werden dort vorschriftsmäßig gemeldet, so dass auch die Messkataloge unvollständig sind. Zu Problematik und Möglichkeiten der Messkataloge als buchgeschichtliche Quelle vgl. Jennifer Willenberg: Distribution und Übersetzung englischen Schrifttums im Deutschland des 18. Jahrhunderts. München 2008, S. 106‒108; Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 237, 249. Für den Zeitraum 1690‒1720 setze ich pro Jahr die bisher recherchierten Romane ins Verhältnis zum geschätzten Gesamtvolumen des deutschen Buchhandels laut Codex Nundinarius, inkl. deutsche, lateinische, ausländische Schriften. 1690: 907 Titel gesamt, darunter 12 Romane (1 %); 1693: 908 Titel ges., 7 Romane (0,8 %); 1696: 1123 Titel ges., 12 Romane (1,1 %); 1700: 978 Titel ges., 15 Romane (1,5 %); 1704: 1123 Titel ges., 9 Romane (0,8 %); 1707: 1353 Titel ges., 9 Romane (0,7 %); 1709: 1427 Titel ges., 16 Romane (1,1 %); 1710: 1368 Titel ges., 21 Romane (1,5 %); 1711: 1043 Titel ges., 18 Romane (1,7 %); 1713: 1061 Titel ges., 20 Romane (1,9 %); 1715: 1139 Titel ges., 24 Romane (2,1 %). 1719: 1071 Titel ges., 21 Romane (2 %). 1720: 979 Titel ges., 29 Romane (2,9 %); Datenbasis nach Gustav Schwetschke: Codex Nundinarius Germaniae Literatae Bisecularis. Meß-Jahrbücher des deutschen Buchhandels von dem Erscheinen des ersten Meß= Kataloges im Jahr 1564 bis zu der Gründung des ersten Buchhändler=Vereins im Jahre 1765. Halle: Schwetschke, 1850, S.  168‒198 (enthält die Frankfurter und Leipziger

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Selbst wenn man zu diesen heute noch erfassbaren Beständen einen nicht einzuschätzenden Markt an unautorisierten Billignachdrucken hinzuzählt, sind Romane um 1700 quantitativ eine unbedeutende Größe im deutschen Buchhandel. Obwohl sie geschrieben, verlegt und gelesen werden und im Verlauf des Jahrhunderts immer mehr Lesergruppen an sich ziehen, gelten Romane im Tausch- und Messverkehr um 1700 als buchhändlerisches ‚Nebenprodukt‘. Ähnlich wie Schul-, Bet- und Hausbücher, medizinische Ratgeber, Arznei-, Traum- oder Rätselbücher fallen sie unter die sogenannten „kleinen Schriften“.21 Ihre Auflagenhöhe beläuft sich in der Regel auf eine geringe Zahl von 600 bis 1.000 Stück,22 im Verlag von Zwischenhändlern sind sie meist nur in begrenzter Anzahl vorrätig. Der Roman ist um 1700 ein buchhändlerisches Nebenprodukt, angesiedelt an der Peripherie eines deutschsprachig-populären Schrifttums, das seit den 1690er Jahren beginnt, das Lateinische als Schriftsprache und mit ihm die Dominanz der lateinischen, religiösen und gelehrten Schriften zurückzudrängen.23 Mit der Dominanzverschiebung zum Deutschen als Schriftsprache verändern sich auch die inhaltlichen Kategorien und Sparten des Buchhandels. Den buchhändlerischen Kernbestand bildeten traditionell die Schriften der katholischen und protestantischen Theologie sowie die nach den universitären Fakultäten gegliederten Bereiche der Jurisprudenz, Medizin und Chemie, Philosophie und Musik.24 Die Texte dieser Sparten fielen, vor allem in ihrem lateinischen Segment, in den Bereich der Lettre, der gelehrten Sachen. Naturwissenschaftliche Schriften zu physikalischen, astrologischen und ähnlichen Thematiken, ebenso wie poetische Texte finden in den Messkatalogen keine eigene Sparte, sondern werden wahlweise unter die medizi-

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Messkataloge 1690‒1720); sowie Simons, Kirchhofer u.a.: The Novel in Europe 1670‒1730, URL: http://www.pierre-marteau.com/resources/novels/novels-1710.html [05. Oktober 2010]. Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 28. Simons: Marteaus Europa, S.  31. „Gewöhnliche Auflagen“ liegen bei 1500 Exemplaren, vgl. Albrecht Kirchhoff: Lesefrüchte aus den Acten des städtischen Archivs zu Leipzig. In: AGB 15 (1892), S. 189–297, hier S. 194. Kleinere und Raubdruckauflagen belaufen sich oft auf weniger als 1.000 Exemplare, vgl. Darnton: Die Wissenschaft des Raubdrucks, S.  29. Hohe Auflagen können auch 3.000 bis 5.000 Exemplare umfassen, vgl. Paul Pater: De Germaniae Miraculo optimo […]. Lipsiae […] Jo. Frider. Gleditsch […] Anno MDCCX [1710]. In: Johann Christian Wolf: Monumenta typographica […]. Pars Secunda [Theil 2]. Hamburg: Christian Herold, Anno MDCCXL [1740], S. 705‒866, hier S. 821. Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 81f.; Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 84. Der Trend zur deutschsprachigen Publikation zeigt sich seit Beginn der Messkataloge zuerst im Bereich der protestantischen Theologie und greift von dort auf das philosophische und historische Schrift­tum über. Vor allem im nord- und mitteldeutschen, protestantisch geprägten Raum setzt der Einzug des weltlichen, populären Buchangebots ein. Zur Vorrangstellung norddeutscher und protestantischer Territorien mit dem Umschlagplatz Leipzig im Gegensatz zum süddeutschen katholisch geprägten Raum mit dem Handelszentrum Frankfurt am Main vgl. Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 82‒85. Auch der Roman kann als ein „Geschäft protestantischer Städte“ betrachtet werden, Simons: Marteaus Europa, S. 33. Ebd., S. 39.

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

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nischen und chemischen Schriften oder unter die Rubrik der „historischen, philosophischen und andere Bücher“ subsumiert. Es gibt im Buchhandel um 1700 keine klare Trennung zwischen wissenschaftlichen und ‚populären‘ Schriften im heutigen Sinne;25 die Kategorisierung erfolgt vielmehr aufgrund der Sprache (Deutsch als Volkssprache) in Abgrenzung zur „Gelehrtensprache“ Latein. So können auch naturwissenschaftliche Texte, sofern sie in deutscher Sprache verfasst sind, unter der Rubrik philosophischer und historischer Texte auftauchen, z.B. Schwimmers Deliciae Physicae oder Physicalische Ergetzlichkeiten (1700), der Fragen der Physik in deutscher Sprache behandelt – im Messkatalog erscheint die physikalische Schrift unter der Rubrik „teutsche historische, philosophische und andere Bücher“.26 Auch der Roman wird unter die Sparte der „Teutschen Historischen, Philosophischen und Andere Bücher“ subsumiert. Im Catalogus Universalis des Leipziger Verlagshauses Johann Grosses selige Erben (Ostern 1711) steht diese Rubrik am Ende des Katalogs, wo der Roman neben Lexika, Wörterbüchern, Verhaltensratgebern, aktuellen Schriften zu Politik und Staatswesen, Abhandlungen über den Bergbau, die Weinherstellung, das Wetter, Reiseberichte oder architektonische Beschreibungen von Schlössern und ihren Beleuchtungssystemen erscheint.27 Genannt werden fünf Romane und um die dreißig romanhafte Texte.28 Der interessierte Käufer entdeckt z.B. Talanders (August Bohses) Roman Amor an Hofe und eine Übersetzung von Bohse aus dem Französischen, die bekannte Novellensammlung Geschichten aus Tausend und einer Nacht, vom zeitgenössischen Publikum als romanhafter Text gelesen.29 Außerdem wird ein Roman des Nürnberger Erfolgsautors Meletaon (Jo-

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Auch eine Unterscheidung von theologischen und gelehrten Schriften wäre irreführend, da alle theologischen Texte zugleich Produkt der Gelehrsamkeit sind. Als ‚populäre‘ Schriften gelten deutsch- bzw. volkssprachige Texte unterschiedlicher Thematiken, die keine Kenntnis des gelehrten Latein voraussetzen und insofern ‚populär‘, d.h. allgemein verständlich, sind. Johann Michael Schwimmer: Deliciae Physicae, das ist Physicalische Ergetzlichkeiten / durch Fragen un[d] Neben=Fragen / zu Nutz und Lust Gelehrten und Ungelehrten abgefasset […]. In: Catalogus Universalis […], Leipzig 1700‚ unpag. [S. 31], in der Rubrik „Historische, philologische und andere Schriften“. Catalogus Universalis 1711, unpag. [S. 48‒58]; gesamte Rubrik abgedruckt bei Simons: Marteaus Europa, S. 39‒45. Thematisch unterschiedlichste Publikationen stehen nebeneinander, z.B. Der offenhertzige Weinarzt oder Unterricht des Weinbaues nebst einer Baum=Schule (Dresden: Joh. Jac. Wincklern); Meteorologia parallela, das ist: Curiose Nachrichten von dem Wetter und so genannten Wetter=Gläsern (Franckfurt: Daniel Bartholomä); Vorschlag und Probe wie man lustigen und artigen Scherz in Gesprächen anbringen könne (Franckfurt: Dominico von Sand) oder Melancholische Neben=Stunden, bestehend in einigen Gedancken über das elende Leben dieser Welt (Oßnabrüg: Michael Andreas Fuhrmann). Zur knappen Einordnung Simons: Marteaus Europa, S. 46‒48. Leipzig: Johann Ludwig Gleditsch & Weidmann (beide Publikationen), zit. nach Catalogus Universalis 1711, unpag. [S. 54]. Zur Publikationsgeschichte von Amor an Hofe weiterführend Kap. 3.1.3.5.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

hann Leonhard Rost), genannt: Die Liebenswürdige und galante Noris.30 Von Selamintes (Johann Gottlieb Wendt) findet man Die glückliche und unglückliche Liebe.31 Darin stellt der junge Autor seine Romankonzeption des ‚Ingeniums der Wollust‘ vor, die in Kapitel 3.4.1.4 von Interesse ist. Außerdem enthält der Catalogus Universalis den provokanten anonymen Roman Der entlarvte Ritter im Nonnen=Closter, dem sich Kapitel 4.1 widmet. Bekannte Verleger wie Johann Ludwig Gleditsch und Moritz Georg Weidmann d.J. aus Leipzig, kleinere Unternehmer wie Christian Liebezeit aus Hamburg oder der Wiener (sich als Leipziger) Verleger ausgebende Johann Gabriel Grahl bieten galante Romane offen auf den Buchmessen an und lassen auch recht provokante Exemplare wie den Entlarfften Ritter in den Messkatalogen verzeichnen. Gleichzeitig gehen die Publikationen im Chaos der bunt gemischten historischen, philosophischen und andere Bücher geradezu unter. Der Katalog ist weder alphabetisch geordnet32 noch ist die thematische Kategorisierung, wie zu sehen war, besonders aussagekräftig. Wer einen galanten oder frivolen Roman im Katalog ausfindig machen wollte, musste entweder den Titel kennen oder sich gewissenhaft durch eine unübersichtliche Menge thematisch heterogenster Schriften durcharbeiten. Mit der Registrierung in den Messkatalogen werden die Romane den Zensurbehörden geradezu unter die Nase gehalten – offenbar war dies jedoch eine erfolgreiche Strategie, um besonders wenig Aufmerksamkeit auf die Texte zu lenken und die interessierten Käufer dennoch über ihre Verfügbarkeit zu informieren. Der Catalogus Universalis lässt erkennen, an welchem Ort des buchhändlerischen Sortiments der Roman erscheint – nicht etwa in einer seperaten Rubrik ‚literarischer‘ Schriften, sondern im unübersichtlichen und heterogenen Bereich deutschsprachig-populärer Drucke. Poetische Texte respektive galante Romane werden im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert noch nicht explizit als ‚Literatur‘ behandelt. Ein separates Klassifikationsinstrumentarium, das literarische Texte von den übrigen populären Schriften scheidet, ebenso wie ästhetische Wertkategorien, die zwischen einem kanonischen Bestand ‚anspruchsvoller‘ und ‚trivialer‘ Romane differenzieren würden, existieren um 1700 noch nicht. Selbst ein eigenständiger Literaturmarkt für Lyrik, Dramatik oder Roman- und Erzählliteratur ist zu diesem Zeitpunkt nicht vorhanden. Dafür ist das im modernen Sinne ‚literarische‘ Angebot auf dem Gesamtmarkt noch zu gering vertreten.33 Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts, im Zuge der Ausdifferenzierung literarischer Gattungen zu handelsfähigen Marktsegmenten und 30

Leipzig: Johann Ludwig Gleditsch & Weidmann, zit. nach Catalogus Universalis 1711, unpag. [S. 55]. 31 Hamburg: Christian Liebezeit, zit. nach ebd., unpag. [S. 50]. 32 Erst seit der Michaelis- bzw. Herbstmesse 1711 wird der Catalogus Universalis alphabethisch nach Verfassern geordnet, was es hingegen nicht einfacher macht, anonyme Veröffentlichungen zu finden; für diesen Hinweis danke ich Olaf Simons. 33 Demnach machte die Poesie 1720 nur 2,9% des gesamten Messverkehrs aus, Codex Nundinarius, S.  198. Selbst 1740 erreichen die poetischen Schriften nur 4,2% der Gesamtproduktion, wobei auf die Lyrik 1,3% enfallen, auf die Dramatik 0,3% und auf Romane als größter Gruppe

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

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vor allem durch die Popularisierung der Romanliteratur, entfaltet sich aus dem Bereich der Belles Lettres heraus ein Segment ‚literarischer‘ Schriften, die als solches klassifiziert werden. Texte wie der Roman, die dann in Abgrenzung zu philosophischen und historischen Schriften als ‚literarisch‘ beschrieben werden, lassen sich nun aus der Gattungs- und Textformenvielfalt der Belles Lettres isolieren, was die Formierung eines Objekt- oder Definitionsbereichs ‚Literatur‘ im engeren Sinne erst ermöglicht.34 Im Begriff Belletristik ist dieser semantische Ursprung im Umfeld der Belles Lettres noch zu erkennen. Um 1700 jedoch stellen die Belles Lettres ein Sammelbecken unterschiedlichster Materien, Sujets und Genreformen dar. Der Roman entwickelt sich in unmittelbarer Nähe zu aktuellen philosophischen, politischen, naturwissenschaftlichen Schriften, Gebrauchstexten und Gelegenheitsschriften, die den Sparten des traditionellen Buchhandels nicht eindeutig zuzuordnen waren. Wie eng dieses bunt gewürfelte Schrifttum mit der Erschließung neuer Geschäftsfelder im expandierenden, doch auch weithin unreglementierten Buchhandel, den „Charlatanerien“ des Buchhandels, verbunden ist, zeigt das nächste Kapitel. 3.1.2 Konkurrenzen im Buchgewerbe um 1700 Seit der Erfindung des Buchdrucks führen technische Innovationen, obschon nicht flächendeckend und kontinuierlich, zu einer deutlichen Intensivierung der Druckproduktion im deutschen Raum. Die zunehmenden Gründungen von Universitäten mit ihren angegliederten Druckereien, der Ausbau von Infrastrukturen, die Befriedung nach dem Dreißigjährigen Krieg u.a. regen eine Expansion des Buchhandels an.35 Stellt man in Rechnung, dass die Alphabetisierung regional und schichtspezifisch immer noch sehr ungleich ausgeprägt ist und sich in erster Linie auf ein akademisch gebildetes, männliches Publikum erstreckt,36 so ist die zunehmende Integration des Romans in den Buchhandel nicht nur auf die Nachfrage der Rezipienten zurückzuführen. Im Hintergrund stehen strukturelle Veränderungen des Buchwesens, die auch Konkurrenzen zwischen Produzenten und Distribuenten schüren. 3.1.2.1 Der offizielle Markt: Neue Konkurrenten Das Druckerhandwerk war zünftig organisiert und dadurch reglementiert. Vererbte Konzessionen und „Handels-Gerechtsame“ beschränkten um 1700 die Neugründung

2,6%, Schön: Verlust der Sinnlichkeit, S. 44. Zum fehlenden Literaturmarkt vgl. Simons: Marteaus Europa, S. 33f. 34 Ebd., S. 115‒132. 35 Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 82‒120. 36 Rolf Engelsing: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. Das statistische Ausmaß und die soziokulturelle Bedeutung der Lektüre. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 10 (1970), Sp. 945‒1002; Zur weiblichen Leserschaft Kap. 3.3.2 Weiblichkeit und Romanlektüre.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

von Druckereien zum Schutz des innerstädtischen Gewerbes.37 Allerdings wurden immer mehr Städte zu Universitätsstädten und erhielten das Privileg, Druckereien zu eröffnen.38 Der Wettbewerb intensivierte sich im deutschen Raum und verschärfte sich durch die Nach- und Raubdruckproduktion des In- und Auslands.39 Zudem mussten sich die Druckereien zwischen den Fronten konfessioneller Landesstrukturen behaupten, dem katholisch geprägten Süd-Westen und dem protestantischen Nord-Osten. Nicht alle Schriften fanden überall Absatz, häufig waren protestantische Drucke in katholischen Gebieten von der Zensur verboten und umgekehrt. Der Absatzmarkt war beschränkt und damit stark umkämpft. Die Zunftbestimmungen sahen darüber hinaus Arbeitsteilungen vor, die nicht nur einen Schutz des Gewerbes bedeuten, sondern auch dessen Einschränkung. So durften laut Buchdruckerverordnungen nur die Druckermeister den eigentlichen Buchdruck besorgen. Das Papier erwarben sie ballen- oder ristweise vom Papiermacher, engagierten Setzer und stellten gegebenenfalls Pressen- und Ballenmeister ein,40 die Lehrlinge oder Gesellen beim Druck der Bögen anleiteten. Handeln durften die Drucker offiziell nur mit eigenen Erzeugnissen, d.h. den einzelnen Bögen, die weder geschnitten, gebunden noch mit einem Einband versehen waren. Diese Arbeiten besorgten die Buchbinder, die dafür das alleinige Zunftrecht besaßen.41 Während die Drucker eigene Waren auf den überregionalen Messen anboten und mit einem beschränkten Anteil auswärtiger Tauschware handeln durften, war es den Buchbindern vielerorts nur gestattet, die von ihnen selbst gebundenen Bücher zu verkaufen.42 Eine einheitliche Gesetzesregelung gab es im deutschen Raum jedoch nicht und so sind Fälle bekannt, in denen Buchbinder unerlaubterweise mit „kleinen Schriften“ handelten,43 einen versteckten Buchhandel mit auswärtigen Waren betrieben und zum Teil sogar verlegerisch tätig wurden.44 Diese Praxis scheint so gängig geworden zu sein, dass sie in einzelnen Städten wie Leipzig, Nürnberg oder

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Simons: Marteaus Europa, S. 27; Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 101; Nachwort von Karl Klaus Walter in: [anonym] [Polyempirus]: Charlatanerie der Buchhandlung, welche den Verfall derselben durch Pfuschereyen, Praenumerationes, Auctiones, Nachdrucken, Trödeleyen u.a.m. befördert / von zwey der Handlung Beflissenen unpartheyisch untersuchet. Reprint d. Ausg. Sachsenhausen, Mistkütze, 1732. Mit einem Nachwort von Karl Klaus Walther. München 1987, S. 4. 38 Der Reichsbeschluss von Speyer legte seit 1570 fest, dass das Recht, Druckereien zu eröffnen, ausschließlich auf die Reichs-, Universitäts- und Residenzstädte beschränkt bleiben soll, Walther: Verlagsproduktion von Pierre Marteau/Peter Hammer, S. 16. 39 Darnton: Die Wissenschaft des Raubdrucks, S. 17; Albrecht Kirchhoff: Der ausländische Buchhandel in Leipzig im 18. Jahrhundert. In: AGB 14 (1891), S. 155–182. 40 Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 22. 41 Ebd., S. 104. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 105, 107. 44 Ebd., S. 109.

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Magdeburg toleriert wurde.45 Da der Roman zu den „kleinen Schriften“ zählte, fand er auch in den Buchbinderstuben seine Käufer. So liest man 1708 bei Johann Gottfried Zeidler, den Buchbindern in Leipzig sei die gemeinsten Bücher vor die Hausväter / wie auch allerhand deutsche und Lateinische Schulbücher zu führen vergönnet. Nemlich Bibeln / Postillen / Gebet- und Gesangbücher […] / Abcbücher / Calender / allerhand deutsche kleine Romane […] / Gartenbüchlein / […] Planetenbüchlein und dergleichen unzehliche Dinge / welche […] in grosser Menge gedruckt / […] und auf dem Markt feil sind [Hervorh. K.B.].46

Daneben betrieben jedoch auch die meisten Drucker, deren Handel als Druckerverleger auf die eigene Produktion und ein begrenztes Sortiment überregionaler Schriften beschränkt bleiben sollte, einen ausgedehnten Buchhandel mit Schriften jeglicher Art,47 darunter sicherlich auch Romane. Produktion und Distribution, Herstellung und Vertrieb fallen in der Figur des Druckerverlegers und Buchbinders häufig zusammen. Zwischen beiden Berufsgruppen herrschte vielfach Zwist, da jeder den anderen ins eigene Geschäft eingreifen sah. Neben die zünftig organisierten Drucker und Buchbinder tritt im 17. Jahrhundert als neuer Konkurrent der Buchhändler, Buchführer oder Sortimentverleger.48 Im Gegensatz zur Druckerei und Buchbinderei war der Beruf des Buchhändlers oder Verlegers nicht zünftig organisiert.49 Während die produzierenden Gewerbe dem Zunft- und Ausbildungszwang unterlagen, eigene Innungsordnungen besaßen und durch Handelsgerechtsame reglementiert wurden, stellt sich die sogenannte Buchhandlung als ein „freies Gewerbe“ dar.50 Ohne „Zunft und Ordnung“, ohne „Bedingungen des Nachweises regelrechter Erlernung“51 konnte im Prinzip jeder, der über basale Fremdsprachenkenntnisse verfügte und ein Verständnis für Rechnungswesen und Mathematik besaß, in den Buchhandel eintreten. Aufgrund des fehlenden Zunftzwanges wird der Buchhandel zum attraktiven Berufsfeld für ungelernte Kräfte. Neue Konkurrenzen entstehen zwischen Druckern, Buchbindern und Buchhändlern. Die Animositäten lassen sich an Äußerungen von Druckern und Bindern nachvollziehen, die betonen, dass ihre Kunst „der Vernunfft nach, viel eher, denn der Buchhandel gewesen und auffkommen sey“.52 Da den produzierenden Gewerben jedoch 45

Ebd., S. 107. Johann Gottfried Zeidler: Buchbinder=Philosophie Oder Einleitung In die Buchbinder Kunst. Halle 1708, S. 151, zit. nach Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 90. 47 Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 94. 48 Als eigene Berufsgruppe treten sie laut Goldfriedrich vermehrt erst seit dem 17. Jahrhundert auf (ebd., S. 99). 49 Ebd., S. 93, 95f., 119; Nachwort von Karl Klaus Walter. In: Charlatanerie der Buchhandlung, S. 4; Estermann: Memoria und Diskurs, S. 48. Ein ‚Verleger‘ war in diesem Sinne zunächst derjenige, der Bücher druckte und überregional von der Messe an andere Orte ‚ver-legte‘. 50 Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 96. 51 Ebd. 52 Ebd. 46

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häufig Zeit und Kapazitäten fehlten, sich inhaltlich mit der zunehmenden Menge an Schriften auseinanderzusetzen und neueste Entwicklungen intensiv zu verfolgen, konnten Buchhändler solche beratenden Funktionen übernehmen. Sie blieben ihrerseits an die Kooperation mit Druckern und Bindern gebunden, da sie laut Zunftzwang keine Druckereien eröffnen durften (bzw. dazu ein Privileg benötitgen, das sie nur erhielten, wenn sie in einer Druckerdynastie geboren waren oder in diese einheiraten konnten, was häufig geschah).53 Gleichzeitig schürten die Händler aber auch die Konkurrenz zwischen Druckern und Bindern, wenn sie z.B. gebundene Waren direkt über den Buchbinder bezogen oder Geschäftsbeziehungen zu Druckern unterhielten, die unberechtigt Buchbindergesellen anstellten und so den Binder umgingen.54 Eine Vielzahl an Gerichtsakten und Eingaben belegt, dass das Verhältnis von Druckern, Bindern und Buchhändlern äußerst konfliktreich war.55 Goldfriedrich fasst die Situation mit den Worten zusammen: „Dort, wo der Buchhandel sich stärker entwickelte oder der ‚freie‘ Buchhändler überhaupt erst auftrat, begann nun der gewerberechtliche Konkurrenzkampf.“56 Doch allein beim Wettbewerb zwischen diesen ‚offiziellen‘ Akteuren blieb es nicht.

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Kap. 3.1.3 Soziale Strukturen und (illegitime) Praktiken. Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 107, 112. 55 Es mischt sich in den Tausch- und Messhandel um 1700 langsam der Geldverkehr, der zuvor nicht üblich war, so dass eine Vielzahl unterschiedlicher Buchhändlertypen und Geschäftsmodelle entsteht. Entscheidend ist, ob ein Verleger oder Buchhändler mit überregionalen oder nur lokalen Waren handelt, ob er eigene Bücher herausgibt, d.h. Autoren verpflichtet, oder von Dritten produzierte Bücher weiter vertreibt. Ebenso vielfältig ist auch der Zahlungsverkehr: Im traditionellen Tausch- oder Changehandel werden ‚Bücher gegen Bücher‘ getauscht – ein Handel, der vollkommen ohne Geldverkehr auskommt. Im 17. Jahrhundert wird es aber zunehmend üblich, neben dem Tauschhandel Teile des Sortiments auch gegen Bargeld oder auf Rechnungen zu verhandeln. Je nach Wirtschaftsform variieren die Berufsbezeichnungen der Buchhändler und Verleger; genannt werden u.a. der „Sortimentverleger“, der eigene Schriften drucken lässt und diese gegen das Angebot überregionaler Drucker und Verleger sowohl tauscht (Bücher gegen Bücher) sowie gegen Bargeld fremde Bücher erwirbt, hierzu Hermann F. Meyer: Die geschäftlichen Verhältnisse des deutschen Buchhandels im 18. Jahrhundert. In: AGB 5 (1880), S. 176– 179, hier S. 177f. Daneben erscheinen die sogenannten „ächten Sortimentbuchhändler“, die sich hauptsächlich auf den Tausch- und Changehandel mit eigenen Auflagen konzentrieren, ohne oder nur sehr gering mit Geld zu agieren (ebd.). Ein „Nettobuchhändler“ oder „Verlagshändler“ hingegen handelt ausschließlich mit Bargeld, ohne fremde Bücher im Tausch zurückzunehmen. Er lässt ein eigenes Sortiment drucken, das er ausschließlich für den Messverkauf produziert. Daneben treten kleinere Buchhändler, die sich als „Kommissionäre“ oder „Kommanditisten“ in fremden Städten ansässig machen, Bücher ortsfremder Verleger annehmen, sie vertreiben und mit bestimmten Prozenten am Vertrieb beteiligt werden, Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 144‒147, 158. „Druckerverleger“ handeln i.R. mit eigenen lokalen Artikel, betreiben aber z.T. auch einen überregionalen Sortimenthandel, Meyer: Die geschäftlichen Verhältnisse des deutschen Buchhandels, S. 177f. Nicht zuletzt werden auch „Buchbinder“ als Buchhändler genannt, Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 109. 56 Ebd., S. 112. 54

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3.1.2.2 Kolportage- und Hausierhandel: Scheurenkrämer, Scarteckenträger, Studenten in prekären Lagen Mit der Expansion des Buchwesens entwickelt sich der Handel mit gedruckten Schriften zu einem recht unübersichtlichen und umstrittenen Geschäftsfeld. Neben Buchhändler, Sortimentverleger, Druckerverleger und Binder treten immer neue Händler und Mittelsmännern von Schriften – darunter Hausierer, sogenannte „Scheurenkrämer“57 und „Scartecken­träger“.58 Im Kurtzen Bericht / von der Nützlichen und Fürtrefflichen Buch= Handlung (1690) beschreibt Adrian Beier den Buchhandel als ein mehrschichtiges Gebilde, bei dem Produktion und Distribution Hand in Hand gehen und vom Kaufmann, über den Krämer bis hin zum Höcker oder Restverkäufer vielfältige Vertriebsformen finden: So ist […] zu beobachten / daß derer [Buchhändler] […] dreyerley Gattungen seyn / die Vornehmste sind Kauffleute / eine mittlere Sorte sind die Krahmer / und letzlich gibts welche / die gar nur Höcker seyn. […] Und zwar mögen die Höcker wohl von denen Hocken und Bürden / worinnen sie dero gantze Handelschafft hausiren umbtragen / ihren Nahmen bekomen haben / denn es meistens Ressträger / und wenns hoch komet / Tablettengänger sind / so entweder von andern ausgeschickt werden / oder mehr nicht uff einmahl in ihren Krahm nehmen / denn sie ertragen können […].59

Vor allem in Sachsen entwickelte sich außerhalb der Messen, abseits der offiziellen Zunft- und Handelsnetze, ein ausgedehnter „Colportage- und Hausierverkehr“,60 der seine Akteure im Druckerei- und Buchhandelsgewerbe selbst fand. Aufgrund des fehlenden Zunft- und Ausbildungszwanges konnten sich ungelernte Kräfte, arbeitssuchende Druckergesellen, Studenten oder auch Personen, die durch kriegsbedingte Behinderungen ihrem ursprünglichen Beruf nicht mehr nachgehen konnten (wie der Leipziger Hausierer Johann Janson), im Buchhandel verdingen.61 Im Geschäft mit Schriften und Drucken suchten solche Personen ein neues Arbeitsumfeld. Klagen über den „Verfall der Buchhandlung“62 sind in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahr-

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Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 92. Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 134. Selbst Kinder wurden in den Kolportagevertrieb von unautorisierten Nachdrucken einbezogen (ebd., S. 135). Adrian Beier: Kurtzer Bericht / von Der Nützlichen und Fürtrefflichen Buch=Handlung […]. Anno 1690. In: Quellen zur Geschichte des Buchwesens. Bd. 1: Das Buchwesen im Barock. Hg. v. Reinhard Wittmann. München, 1981, S. 6f. Kirchhoff: Lesefrüchte. In: AGB 8 (1883), S. 94. Bekannt ist das Beispiel Johann Jansons, von Johann Friedrich Gleditsch 1698 als „Disputationshändler“ bezeichnet, der sein Geschäftslokal auf „dem Boden des Eustach Möller’schen Hauses in der Reichstraße“ pflege (ebd., S. 95). Janson war „ursprünglich Schuster, als Soldat im Krieg ‚lahm gehauen‘ worden und ernährte sich nun gleich so manchem verkommenen oder arbeitsunfähigen Leuten durch ‚den Handel mit allerhand gedruckten Sachen‘ […] und ‚kleiner Büchelchen‘“ (ebd.). [anonym]: Eines Aufrichtigen Patrioten Unpartheyische Gedancken über einige Quellen und Wirckungen des Verfalls der ietzigen Buch=Handlung / Worinnen insonderheit / Die Betrügereyen der Bücher=Pränumerationen entdeckt […]. Schweinfurth […] 1733. In: Quellen zur Ge-

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hunderts zahllos bekannt. Die Liste an Personen, die nach Ansicht der Alteingesessenen als sogenannte „affterbuchhändler, pfuscher […] und tollkühne enterpreneur[e]“63 den Handel stören, ist lang. Es zählen zu diesen Personen: [V]erdorbene Magistri, halb oder gar unstudirte studenten und quacksalber, allzu ehr= und geldgeitzige buchdrucker, aus ihrer zunfft gestossene buchdruckergesellen, verlauffene buchdruckerjungen, fallit wordene kauffleute, liederliche kauffdiener, ungeschickte kupfferdrücker / arm­ seelige schneider, herrn= und ehrlose laquaien, [die] bey der aus noth erwehlten buchhandlung glücklich, reich und ehrlich werden [wollen].64

Beier beklagt ihre „zahlreiche menge“ „insonderheit in Leipzig“,65 da sie gewissermaßen als prekäre Elemente den Buchhandel zu untergraben drohen: Vom buchhandel sind sie nicht hergekommen, die lehrjahre sind sie noch schuldig. Ihre vorige profeßion haben sie verlassen. Ihr unartiges leben hat ihnen bey nahe alle mittel, in der Welt fortzukommen, beschnitten. Der buchhandel, eine sache, die sie noch weniger alles alles andere verstehen, soll die letzte zuflucht ihres auskommens seyn.66

Doch auch die offiziellen Akteure des Buchhandels werden für die unübersicht­ lichen Strukturen verantwortlich gemacht. Die „leichtsinnige Behandlung des Lehrlingswesens“67 führe dazu, dass zu zahlreich Gesellen und Gehilfen eingestellt würden, die nach mangelhafter Ausbildung – es existierten ja keine verbindlichen Richtlinien – in den Markt treten.68 Diese Personen, die innerhalb der buchhändlerischen Zunft- und Arbeitswelten untergeordnete Stellungen einnehmen, sind freilich nicht die treibenden Kräfte, die die Herstellung von Romanen und ihren Handel tragen. Dies geschieht vielmehr von Seiten wendiger Kleinverleger und etablierter Geschäftsmänner (Kapitel 3.1.3). Dennoch übernehmen junge Akteure eine wichtige Scharnierstelle, denn sie können Drucker und Verleger auf Schriften aufmerksam machen, die aus ihrer Sicht den Geschmack junger Leser treffen. So wird z.B. Christian Friedrich Hunold alias Menantes über den Buchhandelsgesellen Benjamin Wedel mit seinem ersten Verleger Gottfried Liebernickel bekannt. Dieser sei an Romanen eigentlich nicht interessiert gewesen, wird aber vom Gesellen zum Druck überredet und landete damit prompt einen unvermuteten Erfolg, so dass er Hunold sofort „unter Vertrag“ nimmt.69 Später wird der Geselle selbst zum Verleger von Hunolds Schriften. In ähnlicher Weise lässt der Generationswechsel im Hamburger schichte des Buchwesens. Hg. v. Reinhard Wittmann. München 1981 (im Folgenden zitiert als: Verfall der ietzigen Buch=Handlung). 63 Verfall der ietzigen Buch=Handlung, S. 17. 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 420. 68 Ebd. 69 [anonym] [Benjamin Wedel]: Geheime Nachrichten und Briefe von Herrn Menantes Leben und Schrifften. Cöln: Johann Christian Oelschnern, 1731, S. 15.

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

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Verlag Liebezeit und die Übernahme der Geschäftsführung durch den Sohn Christian Liebezeit eine Öffnung des Verlagsprogramms hin zu populären und zum Teil frivol-erotischen Schriften erkennen. Dass in der Aufzählung ‚prekärer Elemente‘ Studenten und verdorbene Magister an erster Stelle erscheinen, ist kein Zufall. Karl Klaus Walther, Jutta Held und Volker Meid weisen darauf hin, dass der zunehmende Bedarf an akademisch gebildeten Beamten, die in den Staatsdienst der einzelnen Territorialstaaten treten sollten, und die zunehmenden Universitätsgründungen Anfang des 18. Jahrhunderts zu einer ersten „Akademikerschwemme“70 führten; eine Tendenz, die sich bereits Ende des 17. Jahrhunderts ankündigte.71 Vor allem bürgerliche Magister waren auf Lohn und Erwerb angewiesen. Wenn sie „keine oder nur schlecht bezahlte Anstellungen fanden“,72 waren sie gezwungen, auch außerhalb des Staatsdienstes ein erträgliches Auskommen zu suchen. Etliche bemühten sich daher, in der Buchhandlung unterzukommen – ein ihrer Qualifikation angemessenes Berufsfeld, das ihnen aufgrund des fehlenden Zunft- und Ausbildungszwanges offen stand. Gleichwohl herrschte auch hier eine starke Konkurrenz, wie die satirische Schrift Charlatanerie der Buchhandlung zeigt.73 Es handelt sich um einen fiktiven Dialog zwischen zwei studentischen Buchhandelsgesellen, deren pseudonymer Verfasser Polyempirus sich im Vorwort als einer der Protagonisten zu erkennen gibt.74 Die Vorrede erklärt, der Druck gehe auf ein Gespräch mit einem Bekannten zurück, den der Verfasser auf der Leipziger Michaelismesse getroffen habe. „Bloß zu meiner Notiz“ habe er das Gespräch aufgezeichnet, musste später jedoch erfahren, dass die Schrift in „fremde Hände“ und

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Walter: Nachwort. In: Charlatanerie der Buchhandlung, S.  4; Jutta Held: Intellektuelle in der Frühen Neuzeit. In: Intellektuelle in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Jutta Held. München 2002, S.  9–17. Held konstatiert mit Verweis auf Arno Seifert, dass die deutschen Universitäten zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Überzahl an qualifizierten Studenten entlassen hatten, die als Funktionsträger in den für sie bestimmten Positionen (als Beamte, Pfarrer, Professoren, Schriftgelehrte) keine Einstiegsmöglichkeiten fanden: „Es bildete sich eine Art frühes akademisches Proletariat heraus, das neue Aktionsfelder finden mußte, eine erste Bohème, die sich wohl vornehmlich in den Bildenden Künsten als produktiv und innovativsfähig erwies und eine eigene intellektuelle Kultur hervorbrachte“ (ebd., S. 14). Held wertet diese Deregulation als „Krisensymptom“ der Frühaufklärung (ebd.). Nach Meid setzt dieser Prozess bereits in der zweiten Hälfte des 17.  Jahrhunderts ein und verschärft sich bis zum Beginn des 18.  Jahrhunderts zu einer „Krise der bürgerlichen Intelligenz“ – vor allem bürgerliche Akademiker mussten sich mit „untergeordneten Positionen begnügen“ und waren von „Arbeitslosigkeit“ bedroht, Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung: 1570–1740. München 2009, S. 41. Walther: Nachwort. In: Charlatanerie der Buchhandlung, S. 4. [anonym] [Polyempirus]: Charlatanerie der Buchhandlung, welche den Verfall derselben durch Pfuschereyen, Praenumerationes, Auctiones, Nachdrucken, Trödeleyen u.a.m. befördert / von zwey der Handlung Beflissenen unpartheyisch untersuchet. Reprint d. Ausg. Sachsenhausen, Mistkütze, 1732. Mit einem Nachwort von Karl Klaus Walther. München 1987. Ebd. Vorrede, unpag. [A 1b].

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

dem „Druck ohne meinen Willen“75 übergeben wurde, eine verbreitete Argumentation, um etwaige Unannehmlichkeiten zu entschuldigen. Legitimationsstrategien unautorisierter Drucke, die von den Protagonisten im Dialog erläutert werden und auch in weiblichkeitszentrierten Romanen eine Rolle spielen (Kapitel 3.2.2.1), nutzt der pseudonyme Autor bereits im Paratext, um die eigene Publikationspraxis zu rechtfertigen. Vermutlich handelt es sich bei der Charlatanerie um die Satire eines Studenten, der eigene Erfahrungen, im Buchhandel Fuß zu fassen, ironisch fiktionalisiert. Im Gespräch wollen die Buchhandelsgesellen „die Wahrheit [d.h. ihre Erfahrungen als Berufseinsteiger, K.B.] unpartheyisch, iedoch ohne Anzüglichkeiten untersuchen“.76 Der Sprachgebrauch mutet gebildet an. In satirischer Weise wird mit der Form des Dialogs als rhetorisches Mittel des Erkenntnisgewinns (Sokrates) gespielt, es werden Topoi und Methoden der akademischen Ausbildung wie ‚Wahrheitssuche‘ und ‚unparteiische Untersuchung‘ bemüht, was einen akademischen Bildungshintergrund von Verfasser und Protagonisten suggeriert. Die studentischen Protagonisten schildern den Buchhandel als ein Umfeld, das vor allem für Berufseinsteiger mit prekären Arbeitsbedingungen verbunden sei. Trotz universitärer Ausbildung, Berufs- und Lebenserfahrungen im Ausland sei es schwer, eine Anstellung zu finden. Der Protagonist P. fasst seine bisherigen Bemühungen zusammen: „Lust=Reisen in so weit entfernte Länder an[zu]stellen, scheinet für einen, der zumal das Geld nicht wegzuwerffen hat, eine schlechte Klugheit“.77 Stattdessen habe er sich zu Arbeitszwecken in der Welt umgesehen: „Der Endzweck meiner Reisen war, eine Station zu suchen, dabey in der Buchhandlung mich ie mehr und mehr perfectioniren, und zugleich einen ehrlichen Unterhalt haben könne.“78 Allein einen Patron zu finden, den die mitgebrachten Qualifikationen überzeugen, sei schwierig – dies musste studentische Berufseinsteiger umso härter treffen, stehen doch Altersstruktur, Bildungshintergrund und Habitus durch die vorange­gangene Ausbildung in starkem Kontrast zu nicht akademischen Bewerbern. Der junge Protagonist P. erklärt: Es gibt freylich Patronen, welche ihre Diener gedrechselt oder gemahlt wissen wollen, dem einen ist man zu jung, dem andern zu alt, dem dritten zu klug, dem vierten zu dumm, dem fünfften führt man sich zu schlecht in Kleidung auf, dem sechsten macht man zu grossen Staat; und wer kan alle Fehler erzehlen, die an den Condition suchenden Dienern ausgesetzet werden […].79

Vor diesem Hintergrund erschwerter Existenzsicherung ist der Weg zu unlauteren Machenschaften nicht weit. P. verrät, dass Auszubildende und Gesellen häufig schlecht bezahlt würden und daher auch ohne Kenntnis des Patrons Manuskripte

75 Ebd. 76

Ebd., Vorrede, unpag. [A 2a], Hervorh. K.B. Ebd., S. 1. 78 Ebd., S. 1f. 79 Ebd., S. 3f. 77

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

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entgegen nähmen, um sie auf Kosten des Arbeitsgebers heimlich zu drucken und einen versteckten Handel zu betreiben. Der junge Buchhandelsgeselle betrachtetet den Nachdruck ‚kleiner Schriften‘ und den Aufbau eines ‚illegalen‘ Buchhandels als legitimes Mittel, um das spärliche Gehalt aufzubessern: Es giebt dergleichen [Leute], die anitzo grosse Patronen sind, welche zu ihrer Zeit ein X für ein V zu mahlen gewust. […] Wenn sie z[um] E[xempel] auf des Patrons, dem sie serviren, seine Kosten solche Bücher, wobey was zu profitiren, für sich in Verlag genommen, und sonst andre Intruigen meisterlich zu spielen gewust. Vielleicht giebt der Patron selbsten zu solchem ungerechten Verfahren Anlaß, wenn er […] dem Diener kein hinlängliches Salarium ausmachet. Der Bauren Sprichwort: Wem die Kuh gehört, der greiff sie bey dem Schwantze! ist daher nicht unvernünfftig, und wenn ein Diener nicht behörig salariret wird, muß er hernach solche Mittel ergreiffen, wodurch er sich prospiciret [für sich sorgt, Vorsichtsmaßnahmen ergreift, K.B.].80

Ähnlich sagt laut Gerichtsakte vom 25. Januar 1698 der Leipziger Buchdrucker­ geselle Johann Christian Zahn aus, dass er mit „dem Hausiren von Dissertationen und derartigen Dingen sein Brod erwerbe“,81 die er von einem Studenten aus Halle an der Saale zugeschanzt bekomme. Seine damalige Patronin hätte derartige Geschäfte im Übrigen genauso betrieben,82 weswegen er sich schadlos fühle. Der Hinweis auf die Geschäftspraktiken der Patronin zeigt, dass der Kolportage- und Hausierverkehr mit „kleinen Schriften“ kein Phänomen ist, das nur zwischen jüngeren Akteuren des Gewerbes verläuft, sondern vor den Türen etablierter Kleinverleger, Buchhändler und Druckerverleger nicht Halt macht. Nicht nur Personen in prekären Lagen, sondern auch erfolgreiche Verleger pflegen Kontakte zu Hausierern, „Pastillen- und Scarteckenträgern“,83 die nicht selten die aktuellsten oder mit Zensurverboten belegten Schriften direkt unter der Druckerpresse hervor im Land verteilen. Der Leipziger Verleger Johann Friedrich Groschuff, dessen Verlagsbuchhandlung sich um 1700 neben den ‚großen Namen‘ Gleditsch, Weidmann, Fritsch und Lanckisch zu einer der mittelgroßen Firmen Leipzigs und einem verlagsstarken Unternehmen Deutschlands entwickelt,84 pflegt nachweislich Kontakte zu Hausierern in Halle an der Saale. Ihre Waren vermittelt er an Kollegen und Geschäftsfreunde weiter, wie ein Brief an den Dresdner Verleger Johann Christoph Mieth vom August 1697 zeigt:

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Ebd., S. 8f. Kirchhoff: Lesefrüchte. In: AGB 8 (1883), S. 100. 82 Ebd. Vor allem für Buchbinder sei der Handel mit Kolportage- und Hausierschriften aufgrund der zunehmenden Konkurrenz ökonomisch notwendiger geworden, Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 105. 83 Ebd., S. 134. 84 Johann Friedrich Groschuff war zwischen 1690 und 1717 als Verleger und Drucker in Leipzig tätig. Zu Groschuffs Messangebot und Stellung im Buchhandel vgl. Codex Nundinarius, S.  168‒198; David L. Paisey: Deutsche Buchdrucker, Buchhändler und Verleger 1701–1750. Wiesbaden 1988, S. 85 (im Folgenden zit. als Buchdrucker, Buchhändler). 81

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte Hochgeehrter Herr Mieth, Das päckl. von Hamburg, worinnen die Durchl. Welt85 seyn soll, ist noch nicht eingelauffen, bin es aber diese woche gewiß vermuthend. Hierbey pro novitate: 12 Mayers Thränen86 à 6 ₰ [Pfennig]. Diese werden von einem Hällischen Hausirer auf allen gassen herumb getrödelt, imfall derer mehrer beliebig, wolle d. Hr. bald melden. Indeßen empfehle demselben Gottl. Protection, und verbleibe nebst frdl. begrüßung […], Groschuff [Hervorh. K.B.].87

In Groschuffs Verlagsprogramm finden sich auch Schriften des galanten Roman­ autors August Bohse, z.B. Die unglückselige Printzessin Arsinoë (1700), das Neu=eröffnetes Liebes= Cabinet des galanten Frauenzimmers (1692) oder die Curieuse und deutliche Vorstellung unterschiedlicher Politic und Affecten / deren sich alles galante Frauen=Zimmer im Lieben bedienet (1708).88 Den letzten Roman, dessen Erstausgabe ursprünglich bei einem anderen Verleger erschienen war (Dresden: Christian Weidmann, 1685), gibt Groschuff unter dem fingierten Verlag „Hermann von der Linden“ heraus,89 was zeigt, dass er mit Nachdrucken und der Praxis fingierter Verlagsimpressen gut vertraut ist. Kolportage- und offizieller Verlagsbuchhandel gehen hier eine Liaison ein, die deutlich macht, wie eng verzahnt beide Bereiche oftmals waren. Es zeigt sich aber auch das starke Interesse von Verlegern an aktuellen Schriften, unabhängig von ihrer Legitimation durch Zensur und offizielle Kontrollbehörden. Und auch die Konkurrenzsituation im Buchhandel wird erneut deutlich: Um die eigene Stellung auf dem Markt zu stabilisieren und auszubauen, ist es für die beteiligten Akteure wichtig, Netzwerke – von Hamburg über Leipzig nach Dresden – zu anderen Druckern und Händlern zu pflegen, gefragte Schriften auszutauschen und neue Geschäftsfelder zu erschließen. Die folgenden Ausführungen fragen daher genauer nach ökonomischen Aspekten des Romanshandels: Was kostet die Herstellung von Romanen, wieviel ließ sich mit einer Auflage verdienen und wie lässt sich das Verhältnis von Verlegern und Autoren beschreiben?

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[anonym] [Samuel Heinrich Schmidt]: Die Durchläuchtigste Welt / Oder Kurtzgefaßte Genealogische / Historische und Politische Beschreibung / meist aller jetztlebenden Durchläuchtigsten Hohen Personen / sonderlich in Europa […]. Hamburg bey Benjamin Schiller, 1697. Eine als Libell behandelte, politisch provokante Flugschrift: [anonym] [Johann Friedrich Mayer]: Mayers gesamlete Thränen von einer herzlich betrübten Mutter wegen des erbärmlichen Abfalls ihres Evangelischen Sohns zum Papstthum. Hamburg [s.n.] 1697. Zit. nach Kirchhoff: Lesefrüchte. In: AGB 8 (1883), S. 80. Demnach wurde die politisch provokante Flugschrift bei Henkel in Halle gedruckt und von dort über den Leipziger Buchdrucker Johann Christoph Brandenburger und dem kriegsversehrten Hausierer Johann Janson in Leipzig vertrödelt (ebd). Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 715‒717; weiterführend Kap. 3.3.2.2 Liebe und Laster als Materien der Lektüre von Frauen. Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 715f. „Linden“ steht hier explizit für Leipzig, das auch als Lindenfels, Lindenstadt oder Lindopolis bekannt ist, Simons: Marteaus Europa, S. 295, 306f., 325; ferner Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 260, Anm. 214.

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3.1.3 Lukratives Nebengeschäft: Privilegienmissbrauch, Nach- und Raubdrucke Wer um 1700 ein seriöses Geschäft mit Büchern betreiben will, handelt mit gelehrten, informativen oder erbaulichen Schriften, aber keinesfalls mit Romanen. Zunächst scheinen Romane weder ein einträgliches Wirtschaftsgut noch eine erfolgsversprechende Investition zu sein – Markt und Käuferkreis sind begrenzt, im großen Maßstab ist das Interesse an der Gattung keineswegs genau zu bestimmen. Wer allerdings das Risiko nicht scheut und gewagte Investitionen eingeht, kann mit der neuen Unterhaltungsliteratur durchaus lukrative Gewinne erwirtschaften. 3.1.3.1 Handelspreise von Romanen und Kleinunternehmertum Für Hersteller und Verleger werden Romane nicht aufgrund ihres Verkaufs- und Handelspreises attraktiv, sondern aufgrund der geringen Herstellungskosten. Romane werden relativ preiswert angeboten, was junge Leser mit geringen Buget (Studenten)90 oder jene, für die ein paar Groschen nicht ins Gewicht fallen, zum Kauf bewegen kann. Abgesehen von wenigen dickleibigen, mehrbändigen Werken wie Lohensteins Arminius oder Anton Ulrichs Octavia, die so teuer waren wie ein umfängliches Lexikon und mit acht Talern etwa dem Monatsgehalt eines mittleren städtischen Beamten entsprachen, liegt der Durchschnittspreis für Duodez-Romane, so Wittmann, bei vier bis fünf guten Groschen sächsisch-meißnischer Währung.91 Da in den deutschen Territorialstaaten unterschiedliche Zahlungsmittel gelten, hätte man in Frankfurt für einen Roman um die 15 bis 18 Kreutzer bezahlt.92 Wenn der Leipziger Verleger Johann Ludwig Gleditsch 1715 für Bohses 650-seitigen Roman Bellamira 20 Groschen verlangt (oder 75 Kreutzer),93 so zeigt dies die hohe Popularität, die der Autor mittlerweile errungen hat und für dessen Schriften (zudem in der vierten Auflage) besonders hohe Preise verlangt werden konnten. Genauere Angaben zu Romanen sind kaum vorhanden, doch liegen laut Preislisten Drucke kleinerer poetischer Schriften im Bereich, den Wittman angibt.94 Poetische Schriften scheinen

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Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 117. Ebd., S. 116; zu Einkommensverhältnissen Julius Theodor Pinther: Chronik der Stadt Chemnitz und Umgebung oder Chemnitz wie es war und wie es ist [1855]. Reprint. Hg. v. Verlag für Sächs. Regionalgeschichte, Burgstädt 1997, S. 101. 92 Umrechnung von Groschen in Kreutzer: „Die Groschen mit 15 multipliciren [und] mit 4 dividieren“; Georg Heinrich Paritius: Cambio Mercatorio, Oder Neu erfundene Reductiones Derer vornehmsten Europaeischen Müntzen […]. Regensburg 1709, S. 310. 93 Wilhelm Heinsius: Allgemeines Bücher=Lexikon oder vollständiges Alphabethisches Verzeichniß der von 1700 bis zu Ende 1815 erschienenen Bücher welche in Deutschland […] gedruckt worden sind. Nebst Angabe der Drucker, der Verleger und der Preise. Bd. 5 […] Leipzig bey Johann Friedrich Gleditsch, 1817, S. 8; Talander [August Bohse]: Der getreuen Bellamira wohlbelohnte Liebes=Probe […]. Erstausgabe Leipzig: Gleditsch & Weidmann 1692. 94 So werden Christian Franz Paulinis Poetische Erstlinge (1703) bei Gleditsch in Leipzig für 4 Groschen angeboten, Heinsius: Allgemeines Bücher=Lexikon, Bd. 3 (1812), S. 142; der Preis 91

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

bei einem durchschnittlichen Verkaufspreis von vier bis acht Groschen, trotz teils hohen Seitenumfangs, relativ preiswert gewesen zu sein. Im Vergleich dazu werden religiöse und gelehrte Schriften teurer gehandelt, obwohl auch hier der Preis zwischen einem Taler und wenigen Groschen schwanken kann.95 Der Verkaufspreis ist, neben der Nachfrage, abhängig von Umfang, Format, Papier- und Druckqualität. Kommen Kupferstiche und Frontispize hinzu, erhöhen sich die Kosten und schlagen sich im Verkaufspreis nieder. Bei aller Vorsicht, mit der Kaufpreisvergleiche zu ziehen sind, entspricht eine Summe von fünf Groschen um 1720 etwa zehn Kannen Bier96 oder auch drei Broten, vier Tauben oder zwei Fuhren Sand.97 Allein für einen Knabenhut (10½ Groschen) oder ein Paar Socken (12 Groschen) hätte diese Summe nicht gereicht, geschweige denn für einen Eimer Wein (32 Groschen), 100 Federkiele zum Schreiben (40 Groschen) oder einen Zentner gedörrte Pflaumen (53 Groschen).98 Besonders in protestantischen Städten, allen voran die sächsische Buchmetropole Leipzig, finden sich Drucker, Buchhändler und Verleger, die auch Romane in ihre Verlags­programme aufzunehmen gewillt sind. Schätzungsweise 37 % aller galanten Romane erscheinen zwischen 1710 und 1720 in Leipzig, wodurch die Stadt die höchste Produktionsdichte im deutschen Raum aufweist.99 Autoren wie Talander, d.i. August Bohse (1661–1740), Menantes, d.i. Christian Friedrich Hunold (1680‒1721),100 Me-

entspricht 15 Kreutzer, das Werk umfasst 248 Seiten. Christian Heinrich Postels Poetische Nebenwerke (1707) kosten beim Hamburger Verleger Spieringk 6 Groschen (ebd., S. 233; entspricht 22½ Kreutzer; 355 Seiten). Und das Versepos Die listige Juno (1700) desselben Autors ist für 10 Groschen erhältlich (ebd., entspricht 37½ Kreutzer; 530 Seiten). 95 Während Gleditsch und Weidmann für die Evangelischen Mittagsstunden (1705) von Tielmann Andreas Rivinus 1 Taler und 12 Groschen verlangen (ebd., S. 400; das Werk umfasst 702 Seiten), bietet Johann Heinrich Richter in Leipzig Stockmanns Biblische Real=Concordanz (1705) für 6 Groschen an (ebd., S. 841; 226 Seiten). Beim Hamburger Verleger Johann Gottfried Liebezeit kostet die ökonomisch-juristische Abhandlung Schlüters Tractat von unbeweglichen Gütern (1709) 1 Taler und 12 Groschen (ebd., S. 579; 1072 Seiten). 96 Hans-Jürgen Gerhard u. Karl Heinrich Kaufhold (Hg.): Preise im vor- und frühindustriellen Deutschland. Göttingen 1990, S. 218: Demnach wurde 1723 die Kanne Bier in Duderstadt für 6 Pfennige verkauft. 97 Walter Krieg: Materialien zu einer Entwicklungsgeschichte der Bücher-Preise und des AutorenHonorars vom 15. bis zum 20. Jahrhundert […]. Wien u.a. 1953, S. 28: Laib Brot für 6 Kreutzer (ca. 1½ Groschen), Fuhre Sand für 12 Kreutzer (ca. 3 Groschen), 1 Paar Tauben für 7 Kreutzer (weniger als 2 Groschen); Umrechnung nach Paritius: Cambio Mercatorio, S. 29. 98 Krieg: Bücher-Preise und Autoren-Honorare, S. 28. 99 Simons: Marteaus Europa, S. 33: Von 200 Romanen, die zwischen 1710 und 1720 erscheinen, kommt der Großteil in Leipzig heraus (37%), gefolgt von Nürnberg (14%), Köln (13%), Frankfurt (10%) und Hamburg (9%). 100 Hunold steht über seinen Freund und zweiten Verleger Benjamin Wedel mit Gleditsch & Weidmann in Kontakt, vgl. Anm. 149 in Kap. 3.1.3.3 Nebenartikel Roman ‒ Vergütung der Autoren?

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letaon, d.i. Johann Leonhard Rost (1688‒1727),101 Celander,102 Melisso, Palmedes u.a. finden ‒ soweit Orts- und Verlagshinweise auf den Titelblättern erscheinen ‒ in der sächsischen Messe­stadt willige Verleger. Zum Teil handelt es sich um aufstrebende Leipziger Unternehmer wie Johann Ludwig Gleditsch (1663–1741), Moritz Georg Weidmann d. Jüngere (1686–1743), Johann Friedrich Gleditsch (1653–1716), Thomas Fritsch (1666–1724), Johann Friedrich Groschuff oder Christian Kircheisen, seit Ende des 17. Jahrhunderts Geschäftsführer der alteingesessenen Firma Friedrich Lanckischs Erben.103 Es sind dies Buchführer und Verleger, deren Buchhandlungen sich um 1700 mit einiger Rasanz entwickeln und in den folgenden Jahrzehnten zu deutschlandweit führenden Unternehmen aufsteigen. Die Verlage kooperieren untereinander und geben kolaborativ, neben einer Vielzahl gelehrter und religiöser Schriften, auch galante Publikationen heraus, so dass eine Zuordnung zum Ursprungsverlag mitunter schwer fällt.104 Daneben treten kleinere, heute unbekannte Buchhändler und Verleger (Johann Theodor Boetius, Johann Caspar Meyer, Johann Christian Martini), von denen nur noch Titelblätter von Romanen sowie Streitfälle in den Akten der Leipziger Bücherkommission oder des Dresdner Ober-Konsistoriums bezeugen, dass sie um 1700 in Leipzig aktiv waren. Ambitionierte klein- und mittelständische Unternehmer wie diese, sie mögen sich langfristig auf dem Markt behauptet haben oder nicht, müssen zu ortsansässigen Druckern enge, wohl auch familiäre Beziehungen unterhalten haben, denn sie lassen in Leipzig und Umgebung galante Romane in Druck und Nachdruck geben. Dem lokalen Kundenstamm bieten sie galante Schriften an und verbreiten sie über die Leipziger Messe weiter in ganz Deutschland.

101 Rosts

Romane erscheinen überwiegend in Nürnberg (bei Johann Albrecht), doch Johann Ludwig Gleditsch gibt von ihm Die Liebenswürdige und Galante Noris (1711) heraus, Meletaon [Johann Leonhard Rost]: Die Liebenswürdige und Galante Noris / In einem Helden=Gedichte der curieusen Welt / zur Lust und Ergötzung / auffgeführet von / Meletaon. Leipzig / In Verlag Johann Ludwig Gleditsch und M.G. Weidmanns, 1711. 102 Johann Friedrich Gleditsch führt 1713 eine Nachdruckauflage von Celanders Verliebten Studente in seinen Bestandslisten, Catalogus Librorum Jo. Friderici Gleditsch & Filii, Bibliopolarum Lipsiensium. In: Die Europäische Fama / Welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket. Der 143. Theil. [s.l.] 1713, unpag. [S. 943]. 103 Von Florentine Lanckisch, der Witwe und ersten Geschäfts­führerin des Verlags (die nach dem Tod des Firmengründers Friedrich Lanckisch die Firma übernimmt) heißt es, sie habe „alle Zeitungen und Avisen, ärgerliche Historien und schandbare Lieder“ in den Druck genommen und ihre Verbreitung befördert, zit. nach Rudolf Schmidt: Deutsche Buchhändler, deutsche Buchdrucker. Beiträge zu einer Firmengeschichte des deutschen Buchgewerbes. Hildesheim 1979, S. 589. Im Verlag Fr. Lankischs Erben auch Talander [August Bohse]: Die Eifersucht der Verliebten / nach ihren Fehlern und Vortheilen / In einer anmuthigen Liebes=Geschichte der curieusen Welt zu sonderbarer Gemüths=Ergötzung vorgestellet Von Talandern. Leipzig: Friedrich Lankischs Erben 1689. 104 Zu Kooperationen zwischen J. Ludwig Gleditsch und Thomas Fritsch bzw. zwischen J. Friedrich Gleditsch und Moritz Georg Weidmann vgl. Codex Nundinarius, S. 155, 159, 161, 163, 183.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Um 1700 gilt der nord- und mitteldeutsche Buchhandel als entwicklungsfähige Branche, besonders nachdem die Leipziger Messe seit den 1680er Jahren die Bedeutung Frankfurts zurückdrängt.105 Leipzig ist nun im gesamtdeutschen Raum das maßgebliche Buchhandelszentrum, das auch zum wichtigen Multiplikator gen Osten wird. Die Buchhandels­ströme verlaufen europaweit, ohne in der Hand einzelner Monopolisten zu liegen, d.h. von wenigen Firmen beherrscht zu werden. Obwohl innerhalb der regionalen Handelsräume einzelne Unternehmen markant in Erscheinung treten – in Leipzig etwa Lanckischs Erben, die Familien Fritsch, Gleditsch und Weidmann, deren Nachfahren ab den 1720/30er Jahren als frühe „Großunternehmer“ enormen Einfluss im Buchhandel ausüben,106 in Frankfurt die Familien Merian und Zunner ‒,107 bietet der Markt um 1700 genügend Freiraum für kleinere Unternehmer, wie die Messkataloge zeigen.108 Verleger mit einem breiten Angebot unterschiedlicher Titelauflagen treten auf der Frankfurter und Leipziger Messe nur vereinzelt auf und werden nicht notwendig zu kontinuierlichen Marktführern. Mit 48 Titeln bieten Friedrich Lanckischs Erben im Jahr 1700 das breiteste Sortiment im deutschen Raum an.109 Die späteren ‚Leipziger Großen‘ des frühen 18. Jahrhunderts, Thomas Fritsch, Johann Friedrich Gleditsch und Johann Ludwig Gleditsch & Weidmann, erscheinen zu diesem Zeitpunkt mit 38‒40 Titel noch an zweiter Stelle des Messbetriebes.110

105 Seit

den 1680er Jahren beginnt der Aufstieg der Leipziger Messe, maßgeblich beflügelt durch die Nachfrage nach deutschsprachigen Schriften, Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S.  201. Bereits um 1620 werden 16% der deutschsprachigen Schriften ausschließlich nach Leipzig, nicht aber auch nach Frankfurt geliefert, wo sie im stärker lateinisch und international geprägten Angebot schlechteren Absatz finden (ebd., S. 154f.). In dem Maße, wie das deutschsprachige Angebot die lateinischen Schriften im gesamtdeutschen Raum zurückdrängt, nimmt die Bedeutung Leipzigs zu. Die Buchproduktion Leipziger Verleger übersteigt 1700‒1710 mit 3.286 Auflagen die der Frankfurter Verleger um das vierfache; in Frankfurt wurden im selben Zeitraum nur noch 800 Auflagen gedruckt (ebd., S. 202). Zudem verursacht der Beginn der Frankfurter Messe Komplikationen: Seit 1711 öffnet die Frankfurter Messe drei Wochen später als üblich, um den Händlern die Unannehmlichkeiten des jährlichen Main-Hochwassers zu ersparen. Die Messe wurde auf den ersten Sonntag nach Ostern verschoben, doch rückt dadurch der Beginn der Leipziger Messe näher heran. Den Händlern blieben gerade zwei Wochen, um mit all ihren Waren von Hessen nach Sachsen aufzubrechen, weswegen sich viele nicht mehr in der Lage sahen, beide Messen zu besuchen. Mit Leipzig entschieden sie sich für den wichtigeren Umschlagplatz deutschsprachiger Schriften (ebd., S. 221‒225). 106 Ebd., S. 203f. 107 Estermann: Memoria und Diskurs, S. 48. 108 Codex Nundinarius, S. 168‒198. 109 Ebd., S. 178. Angezeigt wird, wie viele unterschiedliche Titel ein Verleger auf den Messen anbietet, ohne dass die Auflagenhöhe erfasst wird. Wenn alle Exemplare getauscht bzw. ‚verstochen‘ sind, ist das unmittelbare Geschäft für den Verleger beendet. Er kann mit dem Kunden dann Verträge für spätere Nachdruck­auflagen aushandeln. 110 Thomas Fritsch lässt 1700 laut Codex Nundinarius 40 Titel registrieren, Johann Friedrich Gleditsch 39 Titel und Johann Ludwig Gleditsch & Weidmann 38 Titel (ebd.). Außerhalb Leipzigs werden ähnlich breit gefächerte Sortimente nur von Johann N. Andreä aus Hernborn/Hessen

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

77

Frankfurter Verleger liegen im Vergleich zu den sächsischen Lieferanten sogar nur bei der Hälfte (15‒17 Titel).111 Der Großteil deutscher Buchhändler erscheint indes lediglich mit ein bis drei, maximal fünf Titeln jährlich auf beiden deutschen Messen. 80 Prozent der deutschen Verlage sind Mittel- und Kleinunternehmen, deren Sortiment äußerst begrenzt ist.112 Kleinere Verleger wie Grahl oder Martini werden in den Messkatalogen überhaupt nicht gelistet, denn sie handeln nur im lokalen Bereich oder über Kommissionäre. Die hohe Anzahl mittelständischer und Kleinunternehmen weist darauf hin, dass der Handel mit wenigen Titeln konkurrenzfähig gewesen sein muss. Es ist davon auszugehen, dass das ‚Haupt­geschäft‘ jener Händler mit anderen Materien ergänzt wird, die in den Messkatalogen nicht erscheinen, unter anderem auch galante Romane. Neben den Messen blüht ein ganzjähriger, regionaler und lokaler Markt, auf dem die sogenannten „kleinen Schriften“ ihren Absatz finden.113 Laut Goldfriedrich stellt dieses über die Messkataloge kaum zu erfassende Segment die „kurrentesten Materien“ und eine „wesentliche Einnahmequelle“ des Buchhandels dar.114 Für einen Kleinunternehmer ist es in diesem Sinne weniger entscheidend, ein breit gefächertes Sortiment in hoher Auflagenhöhe zu verlegen, als vielmehr die Produkte anzubieten, nach denen beim jeweiligen regionalen Kundenstamm eine Nachfrage besteht. Auch mit wenigen Titeln, ergänzt durch Tauschexemplare anderer Verleger, die man als Zwischenhändler weiterträgt, lässt sich bereits ein solider Handel beginnen. Dies treibt den Unternehmergeist an und lässt auch Neueinsteiger kühne Hoffnungen tragen. Die Dissertation von Paul Pater De Germaniae Miraculo optimo, Artis Typographicae [Vom größten Wunder Deutschlands, der Druckkunst] (1710) beschreibt die Situation folgendermaßen: Es ist unter den mancherley Wegen, reich zu werden, die Drucker-Kunst und der Bücher-Handel einer von den besten; wiewol wegen des schelmischen Zuschusses und räuberischen Nachdrucks nicht allezeit der redlichste. [...] Man hat Exempel, daß Buchhändler, die Anfangs nicht einen Ballen Papier baar zu zahlen vermögend gewesen, in kurtzer Zeit mehr denn eine Tonne Geldes erworben, und jetzo grosse Dinge thun und die capitalsten Bücher auf eigene Kosten zum Vorschein bringen. [...] Zwar gehet es im Anfang etwas schwer her; allein wenn man sich einmal in gute Renommée gesetzt, kan es an schleunigem Abgang, sonderlich bey guten Zeiten, nicht fehlen. Dahero einer aus ihnen gesaget, er sey mit grosser Mühe und Arbeit dazu kommen, daß er kleine und geringe Bücher selbst kunte verlegen und drucken lassen [...].115

angeboten (31 Titel). Trotz Schwankungen steigt das Produktionsvolumen in der Folgezeit an. Der Katalog listet in besonders auflagenstarken Jahren wie 1711 von Johann Friedrich Gleditsch & Sohn 71 Titel; 1713 von Johann Ludwig Gleditsch & Weidmann 55 Titel (ebd., S. 189, 191). 111 Im Jahr 1700 liefert Johann David Zunner 25 Titel, Friedrich Knoch (17 Titel), Johann M. von Sand (15 Titel). Weitere Buchhandelszentren wie Nürnberg sind mit 7‒12 Titeln im mittleren Bereich vertreten (ebd., S. 178). 112 Für den Zeitraum 1690‒1720 (ebd., S. 168‒198). 113 Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 28f. 114 Ebd., S. 28, 30. 115 Paul Pater: De Germaniae Miraculo optimo, maximo, Typis Literarum, earumque differentiis, Dissertatio, qua fimet Artis Typographicae universam […] Lipsiae / Jo[hann]. Frider. Gleditsch

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Der Handel mit „kleinen Schriften“, mithin Romanen, muss vor dem Hintergrund einer lokal und überregional vielgliedrigen Verlags- und Drucklandschaft als attraktive Nische erschienen sein. 3.1.3.2 Herstellungs- und Druckkostenkalkulation Um darzustellen, wie lukrativ der Buchhandel selbst für Neueinsteiger sein kann, erläutert Paul Pater in seiner Dissertation De Germaniae Miraculo optimo, Artis Typographicae [Vom größten Wunder Deutschlands, der Druckkunst] (1710) an einem Rechenexempel, mit welchen Produktionskosten ein Sortiment- oder Druckerverleger bei der Herstellung einer Auflage zu rechnen habe. Auch wenn er dazu ein ausgesprochen erfolgreiches Werk wählt – Johann Hübners Kurtze Fragen aus der neuen und alten Geographie,116 das allein zwischen 1693 und 1710 schon zwanzig Neuauflagen erfuhr –, ist das Beispiel aufschlussreich, um Details zur Kostenkalkulation zu erfahren und sie auf eine Romanauflage zu übertragen. Da dies, soweit ich sehe, ein Desiderat zu sein scheint, sei die Kalkulation kurz genannt. Zur Frage „Wie hoch sich wol der Gewinn von dergleichen Buch belauffe, wenn die Auflage jedesmal 5000. Stück oder Exemplaria gewesen?“117 erklärt der Verfasser: Erstlich ist nöthig zu wissen, was das Papier zu jeder Auflage koste. Es hält ein Ballen Papier, das ist 10 Rieß, 5000 Bogen. Weil nun gedachtes Buch [Hübners Fragen der Geographie mit einem Umfang von 1030 Seiten, K.B.] aus 54. Bogen bestehet, so werden auch so viel Ballen zu jeder Auflage erfodert.118

Je nach Format, Qualität und Seitenumfang variieren Papier- und Materialkosten. Im kleinsten Duodez-Format, das für Romane häufig in Anschlag kam, um Papier zu sparen, können auf einem Druckbogen 12 Seiten platziert werden; auf Vorder- und Rückseite bedruckt 24 Einzelseiten. Für einen 500-seitigen Roman benötigt man folglich ca. 20 Bogen pro Exemplar; bei 1.000 Exemplaren 4 Ballen.119 Romane werden in der Regel aus minderwertigem und damit preiswertem Papier hergestellt. Am kostengünstigsten ist aufbereitetes Altpapier, die sogenannte Makulatur, die – wie die Papierqualität der Originale zeigt – für viele Romane benutzt wurde. Preislisten liegen für 1700 nicht vor, doch laut der Papiermacher-Taxa früherer Jahr& filium, Anno MDCCX [1710]. In: Johann Christian Wolf: Monumenta typographica [...]. Pars Secunda [Theil 2]. Hamburg: Christian Herold, Anno MDCCXL [1740], S. 705‒866, hier S. 835f. (Wolf fügt in seine Schrift die Dissertation von Pater ungekürzt ein; im Folgenden zit. als Pater: Germaniae Miraculo). 116 Johann Hübner: Kurtze Fragen Aus der Neuen und alten Geographie […]. Leipzig / Verlegts Johann Friedrich Gleditsch / druckts Christoph Fleischer, 1693. 117 Pater: Germaniae Miraculo, S. 836f. 118 Ebd., S. 837. 119 Wie Pater erläutert: 1 Ballen = 5000 Bogen, 500 Bogen = 1 Ries (auch heute wird dieses Papiermaß noch verwendet); d.h.: 1 Expl. = 20 Bogen, 1000 Expl. = 20.000 Bogen = 4 Ballen (à 5.000 Bogen der Ballen). Je nach Format variiert natürlich der zu bedruckende Seitenumfang; im Oktavformat fasst ein Bogen nur acht doppelt bedruckte Seiten (16 Einzelseiten).

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

79

zehnte verlangten die Papiermacher im „Leipziger Kreis“ für einen Ballen Makulatur weniger als 1½ Taler.120 Im Vergleich zu hochwertigen Papieren121 ist ein Ballen Makulatur à 1½ Taler das preiswerteste Material, das die Druckkosten enorm senkt. Zu den Materialkosten treten die Gebühren für den eigentlichen Druck, der „Drucker-Lohn“.122 Zur Höhe der „Buchdrucker-Tax“ gibt Pater zwei Preismodelle an: Bei Aufträgen, die 1.000 Exemplare übersteigen, wird nach Ballen abgerechnet; bei geringeren Auflagen (Gelegenheitsschriften, Leichenpredigten usw.) gibt es eine Pauschale pro Bogen.123 Da die Gebühr pro Bogen zunächst höher ist, ist es für die Drucker sogar einträglicher, kleine Schriften und geringe Auflagenhöhen in Auftrag zu nehmen: Wenn Disputationes, Theses, Programmata, Streit-Schrifften, Carmina und dergleichen Sachen Bogenweiss gedruckt werden, ist zehnmahl mehr, als an gantzen Operibus und Tractaten, da man per Ballen accordiret [frz. bewilligt, abgleicht], zu gewinnen [Hervorh. K.B.].124

Bei hohen Auflagen beläuft sich der Druckerlohn auf 4‒5 Taler pro Ballen.125 Da Romane jedoch häufig in kleineren Auflagen unter oder bis zu 1.000 Exemplaren erschienen, kommt vermutlich das zweite Preismodell in Frage. Dieses Abrechnungsmodell nach Bogen ist für den Auftraggeber zwar kostspieliger, beinhaltete aber einen Preisrabatt nach den ersten 100 Exemplaren.126 Diese verursachen die höchsten Kosten, während für alle weiteren Hunderter-Exemplare (der sogenannte „Nachschuss“ oder Überdruck) der Preis deutlich sinkt. Laut Pater beträgt 1710 die „Buchdrucker-Taxa in dem Chur-Sächsischen, Leipziger und Ertzgebürgischen Kreysse“ für die ersten hundert Exemplare 18 Groschen pro Bogen und für den Überdruck nur noch 21 Pfennige:

120 „Taxa

Vor die Papiermacher und Händler im Meißnischen Cräyß“, Ahasverus Fritsch: Tractatus de Typographis, Bibliopolis, Chartariis et Bibliopegis […]. […] Jenae, Sumtibus Zachariae Herteli, Bibliopol. Hamburg. Litoris Samuelis Adolphi Mülleri. Anno M DC LXXV [1675], unpag., Teil III, § V (im Folgenden zit. als Fritsch: Tractatus de Typographis): „Ein Ballen Maculatur / 2 Güld., 12 gr. auch 2 Gülden.“ Mit Gulden wurde auch in Sachsen z.T. gezahlt. Der Wechselkurs von Talern und Gulden wird mit 2:3 angegeben: 1 Taler entspricht 1½ Gulden. „Die Gulden werden mit 2 mulipliciret und mit 3 dividiret“ (Paritius: Cambio Mercatorio, S. 28f.). 121 Für einen Ballen braunes Druck-Papier zahlt man um die 2½ Taler, für weißes Druckpapier fast 3½ Taler und für das exklusive „schön Herren=Papier“ pro Rieß ganze 3 Taler, Fritsch: Tractatus de Typographis, unpag., Teil III, § V.; Umrechnung nach Paritius: Cambio Mercatorio, S. 29, 310. 122 Pater: Germaniae Miraculo, S. 837. 123 Ebd., S. 837, 854; ferner Fritsch: Tractatus de Typographis, unpag., Teil I, Cap. VII, § II. 124 Pater: Germaniae Miraculo, S. 835. 125 „Belangende den Buchdrucker-Lohn, so zahlet man nach der publicirten Buchdrucker-Tax […] von jedem Ballen eines Tractats, davon mehr denn eintausend gedruckt werden, insgemein 4. biß 5. Rthlr“ (ebd., S. 837). Auch Fritsch gibt 5 Gulden (etwas mehr als 4 Taler) pro Ballen an, Fritsch: Tractatus de Typographis, unpag., Teil I, Cap. VII, § II. 126 Pater: Germaniae Miraculo, S. 837, 854.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte Von einem Bogen, auf beyden Seiten gedruckt mit Mittel oder Cicero-Schrifft, darzu der Drucker das Papier giebet, zahlen 100. Exemplaria 18 gute Groschen. […] Vom Nachschuss oder Ueberdruck für jedes Hundert vor Papier und Drucker-Lohn 21 Pfennig.127

Für einen 500-seitigen Duodez-Roman in einer Auflage von 1.000 Exemplaren ergeben sich somit je nach Kalkulationsmodell Gesamtherstellungskosten von 26‒30 Taler (Abrechnung nach Ballen) bzw. 38 Taler (Abrechnung nach Bogen), inklusive Papier-, Materialkosten und Druckerlohn.128 Obwohl die Kosten im zweiten Modell zugunsten des Druckers höher ausfallen, bleiben sie insgesamt auf einem sehr niedrigen Preisniveau (Tabelle 1). Modell 1: Abrechnung nach Ballen

Modell 2: Abrechnung nach Bogen (Preissenkung nach 100 Expl.)

Papier

(4 Ballen à 1½ Taler) = 6 Taler

(4 Ballen à 1½ Taler) = 6 Taler

Drucker-Lohn

(4 Ballen à 4‒5 Taler pro Ballen) = 16–20 Taler

Erste hundert Expl. (20 Bg. à 18 Groschen)= 15 Taler (bzw. 360 Groschen)

Titelblatt, Titelkupfer

4 Taler

4 Taler

Herstellungskosten gesamt

26‒30 Taler

38 Taler

Überdruck 100 Expl (20 Bg. à 21 Pfennig)  420 Pfennige bzw. 35 Groschen pro 100 Expl.  9-facher Überdruck, für 900 Expl. (420 Pfennige x 9) = 13 Taler (bzw. 3780 Pfennigen oder 315 Groschen)

Tabelle 1: Druckkostenkalkulation einer 500-seitigen Romanauflage in Duodez à 1.000 Exemplare.

127 Ebd.,

S. 854. Umrechnung: 12 gute Pfennige = 1 Groschen, 24 Groschen = 1 Taler, Paritius: Cambio Mercatorio, S. 11. 128 Beim preiswerten Makulatur-Papier werden Papier- und Materialkosten von 1½ Taler pro Ballen fällig, für die gesamte Auflage (4 Ballen) also 6 Taler. Hinzu tritt der Druckerlohn: Beim Rechnungsmodell 1 (Abrechnung nach Ballen) fallen bei 4 Ballen circa 16‒20 Taler an. Wird bogenweise abgerechnet (Rechnungsmodell 2), kann der Drucker für die ersten hundert Exemplare 18 Groschen verlangen (bei 20 Bogen = 360 Groschen = 15 Taler; denn 1 Taler = 24 Groschen), für den ‚Überdruck‘ aber nur noch 21 Pfennige pro Bogen (bei 20 Bogen = 420 Pfennige = 35 Groschen; denn 1 Groschen = 12 Pfennige), wodurch der gesamte Überdruck à 900 Exemplaren neunfach zu Buche schlägt (35 Groschen x 9 = 315 Groschen =13 Taler). In der Regel traten noch Kosten für das Titelblatt und ggf. für ein Titelkupfer hinzu. Weder Pater noch Fritsch nennen dies als notwendigen Posten einer preiswerten Ausgabe. Aus anderen Druckerrechnungen der Zeit lassen sich für ein zweifarbiges Titelblatt in Rot- und Schwarzdruck und das Titelkupfer weitere Hinweise finden: Der Leipziger Verleger August Martini stellt für ein Titelblatt 3 Taler in Rechnung, für 6 Kupferstiche 10 Taler; Titelblatt und Titelkupfer schlagen demnach mit ca. 3‒4 Taler zu Buche, Kirchhoff: Der ausländische Buchhandel in Leipzig. In: AGB 14 (1891), S. 242.

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

81

Die unterschiedlichen Kalkulationsmodelle lassen bereits erahnen, dass die Aushandlung des letztendlichen Tarifs vom kaufmännischen Geschick aller Beteiligten abhängig ist und einigen Spielraum offen lässt. Zu Rat oder Warnung gibt Paul Pater sowohl dem angehenden Drucker als auch dem künftigen Verleger zu bedenken, dass „die wenigsten, auch unter den Gelehrten, die Buchdrucker-Tax verstehen, und die Arbeit zu unterscheiden wissen, dahero ihnen leichtlich was auf die Mau zu binden.“129 Vermutlich gab es eine Vielzahl von Rabatt- und Kalkulationsmodellen, so dass jeder versuchen konnte, die durch (Drucker-)Zunft vorgeschriebenen Preisbindungen dem eigenen Vorteil gemäß zu gestalten. Werden von einer solchen 1.000-Romanauflage 800 Exemplare zum Preis von fünf Groschen verkauft – was bei einer Laufzeit von zwei Jahren, nach denen erfolgreiche Romantitel eine Neuauflage erfahren, kein allzu großes Problem dargestellt haben dürfte ‒,130 so bedeutet dies einen Umsatz von 166 Taler.131 Abzüglich der Produktionskosten inklusive des Papiers ist dies immer noch ein Reingewinn von 128 bis 140 Taler, der den Investitionsaufwand um das drei- bis fünffache wieder einbringen kann. Obwohl in der weiteren Vermarktung zusätzliche Kosten für Steuern, Transport, Lagerung, eventuell auch Mess- oder Zensurgebühren anfallen konnten,132 sind die Herstellungskosten eines Romans als ausgesprochen gering zu beurteilen. Vor allem durch das minderwertige Papier, das kleine Format und das Preisrabatsystem konnten solche günstigen Produktionskosten zustande kommen.133 Im Vergleich zu exzeptionell hohen Auflagen hochwertig verarbeiteter Publikationen,134 ist eine Duodezauflage minderer Qualität und kleiner Auflagenhöhe

129 Pater:

Germaniae Miraculo, S. 835. zu Neuauflagen galanter Romane bei Simons: Marteaus Europa, S. 426. 131 Umrechnung nach Paritius: Cambio Mercatorio, S. 11: 24 gute Groschen = 1 Taler (d.h. 5 Groschen x 800 Expl. = 4.000 Groschen geteilt durch 24 Gr. = 166 Taler). 132 So werden auf den Frankfurter und Leipziger Messen unterschiedliche Messgebühren verlangt, die je nach lateinischen, deutschsprachigen und fremdsprachigen Drucken sowie nach einheimischen bzw. auswärtigen Herstellern variieren, Fritsch: Tractatus de Typographis, unpag., Teil II, Cap. IV, § II. Ebenso bekannt und berüchtigt sind aber auch die Tricks und Versuche der Buchhändler und Verleger, diese Abgaben zu umgehen, Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 175, 197, 233. 133 Dies zeigt sich deutlich im Vergleich zu Druckkosten von Disputationen oder Leichenpredigten, die auf hochwertigerem Papier und in größeren Formaten gedruckt werden. Immanuel Tietze, Inhaber der Wittigau’schen Buchdruckerei in Leipzig, verlangt 1694 für eine „Disputation von 5 Bogen 350 aufflage [Expl.] 13 Taler“, zit. nach F. Hermann Meyer: Druckkosten im 17. und 18.  Jahrhundert. In: AGB 6 (1881), S.  276‒279, hier S.  278. Für „Herrn Fröhlichs Leichenpredigt 14. Bogen 200 aufflage“ stellt Tietze 23 Taler in Rechnung und „H.M. Francke ist mir vor eine Disp[utation] schuldig 10 Taler“, vermerkt sein Druckereibuch (ebd., S. 278). Weniger umfangreiche Disputationen sind für eine Summe von 4 oder 5 Talern zu haben (ebd., S. 277). 134 Z.B. Hübners Fragen der Geographie – ein 1.030-seitiges Werk mit 6 Kupferstichen, gedruckt auf hochwertigem ‚weißen Druckerpapier‘, dessen einzelner Ballen schon 7 Taler kostet, in einer Einzelauflagenhöhe von 5.000 Stück und für das Pater Gesamtherstellungskosten von 576 Taler angibt, Pater: Germaniae Miraculo, S. 837f. Allerdings stellt Pater bei einem Verkaufspreis von 130 Übersicht

82

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

tatsächlich keine bedeutende Investition. Romanauflagen bewegen sich im untersten Bereich der Druck- und Herstellungskosten und lassen zu größeren Formaten und besserer Papierqualität immer noch genügend finanziellen Spielraum offen. 3.1.3.3 Nebenartikel Roman – Vergütung der Autoren? Romane, die anders als Disputationen und ähnliche Schriften für einen potentiell weiteren Kundenkreis interessant werden können  –  zumal in Universitätsstädten, wo neben einem städtischen auch ein junges studentisches Publikum vorhanden ist –, scheinen für Verleger, Buchhändler und Druckerverleger ein attraktiver Nebenartikel geworden zu sein. Mit Romanen handelt man nicht vorrangig, doch ist es möglich, von Zeit zu Zeit einige Exemplare ins Sortiment zu nehmen, je nachdem wie groß die Nachfrage vor Ort ist. Die geringen Herstellungskosten scheinen dabei eine Rolle gespielt zu haben: Unkosten von zwanzig bis vierzig Taler auf sich zu nehmen, von denen man im besten Falle den fünffachen Gewinn, im Normalfall mehr als das doppelte erwarten kann, im schlimmsten Fall aber Makulatur, die man auf der nächsten Messe unbemerkt gegen neue Waren anderer Händler „versticht“ (tauscht),135 sind zwar keineswegs eine sichere, aber auch keine übermäßig kostspielige Investition. Zudem gelten Autoren- und Übersetzerhonorare noch nicht als Regel, sie stellen demnach keinen grundsätzlichen Investitionsaufwand dar. Im Gegenteil: Autoren müssen dankbar sein, wenn sich Verleger oder Mäzene finden, die die Druckkosten übernehmen – womit sich jene praktisch alle Vermarktungsrechte am Text aneignen. Wer die Dienstleistung eines Buchdruckers in Anspruch nimmt, muss dafür bezahlen. Das gilt für Autoren ebenso wie für Buchhändler, Verleger oder Privatkunden, die für den persönlichen Gebrauch drucken lassen.136 Verbreitet ist daher die Praxis, hohen Persönlichkeiten oder kunstinteressierten Mäzenen die Schriften zu widmen und zu hoffen, dass man für diese Dedikation mit einer finanziellen Aufmerksamkeit oder der Übernahme der Druckkosten begünstigt wird.137 Auch in galanten Romanen lässt sich dies zum Teil noch finden. So stellt z.B. August Bohse seinem Roman Ariadnens königlicher Printzeßin von Toledo Staats- und Liebes-Geschichte (1699)

½Taler pro Exemplar und 20 Auflagen (100.000 Expl.) auch einen Reingewinn von „beynahe 40.000 R[eichs]th[aler]“ in Aussicht (ebd., S. 838). 135 Im Tausch- und Messbuchhandel ist es üblich, den Tauschwert von Büchern mit unterschiedlichen Drucken auszugleichen. So kann der Händler z.B. zu einer Folioausgabe kleinere Schriften hinzugeben, um auf den vereinbarten Tauschwert zu kommen. Fällt der Tausch nicht glatt aus, werden Saldi notiert. Wird ein bestelltes Buch gar nicht erst gedruckt, so mag der Geschäftspartner zur nächsten Messe einen anderen Titel mitbringen, „an dem man sich dafür erholen konnte“, Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 99. 136 Krieg: Bücher-Preise und Autoren-Honorare, S. 82. 137 Johannes Kepler widmet z.B. 1624 sein Werk Chilias Logarithmorum dem Landgrafen Philipp von Hessen-Butzbach, der dafür die Druckkosten übernimmt und dem Verfasser 50 Taler zukommen lässt. Vom Verleger erhält Kepler 10 Freiexemplare (ebd., S. 82).

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

83

eine Zuschrift an Anna Sophie von Sachsen-Gotha-Altenburg (1670–1728) voran, in der er die Fürstin als eine Leserin preist, die „der Poesie und denen Geschichten zugethan“ sei und auf deren „Leutseligkeit“ und „gnädigste Aufnahme des kleinen Romans“ er deswegen hoffe: Ewr. Hochfürstliche Durchl. allzu berühmte Gnade / mit welcher Sie der Poesie und denen Geschichten zugethan / giebt mir die angenehme Hoffnung / es werden diese schlechten Blätter von Dero hellstrahlenden Fürsten=Augen eines holden Blicks gewürdiget werden. […] Die Leutseligkeit ist Ihnen aus Dero Hochfürstl. Hause angebohren; Demnach werden Sie deren gewöhnliche Erzeigung durch gnädigste Auffnahme dieses kleinen Romans einen unterthänigsten Knecht geniessen lassen.138

Andere Beispiele für Dedikationen galanter Romane an adlige Fürstinnen sind bekannt.139 Ungeklärt bleibt in diesem Zusammenhang die Frage, in welcher Weise sich die Widmungsempfängerinnen für die zum Teil provokanten Inhalte der häufig harmlos klingenden Titel erkenntlich gezeigt haben mochten – Bohses Ariadne flüchtet z.B. aus dem Palast des Vaters, reist als Mann verkleidet durch die Welt und gerät in dieser Rolle auch in Liebesverwicklungen mit weiblichen Protagonisten (Kapitel 4.3). Dass Autoren für derartige Schriften tatsächlich mit einem Obolus beehrt werden, ist schwer vorstellbar, allerdings auch nicht grundsätzlich auszuschließen. Möglicherweise setzte man dreist darauf, dass die Publikation die Empfängerin erst viel später erreichte, nachdem desinteressierte Beamte der Bitte um Unterstützung (als standardisierte Form der sozialen Wohltätigkeit) stattgegeben hatten, ohne das Werk tatsächlich oder nur flüchtig gelesen zu haben. Vorstellbar ist auch, dass die Romane die Widmungsempfängerinnen nie erreichen sollten und Dedikationen von Verlegern und Autoren lediglich strategisch eingesetzt werden, um dem Werk den Nimbus der Seriosität zu verleihen, dadurch den Marktwert zu steigern oder auch willfahrende Zensoren zu beeinflussen. Zudem wenden sich galanten Autoren nicht nur an adlige Fürstinnen, sondern auch an vermögende Bürger. Im Falle persönlicher Beziehungen kann dann tatsächlich auf eine finanzielle Unterstützung gehofft werden, etwa wenn Hunold die Allerneueste Art Höflich und Galant zu Schreiben (1702) dem Vater des späteren Dichters Friedrich von Hagedorn, Hans Spatius

138 Talander

[Bohse, August]: Ariadnens königlicher Printzeßin von Toledo Staats= und Liebes=Geschichte: Nebst einer Vorrede, wie weit die unter seinem Nahmen herausgekommne Liebenswürdige Europäerin Constantine vor seine Arbeit zu halten / Zu vergönnter Gemüths-Ergötzung an das Licht gegeben von Talandern. Leipzig: Gleditsch, anno 1699, Zuschrifft, unpag. [A 1a ‒A 2a]. 139 Hunold/Menantes widmet den Roman Die Liebenswürdige Adalie (1702) der Gräfin Ulrica Antonetta von Ahlefeld und hofft ebenfalls auf deren „großmüthige Leutseligkeit“, Menantes [Christian Friedrich Hunold]: Die Liebens=Würdige Adalie […]. Hamburg: Gottfried Liebernickel / Buchh. im Dohm / 1702, Zuschrifft, unpag. [A 3a].

84

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Hagedorn (1668–1722) widmet, der selbst literarisch ambitioniert war und zu dessen Bekanntenkreis Hunold in Hamburg zählt.140 Unterhalten Autoren keine sozialen Netzwerke zu Gönnern oder Mäzenen – und dies wird bei den meisten Verfassern galanter Romane der Fall gewesen sein –, so findet die Entschädigung durch Freiexemplare, zum Teil auch durch Honorare statt, die zwischen Verleger und Autor individuell ausgehandelt werden.141 Verlegerhonorare für Romane oder Romanübersetzungen sind um 1700 nicht auszuschließen, sie scheinen im frühen 18. Jahrhundert aufzukommen. 1715 lassen sich Johann Ludwig Gleditsch und Moritz Georg Weidmann die Übersetzung einer französischen Schrift zur Blumen- und Gartenkunst in Duodez, Ligers Jardinier Fleuriste,142 einen Taler pro Druckbogen kosten.143 Für ein populäres Werk zahlen die Verleger ein ebenso hohes Honorar, wie sie es auch einem Laubaner Rektor für dessen gelehrtes Colloquia des Erasmus gewähren.144 Mit 12 Talern145 entspricht das Honorar dem doppelten Monatsgehalt eines angestellten Buchführers und ist deutlich höher, als

140 Menantes

[Christian Friedrich Hunold]: Die Allerneueste Art Höflich und Galant zu Schreiben / Oder Auserlesene Briefe / In allen vorfallenden / auch curieusen Angelegenheiten […]. Hamburg: Gottfried Liebernickel im Dohm, 1702 [Erstausgabe verschollen; hier verwendet in der Zweitausgabe Hamburg: Liebernickel, 1707], Widmung unpag. [A 1b]; Reinhold Münster: Friedrich von Hagedorn. Personalbibliographie. Mit einem Forschungsbericht und einer Biographie des Dichters. Würzburg 2001, S. 15. 141 Ahasverus Fritsch vermerkt im Tractatus de Typographis (1675), in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erhalte ein Autor für sein Werk ein einmaliges Bogenhonorar von durchschnittlich 12‒16 Groschen, zu dem 15 bis 25 Freiexemplare hinzutreten. Gefragte Autoren könnten über 1‒3 Taler pro Bogen verhandeln, erhielten jedoch nur 10 bis 20 Freiexemplare, zit, nach Krieg: Bücher-Preise und Autoren-Honorare, S. 82. Art und Höhe von Honoraren, so sie denn gewährt werden, variieren um 1700 enorm. Bei der Aushandlung spielen nicht nur Inhalt und Nachfrage eine Rolle, Wohlwollen und Verhandlungsgeschick aller Beteiligten, sondern auch politische Umstände, geistige Haltungen, persönliche Beziehungen usw. Für den Zeitraum um 1700 lassen sich keine allgemeinen Aussagen treffen, nur Einzelbeispiele nennen. So erhält Philipp Jacob Spener 1699 von der Waisenhausbuchhandlung in Halle a.S. für seine Erklärung der ersten Epistel des Johannes 130 Freiexemplare ohne Honorar (ebd., S. 83). 142 Louis Liger: Le Jardinier Fleuriste et historiographe ou la culture universelle des fleurs, arbres, arbustes et arbrisseaux […]. Amsterdam 1706. Das Buch wird von Johann Ludwig Gleditsch und Weidmann 1715 in einer deutschen Übersetzung herausgeben: [anonym]: Historischer und verständiger Blumen-Gärtner / oder Unterricht von Bau- und Wartung der Blumen, Bäume und Stauden=Gewächse, so zur Aufputzung eines Gartens dienen können. Leipzig: Gleditsch & Weidmann, 1715. 143 Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S.  203; Kirchhoff: Lesefrüchte. In: AGB 15 (1892), S. 195. 144 Krieg: Bücher-Preise und Autoren-Honorare, S.  83. Die Firmen Gleditschs, Weidmanns und Fritschs sind frühe Beispiele für die Zahlung von Autoren- und Übersetzerhonoraren, Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 203. 145 Kirchhoff gibt an, der Umfang von Jardinier Fleuriste habe 12 Bogen betragen, das Honorar bei einem Bogenentgeld von 1 Taler entspricht daher 12 Taler, Kirchhoff: Lesefrüchte. In: AGB 15 (1892), S. 195.

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

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ein mittlerer städtischer Beamter verdient.146 Allerdings wird das Honorar nur einmalig gezahlt, an Neuauflagen und Nachdrucken werden Autoren finanziell nicht beteiligt.147 Honorarzahlungen ergänzend zur Entlohnung mit Freiexemplaren anzubieten, kann daher auch als Strategie von Buchhändlern und Verlegern gewertet werden, die dadurch versuchen, Autoren an sich zu binden, um so ihre Stellung im expandierenden Buchhandel zu stabilisieren; dies vornehmlich in einer Zeit, in der das Dedikations­wesen zunehmend in Verruf gerät und finanziell nicht mehr so lukrativ gewesen zu sein scheint.148 Auch galante Romanautoren wie Bohse/Talander, Hunold/Menantes oder Rost/ Meletaon unterhalten Beziehungen zur Verlagsbuchhandlung Gleditsch und Weidmann – Verbindungen, die zum Teil geheim gehalten werden sollten, wie im Falle Hunolds.149 Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass auch sie Honorare in ähnlicher Höhe erhalten haben dürften. Max von Waldberg bezeichnet Rost als einen frühen „Lohnschreiber“,150 ohne jedoch Einkommenshöhen anzugeben. Simons nimmt an, dass Rost teilweise Spitzenhonorare zwischen 20‒194 Gulden bezogen habe (13‒129 Taler).151 Hunold soll nach eigener Aussage zu Zeiten seiner höchsten Bekanntheit vom Hamburger Verleger Liebernickel zwei Taler pro Bogen erhalten haben, Thomas Fritsch in Leipzig bietet ihm jedoch nur einen Taler Bogenhonorar an.152 Ruth Florack und Rüdiger Singer nehmen daher an, dass Bohse neben Hunold „einer der ersten deutschsprachigen Autoren“ gewesen sei, „der von der Schriftstellerei leben kann.“153 Auch wenn Bohse/Talander ein ausgesprochen produktiver Autor ist, bleibt es um 1700 ungemein schwierig, den Lebensunterhalt ausschließlich über die schriftstelleri-

146 Buchführer:

6 Taler pro Monat; städtischer Beamter: 8 Taler, vgl. Pinther: Chronik der Stadt Chemnitz, S. 101; Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 116. 147 Olaf Simons u. Hans Gaab: Johann Leonhard Rost – ‚Romanist‘ und Astronom. In: Astronomie in Nürnberg. Hg. v. Gudrun Wolfschmidt. Hamburg 2010, S. 305‒331, hier S. 323. 148 Kirchhoff vermutet, dass das Dedikationswesen im späten 17. Jahrhundert nicht mehr „die reichen Erträge“ abgeworfen habe wie in früheren Jahrzehnten, Kirchhoff: Lesefrüchte. In: AGB 15 (1892), S. 196. 149 Hunold steht über seinen Verleger Benjamin Wedel mit Gleditsch & Weidmann in Kontakt. In einem Brief an Wedel vom 16.4.1710 sendet Hunold „dem Herrn Gleditsch / meinen Dienst=ergebenen Gruß / und Monsieur Weidmann“, denen er „von Hertzen gern meine Feder emloyiren will“, doch bittet er zu entschuldigen, dass er eine Auftragsarbeit nicht beenden kann – wäre es etwas „Satyrisch=Lustig[es]“ käme er besser voran, so jedoch sollen die Leipziger Verleger eine andere Materie vorschlagen. Dabei bittet Hunold um „dreyerley: Baldige Nachricht / Verschweigung meines Nahmens / und daß man zu frieden ist [mit der Publikation] / es mag gut oder schlimm gerathen“, Wedel: Geheime Nachrichten, S. 162. 150 Max von Waldberg: Art. Rost. In: Allgemeine Deutsche Biographie 29 (1889), S. 274–276, hier S. 275 (im Folgenden zit. als ADB). 151 Simons u. Gaab: Rost – ‚Romanist‘ und Astronom, S. 324. Gulden werden mit 2 multipliziert und durch 3 dividiert, um auf den Talerwert zu kommen, Paritius: Cambio Mercatorio, S. 310. 152 Brief Hunolds an Wedel vom 09.12.1714, Wedel: Geheime Nachrichten, S. 171‒176, hier S. 172. 153 Florack u. Singer: Politesse, Politik und Galanterie, S. 303.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

sche Tätigkeit zu finanzieren.154 Ein Bogen, nach dem sich das Honorar richtet, umfasst je nach Format zahlreiche Einzelseiten; selbst mit 500-seitigen Romanen ließ sich damit nur ein einmaliges Honorar um die 20 Taler erwirtschaften.155 Um ganzjährig von der Schriftstellerei leben zu können, hätte ein Autor – hohe Honorare von einem Taler pro Bogen, wie sie nicht jeder Verleger gewährt, und die entsprechende Popularität und Nachfrage vorausgesetzt  –  kontinuierlich mindestens 4‒5 umfangreiche Romane, Briefsteller oder 8‒9 kürzere Leichenpredigten bzw. Gelegenheitsschriften publizieren müssen, um ein geringes Jahreseinkommen von 80‒100 Taler zu erzielen.156 Stadtchroniken zufolge verdient ein Buchführer um 1703 circa 72 Taler im Jahr (6 Taler im Monat),157 ein mittlerer städtischer Beamte 96 Taler (8 Taler im Monat)158 und ein städtischer Steuerinspektor 120 Taler (10 Taler monatlich), wozu allerdings noch Vergünstigungen in Form von Naturalien und Sportuln hinzutreten.159 Aus einem Anwerbungsschreiben für eine Hofmeisterstelle, das sich 1702 in Hunolds Allerneueste Art Höflich und Galant zu schreiben findet, wird ersichtlich, dass ein Hofmeister für den Unterricht in Latein und Französisch, Tanzen und Religionsunterricht mit einem Jahresgehalt von 100 Taler rechnen kann.160 Nimmt man an, dass auch ein (bürgerlicher) Student oder Autor mit 8‒9 Taler im Monat auszukommen vermag, so belaufen sich die Lebenshaltungskosten dennoch auf 100 Taler im Jahr. Polemiken gegen die studentische Verschwendungssucht führen freilich horrende Jahresausgaben von 300‒500 Taler an, die junge  –  ohne Zweifel vermögende  –  Studenten zu vergeuden im Stande sind.161 Auch bürgerliche Studenten wie Hunold sind in der Lage, innerhalb von wenigen Jahren das gesamte elterliche Erbe durchzubringen, das als Grundstock für das weitere Leben hätte dienen sollen.162

154 Dieser

Ansicht ist auch Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock, S. 41 und begründet dies mit den Strukturen des Buchmarktes. 155 Kap. 3.1.3.2 Herstellungs- und Druckkostenkalkulation. 156 Wenn man Gleditschs & Weidmanns großzügiges Autorenhonorar von 1 Taler pro Bogen zugrunde legt und für einen Roman in Duodezformat 20 Bögen annimmt, für eine Leichenpredigt – trotz geringeren Umfanges, doch in größterem Format – durchschnittlich 10 Bögen, so kann man von Honoraren zwischen 10‒20 Taler ausgehen. Zu Honoraren von Gleditsch vgl. Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S.  203; Kirchhoff: Lesefrüchte. In: AGB 15 (1892), S. 195. Satzumfang von Leichenpredigten zwischen 10 und 18 Bögen nach Meyer: Druckkosten im 17. und 18. Jahrhundert. In: AGB 6 (1881), S. 278. 157 Pinther: Chronik der Stadt Chemnitz, S. 101. 158 Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 116. 159 Pinther: Chronik der Stadt Chemnitz, S. 101. 160 Menantes: Anerbiethungs=Schreiben An einen guten Freund / uns zu einer Condition zu verhelffen. In: Ders.: Allerneueste Art Höflich und Galant zu schreiben, S. 294–295, hier S. 294f. 161 [anonym]: Curieuses Studenten=Bibliothecgen […], Leipzig, verlegts Friedrich Groschuff, 1718 [Erstausgabe 1707], S. 109. 162 Hunold/Menantes erbt 1690 nach dem Tod der Eltern ein Vermögen von 4.000 Talern, das 1700 aufgebraucht ist, so dass er vor seinen Gläubigern flüchten muss, so Wedel: Geheime Nachrichten, S. 8. Innerhalb von zehn Jahren verbraucht er somit im Schnitt 400 Taler im Jahr. Zum späteren Zeitpunkt seiner Biografie verdient er als Privatdozent 200 Taler jährlich, ein wohl

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

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Auch bei einer sparsamen Lebensführung muss wohl von einem Mindestbedarf von 100 Taler jährlich ausgegangen werden. Vor allem am Beginn seiner Karriere hätte Bohse diesen Betrag allein durch die Veröffentlichungen nicht erwirtschaften können. Bis 1688 publiziert er nur einen Roman im Jahr, ergänzt durch maximal eine Leichenpredigt oder eine andere Gelegenheitsschrift163 (wobei eher davon auszugehen ist, dass Bohse zu diesem frühen Zeitpunkt geringe oder gar keine Honorare erhalten haben dürfte). Ein mutmaßliches Jahreseinkommen von 80 Talern erzielt er erst 1689, als er vier Romane in Erstausgaben veröffentlichen kann. Bohse ist in diesem Sinne eine Ausnahmeerscheinung, doch auch ihm gelingt es nur 1689 und 1696 vier bis fünf Romane oder Briefsteller und einige Leichenpredigten pro Jahr zu veröffentlichen – ein mutmaßliches Spitzengehalt von 110‒130 Taler. Dazwischen liegen jedoch immer wieder Phasen, in denen er weniger oder gar nicht veröffentlicht.164 Obwohl Bohse ein ausgesprochen produktiver Autor ist, ist anzunehmen, dass die Finanzierung des Lebensunterhaltes ausschließlich durch die Schriftstellerei kaum möglich ist; sie dient lediglich dem ‚Zuverdienst‘. Dementsprechend geht auch Bohse bis zur ersten Festanstellung als Sekretär und Hofdichter in SachsenWeißenfels (1691) stets unterschiedlichen Tätigkeiten nach  –  so ist er in Jena als Hofmeister tätig und hält in Hamburg, Berlin, Dresden, Halle, Leipzig, Jena und Erfurt als Privatdozent juristische und poetische Vorlesungen.165 Erst die höfische Anstellung ermöglicht es ihm, seinen poetischen Ambitionen ungezwungen nachzugehen. Zeit seines Lebens bleibt Bohse aber neben der schriftstellerischen Tätigkeit in weitere Arbeits- und Lohnverhältnisse eingebunden: Zunächst als Hauslehrer und Privatdozent in wechselnden Städten, später als Sekretär und Hofdichter in Weißenfels, schließlich als Professor für Jurisprudenz an der Ritterakademie in Liegnitz.166 Gleichzeitig avanciert er seit den 1690er Jahren unter dem Pseudonym Talander zu einem der bekanntesten galanten Romanautoren Deutschlands, den die Leipziger Verlagsbuchhandlung Gleditsch & Weidmann mehr und mehr unter ihre ‚Hausautoren‘ einreiht. Zwischen dem Verlag, der um 1700 zu einer der erfolgreichsten Buchhandelsfirmen im deutschen Raum aufsteigt, und dem galanter Romanautor entsteht eine enge Autor-Verleger-Bindung (dazu Kapitel 3.1.3.6).

realistischeres Einkommen für einen Akademiker, das er allerdings durch Autorenhonorare ergänzt, vgl. Brief Hunolds an Wedel vom 18.12.1708. In: Wedel: Geheime Nachrichten, S. 151; weiterführend Kap. 3.2.2.2 Poetische Fehden I: Bohse – Hunold. 163 Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 713‒718, auch im Folgenden. 164 Ebd., S. 713‒757. 165 Johann Gottlob Wilhelm Dunkel: Historisch=Critische Nachrichten von verstorbenen Gelehrten und deren Schriften, Insonderheit aber Denenjenigen, welche […] entweder gäntzlich mit Stillschweigen übergangen, oder doch mangelhaft und unrichtig angeführet werden. […] Cöthen 1753, S. 401. 166 Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 713.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

3.1.3.4 Soziale Strukturen und (illegitime) Praktiken Der galante Roman – um 1700 keineswegs ein seriöses Handelsgut – taucht auch im Verlagsprogramm etablierter Buchhändler und Firmen auf, die um 1700 den Handel erobern. Der Leipziger Verlag Gleditsch & Weidmann ist dafür beredtes Beispiel. Je bekannter und beliebter ein Autor, desto begehrter seine Werke; dies gilt auch für Verleger, die sich bei gut laufenden Artikeln weder um moralische noch ästhetische Vorbehalte kümmern167 und denen geringe Produktionskosten nur entgegen kommen. Zwei grundlegende Phänomene charakterisieren die sozialen Strukturen des Romanhandels um 1700 und beeinflussen die Publikationspraxis junger Autoren: wechselnde Autor-Verleger-Beziehungen sowie das Bestreben von Verlegern, erfolgreiche Autoren an ihre Verlage zu binden. In einer Situation, in der es einen Markt für Romane im Prinzip noch nicht gibt und somit auch keine Verleger, die sich ausschließlich auf Unterhaltungsliteratur respektive galante Romane spezialisieren, gehören wechselnde Autor-Verleger-Beziehungen zur Normalität und Notwendigkeit der galanten Romanpublizistik. Bei einem begrenzten Käuferkreis und einer unsicheren Abnahme sind Verleger selten gewillt, im Jahr mehr als ein, maximal zwei Romane eines Autors in ihr Sortiment aufzunehmen. Rost/Meletaon erklärt in der Vorrede seines Romans Der Verliebte Eremit (1711), nachdem seit der vergangenen Mess­periode bereits zwei Romane von ihm erschienen sind – Die Türckische Helena (1710) und Die Liebenswürdige und Galante Noris (1711) – habe er keinen weiteren Roman veröffentlichen können: „weilen meine bißherige[n] Verleger / schon zu viele Sachen angenommen / daß meines in Jahr und Tagen / der Presse nicht unterleget werden kunte.“168 Allerdings „meldete sich vor ungefehr 14. Tägen / ein neuer / mir ganz unbekannter Verleger / welcher die völlige Elaboration verlangete / daß er sie biß auf die Frankfurter Oster=Messe / public machen könte“, so dass es doch noch zur dritten Publikation des Verliebten Eremit habe kommen können.169

167 Goldfriedrich:

Deutscher Buchhandel, S. 33. [Johann Leonhard Rost]: Der Verliebte Eremit / Oder des / Gravens von Castro / Lebens= und Liebes=Geschichte / Der / Galanten Welt / in einem / ROMAN / überreichet / von / MELETAON. / Gedruckt in diesem 1711. Jahr, [s.l.], Vorrede unpag. [A 2a]. Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 3503 gibt als Verleger Johann Albrecht in Nürnberg an. Meletaon: Die Türckische Helena / Der curieusen und galanten Welt in einer Liebes=Geschichte Zu betrachten abgebildet […]. 1710, [s.l.]. Der Roman erscheint ohne Druck- und Verlagsangaben. Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 3502 schreibt diese Publikation dem Nürnberger Verleger Wolfgang Michahelles zu. Meletaon: Die Liebenswürdige und Galante Noris / In einem Helden=Gedichte der curieusen Welt / zur Lust und Ergötzung / auffgeführet von / Meletaon. Leipzig / In Verlag Johann Ludwig Gleditsch und M.G. Weidmanns, 1711; vgl. hierzu auch Anm. 173 in diesem Kap. 3.1.3.4. 169 Meletaon: Verliebte Eremit, Vorrede unpag. [A 2b]. Es handelt sich bei Johann Albrecht, den Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 3501‒3503 als Verleger angibt, tatsächlich um einen für Rost neuen Verleger, der bisher noch keine Texte des Autors veröffentlicht hat. 168 Meletaon

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

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Ein Autor, der kontinuierlich veröffentlichen will oder gar an Einnahmen interessiert ist, ist gezwungen, sein Werk verschiedenen Verlegern anzubieten. Das geringe, einmalige Honorar ist maximal ein Zuverdienst, nicht aber eine Einnahme, die den Lebensunterhalt ganzjährig sichert. Autoren nutzen daher den Briefverkehr und schriftliche Anschreiben, um Verlegern deutschland­weit ihre Manuskripte zukommen zu lassen. So liefert ein Musterbrief, Ander Copie=Schreiben Eines galant Homme an einen Buch=händler / einen Roman bey ihm zu verlegen, in Hunolds Briefsteller Allerneueste Art Höflich und Galant zu schreiben eine Vorlage, um Verleger auf die eigene Textproduktion aufmerksam zu machen. „Monsieur, Ich habe etlich[e] Historien / […] in die Form eines Romans […] / zusammen getragen“,170 beginnt das Anschreiben und erklärt: Weil ich nun wohl weiß / daß kein hiesiger Buch=händler / ob sie schon unter erdichtetem Nahmen und ohne ärgerliche Redens=Arten geschrieben sind / selbige drucken zu lassen / sich unterstehen werde; ich aber von Monsieur etwas / mit welchem ich […] meine Sachen / […] vergleichen kan / verlegt gesehen: So wollte mich hierdurch erkündigen / ob er auch wohl die Gutheit vor mich zu haben / und dieses geringe Werck / das vielleicht nicht ohne Liebhaber bleiben würde / dem gemeinen Besten zu gute zu befördern beliebete. Das Manusc[ript] […] soll auf dessen Befehl alsobald folgen / damit er daraus erkennen möge / ob davon ein Bogen mit anderthalben Reichsthaler zu compensiren würdig sey.171

Über den Brief- und Postverkehr können auch frivole und provokante Romane einen überregionalen Verleger finden.172 Sind vergleichbare Schriften bereits im Verlag erschienen, kann es sich um einen geeigneten Multiplikator für die Publikation handeln. Findet diese den gewünschten Absatz, so besteht die Hoffnung, dass der Verleger im nächsten oder übernächsten Jahr erneut das Risiko einer Veröffentlichung eingeht und einen weiteren Roman des Autors annimmt. Je mehr Beziehungen ein Autor zu unterschiedlichen Verlegern pflegt, desto häufig kann er über das Jahr hinweg publizieren und gegebenenfalls auch denselben Titel bei verschiedenen Verlegern unterbringen. Rost/Meletaon gelingt dies mit der Liebenswürdigen und Galanten Noris (1711), die er bei Johann Ludwig Gleditsch in Leipzig veröffentlicht und gleichzeitig als Der Schau=Platz der Galanten und Gelährten Welt (1711) bei Johann Christoph Lochner in Nürnberg.173 Dass dem Publikum ein und derselbe

170 Menantes: Allerneueste Art 171 Ebd. 172 Zur

Höflich und Galant zu Schreiben, S. 404.

Bedeutung des Postverkehrs vgl. Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S.  216; Albrecht Kirchhoff: Lesefrüchte aus den Acten des städtischen Archivs zu Leipzig. In: AGB 14 (1891), S. 196–269, hier S. 267; Ders.: Der ausländische Buchhandel in Leipzig im 18. Jahrhundert. In: AGB 14 (1891), S. 155–182, hier S. 173. 173 Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 3504. Es ist unklar, welcher Verleger zuerst den Roman annimmt bzw. ob Rost nur einem von beiden das Manuskript überlässt. Im Catalogus Universalis wird Die Liebenswürdige und Galante Noris seit der Ostermesse 1711 als Bestand von Gleditschs Sortiment gelistet, Catalogus Universalis, Ostern 1711, unpag. [S. 57]. Lochner wird nicht erwähnt. Entweder war er nicht auf den Messen zugegen oder ließ sich nicht registrieren.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Text unter verschiedenen Titeln angeboten wird, scheint Autor und Verleger (so sie davon wussten) nicht zu stören. Überhaupt neigen junge galante Autoren zu einem recht unbekümmerten Umgang mit ihren Publikationen. Die Belange der Leserschaft scheinen zweitrangig, die Beziehung zu Verlegern vor allem aus monetären Gründen interessant. Hunold bemerkt lapidar: Zwar könte mir einer vorrücken: man müsse […] einem honneten Verleger keine Sachen aufdringen / die ihm zu Maclatur [Ausschuß, Altpapier] würden. Wohl gegeben / dürffte der mehrer Theil von denen heutigen Autoribus der teutschen Poesie antworten: wenn wir nur Geld kriegen / wer fragt darnach / ob sie die Helfte der Exemplarien müssen wegschmeissen oder nicht; dergleichen Leute [die Verleger] werden sonsten ohne diß zu reich.174

Um mehrfach von der schriftstellerischen Produktion zu profitieren, tendieren galante Autoren dazu, Teile bereits veröffentlichter Publikationen (oder auch private Korrespondenzen) erneut drucken zu lassen. So habe, laut von Waldberg, Rost in seinen Briefstellern „Copien des eigenen Briefwechsels“ eingefügt, um sie als „gewinnsüchtiger Besitzer […] nutzbringend wieder [zu] verwende[n]“.175 Auch andere galante Autoren vermarkten Teile ihrer literarischen Produktion mehrfach – vermutlich, um mit geringem Aufwand in kurzer Zeit publizieren zu können, aber auch um erneut in den Genuss eines einmaliges Honorars oder Sachleistungen zu kommen. Bedenken hinsichtlich mangelnder Originalität kennen galante Autoren nicht. So finden sich in Hunolds Briefsteller Allerneueste Art Höflich und Galant zu Schreiben Musterbriefe aus dessen Roman Die Liebenswürdige Adalie (1702), die der Autor als Teil unterschiedlicher Textsorten parallel veröffentlicht. Mitunter ergeben sich aus dieser Vermischung der Gattungen kuriose Rezeptionsmöglichkeiten, etwa wenn der Briefsteller Musterbriefe vorstellt, in denen eine Dame aufgefordert wird, aus dem Kloster zu flüchten.176 Innerhalb der fiktionalen Romanhandlung ist jener Brief sinnvoll eingebettet; im pragmatischen Kommunikationskontextes des Briefstellers – der seiner Funktion nach Anleitungen zur ‚angemessenen‘ Briefverfassung

Vorstellbar wäre, dass Lochner im Anschluss an die Ostermesse eine unautorisierte Ausgabe unter veränderten Titel drucken ließ. Da Rost aber stärker in Nürnberg, als in Leipzig verwurzelt ist, und zwei Jahre später einen Briefsteller bei Lochner drucken lässt (Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 3506), scheint es wahrscheinlicher, dass er Lochner mit dem Manuskript beliefert und Gleditsch ggf. unautorisiert nachdruckt. Die unterschiedliche Titelgestaltung lässt erkennen, dass der Roman in Leipzig mit einer weiblichen Titelfigur Interesse hervorrufen soll, in Nürnberg hingegen eher allgemein auf ein akademisches Publikum zielt. 174 Menantes [Christian Friedrich Hunold]: Theatralische / Galante / Und / Geistliche / Gedichte / Von / Menantes. / Hamburg / Bey Gottfried Liebernickel im Dom. / 1706, Vorrede, unpag. [A 3b]. 175 Waldberg: Art. Rost. In: ADB, Bd. 29 (1889), S. 275. 176 Musterbrief Ein ander Liebes-Brief An eine Schöne / die in dem Kloster ist / und man noch niemals gesehen. In: Menantes: Allerneueste Art Höflich und Galant zu Schreiben (1702), S. 470. Es handelt sich dabei um einen Brief aus Hunolds Roman Adalie (1702), Hunold: Die Liebenswürdige Adalie, S. 75–77.

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

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und damit für reale Brief­korrespondenzen liefert –, ergeben sich indes ambivalente und komische Effekte (Kapitel 3.3.2). Darüber hinaus ist es in Zeiten fehlender Urheberrechtsbestimmungen üblich, dass Autoren Passagen anderer Verfasser in das eigene Werk übernehmen. Im Briefsteller verteidigt Hunold dieses Vorgehen. Wenn die Gedanken eines fremden Autors so treffend seien, dass ein späterer Verfasser sie vollständig übernimmt, so zeuge dies von der Vortrefflichkeit des Vorgängers und gereiche nur zu dessen Ruhm, so heißt es im Schreiben An einen / der seine Sachen aus andern Büchern stiehlet: Hieraus [aus der Übernahme des fremden Textes] erkennet man erst / wie hoch es [das fremde Werk] sey zu schätzen / weil ein so hochbegabter Poet sie seinen eigenen Gedancken vorziehet / oder sie ihnen zum wenigsten gleich hält / indem er sie vor die Seinige[n] ausgiebt.177

Ebenso legitim erscheint es, fremde Texte, die bereits veröffentlicht sind und gut laufen, vollständig (oder geringfügig überarbeitet) zu übernehmen und sie unter dem eigenen Autornamen oder Pseudonym zu veröffentlichen. Es finden sich wiederum Verleger, die diese ‚Adaptionen‘ unter neuem Titel drucken lassen, wobei sie das Impressum zur Sicherheit oft weglassen. So wird Rost/Meletaons Türckische Helena (1710) von David Christian Walther (unbek.) entwendet und unter dem ähnlich lautenden Pseudonym Menander als Der unvergleichlich=schönen Türckin / wundersame Lebens= und Liebes= Geschichte (1723) ohne Verlagsangabe erneut veröffentlicht.178 Bei Nach- bzw. Raubdrucken sind die Verleger ohnehin nicht auf die Zustimmung der Autoren angewiesen, so dass z.B. der Leipziger Buchhändler Johann Theodor Boetius (unbek.) Bohses Roman Die Liebenswürdigste Alcestis (1689), ursprünglich bei Michael Günther in Dresden erschienen, zwei Jahre später in unveränderter Fassung unter dem neuen Titel Der Durchlauchtigste Arsaces (1691) herausgibt.179 Die Erzählung bleibt dieselbe, die weibliche Titelfigur wird kurzerhand durch einen männlichen Protagonisten ersetzt und die Illusion ist erzeugt, es handelte sich um einen neuen Text. Aus Beschwerdeakten der Leipziger Bücherkommission sind sogar Fälle bekannt, bei denen selbst Firmennamen entwendet werden: 1710 erhebt die einflussreiche Leipziger Firma Johann Großes selige Erben Klage, weil ein kleinerer Buchhändler und Verleger aus Halberstadt, Christian Gensch, den Firmennamen Großes unautorisiert für die Vermarktung eigener Publikationen verwendete und sich auch nach der Beschwerde nicht davon ab-

177 Menantes: Allerneueste Art

Höflich und Galant zu Schreiben, S. 496f. Roman erscheint erstmals 1710 unter dem Titel Die Türckische Helena bei Wolfgang Michahelles in Nürnberg. Eine erste anonyme Nachdruckauflage ohne Verlagsangaben folgt 1711. Die Adaption durch David Christian Walther alias Menander erscheint 1723 ohne Impressum in Hamburg, Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 3502f. 179 Ebd., S. 718. 178 Rosts

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

bringen ließ; steigert der fremde Firmenname doch den Absatz des unbekannteren Verlegers.180 Obwohl derartige Praktiken für Autoren und Verleger, auf deren Werke, Verlagsprogramme, Firmennamen oder Pseudonyme zugegriffen wird, ärgerlich sind, ist der Buchhandel um 1700 von diesen Strukturen bestimmt. Dem einen Last, dem anderen Vorteil kann jedermann sie gewinnbringend nutzen. Nach drei Auflagen von Rosts Verliebten Eremit (1711) bringt dessen (anonym bleibender) Verleger Johann Albrecht in Nürnberg dasselbe Werk unter dem Titel Die so klüglich als glücklich gehobene Hindernüß / in der Liebes= Geschichte des Grafens von Castro und der Fräulein von Montal (1737) erneut heraus.181 Den Lesern wird auf diese Weise suggeriert, es müsse sich um eine neue Schrift des beliebten Romanciers handeln. Heute würde man solche Publikationspraktiken als illegitimen Verstoß gegen Urheber- und Autorenrechte werten – um 1700 gibt es derartige Rechtsbestimmungen allerdings nicht.182 Weder inhaltliche Rückgriffe auf fremde Werke noch die Herausgabe unautorisierter Nach- oder Raubdruckauflagen werden im rechtlich-juristischen Sinne als Verstoß gewertet. Der Begriff Raubdruck ist im 17. und 18. Jahrhundert nicht gebräuchlich. Der sogenannte Nachdruck ist zwar unter den seriös agierenden Akteuren des Marktes geächtet, doch unter der Hand bedienen sie sich meist selbst jener Praktiken. Die führenden Leipziger Firmen Fritsch, Weidmann und Gleditsch sind bekannte Beispiele, die sich gegen den Raubdruck fremder Firmen rigoros wehrten (und oft vor Gericht zogen), zugunsten des eigenen Geschäfts jedoch dieselben Praktiken anwandten.183 Die Strukturen einer Raub- und Nachdruckökonomie sind aus der Buch- und Verlagslandschaft um 1700 nicht wegzudenken, nachhaltige rechtlich-juristische Bestimmungen existieren schlichtweg nicht. Allerdings kreieren jene Strukturen auch einen Raum rechtsfreier Anonymität, der von Autoren und Verlegern produktiv genutzt werden kann. Wechselnde Verlegerbeziehungen, anonyme und pseudonyme Publikationsformen bieten nicht nur Autoren, sondern auch Händlern und Verlegern die Möglichkeit, sich im Falle provokanter oder anstößiger Schriften vor Zugriffen durch Zensur oder Kontrollinstanzen zu schützen. Gleichzeitig lässt sich im Romanhandel um 1700 aber auch das Phänomen beobachten, dass Verleger versuchen, erfolgreiche Romanautoren an ihren Verlag zu binden. Dies hat verschiedene Effekte: Zum einen wird die Autorenbindung an einen Verlag zum Qualitätsmerkmal des Verfassers. Der Text – obwohl es sich um einen Roman und damit um eine ‚zweifelhafte‘ Gattung handelt –, wird im Verlagssorti-

180 Albrecht

Kirchhoff: Zum Firmenrecht. In: AGB 14 (1891), S. 363–366, hier S. 365. Personalbibliographien, S. 3504 (Neuauflagen erschienen 1737 und 1738). 182 Zur mangelhaften Rechtslage und zu Leipzig als ‚Hochburg‘ des Nach- und Raubdrucks, Katja Barthel: Zwischen Raubdruck und erotischer Literatur – Der Romanmarkt des späten 17. und 18.  Jahrhunderts. In: Medien, Bilder, Schriftkultur. Mediale Transformationen und kulturelle Kontexte. Hg. v. Annette Simonis u. Berenike Schröder. Würzburg 2012, S. 21–51, bes. 45f. 183 Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 190f., 205‒207. 181 Dünnhaupt:

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

93

ment neben anderen Schriften akzeptiert und als kontinuierlicher Artikel einkalkuliert. Romane dieses Autors sind nicht mehr unregelmäßiger Nebenartikel, sondern werden zu kontinuierlich erwerbbaren Waren. Für den Autor wiederum bedeutet die Bindung an einen Verlag eine gewisse (Rechts-)Sicherheit. Dies ist weniger aufgrund des finanziellen Aspektes attraktiv, da Autoren an Neuauflagen finanziell ja nicht beteiligt werden. Vielmehr geht es um Fragen der Textgestaltung: In Raubdrucken werden Texte häufig gekürzt, um Papier zu sparen, so dass ein Autor mit jeder Neuauflage Eingriffe in sein Werk zu befürchten hat.184 Die Bindung an einen Verlag schließt derartige Praktiken zwar nicht aus, verringerte aber ihre Wahrscheinlichkeit. Zudem zeigt der Versuch von Verlegern, Romanautoren an ihre Firmen zu binden, dass es im regionalen Raum (und darüber hinaus) eine kritische Masse an Interessenten gibt, die voraussehbar und für den Verleger kalkulierbar gewillt sind, Romane käuflich zu erwerben. Der Handel mit Romanen verliert mehr und mehr die Züge eines Zufallsgeschäftes. Verleger und Autoren müssen nun ihre Zielgruppen genauer kennenlernen – Leserbedürfnisse und Lesererwartungen sind zu erforschen und zu kreieren (Kapitel 3.3). 3.1.3.5 Wechselnde Autor-Verleger-Beziehungen An August Bohse alias Talander lassen sich beide Phänomene des Romanmarktes um 1700 ‒ wechselnde Autor-Verleger-Beziehungen und Autorenbindung ‒ zu unterschiedlichen Zeiten seiner Biografie exemplarisch nachvollziehen. Sein Aufstieg zur ‚Romanikone‘ macht zugleich die Schlüsselstellung deutlich, die Bohse für nachfolgende Autorengenerationen einnimmt: Talander präfiguriert das Idealbild einer möglichen Karriere als junger (studentischer) Romanautor. Obwohl Bohse zu Zeiten seiner hohen Popularität kein junger und auch kein studentischer Autor mehr ist, setzt sein Werdegang als Romancier in der Studienzeit ein, während und kurz nach der akademischen Ausbildung. Ja er gibt sich, selbst als er das Studium längst beendet hat, noch als studentischer Verfasser aus (Kapitel 3.2.2.1). Erfolgreich kann er sich als galanter Romanautor etablieren und avanciert schließlich zu einem der bekanntesten Romanciers seiner Zeit, wodurch er die galante Romanentwicklung und die Popularisierung der Gattung nachhaltig prägt. Unabhängig davon, wie Bohses Werk ästhetisch oder moralisch bewertet werden mag, macht sein Vorbild es in der Folgezeit für etliche junge Männer attraktiv, sich ebenfalls als Romanautoren zu versuchen. Am Beginn seiner Karriere publiziert Bohse bei wechselnden Verlegern, bis sich an seinem Roman Amor an Hofe (1689) – ein pikantes Werk zu amourösen Verwicklungen am Dresdner Hof August des Starken ‒185 ein gnadenloser Konkurrenzkampf 184 Darnton:

Die Wissenschaft des Raubdrucks, S. 31, 64f. 1696 lautet der Titel Amor an Hofe. Erst mit der vierten Auflage (1696) wird er geändert in Amor am Hofe, Talander [August Bohse]: Amor an Hofe / Oder das spielende Liebes=Glück Hoher Standes=Personen / Cavalliere / und Damen / der Galanden Welt zu vergönneter Ge-

185 Bis

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

verschiedener Kleinverleger entfaltet, die auf das Werk zugreifen und es sich untereinander streitig machen. Bohse publiziert unterdessen weiter, wird immer bekannter und dadurch auch attraktiv für die zur gleichen Zeit aufsteigende und erfolgreich werdende Verlagsbuchhandlung Gleditsch & Weidmann, die den Autor schließlich an sich bindet. Die Personalbibliografie von Gerhard Dünnhaupt, die alle Erst- und Nachdruckauflagen des Autors listet, kann hierzu wertvolle Hinweise liefern.186 Mit 22 Jahren beginnt August Bohse, 1661 in Halle an der Saale als Sohn eines bürgerlichen Juristen geboren, Trauergedichte, Gelegenheitsschriften und Romane zu verfassen.187 Nach dem ersten Trauergedicht 1683 (bei Leonhard Zacharias in Augsburg)188 erscheint ein Jahr später der galante Roman Der Liebe Irregarten (1684, Leipzig: Johann Caspar Meyer), anschließend das Liebes=Cabinett der Damen (1685, Leipzig: Christian Weidmann),189 worauf in Kapitel 3.3.2 zurückzukommen sein wird. Zu dieser Zeit, zwischen 1679 und 1685, ist Bohse Student der Philosophie, Beredsamkeit und Jurisprudenz in Leipzig und Jena.190 Zwischenzeitlich verdingt er sich als Hofmeister „bei einem Herrn von Hesler“, weil es „seinem Vater zu schwer fiel, ihn auf hohen Schulen zu halten“.191 Nach dem Abschluss des Studiums absolviert der 24-Jährige ein dreijähriges Praktikum als Jurist in Hamburg (1686‒1688)192 und hält gleichzeitig vor „jungen vornehmen Leuten Vorlesungen über die Grundsätze des Rechts, Redekunst, und über das teutsche Briefeschreiben.“193 Die nächsten Jahre sind durch wechselnde Lebensstationen und Tätigkeiten geprägt (1689‒1691): Bohse hält weiterhin juristische und poetische Vorlesungen in Berlin, Dresden, Halle und Leipzig und publiziert nebenbei bei unterschiedlichen Verlegern. Es erscheinen vier umfangreiche Romane ‒ Die Unglückselige Printzessin Arsinoe (1687, Leipzig: Christian Weidmann), Die Durchlauchtigste Alcestis aus Persien (1689, Dresden: Michael Günther), Die Eifersucht der Verliebten (1689, Leipzig: Friedrich Lanckischs Erben) und Le Mary jaloux / Oder der Eyffersüchtige Mann (1689, Übersetzung aus dem Französischen, Dresden: Gottfried Kettner). Bis 1691 veröffentlicht Bohse insgesamt sieben galante Romane, einen Briefsteller und

müths=Ergötzung an das Licht gegeben von Talandern. Mit Churfl. Sächs. Gnäd. Privilegio. Dresden / druckts und verlegts / Christoph Mathesius. 1689. Neuauflagen 1690, 1691, 1696, 1706, 1710 und 1720, Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 719f. 186 Zur Werkbibliografie Bohses (ebd., S. 713‒757). 187 Ebd., S. 713f. 188 Trauergedicht auf Maria Magdalena von Stetten, geb. Sultzer, publ. 1683 (ebd., S. 714). 189 Ebd., S. 714f. 190 Ebd., S. 713. 191 Dunkel: Historisch=Critische Nachrichten, S. 401. Bohses Vater, Gottfried Bohse, ist Beisitzer des Hallenser Schöppenstuhls und somit ein angesehener bürgerlicher Jurist. Nachdem jedoch um 1680 die Pest in Halle und Leipig grasiert, scheinen seine finanziellen Mittel angegriffen gewesen zu sein. Bohse flüchtet in der Pestzeit nach Jena und schließt das Studium nach Ende der Pest in Leipzig ab (ebd., S. 400f.). 192 Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 713. 193 Dunkel: Historisch=Critische Nachrichten, S. 401.

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zehn Gelegenheitsschriften.194 Doch nicht aufgrund der galanten Schriften, sondern durch den Erfolg seiner Poetikvorlesungen an der Universität Leipzig ‒ zu denen auch jene jungen Männer kommen, die seine Romane verehren ‒ wird er schließlich 1691 von Herzog Johann Adolf I. (1649–1697) in die Residenz Sachsen-Weißenfels gerufen, wo er mit 30 Jahren eine erste Festanstellung als Sekretär und Hofdichter findet.195 Allerdings verlegt Bohse seinen Lebensmittelpunkt nicht an den Weißenfelser Hof, sondern in die nahegelegene Universitätsstadt Jena und bleibt im studentisch-akademischen Milieu verankert.196 Da die poetische Produktion seine persönliche Anwesenheit in Weißenfels „nicht eben erforderte, so erhielt er vom Herzoge Erlaubnis sich auf einer benachbarten hohen Schule aufzuhalten und erwehlete Jena“, so vermerken Dunkels Historisch-Critische Nachrichten von verstorbenen Gelehrten (1753).197 Neben der Anstellung als Hofdichter und Sekretär arbeitet Bohse an einer juristischen Dissertation198 und hält an den Universitäten in Jena und Erfurt „Collegia“ in Poesie, Redekunst und Jurisprudenz.199 Auch an Bohses Biografie lassen sich die Schwierigkeiten junger (bürgerlicher) Akademiker beobachten, zügig von der Universität in eine Anstellung zu wechseln, auf die Walther, Held und Meid aufmerksam machen (Kapitel 3.1.2.2). Sechs 194 Dünnhaupt:

Personalbibliographien, S.  714–718: Bis zu seinem 30. Lebensjahr veröffentlicht Bohse sieben Romane, einen Briefsteller und zehn Gelegenheitsschriften oder Trauergedichte. Während des Studiums (1679‒1685) erscheinen ein Trauergedicht auf Maria Magdalena von Stetten, geb. Sultzer (1683 bei Leonhard Zacharias in Augsburg) und zwei Romane, Der Liebe Irregarten (1684 bei Johann Caspar Meyer in Leipzig) sowie das Liebes=Cabinett der Damen (1685 bei Christian Weidmann in Leipzig). In der Zeit als Rechtspraktikant in Hamburg (1686‒1688) veröffentlicht er drei Trauergedichte und einen Roman, Die Unglückselige Prinzessin Arsinoe (1687 bei Christian Weidmann in Leipzig). In der Phase der beruflichen Orientierung mit unterschiedlichen Gelegenheitsbeschäftigungen in Berlin, Dresden, Halle, Leipzig (1689‒1691) erscheinen sechs Trauer- und Gelegenheitsgedichte, vier Romane und ein Briefsteller: Die Durchlauchtigste Alcestis (1689 bei Michael Günther in Dresden), Amor an Hofe (1689 bei Christoph Mathesius in Dresden), Le Mary jaloux oder der Eyffersüchtige Mann (1689 bei Gottfried Kettner in Dresden), Die Eifersucht der Verliebten (1689 bei Friedrich Lankischens Erben in Leipzig), Der allzeitfertige Briefsteller (1690 bei Johann Theodor Boetius in Leipzig) und Der Durchlauchtigste Arsaces (1691 bei Johann Theodor Boetius in Dresden; Nachdruck von Die Durchlauchtigste Alcestis unter geändertem Titel). Außerhalb Sachsens publiziert Bohse jeweils eine Erstauflagen nur bei Leonhard Zacharias in Augsburg und in Hamburg bei Henning Brendecke, Georg Rebenleins Witwe und Thomas Ross. 195 Ebd. 196 Zum Weißenfelser und Jenenser Umfeld Katja Barthel: Zwischen Provokation und Innovation. Poetische Dynamisierung und (Gesellschafts-)Kritik im galanten Roman um 1700. In: Le Passage – Der Übergang. Esthétique du Discours, Écriture, Histoire et Réceptions croisées / Diskursästhetik, Schreibverfahren, Perspektiven und Rezeptionen. Hg. v. Ingrid Lacheny, Henning Fauser u. Bérénice Zunino. Frankfurt a.M. 2014, S. 33–49. 197 Dunkel: Historisch=Critische Nachrichten, S. 401; auch Benjamin Wedel: Geheime Nachrichten, S. 4 gibt an, dass Bohse sich damals in Jena aufgehalten habe. 198 Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 713. 199 Den jüngeren Hunold/Menantes, zeitgleich in Jena Student, hätten Bohses „Collegia“ stark beeindruckt, Wedel: Geheime Nachrichten, S. 4.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Jahre vergehen zwischen dem Abschluss des Studiums und der ersten Anstellung, zwischen dem 24. und 30. Lebensjahr, in denen Bohse seinen Lebensunterhalt mit wechselnden, häufig gleichzeitigen bzw. sich überschneidenden Beschäftigungen bestreitet. Die schriftstellerische Tätigkeit bietet Gelegenheit, die Einnahmen zu ergänzen; gleichzeitig erlauben es Kontakte zu unterschiedlichen Verlegern vor allem des sächsischen Raums, dass Bohse mit galanten Schriften auf sich aufmerksam macht, was der Popularität seiner Poetikvorlesungen nur zugute kommt. Er ist im akademischen Milieu von Leipzig und Jena präsent und, so darf man vermuten, implizit auch seine Romane. In diese Phase der beruflichen Orientierung fällt (unverhofft) der Durchbruch als galanter Autor mit dem Roman Amor an Hofe (1689, Dresden: Christoph Mathesius). Mit Amor an Hofe landet der 28-Jährige einen immensen Erfolg. Zwischen 1689 und 1720 erscheinen sieben Auflagen.200 Für einen Roman ist dies eine ungewöhnlich hohe Neuauflagenhöhe,201 die bereits erahnen lässt, wie gefragt das Werk bei der Leserschaft gewesen sein muss. Doch die Titelblätter der einzelnen Ausgaben lassen auch einen versteckten Kampf verschiedener Verleger um das Werk erkennen. Die Erstausgabe erscheint 1689 bei Christoph Mathesius (unbek.) in Dresden. Es handelt sich um eine eher kleine Druck-Offizin, dessen Verleger noch nicht lange im Geschäft steht.202 Erst im Vorjahr, 1688, übernimmt Mathesius das Gewerbe von seinem Schwiegervater Christoph Baumann, der seit 1677 als Drucker und Druckerverleger in Bautzen tätig ist, den Betrieb in der Zwischenzeit aber nach Dresden verlegt hatte. Unter der Führung des Schwiegersohns Christoph Mathesius hält sich das Unternehmen allerdings nur sechs Jahre, 1694 wird es verkauft.203 Nach Ansicht Joseph Benzings waren kleinere Druckunternehmen um 1700 mitunter nur fünf bis zehn Jahre im Geschäft, oftmals konnten sie dem Konkurrenzdruck nicht länger standhalten; viele Drucker oder Händler werden dann als Schreiber tätig.204 Wenn Mathesius am Beginn seiner Verlegertätigkeit Bohses Amor an Hofe annimmt, versucht er entweder mit jungen, relativ unbekannten und damit preiswerten Autoren in das Geschäft einzusteigen und ahnt noch nicht, dass er einen zukünftigen Erfolgsautor verlegt. Oder er setzt gerade wagemutig alles auf die Karte populärer Unterhaltungsliteratur, von deren Nachfrage er überzeugt ist. Als Autor ist der 28-jährige Bohse zu diesem Zeitpunkt zwar kein unbeschriebenes Blatt, doch sein Talent liegt offensichtlich im populär-frivolen Bereich der unterhaltsamen Romanliteratur.

200 Ebd.,

S. 719f. der Regel wurden von äußerst beliebten Romanen vier, häufig aber auch nur zwei bis drei Auflagen herausgegeben, Simons: Marteaus Europa, S. 426. 202 Josef Benzing: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Wiesbaden 1982, S. 90f., auch im Folgenden. 203 An den Altenburger Drucker Johann Konrad Rügen (ebd., S. 91). 204 Ebd. 201 In

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

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Dessen ungeachtet lässt sich Mathesius, neu im Geschäft und unternehmungslustig, auf das unsichere Unterfangen ein. Mit „Churfl. Sächs. Gnäd. Privilegio“ gibt er die Erstausgabe von Amor an Hofe (1689) heraus.205 Dass die provokante Schrift überhaupt ein Privileg erhält, dass sie von der Zensur offiziell gebilligt worden sei, ist erstaunlich. Entweder ist das Privileg gefälscht, was im Buchhandel jener Zeit recht verbreitet gewesen sein soll.206 Oder die Kontrollbehörden haben den Text nur unzureichend geprüft. Laut Goldfriedrich konnten in Sachsen Privilegien für mehrere Bücher gleichzeitig in einer Art Sammelbestellung beantragt werden, während in Frankfurt nur einzelne Bücher privilegiert und entsprechend geprüft wurden.207 Es ist vorstellbar, dass „kleine Schriften“ wie der Roman in einer Sammelbestellung nur flüchtig Beachtung fanden, so dass auch eine Publikation wie Amor an Hofe ein Privileg von höchster Stelle erhalten konnte. In jedem Falle scheint Bohses Roman reißenden Absatz erzielt zu haben, denn bereits im Folgejahr, 1690, schiebt Mathesius eine zweite Auflage nach. Nun sucht der Druckerverleger, der laut Auflistung des Codex Nundinarius selbst nicht auf den Buch­messen in Leipzig oder Frankfurt agiert,208 einen Kommissionär. Die zweite Auflage von Amor an Hofe (1690) trägt den Verlagshinweis: „Dresden / druckts und verlegts / Christoph Mathesius. / Frankfurt und Leipzig / zu finden bey Johann Theodor Boetio“.209 Durch den Unterhändler Johann Theodor Boetius, der schon als Leipziger Kleinunternehmer genannt wurde, findet das Werk nicht nur lokal Verbreitung, sondern es kann über die Leipziger und Frankfurter Buchmessen an auswärtige Buchhändler weitervermittelt werden und ein überregionales Publikum erreichen.210

205 Dünnhaupt:

Personalbibliographien, S. 719. Ahasverus Fritsch spricht 1675 von der Praxis fingierter Privilegien. Es sei der „Betrug etlicher Buchdrucker und Buchhändler fürkommen / daß sie auf etliche ihre Bücher diese Worte: Cum Gratia & Privilegio, Da doch keines von ihnen gesucht / weniger erlanget worden / zu Drucken sich lassen gelüsten [...] / unter welchem Schein viel ungereumbte Sachen eingeschleifft und in Druck verfertiget werden“, Fritsch: Tractatus de Typograhis, unpag., Teil II, Cap. V, § VI. Für das 17./18. Jahrhundert gilt dies ebenso, Albrecht Kirchhoff: Versuch einer Geschichte des deutschen Buchhandels im XVII. und XVIII. Jahrhundert bis zu Reich’s Reformbestrebungen. Leipzig: Hinrichs’sche Buchhandlung, 1853, S. 120. 207 Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 172. Aus den wenigen Druckereibüchern um 1700 geht hervor, dass häufig bereits der Drucker die Schriften an die Zensur weiterreichte und dabei größere Sammelbestellungen abgab. So notiert der Leipziger Drucker Immanuel Tietze in seinem Druckereibuch unter eine Sammlung von Schriften (4 Versbände, 1 Arztzettel) für unterschiedliche Kunden: „Pro Censura 1 Thaler, 8 Groschen“; ähnlich in einer anderen Rechnung „pro Expeditione Privilegorum 40 Thaler, Vor Bemühung et reliqua wegen beyder Privilegien 17 Thaler“, Meyer: Druckkosten im 17. und 18. Jahrhundert. In: AGB 6 (1881), S. 276‒279, hier 276f. 208 Im Codex Nundinarius, S. 150‒198 wird Mathesius nicht gelistet. 209 Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 719. 210 Bohse scheint bereits zu diesem Zeitpunkt ein erfolgsversprechender Autor gewesen zu sein, auf den auch Boetius aufmerksam wird und noch im selben Jahr (1690) die Erstveröffentlichung von Bohses Allzeitfertigen Briefsteller auf den Markt bringt. Dies bleibt – neben drei Neuauflagen 206 Schon

98

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Auch für die zweite Auflage will Mathesius ein kursächsisches Privileg erworben haben, das ihm die Vertriebsrechte auf zehn Jahre garantiert und den unrechtmäßigen Nachdruck unterbinden soll.211 Das Titelblatt der Zweitauflage von Amor an Hofe (1690) vermerkt eindeutig, dass Mathesius der Drucker und Verleger ist, während Boetius als Unterhändler oder Kommissionär agiert. Alle Rechte des Vertriebs liegen demnach bei dem Dresdner Verleger Mathesius. Unlautere Machenschaften, vor allem die Missachtung von Messprivilegien (die eigentlich als Instrument des Gewerbeschutzes und zur Unterbindung des Raubdrucks gedacht waren),212 gehören um 1700 indes zur verbreiteten Praxis im Buchhandel. Auch unter Geschäfts­partnern und selbst zwischen Geschwistern wie den konkurrierenden Gleditsch-Brüdern treten derartige Auseinandersetzungen auf.213 Auch Mathesius scheint von seinem Kommissionär übervorteilt worden zu sein. Die dritte Auflage von Amor an Hofe (1691) – bezeichnenderweise ohne Privileg erschienen, denn dieses stand ja de facto bis 1700 Mathesius zu –, kommt 1691 auf den Markt und trägt den Verlagshinweis: „Franckfurt und Leipzig / Bey Johann Theodoro Boetio / und / Johann Heinrich Georgen, Buchh. von Dreßden.“214 Noch neu im Geschäft scheint Mathesius seinen Berufskollegen nicht genau eingeschätzt haben zu können, andernfalls hätte er gewusst, dass er sich mit Boetius auf einen unsicheren Partner einlässt. Boetius gehört zu den kleineren Unternehmern im Buchhandel, die zwar auf den Messen aktiv sind, aber keinen festen Gewerbesitz innehaben. Im Codex Nundinarius erscheint er zwischen 1689 und 1720 mit nur wenigen Titeln fast jährlich wechselnd als Händler aus Leipzig, dann wieder aus Dresden, seine herausgegebenen Schriften tragen häufig den Ortshinweis Frankfurt.215 Der Leipziger Buchhändler und Verleger Thomas Fritsch (1666–1724) beschreibt Boetius als eine Person, die:

des Briefstellers – die einzige Publikation von Bohse bei Boetius, Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 721. 211 Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 173. Die Vergabe von Privilegien ist im Prinzip das einzige Kontrollinstrument gegen den Raubdruck. Ihre Wirksamkeit ist jedoch fragwürdig, da Verleger und Drucker Privilegien häufig missachten (ebd., S. 167f.). 212 Seit dem 16. Jahrhundert vergibt die Frankfurter Buchkommission Kaiserliche Privilegien, die in allen Reichsstädten des deutschen Gebiets gelten, während Privilegien der Landesherren – beispielsweise das Kursächsische Privileg  –  nur in den jeweiligen Territorialstaaten gelten. Zur Privilegienpraxis und Missbrauch um 1700 (ebd.). 213 Unter anderem bezichtigt J. Friedrich Gleditsch seinen Bruder J. Ludwig Gleditsch des unautorisierten Nachdrucks und reicht gegen ihn Beschwerden bei der Leipziger Bücherkommission und dem Dresdner Oberkonsistorium ein, Kirchhoff: Lesefrüchte. In: AGB 15 (1892), S. 225f., 240, 242. 214 Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 719. 215 Zwischen 1689 und 1718 erscheint Boetius jährlich mit ein bis drei, selten sieben Titeln. 1691 meldet er einmalig zwölf Titel, Codex Nundinarius, S. 167–196.

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

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in solchem Zustand lebet, daß er nicht ein A.B.C. Buch, geschweige dieses drucken laßen kan, auch keinen Buchladen hat, sondern nur als auctionator alter Bibliothecen, allhier [in Leipzig] lebet, und dann und wann ein plätgen fingirte Neue Zeitungen trödeln herumtragen läßet.216

Bei der Leipziger Bücherkommission häufen sich Beschwerden gegen Boetius, er ist in mehrere Streitfälle verwickelt. Bereits 1689 gerät er mit Johann Friedrich Gleditsch wegen des Nachdrucks einer religiösen Schrift aneinander.217 1709 kommt es zu einem ähnlichen Vorfall mit Thomas Fritsch, zu diesem Zeitpunkt bereits der drittgrößte Verleger Leipzigs. Es geht um den Nachdruck eines österreichischen Arznei- und Kochbüchleins (Freywillig auff­gesprungener Granatapffel), das beide Unternehmer gleichermaßen nachdrucken wollen, sich gegen­seitig dieses Recht aber streitig machen.218 Vor der Leipziger Bücherkommission entsteht ein Disput, wer von zwei Parteien im Falle eines ohnehin unautorisierten Nachdrucks ausländischer Schriften (wozu auch österreichische Drucke zählen) das Recht habe, dieses nach­zu­drucken. Entschieden wird zugunsten desjenigen, der zuerst zu drucken beginnt.219 Fritsch wirft Boetius, der über ein Privileg verfügt, vor, er hätte sich dieses auf unlautere Weise, nämlich „auf Kosten guter Freunde, die Niemand kenne, auch Boetius selbst nicht“,220 erschlichen, ohne tatsächlich an einer Veröffentlichung interessiert zu sein. Der einflussreiche Verleger diffamiert Boetius als einen jener „Leuthe, die nicht das [V]ermögen haben, ein Buch drucken zu laßen“, sondern lediglich „hernach mit den habenden Privilegio machandiren [Handel treiben] und es gleich-

216 Zit.

nach Kirchhoff: Lesefrüchte. In: AGB 15 (1892), S. 251f. S. 251. Eine weitere Beschwerde gegen sogenannte „Pfuscher und Störer“ liegt 1720 von der Leipziger Buchbinder-Innung an den Leipziger Rat vor, worin sich die Buchbinder über illegal beschäftigte Buchbinder beklagen, die die Zunftordnungen umgehen. In diesem Zusammenhang wird auch Boetius erwähnt: „[I]nsonderheit die verwittwete Magister Riesin und Boetius, auch ein Anderer Namens Kurass dergleichen sind, indem jene von Halle herüber jährlich eine unzählige Menge von gebundenen Bet= und Gesangbüchern auch Schul= und anderen Büchern, Biebeln u. dergl. krieget und allhier damit eine rechte Handlung etabliret, der Letztere aber, der doch vorhin schon ein Buchdrucker und Specereihändler ist, einen Meister Namens Harder von Pegau zu vielen Wochen lang hier bei sich sitzen hat und ihn allerhand Bücher zum Verkauf einbinden lässt“, Ernst Hasse: Zur Geschichte des Papierhandels. In: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels 4 (1879), S. 223f., hier S. 224. 218 Kirchhoff: Lesefrüchte. In: AGB 15 (1892), S. 226, 251f. 219 „[W]eil dergleichen ausländische, oder fremde Bücher, ehe sie von einem aufgeleget werden, gleichsam res nullius sunt, et primo occupanti cedunt [= Dinge sind, die niemandem gehören und dem ersten, der sich mit Ihnen beschäftigt, in den Besitz übergehen], und derjenige, so selbige zuerst aufleget, sich eo ipso [durch sich selbst] das Recht daran aquiriret [aneignet], daß er es als ein Verlags=Buch behalten könne; Maßen dann dieses auch durch eine beständige Landesgewohnheit unter Büchführern also eingeführet ist [Hervorh. u. Übers. K.B.]“ (ebd. S. 244). Zurückgegriffen wird hier auf lateinische Formulierungen aus dem römischen Recht (Justinian); für diesen Hinweis danke ich Prof. Dr. Wolfgang Adam. 220 Zit. nach Kirchhoff: Lesefrüchte. In: AGB 15 (1892), S. 251. 217 Ebd.,

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

sam zu feylen Kauff trödelnd herumbtragen und denen meistbiethenden gegen einen recompens cediren [gegen eine Entlohnung abtreten wollen].“221 Boetius wird, da Fritsch vorgibt, die Auflage bereits gedruckt zu haben, von der Bücherkommission gezwungen, das Privileg wieder herauszugeben.222 Begründet wird diese Entscheidung damit, dass Boetius das Privileg hätte öffentlich insinuieren müssen, was dem allgemeinen Brauch nach jedoch erst zur nächsten Buchmesse im kommenden Frühjahr hätte geschehen können.223 Hier zeigt sich bereits die Willkür, mit der im Buch- und Verlagswesen um 1700 auch von Seiten der Bücherkommission und Kontrollbehörden vorgegangen wird  –  der kleine Buchhändler wird vom einflussreichen Verleger und der Bücherkommission gnadenlos um sein Recht gebracht. Das Privileg wird Boetius kurzerhand entzogen, um es der Konkurrenz (Fritsch) erneut zu verkaufen.224 Dass vor dem Hintergrund willfähriger Eigenmächtigkeit im Buchhandel auch kleinere Verleger wie Boetius zu denselben Mitteln greifen, kann daher kaum verwundern. Dem Dresdner Druckerverleger Mathesius entwendet Boetius, trotz dessen Privilegierung, den erfolgreichen Roman Amor an Hofe und gibt 1691 gemeinsam mit dem Dresdner Buchhändler Johann Heinrich Georgen eine dritte Auflage unter seinem Namen heraus.225 Das Unternehmen von Christoph Mathesius geht in den Folgejahren ein; 1694 verkauft er seine Offizin.226 Scheinbar mag Boetius nun glauben, den absatzträchtigen Roman für sich errungen zu haben, denn unter seinem alleinigen Namen und dem Verlagshinweis: „Dresden, Bey Johann Boetio“ gibt er wenig später eine vierte Auflage von Amor an Hofe (1696) heraus.227 Er gliedert das Werk in zwei Teile, zu dem Bohse sogar ein zweites Vorwort verfasst.228 Ungeachtet dessen, dass Boetius mit der dritten Auflage bereits das Privileg des Erstverlegers Mathesius verletzt hat, gibt die vierte Auflage vor, mit einem erneuten Privileg der kursächsischen Landesregierung versehen worden zu sein. Das Titelblatt trägt den Aufdruck „Mit Churf. Sächs. Gnäd. Privilegio“.229 Die Konkurrenz indes wartet nur die Schutzfrist der Privilegiendauer ab – dann aber, unmittelbar nach Ablauf der zehnjährigen Frist, erscheint in Leipzig ein anonymer Nachdruck des Romans, eine fünfte anonyme Auflage (1706). Schließlich reißen Gleditsch & Weidmann den Roman an sich und geben 1710 die sechste Ausgabe heraus.230 Erst 1720 erkauft oder fingiert Boetius noch einmal ein Privileg und lässt

221 Ebd. 222 Ebd.

223 Ebd.,

S. 252. wurden Privilegien mehrfach vergeben, um die Einnahmen zu steigern, Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 194. 225 Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 719. 226 Benzing: Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts, S. 90f. 227 Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 719. 228 Ebd. Als zweibändiges Werk ließ sich der Roman doppelt verkaufen. 229 Ebd., S. 719. 230 Ebd. 224 Häufig

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

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die siebente und vermutlich letzte Auflage von Amor an Hofe (1720) drucken. Seine Stellung auf dem Buchmarkt kann er damit allerdings nicht mehr ausbauen. Die Verlagsbuchhandlung Gleditsch & Weidmann ist in der Zwischenzeit zu einem marktführenden Unternehmen aufgestiegen und hat sich den erfolgsversprechenden Autor Bohse anderweitig verpflichtet. Boetius scheidet nach den 1720er Jahren aus dem Buchhandel aus, seine Erben führen das Geschäft bis 1743 fort, bis auch sie vom Markt verschwinden.231 3.1.3.6 Autorenbindung: Bohse und der Verlag Gleditsch & Weidmann In der Zwischenzeit hat Bohse/Talander weiterhin bei wechselnden Verlegern publiziert und gelangt seit den 1690er Jahren zu immer mehr Bekanntheit. Mittlerweile ist er Sekretär und Hofpoet in der Residenz Sachsen-Weißenfels; eine Position, die sein Auskommen sichert und ihm Freiraum für die literarische Produktion bietet.232 Mit zunehmender Bekanntheit ist auch die aufsteigende Verlagsbuchhandlung Gleditsch & Weidmann auf den Autor aufmerksam geworden. Während Bohse am Beginn seiner Karriere noch im Verlagsprogramm wechselnder Buchhändler und Verleger erscheint,233 tragen seine Romanpublikationen seit Mitte der 1690er Jahre – in einer Zeit, als Bohse sich beim Publikum bereits einen Namen gemacht hat – überwiegend den Verlagshinweis Gleditsch & Weidmann. Circa 62 Erst- und Nachdruckauflagen von Romanen, Briefstellern oder Verhaltensratgebern lassen Gleditsch & Weidmann zwischen 1692 und 1730 von Bohse drucken;234 im Schnitt sind das ein bis zwei Erst- oder Nachdruckauflagen pro Jahr. Bohses Popularität als Autor ist nicht zuletzt auf die Tätigkeit der Leipziger Verlagsbuchhandlung zurückzuführen; doch auch für die Erfolgsgeschichte des Verlages Gleditsch & Weidmann sind der Autor und seine gut verkaufbaren Romane von Bedeutung. Sowohl Johann Friedrich Gleditsch (1653‒1716) als auch sein jüngerer Bruder Johann Ludwig Gleditsch (1663–1741) werden auf Bohse/Talander aufmerksam. 1692 lässt J. Friedrich Gleditsch Des galanten Frauenzimmers Secretariats=Kunst drucken,235 während J. Ludwig Gleditsch den galanten Autor bei der Verlagsbuch-

231 Paisey:

Buchdrucker, Buchhändler, S. 23. 1691 wird Bohse am Weißenfelser Hof als Sekretär geführt, Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 713. Bohses Tätigkeit am Hof bestand laut Dunkel vor allem darin, die „Singespiele, so bei Hofe aufgeführet worden, zu verfertigen“, Dunkel: Historisch=Critische Nachrichten, S. 401. 233 Vgl. Anm. 194 in Kap. 3.1.3.5 Wechelnde Autor-Verleger-Beziehungen; Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 714–718. 234 Ebd., S. 713‒757. Gelzers Feststellung, Bohse publiziert „15 populäre Romane“ gilt nur bis zur Zeit der Anstellung am Weißenfelser Hof 1691, Gelzer: Nachahmung, Plagiat, Stil, S. 258. 235 Eine Auflage erschien 1692 ohne Orts- und Verlagsangabe in Leipzig, eine zweite im selben Jahr unter dem Verleger Johann Friedrich Gleditsch, vgl. Bestände der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. 232 Seit

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

handlung Moritz Georg Weidmann den Älteren (1658‒1693)236 unterbringt und dort im selben Jahr den Roman Der getreuen Bellamira wohlbelohnte Liebes=Probe (1692) sowie den Briefsteller Getreuer Wegweiser zur Teutschen Redekunst und Briefverfassung (1692) platziert.237 J. Friedrich Gleditsch leitet zu diesem Zeitpunkt die frühere Verlagsbuchhandlung von Johann Fritsch (1635‒1680), bei dem er gelernt und nach dessen Tod, 1681, die Witwe Catharina Magaretha Fritsch geheiratet hat.238 J. Friedrich Gleditsch etabliert sich erfolgreich im Buchhandel, muss das Geschäft jedoch 1693 seinem Stiefsohn Thomas Fritsch (1666–1726) übergeben und gründet eine neue Verlagsbuchhandlung, mit der er zu den ‚Großen‘ in Leipzig aufsteigt.239 Zum dauerhaften Verleger Bohse/Talanders wird jedoch der jüngere Bruder J. Ludwig Gleditsch, der das Potential des galanten Romanautors schnell erkennt und ihn dem Verlag des älteren Bruders gewissermaßen abspenstig macht. Johann Ludwig Gleditsch war 1678 in die Fritsch’sche Buchhandlung unter der damaligen Leitung seines Bruders eingetreten und hatte dort eine sechsjährige Lehre absolviert.240 Bis 1693 bleibt er beim Bruder beschäftigt, sucht aber seit Anfang der 1690er Jahre ein eigenes Betätigungsfeld.241 Er knüpft Kontakte zur Weidmann’schen Verlagsbuchhandlung, mit der J. Friedrich Gleditsch bereits Geschäftsbeziehungen unterhält.242 Im Verlag von Moritz Georg Weidmann d.Ä. (†  1693), der im selben Jahr verstirbt, gibt J. Ludwig Gleditsch einen weiteren Roman von Bohse heraus, Schauplatz der Unglückseeligen Verliebten (1693).243 Im Folgejahr, 1694, heiratet er die Witwe Maria Sacerin Weidmann und übernimmt auf diese Weise mit 31 Jahren die Weidmann’sche Verlagsbuchhandlung. Er baut die Firma

236 Moritz

Georg Weidmann d.Ä. wechselt nach einer buchhändlerischen Ausbildung in Frankfurt als Leiter in die Buchhandlung Richter nach Leipzig, heiratet die Witwe des verstorbenen Besitzers und lässt die Buchhandlung auf seinen Namen überschreiben. Zum ersten Mal erscheint die Handlung M.G. Weidmann im Jahr 1680 in den Messkatalogen, Schmidt: Deutsche Buchhändler, Buchdrucker, S. 1023. 237 Talander [August Bohse]: Der getreuen Bellamira wohlbelohnte Liebes=Probe […], Leipzig: Johann Ludwig Gleditsch u. Moritz Georg Weidmann, 1692; Ders.: Talanders Getreuer Wegweiser zur Teutschen Redekunst und Briefverfassung […], Leipzig: Moritz Georg Weidemann, 1692. 238 Ernst Kelchner: Art. Johann Friedrich Gleditsch u. Johann Ludwig Gleditsch. In: ADB, Bd. 9 (1879), S. 222‒224, hier S. 223. 239 Schmidt: Deutsche Buchhändler, Buchdrucker, S.  322‒324, hier S.  322; Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 202f.; Ausführungen zu Thomas Fritsch, auch in Bezug auf die Erschließung neuer, zumal weiblicher Publikumsschichten bei Koloch: Kommunikation, Macht, Bildung, S. 13‒28. 240 Schmidt: Deutsche Buchhändler, Buchdrucker, S. 322. 241 Ebd. 242 „Leipzig 1686: Johann Friedrich Gleditsch u. M.G. Weidmann“, Codex Nundinarius, S. 163. Für Verlage, die sich etablieren und expandieren wollen, ist die Kolaboration ein geeignetes Mittel, um sich auf dem Markt zu platzieren. Gleditsch kooperiert auch mit anderen Leipziger Verlegern, etwa Johann Groß oder seinem Stiefsohn Thomas Fritsch u.a. (ebd., S. 161, 183). 243 Talander [August Bohse]: Schauplatz Der Unglückseligen=Verliebten […]. Leipzig: Moritz Georg Weidmann, 1693.

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

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unter dem Namen „Johann Ludwig Gleditsch und Weidmann“ zu einem rentablen Unternehmen aus, arbeitet seinen Stiefsohn Moritz Georg Weidmann den Jüngeren (1686‒1743) in das Geschäft ein und übergibt diesem schließlich 1713/14 die Führung.244 Weitere vier Jahre bleibt J. Ludwig Gleditsch als Buchführer für Weidmann tätig, bis er sich 1717 zur Ruhe setzt. Seit den 1690er Jahren entwickelt sich zwischen beiden Gleditsch-Brüdern eine rüde Konkurrenz, die gelegentlich bis vors Gericht führt.245 Sobald J. Ludwig Gleditsch seine Stellung in der Weidmann’schen Buchhandlung gefestigt hat, wirbt er dem Bruder den vielversprechenenden Romanautor Bohse/Talander erfolgreich ab. Zwischen Januar und August 1696 bietet er Bohse die Herausgabe einer monatlich erscheinenden Zeitschrift an, Des Französischen Helicons Monat-Früchte [...] überreichet […] von Talandern.246 Für Bohse bedeutet dies eine kontinuierliche redaktionelle Tätigkeit, vermutlich auch ein attraktives Zusatzeinkommen. Seine Romane erscheinen nun, von wenigen Einzeltiteln und mutmaßlichen Raubdrucken abgesehen, überwiegend im Verlag Gleditsch & Weidmann und damit unter der Ägide Johann Ludwigs.247 Zwischen dem Leipziger Verlag Johann Ludwig Gleditsch & Weidmann und dem nunmehr bekannten Autor Bohse/Talander entsteht eine dauerhafte Autor-Verleger-Beziehung. Vereinzelt versucht J. Friedrich Gleditsch den erfolgreichen Autor noch einmal in sein Boot zu holen, doch abgesehen von einem Erstdruck, Bohses Neu=Erleuchteten Briefsteller (1697), gelingt dies nicht. Es erscheinen lediglich Nachdrucke des Briefstellers (1702, 1709, 1716) sowie Des Galanten Frauenzimmers Secretariats=Kunst, die J. Friedrich Gledisch 1696 und 1703 gemeinsam mit seinem Stiefsohn Thomas Fritsch erneut auflegt.248 Dass J. Friedrich Gleditsch an Bohses Schriften Interesse gehabt haben muss, zeigt sich indes nicht nur an diesen Neuauflagen, sondern auch daran, dass er Johann Theodor Boetius 1701 kurzerhand Bohses Allzeitfertigen Briefsteller entreißt, den der Autor ursprünglich 1690 bei Boetius veröffentlicht hatte und von dem J. Friedrich Gleditsch 1701, 1708

244 Schmidt:

Deutsche Buchhändler, Buchdrucker, S. 322‒324. Schmidt nennt als Übergabedatum an Weidmann das Jahr 1714. Laut Paisey habe J. Ludwig Gleditsch die Firma seit 1708 gemeinsam mit seinem Stiefsohn Moritz Georg Weidmann d.J. geführt und ihm 1713 die Geschäftsführung übergeben, bleibt aber bis 1717 in der Firma aktiv, Paisey: Buchdrucker, Buchhändler, S. 79. 245 Unter anderem bezichtigt J. Friedrich Gleditsch seinen Bruder J. Ludwig des unautorisierten Nachdrucks und reicht gegen ihn Beschwerden bei der Leipziger Bücherkommission und dem Dresdner Oberkonsistorium ein. J. Ludwig Gleditsch belastete daraufhin den Bruder desselben Vergehens, Kirchhoff: Lesefrüchte. In: AGB 15 (1892), S. 225f., 240, 242. 246 Talander [August Bohse]: Des Französischen Helicons Monats=Früchte / Oder getreue Ubersetzung und Auszüge allerhand curiöser und auserlesener Französischer Schrifften / Von Staats=Welt=und Liebes=Händeln / wie auch andern Moralischen/Geographischen und dergleichen lesenswürdigen Materien / zu vergnönnter Gemüths=Ergötzung überreichet […] von Talandern. Leipzig: Gleditsch, 1696‒1703. 247 Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 722–748. 248 Ebd., S. 724f.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

und 1713 drei (höchstwahrscheinlich unautorisierte) Nachdruck-Auflagen herausgibt.249 Weitere Titel von Bohse finden sich bei J. Friedrich Gleditsch jedoch nicht, der stattdessen dem jüngeren Bruder Johann Ludwig Gleditsch die Treue hält. Wie eng der Ausbau, aber auch die Konkurrenz verlegerischer Netzwerke im späten 17. und beginnenden 18. Jahrhundert im Rahmen familiärer Bande und privater Kontakte verlief, wodurch nicht allein buchhändlerisches Know-How, sondern auch Autoren und deren Schriften transferiert werden, lässt sich an diesen Verlegerbiografien exemplarisch nachvollziehen. Allerdings bauen Buchhandelsfamilien wie die Fritschs, Weidmanns und Gleditschs ihre Stellung als erste „Großverleger“250 nicht durch populäre Romane aus. Die Nachwelt kennt diese Buchhändler vor allem als Verleger und Publizisten, die als wichtige Multiplikatoren (früh-)aufklärerischen und religions(-kritischen) Schrifttums auftreten und den Messestandort Leipzig über die Grenzen Deutschlands hinaus berühmt machen. Im Verlag J. Ludwig Gleditschs und Moritz Georg Weidmanns finden sich Autoren wie Samuel von Pufendorf, Christian Thomasius, Christian Weise, Veit Ludwig von Seckendorff, aber auch ausländische Autoren wie François de La Rochefoucauld oder John Barclay.251 Johann Fritsch, J. Friedrich Gleditsch und Thomas Fritsch geben die Werke von Athanasius Kircher, Christian Wolff, Johann Heinrich Zedler, Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, Dietrich Hermann Kemmerich, Johann Arnold u.a. heraus.252 Jene Verleger werden, wie Goldfriedrich es ausdrückt, als Buchhändler wahrgenommen, „die zuerst eine, kurz gesagt, neuzeitliche Popularität genossen.“253 Unter das Bildnis von J. Friedrich Gleditsch setzte einer seiner namhaften Autoren, der Hamburger Rektor Johann Hübner, Verfasser der schon erwähnten Kurtzen Fragen der Geographie, die Worte: „Es ist in Teutschland auch kein solcher Ehren=Mann, Der auf den Handel das, was Gleditsch hat gethan.“254 Und Kelchner resümiert, Gleditschs Verlag habe einen „so großen Ruf“ genossen, „daß, was mit seiner Firma erschien, schon dadurch für ein gutes Buch galt.“255 Vor dem Hintergrund der retrospektiv kanonisierten Literatur der Aufklärung wurde der Anteil populärer Schriften und galanter Romane marginalisiert und aus den Firmengeschichten jener aufstrebenden Verlage ausgeblendet. Sicherlich macht der galante Roman um 1700 einen verschwindend geringen Anteil im deutschen Buch-

249 Boetius

erhält 1690 ein Privileg für den Allzeitfertigen Briefsteller, das 1700 ausgelaufen ist, so dass das Werk auch von offizieller Seite nicht mehr als geschützt gilt (ebd., S. 721f.). 250 Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 204f.; Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 97. 251 Barclays Argenis, 1626 von Martin Opitz ins Deutsche übersetzt, erscheint 1700 als eine Übersetzung aus dem Lateinischen von August Bohse/Talander, Exemplar in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Sign.: 8 Art.lib.IX,65. 252 Vgl. Bestände der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. 253 Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 204. 254 Zit. nach ebd. 255 Kelchner: Art. J.F. u. J.L. Gleditsch. In: ADB, Bd. 9 (1879), S. 223.

3.1 Der Markt – Tausch- und Messbuchhandel im Umbruch

105

handel aus und gilt immer noch als Nebenprodukt. Dennoch erkennen wendige Verleger den finanziellen Vorteil sowie das Innovations- und Zukunftspotential populärer Schriften und fördern deren Herstellung und Vertrieb. Titellisten, mit denen Verleger für Romane galanter Autoren aus ihrem Sortiment und damit für den eigenen Verlag werben, lassen den Schluss zu, dass jene Publikationen als wichtiger Bestandteil des eigenen Verlagsprogramms wahrgenommen wurden. Johann Ludwig Gleditsch hängt an Bohses Romane Ariadne (1699) und Letztes Liebes= und Helden=Gedicht (1706) Titellisten seines Verlags an: Verzeichniß aller derjenigen Schrifften / welche Mr. Talender [sic] in den Druck heraus gegeben / und von Johann Ludwig Gleditschen Buchhändlern in Leipzig verlegt / und bey demselben zu finden seynd.256 Auch von anderen Verlegern um 1700 sind derartige Titellisten bekannt ‒ so wirbt Christian Liebezeit in Hamburg nicht nur für religiöse und gelehrte Schriften, sondern auch für die umstrittenen Romane Celanders, Selamintes, Behmenos, Menanders und Philopatores und exponiert damit das eigene Verlagsprogramm.257 Freilich sollte dieser Bereich buch­händlerischer Interessen in späteren Jahrzehnten möglichst in Vergessenheit geraten. Ein nach dem Tod von Johann Ludwig Gleditsch herausgegebenes Ehrengedächtnis (1741), das die Arbeit und das Ansehen des Buchhändlers würdigt, macht die einseitige Konzentration der Nachwelt auf gelehrtes und erbauliches Schrifttum deutlich, mit dem der Verleger nach seinem Tod ausschließlich in Verbindung gebracht wird: Richtet ein Buchführer nun Dahin sein Denken und sein Thun, Gelehrte Bücher zu verlegen, Auch Bücher, die erbaulich sind, So muß fast jedes Menschenkind Von ihm die beste Meinung hegen. Ich stelle hierbei billig mir Den seligen Herrn Gleditsch für, Sein Absehn ging auf beide Stücke: Was den Gelehrten lieb und rar,

256 Talander:

Ariadne, Anhang unpag. [S. 893‒896]. Der Roman enthält drei Titellisten, mit denen Gleditsch für Bohses Romane, seine Ratgeberliteratur sowie „andern Romainen, welche gleichfalls bey diesem Verleger zu finden [sind]“, wirbt. Eine weitere Titelliste aller bei Gleditsch veröffentlichten Werke von Bohse erscheint – auf dem Titelblatt explizit angekündigt – 1706 in Ders.: Talanders / Letztes / Liebes= und Helden=Gedichte / der galanten Welt / Zu vergönnter Gemüths=Ergötzung / aus schuldigster Erkenntnis vor die gnädige und gütige Aufnahme seiner bißherigen / Romanen überreichet / und nebst / Einem Verzeichniß aller seiner im Druck / befindlichen Schriften ans Licht / gegeben / Im Jahr 1706. / Zu finden bey Johann Ludwig Gleditsch / in Leipzig, zit. nach Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 745. 257 Celander: Celanders Verliebte= Galante / Sinn= Vermischte und Grab=Gedichte. Hamburg und Leipzig / Bey Christian Liebezeit / Anno 1716, Verzeichniß einiger Bücher welche von Christian Liebezeit / verleget worden, unpag. [beigefügt zwischen Titelblatt und Vorrede].

106

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Was Christen recht erbaulich war, Ließ er mit allen Freuden drucken. Er trieb den Handel lange Zeit Mit Segen wurd er auch erfreut, Denn Gottes Herz war ihm gewogen; Von einem Buche hat er oft Wie er vorhero nicht gehofft, Recht reichlichen Profit gezogen. Nun, teurer Gleditsch, ziehe hin, Die Ehren=Kron ist Dein Gewinn, […] Du bist zwar tot, doch Fama spricht: Gleditschens Ruhm vergehet nicht In Büchern muß sein Name leben.258

Der Nachruf würdigt allein zwei Bereiche: die Herausgabe und den Handel mit gelehrten und theologisch-erbaulichen Schriften. Der gesamte Bereich galant-populärer Unterhaltung – Romane und Texte „zur vergönnten Gemütsergötzung“, darunter ein nicht unerheblicher Anteil unautorisierter Nachdrucke –, finden im Totennachruf keine Erwähnung. Im expandierenden, doch ungeordneten Buchhandel um 1700, zu einem Zeitpunkt, als sich der Roman gerade etabliert und Kanonbildung oder literaturästhetische Kategorien noch nicht streng zwischen ‚anspruchsvoller‘ und ‚trivialer‘ Belletristik trennen, ist allerdings durchaus unklar, mit welchen Verlagsartikeln ein rentables Geschäft zu machen sei. Dementsprechend offen und flexibel handeln auch Buchhändler und Verleger oder wie es der Nachruf positiv hervorhebt: „Von einem Buche hat er oft / Wie er vorhero nicht gehofft / Recht reichlichen Profit gezogen.“259 Eine Geschichte des galanten Romans ist ohne die Verlagspraxis weltlich und populär orientierter Buchhändler und Verleger nicht zu schreiben. Indem Produzenten und Distribuenten nach und nach gewillt sind, Romane deutscher Autoren in ihre Sortimente aufzunehmen, schaffen sie die strukturellen Voraussetzungen dafür, dass eine deutschsprachige Romanproduktion respektive eine narrative Unterhaltungsliteratur im Buchhandel um 1700 überhaupt Fuss fassen kann. Erst wenn Verleger und Händler bereit sind, Romane zu produzieren und zu vertreiben, bieten sie Autoren die Möglichkeit, die Gattung zu bedienen, und Lesern wie Leserinnen sie zu rezipieren. Galante Autoren profitieren von der Konkurrenz verschiedener Verleger. Mangelnde Urheberrechtsbestimmungen und defizitärer Rechtsschutz, anonyme und anonymisierende Strukturen einer Raubdruckökonomie sowie geringe Herstel-

258 Zit.

nach Schmidt: Deutsche Buchhändler, Buchdrucker, S. 323.

259 Ebd.

3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane

107

lungskosten steigern die Produktion und Zirkulation galanter Romane, die – laufen sie gut  –  ungehindert nachgedruckt und verbreitet werden. Mit dem Roman steht potentiell ein neues Medium zur Verfügung, auf das sich die poetische Produktion richten kann und das zugleich Raum für die Selbstpräsentation der Autoren bietet. Bevor nach geschlechterspezifischen Aspekte des galanten Romans und antizipierten weiblichen Leserkreisen gefragt wird, soll zunächst untersucht werden, wie sich deren Verfasser – junge studentische Autoren – selbst präsentieren und inszenieren.

3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane Unser Leben hat auch seine Jugend / wie das Jahr seinen Frühling; und es ist nicht allen gegeben / von seiner Wiege an einen Sauertopff zu agiren.  (Talander 1692)

Wenn weiblichkeitszentrierte galante Romane von jungen Männern verfasst und zunächst von einem jungen männlichen Publikum gelesen werden, stellt sich die Frage, wie dieses männliche Milieu und dessen Autoren zu beschreiben sind. Mit August Bohse alias Talander kamen wir bereits auf einen der bekanntesten galanten Autoren zu sprechen, der während seiner Studienzeit beginnt, Romane zu verfassen und dem es gelingt, sich erfolgreich als Romanautor zu profilieren (Kapitel 3.1.3.6).260 Obwohl Bohse zum Zeitpunkt seiner höchsten Popularität das Studium längst beendet hat und bereits Anfang, Mitte 30 ist, verkörpert er in besonderem Maße das Stereotyp des jungen (studentischen) Autors, da er sich noch lange Zeit nach dem Magisterabschluss als studentischer Verfasser stilisiert (Kapitel 3.2.2.1). In der deutschsprachigen galanten Romantradition nimmt Bohse eine Schlüssel- wie Sonderstellung ein. Er prägt den Typus des jungen galanten Autors, der während oder kurz nach der akademischen Ausbildung Romane und populäre Schriften veröffentlicht und sich vom Autortypus des poeta doctus dadurch unterscheidet, dass er nicht für ein gelehrtes Publikum schreibt, sondern zum eigenen „Vergnügen“ bzw. zur

260 Die

bisherigen Ergebnisse zu Bohse/Talander, z.B. bei Gelzer, Rose, Florack u. Singer, Kaminski, Wiggin, können hier nur auf wenige Vorarbeiten zurückgreifen, u.a. Ernst Schubert: August Bohse, genannt Talander. Ein Beitrag zur Geschichte der galanten Zeit in Deutschland. Breslau 1911; Hermann Tiemann: Die heroisch-galanten Romane August Bohses. Diss., Kiel 1932; Lieselotte Brögelmann: Studien zum Erzählstil im ‚idealistischen‘ Roman von 1643‒1733 mit besonderer Berücksichtigung von August Bohse. Diss., Greifswald 1939; Elizabeth Brewer: The Novel of Entertainment during the Gallant Era. A Study of the Novels of August Bohse. Bern 1983.

108

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

„vergönnten Gemütsergötzung“ der Leserschaft.261 Für nachfolgende Autorengenerationen nimmt Bohse eine Art Vorbildfunktion ein, da er mit seinen Texten und der Selbststilisierung als studentischer Autor einen Anreiz schafft, durch den sich andere junge Männer animiert fühlen können, ebenfalls als Romanautoren tätig zu werden. In der Galanterieforschung haben vor allem Olaf Simons, Florian Gelzer und Dirk Rose auf die Bedeutung studentischer Akteure und Universitätslehrer für die Verbreitung und Popularisierung galanter Verhaltens- und Kommunikationsformen im deutschen Raum hingewiesen.262 Damit haben sie den Blick der Forschung auf ein universitär-akademisches Milieu gelenkt, wobei sie allerdings auf sehr unterschiedliche Akteursgruppen gestoßen sind. Während Simons junge Männer und (ehemalige) Studenten als Autoren und Leser galanter Romane identifiziert, deren Gattungspraxis sich häufig in „freizügiger“ Weise dem „privaten Leben der Studenten“ widmet,263 primär in einem Bereich satirischer und erotischer Frivolität zu verorten sei und mit einer ‚seriösen‘ poetischen Beschäftigung nichts gemein zu haben scheint, fokussiert Gelzer auf Universitätsprofessoren und Gelehrte wie Christian Thomasius (1655–1728) und damit auf Autoren, die sich der Gattung theoretisierend zuwenden. Im Gegensatz zu Simons betont Gelzer, dass der „deutschsprachigen Galanteriebewegung […] [v]on Anfang an […] der libertine Charakter einer moralfreien Salonerotik“ fehle,264 denn im Rekurs auf die preziöse Romantradition französischer Autorinnen (insbesondere Scudéry) verortet Thomasius den Roman „im Spannungsfeld von französisch-politischer Gesellschaftsethik und rhetorischer Sprachpflege“.265 Allerdings räumt Gelzer insbesondere mit Blick auf Hunolds Schriften ein, dass „theoretischer Anspruch und Erzählpraxis in zum Teil flagrantem Widerspruch stehen“.266 Rose wiederum erkennt in jungen Männern und Studenten die Verfasser und Leser galanter Schriften, zu deren Publikum auch Frauen zählen.267 Besonders unter Akteursgruppen mittlerer Schichten, die an einem sozialen Aufstieg interessiert seien, d.h. unter „sozialen Aufsteigern“, findet der galante Roman „besondere Ressonanz“, womit Rose vor allem bürgerliche Jungakademiker meint.268 261 Zum

Typus des poeta doctus, Gunter E. Grimm: Vom poeta doctus zum Volksdichter? Bemerkungen zum Selbstverständnis deutscher Schriftsteller im 18. Jahrhunderts. In: Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt. Hg. v. Siegfried Jüttner u. Jochen Schlobach. Hamburg 1992, S. 203–217. Zu delecare/Vergnügen vgl. Kap. 3.3.2.3 Wirkungskonzept des Lasters: Vergnügen und Nutzen der weiblichen Romanlektüre. 262 Simons: Marteaus Europa, S. 295–349; Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 59, 67; Ders.: Konversation und Geselligkeit, S. 506; Rose: Conduite und Text, S. 57, 167f. 263 Simons: Marteaus Europa, S. 297. 264 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S.  68, 73. Hier wäre zu diskutieren, ob die preziöse Salonkultur als „moralfrei“ zu charakterisieren sei. 265 Ebd., S. 1f. 266 Ebd., S. 24. 267 Rose: Conduite und Text, S. 168. 268 Ebd., S. 167.

3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane

109

Für eine genderorientierte Untersuchung ist die Frage nach der internen Differenzierung der Gruppe männlicher Produzenten und deren sozialer Verortung von maßgeblichem Interesse. In der Forschung wurde bisher vernachlässigt, dass mit (ehemaligen) Studenten und gelehrten Professoren sehr unterschiedliche Akteursgruppen der Universitäten und Akademien auf den Roman zugreifen. Es ist zu vermuten, dass sich dies auch im Umgang mit der Textform und ihrer Funktionalisierung wider­ spiegelt. Abgelehnt wird der Roman fast durchgängig von religiös-theologischer Seite – Geistliche polemisieren rigoros gegen die Gattung.269 Doch auch das Lager der Romanbefürworter ist in sich heterogen. Gelehrte bzw. Professoren verfassen in der Regel selbst keine Romane, sondern beschäftigen sich theoretisch mit der Gattung. Junge Autoren hingegen schreiben die Texte, wobei sie die Romanpraxis ebenfalls nutzen, um sich poetisch-reflektierend mit der Gattung auseinanderzusetzen (Kapitel 3.4). Thomasius macht durch seine Universitätsvorlesungen und Zeitschriftenprojekte die Galanterie und den (preziösen) Roman unter anderem im studentischen Milieu bekannt. Wir werden auf Thomasius’ Konzept des ‚nützlichen und zugleich vergnüglichen‘ Romans als Lehrbuch einer galanten Conduite zu sprechen kommen (Kapitel 3.3.2.2) und verfolgen, wie junge Autoren solche Konzepte aufnehmen, sie aber zugunsten eines satirisch-scherzhaften Vergnügens, einer Poesie zwischen „Scherz und Ernst“ modifizieren. Mit den theoretischen Vorstellungen von Professoren oder etablierten Autoren muss dies nicht viel gemein haben, selbst wenn sich jene auch auf Scherz und Ernst beziehen (Thomasius, Christian Weiße). Gelzer betont, dass die „Herkunft der galanten Prosa aus und ihre Verankerung in der galanten Sprachtheorie […] meist komplett ignoriert“ wurde,270 weswegen er dieses Desiderat anhand von Thomasius aufgearbeitet hat. Allerdings führen variable Auffassungen der Gattung zu einer Vielzahl an Romanvariationen, die sich zweifellos auch im Bereich frivoler Satire verorten, wie Simon dies rekonstruiert hat.271 Kurz, mit Gattungsvorstellungen gelehrter Professoren muss sich die Romanpraxis junger Autoren nicht decken. Die Diversität von Romanpraxis und Romankonzeption(en), mithin das konstitutive Wechselspiel von Gattungspraxis und Gattungtheorie (Borgstedt),272 lässt sich meines Erachtens unmittelbar auf die heterogene Akteursstruktur im universitär-akademischen Milieu zurückführen. Unterschiedliche Akteure – studentische Autoren und gelehrte Professoren – greifen gleichermaßen auf die Gattung zu, definieren und prägen sie aber in unterschiedlicher Weise. Hierzu einige kontex­ tualisierende Anmerkungen.

269 Heidegger:

Mythoscopia Romantica, S. 66, 71–73. Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 81. 271 Simons: Marteaus Europa, S. 295–349. 272 Kap. 2.1 Gattungsproblematik und Gattungsdynamik. 270 Gelzer:

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

3.2.1 Vermittlungsinstanz Universität Über Universitätsprofessoren wie Christian Thomasius finden die Galanterie und der (preziöse) Roman unter anderem Eingang in das soziale Milieu junger Akademiker. 1689 kündigt Thomasius an der Universität Leipzig Vorlesungen in Praktischer Philosophie (Philosophiam Practicam) an, mit denen er, so Gelzer, das Naturrechtsdenken einer Neusystematisierung unterzieht.273 Thomasius Ausführungen zum decorum (der Wohlanständigkeit) und der bienséance (gutes Verhalten) stellen in Aussicht, die Studenten innerhalb von drei Jahren zu ‚nützlichen‘ Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen.274 In diesem Zusammenhang findet auch eine Rezeption des französischen Galanteriediskurses statt, wie Thomasius’ Vorlesungsankündigung zeigt: Uber dieses aber ist in der Welt noch was besonders / das […] dem Thun und Lassen der Menschen eine gemeine Richtschnur ist / absonderlich aber Polite, Welt=kluge und höffliche Leute von plumpen / groben und ungeschickten Tölpeln absondert. Dieses wird von denen Lateinern Decorum, von denen Frantzosen Galanterie genennet. In der Teutschen Sprache aber finde ich kein Wort / das den genium [das Wesen] dieser Sache recht exhaurirte [ausschöpfte].275

Thomasius’ Schwierigkeit, für die Galanterie bzw. die preziöse Variante des decorums (des „geselligen Miteinanders“)276 überhaupt einen deutschen Begriff zu finden, verweist bereits auf die konzeptionelle Offenheit, die den Diskurs um das Galante zu jener Zeit prägt. Während sich der galante Diskurs in Frankreich im Umfeld der preziösen Salons und in einem adlig-aristokratischen Milieu entfaltet, das durch Frauen geprägt ist, sind es ‒ so Gelzer ‒ in Deutschland zunächst „zu einem großen Teil [bürgerliche] Universitätslehrer, welche die Konzeptionen der französischen Verhaltensliteratur in eine Systematisierung zu überführen suchen.“277 Dem Roman kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Schlüsselstellung zu, denn preziöse Autorinnen nutzen ihn als Medium, um Formen des geselligen Miteinanders in der Literatur, d.h. in der fiktionalen Rede, zu gestalten: „Scudérys Romane […] zeichnen das Bild einer Kultur der zivilisierten Distanz und der erotischen Sublimation, […] im Dienste der Distinktion und Verfeinerung“.278 Der Roman dient nicht nur der Unterhaltung, sondern er vermittle zugleich „verhaltenspragmatische Konzepte“, die laut Gelzer „gleichsam den Hintergrund und das Substrat der galanten litera-

273 Gelzer:

Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 51–60. S. 52f. 275 Christian Thomasius: Christian Thomas eröffnet Der Stuierenden Jugend Einen Vorschlag / Wie er einen jungen Menschen […] binnen dreyer Jahre […] zu informiren gesonnen sey [1689], zit. nach ebd., S. 53. 276 Gelzer: Konversation und Geselligkeit, S. 497. 277 Ebd., S. 506. 278 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteurer, S. 60; Büff: Ruelle und Realität, S. 218; Steigerwald: Galanterie als Kristallisations- und Kreuzungspunkt, S. 67. 274 Ebd.,

3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane

111

rischen Produktion“ bilden.279 Grundsätzlich steht Thomasius der Romanproduktion positiv gegenüber und befürwortet sie, denn auch in Deutschland könne der Roman genutzt werden, um eine sittliche und intellektuelle Kultivierung zu befördern. Einen kreativen, auch abweichenden Umgang mit der preziösen Tradition regt Thomasius indes selbst an, wenn er „die Konzepte der idealen Konversation und Geselligkeit, wie sie bei Scudéry beschrieben werden, im Rahmen umfassender decorum-Diskussionen in das System des Naturrechts einzupassen“ versucht und sie damit bereits variiert.280 Thomasius modifiziert preziöse Kommunikations- und Verhaltensideale, um eine allumfassende Freundschaftsethik zu entwerfen, die eine gesellschaftlich-soziale Einflussnahme des Einzelnen ermöglicht, ohne mit dem (religiösen) Vorwurf des egoistischen Eigennutzes oder der Selbstliebe (philautia) verbunden zu sein.281 Ein situationsangepasstes, höfliches und rhetorisch geschmeidiges Auftreten erlaubt es dem Galanten, persönliche Interessen zu verfolgen und die Gunst der sozialen Umwelt zu gewinnen, d.h. der Galante agiert nicht gegen das Kollektiv, sondern er bemüht sich im Rahmen geselliger Interaktion um soziale Akzeptanz, wodurch er die Chancen, persönliche Interessen durchsetzen zu können, erhöht (Kooperation). Zu diesem Zweck setzt er Kommunikations- und Verhaltenskompetenzen flexibel ein. In Bohses Liebeswürdiger Constantine (1698) wird sich dies in einer höflichen „Verstellungs=Kunst“282 der Protagonistin äußern (Kapitel 4.2). Selbstredend zielt Thomasius Decorum- oder Galanteriekonzeption nicht auf eine profane Verstellungskunst oder Täuschung – erst recht nicht durch Frauen –, sondern im Sinne einer „privaten Klugheitslehre“ wird damit eine politisch-prudentistische Logik des „Überlebens am Hofe“ kritisiert und zu einer allgemeinen Freundschaftsethik umcodiert, die als „umfassende Verhaltenslehre die soziale Kohäsion […] zum Endzweck hat.“283 Getragen wird Thomasius Ideal des geselligen Miteinanders von Vorstellungen wie Höflichkeit, Affektdiszipinierung, Gleichheit, Freundschaft, Rücksicht und allgemeine (Menschen-)Liebe:

279 Gelzer:

Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 70. „Dass sich Thomasius […] nicht nur mit den theoretischen französischen Lehren zur galanten Conduite, sondern ebenso mit den literarischen Mustern beschäftigt hat, ist bekannt. […] Die Romane der französischen Preziösen bilden in zweierlei Hinsicht einen versteckten Bezugspunkt zur Ethik und den Decorumsvorschriften des Thomasius: Zum einen wird das in den Romanen vorgeführte Geselligkeitsideal als idealtypisches Beispiel der Liebesethik des Thomasius benutzt; zum anderen steht die Liebeskonzeption und -kasuistik der Preziösen seiner naturrechtlichen Freundschaftsethik Pate. Der Einfluss der Romane Scudérys […] reicht weit tiefer in die Fundamente der Liebes- und Freundschaftsethik des Thomasius“ (ebd., S. 60f.). 280 Gelzer: Konversation und Geselligkeit, S. 493f. 281 Ebd., S. 500, 506; Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 89f. 282 Talander [August Bohse]: Liebenswürdige Constantine, Andere Vorrede, unpag. [A 20b]; weiterführend Kap. 3.4.2.2 Die Protagonistin als Medium der Sitten- und Gesellschaftskritik. 283 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 56.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

[D]aß man mit einer gemäßigten Höffligkeit jederman begegnet; daß man etlicher Dinge die zwar nicht wider die gesunde Vernunfft seyn / aber doch insgemein für schädlich gehalten werden / sich enthält / ist ein Zierrath eines Menschen / der die Gemüths=Ruhe besitzet / weil diese Dinger zum wenigsten ein gute Ordnung in der gemeinen bürgerlichen Gesellschafft machen / auch […] weil man allen allerley wird / man Gelegenheit überkommen wird / daß sie sich mit uns zu vereinigen trachten.284

Wie Gelzer überzeugend dargestellt hat, greift Thomasius auf Scudérys Liebeskonzeption zurück, die als „anspruchsvoller Minnedienst“ die Frau zur „zivilisierenden Lehrmeisterin“ preziöser Sozial- und Geselligkeitsformen erhebt, und transformiert die preziöse Liebesethik in eine allgemeine „Theorie der Freundschaft qua Tugend“.285 Indem „die Liebe“ als allgemeiner Affekt der Freundschaft gilt, wird sie zum Modus des geselligen Miteinanders „alle[r] Mitmenschen“.286 Stärker als im preziösen Modell, wo das Konstrukt der amitié tendre eine Zusammenführung der Geschlechter unter der Bedingung der erotischen Sublimationslogik (Keuschheitsverdikt) anregt, gleichzeitig aber weiterhin eine geschlechtersegregierende Struktur impliziert (nämlich die Dominanz der Frau über den Mann), wird die „Liebe“ bei Thomasius zum geschlechterübergreifenden „allgemeinen Affekt der Freundschaft“. Die Semantik der geschlecht­lich konnotierten „Liebes“-Beziehung zwischen Mann und Frau tritt in den Hintergrund. Als Überlegungen, die sich auf die „grundsätzliche Beschaffenheit der Natur des Menschen“ beziehen,287 verschwimmen in Thomasius’ Freundschaftsethik die geschlechter- und standesspezifischen Konturen der preziösen Liebeskasuistik. Die Liebe gerät zur allumfassenden Freundschaft, „die Freundschaft wiederum ist nach Thomasius eine Art der vernünftigen Liebe“288 und soll als Grundlage der „guten Ordnung der gemeinen bürgerlichen Gesellschaft“ dienen,289 d.h. sie betrifft gehobene und mittlere Stände, männliches und weibliches Geschlecht gleichermaßen. Von jungen studentischen Akteuren werden Thomasius’ Ideen zur Galanterie adaptiert und weiterführend modifiziert. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der soziale und diskursive Ort, von dem aus in Deutschland Diskussionen um galante Verhaltens-, Kommunikations- und Liebeskonzepionen geführt werden und sich durch die Gestaltung im Roman multiplizieren – nämlich auch ausgehend von den Universitäten und ihren sozialen Nebenschauplätzen. Zu den Akteuren dieses Umfeldes zählen nicht nur gelehrten Professoren, sondern eben auch junge Akademiker. Dass galante Romane Eingang in das studentische Milieu finden, zeigen Pu-

284 Ebd.

285 Ebd.,

S. 34–67, hier S. 67; ferner Gelzer: Konversation und Geselligkeit, S. 506. Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 67; Ders.: Konversation und Geselligkeit, S. 506. 287 Ebd., S. 495. 288 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 59. 289 Ebd., S. 67. 286 Gelzer:

3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane

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blikationen wie Der Verliebte Studente (1709),290 Amor auf Universitäten (1710)291 oder Betrüglicher Courtesie-Spiegel / Des Galanten Academischen Frauenzimmers (1714).292 Frontispize einiger Romane exponieren studentische Figuren; fiktionale Handlungsorte referieren auf mitteldeutsche Universitätsstädte wie Leipzig (Lindenfels, Lindopolis), Jena (Jenona, Salinde, Silamindo) oder Halle (Salaugusta, Salathen, Friedrich=Stadt).293 Die vorliegende Studie schlägt daher vor, der Transformation des galanten Diskurses im akademischen Milieu junger Autoren weiter nachzugehen. Im Gegensatz zu Simons, Gelzer und Rose betont Jörn Steigerwald den höfischaristokratischen Einfluss auf galante Verhaltens- und Kommunikationsformen, den er mit der Orientierung an Frankreich und der Verortung der (preziösen) Galanterie in der französischen Aristokratie begründet.294 Damit macht Steigerwald auf eine andere Besonderheit des galanten Diskurses aufmerksam, nämlich dass galantes Verhalten und Kommunizieren stark durch höfisch-aristokratische Habitusformen geprägt ist, obwohl sich die Galanterie nicht ausschließlich auf gehobene Ständestrukturen beschränkt. Steigerwald vertritt die These, dass sich die „galante Anthropologie“ als „Liebesethik der höfischen Gesellschaft“ bestimmen lasse, die er als praxeologische Ethik beschreibt.295 Durch die Sozialfigur des Honnête-homme oder galante-homme entwickeln sich im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert „neue Habitusformen“, die „im allmählich sich ausfaltenden System der Distinktion die Positionierung der eigentlichen Hofleute und der am Hofe lebenden Gelehrten“ prägen und strukturieren.296 Begleitet wird diese soziale Praxis durch „reflexive For-

290 Celander:

Der Verliebte Studente / In einigen annehmlichen / und wahrhafftigen Liebes=Geschichten / welche sich in einigen Jahren in Teutschland zugetragen. Der galanten Welt zu vergönter Gemüths=Ergetzung Vorgestellet / von Celander. Cölln, Bey Pierre Martaux, 1709. 291 Sarcander: Amor auf Universitäten / In verschiedenen Liebes=Intriguen / zu vergönnter Gemüter=Ergötzung vorgestellet von Sarcandern, [s.n.] Cöln 1710. 292 Florando [Joachim Negelein]: Betrüglicher Courtesie-Spiegel Des Galanten Academischen Frauenzimmers / Welcher die mancherley artigen Aventuren und lustigen Liebes=Intriguen derselben in einem Roman fürstellet. Herausgeben von Florando [s.n.] Franckfurt, Leipzig 1714. 293 Simons: Marteaus Europa, S. 295, 306f., 325; Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 260, Anm. 214. 294 Steigerwald: Galanterie als Kristallisations- und Kreuzungspunkt, S. 51–79; Ders.: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft, S. 12f., 78‒90; Abgrenzung preziös‒galant, die hier nicht übernommen wird (ebd., S.  89, 101): Steigerwald schließt an das aus der romanistischen Forschung bekannte Stereotyp der préciosité als genderspezifische Kategorie an („préciosité als eine weibliche Ethik“ i.S. einer Weiblichkeitskultur), die von der „Galanterie als eine gesellschaftliche Ethik“ bzw. ein „sozio-kulturelles Konzept der höfischen Gesellschaft“ (honnêté) abgegrenzt wird. Wie Bung treffend feststellt, wird hier übersehen, dass geschlechterspezifische Implikationen beide Konzepte prägen, denen die Differenzierung nicht gerecht wird, Bung: Spiele und Ziele, S. 61, Anm. 104. 295 Steigerwald: Galanterie als Kristallisations- und Kreuzungspunkt, S. 65‒67. 296 Ebd., S. 59.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

men der galanten Selbstdarstellung“:297 So bieten Traktate und vor allem der Roman Möglichkeiten der textuellen „Präsentation einer Ethik in actu, die zugleich distinkt und distinguierend“ Formen des Galanten „hervorbringt“.298 Allerdings geht Steigerwald von einer strikten „Einbettung der Galanterie in die höfische Gesellschaft“ aus, deren höfische Verortung in der Forschung häufig zugunsten eines behaupteten „Bürgerlichkeitsparadigmas“ vernachlässigt würde.299 Da sich die vorliegende Arbeit ausschließlich auf Romane junger Autoren bürgerlicher Herkunft konzentriert, deren Publikationen im Rahmen der mittelständisch geprägten Strukturen des Buch- und Verlagswesens ihre Förderer und Vermittler finden, wird die These der Galanterie als ‚höfisches Phänomen‘ nicht weiterverfolgt. Vielmehr ist nach Adaptions- und Modifikationsprozessen zu fragen, wenn höfisch geprägte Galanterieformen in andere Sozialmilieus, soziale Trägergruppen usw. diffundieren.300 Konzepte und Praktiken des Galanten oder der Galanterie lassen sich nicht auf aristokratische Sozial- und Kommunikationsräume und deren Akteure beschränken. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts erlebt die Galanterie eine derartige Ausweitung und Inflation, dass Johann Christoph Gottsched in den Vernünftigen Tadlerinnen (1725) polemisiert, man erfahre heutzutage „nicht nur von galanten Mannspersonen und galantem Frauenzimmer“, sondern selbst „in der Küche und Wirthschaft höret man oft von einem galanten Ragout, Fricassee, Hammel= und Kälberbraten. Ja ich weiß mich zu entsinnen, daß ein gewisses Frauenzimmer einmal erzehlte, wie sie ihrem Manne letzlich einen galanten westphälischen Schinken vorgesetzet hätte.“301 Eine besondere Ambivalenz und Dynamik des galanten Diskurses entsteht in Deutschland gerade dadurch, dass Akteure aus verschiedenen sozialen Ständen und Milieus, unterschiedlichen Alters und Gesinnung direkt oder indirekt aufeinandertreffen und (ästhetische) Interessen, Gattungspraxis und Gattungstheorie samt normativen Implikationen je eigen auslegen und umsetzen. Verschiedene Kategorien, die die Akteursposition bestimmen – Alter, Geschlecht, Stand/Herkunft, Erziehung, Persönlichkeitsmerkmale, soziale, ständische, ökonomische Zwänge und Freiheiten – beeinflussen die Handlungsspielräume der Akteure, ihre Umgangsweisen und Deutungsformen mit dem Galanten und dessen Gestaltung in Texten oder Medien verschiedener Art. In je spezifischer Weise und Reichweite partizipieren sie am galanten Diskurs und prägen galante Konzepte und Praktiken. Von Interesse ist daher, wie jene Semantiken des Galanten im je konkreten Format (hier: Roman) diskursiviert bzw. narrativiert werden. Mit der Überführung in ein bestimmtes Medium, z.B.

297 Ebd.,

S. 65. S. 67. 299 Ebd., S. 58. 300 Ein ähnliches Vorgehen schlägt Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 24 vor. 301 [anonym] [Johann Christoph Gottsched]: Die Vernünftigen Tadlerinnen. Das X. Stück. Den 7. März 1725. 4. Aufl., Hamburg 1748 [Erstauflage 1725], S. 79f. 298 Ebd.,

3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane

115

den Erzähltext, erfahren Konzepte des Galanten eine ästhetische und funktionale Modulation, die per se variant ist. Die Modifikation ist der Hervorbringung des Galanten notwendig inhärent, wie Rose richtig feststellt ‒302 und zwar in Abhängigkeit von textuell-medialen Formen (Roman, Lyrik, Traktat, Brief, Oper, Tanz, Mode usw.), aber auch von Absichten und Vermögen der Produzenten. Die Universitäten spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, weil sie der diskursive und soziale Ort sind, wo der Galanteriediskurs aus Frankreich Eingang in die deutsche Gelehrtendiskussion und das studentische Milieu findet; hier treffen junge Männer aus adligem und bürgerlichem Hause aufeinander und erfahren gleichermaßen eine Förderung.303 An den Nebenschauplätzen der Universitäten und in den ‚Nebenstunden‘ der akademischen Ausbildung kommt jene junge Bildungselite auch mit aktuellen Entwicklungen der Poesie, Gelehrsamkeit und Publizistik in Kontakt, deren Aneignung und Aktualisierung individuellen Interessen gemäß jederzeit offen steht. Gefördert durch die Möglichkeit, aktuelle Schriften in ihrer Vielfalt rezipieren zu können – was in Städten wie Leipzig der Fall ist, die nicht nur Universitäts-, sondern auch Messestädte und Buchhandelszentren sind –, entfaltet sich aus dem akademischen Milieu heraus und parallel zu ihm ein Typus des jungen (studentischen) Autors, der Romane und populäre Schriften zur „Gemütsergötzung“ liest und verfasst. 3.2.2 Poetische Fehden und Selbststilisierungen junger Autoren Die Paratexte galanter Romane bieten Raum für die diskursive Selbstdarstellung der Verfasser und geben Auskunft zu auktorialen und soziokulturellen Aspekten der galanten Gattungspraxis. Um diese Strategien der Selbstinszenierung genauer zu erfassen, wird im Folgenden herausgearbeitet, wie sich junge Autoren selbst und ihr Umfeld beschreiben. Aus den Paratexten lassen sich selbstreferentielle Autorpositionierungen rekonstruieren, die dadurch, dass sie formuliert werden, ein literarisches Aktionsfeld konkretisieren, das eine starke Referentialität von Autoren und galanten Texten suggeriert (autopoietisches-performatives Potential). Dieses Schreiben oder Sprechen ist als kreativer oder autopoietischer Akt zu verstehen, denn die Autoren geben sich dadurch selbst ein ‚Gesicht‘ (in Form pseudonymer Identifikationsangebote). Zudem forcieren sie über die Paratexte eine Form der sekundären poetischen

302 Modell-

und Modellierungsfunktion galanter Texte vgl. Rose: Conduite und Text, S.  9‒13, 167‒170. 303 Die Bedeutung der Universitäten im deutschen Kontext betont auch Steigerwald, doch geht er von einer notwendigen Bindung von Hof und Universität aus, so dass „der Student, der an [der Universität] seine Ausbildung erhält, bereits in die höfische Gesellschaft integriert [ist], bevor er an den Hof geht“, Steigerwald: Fabrikation einer natürlichen Ethik, S. 85. Dies mag für adligstudentische Eliten durchaus gelten, idealisiert aber m.E. die Karriere- und Aufstiegschancen bürgerlicher Studenten.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Kommunikation, die sich später in die Literaturkritik (Epitexte) auslagern wird.304 Die Publikationspraxis erlaubt es, mediale, ästhetische und diskursiv-soziokulturelle Impulse zu generieren, wodurch die Akteure ihr (kommunikatives und literarisches) Aktionsfeld gewissermaßen selbst erschaffen. Anonymität und Pseudonymität lassen bei dieser Form der literarischen Kommunikation eine Art medialen ‚Schutzraum‘ entstehen, den junge Autoren ausweiten. Durch die Verwendung von Pseudonymen transfiguriert sich der empirische (historische) Autor in ein pseudonymes Alter-Ego, was es allerdings auch schwierig macht, zwischen pseudonymer und empirischer Autorrolle zu unterscheiden (Kapitel 2.2.3). Im Folgenden werden Pseudonym und empirischer Autorname gleichermaßen verwendet, je nachdem welche Autorrolle argumentativ im Vordergrund steht. Behelfsmäßig soll ein Schrägstrich (/) anzeigen, dass empirische und pseudonyme Autorrolle gleich relevant sind: Bohse/Talander; bei Klammern erhält die erstgenannte Autorrolle mehr Gewicht: Talander (Bohse). Die galante Pseudonymitäts-Problematik müsste in Zukunft genauer untersucht werden, wozu die folgenden Ausführungen lediglich einen Anstoß bieten. 3.2.2.1 Bohses Selbstinszenierung als studentischer Autor Der mustergültige Aufstieg Bohse/Talanders zum erfolgreichen Romanautor ist ein Image, das der Autor selbst aktiv gestaltet (Kapitel 3.1.3.6). Intertextuelle Referenzen zu deutschen Romanautoren (Konkurrenten) in Form expliziter Fehden lassen sich bei ihm noch nicht finden. Vermutlich muss sich Bohse nicht gegen konkurrierende Autoren verteidigen, da deutschsprachige Romane wenig verbreitet sind, oder er ist zurückhaltender als andere junge Männer. An seinem Roman Die Amazoninnen aus dem Kloster / In einer angenehmen Liebesgeschichte zur vergönnter Gemüthsergötzung auffgeführet von Talandern (1696)305 lassen sich indes markante Elemente und Strategien der auktorialen Selbstinszenierung nachvollziehen, die für nachfolgende Romanautoren bedeutsam werden. Singer, Dünnhaupt und Gelzer geben an, der Text sei bereits 1681/85 in Leipzig entstanden (verschriftlich) worden, womit sie Bohses Selbstinszenierung in der Vorrede als faktuale Aussage werten ‒306 doch lässt sich dies nicht verlässlich nachweisen. Bohse publiziert den Roman erst 1696 unter dem Pseudonym Talander, 1698 folgt eine zweite Auflage. Die Amazoninnen aus dem Kloster erscheinen in Leipzig bei Johann Ludwig Gleditsch und Moritz Georg Weidmann unter dem fingierten Verlagsort „Cölln“, der als Hinweis auf „Cölln bey Peter Marteau“ oder „Peter Hammer“ gelesen werden

304 Ammon

u. Vögel: Pluralisierung des Paratextes, S. VII. [August Bohse]: Die / Amazoninnen / aus dem / Kloster / in einer / angenehmen / Liebes= Geschichte / Zu vergönnter Gemüthsergötzung / auffgeführet / von / Talandern. / Cölln / Bey Johann Ludwig Gleditschen / und M.G. Weidmanns Erben. / 1696. 306 Singer: Der galante Roman, S. 34; Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 731; Gelzer: Nachahmung, Plagiat, Stil, S. 255‒286. 305 Talander

3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane

117

kann. Wie Karl Klaus Walther zeigt, handelt es sich dabei um einen Verlag, der niemals faktisch existierte; das fingierte Impressum307 wurde stattdessen von deutschen Buchhändlern, Druckern und Verlegern bis ins 18. Jahrhundert variantenreich genutzt, wenn es nötig war, die Herausgeberschaft brisanter Schriften zu verschleiern.308 Dass dieses Impressum um 1700 unter galanten Romanautoren als fingiert bzw. fiktiv bekannt war, zeigt ein Hinweis von Johann Leonhard Rost/Meletaon, der bedauert, zur pseudonymen Identität des konkurrierenden Autors Celander keinerlei Auskunft „bey dem erdichteten Peter Marteaux in Cölln“ erwarten zu dürfen.309 Auch die Verleger Gleditsch und Weidmann nutzen das fingierte Impressum. Auf dem Titelblatt der Amazoninnen aus dem Kloster geben sie den falschen Verlagsort „Cölln“ an, nennen gleichzeitig aber ihre Namen.310 Dieses Vorgehen lässt bereits auf die Ambivalenz schließen, die dem Verlag bei der Publikation bewusst gewesen sein muss. Einerseits lässt die Titelgestaltung einen recht provokanten Roman erahnen, der Autor und Verleger in Konflikt mit Zensur und Kontrollbehörden bringen kann. Andererseits ist Talander mittlerweile ein gefragter Autor, als dessen Verleger sich Gleditsch & Weidmann zu erkennen geben wollen. Durch die Kombination realer und fingierter Verlagsangaben wäre es im Zweifelsfalle möglich gewesen, etwaige Verbindungen zur Publikation abzustreiten. Ähnlich der Firmenklage von Großes Erben aus Leipzig hätten sich Gleditsch & Weidmann vor der Bücherkommission mit der Behauptung verteidigen können, ein fremder Verleger habe den Firmennamen unrechtmäßig entwendet.311 Der informierte Leser weiß indes, an wen er sich wenden kann. Ähnliche Formexperimente mit fiktiven und faktualen Informationen, nun hinsichtlich der Identität des Autors, finden sich neben der Verwendung des Pseudonyms – Talander – auch in der Vorrede, die das Werk kommentiert und in das schriftstellerische Schaffen des Autors einordnet. Zum Zeitpunkt der Publikation ist Bohse 35 Jahre alt und somit kein junger und auch kein studentischer Autor mehr. Seinen

307 Zur Abgrenzung

von fingiert = Erfundenes mit Täuschungsversuch und fiktiv/fiktional = Erfundenes ohne Täuschungsversuch, Gabriel: Art. Fiktion. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Bd.1, S. 594–598; vgl. Anm. 108 in Kap. 2.2.3. Da Kontrollbehörden, Zensurinstanzen und Leserschaft in dem Falle bewusst getäuscht werden sollen, ist das Verlagsimpressum als fingiert einzustufen. 308 Walther: Verlagsproduktion von Pierre Marteau/Peter Hammer, S. 31: Im 18. Jahrhundert werden sogar „Peter Hammers Erben“, seine Witwe usw. fingiert, um den Fortbestand des Verlags zu plausibilisieren. 309 Meletaon [Johann Leonhard Rost]: Bescheidene Verantwortung und abgenöthigte Ehrenrettung wider Celanders grobe Beschuldigung […]. In: Curieuse Liebes=Begebenheiten […], 1714, Verteidigungsrede im Anhang, S. 163‒254, hier S. 190f., Hervorh. K.B. 310 „Cölln / Bey Johann Ludwig Gleditschen / und M.G. Weibmanns Erben. / 1696“, Talander: Amazonninnen aus dem Kloster, Titelblatt. 311 Zur unautorisierten Verwendung fremder Firmennamen vgl. Albrecht Kirchhoff: Zum Firmenrecht. In: AGB 14 (1891), S. 363–366, hier S. 365.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Unterhalt verdient er mittlerweile als Sekretär und Hofdichter in Weißenfels,312 allerdings hat er seinen Lebensmittelpunkt in das akademische Umfeld von Jena verlegt, wo er lebt, an der Universität „Collegia“ in Poesie und Redekunst hält313 und gleichzeitig an einer Dissertation arbeitet.314 Zur selben Zeit avanciert er zum ‚Hausautor‘ bei Gleditsch & Weidmann und gilt seit Mitte/Ende der 1690er Jahren als gefragter Romanautor. Dennoch stilisiert sich Bohse/Talander in den Amazoninnen aus dem Kloster als studentischer Autor und verortet seine Publikation in der Zeit des Studiums: „Als ich vor funffzehn Jahren in Leipzig dem Studieren oblage“315 und „kaum das siebenzehende Jahr erreichet“,316 habe er durch die Lektüre ausländischer Übersetzungen die „Begierde“ empfunden, ebenfalls etwas „in dieser Schreibart zu verfertigen“.317 Er nennt etliche Vorbilder aus Frankreich, England und Italien.318 Einen deutschsprachigen Roman fügt er nicht hinzu und verortet die Textentstehung somit zu einem Zeitpunkt, als Übersetzungen ausländischer Romane den Markt dominierten. Durch die Rückdatierung auf das mutmaßliche Jahr 1681 („vor fünfzehn Jahren“) und im Rekurs auf ausländische Übersetzungen inszeniert sich Talander/Bohse als einer der ersten deutschsprachigen Autoren, der eigenständig Romane verfasst und sich nicht damit zufrieden gibt, ausländische Schriften zu übersetzen. Die retrospektive Stilisierung als junger Student erfüllt somit eine wichtige Funktion für die Selbstverortung des Autors im literarischen Feld und dient der ästhetischen Selbstaufwertung.

312 Dünnhaupt:

Personalbibliographien, S. 713. Geheime Nachrichten, S. 4. 314 Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 713; Dunkel: Historisch=Critische Nachrichten, S. 401. Zum Weißenfelser und Jenenser Umfeld vgl. Barthel: Zwischen Provokation und Innovation, S. 33–49. 315 Talander: Amazoninnen aus dem Kloster, Vorrede, unpag. [A 3a]. 316 Ebd., Vorrede, unpag. [A 4a]. 317 Ebd., Vorrede, unpag. [A 3af.]. 318 Argenis (1621) des Engländers John Barclay = englischer Originalroman von John Barclay (1582‒1621): Ioannis Barclaii Argenis, Parisiis 1621 (dt. Übers. von Martin Opitz: Neue Jugend-Lust / Das ist / Drey Schauspiele […]. Franckfurt/Leipzig: Christian Weidmannen 1626); L’Eromena (1624) des Italieners Giovanni Francesco Biondi = italienischer Originalroman von Giovanni Francesco Biondi (1572‒1644): L’Eromena: Divisa in 6 libri / Del Sig. Cavalier Gio. Francesco Biondi. Venetia: Pinelli, 1624 (dt. Übers. [Johann Wilhelm von Stubenberg]: Eromena. Das ist / Liebs- und Heldengedicht / In welchem / nechst seltenen Begebenheiten viel kluge Gedancken / merckwürdige Lehren / verständige Gespräche und verborgene Geschichten zu beobachten […]. Durch ein Mitglied der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschafft. Nürnberg 1650); La Straconica (1642) des italienischen Autors Luca Assarino = ital. Originalroman von Luca Assarino (1602‒1672): La Stratonica Di Lvca Assarino […], Bologna 1642; Alcidalis und Zelide (1650) des Franzosen Vincent Voitüre = frz. Originalroman von Vincent Voitüre: Les Oeuvres de Voiture. Paris 1650 (dt. Übers.: [anonym]: Liebes Und Lebens-Geschichte des Alcidalis Und der Zelide. […] Theils aus dem Frantzösischen ins Teutsche übersetzet / theils vollends ergäntzet und außgeführet Durch A.M. […]. Franckfurt an der Oder 1672). 313 Wedel:

3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane

119

Dass es sich dabei vermutlich um eine Erfindung des Autors handelt, legen kleine Unstimmigkeiten zwischen empirischen und paratextuellen Daten nahe. Während Talander die ihn inspirierende Lektüre ausländischer Schriften auf seine Studienzeit „vor fünfzehn Jahren“319 datiert (ausgehend vom Erscheinungsjahr des Romans auf das Jahr 1681),320 habe er die Amazoninnen mit „kaum siebenzehn Jahr“321 bereits verfasst gehabt (von Bohses Geburtsjahr ’61 ausgehend folglich schon 1678). Der Zeitpunkt des eigenen Schreibens geht der Rezeption ausländischer Romane, die ihn zum Schreiben erst anregt hätten, voraus. Der Autor Bohse müsste entweder ohne Übung und Praxis die literarischen Moden von 1700 schon Jahre im Voraus in der Schublade liegen gehabt haben oder das Alter-Ego Talander ist jünger als der empirische Autor. Die Vermutung liegt nahe, dass Bohse daran gelegen war, sich als besonders jung zu stilisieren. Denn um 1680 waren galante Romane deutscher Autoren im Buchhandel in der Tat noch selten, so dass eine Vordatierung der Werkentstehung in die Studienzeit bedeutet, sich als Dichter zu präsentierten, dem der Ruf als ‚erster‘ galanter Romancier in Deutschland zukomme, dessen Schriften von der aufstrebenden Verlagsbuchhandlung Gledisch & Weidmann schon frühzeitig als neue Mode erkannt und verbreitet wird. Darüber hinaus erfüllt die Selbststilisierung als studentischer Autor aber auch eine Legitimationsfunktion, die den Umgang des Autors mit der Gattung und die spezifische Auslegung des Liebessujets rechtfertigt. Die „Kühnheit der Jugend“ habe Talander/Bohse den Mut und die Leidenschaft empfinden lassen, den Versuch des eigenen Schreibens und die Gestaltung amouröser Begebenheiten zu wagen: [D]er ich ohnediß von Natur zur Poesie und dergleichen Erfindung eine sonderbahre Neigung iedesmahl gehabt […]: Ich wagete es: wie dann die kühne Jugend und die mit deren Feuer übereinkommende Materie mich umb desto mehr zu dieser Unterfangung lockete: da nun habe ich gegenwärtige Amazoninnen aus dem Kloster herfür gebracht [Hervorh. K.B.].322

Die „Kühnheit der Jugend“ wird zum Indiz einer jugendlichen Schaffenskraft sowie Unbesonnenheit. Der Autor entschuldigt den Roman als poetisches Produkt der Jugend und schützt sich vor eventuellen Vorwürfen ästhetischer und/oder moralischer Art. Explizit wird hier eine Verbindung von Gattung (Roman), Altersstruktur (Jugend) und Sujet (Liebe) hergestellt. Die „Kühnheit der Jugend“, die mit dem „Feuer der Liebe“ übereinkomme, treibt den Autor nicht nur zur literarischen Produktion im Allgemeinen, sondern motiviert auch sein spezifisches Sujet, die Liebe. Die Altersstruktur legitimiert das Liebesujet und prägt zugleich romaninterne Figurenkonzeptionen.323 319 Talander: Amazoninnen

aus dem Kloster, Vorrede, unpag. [A 3a]. Singer: Der galante Roman, S. 34 stellt die paratextuelle Aussage nicht in Frage und datiert das Entstehungsjahr des Romans historisch auf das Jahr 1681. 321 Talander: Amazoninnen aus dem Kloster, Vorrede, unpag. [A 4a]. 322 Ebd., Vorrede, unpag. [A 3af.]. 323 Explizit wird das junge Alter in Bohses Roman Ariadne (1699) zum Argument, um Verstöße gegen ständische und familiäre Ordnungen zu legitimieren, hierzu Kap. 4.3. Auch in den Amazo320 Herbert

120

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Von nachfolgenden Autorengenerationen wird der Topos der „Kühnheit der Jugend“ adaptiert und zur „feurigen Jugend“ umcodiert; das Feuer der Jugend erscheint als Bedingung der poetischen Produktion per se. In der Vorrede des Poetischen Cabinets (1715) spricht der pseudonyme Autor Behmeno der „feurigen Jugend“ das Wort, die nicht wie das „philosophische Alter“ alle Worte auf die Waagschale legen könne – zumal gerade der Jugend das Recht zukomme, sich „irren“ zu dürfen, ohne deswegen schändlich genannt zu werden: Daß man in diesem Cabinet weit mehr Welt= als geistliche Gedichte / und unter jenen ziemlich freye und lustige antrifft; darüber soll wohl mancher Schein=Heiliger eine runtzlichte Stirne machen: Allein ich verhoffe / […] von andern galanten und gütigen Leuten Pardon zu erhalten. Denn wie kan die feurige Jugend allezeit die Wörter also / gleich wie das Philosophische Allter / auff die Waage=Schale legen? Und solte auch dieses nicht durchgehends zu approbiren [billigen] seyn; so heisset es dennoch zu jener Soulagement [Erleichterung]: Juvenilis error dedecus gignit minus [Ein jugendlicher Irrtum bringt weniger Schande hervor] [Hervorh. u. Übers. K.B.].324

Die Kühnheit der Jugend legitimiert nicht nur den Umgang des Autors mit der Gattung und dem Liebessujet, sondern die Vorrede führt auch das Publikum als junge Leser ins Feld. An galanten Liebesromanen finden junge ‒ hier: männliche ‒ Leser ihr ‚Vergnügen‘ und hätten den Autor (Talander) zur Publikation gedrängt. Die Vorrede der Amazoninnen zeigt die Ambivalenz, mit der sich Bohse einerseits als Verfasser der Schrift zu erkennen gibt, sich andererseits vor Komplikationen mit Zensur und Öffentlichkeit zu schützen sucht, indem er sich von seinem Werk distanziert. Die Herstellung von Distanz und Identifizierbarkeit verläuft über mehrere textuelle Etappen. Zunächst habe sich Talander, so die Selbstaussage in der Vorrede, „nicht getraut [die Bögen] durch den Druck dem allgemeinen Urtheil in die Hände“ zu geben.325 Nur im vertrauten Freundeskreis sei der Roman als Manuskript kursiert.326 Als in „Leipzig“ die Pest ausbrach (hier nennt Talander den wahren Studienort Bohses, wo tatsächlich um 1680 die Pest grassierte), habe der Verfasser die Stadt ver-

ninnen aus dem Kloster ist die Hauptfigur Hermione, Anführerin der kriegerischen Amazonen, eine junge Frau von 19 Jahren, Talander: Amazoninnen aus dem Kloster, S. 301. Der Roman schließt an das Helidor-Schema an und modifiziert es (Trennung der Liebenden, hier: aus Eigensinn); die Protagonistin wird Anführerin der Nonnen eines Klosters. Als Kriegerinnen ziehen die Frauen ins Feld, es folgen Entführungen, Gefangennahmen durch feindliche Piraten, irrtümliche Hochzeiten mit anschließender Flucht, ausgedehnte Reisen in fremde Länder usw. Immer wieder trifft das Paar aufeinander, lebt zur Tarnung als Bruder und Schwester, bis sie sich nach stark ausgedehnter ‚Paarfindungsphase‘ zur Ehe entschließen. Ähnlichkeiten zu Bohses Constantine, Kap. 4.2. 324 Behmeno: Poetisches Cabinet, In sich haltend allerhand Geist= und Weltliche Gedichte / der Seelen zu einer reinen Lust / Und dem Gemüth zum erlaubten Zeit=Vertreib auffgerichtet / und Nebst einer abgenöthigten Defension wider den albernen Selamintes, Der neu=begierigen Welt mitgetheilet von Behmeno. Franckfurt und Leipzig / im Jahr 1715, Vorrede, S. 9. 325 Talander: Amazoninnen aus dem Kloster, Vorrede, unpag. [A 3bf.]. 326 Ebd.

3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane

121

lassen müssen und seinem „Famulus“ die Amazoninnen anvertraut.327 Dieser stellte das Manuskript einem in Leipzig wohnhaften Freund zu,328 der „ohne meinen Vorbewust“ eine Abschrift unter einigen Lesern „verhandelt“ und dem Verfasser nach etlichen Jahren ein Exemplar zurückschickt.329 Wieder habe der Autor den Roman „bald diesem bald jenem Freunde zum Durchlesen“ zukommen lassen, bis auch diese Abschrift verloren ging.330 Endlich, so die Behauptung der Vorrede, sei dem Autor „vor etlichen Monaten“ unbekannter Weise ein Manuskript zugeschickt worden mit der Bitte, er solle, weil man den ursprünglichen Verfasser nicht mehr ermitteln könne, den Roman überarbeiten und ergänzen.331 Der Autor erkennt sofort seine früheren Zeilen, schmückt sie „hin und wieder mit neuen Redens=arten“ aus und überreicht sie nun dem Leser als eine „wo nicht vor extra feine / doch vor Mittel=Wahre unter den Liebes=tractätlein“.332 Abschließend versäumt es Talander/Bohse nicht, seinen demnächst erscheinenden Roman zu erwähnen, Die getreue Sclavin Doris.333 Explizit konstruiert die Vorrede eine vielgliedrige zeitlich, räumlich und personell undurchsichtige Publikationsgeschichte, bei der das Manuskript von mehreren privaten, halbprivaten und anonymen Instanzen in Besitz genommen wird, so dass es sich der Verfügung des Verfassers immer mehr entzieht, bis es schließlich als anonyme Schrift zu ihm zurückkehrt, wobei Dritte (die Freunde, ein anonymes Publikum, womöglich ein Verleger) zur Veröffentlichung drängen. Der Text geht vorgeblich durch so viele Hände, es existieren mehrere Abschriften (auch ohne Wissen des Autors), dass ‒ falls dies einmal vor Kontrollbehörden in Frage stünde ‒ keineswegs mehr der Autor allein für die Publikation verantwortlich gemacht werden könnte, denn das gibt die Vorrede vor zu dokumentieren. Zugleich wären alle Hinweise auf Kollaborateure so unspezifisch, dass am Ende niemand für die Publikation haftbar zu machen sei. Darüber hinaus suggeriert die Vorredenkonstruktion aber auch:

327 Hier

wird deutlich, wie stark Bohse aristokratische Habitusformen aufnimmt, denn dass der bürgerliche Autor einen Famulus (Diener, Begleiter, Aufsichtspersonal) gehabt haben soll, ist kaum vorstellbar ‒ zumal er wegen finanzieller Nöte des Vaters das Studium kurzfristig aufgeben und selbst als Hofmeister tätig werden musst, Dunkel: Historisch=Critische Nachrichten, S. 401. In einem Verhaltensratgeber äußert sich Bohse: „Vor dieses war es auch gar bräuchlich / daß man arme Studiosos zum Famulus annahme / und es ist dieses eine gantz gute Gewohnheit / die man billig mehr wieder einführen solte […]. Denn so hilfft man einem so ehrlichen Menschen durch die freygebebene Stube / Holtz / Bette / Licht / und die ihm dabey wöchentlich gereichten sechs Groschen / daß er dadurch sich hinbringen / und sein Studieren zu GOttes Ehren und Nutzen der Republic fortsetzen kann“, Talander [August Bohse]: Der getreue Hoffmeister adelicher und bürgerlicher Jugend […]. Leipzig / in Verlag Joh. Ludw. Gleditsch Anno 1706 [Erstausgabe J.L. Gleditsch 1703], S. 172. 328 Talander: Amazoninnen aus dem Kloster, Vorrede, unpag. [A 4b]. 329 Ebd., Vorrede, unpag. [A 5a]. 330 Ebd. 331 Ebd., Vorrede, unpag. [A 5b], [A 6a]. 332 Ebd., Vorrede, unpag. [A 6b]. 333 Ebd., Vorrede, unpag. [A 7a].

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Hier liegt ein Text vor, der schon vor dem Druck viele Liebhaber und Befürworter fand. Das Werk wird legitimiert, die Autorschaft verwischt und zugleich unmissverständlich adressiert. Bohse distanziert sich von seinem Werk, ohne als Autor verkannt werden zu können. Dem Publikum, der anonymen Leserschaft, die zur treibenden Instanz gemacht wird, liegt nun die ‚rare Ware‘ in Händen. Doch die Vorredenkonstruk­tion legitimiert nicht nur den um Rechtfertigung für die eigene Publikation ringenden Autor, sondern ebenso den dargestellten Inhalt, die Amazoninnen aus dem Kloster, deren Anführerin und Hauptfigur Hermione offenbar soviel Zuspruch erhielt, dass Leser und Öffentlichkeit von ihr erfahren müssten. Die Vorrede gibt somit auch Auskunft zur antizipierten Leserschaft galanter (Liebes-)Romane. Talander nennt die Freunde seiner Studienzeit als Rezipienten und suggeriert ein junges, männliches, akademisch gebildetes Publikum. Dass zunehmend auch Frauen für die Romanlektüre gewonnen werden sollen, zeigt Kapitel 3.3. Vorerst ist jedoch entscheidend, dass der Paratext junge Männer adressiert („Hochgeneigter Leser!“),334 die als primärer Rezipientenkreis angenommen werden können. Schon in der Getreuen Bellamira (1692) hatte sich Bohse/Talander an ein männliches Publikum gewandt. Der weiblichkeitszentrierte Roman richtet sich „An den wohlgesinnten Leser“.335 In diesem Zusammenhang beschreibt Talander die Jugend als eine eigenständige Lebensphase, die der Liebe samt Spitzfindigkeiten und Satire besonders zugeneigt sei. Er spielt das junge Publikum gegen die Kritiker von Liebe und Roman aus, denen er die Lektüre seiner Schriften nicht empfiehlt: Die aber gantz und gar die Liebe verwerffen / und von ihr zu schreiben verbiethen wollen / denen kan ich wohl gönnen / daß sie von diesen Blättern wegbleiben / denn sie würden sich ohne Noth ärgern / ich aber ihnen darum wenig verbunden seyn / wann ihnen ihr Eyfer Schaden brächte. Unser Leben hat auch seine Jugend / wie das Jahr seinen Frühling; und es ist nicht allen gegeben / von seiner Wiege an einen Sauertopff zu agiren.336

Gleichzeitig rekurriert die Selbststilisierung als studentischer Autor auch auf juristische Verhältnisse, die der galante Autor im Falle einer Verfolgung durch Zensur und Kontrollbehörden hätte in Anspruch nehmen können. Studenten unterlagen nur in begrenztem Maße der bürgerlichen Gerichtsbarkeit der Städte, weil die Universitäten vielerorts einen privilegierten Rechtsstatus genossen.337 Während der Zeit des Studiums können Studenten in einem vorübergehenden Schutzraum junger Männ-

334 Ebd.,

Vorrede, unpag. [A 1b]. Bellamira, Vorrede An den Leser, unpag. [A 1a]. 336 Ebd., Vorrede An den Leser, unpag. [A 2bf.]. 337 Martin Schmeizels / Rechtschaffener / ACADEMICVS, / Oder / Gründliche Anleitung, / Wie ein / Academischer Student / Seine / Studien und Leben / gehörig einzurichten habe […]. Halle im Magdeburgischen 1738, S. 140f., 638, Anm. 32; Marian Füssel: Studentenkultur als Ort hegemonialer Männlichkeit? Überlegungen zum Wandel akademischer Habitusformen vom Ancien Régime zur Moderne. In: Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute. Hg. v. Martin Dinges. Frankfurt a.M. 2005, S. 85‒100, hier S. 86f. 335 Talander:

3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane

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lichkeit agieren, der die Kühnheit der Jugend auch juristisch absichert. Die „Studentische Freyheit“ oder Libertas academia338 umfasst verschiedene Privilegien, die Martin Schmeizel in seinem Rechtschaffenen Academicus erklärt. Unter anderem sind Studenten von der „Iurisdiction der Stadt Obrigkeit sicher […], auch von allen Bürgerlichen Pflichten und Anlagen“ entbunden.339 Sie sind nicht auf die Kleiderordnung festgelegt,340 besitzen freies Bleiberechte, sich „in dieses oder jenes Hauß einzulogiren und wieder auszuziehen, wie es dir gefället“ und andere Sonderrechte.341 Dies sollte, wie Schmeizel warnend zu bedenken gibt, nicht zu dem irrigen Urteil führen, mit dem privilegierten Rechtsstatus als Student sei zugleich die „Licentz“ verbunden „Krafft welcher die Studenten etwa Macht hätten, zu thun, was ihnen nur beliebig“ und dem „Gesetz der Obrigkeit und ihres Magistrats nur nach Gefallen Parition [Folge] zu leisten“.342 Doch gibt er selbst zu bedenken, „daß die Studenten [von] ihrer prätendirten Freyheit gemeiniglich einen solchen verkehrten Begriff in Köpffen haben, geben auch selbigen in Praxi mehr zu erkennen, als ihnen nützlich und reputierlich, und anderen Leuthen gelegen und angenehm seyn kan“.343 Auch im Rahmen der erzählten Geschichte finden sich im galanten Roman Anspielungen auf die studentische Freiheit, die aus Sicht junger Akademiker zweifellos geeignet scheint, Formen sozialer Devianz zu entschuldigen. 1714 wehrt sich der 26-jährige Rost/Meletaon gegen seinen Konkurrenten Celander, der ihn bezichtige, Meletaon hätte sich im Roman Schau=Platz der Galanten und Gelährten Welt bzw. Die Liebenswürdige und Galante Noris (1711) selbst in der Figur eines gewissen Rustini dargestellt. Jene Romanfigur ist ein junger Student, der „Vormittags das Geld auf dem Lande gebettelt / und davor des Nachmittags auf die Comoedie gegangen.“344 Meletaon weist recht ambivalent die Verwechslung mit seinem Figurenpersonal von sich: Er beteuert, er hege „vernünftigere Gedanken“ von der akademischen Freiheit, verteidigt aber das Verhalten der Figur, das – selbst wenn er, Meletaon, sich in der Figur Rustinis hätte darstellen wollen – keine Schande für einen Studenten sei:

338 Schmeizel: 339 Ebd., 340 Ebd.

Rechtschaffener Academicus, S. 639. S. 637.

341 Ebd., S. 638. Schmeizel gibt zu bedenken, dass jene Rechte der Studentenschaft „heut zu Tage an

manchen Orten ziemlich eingeschrencket worden; Das muß man sich gefallen und zum voraus unterrichten lassen, wie es hier und dort gehalten“ (ebd.), was darauf hinweist, dass studentische Rechte in der Zeit zuvor möglicherweise weiter gefasst oder legerer gehandhabt wurden. 342 Ebd., S. 635f. 343 Ebd., S. 636. 344 Meletaon [Johann Leonhard Rost]: Bescheidene Verantwortung und abgenöthigte Ehrenrettung wider Celanders grobe Beschuldigung […]. In: Curieuse Liebes=Begebenheiten. Aus dem Frantzösischen übersetzet; Und mit den darzu ghörigen Kupfern nebst einer Vertheidigung wider Celandern, an das Licht gestellet von Meletaon. Cölln gedruckt im Jahr 1714, Verteidigungsrede im Anhang, S. 163‒254, hier S. 226.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Dieser Rustini ist es / der mehr aus Academischer Lustbarkeit / als aus Noth / daß Geld auf dem Lande zur Commoedie gebettelt / denn er war eines muntern aufgeweckten Gemüths / dannenhero stellete er allerhand Kurtzweile an / worunter das Betteln mit zu rechnen ist / und wiste ich nicht / warum es in solchem Fall eine Schande zu nennen / ob ich schon unter der Person des Rustini verborgen wäre; massen auf Universitäten / wohl ärgere Streiche passiren / die man nicht gleich vor Schelmen=Stücke ausruffen darf / weil sie wie einige sprechen / die Academische Freyheit privilegiret / davon ich aber nebst allen klugen Leuten / die nicht von Academischen Schwachheiten eingenommen / billich vernünftigere Gedancken hege [Hervorh. K.B.].345

Auch Bohse hätte sich im Falle eines Konflikts mit Zensurbehörden – die Romanvorrede als faktische Rede ausgebend – auf die Libertas academia und einen privilegierten Rechtsstatus als Student berufen können. Zuletzt entschuldigt Talander den Roman, indem er den Text einem Lektüremodus der Unterhaltung und des Zeitvertreibs unterwirft. Weder zur fraglichen Entstehungszeit noch später habe er an eine Veröffentlichung gedacht. Ausschließlich zum „eigenen Zeit=vertreib“ und als Muße der „Nebenstunden“ habe er den Roman verfasst.346 Bohse nutzt den bekannten Topos des Schreibens als privaten Zeitvertreib, um den ästhetischen und normativen Anspruch der Publikation zu relativieren. Die Schriften der Nebenstunden beanspruchen keine Werke hoher ästhetischer Qualität oder ernster Gelehrsamkeit zu sein, sie dienen der Unterhaltung, dem Vergnügen. Zentrale Elemente, die den Typus des jungen (studentischen) Autors prägen und attraktiv machen, sind in Bohse Vorrede der Amazoninnen versammelt: (1) der Topos der „Kühnheit der Jugend“ entlastet von ästhetischen und normativen Ansprüchen jeglicher Art, legitimiert die poetische Produktion und befeuert spontane Energien; (2) der privilegierte Rechtsstatus als Student bietet imaginativ oder faktisch Schutz vor juristischen Konsequenzen der Publikationspraxis. Bohse prägt (3) die konjunkte Verbindung von Roman (Gattung), Jugend (Altersstruktur) und Liebe (Sujet), die in der galanten Romanproduktion strukturell bedeutsam bleibt. Darüber hinaus nimmt er (4) die gängige Stilisierung der poetischen Produktion als „Muße der Nebenstunden“ auf, die nun für ganz andere Formen der „vergönnten Gemütsergötzung“ genutzt werden kann und sich von Kriterien des gelehrten Schrifttums distanziert. Durch die eigene Autorbiografie präfiguriert Talander/Bohse (5) das Ideal einer möglichen Karriere als galanter Romanautor, die gelingen kann, wenn der Mut zur poetischen Innovation aufgebracht wird, selbst wenn dafür im eigenen Land noch keine Vorbilder existieren. Und er nutzt dazu (6) die anonymisierenden, pseudonymen Strukturen des Buchhandels, die es ermöglichen, die personelle Identität zu verschleiern und zugleich die Möglichkeit eröffnen, anonym oder pseudonym Bekanntheit zu erlangen.

345 Ebd.,

S. 227f.

346 Talander: Amazoninnen

aus dem Kloster, Vorrede, unpag. [A 4a], [A 3a].

3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane

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3.2.2.2 Poetische Fehden I: Bohse/Talander und Hunold/Menantes In den folgenden Jahren wird Talander/Bohse für jüngere Autoren sowohl positiver Anknüpfungspunkt als auch negatives Abgrenzungsobjekt der eigenen Autorpositionierung. Das Verhältnis des jüngeren Christian Friedrich Hunold alias Menantes (1680–1721)347 zu Talander muss wohl ambivalent genannt werden. Zunächst voller Hochachtung für den Älteren, wird Menantes/Hunold nach 1700 zu dessen stärkstem Konkurrenten. Als Sohn eines Amtmannes und Mühlenbesitzers in Wandersleben bei Erfurt geboren, besucht Hunold 1697/98 das Weißenfelser Gymnasium illustre, an dem Autoren wie Christian Weise, Johann Beer oder Erdmann Neumeister als Lehrer tätig sind.348 In jenen Jahren ist auch Bohse am Weißenfelser Hof angestellt, und so ist anzunehmen, dass in einer Kleinstadt wie Weißenfels und über die Institution des Gymnasiums dem jungen Hunold schon zu Schulzeiten der Autor Talander ein Begriff ist. Vermutlich kommt Hunold durch seine literarisch ambitionierten Lehrer frühzeitig mit den neuesten Entwicklungen der zeitgenössischen Literatur in Kontakt. Der neun Jahre ältere Erdmann Neumeister (1671–1756), dessen Abhandlung Raisonnement über die Romanen (1708) nach 1700 einflussreich wird, ist nicht nur Hunolds Gymnasiallehrer, sondern es verbinden beide Männer auch freundschaftliche und familiäre Beziehungen.349 Wenn Hunolds spätere literarische Produktion und seine poetischen Fehden mit anderen Autoren gar zu „hitzig“ wurden, hätten Briefe von Neumeister – so Hunolds Freund und Biograf Benjamin Wedel (1673–1736) – „sein Gewissen gerühret“.350 1698 immatrikuliert sich Hunold an der Universität Jena,351 wo Bohse zeitgleich Collegia hält und an der Dissertation arbeitet. Wedel bezeichnet Bohse spätestens seit diesem Zeitpunkt als Hunolds „Meister“, den der Jüngere schließlich übertroffen habe. Von akademischen Lehrern hielt Hunold nicht fiel, so Wendel: Doch fällt uns eben bey / daß er [Hunold] öffters mündlich den Herrn Doctor Bosen (der unter dem Nahmen Talander bekandt genug ist / und damahlen in Jena war / und Collegia hielte) sehr gerühmet / und wird ein jeder / der beyder Schrifften gelesen gestehen müssen / daß der Jünger[e] hernach bey nahe seinen Meister übertroffen [Hervorh. K.B.].352

347 Dünnhaupt:

Personalbibliographien, S. 2184 gibt als Geburtsdatum Hunolds den 29.09.1681 an. Hunolds Freund und Biograf Benjamin Wedel: Geheime Nachrichten, S. 1f. spricht vom Jahr 1680. Rose: Conduite und Text, S. 24, Anm. 110 bestätigt anhand des Hallenser Sterberegisters das Geburtsjahr 1680. 348 Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 2184. 349 Hunold war mit Johanna Sophia Meister, der Schwester von Neumeisters Ehefrau Johanna Elisabeth Meister, verlobt. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten des Autors wurde die Verbindung wieder gelöst, Wedel: Geheime Nachrichten, S. 6, 28–31, 58–75. 350 Ebd., S. 40f. 351 Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 2184. 352 Wedel: Geheime Nachrichten, S. 4.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Zum gefeierten Romanautor wird Hunold/Menantes, der Überlieferung Wedels zufolge, jedoch eher durch Zufall und finanzielle Engpässe. Während des Studiums in Jena bringt er innerhalb von zwei Jahren das gesamte väterliche Erbe durch und sieht sich 20-jährig gezwungen, vor seinen Gläubigern zu flüchten.353 Versuche, eine Anstellung am Weißenfelser Hof zu erhalten, scheitern354 und spiegeln die Schwierigkeit beruflicher Etablierung wider, auf die wir im Zusammenhang mit jungen Akademikern bereits zu sprechen kamen (Kapitel 3.1.2.2). Abgebrannt und perspektivlos schließt sich Hunold in Erfurt einem Boten an, der nach Hamburg unterwegs ist.355 Auf der Reise lernt er einen gewissen „Buchhändlungs-Bedienten aus Hamburg“ kennen  –  Benjamin Wedel, der Biograf, der sich im biografischen Bericht selbst anonymisiert und wenige Jahre später zum Verleger von Hunolds skandalträchtigen Satyrischen Roman (1706) wird. Vorerst findet Hunold in Hamburg bei einem zweifelhaften „Dählenlöper oder Rabulisten“, einem sogenannten Marktschreier-Advokaten, „freye Stube und Tisch.“ Im Gegenzug muss er „allerhand Schrifften verfertigen“, die jener Dählenlöper „für seine Arbeit ausgab / und niemand wuste / woher ihm so viel Weisheit in kurtzer Zeit zugeflossen.“ Nachdem Hunold wegen einer Beleidigung des Dählenlöpers Tochter fristlos gekündigt wird und das Haus des Arbeitgebers verlassen muss,356 findet er im Romangeschäft eine neue Verdienstmöglichkeit. Die Reisebekanntschaft, der Buchhändlergeselle Wedel, vermittelt Hunold den Kontakt zum eigenen Arbeitgeber, den Verleger und Buchhändler Gottfried Liebernickel († 1707). Dieser lässt sich von seinem Gesellen überreden, Hunolds ersten Roman Die Verliebte und Galante Welt (1700) herauszugeben, obwohl er, so Wedel, „kein Freund von Liebes-Geschichten und Romanen“ gewesen sei.357 Doch Hunolds Debüt wird ein solcher Erfolg, dass Liebernickel den jungen Autor sofort unter Vertrag nimmt: „Herr Liebernickel als Verleger merckte / daß mit diesem neuen Autore [Hunold] ein mehrers zu gewinnen sey / zahlte ihm

353 Dünnhaupt:

Personalbibliographien, S. 2184; hierzu Anm. 162 in Kap. 3.1.3.3 (Hunolds Finanzen). 354 Nach dem Abbruch des Studiums setzt sich Erdmann Neumeister über seine Gattin – eine Tochter des herzoglichen Küchenmeisters Christoph Meister –, für eine höfische Anstellung Hunolds ein. Der Bitte wurde nicht entsprochen, Wedel: Geheime Nachrichten, S. 7. 355 Ebd., S. 9‒12, auch im Folgenden, hier S. 9. 356 Die Episode ist in der Forschung hinreichend bekannt: Hunold begegnet der Tochter in Begleitung von Vater, Mutter und einigen Kavallieren im Haus des Arbeitgebers und möchte ihr mit der galanten Schmeichelei, er sei ihr „Diener“, die Reverenz erweisen. Die „Jungfer“ antwortet spitz, wolle er ihr Diener sein, so könne er ihre Schuhe putzen. Hunold verfasst daraufhin ein kurzes Gedicht, in dem er der Tochter des Hauses an den Kopf wirft: „Damit es nur ein jeder weis, / So putzt er ihr die Schuh und sie putzt ihm den Steiß.“ Das Gedicht machte anschließend in den Hamburger „Caffe Häusern“ die Runde und führte zu Hunolds Entlassung (ebd., S. 12–14, hier S. 13); Rose: Conduite und Text, S. 33f. 357 Wedel: Geheime Nachrichten, S. 15.

3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane

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einige Gelder zum voraus / und bestellte alle seine Schrifften / so er heraus geben würde / in Verlag zu nehmen.“358 Nun beginnt Hunolds eigentliche Romankarriere. Liebernickel publiziert mehrere Romane, Briefsteller und Gedichte, bevor der junge Autor auch gegen den älteren Talander/Bohse und dessen Schreibart zu Felde zieht.359 In einer Szene des Satyrischen Romans (1706) parodiert Hunold verschiedene studentische Habitusstereotype, die in der mitteldeutschen Universitäts- und Studentenkultur um 1700 als der „Jenenser Renomist“, der „galante Leipziger Petitmaitre“, der „Wittenbergische Säufer“ und der „pietistische Hallenser Mucker“ bekannt sind,360 und die Hunold allesamt ironisiert. Sie entsprechen nicht seiner Vorstellung vom ‚galanten‘ Auftreten eines jungen Mannes. In diesem Zusammenhang verwendet Hunold Romane von Talander als Requisite des galanten Leipzigers, wodurch er nicht nur die Figur und ihr Verhalten, sondern zugleich auch Talanders Romane und damit den Autor dem Spott aussetzt. Im Satyrischen Roman steigen die studentischen Protagonisten Selander und Tyrastes auf dem Weg von der Universitätsstadt Salaugusta (Halle) nach Lindenfels (Leipzig) in einem Gasthaus ab.361 Der Wirt hat kein Zimmer frei, so dass sie sich die Unterkunft mit anderen Studenten teilen müssen. Zuerst zieht ihnen ein „starcker Geruch vom Toback“ entgegen und sie erblicken junge Männer, die man wegen ihres „Fluchen[s] / Spielen[s] / und der nachlässigen Kleidung […] vor Soldaten halten sollen; Allein weil manchmahl Lateinische Wörter mit unterlieffen, und ein gelehrtes Urtheil mehrentheils von lustigen Sachen gefället wurde“, werden sie als 24-jährige Studenten identifizierbar  –  wie sich heraus stellt, sind es Jenenser.362 Die Protagonisten verlangen vom Wirt ein anderes Zimmer, wo sie auf das genaue Gegenteil stoßen: „Der Haußwirth, führte sie […] in ein ander Zimmer, wo sie einen so schönen Geruch von Pouder und Jesmin empfunden, als ob sie bey der Frühlings-Zeit in einen Apothecker-Garten gekommen.“363 Sie

358 Ebd. 359 Bis

1706 erscheinen bei Gottfried Liebernickel in Hamburg Menantes’: Die Verliebte und Galante Welt (1700), Verliebte, Galante […] und Satyrische Gedichte (1702), Die Allerneueste Art / Höfflich und Galant zu Schreiben (1702), Die Liebens=Würdige Adalie (1702), Lettres Choisies (1704), Der Thörichte Pritschmeister (1704), Der Europäischen Höfe Liebes=und Helden=Geschichte (1705), Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 2185–2197. Hunold ist zu diesem Zeitpunkt Anfang Zwanzig. 360 Hierzu Stammbucheinträge bei Füssel: Studentenkultur als Ort hegemonialer Männlichkeit, S. 85‒100, Abbildung S. 88. 361 Menantes [Christian Friedrich Hunold]: Satyrischer Roman, oder allerhand wahrhaffte, lustige, lächerliche und galante Liebes=Begebenheiten / Ausgefertiget von Menantes […]. Hamburg: Benjamin Wedel, 1706. [hier verwendet in der Ausgabe Frankfurt a.M./Leipzig: Carl Christoph Immig, 1726]. 362 Ebd., S. 48f., 57. 363 Ebd., S. 49.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

befinden sich unter den „Lindenfeldischen Studiosi“, den galanten Leipzigern.364 Man begegnet ihnen sofort mit „vielen verpflichtenden Complimenten“ und bittet, die Unannehmlichkeiten der Wirtshausumgebung zu „pardonniren“, was die Gäste sofort einsehen.365 Doch die Komplimente und Entschuldigungen brechen nicht ab. Die ‚Galanten‘ führen sich auf, als hätten sie ganze „Complimenten=Bücher durch studieret“ und auswendig gelernt.366 Während einige Studenten „in der Schule der überflüssigen Höflichkeiten excercirten“, spazieren andere im Zimmer umher „und fangen theils ein frantzösisches Liedgen, theils eine verliebte Arie aus der Opera“ an zu singen. Ein anderer stund vor dem Spiegel und raufte sich mit einem kleinen Balbier=Instrument die Haare aus dem Barte, worüber sich unsere beyden Cavalliers zum höchsten verwunderten, weil dieser junge Herr schon vorhin mehr einen Milch= als Männlichen Bart hatte. […] Was sie aber das Lachen zu verbeissen noch stärcker nöthigte, war, daß noch ein anderer, gleichsam unvermerckt, einen Brief aus der Tasche zog, und wenn er solchen geküßt, die Augen geschwind und furchtsam auf sie wendete, ob sie auch solches wahrgenommen.367

Der galante Leipziger wird als eitler ‚Möchtegern-Aristokrat‘ parodiert, der sich verzärtelt und dekadent mit Parfum und Haarpuder pflegt, blasiert Komplimente und überflüssige Floskeln von sich gibt und französische Melodien summt, anstatt zu kommunizieren. Seine Liebeskorrespondenz pflegt er ängstlich und verstohlen, aber so, dass sie den anderen keinesfalls entgeht. Die Szene nimmt Elemente französischer (aristokratischer) Preziosität auf und gibt sie im Rahmen des studentischen Settings der Lächerlichkeit preis. Im preziösen Roman wird der locus amoenus (der Handlungsort) häufig durch angenehme Düfte charakterisiert, durch Jasmin oder Myrte, die in der Luft schweben.368 Puder, Parfum und äußerliche Körperpflege verweisen auf einen aristokratischen Hintergrund und werden juvenil verspottet. Kommunikationsformen und Verhaltensweisen, die im preziösen Kontext als zurückhaltender, durch Kompliment und Konversationsritual geprägter Umgang gelten,369 stigmatisiert der Satyrische Roman als floskelhafte und inhaltsleere Fehlkommunikation. Die ängstliche und zurückhaltende Art, mit der Liebesdinge behandelt, gleichsam aber ‚öffentlich‘ präsentiert werden, mag an die demonstrative Keusch-

364 Ebd.,

S. 57. S. 49. 366 Ebd., S. 50, auch im Folgenden. 367 Ebd. 368 Der locus amoenus wird z.B. in Scudérys Mathilde (1667) in eine mediterrane Residenz versetzt, beschrieben wird eine Villa, die offen und freundlich eingerichtet sei, umgeben von Gärten, Springbrunnen, Jasmin und Myrte-Pflanzungen, die dem Ort einen angenehmen Duft geben, und wo sich die Gemeinschaft bei gutem Essen und umspielender Musik der Konversation widmet, [anonym] [Madeleine de Scudéry]: Histoire de Mathilde d’Aguilar, Paris Chez Edme Martin et François Eschart, MDCLXVII [1667], S. 27; hierzu Kap. 4.1.4 Modifikation preziöser Liebesund Geschlechtermodelle im galanten Roman (I). 369 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 36–51. 365 Ebd.,

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heit der Preziösen erinnern. Nicht zuletzt wird durch die französischen Lieder und Arien, die der galante Student summt, ein Gallotropismus suggeriert, der nur prejorativ verstanden werden kann. Das fiktionalisierte Negativstereotyp des galanten Leipzigers nimmt Elemente der preziös-aristokratischen Galanterie auf und diffamiert sie. Gleichzeitig werden damit aber auch der konkrete Autor Talander und dessen Romane belacht, die um 1700 wohl am stärksten mit der preziösen Romantradition assoziiert werden. Diese Stigmatisierung scheint nicht nur ein Affront gegen den älteren Romanautor zu sein, sondern zielt auf eine grundsätzliche Distanzierung von der preziösen (Roman-)Tradition und aristokratischen Formen der Galanterie. Selander und Tyrastes verlassen die Leipziger, „denn sonst wären sie von ihnen / […] mit Complimenten zu todte bombardirt worden“, die ihnen „Eckel und einen Widerwillen“ erregen.370 Im nächsten Zimmer hören sie ein Murmeln und glauben, eine Predigt zu vernehmen – ein Hinweis auf den pietistischen Mucker. Sie wollen, ohne zu stören, der „geistlichen Materie“ folgen und belauschen einen Liebesdialog, bei dem der „verliebten Kerl“ den Part der Dame selbst übernimmt.371 Mit Komplimenten, die er aus Talanders Romanen exzerpiert hat und nun auswendig lernt, bereitet sich der galante Leiziger (es war doch kein Hallenser Pietist)372 auf das Rendezvous vor:373 Tyrastes und Selander fiengen hier erschrecklich an zu lachen; und der andächtige Amant wurde so beschämt und verwirrt, […] daß er über Hals und Kopff fort lief, und sein gantz Concept von Complimenten liegen ließ, welches sie hernach bey Eröffnung der Thür fanden, und ein Excerpten-Buch von allen Complimenten, aus des Herrn Talanders Romanen in die Hände kriegten.374

Obwohl die Romanszene nicht explizit gegen Talander formuliert ist, assoziiert sie die Schriften des Älteren mit negativen Aspekten: eine floskelhafte Formalisierung und trockenes Auswendiglernen, dem Esprit und Feuer fehlen. In einzelnen Kreisen der Leserschaft haftet dem Stil und den Romanen Talanders nun tatsächlich der Makel des Gestelzten und der inhaltsleeren Floskel an. 1713 attackiert Selamintes (Christoph Gottlieb Wendt) seinen Konkurrenten Behmeno und behauptet, dessen Romane bestünden einzig aus nichtssagenden Galanterien, die er lediglich bei Talander abgeschrieben habe: Er [Behmeno] flattiret sich mit einer geneigten Auffnahme, weil sein galanter Roman dem galanten Leser galante Sachen, galante Passagen und galante Persohnen, vorstelle, und auch an und vor sich selbst recht artig wäre. Lauter Galanterien! wem es etwan daran fehlet, der kan sich hier Raths erholen. […] Insonderheit stellet er seine Heroinen recht galant vor; […] D[a]nn

370 Menantes:

Satyrischer Roman, S. 51, auch im Folgenden. S. 56. 372 Ebd., S. 57. 373 Ebd., S. 54, 57. 374 Ebd., S. 56. 371 Ebd.,

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

kommen die alabasterne Brüste, und so weiter; Heisset das nicht aus dem Herrn Talander und andern gestohlen?375

Sich gegen Talander und dessen Schreibart zu richten, bedeutet in den Jahren nach 1710, sich gegen eine Form der Galanterie zu wenden, die in jugendlichen Kreisen mittlerweile als veraltet gilt. Die Szene im Satyrischen Roman hat somit nicht nur parodistische Effekte, sondern trifft den in der Fiktion des Romans genannten Autor Talander (Bohse), der in den Folgejahren tatsächlich an Popularität einbüßt. Seine Schriften werden zwar noch geschätzt, doch häufig wird Menantes (Hunold) der Vorzug gegeben.376 Wie stark der galante Roman Eingang in studentische Sphären gewinnt, wird deutlich. Hunold, der ehemalige Student und junge Autor, der die eigenen Studien aus finanziellen Gründen abbrechen muss, parodiert im Roman studentische Stereotype und bringt die Gattung mit neuen Sujets aus dem studentisch-akademischen Milieu in Verbindung. Studentische Habitusstereotype, die das Galante bereits affirmativ aufgenommen haben und Abgrenzungs- bzw. Identifikationsmodelle für junge Männer bieten (der galante Leipziger vs. der raubeinige Jenenser usw.), können durch fiktionalisierte Neuauslegungen des Galanten permanent modifiziert und weiterentwickelt werden ‒ ein Prinzip, das auch den weiblichkeitszentrierten Roman betrifft. Die jungen Studenten Selander und Tyrastes verlachen den galanten Leipziger und erscheinen im Rahmen des galanten Romans als die ‚besseren‘ Galanten; die Darstellung mag immer neue Abgrenzungs- und Identifikationsmöglichkeiten für eine studentische Leserschaft bieten, wobei sich der Erzähltext nicht auf studentische Habitusstereotype beschränkt, sondern junge Männlichkeit im Allgemeinen problematisiert. Mit einer Mischung aus Galanterie, Satire und Provokation gewinnt Menantes/Hunold eine junge Leserschaft für sich und macht dem Älteren Talander/ Bohse den Rang als galanten Modeautor streitig, wie die Rezeption von Meletaon/ Rost zeigt. 3.2.2.3 Poetische Fehden II: Rost/Meletaon und Hunold/Menantes Der galante Romanmarkt durchläuft Konjunkturen und Wandlungen: Gilt vor 1700 Talander/Bohse als Vorbild und beliebter Romanautor, so ist dies nach 1700 vielfach Menantes/Hunold. In der Romanvorrede Der Verliebte Eremit (1711) lobt der 23-jährige Johann Leonhard Rost alias Meletaon (1688–1727) überschwänglich den „bey der galanten Welt höchst=meritirten Herrn Menantes“.377 Aus dessen neuester 375 Selamintes:

Der närrische und doch verliebte Cupido […]. Leipzig, Hall[e] und Hamburg 1713, zit. nach Simons: Marteaus Europa, S. 330. 376 Kap. 3.2.2.3 Poetische Fehden II: Rost‒Hunold. 377 Meletaon [Johann Leonhard Rost]: Der Verliebte Eremit / Oder des / Gravens von Castro / Lebens= und Liebes=Geschichte […]. 1711 s.l. [Nürnberg: Johann Albrecht], Vorrede, unpag. [A 3a]. Referiert wird auf Menantes [Christian Friedrich Hunold]: Die Manier Höflich und wohl / zu / Reden und zu Leben / Mit hohen vornehmen Personen / seinesgleichen und / Frauenzim-

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Publikation Manier Höflich und wohl zu Reden und zu Leben (1710) würde der „galante Geist“ des Autors aus allen „Buchstaben hervorleuchtet“.378 Rost, Sohn eines Wirtshausbesitzers oder „Weinschenks“ aus Nürnberg,379 wird der Nachwelt vor allem als geschätzter Astronom und Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften bekannt.380 Zu Zeiten seiner intensiven Romanproduktion, zwischen 1705 und 1712, ist er jedoch noch Student ‒ zunächst an der Universität Altdorf (1705‒1708), dann in Leipzig (1708/09) und schließlich in Jena (1709‒1712), wo er das Studium beendet.381 Für ihn gilt Menantes (Hunold), trotz oder gerade wegen seines abenteuerlichen Lebenswandels, als der vorbildliche galante Dichter schlechthin. Rost erhebt Hunolds Manier Höflich und wohl zu Reden und zu Leben zum Standardwerk der jungen Generation und den Autor zum Vorbild und Lehrmeister „jedweder junger Menschen“: Wann ich nur den Namen Menantes aussprechen höre / oder dessen Buchstaben erblicke / vergnüget mich schon der galante Geist […] / den Er unter andern vernünftigen Schriften / absonderlich in der […] Manier, höflich und wol zu reden und zu leben ungemein artig hervor leuchten lassen / daß billich ein jedweder junger Mensch / der nicht gedenket bey der Mutter hinter dem Ofen sitzend zu bleiben / dieses Buch zu seinem Lehr= und Hofmeister annehmen sollte / wann er sich dem Herrn Auctori nicht selbsten untergeben kan [Hervorh. K.B.].382

Menantes Manier Höflich und wohl zu Reden und zu Leben ist ein Verhaltens- und Konversationsratgeber, der neben Fragen zum angemessenen Verhalten und Sprechen (galante Conduite) auch konkrete Tipps gibt, wie junge Männer mit knappen Budget in der Welt umherkommen bzw. sich etablieren können. Statt begrenzte Ressourcen in kostspielige Unterkünfte und Quartiere zu investieren, sollte man lieber in „vornehmsten Wirths=Häusern“ und „Wein=Häusern“ verkehren, wo man die Bekanntschaft vermögender Personen machen könne.383 Mit poetischen Gelegenheitsschriften (Hochzeitsgedichte, Leichenpredigten) trachte man danach, jene Personen von seinem poetischen Talent zu überzeugen, damit man weitere Aufträge erhalte, durch sie in die Gesellschaft eingeführt würde oder sogar eine Anstellung mer / Als auch / Wie das Frauenzimmer eine geschickte Aufführung gegen uns gebrauchen könne […]. Hamburg: Johann Wolffgang Fickweilern / Buchhändler im Dohm / 1710. Hunolds Roman erfuhr bis 1752 sechs Neuauflagen, was für die Popularität spricht, die u.a. durch Meletaon/ Rost forciert wird, Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 2203. 378 Meletaon: Verliebte Eremit, Vorrede, unpag. [A 3b]. 379 Simons u. Gaab: Johann Leonhard Rost – ‚Romanist‘ und Astronom, S. 305‒331, hier S. 307. Hinweis auf den Vater als Weinschenk bei Georg Andreas Will: Nürnbergisches Gelehrten=Lexicon oder Beschreibung aller Nürnbergischen Gelehrten beyderley Geschlechtes […]. Dritter Theil. Nürnberg/Altdorf: Lorenz Schüpfel 1757, S. 397–400, hier S. 397. 380 Rost wird 1723, vier Jahre vor seinem Tod, als Auswärtiges Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen, Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 3501. 381 Ebd., S. 3501–3516; Günther: Art. Johann Leonhard Rost. In: Allgemeine Deutsche Biographie 29 (1889), S. 274–276, hier S. 274. 382 Meletaon: Verliebte Eremit, Vorrede, unpag. [A 3b]. 383 Menantes: Manier Höflich und wohl zu Reden und Leben, S. 353–355, hier S. 353.

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angeboten bekäme.384 Meletaon/Rost ist begeistert von diesem unkonventionellen Autor. Wer die Möglichkeit habe, so Meletaon im Verliebten Eremit, solle selbst bei Menantes in die Schule gehen.385 Hunold bietet mittlerweile in Hamburg „Collegia in Stylo, Oratoria und Poesi“ an, wie sein Biograf Wedel berichtet.386 So habe er inzwischen die „Gelegenheit“ bekommen, unterschiedlichen Purschen aus dem Gymnasio, Collegia in Stylo, Oratoria und Poesi zu halten / […] und ward dadurch immer mehr und mehr bekannter / so / daß viele vornehme und galante Leute seine Freundschafft und Conversation suchten und verlangten / und ist gewiß / wann er mit seiner Feder etwas behutsamer wäre umgegangen / so hätte er mit der Zeit sein Glück vollkommen allda machen können.387

Der Romanautor ist zugleich Sprach- und Sittenlehrer, der galantes Kommunizieren und Verhalten nicht nur über den Roman oder Briefsteller, sondern auch im Unterricht persönlich vermittelt. Mit dieser Form des öffentlichen Auftretens, die Hunold zunächst aus finanziellen Gründen ergreift, steigert sich seine Bekanntheit. Die personelle, an seine Person gebundene Rezeption setzt Dimensionen des ‚Personenkults‘ frei, wie dies Bohse nicht gelingt, obwohl er sich derselben Medien und Strukturen bedient.388 Insbesondere durch Briefsteller und sprachnormierende Werke schafft es Menantes/Hunold, in die Reihen der ‚notwendig zu lesenden Autoren‘ aufgenommen zu werden. Der Leipziger Verleger Friedrich Groschuff gibt ein Curieuses Studenten=Bibliothecgen (1707) heraus, in dem Menantes Briefsteller in der Rubrik „Poesie“, „Teutsche Briefe“ und sogar unter der „Gelehrten Historie“ landet.389 Menantes wird neben anerkannten Autoren wie Georg Daniel Morhoff, Christian Weise oder Christian Thomasius genannt.390 Dass die Briefsteller auch Musterbriefe enthalten, die Hunold aus seinen Romanen kompiliert und die z.B. dazu anleiten, wie Frauen zur Flucht aus dem Kloster zu motivieren seien, wie sich ein Autor verteidigen könne, der Textpassagen aus fremden Büchern stiehlt, wie ein

384 Ebd.

385 Wenn

man sich „dem Herrn Auctori nicht selbsten untergeben kan“, solle man seine Schriften lesen, Meletaon: Verliebte Eremit, Vorrede, unpag. [A 3b]. 386 Wedel: Geheime Nachrichten, S. 16. 387 Ebd. 388 Bohse hält ebenfalls „Collegia“ in Poesie und Redekunst, bis zur Festanstellung sogar in mehreren Städten wie Hamburg, Berlin, Dresden, Jena, Erfurt, Leipzig und Halle, Dunkel: Historisch=Critische Nachrichten, S. 401f. Interessant wäre es zu klären, warum Bohse nicht dieselbe Popularität erringt wie Hunold bzw. worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind. 389 [anonym]: Curieuses Studenten=Bibliothecgeen, worinnen gezeiget wird, was ein Studiosus Theologia, Juris, Medicinae, Philosophiae u. Politices entweder von nöthigen und nützlichen Büchern sich anschaffen, oder von welchen er einige Nachricht haben solle und müsse […] / Leipzig, verlegts Friedrich Groschuff, 1707 (hier verwendet in der 4. Aufl., 1718), S. 21, 23, 54f.; empfohlen wird Hunolds Briefsteller Allerneueste Art Höflich und Galant zu schreiben sowie im Bereich der „Gelehrten Historie“ eine Abhandlung von Hunold über das moderne Journalwesen. 390 [anonym]: Curieuses Studenten=Bibliothecgen, S. 21, 23f., 31, 33, 54f., 228.

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„Frauenzimmer ihren von neuen angenommenen Liebsten“ die Gunst entzieht und erneut gewährt u.a.,391 scheint nicht ins Gewicht zu fallen. An Menantes/Hunolds Romanen scheint vor allem die sogenannte „satirische Schreibart“ gefallen zu haben, die sich als eine Art satirische Authentizitätsfiktion beschreiben lässt (Kapitel 3.4.1.3). Von seinen Verehrern wird dieser Stil und Textmodus durchaus als provokant, aber weiterhin als ‚galant‘ und kultiviert rezipiert. In Rosts Schau=Platz der Galanten und Gelährte Welt, parallel in Leipzig als Die Liebenswürdige und Galante Noris (1711) erschienen,392 finden sich intertextuelle Bezüge zum Satyrischen Roman, den Rost zur Requisite einer ausgelassenen Wirtshausszene macht, so dass intradiegetisch, über Figurenrede und Figurenhandeln, wertende Urteile zu realen Publikationen und Autoren formuliert werden. Der Roman wird erneut als beliebte Lektüreform junger Leser in Szene gesetzt: Er [der Student Leander] gienge selbigen Abend auf den Raths=Keller / ein Glas Wein zu trincken / woselbst er etliche Pursche antrafe / die unterschiedliche Discurse führeten / und dann auch auf die Romaine zu reden kamen / daß manchmahl in denselbigen so lustige Streiche vorfielen / absonderlich aber delectirten sie sich an den artigen Liebes=Calender in des Herrn Menantes Satyrischen Roman / über dessen Innhalt / weilen der eine ein Exemplar bey sich / sie sich sehre zerlachten / und dabey auch allerhand Glossen macheten / welche hier zu erzehlen / wegen der Weitläufftigkeit / erspahret wird [Hervorh. K.B.].393

Das Pikante der vergnüglichen Ratskeller-Szene liegt in dem, was ausgespart bleibt, nämlich im Objekt des Vergnügens, dem „artigen Liebes=Calender“, auf den Kapitel 3.4.2.3 eingeht. Junge galante Autoren kreieren durch intertextuelle Referenzen eine literarische Kommunikation, die starke selbstreferentielle Züge trägt und sich gewissermaßen beständig selbst zitiert. Das können negative oder positive Bezüge sein, wie im Falle von Rosts Bewunderung für Hunold und übrigens auch Bohse, die er beide wegen ihrer „Inventiones“ und des „Stilums“, den Erfindungen und des Stils, verehrt.394 Die ästhetischen Werturteile lassen einen poetischen Referenzrahmen entstehen, der es dem galanten Autor ermöglicht, auch die eigene Romanproduktion einzuordnen und sich, in gebotener Bescheidenheit, selbst zu positionieren: [U]nd ob sie [meine Romane] gleich nicht so galant als der Herr Menantes und Talander die Inventiones und den Stilum einrichten / wird sie [die vorliegende Schrift Der Verliebte Eremit] doch auch nicht abgeschmackt oder einfältig heraus kommen.395

In der Folgezeit wird Meletaon für andere Autoren zur vorbildlichen Referenz, in deren Traditionslinie man den eigenen Text verstanden wissen will. So erklärt Me-

391 Hunold: Allerneueste Art

Höflich und Galant zu schreiben, S. 404, 470, 496f., 419. 3.1.3.4 Soziale Strukturen und (illegitime) Praktiken. 393 Meletaon [Johann Leonhard Rost]: Schau=Platz Der Galanten und Gelährten Welt, Erster und Anderer Theil / Eröffnet von Meletaon, Nürnberg: Johann Christoph Lochners, 1711, S. 318. 394 Meletaon: Verliebte Eremit, Vorrede, unpag. [A 4b]. 395 Ebd., Vorrede, unpag. [A 4b]. 392 Kap.

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lisso in der Vorrede zu Die rachgierige Fleurie (1715): „Ist gleich die Schreib=Art [meines Werkes] nicht allzu zierlich; Daß sie derjenigen, welche die unvergleichlichen Romanisten unserer Zeit als Herr Talander, Menantes und Meletaon führen, gleich kommen soll: So bin ich schon zu frieden, wann ich nur den tausenden Teil von der Annehmlichkeit im Schreiben, dieser berühmten Leute, bekomme.“396 Der Romanmarkt generiert und reproduziert sich selbst, schafft eigene Traditionslinien und entfaltet eine eigentümliche Dynamik der Selbstreferentialität. Diese kann sich auch als negativer Diskurs gegen konkurrierende Autoren richten und wirkt trotzdem stabilisierend auf das Feld zurück, denn bekanntlich ist auch eine schlechte Kritik eine Form der Kritik, die Aufmerksamkeit schafft. 3.2.2.4 Poetische Fehden III: Rost/Meletaon und Celander Ausgesprochen heftige und mehrjährige Fehden führt Meletaon/Rost gegen einen Autor namens Celander, der unter dem fingierten Impressum „Cölln, Bey Pierre Martaux“ den Roman Der Verliebte Studente (1709) veröffentlicht.397 Celander ist ein Autor, der zum selben Zeitpunkt wie Rost auf dem Romanmarkt erscheint und versucht, sich als Verfasser zu etablieren. Ein Jahr nach Meletaons erfolgreicher Publikation Die Unglücksselige Atalanta (1708) gibt Celander den Verliebten Studente (1709) heraus, der 1713 eine zweite Auflage erfährt und so bekannt wird, dass 1714 ein neuer zweiter Teil folgt.398 Die Auseinandersetzung zwischen Meletaon und Celander zeigt, dass sich poetische Fehden um 1700 auch zu handfesten Konfrontationen zwischen den Autoren ausweiten können. Junge galante Autoren instrumentalisieren den Roman, um in Text und Paratext gegen konkurrierende Autoren zu polemisieren. Als leicht zu entschlüsselnde Figuren fiktionalisieren sie ihre Gegner oder verwenden Vorreden und beigefügte Pamphlete, um gegen die Konkurrenz vorzugehen. Erstmals zieht Meletaon/Rost im Schau=Platz der Galanten und Gelährten Welt. Ander Theil (1711) gegen Celander zu Felde. Im Rahmen der Romanhandlung lässt er die studentischen Protagonisten Amando und Gerano, einem „Liebhaber von 396 Melisso:

Die rachgierige Fleurie […] von Melisso / Franckfurt und Leipzig: J. Hoffmanns Erben, 1715, zit. nach Simons: Marteaus Europa, S. 318, Hervorh. K.B. 397 Celander: Der Verliebte Studente / In einigen annehmlichen / und wahrhafftigen Liebes=Geschichten / welche sich in einigen Jahren in Teutschland zugetragen. Der galanten Welt zu vergönter Gemüths=Ergetzung Vorgestellet / von Celander. Cölln, Bey Pierre Martaux, 1709. Zum fingierten Verlagsimpressum Marteau Kap. 2.2.3 Text und Paratext. 398 Die einzige Ausgabe des zweiten Teils Des Verliebten Studentens ander Theil befindet sich heute in der Universitätsbibliothek Halle in einer Ausgabe von 1715. Die Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz vermerkt eine Erstauflage von 1714, die jedoch als Kriegsverlust geführt wird, Celander: Des Verliebten Studentens ander Theil, welchen unter der Lebens= und Liebes=Geschichte des Marchesens Infortunio de Stellos / der galanten Welt zur Vergönten Belustigung Schertz= und Ernsthafft vorgestellet von Celander. Cölln: P. Marteau, 1715. Zur Auflösung des fingierten Impressums ‚Pierre Marteaux‘ in diesem Falle als „Hamburg: [Christian] Liebezeit“ vgl. Weller: Die falschen und fingierten Druckorte, S. 60.

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Romanen“, einen Roman in die Hände fallen, den Gerano gerade einmal für gut befindet, um ihn „zu Schnupftüchern [zu] gebrauchen“ und „zum Tobackanzünden“.399 Der Protagonist bezeichnet die Schrift als „Scarteque“ und behauptet, „daß keine miserablere Arbeit jemalen in dem Druck erschienen“ sei. Der besagte Roman trägt den Titel „Der verliebte Student / in unterschiedlichen Liebes=Intriquen zu vergönnter Gemüts= Ergötzung / vorgestellet von Leandern. Cölln Anno MDCCX [1710].“ Weder aus den Messkatalogen und Bestandslisten deutscher Verleger noch unter den heute vorhandenen Originalen lässt sich die Publikation ermitteln.400 Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um eine Fiktion, mit der Rost durch die Ähnlichkeit der Titelgestaltung, des Autornamens (Celander/‚Leander‘) und des Verlagsorts unmittelbar auf Celanders Verliebten Studente zielt und den Autor empfindlich treffen will. Im fiktiven Gespräch zwischen Gerano und Amando wird Celanders Verliebte Studente besprochen. „[W]ann man […] von dem Auctore raisoniren will“, so die Figuren, muss man „den Inhalt eines Buches wissen“.401 Die Protagonisten plädieren für eine unvoreingenommene Lektüre, doch im Verliebten Studente finden sie ihrer Meinung nach nur „elend Zeug“. Kritisiert wird vor allem die inhaltliche Gestaltung des Liebessujets. „Eine Gemüths=Ergötzung muß was zulängliches seyn / so man sich unterfangen will / dieselbe zu verantworten“, findet Amando. „[W]ann aber auch dieses zur Ergötzung des Gemüthes gehöret / was vor aller Welt verbotten / so wird endlich Tugend und Laster noch einerley heissen.“402 Auch Sprache und Stil werden bemängelt, denn „der Auctor kan ja nicht einmal einen Stilum führen“. Ins Detail geht die Auseinandersetzung nicht, offensichtlich drehen sich poetische Reflexionen junger Männer um 1700 um ein recht konfuses Schreib- und Stilideal, das selbst noch nicht klar konturiert scheint. Deutlich wird aber, dass inhaltliche, stilistische und moralische Dimensionen der Textgestaltung wahrgenommen und bewertet werden. Im Umkehrschluss wäre daher anzunehmen, dass Rost/Meletaon seine Romane – und damit auch seine galanten Frauenfiguren – in bester Absicht ‚tugendhaft‘ und stilistisch bedacht gestaltet. Die Anonymität des Buchhandels ermöglicht es allerdings, Texte unterschiedlichster Couleur zu publizieren. Der Autor des Verliebten Studente habe sich der Veröffentlichung nur erdreistet, „weilen er gemeinet / man würde ihn / als den rechten Auctorem nicht erfahren“. Rost droht daher, die Identiät Leanders respektive Celanders zu lüften. In der Figurenrede der studentischen Protagonisten werden Einzelheiten über den fiktiven Autor Leander preisgegeben, die über die Romanhandlung hinaus auch

399 Meletaon:

Schau=Platz der Galanten und Gelährten Welt, Ander Theil, S. 361, auch im Folgenden. 400 Catalogus Universalis […]. Leipzig: Grosse, 1699‒1730. 401 Meletaon: Schau=Platz der Galanten und Gelährten Welt, Ander Theil, S. 363f., auch im Folgenden. 402 Ebd.

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den pseudonymen Autor Celander zu demaskieren drohen. So wird behauptet, es handelte sich bei Leander um einen „Theologus“, der „in Halle studiret“ habe, „ja / wo mir recht / auch in Leipzig“ verkehrt usw.403 Dies trifft selbstredend auf eine Vielzahl junger Männer zu, doch Rost instrumentalisiert den Figurendialog, um eine unmissverständliche Warnung an Leander/Celander zu richten, die Züge einer Erpressung annimmt. In Leipzig, so der Protagonist Amando, habe er einen Freund, der „den unverschämten Leander“ (Celander) sehr wohl kenne, ebenso wie „dessen Lebens=Lauff […] / der so beschaffen [ist] / daß man etliche Bögen damit auszufüllen“ vermag.404 Bei einer weiteren Publikation würde dieser Freund die Identität Leanders/Celanders vollständig lüften und ihn öffentlich diffamieren: [I]ch [Amando] kenne auch einen guten Freunde in Leipzig / […] der hat geschwohren / sobald er [Leander/Celander] wieder was heraus gibt / ihn also abzubaden / daß er seine Schreib=Art gäntzlich darüber vergessen / und öffentlich zu Schanden gemacht werden soll / wie alle diese verdienen / welche sich durch ihre Feder in Renommeé setzen wollen / da sie doch nicht einmal recht schreiben gelernet.405

Die Kritik setzt an der Schreibart und Publikationspraxis an. Offenbar wird hier eine Auseinandersetzung ausgetragen, die zwar recht unspezifisch auf ein nicht näher benanntes Stil- und Schreibideal zielt, aber das Schreiben und Publizieren selbst problematisiert, den Zugang zu bzw. den Ausschluss vom Publikationsprozess. Während bei Talander/Bohse ein relativ gemäßigtes Changieren zwischen pseudonymer und empirischer Autorrolle zu beobachten ist, das sich im Sinne einer Selbstaussage ausschließlich auf den Autor selbst und sein Schreiben bezieht, wird der Roman nur knapp zehn Jahre später dazu benutzt, um reale Romanautoren zu fiktionalisieren und ihre Texte harsch zu kritisieren. Rost setzt zum Rundumschlag an, indem er nicht nur Leander/Celander, sondern generell jeden warnt, der sich erkühne, die Feder zu ergreifen, ohne (im Sinne Meletaons) schreiben zu können. In Sperrschrift und damit peritextuell als Aussage von besonderer Wichtigkeit markiert, endet das ‚Tabakgespräch‘ zwischen Gerano und Amando mit folgender generalisierender Drohung: Es ist heunt zu Tage manche Feder so kühne / daß sie sich nicht scheuet / Sachen zu entdecken / die sie doch auszuführen lange nicht capable [fähig] ist / dieses gibt der Unverstand ihrer Führer zu verstehen / die da meinen / wann sie nur das Papier mit Worten anfülleten / so wäre es schon genug / allein es kommt gemeiniglich ein anderer über sie / der sie nachgehends so abwürtzet / daß ihnen aller Appetit zu weitern Schreiben vergehet.406

403 Ebd., 404 Ebd., 405 Ebd. 406 Ebd.

S. 362. S. 365.

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Da Autoren galanter Romane auch als deren Leser anzunehmen sind, bietet der Roman einen direkten Kommunikationskanal zur Konkurrenz.407 Eine sekundäre Kommunikationsebene wird im Roman dominant, die über die fiktionale Handlungsebene hinaus, extratextuelle (poetische und soziale) Aspekte des Publikationsprozesses betrifft. Zugespitzt formuliert: Hier wird versucht, über den Roman Partizipation- und Zugangschancen zu Druck und Publikation, zur Öffentlichkeit und konkrete Marktpositionen zu verhandeln bzw. auszutaktieren. In diesem Zusammenhang beginnen junge Autoren, poetische Urteile zu formulieren bzw. poetische Argumentationen zu suchen, die zwar sehr allgemein und unspezifisch ausfallen, grundsätzlich aber dazu anregen, in poetologischen Kategorien über fremde Romane, eigene Texte und das Schreiben bzw. den Produktionsprozess generell nachzudenken (Kapitel 3.4). Celander scheint nun Meletaons/Rosts Vorwürfe erwidert zu haben. In der Forschung wird eine heute verschollene Neuauflage von Celanders Verlieben Studente (Cölln: Peter Marteau, 1713) erwähnt, die auch im Oster-Messkatalog 1713 von Johann Friedrich Gleditsch gelistet ist und die Gleditsch von Leipzig aus vertreibt.408 In der Vorrede soll sich Celander „scharf mit dem bekannten Unterhaltungsschriftsteller Meletaon auseinander gesetzt“ haben.409 Heute überliefert ist nur noch ein 90-seitiges Pamphlet, in dem Meletaon/Rost ausführlich auf Celanders Beschuldigungen reagiert und sie zum Teil wortwörtlich zitiert. Die Verteidigungsschrift ist den Curieusen Liebesbegebenheiten (1714) beigefügt und wird auf dem Titelblatt wörtlich angekündigt: Bescheidene Verantwortung und abgenöthigte Ehrenrettung wider Celanders grobe Beschuldigung und unbesonnene Injurien, Die er der Dedication und Vorrede des Verliebten Studenten zu seiner beharrlichen Schande einverleibet; der gantzen vernünften Welt zur Nachricht und Beurtheilung öffentlich ausgefertiget von Meletaon.410 Obwohl Meletaons Wiedergabe der Fehde nicht zu überprüfen ist und sogar erhebliche Zweifel an deren ‚Wahrhaftigkeit‘ angebracht sind, ist die Schrift interessant, weil sie illustriert, wie die Interferenz von Autoren und Texten einen Kommunikationsmodus entstehen lässt, innerhalb dessen Autor-

407 Andere

poetische Fehden sind bekannt, z.B. zwischen Rost und Sarcander, Selamintes und Behmeno, Parthenophilus und Le Content u.a., Simons: Marteaus Europa, S. 300–306, 330–332. 408 Johann Friedrich Gleditsch: Catalogus Librorum Jo. Friderici Gleditsch & Filii, Bibliopolarum Lipsiensium. In: Die Europäische Fama (1713), unpag. [S. 943]. 409 Waldberg: Art. Rost. In: ADB 29 (1889), S. 275; Deutsche Literatur bis zum Barock: Erstausgaben, Gesamtausgaben, illustrierte Bücher. Katalog 86, Stuttgart 1971, S. 12f.; Simons: Marteaus Europa, S. 304. 410 Meletaon [Johann Leonhard Rost]: Bescheidene Verantwortung und abgenöthigte Ehrenrettung wider Celanders grobe Beschuldigung und unbesonnene Injurien, Die er der Dedication und Vorrede des Verliebten Studenten zu seiner beharrlichen Schande einverleibet; der gantzen vernünften Welt zur Nachricht und Beurtheilung öffentlich ausgefertiget von Meletaon. In: Curieuse Liebes=Begebenheiten. Aus dem Frantzösischen übersetzet; Und mit den darzu ghörigen Kupfern nebst einer Vertheidigung wider Celandern, an das Licht gestellet von Meletaon. Cölln gedruckt im Jahr 1714, Verteidigungsrede im Anhang, S. 163‒254.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

positionen fiktionalisiert und Textstrukturen experimentell gehandhabt werden können. Nach Ansicht Meletaons verfolge Celander in dreistester Absicht Rufmord. Meletaon behauptet, Celander habe ihn, Meletaon, eine „unzeitige Geburt der Romanisten“411 genannt, einen „Ehren=Dieb und Coujon“,412 einen Bolzen oder Dübel, dessen „Liebes=Geschichte[n] / zusammen geschmierte Romanen“ seien.413 Er ist davon überzeugt, dass Celander nicht nur auf die poetische Reputation von Meletaons Pseudonym ziele, sondern auch auf Rosts reale Identität. Celander habe sich in „unbesonnener ja recht unverantwortlicher Weise unterfangen / so wohl meinen gewöhnlichen Nahmen Meletaon, als mich selber mit dem Geiffer garstiger Schmähe=Worte zu besudeln“.414 Indem Celander gegen Meletaon intrigiert, verfolge er vor allem das Ziel, die Leserschaft von Meletaons Romanen abzubringen und für die eigenen Schriften zu gewinnen: Das erste Wort welches der hitzige Celander wider mich [Meletaon/Rost] ausgestossen / bestehet in einer spöttlichen Beschimpfung / da er mich die Mißgeburt der Romanisten nennet. Du lieber GOtt! wie wird er sich erfreuet haben / als ihm diese Injurie eingefallen / weil er doch […] nichts mehrers darunter gesucht / als durch solche zugelegte Schand=Worte / die Leute abzumahnen / daß sie meine Romanen nicht ferner lesen / sondern an deren statt / vor Celanders vergötterten Romanen […] verehren solten […] [Hervorh. K.B.].415

Im Verlauf der Verteidigungsrede kreiert Rost eine Konflikt- und Konkurrenzsituation zwischen Meletaon (d.h. sich selbst in fiktionalisierter Form) und Celander, die äußerst komplex und demagogisch gestaltet ist. Fiktive, reale und fingierte Informationen werden zu einer einzigen Attacke gegen Celander verwoben. So kommt Rost auf seine Herkunft aus Nürnberg416 oder seine Studien in Jena zu sprechen und suggeriert damit eine Authentizität oder faktische Überprüfbarkeit seiner Darstellung.417 Gleichzeitig zitiert Meletaon die Vorwürfe Celanders, die seine Person diffamieren und die wiederum Meletaon nutzt, um gegen Celander zu streiten, aus einem Brief, den ein namenloser Freund an Celander geschickt habe (Meletaon nennt ihn den „Calumnianten“, den Verleumder).418 Unklar ist bereits an dieser Stelle, wie Rost in den Besitz des Briefes gelangt sein soll. Das vermeintlich authentische Dokument wird in Kursivschrift hervorgehoben. Der Calumniant berichtet darin, wie 411 Meletaon:

Bescheidene Verantwortung und abgenöthigte Ehrenrettung, S. 207. S. 232. 413 Ebd., S. 229. 414 Ebd., S. 164, Hervorh. K.B. 415 Ebd., S. 198, Hervorh. K.B. 416 Ebd., S. 223f. 417 Ebd., S. 176, 179–183, 214, 234. Rost wurde tatsächlich in Nürnberg geboren und studierte 1709 bis 1712 in Jena, vgl. [Günther]: Art. Rost, Johann Leonhard. In: ADB 29 (1889), S. 274‒276, hier S.  274; zur Betonung der vermeintlichen Authentizität der Aussagen vgl. Meletaon: Bescheidene Verantwortung und abgenöthigte Ehrenrettung, S. 224. 418 Ebd., S. 164. 412 Ebd.,

3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane

139

Meletaon in seinen Romanen und in unterschiedlichen Universitätsstädten gegen Celander gehetzt habe.419 Rost gibt den Brief nicht in zusammenhängender Form wieder, sondern in das fingierte Briefzitat (kursiv) mischen sich wie in einem emotionalen Streitgespräch kurze Verteidigungspassagen von Meletaon (typografisch in normaler Fraktur gesetzt). Rost unterbricht beständig den Brief, meldet sich zu Wort und berichtigt impulsiv die vorgeblich ‚falsche‘ Darstellung. Vermeintlich ‚falsche‘ und ‚richtige‘ Perspektive greifen schon bald so stark ineinander, dass sie nur noch typografisch voneinander zu unterscheiden sind. Erschwerend tritt hinzu, dass die gesamte Verteidigungsrede in der Ich-Form geschrieben ist, wobei sich stets unterschiedliche Instanzen mit diesem „Ich“ zu Wort melden. Unkommentiert und nahtlos schwankt das sprechende Ich zwischen Meletaon, dem Calumnianten, einem weiteren anonymen Freund Celanders aus Jena (der zwischenzeitlich unkommentiert, sozusagen als vierte Instanz, eingeführt wird) und Celander, dessen wörtliche Rede Meletaon vorgibt, aus der Vorrede des Verliebten Studente zu zitieren.420 Eine eindeutige Zuordnung, wer mit dem „Ich“, das spricht, noch gemeint ist, kann bei einer oberflächlichen Lektüre kaum mehr getroffen werden. Doch Meletaon fingiert auch seine Quellen – obwohl er vorgibt, die verleumderischen Vorwürfe Celanders aus der Vorrede des Verliebten Studente zu zitieren, bezieht er sich später (wie er nur an einer Stelle kurz erwähnt, dann aber verschweigt) auf einen mutmaßlichen Roman Celanders „Die Academischen Göttinnen“ und deren „Dedication an die Göttinnen der Teutschen Academien, das ist: An das Frauenzimmer auf Universitäten“.421 Meletaon behauptet, Celander habe in der Vorrede gegen ihn gehetzt. Die vermeintliche Publikation ist in Messkatalogen und Verlegerlisten allerdings bis heute nicht auffindbar;422 vermutlich handelt es sich erneut um eine Fiktion Rosts. Diese nutzt der Autor, um den Kontrahenten „abzuwürzen“: Sonsten muß Celander alle Kunst / Weisheit und Verstand gefressen haben / weil er der einzige ist / dem meine herausgegebene Romanen nicht recht sind / und mich deswegen die Missgeburt der Romanisten nennet; […] was die Mißgeburt der Romanisten betrift / kan Celander das wahre Original sehen / wenn er in den Spiegel guckt […]. Daß der superkluge Celander, der die Flöhe=Husten siehet / und das Graß wachsen höret / mich den ‚albernen Meletaon‘ gescholten / entdecket dessen vorsetzliche Bosheit […]; aber warum soll man einem Menschen nichts zu gute halten / der über seinen Verstand gestolpert?423 Daß Celander den Stylum curiae […] aus der Bauern=Cantzeley entlehnet / darf ich daraus ur­ theilen / weil es scheinet / als ob er gar mit dem Treschflegel oder der stinckenden Mist=Gabel geschrieben; Den[n] er war nicht vermögend ein bescheiden Wort vorzubringen / sondern der Amts=Eifer gegen den unschuldigen Meletaon, gab ihm eine Lästerung nach der andern ein /

419 Ebd.,

S. 169–196. S. 233–254 (aus der Zweitauflage von der Erstausgabe, 1713). 421 Ebd., S. 197. 422 Catalogus Universalis […]. Leipzig: Grosse, 1699‒1730. 423 Meletaon: Bescheidene Verantwortung und abgenöthigte Ehrenrettung, S. 198 420 Ebd.,

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

woraus er seine grobe Keulen geschnitzet / die aber nun auf sein eigenes grobes Verbrechen zurück fallen / und ihm vor der honnêten Welt / zimlich grosse Schand=Flecken verursachen werden.424

Celander soll sich indes nicht weniger zurückhaltend gewehrt haben, wie Meletaon ihn in direkter Rede ja selbst zitiert. Seine Rede, ob von Meletaon/Rost erfunden oder nicht, ist eindeutig: So hat er [Meletaon] auch darinnen heßlich gefehlet / daß er geglaubet / ich [Celander] würde wegen seiner […] Lügen aufhören / meine Feder ferner zu führen und meine Schreibart niederzulegen. […] Ich schreibe auch nicht allein ihm / sondern allen meinen Feinden zum Trotze und werde auch so lange schreiben / wenn ich nicht durch eine höhere Gewalt davon abgehalten werde / bis ich dasjenige verfertiget / was ich noch herauszugeben willens bin.425

Unzuverlässige und real überprüfbare Informationen fließen ineinander, die in ihrer Unübersichtlichkeit Verwirrung stiften und eine Entscheidung hinsichtlich ihres Authentizitätsgehalts erschweren. Am Ende der Verteidigungsrede relativiert Meletaon/ Rost sogar selbst die Glaubwürdigkeit seiner Rede, indem er mutmaßt, der Brief des Calumnianten – sein wichtigstes Beweisstück gegen Celander – könne auch nur „erdichtet“ sein.426 Die Verteidigungsrede enttarnt sich selbst als rhetorische Konstruktion einer fingierten Berichterstattung, die ihre Konstruktionsprinzipien kunstvoll verschleiert und gleichzeitig erkennbar macht (zur Authentizitätsfiktion Kapitel 3.4.2.1). Die auktoriale Selbstinszenierung nimmt fiktive Züge an, was übrigens formal an den preziösen Roman erinnert.427 Text und Paratexte werden zum Ort, um einen literarischen Kommunikationsmodus zu kreieren, den man mit Menantes/Hunold als satirische Authentizitätsfiktion beschreiben kann (Kapitel 3.4.1.3). Unabhängig davon, was in dieser Kommunikation ‚stimmt‘ oder nicht (möglicherweise ist auch der gesamte Konflikt fingiert), ermöglichst es dieser Modus galanten Sprechens/Schreiben, eine eigene Autorposition zu entwerfen, auszubauen und sie einem Publikum zu präsentieren. Explizit werden immer wieder die Leser als Publikum und Richter in die poetische Fehde einbezogen. Meletaon sieht sich gezwungen, die „Abgenöthigte Verteidigung und unvermeidliche Ehren=Rettung“  –  er spricht nun nicht mehr von einer Bescheidenen Verantwortung und abgenöthigten Ehrenrettung, wie noch im Ti-

424 Ebd.,

S. 236f. S. 218. 426 „Ehe ich die Rechtfertigung gäntzlich endige / gerathe ich auf die Muthmassung: Celander habe den Brief seines guten Freundes in Jena erdichtet / in welcher Meinung mich verschiedene stärcken / die den Inhalt der Vorrede zum verliebten Studenten durchgelesen“ (ebd., S. 250, Hervorh. K.B.). 427 Zur Fiktionalisierung weiblicher Autorschaft durch die Übernahme fiktiver ‚persona‘-Rollen (Namenswechsel) im preziösen Roman (Scudéry = Sappho), vgl. Bung: Spiele und Ziele, bes. Kap. IV: Die Chroniques du Samedi. Eine Handschrift und der ‚Salon‘ der Madeleine de Scudéry, S. 265‒350. 425 Ebd.,

3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane

141

tel – „der gantzen vernünfftigen Welt vor die Augen zu legen / die mich [Meletaon] durch ihr kluges und unpartheyisches Urtheil […] loßsprechen“ wird.428 Wiederholt referiert der Text auf den „vernünftige[n] und unparteiische[n] Leser“, dem die Intrige „öffentlich“ vorgeführt würde.429 Der Romanmarkt um 1700 mit seinen pseudonymen und anonymen Publikationsstrukturen bietet einen anonymisierten Raum öffentlicher Kommunikation, der nicht nur von denen gestaltet wird, die sich Zugang verschaffen (können), sondern auch von jenen, die nur virtuell anwesend sind bzw. ‚anwesend‘ gemacht werden (das Publikum, fiktionalisierte Kontrahenten). Diese anonymisierenden Strukturen eröffnen zugleich einen Schutzraum, der die personale Identität der Autoren wahrt und es ihnen gestattet, das eigene Schreiben rückhaltlos zu entfalten. Entsprechend unbekümmert und selbstbewusst reagiert Celander auf die Vorwürfe Meletaons. In einer neuen Publikation, dem Verliebten Studente Andern Theil (1715), erklärt Celander, nach dem Vorbild des „unvergleichlichen Menantes“ wolle er die „Wut der ungegründeten Feinde“ mit „großmütigem Herzen verlachen“, ja, er fühle sich „glücklich / daß ich mit ihm fast einerley Verhängniß erdulden müssen“, da der Verliebte Studente offenbar genauso viel Kritik und Aufsehen verursacht habe, wie Hunolds Schriften.430 Celander wird sich vom Publizieren nicht abhalten lassen. 3.2.3 Zwischenbilanz I: Expandierender Buchhandel, junge Autoren und poetische Kommunikation Bisher kamen zwei konstitutive Sphären oder Kontextbereiche der deutschen galanten Romanproduktion um 1700 in den Blick: der expandierende Buchhandel (Kapitel 3.1) und die paratextuelle Selbstinszenierung der Textproduzenten, die Hinweise zur soziokulturellen Verortung der Verfasser gibt (Kapitel 3.2). Beide Kontexte stehen in engem Wechselverhältnis und sollen mit Blick auf die weibliche Leserschaft (Kapitel 3.3) und poetologische Aspekte (Kapitel 3.4) ergänzt werden. Zunächst lassen sich folgende Punkte festhalten. Die Gattungsentwicklung des galanten Romans impliziert eine Dynamik, die auch in den Kontexten der Textproduktion zu beobachten ist. So sind (1) die medialen Produktions- und Distributionsbedingungen, die das Aufkommen des galanten

428 Meletaon:

Bescheidene Verantwortung und abgenöthigte Ehrenrettung, S. 165. an denen mit dem Publikum oder einer Öffentlichkeit argumentiert wird (ebd., S. 165, 167, 193, 199, 230, 244, 248, 253); ähnlich in Bohses Amor an Hofe (1689/96): „Ich [Talander/Bohse] unterwerffe die gantze Erfindung dem unpartheyischen Urtheil der verständigen und galanten Welt / denn wann selbiges ohne Passion / und nur die Schrifft / nicht aber den Scribenten durch thörichte Missgunst trifft / bin ich gantz willig / die Fehler bemercken zu lassen“, Talander: Amor am Hofe [1696], Vorrede, unpag. [A 3af.]. 430 Celander: Des Verliebten Studentens ander Theil, Vorrede, unpag. [A 4b]. Meletaon wird in der Vorrede zwar nicht explizit genannt – Celander kann sich also auch gegen andere Feinde oder die anonyme Konkurrenz gewendet haben –, doch erkennt z.B. auch Simons in Celanders Kommentar eine Reaktion auf Rosts Angriffe, Simons: Marteaus Europa, S. 342. 429 Textstellen,

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Romans begünstigen, d.h. das Buch- und Verlagswesen, durch Expansionsprozesse geprägt. Der Buchhandel um 1700 wandelt sich von einem gelehrten, lateinischsprachigen Markt der res publica literaria zu einer breit gefächerten, weltlich orientierten und populär-deutschsprachigen Verlagslandschaft. Durchsetzt ist der offizielle Verlags- und Messbuchhandel von einem Kolportage- und Hausierhandel, der insbesondere die Distribution sogenannter ‚kleiner Schriften‘ begünstigt, zu denen auch der Roman zählt (relativ geringe Auflagen mit minderer Material-, Druck- und Papierqualität). Im Rahmen dieser expandierenden Buchhandelsstrukturen eröffnet sich unter anderem für junge (studentische) Autoren die Möglichkeit, in der Regel anonym oder pseudonym zu publizieren und poetisch tätig zu werden. An August Bohse alias Talander ließ sich zeigen, wie marktorientierte Verleger das Potential junger Autoren nutzen und auch die Verbreitung neuer Textformen oder Gattungen unterstützen. Zahlreiche Zeitschriftenprojekte wie Bohses Helicon (1696–1703), unterschiedlichste populäre Schriften (Ratgeber, Briefsteller, der gesamte Bereich der sogenannten Belles Lettres) und darunter auch der galante Roman sind Ausdruck dieser Medienexpansion. Aufstrebende Verleger insbesondere des nord- und mitteldeutschen, protestantisch geprägten Raums (Leipzig, Hamburg) unterstützen die Produktion und Distribution der galanten Romanpublizistik. Sie nehmen galante Schriften in ihre Verlagsprogramme auf und erkennen im Vertrieb eine Möglichkeit, die eigene Stellung im expandierenden Handel auszubauen und zu stabilisieren. Die Expansion des Buchwesens und die anonymen Strukturen einer Nachdruckökonomie bieten die strukturellen Bedingungen, die die Herstellung und überregionale Verbreitung galanter Romane maßgeblich begünstigen. (2) ist auch die soziobiografische Situation der Autoren  –  und somit die Produzentenebene – durch spezifische Formen des Wandels geprägt. Galante Romane werden hauptsächlich von jungen Männern im Alter zwischen 20 und 35 Jahren verfasst, die eine akademische Ausbildung genossen haben und als junge Akademiker zu einer gesellschaftlichen Bildungselite zählen. Zum Zeitpunkt der Romanproduktion ist ihr weiterer Lebensweg jedoch oft ungeklärt und gestaltet sich zum Teil prekär. Die Romanproduktion fällt in die Phase des Studiums oder die Zeit kurz nach dem Abschluss, in eine biografische Übergangsphase zwischen Studium und Beruf, die durch Neuorientierung, Ungebundenheit, dem Wunsch nach Betätigung, nach beruflicher wie gesellschaftlicher Etablierung bestimmt ist, aber auch wechselnde Lebensstationen, Unsicherheit und unterschiedliche Berufstätigkeiten mit sich bringt. Die Paratexte der Romane lassen verschiedene Motivationen erkennen, die junge Autoren zur Publikation bewegen. Ein wichtiger Grund scheint die Freude an der poetischen Produktion und am Schreiben an sich gewesen zu sein. Galante Autoren verfassen ihre Texte zum „Zeitvertreib“ in den Nebenstunden und zum eigenen „Vergnügen“. Schriften der Nebenstunden beanspruchen keine Werke hoher ästhetischer Qualität oder moralischer Dignität zu sein. Das Schreiben um des Schreibens willen, das Publizieren, um die eigenen Wirkungsmöglichkeiten auszutesten, ist für junge (studentische) Autoren ein starkes Motiv. Gleichzeitig treibt sie

3.2 Die Autoren – Junge Männer als Autoren und Leser galanter Romane

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der Wunsch, die Publikation einem Publikum zugänglich zu machen. Selbstständig suchen sie Kontakt zu Verlegern und bieten ihre Texte zum Druck an. Ebenso lässt sich die Tendenz feststellen, dass Verleger an junge Autoren herantreten und sie an ihre Verlage zu binden versuchen, wobei einmalige Honorarzahlungen einen finanziellen Anreiz zu bieten scheinen. So lässt sich das Einkommen aus anderen Tätigkeiten (Unterricht / Collegia, Hofmeisterstellen, Schreibtätigkeiten verschiedener Art) durch die Romanpublikation ergänzen. Grundsätzlich scheint das Verfassen von Romanen aber noch keine Tätigkeit zu sein, von der es sich als Poet leben lässt. Der galante Romanautor ist kein Berufsschriftsteller. Das Publikum galanter Romane ist noch begrenzt, der Absatz ungewiss. Im studentischen Milieu finden galante Romane eine ihrer zentralen Lesergruppen. Zunehmend rekrutieren sich galante Romanautoren aus diesem sozialen Milieu. Dass sich vor allem studentische Autoren der Gattung zuwenden, mag an der geringen poetologischen Wertschätzung des Romans liegen. In den deutschen Poetiken und kodifizierten Dichtungstheorien der Zeit bleibt der Roman ausgespart; die Gattung steht im Verdacht, unseriös und traditionslos zu sein. Für junge Autoren hingegen bietet die Romanpublikation die Möglichkeit, auch ohne Reputation als poeta doctus und relativ unabhängig von den Zwängen der res publica literaria publizieren zu können. (3) In diesem Zusammenhang lässt sich die Tendenz beobachten, dass junge Autoren das Schreiben und Publizieren nicht nur nutzen, um ‚Geschichten zu erzählen‘ (deren Spezifik zwischen ‚Scherz und Ernst‘ noch zu beschreiben sein wird, Kapitel 3.4). Sondern die bisherigen Darstellungen zeigen, dass der Roman auch zum Medium wird, das eine Selbst- wie Fremdstilisierung von eigenen und alteritären Autorrollen ermöglicht, die sich durch und in der Gattungspraxis, im Prozess des Schreibens, sukzessive entfalten. Die Paratexte galanter Romane bieten Raum für die diskursive Selbstinszenierung der Verfasser, so dass sich performativ ein literarisches Aktionsfeld konkretisiert, innerhalb dessen sich die Akteure (in Form pseudonymer Alter-Ego) sowie ihre Texte für das Publikum verorten. Hier deutet sich bereits ein spezifischer Ausdrucksmodus an, der mit den Mitteln der paratextuellen Rede eine Referentialität zu scheinbar faktualen Autor- und Rezeptionsinstanzen herstellt, die im Rahmen von Pseudonymität und Anonymität jedoch weitgehend unbestimmt, unsicher und vage bleiben ‒ und dennoch benannt werden. Diesem Aspekt soll im Folgenden mit Blick auf die weibliche Leserschaft genauer nachgegangen werden. Da Produktion, Distribution und Rezeption Hand in Hand greifen und sich wechselseitig verstärken, diffundiert der galante Roman in breitere Leser- und Käuferkreise, in unterschiedliche ständische und geschlechterspezifische Sphären. Zunehmend treten auch Frauen in den Fokus von Autoren und Verlegern und sollen für die galante Romanlektüre gewonnen werden. Diesem Aspekt der Gattungsentwicklung widmet sich das nächste Kapitel und untersucht, welche Hinweise die Texte zur weiblichen Leserschaft geben und in welcher Absicht junge Männer (vermeintlichen) Leserinnen den weiblichkeitszentrierten Roman zur Lektüre anbieten.

144

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman Das weibliche Geschlecht ist auf die Romanen sehr erpicht / und man kan ihnen nicht genug zu lesen geben. Es sind viele / die gantze Nächte darüber sitzen / und die sie überall / als trostreiche Gebet=Bücher entweder öffentlich in den Händen / oder in den Kleidern verborgen tragen.  (Meletaon 1714)

Im 18. Jahrhundert zählen Frauen zum primären Rezipientenkreis des Romans, so das übereinstimmende Urteil der germanistischen Literaturwissenschaft und der historischen Leseforschung. Sogenannte „Damen- und Frauenbibliotheken“ empfehlen Romane für Frauen,431 ebenso wie sich polemische Auseinandersetzungen um „Lesewuth“ oder „Lesesucht“ unter anderem am Roman und der Leserin entzünden.432 Roman und Weiblichkeit geraten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts immer stärker in den Brennpunkt ästhetisch-moralischer Debatten, die mit dem Roman zugleich um Konzepte weiblicher Lektüre und Wissensaneignung, um die Rolle und Beurteilung der Leserin, die Angemessenheit von Stoffen und Materien für die Lektüre von Frauen sowie um poetische Darstellungsformen und Wirkungsweisen geführt werden. Mit Fragen zur inhaltlichen Gestaltung einer Unterhaltungsliteratur für Frauen rücken ästhetische und soziokulturelle Genderkonzepte in den Fokus literarischer Auseinandersetzungen. Für das 18.  Jahrhundert hat die Frauen- und Geschlechterforschung vielfältige Fragestellungen aufgearbeitet: Literarische Weiblichkeitskonstruktionen männlicher Autoren, moralische Implikationen weiblicher Lektüre- und Bildungskonzepte, sozialhistorische Aspekte wie die unterschiedliche Lesesozialisation von Frauen und Männern, Diskussionen um die ‚Natur der Frau‘ sowie Formen und Praktiken der Geselligkeit werden untersucht; Bedingungen und Verfahrensweisen der literarischen Produktion von Frauen sind zentrale Themen und auch das Verhältnis von

431 Darunter

neuere wie Pamela von Samuel Richardson, Fénelons Telemach, Marianne von Marivaux, Robinson Crusoe von Defoe, aber auch ältere wie Cyrus von Scudéry oder Barclays Argenis, vgl. Wolfgang Martens: Leserezepte fürs Frauenzimmer. Die Frauenzimmerbibliotheken der deutschen Moralischen Wochenschriften. In: Archiv für die Geschichte des deutschen Buchwesens 15 (1975), S. 1143–1200, hier S. 1160, 1165; Anne Conrad u. Kerstin Michalik (Hg.): Quellen zur Geschichte der Frauen. Bd. 3: Neuzeit. Stuttgart 1999, S. 219–223, hier S. 222. 432 Barbara Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche – Werke – Wirkung. München 2000, S.  37f.; Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a.M. 2003, S. 214; Angelika Schlimmer: Der Roman als Erziehungsanstalt für Leser. Zur Affinität von Gattung und Geschlecht in Friedrich von Blanckenburgs ‚Versuch über den Roman‘ (1774). In: Das Achtzehnte Jahrhundert 29/2 (2005), S. 209–221, hier S. 209.

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

145

Gattung und Geschlecht wird mit Blick auf das 18. Jahrhundert diskutiert.433 Für den Zeitraum um 1700 stehen ähnliche Untersuchungen noch weitgehend aus. Die historische Leseforschung ist zwar mittlerweile breit gefächert und berücksichtigt auch populäre Lese­stoffe für Männer und Frauen.434 Doch sind literatursoziologische, buchhandelshistorische oder lektüre- und rezeptionsbezogene Untersuchungen zu Frauen und ihrer Bedeutung für den deutschen Buchhandel um 1700 kaum vorhanden.435 Die historische Forschung zu lesenden Frauen konzentriert sich häufig auf gleichermaßen schreibende Frauen, so dass bestimmte Gattungen und Kommunikationssphären bevorzugt in den Blick geraten, die sich als Betätigungsfeld von Autorinnen kennzeichnen lassen. Jean M. Wood und Maria Fürstenwald dokumentieren mit rund 700 Biografien im 16. bis 18. Jahrhundert eine enorme Produktivität von

433 Helga

Meise: Die Unschuld und die Schrift. Deutsche Frauenromane im 18. Jahrhundert. Berlin 1983; Lydia Schieth: Die Entwicklung des deutschen Frauenromans im ausgehenden 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte. Frankfurt a.M. 1987; Magdalene Heuser: ‚Ich wollte dieß und das von meinem Buche sagen, und gerieth in ein Vernünfteln‘. Poetologische Reflexionen in den Romanvorreden. In: Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800. Hg. v. Helga Gallas u. Magdalene Heuser. Tübingen 1990, S. 52–65; Helga Brandes: Der Frauenroman und die literarische-publizistische Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert. In: Ebd., S. 41–51; Erich Schön: Weibliches Lesen. Romanleserinnen im späten 18. Jahrhundert. In: Ebd., S. 20–40; Helga Gallas u. Anita Runge (Hg.): Romane und Erzählungen deutscher Schriftstellerinnen um 1800: Eine Bibliographie mit Standortnachweisen. Stuttgart 1993; Helga Brandes: Die Entstehung eines weiblichen Lesepublikums im 18. Jahrhundert. Von den Frauenzimmerbibliotheken zu den literarischen Damengesellschaften. In: Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich. Hg. v. Paul Goetsch. Tübingen 1994, S. 125–133; Christine Lehmann: Das Modell Clarissa. Liebe, Verführung, Sexualität und Tod der Romanheldinnen des 18. und 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1991; Elke Heinzelmann: Kontroverser Diskurs im 18. Jahrhundert über die Natur der Frau, weibliche Bestimmung, Mädchenerziehung und weibliche Bildung. Berlin 2007; Alfred Messerli: Gebildet, nicht gelehrt. Weibliche Schreib- und Lesepraktiken in den Diskursen vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Die lesende Frau. Hg. v. Gabriela Signori. Wiesbaden 2009, S. 295–320. 434 Hans Friedrich Foltin: Zur Erforschung der Unterhaltungs- und Trivialliteratur, insbesondere im Bereich des Romans. In: Studien zur Trivialliteratur. Hg. v. Heinz Otto Burger. Frankfurt a.M. 1968, S.  242–270; Rudolf Schenda: Die Lesestoffe der Kleinen Leute. München 1976; Peter Nusser: Unterhaltung und Aufklärung. Studien zur Theorie, Geschichte und Didaktik der populären Lesestoffe. Frankfurt a.M. 2000; zum Forschungsstand Gattung und Geschlecht gehen die weiteren Ausführungen gesondert ein. 435 Mit Blick auf das frühe 18. Jahrhundert konstatiert Koloch eine „relative Quellenarmut vor 1750, welche für die frauenfokussierte Forschung eine besonders große Herausforderung darstellt“ und sich auf die „Leser(innen)forschung neueren Datums“ nachteilig auswirkt, Koloch: Kommunikation, Macht, Bildung, S. 12. Wichtige Impulse kommen auch hier eher aus der Frühneuzeitforschung, z.B. von Jill Bepler: Women’s books and dynastic networks in early modern Germany. Female practices of collecting and bequeathing. In: Der Hof. Ort kulturellen Handelns von Frauen in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Susanne Rode-Breymann u. Antje Tumat. Köln 2013, S. 295‒313; Jill Bepler u. Helga Meise (Hg.): Sammeln, Lesen, Übersetzen als höfische Praxis der Frühen Neuzeit. Die böhmische Bibliothek der Fürsten Eggenberg im Kontext der Fürstenund Fürstinnenbibliotheken der Zeit. Wiesbaden 2010.

146

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Frauen im Bereich der Dichtung, Gelehrsamkeit, Theologie, Musik, Theater u.a.436 Als Gattungen treten dabei vor allem der Brief, (Gelegenheits-)Gedichte, dramatische Werke, religiöse (pietistische) Egodokumente, Leichenpredigten oder gelehrte Traktate von Frauen in den Blick. Der gesamte Bereich einer narrativen Unterhaltungsliteratur, der sich mit der galanten Romanproduktion um 1700 ausweitet, fand bisher kaum Beachtung.437 Die Bedeutung des galanten Romans für die weibliche Lektüre und der Einfluss der Rezipientinnen auf die galante Gattungsentwicklung stellt ein Desiderat der Forschung dar. Obwohl die Erschließung von Korpora, die von Frauen selbst bedient worden sind (wie Brief, Lyrik, gelehrte Schriften, religiöse Egodokumente) zweifellos ein essentieller und unabdingbarer Bestandteil der Frauen- und Geschlechterforschung ist, sollte das Interesse an weiblichen Lektüreformen nicht bei schreibenden respektive lesenden Frauen stehen bleiben.438 Mit der Perspektive auf Autorinnen geraten leicht diejenigen Frauen aus dem Blick, die zwar für die Lektüre in Betracht kommen konnten, selbst aber nicht literarisch oder schriftstellerisch aktiv waren. Wie Anne Fleig im Beitrag Neue Positionen in der Geschlechterforschung zur Aufklärung für das 18.  Jahrhundert treffend formuliert, sollte die Frauenliteraturgeschichtsschreibung an einem Perspektivwechsel interessiert sein, der nicht „den Ausschluss von Frauen aus den Bildungsinstitutionen sowie den Diskursen der Au-

436 Jean

Wood u. Maria Fürstenwald (Hg.): Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und gelehrte Frauen des deutschen Barock. Ein Lexikon. Stuttgart 1984; ferner Jill Bepler: Fürstinnenbibliotheken in Leichenpredigten […]. In: Leichenpredigten als Medien der Erinnerungskultur im europäischen Kontext. Hg. v. Eva-Maria Dickhaut. Stuttgart 2014, S. 93‒125; Ulrike Gleixner: Die lesende Fürstin. Büchersammeln als lebenslange Bildungspraxis. In: In: Vormoderne Bildungsgänge. Selbst- und Fremdbeschreibungen in der frühen Neuzeit. Hg. v. Juliane Le Jacobi u.a. Köln 2010, S. 207–224; Katja Lißmann: Der pietistische Brief als Bildungs- und Aneignungsprozess. Anna Magdalena von Wurm in ihren Briefen an August Hermann Francke (1692–1694). In: Ebd., S. 63–79; Eva Brinkschulte u. Eva Labouvie (Hg.): Dorothea Christiana Erxleben. Weibliche Gelehrsamkeit und medizinische Profession seit dem 18. Jahrhundert. Halle a.S. 2006; Mirjam de Baar: Gender, genre and authority in seventeenth-century religious writing: Anna Maria van Schurman and Antoinette Bourignon as contrasting examples. In: Ein Platz für sich selbst. Schreibende Frauen und ihre Lebenswelten (1450–1700). Hg. v. Anne Bollmann. Frankfurt a.M. 2011, S. 135–165. 437 Wichtige Impulse kommen auch hier eher aus dem Umfeld der Frühen Neuzeit. Isabelle Stauffer widmet sich dem Roman Macarie der Barockautorin Maria Katharina Stockfleth, der 1669/73 in den Kreisen des Pegnesischen Blumenordens entstand, Isabelle Stauffer: Querelle im galanten Gewand: Maria Katharina Stockfleths ‚Die Kunst- und Tugend-gezierte Macarie‘. In: Feministische Studien 25/1 (2007), S. 25–39. Christiane Holm untersucht den religiös-erbaulichen Roman Psyche Cretica (1685) von Susanna Elisabeth Pratsch (1661–1713) sowie Pratschs Romanabhandlung Réflexions sur les Romans, das ist Betrachtungen der römischen Fabuln (1684), Christiane Holm: Die verliebte Psyche und ihr galanter Bräutigam. Das Roman-Projekt von Susanna Elisabeth und Johann Ludwig Prasch. In: Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle. Hg. v. Thomas Borgstedt u. Andreas Solbach. Dresden 2001, S. 53–85. 438 Ein wichtiger Beitrag in diese Richtung ist der Sammelband von Gabiela Signori (Hg.): Die lesende Frau. Wiesbaden 2009, der aber leider den Zeitraum um 1700 ausspart.

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

147

torschaft, der Gattungstradition oder des Literaturbetriebes fokussiert, sondern stattdessen die in sich sehr widersprüchliche Teilhabe von Frauen an der literarischen Praxis in den Mittelpunkt rückt.“439 Fleig zufolge standen Frauen „andere Handlungsräume zur Verfügung als es die Annahme eines grundsätzlichen Ausschlusses von Frauen aus den Institutionen der Bildung, der Öffentlichkeit oder der Unterhaltung lange nahegelegt hat.“440 Im Anschluss an Rebekka Habermas’ Begriff der „Aneignung“ plädiert sie dafür, die „Aktivität der historischen Akteurinnen und Akteure ebenso wie die kreative Dimension eines solchen Aneignungsprozesses von Werten, Normen und Entwürfen“ stärker in den Blick zu nehmen.441 Ähnlich wie intersektionale Ansätze442 begreift Fleig Geschlecht als „relationale Analysekategorie“, die in der Interferenz mit weiteren Kategorien wie „Genre oder Stand“ Teilhaben realisieren kann, die andernfalls ignoriert würden.443 Fleigs Vorschlag aufgreifend fragt das folgende Kapitel danach, welche Hinweise galante Romane und Paratexte zur Vorstellung einer möglichen, einer antizipierten Leserin, liefern und wie solche Imaginationen der lesenden Frau die Gattungsentwicklung beeinflussen. Mit der Zunahme weiblichkeitszentrierter Romane um 1700 intensivieren sich Auseinandersetzungen, die mit dem Roman im weiteren Sinne um das Thema Weiblichkeit geführt werden. Für männliche wie weibliche Akteure (Autoren, Leser/Leserinnen, Verleger usw.) wird Weiblichkeit unter verschiedenen Aspekten relevant: als Thema des Romans (Weiblichkeitsnarrativ), als Auseinandersetzung um die Leserin (Imago einer weiblichen Leserschaft) und als poetologische Fragestellung (Roman als möglicher Gegenstand der weiblichen Lektüre). 3.3.1 Antizipierte Leserin und literarisches Feld – Historische Perspektiven zum Verhältnis von Gattung und Geschlecht Eine Untersuchung, die aus einer prozessualen Gattungsperspektive nach der Rolle von Frauen für die galante Romanpraxis fragt, stößt auf zwei Schwierigkeiten. Zum einen sind Romanautorinnen, d.h. Frauen als Produzentinnen von Romanen, in Deutschland um 1700 ‒ im Gegensatz zu Frankreich oder England ‒ nicht bekannt.444 Die Durchlauchtigste Margaretha von Österreich (1706), erschienen unter

439 Anne

Fleig: Vom Ausschluß zur Aneignung. Neue Positionen in der Geschlechterforschung zur Aufklärung. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 26/1 (2002), S. 79–89, hier S. 79. 440 Ebd., S. 83. 441 Ebd. 442 Kap. 2.2 Weiblichkeit und Text ‒ Gendernarrative im Roman? 443 Fleig: Vom Ausschluß zur Aneignung, S. 83. 444 Madeleine de Scudéry (1607–1701): Clélie, histoire romaine (10 Bde., 1654-60), Célinte (1661), Histoire de Mathilde d’Aguilar (1667); Marie-Madeleine de La Fayette (1634–1693): La Princesse de Montpensier (1662), Zayde (1670/71), La Princesse de Clèves (1678); Anne de La Roche-Guilhem (1644–1710): Journal amoureux d’Espagne (1675); Marie-Catherine d’Aulnoy (1650–1705): Memoires de la cour d’Angleterre [...]. Par Madame D*** (1695), Le Compte de

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

dem weiblichen Pseudonym „Aramena“,445 ist einer der seltenen Romane einer weiblichen Autorinstanz, auf den ich zwischen 1690 und 1715 stieß ‒ wobei nicht auszuschließen ist, dass es sich um das Pseudogynym eines männlichen Autors handeln kann. Auch die umfangreiche Bibliografie von Wood und Fürstenwald listet um 1700 keine galante Romanautorin.446 Obwohl die Beteiligung von Frauen an der Gestaltung weiblichkeitszentrierter Romane aller Wahrscheinlichkeit nach ausgeschlossen werden muss,447 sind sowohl die Romantexte als auch paratextuelle Reflexionen über die Gattung eng mit geschlechterspezifischen Auseinandersetzungen verbunden. Vor allem in Vorreden inszenieren männliche Autoren die ‚Imago einer weiblichen Leserschaft‘; sie entwerfen Leserinnenstereotype und geben vor, auf das Rezeptionsverhalten historischer Leserinnen zu reagieren, die durch den Text zur Romanlektüre aufgefordert werden. Dabei handelt es sich keineswegs um Hinweise auf reale Frauen, sondern um Projektionen der Autoren, die sich in Form von Leseransprachen an eine imaginierte bzw. antizipierte Adressatin richten.448 Die vorliegende Studie führt daher den Begriff der ‚Imago‘ ein und verweist damit auf den textuell konstruierten und imaginativen Charakter dieser Leserinnenstereotype. Zur realhistorischen Situation lesender Frauen um 1700 geben die Texte keine Auskunft, auch nicht zu Rezeption und Sozialverhalten realer Frauen. Sie lassen aber den Willen von Autoren (und Verlegern) erkennen, eine weibliche Leserschaft für die Romanlektüre zu gewinnen, die über die Texte adressiert und auf diese Weise medial repräsentiert werden. Die von Männern entworfenen Leserinnenimagines erleich-

Warwick (1703); Aphra Behns (1640–1689): Love Letters Between a Nobleman and His Sister (1683); Delarivier Manley (1663–1724): Letters written by Mrs Manley (1696), The Adventures of Rivella, or the History of the Author of The New Atalantis (1714); Sarah Fielding (1710– 1768): The Governess, Or The Little Female Academy (1749) u.a. 445 Aramena: Die Durchlauchtigste Margaretha von Oesterreich / In einer Saats= und Helden=Geschichte / Der galanten Welt zu vergnügter Gemüths=Ergötzung communiciret von Aramenen. Hamburg: Samuel Heyls, 1716 [Erstausgabe 1706]. 446 Unter den 700 Autorinnen und Künstlerinnen im Zeitraum 1580‒1720 nennen Wood und Fürstenwald nur drei Frauen, die auf dem Gebiet der Romanliteratur im weitesten Sinne aktiv geworden sind – dies allerdings vor 1700 und in religiöser oder sprachpflegerischer Absicht (vgl. Anm. 437 in Kap. 3.3): Susanna Elisabeth Pratsch (1661–1713), geistlicher Roman Psyche Cretica oder Geistlicher Roman 1685, unter dem Namen des Ehemannes erschien (Wood u. Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und gelehrte Frauen, S. 95); Maria Catharina Stockfleth (1633–1692), Barockroman Die Kunst- und Tugend-gezierte Macaria 1669/73 (ebd., S. 122); Juliane Magdalena Cyprian (1697–1721), geistliche und weltliche Heldenbriefe um 1700 (ebd., S. 22f.); andere poetischen Arbeiten beziehen sich auf die Lyrik, Briefkultur oder deren Mischformen, z.B. „gereimte Briefe“ in deutscher und lateinischer Sprache von Clara Maria Crommer um 1670 (ebd., S. 22); Aramenas Durchlauchtigste Magaretha von Österreich ist im Lexikon nicht erfasst, weiterführend Cornelia Niekus Moore: The Poetess Aramena and Her Novel ‚Margaretha von Österreich‘: Women Writing Novels. In: Daphnis 17 (1988), S. 481‒491). 447 Kaum nachzuweisen und schwer zu untersuchen ist bisher, ob Autorinnen unter Pseudandronymen, d.h. männlichen Pseudonymen, publizierten. 448 Genette: Die Erzählung, S. 187.

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

149

tern Frauen den Zugang zum Roman, sie wirken der Integration lesender Frauen in den Romanmarkt und Buchhandel zu. Das Spannungsverhältnis zwischen realer und imaginierter Leserin ist stets mitzureflektieren, wenn es darum geht, von Männern entworfene Imagines einer weiblichen Leserschaft zu untersuchen und ihren Bezug zur Gattungsgeschichte herauszuarbeiten. Die zweite Schwierigkeit besteht darin, dass Frauen um 1700 tatsächlich noch nicht als breiter Leserkreis anzusehen sind.449 Die Alphabetisierung ist regional und schichtspezifisch sehr ungleich ausgeprägt – die Forschung nimmt an, dass vor allem Frauen des Adels und gehobenen Bürgertums alphabetisiert waren, während die Lesefähigkeit von Frauen in unteren Schichten oder im ländlichen Raum abnimmt.450 Ein weibliches ‚Massenpublikum‘ kann für den weiblichkeitszentrierten Roman nicht vorausgesetzt werden. Dennoch nehmen Frauen als antizipierte Rezipientinnen ‒ und somit als relationale Instanz der literarischen Produktion, Rezeption und Distribution ‒ Einfluss auf das Buchangebot, auf die Gestaltung des Romans sowie auf Diskussionen, die zu Inhalten, Darstellungsformen und Wirkungsweisen des Textes geführt werden. Als Leserinnen aktueller Schriften im Allgemeinen und des galanten Romans im Besonderen geraten Frauen immer stärker in das Blickfeld von Autoren und Verlegern und werden als potentielle Leser- und Käuferschicht interessant (Kapitel 3.3.3). Dadurch stoßen sie – auch in dieser relativ passiven Rezipientinnenpositition – gattungsinterne Reflexionen an, die die Gattung immanent betreffen und ihre Konzeptualisierung beeinflussen. Gerade die Tatsache, dass Frauen um 1700 als Leserinnen und Käuferinnen des Romans erst gewonnen werden sollen, ist interessant. Wir haben gesehen, dass sich der galante Roman im deutschen Buchhandel erst sukzessive etabliert. Die weibliche Leserschaft ist begrenzt, die gesellschaftliche Toleranz einer unterhaltsamen Romanlektüre für Frauen kann nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden. Eine spezifisch auf Frauen ausgerichtete Romantradition existiert im deutschen Raum um 1700 nicht, so dass auch eine Trennung zwischen männlichem und weiblichem Romanpublikum nicht greift. Vielmehr lassen die Paratexte der Romane die Ab-

449 Becker-Cantarino

ist der Ansicht, dass „die meisten [Frauen] noch im frühen 18. Jahrhundert nur schlecht lesen und noch schlechter schreiben“, Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik, S. 34. Exemplarisch recherchiert Mechthild Raabe: Leser und Lektüre im 17. Jahrhundert. Die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1664‒1713. Teil A, Bd. 1: Leser und Lektüre, Lesergruppen und Lektüre. München 1998, S. 67 zumindest für die Bibliotheksnutzung nur einen sehr geringen Anteil an eingetragenen Leserinnen (6,8 %) im Vergleich zu männlichen Lesern (93,2 %). 450 Barbara Becker-Cantarino: Die Frau von der Reformation zur Romantik. Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Literatur- und Sozialgeschichte. Bonn 1980, S. 264, 268; Dies.: Schriftstellerinnen der Romantik, S. 34, 37. Zum hohen Bildungsgrad von Frauen in ländlichen adligen Schichten, Heide Inhetveen: ‚Ich ergreife mit vielen Vergnügen die Feder‘. Die landwirtschaftlichen Briefe der Henriette Charlotte von Itzenplitz an Albrecht Daniel Thaer um 1800, Bliesdorf 2013.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

sicht von Autoren und Verlegern erkennen, männliche wie weibliche Leserkreise gleichermaßen anzusprechen, wobei sich galante (Liebes-)Romane zunächst primär an Männer (Kapitel 3.2), zunehmend aber auch an Frauen richten ‒ ganz anderes als dies vom sogenannten Frauenroman des 18. Jahrhunderts bekannt ist.451 Diese Strategie scheint sinnvoll, um überhaupt ein ausreichendes Publikum für die Texte zu gewinnen. Für ein Produkt, das sich durchsetzen soll, ist es sinnvoll, viele Käufer zu finden – egal, welchen Geschlechts. Inwiefern sich diese Bemühungen allerdings auch als ein Tasten auf unbekanntem Terrain darstellen, verdeutlichen die folgenden Ausführungen. Der galante Roman dokumentiert die Suche nach geeigneten Umgangsweisen mit Leserkreisen, die stärker als bisher in den Buchhandel einbezogen werden sollen (junge Männer, Frauen). Das Korpus kann daher nicht nur Einblick gewähren in den Prozess der Formierung und Popularisierung einer narrativen Unterhaltungsliteratur, sondern die Texte liefern auch wichtige Hinweise zum Einfluss männlicher Leserinnenimagines auf die Gattungsentwicklung sowie zur Durchdringung und Modifizierung der Gattung gemäß geschlechterspezifischen Vorstellungen. Ein kurzer Blick auf die Forschungsliteratur zeigt, an welchem Punkt Überlegungen zum Verhältnis von Gattung und Geschlecht ansetzen können und welche Arbeitsperspektiven sich zwischen der Galanterieforschung und der literaturwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung des 18. Jahrhunderts ergeben. Während in der angloamerikanischen und anglistischen Forschung theoretische Arbeiten zum Verhältnis von Gattung und Geschlecht seit den 1990er Jahren auf breite Resonanz stoßen,452 stehen in der germanistischen Literaturwissenschaft für den Zeitraum um 1700 keine Vorarbeiten zur Verfügung. Für das 18. Jahrhundert sind allerdings verwandte Arbeiten vorhanden. Der Romantradition des ausgehenden 18. und 19.  Jahrhunderts widmet sich Susanne Kord in der Studie Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft 1700‒1900.453 Mit der wachsenden Zahl weiblicher Autoren beobach-

451 Becker-Cantarino:

Schriftstellerinnen der Romantik, S. 73. Gaby Allrath u. Marion Gymnich: Feministische Narratologie. In: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Hg. v. Vera Nünning u. Ansgar Nünning. Trier 2002, S. 35–72; Alison Case: Plotting Women. Gender and Narration in the Eighteenth- and Ninetheenth Century British Novel. New York/London 1999; Astrid Erll u. Klaudia Seibel: Gattung, Formtradition und kulturelles Gedächtnis. In: Nünning u. Nünning: Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 180–208; Andrea Gutenberg: Handlung, Plot, Plotmuster. In: Ebd., S.  98–121; Ute Kauer: Narration und Gender im englischen Roman vom 18. Jahrhundert bis zur Postmoderne. Heidelberg 2003; Susan Sniader Lanser: Fictions of Authority. Women Writers and Narrative Voice. Ithaca/N.Y. 1992; Kathy Mezei: Who Is Speaking Here? Free Indirect Discourse, Gender and Authority in Emma, Howard’s End, and Mrs. Dalloway. Chapel Hill 1996; Dies.: Ambiguous discourse. Feminist narratology and British women writers. Chapel Hill 1996. 453 Susanne Kord: Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft 1700–1900. Stuttgart 1996. Aus der Zeit um 1700 werden keine Autorinnen behandelt, die Studie setzt mit der Lyrik und Dramendichtung von Anna Louisa Karsch und Louise Adelgunde Gottsched ein. 452 U.a.

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

151

tet Kord im späten 18.  Jahrhundert eine geschlechterspezifische Differenzierung zwischen den Großgattungen Dramatik und Epik. Der Roman wird, so Kord, im 18.  Jahrhundert als sogenanntes „Frauengenre mit der ‚natürlichen‘ Affinität der Frau für dieses Genre begründet“ und als „literarisch minderwertig“ gedeutet.454 Der Mythos vom Roman als einer vermeintlich bevorzugten und angemessenen Literaturform von und für Frauen (für das eigene Schreiben wie die Lektüre) entsteht, während sich „Frauen in bestimmten Genres, nämlich in als männlich/objektiv valorisierten Genres wie Epos und Drama, nicht oder nur selten betätigt“ hätten.455 Kord formuliert die These, dass der Roman im 18. und 19. Jahrhundert als ‚weibliches‘, das Drama als ‚männliches Genre‘ behandelt wird,456 und zeigt, dass dieses Stereotyp die Realität weiblichen Schreibens missdeutet. Frauen werden nicht nur im Bereich des Romans, sondern auch des Dramas erfolgreich produktiv.457 Allerdings wählen sie besonders seit dem frühen 19. Jahrhundert anonyme oder pseudonyme, insbesondere pseud­andronyme Publikationsformen.458 Die effektive Anonymität führt jedoch als „institutionalisierte Namenlosigkeit deutschsprachiger Autorinnen im 18. und 19. Jahrhundert“ zu einer markanten Absenz von Frauen in der Literaturgeschichtsschreibung –459 eine Tatsache, die über die literaturwissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung hinaus unbestritten ist und deren Konsequenzen für die deutsche Literatur bis ins 20. Jahrhundert bekannt sind. Kord betont, dass Anonymität und Pseudonymität gerade für Frauen potentiell vielfältige „Möglichkeiten zur Selbstautorisation“ bieten,460 die ihrer Ansicht nach im 18. und 19. Jahrhundert von Frauen jedoch selten ausgeschöpft werden (obwohl dieses Urteil durch weitere Untersuchungen zu überprüfen sei). Vor dem Hintergrund der Ausführungen zum galanten Romanmarkt (Kapitel 3.1 und 3.2) wird der markante Unterschied zur anonymen und pseudonymen Publikationspraxis junger Männer um 1700 evident. Erwähnt wird Paulinis Hoch- und Wohlgelahrtes Teutsches Frauen-Zimmer (1705) und Ebertis Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers (1706), doch werden darin ausschließlich Lyrikerinnen oder gelehrte Frauen, keine Romanautorinnen, genannt. 454 Kord: Anonymität und weibliche Autorschaft, S. 65f. 455 Ebd., S. 62. 456 „Aus diesem vermeintlichen Muster männlich/weiblicher Literaturproduktion und aus Anwendung von Kriterien ästhetischer Schriften des 18. Jahrhunderts zum Thema ergibt sich die Beschreibung der Genres als geschlechtsspezifisch: der Roman = formlos, subjektiv, niedrig in der Genrehierarchie einzustufen, vorwiegend von Frauen verfasst, also weiblich; das Drama = formbetont, objektiv, hoch in der Genrehierarchie einzustufen, vorwiegend von Männern verfasst, also männlich“ (ebd., S. 66). 457 Ebd., S. 74–76. Dramatische Arbeiten von Frauen würden jedoch relativierend dem „Theater“, nicht der „Bühne“ zugewiesen (ebd., S. 69f.). Laut Fleig: Vom Ausschluss zur Aneignung, S. 85 dominieren 1760–1780 sogar die dramatischen Schriften gegenüber der Romanproduktion von Frauen. Mindestens die Hälfte der von Frauen verfassten Dramen seien nachweisbar auch an zeitgenössischen Bühnen aufgeführt worden (ebd., S. 82). 458 Kord: Anonymität und weibliche Autorschaft, S. 125–134, bes. S. 127, ferner S. 174. 459 Ebd., S. 12. 460 Ebd., S. 124.

152

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Während jene die anonymisierenden Strukturen des Marktes produktiv für sich zu nutzen verstehen, scheint diese Tradition anonymer und pseudonymer Publizistik für das spätere Schreiben von Frauen bis ins frühe 19. Jahrhundert offenbar nicht fruchtbar zu werden.461 Die Beobachtung einer geschlechterspezifischen Valorisierung literarischer Gattungen teilt auch Barbara Becker-Cantarino in ihrer Monografie zu den Schriftstellerinnen der Romantik. Becker-Cantarino setzt sich mit der Gattungsentwicklung des Romans am Ende des 18. Jahrhunderts auseinander und konstatiert, wie Kord, dass mit der Zunahme weiblicher Autorinnen ein neuer „Romantyp von Verständigungstexten [auftritt], der ganz wesentlich durch die Kategorie Geschlecht […] geprägt war“.462 Sie bestätigt eine zunehmende Differenzierung und geschlechterspezifische Valorisierung des deutschen Romans: Während männliche Autoren ihre Texte als „autonome Kunst“ und „Universalroman“ stilisieren,463 werden die Schriften weiblicher Verfasser zur Kenntnis genommen und wohlwollend abgewertet: „daß unsere Weiber jetzt, auf bloß dilettantischem Wege, gewisse Schreibegeschicklichkeit sich zu verschaffen wissen, die der Kunst nahe kommt“ (Schiller).464 Aufgrund ästhetischer Argumentationen unterscheidet der männlich dominierte Literaturbetrieb des 18. Jahrhunderts zwischen dem künstlerisch an­spruchsvollen „Männerroman“ und dem trivialen „Frauenroman“.465 Die Differenz wird mit dem biologischen Geschlecht der Autorinnen sowie einer vermeintlich geschlechterspezifischen Auswahl von Themen, Sujets und sprachlichen Gestaltungsmitteln begründet, die – wie Becker-Cantarino detailliert zeigt – mit biologistischen und soziokulturellen Genderkonzepten, mit unterschiedlichen literarischen Sozialisationsbedingungen und daraus resultierenden variablen Stellungen von Männern und Frauen im System Literatur in Verbindung gebracht werden.466 Nicht Großgattungen per se oder die Gesamtheit der Korpora werden somit gegendert (d.h. mit geschlechterspezifischen Konnotationen belegt), wie Kord vermutet, sondern nur einzelne, als ‚weiblich‘ rezipierte Untergattungen oder Subgenres unterliegen dieser Normierung.467 Die Arbeiten von Kord und Becker-Cantarino werfen implizit eine Fragestellung auf, der sich Astrid Erll und Klaudia Seibel in der Studie Gattungen, Formtraditio-

461 Ein

Effekt, der sicher maßgeblich auf die ästhetisch-moralische Stigmatisierung der galanten Tradition seit Mitte des 18. Jahrhunderts zurückzuführen ist, also mit gattungshistorischen Valorisierungsprozessen interferiert. 462 Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik, S. 71 463 Ebd. 464 Zit. nach ebd., S. 70. 465 Ebd., S. 71. 466 Ebd., S. 46, 53‒64, 71. 467 Ebd., S. 71. Der Anstieg anonymer und pseudonymer Publikationsformen von Frauen am Beginn des 19. Jahrhunderts, wie Kord ihn rekonstruiert, könnte somit auch als positive Strategie weiblicher Autoren gewertet werden, um sich der zunehmenden geschlechterspezifischen Differenzierung des männlich geprägten Literaturbetriebs zu entziehen.

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

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nen und kulturelles Gedächtnis widmen.468 Sie fragen danach, inwiefern literarische Gattungen selbst zum Träger eines geschlechterspezifischen Wissens werden, das sie allein durch ihre Form bzw. ihre gattungsspezifische Formgebung beim Rezipenten als (unreflektiertes) Vorwissen aktivieren und dadurch sowohl Rezeptions- als auch Produktionsprozesse beeinflussen.469 Unter Rückgriff auf die kulturwissenschaftliche Gedächtnis- und Erinnerungsforschung stellen sie Aspekte der Kanonisierung und valorisierende Tradierungsprozesse ins Zentrum ihrer Überlegungen, deren Überprüfung an konkreten literarischen Gattungen sie als Aufgabe zukünftiger Forschungen verstehen. Exemplarisch verweisen Erll und Seibel auf den „weiblichen Briefroman“, repräsentiert durch Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771), den sie als „weiblich konnotierte Ausdrucksform“ beschreiben.470 Die Genese gattungs- und geschlechterspezifischer Konzepte, ihre wechselseitige Semantisierung und historische Variablilität, erklären die Autorinnen als einen geschlechterübergreifenden und gattungsvalorisierenden Rezeptionsprozess.471 La Roches Briefroman müsste beispielsweise im Rahmen literarischer Kanonisierungsprozesse um Goethes Leiden des jungen Werther (1774) oder Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) kontextualisiert werden, Prototypen des „männlich konnotierten Bildungsromans“.472 Erst in Relation zu den als ‚männlich‘ und ästhetisch anspruchsvoll valorisierten Romanformen des Höhenkamm-Autors Goethe erscheint der Briefroman der Autorin epigonal und marginal – die soziale Kategorie Geschlecht wird zur valorisierenden Kategorie der ästhetischen Gattungsbeschreibung. Die von der feministischen Literaturwissenschaft übrigens erfolgreich umgedeutet wurde, gilt dort La Roche doch als ‚Vorbildautorin‘. Der Frage, wie der poetologische Gattungsdiskurs seinerseits geschlechterspezifische Implikationen generiert und wie diese konkret artikuliert werden, widmet sich Angelika Schlimmer in einer exemplarischen Studie zu Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774).473 Anhand der ersten eigen­ständigen Romantheorie Deutschlands zeigt Schlimmer, dass sowohl inhaltliche als auch formale Kriterien (Gegenstand/Sujet, Darstellungsweisen und Wirkungsabsichten) mit geschlechterspezifischen Semantiken und Werturteilen konnotiert werden. Im Bemühen, den Roman neben Dramatik und Lyrik poetologisch aufzuwerten, grenzt Blanckenburg den sogenannten „voraufklärerischen Roman“ von einer neuen, zu reformierenden Romanpraxis ab.474 Laut Schlimmer lässt sich dieser Prozess als Umcodierung des 468 Erll

u. Seibel: Gattungen, Formtraditionen und kulturelles Gedächtnis, S. 180–208. Fragestellungen bei Heather Dubrow: Genre. London 1982; Mary Gerhart: Genre Choises, Gender Questions. London 1992. 470 Erll u. Seibel: Gattungen, Formtradition und kulturelles Gedächtnis, bes. S.  194‒200, hier S. 197f. 471 Ebd., S. 195, 198f. 472 Ebd., S. 198. 473 Schlimmer: Der Roman als Erziehungsanstalt für Leser, S. 209–221. 474 Ebd., S. 213. 469 Ähnliche

154

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Romans von einer ‚weiblich‘ konnotierten zu einer ‚männlich‘ konnotierten Dichtungsform verstehen  –  sie geht davon aus, dass der voraufklärerische Roman als ‚weiblich‘ galt und reformiert werden sollte, damit die Gattung „auch“ bei Männern Anklang finden könne.475 Die „weibliche Codierung“476 begründet Schlimmer zum einen rezeptionssoziologisch, da Blanckenburg bereits zwei Frauengenerationen als primäre Lesergruppe des Romans adressiert: „Mütter und Töchter“ als Inbegriff des „müßigen Frauenzimmers“ (Blanckenburg), was Schlimmer als Hinweis auf eine „Traditionslinie weiblichen Lektüre- und Rezeptionsverhaltens“ wertet.477 Zum anderen spielen inhaltliche Aspekte eine Rolle, da weibliche Hauptfiguren und Stoffe durch Gellerts Leben der Schwedischen Gräfinn von G*** (1747/48) populär werden.478 Aus der Einschätzung der Germanistik, mit Christian Fürchtegott Gellert sei der ‚Beginn‘ des deutschen Romans zu situieren, macht diese Einordnung Sinn. Vor dem Hintergrund der galanten Romantradition muss sie jedoch korrigiert werden. Der galante Roman differenziert gerade nicht zwischen weiblichem und männlichem Publikum, sondern zählt beide Geschlechter zu seinen Lesern. Da der Traditionszusammenhang zwischen dem galanten Roman und dem Roman des 18. Jahrhunderts in der Literaturgeschichtsschreibung bisher weitgehend ausgeblendet blieb, ist es verständlich, dass Schlimmer die Ambivalenzen in Blanckenburgs Romantheorie nicht vollständig aufklären kann. Dazu einige kurze Erläuterungen. In ihrer Untersuchung stößt Schlimmer auf ein „Nebeneinander“ bzw. eine Gleichzeitigkeit literarischer Elemente, die Gegenstand/Stoffe, Darstellungsformen und Wirkungsabsichten der Gattung prägen und die Schlimmer als „männlich“ oder „weiblich“ konnotiert beschreibt.479 Blanckenburg verkürze das Sujet des voraufklärerischen Romans auf die Liebesthematik, die mit der weiblichen Hauptfigur maximal eine Entwicklung des „Mägdchens“ zur „Frau“ repräsentiere.480 Dem setzt Blanckenburg den männlichen „Charakter“ und seine Entwicklung entgegen.481 Der Anspruch des neuen, „männlichen Bildungsromans“ ziele darauf,482 den „zeitgenössischen Menschen“ darzustellen,483 dessen Handeln und Empfinden zugleich das „Seyn des Menschen“ repräsentiere und damit eine universelle Einsicht in die Ordnung der Welt vermittelt.484 Die männliche Hauptfigur wird zur repräsentativen Figur menschlicher (männlicher) Existenz. Hinzu treten poetologische Forderungen wie die Wahrscheinlichkeit des Inhalts, Perfektibilität und psychologische

475 Ebd. 476 Ebd. 477 Ebd.

478 Ebd.,

S. 214; Fleig u. Meise: Das Geschlecht der Innovation, S. 159–178. Der Roman als Erziehungsanstalt, S. 214.

479 Schlimmer: 480 Ebd.

481 Ebd.,

S. 213f. S. 221. 483 Ebd., S. 214. 484 Ebd., S. 213. 482 Ebd.,

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

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Wahrscheinlichkeit der Figuren sowie Rationalität, Kausalität und Stringenz.485 Vor dem Hintergrund der Dichotomie von voraufklärerischem (weiblichem) Roman und (männlichem) Bildungsroman deutet Schlimmer die von Blanckenburg favorisierten Elemente als ‚männlich‘  –  eine Konsequenz, die genau genommen nur aufgrund des Reformcharakters dieser poetologischen Elemente gezogen werden kann. Problematisch wird die Zuordnung bereits bei Blanckenburgs Forderung, der Roman müsse ein „Seelengemälde“ sein,486 Emotionalität repräsentieren sowie eine identifikatorische und emphatische Lesehaltung ermöglichen – Momente, die Schlimmer als „weibliche Attribute“ deutet.487 Wenn Blanckenburg die Wirkungspotentiale des Romans in der moralischen Erziehung und Bildung der Leserschaft sieht, kann Schlimmer nicht eindeutig entscheiden, ob sie als ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ zu verstehen sind. Sie deutet die Gleichzeitigkeit männlicher und weiblicher Elemente daher als Ausdruck des poetologischen Reformprozesses selbst: Zunehmend komme es, so Schlimmer, zu einer „Ausgrenzung bzw. Unterordnung weiblich konnotierter Elemente“,488 wobei sie vor allem auf Blanckenburgs Argumentation gegen die „als weiblich geltende Form des Briefromans“ verweist.489 Im Zuge der poetologischen Theoretisierung des Romans prägen sich heterogene Wertungsmuster aus, die eine Differenz zwischen „zwei unterschiedlichen Mustern der Gattung […], dem weiblichen Prüfungsroman und dem männlichen Bildungsroman“ hervorbringen.490 Die Studien zum Verhältnis von Gattung und Geschlecht im 18. Jahrhundert akzeptieren fast durchgängig ein methodisches Vorgehen, das inhaltliche und formale Gattungskriterien scheinbar selbstverständlich in eine dualistische Strukturanalogie zu heteronormativen Geschlechterstereotypen bringt. Auch wenn betont wird, dass diese Analogie kritisch zu reflektieren sei und mitunter nicht nur die Kategorie Geschlecht, sondern auch die Kategorie Gattung (oder Genre) im Sinne Butlers als „soziales Konstrukt“ begriffen werden soll (Kord),491 wird dennoch eine binäre Geschlechterpolarität als unausgesprochenes Strukturprinzip der Gattungsdiskussion vorausgesetzt und als ahistorische Konstante auf den Gattungsdiskurs übertragen. So werden in der literaturwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung Gattungsspezifika und (Sub-)Gattungen als ‚gegendert‘ beschrieben, die eine Rezeption als spezifisch weiblich oder männlich nahe legen. Vor allem Brief und Briefroman wurden immer wieder als vermeintlich spezifisch weibliche Gattungen ausgewiesen (Kord, Schlimmer, Becker-Cantarino, Heuser, Touaillon u.a.).492 Ebenso

485 Ebd.,

S. 214‒217. S. 216. 487 Ebd., S. 216, 217. 488 Ebd., S. 221. 489 Ebd., S. 218. 490 Ebd., S. 221. 491 Kord: Anonymität und weibliche Autorschaft, S. 69. 492 Übersicht (ebd., S. 63–67). 486 Ebd.,

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

werden literaturästhetisch relevante Kriterien wie Emotionalität, Sensitivität (Kord, Schlimmer), ein subjektives, privates Sprechen, das sich mit dem „Ich“ des Briefs oder Briefromans in emotional-emphatischer Weise an ein „Du“ und damit an einen privaten, d.h. begrenzten Leserkreis richtet (Kord), ebenso wie der „Plauderton“ der verschriftlichten mündlichen Kommunikation im Gegensatz zur literarischen Schriftlichkeit (Loster-Schneider) sowie entsprechende Materien und Sujets gemeinhin als ‚weibliche‘ Gattungs- und Geschlechtskriterien ausgewiesen. Diese Dichotomien ließen sich fortsetzen, etwa mit der Gegenüberstellung von Lyrik/Brief/ Briefroman versus Drama/Epos/Entwicklungsroman, Rationalität/Kausalität versus Emotionalität/Irrationalität, Affektdisziplinierung versus Empathie, objektiv versus subjektiv, formbetont versus formlos usw.493 Die historischen Quellen des ausgehenden 18. Jahrhunderts legen diese Befunde nahe – sind sie es doch, die jene Geschlechterbinarismen entwerfen, diskursiv ausbauen und mit genderkonnotierten Gattungskonzepten in Verbindung bringen. Die literarische Produktion von und für Frauen im 18. Jahrhundert weist einen hohen Anteil von Gattungen wie Brief, Lyrik, Briefroman auf und auch der sekundäre Diskurs über Literatur und Geschlecht wird von Männern im Sinne dichotomischer Geschlechterstrukturen bedient.494 Doch erst eine konsequente Historisierung, die Gattungsspezifika nicht alternativlos als männlich oder weiblich konnotierte Konstanten behandelt, kann zur Klärung beitragen, ob genderrelevante Semantiken tatsächlich als Gattungsspezifika zu werten sind bzw. welche Grenzen und Geltungsbereiche ihnen zukommen. Der galante Roman bietet sich für solch eine Untersuchung an, ist seine Formalisierung um 1700 doch weitgehend offen und unabgeschlossen. Die variablen Aushandlungsprozesse, die um die Gattung geführt werden, gewähren auch Einblick in die historische Variabilität und Relativität genderkonnotierter Gattungszuweisungen. Das folgende Kapitel widmet sich daher den genderrelevanten Implikationen im galanten Roman sowie den Wechselwirkungen zwischen poetischen und genderspezifischen Normierungen. 3.3.2 Weiblichkeit und Romanlektüre – Die lesende Frau als neue Rezipientin ‚männlicher‘ Unterhaltungsliteratur Im deutschen Buchhandel um 1700 nimmt der Anteil weiblichkeitszentrierter Romane merklich zu, auch wenn er im Vergleich zur Gesamtheit galanter Romane eher gering einzuschätzen ist. Unter zwanzig Titeln jährlich erscheinen um 1700 wahrscheinlich nur zwei, maximal drei Romane, die explizit weibliche Haupt- und Titelfiguren gestalten. So begrenzt das Korpus ist, umfasst es zwischen 1690 und

493 Ebd.,

S. 65f.

494 Becker-Cantarino:

Schriftstellerinnen der Romantik, S. 53–64.

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

157

1720 allerdings knapp 100 Titel.495 Vermutlich waren weiblichkeitszentrierte Romane sogar verbreiteter, als dies heute zu rekonstruieren ist, denn in Paratexten wird auch auf Publikationen verwiesen, die gegenwärtig nicht mehr auffindbar sind oder von denen schwer zu entscheiden ist, ob es sich um fingierte oder real existierende Texte handelt.496 Der weiblichkeitszentrierte Roman situiert sich als Untergattung oder Subgenre innerhalb einer Fülle von Romanen, die in ihrer Mehrzahl männliche Hauptfiguren oder männliche und weibliche Hauptpaare ins Zentrum der Erzählung rücken. (Liebes-)Romane um 1700 exponieren häufig männliche Protagonisten, etwa Rosts Der Verliebte Eremit (1711), Melissos Ritter Adelphicos Lebens= und Glücks=Fälle in einem Liebes=Roman (1715). Auch in Romanübersetzungen treten männliche Figuren auf, so in Bohses Le Mary jaloux oder Der Eyffersüchtige Mann (1689), Der Eyfersüchtige Kupler (1697). Oft begegnen Liebespaare, wie in Bohses Schauplatz Der Unglückselig=Verliebten (1693), Pallidors Die unglückselige Princeßin Michal und der verfolgte David (1707) oder Bohses Übersetzung Don Pedros und Agnes von Castros Liebes=Geschichte (1697). In der Regel adressieren die Vorreden galanter Romane einen „Hochgeneigten und Geehrtesten Leser“497 und suggerieren dadurch ein männliches Publikum, dem sie Anlage und Absicht der Romane vorstellen (Kapitel 3.2). Dirk Rose stellt fest, dass auch die galante Liebeslyrik von Männern verfasst wurde und sich vornehmlich an männliche Leser richtet.498 Wolfgang Martens ist sogar der Meinung, es gäbe „um 1720 im deutschsprachigen Bereich einfach noch keine passende Literatur für den weiblichen, und das heißt: für den ungelehrten Leser.“499 Diese Einschätzung ist vor dem Hintergrund des galanten Romans um 1700 zu relativieren ‒ der Roman bietet sich gerade als Medium einer nicht-gelehrten Lektüre an, verlangt er doch keine spezielle Vorbildung und kann für weibliche wie männliche Leserkreise gleichermaßen attraktiv werden. Doch lässt sich von inhaltlichen Kriterien (Titelgestaltung, Geschlecht der Hauptfigur) auf mögliche Leserkreise (Frauen) schließen? Bekannt ist, dass Autoren des 18. Jahrhunderts wie Gottsched, Bodmer, Gellert bewusst auf weibliche Figuren und Autorinnenfiktionen (z.B. in den Moralischen Wochenschrif495 Vgl. Auflistung

der Primärquellen im Anhang. Hinweis auf Celanders Roman Academische Göttinnen, der vermutlich nie existierte, in: Meletaon [Johann Leonhard Rost]: Bescheidene Verantwortung und abgenöthigte Ehrenrettung wider Celanders grobe Beschuldigung. In: Curieuse Liebes=Begebenheiten, Cölln 1714, Verteidigungsrede im Anhang, S. 163–254, hier S. 197, 200. Weiblichkeitszentrierte Romane, die heute nicht mehr auffindbar sind, aber in historischen Bibliothekskatalogen gelistet werden, sind z.B. Menander [David Christian Walther]: Die standhafte Römerin Clothildis. In: Mechthild Raabe: Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert. Die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1714–1799. Teil B, Bd. 1: Die Leser und ihre Lektüre. München, 1989, S. 292. 497 Meletaon [Johann Leonhard Rost]: Der Verliebte Eremit / Oder des Graens von Castro Lebens= und Liebes=Geschichte / Der Galanten Welt in einem Roman überreichet / von Meletaon. [s.l.] 1711 [Nürnberg: Johann Albrecht]. 498 Rose: Conduite und Text, S. 71. 499 Martens: Leserezepte fürs Frauenzimmer, S. 1152f. 496 Meletaons

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

ten) zurückgreifen, um Identifikationsangebote für Leserinnen zu schaffen.500 Dies lässt sich auch für den galanten Roman vermuten. Einer der frühesten Romane, dessen Vorrede sich explizit an ein weibliches Publikum richtet, ist Talander/Bohses Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers (1685/1692).501 Weitere Beispiele, etwa in Vorreden von Hunold oder Selamintes, lassen sich finden.502 Bohse stellt dem Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers zwei seperate Vorreden voran – eine erste an das weibliche, eine zweite an das männliche Publikum. Obwohl sich die erste Vorrede explizit an weibliche Adressaten wendet und mit dieser Respektbezeugung das weibliche Publikum betont, adressiert die zweite Vorrede die männlichen Leser als ursprüngliche und habituelle Lesergruppe galanter (Liebes-)Romane. Scheinbar selbstverständlich dankt Talander den männlichen Lesern für ihre „gewöhnliche Güte“,503 womit jene seine Schriften bisher aufgenommen haben, insbesondere seinen früheren Roman Der Liebe Irregarten (1684 mit drei Neuauflagen bis 1724).504 Von ausufernden Erläuterungen zur neuen Publikation sieht sich der Autor daher entbunden und unterwirft das Liebes=Cabinet „wieder“ dem „verständigen Urtheil“ der männlichen Leser.505 Diese scheinen mit Stoff, Materie und Figurenpersonal vertraut zu sein, so dass von einer

500 Ball:

Moralische Küsse, S. 49‒75, bes. S. 60, 62; Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1971, bes. S. 15‒33. 501 Talander [August Bohse]: Neu=eröffnetes Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers / Oder: Curiose Vorstellung der unterschiedlichen Politic und Affecten / Welcher sich alle galanten Damen im Lieben bedienen / Vorgestellet von Talandern. Leipzig: Friedrich Groschuff, 1692 [hier verwendet in der Ausgabe Leipzig: Groschuff, 1694]. Es handelt sich um eine Folgeschrift zu Bohses Liebes=Cabinet der Damen (1685), Ders.: Talanders Liebes=Cabinet der Damen / Oder curieuse Vorstellung der unterschiedlichen Politic und Affecten, welcher sich alles galante Frauen=Zimmer in den Lieben bedienet. Leipzig: Christian Weidmann, 1685. 502 Eine Zuschrift an das „galante und annehmliche harmonische Frauenzimmer“ findet sich in Hunolds Verliebter und galanten Welt 1700, zit. nach Stauffer: Verführende SchriftKörper, S. 134. Auch Selamintes Roman Der närrische und doch verliebte Cupido 1713 soll eine Vorrede an das „Hamburgische Frauenzimmer“ enthalten haben, worauf ein Hinweis seines Kontrahenten Behmeno schließen lässt: „Gebe also zu bedencken anheim / ob diese köstliche Schmieralien noch einen Wehrt bey sich führen können / und ob das unvergleichliche Hamburgische Frauenzimmer / dem er [Selamintes] die grosse Ehre der Zuschrifft gegönnet / sie nicht billig admiriren müsse? [Hervorh. K.B.]“, Behmeno [unbek.]: Poetisches Cabinet, In sich haltend allerhand Geist= und Weltliche Gedichte / der Seelen zu einer reinen Lust / Und dem Gemüth zum erlaubten Zeit=Vertreib auffgerichtet / und Nebst einer abgenöthigten Defension wider den albernen Selamintes […]. Franckfurt/Leipzig 1715, Vorrede, S.  20; Exemplare des Cupido sind heute nicht mehr überliefert, hierzu Simons: Marteaus Europa, S. 293, Anm. 5. 503 Talander: Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers, Vorrede An den Leser, unpag. [A 6b]. 504 Talander [August Bohse]: Der Liebe Jrregarten […]. Leipzig: Johann Caspar Meyern 1684, Neuauflagen 1690 und 1696 (Leipzig: J.C. Meyer) und 1724 (Weisenburg am Nordgau: Johann Andreas Mayer), so Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 714f. 505 Talander: Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers, Vorrede An den Leser, unpag. [A 6b].

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

159

männlichen Lesergruppe auszugehen ist, die Talanders Publikationen kennt und auf neue Veröffentlichungen gewartet hat: An den Leser. Geehrter Leser […] Desselben Höflichkeit / mit der Er meinen vor dem Jahre heraus=gegebenen Liebes=Irrgarten [fett im Orig.] auffgenommen / erinnert mich derjenigen Zusage / so ich in damahliger Vorrede gethan; Ich entbinde mich demnach derselben in diesen neuen Tractat / so ich hiermit dessen verständigen Urtheil wieder unterwerfe / welches ich dann von seiner gewöhnlichen Güte eben so günstig als das vorige verhoffen wil. Die Materie und die darinnen auffgeführeten Personen wollen selbst dessen bürge seyn [Hervorh. K.B.].506

Gleichzeitig sieht sich Talander/Bohse ermutigt, mit seiner Publikation auch Frauen anzu­sprechen, da Der Liebe Irregarten auch bei den Leserinnen auf so „hohe Gunst“,507 „übergrosse Gewogenheit“ und „einen solchen Beyfall“ gestoßen sei,508 dass der Autor die neue Publikation „unter dem Titul eines ihnen [den Frauen] schuldigen Opffers verstecken kan“.509 Obwohl sich Der Liebe Irregarten nicht explizit an ein weibliches Publikum gerichtet hatte,510 geht Talander von einer enormen Resonanz der weiblichen Leserschaft aus. Er argumentiert mit der großen Nachfrage von Frauen nach Romanen, die es angemessen erscheinen lässt, dieser Rezipientengruppe nun ein eigenes Vorwort zu widmen und sie gewissermaßen als Publikum zeitgenössischer (Liebes-)Materien willkommen zu heißen. Dieses Vorgehen wird als List getarnt: Unter der Bezeichnung des „schuldigen Opfers“ an die Frauen lasse es sich „verstecken“.511 Es ist schwer zu entscheiden, ob Bohse die Nachfrage der Leserinnen und die Normalität der weiblichen Romanlektüre nur suggeriert oder ob diese Einschätzung tatsächlich historischen Tatsachen entspricht. Die Argumentation setzt aber bei der Aktivität von Frauen im Rahmen des Buchhandels an, bei dem Wunsch und der Nachfrage vermeintlicher Leserinnen nach galanten Liebesromanen. Unabhängig davon, wie glaubwürdig diese Behauptung ist, dient sie Autor und Verleger dazu, dieser Nachfrage nachzukommen. Im Sinne eines selbstautoritativen, performativen Aktes wird die Grundlage für die folgende Romanpublikation diskursiv ‚geschaffen‘ (Kapitel 2.2.3). Autoren und Verleger erkennen in weiblichen Leserkreisen ‒ auch in begrenztem Umfang ‒ eine ausbaufähige Zielgruppe des Buchhandels, die zunächst als sekundäre Rezipientengruppe zu beschreiben ist. Nach und nach gesellen sie sich der Leserschaft (junger) Männer hinzu; beide Lesergruppen überschneiden sich. Mit Blick auf den galanten Roman scheint es daher nicht angemessen, von einer spezifisch ‚weiblichen‘ Konnotation der Gattung zu sprechen.

506 Ebd.,

unpag. [A 6af.] Vorrede An das Leipziger Frauen=Zimmer, unpag. [A 4b]. 508 Ebd., unpag. [A 5a]. 509 Ebd., unpag. [A 3af]. 510 „[O]bschon selbiger [Roman Der Liebe Irregarten] sich nicht der Ehre rühmen kan / seine ersten Blätter mit dergleichen Zuschrifft an so galante Damen bezeichnet zu wissen […]“ (ebd., unpag. [A 4bf.]). 511 Ebd., unpag. [A 3b]. 507 Ebd.,

160

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Doch welche Rückschlüsse lassen die Texte zur sozialen Verortung der antizipierten Leserinnen zu? Welche Frauen werden adressiert und wie werden galante Leserinnenstereotype in den (Para-)Texten gestaltet? 3.3.2.1 Die männliche Imago der Leserin Galante Autoren wie Bohse, Hunold, Rost, Selamintes u.a. bemühen sich, Frauen wie Männer von Vorteil und Nutzen der weiblichen Romanlektüre zu überzeugen. Sie entwickeln vielfältige Strategien, um die (männliche) Imago eines weiblichen Romanpublikums zu entwerfen und zu verbreiten. Dazu nutzen sie unterschiedliche Textsorten, weswegen sich Hinweise zur antizipierten Romanleserin nicht immer unmittelbar im galanten Roman und seinen Paratexten finden lassen, sondern auch in Briefstellern, Verhaltensratgebern oder Konversationsbüchern. Galante Autoren adressieren das weibliche Geschlecht auf unterschiedlichen Ebenen, die ich mangels einer verbindlichen Terminologie als (männliche) Imago einer historischen, fingierten und fiktionalisierten weiblichen Leserschaft bezeichne. In unterschiedlichen Referenzkonstellationen ‒ je nachdem, wo und wie Hinweise zur Leserin artikuliert werden ‒ konstruieren die Texte einen Adressatenbezug, der eine potentielle Referentialität zu lesenden Frauen in der ‚Wirklichkeit‘ suggeriert. (1) Am eindeutigsten erlauben es Dedikationen und Zuschriften, Frauen als historische weibliche Leserschaft zu adressieren. Wenn Bohse seinem Roman Ariadne (1699) eine Widmung an Anna Sophie von Sachsen-Gotha-Altenburg (1670–1728) voranstellt, in der er die Herzogin und Fürstin als eine Leserin preist, die „der Poesie und denen Geschichten zugethan“ sei und auf deren gütige Aufnahme des Romans er hoffe,512 dann referiert der Text auf eine real existierende Persönlichkeit  –  unabhängig davon, ob diese den Roman jemals las oder nicht. Die Dedikation weist hochstehende Frauen als vermeintlich historische Leserinnen des galanten Romans aus. Ähnlich, wenn auch weniger explizit, verfährt Bohse in der ersten Vorrede im Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers (1685/92). Mit den Worten: „An das Tugend=belobte Leipziger Frauen=Zimmer. Hochgeehrte Damen“ eröffnet er die Publikation und adressiert eine regional spezifizierte Leserschaft („Leipzig“).513 Aus Titularregistern oder Titulatur-Büchern, die in Briefstellern vielfältig mitgeliefert werden,514 sind die Differenzierungen und Grade bekannt, nach denen sich

512 Talander: Ariadne,

Zuschrifft, unpag. [A 1a]. Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers, Vorrede An das Leipziger Frauen=Zimmer, unpag. [A 2bf.]; auch in der Vorgängerschrift Liebes=Cabinet der Damen (1685). 514 Talander [August Bohse]: Der Allzeitfertige Briefsteller / Oder / Ausführliche Anleitung: wie wohl an hohe Standes=Personen, als an Cavalliere, Patronen, gute Freunde, Kauffleute und auch an Frauenzimmer ein geschickter Brieff zu machen und zu beantworten. […] Titutar=Buch […]. Franckfurt/Leipzig: Johann Theodor Boetio 1692 [Erstausgabe 1690]; Ders.: Von der Titulatur. In: Gründliche Einleitung zun Teutschen Briefen / Nach den Haupt=Reguln der teutschen Sprache eröffnet […] mit einer Jetzt üblichen Titulatur und allerhand Brief=Mustern […]. MDCCVI [1706; Erstausgabe 1700], Titularregister, S. 113–187. 513 Talander:

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

161

Anreden gemäß des sozialen Standes und der jeweiligen gesellschaftlichen Position von Adressat und Sprecher richten. Die Anrede an die „Duchlauchtigste Hertzogin / gnädigste Fürstin und Frau“ Anna Sophie515 enthält einen genealogischen Bezug auf den Stand qua Geburt und richtet sich, ähnlich wie „Durchlauchtigste Königin und Frauen“,516 „Hochwohlgebohrene Freiherrin und Frauen“517 oder „Wohlgebohrene Fräulein“,518 an Damen höherer adliger Stände. Demgegenüber setzt man die Anrede „Vielehr= und Tugendreichen Frauen“ oder „Der Hoch=Ehr und Tugendreichen Frauen“,519 so Bohse, „An eine Frau bürgerlichen Standes“520 oder an eine „Frau von mittlerer Condition“.521 Mit der Formulierung „tugendbegabte Jungfer“ werden „fürstliche Kammer=Mägdchen“ angesprochen.522 Durch die Anrede an das „tugendbelobte“ und „hochgeehrte“ Frauenzimmer richtet sich Bohses Liebes=Cabinet somit primär an bürgerliche Frauen und eine mittelständische weibliche Leserschaft sowie an Frauen des niederen Adels und Angestellte in adligen Diensten.523 Auch das regionale Attribut des „Leipziger“ Frauenzimmers legt eine mittelständische Verortung nahe. Leipzig gilt (etwa im Gegensatz zur Residenzstadt Dresden) als bürgerliche Stadt. Obwohl die sächsische Messestadt durchaus mit einer (von Bürgerlichen adaptierten) galanthöfischen Lebensart assoziiert wird, wie Hunolds studentisches Stereotyp des galanten Leipzigers zeigt,524 genießt die Stadt über die Zeiten hinweg den Ruf einer „Bürgerstadt“.525 In Leipzig lässt sich das merkantile Zentrum galanter Romanproduktion finden, wo Verleger und Drucker den Handel mit aktuellen Schriften und Romanen forcieren. Sächsische Verleger wie Johann Ludwig Gleditsch und Johann Friedrich Gleditsch entwickeln mit Schriften wie das Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers (1692), Des Frauenzimmers Secretariat=Kunst (1692) oder dem Frauenzimmer=Lexicon (1715) gezielt Lektüreangebote für Frauen.526 Eine Nach-

515 Talander: Ariadne,

Zuschrifft, unpag. [A 1a]. Gründliche Einleitung zu Teutschen Briefen, S. 118, 182 (an eine Königin, Herzogin, Prinzessin oder Fürstin); Ders.: Allzeitfertiger Briefsteller, S. 30, 42. 517 Talander: Gründliche Einleitung zu Teutschen Briefen, S. 183 (an eine Freiherrin). 518 Ebd. (an ein adliges Fräulein). 519 Ebd., S. 184, 185. In Bohses Allzeitfertigen Briefsteller (1690) wird die Anrede „Vielehr= und Tugendreiche Frauen“ im Kontext der Anreden an bürgerliche oder mittelständige Männer genannt, etwa Bürgermeister, Soldaten, Magister ohne Ämter, Studenten oder Kaufleute, Talander: Allzeitfertiger Briefsteller, S. 34. 520 Talander: Gründliche Einleitung zu Teutschen Briefen, S. 184. 521 Ebd., S. 185 522 Ebd., S. 184. 523 Kammermädchen adliger Damen stammten in der Regel aus dem niederen Adel. 524 Kap. 3.2.2.2 Poetische Fehden I: Bohse/Talander und Hunold/Menantes. 525 Axel Frey u. Bernd Weinkauf (Hg): Leipzig als ein Pleißathen. Eine geistesgeschichtliche Ortsbestimmung. Leipzig 1995, S. 8. 526 Kap. 3.3.3 Förderung der weiblichen Lektüre durch Verleger und Autoren; Koloch: Kommunikation, Macht, Bildung, S. 34. 516 Talander:

162

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

druckausgabe von Talanders Liebes=Cabinet von 1708 legt die Vermutung nahe, dass der Roman schon bald über die Grenzen Leipzigs bzw. Sachsens hinaus für Leserinnen attraktiv werden sollte, denn das regionale Attribut wird in der späteren Auflage getilgt. Die Vorrede richtet sich nicht mehr explizit an Leipziger Leserinnen, sondern allgemein „An das Tugend=belobte L***** Frauen=Zimmer“.527 (2) Auch andere Textsorten liefern Hinweise zur Imago der lesenden Frau. So nutzen galante Autoren den Briefsteller, um Frauenbriefe zu fingieren, die wiederum die Imago der Romanleserin entwerfen.528 Da die primäre Funktion des Briefstellers darin besteht, stilistische Anleitungen zur angemessenen Gestaltung realer Briefe zu liefern ‒ denn der Briefsteller gilt als Gebrauchstext ‒, besteht bereits aufgrund der Textsorte eine Referentialität zu extratextuellen Kommunikationskontexten; die Musterbriefe leiten zu empirischen Tätigkeiten an (Korrespondenz). In die Musterbriefe integrieren galante Autoren Elemente, die Frauen als Romanleserinnen präsentieren; genauer: Sie fingieren Frauenbriefe, in denen sich die vermeintliche Briefschreiberin als Romanleserin zu erkennen gibt. In Hunolds Gemischte[m] Schreiben Eines Frauenzimmers / an ihren von neuen angenommenen Liebsten fordert die Briefschreiberin ihren Liebhaber auf: „[S]o ihr was feines von Romanen habet / werdet ihr so gütig seyn / und mir solches übersenden / weil ihr wisset / daß ich eine grosse Liebhaberin davon bin.“529 Durch die kommunikative Verortung des Musterbriefes im Rahmen einer ‚Liebeskorrespondenz‘ wird die Imago der Romanleserin auch mit dem Liebessujet in Verbindung gebracht. Innerhalb des pragmatischen, auf Faktualität orientierten Kommunikationskontextes fingiert der männliche Autor den Brief einer Verfasserin, der zum Vorbild realer Briefkorrespondenzen von Frauen werden soll und dazu anleitet, wie Frauen Romane bestellen können. Als eine dem Roman verwandte Textsorte530 vermittelt der Briefsteller die (männliche) Imago einer fingierten weiblichen Leserschaft, die so tut ‚als ob‘ historische

527 Talander

[August Bohse]: Curieuse und deutliche Vorstellung unterschiedlicher Politic und Affecten / deren sich alles galante Frauen=Zimmer im Lieben bedienet […]. Liebenthal: Hermann von der Linden [d.i. Leipzig: Friedrich Groschuff] 1708, Vorrede an das L*** Frauenzimmer, unpag. [A 1a]. 528 Zur Definition fingiert, vgl. Anm. 108 in Kap. 2.2.3 Text und Paratext. 529 Menantes: Allerneueste Art Höflich und Galant zu schreiben, S. 419, Hervorh. K.B. 530 In der Vorrede des Briefstellers Allerneuesten Art Höflich und Galant zu schreiben (1702) vertröstet Hunold/Menantes die Leser auf die Fortsetzung seines Romans Verliebte und Galante Welt mit der Begründung, man könne einen „Theil von meiner bißherigen Arbeit“, d.h. des Romans, „an diesen Briefen“ des Briefstellers erkennen. Er verweist auf die Kontinuität seiner literarischen Produktion, die den Briefsteller ebenso wie den Roman einschließt (ebd., Vorrede, unpag. [A 1b]). Zur Nähe von Roman und Briefsteller Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 102; Ruth Florack: Galante Kommunikation zwischen Lehre und Unterhaltung. In: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Akten des XII. Internationalen Germanistenkongresses Warschau 2010. Hg. v. Franciszek Grucza. Bd. 10/2: Multimediale und transnationale Kommunikation im Barockzeitalter, betreut v. Miroława Czarnecka u.a. Frankfurt a.M. 2012, S. 209‒214, bes. S. 212.

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

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Frauen Briefe schreiben, Romane lesen und bestellen. Ähnlich wie in Dedikationen und Vorreden wird im Gebrauchstext das Bild einer Leserin entworfen, die wie das männliche Publikum an der Lektüre zeitgenössischer Unterhaltungsliteratur interessiert sei und sich durch Männer mit dieser Lektüre versorgen lässt. (3) Ferner tauchen im Rahmen fiktiver Romanhandlungen weibliche Figuren auf, die als Romanleserinnen inszeniert werden. Romanintern bzw. intradiegetisch artikuliert und transportiert die galante Publizistik die Imago einer fiktionalisierten weiblichen Leserschaft. In Rosts Roman Schau=Platz der Galanten und Gelährten Welt (1711) ist z.B. die Protagonistin Paulina, im Garten ihres Hauses sitzend, in die Lektüre des von Meletaon/Rost verehrten Autors Menantes/Hunold vertieft; die einsame Lektüre findet in einer privaten Umgebung im Freien statt.531 „[S]ehr aufmerksam mit Lesen beschäfftiget“, bemerkt Paulina den sich ihr nähernden Kavalier Carlindro nicht eher, „als bis er ihr bereits auf den Halse“ rückt und sich danach erkundigt, welchem „Author“ sie sich denn so intensiv widmet.532 Es ist „der Herr Menantes“, so die Protagonistin, „dessen Europäische Höfe / Liebes= und Helden=Geschichte [1709], mich ungemein delectiren“.533 Die Protagonistin lobt den Roman als die gelungenste Arbeit des Autors.534 Sie erweist sich als profunde Ken­nerin galanter Romane und stößt mit ihrem Urteil auf die vollständige Zustimmung des männlichen Protagonisten, der dies als „gute[r] Kenner der Poesie“ zu beurteilen vermag.535 Szenen wie diese verdeutlichen, dass galante Autoren romaninterne Darstellungen nutzen, um wertende Urteile zu realen Texten und ihren Verfassern zu artikulieren. In der Fiktion des Romans werden diese Bewertungen durch die positive Rezeption des männlichen und weiblichen Figurenpersonals untermauert. Die fiktive Romanleserin wird als Kennerin der galanten Romanproduktion ins Feld geführt, die mit ihrem überzeugten, wenn auch ihrer Meinung nach „einfältigen Raisona-

531 Ähnliche

Darstellungen weiblicher Romanleserinnen finden sich u.a. bei Selamintes mit der Romanleserin Leonora, Selamintes [Wendt, Christoph Gottlieb]: Die Glückliche und Unglückliche Liebe […]. Hamburg: Christian Liebezeit 1711, S. 246. 532 Meletaon [Johann Leonhard Rost]: Des Schau=Platzes Der Galanten und Gelährten Welt, Anderer Theil / Eröffnet von Meletaon. In: Ders.: Schau=Platz der Galanten und Gelährten Welt. Nürnberg: Johann Christoph Lochners, 1711, S. 235f., auch im Folgenden; Simons: Marteaus Europa, S. 320f. 533 Meletaon: Schau=Platz der Galanten und Gelährten Welt, S. 236; verwiesen wird auf Menantes [Christian Friedrich Hunold]: Der Europäischen Höfe / Liebes= und Helden=Geschichte / Der Galanten Welt zur vergnügten Curiosité ans Licht gestellet / Von Menantes. Hamburg: Gottfried Liebernickels Seel. Wittwe, 1709. 534 Meletaon: Schau=Platz der Galanten und Gelährten Welt, S. 236. 535 „Carlindro / der ein guter Kenner der Poesie und von diesen Schrifften / der muste die Meinung allerdings billigen / sprechend: Ich habe zwar sonsten auch viele Romans durchgelesen / jedoch wollte ich wünschen / daß ein jeder / wie des Herrn Menantes Europäische Höfe eingerichtet gewesen / so dörffte ich sagen / daß noch nichts delicaters durchgeblättert“ (ebd., S. 236f.).

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

ment“, dieselbe Ansicht vertritt wie der männliche Protagonist.536 Weibliches und männliches Werturteil bestätigen sich wechselseitig bzw. das weibliche Urteil wird, unabhängig von der männlichen Einschätzung formuliert, zur Bekräftigung des männlichen Urteils ins Feld geführt. Gleichzeitig zeigt die Szene, dass Frauen nicht nur weiblichkeitszentrierte Romane lesen sollten (Ariadne, Atalanta usw.), sondern die ganze Bandbreite galanter Romane (Europäischer Höfe Liebes= und Heldengeschichte), in diesem Falle die von Rost verehrten Texte Hunolds. Auch Hunolds Satyrischer Roman (1706) ist mit Hinweisen auf die weibliche Lektüre durchsetzt, worunter auch frivole Romane fallen. Im Bett der Protagonistin Caelia findet sich beispielsweise die Publikation „Zeit=Vertreib der Nonnen“,537 eine mutmaßliche Anspielung auf Romane, wie sie mit der Venus im Kloster (1689) oder Bohses Amazoninnen aus dem Kloster (1696) bekannt waren (Kapitel 3.2.2.1).538 Aus den textuellen und paratextuellen Indizen lässt sich schließen, dass sich galante Romane potentiell an Frauen des mittleren und gehobenen Bürgertums sowie des niederen und hohen Adels richten. Fiktive Frauenfiguren wie Bohses Europäerin Constantine (1698), Ariadne königliche Printzeßin von Toledo (1699), Hunolds Liebenswürdige Adalie (1702) oder Rosts Durchlauchtigste Tamestris (1712) bieten diesen Leserkreisen Identifikationsmöglichkeiten, insofern die Hauptfiguren denselben sozialen Ständen entstammen wie ihre potentiellen Leserinnen. Einzelne Quellen legen es sogar nahe, dass auch Frauen aus unteren bürgerlichen Schichten zu den Rezipientinnen galanter Romane zu zählen sind, selbst wenn sie nicht lesen konnten: Die satirische Schrift Die abentheuerliche Welt in einer Pickelheerings=Kappe (1718) vermittelt das Bild einer Küchenmagd, die sich vom Koch Romane vorlesen lässt.539 Allerdings ist diese Darstellung als Satire und somit als Kritik an der um sich greifenden Romanlektüre von Frauen zu verstehen; weitere Untersuchungen könnten hier mehr Aufschluss geben. Zunächst lässt sich festhalten, dass die galante Leserinnenimago in ihrer immanenten Struktur recht heterogen begriffen werden muss, da Frauen aus unterschiedlichen sozialen Ständen und Milieus antizipiert werden. Dies ist überraschend, weil 536 Ebd.,

S. 236. Obrist-Lieutenant den Zeit-Vertreib der Nonnen in meinem Bett gefunden, deswegen mit mir brechen wollen: Ihm die Thür gewiesen“, Menantes: Satyrischer Roman, S. 212. 538 Jean Barrin: Die Venus im Kloster / Oder Die biss aufs Hembd ausgezogene geistliche Nonne: bestehet In vier überaus vorwitzigen Gesprächen / Welche Der Abt von Mundellzheim der Frau Aebtissin zu Dittlenheim dediciret und zugeschrieben. Von Jean Barrin, Cölln: A. Marten [Marteau?], 1689; Talander: Die / Amazoninnen / aus dem / Kloster […]. Cölln: Johann Ludwig Gleditsch u. M.G. Weidmanns Erben 1696. 539 „Der Koch steht bey dem Heerd und macht es sich bequem, / Und wann auch drüber gar ein Haar ins Essen käm, / Doch ist ihm der Roman so lieb, so werth, so theuer, / Er blättert selben durch und ließt ihn bey dem Feuer; / Das Magd, das Küchen Mensch, der Tölpel, die Sabin, / Das alte Futteral, die Dreck=Sau, bittet ihn, / Daß er ihr draus was leß, sie hab es offt vernommen, / Da sie kan ohne dem in keine Kirche kommen […]“, [anonym]: Die abentheuerliche Welt in einer Pickelheerings=Kappe, Nürnberg [s.n.], 1718, zit. nach Simons: Marteaus Europa, S. 450. 537 „Der

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

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die Forschung davon ausgeht, dass vor allem Frauen höherer Stände alphabetisiert waren, weniger Frauen ‚mittlerer Condition‘ oder gar unterer bürgerlicher Schichten.540 Zugleich lässt die Heterogenität der Leserinnenimago aber vermuten, wie groß der Wille von Autoren und Verlegern gewesen sein muss, eine möglichst breite weibliche Leserschaft anzusprechen und sie unter dem Kollektivsingular ‚das Frauenzimmer‘ zu subsumieren. Die weibliche (Roman-)Lektüre wird um 1700 von männlicher Seite bewusst forciert. Die doppelte Adressierung männlicher und weiblicher Leserkreise sowie Frauen aus hohen und mittleren Ständen erweitert das potentielle Publikum galanter Romane erheblich. Doch welche Lektüre bieten die Texte den Leserinnen an? Die Paratexte liefern Hinweise zu bevorzugten Stoffen, Materien und Wirkungsabsichten der Gattung, wie Bohses Liebes=Cabinet zeigt. 3.3.2.2 Liebe und Laster als Materien der Lektüre von Frauen Talander/Bohses Neu=Eröffnetes Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers / Oder: Curiose Vorstellung der unterschiedlichen Politic und Affecten / Welcher sich alle galanten Damen im Lieben bedienen (Leipzig: Friedrich Groschuff, 1692) ist ein Nachdruck von Bohses früherer Publikation Liebes=Cabinet der Damen (Leipzig: Christian Weidmann, 1685).541 Es handelt sich um eine so beliebte Schrift, dass bis 1708 sechs Auflagen erscheinen (teils unter fingiertem Druckort), erweitert sogar durch einen zweiten Teil.542 In einzelnen, nicht notwendig zusammenhängenden Episoden werden Liebes- und Kommunikationsszenen der Geschlechter vorgeführt.

540 Becker-Cantarino:

Frau von der Reformation zur Romantik, S. 264, 268; Dies.: Schriftstellerinnen der Romantik, S. 37; Raabe: Leser und Lektüre im 17. Jahrhundert, S. 67. 541 Talander [August Bohse]: Neu=eröffnetes Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers […] / Vorgestellet von Talandern. Leipzig: verlegts Friedrich Groschuff, 1692 (hier verwendet in der Ausgabe Leipzig: Groschuff 1694, im Folgenden zit. als Talander: Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers); Ders.: Talanders Liebes=Cabinet der Damen / Oder curieuse Vorstellung der unterschiedlichen Politic und Affecten, welcher sich alles galante Frauen=Zimmer in den Lieben bedienet. Leipzig: Christian Weidmann, 1685. Erdmann Neumeister bezeichnet das Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers (1692) als „Fortsetzungsschrift“ des Liebes=Cabinets der Damen (1685) und suggeriert damit, es handelte sich um verschiedene Publikationen, Erdmann Neumeister: De Poetis Germanicis huius seculi praecipuis dissertatio compendicaria [1695], Faksimile. Hg. v. Franz Heiduk u. Günter Merwald. Bern 1978, S. 300. Da heute nur noch die Ausgaben von 1685, 1694 und 1708 erhalten sind, lässt sich dies inhaltlich nicht überprüfen. Ein kusorischer Vergleich der vorhandenen Ausgaben weist allerdings nur geringe inhaltliche Änderungen auf, große Teile der Publikationen sind identisch. Es scheint sich um einen gering überarbeiteten Nachdruck zu handeln. 542 (1) Liebes=Cabinet der Damen, Leipzig: Christian Weidmann, 1685; (2) Liebes=Cabinet der Damen, Leipzig, s.n., 1689; (3) und (4) Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers, Leipzig: Friedrich Groschuff, 1692 und 1694; (5) Der Andre Theil des Liebes=Cabinets des galanten Frauenzimmers, Leipzig: Friedrich Groschuff, 1694; (6) Curieuse und deutliche Vorstellung unterschiedlicher Politic und Affecten / deren sich alles galante Frauen-Zimmer im Lieben bedienet, Liebenthal [Leipzig: Friedrich Groschuff], 1708, hierzu Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 715f.

166

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Die Titelformulierung stellt in Aussicht, generalisierende Ausführungen zu „allen galanten Damen“ oder „Frauenzimmern“ und deren Liebesverhalten zu offenbaren – Informationen, die für Männer ebenso interessant sein können wie für Frauen, wobei soziale und ständische Differenzen der beschriebenen Frauen scheinbar verwischt werden. Die beiden seperaten Vorreden An das (Leipziger) Frauenzimmer sowie An den Leser sind in allen Auflagen bis auf geringe orthografische und stilistische Abweichungen identisch. Erkennbar wird die Publikationspraxis junger Autoren, bereits veröffentlichte Texte mehrfach zu verwenden (Kapitel 3.1.3.4). Es zeigt sich aber auch, dass der damals 24-jährige Bohse bereits zum frühen Zeitpunkt der Karriere Frauen explizit als Leserinnen des Romans adressiert. Sowohl die Vorrede An das Frauenzimmer als auch An den Leser unterstreichen Bohses Intention, ein weibliches Publikum für die Romanlektüre zu gewinnen, doch verfolgt der Autor jeweils unterschiedliche Argumentationen. Während der Leserin vor allem Stoffe und Materien erläutert werden, wird der Leser über Wirkungsabsichten und Rezeptionspotentiale informiert. Ohne „viele Entschuldigungen“ unterbreitet Talander den Roman in der ersten Vorrede den „verständigen Augen“ der Leserinnen: An das Tugend=belobte Leipziger Frauen=Zimmer. Hochgeehrte Damen. Ich finde nicht nöthig / mich mit vieler Entschuldigungen zu verwahren / daß ich diese schlechten Blätter ihren verständigen Augen in gehorsamster Ehrerbietung darreiche / denn da die Materie dero beliebtes Geschlecht am meisten angehet / habe ich selbige […] ihnen / als denen sie gantz eigen / nicht entziehen wollen [Hervorh. K.B.].543

Obwohl sich Talander anschließend für diese „Kühnheit“ und „Dreußdigkeit“ entschuldigt,544 ver­mittelt er den Eindruck, als könne ein weibliches Publikum galanter (Liebes-)Romane selbst­verständlich vorausgesetzt werden. Explizit argumentiert er mit der Materie des Romans, die dem weiblichen Geschlecht „ganz eigen“ sei. Die Gattung gestaltet Stoffe und Sujets, vor allem der Liebe, die von Frauen gelesen werden können und gelesen werden sollen. Das Liebessujet rückt dabei nicht in einen Gegensatz zum Verstand oder in die Nähe von Irrationalität und Emotionalität und ist der Leserin etwa aus diesem Grunde eigen. Sondern die Liebesthematik wird zum Gegenstand einer vernünftigen (rationalen) Reflexion; der Text wird den „verständigen Augen“ der Leserinnen unterworfen. Diese Argumentation greift Bohse in der Vorrede An den Leser erneut auf und baut sie aus. Er behauptet, dass der Roman „zu[r] Ausbutzung ihres [des weiblichen] Verstandes etwas könnte beytragen“.545 Die erste Fassung von 1685 ist in dieser Stelle noch expliziter, denn dort spricht Ta-

543 Talander:

Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers, Vorrede An das Leipziger Frauen=Zimmer, unpag. [A 2bf.]. 544 Ebd., unpag. [A 3af], [A 4b]. 545 Ebd., Vorrede An den Leser, unpag. [A 10b]; vgl. Kap. 4.3.1.2 Transformation des preziösen Esprit-Begriffs: Der Verstand der Protagonistin.

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

167

lander vom „herrlichen Verstand bey einen Frauenzimmer“ ‒ eine Formulierung, die er in der Ausgabe von 1692 kürzt.546 Ungeachtet dessen wird die imaginierte Leserin mit „Verstand“ und „Verständigkeit“ assoziiert, d.h. mit einem Verstandesvermögen, das sie prinzipiell zur Lektüre befähigt, die ihrerseits den weiblichen Verstand weiter schärft („ausputzt“). Bildungsemanzipatorische Impulse der Frühaufklärung, die sich in positiven, wenn auch nicht unproblematischen Konzepten ‚der Gelehrten‘ zeigen und in der Aufklärungsforschung ausführlich diskutiert worden sind, scheinen hier im Hintergrund zu stehen.547 Stellt man allerdings buchhandelsgeschichtliche Faktoren in Rechnung, konkret die Gleichzeitigkeit und Überlagerung männlicher und weiblicher Leserkreise, eröffnet sich noch ein anderer Ansatz, der in dieser Argumentation weniger die Aufwertung weiblicher, als vielmehr die Wahrung männlicher Vernunftsansprüche vermuten lässt. Wie erwähnt, unterwirft Bohse das Liebes=Cabinet in der Vorrede An den Leser dem gewohnten „verständigen Urteil“ des männlichen Publikums.548 Wenn das Liebessujet als Gegenstand einer verständigen Lektüre des Mannes nicht diskreditiert werden soll, Frauen aber gleichfalls als Leserinnen gewonnen werden sollen, so muss dem weiblichen Publikum die Kompetenz der vernünftigen Beurteilung ebenfalls zugesprochen werden. Andernfalls könnten Frauen nicht in den Rezeptionsprozess integriert werden oder Männer würden sich durch die Lektüre der Unvernunft verdächtig machen. Das Konzept der vernünftigen Leserin ließe sich demnach auch als Reaktion auf eine heterogene Rezipientenstruktur verstehen, die zur Inklusion von Frauen, aber nicht zur Exklusion von Männern führen soll. In diesem Zusammenhang kommt es zu einer ambivalenten Codierung des Liebessujets. In der Vorrede An das Frauenzimmer wird der Roman zunächst als Medium der sittlichen Erziehung beschrieben. Der Autor wolle den Leserinnen „würdige Exempel dero eigene[n] höchst schätzbare[n] Gemüths= und Leibes=Gaben / als in einem Spiegel vorstellen.“549 Vorgeblich bestimmt Bohse/Talander den

546 In

der Ausgabe von 1685 war noch zu lesen: „und ist dahero ein Merckmahl eines herrlichen Verstandes bey einen Frauenzimmer / wenn es einige Zeit mit Lesung guter Bücher zubringet [Hervorh. K.B.]“, Talander: Liebes=Cabinet der Damen, Vorrede An den Leser, unpag. [A 8b]. Verknappt in der Ausgabe von 1692: „und ist dahero ein Merckmahl eines herrlichen Frauenzimmers / wenn es einige Zeit mit Lesung guter Bücher zubringet [Hervorh. K.B.]“, Talander: Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers, Vorrede An den Leser, unpag. [A 9a]. Die Stelle zur „Ausbutzung ihres Verstandes“ bleibt in beiden Fassungen identisch. 547 Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, S. 80‒149; Helga Brandes: Der Wandel des Frauen­ bildes in den deutschen Moralischen Wochenschriften. Vom aufgeklärten Frauenzimmer zur schönen Weiblichkeit. In: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700‒1848). Festschrift für Wolfgang Martens zum 65. Geburtstag. Hg. v. Wolfgang Frühwald u. Alberto Martino. Tübingen 1989, S. 49‒64; Ball: Moralische Küsse, bes. S. 52‒60. 548 Talander: Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers, Vorrede An den Leser, unpag. [A 6b]. 549 Ebd., Vorrede An das Leipziger Frauen=Zimmer, unpag. [A 3b].

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Roman als unterhaltsamen Ratgeber eines positiven Verhaltens und Kommunizierens, als „Spiegel“ des sittlichen Auftretens der Frau – eine Argumentation, die er auch in anderen Schriften verfolgt und die, wie Rotths Romanbestimmung zeigt, gängiger Topos der poetischen Tradition ist (Kapitel 2.1.2).550 Das Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers erregt jedoch insofern Irritationen, als dass es die Laster geradezu exponiert. Wenn im Roman „etliche“ Laster vorgeführt werden, so äußert sich Talander zu diesem Punkt, so sollten jene die Leserinnen nicht etwa verschrecken, sondern im Gegenteil desto mehr „vergnügen“, je gewisser sie seien, mit der­gleichen Verfehlung nichts gemein zu haben. Die Passage sei in einem längeren Zitat wiedergegeben, um ihre Referenzen und deren Ambiguität deutlich zu machen: Ich hoffe demnach dieser Kühnheit [dem weiblichen Geschlecht einen Roman zu unterbreiten] umb desto leichter Vergebung / ie eher ich sie unter den Titul eines ihnen schuldigen Opffers verstecken kan / zumahl da ich gewiß / daß ich dero hohen Tugenden in dem gantzen Tractat nicht mit eintzigem Worte zu nahe trete / sondern mich vielmehr beflissen / ihnen durch würdige Exempel dero eigene höchst schätzbare Gemüths= und Leibes=Gaben / als in einem Spiegel vorzustellen. Sollten sie [die Leserinnen] aber auch etliche in diesen meinen Schrifften antreffen / deren ungleiche Affecten unter die Laster zu setzen / so können sie dieselben mit desto grösserm Vergnügen betrachten / ie sicherer sie seynd / daß ihre Reinlichkeit mit dergleichen Befleckung nichts gemein habe / und daß einer solchen Dame ungereimtes Verhalten ihren Ruhm so wenig / als die schwartze Nacht einem hell=leuchtendem Stern verdunckeln könne [Hervorh. K.B.].551

Die Erklärung, warum Frauen den galanten (Liebes-)Roman lesen sollten, hält durch den gewählten Sprachgebrauch einige syntaktische und semantische Relationen im Uneindeutigen und eröffnet dadurch verschiedene Lesarten. Bohse situiert zunächst einen Gegensatz zwischen den Leserinnen (in der ‚Wirklichkeit‘) und der Protagonistin im Roman (die Dame). Zwei Aussagemodi – Wirklichkeit (Historie) und Fiktion (Erfindung)  –  werden einander entgegengestellt.552 Des Weiteren eröffnet sich eine moralische Diskrepanz zwischen der hohen ‚Tugend‘, mit der Bohse die Leserinnen in Verbindung bringt, und dem ‚Laster‘, das er konjunktivisch, d.h. als Möglichkeitsmodus der Fiktion, der Protagonistin zuweist (die ‚Dame mit ungereimtem Verhalten‘, also sittlich bedenklich). Der Roman dient als ‚Spiegel‘, der den Leserinnen die eigene Tugendhaftigkeit vorführt, sich die Möglichkeit der lasterhaften Darstellung aber nicht versagt – ex negativo soll die Darstellung des Lasters die Tugend illustrieren, oder besser gesagt: Der Autor fordert die Leserinnen auf, diese

550 Aussagen

Bohses zum Roman als „kluge Sitten=Lehre“, welche „die Laster […] darinnen mit so scharffen Lehrsätzen bezeichnet / und die Tugenden mit so wohlverdienten Lobes=Erhebungen aufgeführet / daß ein rechtschaffener Leser bald vor jenen ein[e] Abscheu / und zu diesen eine Liebe bekommt“, Talander: Allzeitfertiger Briefsteller (1692), S. 397. 551 Talander: Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers, Vorrede An das Leipziger Frauen=Zimmer, unpag. [A 3a–4b]. 552 Kap. 3.4.1.2 Galante Sittenkritik zwischen Historie und Fiktion.

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

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interpretative Ergänzung selbstständig vornehmen. Wenn der Roman als Spiegel des Lebens auch das Laster vorführt, so sei dies dem Autor zu verzeihen – die Leserinnen können sich, je sicherer sie sind, von diesen Lastern selbst nicht betroffen zu sein, desto mehr daran „vergnügen“, so die erste Les­art. Eine zweite Lesart wird allerdings möglich durch die Mehrdeutigkeit des Possessivpronomens im letzten Nebensatz, das die Kongruenz zwischen dem Passus „ihren Ruhm“ und dem diesbezüglichen Referenznomen im Vagen hält: Sollten sie [die Leserinnen] aber auch etliche [Figuren/Protagonistinnen/Darstellungen] in diesen meinen Schrifften antreffen / deren ungleiche Affecten unter die Laster zu setzen / so können sie dieselben mit desto grösserm Vergnügen betrachten / ie sicherer sie seynd / daß ihre Reinlichkeit mit dergleichen Befleckung nichts gemein habe / und daß einer solchen Dame ungereimtes Verhalten ihren Ruhm so wenig / als die schwartze Nacht einem hell=leuchtendem Stern verdunckeln könne [Hervorh. K.B.].553

Einer Dame ungereimtes (also lasterhaftes) Verhalten könne ‚ihren‘ Ruhm nicht verdunkeln – ihren (der Leserinnen) oder ihren (der lasterhaften Protagonistin) Ruhm? Nach der ersten Lesart bezieht sich das Possessivpronomen auf die Leserinnen, d.h. auf das Kollektiv der tugendhaften Frauen respektive das weibliche Geschlecht im Allgemeinen. Der Ruhm oder die Tugendhaftigkeit der Leserinnen in der ‚Wirklichkeit‘ kann durch die lasterhafte Protagonistin in der Fiktion nicht angetastet werden. Das feminine Genus beider Referenznomen – die Leserinnen und die Dame – lässt aber auch eine Lesart zu, bei der die lasterhafte Dame selbst zum Referenznomen wird: Das ungereimte (lasterhafte) Verhalten einer solchen (fiktiven) Dame könne „ihren Ruhm“ (den Ruhm der lasterhaften Figur) gleichfalls nicht verdunkeln. Obwohl der nominale Gehalt der Rede eindeutig erscheint, eröffnen vage Kongruenzbeziehungen auf der syntaktischen Ebene unterschiedliche und ambivalente Deutungsmöglichkeiten. Die syntaktische Vagheit schließt eine Rezeption nicht aus, die auch die lasterhafte Dame, die Protagonistin der Fiktion, moralisch rehabilitiert. Auch wenn kaum zu entscheiden ist, ob diese Ambiguität bewusst intendiert ist, bleibt sie dennoch präsent und hätte durch eine andere Formulierung (Plural-Majestatis) oder einen anderen Satzbau vermieden werden können (z.B. wenn die Referenznomen ausgetauscht und der Satz passivisch umgeformt worden wäre).554 Acht Jahre später mahnt Bohse in der Gründlichen Einleitung zu Teutschen Briefen (1700) genau diese grammatisch-syntaktischen Umformungen an, wenn zu befürchten ist,

553 Talander:

Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers, Vorrede An das Leipziger Frauen=Zimmer, unpag. [A 3a–4b]. 554 Vorschlag K.B.: „Sollten sie [die Leserinnen] aber auch etliche [Figuren/Protagonistinnen] in diesen meinen Schrifften antreffen / deren ungleiche Affecten unter die Laster zu setzen / so können sie dieselben mit desto grösserm Vergnügen betrachten / ie sicherer sie seynd / daß ihre Reinlichkeit mit dergleichen Befleckung nichts gemein habe / und daß ihr Ruhm / so wenig als ein hell=leuchtender Stern von der schwarzen Nacht / durch das ungereimte Verhalten einer solchen Dame nicht verdunckelt werden könne.“

170

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

dass andernfalls semantische Uneindeutigkeiten entstehen.555 Im Liebes=Cabinet nimmt er diese Möglichkeit der sprachlichen Präzision jedoch (noch) nicht in Anspruch. Erst die Romangestaltung lässt daher erkennen, in welche sittliche Richtung der Text weist. Da in den Textanalysen detailliert auf diese Problematik eingegangen wird, sei hier nur darauf verwiesen, dass Bohses Romane einen relativ freien Umgang der Geschlechter propagieren, ohne die weibliche Integrität und Moralität dadurch gefährdet zu sehen. Der galante Roman ächtet weder die Frau, die sich „hefftig bemühete / durch die artigsten Reden und entzücke[n]sten Minen ihn [den Mann] hinwiederum zu ihrer Liebe zu bringen“,556 noch den Mann, dem es gestattet sei, einer Frau „alle Caressen, die er ihr erwiese / […] also ein[zu]richte[n] / als ein Cavallier eine Dame wohl bedienen kan / wenn er sich nicht ihr zu verpflichten suchet.“557 Dirk Rose hat die „erotische Galanterie“ bzw. einen „erotischen Modus“ als evidentes Moment des galanten Diskurses beschrieben, das sich in nahezu alle Ausprägungen der Galanterie mische.558 Dies ist auch in Bohses Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers der Fall. Vor allem aber tritt an dieser Stelle das galante Stilideal eines arguten Sprechens und Schreibens zu Tage, das Rose als charakteris-

555 Ein

differenziertes Sprachbewusstsein für syntaktisch-semantische Relationen zeigt sich vor allem im späten Briefsteller, der Gründlichen Einleitung zu Teutschen Briefen (1700). Im vierten Kapitel Von der Teutschen Construction, oder der Ordnung in der Setzung der Wörter entwickelt Bohse unter anderem drei poetologische Regeln  –  die Voranstellung des ‚Respektablen‘, die passivische Umformung des Satzes sowie die Einheitlichkeit der Pronominalformen –, deren Befolgung es in diesem Falle ermöglicht hätte, semantische Ambiguität zu vermeiden, Talander: Gründliche Einleitung zu Teutschen Briefen, S. 48–57. So spricht Bohse (a) von der generellen „Voransetzung des Vornehmen […] nicht nur im Anfang des Brieffs / sondern den gantzen Brief hindurch“ (ebd., S.  50). Derjenige Adressat (oder das Referenznomen des Satzes), dem die größte Wichtigkeit zugesprochen wird (in Briefen die angeredete Standesperson oder das Frauenzimmer) steht „aus Respect gegen einen Vornehmern“ immer am Beginn des Satzes (ebd., S. 51). Sind solche grammatischen Umformungen nicht ohne Weiteres ausführbar, so sei (b) eine passivische Formulierung vorzuziehen: Der Schreibende „mutiret die Phrasin [den Satz], und macht aus dem Verbo activo ein Passivum“ (ebd.). Außerdem kann der respektable Adressat (c) durch den Plural-Majestatis betont werden; die Wortwahl wird mit einer Form des sozialen Respekts begründet: „Denn in dem der Hof=Stylus es heut zu Tage also eingeführet / daß man / wie im Reden / also auch im Schreiben / diejenigen Personen / so man etwas höflich tractiren will / in Plurali anredet [Hervorh. K.B.]“ (ebd., S.  23). Personalpronomen wie er/dessen/seinen/ihn oder in der femininen Form sie/deren/ihren/ihr markieren eine geringere soziale Distanz bzw. einen persönlicheren Umgangston und dürfen nicht mit den Höflichkeitsformen bzw. „foeminino genere“ Sie/Dero/Ihnen/Ihren vermischt werden, da ansonsten eine „grosse Unrichtigkeit in dem Stylo daraus erfolget“ (ebd., S. 23, 27). In der Vorrede des Liebes=Cabinets adressiert Bohse die Leserinnen zunächst im foeminino genere mit „dero“, womit er den Respekt gegen sie zum Ausdruck bringt, spricht dann aber von „ihren Ruhm“, wodurch auch eine Referenz zum weniger respektable Nomen (die lasterhafte Protagonistin) möglich wird. 556 Talander: Politic und Affekten (1708), S. 148. 557 Ebd., S. 149. 558 Rose: Conduite und Text, S. 66–80, bes. S. 71f.

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

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tisches Merkmal der galanten Publizistik insgesamt beschreibt.559 Das Argute wird um 1700 als ein „artiges und geschicktes Wortspiel“ begriffen, bei dem „ungereimte und doch zusammengereimte Sachen“, „Absurda“ und „Contrariis“ in der „zweideutigen Rede“ verbunden oder spitzfindig voneinander abgegrenzt werden.560 Die kommunikative Praxis des arguten Sprechens und Schreibens dient dazu, die Geschicklichkeit, den Scharfsinn bzw. den „Witz“ des Poeten zu demonstrieren. Dabei eignet sich das argute Stilideal besonders gut, so Rose, um im Spiel mit Zwei- und Mehrdeutigkeiten, „Gegen­stände, die kommunikativen Tabus unterliegen, in die Kommunikation einzuführen“, vor allem erotische Themen.561 Das argute Stilideal könnte Bohses mehrdeutige Ausdrucksweise erklären ‒ nämlich als Demonstration des poetischen Witzes des Autors. Denkbar wäre aber auch, dass Bohses ambiguer Sprachgebrauch auf die geringe Normierung bzw. mangelhafte Standardisierung der deutschen Schriftsprache zurückzuführen sei, durch die das Deutsche um 1700 noch geprägt ist.562 Das Changieren zwischen verschiedenen Sprachtraditionen, der barocken Regelpoetik einerseits und dem galanten Stil mit der Suche nach innovativen Darstellungs- und Ausdrucksformen andererseits, könnte dazu geführt haben, dass grammatikalische Uneindeutigkeiten semantische Ambiguitäten verschärfen. Bohse selbst beschreibt seine schriftliche Ausdrucksfähigkeit als Kompetenz, die in der Entwicklung begriffen sei und sich durch die Praxis verändert. Wenige Jahre später erklärt er im Neu=Erleuchteten Briefsteller (1697), die Verbesserung seiner Ausführungen zu Sprache und Stil seien darauf zurückzuführen, dass sich erst „durch die tägliche Ubung noch immer eine und andere neue Vortheile […] hervor gethan / wodurch man die Schreib=Art geläuffiger und […] annehmlicher machen kan […].“563 Die Leserinnenkonstruktion des Liebes=Cabinets lässt es jedenfalls nicht zu, syntaktische Form und semantische Aussage in eine kongruente und moralisch eindeutige Form zu bringen. Dies zeigt auch die Metapher von der „schwarzen Nacht und dem hell leuchtendem Stern“.564 Die schwarze Nacht (die Lasterhaftigkeit der Frau) kann den hellen Stern (die Tugendhaftigkeit der Frau) nicht verdunkeln. Im meteorologischen Sinne erscheint der helle Stern (die Tugend) aber auch umso heller, je dunkler die Nacht (das Laster) ist. Je drastischer sich das Laster im Roman

559 Ebd.,

S. 241‒250. S. 242, 244. 561 Ebd., S. 244. 562 Hierzu auch Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S.  77. Zu Schwierigkeiten der grammatischen Normierung des Deutschen, Utz Maas: Der Ausbau des Deutschen zur Schriftsprache. In: Euphorion 108 (2014), H. 3, S. 325‒363. 563 Talander [August Bohse]: Neu=Erleuterter Brieffsteller, Leipzig: J.F. Gleditsch, 1697. Vorrede An den Leser, unpag. [A 1b]. 564 „[S]o wenig / als die schwartze Nacht einem hell=leuchtendem Stern verdunckeln könne“, Talander: Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers, Vorrede An das Leipziger Frauen=Zimmer, unpag. [A 4a]. 560 Ebd.,

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

darstellt, so kann diese Metapher auch gedeutet werden, desto reiner und unmissverständlicher müsste die Tugend zur Anschauung kommen. Diese Lesart legt auch die zweite Vorrede An den Leser nahe. 3.3.2.3 Wirkungskonzept des Lasters: Vergnügen und Nutzen der weiblichen Romanlektüre Wenn Bohse den Romans als „Spiegel“ beschreibt, in dem Tugenden und Laster ‚auftauchen‘,565 so referiert er auf eine gängige Vorstellung von Poesie, die darauf abzielt, die „Tugend zu loben und das Laster zu schelten“ (Rotth).566 Wie von Ammon und Vögel allerdings zeigen, können gerade Paratexte auch satirisch umfunktioniert werden oder satirische Effekte generieren, wenn sie sich vervielfältigen (Kapitel 2.2.3).567 In Bohses Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers bestätigt sich diese Beobachtung, wenn man zur Vorrede An das Frauenzimmer die Instruktionen An den Leser hinzuzieht. Bevor Bohse in der zweiten Vorrede An den Leser speziell auf Nutzen und Vorteil der weiblichen Romanlektüre zu sprechen kommt, weist er dem Roman generell die Funktion einer „gemütvollen Unterhaltung“ zu. Junge Autoren um 1700 treten für eine Poesie der Unterhaltung, des Vergnügens (delectatio) ein: „[E]s ist allhier darauff gesehen worden / wie das Gemüth des Lesenden mit anständigern Sachen möchte unterhalten werden.“568 Um die galante Argumentation besser einordnen zu können, ist ein kurzer Exkurs zu Wirkungskonzepten literarischer Texte zwischen Nutzen und Vergnügen (prodesse und delectare) hilfreich. Die Frage, ob Poesie nur vergnügt und unterhält oder ob sie auch einen ethischen Wert besitzt, indem sie nützt, geht bekanntlich auf Horazens Ars Poetica zurück: „Aut prodesse volunt aut delectare poëtae, aut simul et iucunda et idonea dicere vitae ‒ Die Dichter wollen [a] entweder nützen oder [b] unterhalten, oder aber [c] zugleich Erfreuliches und Nützliches über das Leben sagen.“569 Im 17. Jahrhundert überträgt Pierre Daniel Huet (1630–1721) jene dritte Option auf den preziösen Roman.570 Im Traité de l’Origine des Romans (1670), der als Vorrede zu Marie-Madeleine de La Fayettes Roman Zayde erscheint und lange Zeit als einzige Romantheorie Europas gilt, bestimmt Huet die Wirkungsabsicht des Romans als ein

565 Ebd.,

unpag. [A 3b]. Einleitung zu Poetischen Gedichten, S. 350. 567 Ammon u. Vögel: Pluralisierung des Paratextes, S. XI. 568 Talander: Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers, Vorrede An den Leser, unpag. [A 7af.], Hervorh. K.B. 569 Horaz: Die Dichtkunst des Horaz oder der Brief an die Pisonen. Urschrift, Übersetzung, Erklärung. Hg. v. August Arnold. 2. Aufl., Halle a.S. 1860, S. 58, V. 333f. 570 Zur Aufwertung der delectatio zugunsten der „Zerstreuung“ in französischen Texten seit dem 16. Jahrhundert (Jacques Amyot) mehr bei Florian Gelzer: Der Einfluss der französischen Romanpraxis des 17.  Jahrhunderts auf die Romane Philipp von Zesens. In: Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Hg. v. Maximilian Bergengruen u. Dieter Martin. Niemeyer 2008, S. 119‒139, hier S. 121‒123. 566 Rotth:

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

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Vergnügen und Nutzen gleichermaßen: „[C]e que l’on appelle proprement Romans sont des fictions d’aventures amoureuses, écrites en Prose avec art, pour le plaisir & l’instruction des Lecteurs.“571 Im deutschen Raum verbreitet sich Huets Traité durch eine Übersetzung von Eberhard Guerner Happel (1647–1690), der ihn unter dem Titel Mandorell hält einen schönen discours von dem Uhrsprung der Romanen in seinen Roman Der Insulanische Mandorell (1682) aufnimmt. Allerdings ändert Happel leicht den Wortlaut: „was man aber heut zu Tage Romans heisset / sind auß Kunst gezierte und beschriebene Liebes=Geschichten in ungebundener Rede zu unterrichtung und Lust des Lesers.“572 Das Vergnügen (le plaisir), bei Huet noch an erster Stelle genannt, wird zurückgedrängt und stattdessen der Nutzen betont, die „Unterrichtung“ der Leser; das Vergnügen wird als „Lust“ ausgelegt. Christian Thomasius, der als wichtiger Romanbefürworter im akademischen Milieu gilt (Kapitel 3.2.1), sieht im Nutzen des Romans die weit wichtigere Wirkungsabsicht; das Vergnügen sei Mittel zum Zweck. Im Gespräch über Romane (1688) bestimmt er den Roman als eine Ausdrucksform, die „zugleich nützen und belustigen“ könne.573 Als Vorbild nennt er die preziösen Romane Scudérys und La Fayettes574 und lässt über den Kaufmann Christoph verlauten: [I]ch halte dafür, dass man nichts nützlichers und zugleich anmuthigers schreiben könne / als wenn man in teutscher Sprache ehrliche Liebs-Geschichten nach dem Muster etlicher dißfals berühmten Romanen beschriebe. Daß solche Schrifften belustigen / wird mir niemand verneinen / und werde ich nur von nöthen haben darzu thun / daß sie grossen Nutzen schaffen [Hervorh. K.B.].575

Der Nutzen wird präzisiert: So schärfen Romane „vortrefflich“ den „Verstand“, da sie neben geschichtlichen Fakten auch „Politische / Moralische / ja auch sonsten Philosophische und Theologische Discurse“ vermitteln.576 Vor allem „ein junger Mensch“ könne sich so auf angenehme Weise in Bereichen bilden, die er „wohl sonsten / wenn sie bloß und ohne Vermischung der anmuthigen Umstände wären 571 Pierre

Daniel Huet: Traité de l’Origine des Romans. Faksimiledrucke nach der Erstausgabe von 1670 und der Happelschen Übersetzung von 1682. Mit einem Nachwort von Hans Hinterhäuser. Stuttgart 1966, S. 4f., Hervorh. K.B. (im Folgenden werden französisches Original und Happels Übersetzung aus dieser Ausgabe als Huet u. Happel: Traité zitiert). 572 Huet u. Happel: Traité, S. 104, Hervorh. K.B. 573 Das erste Heft von Thomasius’ Monatsschrift Schertz= und Ernsthaffte Gedanken (1688) widmet sich ausführlich dem Roman und reflektiert die Gattung in der Gesprächsfiktion zwischen Kaufmann, Kavalier, Gelehrten und Konrektor. Bei Steinecke: Romantheorie, S. 80–86 auszugsweise abgedruckt als Gespräch über Romane; hier verwendet [anonym] [Christian Thomasius]: Schertz= und Ernsthaffter, Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken, über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen / Erster Monath oder Januarius in einem Gespräch vorgestellet von der Gesellschafft derer Müßigen. Franckfurth/Leipzig: Moritz Georg Weidmann 1688, Photomechan. Reprod. Frankfurt a.M. 1972, S. 126. 574 Ebd., S. 112f. 575 Ebd., S. 108. 576 Ebd., S. 108‒110, auch im Folgenden.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

vorgebracht worden / würde ungelesen gelassen / und einen Eckel davor empfunden haben.“ Der Roman legt vom „guten Verstand und weltkluger Erfahrenheit“ des Verfassers Zeugnis ab und lehrt die Leser „die Kunst, deren Leute Gemüther zuerforschen“.577 Für Thomasius vermittelt die Romanlektüre Einblick in Sitten, Umgangsweisen und die Affektbeurteilung anderer Personen. All diese Erziehungs- und Bildungsfunktionen (Anleitung, wie Welterfahrenheit und soziales Einfühlungsvermögen im Sinne einer galanten Conduite auszuprägen seien) sind über den Roman „gleichsam spielend und in Müßiggang zu lernen.“578 Über die Figurenrede des Konrektors David reflektiert Thomasius aber auch die „Gefahren“ der Romanlektüre, etwa wenn: [D]as lesen der Liebes=Geschichte öffters Unfug angerichtet / und wie mancher Kerl drüber zum Narren worden / daß er sich beredet / er sey ein Heros einer Liebes=Geschichte; wie manches Frauenzimmer gemeinet / es wären in dem Ehestande lauter solche Süßigkeiten anzutreffen / als in denen Romans beschrieben werden / und müsse man nothwendig vor der Heyrath so viel Abendtheuer mit einander ausstehen.579

Thomasius’ Gespräch über Romane endet mit einem Reformprogramm: Sicherlich gäbe es zweifelhafte Texte, doch „die Romans gäntzlich [zu] verwerffen“ sei nicht notwendig.580 Inhalt und Form können und müssen verändert werden, denn das, was missfällt, sind die „albernen Romane“, die zum Ärger aller „mißbrauchet“ werden und daher ungelesen bleiben sollten.581 Die Ausdrucksform als solche trifft diese Kritik indes nicht: So halte ich doch dafür […] solche Bücher / die gar offte zu Aergernüß dienen können / wenn auch gleich dieselben nicht für sich selbst dahin ziehlen / sondern nur zufälliger weise darzu gemißbrauchet werden / zweiffels ohne denen weichen müssen / bey welchen solcher Missbrauch nicht zubefahren ist.582

Aufgrund der Position als Universitätsprofessor, zumal im Leipzig-Halleschen Umfeld, ist anzunehmen, dass Thomasius’ Ausführungen auch von jungen Akademikern rezipiert werden, die als Autoren und Leser galanter Romane auftreten. Thomasius nennt explizit „die Jugend“ als Zielgruppe des Romans,583 wobei er auch von einem weiblichen Publikum ausgeht, wie die Rede des Konrektors zeigt. In diesem Zusammenhang liefert Thomasius einen prekären Hinweis zur Darstellungsweise der Tugend im Roman: Er gibt zu bedenken, dass die Darstellung lasterhafter Figuren (die

577 Ebd.,

S. 114. Zum Politic-Begriff im Sinne der Klugheitslehre vgl. Kap. 3.2.1.1 Vermittlungsinstanz Universität. 578 Thomasius: Scherz- und Ersthafte Gedanken, S. 114. 579 Ebd., S. 121. 580 Ebd., S. 126. 581 Ebd., S. 121 (Kaufmann Christoph). 582 Ebd., S. 222. 583 Ebd., S. 124, ferner S. 110.

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

175

„lasterhafte Person“) womöglich eine klarere Einsicht in sittliches Fehlverhalten bewirken könne.584 Der Kaufmann Christoph gesteht, dass er sich „auch an andern Romainen, welche eine unerbare Liebe vorstellen, belustige“, wenn die „inventionen“, die Erfindungen, etwas „sonderbares und ungemeines mit sich führen.“585 Mit Blick auf die Tugend-Laster-Darstellung im Roman bringt Thomasius hier nolens volens das Darstellungsprinzip ex negativo ins Spiel, was im galanten Kontext noch von Interesse sein wird (Kapitel 3.4.1.2). Da Thomasius außerdem die Romane der preziösen Autorinnen als Vorbild nennt, legt er ihre Texte und das Liebessujet als Thematik nahe und regt darüber hinaus eine Modifikation der Textgestaltung an, da die bisherigen „albernen“ Romane zu ‚verbessern‘ seien. Die Gattungsentwicklung zeigt, dass junge galante Autoren diese Impulse aufnehmen, aber eigenen Interessen gemäß auslegen. Grundsätzlich stärken junge galante Autoren das „Vergnügen“ (delectatio) als primäre Wirkungsabsicht der Gattung. Dies signalisiert nicht nur die konstitutive Titelformulierung „Zu vergönnter Gemüths=Ergötzung an das Licht gestellet“, sondern auch die Vorreden und Paratexte betonen das Vergnügen. Bohse/Talander eröffnet seine Romane häufig schon im ersten Satz mit dem Hinweis auf die „Gemüths=Ergötzlichkeit“,586 die „Vergnügung“587 oder den „vergnügten Zeitvertreib“.588 Auch Rost/Meletaon unterbreitet seine Romane „zum Vergnügen der Galanten und tu-

584 Thomasius

überlegt, warum die Tugend-Laster-Darstellung im Rahmen des Liebessujets häufiger zu einer lasterhaften, statt einer tugendhaften Lektüre führe: „es werden durch die Verliebten Redens-Arten die Gemüther dergestalt erhitzet / daß sie nicht an die tugendhafften Beyspiele dencken / so in denen Liebes-Geschichten vorgestellet werden“ (ebd.). Ohne dies so zu benennen, reflektiert er die Problematik von Form (Darstellungsprinzip ex negativo) und Inhalt (Liebessujet): Wenn die tugendhafte Liebe ex negativo, durch die lasterhafte Anfeindung konturiert wird, dann stehen Tugend und Liebe als positive Rahmung oder Klammer über dem gesamten Textgeschehen. Dies ermöglicht auch eine Rezeption, die das Laster als Teil der (tugendhaften) Liebe positiv deuten kann. Anstatt jedoch das Sujet zu ändern, schlägt Thomasius eine Modifikation der Figurenkonzeption vor, indem von vornherein – ähnlich wie in Komödie oder Satire – eine explizit lasterhafte Figur dargestellt werden soll, deren Fehlverhalten das gewünschte Tugendideal (hoffentlich) deutlicher konturiert: „Wo aber eine Tugendhaffte Liebe vorgestellet wird / und fürnemlich wo die dabey ins geheim vorfallenden wiederwärtigen Umstände recht exprimiret [ausgedrückt] werden / da ist die Anreitzung zu diesen affect bey jungen Leuten noch gefährlicher / weil eben unter den Deckmantel der Tugenden ein auch wohlgezogener Mensch seinen Gedancken mehr anhänget / als er sonst vielleicht / wenn eine lasterhaffte Person wäre beschrieben worden / nicht gethan hätte [Hervorh. K.B.]“ (ebd., S. 124f.). 585 Ebd., S. 91, Hervorh. K.B. 586 Talander [August Bohse]: Der getreuen Bellamira wohlbelohnte Liebes=Probe […]. Leipzig: Moritz Georg Weidmann 1692, Vorrede An den Leser, unpag. [A 1b]. 587 Talander [August Bohse]: Die Liebenswürdige Europäerin Constantine In einer wahrhafftigen und anmuthigen Liebes=Geschichte dieser Zeit […]. Franckfurt/Leipzig: Christoph Hülße 1698, Vorrede An den Leser, unpag. [A 1b]. 588 Talander [August Bohse]: Amor An Hofe / Oder / Das spielende Liebes=Glück Hoher Standes=personen / Cavalliere und Damen […]. Dresden: Johann Theodoro Boetio 1696, Vorrede An den Leser, unpag. [A 2a].

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

gendhaften Welt“,589 Hunold/Menantes, um Lesern und Leserinnen „durch Lust […] die Zeit zu kürtzen“,590 Melisso, „um dardurch dem Gemüth eine Erfrischung zu schaffen“.591 Als „unschuldige Ergötzung“592 distanziert sich die galante Romanproduktion von der gelehrten Schrifttradition. So erklärt Behmeno im Poetischen Cabinet (1715), die Einfälle zu dieser Publikation seien durchaus nicht in der Studierstube entstanden, sondern in der Freizeit, auf Reisen, im Garten und anderswo: Ich überliefere hiemit einige schlechte Blätter / welche [ich] in denen zu einer unschuldigen Ergötzung ausgesetzten Stunden verfertiget […]. Es ist ihnen der Nahme eines poëtischen Cabinets beygeleget worden / nicht / als wenn sie alle mit einander in meiner Studier=Stube wären zu Papier gebracht; massen solches auch bißweilen im Garten / auff der Reise / und sonsten geschehen […].593

Irmgard M. Wirtz geht davon aus, dass in Deutschland erst durch die Rezeption von Huets Traité eine Romanproduktion entsteht, die „implizit eine Poetik der delectatio realisiert“ und das Wirkungsprinzip des Vergnügens forciert, das, so Wirtz, „in den deutschen Poetiken bis Anfang der 1680 Jahre nicht expliziert, sondern ausgeblendet oder disqualifiziert wird.“594 Mit der galanten Romanpraxis nehmen junge Männer auf ihre Weise Einfluss darauf, die poetische Akzeptanz des delectatio zu stärken – auch wenn nicht jeder galante Autor poetologisch versiert vorgeht. Einige Verfasser zeigen keinerlei Interesse, sich mit den Wirkungspotentialen ihrer Texte auseinanderzusetzen. So versichert Behmeno freimütig, seine Romane „nur zu des Liebhabers und meinem eigenem Vergnügen ins Werck gestellet“ zu haben.595 Auch Rost/Meletaon bemerkt zum Teil recht unbekümmert, er habe seine „eigene Belustigung damit [zu schreiben] / und weilen ich einmal angefangen / selbige der Presse unter zulegen / continuiere ich [fahre ich damit fort] / biß mich die Nothwendigkeit daran hindert“.596 Bohse indes nutzt die bekannten Kategorien prodesse und delectare, um den Roman einem ‚nützlichen‘ und vergnüglichen Lektüremodus zu unterwerfen. Damit kommen wir zurück auf die Vorredenkonstruktion im Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers (1692). Ausgangspunkt ist die Behauptung, dass der Roman, „mit

589 Meletaon

[Johann Leonhard Rost]: Der Durchlauchtigste Hermiontes / Cron=Printz aus Syrien […]. Nürnberg: Johann Albrecht 1714, Vorrede An den Leser, unpag. [A 3a]. 590 Menantes [Christian Friedrich Hunold]: Die Liebens=Würdige Adalie […]. Hamburg: Gottfried Liebernickel 1702, Vorrede An den Leser, unpag. [A 2a]. 591 Melisso: Die in dem Grabe erlangte Vermählung der beeden Verliebten / Rapymo und Sithbe […]. Leipzig [s.n.] 1717, Vorrede An den Leser, unpag. [A 2a]. 592 Behmeno: Poetisches Cabinet, Vorrede, S. 7. 593 Ebd. 594 Irmgard M. Wirtz: Zur Poetik der Unterhaltung. Ein diskursives Feld zwischen Roman und Ethik um 1680. In: Delectatio. Unterhaltung und Vergnügen zwischen Grimmelshausen und Schnabel. Hg. v. Franz M. Eybl u. Irmgard M. Wirtz. Bern 2009, S. 101–122, hier S. 106. 595 Behmeno: Poetisches Cabinet, Vorrede, S. 8. 596 Meletaon: Verliebter Eremit, Vorrede unpag. [4bf.].

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

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an­ständigen Sachen unterhalten“ wolle, die keine Possen oder „Zoten“ seien.597 Zunächst jedoch verspricht die Vorrede An den Leser Unterhaltung durch den gewagten Blick auf menschliche „Schwachheiten“, das Laster und die „verdunkelte Vernunft“.598 Während die Vorrede An das Frauenzimmer den Verstand und die verständige Reflexion der Leserinnen betont, d.h. ein rationales Vermögen, welches Frauen befähigt, die Liebesmaterie des Romans angemessen zu beurteilen, verortet Bohse die „anmuthigen Liebesverwirrungen“599 nun im Rahmen der Irrationalität der Gefühle und der „besiegete[n] Vernunft“.600 Dies scheint zunächst einmal nur ‚unterhaltsam‘, nicht aber auch ‚nützlich‘ zu sein, vor allem: weil doch von so starcken Affect [wie der Liebe] viele andere / als Zorn / Haß / Traurigkeit / Furcht / Verzweiflung / und dergleichen mehr / als an einer Ketten hinter sich hergeschleppt werden / und dannenhero bey öffters besiegeter oder verdunckelter Vernunfft ziemliche Schwachheiten mit unterlauffen.601

Mit der Fokussierung auf die negativen Wirkungen menschlicher Affekte, die Irrationalität der Gefühle, schließt Bohse an das Affektenbild der amour-passion an. In Deutschland ist die amour-passion aus der preziösen Tradition französischer Autorinnen bekannt; Madeleine de Scudéry gestaltet diesen Gefühlszustand als Negativaffekt in ihren Romanen.602 Als „leidenschaftliche Liebe“ unterliegt die amourpassion der „gefährlichen Tendenz, in die niederen Bereiche [der Körperlichkeit, Wollust, Kreatürlichkeit, K.B.] abzusinken“ und kann bis zur „völligen (auch körperlichen) Hingabe“ führen.603 Es handelt sich um eine „im höchsten Maße irrationale, beunruhigende und gefährliche Passion“, die dem Verstand nicht zu unterwerfen sei und sich selbst „von Treue, Achtung, Schwüren und Verdiensten nicht beeinflussen lässt“.604 In der preziösen Tradition wird die amour-passion als größte Gefahr für die Frau stigmatisiert, denn sie bedeutet die Überschreitung jeglicher Grenzen der bienséance (des Anstands und guten Benehmens). In der leidenschaftlichen Affektion wird „die Liebe zum Tyrann“,605 sie macht die gloire (Ruhm, Tugend

597 „[W]as

beydes [die Materie sowie die darinnen auffgeführten Personen] betrift / so werden allhier nicht etwan alte Lumpen=Historien mit Zoten gespickt und unter den Titul Politischer Maulaffen verkaufft / indem solche Inventiones nach schlechten Verstande schmecken / und einen curieusen Leser wenig Vergnügen geben können / sondern es ist allhier darauff gesehen worden / wie das Gemüth des Lesenden mit anständigern Sachen möchte unterhalten werden“, Talander: Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers, Vorrede An den Leser, unpag. [A 7af.]. 598 Ebd., unpag. [A 8a]. 599 Ebd., unpag. [A 7b]. 600 Ebd., unpag. [A 8a]. 601 Ebd., unpag. [A 7bf.]. 602 Büff: Ruelle und Realität, S. 137–139. 603 Ebd., S. 138. 604 Ebd. 605 Ebd.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

der Frau) unmöglich und ihre Stellung als herrschende maîtresse unkontrollierbar (Kapitel 4.1.4 und 4.2.3). Bohse hingegen codiert den negativen Affektzustand der amour-passion positiv um. Er schreibt auch den irrationalen Affekten eine versittlichende Wirksamkeit zu. An dieser Stelle kommen explizit der Roman und die Leserin ins Spiel. Im Vorwort An den Leser richtet sich der Autor an ein antizipiertes männliches Publikum, wobei die Leserinnenimago, die zuvor in der Vorrede An das Frauenzimmer als scheinbar historische Leserschaft entworfen wurde (das „Leipziger Frauenzimmer“), nun als Instanz instrumentalisiert wird, um die Darstellung des Lasters im Roman zu rechtfertigen. Die imaginierte Adressatin der ersten Vorrede wird in der zweiten Vorrede zum Gegenstand bzw. zum Objekt der Rede des Autors An den Leser. Dem männlichen Publikum erklärt Talander, dass sich die Darstellung der nicht mehr vernünftig zu bändigenden Leidenschaften und des Lasters auf die historische Leserin bezieht. Frauen sollen sich in die lasterhaften Fiktionen vertiefen, um sich anschließend zu befragen, ob sie ähnlichen Schwachheiten auch verfallen sind. Ziel der Lektüre sei es, die historische Leserin zu animieren, sich selbstständig zu erziehen und mögliche Verfehlungen der eigenen Person ohne weitere Einwirkung selbst wieder abzuschaffen: [Ich] habe dieselben [Schwachheiten der Liebe] / so offt es in der Historie nöthig gewesen / aufrichtig mit entdecket / damit eine galante Dame / wenn sie auff so übel=lassende Regungen in den Lesen kömt / sich umb desto besser selbst untersuche[n] möge / ob sie etwan auch dergleichen [Verfehlungen] an sich habe / und daher ohne iemandes andern Einreden solche von selbst wieder abschaffen könne [Hervorh. K.B.].606

Folgt man zunächst Bohses primärer Argumentation, so konzipiert er den galanten Roman als Medium der (weiblichen) Selbstreflexion, der geradezu automatisch eine kritische Introspektion motiviert, die gewünschte Deutung liefert und die Umsetzung zielsicher anregt. Roman und Lektüre erscheinen als Instrumente der sittlichen Erziehung des weiblichen Geschlechts, wobei der Agens dieser subjektbezogenen Versittlichung die Leserin selbst bleibt – unter dem Einfluss des Romans erzieht und vervollkommnet sich die Leserin eigenständig, ohne auf die Einflussnahme einer weiteren Instanz, etwa des Mannes, angewiesen zu sein. Damit erhebt der Roman den Anspruch, über das Vergnügen hinaus auch einem moralischen Nutzen zu dienen. Oder anders formuliert: Als Instrument einer selbstständigen Versittlichung, die sich explizit auf das weibliche Geschlecht bezieht, wird die Darstellung des Lasters als Gegen­stand des Romans legitimiert. Das führt bei Bohse geradezu zu einer Verherrlichung der weiblichen Lektüre schlechthin. Das Lesen „guter Bücher“ respektive galanter Romane sind seiner Ansicht nach die „besten Hofmeister“ für das weibliche Geschlecht.607 Die weibliche Romanlektüre bezeuge geradezu den Willen 606 Talander: 607 Ebd.,

Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers, Vorrede An den Leser, unpag. [A 8af.]. unpag. [A 8b].

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

179

der Leserin, sich zu ergründen und zu vervollkommnen. Die Rezeption galanter Romane könne in diesem Sinne sogar das mitunter nachteiligere Regulativ des sozialen Kontakts ersetzen: Den[n] es [ist] gewiß / daß die Bücher vor dieses [das weibliche] Geschlecht die besten Hofmeister seynd […]; und ist dahero ein Merckmahl eines herrlichen Frauenzim[m]ers / wenn es einige Zeit mit Lesung guter Bücher zubringet / denn daraus siehet man / daß es bemühet ist / zuerforschen / ob es etwan auch eines oder das andere unanständiges an sich habe / so es aus Liebe zu sich selbst vorhero nicht gemercket hätte / oder auch ihme von denjenigen / so mit ihnen umgehen / aus Furcht es zubeleidigen / oder aus gewöhnlichen Schmeicheleyen wäre verhalten worden [Hervorh. K.B.].608

Die Romandarstellung soll indes auch für das männliche Publikum mit einem Nutzen verbunden sein. Über den Text, so erläutert Bohse, lerne das männliche Publikum das „Naturell der liebenden Frau“ kennen und könne sich emotionale Dispositionen des weiblichen Geschlechts durch „Regeln“ erklären lassen. Der Roman stellt in Aussicht, über die reine Anschauung der erzählten Geschichte hinaus (den „Liebesverwirrungen“) eine generalisierende Erkenntnis in Form von „Regeln“ zu vermitteln, die den Bereich der Affekte rationalisieren: Dieses Glück [das Gemüth des Lesers zu unterhalten und seinen Beyfall] zu gewinnen habe ich am füglichsten zu sey[n] erachtet / wenn ich in einem continuierlichen Roman unter anmuthigen Liebesverwirrungen und reichlich untergemischten Regeln ihme [dem männlichen Leser] vorstelle das Naturel eines galanten Frauenzimmers / wann es liebet [Hervorh. K.B.].609

Indem die unvernünftige Leidenschaft entdeckt und erklärt wird, indem sie rationalisiert wird, kann auch das negative Affektideal der amour-passion positiv wirksam werden. Der Roman dient gewissermaßen als Lehrbuch der Affekte, das den Zusammenhang starker Emotionen wie Liebe und Zorn erläutert und Einblick gewährt in ihre vielfältigen Verkettungen, so suggeriert es die Vorrede An den Leser. Die Ernsthaftigkeit von Bohses Wirkungskonzept kann allerdings auch bezweifelt werden. Denn die sogenannten „Regeln“ werden in der Erzählung kaum erkennbar. Während Rost/Meletaon in späteren Publikationen beginnt, die ‚Lehren‘ durch Fettdruck abzusetzen und sie als „Regeln“ zu titulieren, setzt Bohse solche typografischen Mittel und Formen der Leser­lenkung nicht ein. Verallgemeinerungen, die zum Teil zweideutig ausfallen, finden sich maximal in den wenigen Erzählerkommentaren en passant einge­streut (ob man indes von „Regeln“ sprechen kann, ist fraglich).610 Dem 608 Ebd.,

unpag. [A 8b‒9b]. unpag. [A 7b]. 610 Z.B. „Ein Frauen=zimmer vermeinet geschimpfft zu seyn / wenn derjenige Cavallier / welcher sie entzündet / nicht auch wieder durch sie sollte verliebt gemacht werden“, Talander: Politic und Affekten [= Liebes=Cabinet, Auflage 1708], S. 148. Insofern das weibliche Geschlecht explizit zu einer affektiven Aktivität aufgefordert/gedrängt wird (den Mann verliebt zu ‚machen‘, so wie jener sie ‚entzündet‘), nimmt diese Art des Erzählerkommentars auf die reziprok-symmetrische Struktur des galanten Geschlechtermodells Bezug, das sich über die Handlungsebene der Roma609 Ebd.,

180

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Publikum bleibt es letztlich selbst überlassen, welche ‚Regeln‘ aus dem Roman zu ziehen sind und welche sittliche Deutung der Darstellung zu entnehmen sei. Die Ambivalenz der paratextuellen Leser- und Leserinnenkonstruktion wird vor allem deutlich, wenn man beide Vorreden zusammen liest und ihre parergonalen, wechselseitigen Rahmungsfunktionen bedenkt. Wenn nämlich, wie Talander in der Vorrede An das Frauenzimmer erklärt, die historische Leserin am Laster „Vergnügen“ finden darf (im Falle, dass sie tugendhaft ist) oder durch die Darstellung des Lasters vom Laster geläutert wird (was voraussetzt, dass sie lasterhaft ist), dann exponiert der Text ein Sittlichkeitsideal, das eher implizit und ex negativo fassbar wird und von den Rezipient(inn)en selbstständig ergänzen werden muss. Für die Textgestaltung bedeutet dies, dass auch die Handlungsträgerin der Erzählung, die Protagonistin, zwangsläufig in Verbindung mit dem Laster inszeniert wird. Die Regeln über das vermeintliche „Naturell des liebenden Frauenzimmers“, von der zweiten Vorrede An den Leser in Aussicht gestellt, leiten sich dann fatalerweise von einer mit dem Laster vertrauten Protagonistin ab. Diese führt die Laster vor und soll zugleich positives Demonstrationsobjekt sein, um vermeintlich ‚typische‘ Dispositionen des weiblichen Geschlechts aufzuzeigen, dem ja nach preziösen Vorbild alle Ehre zukomme. Zwei Funktionen verbinden sich mit der weiblichen Figur, die sich eigentlich widersprechen: die Demonstration des Lasters und die Darstellung ehrbarer, scheinbar geschlechterspezifischer Wesenszüge von Frauen. Um diese widersprüchlichen Funktionen der Protagonistin zu legitimieren, müssen unterschiedliche Rezeptionsmodi für Leserinnen und Leser entworfen werden. Dies lässt eine zirkuläre Projektionslogik textueller und extratextueller Referenzen entstehen: Auch wenn das Wirkungskonzept des Lasters ex negativo auf die sittliche Verbesserung der historischen Leserin zielt, unterstellt es Frauen gewissermaßen eine Disposition zum Laster. Oder anders formuliert: Gerade weil von der Leserin verlangt wird, sich zum Laster in Beziehung zu setzen, erzwingt der Roman Leserinnen, die theoretisch und/oder praktisch mit dem Laster vertraut sind (oder es werden). Dass der Roman dem historischen Leser diese Disposition als „Naturell des Frauenzimmers“ erklärt, bestätigt dann lediglich, was der Roman behauptet. Die Argumentation dreht sich im Kreis, ihr ernsthafter oder satirischer Aussagehalt bleibt unbestimmt.611

ne, d.h. narrativ-handlungsorientiert im Figurenverhalten, konstituiert und erst im Vergleich zum preziösen Modell an Kontur gewinnt, Kap. 4.1.4 und Kap. 4.2.3 Modifikation preziöser Liebesund Geschlechtermodelle im galanten Roman (I) und (II). 611 Aus anderen Gattungszusammenhängen ist das Darstellungsprinzip ex negativo im Rahmen der Tugend-Laster-Darstellung bekannt (Satire, Komödie u.a.). Diese Art der Darstellung setzt Kollektivnormen voraus, die als bekannt und akzeptiert gelten, so dass sie über das Laster leicht zu erschließen sind (retrospektiver Kontrast). Während jedoch in Tugend-Laster-Schriften, Komödien, Satiren usw. die ‚positive Lehre‘ oft am Ende noch einmal explizit formuliert wird, ebenso wie die Typisierung von Figuren, Situationen, Gattungen (Lasterkomödie) die Rezeption lenken, ist dies beim galanten Roman nicht der Fall.

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

181

Die Verschränkung mehrerer Paratexte, männlicher und weiblicher Adressatenkreise sowie unterschiedlicher Aussagemodi ermöglichen es, scheinbar ernsthafte und sittlich integere Absichten zu äußern (moralische Erziehung der Leserin) und sie gleichzeitig zu unterminieren (Vergnügen der Leserin am Laster). Zur Deutung dieser Ambivalenz kann die vorliegende Studie nur Vermutungen äußern. Denkbar wäre, dass es sich lediglich um eine ästhetische Strategie handelt, die auf eine Ausweitung poetischer Gegenstände zielt. Die Imago der weiblichen Leserschaft und deren „selbstständige Versittlichung“ durch den Roman wären dann nur ein Vorwand, um das Laster im Roman zu legitimieren, ohne diese Stoffwahl in diskreditierender Weise mit dem männlichen Publikum in Verbindung zu bringen. Das männliche Publikum, so die ironische Pointe dieser Interpretation, ‚erduldet‘ lediglich das Laster im Roman, damit die historische Leserin ‚gebessert‘ werden kann. Bohses Vorreden müssten dann als satirisches Verwirrspiel gewertet werden, wodurch der Autor ein Wirkungskonzept entwirft, das  –  so wäre zu unterstellen ‒ der Lektüre (junger) Männer und deren „Vergnügen am Laster“ entgegenkommt. Vor allem in Hinblick auf die Zensur, von der anzunehmen ist, dass sie sich auf Vorreden und Leseransprachen konzentriert, stellt dies eine Möglichkeit dar, lasterhafte Thematiken zu rechtfertigen und mögliche moralische Kritik mit der Erziehung der Leserin zu entkräften. Insofern die Argumentation aber auf der Imago der weiblichen Leserschaft aufbaut, werden entsprechende Stoffe und Lektüreformate (Roman, Laster, Liebe) potentiell auch für weibliche Leserkreise erschlossen, unabhängig ob Frauen tatsächlich zu Rezipienten der Romane werden oder nicht. Ebenso kann Bohses Vorredenkonstruktion aber auch ein ernst gemeintes Leserinnenkonzept unterstellen werden, das nicht zu unterschätzende Impulse für die historische Leserin und die weibliche Lektüre entfaltet. Frauen werden als „verständige“ Leserinnen stilisiert, die aufgrund einer vernünftigen Rezeptions- und Interpretationskompetenz selbstständig entscheiden, welche Romane sie lesen, wie sie mit lasterhaften Darstellungen umgehen usw., so dass sie sich auch ohne Weiteres am Laster im Roman „vergnügen“ können. Frauen kommen als mündige Leserinnen einer populären Unterhaltungsliteratur in Frage, über deren sittlichen Nutzen die einzelne Leserin selbst entscheidet. In diesem Sinne arbeitet die galante Leserinnenimago der Integration von Frauen in den Romanmarkt und Buchhandel zu. Der Roman kann ein ‚erlaubtes‘ Unterhaltungsbedürfnis weiblicher wie männlicher Lesergruppen befriedigen, insofern die Gattung zur poetischen Ausdrucksform aufgewertet wird, die Vergnügen und Nutzen (delectare und prodesse) verbindet, zur selbstständigen Versittlichung anregt und als Lehrbuch der Affekte, letztlich als Sittenlehre, fungiert. Ein dritter Deutungsansatz soll hier nur erwähnt und in den Textanalysen diskutiert werden: Galante Autoren nutzen den Roman auch, um ein preziöses Liebes- und Geschlechtermodell zu modifizieren und über die Erotisierung des Figurenverhaltens die rigide Weiblichkeitszentriertheit des preziösen Modells zu unterminieren; die Vorreden würden dafür den poetologischen Rahmen bieten (Kapitel 4.1.4 und 4.2.3).

182

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Bohses Vorreden machen deutlich, wie stark sich poetologische und genderspezifische Aspekte im galanten Roman vermischen. So zeigt sich, dass Wirkungsabsichten, die der Gattung mit Blick auf die weibliche Leserschaft zugesprochen werden, nicht losgelöst vom männlichen Leser und dessen Lektüre zu klären sind. Der Roman als Gegenstand einer Lektüre von Frauen provoziert vielmehr grundsätzliche Diskussionen zum Roman im Allgemeinen und zu seinen Funktionen für die Lektüre von Männern. Zudem wendet sich Bohses Argumentation für die weibliche Lektüre zwar An den Leser, doch ist sie auch der Leserin zugänglich. Die Auseinandersetzung findet nicht in seperaten Textsorten statt (gelehrte Traktate), wo sie den Leserinnen entzogen wäre. Potentielle Rezipientinnen können das Wirkungskonzept des Romans und die Absichten des Autors selbst nachvollziehen, prüfen, sich instruieren lassen oder nicht. Informationsbarrieren, die etwa die weibliche Leserschaft als zu ‚reformierende‘ Partei ausschließen würden, greifen nicht. Im Sinne parergonaler Dynamiken verknüpfen und überlagern sich die (Para-)Texte und entfalten eine dreifache Funktion: So wird das männliche Publikum mit Wirkungsabsichten vertraut gemacht, die sich auf Frauen als Leserinnen beziehen. Der Autor prägt ein Leserinnenkonzept, das Männer in der Beurteilung und im Umgang mit lesenden Frauen berücksichtigen sollen. Auch das weibliche Publikum wird auf ein galantes Leserinnenkonzept eingestimmt, das es allen Ambivalenzen zum Trotz erlaubt, Romane zu rezipieren und „Vergnügen“ am Laster zu erfahren. Und auch der Autor erschreibt sich ein Konzept ‚seiner‘ Leser und Leserinnen, indem er Auskunft darüber gibt, wie weibliches und männliches Publikum mit dem Text umgehen sollten. Dennoch provoziert der galante Roman durch seine Ambiguität, so dass galante Autoren zunehmend selbst Kritik an galanten Leserinnen- und Lektürekonzeptionen äußern. Gattungs- und Genderdiskurs verquicken sich erneut. 3.3.2.4 Gefährdung der Leserin: Romankritik bei Rost/Meletaon Der Optimismus hinsichtlich der ‚verständigen‘ Leserin und einer autonomen, sittlich unbedenklichen Romanlektüre von Frauen verflüchtigt sich zusehens. Immer mehr galante Romane strömen auf den Markt, die in der Darstellung des Lasters geradezu ihren Endzweck gefunden zu haben scheinen. Der Theologe Gotthard Heidegger polemisiert 1698 gegen den Roman und spricht von „Lüsternen Brunsten“, „Nacht- und Hinter-Thür- oder Fenster-Visiten“, „Entführungen / Irr-reisen“, „Blutbäder / Verkleidungen […] etc.“612 In den Jahren nach 1710 reagieren galante Romanautoren selbst skeptisch auf die Textproduktion und bezweifeln deren Angemessenheit. Bohse/Talander, Hunold/Menantes, Rost/Meletaon äußern zunehmend selbst Bedenken an einer unbegrenzten Unterhaltung, deren moralische Dimension immer stärker in den Fokus rückt. Die weibliche Leserschaft gerät damit erneut in den Brennpunkt der Auseinandersetzung. Hunold und Rost, die selbst provokante

612 Heidegger:

Mythoscopia Romantica, S. 59f.

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

183

Romane veröffentlicht haben, distanzieren sich im fortgeschrittenen Alter mit teils drastischen Worten von ihren früheren Publikationen.613 Besonders Rost/Meletaon treibt dabei eine thematische und formale Reformierung des galanten Romans voran, die er unter anderem mit der Gefährdung des weiblichen Publikums durch die entfesselte Liebesmoralistik begründet. Vor 1715 allerdings ist Meletaon durch recht provokante Romane und sein nicht eben zurückhaltendes Auftreten als Autor bekannt, der seine Schriften vehement verteidigt (Kapitel 3.2.2.4). Zum späteren Zeitpunkt der Romankarriere beginnt er jedoch, sich kritisch mit der eigenen Textproduktion auseinanderzusetzen. Diese Entwicklung ist interessant, weil sie zeigt, wie variabel galante Autorschafts- und Textmodelle sind; innerhalb weniger Jahre verändern sie sich zum Teil grundlegend. Gleichzeitig geben Rosts paratextuelle Selbstreflexionen Hinweise zur Entwicklung des galanten Romanmarktes im Allgemeinen. In der Vorrede der Curieusen Liebes=Begebenheiten (1714) setzt sich Rost mit der Frage auseinander, warum derzeit so viele „ekelhafte“ Romane erschienen.614 Die „mehresten von den neuen“ Romanen oder „Schand=Schrifften“615 seien häufig „mit unflätigen / wo nicht gar viehischen Säuereyen / und andern wider die Tugend laufende Begebenheiten von Anfang biß zum Ende ausgefüllet“.616 Auch seine eigenen Romane verwirft Rost nun wegen ihrer „freye[n] und schlüpferige[n] Schreib=Art“, denn er habe „leider! darinnen vielfältig wider die Tugend und wider die Erbarkeit gesündiget“.617 Rost beteuert dem Publikum, er wolle „hiermit allem widerruffen und abgesaget haben“ und seine Schreibart ändern.618 Zum fortgeschrittenen Zeitpunkt scheint Rost eine sittliche Verantwortung als Autor zu empfinden, mit der er das eigene Schreiben zunächst nicht in Verbindung gebracht hatte. Er könne jetzt, so Rost 1714, gar nicht mehr sagen, wie er eigentlich zum Romanautor geworden sei. Damals habe er weder

613 „Tugendhaffer

Leser / ich wünschte / daß viele meiner Schrifften in ihrer ersten Geburth erstickt wären. Denn wenn ein rechtschaffenes Buch der Aloe gleichen soll / die nach einer langen und mühsamen Wartung ihre Blüthen träget: So sind meine Kleinigkeiten viel zu zeitig an das Licht kommen“, Menantes [Christian Friedrich Hunold]: Menantes / Academische / Neben=Stunden / allerhand neuer / Gedichte. / Nebst / Einer Anleitung / zur vernünftigen Poesie. / Halle und Leipzig / verlegts / Johann Friedrich Zeitler. 1713, Vorrede, unpag. [A 3b]. „Meine Feder hatte einige Worte in ihrem Vermögen: so meinte sie schon zu fliegen. Ich war jung; von Tugenden besaß ich nichts / und von Wissenschafften hatte ich wenig Kenntniß / und gleichwohl wolte ich hoch hinaus“ (ebd., unpag. [A 4a]). 614 Meletaon: Curieuse Liebes=Begebenheiten, Vorrede, unpag. [A 1b]. 615 Ebd., unpag. [A 10a]. 616 Ebd., unpag. [A 8b]. 617 Ebd., unpag. [A 11a]. 618 Ebd. Auch an anderer Stelle: „Ob sie [die Romane] […] alle würdig / daß man sie in die Spanische Inqusitition zum verbrennen schickte: das mag ich nicht sagen; hingegen bin ich doch der Meinung es dürften die wenigsten dieser Strafe entgehen; und ich wolte die mehresten von denen die aus meiner Feder geflossen / selber in Asche verwandeln / wenn ich alle hin und wider ausgestreute Exemplaria beysammen hätte“ (ebd., unpag. [A 2a]).

184

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Erfahrung im Schreiben noch Distanz zum eigenen Werk gehabt. Vielmehr müsse er gestehen, dass er sich aus Eitelkeit und Leichtsinn zum Publizieren habe überreden lassen: Ich weiß selber nicht / wie ich über die Romanen gerathen; aber dieses weiß ich wohl / daß ich schon dergleichen schriebe / da ich doch kaum etliche derselben durchgelesen / und ich habe die Schmierereyen noch in Händen / die ich ehedessen verschiedenen Bekandten zum durchbläteren überreichet; weil sich nun überall Leuthe finden / die entweder aus Unverstand / oder aus Schmeigeley eine Sache loben / welcher keine Würdigkeit zukömmt: so ließ ich mich von ihren Fürstellungen einnehmen / und wagte es / auf ihr Zureden / meine Arbeit der Presse unterzulegen.619

Es kann sich dabei um eine schalkhafte Bescheidenheitsfloskel handeln; da Rost seine Schreibart jedoch tatsächlich ändert, scheint er die Selbstkritik ernst zu meinen. Allerdings nimmt der Autor auch das Publikum in die Pflicht. Dass so viele schändliche Romane kursierten, führt Rost auch auf eine Neigung der Leserschaft zurück  –  Wollust und Begierden hätten der Vernunft die Herrschaft abgerungen, woran nicht nur die Publikationen, sondern auch das Publikum schuld sei. „Es ist die neubegierige Welt / durch die ungeheuere Menge der gedruckten Romanen / mit so vielen Liebes=Begebenheiten angefüllet / daß sich zu verwundern / warum erliche Leute nicht einmal einen Eckel darüber bezeigen“,620 wundert sich der Autor und erklärt: [A]llein es gründet sich die Ursache auf die Wollust und verbottene Neigungen / die manches menschliche Hertze dergestalt eingenommen / daß sich selbiges nicht vergnügter weiß / als wenn man einen deutlichen Abriß von denjenigen Begierden machet / welche der Vernunft die Oberherrschaft abgewonnen.621

Das Vergnügen bzw. „das Gemüth des Lesers zu ergötzen“, wird bereits als legitime Wirkungsabsicht der Gattung akzeptiert und sei nicht „völlig [zu] tadeln“. Doch führe die Unterhaltung häufiger als wünschenswert in moralisch-sittliche Abgründe, in den „Morast“.622 Zum späteren Zeitpunkt bedauert es Rost, dass das frivole Interesse der Leserschaft durch Publikationen befriedigt würde, die auch er verfasste. Autoren (und Verleger), Leser und Leserinnen werden in die Pflicht genommen, da sie durch Nachfrage und Angebot die Verbreitung ‚schändlicher‘ Schriften befördern. Produktion und Rezeption werden in ihrer Wechselseitigkeit reflektiert und scheinen zur sittlichen Bedrohung auszuarten: „Unerachtet nun klar am Tage liegt / was vor schlimme Folgerungen daraus zu entstehen pflegen: so wächst doch die Anzahl der Liebes=Bücher immer höher auf“.623

619 Ebd.,

unpag. [A 11bf.]. unpag. [A 1b]. 621 Ebd., unpag. [A 1bf.]. 622 Ebd., unpag. [A 9af.]. 623 Ebd., unpag. [A 2a]. 620 Ebd.,

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

185

Frauen treten in diesem Zusammenhang besonders in den Fokus der Überlegung, weil auch sie von den ‚schlimmen Folgen‘ der Romanlektüre betroffen sind. Die weibliche Romanlektüre scheint um 1715 bereits als ausgesprochen verbreitet und habitualisiert angesehen worden zu sein, denn in der Vorrede der Curieusen Liebes=Begebenheiten spricht Rost sogar von Frauen, die sich entgegen den Verboten ihrer Umwelt Romane zu beschaffen wüssten und der Romanlektüre wie einem „Gebetsbuch“ frönten: Dieses Geschlecht [das Frauenzimmer] ist auf die Romanen sehr erpicht / und man kan ihnen nicht genug zu lesen geben. Es sind viele / die gantze Nächte darüber sitzen / und die sie überall / als trostreiche Gebet=Bücher entweder öffentlich in den Händen / oder in den Kleidern verborgen tragen / wenn ihren kluge Eltern oder Vorgesetzte dergleichen gefährliche Gemüths=Ergötzungen verbieten [Hervorh. K.B.].624

Die gefährdende Tendenz der ‚weiblichen Lesesucht‘ wird bereits lanciert. Die negativen Auswirkungen einer Lektüre, von der Frauen nicht lassen können, werden im Bericht über eine Dame deutlich, die sogar auf dem Sterbebett von Romanvisionen verfolgt worden sei. Meletaon will von dieser Frau erfahren haben, wie sie in der Stunde des Todes von ärgerlichen Liebesfantasien geplagt wurde, anstatt sich aufs Sterben zu konzentrieren. Durch ihr Beispiel wolle die Romanleserin andere Personen vor der Romanlektüre warnen: Mir [Meletaon] wurde unlängst / von einem gewissen Frauenzimmer in einer berühmten Sächsischen Residenz glaubwürdig erzehlet: Daß sie sterbend auf ihrem todten Bette das Lesen der Romanen verfluchet / auch alle Anwesende bittlich ersuchet / sie möchten sich vor dergleichen nichtswürdigen Büchern hüten / die ihr itzt / da sie der Ewigkeit zuwandern solte / noch immer die ärgerlichsten Liebes=Begebenheiten fürstelten / daß sie für deren Betrachtung unmöglich rechte Sterbens=Gedancken haben könte. Ich weiß zwar nicht / was gedachtes Frauenzimmer vor Romanen gelesen; doch müssen es meinem Bedüncken nach / solche gewesen seyn / deren ich bereits Meldung gethan [Hervorh. K.B.].625

Offensichtlich soll die Aussage der weiblichen Figur einer Kritik Nachdruck verleihen, mit der Rost nun gegen eine Tendenz der Romanproduktion polemisiert, die von ihm selbst (der weiterhin galante Romane verfasst und befürwortet) als ‚lasterhaft‘ ausgewiesen wird. Rosts Argumentation, woher die Lust des weiblichen Geschlechts am Roman komme, offenbart um 1715 eine bemerkenswerte Umcodierung des ‚Nutzens‘ der Gattung. Während Bohse im Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers (1692), wenn auch ironisch unterminiert, die „selbstständige Versittlichung“ der Leserin und die Unterrichtung des männlichen Lesers über den Affektenhaushalt der Frau als einen Vorteil der Gattung beschrieben hatte, dient der Roman Rost zufolge nun den Frauen, affektive Dispositionen und das Liebesverhalten des Mannes zu studieren, das eigene Verhalten darauf einzustellen und das

624 Ebd., 625 Ebd.,

unpag. [A 10a]. unpag. [A 9bf.]; Simons: Marteaus Europa, S. 707.

186

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Wissen des Romans zum eigenen Nutzen einzusetzen (Dissimulation). Besonders durch die Lektüre neuerer Romane würden, so Rost, „die Begierden bey manchem feurigen Frauenzimmer rege“;626 da die Leserinnen durch die Texte aber, anstatt bekehrt zu werden, „lerne[n]“, wie sie einen „besondere Vortheile im Lieben darausziehen“,627 wird das Wissen des Romans zur Bedrohung für Sittlichkeit und Dominanz des Mannes. Die Affizierung des weiblichen Geschlechts durch den galanten Roman führe laut Rost zum „unersetzlichen Verlust auf beyden Seiten“.628 Männer werden zu Opfern der erotischen Wünsche von Frauen, die ihnen der Roman eingibt, und erliegen der eigenen Lust: Verlieben sie [die Leserinnen] sich in unverschähmte Romanen, worinnen die Wollust nach dem Leben abgeschildert: So verirren sich die Sinnen in den lüsternen Betrachtungen / […] und die Begierden sehnen sich wohl gar die erdichtete Süssigkeit in der That zu kosten: Drum suchet manche verführte Schöne die Gesellschaft einer gefälligen Manns=Person / und gibt derselben ihr sündliches Verlangen / durch die empfindlichste Reitzungen / so lange zu verstehen / biß er endlich von ihrer heftigen Sehnsucht überwunden; oder von den angebohrnen Neigungen genöthiget wird / ein Vergnügen zu suchen / welches einen unersetztlichen Verlust / auf beyden Seiten nach sich ziehet [Hervorh. K.B.].629

Das Konzept der selbstständigen Versittlichung – ernsthaft, scherzhaft oder nur arglos ins Blaue formuliert – stößt an seine Grenzen, wenn die Rezeption eigene Wege geht. Rost reflektiert Gattungspraxis und galante Romankonzeption, die das Laster bzw. die Tugenddarstellung ex negativo exponieren, nun ausdrücklich in Bezug auf ihre wirkungsästhetischen und sittlichen Konsequenzen. Er problematisiert, dass sich die Lektüre nicht auf die ästhetische Sphäre beschränken lässt, sondern die historische Leserschaft unmittelbar betrifft und scheinbar das gesamte Sozialleben bedroht. Vor allem junge Menschen männlichen wie weiblichen Geschlechts sind, so Meletaon, den sittlichen Gefahren der Romanlektüre ausgesetzt: [E]s scheinet / man wolle die Romanen gar zu Pasquinaden [Schmäh- oder Spottschrift] gebrauchen […] / und der unschuldigen Jugend von beyderley Geschlechte einen deutlichen Unterricht geben / was vor Süssigkeiten in der verdammlichen Wollust enthalten / und wie man die Laster / als Galanterien ansehen / auch die Sinnen an unverschähmten deutlichen Fürstellungen weiden solle [Hervorh. K.B.].630

Ob die Romanlektüre um 1700 tatsächlich eine freiere Sexualmoral forciert oder dies nur polemisch angebracht wird, kann aus den vorliegenden Quellen nicht entschieden werden; hierzu wären weiterführende sozialhistorische Untersuchungen

626 Meletaon:

Curieuse Liebes=Begebenheiten, Vorrede, unpag. [A 10b]. unpag. [A 10a]. 628 Ebd., unpag. [A 15a]. 629 Ebd., unpag. [A 14b‒A15a]. 630 Ebd., unpag. [A 8bf.]. 627 Ebd.,

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

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notwendig.631 Trotz aller Kritik führen Rost Ausführungen jedoch nicht zu einer Abkehr vom Roman. Im Gegenteil, Vergnügen und Unterhaltung der Leserschaft seien „nicht völlig zu verdammen“, eine „tugendhafte ehrliche Liebe ist nicht verbotten.“632 Anstatt die Gattung abzulehnen, könne der Roman das Publikum in den „Regeln einer vernünftigen Liebe […] unterweisen oder einen erlaubten Zeitvertreib […] befördern“.633 Rost schlägt eine Umcodierung, einen veränderten Umgang mit Inhalten und Sujets, und die Schärfung eines ‚tugendhaften‘ Liebeskonzepts vor. Wie der Autor dieses Reformprogramm im Roman umsetzt, zeigt Kapitel 4.3. Entscheidend für die vorliegende Untersuchung ist die Tatsache, dass Rost die Romankritik erst zum späteren Zeitpunkt der Biografie formuliert. Die Reformierung des Romans und die konsequente Berücksichtigung jedweder Folgen des eigenen Schreibens begreift Rost als Resultat eines persönlichen Reifungsprozesses als Autor. Die nun als zweifelhaft erscheinenden Tendenzen der früheren Publikationen, die ihn zu „herzliche[r] Reue“ veranlassen, führt er auf seine Unerfahrenheit und das jugendliche Alter zurück.634 In der Begierde, einen „reinen Teutschen Styli“ zu erlernen (was „nicht zu tadeln“ sei), ist er seiner Ansicht nach an die falschen „Lehrmeister“ geraten, die überwiegend in seiner „eigenen Einbildung bestanden“ hätten, ihm also keine gründliche Unterweisung zukommen lassen konnten.635 Damit distanziert sich Rost explizit von seinen früher genannten Vorbildern Bohse und Hunold, der übrigens seinerseits das eigene Frühwerk mit den Worten entschuldigt: „Ich war jung; von Tugenden besaß ich nichts / und von Wissenschafften hatte ich wenig Kenntniß / und gleichwohl wolte ich hoch hinaus.“636 Rost/Meletaon bedauert zum späteren Zeitpunkt, als Autor weitgehend auf sich selbst gestellt gewesen zu sein, so dass es ihm wie etlichen „Reisenden“ erging, die auf „Irr- oder Nebenwegen“ wanderten, ohne dies zu bemerken: Ich bin mit denenjenigen einerley Schicksaal unterworfen gewesen / welche den Kiel in die Hand genommen / ehe er noch reif worden. Ich bildete mir Flügel ein / als kaum die Federn ein wenig herfür gewachsen. Die Begierde / zur Erlernung eines reinen Teutschen Styli, so wol in gebundener als ungebundener Rede / ist zwar an mir nicht zu tadeln; aber / da ich zu den unrechten Lehr=Meistern gelanget / die mehrentheils in meiner eigenen Einbildung bestanden: so erginge es mir wie den Reisenden / die auf Irr= oder Neben=Wegen fortgewandert / und erst

631 Rose

betont, dass die „erotische Galanterie“ signifikant zu galanten Umgangs- und Conduiteformen gehört, Rose: Conduite und Text, S.  66–76. Wie weit solche Konzepte aber auch sozialhistorische Realitäten von Männern und Frauen prägen, müsste weiterführend untersucht werden; hierzu Hunolds Verhältnis zur Hamburger Opernsängerin Madame R*** in Kap. 3.4.2.3 Satirische Weiblichkeitsnarrative: Der Roman als Machtinstrument. 632 Meletaon: Curieuse Liebes=Begebenheiten, Vorrede, unpag. [A 10a], [A 10b]. 633 Ebd. 634 Ebd., unpag. [A 11a]. 635 Ebd., unpag. [A 11b]. 636 Menantes: Academische Neben=Stunden (1713), Vorrede, unpag. [A 4a].

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

nachgehens gesehen / daß sie von der ordentlichen Strasse abgewichen / ob sie gleich ihrer Meinung nach / sich auf dem besten Wege befunden [Hervorh. K.B.].637

Exemplarisch reflektiert Rost die persönliche Einsicht als Erfahrung etlicher Mitstreiter und gibt damit einen generellen Hinweis zur Situation junger Autoren um 1700. Das weitgehende Fehlen kodifizierter Gattungsvorgaben, wodurch Inhalte, Darstellungsweisen und Wirkungsabsichten vorgeprägt, strukturiert und selektiert werden, musste das Schreiben zwangsläufig als Erkundung auf einem ‚unbekannten Terrain‘ erscheinen lassen. Die Metapher der Reisenden, die ihren Weg erst nachträglich beschreiben können, ist in diesem Zusammenhang ein treffendes Bild für die Gattungssituation des galanten Romans um 1700. Wie der Reisende sich einen Weg bahnt, ihn verfolgt und erst rückblickend erkennt, was Um- oder Irrwege waren und welche anderen Pfade es hätte geben können, lässt sich eine Gattungspraxis begreifen, die mit Textstrukturen operiert, deren inhaltliche, formale und wirkungsästhetische Kodifizierung zunächst offen ist. Nicht nur, aber unter anderem für die Inszenierung von Weiblichkeit ergeben sich in dieser Phase der Nichtreglementierung vielfältige Darstellungs- und Semantisierungsmöglichkeiten. Diese Offenheit schränken Rost, vor allem aber spätere Theoretiker (Gellert, Sulzer, Wieland, Blanckenburg u.a.) rigoros wieder ein, vor allem indem sie moraldidaktische und wirkungsästhetische Kriterien der ‚angemessenen‘ Romangestaltung formulieren.638 Während die Romantheorie im 18. Jahrhundert Gattungskonzepte entwirft, an denen sich die Gestaltung konkreter Gattungsexemplare orientieren kann, stehen um 1700 solche verallgemeinernden Romankonzepte nicht zur Verfügung. Galante Gattungsexemplare orientieren sich vielmehr an anderen Exemplaren – was problematisch wird, wenn die vorhandenen Texte Muster entwerfen, die zum späteren Zeitpunkt als unangemessen wahrgenommen werden. Wie die Ausführungen zeigen, provoziert insbesondere die Integration von Frauen in den zunächst männlich dominierten Romanhandel grundsätzliche Diskussionen um Stoffe, Materien und Wirkungskonzepte der Gattung und deren Angemessenheit für die weibliche (respektive männliche) Lektüre. Aus der Romanpraxis junger Autoren emergiert gewissermaßen im Reflex auf die Leserin eine moralisierende Dimension des Romans, die nun in den Vordergrund tritt und insbesondere im 18. Jahrhundert die Diskussionen um die Gattung bestimmt. 3.3.3 Förderung der weiblichen Lektüre durch Verleger und Autoren Doch kehren wir noch einmal zurück in die Zeit vor 1715, als moraldidaktische Absichten noch nicht im Zentrum des Gattungsdiskurses stehen. Wichtiger als die eige-

637 Meletaon:

Curieuse Liebes=Begebenheiten, Vorrede, unpag. [A 11b]. u. Meise: Das Geschlecht der Innovation, S. 159–178; Schlimmer: Der Roman als Erziehungsanstalt, S. 209–221.

638 Fleig

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

189

nen Texte zu kritisieren, ist es zunächst, für ihre Berechtigung zu streiten. Galante Autoren gehen dabei selbstbewusst, zum Teil rigoros vor. So erklärt Bohse/Talander in der Vorrede zu Amor am Hofe (1696), wenn man auf die „naseweisen SplitterRichter“ hören würde, so müsste man alles „unterm Staub vermodern“ lassen; weil aber den Kritikern mit Furcht nicht zu begegnen sei, ziehe er es vor, die Richter zu „verachten“ und dem „wohlwollenden Leser“ den „vergnügten Zeitvertreib“ nicht zu verwehren.639 Ähnlich ignorant gegenüber Kritik zeigt sich auch Rost/Meletaon in der Vorrede zur Atalanta (1708): „Andere / mögen sich zur Lust erwehlen / was sie wollen / ich lasse einem jeden seine Freude und kräncke mich / weder um ihre lächerlichen Einbildungen / noch um ihr neidisches Splitterrichten / in geringsten nicht“.640 In den Paratexten weiblichkeitszentrierter Romane finden sich Hinweise, dass es sich um Auftragsarbeiten handelt, die auf Wunsch von Verlegern entstanden sind. Ein weiterer Beweggrund für die Publikationstätigkeit junger Autoren erschließt sich somit (Kapitel 3.2.2). Bohse erklärt in der Vorrede der Bellamira (1692), er wolle nicht erläutern, was ihn zur Verfertigung des Romans bewogen hat; soviel sei jedoch angedeutet, dass der Verleger ‒ Johann Ludwig Gleditsch, der in jener Zeit versucht, in die Verlagsbuchhandlung Moritz Georg Weidmanns einzusteigen ‒641 ihn darum gebeten habe: Daß ich eben auf eine solche Materie gefallen bin / dazu hat mich etwas bewogen / welches ich anher zu setzen nicht nöthig achte / doch weil [ich] von denen Herren Verlegern um Fortfahrung in meinen bißherigen Tractaten so sehr angesprochen worden [bin] / habe ich auch vor die zu meinem Gemüthe bequemste Erfindung geachtet / diesen Sommer über meine Feder […] in dergleichen Ausarbeitung […] zu üben. Ob es allen gefallen werde / zweifle ich: Bin auch so Ehr=geitzig nicht / daß ich solches verlangen solte [Hervorh. K.B.].642

Bohse bezweifelt zwar, dass sein Werk alle Welt begeistern wird, doch handelt er seiner Ansicht nach im Auftrag des Verlegers. Die Publikation wird unter anderem dadurch gerechtfertigt, dass sie auf Drängen Gleditschs entstanden sei. Auch Rost sieht sich aufgrund von Verlegerwünschen ‚gezwungen‘, galante Romane zu veröffentlichen, obwohl er selbst eigentlich nicht mehr publizieren wolle. In der Vorrede

639 „[W]enn

ich den unzeitigen Urtheil einiger naseweisen Splitter=Richter hätte folgen wollen / welche durch Gewohnheit alles zu tadeln wissen […] / so würde ich mit diesen [Text] zurücke gehalten / und solches unter dem Staube vermodern lassen / allein da ich angenommen / daß einem Neidharte [einem Neider] durch Furcht nur zu viel geliebkoset und er doch dadurch nicht gebessert / […] habe ich ihn lieber verachten als den wohlgesinnten Leser einen vergnügten Zeitvertreib entziehen wollen“, Talander [August Bohse]: Amor am Hofe, Erster Teil, 1696, Vorrede, unpag. [A 1bf.]. 640 Meletaon [Johann Leonhard Rost]: Die Unglückseelige Atalanta oder Der schönen Armenianerin Lebens= und Liebes=Beschreibung […]. Franckfurt/Leipzig: Wolffgang Michahelles 1708, Vorrede, unpag. [A 2b]. 641 Kap. 3.1.3.6 Autorenbindung: Bohse und der Verlag Gleditsch & Weidmann. 642 Talander: Bellamira, Vorrede, unpag. [A 1bf.].

190

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

zum Schau=Platz der galanten und gelehrten Welt (1711) bzw. Die Liebenswürdige und Galante Noris (1711)643 erklärt der Autor: Bey meinem Eremiten [Der verliebte Eremit 1711] habe [ich] zwar erwehnet / künfftig keine Roman[e] mehr zu schreiben / ich muß [aber] wider Willen meine eigene[n] Worte revociren [zurücknehmen] / indeme mich der Herr Verleger / schon vor einer geraumen Zeit / um was Neues angesprochen / weilen [ich] nun daraus schliesse / daß meine Arbeit bey Einigen angenehm seyn muß / so kunte [ich] solche höfliche Anforderung nicht ausschlagen / sondern melde dem curieusen Leser zur Nachricht / daß auf die bevorstehende Leipziger Neu=Jahr Messe / diesem Schau= Platze / was anders folgen soll. Was es aber seye / weiß ich selbsten noch nicht [Hervorh. K.B.].644

Rost nutzt den vermeintlichen Zwang des Verlegers, um den Roman zu entschuldigen, veröffentlicht ihn parallel in Nürnberg und Leipzig und betreibt zugleich Werbung in eigener Sache, indem er Folgepublikationen in Aussicht stellt. Das Publikum ist bestens informiert, welche Romane vom Autor erhältlich sind, und dass in Zukunft weitere erwartet werden können. Galante Autoren nutzen die gängige Praxis, in Text und Paratext Werbung für sich und ihre Publikationen zu machen.645 Doch auch Verleger greifen auf galante Romane zurück, um durch beigefügte Titellisten ihre Verlagsprogramme und weitere Schriften anzupreisen. Der Hamburger Verleger Christian Liebezeit, der Leipziger Johann Ludwig Gleditsch veröffentlichen Titellisten, mit denen z.B. Gleditsch im Anhang von Bohses Ariade (1699) für Romane von Talander und somit für den eigenen Verlag wirbt.646 Der weiblichkeitszentrierte Roman, der aufgrund des Figurenpersonals besonders für Leserinnen interessant gewesen sein dürfte, informiert über ähnliche Titel im selben Verlag – Leserinnen und Leser der Ariadne werden auf Die Durchlauchtigste Alcestis (1689), die Bellamira (1692), die Durchlauchtigste Olorena (1694), die Amazoninnen aus dem Kloster (1696), die Getreue Sclavin Doris (1696) und weitere Romane aufmerksam gemacht.647 Gerade für junge, noch wenig etablierte Autoren musste das Entgegenkommen von Verlegern eine attraktiv Möglichkeit darstellen, publizieren und sich als Verfasser präsentieren zu können. Spitzbübisch-devot erklärt Rost, „die sonderbare Höf643 Kap.

3.1.3.4 Soziale Strukturen und (illegitime) Praktiken. Schau=Platzes Der Galanten und Gelährten Welt, Vorrede, unpag. [A 2a]. 645 Bohse verweist in der Vorrede von Amor An Hofe (1689) auf die zeitgleich erscheinenden Publikationen Le Mary jaloux (1689) sowie Die Eifersucht der Verliebten (1689), Talander: Amor An Hofe, Vorrede, unpag. [A 4a]. Romanwerbung für eigene Publikationen findet sich auch in den Paratexten von Hunold, Rost, Celander, Behmeno u.a. Zur Werbefunktionen des Paratextes neben Voßkamp auch Ammon u. Vögel: Pluralisierung des Paratextes, S. XII. 646 „Verzeichniß aller derjenigen Schrifften / welche Mr. Talender [sic] in den Druck heraus gegeben / und von Johann Ludwig Gleditschen Buchhändlern in Leipzig verlegt / und bey demselben zu finden seynd“, beigefügt in Talander: Ariadne. Anhang, unpag.; Titelliste von Christian Liebezeit beigefügt in Celander: Celanders Verliebte=Galante / Sinn=Vermischte und Grab= Gedichte, Einband vorn. 647 [Gleditsch]: Verzeichniß aller derjenigen Schrifften […]. In: Talander: Ariadne, Anhang. 644 Meletaon:

3.3 Die Leserin – Geschlechterspezifische Romanreflexionen im galanten Roman

191

lichkeit des Herrn Verlegers“ verbinde ihn demselben in „ergebenste[r] Dienstfertigkeit bey jedwedem Begehren“, so dass er sich „schuldig“ fühle, „dessen Verlangen auch diesesmal zu vollziehen“.648 Gleichzeitig nehmen junge Autoren die Nachfrage des Publikums – ob fingiert oder real ‒ zum Anlass, um sich in den Dienst der Leserschaft zu stellen. Rost bringt diese Haltung in der Vorrede des Hermiontes (1714) zum Ausdruck, auch wenn er zweifelt, ob dies der Leserschaft zuträglich sei und verweist explizit auf die „Liebhaberinnen der Romane“: Nun würde es zwar kein Schade[n] gewesen seyn / wenn gegenwärtige schlechte Arbeit gäntzlich zurücke geblieben [wäre]: Indem man an deren Stelle schon nützlichere Materien in den Buch=Läden ange­troffen hätte; allein weil sie der Herr Verleger [Johann Albrecht in Nürnberg] selber begehret / und […] über dieses die Liebhaber und Liebhaberinnen der Romanen immer was neues zum Durchlesen haben wollen: so lasse man mein Unterfangen statt finden / und versichere sich / daß ich solche Gewogenheit vor die gröste Belohnung / der darauf gewandten Mühe annehme [Hervorh. K.B.].649

Auch wenn nicht auszuschließen ist, dass galante Romanautoren Hinweise auf Zwänge von Verlegern fingieren, scheinen Auftragsarbeiten üblich und dem steigenden Bedarf an aktuellen Schriften geschuldet zu sein.650 Aufstrebende Verleger wie Johann Ludwig Gleditsch oder Johann Friedrich Gleditsch verdienen an aktuellen und populären Schriften; sie sind daran interessiert, neue Geschäftsfelder und Lesergruppen zu erschließen, um ihre Stellung im expandierenden Buchhandel auszubauen und zu konsolidieren. Mit Publikationen wie dem Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers (1692), Des galanten Frauenzimmers Secretariats=Kunst (1692) u.a. versuchen sie explizit, eine weibliche Leserschaft anzusprechen und lassen diese Texte auch von jungen (unbekannten) Autoren anfertigen. Die Zunahme weiblichkeitszentrierter Romane reiht sich in einen Trend des deutschen Buchhandels ein, der Frauen auch in anderen Textsorten als Leserinnen adressiert; richten sich neben Romanen doch auch Briefsteller, Ratgeberschriften oder Gelehrtinnenbibliotheken an ein weibliches Publikum, wie Paullinis Das Hoch= und Wohl=gelahrte Teutsche Frauen=zim[m]er (1705),651 Rosts Von der Nutzbarkeit des Tantzens. Wie 648 Meletaon:

Curieuse Liebes=Begebenheiten, Vorrede, unpag. [A 3a]. Hermiontes, Vorrede, unpag. [A 2af.]. 650 Hinweise zu Auftragsarbeiten und Publikationswünschen von Verlegern finden sich unter anderem auch in Talander: Amazoninnen aus dem Kloster, Vorrede, unpag. [5bf.]; Meletaon: Verliebter Eremit, Vorrede, unpag. [A 2b]; [anonym]: Der Müßige Amant, Vorrede, unpag. [A 4bf.]; Menantes: Einleitung zur Teutschen Poesie. In: Menantes Academische Neben=Stunden, S. 67f. Hinweise zu Verlegerbeziehungen Hunolds vgl. Wedel: Geheime Nachrichten, S. 15, 36. 651 Christian Franz Paullini: Das Hoch= und Wohl=gelahrte Frauenzim[m]er. Nochmahls mit mercklichen Zusatz vorgestellet. Erfurt: Stößel, 1705. Weiterführend zu Paullini vgl. Karin SchmidtKohberg: Repräsentationen gelehrter Frauen in Frauenzimmer-Lexika des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Nonne, Königin und Kurtisane. Wissen, Bildung und Gelehrsamkeit von Frauen in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Michaela Hohkamp u. Gabriele Jancke. Königstein i.T. 2004, S. 135– 152, hier S. 136, Anm. 5; ferner Johann Caspar Eberti: Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen=Zimmers / darinnen die Berühmtesten dieses Geschlechts umbständlich vorgestellet werden. 649 Meletaon:

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

viel selbiges zu einer Galanten […] Condvite bey einem jungen Menschen und Frauenzimmer beytrage (1713),652 Unterricht von Billeten […] welche Mans=Personen […] und das Frauenzimmer an […] Freundinnen in allerhand Angelegenheiten anzufertigen pflegen (1717),653 Amaranthes Frauenzimmer=Lexicon (1715). Als Sachund Gebrauchstext übernimmt das Frauenzimmer=Lexicon dabei die Funktion, die weibliche Leserschaft mit den für sie vorgesehenen poetischen Gattungen bekannt zu machen ‒ und empfiehlt galante Autoren. Das Lemma „Romain“ weist Romane als bevorzugte Lektüreform für Frauen aus und nennt neben preziösen Autorinnen (Scudéry) Verfasser wie Bohse und Hunold: Romain, Seynd allerhand verliebte Geschichten und Erzehlungen […] mit allerhand heimlichen und wunderns=würdigen Liebes=Intriguen angefüllet, entweder ertichtet, oder wahrhafftig, übersetzet oder selbst ausgefertiget, worinnen das Frauenzimmer zu ihrer Gemüths Ergötzung und Auspolirung der recht reinen und Hochteutschen Sprache zu lesen pfleget. Man findet deren von unzehliger Menge, die neuesten sind des Herrn von Lohensteins, des von Ziegler, der Madm. Scudery, Talanders, Menantes u.a.m. [Hervorh. K.B.].654

Um im Folgenden zu erfahren, mit welchem Selbstverständnis bzw. aufgrund welcher Konzepte von Poesie junge galante Autoren ihre Texte entwerfen, sollen im letzten Kontextkapitel 3.4 poetische und poetologische Aspekte in das Blickfeld der Untersuchung rücken.

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft Lohenstein / Hofmans Waldau / und Gryphius müssen sich vor unsern neuen Poeten verkriechen / und bey ihnen in die Schule zu gehen sich nicht schämen.  (Selamintes 1711)

Galante Autoren diskutieren inhaltliche und wirkungsästhetische Aspekte des Romans und reflektieren ihr Schreiben immer stärker in Bezug auf die weibliche Leserschaft. Doch welchen Konzepten von Poesie oder Autorschaft folgen sie eigentlich? Aus den Paratexten lassen sich autopoetische Reflexionen rekonstruieren, die nicht nur den Roman betreffen, sondern als allgemeinere Konzepte von Poesie und Verfasserschaft zu deuten sind. Junge Autoren erläutern ihre Texte und rechtfertigen das

Franckfurth/Leipzig: Michael Rohrlach, 1706; hierzu Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit, S. 85f. 652 Meletaon: Von der Nutzbarkeit des Tantzens […]. Franfurt/Leipzig [Nürnberg]: Johann Albrecht, 1713; hierzu Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 3506. 653 Meletaon: Unterricht von Billeten […] / Leipzig: Johann Christoph Cörner, 1717; hierzu Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 3508. 654 Art. Roman. In: Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon […]. Hg. v. Amaran­ thes [Gottlieb Siegmund Corvinus]. Leipzig: Friedrich Gleditsch und Sohn, 1715, S. 1658.

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

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eigene Schreiben. Die Problematisierung der Romanpraxis mit Blick auf die Leserin verbindet sich zwangsläufig mit Auseinandersetzungen, die sich gattungsübergreifend auf die Poesie im Allgemeinen beziehen bzw. diese anstoßen. Junge Autoren positionieren sich zur poetischen Tradition und geben damit auch Auskunft zu ihrem dichterischen Selbstverständnis. Die folgenden Ausführungen schließen an die Überlegungen an, die in Kapitel 3.3.2.3 zur Stärkung einer populären Unterhaltungsliteratur und zur Wirkungsabsicht des Vergnügens formuliert wurden. Konkreter sollen jetzt an Bohses Entwurf einer Poesie zwischen Scherz und Ernst (1692), Hunolds Satyrischer Schreibart (1706) und Selamintes’ Romankonzeption des Ingeniums der Wollust (1711) gattungsübergreifende Konzepte von Poesie rekonstruiert werden, die das Schreiben galanter Autoren erhellen (Kapitel 3.4.1). Es zeigt sich, mit welcher Willkür und Selektivität die Verfasser auf bestehende Traditionszusammenhänge der Poesie zurückgreifen, um ihre Texte und die eigene Autorschaft zu legitimieren. Besonders interessiert in diesem Zusammenhang, wie poetologische Kategorien und Argumentationen in Bezug auf die weibliche Hauptfigur ausgelegt werden und welche Konsequenzen sich dadurch für die Semantisierung des weiblichen Figurenpersonals im Roman ergeben (Kapitel 3.4.2). Die Rekonstruktion allgemeinerer Konzepte von Poesie und Autorschaft erlaubt es, die geschlechterspezifische Dimension der Gattungspraxis genauer einzuordnen. 3.4.1 Romanreflexionen und poetologische Konzepte Junge Autoren um 1700 haben Kenntnis von poetologischen Dichtungskonzepten und literarischen Traditionen. Teile dieses Wissens werden bewusst genutzt, um das eigene Schaffen – unabhängig von Gattungskontexten und Intentionen der Vorgänger – an diese Traditionen anzubinden und sie im Sinne des eigenen Werks auszulegen. Es lässt sich dabei nicht von einer gewissenhaften oder intensiven Auseinandersetzung sprechen. Im Gegenteil, der Umgang junger Autoren mit poetischen Traditionen und literarischen Vorgängern scheint recht unbekümmert zu sein und ist eher als ironisches Spiel oder willkürliche Provokation zu werten. Dennoch wird in den Paratexten ein Wissen über poetische Traditionen deutlich, auf das galante Autoren zurückgreifen. 3.4.1.1 Bohse: Poesie zwischen Scherz und Ernst (1692) In der Vorrede Der getreuen Bellamira wohlbelohnte Liebes=Probe (1692) erklärt Bohse/Talander, sein Roman könne in ähnlicher Weise gelesen werden wie die Schriften Daniel Casper von Lohensteins (1635–1683).655 Der barocke Dichter habe es in seinen Werken vortrefflich verstanden, „gute Lehren“ und „Scherze“ so mit655 Talander

[August Bohse]: Der getreuen Bellamira wohlbelohnte Liebes=Probe […]. Leipzig: Moritz Georg Weidmann / Druckts Christian Scholvien / A[nn]o 1692, Vorrede, unpag. [A 3af.].

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

einander zu verbinden, dass seine Schriften dem Leser zum „Spiegel“ würden;656 eine Absicht, die Bohse auch im galanten Roman verfolgt (Kapitel 3.2.2.2). In der Vorrede der Bellamira zitiert Bohse ein Widmungsgedicht, das Lohen­steins Trauerspiel Sophonisbe (1680) vorangestellt ist.657 Darin dankt Lohen­stein seinem Gönner Freiherrn von Nesselrode und liefert zugleich Hinweise zu seiner Tragödienauffassung und seinem poetischen Selbstverständnis.658 Bohse isoliert aus der Widmungsvorrede sechs einzelne Verse, in denen Lohenstein sein schriftstellerisches Schaffen als ein „Spiel“ ausweist und das Trauerspiel in die Nähe von „Scherz und Ernst“ rückt. Das Zitat wird im weiteren Zusammenhang wiedergegeben, in dem Bohse es gebraucht: Ich [Talander/Bohse] habe mich offt über des treflichen Lohensteins Zuschrifft an den Freyherrn von Nesselrode vergnügt / da er sich also schützet: [im Original Fettdruck und typografisch eingerückt] »Ich liefre nur ein Spiel: Jedoch welch Cato659 mag Nur immer ernsthafft seyn / und alle Spiele schelten: Die Weißheit bildet sich nicht stets auf einen Schlag/ Ja Tugend muß offt selbst nur in der Larve gelten: Wer Schertz und Ernst vermischt / und mit der Klugheit spielt/ Hat offtermahls zu erst den rechten Zweck erzielt.« Dieses brauche ich [Bohse/Talander] auch zu meiner Entschuldigung / ob gleich mein Schattenwerck mit dieses unvergleichlichen Mannes erlauchten Schrifften [Lohensteins] zu vergleichen nimmermehr den Hochmuth haben werde [Hervorh. K.B.].660

Fragt man, was Bohse mit Lohensteins Zitat bezweckt, so fallen drei Aspekte auf, die für den galanten Autor interessant gewesen sein dürften. Erstens reflektiert Lohenstein die Poesie als ein Spiel zwischen Scherz und Ernst, das zugleich als Spiel mit der Klugheit ausgewiesen wird. Indem sich „Scherz und Ernst vermischen“, präsentiert Poesie lachend oder scherzhaft Fragestellungen, die sie ernsthaft verstanden wissen will. Der Roman, so die Übertragung auf den galanten Text, dient sowohl der Unterhaltung, dem Vergnügen, als auch einer ernst­haften Betrachtung, deren Funktionalisierung noch genauer zu diskutieren ist (Kapitel 3.4.2.2). Zweitens suggeriert das Zitat, dass die Poesie Stellung bezieht zu Fragen der Tugend („Ja Tugend muß offt selbst nur in der Larve gelten“). Ein satirischer Umgang deutet

656 Ebd.,

unpag. [A 3a]. Casper von Lohenstein: Sophonisbe. Trauerspiel. Breßlau / Auf Unkosten Jesaiae Fellgibels / Buchhändlers aldar [1680]. Hg. v. Rolf Tarot. Stuttgart 1991, Widmungsvorrede, S. 6‒13. 658 Marie-Thérèse Mourey: Um Lohensteins Sophonisbe (1669/1680). Einleitung. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 37 (2010) H. 1/2, S. 1‒3, hier S. 2. 659 Marcus Porcius Cato Censorius, genannt Cato der Ältere, auch Cato der Censor (234‒149 v. Chr.), römischer Feldherr, Geschichtsschreiber, Schriftsteller und Staatsmann. 660 Talander: Bellamira, Vorrede, unpag. [A 3af.]. 657 Daniel

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

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sich bereits an, da von der Tugend oft nur in der Larve gesprochen werden könne. Die „Larve“ verweist im Sprachgebrauch des 17. Jahrhunderts auf ein „Schreckgespenst“ oder eine „Maske, hinter der man sich verstecken kann“, sie dient als Metapher der Täuschung, des „Betrugs durch das Vortäuschen falscher Tatsachen“;661 in der Dichtung wird sie als Form der uneigentlichen Rede gebraucht, um hinter der Maske des Lachens Kritik zu formulieren. Lachend und in einem ‚Spiel‘ liefert der Roman demnach Schreckens­bilder, die zur Tugend anregen sollen. Drittens wird die Larve im 17. Jahrhundert aber auch schon als biologischer Begriff verwendet, um ein „Tier“ zu bezeichnen, „dessen Gestalt sich in einem frühen Entwicklungsstadium befindet und bis zum ausgereiften Zustand verschiedene Gestalten annimmt“, zum Beispiel Insekten, die sich verpuppen.662 Diese Wortverwendung ist interessant, weil sie bei Bohse in Bezug auf die Poesie Anwendung findet. Wenn gesagt wird, die „Weisheit“, zu der der Roman in scherz- und ernsthafter Weise anrege, „bildet sich nicht auf einen Schlag“, so erscheint Bildung durch Lektüre als ein sukzessiver und diskontinuierlicher Prozess. Dies mag jene entschuldigen, die durch Poesie zu Weisheit und Tugend gelangen sollen, auch wenn sie nicht sofort zu bessern sind ‒ Leser, Leserinnen und auch Autoren, die erst dabei sind, eine (poetische/sittliche) Weisheit zu erlangen. Das Bild der „Verpuppung in der Larve“ bietet sich aber auch an, um insgesamt eine Dichtung zu beschreiben, die sich ihrerseits in der Entwicklung befindet, ihre Gestalt verändert, sich ‚verwandelt‘ und mit der Verpuppung in der Larve ein frühes, noch nicht abgeschossenes Entwicklungsstadium der Poesie (des Romans) anzeigt. In einem übertragenen Sinne kann Lohensteins Zitat auch in Bezug auf poetische Entwicklungsprozesse ausgelegt werden. Obwohl Bohse das Lohenstein’sche Zitat vollständig aus dem ursprünglichen Kontext reißt, sind die drei Aspekte – Spielcharakter der Poesie zwischen Scherz und Ernst, Larvenmetapher (Satire, Täuschung) sowie der Entwicklungsgedanke – wichtige Momente, die auch den galanten Autor mit Blick auf die eigene Romanproduktion beschäftigen. Vor allem die Konzeptualisierung von Dichtung als Aussage zwischen ‚Scherz und Ernst‘ hat entscheidende Konsequenzen für die galante Gattungsentwicklung. In der Forschung wird kontrovers diskutiert, ob Lohen­ stein durch den Verweis auf den Spielcharakter der Poesie („Ludismus-These“) das politische Herrscherlob der Sophonisbe als Kritik tarnt bzw. ob und wie weit die Widmung eine politische Botschaft des Trauerspiels relativiert.663 Für die vorliegen661 Art.

Larve. In: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Bd. 9. Hg. v. Ulrich Goebel u. Oskar Reichmann. Berlin 2000, S. 284–286, hier S. 284. 662 Erster Beleg für diese Wortverwendung 1602 (ebd., S. 286). Maria Sibylla Merian widmet sich auf ihrer Forschungsreise nach Surinam (1699‒1701) den Entwicklungszyklen der Insekten und verfasst ein Werk Metamorphosis Insectorum Surinamensis (1705), Stefanie Ohnesorg: Mit Kompass, Kutsche und Kamel: (Rück-)Einbindung der Frau in die Geschichte des Reisens und der Reiseliteratur. St. Ingbert 1996, S. 80–83. 663 Mourey: Lohensteins Sophonisbe, S.  2. Der Ludismus-These, wonach Lohenstein eine Kritik hinter Spiel und Scherz verbirgt, widerspricht Jutta Schuhmann, weil die positive Herrscher-

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

de Studie ist indes weniger Lohensteins Trauerspiel oder die Intention des barocken Dichters von Interesse, als vielmehr die Tatsache, dass Bohse von 156 Versen, die Lohensteins Panegyrik umfasst, jene sechs Zeilen isoliert, die den Spielcharakter der poetischen Darstellung exponieren. Dieses selektive Vorgehen entstellt den gesamten Sinnzusammenhang des Widmungsgedichts, eröffnet aber gerade dadurch eine neue Lesart, die Bohse zur Legitimierung der eigenen Romanpraxis nutzt. Lohenstein beschreibt nicht nur die Poesie, sondern die Welt an sich, die Gesamtheit des irdischen und kosmischen Lebens als ein ‚Spiel‘, in dem Bewegung und Wandel den gesamten Mikro- wie Makrokosmos bestimmen und in der der Mensch dem unbegreifbaren Walten Gottes, den Beschlüssen der Vorsehung (Providentia), unumstößlich ausgesetzt ist.664 Das barocke Weltbild ist aufs engste mit der Vorstellung des tugend- und standhaften Menschen verbunden, der sich in religiöser Gläubigkeit dem ‚Spiel‘ des Lebens ergibt und in ihm die Offenbarung des Göttlichen erkennt. Exemplarisch will Lohenstein diesen vorbildlichen Menschentypus in seinem Gönner von Nesselrode verherrlicht sehen – nur ein Mensch wie dieser „weiß die himmlische ‚Weisheit‘ mit dem irdischen ‚Spiel‘ zu verbinden“ und schafft es, der Unbeständigkeit des Irdischen zu begegnen.665 Dieser Zielsetzung folgt das Trauerspiel Sophonisbe und in diesem Sinne empfiehlt Lohenstein den Lesern seine Poesie als ein ‚Spiel‘, das die göttliche Struktur im Seienden offenbart. Nicht zuletzt warnt Lohenstein eindringlich vor der „Lust“ und „Raserey der Liebe“, welche die „Vernunft verrücket“ und das „Gemüt verstellet“.666 Bohse indes schenkt dem religiös-weltanschaulichen Gesamtzusammenhang von Lohen­steins Widmung nicht die geringste Beachtung. Er gibt keine Auskunft, aus welcher Schrift er konkret zitiert und findet es unwichtig, dass sich der barocke Dichter auf ein Trauerspiel, keineswegs auf den Roman bezieht. Erst recht kümmert es Bohse wenig, dass sein Umgang mit Poesie an Lohensteins poetischer Intention

darstellung in der Tragödie wie in der Widmungsvorrede dominant bleibe, Jutta Schumann: Die andere Sonne. Kaiserbild und Medienstrategien im Zeitalter Leopolds I. Berlin 2003, S. 318. Zur Diskussion allgemein Anne Wagniart: Lohensteins Sophonisbe und die Polemik um die politische Ausrichtung des schlesischen Kunst­dramas. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 37 (2010), H. 1/2, S. 83–101. 664 Pierre Béhar: Struktur der Welt und Struktur der Dichtung bei Daniel Casper von Lohenstein. In: Studien zu Literatur, Sprache und Geschichte in Europa. Wolfgang Haubrichs zum 65. Geburtstag. Hg. v. Albrecht Greule u.a. St. Ingbert 2008, S. 23–29, hier S. 29. 665 Ebd., S. 26. 666 Lohenstein: Sophonisbe, Widmungsvorrede, S. 9, V. 111‒114. Zur Darstellung von Weiblichkeit und zum Spiel mit Geschlechterrollen in der Sophonisbe vgl. Peter André Alt: Sexus ludens. Androgynie als Spiel der Rhetorik und des Theaters in den Dramen Daniel Caspers von Lohenstein. In: Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. Hg. v. Thomas Anz u. Heinrich Kaulen. Berlin 2009, S. 231–254, bes. S. 246–250. Sehr knappe Hinweise zu Genderaspekten in Lohensteins Widmungsvorrede bei Walter Hinderer: Liebessemantik als Provokation. In: Codierungen von Liebe in der Kunstperiode. Hg. v. Walter Hinderer u. Alexander von Bormann. Würzburg 1997, S. 311–338, hier S. 311f.

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

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gänzlich vorbei geht und sie z.B. in Bezug auf das Liebessujet (amour-passion) samt religiös-moralischen Implikationen vollständig entstellt. Stattdessen nutzt Bohse den Verweis auf Lohensteins Konzeption von „Scherz und Ernst“, um die eigene Vorstellung von Dichtung zu rechtfertigen. Im galanten Roman, so Bohse in der Bellamira, „lassen sich gute Lehren so wohl unter Liebes=Gedichten und Schertzen beybringen / als durch eitel ernsthaffte Gesetze“.667 Der Roman vermittelt lachend ernste Dinge; im Gewand des Liebessujets transportiert er „gute Lehren“ zwischen Scherz und Ernst. Doch inwiefern ist dem zu trauen? Wenn Bohse unterstellt, Lohenstein wolle sich durch den Verweis auf den Spielcharakter der Poesie „schützen“, d.h. von einer möglichen Kritik an seiner Person ablenken, kann der galante Autor diesen Schutz auch für sich in Anspruch nehmen: „Ich habe mich offt über des treflichen Lohensteins Zuschrifft […] vergnügt / da er sich also schützet“ und „Dieses brauche ich auch zu meiner Entschuldigung.“668 Die Rede des Autors wird zwischen Scherz und Ernst, Spiel und Schutz der Poesie unzuverlässig. Eine Poesie zwischen Scherz und Ernst schwankt hochgradig im Modus schalkhaft-ernster Ambiguität. In der poetischen Autorität Lohensteins findet Bohse für die Verfahrensweise zwischen Scherz und Ernst einen vermeintlichen Fürsprecher, dessen Vorbildfunktion er vorgeblich devot betont, letztlich aber die eigene Romanproduktion aufzuwerten versucht. Deutlich wird, wie unbekümmert Bohse auf die Autorität des kanonisierten Dichters zurückgreift, um die eigene Romanpraxis an eine Tradition anzubinden, deren Parallelitäten inhaltlicher und konzeptioneller Art offenbar nur vom galanten Autor selbst wahrgenommen werden. Derart legitimiert widmet Bohse die Bellamira ohne Weiteres dem „Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn / Hn. Johann Georgen.“669 Da Angaben zu Lebensdaten oder Regierungsfolge ausgespart bleiben, kann es sich um Johann Georg Herzog von Sachsen-Weißenfels (1677‒1712), den noch minderjährigen Sohn des Weißenfelser Regenten, oder um dessen Cousin Johann Georg IV. (1668–1694) handeln, seit 1691 Kurfürst von Sachsen.670 In einer Dedikation, die der Vorrede vorangestellt

667 Die

syntaktische Vagheit erlaubt zwei Rezeptionsweisen: Der Roman könne gute Lehren sowohl durch Scherz als auch durch ernsthafte Gesetze beibringen (parataktische Verknüpfung). Oder er kann diese Lehren durch Scherze, besser noch als durch ernsthaffte Gesetze vermitteln (hypotaktische Verknüpfung), Talander: Bellamira, Vorrede, unpag. [A 3a]. 668 Ebd., unpag. [A 3af.], Hervorh. K.B. 669 Ebd., Dedikation an Johann Georg, unpag. [A 1b]. 670 Da beide Johann Georgs aus der albertinischen Linie stammen, die in der Nachfolge Johann Georgs II. die sächsischen Kurfürsten stellt, lautet die Titulatur annähernd gleich. Bohse zählt auf: „Herzogen zu Sachsen / Jülich / Cleve und Bergk / Engern und Westphalen / Landgrafen zu Thüringen / Marckgrafen zu Meissen / Auch Ober= und Nieder= Lausitz / Gefürsteten Grafen zu Henneberg / Grafen zu der Marck / Ravensberg und Barby / Herrn zum Ravenstein.“ Dieselbe Titulatur findet sich im politisch wichtigen Elucidations-Vergleich (1682) zwischen dem Kurfürstentum Sachsen und der Sekundogenitur Sachsen-Weißenfels für beide Familienstränge, Corps universel diplomatique du droit des gens, ou recueil des traitez d’alliance, de paix, de

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

ist, wird dem fürstlichen Oberhaupt eine satirisch-ernsthafte Lektüre offeriert, von deren Vorzügen Talander überzeugt ist: Ich bescheide mich zwar wohl / daß Ew. Hoch=Fürstl. Durchl. Dero kostbare Stunden besser anwenden / als in Durchlesung schlechter Liebes=Geschichte[n]; gleichwohl ist auch bekant / daß in dieser Schreibart viel gutes verborgen / und daß die Alten die Welt=Weißheit unter diese Schrifften eben so geschickt verstecket als die Aertzte […] ihren kräfftigsten Tincturen […] einen annehmlichen Geschmack geben [Hervorh. K.B.].671

Das Wirkungsprinzip der klassischen Satire, nämlich in Form der ‚süßen Pille Poesie‘ Kritik zu üben, wird auf den Roman übertragen (Kapitel 3.4.1.2). Wie die ‚bittre Medizin‘ leichter zu schlucken sei, wenn sie ‚angenehm‘ schmeckt oder die Weltweisheit schneller zu fassen sei, wenn sie unterhaltsam vermittelt wird, so verstecke sich auch hinter dem Scherz der galanten Liebesgeschichte ein Ernst, der en passant aufgenommen wird (man denke an Thomasius, Kapitel 3.3.2.3). Bohse preist den weiblichkeitszentrierten Roman als eine Novität der moralischen Unterweisung. Der galante Liebesroman sei die neue „Sittenlehre“ und leite die Leserschaft zur Tugend an: Die Sitten=Lehre kleidet sich viel artiger mit dem Gewand der Liebe / als mit dem philosophischen Mantel des allzu ernsthaffte[n] Aristoteles. Und ob zwar Ew. Hoch=Fürstliche Durchl[aucht] […] bereits eine solche Fähigkeit in allen Tugenden erlanget / daß Sie dieselbe aus diesen schlechten Blättern erstlich zu erlernen gar nicht nöthig haben; So werden Sie dennoch bey deren gnädigster Durchlesung das Böse von dem Guten in denen darinen angetroffenen Lastern und lobens=würdigen Eigenschafften zu unterscheiden […] sich um desto lieber die Mühe nehmen / ie mehr die Materie sich zu Dero blühenden Jugend schicket [Hervorh. K.B.].672

Vordergründig präsentiert sich der galante Roman als Sittenlehre: Er ziele auf eine Verbesserung der Sitten und des Anstands. Tatsächlich jedoch überlässt es Bohse den Lesern und Leserinnen, das „Böse vom Guten“ zu unterscheiden und nennt recht provokant die „Laster“ vor den „lobenswürdigen Eigenschaften“. In einer Poesie zwischen Scherz und Ernst ist nicht verlässlich auszumachen, wo die Grenzen zwischen ernsthafter Belehrung und scherzhaftem Amüsement verlaufen. Solch eine Art der moralischen Erziehung richtet sich an ein junges Publikum ‒ auch an den zu diesem Zeitpunkt 15-jährigen Johann Georg bzw. den 24-jährigen Johann Georg IV. (der allerdings zwei Jahre später verstirbt). Bohse adressiert den „Fürsten“ wie seine übrige Leserschaft als einen jungen Leser, dessen „blühende Jugend“ ihn geradezu für die Liebesmaterie prädestiniere. Selbst im hohen Rang und Amt rechnet der Autor mit jungen Lesern, bei denen die gewagte Publikation womöglich auf mehr

treve [...] depuis le règne de l’empéreur Charlemagne jusques à présent […]. Bd. 7 (1680‒1700). Amsterdam 1731, S. 34. 671 Talander: Bellamira, Dedikation an Johann Georg, unpag. [A 2af.] 672 Ebd., unpag. [A 2bf.].

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

199

Gefallen stößt, als bei den Älteren. Doch auch der „Vater“ habe, so Talander, die Poesie geschätzt und durch die Lektüre seine „schwere Regierungs=Last offt=mals erleichtert“ ‒673 unspezifisch referiert er auf Johann Adolph I. (1649‒1697), der in der Fruchtbringenden Gesellschaft als der kunstliebende „Sorgfältige“ bekannt war bzw. auf dessen nicht minder kunstinteressierten Bruder Johann Georg III. (1647– 1691). Genauere Lektürehinweise verschweigt der galante Autor allerdings wohlweislich. Obwohl Bohse Scherz, Liebe und Unterhaltung höher schätzt als die Autoritäten der Antike, den „ernsthaften Aristoteles“, führt er „die Alten d[er] Welt=Weißheit“ ins Feld und rückt den Roman aller unterhaltsamer Tendenzen zum Trotz in die Nähe des gelehrten Schrifttums.674 Auch in der „Schreibart“675 der Alten hätten sich schon Gelehrtes und Unterhaltsames vermischt, wie es der Roman mit Scherz und guten Lehren vorführt. Zwischen galantem Roman, gelehrtem und ‚akzeptierten‘ poetischem Schrifttum (Lohenstein, Aristoteles) suggeriert Bohse einen Traditionszusammenhang, der genau genommen als autopoetische Erfindung des Autors gewertet werden muss. Auf diese Weise kann Bohse vorgeben, sich in eine Tradition der Dichtkunst einzureihen und mit dem galanten Roman einen ‚erlaubten‘ Zeitvertreib anzubieten, der ehrwürdige Vorbilder kennt. 3.4.1.2 Galante Sittenkritik zwischen Historie und Fiktion Mit der Anbindung des galanten Romans an antike und barocke Traditionslinien der Poesie eröffnen sich Diskussionspunkte, die unter anderem den epistemischen Status des Romans zwischen Historie und Fiktion betreffen. Um 1700 existiert kein eindeutiger Fiktionsbegriff. Die Frage, ob ein Text von wahren Begebenheiten handelt oder nur Erfundenes präsentiert, wird unter den Begriffen der „wahren Historie“ und der „Erfindung des Möglichen“ reflektiert.676 Für eine Untersuchung geschlechterspezifischer Narrative ist dieser Punkt besonders relevant, weil sich hier Hinweise eröffnen, ob der galante Roman nur Mögliches und frei Erfundenes gestaltet (Fiktion) oder Wahrhaftiges bzw. Begebenheiten, die als ‚wahr‘ ausgegeben werden (Historie). Um diese Frage zu klären, ist ein kurzer Exkurs zu Aristoteles, Huet und Thomasius sinnvoll, da sie das Verhältnis von Historie und Fiktion reflektieren, auf

673 Ebd.,

unpag. [A 3b]. u. ebd., unpag. [A 2b]. Bohse Vertrautheit mit gelehrten Schriften, insbesondere mit antiken Dichtungstheorien, lässt sich aus seinen Briefstellern erkennen, die auf antiken und barocken Regelwerken aufbauen. Es ist zudem anzunehmen, dass die Kenntnis antiker Dichtungstheorien vorausgesetzt wird, wenn Bohse als Dozent für Poesie und Redekunst an verschiedenen Lehranstalten und Universitäten in Hamburg, Jena, Erfurt, Berlin, Leipzig u.a. lehrt, Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 721, 723f., 735, 742, 749–754. 675 Talander: Bellamira, Dedikation an Johann Georg, unpag. [A 2a]. 676 Fritz Peter Knapp u. Manuela Niesner (Hg.): Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter. Berlin 2002; Walter Haug: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen 2003. 674 Ebd.

200

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

den Roman übertragen und damit eine poetologische Diskussion vorprägen, an die galante Autoren anschließen.677 Im 17. Jahrhundert kommt der Poetik des Aristoteles besondere Bedeutung zu, da sie als Bestandteil jeder rhetorischen Ausbildung zum Grundwissen junger Akademiker zählt. Aristoteles verortet die Dichtkunst im Rahmen der mimesis, der Nachahmung von Handlungen, die der Dichter nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit gestaltet und dadurch etwas „Mögliches“ zur Anschauung bringt: „[E]s [ist] nicht Aufgabe des Dichters mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.“678 Bekanntlich grenzt Aristoteles die Tätigkeit des Dichters von der des Geschichtsschreibers ab. Während der Historiker „das wirklich Geschehene mitteilt“, beschreibt „der andere [der Dichter], was geschehen könnte.“679 In der Poesie verbindet sich die Darstellung des Möglichen jedoch mit den Gegen­ ständen der Historie, da der Dichter – vor allem in der Tragödie – auf historische Stoffe und Personen zurückgreift: „Bei der Tragödie halten sich die Dichter an die Namen von Personen, die wirklich gelebt haben“.680 Die Aristotelische Poetik gesteht dem Dichter zu, historische Stoffe und Personen zum Gegenstand der Fiktion zu machen, d.h. „das wirklich Geschehene“ durch das, „was geschehen könnte“ nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit zu ergänzen.681 Insbesondere in der Tragödie entsteht ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen Wirklichem und Möglichem, das in den antiken Dichtungstheorien mit einer starken Einschränkung fiktionaler Potenzialität verbunden ist. Nur im Rahmen des Wahrscheinlichen und Notwendigen lässt sich Mögliches glaubwürdig sagen oder erzählen. Die Poetik des Aristoteles spricht keinesfalls der freien Erfindung das Wort, sondern versteht Dichtung als Kunst (ars), die letztlich einen kosmologischen Seinszusammenhang repräsentiert und in diesem verankert bleibt.682

677 Zu

ähnlichen Diskussionen in Frankreich im 16. Jahrhundert vgl. Gelzer: Einfluss der französischen Romanpraxis auf Zesen, S. 120‒124. 678 Aristoteles: Poetik. Griechisch‒Deutsch. Hg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1999, 9. Kap., S. 29–33, hier S. 29. 679 Ebd. 680 Ebd., S. 31. 681 Ebd., S. 29f. Der Text bleibt dabei dennoch Dichtung, da meist nur wenige Figuren und Motive der Historie entnommen sind und die restlichen Protagonisten und Umstände erfunden werden (ebd., S. 31); ferner Gerrit Kloss: Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit im 9. Kapitel der aristotelischen ‚Poetik‘. In: Rheinisches Museum 146 (2003), S. 160–183, hier S. 161f. 682 Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit, Notwendigkeit und Glaubwürdigkeit bewegen sich bei Aristoteles letztlich im Rahmen einer kosmologischen Ontologie, der ein teleologisches Modell zugrunde liegt. Demnach sind alle Möglichkeiten des Werdens bereits im Sein begründet, wie das Samenkorn, das zur Pflanze wird und seine Potenz unterschiedlich realisieren kann, seine Wesenheit aber nicht ändert (etwa, dass die Pflanze zum Tier würde). Ebenso kann auch der tragische Held in der Dichtung seine Möglichkeiten und Grenzen, die ihm im Rahmen der kosmischen Ordnung zuteil werden, nicht überwinden. Die Tragödie zeigt das tragische Scheitern

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

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Bevor sich um 1700 junge Autoren in Deutschland vermehrt der Romanform zuwenden, gibt es bereits in Frankreich einzelne Bestrebungen, Romane von preziösen Autorinnen mit den Kategorien der antiken Dichtungstheorie zu beschreiben. Pierre-Daniel Huet betont in seinem Traité de l’Origine des Romans (1670), Romane oder Liebesgeschichten („ce que l’on appelle proprement Romans […] des fictions d’aventures amoureuses“) seien „zu unterscheiden von den warhafften Geschichten [des histoires veritables].“683 Der Roman rückt stärker in den Bereich der Fiktion als in den Bereich der wahren Historie, denn ‒ so zeigt sich ‒ bereits hier verquicken sich Gattungsdiskurs und Genderproblematik. Huet war nämlich daran gelegen, die poetische Produktion der befreundeten Autorin La Fayette zu rechtfertigen,684 ohne das Schreiben der Frau zu stark in die Nähe einer ‚ernsthaften‘ oder gar gelehrten Tätigkeit zu stellen, womit die Autorin auf Ablehnung hätte stoßen können. Die Beschreibung des Romans als ‚nur‘ erdachte, nicht etwa wahre oder historische Erzählung legitimiert die poetische Schriftstellerei der Frau, ohne die preziöse Romanproduktion als Teil der ernsthaften Gelehrsamkeit auszugeben. Gleichzeitig wertet Huet die weibliche Autorschaft über den Umweg der poetischen Nobilitierung des Romans und des Romanschreibens auf, also über eine Aufwertung der äußeren Form. Huets Traité rekurriert auf die Autorität des Aristoteles, der in der Abgrenzung von Poet und Geschichtsschreiber die kreative Tätigkeit des Dichters über die des Historikers stellt. Da der Dichter seinen Stoff nach bestimmten Kriterien wählen, disponieren und gestalten müsse und sich nicht wie der Historiker auf die Wiedergabe von wirklich Geschehenem beschränken kann, sei seine Tätigkeit die „philosophischere und ernsthaftere“, so Aristoteles.685 Diese Argumentation überträgt Huet auf den Roman (der bei Aristoteles keinerlei Erwähnung findet) und betont die poetische Erfindung, die laut Aristoteles als Hinweis auf den Kunstcharakter der Dichtung gilt: „le Poëte est plus Poëte par les fictions qu’il invente“; in Happels bereits erwähnter deutscher Übersetzung: Auch der „Roman-schreiber“ erfülle die Kunst, etwas zu „erdencken“ und nicht nur, wie der Geschichtsschreiber, historische Fakten wiederzugeben.686 Explizit rekurriert Huet auf die „Meinung Aristotelis, welcher lehret, daß ein Poët mehr ist durch seine Verziehrungen / wel-

des Menschen, der sich über die Grenzen seiner Möglichkeiten hinwegzusetzen versucht. Zur Verwendung der Begriffe Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit, Glaubwürdigkeit bei Aristoteles vgl. Kloss: Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, S. 160–183. 683 Pierre Daniel Huet: Traité de l’Origine des Romans. Faksimiledrucke nach der Erstausgabe von 1670 und der Happelschen Übersetzung von 1682. Mit einem Nachwort von Hans Hinterhäuser. Stuttgart 1966, S. 4f. (frz.), S. 104 (dt.). Französisches Original und Happels Übersetzung werden im Folgenden parallel aus dem Faksimiledruck als Huet u. Happel: Traité zitiert. 684 Huets Traité erscheint als Vorrede zu Marie-Madeleine de La Fayettes Roman Zayde (1670), der durch die Vorrede theoretisch reflektiert und poetisch gerechtfertigt wird. 685 Aristoteles: Poetik, S. 29. 686 Huet spricht vom „Poeten“, „le Poëte“, bezieht sich aber auf den Roman der preziösen Autorin La Fayette. Happel übersetzt „der Roman-schreiber“, Huet u. Happel: Traité, S. 6, 105.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

che er erdenckt […]. Deßwegen man die Roman-schreiber auch unter die Zahl der Poëten nennen könte.“687 Das ‚Erdenken‘, die Gestaltung des fiktional Möglichen, wird betont, um den Roman und die Tätigkeit des Romanschreibens aufzuwerten. Obwohl vom männlichen Poeten die Rede ist, profitiert davon die schreibende Autorin. Ihre Romane, die einerseits nichts weiter sind als erfundene Geschichten, sind andererseits gerade wegen der Erfindung Teil der Poesie, und sie übertreffen (wenn man mit Aristoteles’ Argumentation vertraut ist) sogar das Werk des Historikers. Aus dieser ambivalenten Aufwertung von Roman, weiblicher Autorschaft und poetischer Erfindung (Fiktion) ergibt sich in Huets Traité eine weitere Konsequenz, Wahrheit oder Falschheit des Romans betreffend. Während Aristoteles das Mögliche, die Erfindung, ausschließlich in Relation zur „Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit“ bestimmt, bringt Huet die Kategorie der Wahrheit ins Spiel.688 Huet ist der Ansicht, dass sich in die Arbeit des modernen Romanciers bzw. der Romanschreiberin in „gewissen Theilen“ etwas „Wahres“ mische: Die Romanen […] sind in gewissen Theilen wahr / und im gantzen oder in Genere falsch [veritables dans quelques parties, & faux dans le gros]. […] [Sie] sind falschheit mit warheit vermischet [faussetez meslées de quelques veritez]. Ich kan wohl sagen […] daß die Falschheit dergestalt in den Romanen herschet / daß sie falsch heissen mögen im gantzen wesen / und zertheilet [que la fausseté prédomine tellement dans les Romans, qu’ ils peuvent mesme estre entierement faux, & en gros & en détail].689

Obwohl der Roman Erfindung, obwohl er „in Genere falsch“ ist, bringen Poet oder Poetin mit der Erfindung etwas zur Anschauung, das im Rahmen der Fiktion und in gewissen Teilen ‚wahr‘ sei. Obwohl dieser Wahrheitsbegriff nicht genauer präzisiert wird, lässt sich schließen, dass Huet auf eine moralisch-pragmatische Wahrheit zielt: „la lecture des bons Romans […] enseigne la Morale plus fortement & mieux“; Happel übersetzt, der Roman könne als „Sittenkunst“ wirksam werden.690 Genauer noch: Insbesondere in Bezug auf die Liebe vermag der Roman jungen Menschen die Augen zu öffnen ‒691 der Wahrheitsbegriff verbindet sich mit dem Liebessu687 Ebd.,

S. 105. stellt Andreas Kablitz fest, dass in der italienischen Aristoteles-Rezeption der Frühen Neuzeit „das Wahrscheinliche nicht nur, ja nicht mehr vorrangig in Relation zur Notwendigkeit – wie in der [Aristotelischen] Poetik selbst – betrachtet wird, sondern in Bezug zur Wahrheit gerückt wird. […]. Bei Aristoteles selbst blieb dieser Gesichtspunkt letztlich belanglos“, Andreas Kablitz: Mimesis versus Repräsentation. Die Aristotelische Poetik in ihrer neuzeitlichen Rezeption. In: Aristoteles. Poetik. Hg. v. Otfried Höffe. München 2010, S. 215–232, hier S. 226f. 689 Huet u. Happel: Traité, S. 8f. (frz.), S. 106 (Happels Übersetzung). 690 Ebd., S. 96, 158. 691 Auf den Vorwurf, der Roman reize zu Liebesabenteuern, erwidert Huet: „Je répondray que non seulement il n’est pas perilleux, mais qu’il est mesme en quelque forte necessaire que les jeunes personnes du monde connoissent cette passion [l’amour], pour fermer l’oreilles à celle que est criminelle, & pouvoir se démesler de ses artifices.“ Übersetzung Happel: „[S]o antworte ich hierauff / daß es nicht allein nicht gefährlich / sondern vielmehr einiger massen nothwendig ist / daß die jungen Leute diesen Affect [der Liebe] kennen / umb die Ohren zu verschliessen vor 688 Ähnlich

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

203

jet. Einerseits mehr Erfindung als wahre Historie, andererseits auf eine nicht-fiktive Wahrheit zielend, stärken Huets Romanbegriff respektive Happels Übersetzung die texttranszendierende Dimension der Erzählung. Der Aussagemodus des Romans verortet sich in der Chimäre von ostentativer „Falschheit“ (Erfindung) „vermischet mit Wahrheit“ im Sinne erfundener, wahrer Aussagen. In Deutschland findet Huets Traité durch die Übersetzung von Happel Verbreitung und wird zunächst von Christian Thomasius im Gespräch über Romane (1688) aufgenommen (Kapitel 3.3.2.3). Wie Happels Übersetzung „der Roman-schreiber“ schon andeutet, findet die geschlechterspezifische Dimension in Deutschland kaum Beachtung. Autoren und Theoretiker vernachlässigen den Auslöser der Romandiskussion in Frankreich ‒ die weibliche Autorschaft ‒ und konzentrieren sich ausschließlich auf die Gattungsdiskussion. Der epistemische Status des Romans bleibt weiterhin schillernd. Thomasius schließt an die Kategorien wahr/wahrhaftig versus erfunden an. Im Bemühen zu beweisen, dass die Fähigkeit etwas zu „erfinden“ und zu „erdenken“ mehr Kunstfertigkeit erfordert, als die bloß wiedergebende Berichterstattung des Historikers, argumentiert Thomasius im Sinne seiner Vorgänger: „[B]ei wahrhafftigen Historien braucht der Historicus keine Kunst etwas zu erfinden / sondern nimmt die Geschichte wie er sie antrifft / und befleißiget sich nur in der Beschreibung seinen Verstand sehen zu lassen“.692 Der Poet hingegen verfüge über weitere Kompetenzen – die Gegen­stände der Historie gibt er nicht nur wieder, sondern ergänzt und überformt sie durch eigene „Erfindungen“. Thomasius favorisiert die kreative Tätigkeit des Poeten: Aber derjenige / so einen Roman schreibet / muß nicht allein die Geschicklichkeit eines Historici darhun / sondern er muß auch über dieses das Werck und den Grund der Historie entweder selbst aus seinem Kopff erdencken / oder / wenn er sich ja der wahren Historie mit bedienet / die Umstände derselben mit seinen Erfindungen so genau zu verknüpffen wissen / daß solche nicht alleine dem Leser […] / so die Historie weiß / wahrscheinlich vorkömmet / sondern / daß auch einer der der wahren Historien unkündig / nicht mercken kan / das ertichtete von dem wahrhafftigen zu unterscheiden [Hervorh. K.B.].693

Thomasius übernimmt von Aristoteles und Huet die Lizenz der Dichtung, das wirklich Geschehene zu gestalten und es mit der Erfindung zu vermengen. Der Dichter „erdenkt“ Geschichten, kann aber auch auf tatsächliche Ereignisse zurückgreifen und sie in die Fiktion einfließen lassen. Wichtiger als historiografische Wahrheit oder Korrektheit ist die „Wahrscheinlichkeit“, denn nur was wahrscheinlich sei,

denen / die da sündhafftig ist [sic] / und daß sie mögen wissen / wie sie sich auß ihren listigen Fall=stricken erretten.“ Es gäbe daher „nichts / welches den Verstand so sehr schärffet / noch so wohl dienet die Menschen zu formiren […] / alß die guten Romanen“; „que rien ne déroüille tant l’esprit […] que la lecture des bons Romans [Hervorh. K.B.]“, Huet u. Happel: Traité, S. 95f., 157f.; vgl. hierzu Anm. 584 in Kap. 3.3.2.3 (Thomasius über die lasterhafte Figur). 692 Thomasius: Scherz- und Ernsthafte Gedanken, S. 109. 693 Ebd.

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

kann eine Ähnlichkeit zu wahren Aussagen haben. Thomasius nimmt das Wahrheitskriterium von Huet auf und ästhetisiert es. Die Romangestaltung bietet einen Aussagemodus an, der nicht auf ‚wahre‘ Aussagen zielt, sondern Poesie bedeutet etwas zu „dichten daß der Wahrheit ähnlich sey“.694 Der Roman vermittelt eine eigene (ästhetische) Wahrheit. Letztlich stärkt Thomasius die Position des Dichters: Die Kunstfertigkeit des Romanciers bemisst sich gerade daran, ob er Wahrhaftiges und Erdichtetes so wahrscheinlich gestaltet, dass die Leser nicht mehr unterscheiden können, wo Erfundenes und Wahres beginnen oder enden. Die Kompetenz des Romandichters zeigt sich gerade in der Fähigkeit, die Unterscheidbarkeit von Historie und Fiktion aufzuheben. Mit dieser Neuakzentuierung verbinden sich entscheidende Konsequenzen für die Gattungsentwicklung. Der Roman verortet sich explizit im Rahmen der Fiktion, doch sein Gegen­standsbereich erstreckt sich auch auf die Historie im Sinne wahrhaftig-wirklicher Ereignisse oder Personen. Nicht nur mythische, allegorische oder historische Persönlichkeiten und Begebenheiten bestimmen das Sujet, sondern vor allem „Liebes=Geschichten“, wie sie Huet und Thomasius aus den Romanen preziöser Autorinnen kennen.695 Im kreativen Umgang mit diesen Stoffen und Materien zeigt sich für Thomasius die Kunstfertigkeit des Dichters. Allerdings darf die Erfindung (inventio) des Poeten weder bei Thomasius, Huet noch Aristoteles im Rahmen ungezügelter Fantasie vonstatten gehen – Wahrscheinlichkeit, Glaubwürdigkeit oder Notwendigkeit strukturieren und beschränken die Fiktion. Ambivalent wirkt indes, dass Thomasius eine Form der Lektüre favorisiert, die als vollkommen freie Rezeption und wertneutraler ästhetischer Genuss stilisiert wird (auch wenn sie konzeptionell nicht so gemeint sein mag). Der Leser, so Thomasius, beziehe ein Vergnügen an der Lektüre weniger aus dem dargestellten Inhalt als vielmehr aus den „inventionen“ des Dichters, aus den Erfindungen und der Art und Weise, wie der Autor die Geschichte formalästhetisch aufbaut und verknüpft.696 In letzter Konsequenz bedeutet dies, so räumt Thomasius selbst ein, dass „ich mich auch an andern Romainen, welche eine unerbare Liebe vorstellen, belustige“, solange ihre poetische „Machart“697 vergnügt: [M]eine Belustigung bestehet so dann nicht an der Liebe [am Inhalt, der Materie], die in denen Historien fürgestellet wird, sie mag ehrlich oder unehrlich seyn, denn ich bin in der Historie nicht mit eingemischet, und habe also kein Theil an dem Hauptwerck, das darinnen fürgestellet wird, sondern ich finde mein Vergnügen in denen artigen inventionen, die von denen Authoren in dergleichen Geschichte mit guter Manier eingemischet seyn, wenn solche etwas sonderbares

694 Ebd.,

Hervorh. K.B. S.  110. Zu Thomasius’ Scudéry-Rezeption vgl. Kap. 2.3 Mehrdimensionales Gattungskonzept. 696 Thomasius: Scherz- und Ernsthafte Gedanken, S. 92. 697 Ebd., S. 91, 92. 695 Ebd.,

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

205

und ungemeines mit sich führen, und doch zugleich einige Wahrscheinlichkeit bey sich haben [Hervorh. K.B.].698

Der Leser, der selbst nicht Teil der Geschichte ist, kann die Fiktion frei von (moralischer) Betroffenheit verfolgen, er ist in sie nicht involviert. Solch eine Distanz von Leser und Text erlaubt es, sogar unehrliche (moralisch bedenkliche) Elemente in die Fiktion zu integrieren, denn „ob ich gleich in den Romains theils honnéte Liebes=Geschichten, theils auch scheltenswürdige Galanterien antreffe; so affectiret mich doch keines von beyden […], sondern ich suche bloß meine Belustigung in des Autoris Klugheit, die er in Verfertigung des Wercks hat spüren lassen“, an den „ingenieusen inventiones“ des Autors.699 Der Poet zeigt seine „Klugheit“, indem er durch die poetische „Machart“, durch Arrangement und Umgang mit Stoff und Form, Scharfsinn und Kreativität beweist, an der sich die Leser „belustigen“.700 Junge galante Autoren scheinen solche poetologischen Bestimmungen eigenen ästhe­tischen Interessen gemäß auszulegen. Huet und Thomasius hatten den Roman und die Tätigkeit des Romanschreibens bereits aufgewertet und grundsätzlich auch die Lizenz zum Erfinden betont. Damit eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten für das poetische Experiment, den Scherz oder die ästhetische Provokation. Alles, was im Roman erzählt wird, ist erfunden, kann aber genauso gut auch als ‚wahre‘ Geschichte erzählt werden. Galante Autoren nutzen die Erfindung (inventio), um das eigene Schreiben im ‚unernsten‘ Bereich der Fiktion zu verorten, ihre Schriften von der gelehrten Publizistik abzugrenzen und sich dadurch schadlos zu halten – eine Argumentation, die schon Huet bemüht hatte, um die weibliche Autorschaft zu legitimieren. So entschuldigt sich der Beständige T. im Vorwort der Albanischen Sulma (1698), er habe sich bemüht, „mehr meine eigene Invention (obschon einfältig[er] / als wahrhaffte Historien) zu suchen“.701 Die Erfindung wird betont und gleichzeitig abgewertet (Bescheidenheitsformel). Im Sinne Thomasius’ demonstriert der Autor, wenn er der eigenen inventio folgt, dennoch Klugheit und Kunstfertigkeit, ohne dass der Text mit der gelehrten Publizistik konkurriert, denn erzählt würde ja keine ‚wahre‘ Geschichte, mit der sich der Autor auf dem Gebiet der Historie beweisen müsste. Gleichwohl schwingen Assoziationen zur wahren Historie und Sittenlehre mit, denn die Aussagen dienen auch einer satirischen Spitze: Die eigene Erfindung sei notwendig gewesen, „Damit es nicht das Ansehen gewinne / als solten ein oder

698 Ebd.,

S. 91f. S. 93, 92. 700 Thomasius legt keine identifikatorische, sondern vielmehr eine sehr distanzierte Lektüre nahe, ganz anders als in der Romandiskussion des 18. Jahrhunderts. 701 [anonym] Der Beständige T.: Die Albanische Sulma, in einer wohlständigen und reinen Liebes=Geschichte samt andern mit einlauffenden artigen Begebenheiten und beygefügten Brieffen Zu vergönnter Gemüths=Ergötzung an das Licht gebracht / durch den Beständigen T. Cölln: Peter Marteau 1698, Vorrede unpag. [A 7a]. Zur Romanproduktion des Autors vgl. Kap. 4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper in Die Versteckte Liebe im Kloster (1694). 699 Ebd.,

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

die andern darmit beschämet werden / wenn man unter verdecktem Nahmen ihre Irrthümer der Welt zeigen wolle.“702 Zur gleichen Zeit erscheinen aber auch galante Romane, die sich von der Fiktion abgrenzen.703 Bohse/Talander versichert in der Vorrede der Liebenswürdigen Constantine (1698): „Ich gebe allhier zu dessen [des Lesers] Vergnügung eine Liebes=Geschichte heraus / die mit desto mehrerer Anmuth sich wird lesen lassen / ie gewisser deren Inhalt auff eine wahrhafftige Historie dieser Zeit sich gründet“.704 Und er ergänzt: „Wenn man sonst Romainen machet / so erdichtet man die Umstände […]; Allhier aber ist alles beygetragen / wie es nach der heutigen gefälligen Manier in einer wahrhafftigen Praxis möglich gewesen / und täglich also practiciret wird“.705 Galante Autoren spielen mit dem epistemischen Status des Romans zwischen Historie und Fiktion. Aussagen zum eigenen Text werden bewusst offen gehalten, fiktionaler oder faktualer Gehalt der Darstellung je nach Gusto variabel bestimmt. Von Thomasius und Aristoteles übernehmen junge Autoren die Freiheit der Dichtung, Gegenstände der Historie zu gestalten und das Verhältnis von Möglichem und Wirklichem zu variieren. So kann der Roman das, was hätte geschehen können, als etwas ausgeben, das wirklich geschehen ist (Bohse: „wie es nach der heutigen Manier […] möglich gewesen / und täglich also practiciret wird“).706 Genauso kann das, von dem behauptet wird, dass es wahrhaftig passiert sei, dazu benutzt werden, um es im Rahmen der Fiktion erst als möglich erscheinen zu lassen. Entscheidend ist, dass die Referenz des Möglichen nicht mehr (wie bei Aristoteles, Huet und Thomasius) in einem übergeordneten und scheinbar allgemeinverbindlichen Prinzip des Wahrscheinlichen, Notwendigen oder Glaubwürdigen gesucht wird, sondern schlicht in der „heutigen gefälligen Manier“ und „wahrhafftigen Praxis“ (Bohse).707 Olaf Simons hat vorgeschlagen, die Unterscheidung zwischen Historie und Fiktion bzw. die graduellen Abstufungen von Realitätszuschreibung mit Blick auf private und öffentliche Sphären zum Ausgangspunkt einer galanten Romantypologie zu machen.708 Obwohl diese Perspektive aus medientheoretischer Sicht höchst interessant ist, da sie sich aufs engste mit den historischen Bedingungen medialer Fiktionalisierung verbindet, soll sie an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. Der vermeintlich wahre oder erfundene Aussagegehalt galanter Romane ist kaum verifizierbar, der Fiktionsbegriff galanter Autoren noch zu ungeklärt. Die vorliegende Arbeit schlägt daher vor, auf funktionale Aspekte der Gattungspraxis zu achten.

702 Der

Beständige T.: Albanische Sulma, Vorrede, unpag. [A 7af.]. Kap. 3.4.2.1 Weiblichkeitsnarrative zwischen Erfindung und Authentizitätsfiktion. 704 Talander: Liebenswürdige Constantine, Vorrede An den Leser, unpag. [A 1b]. 705 Ebd., unpag. [A 3bf.]. 706 Ebd., unpag. [A 4a]. 707 Ebd. 708 Simons: Marteaus Europa, S. 194–199. 703 Weiterführend

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

207

Welche Hinweise liefern die Texte zu Pragmatik und Umgang galanter Autoren mit dem Roman? Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass der Topos der „Sittenlehre“ immer wieder auftaucht und sich mit dem Verlachen bzw. der Belustigung am Laster verbindet, also einer Darstellung der Tugend ex negativo (Kapitel 3.3.2.3). Die Satire ist in der poetischen Tradition ein bekanntes Mittel, um Tugend und Laster zu gestalten und die Leserschaft zur Besserung zu animieren, wie Spott- und Satireschriften, Epigramme, Komödien oder Tugend-Laster-Spiegel der Frühen Neuzeit zeigen.709 Galante Autoren nehmen diese Traditionen auf und behaupten immer wieder, auch mit dem Roman eine Form von „Wahrheit“,710 „Weißheit“,711 „Erkäntniß“712 zu verbinden. Diese Aussagen sollten indes weniger als Hinweis zum epistemischen Status der erzählten Inhalte, Figuren, Szenen im Roman gedeutet werden, sondern sie lassen vielmehr eine pragmatisch-poetologische Absicht erkennen, zu der Bohses Vorwort der Unglückseelig Verliebten (1697) einen Hinweis gibt. Wie schon andernorts betont der Autor, dass es „nicht iedesmahl“ [sic] um „blosse Possen=Spiele“ ginge, sondern auch um „Sitten=Lehren“.713 Vor dem Hintergrund einer Poesie zwischen Scherz und Ernst wird nun die Ambiguität einer Konzeption des galanten Romans als Sittenlehre deutlich: Um als Sittenlehre erkenn-, legitimierund einsetzbar zu sein, wird einerseits eine starke Referentialität zur extratextuellen Lebenswelt aufgebaut („heutige Manier“ und „wahrhaftige Praxis“), andererseits kommt das Gestaltungsprinzip der Satire, die Darstellung der Tugend ex negativo, zur Anwendung. Oder wie Talander erklärt: Ich habe itzo das letztere [die Sittenlehre] erwehlet / doch also / daß die Verliebten ihre Persohnen nach denen ihnen beywohnenden Affecten deutlich genug aufführen. So ich einiger ihrer Laster […] hervor suche / wird mir es umb desto leichter können vergeben werden / da ich es denen Lebenden zur Warnung gethan. Machen doch auch die Aerzte aus denen Mumien die köstlichsten Artzeneyen / und die Todten müssen / zur Gesundheit der Krancken / ihre Hirnschalen beytragen. Warum sollte man die schadhafften Seelen nicht auch durch die Exempel der Mißlungenen üblen Thaten […] zur Genesung bringen [Hervorh. K.B.].714

Um zur Gesundheit zu gelangen, müssen die lebenden Kranken die Hirnschalen der Toten essen; sie müssen aus den Fehlern der fiktiv-leblosen Gestalten lernen,

709 Helmut

Arntzen: Satire in der deutschen Literatur. Geschichte und Theorie. Darmstadt 1989; Barbara Könneker: Satire im 16. Jahrhundert: Epoche – Werk – Wirkung. München 1991; Herbert Jaumann: Satire zwischen Moral, Recht und Kritik. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Satire im 17. Jahrhundert. In: Simpliciana 13 (1991), S. 15‒27. 710 Talander: Liebenswürdige Constantine, Vorrede An den Leser, unpag. [A 4b]. 711 Menantes: Allerneueste Art Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen, Vorrede, unpag. [A 10a]. 712 Der Beständige T.: Albanische Sulma, Vorrede unpag. [A 7a]. 713 Talander: Schauplatz der Unglückselig=Verliebten, Vorrede unpag. [A 2b]. 714 Ebd., unpag. [A 2b–3b].

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

um selbst gesunden zu können, so Bohses radikales Bild.715 Solch eine Konzeption von Poesie setzt Leser voraus, die das Darge­stellte weniger als mimesis, als Nach­ ahmung, verstehen, sondern es mit dem Wirkungsprinzip der Satire decodieren, d.h. die Darstellung ex negativo zu entschlüsseln vermögen. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (um 1622–1676) hatte das Wirkungsprinzip der Satire bereits auf den barocken Abenteuer- und Schelmenroman übertragen und, wenn auch weniger drastisch, die Metapher der Poesie als Arznei bemüht.716 Grimmelshausen ging es darum, der Leserschaft die „bittre Wahrheit“ von Tugend und Laster durch die „verzuckerte Pille“ der poetischen Satire zu verabreichen. Für galante Autoren indes scheint die gesamte „heutige Welt“ zur „bittren Wahrheit“ zu werden. Was der Roman vorgibt, der Welt zu entnehmen, um es zu neuer Gestalt zu transponieren, muss daher ‚bitter‘ sein, kann aber auch belacht werden. Erneut wird deutlich, wie versatzstückhaft der Umgang galanter Autoren mit poetischen Traditionen ist: Das formalästhetische Prinzip der Satire wird auf den Roman übertragen, mit Wirkungskonzepten der Sittenlehre kompiliert und gleichzeitig in einer Poesie entfaltet, die dem Vergnügen dient und zwischen Scherz und Ernst laviert. Vor dem Hintergrund einer Poesie zwischen Scherz und Ernst wandelt sich die Sittenlehre im galanten Roman zur schalkhaft-vergnüglichen Sittenkritik.717 Dass dabei Ambivalenzen entstehen können, liegt auf der Hand: Nämlich wenn Leser und Leserinnen nicht wissen, wie sie diese Art von Dichtung zu decodieren haben. Vorausgesetzt wird eine Leserschaft, die unterschiedliche Rezeptionsstrategien beherrscht und sie am galanten Roman anwenden kann, d.h. Tugend/Laster/Satire ex negativo zu erkennen; Historie und Fiktion in Bezug auf die Textform (Gattung Roman) versus den dargestellten Inhalt (erzählte Geschichte) zu differenzieren; das Dargestellte teils als warnende Satire, teils als mimesis im Sinne der Nachahmung einer „heutigen Welt“ zu deuten und dabei beständig zwischen Scherz und Ernst zu wechseln. Ungeklärt ist in diesem Zusammenhang, welchen Prinzipien die romaninterne Textgestaltung folgen soll, denn dies bleibt weitgehend dem jeweiligen Autor, den Fähigkeiten und Grenzen seiner poetischen inventio überlassen. Und wer oder was wird im Rahmen der schalkhaft-vergnüglichen Sittenkritik in welchem Grade verlacht, verspottet, diskreditiert? Wer ist Lachende(r), wer Belachte(r)? Bevor diese Fragen aus genderkritischer Sicht diskutiert werden, lässt sich festhalten, dass der galante Roman mit textuellen Mitteln eine starke extratextuelle Referentialität aufbaut, die Bedingung dafür ist, um den Text (formal) als Sittenlehre

715 Ähnlich

Hunold in Bezug auf die Poesie: „Also verzuckern kluge Aertzte ein heilsames Mittel durch einen süssen Safft / damit der Krancke durch die Bitterkeit des Geschmacks nicht abgeschreckt werde“, Menantes: Allerneueste Art zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen, Vorrede, unpag. [A 11b]. Dies diene der „Erbauung der Menschen“ (ebd., unpag. [A 10a]). 716 Urs Herzog: Der deutsche Roman des 17. Jahrhunderts. Eine Einführung. Stuttgart 1976, S. 76. 717 Was nicht notwendig heißt, dass dies auch in anderen galanten Gattungen der Fall ist; dies wäre in Zukunft zu überprüfen.

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

209

codier- bzw. dechiffrierbar zu machen ‒ unabhängig davon, wie dieses ‚Labeling‘ nachträglich erfüllt wird. Das Changieren des galanten Romans zwischen Historie und Fiktion kann somit als poetologische Rahmung und ästhetische Strategie gewertet werden, die es erlaubt, im Modus der Fiktion scherzhaft Kritik zu formulieren, die ‒ obschon poetisch generiert ‒ nicht auf die ästhetische Sphäre beschränkt bleiben soll, sondern den Text transzendiert. Konzeptionell kann dies umgesetzt werden, wenn der Roman eine prinzipielle Referentialisierbarkeit zur extratextuellen Lebenswelt ermöglicht („heutige Welt“), deren Gegenstände er romanintern zu neuer Gestalt transponiert („Erfindung“).718 Doch erst in der poetischen Praxis konkretisiert sich die galante Sittenkritik, indem sie fiktional gestaltet wird. 3.4.1.3 Hunold: Satyrische Schreib-Art (1706) Besonders drastisch nutzt einige Jahre später Christian Friedrich Hunold alias Menantes den Roman für die Satire, die er zugleich als allgemeine Sittenkritik konzipiert. Mit seinem Satyrischen Roman (1706) landet er einen furiosen, wenn auch nicht unumstrittenen Erfolg (Kapitel 3.4.2.3). Stärker noch als Bohse nimmt Hunold die Freiheit der poetischen „Erfindung“ in Anspruch, um das Liebessujet mit lasterhaften oder frivolen Darstellungen zu verbinden und sie gleichsam als „wahre“ Begebenheiten auszugeben. Er entwirft eine Dichtung, in der die Grenzen zwischen Historie und Fiktion, wahrhaftiger und erfundener Erzählung, bewusst verschwimmen und mit der Satire eine hochexplosive Mischung eingehen. In seinem Frühwerk erhebt Hunold das Changieren zwischen Historie und Fiktion zum poetischen Prinzip der sogenannten „Satyrischen Schreibart“ und des „Satyrischen Romans“. Simons deutet Hunolds Schriften als „private Skandalromane“;719 auch Rose sieht das „poetologische Zentrum“ des Satyrischen Romans in der „unklaren Abgrenzung von Satire und Pasquill“,720 d.h. in einer poetischen Praxis, die als Satire auf eine allgemeine Beschreibung und Verspottung des Lasters ziele, als Pasquill aber konkret „die Leute in ihrem ehrlichen Nahmen an[tastet]“, wie es in zeitgenössischen Schriften heißt.721 Galanten Autoren wie Hunold komme die „unscharfe Trennung von Satire und Pasquill“ entgegen, so Rose, „da sie sich auch als Legitimationsstrategie für eine Textproduktion nutzen ließ, die in galanten Konflikten auf konkrete

718 Ähnlich

Roses formallogische These der Modell- und Modellierungsfunktion galanter Texte und galanter Conduite, die eine prinzipielle Referentialisierbarkeit ermöglichen, stets aber in „spezifischer Differenz“ aktualisiert werden, Rose: Conduite und Text, S. 7‒13, 167‒170. Ungeklärt bleibt dennoch, ob der satirisch unterminierte Text tatsächlich eine ‚Modellfunktion‘ für die galante Conduite einnehmen soll respektive kann. 719 Simons: Marteaus Europa, S. 295, 325–329. In seiner Romantypologie ordnet Simons Hunolds Romane in den „niederen“ Bereich der „wahren Historien“ ein mit offenen Grenzen zu Texten, die „vorgeblich erfundene Geschichten, tatsächlich aber ‚wahre‘ Historien von Privat-Affairen“ sind (ebd., S. 194). 720 Rose: Conduite und Text, S. 105. 721 Ebd., S. 102.

210

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Personen abzielte.“722 Im Folgenden interessiert weniger der Authentizitätsgrad der Darstellung als vielmehr Hunolds konzeptioneller Zugriff auf die Gattung und sein Entwurf einer satirischen Schreibart. Allerdings spielt der Entstehungskontext für Hunolds Auffassung von Poesie eine wichtige Rolle. Der Satyrische Roman erregte gerade deswegen soviel Aufmerksamkeit und Protest, weil die Leser in den Protagonist(inn)en realhistorische Personen und Liebesaffären vermuteten. Hunolds Briefe sowie die Biografie seines Freundes und Verlegers Benjamin Wedel bestätigen diese Deutung. Da es sich um ergänzende, biografische Epitexte handelt, werden diese Quellen verwendet, auch wenn Vorsicht geboten ist, da es sich um Zeugnisse einer inszenierten Autorschaft handelt, bestimmt für die Publikation. Nachdem Hunold 20-jährig vor seinen Gläubigern von Jena nach Hamburg geflüchtet war, findet er in der Publikation von Romanen, Vorträgen zur Poesie und dem Verfassen von Opern­libretti ein neues Betätigungsfeld. Als Librettotexter für die Hamburger Oper am Gänsemarkt kam der Dichter auch mit dem weiblichen Opernpersonal in Kontakt, wie Wedel berichtet: Bey dieser Gelegenheit [der Arbeit für die Hamburger Oper] wurde unser Herr Menantes mit denen Opern=Printzessinnen bekandt. Sein verliebtes und zu galanterien geneigtes Naturell, fande hier einen Sammel=Platz von den feinsten und durchtriebensten Damen, denen es weder an Schönheit noch Verstande mangelte; darunter [er] / die berühmte Mademoiselle C.*** praetendirte [Anspruch auf sie erhob] / und auch durch die Menge ihrer Anbeter behauptete.723.

Im Satyrischen Roman soll Hunold private Erfahrungen mit zwei Hamburger Opernsängerinnen verarbeitet haben. Es handelt sich um die damals berühmte Operndiva Conradi (in Wedels Biografie Mademoiselle C.***, im Satyrischen Roman dargestellt in der Figur der Caelia) und um die Sängerin Madame R*** (vermutlich die Hamburger Opernsängerin Rischmüller; im Roman Arismenia).724 Über eine Ver-

722 Ebd.

723 Wedel:

Geheime Nachrichten, S. 76. zur Hamburger Oper oder zum deutschen Opernwesen nennen die sogenannte „Conradi“ als eine der ersten und bekanntesten deutschen Opernsängerinnen um 1700, Annemarie Krille: Beiträge zur Geschichte der Musikerziehung und Musikübung der deutschen Frau (1750–1820). Berlin 1938, S. 97; Ernst Otto Lindner: Die erste stehende Deutsche Oper. Berlin 1855, S. 47–49; Arrey von Dommer: Die deutsche Oper in Hamburg zu Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts. Im Athenäum zu Hamburg gehaltene Vorlesung. In: Allgemeine Musikalische Zeitung 14 (1864), S. 235; Eduard Devrient: Die Oper. In: Ders.: Geschichte der deutschen Schauspielkunst. Bd. 1. Leipzig 1848, S. 269‒285, hier S. 282. Die Allgemeine Deutsche Biographie vermerkt: „Demoiselle Conradin’ (die schöne Conradine), eine der ersten berühmt gewordenen deutschen Sängerinnen und zu ihrer Zeit hoch gefeiert. Sie war die Tochter eines Barbiers zu Dresden und stand von 1690–1709 bei der Hamburger deutschen Oper, besonders ausgezeichnet durch Schönheit, Simme und Action, während es mit ihren musikalischen Kenntnissen so schwach bestellt war, daß sie kaum eine Note kannte und [Johann] Mattheson ihr alles so lange vorsingen mußte, bis sie es auswendig behalten hatte. Im August 1705 sang sie auf der Braunschweiger Bühne, wurde 1706 auch nach Berlin berufen und starb als Gräfin Gruzewska gegen 1720. Der Umfang ihrer Stimme betrug nach Mattheson (handschriftliche Nachträge zur

724 Publikationen

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

211

bindung zur Conradi ist wenig bekannt, vielmehr soll Hunold „seine Affection auf die berühmte Sängerin / Madame R***“ gewandt haben, „welche zwar nicht so schöne als die C.*** doch am Verstande die Andern alle übertraff“.725 Hunold habe mit ihr in „grosser Vertraulichkeit“ verkehrt.726 Briefkorrespondenzen mit Madame R*** und anderen Personen weisen darauf hin, dass der Kontakt auch nach dem Bruch des Liebesverhältnisses aufrecht erhalten blieb.727 Während der Hamburger Zeit (1700‒1706) verfasste Hunold den Satyrischen Roman, der nach Aussage Wedels durch die amourösen Begegnungen des Autors inspiriert ist: „Er [Hunold] arbeitete heimlich an den Satyrischen Roman, der durch diese verliebte Bekandtschafft ausgebrütet worden und so viel üble Suiten für Beyde [Hunold und Madame R*** bzw. Conradi] nach sich gezogen.“728 1706 erscheint der Satyrische Roman auf der Leipziger Ostermesse, „wohin man etliche 100 Exemplaria gesandt / welche reissend obgiengen / und der Verleger sich über dieses gute Glück erfreuete“.729 Indes verursachte die Publikation einen der­ artigen „Alarm in Hamburg“,730 dass sich Hunold genötigt sah, die Stadt zu verlassen. Da man in Hamburg glaubte, die Conradi im Roman dargestellt zu sehen, setzten deren Bruder und etliche Verbündete ein Kopfgeld auf Hunold aus und ließen nach ihm fahnden.731 Laut Rose sind solche Reaktionen nur möglich, „wenn dem Text eine Referentialität auf tatsächliche Geschehnisse unterstellt werden konnte“.732 Sie zeigen aber auch, dass das reine „Vergnügen an der Machart“ (Thomasius) bzw. die Decodierung der Laster-Darstellung als positive Sittenkritik (Bohse) keineswegs als habitualisierter Rezeptionsmodus gelten. Die historische Leserschaft rezipierte

Ehrenpforte) zwei Octaven und eine Quart, nämlich vom kleinen a bis zum dreigestrichenen d“, Arrey von Dommer: Art. Demoiselle Conradi. In: Allgemeine Deutsche Biographie 6 (1876), S. 444. Die Hamburger brachten die Protagonistin Caelia aus Hunolds Satyrischen Roman mit der Conradi in Verbindung, wie Benjamin Wedel in seiner Hunold-Biografie berichtet, Wedel: Geheime Nachrichten, S. 95. Über Madame R*** sind keine Angaben bekannt, doch erwähnen die Publikationen im Zusammenhang mit der Conradi stets eine Kollegin, die Hamburger Opernsängerin Rischmüller, hierzu Lindner: Die erste stehende Deutsche Oper, S. 49; Devrient: Die Oper, S. 282. Auch Wedel: Geheime Nachrichten, S. 76f. erwähnt Madame R*** als eine Konkurrentin der Conradi an der Hamburger Oper. Wie ein Brief Hunolds an Wedel vom 18.12.1707 bezeugt, gestaltet der Autor Madame R*** im Satyrischen Roman in der Figur Arismenia (ebd., S. 144). 725 Ebd., S. 77. 726 Ebd., S. 78. 727 Ebd., S. 77, 120, 122, 130, 133, 135, 139f., 144, 149, 157. 728 Ebd., S. 78. 729 Ebd., S. 92. 730 Ebd., S. 95. 731 Ebd., S. 96. In der Korrespondenz mit Wedel kommentiert Hunold diese Nachricht lakonisch: „Daß aber ein Schelm […] in Leipzig ausgesprengt / es wären 50. Reichs=Thaler auf mich gesetzt / wer mich angeben könne / verdreut mich am meisten deswegen / weil ich das Geld selber am liebsten verdienen wollte / wann ich köndte“ (ebd., S. 94f.). 732 Rose: Conduite und Text, S. 90.

212

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

den Text offenbar als „Historie“. Hunold verlässt daher fluchtartig Hamburg und setzt sich, ohne Nachricht an die Geliebte R***,733 von Harburg über Celle, Braunschweig und Wolfenbüttel in seine Heimat Wandersleben ab, „wo er für seinen Feinden am sichersten zu seyn vermeinte“.734 Musste der Roman bereits aufgrund der erotischen Freizügigkeiten einen Skandal provozieren,735 so bezeugt die Vorrede, mit welcher Selbstverständlichkeit Hunold/ Menantes sein galantes Schreiben betreibt. Im Paratext scheint er die Unannehmlichkeiten zu antizipieren, die ihm die Publikation einbringen würde. Er geht in die Offensive, indem er dem Publikum seine „auffrichtige Meynung von den Satyren“ unterbreitet und die Darstellung des Lasters zum Anliegen der satirischen Schreibart erklärt.736 Das Liebessujet wird dabei explizit mit den „Schwachheiten der Liebe“ (amour-passion), dem Laster und der poetischen Überformung erotischer Inhalte in Verbindung gebracht, die Menantes zur bissigen Satire zuspitzt: [Satyren] sind nichts anders, als eine Durchziehung der Laster der Welt, welche man an statt einer ernsthafften mit einer lächerlichen und ungeheuchelten Manier abzuschildern bemühet ist; und weil in der Liebe die grösten und possierlichsten Schwachheiten vorgehen, so kan es einem wohl selten an Materie in Satyrischen Romanen mangeln [Hervorh. K.B.].737

Die Vorrede des Romans bietet eine dreifache konzeptionelle Rahmung, welche die Fiktion der Authentizität stärkt und sowohl erzählte Inhalte/Stoffauswahl, Autorschaft als auch das Wirkungsprinzip des Romans unter das Diktum der ‚Wahrhaftigkeit‘ im Sinne einer poetischen Authentizität stellt. Während Bohses Romankonzeption (Spiel zwischen Scherz und Ernst) zwei Wirkungsmodi betont, den Scherz und den Ernst, favorisiert Hunold ausschließlich eine Seite der Medaille, die „lächerliche und ungeheuchelte Manier“. Der satirische Roman stelle die „Laster der Welt“ dar, wie sie vorzufinden seien, er heuchelt nicht. Ohne Zweifel, so Menantes in der Vorrede, sei es einfacher durch die Welt zu kommen, indem man schmeichelt und die „Wahrheit“ zurückhält, doch widerstrebt ihm diese Form der Täuschung.738 Im „Spiegel seiner selbst“ lernt der Autor einen Menschen kennen, der vor dem ehrlichen Wort nicht zurückschreckt: Gleichwohl lernt mir mein Spiegel einen Menschen kennen, der die üble Eigenschafft durch alle so vernünftige Reflexiones nicht abgewehnen kan, alles bey seinem rechten Nahmen, eine

733 In

einem Brief vom 20.02.1707 an Wedel bittet Hunold darum, Madame R*** auszurichten, dass er nicht mehr zurückkommen werde: „Bey Bestellung dieses an die R*** kanst du à propos erwehnen / wie [ich] wohl schwerlich nach Hamburg wieder kommen / sondern mich in Leipzig oder Halle setzen werde / &c. (welches auch wahr ist)“ (ebd., S. 133). 734 Ebd., S. 98. 735 Kap. 3.4.2.3 Satirische Weiblichkeitsnarrative. 736 Menantes: Satyrischer Roman (hier verwendet in der Auflage Franckfurt/Leipzig: Carl Christoph Immig 1726), Vorrede, unpag. [A 1b]. 737 Ebd. 738 Ebd., unpag. [A 2af.].

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

213

Katze, eine Katze, einen verliebten Wurm einen Narren, und eine H – – eine Maitresse zu nennen [Hervorh. K.B.].739

Hatte Talander den Roman in erster Linie als „Spiegel“ für die Leserschaft bestimmt, so will Menantes nicht nur „andern die Augen öffnen“,740 sondern er sieht sich im „Spiegel seiner selbst“ auch als Autor mit der Forderung konfrontiert, das Laster im Roman ungeschönt und kompromisslos zu benennen. Wahrhaftigkeit und Authentizität werden nicht nur als ästhetisches Gestaltungsprinzip des Romans relevant („ungeheuchelte Manier“), sondern auch als Forderung nach einer ‚Aufrichtigkeit‘ des Autors und somit in Bezug auf die Autorschaft. Diese doppelte Rahmung stärkt zugleich die Suggestion einer vermeintlichen Faktizität des Dargestellten: Der satirische Roman finde seine Stoffe und Materien in der Lasterhaftigkeit der „verliebten und galanten Welt“, die er in der poetischen Überformung nicht etwa entstellt, sondern sie in ihrem tatsächlichen Ausmaß zu Bewusstsein bringen will. Wenn diese Form der Aufrichtigkeit bzw. der fiktionalisierten Authentizität dazu führe, dass man „eher was Schlechtes als Gutes“ erkenne, so sei dennoch mit dem Erschreckenden Vorlieb zu nehmen – solange, bis sich die „schönen Qualitäten der verliebten und galanten Welt mit weniger Mühe“ werden finden lassen.741 Vorgeblich speist sich das Dargestellte aus der Erfahrung der realen Lebenswelt und entlarvt dabei die Eitelkeit, die „Eigen=Liebe“ des Menschen.742 Roman und Lebenswelt transzendieren zu einem Schauplatz (im Sinne einer Bühne), auf dem die lasterhaften Protagonisten lediglich dieselben Verfehlungen vorführen, die auch das Leben des Publikums prägen – oder wie Hunold in einem Metakommentar bemerkt: „[W]eil die Welt ein Schau-Platz, wir aber die Spielenden und unser Leben die Action auf selbigem machet; So hat allhier eine Person auftreten sollen, die durch ihre schlimme Action tausend Zuschauern nur ein Spiegel ihrer eigenen Unordnungen ist.“743 Explizit wird die Darstellung des Lasters durch seine vermeintliche Faktizität „gerechtfertiget“, denn gestaltet wird nur dasjenige, „was man mit Grunde der Wahrheit und Verstand sagen kan […]; und ein Autor der in seinen Schrifften keinen andern als diesen Vorsatz hat, wird weder boßhafft noch übel Satyrisch seyn.“744 Allerdings zielt die Darstellung des Lasters auf eine Kritik, der keine konkrete Wirkungsabsicht (mehr) unterstellt wird. Hunold spricht nicht, wie Bohse, vom Roman als „bester Hoffmeister“745 und „köstlichste Arznei“,746 die zur selbstständigen Versittlichung der Leserschaft anrege, sondern die Darstellung des Lasters gerät zu

739 Ebd., 740 Ebd.

unpag. [A 2b].

741 Ebd.

742 Ebd.,

unpag. [A 1b]. Satyrischer Roman, S. 214f., Hervorh. K.B. 744 Ebd., Vorrede, unpag. [A 2b]. 745 Talander: Liebes=Cabinet, Vorrede An den Leser, unpag. [A 8b]. 746 Talander: Schauplatz der Unglückselig=Verliebten, Vorrede unpag. [A 3a]. 743 Menantes:

214

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

einer Frage des Prinzips. Das Verwerfliche in der Welt sei ein Fakt des Lebens und müsse daher benannt werden. Was die Leser und Leserinnen mit diesem Wissen anfangen, bleibt ihnen selbst überlassen. Menantes gibt zwar vor, das Publikum zu „unterrichten“ und „die Fehler der Menschen corrigieren“ zu wollen,747 aber er entwickelt kein konkretes Erziehungs- oder Wirkungskonzept, auf welche Weise der Roman dies bewerkstelligen solle. Das Faktum der Lasterhaftigkeit der Welt an sich – das „Hertz [des Menschen], so von Natur zum Bösen geneigt“ ‒748 ist Legitimation genug, um das Laster zu gestalten und es im Roman auszubreiten. In einem Brief an Wedel vom 20. Februar 1707 bringt Hunold diese Überzeugung noch einmal kraftvoll auf den Punkt und spricht explizit von der satirischen „Schreib-Art“, die der Satyrische Roman verlange: [S]oll ich die Leute tugendhafft abbilden / da es ein Satyr. Roman? Es wäre wieder die Natur dieser Schreib=Art; und wenn man die Laster recht hässlich vorstellen will / so muß man Heuchlern die Larve abnehmen / und wider Vermuthen diejenigen in ihrer Blösse anders abmahlen / als sie die Leute vorhero in ihren schönen Kleidern geurtheilet [Hervorh. K.B.].749

Die Satire wird zur radikalen (Sitten-)Kritik, ohne weiterführende Perspektiven anzubieten. Rückhaltloser als Bohses Liebes=Cabinet suggeriert der Text eine Referentialität zur extratextuellen Wirklichkeit und nutzt diese Referenzf­iktion zur Legitimation der eigenen Textproduktion. Obwohl die Bühnenmetapher deutlich macht, dass es sich um eine Inszenierung handelt und die Fiktion der Authentizität betont, läuft der Protest um des Protestes willen Gefahr, die Integrität und Privatsphäre von Personen anzugreifen, ohne dafür einen triftigen Grund liefern zu können. Dem Vorwurf, man könne das Laster auch benennen, ohne Möglichkeiten der Referentialität auf reale Personen zu eröffnen – ein Vorwurf, mit dem Hunold von Seiten seiner Hamburger Geliebten unbedingt rechnen musste –, greift der Autor voraus und betont, dass es grundsätzlich kaum möglich sei, das Laster darzustellen, ohne dass eine Reihe an Personen sich dadurch bloßgestellt fühlen müssten. Die Integrität realer Personen kann kein Kriterium sein, das gegen eine satirische Gestaltung des Lasters spricht: Vor das andere würde können eingewendet werden, daß […] es einem Scribenten, der die Fehler der Menschen corrigiren wolle, fast unmöglich sey, nicht Bildnisse zu machen, die nicht welchen lebendigen Originalen gleichen solten. Allein wie es eine Boßheit, jemanden öffentlich und unschuldig zu beschimpfen, so ist es auch keine Tugend, von einem Autore zu glauben, er habe ein gewisses Absehen gehabt, welche Personen besonders anzugreiffen.750

747 Menantes:

Satyrischer Roman, Vorrede, unpag. [A 2b], [A 3a]. unpag. [A 1b]. 749 Hunold an Wedel am 20.02.1707. In: Wedel: Geheime Nachrichten, S. 130. 750 Menantes: Satyrischer Roman, Vorrede, unpag. [A 3a]. 748 Ebd.,

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

215

Wer alle Worte auf die „Wag=Schaale“ lege und nach Belieben „ausdeuten will“, verdiene den „Ruhm eines unnützen Zänckers“, so Menantes in der Vorrede.751 Dabei geht es ihm offensichtlich darum, sich selbst vor möglicher Kritik zu schützen. Er verteidigt die Autorschaft gegen diejenigen „malicieuse Gemüther“, die überhaupt reale Identitäten in den Protagonisten erkennen wollen und damit jene „Leute beschimpffen, an die der Autor wohl selten gedacht.“752 Während Hunold die Authentizitätsfiktion in Bezug auf die Schreibart und die Textform Roman betont, weicht er aus, wenn es darum geht, den Autor für sein ‚Werk‘ verantwortlich zu machen. Stattdessen beschließt er sein Plädoyer für die satirische Schreibart mit einem gewagten Ausgriff auf die Religion. Er bemüht den theologischen Passus von der Unergründlichkeit der „höhern Weisheit“, indem er leicht abgewandelt und verallgemeinernd das Schwert über Leser, Leserinnen und Zensoren fällt: „Menschen haben nicht das Recht, von der Intention oder Gedancken zu urtheilen, denn solches hat sich eine höhere Weißheit vorbehalten.“753 Der Autor liefert einen Text, so könnte man diese Worte interpretieren, über den die Leser so wenig zu richten haben, wie der Mensch über die hohe Weisheit Gottes. Um 1700 ist das starker Tobak und dies ist Hunold durchaus bewusst. In der späteren Korrespondenz mit Wedel räumt er zwar Bedenken ein, ohne jedoch in religiöse oder moralische Zweifel zu geraten. Sein poetisches Schaffen deutet er im besten Sinne: Es sind ja GOtt sehr schlechte Sachen [Satyrische Romane] / und ist dem Höchsten alles gleich. Lustig und nicht liederlich / zufrieden und nicht negligent [fahrlässig], großmüthig u. nicht desperat [verzweifelt], ein Weltmann und doch ein guter Christ seyn; sind Sachen / die in dieser und jener Welt den allerärmsten glückseelig machen.754

Hunold ist in religiöser Hinsicht nicht unsensibel, doch als junger Mann gibt er sich eher fatalistisch. Als 1707 Wedels Gattin frühzeitig verstirbt, sinnt er über den Gang des Lebens und die Strafen Gottes, sieht sich aber nicht veranlasst, von seiner Schriftstellerei Abstand zu nehmen. Obwohl ihn die Todesnachricht „nachdencke[n lässt] / was mir noch ins künfftige vor schwere fata möchten aufgehoben seyn“, zeigt er sich im Kondolenzbrief an Wedel resolut: „solls ja so sein / daß Straff und Pein auf Sünde folgen müssen / so fahre hier fort & c. Und ist endlich der glücklich / welchen der HErr hier [im Irdischen] zu züchtigen würdiget.“755 Religiöse Bedenken hindern Hunold zunächst nicht daran, in seiner satirisch-frivolen Schreibart fortzufahren. Erst als er 1708/09 in das pietistisch geprägte Halle an der Saale umsiedelt, um als Privatgelehrter an der neu gegründeten Friedrichs-Universität Collegia in

751 Ebd., 752 Ebd.

unpag. [A 3a].

753 Ebd.

754 Hunold 755 Hunold

an Wedel am 09.[?]04.1708. In: Wedel: Geheime Nachrichten, S. 148. an Wedel am 07.08.1707. In: Ebd., S. 138, 137.

216

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Schreibstil und Redekunst zu halten, ist von einem grundsätzlichen Gesinnungswandel des 28-jährigen Poeten zu sprechen.756 In späteren Publikationen sagt sich Hunold eindringlich von der früheren Schreibart los.757 Wie schon Rost rechtfertigt er die früheren Publikationen mit dem jugendlichen Alter – „die Erfahrung / die Jahre / und die Vernunft“ hätten den Dichter, so dessen Selbstaussage, von den Satiren „gereinigt“.758 Dessen ungeachtet ebnen Romankonzeptionen wie Hunolds satirische Schreibart einer Erzählliteratur den Weg, die sich immer mehr von gelehrten und poetischen Traditionen emanzipiert. Mit Selamintes tritt im Folgenden ein Autor in den Blick, der das ‚Neue‘ zum Grundmotiv der galanten Romanproduktion erhebt und sich um eine erste Systematisierung der Gattung bemüht. 3.4.1.4 Selamintes: Ingenium der Wollust (1711) oder Systematisierung der Gattung? Christoph Gottlieb Wendt alias Selamintes, von Celander als der „artigste Romanist dieser Zeit“ verehrt,759 entwirft in der Vorrede zu Die Glückliche und Unglückliche Liebe (1711) eine Art frühe Romantypologie, mit der er versucht, Kriterien einer vorbildhaft galanten Schreibart zu bestimmen.760 Im Hintergrund steht die Erfahrung, dass der Buchhandel seit 1710 von einer merklichen Diversität galanter Romane geprägt ist, deren Unübersicht­lichkeit Selamintes zu systematisieren beginnt. Der Begriff der „Gattung“ oder „Classe“ kommt erst­mals ins Spiel und findet sowohl in Bezug auf die Texte als auch die Autoren Anwendung.761 Wer sich gegenwärtig mit 756 Jens-Fietje

Dwars (Hg.): Menantes. Leben und Werk des Christian Friedrich Hunold. Bucha 2005, S. 125. 757 „[S]o kommen wir dennoch allererst zu denjenigen / vor welchen / in Ansehung der Jugend / die Pest im Lande / vor ein kleines Übel zu schätzen. […] Ich meine: die unreine / und untugendhaffte Schreib=Art der Poeten. Allhier wird die Welt anfangen zu lachen / und mit Finger auf meine vorherige Poesie weisen. […] Gar recht: ich habe an meine Nase gegriffen; […] Man lese meine Satyren […] / und fasse mit mir den vernünftigen Entschluß: Wer ein Thor gewesen / sey keiner mehr“, Menantes: Anleitung zu vernünftiger Poesie. In: Akademische Nebenstunden, unpag. [A 6af.]. 758 In einem Brief an Wedel vom 30.01.1709 schreibt Hunold: „Denn ob ich wohl kein Pietist bin / und nur GOtt bitte / daß er mich einen Christen lässet werden / so habe ich doch eine rechte Purgation [Reinigung, Katharsis] vor die Satyren eingenommen. Die Erfahrung / die Jahre / und die Vernunft sind hierbey der Medicus gewesen; Und wünsche ich nur / daß es die Leute glauben“, Wedel: Geheime Nachrichten, S. 156. 759 Celander: Des Verliebten Studentens ander Theil […]. Cölln bey Peter Marteaus ältesten Sohne Jonas Enclume genandt 1715, Vorrede, unpag. [A 4b]; zit. auch bei Simons: Marteaus Europa, S. 342. 760 Selamintes [Christoph Gottlieb Wendt]: Die Glückliche und Unglückliche Liebe: Oder Der Unterscheid der Menschlichen Gemüther / In einigen Wahrhafften Geschichten / so das heutige Seculum, Zum Beweißthum der allgemeinen Thorheit / erleben müssen / Abgebildet von Selamintes. Hamburg: Christian Liebezeit 1711, Vorrede unpag. 761 Zur Bezeichnung der Texte im Sinne von „Gattungen“ und „Classen“ (ebd., Vorrede unpag. [A 7a]); zur Klas­si­fizierung der Autoren im Sinne von „Gattungen“ und „Classen“ (ebd., unpag. [A 3a], [A 3b]).

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

217

dem Roman beschäftige, so Selamintes, stoße auf eine Vielzahl unterschiedlicher „Gattungen“: auf „übel beschriene“ Texte, auch „berühmte“, „beliebte“, „vollkommene“ und „unvergleichliche“, „galante“, „wundervolle“ oder „abenteuerliche Erfindungen“ und „wie sie alle heißen mögen“.762 Romane von Talander, Menantes, Imperali, Ziegler und Klipphausen werden im selben Atemzug genannt wie Cervantes’ Amadis, Barclays Argenis, Lohensteins Arminius, Buchholtzens Hercules.763 Anstatt jedoch in singuläre Meinungen über Einzeltexte zu verfallen, ist es Selamintes wichtig, grundlegende und generalisierende Aussagen zur Gattung im Ganzen zu entwickeln. Zu diesem Zeitpunkt beschränken sich poetologische Romanreflexionen auf inhaltliche, maximal wirkungsästhetische Aspekte der „Schreibart“, die sich in der Regel auf den einzelnen, dem Leser vorliegenden Text beziehen. Selamintes’ Versuch, diesem einzeltextbezogenen Vorgehen eine generalisierende Sicht entgegenzusetzen, kann daher als erster Ansatz einer verallgemeinernden theoretisierenden Auseinandersetzung mit dem Roman verstanden werden. Ähnlich wie Bohse sucht Selamintes selbstbewusst den Schulterschluss zur Gelehrsamkeit. Unter den gelehrten Disziplinen – von der Theologie, über die Philosophie, Jurisprudenz, Medizin ‒ nehmen Poet und Romanist einen gleichwertigen Rang ein: [D]er eine schreibet grosse Folianten […] / dem anderen gefällt eine Kürtze […]. Dieser machet sich der Welt unter dem Namen eines Theologischen Mallei haereticorum [Ketzerhammer] bekandt. […] Weiter bekümmern sich einige um die so genannte Weltweißheit / und suchen theils dem Verstande die Wahrheit durch Syllogismos einzuprägen / theils dem Willen eine Tugend=Tabelle vor zu schreiben / theils über die Vernunft hinweg zu fliegen […]. […] Wiederum andere erhalten den Titul der Poeten und Romanisten / indem ihr Kopf mit poetischen Einfällen und Liebes=Sachen schwanger gehet / die sie unter dem Namen der Gedichte und Romanen denen wollüstigen Augen vorlegen.764

Angesichts dieser Fülle „der heutigen Gelehrsamkeit“ fragt der Autor, warum sich Disziplinen und Schriften dennoch so stark unterscheiden.765 Die Diversität der Texte erklärt er aus der Unterschiedlichkeit der Gemüter ihrer Urheber. Wie in der Gelehrsamkeit „viele Köpfe“ Verschiedenes hervorbringen, so sind die Gemüter der Autoren verantwortlich für die Fülle an Romanen, die in Inhalt und Schreibart variieren („viele Köpffe, viele Sinne“): Wie die Menschlichen Gemüther [zu] unterscheiden sind / also müssen auch ihre Verrichtungen sehr wenig mit einander übereinkommen: Wann zehen [Zehne] einerley Sachen zu thun haben / so wird sich doch in der Weise ihrer Ausrichtung / allezeit ein mercklicher Unterscheid

762 Ebd.,

Vorrede, unpag. [A 7a].

763 Ebd. Preziöse Romane von Scudéry oder La Fayette verlieren nach 1700 an Zugkraft und werden

von Selamintes nicht mehr genannt. Glückliche und Unglückliche Liebe, Vorrede, unpag. [A 1b–2b]. 765 Ebd., unpag. [A 2bf.]. 764 Selamintes:

218

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

blicken lassen. […] Viele Köpffe / viele Sinne! [fett im Orig.]766 […] Nur will anitzo die letzte Gattung ein wenig genauer erwegen / nemlich die Herren Romanen= Schreiber. […] Einer hat einen weitläuftigen / der andere einen nervösen Stylum. Einer schreibet annehmlich / der andere hart und verdrießlich. Einer hat lauter hohe Erfindungen und tieffsinnige Verwirrungen / […] / der andere hat mit nichts / als mit wollüstigen Betreibungen der Verliebten / zu thun [Hervorh. K.B.].767

Das Argument der Gemüter oder Naturelle, die ihren Ausdruck im Handeln und den Produkten der Menschen finden, ist ein bekannter Topos der Affektenlehre (unter anderem bei Thomasius)768 und wurde bereits von Celander in der Vorrede des Verliebten Studente (1709) auf den Roman übertragen, um die Spezifik der eigenen Publikation zu rechtfertigen.769 Selamintes knüpft an diese Tradition an und korreliert drei bekannte Charakter- bzw. Lasterstereotype (Wollust, Ehrgeiz, Geldgeiz) mit Romanautoren und ihren Texten, um daraus eine positive Autoren- und Romantypologie abzuleiten. Gängige Lasterstereotype werden zum Ausgangspunkt, um die unübersichtliche Fülle an Autoren und Romanen zu systematisieren. Ausgehend vom Gemüt der Autoren spricht Selamintes vom „wollüstigen“, „ehrgeizigen“ und „geldgeizigen“ Charakter- bzw. Autortypus, worin zugleich der „Schlüssel“ für die Textkategorisierung zu finden sei.770 Indem der Text als Ausdruck des Charakters gilt, d.h. Autortypus und Werkcharakter korreliert werden, entwirft Selamintes eine Typologie, wonach der Autor für sein Werk und das Werk für den Charakter des Autors stehe: Nun ist es secundum sensum communem [nach allgemeiner Ansicht] aller Menschen eine ausgemachte Sache / daß / so unterschieden die Menschen und ihre innerliche Kräfte auch seyn mögen / sie dennoch in 3. Classen füglich können getheilet werden / nemlich in Wollüstige / Ehrgeitzige und Geldgeitzige.771 […] Siehe / geehrtester Leser / hier hastu nicht allein den Schülssel [Schlüssel] / die Gemüther aller Scribenten zu unterscheiden / sondern auch die wahrhafte Uhrsache / warum unsere Romanisten / wovon anitzo nur die Rede ist / in ihren Gebuhrten einander so entgegen sind [Hervorh. K.B.].772

Der Typus des Wollüstigen, für Selamintes positiver Inbegriff des Galanten, wird als Charakter von hoher Sensitivität und sinnlicher Erkenntniskraft beschrieben; er verfügt über eine starke Empfindungstiefe gegenüber den sinnlich wahrnehmbaren Eindrücken und Vergnügungen der Welt. Er besitzt Fantasie, da er aus eigener Erfah-

766 Ebd.,

unpag. [A 1b]. unpag. [A 3a]. 768 Andreas Sulzgruber: Johann Gottfried Schnabels ‚Der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Cavalier‘ als Unterhaltungslektüre. In: Delectatio. Unterhaltung und Vergnügen zwischen Grimmelshausen und Schnabel. Hg. v. Franz M. Eybl u. Irmgard M. Wirtz. Bern 2009, S. 207‒233, bes. 211‒216. 769 Celander: Verliebte Studente, Vorrede, unpag. [A 2a]. 770 Selamintes: Glückliche und Unglückliche Liebe, Vorrede, unpag. [A 5a]. 771 Ebd., unpag. [A 3af.]. 772 Ebd., unpag. [A 5a]. 767 Ebd.,

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

219

rung Dinge, die er durch die „äußeren Sinne“ wahrnimmt, nach ihren Ähnlichkeiten zusammensetzen und sich im „Gemüt vorstellen“ kann.773 Sein Sinn strebt vor allem nach „Gegenwärtigem“ ‒ der Wollüstige steht in engem Kontakt zur alltäglichen Lebenswelt, womit ein wichtiges Themenspektrum des galanten Romans benannt ist. Mit der hohen Sensitivität ist ein „flüchtiger Verstand“ verbunden, der jedoch keineswegs eine Oberflächlichkeit bedeutet, sondern im Gegenteil die positive Kompetenz umfasst, verschiedene Dinge gleichzeitig oder simultan begreifen und zueinander in Beziehung setzen zu können. Mit einer „allzu großen Flüchtigkeit“ steht der Wollüstige allerdings in der Gefahr, sich nicht auf eine einzelne Sache beschränken zu können und sich in der Vielfalt der Dinge zu verlieren. Für die poetologische Diskussion ist entscheidend, dass Selamintes die hohe Sensitivität des Wollüstigen mit dem „Ingenium“ in Verbindung bringt, einer genuinen schöpferischen Gestaltungskraft und Kreativität des Poeten, deren Tradition gleich noch interessiert. Der Wollüstige wird in Selamintes Typologie zum Inbegriff des positiven Autorschaftideals und prägt den vorbildhaften galanten Roman: Das Gemüth eines Wollüstigen hat folgende Beschaffenheit: Er hat eine sonderliche Geschicklichkeit / vielerley Dinge / die in die äusserliche Sinne fallen / zusammen zu setzen / welches die Moralisten Ingenium nennen. Seine Gedancken und Ideen sind von lauter sinnlicher Vergnügung; Sein Verstand ist eher flüchtig / und begreiffet in einem Augenblick verschiedene Dinge. Wenn er sich eine Sache im Gemüthe vorbildet / so geschieht solches nach der Aehnlichkeit der Gegenwärtigen Dinge [fett im Orig.]. Wiewohl er wegen seiner gar zu grossen Flüchtigkeit nicht lange bey einer Sache bestehen bleiben kann / sondern von dem einem leicht auf etwas anders verfället [Hervorh. K.B.].774

Demgegenüber wird der Ehrgeizige als ein ernster Typus beschrieben, der nach rationalen Gesichtspunkten urteilt und sich durch das Judicium, die Urteilskraft, auszeichnet. Verbunden damit sind Scharfsinnigkeit der Gedanken, deutliche Unterscheidungskraft, Abstraktionsvermögen und „natürliche Beständigkeit“. Im Gegensatz zum Wollüstigen ist der Ehrgeizige bodenständig, dadurch aber auch langsam, behäbig und „penetrant“. Seine „tiefen und schweren Spekulationen“ richten sich, vom Gegenwärtigen und Vergangen abstrahierend, auf „Zukünftiges“. Der Ehrgeizige kann als Verkörperung des Gelehrten im traditionellen Sinne verstanden werden, der Wissen pflegt, es aber in althergebrachter Weise tradiert.775 Als dritten

773 Ebd.,

unpag. [A 3b]. unpag. [A 3bf.]. 775 „Von dem Gemüthe eines Ehrgeitzigen [fett im Orig.] aber hat man sich dieses Portrait zu machen. Seine Gedancken sind scharffsinnig und penetrant, doch nicht so geschwinde wie eines Wollüstigen [fett im Orig.]. Er ist hauptsächlich capable, ein jedwedes Ding von dem andern genau zu unterscheiden / und praevaliret [überwiegt] dannenhero das Judicium [Urteilskraft, Rationalität] bey ihm. Er kan wohl an unterschiedliche Sachen zugleich gedencken; Doch bleibet er wegen seiner natürlichen Beständigkeit lange bey einer Betrachtung bestehen / und bemühet seinen Kopff / mit sehr tieffen und schweren Speculationibus, damit er vermeinet grössere Ehre einzulegen / als mit geringen und leichten Dingen. Hieraus fliesset / daß er grosse Lufft=Schlös774 Ebd.,

220

33. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Autor- und Chararaktertypus beschreibt Selamintes den Geldgeizigen, den ein gutes Erinnerungsvermögen auszeichnet; er ist erfolgreich in Handel, Haushalt, aber auch bei „Schachereien“ und beschäftigt sich vornehmlich mit profanen und leiblichen Dingen. Im Geiste ist er behäbiger als der Ehrgeizige, seine Gedanken schreiten sehr langsam voran und subtile Angelegenheiten oder mehrere Dinge gleichzeitig ist er nicht fähig zu begreifen. Aufgrund seiner guten Erinnerungsgabe beschränkt sich sein Denken auf die Vergangenheit, die er faktisch erfasst. Der Geldgeizige personifiziert neben Ingenium und Judicium eine weitere Verstandeskraft des Menschen, die Gedächtniskraft, Memoria, und verkörpert ebenfalls ein Stereotyp des Gelehrten, allerdings im Sinne eines Pedanten, der Wissen auswendig lernt, ohne dessen Zusammenhänge zu durchdringen.776 Die drei Charaktertypen treten, so Selamintes, häufig in Mischformen auf und beeinflussen die Schreibart der Autoren. Während die Verbindung zwischen Ehr- und Geldgeiz zu einer „harten Schreibart“ führe, die dem Leser mehr „Scharfsinnigkeit und Gelehrsamkeit als Annehmlichkeiten“ bietet, eher „Hochachtung als Vergnügen“ erzwingt,777 ist die Verbindung zwischen Wollust und Geldgeiz Ursprung der eigentlich primitivsten Form der Poesie. Die Worte werden „bald auf Steltzen gehen“, bald „gantz gemein und abgeschmackt lauten. Die Erfindungen werden den meistentheils von andern geborget / und recht elend aus geführet seyn.“778 Behandelt werden „lauter thörichte Weiber=Fratzen / alberne Pickelherings=Possen / und grobe Lügen“.779 Das Ideal hingegen sieht Selamintes in der Verbindung von Wollust und Ehrgeiz, woraus eine leichte und fließende, weder zu hohe noch zu niedrige Stillage entstehe (genus mediocre). Er favorisiert ein Dichtungsideal, das zugleich galant und gelehrt sei, ohne dabei pedantisch oder schulfüchserisch zu sein: Hat ein solcher Schreiber ein von Wollust und Ehrgeiz gemischtes Hertz / so wird seine Manier zu schreiben leichte / fliessend / angenehm / und weder zu hoch / noch zu niedrig erscheinen. Er wird lauter angenehme Liebes=Intriguen / und schöne Einfälle / artige Verwirrungen / und kluge Vermischung des Krieges mit der Liebe abbilden. […] Er wird weder zu kurz noch zu

ser in seinem Gehirne aufbauen müssen / und meistentheils mit zukünftigen Sachen zu thun habe / die er nach Beschaffenheit der Gegenwärtigen / und Vergangenen abstrahiret“ (ebd., unpag. [A 4a]). 776 „Letztlich den Verstand eines Geldgeitzigen [fett im Orig.] betreffend / so ist derselbe von der Natur mit der Kraft begabet / alles / was durch die äusserliche Sinne in den Kopff kömmet / vollkommen zu behalten / und gehet also den vorigen an der Memorie vor. Seine Gedancken haben lauter leibliche Dinge zum Object, die zur Haußhaltung / Handlung oder Schacherey gehören. Er ist ferner sehr langsam in seinen Pensées, und kan schwerlich etwas begreiffen / was einige Subtilität bey sich führet. Dabey kan er nicht vielerley Sachen zu gleich betrachten / und vergnüget sich mehrentheils an der Erinnerung der vergangenen [fett im Orig.] Dinge / wie viel er Vieh / Geld / Ecker und dergleichen bißher zusammen geraspelt habe“ (ebd., unpag. [A 4af.]). 777 Ebd., unpag. [A 6a]. 778 Ebd., unpag. [A 6af.]. 779 Ebd.

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

221

weitläuffig schreiben sondern das pre/pon [griech. prepon, das Geziemende780] in allen Dingen zu beobachten wissen: Seine Verse und Brieffe / werden voller Geist und Annehmlichkeit stecken; En fin, seine Sachen sind geschickt bey jederman eine Vergnügung und Verwunderung zu erwecken [Hervorh. K.B.].781

Die Beispiele, die Selamintes zur Illustration der galant-gelehrten Schreibart zitiert – Passagen aus Happels Der Africanische Tarnolast (1689)782 und Philopatores Don Rodrigo und Donna Sylvia (1707) ‒,783 enthalten allerdings wenig Gelehrtes und kaum Gemäßigt-Mediocres. Es sind vielmehr Textstellen, in denen eine hohe Sensitivität und Empathie zum Ausdruck kommt. Im Mittelpunkt steht die Empathisierung der Leser und Leserinnen, die durch eine möglichst furiose Authentifizierung der Affektdarstellung angestrebt wird. Dies sei beispielsweise der Fall, wenn die Schilderung eines Unglücks dazu führe, dass die „Leser fast auf die Gedancken gerathen / als sey der Herr Autor aus Mittleiden / über dieses […] Unglück / in eine Epilapsiam gefallen.“784 Obwohl eine solche Darstellung den „Horizont unseres Verstandes übersteiget“, ist sie doch „aus einem furore poëtico geschrieben / welcher nach dem Zeugniß des grossen Polyhistoris zu dem deíov [grch. Deus, Gott] der Poësie gehöret.“785 Wie Bohse bezieht sich auch Selamintes auf kanonisierte Autoren und Konzepte, die er zugunsten des eigenen Dichtungsverständnisses auslegt. Das Konzept des furor poeticus, die dichterische „Raserei“, Auswurf des „Wahnsinns der Begeisterten und Besessenen“, ist bereits in Platons Dichtungstheorie angelegt786 und war im 17. Jahrhundert vor allem durch Daniel Georg Morhof (1639–1691) bekannt, etwa durch dessen Rostocker Universitätsvorlesung De enthusiasmo seu furore poetico [Vom Enthusiasmus oder der poetischen Kraft] (1661) und Unterricht von der Teut-

780 Im

Original Druckfehler, es steht wre/pon. Zur Übersetzung von pre/pon, vgl. Thomasius: Scherz- und Ernsthafte Gedanken, S. 75, Anm. 56. 781 Selamintes: Glückliche und Unglückliche Liebe, Vorrede, unpag. [A 5bf.]. 782 Eberhard Guerner Happel: Africanischer Tarnolast. Das ist: Eine anmuthige Liebes- und HeldenGeschichte, von einem mauritanischen Printzen und einer portugallischen Printzessin. Ulm [s.n. = Wagner] 1689. 783 Philopatore: Stärcke der Liebe vorgestellet in des spanischen Marchesen Don Roderigo und der Printzessin Dona Sylvia Manacadada, Staats= und Liebes=Geschichte und zu vergonneter Gemüths=Ergötzung / verfertiget von Philopatore. Hamburg [s.n. = Christian Liebezeit] 1707. 784 Selamintes: Glückliche und Unglückliche Liebe, Vorrede, unpag. [A 12b]. 785 Ebd. 786 „Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst, sondern als Begeisterte und Besessene […].“ „Wer […] ohne diesen Wahnsinn der Musen in den Vorhallen der Dichtkunst sich einfindet, meinend, er könne durch Kunst allein genug ein Dichter werden, ein solcher ist selbst ungeweiht und auch seine, des Verständigen, Dichtung wird von der des Wahnsinnigen verdunkelt [Hervorh. K.B.]“, Platon: Ion de furore poetico und Phaidros, zit. nach Katrin Maria Kohl: Poetologische Metaphern. Formen und Funktionen in der deutschen Literatur. Berlin 2007, S. 45.

222

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

schen Sprache und Poesie (1682).787 Die frühneuzeitlichen und antiken Konzeptionen des furor poeticus verhandeln den Ursprung der Poesie stets in der Auseinandersetzung mit dem Ingenium, das laut Selamintes auch den galanten Romanpoeten auszeichne. In einem allgemeinen Sinne bezeichnet das Ingenium den menschlichen Verstand, doch schon in der Antike wird der Begriff auf die Poesie übertragen und im Sinne einer ‚Begabung‘ gebraucht.788 Poperz und vor allem Ovid nutzen ihn, um ihre Dichtungspraxis zu reflektieren und identifizieren mit dem Ingenium die göttlich inspirierte und inspirierende Kraft der Poesie, die sich über den Künstler als dessen genuine Schaffenskraft und Kreativität veräußert.789 Wenn Selamintes sich auf das „Zeugniß des grossen Polyhistoris“ beruft, demnach der „furor poeticus“ zum „Deus der Poesie“ gehöre,790 so referiert er vor allem auf Morhof, der den Enthusiasmus, das Ingenium, als die Kraft des Künstlers begreift, „sich über die Sterne zu erheben, höher als die Götter zu steigen“; ja, der Enthusiasmus „sei die Magie und der Zauber, mit der der Dichter die Seelen bindet, er ist die ‚göttliche Rute‘, die auch die Unwilligen entrückt und bannt.“791 In diesem Sinne kann der furor poeticus, die poetische Kraft oder Wut, durchaus zum göttlich verursachten „Wahnsinn“ ausarten.792 Er bezeichnet einen Zustand der künstlerischen Entrückung, der nach Ansicht Morhofs durch die berauschende Wirkung des Weines, der Musik, aber auch durch starke Affekte wie „Zorn über das Laster“ oder das Gefühl der „Liebe“ angeregt werden kann.793 Allerdings stehen Ingenium, Enthusiasmus und furor poeticus bei Morhof und den Dichtern der Antike fundamental im Dienste einer göttlichen Inspiration und bleiben strengstens an diese religiöse Funktion gebunden.794 Der Schaffensprozess, der durch die individuelle Gestaltung des Künstlers unmittelbar

787 Volkhard

Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. Berlin 2009, S.  296. Bevor Morhof 1665 an die Universität Kiel berufen wurde, übernahm er den Lehrstuhl seines verstorbenen Lehrers Tscherning für Poesie und Beredsamkeit in Rostock. 788 Art. Ingenium. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 14 (1735), S. 694. 789 Mechthild Baar: Dolor und ingenium. Untersuchungen zur römischen Liebeselegie. Stuttgart 2006. Schon in der antiken Liebeselegie führt demnach die Trias von Liebe, Liebesleid (Dolor) und Liebesdichtung zu einem Nachdenken über verschiedene Autorrollen, d.h. den Dichter als empirische Person, elegische Poeta u.a. (ebd., S. 244). Damit einhergehend wird der Ursprung der Poesie im Spannungsfeld von Ingenium (angeborene, übernatürliche Dichterkraft des Poeten) und Ars (Regeln der Poetik und Dichtkunst) diskutiert. Diese autopoetischen Selbstreflexionen werden – ähnlich wie im galanten Roman – in der Elegie selbst, d.h. gattungsimmanent, ausgetragen. Poperz verankert die Kraft der Dichtung vornehmlich in der Ars, unmittelbar gefolgt vom Ingenium. Demgegenüber hebe Ovid bereits „ohne Abstriche“ die Bedeutsamkeit des Ingeniums für die eigene poetische Produktion hervor und stärke damit, so Baar, die Vorstellung des Ingeniums als inspirierende Kraft der Dichtung (ebd., S. 227f.). 790 Selamintes: Glückliche und Unglückliche Liebe, Vorrede, unpag. [A 12b]. 791 Wels: Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit, S. 297. 792 Ebd.; Kohl: Poetologische Metaphern, S. 45. 793 Wels: Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit, S. 297f. 794 Ebd., S. 297; Kohl: Poetologische Metaphern, S. 45.

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

223

mit der Generierung des Neuen und Eigenen verbunden ist, wird nur dann als legitim erachtet, wenn er dem Lob Gottes bzw. der Gottheiten dient. Für Selamintes indes wird der Zustand des furor poeticus zum angestrebten Ideal des dichterischen Schaffensprozesses schlechthin und nimmt dabei drastische Züge an. Von ‚göttlichem Hauch‘ oder religiöser Indienstnahme der künstlerischen Kreativität ist nicht mehr viel zu spüren. Im Gegenteil: Leidenschaft und Kraft der Sprache sollen sich, so der galante Autor, im Text furios und den „Verstand übersteigend“ entäußern.795 Für die formal-sprachliche Gestaltung bedeutet dies z.B., dass der Aufruhr widerstreitender Affekte nicht in rhetorisch bemessener Form wiedergegeben werden kann. Mehr noch, die Sprache muss sogar unverständlich sein, soll die extreme Spannung einer Situation ausgedrückt werden, in der kein Mensch vernünftig denkt. Selamintes macht dies an einer Passage aus Philopatores Don Rodrigo deutlich. Zitat und kommentierende Erläuterung lassen die Absicht des Autors erkennen, dem das „neue Generis“ wegen der „schönen Redens=Arten verwunderungswürdig“ ist: [In Philopatores Don Rodrigo] wird die Unentschlüßigkeit des tapffern Rodrigo abgeschildert / der mit dem Vater seiner Geliebten duelliren solte: Er fället darüber in Ohnmacht und singet darauf eine erbärmliche [erbarmungswürdige] Arie, die so wohl wegen ihres neuen Generis, als wegen der schönen Redens=Arten Verwunderungswürdig ist. Ich will aber nur das wenigste davon erwehnen: [im Original Fettdruck und typografisch eingerückt, K.B.] Soll ich eitler nun Ehre wegen durch  / schöner Nympffen Brust rennen. Wo ist der Weg / die Bahn / das schöne Licht der starcke Faden? Sehe ich wohl: Doch kan nun meine Lieb nicht Glücklich seyn / das O du starckes Rad! wie treibest du? Unglücks Mond ist bald voll! […] Man muß sich dieses nicht irren lassen / daß es hierinnen kauder=welsch / und wie Kraut und Rüben durch einander gehet! Denn hierinnen hat unser kluge[r] Autor seine gröste Kunst erwiesen / der da wohl wuste / daß in dem Kopffe des Rodrigo, woselbst Liebe und Rache einen Kampfe Platz hatten / es wunderlich herum lauffen muste. Darum verdienet er mehr Ruhm / als unsere meisten Romanisten / welche denen Heroibus, wenn sie durch wiederwärtige Affecten perturbiret werden / solche oratorische und künstliche Gedancken andichten / welche der geschickteste Redner nicht förmlicher aufsetzen sollte. Sed transeant ista! [Aber das möge vorüber gehen!] [Hervorh. u. Übers. K.B.]796

Rigoros bricht Selamintes mit den Traditionen dichterischer Affektdarstellung, wie sie frühneuzeitliche Poetiken und Kasuistiken vorschreiben. Die „größte Kunst“ sieht er gerade darin verwirklicht, dass die Sprache der emotionalen Erregung auf stilistische und inhaltliche Klarheit verzichtet („daß es wie Kraut und Rüben durch

795 Selamintes: 796 Ebd.,

Glückliche und Unglückliche Liebe, Vorrede, unpag. [A 12b]. unpag. [A 11bf.].

224

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

einander gehet!“). Um einer emotionalen Authentizität Ausdruck zu verleihen und die Leser zu empathisieren, genüge es nicht, förmliche Reden und rhetorisch aufgesetzte Gedanken zu formulieren. Auch wenn weiterführende Ausführungen, wie denn Emotionalität im Erzähltext angemessen darzustellen sei, fehlen und eine Figuren­psychologie in den untersuchten Romanen kaum auszumachen ist, scheint sich hier der Wille zu einer neuen Poesie oder Wirkungsästhetik kund zu tun, die zu einer empathisierenden, möglicherweise identifikatorischen Lektüre animiert.797 Mit dem Ingenium des Wollüstigen wird demnach ein wichtiger Hinweis deutlich, der das dichterische Selbstverständnis junger galanter Autoren konturiert. Das Negativstereotyp der Wollust wird auf den sensitiven und empfindungstiefen Dichter übertragen und positiv umcodiert. Im Rückgriff auf das Ingenium kommt ein Terminus ins Spiel, der in der Geschichte der Kunst und Poesie hochgradig im Sinne der künstlerischen Innovation konnotiert ist.798 Die göttliche Inspiration wird freimütig ignoriert; der kreative Schaffensprozess wird vom galanten Autor auch dann als legitim erachtet, wenn er nicht dem Lob Gottes, sondern der Innovation und Neugestaltung der Poesie dient. Im Zuge der Aufklärung wird das Ingenium im 18. Jahrhundert aufgewertet zu einer „Kraft des Verstandes […] Möglichkeiten zu erfinden“, die als positive Erweiterung der menschlichen Erkenntnis gewertet werden.799 Gäbe es das Ingenium nicht, so das Zedler Universal-Lexikon (1735), würden „alle neue[n] Erfindungen wegfallen“ und „das Wesen dieser Dinge würde uns gröstentheils gar unbekannt bleiben.“800 Das Ingenium unterliegt dabei derselben Wirkungsweise, wie Selamintes zufolge auch der Wollüstige in der Poesie verfährt. Das Lexikon erklärt:

797 Dies

unterscheidet Selamintes’ Romanpoetik entscheidend von Thomasius’ distanzierender Lektüre. Dass allerdings eine identifikatorische Lektüre gepaart mit der Satire und einer ex negativoDarstellung der Tugend weitere Ambivalenzen erzeugt, wird in den Textanalysen deutlich (Kap. 4). 798 In der Renaissance nutzt Leonardo da Vinci den Verweis auf das Ingenium des Künstlers, um eine Aufwertung der Malerei von den artes mechanicae, dem Handwerk, zu den artes liberalis, den freien Künsten zu lancieren und damit die Schöpferkraft des Künstlers (allerdings verstanden als göttliche Inspiration) zu stärken, Jutta Bacher: Ingenium vires superat. Die Emanzipation der Mechanik und ihr Verhältnis zu Ars, Scientia und Philosophia. In: Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Hg. v. Hans Holländer. Berlin 2000, S. 519–555. 799 Art. Ingenium. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 14 (1735), S. 694: „Ingenium, […] Besonders wird es […] vor diejenige Krafft unsers Verstandes, da wir Möglichkeiten erfinden, genommen. Es äussert sich durch allerhand Dichtung […]. Hätten wir nur eine Gedächtniß= und Beurtheilungs=Krafft [Memoria und Judicium], so würden wir zwar viele Wahrheiten erfahren, doch keine andern, als welche das Gedächtniß [Memoria] dem Iudicio [Verstand] unmittelbar vorlegen würde. Auf solche Weise aber würden alle neue Erfindungen wegfallen. Ja nicht allein dieses, sondern das Wesen derer Dinge würde uns gröstentheils gar unbekannt bleiben.“ 800 Ebd.

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

225

Das Ingenium [gebrauchet] die sinnliche Empfindung, und zwar so, daß es nach eigenen Belieben Dinge, so es durch die Sinnen bekommen hat, zusammen setzet, von einander sondert, vergrössert, verkleinert oder vergleichet. Auf solche Weise gebieret es allerhand Möglichkeiten [Hervorh. K.B.].801

Die Grenzen sprengende Kraft eines solchen (Dichtungs- und Schaffens-)Konzepts ruft indes nicht nur zur Entstehungszeit genügend Gegner auf den Plan. Konzepte wie Morhofs furor poeticus werden von aufklärerischen Ästhetikern im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts unter dem Schlagwort „Poetische Raserey“ diskreditiert und mit ihnen die Autoren, die einer solchen Poesie nahe stehen. 1741 erklärt das Zedler Universal-Lexikon: „Poetische Raserey, Poetischer Enthusiasmus, Furor Poeticus […], [W]as einige auch zu unsern Zeiten, von dem, was in den menschlichen Wissenschaften und auch in der Poesie göttlich ist, fürgeben, beruhet auf schlechtem Grunde.“802 Gefordert wird daher eine strikte Unterordnung des Ingeniums unter das Judicium, den Verstand. Andernfalls würde der Ingeniöse auch Möglichkeiten hervor­bringen, zu denen der „verderbte Wille“ ihn treibe, vor allem zur „Wohllust“:803 [S]o nöthig das Ingenium [ist], so sehr ist doch darauf zu sehen, daß es nicht aus den Schranken schreite. Diese bestehen aber darinnen, daß das Ingenium das Iudicium [Verstand] nicht übertreffe, weil sonst das Ingenium allzufreygebig mit seinen Möglichkeiten seyn würde […]. Ja ein wohl eingerichtetes Ingenium wird nicht jedes, was ihm einfället, hervorbringen, sondern schertzet es, so wird es manierlich seyn, dichtet es was, so wird es schon einigen Schein der Wahrheit haben [Hervorh. K.B.].804

In Selamintes’ Roman- und Autorentypologie bleiben solche Reglementierungen noch vollständig ausgeblendet; dem Erfindungsreichtum der schöpferischen Dichterkraft sind kaum Grenzen gesetzt. Stattdessen erlaubt es der Rückgriff auf die poetologische Kategorie des Ingeniums, eine Romandichtung zu verteidigen, die das Neue, die ästhetische Innovation und die Erfindung (inventio) zum poetischen Prinzip und Maßstab der Produktion erhebt. Indem Selamintes Ingenium und Wollust zum entscheidenden Vermögen des Dichters und zur Bedingung der galant(gelehrten) Schreibart erklärt, ebnet er den Weg für die poetische Innovation. Als „Geburth“805 des Verfassers und Ausdruck seines Charakters übernimmt der Roman Funktionen der (auktorialen) Selbstpräsentation. Sollen Text und Autor nicht als missglückte Duplikate gelten, ist der Dichter gezwungen, eine möglichst eigenständige Schreibart zu entwickeln. Selbstbewusst stilisieren sich denn auch junge galante Autoren als „neue Poeten“, die den Vergleich mit ihren Vorgängern nicht scheuen. Freimütig erklärt Selamintes: „Lohenstein / Hofmans Waldau / und Gryphius müs-

801 Ebd. 802 Art.

Poetische Raserey. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 28 (1741), S. 1011. Ingenium. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 14 (1735), S. 695. 804 Ebd. 805 Selamintes: Glückliche und Unglückliche Liebe, Vorrede, unpag. [A 3a], [A 5a]. 803 Art.

226

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

sen sich vor unsern neuen Poeten verkriechen / und bey ih[nen] in die Schule zu gehen sich nicht schämen.“806 Im Hintergrund mag hier auch Erd­mann Neumeisters Raisonnement über Romanen (1708) stehen, worin ebenfalls eine „neue Art von Romanen gefordert wird“, da ‒ so Rose ‒ dem höfisch-heroischen Roman „keinerlei Innovationspotential mehr eingeräumt wird“.807 Neumeister fordert: „So müssen die Romanen […] gantz anders eingerichtet seyn / als die meisten / die wir bißher zu lesen bekommen.“808 Mit dem Ingenium des Wollüstigen lässt sich solch eine Forderung, wenn auch recht eigen, poetologisch untermauern. Die Ästhetik des Sturm und Drang wird, ebenfalls im Rückgriff auf Konzepte wie furor poeticus,809 ähnliche Ideen ab den 1770er Jahren individualisieren und zum Inbegriff der Genieästhetik erheben. Bei Selamintes, so ließe sich sagen, finden sich ähnliche Gedanken bereits vorgeprägt. Roman- bzw. Dichtungskonzeptionen wie Bohses Poesie zwischen Scherz und Ernst (1692), Hunolds Satyrische Schreibart (1706) oder Selamintes Ingenium der Wollust (1711) forcieren eine galante Unterhaltungsliteratur, die sich gegenüber dem Schrifttum der Lettres immer stärker Bahn bricht. Da galante Romane auch Frauen zugänglich sind, die ebenfalls auf innovative Art unterhalten und „vergnügen“ werden sollen, stellt sich die Frage, welche Effekte solche poetologischen Konzeptionen für die Gestaltung weiblicher Figuren im Text und galante Weiblichkeitsnarrative nach sich ziehen. 3.4.2 Galante Romanpraxis und Weiblichkeit – Poetologische Perspektiven Wie prägen poetologische Überlegungen zum Verhältnis von Historie und Fiktion, Satire und Kritik und zur ästhetischen Innovation die Konzeption und Gestaltung weiblicher Hauptfiguren im galanten Roman? Um diese Frage zu beantworten, rückt das Verhältnis von Text und Paratext erneut in den Blick: Welche Hinweise geben die Vorreden zu einer allgemeineren Konzeption der galanten Protagonistin und welche Rezeptionsformen werden der Leserschaft nahegelegt? Paratexte rahmen den Erzähltext und enthalten auktoriale Hinweise zur Lektüre. Im Sinne eines „Hineinwirkens in den Text“ (parergonale Rahmungsfunktion) vermittelt der Paratext Informationen, die die Rezeption beein­flussen und bestimmte Deutungsperspektiven auf die erzählte Geschichte nahelegen, ebenso wie die Erzählung auf den Paratext zurückwirkt (Kapitel 2.2.3). Da im Zentrum des weiblichkeitszentrierten Romans keine geschlechtslose, sondern eine weibliche Haupt­figur steht, liegt auf der Pro-

806 Ebd.,

unpag. [A 14a]. Conduite und Text, S. 159. 808 Neumeister: Raisonnement über Romanen (1708), S. 21f., zit. nach ebd. 809 Stefanie Stockhorst: Rinazimentales ‚self-fashioning‘ in der Wahrnehmung um 1800. Zur Formierung des neuzeitlichen Geniebegriffs am Beispiel der Vita von Benvenuto Cellinis. In: Euphorion 109 (2015), H. 1, S. 1‒20, bes. S. 5, 7. 807 Rose:

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

227

tagonistin ein besonderes Augenmerk. Die weibliche Figur rückt als poetisches Formelement der Narration, aber auch als Trägerin der soziokulturellen Kategorie Geschlecht in den Blick. 3.4.2.1 Weiblichkeitsnarrative zwischen Erfindung und Authentizitätsfiktion Ein besonders populärer Roman um 1700 ist Bohses/Talanders Die Liebenswürdige Europäerin Constantine (1698). Vier Auflagen erzielt der Roman bis 1735 und selbst eine Lustspielfassung von fremder Hand wurde verfasst und dreimal aufgelegt.810 Ohne bereits detailliert auf den Inhalt einzugehen (hierzu Kapitel 4.2), kann an diesem Roman exemplarisch gezeigt werden, wie galante Autoren mit textuellen und paratextuellen Strukturen umgehen und welche Effekte dies für die Semantisierung der Hauptfigur impliziert. Wie Kapitel 3.4.1.2 zeigt, ist der epistemische Status des Romans um 1700 recht offen und kann variabel ausgelegt werden; der Roman schwankt zwischen Historie und Fiktion, zwischen wahrer und erfundener Erzählung. Dies hat auch Auswirkungen auf die Konzeption der Protagonistin. Als Figur der Geschichte ist sie Teil der Fiktion, die ihrerseits durch paratextuelle Rahmungen eine starke Referentialität zu extratextuellen Wirklichkeiten suggerieren kann. In Bohses Constantine beginnt diese Konstruktion schon in der Titelgestaltung: „In einer wahrhafftigen […] Liebes=Geschichte dieser Zeit“ lautet der Untertitel.811 Wenn Bohse den Roman im Ganzen als Zeugnis der „heutigen Manier“ und „wahrhafftigen Praxis“ konzipiert,812 dann überträgt sich diese Konzeption auch auf die Protagonistin ‒ auch sie gilt als poetisches Zeugnis einer zeitgenössischen Praxis der sogenannten heutigen Welt. Als Heldin einer „Liebesgeschichte dieser Zeit“ ist sie keine mythische, heroische oder antikisierte Gestalt wie Lohensteins Sophonisbe, Cleopatra oder die Hauptfiguren preziöser Romane (Clélie, Mathilde), so dass sich galante Weiblichkeitsnarrative schon dadurch von den Vorläufern unterscheiden.813 Vielmehr ist die weibliche Figur Teil einer fiktionalen Konstruktion, mit der der Autor bean­sprucht, auf Gegenwärtiges, Wirkliches, ‚Wahrhaftiges‘ zu rekurrieren. Die konzeptionelle und paratextuelle Rahmung suggeriert, dass der Roman Fiktionen der ‚wahren Heldin‘ entwirft. Doch geht es dabei tatsächlich um Weiblichkeit, d.h. um die Thematisierung genderspezifischer Aspekte und Konzepte? Oder stehen poetologische Interessen im Vordergrund, d.h. lassen sich Bohses Vorreden nicht

810 Dünnhaupt:

Personalbibliographien, S. 737f. [August Bohse]: Die Liebenswürdige Europäerin Constantine In einer wahrhafftigen und anmuthigen Liebes=Geschichte dieser Zeit Der galanten und curieusen Welt zu vergönneter Gemüths=Ergötzung vorge­stellet von Talandern. Franckfurt/Leipzig: Christoph Hülße 1698. Unveränd. Nachdr., Frankfurt a.M. 1970. 812 Ebd., Vorrede an den Leser, unpag. [A 4a]; vgl. Kap. 3.4.1.2 Galante Sittenkritik zwischen Historie und Fiktion. 813 Weitere Spezifika werden im Laufe der Untersuchung und in Kap. 4 deutlich. 811 Talander

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

vielmehr als Versuch interpretieren, die Möglichkeiten eines galanten Erzählens zwischen Historie und Fiktion auszuloten? Nicola Kaminski hat in ihrem Aufsatz Über die Schwelle der Un/Aufrichtigkeit. Die ‚Wahrhafftigkeit‘ von Talanders Liebenswürdiger Europäerin Constantine überzeugend dargestellt, wie stark Bohses Roman auf unterschiedlichen Textebenen durch die Inszenierung von „Unaufrichtigkeiten“ geprägt ist.814 Ästhetische Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Fiktion (Erfindung) werden von Bohse äußerst variabel gehandhabt. Der Text spielt von Anfang bis Ende mit Behauptungen und Setzungen, die an späterer Stelle relativiert werden oder ganz außer Kraft treten. Dies beginnt bei der Figurencharakterisierung der Hauptfigur durch den Erzähler. Constantine trägt den sprechenden Namen die Beständige (constantia), die sich, so Kaminski, aufrichtig bemüht, dem (barocken) Constantia-Ideal gerecht zu werden, fortwährend jedoch „eine scheiternde Beständigkeit zur Anschauung bringt.“815 Augenscheinlich wird dies im Anspruch der Protagonistin, der Liebe zu entsagen und ihr doch beständig zu erliegen. Wenn Constantine ihrem Liebhaber Wandeim Aufrichtigkeit schwört, gleichzeitig jedoch amouröse Seitensprünge forciert, ist auch die Ebene der Figureninteraktion durch die Inszenierung von Unaufrichtigkeit geprägt. Kaminski bewertet die galante Heldin als „veritable Falschmünzerin“, die das eigene Liebes- und Märtyrerkonzept nicht einzulösen imstande sei.816 Auf gattungspoetologischer Ebene finden jene Ambivalenzen ein Pendant, so deutet Kaminski an, indem der Text mit dem Genre des (ernsten) Märtyrerdramas spielt, sich gleichsam aber als Liebesgeschichte ausgibt und somit die Grenzen zwischen hoher und niederer Literatur transzendiert.817 Die Ambivalenzen der Romanhandlung potenzieren sich, wenn man die Paratexte in die Betrachtung einbezieht. Nun gerät auch die Frage der Autorschaft zum Spiel zwischen Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit. Der Roman enthält zwei Vorreden, eine erste An den Leser, unterzeichnet von „Talander“.818 Da es sich um das Pseudonym des empirisch-historischen Autors Bohse handelt, der als Urheber des Textes identifiziert werden kann, wird diese Aussageinstanz als pseudonymer Autor bezeichnet.819 Es folgt eine zweite Andere Vorrede, die lediglich mit dem Hinweis „Ihr Erkennlichster W.“ signiert ist.820 Wie Kaminski anhand der intertextuellen Referenzen beider Vorreden und ihrem Verhältnis zum Haupttext dargestellt hat, handelt es sich bei der zweiten Sprecherinstanz um die Romanfigur Wandeim (der 814 Nikola Kaminski: Über die Schwelle der Un/Aufrichtigkeit. Die ‚Wahrhafftigkeit‘ von Talanders

Liebenswürdiger Europäerin Constantine. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hg. v. Claudia Benthien u. Steffen Martus. Tübingen 2006, S. 311–327. 815 Ebd., S. 313. 816 Ebd., S. 314. 817 Ebd., S. 323. 818 Talander: Liebenswürdige Constantine, Vorrede An den Leser, unpag. [A 7a]. 819 Zur Differenzierung der Sprecherinstanzen Kap. 2.2.3 Text und Paratext. 820 Talander: Liebenswürdige Constantine, Andere Vorrede, unpag. [A 43a].

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

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Liebhaber Constantines), der „jenseits der Narration“ einen „signifikanten Autorschaftsanspruch“ gel­tend macht.821 Kaminski bezeichnet diese aktoriale Instanz als „eine Art Ko-Autor“,822 eine Bezeichnung, die hier übernommen wird. In der Liebenswürdigen Constantine entwirft Bohse eine metaleptische Konstruktion, bei der die fiktive Figur Wandeim außerhalb der erzählten Geschichte (paratextuell) auftritt und sich in der Rolle des fiktionalen Ko-Autors W. verdoppelt (partage).823 Bereits an dieser Stelle wird deutlich, wie fließend die Grenzen zwischen Haupttext (erzählte Geschichte/romaninterne Darstellung) und paratextueller Rahmung (Vorrede) ist. Durch die Andere Vorrede wird eine Textebene in den Roman integriert, deren logischer Status weder innerhalb der erzählten Geschichte (Haupttext) noch auf derselben Ebene wie die paratextuelle Leseransprache des pseudonymen Autors Talander (Vorrede) verortet werden kann. Zwischen pseudonymen Autor Talander und fiktionalen Ko-Autor W. (seinerseits die Romanfigur Wandeim) entsteht ein Konkurrenzverhältnis um die Urheberschaft des Textes – eine Auseinandersetzung, die die epistemische Verortung des Romans zwischen Historie und Fiktion immanent betrifft. Während Talander in der Vorrede An den Leser beteuert, er habe in seinem Werk „nur das Ampt eines getreuen Historienschreibers in acht genommen / welcher der Geschichte keinen Zusatz geben soll“,824 erklärt in der Anderen Vorrede der Ko-Autor W. (die Romanfigur Wandeim), er sei der „Stiffter“ der vorliegenden „Liebes=Geschichte“ und es handelte sich bei der Heldin lediglich um eine „Schöne Unbekandte“, der er aus „bedencklichen Ursachen“ den Namen Constantine „beylege[n]“ wolle.825 Als „skandalös“ wertet Kaminski, dass sich „die Romanfigur Wandeim damit über ihren in der ‚Wahrhafftigkeit‘ von Constantine sich täuschenden Autor Talander erhebt.“826 Der Ko-Autor W. bzw. die Romanfigur Wandeim bezeichnet nicht den pseudonymen Autor Talander, sondern sich selbst als Verfasser des Romans. Der Streit um die Urheberschaft wird in den Vorreden bewusst offen gehalten und ausgeweitet. August Bohse nutzt das Pseudonym Talander, um den Roman im Rahmen der ‚wahren‘ Historie zu verorten und schließt mit der Stilisierung als dokumentierender Ge-

821 Kaminski: 822 Ebd. 823 Die

Über die Schwelle der Un/Aufrichtigkeit, S. 317.

Begriffe fiktiv und fiktional werden nach der Definition von Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001, S. 19 verwendet: Fiktional bezeichnet das Fiktive, Erfundene, NichtWirkliche im Sinne eines Darstellungsmodus: „auf einer Fiktion beruhend“; während sich der Begriff fiktiv auf das Dargestellte im fiktionalen Text bezieht: die „fiktive Figur“. Zur Abgrenzung fiktiv/fiktional versus fingiert als Bezeichnung für Erfundenes mit/ohne Täuschungsversuch vgl. Gabriel: Art. Fiktion. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 594–598; Anm. 108 in Kap. 2.2.3 Text und Paratext. 824 Talander: Liebenswürdige Constantine, Vorrede An den Leser, unpag. [A 4bf.]. 825 Ebd., Andere Vorrede, unpag. [A 7b]. 826 Kaminski: Über die Schwelle der Un/Aufrichtigkeit, S. 318.

230

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

schichtsschreiber an die Tradition der ‚wahren‘ Erzählung an (Aristoteles). Gleichzeitig deutet das Alter-Ego Talander schon im ersten Satz en passant an, dass die erzählten Ereignisse von den „gemeinen“ Begebenheiten (der Wirklichkeit) „gantz unterschieden“ seien.827 In der Tat ist der Grund der ‚wahren‘ Historie in der Fiktion zu suchen, nämlich in den Zeugnissen der Romanfigur Wandeim, der als intradiegetische Figur der Erzählung seinerseits behauptet, die Geschichte ginge auf „wahre“ Briefe zurück, die er mit Constantine gewechselt habe.828 Als teilnehmende Figur der Geschichte wird Wandeim gewissermaßen zum Zeugen, der für die ‚Wahrhaftigkeit‘ der Protagonistin bürgt. Insofern Wandeim metaleptisch aber auch als Ko-Autor W. außerhalb der erzählten Geschichte auftritt, wird den Lesern suggeriert, er sei gar keine fiktive Figur, sondern eine ‚wahre‘ Person, ja als Ko-Autor W. sogar ein tatsächlicher ‚Mitschreiber‘. Zudem faktualisiert Bohse in der späteren Publikation Ariadne (1699) den Objektstatus der fiktiven Persona erneut, denn er wirft dem vermeintlichen Ko-Autor W. (Wandeim) [!] vor, die Constantine durch unautorisiert eingefügte Textpassagen so entstellt zu haben, dass er, Talander (Bohse), nicht länger als deren Verfasser gelten will.829 Kaminski hat überzeugend dargelegt, dass die Konstruktion der Vorreden nicht als Beleg für die Existenz zweier historischer Verfasser zu werten sei, wie dies z.B. Herbert Singer oder Florian Gelzer vermuten.830 Sie argumentiert, dass „das paratextuelle Ringen konkurrierender Autorinstanzen um angemessene literarische Situierung“ des Romans „als Teil, ja als selbstreflexiver Fluchtpunkt des poetischen Textes“ zu begreifen sei.831 Das Changieren zwischen Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit wertet Kaminski als „performance seiner [des Textes] Selbstverortung im galanten Diskurs, dessen Spielregeln, modal verschaltet durch konstitutives ‚als ob‘, durchweg Schwellenpositionen besetzen: zwischen Natur und Kunst, Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit, Leben und Dichtung, Wahrheit und Fiktion, […] hoher und

827 „Hochgeneigter

Leser. Ich gebe allhier zu dessen Vergnügen eine Liebes=Geschichte heraus / die mit desto mehrerer Anmuth sich wird lesen lassen / ie gewisser deren Inhalt auf eine wahrhafftige Historie dieser Zeit sich gründet / und die verliebten Zufälle / so dabei sich ereignet / von denen gemeinen gantz unterschieden sind“, Talander: Liebenswürdige Constantine, Vorrede An den Leser, unpag. [A 1bf.]. Der pseudonyme Autor Talander übernimmt hier gewissermaßen die Geste eines Herausgebers, der mit seinem Namen und dem Akt des ‚Herausgebens‘ die Publikation für legitim erklärt. Insofern Verleger nicht gewillt sind, mit Herausgeber-Vorworten für galante Romane zu ‚bürgen‘, führt der empirische Autor Bohse die Geste des Herausgebers selbst aus, indem er sich in die Rolle des pseudonymen Autors verdoppelt, der gewissermaßen eigenmächtig die Erlaubnis erteilt zu sprechen und zu veröffentlichen; er tritt wie ein Herausgeber auf. Dies lässt sich als performativer Akt der auktorialen Selbstermächtigung bezeichnen. 828 Ebd., Vorrede An den Leser, unpag. [A 5af.] 829 Kaminski: Über die Schwelle der Un/Aufrichtigkeit, S. 320–322. An dieser Stelle wird deutlich, dass galante Autoren spätere Publikationen nutzen, um Diskussionen zu früheren Texte aufzunehmen und weiterzuführen. 830 Ebd., S. 321f.; Gelzer: Nachahmung, Plagiat, Stil, S. 255‒286, hier S. 258, Anm. 8. 831 Kaminski: Über die Schwelle der Un/Aufrichtigkeit, S. 322.

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

231

niederer Literatur.“832 Bevor diese Spezifik der galanten Romanpublizistik als eine Ästhetik des Experiments, eines experimentellen Umgangs mit Poesie, beschrieben werden soll, ist  –  um Kaminskis Überlegungen zu ergänzen ‒ nach den Effekten dieses Schreibens für die Narrativierung von Weiblichkeit zu fragen. Galante Autoren entwickeln unterschiedliche Strategien, um eine vermeintliche Authentizität der Protagonistin zu fingieren; d.h. die Leser sollen über den Fiktionalitätscharakter der Figur getäuscht und dazu gebracht werden, dass sie glauben wollen sollen (‚make belief‘), es handelte sich tatsächlich um die Erzählung einer ‚wahren‘ Heldin, obwohl bekannt ist, dass der Roman eine erfundene Geschichte erzählt.833 Im Sinne Bovenschens handelt es sich um eine mehrfach kodierte Imagination von Weiblichkeit, die durch den empirischen Autor Bohse mittels unterschiedlicher Sprecher- und Erzählinstanzen (pseudonymer Autor, fiktionaler Ko-Autor, fiktiver Erzähler, fiktive Figuren) konstruiert wird. Sowohl der pseudonyme Autor Talander als auch der fiktionale Ko-Autor W. beteuern in den Vorreden, es handelte sich um eine „wahrhafftige Historie“;834 beide betonen die „Wahrheit der Sache“.835 Zudem erklärt Talander, die Protagonistin nach „Orginalien“ jenes Briefwechsels „abgemahlet“ zu haben, den Constantine mit Wandeim geführt habe,836 und der Talander vom Ko-Autor W. ausgehändigt worden sei, mit der Bitte, die Briefe „nach Art meiner [Talanders] bisherigen Romainen […] zum Druck zu befördern / doch daß ich nichts erdichtetes / oder frembdes möchte einmischen / sondern die Begebenheit / wie sie an sich vorgegangen / der galanten Welt vor Augen stellete.“837 Damit gibt sich Talander als auktorialer Erzähler zu erkennen, aus dessen Perspektive die Geschehnisse um die Protagonistin in der erzählten Geschichte wiedergegeben werden. Obwohl der Erzähler als auktoriale Instanz kein spezifisches Geschlecht hat,838 erscheint er als Alter-Ego des pseudonymen Autors Talander hochgradig männlich konnotiert und tritt neben diesem und dem Ko-Autor W. als dritte männli-

832 Ebd.,

S. 322f. Anlehnung an Fiktionalitättheorien u.a. von Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. Havard Vorlesung 1992–1993. München 1996, bes. S. 103‒127; Walton L. Kendell: Fearning Fictions [1978], dt.: Furcht vor Fiktionen. In: Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie. Hg. v. Maria R. Reichert. 2. Aufl., Paderborn 2010, S. 94‒119. 834 Talander: Liebenswürdige Constantine, Vorrede An den Leser, unpag. [A 1b]. 835 Ebd., Andere Vorrede, unpag. [A 8a]. Der fiktionale Ko-Autor W. spricht wie der pseudonyme Autor Talander von einer „Veritablen Historie“ (ebd.). 836 „Ich [Talander] mahle diese liebenswürdige Constantine […] ab / wie ich den Grundriß dazu aus denen bey mir gehabten Originalien ihrer an dem von Wandeim […] geschriebenen Briefe angetroffen“ (ebd., Vorrede An den Leser, unpag. [A 5af.]). 837 Ebd., unpag. [A 2bf.]. 838 Zur geschlechtlichen Konnotation von Erzählerinstanzen vgl. Gaby Allrath u. Carola Surkamp: Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, Multiperspektivität und Bewusstseinsdarstellung. In: Nünning u. Nünning: Erzähltextanalyse und Gender Studies, S. 143‒179, hier S. 148‒152. 833 In

232

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

1 2 3 4 5 Briefe

1 2 3 4 5

Empirischer Autor/historischer Textproduzent (Bohse) Pseudonymer Autor (Talander) Fiktionaler Ko-Autor W. Fiktiver Erzähler (Narrator) Fiktive Figuren – weibliche Hauptfigur (Constantine), männliche Figur (Wandeim), männliche und weibliche Nebenfiguren

1-2

2-4 4-5 5-3

5-2 3-2

2-5 5-4 5-3 5-2

Historischer Autor (Bohse) pseudonymer Autor (Talander): bestehen auf wahrer Geschichte/Historie Pseudonymer Autor (Talander) Erzähler: geben wahre Geschichte wieder Erzähler narrativiert Figuren und Romanhandlung als ‚wahre‘ Begebenheiten Romanfigur Wandeim – fiktionaler Ko-Autor W.: Figur bezeugt wahre Geschichte, Ko-Autor läßt aber Zweifel an Wahrhaftigkeit Constantines aufkommen Romanfigur (Wandeim) beauftragt pseudonymen Autor Talander mit Text auf Grundlage ‚wahrer‘ Briefe Fiktionaler Ko-Autor W. bestätigt wahre Briefe, stellt aber Urheberschaft des pseudonymen Autors Talander in Frage Pseudonymer Autor Talander orientiert sich an Briefen und ‚wahrer‘ Geschichte der Figuren Figuren bestätigen Darstellung des Erzählers Figuren bestätigen Darstellung des fiktionalen Ko-Autors W. Figuren bestätigen Darstellung des pseudonymen Autors Talander

Abb. 2: Narrative Konstruktion Talander [August Bohse]: Die Liebenswürdige Europäerin Constantine (1698).

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

233

che Erzählinstanz auf. Der Ko-Autor W. stärkt seinerseits die Fiktion des wahrhaften Briefwechsels, da er in der Anderen Vorrede bestätigt, Talander seien „allerhand Brieffe und Miscallanae“ anvertraut worden, die jener der Erzählung „einzuverleiben“ beauftragt wurde.839 Die Inszenierung Constantines durch den Erzähler respektive den pseudonymen Autor Talander folgt der vermeintlich authentischen Quelle ihrer ‚eigenen‘ Schriftzeugnisse, die als scheinbar ‚originale‘ Beweisstücke in den Text integriert werden und im Roman ‒ gezeichnet mit „Constantine“ ‒ in der Tat auftauchen. Die Fiktion der Authentizität der Protagonistin wird auf unterschiedlichen Textebenen konstruiert, die sich gegenseitig stabilisieren (Abb. 2). Der historische Autor Bohse (empirische Autorebene 1) transfiguriert sich in die Rede des Pseudonyms Talander (pseudonyme Autorebene 2), der mit der Selbstbeschreibung als Historiker auf die Wiedergabe einer ‚wahren‘ Geschichte besteht. Da sich Talander zugleich als Erzähler des Romans zu erkennen gibt, verschränkt sich der Wahrheitsanspruch mit der fiktiven Rede über die Romanereignisse und mit der Figurenrede. Die Markierung der ‚wahren‘ Geschichte implementiert sich in die romaninterne Textkonstruktion, die durch die Rede des Erzählers strukturiert wird (fiktive Erzählerebene 4). Die Romanfigur Wandeim tritt wiederum als fiktionaler Ko-Autor W. auf, der in der Anderen Vorrede und somit außerhalb der erzählten Geschichte gleichfalls beteuert, es handelte sich um eine „Veritable Historie“ (fiktionale Autorebene 3).840 Der fiktive Briefwechsel, als authentische Quelle ausgegeben, suggeriert gleichfalls eine ‚Wahrhaftigkeit‘ der Ereignisse: Durch die Integration der Briefe, die von der Protagonistin verfasst worden seien, tatsächlich aber vom empirischen Autor Bohse stammen, kann der Figur im Rahmen der Fiktion eine vermeintlich authentische Stimme verliehen werden (Material- oder Quellenebene). Die von Bohse verfassten Briefe werden über die paratextuellen Autorinstanzen Talander und W. als vermeintlich authentische Dokumente der fiktiven Protagonistin ausgegeben, in denen jene mit ihrer ‚eigenen‘ Stimme zu Wort komme, die im Text vernehmbar wird, indem der Erzähler sie sprechen lässt bzw. ihre Briefe zitiert. Nicht zuletzt bestätigen auch die Figuren der Romanwelt die Aussagen, die Erzähler, pseudonymer Autor und fiktionaler Ko-Autor über die Hauptfigur treffen (fiktive Figurenebene 5). Die intradiegetische Fremdcharakterisierung der Protagonistin durch die männlichen und weiblichen Nebenfiguren der Geschichte folgt demselben Tenor, den Erzähler und paratextuelle Autorinstanzen vorgeben.841 Aus dem Innersten der Fiktion heraus

839 Talander: 840 Ebd. 841 Die

Liebenswürdige Constantine, Andere Vorrede, unpag. [A 8a].

Figurenrede bezieht sich zwar nicht auf die ‚Wahrhaftigkeit‘ oder Erfindung der Erzählung an sich, sondern auf die Figurencharakterisierung (die „Vortrefflichkeit“ Constantines, die „wahrhaftig“ zu betonen sei). Indem die Figuren die Protagonistin aber in derselben Weise beschreiben, wie die Autorinstanzen dies in den Vorreden tun und der Erzähler im Text, stärken sie die Glaubwürdigkeit dieser Erzählinstanzen.

234

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

wird die Glaubwürdigkeit der paratextuellen Sprecherinstanzen gestärkt: Selbst die Figuren der Romanwelt werden zu ‚Zeugen‘, die die Wahrhaftigkeit der Erzählung ihrer Erzähler und damit auch deren Rede über die Protagonistin bestätigen. Offen verortet sich der Roman im Bereich der Fiktion, der erfundenen Geschichte, liefert aber so viele Hinweise zum vermeintlich ‚wahren‘ Aussagegehalt der Darstellung, dass der Roman die eigene fiktionale Setzung scheinbar unterminiert. Mit anderen Worten: Die Leser und Leserinnen sollen von der fiktionalen Authentizität der Erzählung und der Protagonistin überzeugt werden. Im paralogistischen Fehlschluss, in der bewussten Hinwendung zur Fiktion, können sie den Roman als ‚wahre‘ Erzählung lesen (Authentizitätsfiktion). Offensichtlich ist, dass es sich um eine komplexe, männlich konnotierte, aber auch männlich autorisierte Imagination und Konstruktion von Weiblichkeit handelt, deren ‚Authentizität‘ mit den Mitteln der Fiktion hergestellt wird. Bohses Beispiel kann durchaus als repräsentativ gelten, da der Autor eine literarische Mode anstößt, die bewusst mit der Authentizitätsfiktion des Weiblichkeitsnarrativs spielt. In der Folgezeit erscheinen weiblichkeitszentrierte Romane in Fülle, die das Attribut ‚wahrhaftig‘ schon im Titel führen ‒ etwa die Moscowitin Abra Mule / oder wahrhaffte Liebes=Geschichte (1698),842 Die Anmuthige Pistophile / In einer wahrhafften, ob wohl verdeckten Liebes=und Helden=Geschichte (1713),843 Africanische Bernandis / In einer wahrhafftigen Liebes- und Helden-Geschichte (1715),844 Die Teutsche Avanturiere / oder wahrhaffte Geschichte (1725) u.a.845 Das Ringen um den epistemischen Status der Protagonistin, deren ‚Wahrhaftigkeit‘ virtuos betont wird, während die Authentizitätsfiktion gleichzeitig immer wieder kennt­lich gemacht wird, lässt allerdings offen, ob sich der poetologische Fluchtpunkt dieses Schreibens tatsächlich auf die Protagonistin, d.h. auf die geschlechterspezifische Dimension der Erzählung richtet. Erkennbar wird vielmehr, dass Bohse die Auseinandersetzung um die ‚Wahrhaftigkeit‘ der Figur nutzt, um Autorpositionen zu entwerfen, sie experimentell gegeneinander auszu­spielen und Gestaltungsmöglichkeiten im Umgang mit dem fiktionalen Text zu erproben. Die Schwellenposition des galanten Romans, auf die Kaminski verweist, die modale Verschaltung durch „konstitutives als ob“ wird – so ist festzuhalten ‒ poetologisch durch die gleichzeitige Verortung des Romans im Bereich der (wahren) Historie und der (erfundenen) Fiktion realisiert. Die Gestaltung einer bewussten Unentscheidbar-

842 Zit.

nach Weber u. Mithal: Deutsche Originalromane, S. 100. Erdmann von Glaubitz: Die Anmuthige Pistophile / In einer wahrhafften, ob wohl verdeckten Liebes= und Helden=Geschichte ausführlich entworffen von F.E. von Glaubitz. Franck­ furt/Leipzig: Michael Rorlachs Wittib und Erben 1713. 844 Palmenes: Die Beständigkeit im Lieben an der Africanischen Bernandis. In einer wahrhafftigen Liebes- und Helden-Geschichte / an das Licht gestellet von Palmenes. Leipzig: Martini 1715. 845 Veramor: Die Teutsche Avanturiere / oder wahrhaffte Geschichte, wunderbare fata und gar besondere Begegenheiten eines charmanten Bürger=Mädgens in Tilinien [s.l.] 1725. 843 Friedrich

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

235

keit hinsicht­lich des epistemischen Status des Romans und die Integration unzuverlässiger Formen des Erzählens in den Text erlauben es, im experimentellen Umgang mit sprachlich-poetischen Formen Ambiguität zu erzeugen und somit einem arguten Schreib- und Stilideal Ausdruck zu verleihen, das ‒ wie Rose gezeigt hat ‒ typisch für die galante Publizistik ist.846 Unter der Lizenz der poetischen Erfindung (inventio), die junge Autoren um 1700 stärken, können textuelle und paratextuelle Strukturen, können Stil-, Sprach- und Gattungsformen vielfältig kombiniert und unterschiedlich funktionalisiert werden. Bohses Umgang mit den Vorreden lässt solch einen experimentellen Umgang mit Poesie erkennen. Von Interesse ist daher, wie galante Frauenfiguren konkret gestaltet werden und welche Funktionen sich mit der „Mannigfaltigkeit ihrer Konstruktionen“ (Butler) verbinden können. 3.4.2.2 Die Protagonistin als Medium der Sitten- und Gesellschaftskritik Für die Inszenierung von Weiblichkeit, für die Einordnung und Bewertung der galanten Protagonistin sind unzuverlässige und polyvalente Erzählstrategien  –  oder eine „doppelte narrative Buchführung“ (Kaminski) ‒847 ausgesprochen interessant. Als paratextuelle Rahmung des gesamten Textes konstituiert sich über die Vorreden eine verallgemeinernde Perspektive auf die Hauptfigur und liefert der Leserschaft einen Ansatzpunkt, wie ambivalente, zum Teil widersprüchliche Darstellungen der Protagonistin in der erzählten Geschichte zu bewerten sind. Erneut lässt sich an Bohse/Talanders Constantine (1698) zeigen, wie die Protagonistin in den Vorreden eingeführt und semantisiert wird und unter welchen Prämissen der Roman den Lesern und Leserinnen angeboten wird. Wie erwähnt, handelt es sich bei der Konzeption der Constantine, wie auch der anderen Frauenfiguren im Untersuchungszeitraum, um Weiblichkeitsfiktionen junger männlicher Autoren. Überraschend und auffällig ist, dass vor allem Romane vor 1700 (nach dem Vorbild Bohses) von einem durchweg positiven, ja geradezu glorifizierenden Weiblichkeitsstereotyp ausgehen. Diese Besonderheit lässt sich auf die Rezeption der französischen Romantradition preziöser Autorinnen zurückführen. Im preziösen Roman Scudérys tritt die Frau als vorbildliche, häufig antikisierte Figur auf, die zum Inbegriff des exzeptionellen Frauenzimmers überhöht wird. Als fehlund tadellose, beinahe unfassbare und raum-zeitenthobene, standhaft-heroische Inkorporation der Tugend vereint die preziöse Dame in sich alles Preiswürdige der Welt (gloire: Ehre, Ruhm, Tugend).848 Dieselbe Tendenz findet sich in Bohses Romanen wieder. Während Talander in der Vorrede An den Leser von seiner „Hochachtung einer derer Galantesten Damen dieser Zeit / Constantine genannt“ spricht, „dero

846 Zum

Stilideal des Arguten vgl. Rose: Conduite und Text, S. 241‒250 sowie Kap. 3.3.2.2 Liebe und Laster als Materien der Lektüre von Frauen. 847 Kaminski: Über die Schwelle der Un/Aufrichtigkeit, S. 318. 848 Büff: Ruelle und Realität, S. 150.

236

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Handlungen auff lauter Ruhm und Ehre zielen“,849 übertrifft sich der Ko-Autor W. geradezu im Lob dieser Dame. Er nennt sie „ein rechtes Wunder=Gebäu der Natur“, eine „hochfürtreffliche Dame (die an Würde, Qvalitäten und Annehmlichkeit wenig Ihres gleichen hat)“ und deren „Vollkommheiten / und gantz incomparabel Naturell [und] Capacité wohlbewundert / aber nicht satsam beschrieben werden können.“850 W. schätzt sich dankbar, dass dieses Frauenzimmer, dem „ein unendliches Lob gebühret“, ihn „in Erkennung meiner [des Mannes] Unwürdigkeit“ dennoch „Ihrer hohen Gunst honoriret“ habe, weswegen er ihr mit dem Roman „öffentliche Proben“ seiner „Hochachtung“ geben wolle.851 Das exorbitante Lob mag modernen Lesern wie eine satirische Überspitzung vorkommen, doch im Vergleich zum preziösen Roman nehmen sich Bohses Lobpreisungen geradezu mager aus. Die Anbindung an die französische Tradition bedeutet einerseits, von der Akzeptanz und Beliebtheit des preziösen Romans zu profitieren (denn junge Autoren in Deutschland machen scheinbar nichts anderes, wofür preziöse Autorinnen in Frankreich und Europa geschätzt werden). Andererseits bedeutet dies figurenkonzeptionell, an das Frauenlob anzuschließen und ein spezifisches Geschlechtermodell zu adaptieren, auf dessen Modifikation im deutschen Kontext die Textanalysen eingehen. Grundsätzlich ist in der Auswahl der vorliegenden Romane die positive Konzeptualisierung der weiblichen Hauptfigur signifikant. Die Vorreden werden präziser in dem, was diese „miraculöse Dame“ und „Tugend=volle Seele“ auszeichnet, die nicht nur von beiden Autorinstanzen (Talander und W.) hochgeschätzt wird, sondern als „in aller Welt belobte Dame“ gilt.852 Besonders zeichnet sich Constantine durch ihren „Geist“ aus, später auch als „Verstand“ bezeichnet.853 Edler noch als ihr Leib – womit der Heldin im Sinne des Kalokagathia-Ideals auch Schönheit zugesprochen wird ‒854 sei ihr Geist, der jenen der höchsten Männer übersteige: Es fehlet Dieser höchstwürdigsten und in aller Welt belobten Dame in keinem Stücke nichts; […] Ist aber der Leib Edel und vollkommen / so ist der Geist noch weit Edeler und vollkommener / so / daß er auch alle Höhen der Welt=geschäffte übersteiget / und denen grössten Monarchen den Vorzug streitig machen kan [Hervorh. K.B.].855

Der Ko-Autor W. beteuert: „Ich finde nicht Worte gnug / dieser Welt=Klugen Dame Ihren hocherleuchteten / und so zu reden fast vergötterten Verstand der Gebühr

849 Talander:

Liebenswürdige Constantine, Vorrede An den Leser, unpag. [A 2a], [A 5a]. Vorrede, unpag. [A 8a‒A 9a]. 851 Ebd., unpag. [A 10b], [A 8b], [A 9a], [A 7a]. 852 Ebd., unpag. [A 10a], [A 10b]. 853 Ebd., unpag. [A 10a], [A 10b], [A 11a], [A 20b], [A 23b], [A 25a]. 854 Beschreibung der körperlichen Vorzüge (ebd., unpag. [A 9af.]). Gepriesen werden die anmutigen Gesichtslinien, die liebreizenden Minen, die Feuerfunken der majestätischen Augen, die anmutigen Wangen, die Röte ihrer geistreichen Lippen usw. 855 Ebd., unpag. [A 10af.]. 850 Ebd., Andere

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

237

nach zu preisen.“856 Entscheidend ist weniger, dass die Protagonistin eine „unvergleichliche Raisonabilität“ in Rhetorik und Konversation besitzt, „Wort=reich“ ist, die „raresten Musicalischen Instrumente“ beherrscht und sich mit ihrer „natürlichen Wohlredenheit“ und „Humör“ aufs „gefälligste“ im sozialen Verkehr bewegt. Sondern aufgrund ihres Geistes zeichnet sie sich vor allem durch eine extraordinäre Menschenkenntnis und ein Wissen um die „heutige Welt“ aus. Dieser Aspekt der Figurencharakterisierung ist interessant, weil sich damit ein Vexierbild jener ‚heutigen Welt‘ rekonstruieren lässt; eine Perspektive, wie junge galante Autoren die gesellschaftlichen Zustände ihrer Zeit beschreiben und fiktional reflektieren. Die Protagonistin wird als intelligente, integere Figur charakterisiert, die nicht nur ihre Mitmenschen auf das Genaueste einschätzen könne, sondern zugleich die Welt in all ihren Abgründen kennt: Das Geheimnüß / die Leute erkennen zu lernen / ist Ihr allzuwohl bewust; Sie kennet auch die heutige umb den Himmel sich fast gar nicht mehr bekümmernde […] sich selbst schmeichelnde / in Falschheit gekleidete / in Wollüsten gantz ersoffene / und an der Hitze der thörichten Eigen=Liebe hart darniederliegende / eine Zeitlang vermasqvete / nunmehro aber entlarvte unartige Welt / mit allen ihren schändlichen Finessen […] [Hervorh. K.B.].857

Die weibliche Hauptfigur ist Teil einer Welt, die der Ko-Autor W. im Folgenden als die „heutige grundböse Welt“ beschreibt, in der „Barbarische Gewohnheiten“, „Arglistigkeit“ und „Sünden“ herrschen.858 Er spricht von „confusen und ärgerlichen Zeiten“ und einer „brutälen Lebens=Arth“, ja von den „Brutalitäten [die] in voller Flamme stehen“.859 Über fünfzehn Seiten hinweg erregt sich der Ko-Autor W. über die Zustände in „diesen unsern Zeiten“.860 Er prangert den Verlust der „Brüderlichen Liebe“ an, die „der Kälte des Hasses“ weichen musste, wettert gegen die „Atheisterey“ und die „Impietät“, gegen „Falschheit / Mißgunst / Lügen und Verleumdung / Eigen=Nutz / Ungerechtigkeit“, gegen die „verdammliche Hoff­art“ ebenso wie die zu „allen Lastern ergebenen Impietisten“, gegen die „brutälen Türcken“ und die „Geld=Begierigen“.861 Die Romanvorrede wird zur fundamentalen Gesellschaftskritik, die kaum einen Bereich sozialer Wirklichkeit auslässt. In dieser „Irraisonablen Welt“, so die Meinung W.s, liegen „Gerechtigkeit / Treue und Redlichkeit anietzo in letzten Zügen“.862 Aus diesem Grund müsste man sich der „heutigen verführerischen Welt / welche […] den Schalck und die Boßheit meisterlich zu

856 Ebd.,

unpag. [A 10b–A 21a], auch im Folgenden. unpag. [A 11af.]. 858 Ebd., unpag. [A 11b]. 859 Ebd., unpag. [A 18a], [A 13a]. 860 Ebd., unpag. [A 11b]. 861 Ebd., unpag. [A 12a–A 17a]. 862 Ebd., unpag. [A 19a]. 857 Ebd.,

238

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

verbergen weiß“ eigentlich „gäntzlich enthalten“.863 Doch der Ko-Autor W. endet mit der Hoffnung auf einen Wandel, auf eine Reformierung. Er setzt auf diejenigen, die sich ändern wollen und als „hinkünfftig neu=angehene Liebhaber“ der Unvernunft ein Ende setzen – alle anderen hätten in einer „löblichen Republic“ ohnehin nichts zu suchen: [Ich] lasse ungemuthmasset / was die […] Irraisonable Welt (in welcher die Gerechtigkeit / Treue und Redlichkeit anitzo in letzten Zügen liegt) Bey Entdeckung der manifestesten Wahrheit urtheilen wird. Zwar werde [ich] mich glücklich schätzen / wenn nur bey einigen albereit Beleidigten / auch noch hinkünfftig neu=angehenden Liebhabern / es einen behutsamen Wandel / wie auch klügliche Vorsichtigkeit nach sich ziehet. In übrigen erachte [ich] vor unnöthig ferner hiervon viele Ceremonien zu machen / sondern sage ohne Scheu / daß dergleichen […] nichtswürdige Brut / die anitzo unter den grossen liederlichen Welt=Hauffen hin und wieder zu finden / in einer löblichen Republic von Rechts=wegen nicht sollen geduldet werden [Hervorh. K.B.].864

Zum Teil könnte man der galanten Romanpublizistik sogar eine untergründig politische Dimension zuschreiben, etwa wenn Bohse in der vierten Auflage von Amor am Hofe (1696) erklärt, er habe die Geschichte so verfasst, wie sie sich „wahrhafftig also verhält“, und wenn die „tyrannische Regierung“ und die „Wollüste“ eines „Fürsten“ dargestellt werden, so sei dies als (politische) Zukunftsprognose zu lesen, da „beydes [Wollust und tyrannische Regierung] den allgemeinen Haß des Volcks auff die Fürsten bringet / und zu ihrem Falle den grösten Anlaß giebet.“865 Insgesamt sind politische Aussagen im galanten Roman aber untypisch. Vielmehr verbindet sich mit der Romanpublizistik eine unprogrammatische, oft konfuse und satirisch-scherzhafte Kritik an zeitgenössischen Sitten um 1700. Im Roman, der als Neben­produkt des Buchhandels und als nicht kodifizierte Gattung weite Spielräume für das poetische Experiment zulässt, Urheberschaften verschleiert und im Spiel zwischen Scherz und Ernst eindeutige Positionierungen aufhebt, kann Kritik schreibend umkreist werden, ohne dass es sich bereits um ausformulierte, klare Programme handeln muss. Nicht jeder galante Roman entfaltet kritische Funktionspotentiale; grundsätzlich ist Kritik aber möglich und verbirgt sich oft im Gewand der „Sitten-Lehre“. So auch in Bohses Constantine: Um die Leserschaft aufzurütteln, sie für moralische Fragen zu sensibilisieren und gegebenenfalls einen Wandel der sittlich-sozialen Verhältnisse einzuleiten, bedarf es nach Ansicht des Ko-Autors W. der Literatur und vorbildlicher Heldinnen wie der Constantine. W. stellt selbst die Frage, welchen Vor-

863 Ebd.,

unpag. [A 18a]. unpag. [A 19a]. 865 Talander: Amor am Hofe. Ander Theil (1696), Vorrede, unpag. [A 3af.]. Die Vorrede ist dem in das Buch integrierten zweiten Romanteil vorangestellt, so dass sie nicht exponiert am Beginn, sondern in der Mitte der Publikation erscheint und so für Zensurbehörden weniger gut zu finden ist. 864 Ebd.,

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

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teil es haben sollte, dass gerade eine Frau die verdorbene Welt so gründlich kennt. Seine Antwort ist einfach – weil sie dadurch vor ihr warnen kann: [A]llein welcher Eyfer verleitet mich von den Ruhm der unvergleichlichen Constantine, allermaßen auch die gründliche Käntnuß der heutigen Welt unter ihre Vollkommenheiten zu zehlen [?]. Sie kennet aber selbige nicht nur / sondern kan auch die noch zum Theil erbare Welt mit einer klugen Vorsichtigkeit warnen [Hervorh. K.B.].866

Galante Autoren instrumentalisieren die weibliche Hauptfigur als Medium der poetischen Sitten- und Gesellschaftskritik. Im Spiegel der Protagonistin soll den Lesern und Leserinnen das Laster vorgehalten, sollen zu kritisierende Zustände der „heutigen Welt“ angeprangert werden.867 Diese Funktionalisierung hat auch Konsequenzen für die Konzeption des weiblichen Figurencharakters. Insofern Frauenfiguren wie Constantine die „heutige Welt“ kennen, durchschauen und zur Anschauung bringen sollen, bedürfen sie vielfältiger Fähigkeiten und Kompetenzen, damit ihren Beobachtungen und Urteilen überhaupt Plausibilität und Legitimität zugesprochen werden kann. Aufgrund der konzeptionellen Anlage des Romans muss der Figurencharakter der Protagonistin breit gefächert und komplex sein. Da dieser Aspekt in Kapitel 4 detailliert untersucht wird, soll ein kurzer Hinweis genügen. Die Welt- und Menschenkenntnis Constantines respektive der galanten Protagonistin zeigt sich nicht nur in ihrer hohen sozialen Kompetenz („höffliche Manier“) und ihren intellektuellen wie rhetorischen Fähigkeiten, so dass sie – auch romankonzeptionell – glaubhaft in der Lage ist, ein „Gemüths=Portrait“ anderer anzuzeigen und „Rechenschaft zu geben“.868 Sondern sie wird vom Ko-Autor W. auch für ihre Geschicklichkeit gepriesen, sich dissimulierend den Gegebenheiten ihrer Umwelt anzupassen („Verstellungs=Kunst“, „Käntnüß de[s] Grund[es] aller Politischen Wissenschafft“).869 Um die zu kritisierende Welt zu durchschauen und dennoch erfolgreich in ihr zu bestehen, bedarf es eines hohen Grades an Selbstreflexivität („ein guter Verstand / welcher in der Erkänntnüß seiner selbst nicht frembde“) und der Affektkontrolle („an sich haltende Aufführung“), um letztlich eigene Interessen verfolgen und selbst bestimmt leben zu können („geheime Entschliessung seiner eigenen Affairen“).870 Wie solche Kompetenzen romanintern inszeniert werden, d.h. wie die

866 Talander:

Liebenswürdige Constantine, Andere Vorrede, unpag. [A 20b]. Spiegel-Metapher Kap. 3.3.2.2 Liebe und Laster als Materien der Lektüre von Frauen. 868 Talander: Liebenswürdige Constantine, Andere Vorrede, unpag. [A 20b]. 869 „Uber diß weiß diese Wort=reiche Dame durch ihre Welt kluge Erfahrenheit mit einer so gar artigen und über aus höfflichen Manier eines andern Fehler, auch eigentliches Gemüths=Portrait gar glimpflich anzuzeigen / und von allen so bescheidentlich Rechenschafft zu geben / indem eine solche Lieblichkeit in allen ihren Worten zu spühren / […] und [sie] weiß dabey durch die mit Respect vermischte Verstellungs=Kunst / ihre vortreffliche Conduite und rare meriten auff das Artigste zu dissimuliren / denn sie mit weit mehrern Verstande begabet / als sie von sich blicken lässet / in welcher Käntnüß der Grund aller Politischen Wissenschafft begriffen“ (ebd.). 870 Ebd., unpag. [A 37b], [A 37a]. 867 Zur

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Protagonistin ‚zeigt‘, dass Verstellung und Dissimulation geeignete Mittel sind, um persönliche Absichten und Ziele zu erreichen, wird in den Textanalysen interessant. Die Behauptung ist sicher nicht zu weit gegriffen, dass die galante Protagonistin keineswegs ein geschlechterspezifiziertes Ideal galanter Conduite repräsentiert. Im Hintergrund steht eher ein allgemeines Modell galanter Conduite, das sich ebenso – vielleicht vornehmlich – auf das männliche Geschlecht bezieht. Der Ko-Autor W. erläutert die Eigenschaften der Protagonistin denn auch, um die Leserschaft zu überzeugen, in Constantine eine repräsentative und exemplarische Figur zu akzeptieren, welche die „erbare Welt […] warnen“ kann.871 Solcher Art wird die (fiktive) Frau zur repräsentativen Figuration, die besonders den „hinkünfftig neu=angehenen Liebhabern“ zum Vorbild dient, sich angemessen, d.h. galant, zu verhalten und der „brutälen Lebens=Arth“ der „irraisonablen Welt“ ein Ideal galanter Conduite entgegen zu setzen.872 Der Ko-Autor W. erklärt: Doch kan ich mit Wahrheit sagen: Daß / wer bey der heutigen […] galanten Welt sein Glück stabil[is]iren / und zu etwas kommen will / der befleißige sich nechst einem Natürlichen Verstande und erhabenen Gemüthe / auf eine mit Reinlichkeit / gute Mine, propre Resolution, geschickliche Stell= und Verstellung / bey solcher an sich haltendenden Aufführung und geheimer Entschließung seiner eigenen Affairen / und Verknüpfung einer vorsichtigen Conduite […].873

Das Ideal galanter Lebensart oder Conduite, das die Protagonistin exemplarisch verkörpert, gestaltet sich auch als Abgrenzungsmodell zur traditionellen Gelehrsamkeit. Bei einer galanten, d.h. „frey und ungezwungenen Indifferenten Lebens=Arth [wird] es einer […] höher bringen / als mit der tieffsinnigsten Gelehrsamkeit“, weiß W. zu raten, da „man vielmahl siehet / daß / der viel weiß / nicht eben gar klug und geschickt ist / auch mancher mehr durch das Glück / als durch das Geschick / befördert wird“.874 Die Ausgrenzung der Frau aus dem gelehrten Diskurs wird in diesem Zusammenhang geradezu zum positiven Identifikationsangebot. Für die Konfiguration und Illustration einer nicht-schulfüchsischen, unpedantischen Galanterie (Selamintes, Kapitel 3.4.1.4) ist die weibliche Figur sogar besser geeignet als ein männlicher Protagonist. Ohne Zweifel verbirgt sich hinter der Gestaltung der weiblichen Hauptfigur im galanten Roman mehr als nur die fiktionale Überformung profaner Weiblichkeit zu Zwecken des Spotts und der Satire, wie dies aus der Tradition frühneuzeitlicher Spott- und Satireschriften bekannt ist.875 Zugleich lassen sich die Texte nicht in die Tradition der Querelle-des-Femmes-Schriften oder der preziösen Romantradition

871 Ebd.,

unpag. [A 20b]. unpag. [A 19a], [A 18a]. 873 Ebd., unpag. [A 37a]. 874 Ebd., unpag. [A 37af.]. 875 Nikola Roßbach: Der böse Frau. Die Malus Mulier-Texte der Frühen Neuzeit. Königstein i.T. 2009. 872 Ebd.,

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

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einreihen, in denen solch ein kompromissloser, fast rauhbeiniger Kritikimpuls nicht denkbar wäre. An diesem Punkt lassen sich die verdienstvollen Studien von Gelzer und Rose ergänzen. Die Ausführungen zeigen, dass die weibliche Hauptfigur für unterschiedliche Zwecke instrumentalisiert werden kann, die nicht notwendig kompatibel sein müssen. Gelzer und Rose argumentieren in ihren Studien, dass galante Autoren den Roman funktionalisieren, um Verhaltens- und Kommunikationsideale zu entwerfen, die in der sozialen Praxis wirksam werden sollen. Der Roman wird (1) als „Sittenlehre“, als Lehrbuch der galanten Konversation und Affekte wirksam.876 Dem ist insofern zuzu­stimmen, als dass galante Autoren solche Zielsetzungen selbst nennen, auch wenn sie möglicherweise dabei scherzen. Denn neben Affekterziehung und Sittenlehre treten im galanten Roman (2) auch Vergnügen und Scherz sowie (3) eine recht vehemente Kritik an zeitgenössischen Sitten und Zuständen (galante Sitten- und Gesellschaftskritik). Letztere Funktion geht über eine reine Sittenlehre hinaus, denn wer kritisiert, entwirft nicht nur präskriptive Bilder des ‚angemessenen‘ Verhaltens und Kommunizierens. Er zielt auf eine Delegitimierung von Bestehendem. Die Unzuverlässigkeit der Autor- und Urheberschaft, wie sie an Bohses Vorredenkonstruktion der Constantine gezeigt wurde, kann daher nicht nur als poetisches Spiel oder als experimentelles Erschreiben von Autorpositionen gewertet werden. Sondern es lassen sich auch pragmatische Zielsetzungen vermuten: Ambiguität und Unzuverlässigkeit bieten im Hinblick auf die Verfasserschaft Schutz vor juristischer Verfolgung durch Zensur und Kontrollbehörden und vor moralischer, sozialer, literarischer Kritik. Der Autor, der Pseudonyme benutzt, um sich zu maskieren, der sein Werk durch Dritte unfreiwillig entstellt ausweist877 oder sogar Romanfiguren erfindet, um ihnen poetischen Missbrauch vorzuwerfen (Bohse), ist als Urheber eines Textes nicht vollständig haftbar zu machen; er kann sich dadurch möglichen Konsequenzen der Publikationspraxis entziehen oder sie entschärfen. Auch konzeptionelle Reflexionen (Poesie zwischen ‚Scherz und Ernst‘) begünstigen die Indienstnahme des Textes zu Zwecken der (satirischen) Kritik: Kritik kann lachend vorgetragen werden, die ihrerseits unterschiedliche Gegner zu treffen vermag; genauso wie Satire unter dem Deckmantel der Ernsthaftigkeit ins Endlose ausgeweitet werden kann. Insofern all dies über die weibliche Hauptfigur vermittelt wird, lässt sich im Laufe der deutschen Gattungsentwicklung folgende Tendenz beobachten: Während die weibliche Hauptfigur bei Bohse der Inszenierung eines vorbildlichen Weiblichkeitsnarrativs dient,878 das sich sogar als Utopieraum einer Sitten- und Ge-

876 Gelzer:

Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 51, 116f., 141f., 371; Rose: Conduite und Text, S. 6–17, 35, 167–169, 463. 877 Kap. 3.1.3.4 Soziale Strukturen und (illegitime) Praktiken. 878 Auf die positive Konzeptionalisierung von Bohses Constantine macht auch Kaminski: Über die Schwelle der Un/Aufrichtigkeit, S. 324f. aufmerksam und grenzt sie von negativen Spottdarstellungen der Frau ab, etwa Christian Reuters Schlampampe (1695/96).

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

sellschaftskritik anbietet, erscheinen nach 1700 immer mehr Romane, die negative Frauenfiguren gestalten, sie satirisch-spöttisch aufs Korn nehmen und der Lächerlichkeit preisgeben.879 Zunächst jedoch gelten Bohses Romane als vorbildlich und Trend setzend und mit ihnen das glorifizierende (preziöse) Ideal der Frau, das sich mit Bohses Texten verbindet.880 Vor 1700 tauchen misogynen Tendenzen kaum auf; die weibliche Hauptfigur fungiert in der Regel als repräsentative und exemplarische Figur vorbildhafter Weiblichkeit bzw. Menschlichkeit. Erst als Bohse/Talander für jüngere Autorengenerationen (Hunold, Celander, Selamintes) immer weniger Vorbild ist, sondern zum älteren Vorreiter wird, dessen Romane zu übertreffen und zu überwinden sind, wird auch das preziöse Weiblichkeitsideal in frivoler und misogyner Absicht variiert. Exemplarisch lässt sich diese Tendenz an Hunold/Menantes verfolgen. 3.4.2.3 Satirische Weiblichkeitsnarrative: Der Roman als Machtinstrument 1710 veröffentlicht Hunold/Menantes eine Fortsetzung seines erfolgreichen Erstlingswerkes Satyrischer Roman ‒ den Satyrischen Roman Ander Theil.881 Der Briefwechsel mit seinem Freund und zweiten Verleger Benjamin Wedel dokumentiert den Entstehungsprozess der Publikation in der Zeit nach Hunolds Flucht aus Hamburg. Obwohl die Korrespondenz nicht umfangreich ist, zeigen die Briefe, wie stark private Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht die Romanproduktion des Dichters beeinflussen und zugleich in die Romanproduktion einfließen, die dadurch umso mehr Aufmerksamkeit erregt (Kapitel 3.2.2.3). Unter Vorbehalt lassen sich dadurch auch Einblicke in den Zusammenhang von Gattung und Geschlecht in soziokultureller Perspektive gewinnen. Eine wichtige Bezugsperson Hunolds in der Hamburger Zeit war seine Geliebte Madame R***, hinter der die schon erwähnte Hamburger Opernsängerin Rischmüller zu vermuten ist.882 Briefe von Madame R*** an Hunold sind meines Wissens nicht überliefert, möglicherweise könnten aber Archivrecherchen in Hamburg und andernorts weitere Quellen erschließen. Zunächst lassen sich Hinweise zur Person der Sängerin nur aus den Briefen Hunolds und aus Wedels Hunold-Biografie gewinnen. Madame R*** wird in diesen Quellen als intelligente und unabhängige Frau beschrieben: Wiederholt wird ihr „Verstand“ gelobt,883 als Sängerin an der

879 So

instrumentalisiert Hunold das weibliche Figurenpersonal, um private Rachefeldzüge gegen ehemalige Geliebte zu führen, Kap. 3.4.2.3 Satirische Weiblichkeitsnarrative. 880 Zur Vorbildwirkung Bohses Kap. 3.2 Die Autoren; zum Einfluss der preziösen Romantradition Kap. 2.3. und Kap. 4.1.4 sowie Kap. 4.2.3. 881 Menantes [Christian Friedrich Hunold]: Satyrischer Roman, Ander Theil. Der Galanten Welt zur vergnügten Curiosité / ans Licht gestellet Von Menantes. Stade: Hinrich Brummers, 1710. 882 Vgl. Anm. 724 in Kap. 3.4.1.3 Hunold: Satyrische Schreib-Art (1706). 883 „Ihr Verstand bezauberte ihn [Hunold] gantz und gar“; „Madame R***, welche […] am Verstande alle Anderen [Frauen] übertraff“, Wedel: Geheime Nachrichten, S. 77.

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

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Hamburger Oper ist sie berufstätig,884 Mutter eines Sohnes885 und vermutlich verwitwet.886 Indem sie eine Liaison mit dem Dichter eingeht (anscheinend auch mit anderen Liebhabern), erlaubt sie sich ein selbstbestimmtes Liebesleben, ohne dies von einer Eheschließung abhängig zu machen.887 Ihre Rendezvous mit dem Dichter dehnt sie oft bis spät in die Nacht aus.888 Nach Hunolds Flucht aus Hamburg scheint sie ihre Karriere als Opernsängerin und ihren freien Lebenswandel in ‚wilder Ehe‘ („Mariage sans conscience“) fortgeführt zu haben; dies legen Hunold Briefe nahe, der sich zwischen 1706 und 1709 kontinuierlich über Madame R*** informieren lässt889 und zeitweise selbst wieder in Briefkontakt mit ihr steht.890 In einem Brief an Wedel berichtet Hunold: Sie [Madame R***] singt in der Opera und glaubt / daß es Tristanten [vermeintl. Liebhaber] zuwieder [ist] […]. Allein die Mariage sans conscience, so Tristant ein Jahr lang mit ihr exercirt / verbietet ihr solches [das Singen] nicht; er giebt ihr auch […] genugsam zu verstehen / daß an keine rechte Mariage [Ehe] ehemals Hoffnung zu machen; nur befürchtet er / daß sie durch diese schändliche Gelegenheit in Opern / von neuen auf die vorige Lebens=Art gerathen / und am Ende ihm schlechten Ruhm dadurch hinterlassen möge [Hervorh. K.B.].891

Wie weit diese Darstellung historische Realitäten von Frauen, insbesondere der Madame R*** trifft, kann nicht entschieden werden und müsste durch weitere sozialhistorische Forschungen aufgearbeitet werden. Vorstellbar ist allerdings, dass sich im künstlerischen Milieu der Hamburger Oper ungewöhnlich freie Lebensmöglichkeiten für Frauen eröffneten, die etwa Madame R*** oder der Conradi in ihrer

884 Ebd.,

S. 76f. weist Wedel an, dem Sohn von Madame R***, mit dem er auch nach dem Bruch des Liebesverhältnisses in Kontakt bleibt, schwer zu besorgende Bücher zu senden (ebd., S. 140). 886 Ebd., S. 78. 887 Rose verweist auf die fließenden Grenzen zwischen Prostitution und der „Interaktion mit dem Opernfrauenzimmer“, geht aber davon aus, dass Hunold in einer „eheähnlichen Beziehung zu Madame R***“ steht, Rose: Conduite und Text, S. 89. 888 Im Brief vom 13.06.1706 an Wedel kommt Hunold auf seine Gewohnheit zu sprechen, „bis in die Nacht“ in „die Neustadt“ zu gehen, wo laut Fußnote von Wedel Madame R*** wohnt. Hunold spricht von sich in der dritten Person und verwendet das Pseudonym Menantes, Wedel: Geheime Nachrichten, S. 94. 889 Brief Hunold an Wedel vom 20.02.1707: „[L]aß dich nicht die Mühe verdrüssen / mir zu berichten / was Doct. St. und Cyprianus von Notenberg von mir mit R*** geredet“ (ebd., S. 130); ähnliche Hinweise S. 120, 122, 130, 133, 135, 139f., 144, 149, 157. 890 Hinweis auf persönlichen Briefkontakt: „die Mad. R. … schreibt mir“ (ebd., S.  144; ähnlich S. 139f.). 891 Brief Hunold an Wedel vom 20.02.1707 (ebd., S. 130f.). In einer Fußnote bringt Wedel diese Ausführungen mit der Conradi in Verbindung, in Hunolds Brief ist jedoch ausdrücklich von Madame R*** die Rede. Obwohl Hunold die Geliebte schon zum früheren Zeitpunkt überreden wollte, die Operntätigkeit aufzugeben, verfolgt sie ihre Karriere weiter. Wedel berichtet in der Biografie: „Da nun Herr Menantes in grosser Vertraulichkeit mit der Mad. R.*** lebete […] / persuadirte er sie dahin / daß sie sich gantz aus der Opera begab und nicht mehr mit sunge“ (ebd., S. 78). 885 Hunold

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Position als Künstlerinnen zugestanden wurden. Dokumentationen zur Hamburger Oper am Gänsemarkt, die mit ihrer Gründung 1678 als erstes städtisches Opernhaus Deutschlands gilt, lassen auf ein furioses und recht avantgardistisches Kunstwesen schließen.892 Die damals modernsten Opern von Komponisten wie Reinhard Keiser, Georg Philipp Telemann oder Georg Friedrich Händel wurden mit Feuerwerken, Kanonendonner, überraschenden Illuminationen, verschwenderischen Kostümen,893 einer beweglichen Bühne oder der Aufführung wilder Tiere furios in Szene gesetzt.894 Berichten Hunolds zufolge lief das Publikum vor der Bühne (dem Par terre oder den Stehplätzen) plaudernd auf und ab; mit­unter wurden die Gespräche so laut, dass vom Bühnengeschehen „kein Wort“ mehr zu vernehmen war.895 Stattdessen stand zu befürchten, die Selbstdarstellung mancher Besucher könnte die Opernaufführung selbst in den Schatten stellen.896 Man vergnügte sich mit Sekt und Pralinen und gelegentlich soll es auch zu angetrunkenen „Excessen“ gekommen sein, zu Streitereien und Zank im Publikumsraum,897 wo die Degen der Besucher einander in die Waden stießen,898 manchem das Opernbuch aus der Hand gerissen oder der Puder aus der Perücke geschlagen wurde.899 In solchem Ambiente traten Frauen wie Madame R*** und die Conradi als erste deutsche Opernsängerinnen auf, was man zu dieser Zeit nur aus dem spanischen, französischen und englischen Kunstbetrieb kannte.900 Als weibliche Darsteller waren sie damals noch Ausnahmeerscheinungen, die erstmalig mit ihrer Tätigkeit Ruhm und Anerkennung genossen.901 Während der Aufführungen sollen sie „nach italienischen und französischen Vorbildern so anstößig frei“ gekleidet gewesen sein und „sich so unzüchtige Bewegungen“ erlaubt haben, „daß der Unwille der Sittenrichter wohl hervorgerufen werden mußte.“902 Rose weist darauf hin, dass die Oper damals „per se ein erotisch konnotierter Ort“ war,903 wo auf der Bühne Liebeshandlungen vorgeführt und unter anderem durch Frauen präsentiert wurden, so dass jene fast zwangsläufig zu „erotischen Projektionsfiguren“ wurden.904 Es ist daher vor-

892 Ernst

Otto Lindner: Die erste stehende Deutsche Oper. Berlin 1855. Die Oper, S. 278f. 894 Dommer: Die deutsche Oper in Hamburg, S. 234. 895 Rose: Conduite und Text, S. 94. 896 Dies sind freilich Negativbeschreibungen des Verhaltens in der Oper, doch zitiert Rose eine zeitgenössische Darstellung, die geradezu von zwei Aufführungen spricht: der „Oper auf der Bühne“ und der „Komödie im Zuschauerraum“ (ebd., S. 95, 97). 897 Ebd., S. 96, Anm. 338. 898 Ebd., S. 94. 899 Ebd., S. 96, Anm. 338. 900 Devrient: Die Oper, S. 280f. 901 Ebd., S. 282. Dies v.a. deswegen, weil weibliche Figurenrollen zuvor von männlichen Künstlern aufgeführt wurden. 902 Ebd., S. 281. 903 Rose: Conduite und Text, S. 87. 904 Ebd., S. 88. 893 Devrient:

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

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stellbar, dass das bunte und avantgardistische Milieu des Hamburger Opernwesens ‚unkonventionelle‘ Begegnungen zwischen den Geschlechtern begünstigte, zumal zwischen Künstlerinnen und Ange­stellten des Opernbetriebs, zu denen Hunold als Libretto-Texter zählte. Das Verhältnis zwischen Madame R*** und Hunold scheint recht ambivalent und spannungs­geladen gewesen zu sein. Einerseits spricht Wedel von einer großen Leidenschaft: Obwohl Hunold der Sängerin anfänglich „nur […] zu seinem Zeit=Vertreib aufzuwarten“ gedachte,905 habe ihn schließlich „Ihr Verstand gantz und gar [bezaubert] / daß er ohne sie / so lange hernach er in Hamburg war / nicht leben konte.“906 Andererseits provoziert Hunold mit der Publikation des Satyrischen Romans (1706) den Bruch mit der Geliebten. Im Roman veröffentlicht er den „Liebes-Calender“, eine Art Tagebuch einer Protagonistin, in dem jene Buch führt über ihre Bekanntschaft mit unterschiedlichen Kavalieren.907 Im Roman schreibt Hunold den Liebes-Calender der Protagonistin Caelia zu.908 Damit jagt er sich die Kopfgeldjäger der Mademoiselle Conradi auf den Hals, die in der Protagonistin die zweite Angebetete Hunolds, Mlle. Conradi, dargestellt sehen.909 Wedel behauptet indes, der Liebes-Calender ginge auf Erlebnisse der Madame R*** zurück, die Hunold nach Gerüchten ihrer gebrannten Liebhaber zusammengetragen habe: Endlich ruckte er [Hunold] gegen die Leipziger Oster=Meß 1706 mit dem Saiyrischen [sic] Roman heraus. Die Historien hierzu hatte er mehrentheils bey der Madame R*** gesammlet / und den Calender von allen betrogenen / oder durch Schaden klug gewordenen Amanten [Liebhabern] / die ihre foiblessen [Dummheiten] nicht verschweigen kunten / zusammen getragen.910

Die Fiktionalisierung der Liebesbegebenheiten mag vom Dichter satirisch überspitzt worden sein, doch vermittelt der Text die männliche Imago einer unabhängigen, alleinstehenden Frau,911 die sich selbstbewusst in männlichen Gesellschaften bewegt,

905 Wedel: 906 Ebd.

Geheime Nachrichten, S. 77.

907 Menantes:

Satyrischer Roman, S. 207–214. war ein Schreib=Calender, in welchem Caelia nicht nach dem Wetter des Himmels gesehen, sondern darinnen aufgezeichnet, wa[s] vor lustige Tage sie ihren Galans verschaffet“ (ebd., S. 206). 909 Wedel: Geheime Nachrichten, S. 95f. Hier zeigt sich deutlich, dass zwischen fiktionaler Weiblichkeitsdarstellung und sozialer Wirklichkeit massiv getrennt wird. Lizenzen, die für die Dichtung gelten, werden in der sozialen Wirklichkeit nicht toleriert. 910 Ebd., S. 92. 911 Im Roman ist zunächst von keiner ehelichen Verbindung die Rede. Den Verehrer Cyprianus heiratet Caelia erst, als sie bereits im Kindbett liegt, Menantes: Satyrischer Roman, S. 250. Ein gewisser Cyprianus wird im Brief Hunolds an Wedel vom 20.02.1707 als Bekannter der Madame R*** an der Hamburger Oper erwähnt (ebd., S. 130). Auch Mademoiselle Conradi ist während der Bekanntschaft mit Hunold alleinstehend. Ihr erster Ehemann Johann Georg Conradi (um 1648–1699) verstirbt um 1700, eine zweite Ehe soll sie 1711 mit dem polnischen Grafen von Gruczewski eingegangen sein, Devrient: Die Oper, S. 282. 908 „[D]ieses

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

über ihre Sozialkontakte wie über ihre Erotik und Sexualität frei verfügt und das mit allen Komplikationen: 2. Jan[uar] Auf einer Gasterey gewesen […] mit Hauptmann Sculteto, und vielen andern Officiren: Mich berauschet: Handgreifliche Discurse mit Scult: indem er mich nach Hause begleitet. […] 4. – – Ein Billet von M. Pfeffer-Sacco bekommen: Des Nachts um 11. Uhr von ihm in der Gondel abgehohlet: Um drey Uhr nach Hause kommen […] 5. – – Von Lieutenant Bonifacio einen Brief mit Blut geschrieben erhalten. 6. – – Noch einen von ihnen erhalten, darinnen er mir eine Heyraht angetragen. […] 11. – – Mich nackend abmahlen lassen […] 14. – – Mich kranck gestellt, um nicht in der Opera zu singen […] Baron Reventher bis des Nachts um 3. Uhr bey mir gewesen […] 19.  –  – KopfWehtage. 20.  –  – Mich vor allen verläugnen lassen. […] vier Visiten des Nachts: Sch. seine Nase mich betrogen […] 1. Febr. Meinem Mädgen Maulschellen gegeben, weil sie den Obrist-Lieutenant heran gelassen, und mich mit Voglern gestöhrt: Ihn hinter die Gardinen versteckt. […] 11. – – Der Obrist-Lieutenant zu mir kommen. Vertragen und in kurtzen zu heyrahten […] 14. – – Der Schelm mich betrogen, und ist heimlich fortgegangen. 15. – – KopfWehtage […].912

Die frivolen Details des Liebes-Calenders mussten als größter Affront gegen das weibliche Geschlecht erschienen sein, allen voran Madame R*** und die Conradi. Jeder Erfindung (inventio) zum Trotz suggeriert Hunolds konzeptionelle Bestimmung des Romans als faktische Satire eine starke ‚Authentizität‘ der devianten Weiblichkeitsnarrative (Kapitel 3.4.1.3). Vor dem Hintergrund von Hunolds poetologischer Konzeption ist nicht mehr ohne Weiteres zu entscheiden, welcher Wahrheitsgehalt oder Authentizitätsgrad der Darstellung zukommt, ob sie historische (Geschlechter-)Realitäten repräsentiert oder sie nur scherzhaft-satirisch ‚erfindet‘. Der Liebes-Calender, so erklärt Rose, erzwang Hunolds Flucht aus Hamburg, eine „Reaktion, die freilich nur möglich war, wenn dem Text eine Referentialität auf tatsächliche Geschehnisse unterstellt werden konnte.“913 Es kommt zum Bruch zwischen Madame R***, Hunold und der Conradi. Die Jahre unmittelbar nach der Flucht sind von starken Rachegefühlen Hunolds insbesondere gegenüber Madame R*** geprägt. In dieser Zeit instrumentalisiert Hunold die Fortsetzung des Satyrischen Romans Ander Theil als Druckmittel gegen die frühere Geliebte. Immer wieder kündigt er dem Verleger Wedel an, der zweite Teil würde manchem die „Haare zu Berge stehen lassen“.914 Madame R*** steht dabei mitten unter Beschuss: „Die Mad. R*** anbelangend […] / glaube [ich / Hunold] auch / daß sie mit der C.*** [Conradi] gut Freund / und von mir negligent [nachlässig] geredet hat. Denn alle Coquetten machen es so / wenn die Amanten entfernet [sind].“915 Der junge Autor benutzt die angekündigte Romanpublikation, um die Ex-Geliebte zu erpressen und gibt ihr dies unmissverständlich zu verstehen:

912 Menantes:

Satyrischer Roman, S. 207–210; zum Liebes-Calender vgl. Simons: Marteaus Europa, S. 327; Rose: Conduite und Text, S. 90. 913 Ebd. 914 Brief Hunold an Wedel vom 09.08.1707. In: Wedel: Geheime Nachrichten, S. 141. 915 Ebd., S. 139.

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

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Ich habe ihr [Madame R***] einen über die massen wohl gepfefferten Brief geschrieben / und wo sie ihrer wieder mich begangene Fehler nicht bereuet / werde ich aus einem andern Thon mit ihr spielen. […] In dem andern Theil des Satyr. Rom. kommt eine Opera von den Opern=Personen / an der schon ein Bogen fertig / wie denn noch 4. Bogen elaboriret sind; […] Mancher und Manchen werden die Haare zu Berge stehen.916

Hunold macht die ehemalige Geliebte verantwortlich für die ‚satyrische (frivole) Schreibart‘ des Romans. Das unwillige Verhalten Madame R.s*** nach der Trennung veranlasst den Autor, sie mit der Drohung einer weiteren Publikation unter Druck zu setzen und sie zur Reue zu zwingen. Retrospektiv behauptet Hunold sogar, „die Frau“ (im Kollektivsingular) habe ihn, den Autor, zu „schändlichen Gedanken“ getrieben und ihn von der „Buße“ abgehalten; das weibliche Geschlecht im Allgemeinen sei verantwortlich, dass die „Sinnen und Gedanken“ des jungen Mannes „verführt“ bleiben, bis er heiraten wird.917 Erst in dem Maße, in dem sich Hunold mit Madame R*** aussöhnt, nimmt er vom provokanten Plan der Fortsetzungsschrift Abstand und verzichtet auf poetische Attacken. Der Einfluss Madame R.s*** auf diese Entscheidung wird aus einem Brief Hunolds an Wedel ersichtlich. Am 18. Dezember 1707 erklärt er dem Freund und Verleger, Madame R*** habe sich bei ihm über die geplante Publikation beschwert; die ehemalige Geliebte versucht zu verhindern, zum weiteren Gegen­stand des Romans zu werden. Hunold beauftragt schließlich Wedel, entsprechende Stellen im zweiten Teil des Manuskripts zu streichen und an ihn zurück zu senden: [D]ie Mad. R*** schreibt mir / eine Person / an die ich in Hamburg geschrieben / hätte ihr gesagt / es würde auf künfftige Meß ein Buch heraus kommen / darinnen sie abgemahlet wäre / und dergleichen. Wer der Sch.** gewesen / weiß ich nicht. Und nun bin ich vest resolviret [entschlossen] / den Nahmen Arismenia im andern Theil des Sat[yrischen] Rom[ans] gantz aus=zustreichen / im Anfang aber zu setzen / daß sie gestorben […]; en fin, so kriegen die Leute nicht Ursach zu lästern / […] und es kostet mir wenig Mühe; darum […] sende mir soviel und so weit / als die gantze Geschichte mit Arismenien geht [Hervorh. K.B.].918

Junge Autoren nutzen den Roman und dessen Paratexte nicht nur, um poetische Fehden mit konkurrierenden Autoren auszutragen, eigene Text- und Autorschaftsmodelle, Leserinnen- und Leserimagines zu entwerfen und poetische Funktionspotentiale zu konturieren (Sittenlehre, Satire, Kritik), sondern auch um private Interessen zu verfolgen, etwa ehemalige Geliebte zu denunzieren. Der galante Roman erfährt damit eine weitere Funktionalisierung, die ihm zuvor nicht eigen war, nämlich zum

916 Ebd.,

S. 140, 141. S. 139f. 918 Ebd., S. 144; ferner Hinweise in Wedels Biografie: „In Wandersleben arbeitete er [Hunold] an dem Andern Theil des Satyrischen Romans / und änderte den Ersten Theil an vielen Orten. Den Calender und andere Historien / die ihm Verdruß gemacht hatten / striche er weg. Was ihn hierzu bewogen / finden wir in den geheimen Briefen* enthalten [Fußnote *: Briefe bezüglich Madame R***]“ (ebd., S. 102). 917 Ebd.,

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3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

(sozialen) Machtinstrument, hier vor allem zum Druckmittel des Mannes gegenüber der Frau, zu werden.919 Der Weg zur Funktionalisierung des Romans als Bildungsund Formungsinstrument (Gottsched, Gellert) ist gelegt bzw. aus historischer Retrospektive nicht weit. Zunächst jedoch ist oder wird der Roman als Instrument der ‚privaten Rache‘ auch zum Medium, das normative Geschlechterordnungen irritiert oder stört, wenn nämlich die Protagonistin – um über sie vermittelt sozialen Druck auszuüben ‒ möglichst ‚skandalös‘ dargestellt wird. Als gedruckte Publikation ist der Roman öffentliches Instrument dieser Repression, dokumentiert aber auch die ‚Störung‘ oder Irritation und wird Beleg der Variabilität bzw. Interpretationsabhängigkeit von Genderordnungen. Erfolg und Qualität der Repression hängen davon ab, ob unter anderem ein lokales Publikum die Textgestaltung als Dokument, Satire oder reine Erfindung liest, wie Referenzmöglichkeiten ausgelegt werden und welche Rezeptionshaltung eingenommen wird. Romankonzeptionen wie Hunolds „Saty­rische Schreibart“ erschweren es in diesem Zusammenhang, den Authentizitätsgrad der Darstellung und ihren Bezug zu realen Frauen einzuordnen, d.h. Scherz, Ernst und Wahrhaftigkeit verlässlich zu deuten. Unabhängig, wie explizit extratextuelle Referenzen artikuliert werden, erhält die Leserschaft eine Deutungsmacht, im Roman diejenigen dargestellt zu sehen, die sie in den Figuren zu erkennen wünschen. Der Roman wird umso stärker zum Machtinstrument, je wirksamer Frauen selbst von der Textproduktion und von Publikationsmöglichkeiten ausgeschlossen sind. 3.4.3 Zwischenbilanz II: Gattung, Geschlecht, Poesie, galanter Roman Überblickt man die autopoetischen Reflexionen, mit denen sich junge Autoren im Roman um 1700 allgemeiner zu Poesie und Autorschaft äußern, so lässt sich erkennen, dass in erster Linie für eine Poesie gestritten wird, die sich dem Vergnügen und der Belustigung (delectatio) verpflichtet sieht, mit offenen Grenzen zu Scherz, Satire und Pasquill. Als Poesie zwischen Scherz und Ernst erhebt diese Dichtung aber auch den Anspruch, Ausdruck einer ‚ernsthaften‘ Beschäftigung zu sein bzw. lautere Absichten zu verfolgen. Mit traditionellen Konzepten von Poesie und Gelehrsamkeit lässt sich die galante Romandichtung allerdings nicht gleichsetzen. Galante Autoren streiten immer deutlicher für das Recht der poetischen Innovation; als „neue Poeten“ muss es ihnen gestattet sein, eigene Wege zu gehen, auch wenn dafür bekannte Pfade verlassen werden müssen. Die „Kühnheit der Jugend“, der „Mangel an Vernunft“, kurz der Übermut schriftstellerisch nach Wirkungsmöglichkeiten suchender Jungautoren rechtfertigt diese Praxis. Bei Bohse/Talander setzt diese Entwicklung ein, der den Topos „Scherz und Ernst“ von Lohenstein entlehnt und auf den galanten Roman überträgt. Sie erstreckt sich über die Romanproduktion von Hunold/Menantes,

919 Weiterführend

zu Formen und Funktionen satirischer Weiblichkeitsnarrative vgl. Stauffer: Verführende SchriftKörper?, S. 128–144.

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

249

der mit der „Satyrischen Schreibart“ eine Form der Poesie etabliert, die im Schutz der Fiktion (inventio/Erfindung) die Grenzen zur Satire massiv weitet, gleichzeitig aber auch eine erkennbare Authentizitätsfiktion auf- bzw. ausbaut. Und sie führt schließlich zu Selamintes, der das Recht der „neuen Poeten“ mit dem „Ingenium der Wollust“ poetologisch gewitzt auf den Punkt bringt: Die Romanvorrede übernimmt die Form der gelehrten Abhandlung, nutzt bekannte Lasterstereotype (Wollust) und koppelt sie mit Argumentationsstrategien, wie sie aus der Charakter- und Affektenlehre bekannt sind (Naturelle/Charaktertypen), um schließlich in der Travestie dieser Elemente ein positives Autorschafts- und Romanmodell zu entwerfen, mit dem sich die galante Textproduktion auch poetologisch recht­fertigen lässt. Der Roman und seine Paratexte sind Medien dieser poetologischen Reflexion, durch die sich junge Autoren eine Legitimation für die eigene Textproduktion gewissermaßen selbst erschreiben. In einem Akt autopoetischer Selbstermächtigung, d.h. indem sie ihren Umgang mit der Gattung paratextuell und romanintern erläutern, kreieren sie diskursiv einen poetologisch durchsetzten Bezugsrahmen, der ihre Textproduktion und die Lektüre rechtfertigt. Dadurch ebnen sie den Weg für die Akzeptanz einer populären Unterhaltungsliteratur für Männer und Frauen. Obwohl sich die Verfasser dabei auf ‚poetischem Neuland‘ befinden, vollzieht sich die Gattungspraxis keineswegs traditionslos. Die auffällige Verwendung weiblicher Hauptfiguren im Roman um 1700 lässt sich auf die Rezeption der preziösen Tradition zurückführen. Insofern Frauenfiguren durch Romane von Scudéry, La Fayette u.a. wohl bekannt und akzeptiert sind, eröffnet sich für junge Autoren in Deutschland die Möglichkeit, in der Anbindung an diese Tradition die eigene Textproduktion zu legitimieren. Figurenkonzeptionell und gattungsformal schließen sie an die preziöse Romantradition Frankreichs an; dichtungstheoretisch entwerfen sie jedoch eigene Konzepte von Poesie, indem sie selektiv und manipulativ auf Argumentationsstrukturen, Konzepte und Kategorien kanonisierter Autoren des eigenen Landes und der Antike zurückgreifen (Aristoteles/Tragödie, Lohenstein/Trauerspiel, Huet/preziöser Roman, Thomasius/deutscher Roman, Morhoff/furor poetico, Poetische Raserey, Ingenium, Historie und Fiktion u.a.). Sie legen bekannte Dichtungskonzepte und poetologische Bestimmungen im Sinne des eigenen Werkes aus und weiten dadurch Stoffe, Formen und Funktionen im Roman (ästhetisches Experiment). Im modifizierenden Rückgriff auf nationale und internationale Traditionen der Poesie (und Gelehrsamkeit) rechtfertigen junge galante Autoren somit die eigene Autorschaft und Textproduktion. Vor dem Hintergrund eines solch innovativen und experimentellen Zugangs zu Poesie erschließen sich auch bisher vernachlässigte Perspektiven zum weiblichen Figurenpersonal und zu Weiblichkeitsnarrativen im galanten Roman. Fest steht: Formen und Funktionen des Romans sind keine dem Text inhärenten Eigenschaften oder Merkmale. Ebenso wie die Gattung ist auch die weibliche Hauptfigur vielfältig einsetzbar und kann variabel funktionalisiert werden. Die Protagonistin kann im literarischen Text, muss aber nicht als Repräsentantin ihres Geschlechts fungieren. Als

250

3. Ökonomische, soziale und poetische Kontexte

Teil des fiktiven Figurenpersonals ist sie gleichsam Form- und Funktionselement der Erzählung, d.h. poetisches ‚Material‘, über das die Geschichte konstruiert wird. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht wird deutlich, dass sich mit der Protagonistin, gerade weil sie poetisches Formelement und ‚Objekt‘ der Narration ist, unterschiedliche Funktionen verbinden können ‒ je nachdem welche Zielsetzung und Konzeption der jeweilige Autor dem Roman zugrunde legt. Drei Funktionspotentiale haben sich bisher herauskristallisiert, die sich vice versa mit der weiblichen Figur verbinden: So können Roman und Protagonistin (1) als Medium galanter Verhaltens- und Konversationsformen interpretiert werden, als „Spiegel“ im Sinne einer „Sittenlehre“ bzw. als Lehrbuch galanten Verhaltens und Affekte (Gelzer, Rose). Dies allerdings, so lässt sich der bisherige Forschungsstand ergänzen, durch eine Darstellung der Tugend ex negativo, d.h. durch die explizite Gestaltung des Lasters (Kapitel 3.3.2.3). (2) Die satirisch-vergnügliche Sittenlehre ist möglich, da der galante Roman mit einer Konzeption von Poesie zwischen „Scherz und Ernst“ in Verbindung gebracht wird, die zwei Wirkungsmodi offenhält: den Scherz und den Ernst. So kann die Protagonistin auch zu Zwecken der Kritik im Sinne einer (unprogrammatischen) Sitten- und Gesellschaftskritik funktionalisiert werden (Bohse) oder sie dient (3) der satirischen Inszenierung von Weiblichkeit (Hunold). Mischformen sind jederzeit möglich und steigern die Ambivalenz galanter Weiblichkeitsnarrative. Auch im Wechselspiel von Text und Paratext können Ambivalenzen entstehen. Wenn Bohse das glorifizierende Frauenlob wie im preziösen Roman zur Grundlage der weiblichen Figurenkonzeption macht („die hochfürtreffliche Dame“) ‒ Konzeptionen, unter denen Bohses Romane bekannt und stilprägend werden ‒, so ist nicht mehr ohne Weiteres einzuschätzen, wie seine (paratextuellen) Leserinnenkonstruktionen zu bewerten sind; auch als ‚Ernst‘ oder nur als ‚Scherz‘? In den Vorreden rechtfertigt der Autor Liebe und Laster als Sujets der weiblichen Lektüre und gönnt den Leserinnen ein „Vergnügen am Laster“. Dies muss nicht notwendig auf eine ‚lasterhafte Lektüre‘ von Frauen zielen. Aus poetologischer Sicht zeigt sich, dass es die Leserinnenimago erlaubt, das Laster als legitimes Sujet des Romans zu begründen, ohne die männliche Lektüre zu diskreditieren ‒ denn Frauen sollen ‚gebessert‘, Männer ‚informiert‘ werden. Obwohl diese Konstruktion eng mit dem Unterhaltungswert der Gattung für (junge) männliche Leserkreise verbunden zu sein scheint, führt sie letztlich zu einer Aufwertung der rationalen Rezeptions- und Interpretationskompetenz der (historischen) Leserin, die deswegen ein erlaubtes „Vergnügen am Laster“ finden darf, weil sie zu dessen rationaler Beurteilung befähig sei. Interferenzen und Ambivalenzen entstehen vor allem, wenn Textformen und Textelemente miteinander kompiliert werden, die unterschiedliche Funktionen erfüllen: Vorbild galanten Verhaltens und Kommunizierens zu sein; Sittenexempel, das ex negativo zur Anschauung kommt; Sprachrohr der Kritik; Figuration von Scherz und Satire – all diese Funktionen können sich mit der Protagonistin im galanten Roman verbinden und im Rahmen unterschiedlicher Stoffe und Motive verarbeitet werden. Aus diesem Potpourri mögen durchaus ungewöhnliche Weiblichkeitsnarrative ent-

3.4 Poetologische Reflexionen – Galante Poesie und Autorschaft

251

stehen. Die Textanalysen im folgenden Kapitel widmen sich daher den textimmanenten Konstruktionsprinzipien weiblicher Hauptfiguren, ohne kontextualisierende Diskurse hinzuzuziehen. Was erzählen die Romane über Weiblichkeit und wie erzählen sie das, was Weiblichkeit sein kann, sein könnte oder gerade nicht sein soll? Welche narrativen Genderfiktionen kursieren um 1700 im Buchhandel?

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper in Die Versteckte Liebe im Kloster (1694) und Der Entlarffte Ritter im Nonnen=Kloster (1711) Die folgenden Analysen basieren auf einer rein textimmanenten Interpretation, die sich bemüht, die narrative Konstruktion der weiblichen Hauptfigur mit Blick auf interaktionale, raumzeitliche und standesspezifische Strukturen des Erzähltextes (Körper, Raum, Stand) zu erfassen. Anstatt von vorgängigen Weiblichkeitskonzepten oder -narrativen auszugehen, wird die Kategorie Geschlecht im Roman relational analysiert. So ist nach Strategien des Konfliktaufbaus, Motiven, Erzählmustern und Argumentationslogiken zu fragen, die sich mit der weiblichen Hauptfigur und den Kategorien Körper, Raum, Stand verbinden. Kapitel 4.1 widmet sich der Problematisierung von Körper(n) und Erotik: Wie werden Gendermarkierungen im Text sprachlich erzeugt (Kleidung, Verhaltensweisen, Namensgebung, Figurenrede, Erzählerkommentare), wodurch können sie aber auch porös werden und in Bewegung geraten (Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs)? Eine Poesie, deren Ausdruckspotential sich in erster Linie über die Gestaltung von Figuren- und Konfliktkonstellationen auf der Handlungsebene des Erzähltextes entfaltet und Formen eines psychologischen Erzählens noch nicht aufweist (innerer Monolog, Bewusstseinsstrom, Spezifizierung emotionaler Konfliktlagen und psychischer Prozesse), ist aufs engste mit einem ‚In-Szene-setzen‘ von Körpern verbunden.1 In diesem Zusammenhang wurde dem galanten Roman oft eine Affinität zu moralisch ‚anstößigen‘, erotisch und sexuell ‚unzüchtigen‘ Darstellungen attestiert. Schon Kritiker des galanten Romans um 1700 polemisieren gegen die ‚Anstößigkeit‘ der Texte und die spezifische Behandlung erotischer Sujets. Der Theologe Gotthard Heidegger warnt 1698 eindringlich vor den Romanen von Talander (August Bohse), aber auch Buchholtz, Lohenstein, Happel: [D]ie Romans setzen das Gemüth mit ihren gemachen Revolutionen2 / freyen Vorstellungen / feurigen Außdruckungen / und andern bunden Händeln in Sehnen / Unruh / Lüsternheit und

1 2

Kap. 2.1.2 Arbeitsdefinition Galanter Roman. Heidegger spricht von „gemachen Revolutionen“ (im Sinne von langsam fortschreitend), wobei es sich evtl. um einen Druckfehler handelt; denn im gesamten Traktat wird argumentiert, dass der Roman Dinge zur Anschauung bringt, die vom Dichter erfunden sind, das heißt ‚gemacht‘ werden. Heidegger verortet den Roman im Bereich der Lüge, des Traums und der Fantasie und

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Brunst / […] [sie] setzen den Menschen in ein Schwitzbad der Passionen / […] und endlich […] scharren sie etwas zusammen / das schlimmer ist als jede Ohnwissenheit.3

Reinwalds Academie= und Studenten=Spiegel (1720) warnt vor allem die Jugend: „So wird durch Romainen die Jugend zur […] Lustreitzung, Unreinigkeit, Hurerey, und bösen Gedancken, Begierden und Wünschen angetrieben, sintemal einige so arg sind, auch wol das keuscheste Hertz zu inflammir[e]n.“4 In der europäischen Literaturgeschichte ist das Liebessujet samt erotischen Motiven bekannt und höchst beliebt – galante Autoren können auf eine lange Tradition von der Antike, über die erotische und obszöne Dichtung Frankreichs, die italienische Roman- und Novellentradition bis hin zur erotischen Lyrik Hoffmannswaldaus zurückblicken.5 Dennoch werden galante Romane um 1700 als so provokant wahrgenommen, dass vehement vor ihrer Lektüre gewarnt wird, während die Textproduktion auf ein Lektüreinteresse des Publikums und die Bereitschaft von Verlegern zu Herstellung und Vertrieb schließen lässt. Worin besteht also das Provokationspotential der Texte und wie entsteht es? Die Analyse geht von einem weiten Körperbegriff aus, wie ihn sozialgeschichtliche Forschungen zur Frühen Neuzeit und des 18.  Jahrhunderts angeregt haben. Während Darstellungen des Körpers und sogenannte „Körpergeschichten“ zunächst oft im Kontext medizinhistorischer und moraltheoretischer Diskurse untersucht wurden (z.B. in der Auseinandersetzung mit Krankheit, Geburt, Todesfällen),6 hat

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6

vergleicht die Tätigkeit des Dichters mit der des Malers, der wissentlich eine falsche Wirklichkeit schafft: „Die Roman-Schreiber betriegen uns / wie die schlechte[n] Mahler […] / welche Schlösser / Bösche / See […] etc. umher schmieren / die nirgend seyn!“, Heidegger: Mythoscopia Romantica, S. 73. Die Erzählung für ‚Wirklichkeit‘ zu halten, sei indes fatal: „wann wir die Romans lesen / meinen wir / wir sehen gleichsam denen die Lippen gehen / die uns da reden sollen / und möchte wol bey manchem dahin kommen / daß er auß starck=gefaster Imagination lange Zeit hernach schwehren sollte / er hette ein und anders / weiß nicht wo / mit Augen gesehen“ (ebd.). Explizit fordert Heidegger die Leser auf, Romane als Erfindungen des Dichters zu behandeln; als Produkt der Fantasie: „Ey da! was lese ich hier? worüber verwundere / lache / traure / seufftze ich? über eines andern Traum und Phantasien! über Sachen / die […] mich zum Thoren zumachen erdacht seyn!“ (ebd., S. 72, Hervorh. K.B.). In einer von Leibnitz veranlassten Rezension zu Heideggers Mythoscopia Romantica im Monatliche[n] Auszug (1700) wird der Roman hingegen als „Utopieraum für ‚schöne ideen, so sonst in der Welt mehr zuwünschen als anzutreffen seyn‘“ verteidigt, Steinecke: Romantheorie, S. 87. Heidegger: Mythoscopia Romantica, S. 70f. George Ernst Reinwalds Academien= und Studenten=Spiegel. In Welchem Das heutige Leben auf Universitäten gezeiget, geprüfet und beklaget wird. Berlin 1720, S. 424‒427, zit. nach Simons: Marteaus Europa, S. 320. Christiane Solte-Gresser, Wolfgang Emmerich u. Hans Wolf Jäger (Hg.): Eros und Literatur. Liebe in Texten von der Antike bis zum Cyberspace. Festschrift für Gert Sautermeister. Bremen 2005; Vanessa Kayling: Die Rezeption und Modifikation des platonischen Eros-Begriffs in der französischen Literatur des 16. und 17.  Jahrhunderts unter Berücksichtigung der antiken und italienischen Tradition. Bonn 2010. U.a. Barbara Duden: Body history – Körpergeschichte. A repertory. Wolfenbüttel 1990; Dies.: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Stuttgart 1987; Martin Beutelspacher: Kultivierung bei lebendigem Leib. Alltägliche Körpererfahrungen in der

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

255

sich das Spektrum, in dem Körperwahrnehmungen, das Reden über den Körper und soziale Körperpraktiken Beachtung finden, enorm erweitert. Die Auseinandersetzung reicht von religiösen Diskursen und Praktiken (Körper Christi, Inkorporationen des Heiligen Geistes) über alltags-, sozial- und mentalitätshistorische Arbeiten (Sexualaufklärung, Homosexualität, sexuelle Initiationsriten von Jugendlichen, Körperlichkeit als Spiegel der Seele, Körper und Tanz) bis hin zu staatstheoretischen und gesellschaftspolitischen Ansätzen (der Staatskörper, Körper und Herrschaft).7 Kulturspezifisches Wissen und epochenspezifische Diskurse beeinflussen und prägen Körperwahrnehmungen, das Reden über Körperlichkeit sowie Körperpraktiken und nehmen Einfluss auf Vorstellungen ‚des‘ Körpers respektive des ‚weiblichen‘ Körpers.8 Ungewöhnliche Einblicke in Geschlechterformen der Frühen Neuzeit bietet z.B. der Sammelband Geschlechtervariationen von Judith Klinger und Susanne Thiemann. Anhand literarischer Texte und Werken der Bildenden Kunst dokumentiert der Band eine Vielzahl von Gender- und Transgender-Phänomenen in Spanien, Italien, Deutschland und England.9 Diese reichen von der „Mujer Barbuda“ (der bärtigen Frau) bis zur „Mujer Varonil“ (der männlichen Frau), aber auch von „weiblichen Männern“ ist die Rede und von „stillenden Vätern“ (so berichtet Alexander von Humboldt von dem stillenden Mann Francisco Lozano, der ihm in einem Dorf Venezuelas begegnet sei, als einer „physiologischen Merkwürdigkeit“).10 Genderkonzepte (sex und gender) sind keine ahistorische Konstante, sondern historisch variabel und wandelbar, abhängig von Kontext, Geltungsbereichen und nicht zuletzt vom Medium ihrer (Re-)Präsentation und Inszenierung. Klinger und Thiemann regen daher eine medien-, text- und kontextorientierte Untersuchung an, die der je spezifischen Artikulation und Problematisierung von Genderkonzepten in Literatur

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8

9 10

Aufklärung. Weingarten 1986; Robert Jütte: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München 1991; Christoph Lumme: Höllenfleisch und Heiligtum. Der menschliche Körper im Spiegel autobiographischer Texte des 16. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1996. U.a. Roy Porter: History of the body. In: New perspectives on historical writing. Hg. v. Peter Burke. Cambridge 1991, S. 206–232; Kathleen Canning: The Body as Method? Reflections on the Place of the Body in Gender History. In: Gender & History 11 (1999), S. 499–513; Maren Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000; Alain Corbin, Daniel Arasse u. Georges Vigarello (Hg.): Histoire du corps. Bd. 1: De la Renaissance aux Lumières. Paris 2005. Gudrun Piller: Private Körper. Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts. Köln 2007, S. 4f.; ferner Claudia Öhlschläger: Gender/Körper, Gedächtnis und Literatur. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hg. v. Astrid Erll u. Ansgar Nünning. Berlin/New York 2005, S. 227–248; Ulinka Rublack: Dressing up. Cultural identity in Renaissance Europe. Oxford 2010, bes. S. 211‒230. Judith Klinger u. Susanne Thiemann (Hg.): Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit. Potsdam 2006. Susanne Thiemann: Sex trouble. Die bärtige Frau bei José de Ribera, Luis Vélez de Guevara und Huarte de San Juan. In: Klinger u. Thiemann: Geschlechtervariationen, S. 47–82, hier S. 48.

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

und Bildender Kunst nachgeht und nach dem Umgang mit bildlichen wie textuellen Strukturen fragt, mittels derer die Kategorien sex und gender semantisiert bzw. (performativ) inszeniert werden.11 Diesem Ansatz folgt auch die vorliegende Analyse. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht interessieren zunächst Publikationsstrategien und typische Repräsentationsformen erotischer Sujets im galanten Roman (Kapitel 4.1.1). Konkreter wird anhand des Klostermotivs nachvollzogen, in welcher Weise galante Autoren bekannte Motive der satirischen und erotischen Literatur in den galanten Roman integrieren und welche Effekte dies für die weibliche Figurenkonzeption impliziert (Kapitel 4.1.2). Die Analyse widmet sich dann der Rekonstruktion weiblicher Figurenrollen und geschlechtlich markierter Differenzen im Text, die durch das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs destabilisiert und/oder stabilisiert werden können (Kapitel 4.1.3). Abschließend werden Elemente eines preziösen Liebes- und Geschlechtermodells (Scudéry) und dessen Modifikation im galanten Roman untersucht (Kapitel 4.1.4). 4.1.1 Publikationsformen und erotische Erzählstrategien Mit der Erzählung um Syringe, der Hauptfigur in der Versteckte[n] Liebe im Kloster (1694) und Placidie, die sich hinter dem Entlarffte[n] Ritter im Nonnen=Kloster (1711) verbirgt, begeben wir uns in den anonymen Bereich des galanten Romanhandels.12 Bereits die Titelgestaltung suggeriert eine gewisse Anzüglichkeit, weshalb die Texte nicht völlig offen und ungehindert verbreitet werden konnten. Verschiedene Vorsichtsmaßnahmen waren nötig, um Autoren, Verleger und Drucker vor Komplikationen mit Zensur und Öffentlichkeit zu schützen. Beide Titelblätter verschweigen oder verschleiern die Urheberschaft. Der Verfasser des ersten Romans verbirgt sich hinter dem Pseudonym „der Beständige T.“, während der anonyme zweite Text nur einen Hinweis zum Verleger gibt. In beiden Fällen sind die Autoren bis heute nicht zu ermitteln. Ebenso undurchsichtig sind Angaben zu Verlag und Druck. Beide Titelblätter enthalten Verlagshinweise: Die Versteckte Liebe soll bei Christoph Wohlfahrten in Frankfurt erschienen sein. Doch weder Drucker- und Verlegerverzeichnisse noch Messkataloge nennen einen Händler dieses oder ähnlichen Namens um 1700 in Frankfurt am Main.13 Wohl aber gibt es in Leipzig einen Verleger, Johann Christian 11

Klinger u. Thiemann: Geschlechtervariationen, S. 1. Der Beständige T.: Die Versteckte Liebe im Kloster. In einer annehmlichen Liebesgeschichte Den müssigen Stunden der Galanten Welt gewidmet. Samt noch einem Anhang / genannt Der Schlüssel des Hertzens / oder die Art zu lieben. Durch den Beständigen T. / Franckfurt / bey Christoph Wohlfahrten / 1694; [anonym]: Der Entlarffte Ritter im Nonnen=Kloster Durch artige Begebenheiten und selzame Liebes=Intriquen vorgestellet. Leipzig / Verlegts Johann Gabriel Grahl / Buchhändler. An[no] 1711. 13 Keine Nennung bei Schwetschke: Codex Nundinarius […]. Halle a.S. 1850 (enthält Zeitraum 1690ff.); Benzing: Die deutschen Verleger des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprach12

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

257

Wohlfahrt, der seine Schriften bei Christoph Balthasar Lampe drucken lässt.14 Das Impressum „Christoph Wohlfahrt“ könnte als Amalgamierung auf jene Produzenten (Verleger und Drucker) verweisen. Ein Indiz auf Leipzig als Hochburg galanter (frivoler) Romane liefert auch das Titelblatt des Entlarfften Ritter im Nonnen=Kloster: „Leipzig / Verlegts Johann Gabriel Grahl / Buchhändler.“15 Es handelt sich indes nicht um einen Leipziger, sondern um den Wiener Buchhändler J. G. Grahl.16 Insofern das Impressum den Roman im Leipziger Umfeld verortet, lenkt es recht fadenscheinig vom Wiener Händler ab (der durch die Nennung des Namens allerdings zu erreichen wäre) und suggeriert stattdessen eine räumliche Nähe zur Leipziger Verlags- und Buchlandschaft, wo die galante Romanproduktion besondere Verbreitung fand. Durch fingierte Verlagsimpressen, anonyme oder pseudonyme Publikationen schützen sich Verleger, Drucker und Autoren. War ein frivol-erotisches Werk erst einmal gedruckt, konnte es über den Tausch-, Mess- und Nachdruckhandel oder über persönliche Kontakte weite Kreise ziehen. Autoren und Verlegern, darunter so angesehene Akteure wie Johann Ludwig Gleditsch, unterstützen die Zirkulation. Eine Verlags- und Titelliste von Gleditsch im Anhang von Bohses Ariadne (1699) wirbt auch für den Beständigen T., Verfasser der Versteckten Liebe im Kloster. Gleditschs Titelliste vermerkt die Albanische Sulma (1698) ‒ ein Roman, der vom „Beständigen T.“ verfasst wurde, unter dem fingierten Impressum „Cölln bey Peter Marteau“ erschienen und bei Gleditsch in Leipzig erhältlich ist.17 Im Vorwort der Albanischen Sulma macht der Beständige T. wiederum Werbung für seinen Roman Die Versteckte Liebe im Kloster.18 Leser und Leserinnen, die Talanders Ariadne rezipieren, werden durch die Titelliste des Verlegers auf die Albanische Sulma aufmerksam gemacht und über deren Vorrede auf die Versteckte Liebe im Kloster. Durch die enge Beziehung zwischen Bohse/Talander und Johann Ludwig Gleditsch wurde Die Versteck-

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gebiet; Ders.: Buchdrucker des 16. und 17.  Jahrhunderts; Paisey: Buchdrucker, Buchhändler; Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Gelegenheitsschriften (Leichenpredigten) weisen laut Titelblatt die Zusammenarbeit von Verleger und Drucker aus, Georg Friedrich Maerck: Hochtröstliche Todes=Gedancken, oder seelige Todes=Betrachtung […], Leipzig / Verlegts Johann Christian Wohlfahrt, Druckts Christoph Balth. Lampe, 1691. Verzeichnet wird J.C. Wohlfahrt auch im Codex Nundinarius als Händler aus Leipzig, Codex Nundinarius, S. 168; ferner Goldfriedrich: Deutscher Buchhandel, S. 342. [anonym]: Der Entlarffte Ritter im Nonnen=Kloster, Titelblatt. Johann Gabriel Grahl (unbek.) war als Herausgeber und Verleger zwischen 1704 und 1734 in Wien tätig, Paisey: Buchdrucker, Buchhändler, S. 82, 340. Talander [August Bohse]: Ariadnens königlicher Printzeßin von Toledo Staats= und Liebes=Geschichte […] / Zu vergönnter Gemüths-Ergötzung an das Licht gegeben von Talandern. Leipzig / Bey Johann Ludwig Gleditsch, anno 1699, Anhang, unpag. „Ich [der Beständige T.] lebe auff solchen Fall / der hochgeneigte Leser werde diese schlechte Arbeit mit eben der Gunst annehmen / als meine versteckte Liebe im Kloster [fett im Orig.] mag gefunden haben“, Der Beständige T.: Die Albanische Sulma […]. Cölln: Marteau, 1698, Vorrede, unpag. [A 7b].

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

te Liebe im Kloster oft Bohse zugewiesen; eine Annahme, die Gerhard Dünnhaupt entkräftet.19 Die Verlagsliste verweist indes auf die geringe ästhetisch(-moralische) Differenzierung im Umgang mit der Gattung: Wer Bohses Romane las, bekam nebenbei die Texte des Beständigen T. empfohlen, unabhängig davon, ob der Verleger Gleditsch für dessen gesamte Produktpalette werben wollte oder nicht. Ähnlich versteckt und kodifiziert gestaltet sich auch die Narrativierung erotischer Sujets im galanten Roman; mit vergleichbaren „obszönen“ Schriften aus dem französischsprachigen Raum haben galante Romane allerdings nichts gemein.20 Sexuelle Handlungen werden im galanten Roman kaum offen beschrieben, sondern durch subtile Anspielungen suggeriert. Der Reiz des Erotischen muss für damalige Leser und Leserinnen in der Dekodierung des ‚Nicht-Gesagten‘ bestanden haben  –  wer diesen Code zu knacken weiß, tritt in eine Sphäre der freien erotischen Assoziation. Pikant werden beide Romane durch die spezifische Handlungs- und Konfliktgestaltung, in deren Zentrum eine weibliche Hauptfigur steht, so dass auch Genderaspekte exponiert werden.21 Hauptfigur in der Versteckten Liebe im Kloster ist die junge Adlige Syringe,22 die – so setzt der Roman medias in res ein – die Untreue ihres Geliebten Tancredi verflucht und beweint. Die Protagonistin sieht sich vom „Verhängnüsse“ betrogen, das sie ihrer Meinung nach „gezwungen“ habe, „das Hertz eines Falschen zu lieben“.23 Den „gütigen Himmel“ anrufend, die „Macht des Verhängnisses“ und das „grausame Glück“ beklagend, suggeriert der Roman zunächst eine transzendente Rahmung der Erzählung,24 die durch das Liebessujet und erotische Anspielungen sofort gebrochen wird. Das Liebesverhältnis der Protagonistin scheint, so legen es die bitteren Klagen Syringes nahe, nicht ganz unschuldig gewesen zu sein: „Die Folter des gehabten Verlangens“ – die Scham über ein Verlangen, dem sich Syringe offenbar nicht verwehrte –, werden nun übertroffen, indem sie ihre „Treue [zum Liebhaber] mit [des-

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Dünnhaupt: Personalbibliographien, S. 755f. Z.B. den skandalträchtigen Erotikroman L’ École des Filles ou la Philosophie des Dames [1655]. Reprint. Paris 1997. Bis ins 18. Jahrhundert mehrfach nachgedruckt, zuletzt 1865, hierzu Barthel: Zwischen Raubdruck und erotischer Literatur, S. 21–51; ferner Jean Marie Goulemot: Gefährliche Bücher. Erotische Literatur, Pornographie, Leser und Zensur im 18. Jahrhundert / Ces livres qu’on ne lit que d’une main. Aus dem Franz. von Andrea Springler. Reinbek 1993. 21 Dass die weibliche Hauptfigur (noch) nicht titelprägend ist, mag als ‒ zu überprüfendes ‒ Indiz zu werten sein, dass sich galant-erotische Romane nicht primär an ein weibliches Publikum richten. Allerdings erscheint die Versteckte Liebe relativ früh, als sich die Mode weiblicher Titelheldinnen erst durchsetzt. Es ließe sich daher auch vermuten, dass eine allgemeine Titelformulierung gewählt wurde, um potentielle Leserkreise nicht einzuschränken. 22 Hinweis auf das „adeliche Herkommen“ Syringes, vermutlich des niederen Adels, Der Beständige T.: Versteckte Liebe im Kloster, S. 48. 23 Ebd., S. 3. 24 Ebd. 20

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sen] Falschheit bezahle[n]“ muss.25 Die Protagonistin legt neben aller Reue („ein Thränenbach [folgt] dem andern“)26 eine derbe Ausdrucksweise an den Tag, die ihren Unmut signalisiert: „hä falscher und treuloser / meinestu indem du dich selbst […] verdammen willst / […] soll nunmehr meine Liebe auff die Seite gesetzt werden“.27 Sprache, Stil und die Profanität der Ereignisse scheinen auf das Motiv der ‚verlorenen Unschuld‘ der Frau zu referieren, die ihren erotischen Fehltritt anschließend im Kloster sühnt. Doch wandelt sich die Perspektive auf die Protagonistin im folgenden Konfliktaufbau. Syringe wurde nicht vom Liebhaber Tancredi betrogen, sondern vom Nebenbuhler Conradi, der in gefälschten Briefen an beide Partner eine Trennung vortäuscht.28 Zunächst hofft Conradi, die Protagonistin seinerseits durch den Schwindel zu erobern und bringt es mit Hilfe Meranes, der Mutter Syringes, so weit, dass er eine Nacht im Bett der Hauptfigur verbringen kann.29 Conradi paktiert mit der Mutter. Er schlägt vor, sie solle ihn in Syringes Bett schleusen, so dass die Protagonistin durch den (erhofften) Verstoß gegen Sitte und Moral gezwungen werden kann, den lasterhaften Verehrer zu heiraten. Die Mutter ist mit diesem Vorschlag einverstanden, weil sie im Verehrer von „Stand und grosse[m] Reichthum“ einen vorteilhafteren Heiratskandidaten sieht als im „nichtswürdige[n]“ und „unnützen Tancredi“.30 Syringe jedoch weist den intriganten Verehrer schroff von sich, der sie mit seiner „Liebe nicht ferner belästige[n]“ soll.31 Unmittelbar im Anschluss an die moralisch fragwürdige Eingangsszene, in der Syringe als Hauptfigur eingeführt wird, die ihre ‚Ehre‘ (sexuelle Enthaltsamkeit) durch ein illegitimes Liebesbündnis bereits verspielt hat, stellt der Roman Syringe und Tancredi als vorbildhaftes Paar vor. Syringes anfängliche Wut und Empörung über die vermeintliche Wankelmütigkeit des Liebhabers wandeln sich zum Bekenntnis der Treue – die Protagonistin ist gewillt, Tancredis ‚Treulosigkeit‘ als „eine Probe des Glücks“ zu begreifen.32 Auch Tancredi ist nach anfänglichen Wutausbrüchen überzeugt, der Geliebten „nichts Böses ferner zu wünschen / sondern sie von Hertzen wiederum zu lieben / und ihr lebenslang verbunden zuverbleiben / ob sie gleich einen andern würde zu theil werden.“33 Die (verhinderte) Liebe von Syringe und Tancredi bildet das imaginäre Zentrum der Handlung; um ihre Durchsetzung gruppiert sich die gesamte weitere Konfliktgestaltung. Der Roman verbindet das Heliodor-Schema (Trennung

25

„[I]sts nicht genung [sic] wenn ich durch das gehabte Verlangen genugsame Folter ausgestanden / soll meine Treue mit Falschheit bezahlet werden [Hervorh. K.B.]“ (ebd.). 26 Ebd., S. 6. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 9. Gefälschte Briefe von Conradi machen Tancredi glauben, Syringe würde einen Anderen heiraten, während Syringe erfährt, dass Tancredi kein Interesse mehr an ihr habe. 29 Ebd., S. 32–53. 30 Ebd., S. 16, 17f. 31 Ebd., S. 27. 32 Ebd., S. 5. 33 Ebd., S. 16, Hervorh. K.B.

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

der Liebenden durch äußere Umstände – Beweis von Treue und vorbildlicher Liebe) mit einer Intrigen- und Verwechslungsgeschichte und bringt die weibliche Figurenkonzeption mit dem Topos der Treulosigkeit und Lasterhaftigkeit der Frau in Verbindung, wie dies aus frühneuzeitlichen Spott- und Satireschriften bekannt ist und dort der Frauenschelte dient. Syringe ist durchaus nicht die reine und tugendhafte Protagonistin, die von der Liebe unberührt geblieben ist. Ihre Freimütigkeit im Lieben muss sie (wenn auch unverschuldet) bereits am Beginn des Romans bereuen. Dies führt aber keineswegs zu einer negativen Figurenkonzeption, im Gegenteil: Tancredi entschuldigt die Protagonistin. Der Erzähler entlarvt die ‚Verfehlung‘ als Täuschung. Nicht die Hauptfigur ist lasterhaft, sondern ihre Umwelt. Syringe wird durch ihre erotische Vergangenheit keineswegs diskreditiert; der Erzähler spricht stattdessen wiederholt von der „tugendvolle[n] Syringe“.34 Auch der pseudonyme Autor T. preist die Hauptfigur in der Vorrede als „Tugend=Bild“, obschon „von dem Anfall der Liebe auff keine Wege befreyet gewesen“.35 Trotz des satirisch-frivolen Untertons der Eingangsszene führt der Roman die Protagonistin nicht als Spottbild der ‚lasterhaften Frau‘ vor. Lasterhafte Konfliktkonstellationen, mit denen Syringe zu Beginn und im Laufe der Handlung konfrontiert ist, bieten stattdessen den Kontrast, vor dem sich die sittliche Integrität der weiblichen Figur ex negativo konturiert. Die Protagonistin wird zur positiven Identifikationsfigur der Erzählung. Die Intrige ist allerdings in vollem Gange. Der Mutter ist klar: „[W]eil wir im Guten nichts erhalten / so werden wir sie [Syringe] durch die Schärffe noch weniger zwingen / darum muß es durch List geschehen“.36 Sie schleust Conradi ins Schlafgemach der Tochter. Er soll sich „hinter ihr[em] Bette“ verstecken und, sobald sie „im ersten Schlaff begriffen“, sich „unvermerckt in aller Stille auff der Seiten in ihr Bette“ legen.37 Als Syringe erscheint und „sich bequemete von der Lerane [Kammermädchen] entkleiden [zu] lassen […] überfiele [Conradi] […] ein rechter Angstschweiß / und sein starckes Hertzklopffen hätte ihm bald […] etliche starcke Seuffzer verursachet“, ja „er hätte vor Schrecken bald laut geschrien“.38 Syringe wiederum bricht in den Reigen von Seufzern ein, „weil sie beschlossen / dieser ehmals glücklichen Liebe [zu Tancredi] durch die Seuffzer ein stetes Abend=Opffer zu halten“.39 Conradi wird beinah „aller seiner Sinnen beraubet“; versteckt hinter dem Bett, „erwuchs [ihm] das Verlangen […] / itzt wolt er nicht hinter dem Bette verziehen / sondern sich gar hinein legen / und […] sie [Syringe] umfassen“. Er „legte sein Oberkleid sachte nieder“, begibt sich ins Bett der schlafenden und nichts ahnenden Protagonistin, um ihren „halb=lächelnden Mund [zu] küssen“, traut sich

34 35 36 37 38 39

Ebd., S. 44; Hinweise zur „Tugend“ der Hauptfigur (ebd., S. 44, 48, 86, 182, 255, 296). Beständige T.: Versteckte Liebe im Kloster, Vorrede, unpag. [A 7b]. Ebd., S. 29 (Text). Ebd., S. 35. Ebd., S. 38. Ebd., S. 37‒43, auch im Folgenden, hier S. 41f.

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

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aus „Furcht“ aber nur, ihre „Hand“ „inbrünstig“ zu küssen. Nicht unmittelbar durch sexuelle Handlungen, wohl aber in Antizipation erotischer Lust und Verlangens artikuliert der Roman eindeutige Zeichen einer lustvollen Körperlichkeit (Schweißausbruch, Herzklopfen, Seufzer und Schreie, Nacktheit, Küsse, Inbrunst), die – vermittelt über das männliche und weibliche Figurenpersonal – eine Atmosphäre erotischer Körperlichkeit von Mann und Frau suggerieren. Die Mutter erscheint daraufhin mit Zeugen im Schlafgemach; die Tochter wird als „ehrvergeßne Canaille“, „du geile und ungerathne = = =“ beschimpft, während Conradi und Syringe gezwungen werden, „durch das Band der Ehe diesen Fehler zu bedecken“.40 Die Konfliktgestaltung referiert auf ein soziokulturelles Geschlechterwissen, das die ‚Ehrbarkeit‘ der Frau auf Keuschheit und sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe festlegt. Syringes Unschuld scheint beschädigt, so dass nur die Ehe diesen Fehltritt zu entschuldigen vermag. Außer der Protagonistin sind allerdings alle Anwesenden in den Komplott eingeweiht: „des Conradi Hertz [lachte] / eußerlich aber war er voller Angst und Reue seines Verbrechens“, die Mutter Merane zwinkert dem Arglistigen verschwörerisch zu, während sie ihn verflucht, und auch „eine Frau / [die] in die Kammer geeilet / (welche der Merane nahe Freundin war / und zu diesem Handel schon erbethen worden)“, bricht in die fingierte moralische Empörung ein: „O Schande über Schande!“41 Die Charakterisierung der Hauptfigur ist und bleibt im gesamten Roman durchgängig positiv. In der Bettszene wird Syringe durch den Schlaf und ihre Unwissenheit moralisch rehabilitiert.42 Der Erzähler betont nach dem Erwachen das „Entsetzen“ der „tugendvollen Syringe“, das zu beschreiben seine Feder nicht vermögend sei.43 Sie springt „mit entsetzlichem Geschrey […] aus dem Bette“ und „wuste [nicht] wie ihr geschahe“.44 „[V]or grosser Scham / daß ein Mannsbild war bey ihr erblicket worden“, rennt sie aus der Kammer. Der Roman lässt keinen Zweifel, dass der Protagonistin übel mitgespielt wurde und es höchst verwerflich sei, dass der „unglückseeligen Syringe […] niemand […] beygestanden“. Die Kontrastierung von Tochter und Mutter, von positiver und negativer Figurenkonzeption, die vom Stereotyp der ‚bösen (Stief-)Mutter‘ inspiriert ist, eröffnet die Möglichkeit, Erotik und Sexualität bzw. erotische Körperszenen mit der weiblichen Hauptfigur zu verbinden, ohne die Protagonistin sittlich zu diskreditieren. Erotik und Sexualität verschränken sich mit satirischen und lasterhaften Momenten. Romanintern – innerhalb der intra­ diegetischen Szene – bestimmen diese zunächst die Handlung; in der Gesamtkonzeption des Romans ermöglichen sie aber eine Konfliktgestaltung, die der positiven

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Ebd., S. 44, 45, 46. Ebd., S. 45. 42 „[D]ie Unwissenheit aller bösen Sachen schläfferte sie [Syringe] ein“ (ebd., S. 41). 43 „Meine Feder ist zu schwach / das Entsetzen der tugendvolle[n] Syringe gnugsam auszudrucken“ (ebd., S. 44). 44 Ebd., auch im Folgenden. 41

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Konzeptualisierung der weiblichen Figur dient, da sich deren sittliche Integrität im Kontrast zur lasterhaften Anfeindung erweisen kann. Die Treue zum eigentlichen Liebhaber Tancredi und die Empörung über die fragwürdige Heirat mit Conradi erregen den Widerstand der Protatonistin. Am Vortag der Hochzeit flüchtet sie aus dem Elternhaus und rettet sich (vorerst) ins Kloster. Ihr Aufenthaltsort bleibt unbekannt  –  Mutter und Intrigant können lediglich feststellen, „Syringe sey durchgegangen“.45 Ein Abschiedsbrief an den „ungerechten“ und „falschen Conradi“ dient als (Hilfs-)Mittel, um die Motivation und persönliche Einstellung der Figur zu klären, wodurch die moralischen Parameter des Romans erkennbar werden.46 Syringe erklärt: [B]ißher habt ihr [Conradi] in euren bösen Vernehmen über mich [Syringe] triumphiret / hinführo aber werden euch / […] die Gelegenheiten darzu benommen seyn […]. Ihr habt mir durch eine Nacht die gröste Unruhe verursachet / […] iedennoch wil ich euch noch so viel Glück gönnen / daß ihr euch anderwärts nach einer Dame, welche euren Untugenden gleich / möget umsehen / weil ich beschlossen / Lebenslang in meiner Freyheit zu verharren / als eine erlösete Syringe [Hervorh. K.B.].47

Die Protagonistin ist nicht gewillt, eine rigide Sexualmoral zu akzeptieren, durch welche sie – wenn sie sie akzeptierte – unverschuldet erpressbar würde. Sie lässt sich nicht zum passiven Spielball für Mutter und männlichen Verehrer machen, sondern wehrt sich gegen den Zwang einer intrigant arrangierten Ehe. Indem Syringe ihre „Freyheit“ durch die Flucht schützt, entzieht sie sich sowohl der Autorität der Mutter als auch dem Zugriff des männlichen Verehrers. Dieses eigenmächtige Vorgehen ist Teil einer positiven Figurenkonzeption: der „tugendvolle[n] Syringe“.48 Relational konturiert sich die Tugendhaftigkeit der Hauptfigur im Kontrast zur noch stärkeren Tugendlosigkeit der Mutter und der lasterhaften Umwelt. Der Konfliktaufbau verbindet Be- und Verlachen bzw. scherzhaftes Vergnügen mit einem gewissen Ernst, wie es die galante Poesie zwischen Scherz und Ernst nahelegt (Kapitel 3.4). Die Darstellung gilt nicht nur dem satirischen Amüsement am Laster, sondern lässt ‚ernstere‘ Facetten der Konfliktgestaltung zum Laster vermuten. 4.1.2 Satire und Erotik: Das Klostermotiv im galanten Roman In der Versteckten Liebe im Kloster und im Entlarfften Ritter im Nonnen=Kloster spielt das Klostermotiv – als Flucht aus dem Kloster ‒ eine wichtige Rolle. Die Texte referieren mit dem Klostermotiv auf eine soziale Institution und Lebensform, die mit Werten wie Keuschheit, Frömmigkeit, Geschlechtertrennung, Askese, kurz einem

45

Ebd., S. 87. Ebd., S. 85. 47 Ebd., S. 85f. 48 Ebd., S. 44. 46

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gottgefälligen Leben assoziiert wird.49 Durch die Disziplinierung jeglicher Formen von Körperlichkeit (nicht nur in Bezug auf Sexualität, sondern auch hinsichtlich der Ernährung/Fasten usw.), dem Kampf gegen die ‚Schwäche des Fleisches‘, entziehen sich die Geistlichen dem ‚Schmutz‘ des Irdischen. Die christliche Theologie sieht in der körperlichen Kasteiung eine Möglichkeit, die irdische Existenz vom ‚Fleisch‘ zu befreien und dennoch (notgedrungen) im Körper zu leben.50 Das Kloster gilt in diesem Sinne als religiöse Institution, die ein Leben in der Welt ermöglicht, das sich vom weltlichen Leben distanziert.51 In der Tradition der satirischen Literatur – zumal im protestantischen Raum  –  wurden soziale Stereotype wie der Pfarrer, die Nonne und Institutionen wie das Kloster gern genutzt, um sie ins Gegenteil zu verkehren und im Stereotyp des sündigen Pfarrers, der liebeshungrigen Nonne usw. der Lächerlichkeit preis zu geben. Galante Autoren integrieren solche (bereits satirisch konnotierten) Motive in den Roman, um im Kontrast zum lasterhaften Klosterleben die Tugendhaftigkeit der Protagonistin zu konturieren. Erzähllogisch ergibt sich daraus die Konsequenz, dass das Klosterleben und die Rolle der Nonne ‒ auch in nichtsatirischer Bedeutung ‒ für die Protagonistin als positives Rollenbild der Frau und annehmbares Lebensmodell nicht in Betracht kommen. In beiden Romanen wird das Kloster zum Inbegriff einer abzulehnenden Lebensform, gegen die sich beide Frauenfiguren früher oder später aufs entschiedenste wehren. Um der unliebsamen Ehe mit Conradi zu entgehen, flüchtet Syringe aus dem Elternhaus. Zum späteren Zeitpunkt erklärt sie Tancredi, welche An­strengungen sie in Kauf genommen hat, um sich der angedrohten Ehe zu entziehen und ihre Freiheit im Kloster zu suchen. Semantisch geraten „Ehe“ und „Freiheit“ in ein disjunktes Verhältnis; eine Dichotomie, in der die Verweigerung der Ehe geradezu den Zwang zur Freiheit hervorruft: [I]ch beschloß demnach den Conradi nimmermehr zu ehelichen […] / es war mir ferner kein Weg mehr offen als die Freyheit […]. Und weil mir einfiel / daß ich am ersten von dieser Quaal könte loßkommen / wann ich in ein Kloster gehen würde / […] gieng [ich] noch selben Abend […] mit einem Pferde durch / [und] [satzte] mich zu Schiffe.52

Das Leben im Kloster übertrifft indes alle lasterhaften Gefahren der Welt. Schon bald muss die Protagonistin erfahren, dass die „Klösterliche Heiligkeit“, von der ihr soviel „vorgeschwatzt worden“, sich „gantz anders“ darstellt als gedacht.53 Das Stereotyp der lasterhaften Nonne, des sündigen Mönchs werden genutzt, um ero-

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Michel Foucault: Der Kampf um die Keuschheit. In: Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland. Hg. v. Philippe Ariès u.a. Frankfurt a.M. 1984, S. 25–39. 50 Ebd., S. 28. 51 Ebd. 52 Der Beständige T.: Versteckte Liebe im Kloster, S. 225f. 53 Ebd., S. 227.

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

tische Details zu narrativieren, die Syringe ein „Greul“ sind.54 Die Protagonistin bleibt selbst nicht verschont. Ein Würdenträger, der Prior, versucht sie zu verführen.55 Syringe sucht Schutz bei der Äbtissin des Klosters, wobei sich das Motiv des Bettentauschs wiederholt, das mit der Intrige der Mutter bereits eingeführt wurde. Der Prior, der auf ein Treffen drängt, soll bei der verbotenen Nachtvisite an Stelle Syringes die Äbtissin vorfinden, die „schon selbst die Sache weiter führen“ wolle.56 Hinter einer dünnen Wand beobachtet Syringe die Szene, die Ähnlichkeiten zu einer Erzählung aus Boccaccios Decameron aufweist.57 Im Glauben, unbeobachtet zu sein und unter dem Vorwand, „öffentliche Schande zu vermeiden“, zwingt die Äbtissin den Prior, ihr die körperliche Lust zu schenken, die jener sich von der Protagonistin zu erzwingen hoffte. Retrospektiv berichtet Syringe Tancedi: Die Aebtissin mochte nicht vermercken / daß ich [Syringe] würde acht auff sie haben / und als der Prior gleich etwan zu ihren Bette trat / ergrieff sie ihn alßbald / daß Er nicht wieder darvon wandern könne / […] [und] befahl ihm / bei Vermeidung öffentlicher Schande / die jenige Liebe so mir wehre zugedacht gewesen / ihr selbsten zuerzeigen […]. [S]o genoß sie alles das jenige was mir zugedacht gewesen / und befand sich dabey so vergnügt / daß sie ihm nicht ehe / als biß gegen den lichten Morgen wiederum von sich ließ [Hervorh. K.B.].58

Die Äbtissin nutzt die Machtposition als ranghöchste Frau des Klosters und kehrt das Machtverhältnis der Geschlechter um: Sie zwingt den ranghöchsten männlichen Würdenträger zum Geschlechtsverkehr und gibt sich damit als Frau von kaum geringerem Skrupel zu erkennen als der Prior. Die Sexualität und Integrität der Hauptfigur bleiben unangetastet, doch spitzen sich die Frivolitäten zu, als der Prior versucht, Syringe zu vergewaltigen. „[V]erborgener Weise“ erscheint er in ihrer Kammer und droht, „daß sie seinem Willen in allen Folge leisten solte / wo nicht / so wolte er Herr 54

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Ebd., S. 234. Syringe entdeckt die Nonne Veronica beim Liebesspiel mit einem „Münch / […] welchem sie auf dem Schoße saß“ und die Syringe „um aller Liebe Willen“ bittet, „sie nicht zu verrathen“. Der Roman gestaltet das Klosterleben als einen Ort der lockeren Sitten, die Syringe ein „Greul“ sind, doch Veronica „lachte [sie] […] aus / und sagte / du wirst noch andere Händel erfahren / […] wenn du das Kloster=Leben erst recht wirst kundig seyn“ (ebd., S. 228, 234). Der Prior will Syringe glauben machen, „daß er die Freyheit hab[e] / alles zu thun was ihm beliebe / und […] die Freyheit geben könne wem er wolle“ (ebd., S. 235). Wer zur weltlichen Liebe nicht fähig sei, verstünde auch die Klosterliebe nicht recht, drängt der Prior in einem Brief an die Heldin: „Weil die Andacht nicht ohne Liebe bestehen kann / darum [zeiget] […] mir durch ein Zeichen der weltlichen Liebe / ob ihr auch fähig seyd / die Kloster=Liebe zu begreiffen / was euch daran mangelt / will ich auf dem Abend mit meiner Gegenwart bey euch in eurer Kammer ersetzen“ (ebd., S. 237f.). Ebd., S. 240. Giovanni Boccaccio: Das Dekameron, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1987, S. 52–56 (Vierte Geschichte vom Ersten Tag: Ein Mönch befreit sich von einer schweren Strafe). Ein junger Mönch verführt ein Bauermädchen, wird dabei vom Abt entdeckt, der sich – im Glauben, unbeobachtet zu sein – ebenfalls mit dem Mädchen vergnügt. Der junge Mönch beobachtet ihn und erpresst ihn anschließend mit diesem Wissen. Die Männer werden zu Komplizen des Lasters. In der vorliegenden Szene werden männliches und weibliches Figurenpersonal variiert. Der Beständige T.: Versteckte Liebe im Kloster, S. 241f.

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ihres Lebens und Todes seyn“ und „ergrieff sie mit Gewalt“.59 Mit knapper Not entgeht die Protagonistin dem Übergriff. Als sie aus dem Fenster springen will, bleibt sie an einem Haken hängen und wird, bis die Klosterbewohner zu einer Klärung des Sachverhaltes gelangt sein würden, in eine Zelle eingemauert.60 Das Klosterleben findet seinen Höhepunkt im skandalösen Vergewaltigungsversuch des Priors und der Einmauerung der Protagonistin, die sich nun „lebendig im Grab“ weiß.61 Zur Deutung des Geschehens und zur Rezeption des Lasters bietet der Text zwei Möglichkeiten, da sich die Erzählung auf unterschiedlichen Zeitebenen bewegt. Während in der ersten Hälfte des Romans der auktoriale Erzähler knapp und bündig vom Vergewaltigungsversuch berichtet ‒ allerdings ohne das Geschehen moralisch zu kommentieren, erwähnt werden lediglich die Schreie und die „Angst“ der Protagonistin ‒,62 schildert die Figur Syringe an späterer Stelle, nämlich retrospektiv im Gespräch mit Tancredi, ausführlich die Details des lasterhaften Klosterlebens. Nachdem sie auch dem Kloster entflohen ist und ihren Geliebten wieder gefunden hat, berichtet sie rückblickend von ihren Erlebnissen im Gotteshaus. Aus der Retrospekive ergänzt die detailliertere Figurenrede der Protagonistin die knappen, aufs Faktische beschränkten Informationen des auktorialen Erzählers, die an früherer Stelle zum Geschehen gegeben werden. Dabei kommen zwei unterschiedliche Haltungen dem Laster gegenüber zum Ausdruck. Sich an die damalige Situation erinnernd gibt Syringe unmissverständlich zu verstehen, wie „inniglich erzürnet und beschämet“ sie über das unsittliche Verhalten des Priors gewesen war und einen „stets wehrenden Haß“ empfand.63 Oft meinte sie damals, „ich hätte vor Eyfer und Verdruß fast zerspringen mögen.“64 Die Protagonistin wird als positive Figur bestätigt, deren moralische Gesinnung im Kontrast zu den Geistlichen umso deutlicher hervortritt: „Nunmehro schiene mir das gantze Kloster / ein Behältniß aller Unsauberkeit zu seyn“.65 In der aktuellen Situation des Gesprächs mit Tancredi allerdings, an späterer Stelle des Romans (bezogen auf die Erzählzeit: zum Zeitpunkt, als die lasterhaften Begebenheiten längst überwunden sind), erregt die Erzählung über das Laster jedoch das Vergnügen der Protagonistin und ihres Liebhabers. „[I]n lachenden Schertz“ zeigt Syringe dem Liebhaber die Briefe des Priors,66 worüber sich beide köstlich amüsieren: „Tancredi konte nichts thun / als über den wunderlichen Brieff [des Priors] lachen / und hatte ein und andern Schertz gegen seine Syringe, welches sie ihm mit allen Vergnügen beantworten konte“.67 Aus der zeitlichen Distanz werden die 59 60 61 62 63 64 65 66 67

Ebd., S. 193f. Ebd., S. 192–199. Ebd., S. 200. Ebd., S. 193. Ebd., S. 238f. Ebd., S. 242. Ebd., S. 243. Ebd., S. 236. Ebd., S. 238, Hervorh. K.B.

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

erotischen Eskapaden des Geistlichen zur Posse, über die sich die Protagonistin und ihr Liebhaber amüsieren und damit auch der Leserschaft die Lizenz zum erotischen Scherz gewähren. Mit frivolen Konfliktsituationen, der Suggestion körperlicher Erotik der Geistlichen, provoziert und unterhält der Roman die Leserschaft. Indem der Text zwei Rezeptionsmodi anbietet (moralische Empörung/Kritik und Lachen/Verlachen), räumt er Lesern und Leserinnen die Möglichkeit ein, den erotischen Scherz auf drei verschiedene Arten zu rezipieren: (1) An Konzeptionen der klassischen Satire anschließend kann das Geschehen belacht werden, wobei der ‚Schreck‘ über das eigene Lachen angesichts des Lasters gerade jenes, das Lasterhafte, zum Vorschein oder zu Bewusstsein bringt und eine Reinigung vom Laster durch das Verlachen bzw. die lachende Distanzierung anregen soll.68 So lassen sich klassische Satirekonzeptionen verstehen, die durch ein weiteres Moment komplementiert werden. Denn (2) wird – wenn auch erst nachträglich (retrospektiv), aber doch explizit – eine moralische Deutung durch die Figurenrede erkennbar, die zur sittlichen Empörung über das Laster anregt. Interessanterweise wird hier nicht die ‚auktoriale Autorität‘ des Erzählers in Anspruch genommen (was sich als typisch für galante Romane vor 1700 herausgestellt hat: Fehlen moralisierender Erzählerkommentare), sondern normative Rezeptionspotentiale generieren sich über die Figureninteraktion, was variable Deutungsmöglichkeiten indes nicht ausschließt. Darüber hinaus eröffnet sich (3) noch ein weiterer Rezeptionsmodus, der es Lesern und Leserinnen erlaubt, die erotische Posse bzw. das Laster als ‚Unterhaltung‘ zu verstehen, als ‚vergnüglichen Scherz‘, der die Moralität von Rezipienten und Textgestaltung weder betrifft noch in Frage stellt, da er ja – aller Pikanterie zum Trotz ‒ souverän mitreflektiert wird. Indem die Figuren über das Laster lachen, erhält auch die Leserschaft die Lizenz zum Vergnügen am Laster. Betrachtet man die Handlungs- und Konfliktgestaltung, so ist außerdem bemerkenswert, welche semantischen Relationen sich in der Kombination der weiblichen Hauptfigur mit den Motiven Ehe, Freiheit und Kloster entfalten. Weder die (erzwungene) Ehe noch das (lasterhafte) Kloster bieten adäquate Lebensformen, um eine im Text noch nicht genauer spezifizierte Vorstellung weiblicher ‚Freiheit‘ zu konturieren. Für die Protagonistin wird die Freiheit zur Alternative gegenüber Ehe und Kloster („es war mir ferner kein Weg mehr offen als die Freyheit“).69 Zwei traditionelle Lebensformen und Sozialrollen der Frau werden im galanten Roman sabotiert und von der Protagonistin abgelehnt: die Rolle als Ehefrau und die Rolle als Nonne. Die Hauptfigur ist weder gewillt, eine weltliche Ehe mit einem erzwungenen Gatten einzugehen noch das geistliche Klosterleben in lasterhafter Gesellschaft zuzubrin-

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Helmut Arntzen: Art. Satire. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5. Hg. v. Karlheinz Barck. Stuttgart 2010, S. 345‒364. 69 Der Beständige T.: Versteckte Liebe im Kloster, S. 225f.

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gen. Übrig bleibt der Weg in die Freiheit, von dem an diesem Punkt der erzählten Geschichte vollkommen offen ist, wohin er führt. Ein Vergleich zum Entlarffte[n] Ritter im Nonnen=Kloster macht deutlich, dass die Institution des Klosters und die Rolle der Nonne im späteren Roman komplett der Satire preisgegeben werden und damit als akzeptable Alternative einer weiblichen Lebensführung von vornherein ausfallen. Die junge Heldin Placidie, die sich hinter der Maske des Entlarfften Ritters verbirgt, wird „noch in der ersten Blüth ihrer Jugend“ von der Mutter in ein Kloster verbannt.70 Auch hier verkörpert die Mutter das Negativstereotyp der ‚bösen Frau‘, die zur Bedrohung für die junge Protagonistin wird. Um ungestört mit einem neuen Liebhaber leben zu können, beschließt die Mutter, Placidie „in die Finsternus des Klosters [zu] verdammen“.71 Das Kloster und das Klosterleben werden ausschließlich mit pejorativen Attributen versehen, die deutlich machen, wie unattraktiv für die junge Protagonistin „das eingesperrte Leben“ in diesem „Gefängnus“ sein muss.72 Der Erzähler nennt die Nonnen „freywillig Eingemauerte / welche / gemäß ihrer Lebens=Art auch unsträffliche Welt=Freuden als verbottene Früchte halten“ und die der „unschuldigen Placidie“ eine „Neigung [zum Klosterleben] einzuflössen“ versuchen, ja sie geradezu manipulieren, indem „man der Placidie wuste einzureimen“, wie gut es ihr im Kloster gehen würde.73 Die Protagonistin hegt jedoch eine „natürliche Abscheu ob der Einsamkeit im Geblüt“.74 Ihrer „freien und ungezwungenen Lebensart“ gemäß, willigt sie nur scherzhaft ein, es mit dem Klosterleben zu probieren und bringt die Nonnen damit fast zur Verzweiflung: In Ermangelung aber solcher Neigung [zum ‚eingesperrten Leben‘] und in Beschaffenheit ihrer frey= und ungezwungenen Lebens=Art / beantwortete sie [Placidie] die […] Vorträge [der Nonnen] mit Schertz=gefälliger Beystimmung / […] so die jenige[n] / welche [sie] bearbeiteten / […] fast daran verzweifflend machte [Hervorh. K.B.].75

Die Protagonistin glaubt, ihre Verbannung ins Kloster „wäre nur so ein Lusst­ streich“.76 Sie kann dem Klosterleben nur mit Humor begegnen und gibt den Nonnen „schertz=weiß zur Antwort: Sie wäre noch zu jung“, sich ernsthaft für ein Leben im Kloster zu entschließen.77 Unterdessen lässt die Mutter Möbel und Ausstattung überführen,78 so dass sich Placidie bestürzt als „unschuldige[s] Schlacht=Opffer“

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[anonym]: Der Entlarffte Ritter im Nonnen=Kloster, S. 4. Ebd., S. 14. Die Mutter hofft, „künfftighin des Anlauffs ihrer Bluts=Verwandten entübrigt zu bleiben“ (ebd., S. 13), sie möchte die Tochter „aus denen Augen raumen“ (ebd., S. 15). Ebd., S. 22, 27. Ebd., S. 21f. Ebd., S. 22. Ebd., S. 22f., Hervorh. K.B. Ebd., S. 24. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25f.

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erkennt,79 das im Kloster lebendig begraben sei: „Ich sehe wohl / […] daß man mich […] zum Brand=Opffer verlobt haben will / indem man suchet/mich lebendig zu begraben / an einem Ort / allwo ich / aus Mangel Beruffs / zu verbleiben / nimmermehr eintziges Belieben schöpffen kan.“80 In ihrer Not fleht Placidie, Gott möge sie rächen und aus dem Kloster befreien: „GOtt! GOtt allein! so die Rach an statt und für die unterdruckte Unschuld zu üben pflegt / dieser wird aus de[m] Gefängnus mich erlösen / in welche[s] mich ein lasterhaffter Eigennutz überlieffert und verworffen hat.“81 Die misslichen Umstände rufen bei der Protagonistin körperliche und seelische Reaktionen hervor, die von „Thrän[en]“, „Bestürtzung“ und „Verdruß“ bis zur „Lauigkeit des Geistes“ und schließlich bis ins „Fieber“ führen.82 Die psychosomatischen Symptome lassen keinen Zweifel daran, wie stark die Protagonistin unter der Verbannung ins Kloster leidet. Sie sinnt auf Möglichkeiten zur Flucht, denn Gott hilft ihr nicht; sie lässt sich „Manns=Kleider“ ins Kloster schmuggeln83 und nimmt die erste Gelegenheit wahr, das „Gefängnis“ zu verlassen. Das Kloster dient auch hier als Handlungsort, wird aber schärfer und satirischer dem Spott und der Kritik preisgegeben als im früheren Roman. Während das Kloster in der Versteckten Liebe zumindest nominell noch als Zufluchtsort vor den erotischen Gefahren des weltlichen Lebens fungiert, sich allerdings als Ort der Unzucht erweist und damit als annehmbarer Lebensraum einer ‚freien‘ und tugendhaften galanten Weiblichkeit ausscheidet, stellt das geistliche Klosterleben im Entlarfften Ritter grundsätzlich keine Alternative zum weltlichen Leben mehr dar. Das Kloster, die Nonnen und das Klosterleben werden mit dem Entzug der Freiheit, dem Verbot harmlosester Weltfreuden und einem bedrückenden Leben in Einsamkeit assoziiert, denen die Protagonistin nur scherzhaft begegnen kann. Obwohl der frühere Roman sexuelle Tabus entschiedener aufgreift (insofern die lasterhafte Erotik der Nonnen und Würdenträger direkt narrativiert wird und damit ins Leserbewusstsein rückt), macht die Ausblendung solcher Details im späteren Roman das Kloster keinesfalls zum positiven Handlungsort. Placidie empfindet eine „natürliche Abscheu“ vor dem Klosterleben.84 Eine narrative Konfliktgestaltung, die mit der lasterhaften Sexualität der Geistlichen letztlich begründet, warum das Kloster zu meiden sei, wird im späteren Text geradezu überflüssig. Das Klostermotiv wandelt sich zur Metapher einer religiösen Lebensform, die sich den Bedürfnissen und Bedingungen des Weltlichen derart verschließt, dass das religiöse Modell von der Protagonistin nur belacht werden kann („das eingesperrte Leben“ in diesem „Gefängnus“ könne doch „nur so

79

Ebd., S. 19. Ebd., S. 27, Hervorh. K.B. 81 Ebd. 82 Ebd., S. 27, 28. 83 Handlanger, um die Kleider ins Kloster zu schleusen, sind zwei ehemalige Verehrer (ebd., S. 73– 82, hier S. 77). 84 Ebd., S. 22. 80

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

269

ein Lusststreich“ sein).85 In der Konfliktgestaltung beider Romane scheiden religiöse Lebensformen als akzeptable Modelle galanter Weiblichkeit vollständig aus. Erzähllogisch ergibt sich daraus die Konsequenz, dass die Protagonistinnen in der Welt, in der Sphäre des Weltlichen, nach angemessenen Modellen der weiblichen Lebensführung suchen müssen. 4.1.3 Körper ‒ Interaktion ‒ Genderordnung: Erzähltes Gendercrossing Der Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch ist im galanten Roman ein beliebtes und häufig eingesetztes Motiv, mit dem erotische und frivol-satirische Konflikte konstruiert werden. Mit der Option einer ‚ernsthaften‘ Rezeption zwischen Scherz und Ernst bringt dieses Motiv aber auch heteronormative Geschlechterordnungen in Bewegung. In der Fiktion des Romans tauchen ‚falsche Männer‘ auf, die sich als Frauen entpuppen und vermeintliche ‚Frauen‘, die eigentlich Männer sind. Konstitutiv arbeitet der galante Roman mit einer Spannung zwischen Leser- und Figurenwissen: Während die Leserschaft das ‚wahre‘ Geschlecht der Figuren kennt, lassen sich die Figuren der Romanwelt komplett und ausnahmslos von den ‚falschen‘ Frauen und Männern täuschen. Die Maskierung des (Figuren-)Körpers, die Manipulation der äußeren Erscheinung, des Sprechens und Verhaltens lassen Hinweise zum Geschlecht der Figur unzuverlässig erscheinen oder suspendieren sie gar. Der galante Roman inszeniert den scheinbar erfolgreichen Wechsel der Protagonistin ins männliche Geschlecht, der von den Figuren der Romanwelt nicht als Täuschung erkannt wird. Insofern die Figuren getäuscht werden sollen und sich täuschen lassen, handelt es sich auf der Ebene der erzählten Geschichte, d.h. romanintern bzw. intradiegetisch, um einen fingierten Geschlechtertausch, der im Medium des Erzähltextes sprachlich und ästhetisch inszeniert wird.86 So eröffnet der Roman die Möglichkeit, Geschlechtertransgressionen im Rahmen der Fiktion als vorgetäuschte, aber gelingende Optionen zu rezipieren. In der Tradition der Dichtkunst ist der Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch ein bekanntes und beliebtes Motiv. Es findet sich in den Novellen Boccaccios, in den Komödien Shakespeares und Molières, es gehört zum Stoffrepertoire des 18. Jahrhunderts (Goldini, Marivaux, C.F. Meyer, Schiller, Kleist, Günderrode) und wird vor allem in der Literatur von Frauen im 19. und 20. Jahrhundert zum wichtigen Moment poetischer Selbstreflexion (George Sand, Virginia Woolf, Irmtraud Morgner u.a.).87

85

Ebd., S. 22, 27, 24. Zur Abgrenzung von fingiert = Erfundenes mit Täuschungsversuch und fiktiv/fiktional = Erfundenes ohne Täuschungsversuch, Gabriel: Art. Fiktion. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 594–598; vgl. Anm. 108 in Kap. 2.2.3 Text und Paratext. 87 Zur Tradition und Verbreitung des Motivs des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs, v.a. in der Dramatik seit Shakespeare, Gertrud Lehnert: Maskeraden und Metamorphosen. Als Männer verkleidete Frauen in der Literatur. Würzburg 1994; Klinger u. Thiemann: Geschlechtervaria86

270

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Gudrun Lehnert zufolge ist die „Verkleidung der Frau [als Mann] spannungsreicher als die des Mannes [zur Frau]“, weil die „beanspruchte Zugehörigkeit zum gesellschaftlich höher bewerteten männlichen Geschlecht“ mit einem „sozialen Gewinn“ für Frauen bzw. Protagonistinnen verbunden sei.88 So hat sich in der „europäischen Literaturgeschichte eine eigene Tradition der als Mann verkleideten Frau herausgebildet“, während es Lennert zufolge eine „vergleichbare Tradition hinsichtlich der Männer, die sich als Frauen verkleiden, nicht“ gäbe.89 Zwar existierten vielfältige Stoffbearbeitungen, in denen „Frauen sich in den falschen Mann [also die verkleidete Frau] verlieben. […] Seltener [jedoch] verliebt sich ein Mann in den vermeintlichen Mann“.90 Diese Einschätzung konnte mittlerweile widerlegt werden,91 und auch mit Blick auf die galante Romantradition lässt sie sich nicht bestätigen. Liebeskonstellationen zwischen der als Mann verkleideten Protagonistin und männlichen Figuren (fiktives Mann-Mann-Verhältnis) treten im galanten Roman ebenso auf wie zwischen der verkleideten Frau und weiblichen Protagonisten (fiktives Frau-FrauVerhältnis). Lehnert indes erklärt das Auftreten der ‚als Mann verkleideten Frau‘ sozialpsychologisch aus Sicht männlicher Autoren und Leser. Sie ist der Auffassung, dass die „erotische Ambivalenz der männlich gekleideten Frau“ für „Männer besonders reizvoll“ sei, insofern die ‚männliche Frau‘ eine Faszination errege, die von der „Androgynität als Mythos menschlicher Vollständigkeit“ ausgeht, aber auch ein „indirekte[s] Ausleben homoerotischer Neigungen“92 ermögliche und den „Dominanzwillen des Mannes“ provoziert, wenn man annimmt, dass die „Verbindung zwischen Sexualität und Macht die Beherrschung eines scheinbar Ebenbürtigen als erstrebenswerter erscheinen [lässt], als die eines von vornherein Unterlegenen“.93 Entgegen diesem Ansatz sucht die vorliegende Untersuchung einen poetologischnarrativen Zugang: Der Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch interessiert als poetisches Motiv, das aus der Tradition der Dichtkunst bekannt ist und zum Stoffrepertoire galanter Autoren zählt. Interessant ist die Frage, in welcher Weise das Motiv in den Handlungs- und Konfliktaufbau integriert wird, wie es ausgestaltet und

88

89 90 91

92 93

tionen; Studien zum Thema aus sozialhistorischer Perspektive bei Rudolf Dekker u. Lotte van de Pol: Frauen in Männerkleidern. Weibliche Transvestiten und ihre Geschichte. Berlin 1990; Mary Lindemann: Gender tales. The multiple identities of Maiden Heinrich, Hamburg 1700. In: Gender in early modern German history. Hg. v. Ulinka Rublack. Cambridge 2002, S. 131‒151. Lehnert: Maskeraden und Metamorphosen, S. 11: „Indem sie [die Protagonistinnen] sich einen sozialen Aufstieg anmaßen, rütteln sie an Hierarchien und bedrohen die gesellschaftliche Ordnung“. Ob Literatur soviel vermag, sei hier dahingestellt. Ebd., S. 12. Ebd., S. 242. Klinger u. Thiemann: Gendervariationen; Stefan Hirschauer: Hermaphroditen, Homosexuelle und Geschlechtswechsler. Transsexualität als historisches Projekt. In: Geschlechtsumwandlung. Abhandlungen zur Transsexualität. Hg. v. Friedemann Pfäfflin u. Astrid Junge. Stuttgart 1992, S. 55‒94. Lehnert: Maskeraden und Metamorphosen, S. 243. Ebd., S. 244.

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

271

funktionalisiert wird und welche Effekte sich daraus für die Konzeption der weiblichen Hauptfigur respektive das galante Weiblichkeitsnarrativ ergeben. Das ‚poetische Spiel‘ mit Gendermarkierungen vollzieht sich dabei auf zwei Ebenen: Einerseits als Wechsel von (erzählter) Figurenrolle und Identitäten innerhalb der eigenen Geschlechtskategorie, z.B. wenn die Protagonistin andere Rollen als Frau annimmt (Kleider- und Rollentausch). Andererseits als Wechsel zwischen verschiedenen Geschlechtskategorien, wenn die weibliche Figur tatsächlich das jeweils ‚andere Geschlecht‘ übernimmt, d.h. sich als Mann ausgibt (Kleider- und Geschlechtertausch). Im galanten Roman beschränkt sich der Wechsel ins ‚andere Geschlecht‘ ausschließlich auf die ‒ auch in diesem Falle: erzählte, erfundene ‒ sozial-kommunikative Ebene. Der Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch betrifft nur soziale Genderrollen (im Sinne von gender, nicht aber von sex). Zur Transformation biologistischer Geschlechtskategorien (Homo-, Bi-, Trans- oder Intersexualität) gibt der galante Roman keine Auskunft. Solche Formen von Geschlechtlichkeit und Körpererfahrung werden nicht thematisiert, sondern lassen sich lediglich als Fragen der Interpretation diskutieren. In der vorliegenden Arbeit wird das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs daher als ästhetisches Stilmittel untersucht, das die weibliche Figurenkonzeption und die Konstruktion galanter Weiblichkeitsnarrative prägt. 4.1.3.1 Die fremde Geliebte: Anonymität und Stabilität der Paarbeziehung Das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs lässt multiple Rollen derselben Figur entstehen und führt insofern zu einer sprachlichen Transgression heteronormativer Geschlechtergrenzen im Roman. Bevor Syringe als namenloser „Cavalier“ unterwegs ist und sich dann als „Edelmann Celadon“ ausgibt, erfindet sie für sich die Rolle der „Henrica“.94 Die Auflösung dieses Rollenwechsels gibt der Erzähler erst im Laufe der Handlung preis und zwar relativ spät. Während der geschilderten Klosterszene (Kapitel 4.1.2), so erfahren die Leser retrospektiv, war Syringe nie unter eigenem Namen und Identität präsent, sondern trat als „Henrica“ auf.95

94

Der Beständige T.: Versteckte Liebe im Kloster, S. 170‒200, 209‒220, 258‒286. Nach der Intrige von Mutter und Conradi wechselt Syringe die Identität und tritt als Nonne „Henrica“ ins Kloster (ebd., S. 173f., 218). 95 Das Wiedererkennen und die Auflösung der ‚falschen‘ Identitäten erfolgt erst in der Duellszene zwischen Henrica/Syringe und Conradi, zu der auch Tancredi stößt und erfährt, dass Henrica immer Syringe war (ebd., S. 218). In der vorangegangenen Klosterszene, in der Henrica bereits auftaucht (ebd., S. 192‒200) spricht der auktoriale Erzähler lediglich von einer „Henrica“ und spart explizite Hinweise zu Syringe aus. Die Details des Klosterlebens werden wiederum erst später durch „Syringe“ im Rückblick wiedergeben (ebd., S. 225‒243, 228), wobei sie dann in direkter Rede als „Ich“ spricht. Den Lesern wird hier eine erzähllogische Ergänzung abverlangt, da das Geschehen an unterschiedlichen Stellen der Erzählzeit und aus verschiedenen Perspektiven (auktoriale Erzählerrede, direkte Figurenrede) erzählt wird, die erst im Gesamtzusammenhang pro- und retrospektiv aufeinander verweisen und sich ergänzen. Erst in der Gesamtkonzeption wird deutlich, welche Informationen der Erzähler zum früheren Zeitpunkt ausspart (z.B. Namen).

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Auch Tancredi zieht sich als Mönch „Riverdo“ ins Kloster zurück,96 enttäuscht von der vermeintlichen Untreue der Geliebten (Intrige Conradi, Kapitel 4.1.1). Das Paar vollzieht gewissermaßen eine Figurendopplung (partage) als Henrica und Riverdo. Als Schüler des lasterhaften Priors macht Riverdo/Tancredi unverhofft die Bekanntschaft Henricas/Syringe, die er als Henrica jedoch für eine fremde Person hält.97 Aus Zuneigung bemüht er sich, Henrica zur Flucht aus dem Kloster zu verhelfen. Dazu verkleidet er sich als Magd, als Nonne, wechselt in die Rolle eines Bettlers, eines Bauers, schlüpft in die Kleidung Syringes, bis er schließlich wieder als Tancredi auftritt.98 Der Kleider- und Rollentausch führt zunächst dazu, dass sich das Paar (wie unwahrscheinlich auch immer) nicht erkennt. Das Verhältnis der Figuren wird anonymisiert: Syringe und Tancredi begegnen sich unter ‚falschen‘ Identitäten, können sich aber gegenseitig nicht identifizieren. Syringe, die Tancredi für tot hält,99 vermag es nicht, in Riverdo den Geliebten zu erkennen. Ebenso wenig erkennt der Liebhaber im „Gesichte / [das] mit seiner ehmals geliebten Syringe ziemlich überein traf“, die eigentliche Geliebte. Stattdessen „verehrete er […] inbrünstig unter dieser Gestalt [Henricas] das Andencken seiner geliebten Syringe“.100 Die Protagonistin scheint austauschbar zu sein, doch liebt Tancredi in Henrica im Grunde Syringe. Mehr noch: In der ‚neuen‘ Rolle als Henrica kann die positive Figurenkonzeption der Protagonistin, ihre Tugendhaftigkeit, wiederholt und betont werden: Er [Riverdo/Tancredi] liebte diese Vollkommene [Henrica] an der Syringen Stelle / weil sie ihm so eine gleiche Verwandtschafft mit derselben zu haben schiene / […] allein er besorgte / es möchte ihm [die gäntzliche Treue] von diesem Tugendbilde abgeschlagen werden [Hervorh. K.B.].101

Erneut entwickelt sich zwischen den Protagonisten ein Liebesverhältnis. Henrica (Syringe) wirft dem jungen Mönch Riverdo „etliche gehlinge Blicke“ zu,102 schenkt ihm ihre „Freundschafft“,103 „versprach ihm auch bald zutrauen / wann sie […] seiner Aufrichtigkeit verspühren würde“104 und gewährt ihm alsbald „die Freyheit

96

„Tancredi hielt inständigst bey dem Kloster [einem Männer-Kloster] an / […] und als nach seinem Nahmen gefragt ward / nennete er sich Riverdo: Er gab sich unter andern vor einen elenden und vertriebenen Menschen aus / welches man ihm umso viel mehr glaubte / weil er in einem schlechten Kleide aufzog“ (ebd., S. 79, Hervorh. K.B.). 97 Wiederbegegnung des Paares im Kloster, ohne sich zu erkennen (ebd., S. 172f.); Auflösung der Doppelrollen in der Duellszene (ebd., S. 218). 98 Ebd., S. 79–170, 203–215, 254, 291–298, 300f. 99 Ebd., S. 72‒75. 100 Ebd., S. 173f. 101 Ebd., S. 182. 102 Ebd., S. 174. 103 Ebd., S. 179. 104 Ebd., S. 180.

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

273

eines Kusses“.105 Weitere körperliche Annäherungen lässt die Protagonistin zu, als der „treue Riverdo“106 ihr zur Flucht aus dem Kloster verhilft und sie ihn mit „unzehligen Küssen“ umfängt.107 Zwischen Henrica (Syringe) und Riverdo (Tancredi) entsteht erneut ein intimes, auch körperliches Verhältnis.108 Viel später erst, nachdem die Verwechslung gelüftet ist, lachen die Protagonisten über diesen Fauxpas. Syringe versichert „in lachenden Schertz“, sie wolle „in Lieben nicht […] eifersüchtig seyn“,109 ebenso wenig wie sich Tancredi an Syringes Liebesverhalten stört – im Gegenteil, der Erzähler erklärt, Syringes Verhalten gereiche ihr „zu desto grösserer Ehre“, weil es nichts „Unmässiges“ erkennen lasse.110 Die Liebe unter fremder Identität bestätigt die Bindungskraft des Verhältnisses. Rückblickend versichert Syringe, in Riverdo ebenfalls stets „das Gedächtniß des geliebten Tancredi bey mir verehret [zu haben] / welches ihr [Tancredi] auch zur Genüge jederzeit von mir werdet verspüret haben.“111 In der Figur Riverdos kann sich die Protagonistin erneut vom positiven Charakter Tancredis überzeugen. Unabhängig von dessen individueller Identifizierbarkeit beweist der Liebhaber soziale Kompetenzen wie Mut, Entschlusskraft und Selbstlosigkeit, indem er zur Flucht aus dem Kloster verhilft. Der Kleider- und Rollentausch wird nun zum Kleider- und Geschlechtertausch. Handlungslogisch ist der Kleiderund Geschlechtertausch kein frivoler Scherz, sondern er dient der Operationalisierung der Flucht/Befreiung und plausibilisiert räumliche Neustrukturierungen, d.h. den Wechsel der Protagonistin an andere Orte. Zunächst verkleidet sich Riverdo als „Bettler“, um Eintritt ins Kloster zu erhalten und die Bedingungen der Haft auszuspionieren.112 Anschließend entwendet er „einer Magd die Kleider“, wodurch er sich „vor eine Magd auskleide[n]“ kann.113 „Seine junge und schöne Gestalt truge viel bey / daß er von jederman vor ein warhafftes Weibes=Bild gehalten wurde.“ In der Rolle als Frau bittet Riverdo/Tancredi die Nonnen, „ihn vor eine Bey=Schwester anzunehmen“, woraufhin die Nonnen den als Frau verkleideten Mann arglos damit

105 Ebd.,

S. 186. S. 206. 107 „[S]ie empfiengen einander wohl mit unzehligen Küssen / und ich glaube / sie wären in dieser Vergnügung wohl biß an den hellen Morgen verharret / wenn sie nicht auf fernere Vorsorge hätten müssen bedacht seyn“ (ebd., S. 208f.). 108 Riverdo/Tancredi besucht Henrica/Syringe des Nachts in ihrer Kammer, sie verbringen viel Zeit mit Gesprächen und tauschen gelegentlich Küsse (ebd., S. 174, 175–180, 182‒187). 109 Ebd., S. 236. 110 Ebd., S. 298. 111 Ebd., S. 243. 112 „[Tancredi] verstellete […] seine gantze Gestallt unter einer Bettler=Kleidung / das Gesicht wuste er sich auf unzehliche Arten mit allerhand Pflastern und Salben zu verstellen“ und erhält als Bedürftiger Eintritt in das Kloster, in dem sich Syringe aufhält. Er darf am „warmen Ofen“ sitzen, erhält „Essen und Trincken“ und erfährt im vertraulichen Gespräch die Einzelheiten der Inhaftierung einer „Sünderin / welche […] im Kloster sey vermauert worden“ (ebd., S. 203f.). 113 Ebd., S. 205, auch im Folgenden, Hervorh. K.B. 106 Ebd.,

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beauftragen, „des Nachts vor dem Loche der vermauerten Henrica zu wachen.“114 Der Erzähler kann „nicht gnugsam die Freude außsprechen / welche die elende Henrica empfand“, als sich Riverdo Nacht für Nacht daran macht, „die Steine sachte aus der Wand zu brechen“.115 Der Liebhaber versorgt die Protagonistin mit Männerkleidern, so dass diese flüchten kann, während der als Frau verkleidete Mann die Stelle Henricas im Verließ einnimmt: „Er [Riverdo/Tancredi] half die Henrica in ein Manns=Kleid / welches er zu dem Ende verborgen bey sich getragen / ankleiden / und indem er ihr alle Gelegenheit gesagt / wie und wo sie aus dem Kloster steigen könne / kroch Riverdo nunmehro an ihre Stelle in das Loch.“116 Das Paar verabredet einen Treffpunkt außerhalb des Klosters. Unterdessen gibt der maskierte Tancredi den Nonnen ein Schauerspiel und simuliert einen elenden Tod. Als die Nonnen Hilfe holen, entschwindet er, so dass jene glauben, Henricas Geist sei „in der Mauer verschieden“. Der Prior wird vom „bösen Gewissen“ geplagt, die Nonnen lesen „Seel=Messen vor die verstorbene Henrica“ und „bet[r]auerten sie“.117 Kurzum: Henrica gilt als tot. Die Szene zeigt, wie unterschiedlich das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs eingesetzt und funktionalisiert wird. So dient die Maskerade (1) dem Spannungsaufbau, denn sie verhindert, dass sich das Paar erkennt. Als ‚Fremde‘ treffen die Figuren anonym aufeinander und lernen sich erneut kennen und ‒ lieben (Anonymisierung der Figurenkonstellation). Dies baut (2) eine erotische Spannung auf, die hier der Reaktualisierung des Liebesverhältnisses dient. Selbst unter verstellten Identitäten muss sich das Paar lieben. Die erneute Beziehung unter fremder Identität ist weniger als Hinweis auf Bigamie zu deuten, sondern unter­streicht vielmehr die Notwendigkeit und Ausschließlichkeit der vorbildhaften Paarbeziehung. Paradoxerweise stärkt gerade die Nicht-Identifizierbarkeit der Liebenden (3) die positive Figurenkonzeption und stabilisiert die Paarbeziehung, denn auch unter ‚falscher‘ Identität stechen Tugendhaftigkeit, Unerschrockenheit, Mut, Entschlusskraft und Selbstlosigkeit beider Protagonisten so hervor, dass die Figuren im jeweils ‚fremden Anderen‘ das Andenken an die (nur scheinbar) Abwesenden lieben. Solche symbolischen Erzähl- und Ausdruckformen auf der Handlungsebene werden problematisch, sobald psychologisch-emotive Darstellungsformen zur Verfügung stehen, die den Charakter der Liebesbeziehung aus der Innenperspektive der Figuren hätten explizieren können. Im galanten Roman um 1700 ist dies aber nicht der Fall, obwohl z.B. der innere Monolog aus der Dramatik bekannt ist und teils ja zum Einsatz kommt (in Form von Briefen, Arien, Gedichten). In der vorliegenden Szene wird dieses Mittel aber nicht genutzt. Stattdessen kommt das Motiv des Kleider-, Rollen- und jetzt auch: Geschlechtertauschs zum Einsatz, wodurch zugleich 114 Ebd.,

S. 206. S. 207. 116 Ebd., S. 209‒215, auch im Folgenden, hier S. 209, Hervorh. K.B. 117 Ebd., S. 214f. 115 Ebd.,

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275

die Flucht aus dem Kloster plausibilisiert wird. So kann (4) auch der Eintritt in neue räumliche Sphären erzählpragmatisch motiviert werden (Raumwechsel). Der Wechsel ins jeweils andere Geschlecht, d.h. die Maskierung durch männliche bzw. weibliche Kleidung (im Sinne von Dissimulation), bietet weiblichen wie männlichen Figuren Schutz und ermöglicht es zuletzt (5), auf die gegebenen (misslichen) Verhältnisse zum eigenen Vorteil einzuwirken. Insbesondere für die Protagonistin bedeutet dies eine enorme Erweiterung des Figurencharakters, denn auch nach der geglückten Flucht verbleibt Syringe in der Rolle als Mann. 4.1.3.2 „Noch eine Zeit unbekannter weise leben“: Fiktives Mann-MannVerhältnis Durch den Wechsel ins männliche Geschlecht partizipiert die Protagonistin an männlichen Privilegien und Handlungsfreiheiten, die für die Figurenkonzeption relevant werden. Nach der Flucht aus dem Kloster verfehlt sich das ‚Paar‘, so dass Henrica/Syringe auf sich allein gestellt ist. Während der zeitlich ausgedehnten Suche nach Riverdo muss sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Die Verkleidung als Mann behält sie bei. Mittels einer Raffung springt der auktoriale Erzähler direkt von der Flucht aus dem Kloster zur Wiederbegegnung der Liebenden, dann jedoch berichtet Syringe rückblickend und ausführlich in direkter Rede über ihre bisherigen Erlebnisse. Die Rahmenhandlung lässt erahnen, dass Henrica/Syringe bis zur Begegnung mit Riverdo/Tancredi viel erlebt haben muss: Auf einer Landstraße stößt Riverdo auf zwei Kavaliere, die sich im Duell hart bekämpfen.118 Überrascht erkennt er seinen Widersacher Conradi und im anderen Kavalier die Nonne Henrica.119 Die Protagonistin hat den früheren Verehrer niedergestochen, der nun im Sterben liegt: „Conradi indessen verblutete sich gantz auf der Erden / weil er einen sehr tödtlichen Stich bekommen hatte“.120 Auf der Schwelle des Todes spricht Conradi den vermeintlichen Riverdo mit Namen Tancredi an, so dass die als Mann verkleidete Henrica ihren Liebhaber erkennt und ihre Identität als Syringe lüftet.121 Das Paar erkennt sich endlich wieder. Psychologisch wird das Erkennen und Verkennen im galanten

118 Tancredi

„ersahe bey einem Gestrauche zwey Cavalier[e] / welche […] in einem harten Duel begriffen waren“ (ebd., S. 216). 119 „Er [Tancredi] befand / […] mit dem grösten erstaunen / daß der Verwundete sein arger Feind der Conradi […] / am andern Theil aber sahe er unter der Cavaliers=Kleidung seine angenehme Henrica“ (ebd., S. 217). 120 Ebd., S. 217f. 121 „[A]ls er [Conradi] die Augen auffschlug / erkandte er den Riverdo: Ach edler Tancredi, rieff er / verzeihet meinem sterbenden Geist / daß ich euch […] was ihr liebet / habe zu raube[n] gesucht. […] Riverdo […] geriet selbst in Verwunderung / wie er sahe / daß Henrica über diesen Nahmen so sehr erschrack / darum fragte er gantz erstarret / ob sie denn auch von der Syringe etwas wüste / in dem erkennete sie Tancredi recht / daß diese bißhero so unglückseelige Henrica, seine geliebte Syringe sey“ (ebd., S. 218).

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Roman nicht plausibilisiert; der Text nimmt sich stattdessen die Freiheit, ‚falsche‘ und ‚wahre‘ Identitäten zugunsten der Konfliktlösung recht willkürlich gegeneinander auszuspielen.122 Das Paar – in männlicher Maskierung – fällt sich küssend „um den Hals“123 und amüsiert sich über die gegenseitige Verkleidung: „Tancredi küssete / unter der Gestalt eines Ritters die vortreffliche Syringe / welche sich wiederum an den umfangen ihres Tancredi, in einem groben Bauer=Habit / erlustigte.“124 Der Intrigant Conradi „muste vor ihren Augen sterben / und mit seinem Ende noch ihre höchste Vergnügung ansehen“.125 Den Leichnam schleppen die Protagonistin und ihr Liebhaber „hinter etliche Sträuche“; sie verweigern ihm ein christliches Begräbnis.126 Stattdessen verfasst Syringe einen Brief, den sie zur Mahnung und Rechtfertigung für Passanten bzw. die Leser auf dem toten Körper platziert. Die Tötung Conradis wird als größter Sieg der „beständig Liebenden“ gedeutet ‒ der Leichnam des Intriganten wird zur Metapher einer moralisierenden Deutung, die durch Fettdruck, d.h. mittels peritextueller Hervorhebung, betont wird: Geliebter Christ / wann dein erbarmen grösser ist / als die Falschheit und der Betrug dieses entfelten Cörpers gewesen / So sey ermahnet / Ob du gleich dadurch die Erde beleidigest / Weil sie dieses Scheusal nicht gerne beschliessen wird / Ihn mit einer Hand voll Erden zu bedecken. Sein Tod ist die Freude der Beständigen […]. Bekümmere dich nicht alzusehr über den Zufall seines Todes / Sondern sey vergnügt / wenn dir gesagt wird / Daß die Laster ihre Kinder letztens nicht anders zu belohnen pflegen [fett im Orig., Hervorh. K.B.].127

Hervorhebungen dieser Art ‒ Fettdruck und die Ansprache an die ‚Christen dieser Welt‘ ‒ sind im Text selten und verdienen daher besondere Beachtung. Die sekundäre Deutung des narrativen Handlungs- und Konfliktverlaufs vermittelt eine eindeutige metanarrative Botschaft: Die ‚wahre Liebe‘ erhebt sich über jedes Hindernis, und es kommen diejenigen zu Fall, die sich ihr in den Weg stellen. Subjekt und Agens dieser Inszenierung ist die weibliche Hauptfigur, die  –  nimmt man die Rolle der Protagonistin als Sprachrohr der Kritik wörtlich (Kapitel 3.4.2.2) – hier im wahrsten Sinne des Wortes ‚warnt‘. Syringe erklärt, „Rache“ an Conradi verübt zu haben und schreibt es der „Güte des Himmels“ zu, dabei erfolgreich gewesen zu sein.128 Der Wechsel der Protagonistin ins männliche Geschlecht wird Teil einer moralisierenden Deutung, deren Ambivalenz unübersehbar ist. Syringe erscheint als siegreich Tötende, deren Triumph über den früheren Peiniger der ‚Liebe‘ zum Sieg verhilft. Der 122 Erzähler:

„Riverdo, welcher weil er nun von dem Conradi erkand ward / auch vorietzo nun wieder Tancredi heissen mag“ (ebd., S. 217). 123 Ebd. 124 Ebd., S. 219. 125 Ebd. 126 Ebd., S. 220 [im Original S. 120, Druckfehler]. 127 Ebd., S. 221f. 128 Syringe: „Dieser Handel [das Duell] kame mir gleich zustatten / meine Rache an einem so grossen Feinde [Conradi] außzuüben […] [so dass ich durch die] Güte des Himmels ihm den Degen […] durch die falsche Brust stieß“ (ebd., S. 252f.).

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

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Sieg der Liebe ist zugleich ein (körperlicher) Sieg der Frau über den Mann. Mehr noch, als junge Frau des niederen Adels ist Syringe keine mythische Amazone; sie zählt nicht zu den exzeptionellen Frauenfiguren, die seit Antike und Früher Neuzeit in der Literatur kursieren und als mythische Fabelwesen oder heroische Ausnahmegestalt über die Lizenz zu Normverstößen verfügen (Gewalt, Kampf, amazonischer Widerstand). Der Roman verortet die Protagonistin stattdessen in der Weltlichkeit und Alltäglichkeit einer ‚heutigen‘ Gesellschaft um 1700. Syringe verkörpert gewissermaßen die Potentialität einer jeden Frau, die das ‚Männliche‘ in sich entdecken könnte, falls sie es wünschte. Was ist geschehen, das den weiblichen Figurencharakter so facettenreich macht? Im Gespräch mit Tancredi berichtet Syringe über ihr Leben als ‚Mann‘ und gibt retrospektiv Einblick in das Geschehen nach der Flucht aus dem Kloster. So besorgte sie sich zunächst bei jüdischen Händlern Männerkleider und ein Pferd und reist durch die Lande.129 Auf dem Schloss eines Grafen, bei dem sie einkehrt, trifft sie unverhofft auf Conradi, der bei der Tochter des Schlossherrn zu Gast ist.130 Syringe ist entsetzt und sich der Gefahr ihrer Entdeckung wohl bewusst: Ich kan wohl sagen / daß ich mich eines solchē[n] Schreckens wie dieser gewesen nicht zu entsinnen weiß / und war dieses eben am ärgsten / daß ich meine Verenderung / so sehr mir möglich / bergen muste / damit ich von ihm nicht erkand werden möchte [Hervorh. K.B.].131

Durch den Kontakt zu Figuren, die Syringe als Frau gekannt und begehrt haben, ist die Protagonistin gezwungen, die Rolle als Mann noch glaubhafter zu übernehmen. Dies gelingt. Conradi fürchtet im fremden Kavalier gar einen Nebenbuhler um die Gunst der Tochter. Syringe ist voller „Groll und Haß“.132 Um Conradi zu kompromittieren, sucht sie den Kontakt zur Grafentochter, ein „geistreiche[s], schöne[s] und kluge[s]“ Fräulein,133 von dem Syringe später Tancredi berichtet: „wenn ich so wohl ein Man[n]svolck als Frauen=zimmer gewesen wäre / hätte ich ihr damals mein gantzes Leben zu eigen gewidmet / wegen ihrer sonderbahren Vortrefflich-

129 Ebd.,

S. 244. S. 244‒253; Syringe: „Also ausmontiret / nahm ich gantz unerkandter weise meine[n] Weg nach de[m] Schlosse zu / wo ich als ein frembder und reisender Cavalier eurer […] erwarten wollte; Ich […] ward als ein Fremder von den Herrn selbigen Orts sehr wohl aufgenommen / man verwunderte sich insgesamt heimlich wer ich doch seyn müste / […] ich beredete den Herrn daselbst / wie ich eine reisende Person / […] [und] war so glücklich / daß auff meine gute Manier, mir alles geglaubet wurde“ (ebd., S. 244f.). 131 Ebd., S. 246f. 132 Ebd., S. 247. 133 Ebd., S. 246. Im Gespräch mit Tancredi berichtet die Protagonistin, wie sie die Gewogenheit der Tochter gewann: „ich [wandte] mich […] zu der Fräulein / und [erwiese] ihr alle Bedienung / so viel ich immer zuwege bringen konte / welche den[n] wiederum durch ihre Gefälligkeit so viel erwiese / daß sie keinen Müßfallen über meine Person hegte“ (ebd., S. 247). 130 Ebd.,

278

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

keit.“134 Es kommt zum Flirt: „Ich schertzte noch ein und das andere mit den Fräulein“,135 bei der Tafel „fielen seiten meiner und den Fräulein allerhand angenehme Blicke“, „und damit ich seinen [Conradis] Unwillen noch grösser machen möchte / trunck ich des Fräuleins Gesundheit / welches Er als ein eyfersüchtiger Liebhaber vor lauter Zeichen einer wahren Gunst heimlich auslegte.“136 In intimer Annäherung ziehen sich die Protagonistinnen in eine Fensternische zurück. Conradi will das Tête-à-tête stören und wird vom Fräulein des Hauses grob abgewiesen.137 Die maskierte Syringe scheint ein attraktiverer Verehrer zu sein als der ‚echte‘ Kavalier. Conradi ist außer sich vor Eifersucht; er fordert zum Duell und fällt unter dem Degen der Protagonistin. Die Ambivalenz, die sich mit der Polyperspektivität von Leser- und Figurensicht verbindet, wird an dieser Szene besonders deutlich: Handelt Syringe als weibliche Protagonistin oder in der Rolle als namenloser „Cavalier“? Ist sie als ‚Mann‘ oder als ‚Frau‘ zu lesen? Noch besser lässt sich diese Problematik anhand von Szenen aufgreifen, in denen Syringe und Tancredi als ‚Mann‘ auftreten und mit den Figuren der Romanwelt Kontakt aufnehmen. Nach dem unverhofften Wiederfinden beschließen Syringe und Tancredi, dass die Protagonistin die Rolle als Mann aufrechterhalten soll; Syringe kehrt nicht sofort in die Rolle als Frau zurück: Tancredi verkleidete sich in der Syringe Kleidung / und verschaffte ihr die herrlichste Kleidung so einen Cavalier nur zieren könne / denn sie wolten noch eine Zeit unbekannter weise leben / […] jederman glaubte daß sie zwey Cavalier von hoher Ankunfft seyn müsten [Hervorh. K.B.].138

Der Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch der Protagonistin prägt den weiteren Handlungsaufbau und beeinflusst auch die Paarbeziehung von Syringe und Tancredi. Im äußeren Verhalten und Auftreten gibt sich das Paar als reisende Männer aus; und wieder wird die Täuschung von den anderen Figuren der Romanwelt nicht durchschaut: „jederman glaubte“, sie müssten „zwey Cavalier[e]“ sein.139 Zur Tarnung wählt Syringe den Namen „Celadon, wie sie sich nanndte“,140 und auch der Erzähler spricht von der Protagonistin nur noch in maskuliner Personalform „er“

134 Ebd.,

S. 248. Der Passus „sowohl ein Manns=Volk als Frauen=Zimmer“ lässt sich erneut mehrdeutig lesen als „sowohl‒als auch“ oder „der Mann als Frau“. 135 Ebd., Hervorh. K.B. 136 Ebd., S. 249, Hervorheb. K.B. 137 Amüsiert erzählt Syringe ihrem Liebhaber Tancredi, das Fräulein „wieß ihm mit gantz lachenden Muht ab etwan auf solche Art / daß es ihr beliebte noch eine Zeit zuverziehen und könne sich Conradi indessen die Zeit bey ihren Herrn Vater mit fernern Gespräch vertreiben sie werde dergleichen mit mir thun“ (ebd., S. 248). 138 Ebd., S. 254. 139 Ebd. 140 Ebd., S. 259.

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

279

(anstatt sie), von „dem Celadon“.141 Grammatikalische Hinweise zum Ausgangsgeschlecht der Figur werden getilgt. Generell auf alle Figurenkonstellationen im Roman übertragbar, zeigt sich hier ein komplexes Verweissystem unterschiedlicher textinterner und extratextueller Referenzen, die ambigue Deutungsperspektiven provozieren. Es beruht auf der unterschiedlichen Verteilung von Autor-/Leser-, Erzähler- und Figurenwissen (in der Narratologie hat Gérard Genette den Begriff der Fokalisierung dafür geprägt). So ist vorauszusetzen, dass die Leser und Leserinnen wissen, bei welcher der Figuren es sich um Frau oder Mann handelt, denn der Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch wird explizit narrativiert (Riverdo/Tancredi besorgt Henrica/Syringe Männerkleider ‒ auch wenn erst retrospektiv klar wird, dass Henrica Syringe, Tacredi Riverdo ist; Conradi lüftet sterbend die falschen Identitäten der Figuren; der Erzähler erklärt, dass sich Syringe nun Celadon nennt usw.). Um jedoch den weiteren Handlungsverlauf in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, wird den Lesern und Leserinnen abverlangt, mindestens zwischen drei Ebenen oder Perspektiven zu unterscheiden, zwischen denen sie flexibel wechseln müssen. Insofern die Leser wissen, dass es sich in der genannten Szene bei Celadon um eine Frau handelt, die unter männlicher Maskerade mit einem Mann lebt, können sie die Figur entweder weiterhin als ‚weiblich‘ rezipieren, an diesem Wissen und der damit verbundenen Geschlechterordnung festhalten. Oder sie lassen sich auf die fiktive Täuschung ein, die innerhalb der erzählten Geschichte (romanintern bzw. intradiegetisch) ja eine geglückte (fingierte) Täuschung ist. Dies gilt allerdings nur aus der Perspektive der Nebenfiguren, denn aus Sicht des zentralen Hauptpaares ist klar, dass Syringe und Tancredi voneinander wissen, dass sie beiderseits die Umwelt absichtlich täuschen. Es ergeben sich somit drei Möglichkeiten, das Geschlecht der weiblichen Hauptfigur und des Liebhabers zu rezipieren, zwischen denen die Leserschaft flexibel ‚umschalten‘ muss: – Extratextuell: Frau(Mann)-Mann-Verhältnis ‒ Aus Sicht des Autors und der Leserschaft ist Syringe eine weibliche Figur, die die männliche Rolle als Celadon übernimmt, als vermeintlicher Mann mit einem Mann lebt und damit die Umwelt (Nebenfiguren) erfolgreich täuscht. – Romanintern/intradiegetisch: Frau/Mann-Mann-Verhältnis ‒ Aus Sicht der Hauptfigur und Tancredi ist Syringe eine Frau, die im Rahmen der Paarbeziehung Frau ist, aber in der Rolle als Mann die Umwelt (Nebenfiguren) erfolgreich täuscht. – Intradiegetisch: Mann-Mann-Verhältnis ‒ Aus Sicht der Nebenfiguren und deren Umwelt ist Syringe ein Mann, der mit dem Mann Tancredi lebt.

141 Ebd.,

S. 292.

280

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Auf der jeweiligen Ebene sind die Referenzen relativ eindeutig. Im Wechselspiel bzw. in der Kombination von extratextueller und romaninterner/intradiegetischer Perspektive ergeben sich jedoch ambigue und ambivalente Deutungsmöglichkeiten. Im Rahmen der erzählten Geschichte erlaubt es der geglückte Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch (mit erfolgreicher Täuschung der Nebenfiguren und der Umwelt), dass die Protagonistin die männliche Maskierung längerfristig aufrechterhalten und im Kontakt mit Tancredi ausbauen kann. Was bedeutet das für die weibliche Figurenkonzeption und das Verhältnis zum Liebhaber? Während die Relation zwischen Conradi und Syringe (hier: in der Rolle als unbenannter „Cavalier“) als Konkurrenzverhältnis zu beschreiben ist, geprägt durch Rache, Aggression und die beiderseitige Verteidigung persönlicher Interessen, scheint das Verhältnis von Tancredi und Celadon (Syringe) einen egalitären, gleichberechtigten und harmonischen Charakter zu tragen. Als Mann verkleidet lebt die Protagonistin mit dem Liebhaber in respektvoller Ebenbürtigkeit. Der Erzähler berichtet ausschließlich im Plural von beiden, gemeinsam beratschlagen die Figuren, „was weiter vorzunehmen wehre“.142 Bemerkenswerterweise führt dies dazu, dass sich das Paar erneut trennt. Nun jedoch bewusst, da Tancredi aufbricht, um von Syringes Mutter „Kundschafft […] einzuholen“,143 die Leser können ergänzen: vermutlich um eine etwaige Vermählung zu klären.144 Unterdessen vertreibt sich Syringe (weiterhin in der Maskierung als Celadon) die Zeit mit Reisen, gerät auf das Schloss eines Freiherrn, erlebt weitere Abenteuer, bis schließlich Tancredi im Schoss auftaucht, Syringe als Mann (Celadon) besucht und nach einiger Zeit die Maskerade gelüftet wird.145 Die Zusammenführung des Paares nach Klosterflucht und anschließender Irrfahrt bedeutet keineswegs eine unmittelbare Rückkehr in ein heteronormatives und lokal sesshaftes Beziehungsmodell, sondern führt zu weiteren Trennungen und Raumwechseln sowie zur Aufrechterhaltung der männlichen Maskerade. Die Zeitstrukturen im Roman lassen den Schluss zu, dass es sich dabei um eine ausgedehnte Zeitspanne handeln muss, in der die Protagonistin längere Zeit allein als Mann lebt und mehrfach in der Rolle als Mann auf ihren Liebhaber trifft.146 Im fiktiven Mann-Mann-Verhältnis des zentralen Paares bleiben Sexualität und körperliche Annäherungen narrativ weitgehend ausgespart. Allerdings erregt das Paar das Entsetzen der Schlossgesellschaft, als entdeckt wird, „daß Celadon mit

142 „Und

nun war von nöthen / daß sie weiter berathschlageten was vorzunehmen wehre“, „Sie beredeten sich hierauff “ (ebd., S. 254, 255). 143 Ebd., S. 255. 144 Hinweis auf „Vermählung“ (ebd., S. 257). 145 Ebd., S. 259‒298. 146 Entschluss der Figuren zur erneuten Trennung (ebd., S.  255) – prospektiver Hinweis des Erzählers: Ausdehnung der Trennung aufgrund von Komplikationen und weiteren Reisen Tancredis (ebd., S.  256‒259)  –  unterdessen: Celadon/Syringe auf dem Schloss des Freiherrn (ebd., S.  259‒298)  –  Besuch Tancredis auf dem Schloss: Das Paar gibt sich als Männer aus (ebd., S. 291‒298).

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

281

dem Tancredi auff dem Schosse saß / und sich mit unzehlichen Küssen vergnügten […]“.147 Obwohl sie gelegentlich auch als ‚Männer‘ einander „öffentlich um den Halß fielen“, bemühen sie sich stets, „ihre Vertraulichkeit nicht gegē[n] die andern allzusehr merckē[n]“ zu lassen (Dissimulation), so dass allseits angenommen wird, „dieser Cavalier [Syringe] müsse des Tancredi vertrauter Freund seyn“.148 Grundsätzlich begegnen sich die Liebenden in Loyalität und „keuscher Inbrunst“: Die gantze Zeit aber als sie miteinander in solcher Gestalt [als Männer] lebten / hätte Tancredi […] niemals das Fräulein / wenn sie auch gleich gantz alleine beysammen / mit der geringsten Mine welche ihr wehre zuwieder gewesen / belästiget / und Syringe beobachtete jederzeit ihre Tugend und Scham / daß also die keuschen Flammen gantz rein ohne Verletztung der Ehren unter ihnen auffs inbrünstigste erhalten wurden [Hervorh. K.B.].149

Die Intimität der Beziehung zeigt sich im Verhalten der Figuren, das der Erzähler mit den Worten zusammenfasst: „Alle und jede Sache nunmehro bestunden in dem[,] das Celadon fast mit niemandem mehr redete als mit denn Tancredi, und Tancredi ohne dem Celadon nicht seyn kunte.“150 Auf die sprachliche Markierung, dass Celadon eine Frau ist, wird verzichtet: Die Wortwahl suggeriert, es verkehrten hier tatsächlich zwei Männer in engster Vertraulichkeit. Der Text verzichtet auf eine ironische oder satirische Behandlung des fiktiven Mann-Mann-Verhältnisses und betont stattdessen ein keusches und freies Zusammensein, das nichtsdestotrotz von „inbrünstige[r]“ Zuneigung geprägt ist.151 Interpretatorische Rückschlüsse zu internen Interaktions- und Machtstrukturen zwischen dem Paar lassen sich jedoch nicht ziehen, weil sich die Darstellung primär auf der Handlungsebene bewegt. Informationen zu Innenperspektiven, Gefühlen, Gedanken usw. bleiben ausgespart, stattdessen stehen das äußere Geschehen und die äußerlich erzähl- bzw. beobachtbaren Interaktionen der Figuren im Zentrum. Erläuternde oder moralisierende Erzählerkommentare fehlen.152 Der Erzähler gibt lediglich das Handeln der Figuren wieder, spart aber weiterführende Informationen aus. Gérard Ge147 Ebd.,

S. 293‒295, hier S. 294. S. 291f., Hervorh. K.B. 149 Ebd., S. 254f. 150 Ebd., S. 292. 151 Ebd., S. 255. 152 Der (moralisierende) Erzählerkommentar ist nicht gleichzusetzen mit der Handlungsvermittlung des auktorialen Erzählers. Gelzer bemerkt zutreffend, dass im galanten Roman ein „zum Teil deutliches Hervortreten des Erzählers“ bemerkbar wird, Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 113, doch führt der Erzähler in der Regel nur berichtend durch das Romangeschehen, er gibt die Geschehnisse lediglich extern fokalisiert wieder. Erst in späteren Romanen, z.B. Rosts/Meletaons Helden= und Liebes=Geschichte dieser Zeiten (1715), wird intensiver nach expliziten Formen der wertenden Leserlenkung gesucht, obwohl dies zunächst durchaus im Rahmen eines spielerischen Umgangs erfolgt, hierzu Florack: Antifranzösische Polemik im galanten Roman. Meletaons ‚Helden- und Liebes-Geschichte dieser Zeiten‘ 1715, S. 13‒32; Dies.: Galante Kommunikation zwischen Lehre und Unterhaltung, S. 209–214, bes. S. 211; Dies.: Transfer und Transformation. ‚Galante Prosa‘ zwischen Frankreich und Deutschland. In: Um 1700 – Die 148 Ebd.,

282

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

nette hat für diese Erzählweise den Begriff der „externen Fokalisierung“ geprägt: der Erzähler scheint weniger zu wissen als die Figuren oder er verschweigt diese Informationen.153 Diese Darstellungsform ist im weiblichkeitszentrierten Roman vor 1700 generell typisch (ergänzend Kapitel 4.1.4). Festzuhalten bleibt, dass das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs im galanten Roman zu einer Multiplikation von Figuren und Figurenrollen  –  auch in geschlechterspezifischer Perspektive ‒ führt (partage). Da das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs auch in der Interaktion zwischen weiblichen Figuren zum Einsatz kommt, sollen abschließend fiktive Frau-Frau-Beziehungen im galanten Roman Beachtung finden. Für die Interpretation gilt auch hier, was in diesem Kapitel zum multiperspektivischen Verweis- und Referenzsystem geschlechternormierter Markierungen im Text und zur Spannung von Leser- und Figurenwissen gesagt wurde. 4.1.3.3 „Die allerzarteste Gemüthsneigung“: Fiktives Frau-Frau-Verhältnis Weiblichkeitszentrierte galante Romane vergnügen und provozieren die Leserschaft auch mit Figuren- und Konfliktkonstellationen, die eine Liebe zwischen Frauen suggerieren. Sowohl in der Versteckten Liebe im Kloster als auch im Entlarfften Ritter im Nonnen=Kloster werden Konflikte gestaltet, in denen als Männer verkleidete Frauen auf weibliche Figuren treffen, die sich in den ‚falschen‘ Mann verlieben und auf ein erotisches oder emotives (Liebes-)Verhältnis drängen. Galante Protagonistinnen lassen die Beziehung zum eigenen Geschlecht grundsätzlich zu, indem sie die Verehrerin zunächst über ihr ‚wahres‘ Geschlecht täuschen, die Liebeswerbung der Frau annehmen, erwidern und derart die Fortsetzung des Kontakts provozieren. Auch hier durchschaut das sonstige Figurenpersonal die Täuschung nicht.154 Erst wenn die Verehrerin tatsächlich auf ein intimes (erotisches) Verhältnis besteht, wird die Geschlechtszugehörigkeit der Protagonistin entdeckt und die Frau-Frau-Beziehung verhindert.155

Formierung der europäischen Aufklärung. Zwischen Öffnung und neuerlicher Schließung. Hg. v. Daniel Fulda u. Jörn Steigerwald. Berlin/Boston (im Druck); Kap. 4.2.4.2 Gefahren der Reise. 153 Genette: Die Erzählung, S.  135f.; Martinez u. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 64‒67; vgl. Anm. 58 in Kap. 2.1.2 Arbeitsdefinition Galanter Roman. 154 Theoretische Einordnung in Kap. 4.1.3.2 Fiktives Mann-Mann-Verhältnis. 155 Der Beständige T.: Versteckte Liebe im Kloster, S. 255‒298: Celadon (Syringe) im Verhältnis zu zwei jungen Töchtern des in Kap. 4.1.3.2 erwähnten Freiherrn im Schloss (ebd., S. 260‒298). Ohne die Szene im Einzelnen zu besprechen, ist interessant, dass sie für die Kuss-Szene Celadon-Tancredi (ebd., S. 294f.) eine Art intra- bzw. binnendiegetische Rahmenhandlung darstellt, d.h. beide Szenen sind aufeinander bezogen und miteinander verquickt. Die Protagonistin in der Rolle als Mann wird nicht nur in intimen erotischen Situationen mit ihrem Liebhaber inszeniert, sondern wie schon in der Szene mit der Grafentochter und Conradi (ebd., S. 246‒249) nun erneut mit den Töchtern des Freiherrn, deren erotisches Interesse sich auf Celadon (Syringe) richtet und vom Vater unterstützt wird (ebd., S. 259‒298). Erotische Täuschungsszenen werden demnach sowohl mit dem weiblichen als auch männlichen Figurenpersonal variiert. Interessant ist, dass – ganz im Sinne einer Poesie zwischen Scherz und Ernst – die erotischen Avancen als

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

283

Explizit lässt sich dies an Placidie im Entlarfften Ritter im Nonnen=Kloster beobachten. Wie im eben besprochenen Text ist die Liebe zwischen Frauen auch hier an den Wechsel der Protagonistin ins männliche Geschlecht geknüpft, wobei die Transformation der Frau zum Mann im späteren Roman umfassender konzipiert scheint, da die Hauptfigur Placidie mit der Geliebten Scholastique sogar kirchlich getraut wird, ohne dass die Täuschung platzt. Anders als Syringe, die deswegen als Mann auftritt, weil sie vor erotischen Nachstellungen flüchtet, einen verlorenen Liebhaber sucht und mit ihm ungestört leben will, spielen diese Motive für Placidie keine Rolle, denn der Liebhaber stirbt direkt am Beginn der Erzählung.156 Auch der Schutz der personalen Identität scheint eher unwichtig zu sein. Vielmehr bricht die Protagonistin mutwillig mit ihrem früheren Leben: „Keck“ ergibt sie sich „dem blinden Glück / [und] ermunterte sich hertzhafft wider dessen Wittertobendes Veranlassen“.157 Die Erfahrung, aufgrund der Willkür der Mutter die Freiheit beinah im Kloster verloren zu haben, scheint für Placidie so prägend zu sein, dass sie nicht gewillt ist, sich zukünftig den geringsten Fesseln zu beugen. An die Äbtissin des Klosters schreibt sie einen kraftvollen Abschiedsbrief, einige „nachdrückliche Vorstoß=Zeilen“,158 die ihre Gesinnung entschieden verbalisieren: „Madame! […] Ihr sollet nicht die Hand angelegt haben / mich […] in die Fessel zu schlagen. Ich zertrümmere diese Bande / und sollen sie euch in denen Ohren praßlen.“159 Der Brief ist deutlich: Die Protagonistin ist entschlossen, sich „dem Schicksaal […] mit Gewalt zu entreissen“.160 Die

‚Beweis‘ gelten, die Rolle der Frauenfigur ‚als Mann‘ umso glaubhafter zu gestalten. Der erotische Kontakt zu den weiblichen Figuren wird geradezu gesucht, weil er die Glaubwürdigkeit der vorgetäuschten männliche Rolle stärke: „am meisten aber bediente Er [Celadon/Syringe] die Fräulein auffs möglichste / damit um desto weniger der Argwohn eines Frauen=Zimers von ihm geschöpfet wurde“ (ebd., S. 263). Die vom Vater offen angetragene Option einer Heirat wird als Scherz abgewiegelt: „Celadon […] that als hätte Er [sie] den Vorschlag nicht verstanden / und bedanckte sich der sonderbahren Güte wegen / Er wolle es als einen höfflichen Schertz angenommen haben“ (ebd., S. 271f.). Briefe von Tancredi mahnen zur Vorsicht und ermuntern zugleich, Syringe solle ihre „Person ferner also zu spielen wissen / daß euch keine Gefahr auß eurer Verstellung erwachse“ (ebd., S. 277). Zur Auflösung des Konflikts: Die enttarnte Maskerade erregt die Bewunderung des Freiherrn und der Töchter: „am meisten ward er durch die Treue so auß den gantzen Verlauff der Sache blicken sahe so sehr eingenommen“, dass er anbietet, die Hochzeitsfeier auszustatten (ebd. S. 297). Die positive Wertung ist eindeutig. 156 [anonym]: Entlarffte Ritter im Nonnen=Kloster, S. 73–84: Placidie hofft, nach der Flucht aus dem Kloster mit einem früheren Liebhaber zusammen zu treffen, doch dieser stirbt. Die Heldin ist verzweifelt, will ins Kloster zurückkehren, entschließt sich dann aber für ein Leben in Freiheit: „Hunderterley Einfälle überzogen auf einmahl das Gemüth Placidie. Sie wolte schier wieder in das Kloster zurück […]. Gleich darauf änderte sie solches Vorhaben […] ergabe sich dem blinden Glück / ermunterte sich hertzhafft wieder dessen Wittertobendes Veranlassen / begabe sich keck wieder in die Capell / allda muste der Knecht / auf dero Befehl / seines Herrns Kleider=Säcke auslähren“ und die männlichen Kleider hergeben (ebd., S. 84). 157 Ebd. 158 Ebd., S. 85. 159 Ebd. 160 Ebd., S. 88.

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Maskierung als Mann, die sich durch die Flucht aus dem Kloster aus pragmatischen Gründen ergibt, behält Placidie sorglos bei.161 Als Mann verkleidet reist sie durch die Lande, wobei sie einen mondänen Lebenswandel pflegt. Zunächst nennt sie sich „Graf von der Marck“, unter dessen Maskierung „die verkleidete Kloster=Ritterin alle Abend bey der Comoedie ihren Lust=Wandel suchte“ und als „wohlgestattete[r] junge[r] Cavalier […] vornehmen Geschlechts“ aufgenommen wird.162 Später wird sie „Officier“ am Savoyischen Hof und erhält von der Königin (bei der sie als „junger Graf“ in Ansehen steht) die Aufsicht über ein „Regiment“, mit dem sie ein viertel Jahr im Feld verbringt.163 In dieser Zeit erwirbt die Protagonistin Kenntnisse im Reiten, Fechten und „andern Ritterlichen Wissenschafften“, durch die sie sich bildet.164 Nach einer Liebesaffäre mit der Gräfin Berenice – eine Konfliktgestaltung, die im Wesentlichen den Geschehnissen um Syringe, dem Fräulein und Conradi in der Versteckten Liebe im Kloster ähnelt (Kapitel 4.1.3.2) und im Duell zwischen Placidie und einem Nebenbuhler ihr Ende findet –, muss die Protagonistin den königlichen Hof verlassen. Als „Ritter von Saleuze“165 kommt sie nach Genua und mietet sich bei einem „Ehrenwerte[n] Greiß“ ein, der beschließt, sie mit seiner Tochter „Mademoiselle Scholastique“ zu verkuppeln.166 Im Entlarfften Ritter wird das Motiv der Liebe zwischen Frauen recht explizit aufgegriffen, aber auch satirisch überformt. Der Roman lässt die Hauptfigur Placidie und ihre Geliebte Scholastique bis vor den Traualtar schreiten; das Paar erhält die eheliche Weihe und die Protagonistin verlässt erst kurz vor der Hochzeitsnacht [!] die Feierlichkeiten.167 Gleichzeitig ist das fiktive Frau-Frau-Verhältnis stärker als in der Versteckten Liebe im Rahmen der Satire verortet. Dies betrifft weniger die Hauptfigur als die Figurenkonstellation zur Liebhaberin, wirkt aber vice versa auf die Konzeption Placidies zurück. Der satirische Unterton zeigt sich bereits in der Diskrepanz der Namensgebung („Mademoiselle Scholastique“) und der einfältigen Figurencharakterisierung der Geliebten. Die Anspielung auf die ‚Scholastik‘ referiert auf das pejorative Stereotyp des ‚gelehrten Pedanten‘, das von jungen Galanten, zumindest partiell, kritisch beäugt und bespottet wird (Kapitel 3.4.1.4). Über die

161 Ebd.,

S. 84. nun diese verkleidete Kloster=Ritterin alle Abend bey der Comoedie ihren Lust=Wandel suchte / so […] [muste] man ihre Person vor was sonderbares ansehen / alle Welt betrachtete einen so wohlgestalteten jungen Cavalier, und hielte ihn vornehmen Geschlechts zu seyn. Die Eigenschafft eines Ritters / unter dem Nahmen des Grafens von der Marck / vor welchen sie sich ausgabe / bekräfftigte bey allen die gut gefaßte Meynung […]. Placidie (die wir fürohin als Ritter / den Grafen von der Marck / oder allein den jungen Grafen nennen wollen/)“ (ebd., S. 86f.). 163 Ebd., S. 88f. 164 Ebd., S. 90. 165 Ebd., S. 116, auch im Folgenden. 166 Ebd., S. 118. 167 Ebd., S. 125–129. 162 „Weil

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

285

Namensgebung wird Scholastique mit diesem (pejorativen) Stereotyp einer traditionellen Gelehrsamkeit in Verbindung gebracht. Der Text offenbart dann die Einfältigkeit der Geliebten, die zwar als „auffrichtig“ gilt,168 aber eine gewisse Tendenz zur „Blödigkeit“ erkennen lasse.169 Placidie wiederum, zu deren besonderen Kompetenzen eine vorbildhafte „Beredsamkeit“, ihr „kluger Geist“ und „reiffer Verstand“ zählen,170 ist der Frau von „einfältige[m] Gemüth“ weit überlegen.171 Scholastique mag keine positive Figur sein, insofern sie wie in frühneuzeitlichen Spott- und Satireschriften das Negativstereotyp der ‚einfältigen Frau‘ verkörpert. Auch die Beziehung von Placidie und Scholastique ist wohl eher als satirisches Zerrbild, denn als vorbildliches oder nachahmenswertes Ideal zu verstehen. Vorstellbar ist allerdings auch, dass die Figurenkonstellation heteronormative Geschlechterstereotype aufs Korn nimmt, indem der Text das Klischee der (intellektuellen) Überlegenheit des ‚starken‘ Geschlechts (respektive des Mannes) und die Unterlegenheit des ‚schwachen‘ Geschlechts (respektive der Frau) aufnimmt, parodiert und ins Leere laufen lässt. Die Textgestaltung changiert beständig zwischen Scherz und Ernst. Der auktoriale Erzähler hält sich mit klärenden Einordnungen, eindeutigen Kommentaren, moralischen Deutungen vollständig zurück; erzählt werden ausschließlich die faktischen Ereignisse auf der Handlungsebene. Zum Teil liefern Erzählerkommentar, Figurenrede und Figureninteraktion widersprüchliche Informationen, die nicht geklärt werden und dadurch unterschiedliche Deutungsperspektiven offenhalten. So nennt der Erzähler Placidie zunächst „die verkleidete Kloster=Ritterin“,172 geht dann aber dazu über, sie kommentarlos als „der Nonnen-Ritter“ zu bezeichnen und spricht nur noch in der maskulinen Personalform von der Protagonistin („er“ anstatt „sie“); auch der Titel lautet „Der […] Ritter“. Sprachlich-grammatikalisch suggeriert der Roman: Hier ist eine Frau vorgestellt, die mehr und mehr Mann wird, letztlich Mann sei. Dies entschärft zwar gewissermaßen die homoerotische Figurensuggestion, da es sich bei der Protagonistin wohl ‚doch‘ um einen Mann handelt, die Ambivalenz der Textgestaltung mindert dies indes nicht. Zudem suggeriert die auktoriale Erzählerrede eine aufrichtige Zuneigung zwischen den Figuren, trotz der Einfältigkeit Scholastiques. Nach einem „vierhel Jahr […] / daß unser Ritter mit Scholastique […] in aufrichtig=verträulicher Gesellschafft zubrachte“, so der Erzähler, sinnt der Vater auf eine Vermählung.173 Placidie ist diesem Vorschlag gegen­über prinzipiell nicht abgeneigt, der Erzähler vermutet: „Unser Adelich=verkleidete Nonnen=Rit-

168 [anonym]:

Entlarffter Ritter im Nonnen=Kloster, S. 119. S. 121. 170 Ebd., S. 116, 91, 95, 96; ferner S. 3. 171 Ebd., S. 120. 172 Ebd., S. 86. 173 Ebd., S. 121, Hervorh. K.B. 169 Ebd.,

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

ter/174 wünschte wol / daß er [sie] einer so liebreichen Vereinbahrung könte fähig seyn“.175 Wieder bezieht der Erzähler keine Stellung, er gibt keine Information, wie das Verhältnis von Placidie und Scholastique beschaffen oder zu deuten sei. Stattdessen erzählt er, was weiter geschah. Nämlich dass Placidie auf Nachfragen des Vaters ihre Liebe zur Tochter gesteht: Unser Adelich=verkleidete[r] Nonnen=Ritter [Placidie] / wünschte wol / daß er [sie] einer so liebreichen Vereinbahrung könte fähig seyn; betheurete gantz sittsam gegen seinen verhofften Braut Vattern / er fühlte gegen seine so Liebens=würdige Tochter / die allerzarteste Gemüths=Neigung / erkennte auch nur gar zu sehr / daß alles zu wenig / was man / um ihre [Scholastiques] Gegen=Liebe zu erlangen / sich jemals unterwinden könnte [Hervorh. K.B.].176

Erst nach dem Liebesgeständnis, das zugleich die Einwilligung zur Hochzeit ist, regt der Erzähler – allerdings recht versteckt – Zweifel an: War vielleicht nicht doch alles nur ein Spiel? Knapp zieht der Erzähler in Erwägung, dass sich Placidie nicht wegen der Reize Scholastiques, sondern „wegen der Verpflichtung der Haus=Gerechtigkeit / als ein Gast“ zum Liebesgeständnis hinreißen ließ; also um die Gastfreundschaft des Alten nicht zu verletzen. Rhetorisch wird diese Information aber so uneindeutig formuliert und ist vor allem so marginal im Text untergebracht, dass ein unaufmerksamer Leser sie schnell überliest.177 Ein eindeutiges Signal der (moralisierenden) Leserlenkung ist damit nicht gesetzt. Das Figurenverhalten widerlegt zudem die Aussage des Erzählers. In Wort und Tat vertritt die Protagonistin ihre Liebe zu Scholastique. Als der Vater sie auffordert, sie dürfe ihre Gefühle „keck bekennen“,178 zeigt sich Placidie „ganz verliebt“ und wirbt um die Frau: Über solches Anbringen [das Entgegenkommen des Vaters] hatte unser Ritter [Placidie] solches Wohlgefallen / welches mehr zu gedencken / als zu beschreiben / die Sach machte / daß er / von solcher Zeit an / sich gantz verliebt zeigte / auch bey Mademoiselle Scholastique was nur anständige Pflicht mit sich bringen kunte / damit aufzuwarten / nicht ermangelte.179

Scholastique wiederum ist über die Entwicklung der Dinge „sehr vergnügt […] / umarmete selbst liebreich den Ritter [Placidie] / welcher ihr ewige Treu schwu-

174 Die

grammatikalisch korrekte Form müsste lauten „unser adlig-verkleideter Ritter“. Wenn es sich nicht um einen Druckfehler oder um eine mundartliche Schreibweise handelt, reicht die geschlechtertranszendierende Dimension der Figurengestaltung bis in die grammatikalische Struktur des Textes, indem die feminine Flexion des Adjektivs und die maskuline Deklination des Substantivs kombiniert werden. 175 [anonym]: Entlarffter Ritter im Nonnen=Kloster, S. 122. 176 Ebd. 177 Erzähler: „wann er [Placidie] / in selbe [Scholastique] verliebt zu seyn / sich vermercken lassen / wäre es nicht derentwegen beschehen / daß dero anreitzende Naturs=Gaben sein Hertz in Ruhe versitzen machten; sondern aus Ursach einer allzubekannten Verpflichtung der Haus=Gerechtigkeit / als ein Gast / unverbrochene Treue zu bezeigen [Hervorh. K.B.]“ (ebd., S. 122). 178 Ebd., S. 123. 179 Ebd.

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

287

re.“180 Während in der Versteckten Liebe eine mögliche Ehe Syringes mit weiblichen Figuren explizit ausgeschlossen wird ‒ Syringe kommt in ähnliche Situationen, aber ihr sei „das Heyrathen auff solche Art [mit einer Frau] gantz entfernet“ ‒,181 werden ähnliche Mittel der Leserlenkung an dieser Stelle nicht bemüht. Explizite Erzählerkommentare fehlen, so dass es der Leserschaft überlassen bleibt, wie die Szene aufzufassen und zu bewerten sei. Erst als die Hochzeitsvorbereitungen in vollem Gange sind, bekommt die Protagonistin Skrupel. Nun endlich gibt der Erzähler Auskunft über Placidies ‚wahre‘ Gefühle: Er [Placidie] wünschte aus Grund seines Hertzens / dieses Ehren=Fest entübriget zu werden. […] Allein alles / ware vergebens / dann die ihme nie von der Seiten abweichende Vergesellschafftungen verhinderten alle sein[e] Anschläge / dergestalten / daß es nun zur Trauung kame [Hervorh. K.B.].182

Die Protagonistin hat sich so weit in das illegitime Verhältnis verstrickt, dass ihr nun nichts anderes mehr übrig bleibt, als der Hochzeit mit Humor zu begegnen: „Sein [Placidies] Rittermässig guter Humor muste anietzo das beste thun / wie er sich dann wol darein zu finden wuste.“ Die Heldin stürzt sich in die Feierlichkeiten, genießt „Spiele und Lustwandlen“ am Nachmittag, ein „Nachtmahl“ zum Abend und den „Tantz“ in der Nacht, bis ihr „klar vor Augen ware […] / es seye nun hohe Zeit die Flucht zu nehmen“.183 Unbemerkt verlässt sie die Hochzeitsgesellschaft, die zwar aufgeregt nach dem ‚Bräutigam‘ sucht, aber schließlich annehmen muss, er habe sich „eines / oder des andern / zu viel gethan / und […] benöthiget der Gesundheit zu pflegen.“184 Im letzten Drittel des Entlarfften Ritters fährt der anonyme Autor noch einmal mit einer rechten Odyssee und regelrechten Mixtur von Rollen- und Geschlechterstereotypen auf: „alles dem Glück=Geschick überlassend“ schlüpft Placidie in eine Vielzahl neuer männlicher Rollen.185 So reist sie als „Monsieur de la Motte“ durch die Lande,186 wird als Geistlicher tätig, denn man hat ihr eine „Dom=Herren=Stelle“ angetragen.187 Zur selben Zeit reist ihr der Vater Scholastique hinterher,188 der sie gerichtlich belangen lässt, zu Scholastique zurückzukehren [!].189 Placidie brennt

180 Ebd.,

S. 126. Beständige T.: Versteckte Liebe im Kloster, S. 171f. 182 [anonym]: Entlarffter Ritter im Nonnen=Kloster, S. 127. 183 Ebd., S. 128f. 184 Ebd., S. 130. 185 Ebd., S. 132. 186 Ebd., S. 131; Anspielung auf den französischen Dichter und Komödienautor Antoine Houdar de la Motte (1672–1731). 187 Ebd., S. 132. 188 Ebd., S. 133–139. 189 Ebd., S. 140. 181 Der

288

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

nach Portugal durch, ändert zum wiederholten Male die (männliche) Identität – wobei der Text explizit betont, dass es sich nicht nur um einen Namenstausch, sondern auch um einen Wechsel vorheriger „Eigenschafft[en]“ handle ‒,190 doch scheinbar hat sich der Erzähler getäuscht, denn die verkleidete Protagonistin erregt erneut die Liebe einer Dame,191 setzt sich nach Marseille und Turin ab,192 bis sie schließlich „bey sich selbst ab den Welt Händeln Uberdruß befande / und so vielerley Personen zu spielen ermüdet“ war.193 Die Protagonistin entscheidet sich für ein Leben in Gottesehrfurcht, kehrt ins Kloster zurück und trifft dort ‒ auf Scholastique. „[M]it so überschwänglich grossen Freuden [umarmen sich] diese beede Verliebte[n]“ und sind „von Stund an biß heut zu Tag eine der andern […] Nachfolgerin bey fortführenden Wachsthum ihrer Tugenden“, so der Erzähler.194 Nachträglich wird mit der Schlussgestaltung eine moralisierende Botschaft vermittelt: Der Gesinnungswandel der weiblichen Figur wird als die „Bekehrung eines Sünders“ gedeutet (man beachte die grammatikalische Form).195 Die Bereitschaft zu Reue und Umkehr und der erneute Eintritt ins Kloster erlauben es zumindest formal, die Protagonistin moralisch zu rehabilitieren. Placidie offenbart ihren „gantzen Lebens=Lauff und Persohn“ der Königin, die sie am Beginn der Erzählung, in ihren Savoyer Tagen, mit einem Regiment beehrt hatte,196 und erhält von höchster weltlich-weiblicher Stelle die Absolution, nämlich das „Königliche Mitleiden“ (ähnlich die Schlussgestaltung in Rosts Atalanta, Kapitel 4.2.4.3).197 Die Ambivalenz der vorangegangenen Konfliktsituationen wird nachträglich deeskaliert. Hier zeigt sich ein typisches Darstellungsprinzip, das am Ende der Textanalysen als Eskalation –  Deeskalation zusammenfassend reflektiert wird (Kapitel 4.3.4). Trotz der nachträglichen Deeskalation bleibt die Schlussgestaltung provokant. Scholastique und Placidie verbringen ihren Lebensabend gemeinsam im Kloster, das weibliche Paar wird – wenn auch unter frommen Vorzeichen – wieder zusammengeführt. Placidie scheint ihr Leben zudem nicht geändert zu haben, weil sie religiöse oder moralische Skrupel bekommt, sondern weil sie es schlicht „müde“ ist, „so vielerlei Personen zu spielen“.198 Das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs impliziert auch eine Kritik der ‚multiplen Persönlichkeit‘. Der

190 „Er

[Placidie] hatte Rom verlassen / und mit dem Namen / Herr de la Motte, auch diesen / samt der Eigenschafft verwechselt um wieder den vor offt erwähnten Ritter zu spielen“ (ebd., S. 142– 145, hier S. 144). 191 Ebd., S. 146–152. 192 Ebd., S. 154. 193 Ebd. 194 Ebd., S. 159. 195 Ebd., S. 155. 196 Ebd., S. 88f. 197 Ebd., S. 155. 198 [anonym]: Entlarffter Ritter im Nonnen=Kloster, S. 154.

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

289

Wechsel in heterogene (sozial- wie geschlechterspezifisch variable) Rollen erfordert eine Anstrengung, die auf Dauer „ermüden“ kann. Der Roman, der fortwährend Genderrollen und Geschlechterordnungen variiert und kombiniert, kehrt in der Schlussgestaltung zu einer eindeutigen Geschlechterzuordnung zurück. Placidie ist ‚Frau‘, allerdings eine Frau eigener Art. Stabilisiert wird am Ende des Romans eine heteronormative Geschlechterstruktur (Mann oder Frau); offen bleibt indes, wie das Verhältnis von Mann und Frau beschaffen sei. Die Schlussgestaltung des ersten Romans, Die Versteckte Liebe im Kloster, liefert hierzu einen Hinweis, der abschließend vorgestellt wird. 4.1.4 Modifikation preziöser Liebes- und Geschlechtermodelle im galanten Roman (I) Am Ende der Versteckten Liebe im Kloster bringt der Beständige T. die scherzhaftprovokante Romanhandlung mit einer ganz anderen Tradition des Erzählens in Verbindung, nämlich mit dem preziösen Roman und dessen Liebes- und Geschlechtermodell. Dass der preziöse Roman französischer Autorinnen, insbesondere Scudérys, zum Vorbild und Impuls für die Galanteriebewegung in Deutschland um 1700 wird, ist in der Forschung unumstritten.199 Umso interessanter ist die Beobachtung, dass die Schlussgestaltung der Versteckten Liebe inhaltliche und formale Ähnlichkeiten zur preziöse Conversation à la française aufweist, obwohl der Roman insgesamt kaum eine Nähe zur preziösen Tradition vermuten lässt. Die Schlussgestaltung der Versteckten Liebe im Kloster entfaltet eine zusammenfassende Perspektive auf das gesamte Romangeschehen, so dass nachträglich auch die Andeutung der Vorrede verständlicher wird, die Leser sollten sich in „Gedult und Ubersehung begangener Fehler und Irrthümer“ üben, da am Ende des Romans die hehre Absicht des Autors erkennbar würde.200 Der Roman deeskaliert alle intradiegetischen Konfliktstrukturen, insofern die Erzählung in der Eheschließung von Syringe und Tancredi mündet, die als Sieg der „beständige[n] Liebe“ gefeiert wird.201 Der Text indes endet nicht mit der Hochzeit, sondern im geselligen Beisammensein des Paares unter Freunden.202 Die letzten Seiten des Romans widmen sich einer Art Dialog-Liebes-Spiel, zu dem sich das Paar mit einer Gruppe befreundeter Männer

199 Kap.

2.3 Mehrdimensionales Gattungskonzept und Kap. 3.4.2.2 Die Protagonistin als Medium der Sitten- und Gesellschaftskritik. 200 Der Beständige T.: Versteckte Liebe im Kloster, Vorrede, unpag. [A 8b]: „Wird also erwehnte Liebes=Handlung den Effect erreichen / daß es mit Gedult und Ubersehung begangener Fehler und Irrthümer von dem geneigten Leser durchsehen wird / so wird es mich auch eines geneigten Auffnehmens versichern.“ 201 Ebd., S. 302. 202 Während das „Beylager“ nur knapp konstatiert wird (ebd.), ohne dass Trauung, Hochzeitsfeierlichkeiten usw. narrativ ausgestaltet werden, widmet sich die Schlussgestaltung ausführlich der Inszenierung eines Liebes-Spiels (ebd., S. 320‒380).

290

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

und Frauen in einen Garten zurückzieht.203 In geselliger Runde fordert Syringe die Gäste auf, Zettel mit verschiedenen Fragen zu beantworten, die als nachträglicher metadiegetischer Kommentar gedeutet werden können, da sich das Figurenpersonal nun verallgemeinernd über die Liebe, das Verhältnis der Geschlechter und die Beurteilung bestimmter Verhaltensweisen austauscht.204 Über diese Dialogstrukturen, die exakt die Form der Conversation à la française imitieren, lässt sich das galante Liebes- und Geschlechtermodell nun auch mit Blick auf die interne Struktur des Mann-Frau-Verhältnisses genauer konturieren. Die Conversation à la française wird Mitte des 17. Jahrhunderts in Europa bekannt und ist nicht nur stilprägend im preziösen Roman, der solche Dialoge fiktional gestaltet, sondern sie wird auch in der Salonkultur der Preziösen praktiziert.205 Es handelt sich um eine Form der Konversation bzw. der Geselligkeitskultur, bei der sich unter der Leitung einer zentralen Dame Personen beiderlei Geschlechts in informeller, gleichwohl exklusiver Atmosphäre versammeln, um sich an der Konversation zu divertieren. Im Rahmen einer ritualisierten Geselligkeit stellt sich diese Form der Konversation ‒ im Vergleich zur noch strenger ritualisierten Hofkommunikation oder der gelehrten Rhetorik ‒ als relativ ‚freie‘ Form des Gesprächs dar, denn sie erlaubt es, vergleichsweise spontan und assoziativ über unterschiedliche Themen zu debattieren (z.B. das Verhältnis von Anmut und Schönheit, Wesen der Treue, Fragen der Lebensführung, Ehre der Frauen usw.).206 Ritualisiert ist diese Gesprächskultur dennoch, denn sie gruppiert sich um die zentrale Dame, die als Gastgeberin den Gesprächsablauf, die Themen, die Reihenfolge der Sprecher usw. leitet und dirigiert. Im preziösen Roman wird diese Form der Konversation häufig in das Setting einer Gartenszene oder eines sonstig idyllisch-raumzeitlich enthobenen Ortes integriert (mediterrane Villa, Salon, nicht näher bestimmte Hofumgebung). Der raumzeitlich enthobene Ort kann als preziöse Auslegung des locus amoenus gelten, ein Topos, der in der antiken Tradition oder in der Schäferdichtung des Barock eine arkadisch-paradiesische Sphäre bezeichnet.207 Preziöse Autorinnen transformieren diesen Topos zur ideellen Rahmung einer Vergesellschaftungsform, die durch Frauen geprägt ist und das weibliche Geschlecht ins Zentrum von Kommunikation und

203 Ebd.,

S. 324f.

204 Aufforderung

auf den Zetteln z.B.: „Die Person soll sagen was Verliebten die gröste Vergnügung geben kan“ oder „wormit man das Frauen=Zim[m]er am ärgsten beleidige“ (ebd., S. 327, 328). 205 Stephanie Bung: Spiele und Ziele. Französische Salonkulturen des 17. Jahrhunderts zwischen Elitendistinktion und belles lettres. Tübingen 2013; Alain Niderst u.a. (Hg.): Chroniques du Samedi. Suivies de pièces diverses (1653‒1654). Madeleine de Scudéry, Paul Pellisson et leurs amis. Paris 2002; Stauffer: Scudéry-Rezeption im Pegnesischen Blumenorden, S. 254‒257; Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 34‒51. 206 Ebd., S. 36f. 207 Gelzer: Konversation und Geselligkeit, S. 475f.; Stauffer: Scudéry-Rezeption im Pegnesischen Blumenorden, S. 255.

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

291

Interaktion rückt.208 Die Conversation à la française impliziert spezifische Gender- und Dominanzstrukturen, die sich in Roman oder Text, Konversationsritual und anderen Formen oder Medien der preziösen Kultur fortsetzen und einer preziösen Affektenlehre Ausdruck verleihen. Ich möchte diese Strukturen als das ‚preziöse Modell‘ beschreiben, wobei ich mich im Folgenden auf Scudéry beschränke. Idealtypisch sollen Grundstrukturen eines preziösen Liebes- und Geschlechtermodells erfasst werden, ohne Detailfragen zu diskutieren.209 Das preziöse Modell dient als Vergleichsfolie, vor dessen Hintergrund sich gegenderte Dominanzstrukturen der deutschen Galanterie bzw. deren Repräsentation im Roman rekonstruieren lassen. Das preziöse Modell stilisiert die Frau in genere, das Prinzip des Weiblichen, zur Inkorporation der Tugend und des Guten. Die Verpflichtung zur Orientierung an diesem höchsten Ideal (hier greifen die Preziösen Forderungen traditioneller Tugendkasuistiken, aber auch literarischer Minnetraditionen auf) erhebt die Frau zur zentralen und absoluten Instanz des ideellen Sozialverkehrs.210 Das weibliche Geschlecht gilt als „zivilisatorische Instanz und Kraft“,211 denn als Inkorporation der Tugend leitet es auch das männliche Geschlecht zur Tugend. Das preziöse Modell ist durch eine strikte Weiblichkeitszentriertheit geprägt, die sich auf allen Ebenen der Interaktion wiederfindet. Lenkt in der exklusiven Gruppe die zentrale Gastgeberin die Interaktion und Kommunikation, so ist dies im Mann-Frau-Verhältnis die einzelne Dame. Der weibliche Part ist Zentrum und Mittelpunkt im Austausch der Geschlechter, lenkt und dominiert ihn: Die Frau ist sowohl Gunstobjekt als auch Richterin im Kontakt zwischen Mann und Frau.212 Als „unumschränkte Herrscherin über Wunsch und Willen des dienenden Mannes“ soll ihre „Gunst zum einzigen Ziel seines [des männlichen] Handelns“ werden.213 Das preziöse Ritual unterwirft „den Mann der Verpflichtung zu ausschließlicher Ergebenheit und Treue“ und verlangt

208 Gelzer:

Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 34‒51; Moderationsfunktion der Frau (ebd., S. 40, 49, 50); Stauffer: Scudéry-Rezeption im Pegnesischen Blumenorden, S. 251. 209 Repräsentationen des preziösen Modells im Roman können sehr komplex sein, wenn sich z.B. Erzählebenen intradiegetisch differenzieren. Dennoch wurde die Grundstruktur von Scudérys Modell auch in neueren Forschungsarbeiten nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr im Vergleich zu weiteren preziösen Autor(inn)en und Texten erweitert (La Fayette u.a.), worauf ich an dieser Stelle aber nicht eingehe, Alexandra-Bettina Peter: Vom Selbstverlust zur Selbstfindung. Erzählte Eifersucht in Frankreich des 17. Jahrhunderts. 2. Aufl., Berlin 2011, hier S. 118‒136. Zur Preziösen-Kritik vgl. Losfeld: Galanterie in Frankreich. Genese und Niedergang eines Verhaltensideals, S. 13–50; Zimmer: Literarische Kritik am Preziösentum. 210 Baader: Dames des Lettres, S. 52‒55 hat d’Urfés Roman L’Astrée (publ. 1607‒1627) als wichtige literarische Quellen dieses femozentrischen „Frauenkultes“ offengelegt, der bereits alle wichtigen Elemente einer „mystisch, platonisierenden“ „Liebesorthodoxie“ (ebd., S. 53) präfiguriert. 211 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 40. 212 Büff: Ruelle und Realität, S. 141. 213 Ebd.

292

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

von ihm „die schweigende, von Erwartungen befreite Hingabe“ in der Verehrung der Frau(en) bzw. des Weiblichen als exzeptionelle Instanz.214 Aus der Tradition des mittelalterlichen Minnedienstes und der französischen Troubadours übernimmt das preziöse Modell platonisierende, asexuelle Geschlechterstrukturen und überträgt sie auf das ideelle Mann-Frau-Verhältnis: „Die respektvolle, dienende Liebe des Mannes erhebt die Frau zur Herrin, und je strenger sie das Verhalten des amant regelt, desto größer werden seine Abhängigkeit und ihre Macht.“215 Die ‚Macht‘ der Frau generiert sich im preziösen Modell in erster Linie über Entzug und Reglementierung der sinnlichen Erotik und Sexualität. Das preziöse Modell entwirft eine Semantik, bei der die maîtresse (die Gebieterin) dem amant (Verehrer) eine Art Freundschaftsliebe (amitié tendre) in Aussicht stellt, die er erringen kann, wenn er verschiedene Grade der tugendhaften Liebe ‒ amitié (Freundschaft), estime (Hochachtung), tendresse (Zärtlichkeit) u.a. ‒ erlernt und unter Beweis stellt.216 Die damit verbundene Affektkontrolle ist die Kultivierungsleistung, zu welcher das weibliche Geschlecht dem Mann verhilft. Allerdings schließen alle Formen dieser ‚Liebe‘, auch die amitié tendre, jeden sinnlichen Kontakt strikt aus. Das preziöse Modell ist durch eine Vergeistigung und Sublimation von Affekten und Gefühlen geprägt. Ein rigoroses Keuschheitsgebot und die Abwehr jeder Art von erotisch-sexuell motivierten Formen der Liebe prägen das preziöse Modell für beide Geschlechter. Büff zufolge gerät die Liebe so zu einer „Leidenschaft, die keine mehr ist“, da „die körperlosen Gefühle nicht nur befreit [sind] von der in den Augen der Preziösen niederen sensuellen Komponente […], sie haben durch ihre Subtilisierung so sehr an Substanz verloren, dass sie keinen nachhaltigen Eindruck mehr hinterlassen können“; als „ungefährliche Gefühle“ schützen sie vor der Irrationalität der Affekte.217 So ermöglicht die Sublimation eine Affektkontrolle, die zu erlernen ja erklärtes Ziel ist, doch beschränkt sie zugleich alle Affekt-, Emotions- und Liebesformen auf „entsexualisierte, rein geistige Beziehungen“.218 Fortwährend wird stattdessen mit der Liebessemantik ein kommunikativer (erotischer) Anreiz kreiert und beständig reaktualisiert, der den Mann animieren soll, weiterhin um die Gunst der Dame zu werben. Amitié tendre, das imaginäre Païs (Royaume) de Tendre219 und subtile Kodifizierungen des Verhaltens und Sprechens im Umgang der Geschlechter (bel air, air galante) sollen das sozial-kommunikative ‚Spiel‘ um die Liebe am Laufen halten. Um diese erotische Spannung aufrechtzuerhalten, ist die unbedingte

214 Baader:

Dames des Lettres, S. 53; ähnlich Büff: Ruelle und Realität, S. 150. Zur sozialhistorischen Umsetzung des Modells ist damit keine Aussage getroffen. 215 Büff: Ruelle und Realität, S. 148. 216 Stauffer: Scudéry-Rezeption im Pegnesischen Blumenorden, S. 260; Baader: Dames des Lettres, S. 13, 44f. 217 Büff: Ruelle und Realität, S. 149. 218 Ebd., S. 148. 219 Kap. 4.2.3.2 Scudérys ‚Carte de Tendre‘.

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

293

Einhaltung des Keuschheitsgebots, gewissermaßen die Abwehr der Liebe, zwingend notwendig. Affektrationalisierung und Sublimation von Sinnlichkeit und Erotik sind in der preziösen Semantik und im preziösen Modell Konsequenz und Bedingung des Geschlechterkontakts (weitere Ergänzungen folgen an entsprechender Stelle in den Kapiteln). Die Schlussszene der Versteckten Liebe im Kloster nimmt einzelne Elemente des preziösen Liebes- und Geschlechtermodells auf und modifiziert sie. Das äußere Setting der Gartenszene, die kommunikative Situation des exklusiven Zirkels verweisen formal auf die Dialog- und Vergesellschaftungsstruktur der preziösen Conversation à la française. Auch dass die Hauptfigur Syringe das Dialog-Liebes-Spiel mit der Forderung initiiert, „Treue und Beständigkeit“ seien als Basis der Paarbeziehung anzusehen, erinnert an das preziöse Modell, denn für die Protagonistin bedeutet dies, dass sich der Mann der Frau „mit dem gantzen Leben verpflichtet“.220 Der Mann wird bedingungslos in die Liebespflicht genommen, wie es das preziöse Modell vorgibt. Von nun an nimmt der Gesprächsverlauf aber eine andere Wendung. Grundsätzlich akzeptieren die männlichen Figuren „Gehorsam“ und die „grosse aestim“ gegenüber der Frau,221 doch stellen sie ihrerseits Bedingungen an das weibliche Geschlecht. Der Kavalier Veridon erklärt: Die Unterthänigkeit / sagte Er / welche wir dem Frauen=Zimmer erweisen / ist eine solche eingerissene Gewohnheit welche aus der Überredung herstammet / daß wir nehmlich einen grossen aestim von ihnen machen und aus diesen stammet das gantze Gesetz uns einem Frauen= Zim[m]er zu obligiren. Wann dieses aber nicht durch einen sonderlichen Grund ihrer Vortreffligkeiten und angenehmen Geistes immerwehrend erhalten würde / so glaube ich daß man in kurtzen ihnen hin und wieder dergleichen Ehrenstellen entziehen würde / zumahl wenn sie hernachmals vor so grosser Bemühung so ihnē[n] von uns geschiehet / mit dem Danck der Kaltsinnigkeit und verstellten unempfindlichen Wesen / uns belohnen wolten [Hervorh. K.B.].222

Die verpflichtende Liebe des Mannes gibt es nur, wenn sich die Frau (1) durch Qualität und Vortrefflichkeit („sonderlicher Grund und Geist“) fortwährend dieser Zuneigung verdient macht und diese Zuwendung (2) nicht mit Kaltsinnigkeit und vorgetäuschter Empfindungslosigkeit quittiert. Die männlichen Figuren sind nicht bereit, sich bedingungslos zu unterwerfen. Mehr noch, auch sie wollen die Frau ‚prüfen‘. Ein Kavalier solle seine Hochachtung, so Veridon, allen Frauen schenken, Gehorsam und estime erst nach und nach vergrößern, bis sich herausstellt, welche

220 Syringe

in Beantwortung der ersten Frage, was Verliebten die größte Vergnügung geben könne: „Denn meines Erachtens vergnüget die Liebe nichts mehr als die Treue und Beständigkeit“, Der Beständige T.: Versteckte Liebe im Kloster, S. 327f., 333; weitere Betonung von Treue und Beständigkeit (ebd., S. 10, 60, 68, 142, 182, 286, 296, 302, 332, 333, 352, 358). 221 Der Kavalier Veridon stellt den „Gehorsam welchen wir [die Männer] diesen angenehmen Geschlecht [den Frauen] schuldig“ sind, nicht grundsätzlich in Frage (ebd., S. 334, 335). 222 Ebd., S. 335f.

294

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der Damen der Liebe des Mannes würdig sei. Auf diese Weise bewahre er seine Freiheit, ohne die Schuldigkeit gegen das weibliche Geschlecht zu verletzen: [W]ill man ihnen [den Frauen] folgen / und dennoch seine Freyheit erhalten / obligire man sich so weit gegen sie als es die Schuldigkeit so wir gegen alle hegen zuläst / und dieses bestehet am meisten darinnen / daß wir sie auff keine Weise beleidigen / und sie jederzeit mehr und mehr zuerheben suchen / so lange biß wir ein würdiges Bildnüß finden / so uns nach unsern Gedancken am meisten verstricken kann / und dieses bekomt denn die letzte Obligation [Hervorh. K.B.].223

Syringe lässt sich von Veridon überzeugen und lobt den Kavalier, der „uns mehr als zu klug durch seine Rede gemacht“ habe.224 Damit favorisiert die weibliche Hauptfigur ein Liebeskonzept, das die Paarbildung als einen sukzessiven (und zunächst ergebnisoffenen) Prozess beschreibt, die Partnerwahl an die Prüfung der Frau durch den Mann bindet (statt an die Prüfung des Mannes durch die Frau) und vor allem von der Frau verlangt, die ihr vorgeworfene „Kaltsinnigkeit“ fallen zu lassen. Für die weiblichen Figuren bedeutet dies, auf die Liebeswerbung des Mannes/der Männer einzugehen. Allgemeiner ließe sich sagen: Der weibliche Part kann sich im galanten Modell nicht mehr auf die einflussreiche, aber letztlich statische Position als zentrales Gunstobjekt zurückziehen, sondern das asymmetrisch-starre Modell von Dominanz und Unterordnung, das den weiblichen Part zur absoluten Referenz- und Entscheidungsinstanz hypostasiert, wird zum reziproken, wechselseitigen Modell beider Geschlechter umcodiert; es verlangt sowohl von Mann als auch Frau interaktiv- und affektiv-emotionale Beweglichkeit oder Aktivität. Auch die weiblichen Figuren sollen sich für Liebe und Beziehung engagieren, insofern auch sie bewertet werden und sich wie der Mann bewerten lassen müssen. Dringlich wird diese Problematik im Kontext von Erotik und Sexualität. Im Modus zwischen Scherz und Ernst lockert der galante Roman in der Tat Körpersanktionen und eine rigide Affektdisziplinierung, die mit dem Keuschheitsgebot der Preziösen im Hintergrund steht. Die Protagonistin Seelmise erhält den „Befehl“, mit verbundenen Augen eine Person der Gruppe zu küssen und zu erraten, wer sie sei: „Erräht es solches nicht / so soll es die gantze Compagnie nach einander küssen.“225 Sie gerät an eine Frau, deren Ring sie erkennt, „darum wolte sie selbe küße[n]“.226 Eine der männlichen Figuren schiebt sich jedoch im letzten Moment da­zwischen, so dass die Kandidatin die Partie verliert und „ein jedes nunmehro in der Compagnie besonders küssen“ muss.227 „Die gantze Compagnie lachte hierüber am meisten / […] und Seelmise muste den Anfang bey Syringe machen nach welcher Balinor und

223 Ebd.,

S. 336f. S. 337. 225 Ebd., S. 344. Seelmise „wolte sich entschuldigen / Syringe aber sambt den andern trungen auff die Vollziehung des Gebohts“ (ebd., S. 345). 226 Ebd. 227 Ebd., S. 346. 224 Ebd.,

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

295

so fort die andern folgten“.228 Männliches wie weibliches Figurenpersonal, weibliche Hauptfigur und Liebhaber begegnen dem kaum noch nur ‚kommunikativen‘ Liebes-Spiel mit „Schertz“ und größtem Vergnügen.229 Die Darstellung unterliegt einem Modus des „vergönnten Schertz[es]“.230 Auch der junge Ehemann Tancredi erhält den Befehl: „Die Person soll zugleich küssen und geküst werden / und hernach sagen welches ihr am besten gefallen“.231 Einer der Freunde bedauert, dass diese Aufforderung „nicht alle betrifft“, woraufhin Tancredi die Runde auffordert, es ihm gleich zu tun.232 Tancredi küsst Syringe, sie daraufhin ihn (die Gruppe küsst sich untereinander) und anschließend fällt der Jungvermählte sein Urteil. Es sei zwar eine größere „Vergnügung / wenn uns die Süssigkeit der Liebe ohne unsere Bemühung selbst eingeliefert wird“.233 Allerdings würden diejenigen nicht „zufrieden gestellt“, die nicht auch selbst küssen bzw. lieben.234 „[N]och einmahl so groß“ ist die „Freude“, wenn zwei Liebende Zuneigung tauschen, „nach welcher wir ein Verlangen getragen“ und es sich um gegenseitige „Zeugnüsse [der] Gunst“ handelt.235 Aktives und passives Prinzip ergänzen sich und sind Teil einer (emotiv-kreatürlichen) Aktivität jedes Einzelnen, Mann wie Frau. Im Paratext des Romans heißt es dazu: „Die Gunst welche sich in eine Seele setzt / ist nichts anders als ein Anfang der Liebe / deren Volkommenheit in der Vereinigung zweyer Hertzen bestehet / welche bewegt werden / und sich wieder bewegen lassen“.236 Die einseitige Weiblichkeitszentriertheit des preziösen Modells wird im galanten Modell zugunsten einer reziproken Beziehungsstruktur modifiziert, was auch die weiteren Textanalysen zeigen werden. Die Frau ist nicht mehr nur begehrtes Objekt, sondern wird selbst zum Agens eines Begehrens, das sich auf den Mann richtet und

228 Ebd. 229 Auf

die Frage, „was von dem Frauen=Zimmer zu halten so keinen Schertz vertragen könne“, antwortet Monsieur Dessir, ein „vergönnter Schertz“ führe keine „Verhöhnung bey sich“ und nur eine Frau von „geringen Verstande“ könne ihn übel nehmen (ebd., S. 342f.). 230 Ebd., S. 343. 231 Ebd., S. 356, Hervorh. K.B. 232 „Es ist Schade / sagte Veridon, daß dieser Befehl uns nicht alle betrifft. Ich bin vergnügt / antwortete Tancredi un[d] ob es gleich keinem mehr befohlen ist / so will ichs doch keinem verwehren wen[n] Er bey seinen Nachbar mir nachfolgen will“ (ebd.). 233 Tancredi zur Gruppe: „Wenn ich unpartheiisch reden soll / fuhr Er weiter fort / so ist es eine weit mehrere Vergnügung wenn uns die Süssigkeit der Liebe ohne unsere Bemühung selbst eingeliefert wird […] wie wir wenig Ergötzung haben wenn wir etwas weggeben / weil uns der Verlust der Sache daß wir selbst nicht mehr besitzen sollen / etwas kräncket“ (ebd.). 234 „[D]och wenn wir wissen daß wir denjenigen so wir solches geben eine Wilfährigkeit erweisen / so ist dieses das eintzige wordurch wir uns zu frieden stellen“ (ebd., S. 357). 235 „Hingegen ist unsere Freude noch einmahl so groß / wann wir von einen andern etwas unverhofft geschickt bekommen zumahl wenn es eine Sache nach welcher wir ein Verlangen getragen / worbey die Freude noch grösser wird / wenn wir solche Geschencke von den andern als Zeugnüsse seiner Gunst gegen uns / erhalten“ (ebd.). 236 Ebd., Anhang Schlüssel der Hertzen, S. 453f., Hervorh. K.B.

296

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

dessen Gunst sie zugleich gewinnen soll. Der statische Gegensatz zwischen Gebieterin (maîtresse) und Diener (amant) wird aufgebrochen, insofern sowohl Mann als auch Frau als gleichermaßen Begehrte wie Begehrende erscheinen. Dadurch entstehen vice versa neue Dominanzstrukturen, die der vorliegende Roman, Die Versteckte Liebe, allerdings nicht thematisiert. Vor dem Hintergrund der preziösen Tradition wird vielmehr erkennbar, dass das recht freie Liebes-Spiel des galanten Romans weniger auf ein profanes ‚Vergnügen am Laster‘ zielt als auf eine Neustrukturierung und Modifikation des preziösen Modells. Prinzipiell stärkt das galante Modell die Position des Mannes als einflussnehmenden und fordernden Part, da er nicht mehr auf die Position des ausschließlich Dienenden (amant) beschränkt ist. Dies lässt sich als eine Reintegration oder Stärkung männlicher Handlungs- und Einflussmöglichkeiten beschreiben, wodurch die Frau die zentrale Stellung als absolute Referenzinstanz verliert. Gleichzeitig ermöglicht und erzwingt diese Neustrukturierung die aktive Positionierung der Frau, denn in der statischen Position als relativ passives (asexuellen) Liebesobjekt kann sie nicht verbleiben. Das Gebot der Hochachtung für die Frau (die „grosse aestim“)237 verbietet offene Formen der Repression gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Es entsteht eine reziproke und prinzipiell egalitäre Struktur, von der nicht ohne Weiteres zu entscheiden ist, ob sie nur in Konzession an die ehemalige Dominanz der Frau im preziösen Modell zu verstehen ist oder ob sich damit tatsächlich das Ideal einer geschlechterübergreifenden Egalität ausdrückt. Die weiteren Textanalysen werden auf diesem Punkt zurückkommen. 4.1.5 Fazit: Kombination und Variation Stoffe, Motive und Formen des Erzählens, die aus den poetischen Traditionen des In- und Auslandes bekannt sind, tauchen im galanten Roman auf und werden vielfältig kombiniert, variiert bzw. neu zusammengefügt. Die böse Mutter, der sündige Pfarrer, das Kloster-Motiv sind aus der satirischen und erotischen Literatur bekannt, ebenso wie Elemente der Abenteuerliteratur (Flucht und Gefahr, Kampf und Duell) oder der Komödie (Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch). In der galanten Poesie zwischen Scherz und Ernst, die dem eigenen An­spruch nach ‚neu‘ und innovativ sein will, erfahren bekannte Stoffe und Motive entscheidende Modifikationen – und das nicht nur, weil sie mit einer positiven Konzeption der weiblichen Hauptfigur kombiniert werden, was durch die Anbindung an die preziöse Romantradition zu erklären ist. Sondern auch, weil sie einem Darstellungs- und Rezeptionsmodus unterworfen werden, der sowohl vergnügen (scherzen) als auch ‚ernsthaft‘ unterhalten will. Der weiblichkeitszentrierte Roman exponiert mit der Hauptfigur zugleich eine Tugend-Laster-Darstellung, welche die Tugendhaftigkeit der Protagonistin im Kon-

237 Ebd.,

S. 335.

4.1 Gender-Dressing: Weiblichkeit und Körper

297

trast zum Laster ex negativo konturiert. Der galante Roman scheint sich mit einer hehren Absicht zu verbinden, die nicht nur auf das satirische Amüsement an Tugendund-Laster-Darstellungen zielt, sondern ‚ernstere‘ Facetten zu Tugend-und-Laster vorgibt zu entfalten. Hier liegt aber auch die Crux, denn wenn sich die Tugendhaftigkeit der Protagonistin in Relation zum Laster zeigen soll, muss die weibliche Figur zwangsläufig im Rahmen lasterhafter Konfliktsituationen inszeniert werden. Insofern Formen eines psychologischen Erzählens fehlen und Erzählerkommentare moralisierende Hinweise größtenteils aussparen, entsteht ein Deutungsvakuum, wie das Handeln der Figur auszulegen sei; eine Problematik, die sich im Zusammenhang mit erotischen Inszenierungsformen und galanten Körpernarrativen verschärft. Insbesondere das aus der Komödientradition bekannte Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs erlaubt es, Stoffe, Figuren- und Konfliktkonstellationen (unterhaltsam) zu variieren. Die poetische Praxis führt hier zu einer Erweiterung galanter Stoffe und Formen des Erzählens. Zugleich bewirkt das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs aber auch eine Fragmentierung, Multiplikation und Pluralisierung der Figuren und Figurenkonstellationen. In der Rolle ‚des/der Anderen‘, besonders in der Maskierung als Mann, gewinnt die weibliche Figurenkonzeption an Komplexität und Ambivalenz. Der Wechsel ins andere Geschlecht mag erzählpragmatische Vorteile haben: So kommt er im Roman vor allem bei der Umstrukturierung räumlicher Sphären zum Einsatz (Raumwechsel). Er plausibilisiert den Übertritt der Figuren an andere Orte, denn in der Verkleidung als Mann kann die Protagonistin unerkannt flüchten, reisen usw. Auch Formen von Gewalt und Aggression (den Widersacher töten) scheint die Protagonistin nur in der Rolle als Mann ausüben zu können, wobei der Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch hier strukturierendes Moment des Handlungs- und Konfliktaufbaus ist, um das „Laster“ zu bestrafen (Rache und Bestrafung der Intrige). Das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs erfüllt demnach verschiedene erzählpragmatische Funktionen. Insofern das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs anhand des weiblichen Figurenpersonal zum Einsatz kommt, zeigt der Roman aber auch, dass und genauer noch wie die Geschlechtszugehörigkeit der Protagonistin durch Kleidung verhüllt werden kann, wie Geschlecht durch die Übernahme von Verhaltensund Kommunikationsformen, die als ‚männlich‘ gelten, zu verschleiern ist (Dissimulation). Der galante Roman erzählt, unter welchen Umständen und mit welchen Mitteln eine Manipulation des Körpers und des Äußeren möglich sei. Geschlechter(zu-)ordnungen und Geschlechtergrenzen geraten dadurch in Bewegung. Rückschlüsse auf das fiktive Ausgangsgeschlecht der Figur werden im Rahmen des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs unzuverlässig. Mehr noch – indem die Texte das Gelingen des Geschlechtertauschs darstellen, wird das Changieren zwischen männlichen und weiblichen Geschlechterrollen im Rahmen der erzählten Geschichte als zwar vorgetäuschte, aber gelingende Option narrativiert. Obwohl es sich dabei nicht um eine psychologische Darstellung handelt, die emotionale Affektlagen,

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

psychische Prozesse und innere Konflikte konkretisiert, gestaltet der Roman fiktive Handlungssituationen, in denen es möglich erscheint, längerfristig im jeweils ‚anderen Geschlecht‘ aufzutreten und zu interagieren. Der galante Roman arbeitet dabei konstitutiv mit einer Spannung zwischen Leser- und Figurenwissen. Der Text konstruiert ein komplexes Verweis- und Referenzsystem verschiedener romaninterner (intradiegetischer), paratextueller und extratextueller Referenzen, deren jeweils ‚falsche‘ Zuordnung Ambivalenz erzeugt. Um die Handlung in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, wird den Lesern und Leserinnen abverlangt, zwischen der Protagonistin als narratives Form- und Handlungsmoment des Textes und ihrer Repräsentation als geschlecht­lich markierter Figur zu differenzieren, deren Geschlecht innerhalb der erzählten Geschichte zudem variabel decodiert werden muss – mal als Mann, mal als Frau. Leser und Leserinnen müssen bei der Lektüre imstande sein, mehrfach zwischen diesen Ebenen oder Perspektiven flexibel ‚umzuschalten‘ (Kapitel 4.1.3.2). Gelingt dies nicht  –  und die Polemik gegen den galanten Roman scheint nahezulegen, dass etliche Leser Probleme damit hatten ‒ so verstärken sich Ambiguität und Ambivalenz. Im Sinne einer Poesie zwischen Scherz und Ernst mag dies poetologisch gewollt sein. Aus genderspezifischer Sicht geraten dadurch Geschlechterordnungen im galanten Roman aber auch ziemlich in Bewegung. Um Ortswechsel der Protagonistin im fiktiven Raum zu motivieren, grenzen die nächsten Romane das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs ein oder verzichten ganz darauf. Was passiert, wenn die weibliche Figur ‚unverhüllt‘ als Frau in die Welt reist?

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion in Bohses Constantine (1698) und Rosts Atalanta (1708) Das Motiv der Reise und das Reisesujet sind seit der Antike konstitutives Element der Erzählliteratur (man denke an Homers Odyssee). Im weiblichkeitszentrierten Roman um 1700 tritt das Reisemotiv vielfältig auf und prägt narrative Raumstrukturen, in denen die Protagonistin agiert. Kaum ein Roman um 1700 kommt ohne eine Reise aus; ist dieses Motiv doch auch geeignet, um im Erzähltext Raumwechsel zu motivieren. Oft wird die Reise der weiblichen Hauptfigur, verbunden mit der Überwindung territorialer Grenzen und sozialer Sphären, zum zentralen Sujet und Movens der erzählerischen Gesamtkonzeption. Die Formen des Reisens sind dabei vielfältig: Galante Frauenfiguren brechen zu Fuß, per Schiff, mit der Kutsche oder zu Pferd auf; manche Protagonistin lässt sich auch, einer Landstreicherin gleich, von denen mitnehmen, die gerade des Weges kommen (Atalanta).238 Dabei handelt 238 Z.B. Atalantas

Begegnung mit dem „Scythen“, Kap. 4.2.4.2 Gefahren der Reise.

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

299

es sich keineswegs um kurze Ausflüge oder um Reisen, die pragmatischen, religiösen oder sonstigen sozialen Zwecken dienen (etwa um für eine Heirat oder als Pilgerin an andere Orte zu gelangen). Im Gegenteil: Wenn die Protagonistin zur Ausfahrt oder Flucht aufbricht und ihren Liebhaber verpasst, kann daraus eine recht ausgedehnte Irrfahrt durch die Welt werden ‒ wie bei Syringes Flucht nun auch bei Atalanta, während Constantine von vornherein ohne klares Ziel auf unbestimmte Zeit aufbricht. Aus der Sozialgeschichte sind reisende Frauen um 1700 bekannt – Celia Fiennes (1662–1741) bereiste zwischen 1685 und 1703 adlige Höfe in England und verfasste Reisebeschreibungen zur britischen Kultur- und Naturlandschaft.239 Maria Sibylla Merian (1647–1717) ging von 1699 bis 1701 über den Kontinent nach Surinam, wo sie sich auf einer Pilger- und Forschungsreise der Mission und zugleich den Insekten Südamerikas widmete.240 Marie Catherine Le Jumel de Barneville Baronne d’Aulnoy (1650/51‒1705) verarbeitete 1691 Erlebnisse ihrer Hofreise durch Spanien in einem „romanhaften Reisebericht“.241 Frauen höherer Stände, wie Liselotte von der Pfalz Herzogin von Orléans (1652‒1722), mussten reisen, wenn sie nicht am Hof der Familie aufgezogen wurden, sich zwecks Heiratsanbahnungen an fremden Höfen aufhielten oder nach der Eheschließung in das Lebensumfeld des Gatten übersiedelten. Auch unter Pilgern sind Frauen vertreten, hier auch aus unteren Sozialschichten. Ein Beispiel ist Catharina Magaretha Linck (1689–1721), die sich in der Verkleidung als Mann den Brüdern einer religiösen Glaubensgemeinschaft anschloss, durch Deutschland und Holland zog und längere Zeit in der Tarnung als Mann an verschiedenen Orten lebte.242 Allerdings waren Reisen, trotz allmählicher Verbesserung von Infrastruktur und Technik (Kutschen, gepflasterte Straßen- und Verkehrsnetze) beschwerlich, teuer und gefährlich. Noch im 18.  Jahrhundert sind Reiseberichte von gebrochenen Wagenrädern auf morastigen Wegen, Zeitverzögerungen von Tagen oder Wochen, Krankheiten und Überfällen gang und gäbe.243 Daher stellt auch das ‚freie Reisen‘, ohne feste Reiseroute, Zeitplanung und ohne spezifischen Grund keine Selbstverständlichkeit dar; weder für Frauen noch für Männer. Reisen wurden aus religiösen, ökonomischen, heiratspragmatischen oder wissenschaftlichen Gründen unter-

239 Stefanie

Ohnesorg: Mit Kompass, Kutsche und Kamel: (Rück-)Einbindung der Frau in die Geschichte des Reisens und der Reiseliteratur. St. Ingbert 1996, S. 79. 240 Ebd., S. 80. 241 Wolfgang Griep u. Annegret Pelz (Hg.): Frauen reisen. Ein bibliographisches Verzeichnis deutschsprachiger Frauenreisen 1700 bis 1810. Bremen 1995, S. 27f. 242 Angela Steidele: In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Magaretha Linck alias Anastasius Langrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation. Köln 2004, bes. S. 33f. 243 Dieter Richter: Die Angst des Reisenden, die Gefahren der Reise. In: Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. Hg. v. Hermann Bausinger u.a. München 1991, S. 100‒107 (im Band weitere Beiträge zum Thema und Literaturhinweise).

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

nommen.244 Reisende Frauen ohne Gründe dieser Art sind zwar vereinzelt bekannt, doch ist ihre Zahl umstritten.245 Laut Gabriele Habinger stellen weibliche „Vergnügungsreisende“ im 17. und 18. Jahrhundert eine absolute Ausnahme dar: Das Reisen von Frauen wurde gesellschaftlich sanktioniert und zum Teil sogar juristisch beschränkt.246 Vor allem im 18. Jahrhundert, als das ‚freie Reisen‘ allmählich zu einer Art Bildungsinstitution wurde und als Selbstzweck immer mehr Akzeptanz erfuhr (Goethe: „Man reist ja nicht um anzukommen“),247 wurden Frauen nicht nur „nicht mitbedacht, sondern bewußt ausgegrenzt“, so Stefanie Ohnesorg.248 Sie geht zwar davon aus, dass Frauen am Beginn des 18.  Jahrhunderts „wenigstens im Prinzip am Reisen teilhaben konnten“, doch wurde dieser „Bewegungsraum“ immer stärker verengt bzw. geschlechterspezifisch reglementiert.249 Dies schlägt sich vor allem in den Apodemiken des 18. Jahrhunderts nieder, die einen kodifizierten Regelapparat des Reisens vorlegen, der das weibliche Reisen darauf beschränke, Frauen durch 244 Gabriele

Habinger: Reisen, Raumaneignung und Weiblichkeit  –  Zur Geschichte und Motivationsstruktur weiblicher (Vergnügungs-)Reisen. In: Zeitschrift der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft 46/3 (2006), S. 271–295, hier S. 274f. 245 Habinger nennt als Beispiele „weiblicher Bildungs- oder Vergnügungsreisender“ die beiden Griechinnen Axiothea und Lasthenia, die um 400 v. Chr. nach Athen reisen, um Schülerinnen Platons zu werden sowie die italienische Familie Conti, die im Familienverbund samt weiblichen Mitgliedern weit ausgedehnte Fern- und Unterhaltungsreisen nach Asien unternehmen, Habinger: Reisen, Raumaneignung und Weiblichkeit, S. 274f. Allerdings ist Habinger der Ansicht, dass weibliche Reisende bis ins 19. Jahrhundert gesamtgesellschaftlich eine Minderheit darstellen, deren Negativstereotypisierung sich seit dem 18. Jahrhundert noch verschärft (ebd., S. 278f.). Die Monografie von Cladders über französische Venedigreisen im 16. und 17. Jahrhundert (Auswertung zeitgenössischer Reiseberichte) listet ausschließlich Männer, keine Frauen. Dies muss nicht bedeuten, dass weibliche Venedigreisende nicht auftreten – sie bleiben jedoch aufgrund der Quellenlage ohne Stimme, Brigitta Cladders: Französische Venedig-Reisen im 16. und 17. Jahrhundert. Wandlungen des Venedig-Bildes und der Reisebeschreibung. Genève 2002, hier. S. 281‒287. Demgegenüber recherchieren Griep und Pelz eine Vielzahl „weiblicher Reisedokumente“ zwischen 1700 und 1810, allerdings  –  so muss eingeschränkt werden ‒ handelt es sich oft um fiktionale Texte, die kein repräsentatives Bild historischer Reiserealitäten von Frauen zulassen, Griep u. Pelz: Frauen reisen (1995). Nichtfiktionale Zeugnisse sind z.B. der „romanhafte Reisebericht“ von Catherine d’Aulnoy (ebd., S. 27), der übrigens seit 1695 in deutscher Übersetzung bei Thomas Fritsch (Leipzig) herausgegeben wird, spätere Übersetzungen der d’Aulnoy erscheinen unter dem fingierten Impressum „Pierre Marteau in Cöln“. Außerdem nennen Griep und Pelz einen juristischen Traktat zur Frage, ob eine schwangere Frau, die auf Reisen ein Kind zur Welt bringt, für diesen zusätzlichen Passagier Wegzoll zahlen muss. Alle anderen ‚Quellen‘ um 1700 stammen interessanterweise aus galanten Romanen (ebd., S. 22f., 27, 28). Die Bibliografie stellt der These der „reisenden Frau [als] Novum des 18. Jahrhunderts“ das Quellenmaterial entgegen, doch müsste in Zukunft methodisch genauer mit diesem Material gearbeitet werden, hierzu Annegret Pelz: ‚Ob und wie Frauenzimmer reisen sollen?‘. Das reisende Frauenzimmer als Entdeckung des 18. Jahrhunderts. Oldenburg 1993. 246 Habinger: Reisen, Raumaneignung und Weiblichkeit, S. 281. 247 Ohnesorg: Mit Kompass, Kutsche und Kamel, S. 127. 248 Ebd., S. 115; weitere Hinweise zur verschärften Reglementierung und Ausgrenzung weiblichen Reisens im 18. Jahrhundert (ebd., S. 115, 118, 124f., 136f., 148, 155, 166). 249 Ebd., S. 148.

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

301

Mobilität in festgelegten Grenzen „zu besseren Haus- und Ehefrauen und Müttern zu machen“ oder, wie Ohnesorg es ausdrückt, ihnen die Kunst des Reisens nahe zu bringen als „die Kunst, beim Reisen  –  wenigstens mental  –  das Heim nie zu verlassen“.250 Vor allem war weibliches Reisen an die Begleitung durch männliche Personen gebunden.251 Celia Fiennes, die um 1700 lediglich mit zwei Dienern aufbricht, wird als Ausnahme beschrieben.252 Doch selbst in männlicher Begleitung mussten reisende Frauen mit Vorurteilen und Skepsis rechnen, wie sich Kemmerichs Neu=eröffnete[r] Academie der Wissenschaften (1711) entnehmen lässt. Zur Frage, ob „Frauenzimmer reisen sollten“, findet sich dort der Eintrag: Das Reisen gehöret eigentlich nur vor die manns-personen: ein Frauenzimmer aber kann heutiges tages durch gute aufferziehung und conversation mit honeten leuten in ihrem vaterland alles dasjenige erlernen, was zu einem galanten und qualificirten Frauenzimmer erfordert wird. Zugeschweigen die gefahr, welcher dieses zarte und annehmliche geschlecht auf reisen unterworffen ist; und das sprüchwort ist bekannt: Von gereiseten Frauenzimmer hält man nicht viel.253

Umso interessanter erscheinen weibliche Reisefiktionen im Roman, die – werden sie zum zentralen Moment der Handlungs- und Konfliktgestaltung – einen erheblichen Teil der Narration ausfüllen. An Bohse/Talanders Die Liebenswürdige Europäerin Constantine (1698)254 und Rost/Meletaons Die Unglückseelige Atalanta (1708)255 werden exemplarisch verschiedene Aspekte weiblicher Reisefiktionen untersucht: Wer reist wohin und warum? Wie wird weibliches Reisen im Roman motiviert und legitimiert? Mit welchen Schwierigkeiten sind die Protagonistinnen auf der Reise konfrontiert und wie begegnen sie diesen Herausforderungen? Wie verbinden sich Figuren- und Konfliktgestaltung mit dem Reisemotiv, d.h. wie beeinflussen narrative Raumstrukturen, die den Wechsel der Protagonistin zwischen topografischen Räumen und sozialen Sphären motivieren, die weibliche Figurenkonzeption? Insbesondere am Roman Bohses lassen sich auch Rezeptionseinflüsse der preziösen

250 Ebd.,

S. 156, 158. S. 84. 252 Ebd., S. 94. 253 Zit. nach Habinger: Reisen, Raumaneignung und Weiblichkeit, S. 279. 254 Talander [August Bohse]: Die Liebenswürdige Europäerin Constantine / In einer wahrhafftigen und anmuthigen Liebes=Geschichte dieser Zeit / Der galanten und curieusen Welt zu vergönneter Gemüths=Ergötzung vorgestellert von Talandern. / Franckfurth und Leipzig / Verlegts Christoph Hülße / Anno 1698. 255 Meletaon [Johann Leonhard Rost]: Die Unglückseelige Atalanta oder Der schönen Armenianerin Lebens= und Liebes=Beschreibung in einem Asiatischen Helden=Gedicht. Der galanten Welt zur erlaubten Gemüths=Belustigung aufgesetzet von Meletaon. Franckfurt/Leipzig: Wolffgang Michahelles, 1708 [hier verwendet in der Ausgabe Leipzig: Johann Leonhard Buggel 1717; keine inhaltlichen Änderungen, Unterschiede in der Paginierung ergeben sich von 50 bis 100 Seiten aufgrund des doppelt so großen Formats und der eingefügten Kupferstiche; die Erstausgabe 1708 ist eng im kleinsten Duodezformat gedruckt]. 251 Ebd.,

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Romantradition nachweisen, die es erlauben, die internen Strukturen eines galanten Liebes- und Geschlechtermodells genauer zu konturieren (Kapitel 4.2.3). 4.2.1 Reisende Hauptfiguren: Constantine und Atalanta Die Eingangsszene in Bohses Die Liebenswürdige Europäerin Constantine und die Attributierung der Hauptfigur als „Europäerin“ deuten es bereits an: Territoriale Aspekte und das Sujet des Reisens spielen im Text eine zentrale Rolle. Auf hoher See setzt die Handlung in medias res ein und beginnt mit einem Schiffsunglück. Der auktoriale Erzähler berichtet von den „tobenden Wellen des ungestürmen Baltischen Meeres“,256 wo das Schiff Die Hoffnung samt Protagonistin „den Wellen zum Raube hingegeben“ ist, so dass „niemand unter allen / die sich darauff befanden / die geringste Hoffnung des Lebens übrig bliebe / sondern ein ieder sich mit Furcht und Schrecken zum Tode gefast hielte“.257 Ungeachtet dieser „Lebens=Gefahr“ lässt die Protagonistin „nicht die geringste Veränderung in ihrem Gesichte spüren“ und verbleibt in einer „beständigen Ernsthafftigkeit […] als ob dieses alles / was die andern in tödtliche Furcht gebracht / sie gar nichts angienge.“ 258 Der auktoriale Erzähler spricht geradezu von der „männliche[n] Großmüthigkeit“ Constantines.259 Die Protagonistin macht ihrem Namen constantia (die Beständige, die Standhafte) alle Ehre, worauf Kaminski mit der Feststellung hinweist, dass der Roman das barocke Constantia-Ideal zwar beständig aktualisiert, im Laufe der Handlung aber ironisch unterminiert.260 Die Passagiere auf Schiff sind indes von der Furchtlosigkeit der fremden Dame beeindruckt, namentlich der Kavalier Alckmar. In einer Situation, in welcher der „Schrecken keinen sonst verschonete“,261 behält Constantine furchtlos die Fassung und wird dadurch als positiver Figurencharakter eingeführt. Alckmar sieht sich durch Constantines Vorbild getröstet: Ist nicht / sagte er [Alckmar] bey sich selbst zu seinem eigenen Trost / diese Person mit uns allen in gleicher Gefahr des Lebens / und doch siehet man an ihr gar nicht diejenige Kleinmuth / welche bey allen andern ist; ohne Zweifel / weil sie erweget / daß da es nicht in ihrer Gewalt sey / den schlechten Stand / darinnen sie sich befindet / zu ändern / sie lieber wolle unerschrocken des Ausganges ihres Schicksahls erwarten / als durch Zaghafftigkeit sich solches vor der Zeit doppelt schwerer machen.262

256 Talander: 257 Ebd.

Liebenswürdige Constantine, S. 1.

258 Ebd.

259 Ebd.,

S. 52. Über die Schwelle der Un/Aufrichtigkeit, S. 313; Kap. 3.4.2.1 Weiblichkeitsnarrative zwischen Erfindung und Authentizitätsfiktion. 261 Talander: Liebenswürdige Constantine, S. 2. 262 Ebd., S. 3. 260 Kaminski:

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

303

Reisende Frauen, die Schiffsbruch erleiden, sind in der Dichtung der Frühen Neuzeit zwar kein besonders häufiges, doch auch kein unbekanntes Motiv. In Helden- und Abenteuererzählungen mit männlichen Figuren taucht der Schiffbruch seit der Antike vielfältig auf. Boccaccios Dekameron berichtet von einer Sultanstochter, die auf dem Weg zum künftigen Gemahl Schiffbruch erleidet.263 Im Gegensatz zu Boccaccios Protagonistin, die angstvoll die Hilfe jedes verfügbaren Beschützers sucht, sich bedenkenlos dem Willen der jeweiligen Männer anvertraut („im Laufe von vier Jahren geht sie an verschiedenen Orten durch die Hände von neun Männern“),264 verleiht Bohse der galanten Frauenfigur eine bemerkenswerte Selbstständigkeit. Trotz des Schreckens ist der Schiffbruch für Constantine kein Grund, die Reise abzubrechen. Sobald Rettung in Sicht ist, plant sie die Weiterfahrt: „Sie ließ aber […] dieses […] sich die vornehmste Sorge seyn / bald von dar wieder abzusegeln.“265 Anders als die Sultanstocher, die einen immensen Hofstaat mit sich führt, reist die galante Protagonistin einzig in Begleitung der Kammerfrau Dorinde, die sie im Laufe der Handlung verliert. Der Schutz eines männlichen Begleiters spielt in der Figurenkonzeption keine Rolle. Als Alckmar nach der Rettung seine Dienste anbietet, geht Constantine nicht darauf ein. Stattdessen gibt sie sich als Frau zu erkennen, die mit Unglücksfällen vertraut zu sein scheint und aus Erfahrung gelernt hat, misslichen Lagen mit Gelassenheit zu begegnen. Dem Kavalier erklärt sie: Die Gewohnheit harter Zufälle hat mich auch gehärtet. Und weil ich endlich gelernet / daß man weder mit Schrecken noch Kummer darwider etwas ausrichtet / so habe ich mich mit Gedult gewaffnet / und diese ist mir besser als alle Angst und vergebene Marter zu statten gekommen.266

Im Sinne einer heroisch-stoischen Großmut nimmt Constantine es mit Fortuna auf, dem wankelmütigen Schicksal, das den Barockroman prägt, hier aber nur mehr als Relikt barocken Erzählens im Hintergrund steht.267 Der Schiffbruch gefährdet die Fortsetzung der Reise nicht; obwohl – oder gerade weil ‒ Constantine und Dorinde die einzigen, zudem allein reisenden, Frauen unter den Schiffbrüchigen sind und somit eine Ausnahme (Exzeptionalität). Rost wird diese figurenspezifische Konstellation variieren und insofern auch das Narrativ weiblichen Reisens verändern: Ata-

263 Boccaccio:

Das Dekameron. Bd. 1., S. 135–157 (siebente Geschichte des zweiten Tages). S. 135. 265 Talander: Liebenswürdige Constantine, S. 13. 266 Ebd., S. 6. 267 In der barocken Romantradition steht Fortuna für die Unberechenbarkeit, die Wirren und kaum überschaubaren Schicksalsschläge, denen der Mensch im Irdischen ausgesetzt ist, während die göttliche Vorsehung (Providentia), die all dieses Walten in Händen hält, sich schließlich gegen das „blinde Spiel Fortunas“ durchsetzt und ein versöhnliches Ende ermöglicht. Dieser Struktur folgt der barocke Roman mit dem Ziel, zu Gelassenheit und Demut zu ermahnen und der göttlichen Vorsehung zu vertrauen, Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Teil 1. Tübingen 1988, S. 97. 264 Ebd.,

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

lanta begegnet unterwegs auch anderen reisenden Frauen. Sie verliert dadurch etwas von den Konturen einer exzeptionellen, außergewöhnlichen Figur, gleichzeitig wird dadurch suggeriert, dass reisende Frauen, zumindest in der Fiktion, geläufig sind. Bohse indes konfrontiert die Protagonistin in der Krisensituation ausschließlich mit männlichen Figuren. Die geschlechterspezifische Figurenkonstellation und das Reise-/Schiffbruchmotiv prägen auch die Konzeption des weiblichen Figurencharakters. Der Schiffbruch stellt an die Protagonistin die Anforderung höchster Aufmerksamkeit, Aktivität und Eigeninitiative. Constantine ist gezwungen, ihre Pläne spontan zu ändern – doch um die unbekannte Situation optimal gestalten und Entscheidungen treffen zu können, ist sie auf aktuelle Informationen vor Ort angewiesen. Für die Organisation und Durchführung der Weiterreise ist die Kommunikation mit den Schiffbrüchigen und den Einheimischen von größter Wichtigkeit. Während sich die männlichen Figuren untereinander über die Verhältnisse auf der Insel austauschen, sondert sich die Hauptfigur jedoch von der Gruppe ab.268 Constantine meidet den Kontakt zu den unbekannten Männern und handelt damit im Sinne geschlechterspezifischer Konventionen und Erwartungen. Eben dieses Verhalten empfehlen weibliche Erziehungsschriften der Zeit: „Zurückhaltung“ bis in die Körpersprache sei demnach oberstes Gebot für die Frau, insbesondere im öffentlichen Verkehr und gilt somit erst recht auf Reisen.269 Besonders junge Frauen sind angehalten, sich gegenüber Männern, ob fremd oder bekannt, „äußerst diszipliniert zu verhalten“, Blickkontakt zu meiden, „generell [kurze] Antworten“ zu geben oder überhaupt nicht zu antworten.270 Bei der unorganisierten Weiterreise im Roman bringt das zurückhaltende Verhalten der Protagonistin aber nur Nachteile. Denn Constantines Absonderung von der Gruppe verursacht, dass sie von der nächsten Schiffsverbindung nur zufällig erfährt, als die anderen schon fast den Hafen verlassen – geschwind rafft sie ihre Sachen und bricht, gemeinsam mit der Kammerfrau in letzter Sekunde auf. Als Alckmar sich auf der Weiterfahrt erkundigt, warum Constantine ihre Reisepläne nicht früher mitteilte, erklärt die Protagonistin die Distanz zur männlichen Gruppe: [D]aß ich aber gleichwohl mich ihr [der männlichen Gesellschaft] entzogen / und in dem Wirthshause die einer ehrlichen Dame zukommende Einsamkeit gesuchet / wollen sie nicht übel nehmen. Die Leute fällen von denen Reisenden nicht allezeit solche Urtheile als sie sollten.271

268 Contantine

nimmt separate Unterkunft, speist allein auf ihrem Zimmer und lehnt jede Einladung der Reisenden ab, Talander: Liebenswürdige Constantine, S. 14. 269 Verhaltensratgeber von Franciscus Philippus Florinus (1630‒1703), zit. nach Anke Hufschmidt: Adlige Frauen im Weserraum zwischen 1570‒1700. Status, Rollen, Lebenspraxis. Münster 2001, S. 90. 270 Ebd., S. 84, 87, 62. 271 Talander: Liebenswürdige Constantine, S. 19.

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

305

Auch im Roman ist die Protagonistin mit geschlechterspezifischen Konventionen konfrontiert, die Constantine internalisiert zu haben scheint. Die Textgestaltung ‚zeigt‘ aber, dass Rücksicht auf bekanntes (gendergenormtes) Verhalten in gewissen Situationen nicht nur keinen Vorteil bringt, sondern geradezu nachteilig sein kann. Die Protagonistin demonstriert, dass unter bestimmten Umständen (als Reisende) von Konventionen abgewichen werden muss, auch wenn dies Gendernormen irritiert. Bohse ergänzt die weibliche Figurenrede Constantines mit einer Bemerkung, die eher einem wertenden, verallgemeinernden Erzählerkommentar gleicht. Constantine erklärt: Die Leute fällen von denen Reisenden nicht allezeit solche Urtheile als sie sollten. Und wo man denn ihren ungleichen Wahn ihnen benehmen kan / ist man durch die Gesetze der Ehre und des Respects dazu verbunden [Hervorh. K.B.].272

Constantine, die sich von der männlichen Gruppe distanzierte, weil sie meint, dies würde von ihr als weiblicher Reisender erwartet ‒ die sich also selbst als ‚anders‘ Reisende als die männlichen Begleiter präsentiert und, um im Vokabular Luhmanns zu sprechen, im eigenen Verhalten einer kollektiven „Erwartungs-Erwartung“ Folge leistet (i.S.  Zurückhaltung der Frau) ‒ bringt jetzt zum Ausdruck, dass dies doch ein „ungleicher Wahn“ der „Leute“ sei, von dem man sich selbst und andere möglichst befreien solle. Derselben Ansicht ist Alckmar. Er versichert der Protagonistin, sie mit dem größten Respekt zu behandeln: „[W]as an mir ist / werde ich so lange mir das Glück sie zu begleiten gönnet / von der ihnen gebührenden Ehrerbietung niemals aussetzen; auch die andern / solche zu gebrauchen / bey vorfallender Hindansetzung derselben erinnern.“273 Nicht nur Alckmar, sondern „jede/r“ sollte der reisenden Frau mit Respekt begegnen. Bohse, der Roman oder besser die Protagonistin im Dialog mit der männlichen Figur schaffen hier gewissermaßen in einem deklarativen Akt sprachlicher Performanz die Bedingung der Möglichkeit für die reisende Frau im Roman, Constantine. Zwischen den Figuren entsteht daraufhin eine freundschaftliche Vertrautheit. Constantine und Alkmar sind „sehr muntheren Gemüths / ein iedes besprach sich mit dem / welcher seiner Conduite ähnlich schien / mit guter Vertraulichkeit.“274 Die Gleichheit der Gemüter, des Verhaltens und der Sitten (galante Conduite) ermöglicht im Rahmen der Reise eine Annäherung über gendergenormte Verhaltens- und Kommunikationsbarrieren hinweg. Obwohl Alckmar und Constantine Fremde sind, 272 Ebd.

273 Ebd.,

S. 19f. S. 20. Der Erzähler spricht im grammatischen Neutrum von „eins und dem anderen“. Der Figurenstatus der Protagonisten scheint rhetorisch-grammatikalisch neutralisiert, im Folgenden wird aber das männliche Relativ- und Personalpronomen benutzt („eins besprach sich mit dem anderen, welcher / seiner Conduite ähnlich schien“). Diskutiert werden kann, ob hier rhetorisch eine Gesprächssituation konstruiert wird, durch die die Protagonistin in den männlich konnotierten Handlungs- und Kommunikationszusammenhang der Reise ‚eingepasst‘ wird.

274 Ebd.,

306

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

entsteht ein freundschaftlich-vertrauter Umgang zwischen Frau und Mann. Alckmar berichtet der Protagonistin von seiner Geliebten Statire, Constantine gibt da­raufhin Details aus ihrem Privat- und Liebesleben preis.275 Schließlich trennen sich die Reisenden, ohne ein gemeinsames Weiterreisen in Betracht zu ziehen.276 Das positive Konzept (autonomen) Reisens der Frau, das zuvor im Gespräch kommunikativ entworfen wurde, bleibt kein leeres Lippenbekenntnis – es bestätigt sich auf der Handlungsebene der Fiktion. Auch die zentrale Hauptfigur in Rosts Roman Atalanta wird bei ihrem Aufbruch in die Welt von männlichen Protagonisten unterstützt und aufgefordert zu reisen. Während Constantines Reise und die konkreten Reiseerlebnisse kontinuierlicher Gegenstand des gesamten Romans sind, gliedert sich Rosts Text in zwei Teile. In der ersten Hälfte des Romans erscheint das Reisemotiv nur in Gestalt der Vorbereitung zu einer Reise, durch die Atalanta in Begleitung ihres Bruders Arsames die Heimat verlässt, um am Hof von Ecbatana ein neues Leben zu beginnen. Der Weg dorthin wird nur in wenigen Sätzen konstatiert, die Vorgänge im Einzelnen bilden eine narrative Leerstelle, die konkrete Reisehandlung wird ausgespart. Die erste Reise motiviert lediglich den Schritt der Protagonistin von der Heimat in die Fremde. Nach einem kurzen Intermezzo am Hof von Ecbatana folgt dann Atalantas Flucht, und die zweite Reise beginnt, die das gesamte letzte Drittel des Romans ausfüllt. Atalanta ist nun überwiegend ohne Begleitung und in der männlichen Rolle als „Atlanter“ unterwegs. Die Option zu reisen, wird Atalanta von ihrem Bruder Arsames vorgeschlagen. Auslöser dafür ist eine ähnlich existentielle Situation wie der Schiffbruch in Bohses Constantine: Mit dem Tod beider Elternteile setzt die Erzählung um Atalanta ein. Mutter und Vater versterben kurz nacheinander an schwerer Krankheit.277 Durch dieses Ereignis motiviert Rost den gesamten Konfliktaufbau. Mit dem Tod der Eltern scheint gleichsam das wankelmütige, unbeständige Glück (Fortuna) über den Geschwistern zu stehen: „Sollen wir denn vollkommen unglückseelig heissen? Ach Himmel! Was für strenge Schlüße / machest du gegen Verlassene“, klagt Atalanta.278 Zum Bett der sterbenden Mutter tretend, verzagt sie mit zitternder „bewegliche Stimme“: „Ist es denn wohl möglich / hertzlich geliebteste Mutter / daß sie uns betrübte Kinder verlassen können? Ist es nicht genug / daß uns der Herr Vater / bereits durch den Tod entzogen worden?“279 Der Bruder versucht zu trösten,280 die 275 Talander:

Liebenswürdige Constantine, S. 20‒48. S. 51. 277 Meletaon: Atalanta [Ausgabe 1717], S. 4f. 278 Ebd., S. 5. 279 Ebd., S. 4. 280 „Arsames / ihr Herr Bruder / kam ihr [Atalanta] nicht von der Seite; und ob er schon durch diesen gedoppelten Todesfall / nicht wenig betrübt schiene / so richtete er sich doch selbst dadurch wieder auf / weil er wuste / daß die Verstorbene / nicht wieder zurücke zu holen. Welches er auch seiner Fräulein Schwester / mit so nachdrücklichen Worten / fürstellete / daß sie sich in wenigen 276 Ebd.,

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

307

kranke Mutter besänftigt: „Es muss nur einmal gestorben seyn.“281 Atalanta indes scheint vor Schmerz „gar [zu] verzweifeln; ja sie hätte sich gewiß entleibet“.282 Obwohl die emotionale Ausdruckskraft der Rede begrenzt ist, kommt doch in Rede und Figurenverhalten eine starke emotionale Bindung zwischen Atalanta, den Eltern und dem Bruder zum Ausdruck. Dies scheint auch eine Quelle der Kraft zu sein. Denn obwohl die Mutter im Sterben erklärt: „Gebet Euch zu frieden Fräulein Tochter. Wir Menschen / sind viel zu ohnmächtig / der Natur und dem Schicksal Gesetze fürzuschreiben“,283 zeigt die Romanhandlung, dass die Protagonistin nicht gewillt ist, sich dem Schicksal passiv zu unterwerfen. Von der Mutter erfährt Atalanta, dass die Welt „falsch“ sei,284 doch gerade deswegen obliege die Sorge um das Wohl und die sittliche Integrität der Verantwortung des Einzelnen. Noch im Sterben erteilt die Mutter den Rat, wer der Tugend in seinem Gemüt folge, könne auch der Welt und ihren Anfällen „trotzen“: „[V]erzaget nicht. Gründet euch auf die Tugend und lasset diese niemals aus euern Gemüth kommen / so könnet ihr der Welt und allen ihren Anfällen trutzen und euch einen unsterblichen Nahmen zu wegen bringen.“285 Einen genaueren Begriff der Tugend liefern der Text jedoch nicht und so bleibt die Protagonistin lediglich mit dem Hinweis zurück, im Vertrauen auf die persönliche Erkenntnis-, Entscheidungs- und Widerstandsfähigkeit müsse dem Leben zu begegnen sein. In schwierigen Situationen erinnert sich Atalanta des Rats der Mutter: „Wolan dann Atalanta / es ist dir ja schon zum Voraus gesagt / wie dich das Glück anfeinden wird / erwirb dir demnach den Ruhm / daß deine Schwachheit mächtig gewesen / denen grausamsten Verfolgungen zu trutzen.“286 In der Tat sehen sich die Geschwister unmittelbar nach dem Tod der Eltern vor Entscheidungen gestellt, die nicht das Schicksal für sie trifft. In der Heimat, am Hof von Artarata, werden sie Opfer von Intrigen, die es ratsam erscheinen lassen, den Hof zu verlassen.287 Gemeinsam beraten Bruder und Schwester, wie beider zukünftiger Lebensweg aussehen soll, sie „discutirten von dieser Sache noch eine ziemliche Weile / und zwar biß in die späte Nacht.“288 Nach eingehender Überlegung fällt Atalanta die Entscheidung, sie wolle: „der Königin selbsten ihre Dienste aufsagen / und gar nicht mehr an den Hof kommen.“289 Der Bruder bestätigt: „Ihr redet nicht

Tagen ziemlich änderte / und ihren Gram und Kummer um ein merckliches ablegete“ (ebd., S. 7). 281 Ebd., S. 5. 282 Ebd., S. 7. 283 Ebd., S. 5. 284 Mutter: „das Herze blutet mir / daß ich Euch dem unbeständigen Glück und der falschen Welt hinterlassen soll“ (ebd., S. 6). 285 Ebd., S. 6, Hervorh. K.B. 286 Ebd., S. 179, Hervorh. K.B. 287 Ebd., S. 8f. 288 Ebd., S. 8. 289 Ebd., S. 14‒16, auch im Folgenden.

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unrecht Fräulein Schwester / man muß ja nicht an dem Hof von Artarata seyn. Wird Armenien so hochmütig / so kan uns der Persianische Kayser noch wol einen Platz in Ecbatana geben.“ Er verspricht, „für ihm und sein Fräulein Schwester eine gute charge zu verschaffen“, was allerdings misslingt. Nur für sich, nicht aber für Atalanta gibt es am fremden Hof eine Anstellung. In der Zwischenzeit löst sich die Intrige zugunsten der Geschwister, die nun vollständig rehabilitiert sind. Die Reise ist an sich überflüssig geworden. Zögerlich kommt Atalanta auf die Reisepläne zurück: „Auf diese Weise / fragte Atalanta / wird aus der Persianischen Reise nichts / weil unsere Glücks=Sonne in Armenien bereits wieder anhebt aufzugehen?“290 Eine klare Forderung stellt sie damit nicht. Doch der Bruder ermuntert Atalanta: „Dafür last euch nicht leid seyn / sagte Arsames / es soll euch in Ecbatana die Zeit nicht zu lang werden. Wer weiß / was euch von dem Himmel / daselbst aufbehalten.“291 Durch den Bruder als männlichen ‚Vormund‘ ist die Mobilität der Schwester ohne Weiteres legitimiert. Doch bricht Atalanta nicht sofort auf. Arsames bestärkt sie zwar, drängt aber nicht darauf, die Heimat zu verlassen. Während der Vorbereitungszeit der Reise orientiert sich Atalanta eher passiv am Bruder und lässt ihn entscheiden. Bevor ein gemeinsamer Entschluss gefasst ist, beginnt Arsames bereits mit den Reisevorbereitungen, in die Atalanta nicht involviert ist.292 Insgesamt verhält sich die Protagonistin zurückhaltend – es mangelt ihr zwar nicht an Selbstbewusstsein, eigene Forderungen bezüglich einer Charge einzubringen, doch überlässt sie die Umsetzung dem Bruder. Unabhängig von Arsames aufzubrechen, wie dies Constantine tut, ist für Atalanta keine Option. Die Vorbereitungszeit zur Reise zeigt eine Protagonistin, die sich selbst keineswegs als ‚reisende Frau‘ versteht. Atalanta schließt für sich in dieser ersten Phase der Erzählung die Möglichkeit territorialer Grenzüberschreitungen zwar nicht aus, bemüht sich aber nicht, diese Idee zielstrebig umzusetzen. Treibender Impuls ist der Bruder, der Atalanta unter­stützt, neue Handlungs- und Erfahrungsräume zu erschließen. Von der Selbstbestimmtheit eines „Atlanter“, wie sich die Protagonistin auf ihrer zweiten Reise nennt, ist Atalanta zu Beginn der ersten Reise weit entfernt. Erst nach einer Zeit der Überlegung verabschieden sich die Geschwister standesgemäß von der Königin, veranstalten ein Abschiedsfest und brechen auf.293 Mit Constantine und Atalanta treten im weiblichkeitszentrierten Roman um 1700 sehr unterschiedliche Frauenfiguren auf. Das Reisemotiv, das in der Tradition des Abenteuerromans meist in Verbindung mit männlichen Figuren in Erscheinung tritt, wird hier auf die galante Protagonistin übertragen. Während Constantine scheinbar selbstverständlich Ortswechsel und Mobilität der ziel- und richtungslosen Reise in Anspruch nimmt, zögert Atalanta. Das preziöse Modell der ‚exzeptionellen 290 Ebd.,

S. 27. S. 29. 292 Ebd., S. 16. 293 Ebd., S. 28, 30–36. 291 Ebd.,

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

309

Frau‘, wie man Bohses Figurenkonzeption der Constantine beschreiben könnte,294 legt die Verquickung von Reise-/Abenteuermotiv und weiblichem Figurenpersonal zwar durch das Heliodorschema nahe, doch lässt sich die Außergewöhnlichkeit der Figur auch durch ein ungewöhnliches Setting bzw. Handeln demonstriert. Rost (re-) integriert Reisemotiv und weibliche Figur stärker in den Einflussbereich des männlichen Protagonisten. Die Konzeption der Atalanta gewinnt dadurch ‚realistischere‘ Facetten oder anders: sie wird ‚wahrscheinlicher‘. Die poetologische Forderung nach Wahrscheinlichkeit scheint hier von Rost mit Blick auf die weibliche Figurenkonzeption beachtet worden zu sein, ohne jedoch auf das Reisemotiv zu verzichten. Im Resultat entsteht daraus das Narrativ einer reisenden Frau, die zwar Bedenken hat, die Heimat zu verlassen und sich überreden lässt – am Ende aber aufbricht. 4.2.2 Motivationen weiblichen Reisens: Leid, Abenteuerlust, Flucht vor der Ehe Wichtiger als die Frage, ob die Protagonistin mit oder ohne (männliche) Begleitung reist, sind die Wünsche und Zielsetzungen, die sich für die Figuren mit dem Aufbruch in die Fremde verbinden. Welche Motivationen veranlassen die Frauenfiguren, die Gefahren des Reisens auf sich zu nehmen, Räume zu durchqueren, territoriale Grenzen und soziale Sphären zu durchkreuzen? Wie eignen sie sich Räume an, in welcher Weise beeinflusst das Reisen die Modulation innerer und äußere Räume? Beide Figurenkonzeptionen lassen Reisemotivationen erkennen, die wenig gemein haben mit religiösen, ökonomischen oder heiratspragmatischen Gründen, die das Reisen von Frauen sozialhistorisch prägen. Sowohl Constantine als auch Atalanta sind adliger Herkunft und verfügen über ausreichend finanzielle Ressourcen ‒ ökonomische Notlagen, die etwa dazu zwingen würden, ein neues Lebensumfeld zu suchen, spielen für den Aufbruch keine Rolle. Nachdem sich die Intrige um Atalanta und Arsames zu Gunsten beider gelöst hat, besteht an sich auch keine Notwendigkeit mehr, die Heimat zu verlassen. Trotzdem bricht Atalanta auf. Der Text bringt für diese Entscheidung drei Gründe ins Spiel. Die Protagonistin formuliert sie auf dem Abschlussfest, als sie spürt, dass Sestor, ein Freund des Bruders, ihr kurz vor der Abreise seine Liebe gestehen möchte, um eine „Vermählung“ anzubahnen.295 Atalanta erklärt dem Verehrer die Notwendigkeit des Aufbruchs:

294 Kap.

3.4.2.2 Die Protagonistin als Medium der Sitten- und Gesellschaftskritik. hatte „schon längstens der Atalanta […] Gegengunst“ gesucht, die ihn jedoch „immer mit höflichen Worten abgewiesen“ hatte, Meletaon: Atalanta, S. 10. Die Einwilligung in eine Ehe ungefragt voraussetzend, „sahe [er] / daß die abgezielte Vermählung / mit dem Fräulein Atalanta durch diese Reise zernichtet würde: und daß er sich künftig alle Hoffnung zu dero Besuchung müste vergehen lassen“ (ebd., S. 32).

295 Sestor

310

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Das neidische Glück / will mir in Artarata keine längere Ruhe erlauben: drum werdet ihr mir ja gönnen / daß ich meine Zeit / so vielen Verdrüßlichkeiten nicht aufopfere: sondern vielmehr meine Unschuld / an ein sicheres Ort flüchte / da ich ohne Bekümmernus leben kan. Schicket euch in diese Entfernung / und seyd damit zufrieden / daß ich euch hoch achte. Der Himmel wird zu eurer Befriedigung / schon ein Mittel aussehen / durch welches ihr Atalanten vergessen könnet.296

Drei Argumente führt die Protagonistin ins Feld: Zum einen erlaube es ihr das „neidische Glück“ (Fortuna) nicht, weiterhin Ruhe in der Heimat zu finden, womit Atalanta auf die jüngsten Vorkommnisse verweist (Tod der Eltern, Missgunst am Hof). Atalanta treibt einerseits das Verlangen, private Unglückserfahrungen hinter sich zu lassen, sie will vergönnter Maßen „ohne Bekümmernis“ leben können297 und macht somit als Frau einen persönlichen Anspruch auf Glückserfüllung geltend. Darüber hinaus habe sie vom Boten, der die Einladung aus Ecbatana zustellte, erfahren „wie es an dem Persianischen Hofe so lustig zugieng / daß man das Armenianische Artarata / mit Ecbatana / nicht einmal vergleichen dürfte.“298 Wenn die Protagonistin von ihrem Verehrer verlangt: „ihr [werdet] mir ja gönnen / daß ich meine Zeit / so vielen Verdrüßlichkeiten nicht aufopfere“, so lässt sie sich auch von Neugierde und Abenteuerlust treiben, denn was ihr die Fremde bieten mag, könnte „lustig“ sein und weit entfernt von den „Verdrießlichkeiten“, denen sie sich in Artarata ausgesetzt sieht.299 Diese Gründe für eine weite Reise ohne Sicherheit einer Anstellung am fremden Hof vermengen sich zudem mit einem erotischen Motiv. Atalanta möchte ihre „Unschuld“ an einen „sicheren Ort“ retten. Mit diesen Worten verhindert Atalanta die Liebeserklärung Sestors, bevor dieser sie formulieren kann. Ohne den Verehrer direkt zu kompromittieren, erklärt die Protagonistin Sestors Gefühle zum Angriff auf ihre Unschuld, so dass es geboten erscheint, Artarata unverzüglich zu verlassen. Rigoros unterbindet Atalanta jede weitere Diskussion und „ließ den Grafen in gröster Bestürtzung von sich gehen.“300 Die Reise bietet Atalanta folglich auch die Möglichkeit, einer zukünftigen Vermählung zu entgehen, um eine Einschränkung ihrer „Freiheit“ in der Ehe zu verhindern. Den Wunsch zur Bindungslosigkeit, der gleichsam den Anspruch auf emotionale Selbstbestimmung erkennen lässt, formuliert Atalanta offen im Gespräch mit dem Bruder. Als dieser die Möglichkeit einer „glücklichen Vermählung“ in Ecbatana zu bedenken gibt, womit das Problem der ausstehenden Charge gelöst wäre, bringt die Protagonistin ihr Desinteresse an der Ehe deutlich zum Ausdruck: „Atalanta lachete und ließ sich verlauten: Darzu werde ich mich wol so bald nicht entschliessen / weilen ich gesonnen / meyne Freyheit mit in das Grab zu nehmen.“301 Arsames drängt die Schwester nicht, die Möglichkeit

296 Ebd.,

S. 34.

298 Ebd., 299 Ebd.,

S. 27. S. 34.

301 Ebd.,

S. 29, auch im Folgenden.

297 Ebd.

300 Ebd.

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

311

einer Vermählung ernsthaft in Betracht zu ziehen. Er spekuliert lediglich, „daß Ecbatana zur Veränderung dieses Fürsatzes fähig ist“, woraufhin sich die Geschwister „noch eine Weile“ über diesen „Scherz“ amüsieren. Da sie jedoch „von wichtigern Sachen zu reden“ haben,302 nämlich der geplanten Reise, wird das Thema fallengelassen. Auch Constantine bewegen ähnliche Gründe, mehrere Jahre und ohne bestimmtes Ziel in der Welt umherzureisen. Während sich Atalanta einer möglichen Ehe im Allgemeinen entzieht, flüchtet Constantine vor der schmerzhaften Erinnerung an eine überwundene sowie an eine nicht zustande gekommene Ehe: „[N]och fast ein Kind“ und „mehr aus Gehorsam als aus Liebe“ wurde sie verheiratet, verlor bereits nach wenigen Jahren den Gatten und liebte schließlich „aus ihrer freywilligen Neigung“ den „Cimbrischen Grafen“ Normann.303 Dieser verstarb kurze Zeit später im Krieg – so glaubt die Protagonistin zumindest, bis sie auf der Reise das Gegenteil erfährt und dem Liebhaber persönlich begegnet, der lebt und inzwischen anderweitig verheiratet ist.304 Bevor Constantine ihre Täuschung erkennt, sieht sie im Verlust des Liebhabers das „gröste Unglück“,305 so dass sie in eine depressive Stimmung gerät, aus der sie sich nicht anders zu retten weiß als durch eine Reise. Spontan und ohne um Erlaubnis zu bitten, bricht die Protagonistin für unbekannte Zeit auf. Sie verabschiedet sich lediglich von ihrer Schwester und lässt selbst die Kammerfrau Dorinde im Unklaren über die Dauer der Reise: Man wiese sie [Constantine] gegentheils auff unterschiedliches / ihr Gemüth zu befrieden: allein da schluge wenig an: Sie war zu eigensinnig dazu / etwas anders / als ihren Schmerzen nachzusinnen: biß daß ihr endlich der Ort / da ihr Liebes=Schicksal ihr so wiedrig gelauffen / so gar verdrießlich wurde / daß sie ohne von iemand / als ihrer Schwester […] Abschied zu nehmen / davon sich weg begab / und keines / als die eintzige Dorinde mit sich nahm; ohngedachtes Fräulein aber versicherte / daß sie nur ihres Unmuths sich zu entschlagen ein wenig verreisen wollte / und würde sie / so bald sich das Gemüth ausgeheitert / und die ihr begegneten Zufälle in etwas vergessen / schon ihre Rück=Kehr zu nehmen […] wissen.306

Ähnlich wie Atalanta erfährt auch Constantine private Unglückserfahrungen als besonders einschneidend und versucht den Ereignissen zu begegnen, indem sie ihr vertrautes Umfeld verlässt. Wohin die Reise gehen soll, wisse sie „selbst nicht recht“.307 Während sich die Motivation zu reisen bei Constantine auf eine einzelne schmerzhafte Erfahrung beschränkt  –  Normanns vermeintlicher Tod, der sie veranlasst, künftig gänzlich der Liebe zu entsagen (zu Alckmar: „Nein / mein Herr / gab Constantine hierauff / sie ist von solchem Gemüth / daß sie nicht wiederum auff

302 Ebd.,

S. 30. Liebenswürdige Constantine, S. 12. 304 Ebd., S. 11, 425, 431, 561–572. 305 Ebd., S. 12. 306 Ebd., S. 12f. 307 Ebd., S. 16. 303 Talander:

312

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einen neuen Liebsten dencken wird / nachdem ihr die letzte Vertrauligkeit […] / so gar übel bekommen ist“), ‒308 ergänzen sich bei Atalanta verschiedene positive wie negative Gründe. Der Tod der Eltern, die Distanzierung vom intriganten Umfeld und die Flucht vor der Ehe stehen neben Abenteuerlust und Neugierde, dem Wunsch nach „Vergnügungen“. Das Verlangen, private Leiderfahrungen durch das Reisen zu überwinden und dadurch einen An­spruch auf ‚persönliches Glück‘ durchzusetzen, motiviert beide Protagonistinnen. Die Ambivalenz der Figuren- und Konfliktgestaltung verschärft sich in gewisser Weise durch die formalästhetische Anlage des Romans. Denn die eben genannten Motivationen werden nicht zu einer Figurenpsychologie entwickelt im Sinne einer komplexen Darstellung und Explikation der inneren Seelenlage der Protagonistin. Weiterführende Erzählerkommentare zur Einordnung und Bewertung des Verhaltens fehlen; Selbst- und Fremdaussagen der Figuren fokussieren ausschließlich auf den äußeren Handlungsverlauf. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht wird deutlich: Eine Erzählliteratur, deren Konfliktgestaltung sich primär auf der Handlungsebene entfaltet, bietet nur die Möglichkeit, die Erzählung weiterzuführen und Reaktionen auf den Konflikt zu thematisieren, indem die Figuren handeln und nicht etwa am Ort des Geschehens über ihre Gefühle, Ängste, Kümmernisse reflektieren. In den vorliegenden Texten bedeutet dies, dass sich die Hauptfigur  –  in beiden Fällen: eine weibliche Figur ‒ der Konfliktsituation entzieht; sie reist in die Fremde. Für das Weiblichkeitsnarrativ impliziert dies: Frauen werden als aktiv Handelnde dargestellt, die mit ihrem Handeln persönliche Interessen verfolgen (können). Die textuelle und paratextuelle Gesamtkonzeption des Romans weist dieses Handeln der Hauptfigur als positives Narrativ aus. Von Interesse ist daher, wie sich das Handeln der Protagonistin im weiteren Konfliktverlauf und in der Interaktion mit den Figuren der Romanwelt gestaltet. 4.2.3 Die Liebe auf Reisen: Modifikation preziöser Liebes- und Geschlechtermodelle im galanten Roman (II) Die Kommunikation und Interaktion der Geschlechter spielt im galanten Roman eine zentrale Rolle. Bereits aufgrund der Anlage des Plots samt Reise- und Abenteuermotiv (Unglück/Katastrophe + Abkehr/Flucht) erweitern sich die Kontaktmöglichkeiten der weiblichen Hauptfigur über die Grenzen eines engeren familiären oder häuslichen Umfeldes hinaus. Die Interaktion beschränkt sich nicht auf wenige männliche Figuren und den Umgang mit familiären Rollen von Männlichkeit (Vater, Vetter, Bruder), sondern durch die Reise ‚in die Welt‘ kommt die Protagonistin mit einer Vielzahl an Männlichkeitsentwürfen in Kontakt. Beide Romane vermitteln ein komplexes und kompliziertes Geflecht galanter Liebes- und Geschlechterkon-

308 Ebd.,

S. 49.

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

313

stellationen, in denen feine Grenzen zwischen positiven und negativen Kontakten unterscheiden, ebenso wie subtile Nuancen zwischen Liebe, Ehe und Freundschaft differenzieren. Erneut lassen sich Rezeptionseinflüsse der preziösen Tradition im galanten Roman bemerken (Kapitel 4.1.4). Bevor diskutiert wird, wie die Konzepte Freundschaft, Liebe und Ehe in Bohses Constantine strukturiert und variiert werden (bzw. welche Modifikationen zur preziösen Tradition bestehen), interessieren inhaltliche und formalästhetische Aspekte, die der galante Roman von der preziösen Romantradition adaptiert. 4.2.3.1 Ehefeindlichkeit und Liebesmisstrauen Eine inhaltliche Nähe zum preziösen Liebes- und Geschlechtermodell zeigt sich im galanten Roman insbesondere in der Artikulation einer weiblichen Skepsis gegenüber der Ehe und damit verbundenen Geschlechterstrukturen. Das preziöse Modell instrumentalisiert den Primat des erotischen Triebverzichts und der sexuellen Mäßigung, um kulturelle, zum Teil machtpolitische Herrschaftsansprüche der Frau geltend zu machen und das Verhältnis der Geschlechter nach weiblichen Vorgaben zu gestalten.309 Verbunden damit ist eine starke Zurückhaltung und Kritik an der Ehe. Büff zufolge ist die Ehe für die Preziösen eine heikle Institution, mit der die zentrale Machtposition der Frau als ‚Herrscherin‘ (maîtresse) entscheidend gefährdet ist.310 Scudéry trennt streng zwischen „époux“ und „amant“ und nimmt an, dass das Liebesverhältnis in der Ehe fast zwangsläufig in Gleichgültigkeit (indifférence), Lauheit (tiédeur), wenn nicht gar Verachtung (mépris) umschlagen müsse.311 Auch in der fiktionalen Überformung im preziösen Roman wird die Ehe abgelehnt und die Phase der männlichen Liebeswerbung ufert aus; sie wird zum zentralen (Rahmen-) Thema der Erzählung. In Anlehnung an das antike Heliodor-Schema gibt es ein oder mehrere vorbildliche Paare, deren Liebe durch äußere Konflikte verhindert wird, so dass der Liebhaber im Kampf gegen Widrigkeiten seine Treue und Tugendhaftigkeit beweist, bis das Paar am Ende zusammengeführt wird. Mit der Trauung allerdings bricht das Interesse am Verhältnis der Geschlechter ab. Obwohl Scudérys Romane mit der Hochzeit enden und somit die gesamte Konfliktgestaltung inhärent auf die Ehe fokussiert bleibt, bildet das Thema der mariage kein preziöses Romansujet im engeren Sinne.312 Die Ehe bildet den Fluchtpunkt der Romanhandlung und zugleich

309 Kap.

4.1.4 Modifikation preziöser Liebes- und Geschlechtermodelle im galanten Roman (I). preziösen Ehe und Ehekritik, Büff: Ruelle und Realität, S. 220‒222, 235, 237f., 272–287. Wesentliche Argumente gegen die Ehe sind die Aufgabe der „Freiheit“ (i.S. eines Rechts auf ‚Selbstbestimmung‘), Einengung durch Repräsentations- oder Haushaltspflichten, Gefahren der Schwangerschaft, unliebsame Eigenschaften des Ehemanns und der Kinder, Aufgabe der Position der Frau als Gunstobjekt des Mannes (preziöses Ritual). 311 Ebd., S. 220. 312 Ebd., S. 210, 277. 310 Zur

314

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deren Endpunkt, da der Roman dann abbricht (Schlussgestaltung).313 Die Ehe selbst, das Verhältnis der Geschlechter in der Ehe und die Rolle der Frau als Ehefrau bilden im preziösen Roman eine Leerstelle. In der Figurenkonzeption Constantines und Atalantas lässt sich ebenfalls eine große Skepsis gegenüber der Ehe und eheähnlichen Verbindungen bemerken. Liebe und Ehe sind für beide Protagonistinnen keineswegs gleichbedeutend. Ebenso wie sich Ehen nicht notwendig auf Liebe gründen, lässt sich die galante Liebe nicht auf die Ehe beschränken und ist grundsätzlich auch als Bestandteil freundschaftlicher Beziehungen anzusehen.314 Obwohl beide Protagonistinnen auf der Reise die Bekanntschaft eines Mannes machen, zu dem sich ein exklusives Verhältnis entwickelt ‒ aus der Menge anderer Bekanntschaften sticht diese Beziehung heraus und wird zum Inbegriff einer positiven Konzeption galanter Liebe; bei Constantine ist dies der Kavalier Wandeim, bei Atalanta der Fürst Pallamedes –, mündet die zentrale Paarbeziehung weder unmittelbar noch absehbar und auch nicht notwendig in einer Ehe. Atalanta bleibt Zeit ihres Lebens ledig, während sich Constantine erst nach etlichen Jahren und fast überraschend am Ende des Romans dazu entschließt, Wandeim zu heiraten. Besonders in der Figurenkonzeption Constantines bekundet sich ein tiefes Misstrauen gegen­über der Ehe, woraus ein extremes Bild weiblicher Bindungslosigkeit erwächst, das zwar keineswegs in Misandrie mündet, aber durch eine deutliche Skepsis gegenüber allem geprägt ist, das zur Einschränkung der „Freiheit“ führen könnte: „was mich [Constantine] anbelanget / so bin ich entschlossen / meine Freyheit gantz und gar nicht zu vertauschen / und wenn der Käuffer noch so qualificieret wäre / als er immer seyn könnte“.315 Insbesondere das Andenken an Normann bzw. dessen schmerzhafter Verlust wird zur beinahe zwanghaften Legitimation, nicht nur der Ehe, sondern der Liebe generell zu entsagen; das Andenken an den ‚Toten‘ motiviert Constantines rigides Verhalten. Im Gespräch mit Aspermont, einem Kavalier, dem Constantine auf der Reise begegnet und mit ihm die Themen Liebe, Ehe und Freundschaft bespricht, bringt sie diese Einstellung zum Ausdruck: Und ob auch die meisten anders gesinnet / so wird darum der Welt kein Schade und dem Liebes=Triebe kein Unrecht geschehen / wann etliche Wenige / die zumahl schon einmahl verehliget gewesen / sich hernach entschliessen / ihr Leben vollends in Freyheit zuzubringen und die Liebe andern zur Übung zu überlassen […].316

313 Ebd.,

S. 210–212, 218f. Die Romanhandlung in Scudérys Clélie erstreckt sich auf die Zeit vor der Eheschließung von Clélie und Aronce. Die Romane Scudérys enden zwar mit der glücklichen Zusammenführung des Paares, widmen dem Verhältnis in der Ehe aber keine Beachtung (ebd., S. 212); zur Romanhandlung Clélie Anm. 334 in Kap. 4.2.3.2 Scudérys ‚Carte de Tendre‘. 314 Kap. 4.2.3.3 Galante Affektentwicklung: Freundschaft oder Erotik, Liebe oder Liebeskrieg? 315 Talander: Liebenswürdige Constantine, S. 83. 316 Ebd., S. 288.

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

315

Der Enschluss „vollends in Freyheit“ zu bleiben, ist durchaus als wohl reflektierte Entscheidung der Protagonistin zu werten ‒ so fasst der Erzähler ein Gespräch Constantines mit Amalie, einer „Hauptmännin“ in Tilipolis, zusammen: „Ihr [Constantines] Vorsatz [ehelos zu bleiben] käme aus einem guten Bedacht / und habe sie alles gnugsam überleget / ehe sie zu selbigen geschritten: Es schien auch / da das Glück sie gleichsam zweymahl zur Wittwe gemacht / daß es selbst ihr Befehl gebe / an kein weiteres Heyrathen zu gedencken.“317 Über die direkte Rede im Kontakt mit weiblichen wie männlichen Figuren (explizit gegenüber Wandeim),318 gelegentlich auch aufgelockert und exponiert in Gedichtform,319 vor allem aber über das Figurenverhalten präsentiert sich diese Einstellung der Protagonistin ‒ wo die Ehe zur Handlungsoption für Constantine werden könnte, entscheidet sich die Protagonistin dagegen. Als perfektes Pendant zu Constantine erscheint Wandeim, über dessen Figurenrede Ehelosigkeit und Liebesmisstrauens besonders drastisch ausgedrückt werden  –  weibliche und männliche Figurenkonzeption korrespondieren miteinander. Auf der Reise macht Constantine die Bekanntschaft der Damen Amalie und Euride, wodurch der Kontakt zu Wandeim zustande kommt.320 Bevor das Paar sich überhaupt begegnet, erfährt Constantine schon von Wandeims Kaltsinnigkeit gegenüber der Ehe. Ohne ihn zu kennen, fällt er der Protagonistin wegen seiner Ehefeindlichkeit (!) positiv auf: „Ich halte schon viel auff diesen Cavallier, ehe ich ihn einmahl kenne / weil ich höre / daß er kaltsinig in dem Entschluß zu heyrathen sey“.321 Im Gespräch der Frauen, d.h. in einer weiblichen Kommunikationssituation, die der auktoriale Erzähler wiedergibt, kommt Wandeim in der Erinnerung Eurides in direkter Rede zu Wort. Wandeims Misstrauen gegenüber Liebe und Ehe könnte rigoroser nicht sein: [auktoriale Wiedergabe von Eurides Bericht:] Zog man ihm [Wandeim] auff wegen einer Heyrath / so war diß seine Antwort: Ich verkaufe meine Freyheit um kein Geld / so darff ich nicht

317 Ebd.,

S. 153. gegenüber Wandeim: „Ha! ist das Empfangen der Liebe Lohn? Ich habe ja empfangen / daß ich vor meine part zufrieden seyn kan; Denn nun kan ich frey sagen: Ich habe überwunden / und soll nichts mehr capabel seyn / weder Scherz noch Ernst / mich einzunehmen“ (ebd., S. 261). Die Abwehr ist allerdings nicht immer frei von Zweifeln. Dem Werben Aspermonts begegnet Constantine durchaus zwiespältig, so der Erzähler: „Sie kame schon in Zweifel / ob sie eben gehalten wäre / auf ihrem so unvergnügten Vorsatze / nicht wieder zu heyrathen / unverändert zu verharren / und es fehlete nicht viel / Aspermonts liebreitzende Verpflichtungen hätten solchen gantz und gar umgekehrt / zumahl da ihr Wandeim vorher durch seine Liebkosungen schon wieder einen ziemlichen Appetit zum heyraten gemacht“ (ebd., S. 290). 319 Constantine dichtend in einem Brief an Wandeim: „Lieben fahre nur dahin / Ich bezähme meinen Sinn; Deiner will ich nicht mehr pflegen / Weil ich nicht die deine bin / Lieben fahre nur dahin“ (ebd., S. 265). 320 Die Damen sind selbst keine Reisenden, Constantine trifft sie während eines Aufenthalts in Tilipolis (ebd., S. 152–167). 321 Ebd., S. 159. 318 Constantine

316

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

gedencken / daß ich in allen einer eigensinnigen Frau zu Gebote stehen muß. Mancher kehrete gerne wieder um / und trät zurücke in seinen ledigen Stand / wenn es nur angienge / und man sie [die Frau/en] wie die Calender wieder wegschmeissen könte / aber so muß man das Joch behalten / und sich mit Gedult schmieren / in Erwegung dessen mir schon vorlängst ein grosser Eckel erwachsen / im Ehestand zu leben.322

Die Damen schrickt solch eine Misogynie nicht, im Gegenteil: Constantine zeigt sich äußerst angetan. Amalie lässt bitten, diesen Kavalier doch zu einer Visite einzuladen und Euride pflegt seit Jahren einen vertraulichen Umgang mit diesem Mann.323 Eine negative Konnotation der Ehelosigkeit wird durch die Rahmung im weiblichen Kommunikationskontext von vorn­herein entschärft – der männliche Protagonist formuliert vielmehr eine Einstellung, die die weiblichen Figuren teilen.324 Die Abkehr von jeglichem Glauben an eine ‚glückliche Liebe‘ ist zentrales Element der weiblichen wie männlichen Figurenkonzeption und des folgenden Konfliktaufbaus. Liebesmisstrauen und Ehefeindlichkeit, die Abwehr der Liebe, bilden den erzählerischen Ausgangspunkt, auf dessen Grundlage ein positives Konzept galanter Liebe entwickelt wird. Bohse adaptiert von der preziösen Romantradition nicht nur inhaltlich-motivische Elemente, sondern übernimmt auch formalästhetische Prinzipien. Eine typische Darstellungsweise und Argumentationsstrategie in preziösen Romandialogen und Salonkonversationen (Conversation à la française) ist die Argumentation ex negativo. Bohse überträgt dieses Formprinzip auf die Gesamtkonzeption des galanten Romans (Kapitel 3.3.2.3 und 3.4.1.1) und auf umfassende Handlungszusammenhänge im Roman, d.h. auf die erzählte Geschichte. Ähnlich wie im preziösen Dialog Einzelargumente oder Ansichten ex negativo eingeführt werden, um im Umkehrschluss die Rede in eine positive Argumentation zu überführen,325 nutzt Bohse dieses Darstellungsprinzip im galanten Roman, so dass es in alle Ebenen des narrativen Textes eindringt und diese beeinflusst (Figurenkonzeption, Handlungsstrukturierung, Wirkungsprinzip des Romans usw.). Im vorliegenden Falle entwickelt sich das positive Konzept galanter Liebe aus der Absage beider Figuren, Constantine und Wandeim, gegen die Liebe und aus der vehementen Verteidigung der persönlichen Unabhängigkeit und Bindungslosigkeit. Die Hoffnung einer „wohlgeratenen Ehe“ erscheint im Ausschlussverfahren: Es gebe solche Ehen, so Wandeim in Parenthese,

322 Ebd.,

S. 155f. S. 159. 324 Dies zeigt auch das nonverbale Verhalten: „Euride, (so hieß Amaliens Verwandtin) lächelte / und gab zur Antwort: Sie kennen ja von vormahls her Wandeims Eigensinn und Eckel [vor der Ehe]“ (ebd., Hervorh. K.B.). 325 Formprinzip ex negativo als typisches Element der Conversation à la française: „Dieses Einkreisen eines Themas ex negativo ist überhaupt ein Hauptprinzip der Konversationen bei Madeleine de Scudéry“, Gelzer: Konversation und Geselligkeit, S.  487, Anm. 38. „Soll es etwa darum gehen, richtiges Benehmen zu definieren, wird zunächst aufgezählt, was alles gerade nicht zu einem feinen Auftritt gehört“ (ebd., S. 477). 323 Ebd.,

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

317

„fürwahr sehr wenig“ und sie scheinen mehr ein Produkt der Imagination, der fiktionalen Welt des Theaters, des Romans bzw. des „Welt-Theatro“ zu sein: Ich will nicht hoffen / daß ich zu weit gehe / wann ich ohne Beleidigung der Warheit sage / daß dieses ja recht elende Menschen seynd / die sich ihrer Freyheit selber entziehen / und andern zu eigen geben / denn durch eine unglückliche Heyrath (von wohlgerathenen Ehen / welche ich in meinem Gedancken biß in den Himmel erhebe / derer sich aber wie bekant / auff dem heurigen grossen Welt=Theatro fürwahr sehr wenig repräsentieren / sage ich nicht[s]) erkaufft man sich eine stetswehrende Reue […].326

Das Darstellungsprinzip ex negativo lässt sich auf allen Ebenen der Textgestaltung beobachten, so auch in der Beziehung von Constantine und Wandeim. Nachdem die Protagonisten Bekanntschaft geschlossen und Gefallen aneinander gefunden haben – der Erzähler verrät: „Es findet sich bey denen Leuten / welche von dem Himmel einander bescheret sind / eine gantz verborgene und unvermerckte Zuneigung / welche sich entweder durch eine auffsteigende Röthe im Gesichte / oder durch ein sanfftes Hertzklopffen zu erkennen giebt […]. So giengs Constantinen und Wandeim auch“ ‒327 trotz einer recht eindeutigen Anziehung also, verhindern Liebesmisstrauen und der Entschluss zur Bindungslosigkeit die Paarbeziehung, deren Konflikte und Hindernisse die gesamte Handlung bestimmen. Das Heliodor-Schema wird hier modifiziert, insofern nicht äußere Umstände, sondern die Liebenden selbst die Liebe verhindern. Bohse verändert aber auch die preziösen Motive Liebesmisstrauen und Ehefeindlichkeit, da sie nicht Zentrum, sondern Ausgangspunkt eines galanten Liebes- und Geschlechtermodells sind. Aus der ablehnenden Haltung gegenüber der Liebe und dem anderen Geschlecht entwickelt sich sukzessive ein positives Liebesund Geschlechtermodell auf neuer Grundlage. 4.2.3.2 Scudérys ‚Carte de Tendre‘ Ein positives Konzept galanter Liebe lässt sich in der Liebenswürdigen Constantine in Relation zur Semantisierung von Freundschaft, Liebe und Ehe bzw. ex negativo in Form erotischer Freizügigkeiten, Liebeskrieg und erzwungener Konvenienzehe rekonstruieren, denn in diesem Spannungsfeld versuchen Constantine und Wandeim das Verhältnis zueinander auszuhandeln und zu bestimmen. Der Text selbst scheint dieses positive Liebes- und Geschlechtermodell erst hervorzubringen, denn die Überwindung von Liebesmisstrauen und Ehefeindlichkeit bestimmen die gesamten 600 Seiten des Buches. Die Bereitschaft, sich auf die Paarbeziehung einzulassen, wird als langwieriger Prozess in Szene gesetzt, der keineswegs durch ein kontinuierliches Interesse beider Liebenden geprägt ist. Zarte, zum Teil leidenschaftliche

326 Talander:

Liebenswürdige Constantine, S. 156. S. 162f. Constantines Betragen „erweckte in seinem [Wandeims] Hertzen nicht allein eine Ehrfurcht / sondern so gar etwas zärtliches / davon er sonsten bißher wenig gewust hatte“ (ebd., S. 161).

327 Ebd.,

318

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Annäherungen, erstes Vertrauen und Offenheit wechseln beständig mit Skepsis, Distanzierung und forcierter Kaltsinnigkeit. In narrativer Ausführlichkeit fokussiert der Roman weniger auf die Beziehung des Paares an sich, als vielmehr auf die Phase der Paarfindung. Wie im preziösen Roman ufert die Phase der Paarbildung aus (im preziösen Roman: das Bemühen des Mannes um die Gunst der Dame ‒ im galanten Roman: das Bestreben beider Geschlechter nach Paarbildung). Die gesamte Erzählzeit des Romans, über mehrere Jahre hinweg,328 haben Constantine und Wandeim somit Zeit, sich gegenseitig kennenzulernen, sich zu testen und zu täuschen, ihre Gefühle auf die Probe zu stellen und während dieses ungewissen Spiels aus ‚Scherz und Ernst‘ zu erfahren, ob ihr Herz tatsächlich füreinander schlägt. Die Text- und Erzählstrukturen des galanten Romans zeigen formale Ähnlichkeit zu den visuellen Strukturen der preziösen Carte de Tendre von Madeleine de Scudéry. Dabei handelt es sich um eine kartografische Visualisierung oder eine „allegorische Landkarte“ der preziösen Affekten- und Liebeskasuistik, die dem ersten Teil von Scudérys Roman Clélie (1654) als Kupferstich beigefügt ist.329 Die Carte de Tendre stellt eine Landschaft dar, die dem Betrachter einen Überblick über das unwegsame und gefahrenvolle Land der Liebe (Païs de Tendre) gibt, das vom gefährlichen Meer (La Mer Dangereuse), dem See der Gleichgültigkeit (Lac d’Indifférence) und dem Meer der Feindschaft (Mer d’Inimitié) umgeben ist. Auf einer Anhöhe am rechten Rand der Karte verabschieden die Damen zwei mit Wanderstock und Proviantbeutel gerüstete Männer, die – haben sie die Ebene erreicht – bei der Stadt der neuen Bekanntschaft (Nouvelle Amitié) herauskommen und das Land der Liebe durchwandern, bis sie am Ende der Reise eine der drei Städte Zärtlichkeit durch Zuneigung (Tendre-Sur-Inclination), Zärtlichkeit durch Hochachtung (Tendre-SurEstime) oder durch Dankbarkeit (Tendre-Sur-Reconnaissance) erreichen.

328 Die

Zeitstrukturen lässt eine Dauer von mehreren Jahren vermuten. Constantine kann selbstbestimmt und ohne Zeitdruck über Reisetempo und Reiseziele entscheiden, wie durch Orts- und Zeitangaben im Roman deutlich wird: „[So] gefiele ihr dieser so lebhaffte Ort dermaßen / daß sie beschloß / ihre Reise nach Albiregium noch etwas einzustellen / und sich allda einen Monat aufzuhalten“ (ebd., S. 53). Ein Wirtshausbesitzer erklärt, Constantine sei das erste Mal vor zwei Jahren bei ihm eingekehrt, nun sei sie vor drei Wochen wieder abgereist (ebd., S. 496f.). Wandeim berichtet, sie „bey nahe vor einem viertel Jahre schon von dannen gezogen“, ohne dass er wisse, wo sie sich momentan aufhält (ebd., S. 505) usw. 329 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 61; Madeleine de Scudéry: Clélie. Histoire romaine. Première Partie. Paris 1654, S. 398.

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

319

Abb. 3: Madeleine de Scudéry: Carte de Tendre. In: Dies.: Clélie. Histoire romaine. Première Partie. Paris 1654, S. 398.

Der Weg zu diesen Orten, den die männlichen Figuren auf sich nehmen müssen, ist weit und unberechenbar. Indem sie die Reise antreten, beweisen die Kavaliere Beständigkeit im Lieben und kultivieren zugleich ihre Tugendhaftigkeit. Drei Pfade führen idealer Weise am schnellsten zum Ziel: Nach Tendre-Sur-Reconnaissance z.B. über die Orte Gefälligkeit (Complaisance), Fügsamkeit (Soumission), Kleine Bemühungen (Petit Soins), große Dienste (Grands Services), Feinfühligkeit (Sensibilité), Zärtlichkeit (Tendresse), Gehorsamkeit (Obéissance) und zuletzt konstante Freundschaft (Constante Amitié). Unwegsam ist jedoch das Gelände, jederzeit können die Kavaliere vom Weg abkommen und den falschen Pfad einschlagen. Celere erklärt einer kleinen Gruppe von Frauen und Männern die Karte und ihre Gefahren in den Worten, mit denen die Hauptfigur Clélie sie selbst beschrieben habe: Aber Madame, weil es gar keine Wege gibt, auf denen man sich nicht verirren kann, hat Clélie, wie sie hier sehen, es so gemacht, dass diejenigen, die von der Stadt ‚Neue Bekanntschaft‘ aus den Weg ein wenig zu weit nach rechts oder ein wenig zu weit nach links einschlagen, sofort in die Irre gehen, denn anstatt zu dem gesuchten Ort ‚Großer Geist‘ [Grand Esprit] zu gelangen, kommt man in den Ort ‚Nachlässigkeit‘ [Négligence], den sie hier auf der Karte sehen; diese Verirrung fortführend gelangt man nach ‚Verschiedenartigkeit‘ [Inégalité]; von dort nach ‚Halbherzigkeit‘ [Tiédeur], dann nach ‚Oberflächlichkeit‘ [Légèreté] und schließlich zum ‚Vergessen‘ [Oubli]; anstatt nach ‚Zärtlichkeit durch Hochachtung‘ [Tendre-Sur-Estime] zu gelangen, findet

320

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

man sich am See der Gleichgültigkeit [Lac d’Indifférence] wieder, den Sie hier auf der Karte eingezeichnet sehen und der mit seinen stillen Wassern ohne Zweifel sehr eindrücklich dasjenige zeigt, wodurch dieser Ort seinen Namen trägt [Übers. K.B.].330

Die Carte de Tendre, so Doris Kolesch, entwirft ein „Territorium des Weiblichen“, innerhalb dessen Emotionen und Verhaltensweisen verräumlicht bzw. spatialisiert werden.331 Es entsteht eine idealtypische temporale Ordnung, die den diffusen Phänomenbereich zwischenmenschlicher Geschlechter- und Sozialbeziehungen systematisiert und Orientierung schafft. Die Logik dieser Ordnung folgt unverkennbar dem Ideal weiblichkeitszentrierter Preziosität – gewissermaßen im Kollektivsingular wird das Weibliche zum imaginären Zentrum der preziösen Affekten- und Liebeskasuistik und bestimmt alle Aktionen und Äußerungsformen. Die Gunst der Frau bzw. der Frauen ist die unausgesprochene Zielsetzung der gesamten Kommunikation und Interaktion mitsamt ihren idealtypischen Emotionscodes.332 Die Frau selbst jedoch – als ‚Mitspielerin‘ in der idealtypischen Anlage der Carte de Tendre, d.h. als weibliche Figur des metadiegetischen Spiels im Roman (‚das Spiel im Spiel‘), im Grunde aber auch als historisches Subjekt innerhalb der femininen Salonkultur der Preziösen – ist passive Richterin und bleibt letzten Endes „Objekt“.333 Sie bildet das Zentrum einer Agitation, die um sie herum und auf sie gerichtet ist, über deren Fortsetzung oder Abbruch sie entscheidet, aber bei der sie vor allem Beobachterin bleibt und insofern aktiv und unmittelbar teilnehmend selbst kaum partizipiert; sie agiert in erster Linie reaktiv. Bezeichnender Weise verabschieden die skizzierten Damen auf der Carte de Tendre die Männer auf der Anhöhe  –  sie selbst steigen nicht ins Land der Liebe ab. Sie warten den Verlauf des Geschehens ab. Sie sind der Lohn oder die verlorene Beute der männlichen Akteure, die durch ihre Bewährung oder ihr Scheitern auf der abenteuerlichen Reise eine männliche Liebesfähigkeit erwerben und mit dem Reisen unter Beweis stellen. Scheitern sie auf ihrem Weg, so bleibt auch die Dame ohne ‚Gewinn‘ zurück.334 Die Carte de Tendre entwirft, 330 „Mais,

madame, comme il n’y a point de chemins où l’on ne se puisse égarer, Clélie a fait, comme vous le pouvez voir, que ceux qui sont à Nouvelle-Amitié prenaient un peu plus à droite ou un peu plus à gauche, ils s’égareraient aussitôt; car, si au partir du Grand-Esprit, on allait à Négligence que vous voyez tout contre cette carte, qu’ensuite continuant cet égarement on aille à Inégalité; de là à Tiédeur, à Légèreté et à Oubli, au lieu de se trouver à Tendre-sur-Estime on se trouverait au lac d’Indifférence que vous voyez marqué sur cette carte et qui, par ses eaux tranquilles, représente sans doute fort juste la chose dont il porte le nom en cet endroit“; Scudéry: Clélie, S. 403. 331 Doris Kolesch: Kartographie der Emotionen. In: Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. Hg. v. Helmar Schramm u.a. Berlin 2003, S. 171. 332 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 40, 49, 50; zur fiktionalen Überformung der preziösen Liebeskasuistik und Salonkultur vgl. Bung: Spiele und Ziele, S. 265‒350. 333 Gerhard Penzkofer: L’art du mensonge. Erzählen als barocke Lügenkunst in den Romanen von Mademoiselle de Scudéry. Tübingen 1998, S. 124f. 334 Dies gilt auch in der Verzahnung von Rahmen- und Binnenerzählung. In Scudérys Roman Clélie (1654‒60) nehmen den narrativ größten Umfang Binnenerzählungen ein, in denen männliche

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

321

wie Kolesch treffend formuliert, ein Territorium des Weiblichen, das „die Frau und ihre Gefühle als zu erkundendes und zu eroberndes Terrain“ repräsentiert und die „Akte zwischenmenschlichen Verhaltens als gegliedertes Territorium in den Blick“ kommen lässt, wobei sie „den Schauplatz, das ‚theatrum‘ männlicher Aktionen und Dispositionen bildet.“335 Überträgt man die visuellen Strukturen der Carte de Tendre auf die narrativen Strukturen und den Plotverlauf in Bohses Roman Constantine, so ergeben sich überraschende strukturelle Ähnlichkeiten. Wie der Weg durch das Land der Liebe reihen sich auch in Bohses Roman verschiedene Reisesituationen aneinander, in denen Constantine – die Protagonistin wohlgemerkt – auf unterschiedliche Figuren stößt, mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert ist und dabei in wechselnde Handlungs- und Affektlagen gerät. Stellt man sich die Plotstruktur des Romans bildlich vor und verfolgt die Reisehandlung der Protagonistin als räumliche Bewegung auf einer Landkarte, so wären, wie in der Carte de Tendre, verschiedene Stationen eingezeichnet, an denen Constantine mit unterschiedlichen Figurenkonstellationen, Konflikten, Affektlagen und Erfahrungen konfrontiert ist. Der Abfolge der Städte in der Carte de Tendre entsprechen im Roman die durchnummerierten, aber handlungslogisch relativ für sich stehenden Kapitel, die es erst aus der retrospektiven Gesamtschau ermöglichen, die narrative Episodenreihung in einen übergeordneten kohärenten Zusammenhang zu bringen. Die Bandbreite an Konfliktsituationen und dadurch provozierten Verhaltensweisen, Affekten oder Emotionen reicht von amü-

und weibliche Figuren im raumzeitlich enthobenen Dialog (locus amoenus, exklusiver Zirkel unter Leitung der zentralen Dame) abstrakte Themen der Liebeskasuistik erörtern, z.B. Verhältnis von Anmut und Schönheit, Wesen der Treue, Fragen der Lebensführung, Ehre der Frauen, Figurenporträts usw., vgl. Kap. 4.1.4 (Conversation à la française). Diese Binnenerzählungen werden durch eine übergeordnete Rahmenhandlung zusammengehalten, die eine aktive Rolle der weiblichen Hauptfigur Clélie suggeriert, sie aber narrativ kaum konkretisiert bzw. ausgestaltet, Alexandra-Bettina Peter: Vom Selbstverlust zur Selbstfindung. Erzählte Eifersucht in Frankreich des 17. Jahrhunderts. 2. Aufl., Berlin 2011, S. 119. Rahmenhandlung: Die Römerin Clélie soll auf Wunsch der Eltern standesgemäß mit Horace verheiratet werden; sie liebt aber Aronce, der als ihr Bruder gilt. Als sich herausstellt, dass das Paar nicht verwandt ist, willigen die Eltern in die Verbindung ein. Am Hochzeitstag wird das Paar durch ein Unwetter getrennt; der Nebenbuhler Horace entführt Clélie, so dass den Widerständen des Schicksals und dem missgünstigen Liebesglück solange entgegengetreten werden muss, bis es zur glücklichen Vereinigung des Paares am Ende des Romans kommt (Heliodor-Schema), Kayling: Rezeption und Modifikation des Eros-Begriffs, S. 295f. Während die Rahmenhandlung (Entführung Clélie – Irrfahrt Aronce) insbesondere den männlichen Protagonisten in Aktion zeigt, der in der Konfrontation mit anderen männlichen Figuren seine Vorbildlichkeit, Tugendhaftigkeit, Treue beweist, wird Clélie als ‚Entführte‘ zwar in einer Art Reisehandlung situiert, bleibt aber mehr oder weniger passive Figur, da ihre Erlebnisse ausgespart bleiben. Die Binnenerzählungen treten im Laufe des Romans zudem so stark in den Vordergrund, dass die Rahmenhandlung kaum noch präsent ist, Peter: Vom Selbstverlust zur Selbstfindung, S. 119f; ferner Steigerwald: Fabrikation einer natürlichen Ethik, S. 105‒130. 335 Kolesch: Kartographie der Emotionen, S. 171.

322

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

santen Bekanntschaften mit Herren und Damen, über störende Reisebegegnungen mit raubeinigen Studenten336 bis hin zum handfesten Beziehungskrach mit leichtfüßigen Liebhabern (Wandeim). Wie die weibliche Hauptfigur irren gewissermaßen auch die männlichen Nebenfiguren durch das ‚Land der Liebe‘ der Romanhandlung (reisende Frauen trifft Constantine nicht, sie begegnet ihnen aber an den Orten, an die sie selbst gerät). Und jede dieser Figuren trägt ihrerseits die jeweils eigenen ‚Geschichten‘ im Gepäck. Immer wieder, wenn auch nicht systematisch oder vorhersehbar, treffen die Figuren an unterschiedlichen Orten aufeinander, so dass über die Erzählkonstellation (Figurennamen, Rückbezug auf Vergangenes) eine gewisse intradiegetische Referentialität entsteht, auch wenn anschließend jeder wieder seines Weges zieht, zur nächsten Station ‚seiner‘ Reise aufbricht, bis man sich gegebenenfalls zu späteren Zeitpunkten an anderen Orten wiederbegegnet.337 Im bemerkenswerten Gegensatz zum preziösen Roman wird die weibliche Hauptfigur im galanten Roman allerdings selbst zur ‚Mitspielerin‘, die ‒ bildlich gesprochen ‒ in das gefahrenvolle Land der Liebe, mithin in die narrativen Räume des Romans, hinab- und hinein steigt. Als aktive Figur nimmt sie unmittelbar am ‚Wettstreit‘ um Liebe und Tugend teil, denn dies verbindet sich ja mit der Reise und soll sich durch sie erweisen. Die Funktion als Hauptfigur macht die aktive Konzeption der Protagonistin textlogisch notwendig, denn formal fungiert sie als Handlungsträger der gesamten Erzählung. Die Formgebung von Scudérys Carte de Tendre mag aber auch visuell einen Impuls zum Erzählen gesetzt haben, den junge Autoren in Deutschland aufnehmen. Denn wie Kolesch erklärt, stellt das Szenario der Carte de Tendre eine Aufforderung dar, die visuellen Elemente in narrative Zusammenhänge zu bringen: Sich über eine Karte zu beugen, sie zu handhaben, bedeutet, ein narratives Szenario zu konstruieren. Karten werden zu Karten, indem wir mit ihrer Hilfe Geschichten erzählen. Menschliche Figuren, Bauten, stilisierte Ansichten von Bergen oder Gewässern treten gleichsam als Erzähler auf, die für das stehen, was die Benennung oder Linienführung allein nicht ausdrücken kann: So erzählt das Schiff – am linken Rand der Karte – vom Meer und seinen Gefahren.338

Was die Karte nicht zeigt, sind die Konkretationen der visuellen Elemente, denn die konkreten ‚Geschichten‘ bleiben in der visuellen Abbildung Leerstellen. Insofern mag die Carte de Tendre zur Aneignung und narrativen Anreicherung der visuellverräumlichten preziösen Liebes- und Affektenkasuistik angeregt haben.339

336 Talander:

Liebenswürdige Constantine, S. 272. entstehen aus der Rückschau auch ‚eigene‘ Geschichten von Nebenfiguren, die zum erneuten Ausbau anregen mögen (im Sinne von ‚Weiterschreiben‘, erneuter Beginn des Erzählens). So trifft Constantine am Ende des Romans wieder auf Alckmar, der in der Zwischenzeit Statire für sich gewinnen konnte und Constantine zur Hochzeit einlädt (ebd., S. 593–600). Ähnliches ließe sich für andere Figuren ergänzen. 338 Kolesch: Kartographie der Emotionen, S. 169. 339 Ähnliches beobachtet Stauffer: Die Scudéry-Rezeption im Pegnesischen Blumenorden, S. 259‒265 in der Rezeption der ‚Carte de Tendre‘ bei Sigmund von Birken und Catharina Regi337 Teilweise

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

323

4.2.3.3 Galante Affektentwicklung: Freundschaft oder Erotik, Liebe oder Liebeskrieg? Während die preziöse Liebeskasuistik auf die Kultivierung und Disziplinierung männlicher Affekte, die Liebesfähigkeit bzw. Tugendhaftigkeit des Mannes zielt (der in fortlaufenden, seriell sich wiederholenden Bewährungsproben Beständigkeit und Aufrichtigkeit im Werben um die Dame unter Beweis stellt und sich dadurch sittlich vervollkommnet), werden bei Bohse/Talander weibliches und männliches Figurenpersonal gleichermaßen dieser Prüfung ausgesetzt. Constantine ist als aktive, handlungsstrukturierende und handlungsprägende Hauptfigur des Romans ebenfalls mit ambivalenten Konflikten und Affekterfahrungen konfrontiert. Insofern ist auch die weibliche Figur Gegenstand eines Prozesses sukzessiver Affektkultivierung. Im Gegensatz jedoch zur „topographische[n] Physiologie der Liebe“, die Scudéry in der Carte de Tendre als „offensichtlich selbstverständliche Aneinanderreihung bestimmter Verhaltensweisen und affektiver Zustände“ entwirft340 und die – folgt man dem ‚richtigen‘ Weg bzw. befolgt man in entsprechender Reihenfolge das gewünschte Verhalten – geradezu eine lineare, voraussehbare und scheinbar komplikationslose Affektentwicklung zu provozieren scheint, räumt Bohse dem ‚Verirren‘, der Bewegung und vor allem der Kollision zwischenmenschlicher Kontakte narrativen Raum und Wichtigkeit ein. Die Affektentwicklung als Lerneffekt der Reise verläuft keineswegs linear und voraussehbar. Im Gegenteil: wie die männlichen ‚Mitspieler‘ ist auch die weibliche Hauptfigur einer Reihe an Irrationalitäten ausgesetzt, die sie zum Teil selbst provoziert und mit deren Konsequenzen sie umgehen muss. Präsentierte sich Constantine am Beginn des Romans, während und nach dem Schiffbruch, als gleichmütige und unerschrockene Heldin, scheint sie diese Gelassenheit im Verlauf der Reise geradezu zu verlieren. Immer wieder gerät sie in Situationen, die irrationale Reaktionen hervorrufen. Constantine ist zu wilden, leidenschaftlichen, gelegentlich selbstsüchtigen Wallungen fähig und ‒ so lässt sich narratologisch argumentieren ‒ sie muss diese Affekte geradezu durchleben, damit im Roman gezeigt werden kann, wie es gelingt, Irrationalität, Aggression und Selbstsucht zu disziplinieren und zu kultivieren. Diese Konsequenz verbindet sich poetologisch mit Constantines Stellung als Hauptfigur des Romans, provoziert aus geschlechterspezifischer Perspektive allerdings Ambivalenzen, die ihrerseits geeignet erscheinen, das Publikum im Sinne einer Poesie zwischen Scherz und Ernst zu ‚vergnügen‘. Die Irrationalität der Affekte (amour passion)341 holt Constantine vor allem dann ein, wenn die Grenzen zwischen Freundschaft, Liebe, Erotik und Sexualität verschwimmen. In der preziösen Liebes- und Affektenkasuistik ermöglicht das Konzept na von Greiffenberg. Kartographie der Emotionen, S. 174. 341 Kap. 3.3.2.3 Wirkungskonzept des Lasters: Vergnügen und Nutzen der weiblichen Romanlektüre. 340 Kolesch:

324

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der Freundschaft (amitié) bzw. der vergeistigten Liebesfreundschaft (amitié tendre) ‒ wie gesagt streng an das Keuschheitsverdikt gebunden ‒ den Austausch und Kontakt der Geschlechter.342 In ähnlicher Weise zeichnet sich im galanten Roman die Freundschaft zunächst allgemein durch eine grundsätzliche Höflichkeit und Offenheit gegenüber jedermann aus, unabhängig vom Geschlecht der Figuren: „Constantine war gewohnet / iederman höflich zu begegnen“.343 Un­vor­eingenommen und ohne Ängstlichkeit – gemäß einer „frey[en] und ungezwungenen Indifferenten Lebens=Arth“ (Ko-Autor W. in der Anderen Vorrede) ‒344 sucht die Protagonistin Kontakt zu den Figuren ihrer Umgebung. Sie zeigt Interesse, vertraut Männern wie Frauen im freundschaftlichen Gespräch Details aus ihrem Privatleben an345 und begegnet selbst unlauteren Figuren höflich.346 In der Konversation des galanten Romans spielen private Themen – anders als im preziösen Roman ‒347 eine wichtige Rolle. Sie dienen der Figurencharakterisierung, da in diesen Dialogen persönliche Informationen über die Protagonistin vermittelt werden können. Der galante Roman entwirft ein Freundschaftskonzept, das sich zunächst eng an das platonische Ideal der Preziösen (Keuschheitsgebot) anlehnt. In der Begegnung mit männlichen Figuren bringt Constantine stets unmissverständlich ein Desinteresse an erotischen und sexuellen Annäherungen zur Sprache. Die Figurenrede ist explizit: Erotik und Sexualität sind ausgeschlossen. Allerdings werden solche Direktiva durch Nuancen im Sprachgebrauch und Stil der Figurendialoge, vor allem aber durch das Figurenhandeln unterminiert und ironisch gebrochen. Erotik wird im galanten Roman kommunikativ erzeugt (sprachlicher Flirt) oder handlungspraktisch inszeniert (‚erlaubte Erotik‘, die offensichtlich nicht als Verstoß gegen die behauptete Keuschheit gilt). Der Erzähler erläutert zunächst kommunikative Strategien, durch die Constantine im Kontakt mit männlichen Figuren eine erotische Spannung erzeugt, ohne ihre sittliche Integrität zu gefährden: Doch liesse sie [Constantine] auch Leute / die ihr anstunden / nicht so gleich gantz und gar ablauffen / sondern wuste sie durch eine untergemischte ungemein artige Freundlichkeit in ihrer

342 Büff:

Ruelle und Realität, S. 151–155. Liebenswürdige Constantine, S. 128. 344 Ebd., Andere Vorrede, unpag. [A 37af.]. 345 Private Themen im Austausch mit Männern (ebd, S.  5f.), im Austausch mit Frauen (ebd., S. 152f.). 346 Entführungsszene: Die Frauen Froacrinta, Ampulle und Volante nehmen die Protagonistin aus Eifersucht und Furcht um ihre Männer gefangen (ebd., S.  128–151). Constantine bleibt höflich und wird erst distanziert, als man ihr nicht mit derselben „Ehrerbietung“ begegnet (ebd., S. 128–130). Als die Gefangennahme offensichtlich ist, verliert die Protagonistin nicht die Nerven, sondern überschlägt kühl kalkulierend die Möglichkeiten, sich zu befreien und flüchtet (ebd., S. 131f.). 347 In der preziösen Conversation à la français werden intime Einzelheiten aus dem Privatleben vermieden, um die Geselligkeit der Gruppe nicht zu stören, Gelzer: Konversation und Geselligkeit, S. 482. 343 Talander:

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

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Hoffnung / wann selbige indem ermüdete / wiederum zu stärcken / und auf eine so geschickte Art anzufrischen / daß man ihr mit Recht kunte nachsagen / sie könne die Hertzen nach ihrem eigenen Willen regieren / und wer einmahl in ihre Dienstbarkeit geriethe / den ließe sie so leichtlich nicht wiederum loß.348

Die Grenze zwischen Freundschaft und Liebe zieht offenbar die Sexualität. Denn in der Freundschaft beschränkt sich die Möglichkeit des erotischen Austauschs in der Regel auf den Diskurs. Im Gespräch mit Aspermont erklärt Constantine explizit: „Daß sie zwar wohl leiden könte / daß man sie liebete; wer aber bey ihr auff Gegengunst hoffete / die in dem würcklichen Geniessen dessen / was man in der absonderlichen Geschlechts=Liebe suchete / bestehen solte / der betröge sich: Denn sie ausser einen verpflicheten discurse keinen nichts zustünde / und wenn er auch ein Printz wäre.“349 Das Figurenverhalten zeigt indes etwas anderes. Die Grenzen zwischen Freundschaft und Liebe sind fließend oder porös, denn strikt hält sich auch die Hauptfigur nicht an ihre Worte. Als Constantine mit dem Offizier Rambert die Oper besucht, schließt sie zwar verbal jede erotische Annäherung aus,350 doch schon auf dem Heimweg rückt sie davon ab und lässt kleine erotische Freizügigkeiten zu: Da er [Rambert] mit Constantinen wieder nach Hause fuhr / raubetet er ihr einige kleine Vortheile / die man sonst wohl denen Liebhabern eher als blossen Freunden zu gute hälte. Doch er muste seine Begierden zwingen / damit er nicht Ungnade verdiente / und er war auch endlich vergnügt / nachdem er etliche Küsse zur Beute davon getragen hatte.351

Anschließend plagen die Protagonistin zwar kurz Schuldgefühle, doch ohne moralisierenden Kommentar geht die Textgestaltung darüber hinweg.352 Durch das Fehlen eindeutiger Erzählerkommentare oder sonstiger Signale der Leserlenkung räumt der Roman der Protagonistin erotische Freizügigkeiten als Episode der Reise ein, deren kompromittierenden Folgen sie durch die Weiterfahrt ohnehin entgeht. Constantine verfügt gewissermaßen selbstbestimmt und flexibel über die Reichweite ihrer erotischen Kontakte. Die Grenzen zwischen verpflichtendem Diskurs und körperlichem Kontakt, zwischen Freundschaft, Liebe und Sexualität werden vor allem dann porös, wenn das Begehren der Protagonistin erregt ist. So in der Bekanntschaft mit Wandeim, den Constantine als ‚Freund‘ behandelt, im Grunde aber seine Liebe wünscht und ebenfalls erotische Freizügigkeiten zulässt. Aufgrund dieser Spannung erweist sich

348 Talander:

Liebenswürdige Constantine, S. 284f. S. 286. 350 „[D]a ich nicht lieben will / habe ich nicht verredet / einen tugendhafften Freund hoch zu halten: davor dann will ich sie auffnehmen / und sie werden sich an dieser Erklährung begnügen lassen“ (ebd., S. 60f.). 351 Ebd., S. 61. 352 Ebd. 349 Ebd.,

326

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die Beziehung als besonders konfliktbehaftet und wird durch das Motiv der Reise verkompliziert. Zunächst wahrt Constantine Distanz und versucht eine intime Beziehung von vornherein zu unterbinden. Explizit besteht sie auch Wandeim gegenüber auf absolute Keuschheit als Bedingung des Kontakts: „das übrige / was die lüsterne Natur in leiblichen Wollüsten zu erlangen bey vielen abzielet / wird von mir gehasset / und ist das nur ein Trieb / welcher gemeine Seelen verunreiniget; es sey dann / daß eine geschlossene Ehe solches als eine vergönnete Freyheit entschuldigen könte.“353 Sexualität sei auf die Ehe beschränkt, die ja weder Constantine noch Wandeim wünschen. Doch von körperlichen Lüsten ist auch die Protagonistin nicht frei. Wandeims Begehren zu widerstehen, ist sie nicht fähig: Sie nahmen allda eines der besten Zimmer / und wusten beyde einander viel zu erzehlen / wie es ihnen Zeit ihrer Trennung ergangen. […] Es fielen bey diesem Discurse unterschiedliche Küsse / die zwar Constantine als etwas / so nicht eben zum Gespräch gehörete / zuweiln wollte ablehnen; allein Wandeim merckte wohl als ein verschlagener Liebhaber / daß sie zu deren Verbot nicht den erfoderten Ernst gebrauchte / darum kehrete er sich wenig daran / sondern fuhre in seinen einmahl angefangenen Liebkosungen in höchster Zufriedenheit immer weiter fort. Constantine konte nicht verhindern / so sehr sie sich auch deßwegen bemühete / daß sich ihre schöne Wangen nicht mit einer ihr sonst ungewöhnlichen Röthe solte gefärbt haben.354

Die sittliche Integrität der Protagonistin ist durch solche erotischen Freizügigkeiten nicht angegriffen – immer wieder verbürgen männliche Erzählinstanzen die Tugendhaftigkeit der Hauptfigur, so Wandeim: „Sie ist ja die Tugend selbst“355 oder Autor und Ko-Autor W. im Paratext: „diese Constantine, deren Tugendhafftes Leben und Engel reine Seele / der honetten und galanten Welt ein helleuchtender Spiegel und Infallible Richtschnur der Nachfolge seyn kan“.356 Im Spannungsverhältnis von Text und Paratext, Figurenrede und Figurenhandeln wird das platonische Verdikt unglaubwürdig. Um es dennoch aufrechtzuerhalten, gibt es in einer handlungsorientierten Prosa nur eine Möglichkeit: Unzählige Male verlässt Constantine fluchtartig die Orte, an denen sich Wandeim aufhält und entzieht sich so der erotischen Spannung: „O bezwinge dich selbst / und so nicht anders der Sieg zu erhalten / so fliehe deinen süssen Feind / und entferne dich von einem Orte / der deiner Freyheit einen neuen Unter-

353 Ebd.,

S. 186. S. 335. Zu anderer Gelegenheit: „Damit nahete er [Wandeim] sich von neuen ihren Lippen mit einem Kusse / und sie litte denselben mit mehrer Lindigkeit als den ersten; doch erinnerte sie ihn / in dergleichen Ansinnen künfftig mäßig zu verfahren / wo er anders ihre Zuneigung nicht auf einmahl verliehren / und ihre Feindschafft an deren statt sich über den Hals ziehen wolte“ (ebd., S. 188). Immer wieder kommt es „nach und nach [zu] kleine[n] Liebes=Geschwinste / die zwar diese Dame [Constantine] eine Schwachheit nennete / er [Wandeim] aber hieß es unverdiente Gütigkeit und Gnaden=Bezeugungen“ (ebd., S. 270). 355 Ebd., S. 330. 356 Ebd., Andere Vorrede, unpag. [A 24a]. 354 Ebd.,

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gang dreuet.“357 Die Reise ist für die Protagonistin eine Möglichkeit, die Affekte zu ‚disziplinieren‘, indem sie vor ihnen flieht. Mehrfach reist sie unvermittelt und ohne Abschied ab.358 Als Constantine und Wandeim wieder aufeinander treffen, wird die Abwehr der Protagonistin deutlicher: „[G]enug; […] sie leben ewig vergnügt / ihr Glück blühe und grüne / dessen Schlüssel ist nicht in meiner Gewalt.“359 Wandeim sieht sich gezwungen, die Entscheidung der Protagonistin zu akzeptieren. Gleichzeitig wächst sein Verdruss und er fühlt sich aufgefordert, in einen „Liebeskampf“ zu ziehen.360 Zu sich selbst spricht er: „Du hast kein Recht weder über ihre Person noch über ihren Willen. Gleichwohl nimmt sie sich die Herrschafft über deine Regungen / und eben darum must du dich bemühen / sie auch über die ihrige zu erhalten.“361 Was nun folgt, ist ein Spiel aus „Scherz und Ernst“,362 bei dem jeder den anderen zu bezwingen hofft, ohne sich selbst preiszugeben. Begehren, Stolz, Willkür und Eitelkeiten stoßen permanent aufeinander. Annäherung und Zurückweisung, Liebesgenuss und Kaltherzigkeit, Schmeichelei und Missverständnisse begleiten die unzähligen Begegnungen, die immer wieder abbrechen, weil abwechselnd einer von beiden die Flucht ergreift und den Ort wechselt. Auf Wandeims „Liebes-Kampeleyen“ reagiert Constantine gereizt,363 der Liebeskampf gerät zum Liebeskrieg: „Dannenhero sagte Constantine […] will er einen Krieg mit mir angehen / wohlan! so soll er ihn zu erwarten haben.“364 Als ‚Mitspielerin‘ verändert die weibliche Figur das Spiel um die Liebe: Wo man hoffte, sie anzutreffen, befindet sie sich nicht (mehr). Verabredete man einen Treffpunkt, erscheint sie nicht. Sucht man Gelegenheit, ihr allein zu begegnen, trifft man sie in Gesellschaft trinkender und tanzender Frauen an, die sich auf Wunsch Constantines als Offiziere verkleiden und mit lasziven Gesten provozieren.365 Der Liebeskampf verlangt von den Protagonisten eine Affektkontrolle, zu der beide nicht beständig fähig sind. Immer wieder lässt sich Constantine zu wütenden Gefühlsausbrüchen verleiten. Reisen und Hinterherreisen verursachen Anschuldigungen, Forderungen und affektive Ausbrüche. Constantine im Brief an Wandeim: Ich muß wohl bekennen / daß einer / welcher unwissend einen Fehler begehet / leicht Perdon erlangen kan; Aber was vor Straffe solte man wohl einem Vermessenen zuerkennen? […] Nun confideriret selber / liebwerthester Monsieur, da ihr mir / eurem Vorgeben nach / affectionirt /

357 Ebd.,

S. 170f. S. 171,172, 259, 270, 337, 397, 510 (willkürliches Abreisen). 359 Ebd., S. 178. 360 Ebd., S. 228. 361 Ebd., S. 181. 362 Ebd., S. 226. 363 Ebd., S. 228. 364 Ebd., Hervorh. K.B. 365 „Constantine / die ihn [Wandeim] erblickte / tantzte mit Fleiß länger und freudiger / als sie sonst wohl gethan hätte. Hierauf ergrif sie einen Cavallier [eine als Mann verkleidete Frau] bey der Hand / und caressirte ihn öffentlich ungemein / wurde auch von ihm noch viel verpflichteter umfasset und geküsset“ (ebd., S. 235f.). 358 Ebd.,

328

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und ich euch auch nicht unhold bin / auch vor allen andern wol leiden mag / ob ihr recht gethan / daß ihr mir zu Gefallen nicht 20. Meilen reisen wollet? Ha! gedencket ihr durch Aussenbleiben das Feuer zu löschen / welches sich unter uns unauslöschlich angezündet / und schon zum Gipffel des Dachs lichterloh hinaus schlägt? Au contrair! Ich versichere / diese Gluth wird grösser werden / ob schon die Gedancken sich bey ihnen finden / das Feuer zu meiden / dabey man sich verbrennen kan.366

Sie stampft mit dem Fuß auf und schickt schreibend hinterher: „Ich führe so viel Feuer bey mir / daß der stählerne Sinn samt dem Zunder bald auffliegen solte.“367 Von einem zurückhaltenden, maßvollen Auftreten im Sinne preziöser bienséance und Affektkontrolle ist hier nichts zu spüren. Aber auch Wandeim bleibt nicht stoisch in der wechselhaften Beziehung zur Protagonistin: „Bald schalt er auff ihren Eigensinn im Lieben / bald brach er wieder in ihre Lobes=Erhebungen aus.“368 Reist der Verehrer ihr nicht freimütig hinterher, gibt sich Constantine der Empörung hin und verlässt mutwillig den Ort, an dem sie sich aufhält. Unzählige Male sucht Wandeim sie orientierungslos in der Fremde, dann wieder sucht sie ihn.369 Über Briefkorrespondenzen kann die Beziehung immer wieder hergestellt werden, doch ähnelt die Liebe eher einer amour fou. Leidenschaft und „Raserey“370 (amour passion) werden über das Verhalten der Figuren demonstriert. Zur Deutung dieser Konfliktgestaltung kann Selamintes Konzept des „Ingeniums der Wollust“ einen Hinweis liefern, das weniger auf die Darstellung des Lasters als vielmehr auf eine Empathisierung der Leserschaft zielt (Kapitel 3.4.1.4). Zum späteren Zeitpunkt der Gattungsentwicklung bringt Selamintes theoretisierend zum Ausdruck, was Bohse hier offensichtlich in der Textgestaltung praktisch umzusetzen versucht: Die Irrationalität des Verhaltens wird zum Ausdruck einer emotionalen Intensität. Denn zum späteren Zeitpunkt distanziert sich Constantine immer wieder vom eigenen Kontrollverlust und weist ihn interessanterweise als Zeichen der Liebe aus: „Ich weiß nicht was vor eine Raserey oder thörichtes Unterfangen mich eine Zeit her eingenommen / das ich wohl ein verzaubertes Lieben nennen möchte“.371 Allerdings müssen sich Constantine und Wandeim trotz-

366 Ebd.,

S. 355, 356. S. 358f. Erzählerrede und beschriebenes Verhalten der Figur setzen die Irrationalität der Gefühle in Szene: „[S]olches ärgerte sie innerlich so hefftig / daß sie kaum die Verbitterung kunte bergen. […] [Sie] stieß demnach aus Ungedult mit dem Fuße zur Erden / und hub an: Pfuy der schändlichen Erniedrigung meiner selbst / daß ich mich umb Erhaltung der Gegengunst eines solchen Cavalliers bemühe“ (ebd., S. 396f.). 368 Ebd., S. 416. 369 Wandeim sucht Constantine orientierungslos in der Fremde (ebd., S. 424f., 498f., 505f., 510, 548f., 579, 582). Constantine verlangt von Wandeim, dass er ihr hinterher reist (ebd., S. 180, 326, 356). Ebenso reist sie zu ihm, verlässt ihn wieder oder sucht ebenfalls orientierungslos nach ihm (ebd., S. 334, 380, 396). 370 Ebd., S. 276. 371 Ebd. 367 Ebd.,

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dem beständig fragen: „wie habe ich nun errathen können / ob es dißmahl Scherz oder Ernst seyn möchte.“372 4.2.3.4 Galante Liebe als reziprokes Modell: Reflexion des preziösen Romans im galanten Roman Das Liebesspiel nach dem Vorbild der Carte de Tendre verlangt – so auch die Auffassung der Hauptfigur Constantine –, dass der Kavalier seine Zuneigung beweist, indem er ihre Anwesenheit sucht. Das Unterwegssein beider Partner erschwert dies allerdings. Es ist nicht nur Wandeim, der umherreist, sondern auch Constantine wechselt beständig die Orte. Auf der Anhöhe von Païs de Tendre ist die galante Protagonistin nicht wartend zurückgeblieben, so dass sich der Kavalier in seiner Liebeswanderung fragen muss: [K]anst du auch gewiß bleiben / daß ihre Liebe gegen dich auch in der Entfernung bestehen wird? Solte sie nicht deiner vergessen / und die Schmeichelungen eines gegenwärtigen Liebhabers / der sich leichtlich finden kan / denjenigen / die sie von dir empfangen / vorziehen? Ihr Geschlecht ist von dem Wanckelmuthe mehr als das unsrige unterworffen; und so viel Beständigkeit / als sie vorgegeben / wird doch solche bey den süssen Anfällen deiner Neben=Buhler eben so leicht sich im wechseln verwandeln / als geschehen / da du sie zu andern Entschliessungen durch dein Bitten gebracht.373

Das Unterwegssein beider Liebender führt zur Ungewissheit der Liebe und stellt deren Beständigkeit auf die Probe. Trotz Wiederaufnahme der Beziehung an unterschiedlichen Orten können sich weder Wandeim noch Constantine sicher sein über Qualität und Beständigkeit ihrer ‚Liebe‘. Als Wandeim bei einem weiteren Abschied versichert, sein Andenken reiche bis in den Tod, zeigt sich die Protagonistin nüchtern: „Die Wercke […] sollen ins künfftige zeigen / ob diese verpflichtenden Worte in Ernst gemeynet gewesen: Aber ach leyder / ich besorge / es werde mir ergehen / wie im gemeinen Sprichwort gesaget wird: Kömmstu mir aus den Augen / so kömmstu mir auch aus dem Sinn.“374 Constantine sieht sich nach anderen Liebhabern um und tröstet sich nach der enttäuschenden Bekanntschaft mit Aspermont375 mit dem Gedanken an das „Spiel“, das sie spielt: Sie […] rümpffete die Nase / und sagte: Es ist doch eben bey dieser Partie wenig verspielet / und ich finde schlechte Ursache / mich über Aspermonts Abgang zu erbittern: Seines gleichen findet sich alle Tage / und wird solcher Verlust leichtlich zu ersetzen seyn.376

372 Ebd.,

S. 226f. S. 349f. 374 Ebd., S. 345. 375 Aspermont läuft, nachdem Constantine das ‚platonische Verdikt‘ zur Bedingung der Freundschaft gemacht hat, zu der Dame Bari über (ebd., S. 284–322). 376 Ebd., S. 322. 373 Ebd.,

330

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Die Frau als Teilnehmerin im ‚Spiel um die Liebe‘ bringt die Spielregeln durch­ einander und macht den Spielverlauf unberechenbar. Den Ausgang der offenen Partie kennt auch die Protagonistin nicht und sie versucht selbst zu ‚gewinnen‘. Die Spielregeln indes scheinen völlig unüberschaubar geworden zu sein  –  wer spielt eigentlich mit wem um welches Ziel und wie lange dauert das Spiel? Im metadiegetisch-intertextuellen Verweis auf die preziöse Affektenkasuistik (Carte de Tendre) fragt die Protagonistin ihren Liebhaber irritiert, warum das Modell der französischen „Romainen“, das doch mit dem „Gewinn der Liebe“ belohnt wird, in ihrem Fall nicht funktioniert.377 Constantine führt den preziösen Roman und seine erzählten Geschichten als Vorbild ins Feld, an deren Struktur sie ihre ‚eigene Geschichte‘ beurteilt wissen will. Die Stelle lässt sich als metadiegetischer Kommentar des Autors Bohse/Talander lesen, der hier über die Figurenrede der Protagonistin den eigenen Bezug zur preziösen Romantradition reflektiert. Constantine zu Wandeim: So kan die Liebe weder zu viel noch zu wenig thun / und nach und nach durch alle Grade / deren ieder seine besondere Vergnügung hat / zu der höchsten Staffel kommen. Man lese alle Romainen durch / da es so wahrscheinlich vorgestellet wird / wie die Liebhaber zur höchsten Vollkommenheit gelanget sind. Solten denn nicht Leute seyn / die in der That nicht weiter oder auch so weit giengen / als von solchen erdichteten Personen vorgegeben wird? Ha das sind niedrige Gemüther / die dergleichen vor unmöglich halten / und die alle Liebe vor befleckt aestimiren [Hervorh. K.B.].378

Die Protagonistin verlangt vom Verehrer, sich an die preziöse Liebes- und Affektenkasuistik zu halten, wie sie der preziöse Roman entwirft und die Carte de Tendre visualisiert. Nach diesem Vorbild hätte die weibliche Figur jedoch passiv auf der Anhöhe warten müssen, bis der Kavalier das Land der Liebe durchquert haben würde. Dass Constantine das preziöse ‚Geschlechterspiel‘ durch ihr Eingreifen selbst unmöglich macht, ja dass die Protagonistin die vom Mann verlangten Treuebeweise durch die Unberechenbarkeit der eigenen Aktion und ihre wechselnden Forderungen beständig durchkreuzt, sagt Wandeim der Geliebten nun offen ins Gesicht: Aber gewiß Madame, sie machen aus der Wunder=süssen Liebe einen rechten Irr=Garten / daß einer / der ihr Naturel und Gemüths=Portrait nicht recht genau ergründet hat / schwerlich wissen wird / wie er sich in ihre allzu zärtliche und delicate Gemüths=Neigung / auch in das Concept von der Liebe finden soll. Bald sind sie so feurig / daß sie ihre Flammen zu löschen / Kühlung bedurffen. Bald haben sie überwunden / und aller Liebe adieu gesagt.379

Mit einer Absage an französische Muster und Vorbilder („Bin ich kein Amant a la Mode Francoise, so bekenne ich / daß ich nicht alles / was Frantzösisch ist / vor manierlich halte“), aber auch mit einer Absage an die höfische Kultur („Bin ich kein Hofmann / […] Soll ich deßwegen nicht würdig seyn / die Affection einer Dame zu

377 Ebd.,

S. 251.

379 Ebd.,

S. 257.

378 Ebd.

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

331

geniessen?“), erlaubt sich Wandeim, ein eigenes „Concept von der Liebe“ vorzustellen.380 Er teilt die Liebe in „drei Classen“ ein, von denen er die „lasterhafft interessirte Liebe“ als nicht akzeptabel verwirft. Die zweite Klasse, die „eheliche Liebe“, kommt ebenso wenig in Betracht, da „dieselbe viel Ungemach bey sich führet / und bey den wenigsten Ehe=Leuten eine Gleichheit der Gemüther zu finden“ ist.381 Das eigentliche Ideal sieht Wandeim in einer „honettē[n] Gemüths=Liebe“382 bzw. der „galante[n] Gemüths=Regung / die man Liebe nennet“.383 Dies sei die „aller=edelste und rareste“ Form der Beziehung zwischen den Geschlechtern, weil „daß Leben ohne Lieben vor den Todt selbst zu achten sey“.384 Das positive Konzept galanter Liebe bezeichnet eine Gefühlsaktivität und ein emotives Ideal der „Gleichförmigkeit zweyer Gemüther / und Mittheilung der Hertzen / Sinn und Gedancken“, so die Rede Wandeims.385 Es wird vom ‚Lieben‘ gesprochen, von einer Aktivität, nicht von ‚der Liebe‘ als statischer Entität. Grundlage oder Basis dieses Modells, so lässt sich aufgrund der bisherigen Textgestaltung schließen, stellt die aktive und gestaltende Interaktion beider Geschlechter dar, die mit einer emotiven Komponente angereichert werden soll (Gemüt/Herz, Sinn, Gedanken). Die galante Liebe sei von „allen unanständigen Begierden gäntzlich gesaubert“ und kann dennoch ‒ wie das Figurenverhalten zeigt ‒ körperlich-erotische Kontakte beinhalten.386 In dieser Hinsicht modifiziert das Narrativ galanter Liebe das preziöse Keuschheitsgebot und wird von Wandeim später als „Naturrecht“ bezeichnet: „Lieben ist ja kein so verbotenes Geschäffte / daß man sich darüber kräncken solte / wenn man solches übet. Die Natur weiset uns dazu an / und wer es meidet / derselbe will zu seiner Schande erweisen / daß er kein rechter Mensche sey.“387 Hier bestätigt sich die These von Florian Gelzer, dass Theoretiker und galante Autoren in Deutschland versuchen, preziöse Konzepte der Geselligkeit und Konversation in das „System der Naturrechtslehre einzupassen“ (Kapitel 3.2.1).388 Die Naturrechtsansätze von Pufendorf oder Thomasius zielen darauf, „Rechte und Pflichten des Menschen aus der menschlichen Natur heraus systematisch zu entwickeln“ und davon Recht, Moral und Gemeinwohl (iustum, honestum, decorum) abzuleiten.389 Rechte und Pflichten aller drei Bereiche werden im „Naturrecht nicht mehr auf der Basis der Moraltheologie entwickelt, sondern anhand von Überlegungen zur grund-

380 „[S]o

gebe zur Nachricht / daß ich auch nie getrachtet / meine Freyheit an eines gewissen Herrn Hofe zu verkauffen“ (ebd.). 381 Ebd., S. 258. 382 Ebd. 383 Ebd., S. 259. 384 Ebd., S. 258. 385 Ebd., Hervorh. K.B. 386 Ebd., S. 259. 387 Ebd., S. 347, Hervorh. K.B. 388 Gelzer: Konversation und Geselligkeit, S. 494. 389 Ebd., 495.

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sätzlichen Beschaffenheit der Natur des Menschen.“390 Wenn Wandeim ein Lieben vorschlägt, „zu dem uns die Natur anweiset“, so ist dies als eine Erzählstrategie des galanten Autors Bohse zu werten, der die preziöse Affektenkasuistik an die philosophische Naturrechtslehre annähert und in der Fiktion des Romans in ein positives Konzept galanter Liebe transformiert. Doch was bedeutet das für das interne Verhältnis der Geschlechter? Wie ist eine Ordnung beschaffen, die aus der „Natur des Menschen“ abgeleitet ist und für Mann und Frau gilt? 4.2.3.5 Galante Liebe ‒ Fantasie oder Realität, Arrangement oder persönliche Wahl? Constantine misstraut Wandeims Liebeskonzept der „Gleichförmigkeit von Gemüt, Herz, Sinn und Gedanken“.391 Sie hält seine Worte für eine List, denn sie habe den Liebhaber schon „vorher in vielen andern Affairen / durch eine polite und recht klügliche Verstellung“ kennen gelernt.392 Erneut eine „nach eigenem Willen gemarterte Sclavin“ zu werden, habe sie nicht vor, zumal sie ganz sicher von Natur und Himmel als eine „Freyin“ geboren sei: Der Himmel müste denn in kurtzem ihnen einen sehr verliebten Pfeil ins Hertze geschossen haben. Ob derselbe nun von Gold / Silber / oder vielmehr einer andern Materie, lasse ich dahin gestellet seyn. […] [D]a mich der Himmel und die Natur hat lassen eine Freyin gebohren werden / habe ich doch eine unglückselige Sclaverey müssen annehmen. Eine glückselige Sclavin zu werden / lässt man sich nicht verdriessen; aber so eine gequälte und nach eigenem Willen gemarterte / auch durch gewisse und gantz ungemeine Kunst=Griffe […] hart gefässelte / ist zu beklagen.393

Die weibliche Hauptfigur weist jede Form von Liebe und Lebensform vehement von sich, die mit „Kunstgriffen“ zu quälender Unfreiheit, Zwang und Entbehrung führen könnte. Constantine argumentiert dabei mit der Bestimmung des Himmels und der Beschaffenheit ihrer Natur. Grundsätzlich wäre sie bereit, Freiheiten aufzugeben, doch müsste dies der persönlichen Glücksentfaltung dienlich sein. Andernfalls sei auf die Liebe zu verzichten. Bevor Constantine das Misstrauen gegen die Liebe und die Ehefeindlichkeit überwindet, bedarf es weitläufiger Episoden, räumlich und zeitlich ausgedehnter Reisen, d.h. weiterer Trennungen von Wandeim. Vor allem aber stellt sich die Protagonistin der eigenen Vergangenheit (Normann), wodurch sie sich gewissermaßen von der Liebe für die Liebe befreit. Das Andenken an den früheren Geliebten, die Stilisierung von Normanns Tod als schwerstes Unglück und Motivation, der Liebe für immer zu entsagen, findet ein jähes Ende, als Constantine aus einem Brief

390 Ebd.

391 Talander:

Liebenswürdige Constantine, S. 258. S. 260. 393 Ebd., S. 260f. 392 Ebd.,

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

333

von ihrer Schwester erfährt, dass Normann lebt.394 Er sei nicht tot, sondern erneut verheiratet. Constantine ist geschockt, dieses Wissen zermürbt sie. Im Traum, dem „lügenhaften Geschwätze der Phantasie“,395 erscheint ihr das persönliche Schicksal in den sanften Tönen der eigenen Imagination: Normann begegnet ihr als der treue Liebhaber, den sie wünscht ‒ unverheiratet und sie verehrend ‒ ein „Schatten=Wercke“, das Constantine „eine warhafte Vergnügung“ bereitet.396 Allein mit dem Erwachen ist der Traum vorbei. Dennoch spekuliert die Protagonistin im Roman: Wenn die Einbildungskraft die Erfahrung der ‚Realität‘ lindere, warum sollte es dann falsch sein, sich nicht auch im Wachzustand einzubilden, was man wünscht („warum bildest du dir denn nicht wachend dergleichen ein?“).397 In ähnlich metadiegetischer Form, wie Constantine im Gespräch mit Wandeim auf die Fiktion der französischen Romane verwiesen hatte, die ihr zum Maßstab der eigenen Erfahrung von ‚Wirklichkeit‘ gerieten,398 sinnt sie nun auf den Traum und die Imagination als Fluchtpunkt vor einer unliebsamen ‚Realität‘. Sie spielt mit dem Gedanken, die Einbildungskraft und Fantasie zu instrumentalisieren, um in einer imaginierten Welt zu leben, die ihren privaten Vorstellungen eher entspricht. Auch Aspermont hatte einer befreundeten Dame berichtet, wie beeindruckbar und manipulierbar Constantine sei, als er ihr nach „Romanen-Art“ begegnete.399 Fiktion, Traum und Fantasie werden als Medien der Wunschsublimation reflektiert, die das ‚Realitätsprinzip‘ potentiell außer Kraft zu setzen vermögen. Das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit, das galante Autoren in ihren Vorreden poetologisch reflektieren (Kapitel 3.4.1.2), gerät in der Narration für die Protagonistin selbst ins Wanken. Die Fiktion des Romans wird zum Medium einer meta-metadiegetischen Fiktionskritik, denn der Rückzug in den Traum und die Einbildungskraft ist auch in der Literatur nur das halbe Leben. In einem der wenigen expliziten Kommentare erklärt der Erzähler: Allein was von der Hoffnung auffgesetzet wird / das blehet nur / und giebt keine beständige Nahrung; dannenhero das Gemüth / wenn es siehet / wie es sich mit eitlem Winde behelffen soll / die Seegel der Einbildung bald wieder einziehet […]. So gienge es auch Constantinen: womit sie sich liebkosete / dieses waren alles Sachen / welche auff betrüglichen Grund gebauet / und verlohren sich also gar geschwind / weil sie keine Würckligkeit […] zu gewarten hatten.400

394 Ebd.,

S. 425. S. 452. 396 Ebd., S. 451. 397 Constantine zu sich selbst: „So dann die Einbildung dich im Schlaffe beruhiget / und dir dein beschwerliches Schicksal gantz und gar durch andere Vorstellungen hinwegräumet / als ob dich solches nicht betroffen hätte / warum bildest du dir denn nicht wachend dergleichen ein […]?“ (ebd., S. 452). 398 Ebd., S. 251. 399 Aspermont versucht die Heldin zu verführen, indem er ihr auf „Romanen-Art“ begegnet: „Ich fuhre fort / ihr nach guter Romane=Art / davon sie / wie ich merckete / eine grosse Freundin war / meine Leidenschafft vorzutragen / und verspürete / daß mitte[n] unter ihrem Weigern sie lieber gar Ernst daraus gemachet“ (ebd., S. 312). 400 Ebd., S. 453. 395 Ebd.,

334

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Die Metaphorik der Seefahrt  –  die „Segel der Einbildung“ und die „eitlen Winde“ – geben hier einen Hinweis auf die Metaphorik des narrativen Reisens im Roman. Dem Reisemotiv liegt eine Wunschstruktur zugrunde, insofern man zu einem Punkt aufbricht, an dem man nicht ist, sich aber auf ihn zubewegt ‒ allerdings ohne zu wissen, ob man das Ziel erreichen wird und wie es sich verändert, während man reist oder ob man gegebenenfalls nicht an gänzlich anderen Punkten landet. So ergeht es Constantine auf ihrer fiktiven Reise im Roman und so ergeht es auch den Lesern und Leserinnen bei jeder Lektüre. Der Weg, die mentalen Räume und Bilder, Assoziationen und Erkenntnisse verändern sich mit jeder (Re-)Lektüre. Insofern erzeugt die Fiktion stets neue Fiktionen oder imaginative Reisen. Lektüre wie erzählte Geschichte betreffend gibt der Erzähler einen eindeutigen Hinweis, wie mit dieser Form des imaginativen ‚Sich-weg-Begebens‘ umzugehen sei: Sind „Einbildung“ und „Hoffnung“ auf „betrüglichen Grund“ gebaut und lassen sie „keine Wirklichkeit“ erwarten, so handelt es sich um eine Täuschung, die nicht trägt. In der Fiktion des Romans – der selbst Produkt der Imagination ist und mögliche Wunschstrukturen produziert – muss die Protagonistin in die ‚Realität‘ zurückkehren. Der Traum zerplatzt, Normann war in der Tat ein Betrüger. Um sich dessen zu vergewissern, reist Constantine zu Normann und stellt ihn zur Rede.401 Nüchtern tritt sie ihm entgegen: „Ich bin Constantine, […] an welcher Graf Normann treuloß worden.“402 Nun meint Normann sich in einem „Traume“ zu befinden. Der frühere Geliebte fühlt sich schuldig, rechtfertigt sich aber damit, dass er Constantine nach der Rückkehr aufgrund ihres eigenen Aufbruchs nicht mehr angetroffen habe: „Ich wolte / sie wären bey meiner Wiederkunfft nach der Calanoischen Belagerung nicht aus dem Lande gewesen / so wäre vielleicht die gantze Sache anders gerathen.“403 Durch ihre Reise habe Constantine das eigene Liebesglück verhindert, so legt es Normann im Nachhinein aus. Constantine ist auf sich selbst zurück geworfen, beraubt der Liebesillusion in ‚Fantasie‘ wie ‚Realität‘ – hier in doppelter Parenthese. Die Protagonistin entscheidet sich für die Liebe: den untreuen Geliebten bisher in der Fantasie geliebt zu haben, wird zum Richtwert ihres Handelns. Sie verzeiht ihm. „Ich habe genug / daß ich ihm seine Untreue unter die Augen gestellet“, „mehr werde ich wohl nicht ausrichten / als ich ausgerichtet habe.“404 Wichtiger als die Erfüllung von Imagination oder Traum ist die Konfrontation von Wunsch- und Realitätsprinzip. Dafür die Kraft aufgebracht zu haben und dem persönlichen ‚Schicksal‘ entgegen getreten zu sein, ist die Befriedigung, die die Protagonistin aus der Konfliktsituation zieht.

401 Ebd.,

S. 557–572. S. 562f., auch im Folgenden. 403 Ebd., S. 566f. 404 Ebd., S. 565, 569. Normann stirbt kurz darauf im Gefecht (ebd., S. 578). 402 Ebd.,

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

335

Constantine macht sich nun „wieder auff den Weg“405 und trifft bei dieser Gelegenheit Wandeim wieder: „Haha / sagte Wandeim / muß man Madame hier suchen / wenn man sie einmahl wieder finden will? Und muß man Ihnen / antwortet Constantine, biß nach Amstelien nacheilen / wenn man Sie einholen will. […] Au contrair! [erwidert Wandeim] Ich bin Ihnen biß in Anglien nachgeschiffet / ehe ich erfahren können / wo ich Sie wieder finden soll“ usw.406 Mit den bisherigen Reisestationen rekapituliert das Paar zugleich die Etappen der Beziehung. Als Wandeim Constantine daraufhin bittet, seine Frau zu werden, glaubt die Protagonistin, es handelte sich erneut um einen Scherz.407 Wandeim versichert, es ginge ihm nicht um ihr Vermögen, sondern um ihre „angenehmste Person“,408 so dass Constantine in die Ehe einwilligt: „Sie sahe ihn recht brünstig und mit charmanten Augen an / klopffte Ihn auff das artigste die Hand / und sagte endlich: Mein werthester Schatz / ich kenne Ihr gutes und überaus raisonables Gemüthe / und will Ihnen demnach nicht verhalten / daß ich Sie von Hertzen liebe.“409 Die Protagonistin „kennt“ das Gemüt des zukünftigen Gatten, sie hatte vielerlei Gelegenheiten, mit ihm vertraut zu werden und schenkt ihm schließlich ihr Herz. Die Ehe erscheint nach all diesen Testläufe wie die nachträgliche Institutionalisierung einer ohnehin andauernden ‚Reise‘, auf die sich die Protagonisten mit „guten humeur“ einlassen.410 Die „Gleichförmigkeit der Gemüther“411 besteht eher im Wissen um die Ungleichheit der Temperamente, „doch was will ich davon viel Worte machen?“, schreibt Wandeim in einem Brief, „Sie sey / wer sie auch sey / ihr ist niemand in der ganzen Welt / ich sage es ohne Flatterie, wegen ihrer vortrefflichen Qualitäten und Esprit im geringsten zu vergleichen“.412 4.2.4 Atalanta oder die Gefahren der Liebesreise Im Laufe der Gattungsentwicklung versuchen galante Autoren, eine moralisierenderbauliche Dimension im galanten Roman zu stärken und zu explizieren. Dies zeigt im Vergleich Rosts Roman Die Unglückseelige Atalanta (1708), der abschließend in einzelnen Passagen vorge­stellt wird. Gleichzeitig prägen Elemente und Motive der Abenteuerliteratur signifikant das Erzählen im Roman, was in Verbindung mit

405 Ebd.,

S. 596. S. 581f. 407 Ebd., S. 582, 586. 408 „[Ich] bitte mir nicht übel zu deuten / daß ich mehr nach Ihrer angenehmsten Person / als nach einem grössern Vermögen begierig bin“ (ebd., S.  588). Allerdings ist das Vermögen kein unbedeutender Anreiz, denn der Erzähler hatte zuvor angedeutet: „Da nun Wandeim […] von dem grossen Wechsel [hörte] / ward er desto begieriger mit Ihr vereiniget zu werden“ (ebd., S. 587). 409 Ebd., S. 588. 410 Ebd., S. 589. 411 Ebd., S. 258. 412 Brief Wandeim an Constantine (ebd., S. 323f.). 406 Ebd.,

336

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

der weiblichen Hauptfigur teilweise neue genderspezifische Ambiguitäten erzeugt. Florian Gelzer hat darauf hingewiesen, dass Rost ‒ allerdings erst zum späteren Zeitpunkt seiner Karriere ‒ den Stoff des Atalanta-Romans in ein Erbauungsbuch aufnimmt, die Wohl angerichtete neu=erfundene Tugend=Schul (1739); eine Adaption, bei der galante Stoffe dem „neuen, moralischen Kontext angepasst und entsprechend umgedeutet“ werden.413 Dies spricht einerseits für die „Tendenz zur Moralisierung und Didaxe“, wie Gelzer feststellt.414 Andererseits haben die bisherigen Ausführungen gezeigt, dass sich Didaxe und Moral, wenn überhaupt, im galanten Roman im Rahmen einer Poesie zwischen Scherz und Ernst entfalten und dem Darstellungsprinzip ex negativo unterliegen. Die Rolle der Moral im galanten Roman und damit verbundene didaktische oder moralkonzeptionelle Aspekte sind ein Desiderat, das an dieser Stelle nicht erschöpfend bearbeitet werden kann. Dennoch ist ein Ausblick auf Rosts Roman interessant, weil er zeigt, wie narrative Raumstrukturen, das Reise-/Fluchtmotiv und nun auch das Bemühen um eine narrative Beschreibung der Tugend die weibliche Figurenkonzeption beeinflussen. Geht man von einer prozessualen Gattungsperspektive aus, wie es die vorliegende Studie vorschlägt, dann ließe sich Rost Atalanta als Versuch interpretieren, eine moralisierende Dimension im Roman zu stärken, was mehr oder weniger gelingt. Rost kann sich zwar um 1708 bereits an einer Vielzahl von Gattungsexemplaren orientieren, aber sein moralisches Reformprogramm des Romans entwirft er erst einige Jahre später (Kapitel 3.3.2.4). Bei der Atalanta handelt es sich erst um die zweite Romanpublikation des Autors, der von sich behauptet, keine rechten Lehrmeister gehabt zu haben und in seinem Frühwerk gelegentlich vom rechten Weg abgekommen zu sein.415 Das Mittel, um moralische Sentenzen in den Roman zu integrieren, sind moralisierende Erzählerkommentare verallgemeinernder Art, die Rost durch Fettdruck hervorhebt. Als eine Art in den Text ‚montierte Leseransprache‘ ergänzen sie die narrativen Handlungsszenen. Teilweise entstehen dadurch komische Effekte. Das letzte Drittel von Rosts Roman widmet sich in narrativer Ausführlichkeit den Reiseabenteuern der Hauptfigur, Atalanta/Atlanter. Interessant wird die Darstellung durch ihre paratextuelle Rahmung, denn in der Zuschrift widmet Rost die Publikation der Reichsgräfin Amalia Alexandrina Friederike zu Limburg (1689–1754),416 die er gleichsam zum Vor- oder Ebenbild der galanten Hauptfigur erklärt:

413 Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 374‒381, hier S. 375. Auf die Textgestaltung

der Atalanta geht Gelzer nicht ein. S. 381. 415 Meletaon [Johann Leonhard Rost]: Curieuse Liebes=Begebenheiten. Aus dem Frantzösischen übersetzet […]. Cölln [s.n.] 1714, Vorrede, unpag. [A 11b]. 416 Meletaon: Atalanta, Zuschrift Widmungsblatt „Der Hochgebohrnen Reichs=Gräfin und Frauen / Amalien Alexandrinen Frideriquen / Gebornen Gräfin und Semper Freyin zu Limburg“, unpag. 414 Ebd.,

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

337

Gehet schon die Vollkommenheit meiner Armenianerin [Atalanta] in etwas ab / oder mangelte dem onmächtigen Kiel und dem todten Blat das Vermögen / der Welt=bezwingendē Schönheit / deutlichen Entwurff abzuschiltern: So können doch Euer Hoch=Gräfliche Excellenz, diesen Verlust / mit Dero beruffenen Annehmlichkeiten / in allen Stücken reichlich ersetzen / auch meinen Mangel in einem lebendigen Original, der galanten Welt / ohne Tadel fürstellen [Hervorh. K.B.].417

Durch die Zuschrift hofft der damals 20-jährige Rost, nicht nur „Eurer Hoch=Gräflichen Excellenz, unbeschränckten Verstand / bey der Durchlesung zu vergnügen“, sondern er wünscht auch, dass „meine unglückseelige Atalanta / sich an Ihnen eine gnädige Schutz=Göttin erwirbt / und durch Dero hohen Namen / von allen neidischen Anfeindungen / sicher bleibet.“418 Der junge Autor nutzt die Zuschrift zur Rechtfertigung und Legitimation der eigenen Romanpublikation. Der Dedikation an die Reichsgräfin entspricht der Erzähleinsatz im zweiten Teil der Handlung (Ankunft in Ecbatana), der die „herrliche[n] Tugenden“ der Hauptfigur beschreibt.419 Atalanta ist mittlerweile mit ihrem Bruder am fremden Hof von Ecbatana angekommen und beeindruckt die Gesellschaft durch ihre Erscheinung.420 Die Figurencharakteristik führt eine Vielzahl positiver Eigenschaften und Kompetenzen auf, die als Atalantas „herrliche Tugenden“ gelobt werden.421 Hierzu zählen neben „Schönheit“,422 „herrliche[n] Geist und ungemeine Klugheit“423 (man denke an die preziöse Einheit von beauté und esprit, Kapitel 3.4.2.2) selbstverständlich Lese- und Schreibkompetenzen,424 poetische Begabung (z.B. im Verfassen von Gedichten),425 Kenntnis der Pflanzen und Botanik,426 das Tanzen (bis hin zum Agieren eines männlichen Tänzers, für den man Atalanta auf einem Maskenball in der Verkleidung als Jäger hält),427 das Reiten,428 der Umgang mit Waffen (bei einem Jagdausflug erlegt die Protagonistin wilde Hirsche und einen Löwen, womit sie dem Kaiser Arsaces das Leben rettet),429 ebenso wie sie bei einem Lanzenturnier den Sieg davonträgt u.a.430 Die Widmungsträgerin Amalia Alexandrina Friederike konnte sich durchaus geehrt fühlen; die Protagonistin wird als vielseitige Figur beschrie-

417 Ebd.,

unpag. [A 2bf.] unpag. [A 2af.]. 419 Meletaon: Atalanta [Ausgabe 1717], S. 53. 420 Es sei niemand am Hof von Ecbatana, der von Atalantas „herrlichen Tugenden / nicht tausend Lob=Reden erzehlen kan“ (ebd., S. 48). 421 Ebd., S. 53. 422 Ebd., S. 46. 423 Ebd., S. 48. 424 Ebd., S. 145. 425 Ebd., S. 180f. 426 Ebd., S. 147. 427 Ebd., S. 154f. 428 Ebd., S. 211. 429 Ebd., S. 67f. 430 Ebd., S. 212–215. 418 Ebd.,

338

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

ben, die durch ihr zurückhaltendes Wesen und ihre Geschicklichkeit im geselligen wie privaten Verkehr überall geschätzt ist und deren „Tugenden mit einer besondern Ehrerbietigkeit“ stets gelobt werden.431 In romankonzeptioneller Hinsicht ist entscheidend, dass der Tugendbegriff im galanten Roman von Erzähler und Figuren weder argumentativ erörtert noch figurenpsychologisch reflektiert wird. Sondern die Tugend der Protagonistin zeigt sich auf der Handlungsebene der Erzählung, im äußeren Verhalten. Eine Erzählliteratur, die kaum psychologischen Formen des Erzählens aufweist, aber auch keine theoretische Abhandlung ist, muss die Tugendhaftigkeit der Figur narrativ inszenieren. Die Tugend erscheint im Sinne des antiken Kalokagathia-Ideals als Zeichen der Seele und offenbart sich im äußeren Verhalten: „Eine so getreue Seele führete die Prinzessin in ihrem schönen Leibe / welche sich durch die Tugenden und ein untadelhafftes Leben / noch mehr zu adeln trachtete“.432 Die innere Verfasstheit der Protagonistin wird durch das „Leben“, d.h. durch das Handeln, das Figurenverhalten im Roman, zum Ausdruck gebracht. Erneut ist hier an den Rat der Mutter zu erinnern, der das Prinzip der Konfliktgestaltung verdeutlicht: Gegründet auf „die Tugend“ im „Gemüth“ ist „der Welt und allen ihren Anfällen [zu] trutzen“.433 In der Konfrontation mit Konflikten kann/soll die Protagonistin ihre Tugendhaftigkeit beweisen. Je brutaler die Konflikte im Roman gestaltet werden, so ließe sich sagen, desto eindringlicher tritt auch die Tugendhaftigkeit der Figur zu Tage  –  eine Logik, die bereits Bohses Wirkungskonzept des Lasters nahelegt (Kapitel 3.3.2.3) und die später als ein Prinzip von Eskalation – Deeskalation beschrieben werden soll (Kapitel 4.3.4). Der Paarbildungsprozess, in Bohses Liebenswürdiger Constantine Zentrum der Handlungs- und Konfliktgestaltung, ist in Rosts Atalanta nur noch eine Episode.434 Er soll an dieser Stelle übersprungen werden: Die Liebe zwischen der jungen Adligen und dem Fürsten Pallamedes bildet die handlungslogische Basis, die Atalantas zweite Reise motiviert. Atalanta „entschloß“ sich – eine Zeit des Zweifels und der Überlegung eingeschlossen – Pallamedes zu lieben.435 Mit diesem Entschluss liefert sie sich der Liebe und deren Verbindlichkeit vollständig aus: „Ja […] / der ists / dem ich Hertz und Freyheit aufgeopfert / diesen will und muß ich lieben / der soll Atalanten besitzen / auch vor allen Kaysern und Königen in der gantzen Welt den Fürzug haben.“436 Auch Pallamedes besiegelt die Wahl der Partnerin durch den Schwur bedingungsloser Treue und „ungetheilter Liebe“.437 Im weiteren Verlauf der Handlung 431 Ebd.,

S. 48. S. 164f., Hervorh. K.B. 433 Ebd., S. 6., Hervorh. K.B. 434 Ebd., S. 46‒112 (Paarbildungsprozess). 435 „Die Liebe überwand aber endlich / dahero das Fräulein dem Fürsten ihr Hertz zu einen Eigenthum einzuraumen sich entschloß. Doch wolte sie zuvor an dessen verpflichten Reden noch ihre Lust haben [Hervorh. K.B.]“ (ebd., S. 102f.). 436 Ebd., S. 260f., Hervorh. K.B. 437 Ebd., S. 111. 432 Ebd.,

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

339

tritt er jedoch – ähnlich wie Normann in der Erzählung um Constantine – kaum noch in Erscheinung bzw. nur vermittelt über Briefe. Kurz nachdem sich das Paar gefunden hat, wird er in den Krieg geschickt.438 Obwohl eigentlich eine Paarstruktur inszeniert wird, rückt der Protagonist in den Hintergrund, so dass sich alle Aufmerksamkeit auf die weibliche Hauptfigur konzentriert. Der entfernte Geliebte bildet das imaginäre Zentrum eines Liebesstrebens, durch das sich Atalantas Tugendhaftigkeit und sittliche Integrität erweist. Die Treue im Lieben gilt als Ausdruck der sittlichen Integrität der Protagonistin und zugleich als Beweis der weiblichen Tugendhaftigkeit. Rost/Meletaon, der sich in der Vorrede explizit auf „Talander“ bezieht,439 ändert damit im Vergleich zu Bohses Constantine die Konfliktstruktur: Er stellt nicht die Paarbildung, sondern die Treueprüfung des Paares respektive der Protagonistin in den Vordergrund. Obwohl auch Bohses Constantine eine enorme Treue zeigt, richtet sich diese auf den tot geglaubten Normann, so dass im Verhältnis zu Wandeim kaum von einer ‚Treueprüfung‘ gesprochen werden kann, weil die Paarbildung im Grunde noch gar nicht stattfand, sondern sich erst im Laufe des Romans vollzieht. Rost zieht die Paarbildung romankonzeptionell vor, so dass nun äußere Umstände die Liebe und Treue der weiblichen Hauptfigur auf die Probe stellen. Mit dieser Romankonzeption schließt Rost wieder stärker an das Heliodor-Schema an, weicht allerdings von dessen glücklicher Schlussgestaltung ab, weil die Liebe zwischen Atalanta und Pallamedes nie zur Ehe, sondern in Atalantas heroischen Tod führt. 4.2.4.1 Kleidertausch und Geschlechterwechsel Durch vielfältige „Tugenden“ und Annehmlichkeiten erregt Atalanta in der neuen Umgebung am Hof von Ecbatana Aufmerksamkeit und Begehren. Der moralische Konflikt ist aus der literarischen Tradition bekannt: Die Wollust des Mächtigen (des Kaiser Arsaces) richtet sich auf die Unschuld der Frau, die sich dagegen wehren muss, soll die Tugend zu ihrem Recht kommen. Interessant ist weniger das bekannte Konfliktmuster, als vielmehr Rosts Übertragung in konkrete Handlungsszenen. Die Darstellung konzentriert sich keineswegs auf die moralische Essenz, sondern vielfältige Nebenhandlungen und Ausschmückungen sollen den Figurencharakter Atalantas plastisch illustrieren. Die ‚moralische Absicht‘ des Romans (Inszenierung der weiblichen Tugend) mag dadurch zum Teil sabotiert werden; besonders das Reise-/ Fluchtmotiv und der Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch scheinen die erbauliche Intention zu hintertreiben. Offen tritt Atalanta dem Kaiser Arsaces und dessen Begehren entgegen und erklärt, sie habe „ein Gelübd […] gethan [so] daß ich einem so mächtigen Monar-

438 Ebd., 439 Ebd.,

S. 126f. Vorrede an den Leser, unpag. [A 2a].

340

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

chen / unmöglich in seinen Verlangen einwilligen kan“.440 Arsaces lässt dies nicht gelten, so dass die Protagonistin zum symbolischen Anschlag übergeht: Mit einem „Eisen“ schlägt sie in der Eingangshalle des Schlosses folgende Verse unter das Porträt des Kaisers (im Text durch Fettdruck hervorgehoben): „Du bist zwar ein Monarch / der Kron und Zepter führet. // […] // Doch aber auch ein Sclav / der tausend Plagen spühret // […] Verlangest du die Ruh / und deiner Thaten Tittel:/ / So bleib auf deinem Thron: Mir laß den Sclaven=Kittel.“441 Einem Graffiti gleich bringt Atalanta ihre Abwehr ‚öffentlich‘ zum Ausdruck, was durch Fettdruck und Figurenverhalten als wertender Kommentar zu deuten ist und einigermaßen drastisch, aber auch komisch wirkt. Zudem sucht sie die Hilfe der Kaiserin Mirgalinde, die die exklusive und tugendhafte Liebe zu Pallamedes unterstützt.442 Die Kaiserin schlägt einen ‚Bettentausch‘ vor, bei dem sie die Rolle Atalantas übernimmt, um Arsaces an deren Stelle zu empfangen ‒ ein typisches Motiv, wie Die Versteckten Liebe im Kloster zeigt (Kapitel 4.1.2).443 Atalanta weiht die Kammerfrau Ariaspe in die Intrige ein – das gemeinsame Ziel, Treue und Tugendhaftigkeit der Protagonistin zu schützen, lässt Kaiserin, Adlige und Dienerin zu Komplizinnen werden. „Mirgalinde ließ sich hernach ein leichtes Nacht=Kleid bringen / und in Atalantas Schlaf=Gemach führen“.444 Einige Tage später entdeckt Arsaces jedoch an seiner Ehefrau eine Wunde, die er in der Hitze der Nacht meinte, Atalanta zugefügt zu haben.445 Der Schwindel fliegt auf, Arsaces lässt außer sich vor Zorn Atalanta, Ariaspe und Mirgalinde gefangen setzen. Die Kaiserin kann der Protagonistin nicht mehr helfen. Nun weiß die Kammerfrau Rat. Ariaspe schlägt vor, „sich an einer seidenen Schnur zum Fenster [des Verließes] hinunter zu lassen“ und spricht der Herrin Mut zu: „Euer Gnaden müssen sich nur ein rechtes Hertz fassen / und […] sich vielmehr dieses fürstellen / daß sie dadurch ihre Freyheit erlangen“.446 Die Konfliktgestaltung irritiert Stereotype des ‚starken‘ versus ‚schwachen‘ Geschlechts respektive Mann-Frau. Die Protagonistin kündigt dem Geliebten an, sich selbst aus der misslichen Lage zu befreien, falls dieser keine Gelegenheit fände, sie zu retten. Im Brief an Pallamedes erklärt Atalanta: „[I]ch [will] mich schon bemühen […] den Kayser durch neue Erdichtungen von seiner hefftigen Liebe ab[zu]halten / hilfft es aber nichts / und ihr könnet die Armee nicht verlassen; so will ich mich eine Weile nach Turchestan begeben / und daselbst euerer erwarten.“447 Atalanta schätzt die Flucht zwar als gefährlich ein, doch sieht sie keine andere Möglichkeit: „so müssen wir

440 Meletaon: Atalanta, 441 Ebd.,

S. 247f. 442 Ebd., S. 251f. 443 Ebd., S. 270–298. 444 Ebd., S. 282. 445 Ebd., S. 293f. 446 Ebd., S. 303. 447 Ebd., S. 239.

S. 202.

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

341

eine gefährliche Flucht wagen / es mag auch gehen wie es will.“448 Für Atalanta und Ariaspe steht außer Frage, dass in der misslichen Situation gehandelt werden muss. Überraschend fliegt ein Briefpfeil durchs Fenster mit dem Rettungsplan von Prinz Bardanes, der Atalanta ebenfalls geraten hatte, „dero Treue durch die Flucht zu retten.“449 Die Frauen planen die Flucht mit Hilfe des Kavaliers, und Atalanta informiert Pallamedes in einem Brief: Pallamedes, Endlich hat es das Verhängnus so weit gebracht / daß ich euch getreu zu bleiben Ecbatana mit dem Rücken ansehen muß. Ich stehe eben in Bereitschafft von hier zu fliehen / weiß aber noch nicht wie es geräth […] Atalanta bleibet euch getreu / sie lässet das neidische Glück wider sie stürmen und toben. Sie verachtet alle Verfolgung / Unglück und Herzeleid. Sie begiebt sich in Gefahr Leibes und Leben / damit sie beständig lieben / und den Ruhm einer Getreuen erwerben kan.450

Atalanta bittet Bardanes, für Ariaspe und sie „schlechte Manns=Kleider“ bereit zu halten;451 ein Diener von Bardanes macht die Wachen beim Kartenspiel betrunken, so dass die Frauen befreit werden und entkommen können: Atalanta und Ariaspe zogen ihre Kleider an / setzten falsche Haare auf den Kopf / machten Bärte vor die Gesichter / wodurch sie so verstellet schienen / daß sie der Printz fast selbst nicht kante. Hierauf setzten sie sich zu Pferd / da sie dann jederman vor Bediente dieses Printzen hielte / weil sie sich unter dessen Gefolg gemenget / und damit zur Stadt hinaus ritten.452

Atalanta und Ariaspe bleiben die gesamte Reise, d.h. die gesamte Erzählzeit der weiteren Geschichte, in der Verkleidung als Männer. Mit der Kleidung wechseln sie nicht nur die soziale Geschlechterrolle, sondern übernehmen männliche Verhaltensund Umgangsformen (wie schon Syringe und Placidie), doch täuscht zumindest Atalanta nun auch eine niedere soziale Stellung vor, da sich die Frauen unter die Gefolg- und Dienerschaft von Bardanes einreihen.453 Was in Kapitel 4.1.3.2 über das Referenz- und Verweissystem geschlechternormierter Markierungen im Text und die Spannung zwischen Leser- und Figurenwissen gesagt wurde, gilt auch hier: Die weiblichen Figuren treten als Männer auf, ohne dass diese Täuschung von den Figuren der Romanwelt erkannt wird. Leser und Leserinnen können die Protagonistin erneut als Mann oder Frau rezipieren. Einen Kommentar zum Geschlechtertausch gibt es nicht, wohl aber zur damit verbundenen Handlung (Flucht, Gefahr der Reise), die Rost vor allem dazu dient, die Besorgnis von Pallamedes um Atalanta auszudrücken. Damit wird ein Hinweis zur emotionalen Verfassung des Liebhabers gegeben, welcher der Protagonistin in der Fremde nicht beistehen kann. Rost gestaltet dies als

448 Ebd.,

S. 303. S. 263. 450 Ebd., S. 318f. 451 Ebd., S. 317. 452 Ebd., S. 320. 453 Ebd. 449 Ebd.,

342

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

verallgemeinernden Erzählerkommentar: „Nichts kan einen getreuen Liebhaber heftiger betrüben / als wann er weiß / daß sein Herz [die Geliebte] einiger Gefahr unterworfen […] er machet sich die grausamsten Fürstellungen / welche ihn manchmal zur äussersten Verzweiflung zwingen solten“.454 Das Wissen um die Gefährdung der abwesenden Geliebten schürt die Intensität der Gefühle. 4.2.4.2 Gefahren der Reise Rost/Meletaon treibt die Gefährdung der Protagonistin noch weiter: Erfolgreich vom Ecbatan’schen Hof geflüchtet, geraten Atalanta und Ariaspe in den ersten räuberischen Hinterhalt. Auch dies ist ein typisches Motiv galanter Romane (Entführung). Die Frauenfiguren zeigen Einsatzbereitschaft und Mut, beherzt greifen sie zum Schwert: „Der Printz […] sahe mit Erstaunen / daß sie [Atalanta] selbst mit bloßen Säbel auf die Feinde los gieng / Ariaspe / welche auch von solcher Hertzhafftigkeit / daß sie eine bloße Spitze nicht scheuete / folgte ihrer Prinzessin unerschrocken nach.“455 Als Bardanes Atalanta bittet, sich zurück zu ziehen, wehrt die Kämpfende ab. Es fallen Köpfe, es gehen „Aug und Ohr entzwey“,456 doch trotz allen Einsatzes schafft es die Reisegemeinschaft nicht, eine Gefangennahme zu verhindern. Die Frauen werden von Bardanes getrennt und in eine Räuberhöhle verschleppt.457 Im Verließ treffen sie auf das „Turchestanische Fräulein“ Leinda, die wie Atalanta und Ariaspe Opfer eines Überfalls und auf Reisen gefangen genommen wurde.458 Der Roman inszeniert weibliches Reisen nicht als Ausnahme, wie noch in Bohses Constantine, sondern etliche Frauen scheinen sich der Gefahr auszusetzen, so dass unter Umständen zu vermuten ist, auf Geschlechtsgenossinnen in der Zelle zu treffen, falls sich auf Reisen eine Entführung ergeben sollte. Atalanta in der Verkleidung als Mann erweist sich sofort charmant und höflich dem Fräulein gegenüber und übernimmt die Rolle des Retters: „Verlasset euch auf mich Fräulein / ich verspreche euch hiermit eure Freyheit zuverschaffen“, worauf sie sich als Frau zu erkennen gibt, indem sie „ihre Kleider [öffnete] und entblösete dadurch ihre schnee=weisse Brüste“.459 Im Körper Frau, im Verhalten Mann erwirkt die Protagonistin die Befreiung für sich, Ariaspe und Leinda. Ohne den Schutz von Bardanes sind die Frauen nun orientierungslos in der Fremde unterwegs. Mittellos und abgebrannt, verirrt in einer unwirtlichen Gegend finden sich selten Unterkunft und Nahrung. Anders als für Constantine ist die Reise für Atalanta nicht mehr luxuriös und komfortabel, sondern anstrengend und Kraft zehrend:

454 Ebd.,

S. 376. S. 388f. 456 Ebd., S. 389. 457 Ebd., S. 391f. 458 Ebd. S. 415f., 426f. (Leindas Geschichte). 459 Ebd., S. 399. 455 Ebd.,

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

343

Die Prinzessin Atalanta hatte unterdessen ihre Reise / ohne daß sie wuste / wo sie hinkam / durch die […] Gebürge fortgesetzet / indeme sie nur manchmahl in einer geringen Bauern=Hütten ruhen kunte / doch mehrentheils unter freyen Himmel das Nacht=Lager hielte / ihr Getränck war nichts bessers als schlechtes Wasser / die Speisen aber raues gedörrtes Fleisch / mit welchem sie / wann sie in eine Hütte kam / sich muste begnügen lassen.460

Bedrohliche Gefahrensituationen wiederholen sich (erneute Gefangennahme auf dem Raubschloss des Menschenhändlers Moglor),461 so dass Atalanta, Ariaspe und Leinda auch voneinander getrennt werden und schließlich jede für sich allein den Gefahren trotzen muss. Atalanta beschließt, die Verkleidung als Mann dauerhaft anzunehmen, wechselt ihren Namen, lässt „sich künfftig Atlanter nennen“ und wird auch vom Erzähler nur noch als „er“ in der maskulinen Personalform geführt. Erzählerkommentare oder wertende Einschübe fehlen.462 Die Existenz der Protagonistin ist allerdings auch in der Rolle als Mann bedroht; von einem vorbeiziehenden Skythen, dem sie sich anschließt, einem kämpferischen eurasischen Nomaden, wird sie in die Sklaverei gezwungen und muss für ihn arbeiten.463 Die Reise ist für die Protagonistin ‒ ob als ‚Mann‘ oder als Frau ‒ mit unsäglichen Entbehrungen und Qualen verbunden: Orientierungslos herumirrend muss Atalanta/Atlanter darben und hungern, wird der Freiheit beraubt, fremden Interessen ausgeliefert und schließlich als Sklave körperlich misshandelt.464 Mit der vergnüglich-galanten Reise einer Constantine hat Atalantas Aufbruch in die Fremde nicht viel gemein. Doch die Reise dient einem höheren Zweck – soll sie doch die Tugendhaftigkeit, Beständigkeit und Aufrichtigkeit der Protagonistin in der Liebe zu Pallamedes bestätigen. Und in der 460 Ebd.,

S. 412. S. 413f. 462 Ebd., S. 416; die Transformation zum Mann wird nicht begründet, der Erzähler konstatiert lediglich: „Nach einigen Tagen war Atalanta / die sich künfftig Atlanter nennen lassen wird / wegen der ausgestandenen harten Reise / bettlägrig“ (ebd., S. 416f.). Und kurz darauf: „Atlander [sic] befand sich auf diese Nachricht höchst betrübt [dass Ariaspe und Leinda an einen chinesischen Händler verkauft wurden, K.B.] / er sahe sich nun gantz allein unter fremden wilden Völkern“ (ebd., S. 419). 463 Ebd., S. 412, 437f. Nach der Überlieferung von Herodot soll es unter den Skythen eine besondere Gruppe androgyner Wahrsager (Enareer bzw. Anarier) gegeben haben, die aus Lindenrinden weissagen konnten und über die göttliche Gabe der Prophetie verfügten. Herodot erklärt ihre Androgynität aus den klimatischen Bedingungen (Kälte und Feuchtigkeit) sowie als ursprünglich göttliche Strafe, Reinhold Bilcher: Herodots Welt. Der Aufbau der Historie am Bild der fremden Länder und Völker, ihrer Zivilisation und ihrer Geschichte. 2. Aufl., Berlin 2001, S. 82f. Dass Rost die Protagonistin in der Rolle als Mann gerade von einem Skythen misshandeln lässt, dessen Kultur und Volk selbst mit einer Form von Androgynität assoziiert wird, mag die Schwere der Prüfung unterstreichen, der Atalanta ausgesetzt ist (als gewissermaßen androgyne Figur wird sie selbst unter ‚ihresgleichen‘ verkannt und misshandelt), was zugleich eine Kritik an androgynen Genderformen transportiert. Da die Protagonistin allerdings als positive Hauptfigur inszeniert wird, ließe sie sich auch als das ‚bessere‘ Exempel von Androgynität lesen, die jener der ‚barbarischen Welt‘ überlegen sei. Dies müsste in Zukunft genauer untersucht werden. 464 Atalanta wird vom Skythen geschlagen und immer wieder „mit den empfindlichsten Streichen tractiret“, Meletaon: Atalanta, S. 437f. 461 Ebd.,

344

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Tat sucht dieser ebenfalls orientierungslos in der Fremde nach der Geliebten. Zu mehreren Zeitpunkten verpassen sich Atalanta und Pallamedes, weil eine(r) von beiden zu früh oder zu spät am rechten Ort ankommt.465 4.2.4.3 Wiederfinden: Atlanter und Pallamedes Die folgenschwerste Verwechslung geschieht, als Atalanta/Atlanter bereits längere Zeit im Gefolge von Pallamedes reist, aber beide einander nicht erkennen. Auf der Suche nach der Geliebten trifft Pallamedes auf die zum Sklaven entstellte Protagonistin und kauft, weil er die Misshandlungen des Skythen unerträglich findet, Atlanter frei.466 Als einer unter vielen Dienern reist Atalanta im Trupp des Pallamedes an verschiedene Orte, bis die Täuschung durch Zufall gelüftet wird.467 Für einen Auftrag herbeigerufen, entdeckt Atalanta bei Pallamedes ein Amulett, das sie einst dem Geliebten zum Abschied schenkte. Pallamedes, der selbst unter falscher Identität reist, enthüllt jetzt sein Antlitz, wäscht sich den „Anstrich“ vom Gesicht, so dass Atalanta/Atlanter ihn erkennt.468 Sie selbst „eilete […] zum Zimmer hinaus / warf die falschen Haare von dem Haupt / riß den Bart aus dem Gesicht / wusch sich geschwind mit frischem Wasser ab / und trat also / doch noch in den Manns=Kleidern wieder in das Zimmer.“469 Die Liebenden erkennen sich nicht aufgrund ihres Wesens – als Herr und Knecht pflegen sie allerdings auch keinen intensiven Umgang –, sondern durch symbolische Attribute, das Amulett. Die Tugend ist zwar eine Eigenschaft, die sich im Handeln und im äußeren Verhalten erweisen soll, aber sie ist offensichtlich keine Eigenschaft, die das Äußere transzendiert und, wie im empfindsamen Roman des 18. Jahrhunderts, über alle äußeren Verstellungen und Misslagen hinweg notwendig erkennbar bleibt. Intradiegetisch ist die Maskierung im galanten Roman komplett und kann selbst von den Liebenden nur durch Symbole gelüftet werden. Diese motivieren das Erkennen, das als „Lohn“ der „Treue“ und beider „ausgestandene[r] Verdrüßlichkeiten“ gefeiert wird.470 Eine „glückliche Vermählung“ ist geplant,471 doch dazu wird es nicht kommen. Am Hof von Cambala, wohin das Paar geladen ist, weil die Kaiserin Cyrinde die Geschichte Atalantas und die ungewöhnliche Frau kennenlernen will, wiederholt sich Atalantas Schicksal. Nun begehrt der Kaiser Achmet die Protagonistin, wird abgewiesen und lässt aus Rache Atalanta samt Pallamedes hinrichten. Für ihre Treue zahlen die Protagonistin und ihr Liebhaber den hohen Preis des Lebens.

465 Ebd.,

S. 362, 426, 435, 436. S. 438. 467 Ebd., S. 486. 468 Ebd., S. 487, 489. 469 Ebd., S. 489. 470 Ebd., S. 489f. 471 Ebd., S. 490. 466 Ebd.,

4.2 Freiheiten und Herausforderungen des Reisens: Weiblichkeit und Raumkonstruktion

345

Der Tod Atalantas könnte als Absage an eine selbstständige, Gendergrenzen ignorierende Weiblichkeit gedeutet werden, doch die Hinrichtung der Protagonistin wird als heroischer Sieg der Treue inszeniert. In den Tod geht Atalanta erhobenen Hauptes und im Bewusstsein, Liebe, Treue und Tugendhaftigkeit, ja, ihr Leben nicht den korrumpierenden Strukturen der höfischen Umgebung untergeordnet zu haben. Die Protagonistin stirbt nach einem Leben voller Gefahren, Herausforderungen und Entbehrungen – und hat dabei das stolze Bewusstsein, trotz aller Widrigkeiten das „Glück besiegt“ zu haben. Noch vor dem Henker dichtet Atalanta, erneut in Fettdruck peritextuell hervorgehoben: Welt gute Nacht! Ich gehe von dir fort / Beweine nicht / der Schönheit Frühlings=Jahre / Der bunten Blumen=Pracht verdorrt / Ein jeder Mensch / muß auf die Toden=Bahre: / Drum sterb ich auch und hab vergnügt / Das Glück besiegt [Hervorh. K.B.].472

In der Schlussgestaltung findet sich das barocke memento mori zu einem tugenduntersetzten galanten memento amori transformiert. Die Heldin nimmt den Tod in Kauf im Bewusst­sein, der privaten Treue- und Tugendvorstellung gefolgt zu sein. Am Ende des Romans häufen sich symbolische und metanarrative Hinweise, peritextuell durch Fettdruck hervorgehoben. Atalanta und ihre ‚Geschichte‘ erhalten von der Kaiserin Cyrinde nachträglich Absolution und Würdigung: Gegen den Willen des Kaisers lässt die Kaiserin die Asche Atalantas im „güldenen Geschirr“ aufsammeln und sie im „kostbahren Grab=Mahl“ mit der Aufschrift (Fettdruck und in Antiqua-Lettern groß gedruckt) beisetzen: „Die unschuldige Asche der unglückseeligen Atalanta“.473 Den Grabstein zeichnet die Kaiserin mit ihrem eigenen Namen und das „gemeine Volck“ bricht in „grosses Wehklagen“ aus.474 Atalanta ist zwar tot, aber die Tugend lebt. 4.2.5 Fazit: Reisemotiv, Liebessujet und narratives Liebes- und Geschlechtermodell Die Inszenierung der galanten Protagonistin ist in beiden Romanen eng mit narrativen Raumstrukturen und dem Motiv der Reise (Flucht) verbunden. Der galante Roman nimmt hier Momente der preziösen Romantradition auf, insbesondere Scudérys Carte de Tendre, die mittels topografischer Strukturen eine asymmetrische Liebesund Affektenkasuistik illustriert. Zum Zwecke der Affektkultivierung begibt sich der Mann als Dienender (amant) in das unwegsame Gelände von Païs de Tendre, um im Widerstand gegen Gefahren und mittels der räumlichen Bewegung Ausdauer, Einsatzbereitschaft und Tugendhaftigkeit zu beweisen, sich sittlich zu vervollkommnen und schließlich die Gunst der Dame zu erringen. Diese bleibt passiv zurück und 472 Ebd.,

S. 557. S. 559. 474 Ebd., S. 558. 473 Ebd.,

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

wartet den Verlauf der ‚Reise‘ ab. Auch im galanten Roman wird das Motiv der Reise genutzt, um über die territoriale Bewegungen eine Darstellung der Affektentwicklung zu illustrieren, die nun – anders als im Modell der Carte de Tendre ‒ auch die Protagonistin betrifft. Themenkreise/Sujets, Semantiken und Darstellungsformen der preziöse Tradition und der Abenteuer-/Reiseliteratur überlagern sich, die in Verbindung mit dem weiblichen Figurenpersonal Ambivalenzen generieren (Gefahren/Entführungen, erotische Freiheiten, Irrationalität der Affekte). Rost/Meletaon versucht zwar im späteren Roman, eine moralisierend-erbauliche Dimension der Textgestaltung zu stärken, doch die allgemeinen Erzählerkommentare scheinen eher additiv wie nach einer Art Baukasten-Prinzip dem Text ‚aufgesetzt‘ zu sein, so dass die Lehrsentenz die Ambivalenz und Komik kaum mildert. Als Reisende oder Flüchtende ist die galante Protagonistin aktive, handlungstragende und handlungsgestaltende Figur und nimmt Einfluss auf die narrative Aushandlung eines galanten Liebes- und Geschlechtermodells, das als reziproke Struktur beschrieben werden kann. Wie schon in Kapitel 4.1.4 lässt sich erneut feststellen, dass der galante Roman die starke Weiblichkeitszentriertheit des preziösen Modells und dessen recht starre Hierarchie von maîtresse und amant aufweicht, zugunsten eines aktiven Verhältnisses beider Geschlechter, was zugleich eine Art Emotionalisierung impliziert („Gleichförmigkeit zweyer Gemüther / und Mittheilung der Hertzen / Sinn und Gedancken“ ).475 Die weibliche Figurenkonzeption wird durch Bewegungsnarrative und fiktionale Raumstrukturen, die mit räumlichen und sozialen Grenzüberschreitung verbunden sind, komplexer. Beide Protagonistinnen reisen selbstbestimmt durch unbekannte Gegenden, frei über Orte und Dauer ihrer Aufenthalte entscheidend. Gefahren und Konflikte führen nicht zum Abbruch der Reise. Im Gegenteil: Die Komplikationen des freien Reisens motivieren im Roman die explizite Schilderung der weiblichen Aktion. Die barocke Fortuna-Konzeption scheint um die transzendente Dimension (Providentia) entschlackt, so dass in der Konfrontation mit den Unwegbarkeiten und der Kontingenz des Irdischen die Aktivität des Einzelnen – hier: der weiblichen Figur ‒ zu Tage tritt. Constantine und Atalanta treten als eigenständige Figuren in Erscheinung, die ohne Weiteres in der Lage sind, unbekannte Situationen zum eigenen Vorteil zu gestalten. Ungehindert treten sie zu männlichen wie weiblichen Figuren der Romanwelt in Kontakt, treffen Liebesentscheidungen nach persönlichen Präferenzen und verfügen eigenmächtig über ihren Körper bzw. die weibliche Erotik. Den Hauptfiguren werden weite Handlungsmöglichkeiten eingeräumt, um Vorstellungen zur persönlichen Lebensführung, Partnersuche und Beziehungspraxis zu erproben. Wie der spätere Roman von Rost jedoch zeigt, verbindet sich mit der Protagonistin immer expliziter eine spezifische Funktion: die Problematisierung von Tugend und Treue. Herbert Singer ist der Auffassung, dass der galante Roman die Tugend-

475 Talander:

Liebenswürdige Constantine, S. 258.

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle

347

problematik „bagatellisiert“: „Treue und Verrat, Tugend und Laster sind […] nicht mehr unteilbar und unwiderruflich. Das offizielle Wertsystem wird von einer laxen Gesellschaftsmoral unterminiert, die als Kavaliersdelikt entschuldigt, was nach christlichen und stoischen Moralkriterien unverzeihlich ist.“476 Wie die Ausführungen zeigen, ist dem nur bedingt zuzustimmen. In einer Poesie zwischen Scherz und Ernst spielt zwar der Scherz eine bedeutende Rolle (Singer spricht vom „Verwirrungsschema“: gescheiterte Verabredungen, Bettentausch, Nichtidentifizierbarkeit der Liebenden),477 doch stellt gerade die Konfrontation mit dem Laster Bedingung und Möglichkeit im Roman dar, um die Tugendhaftigkeit der Protagonistin zu figurieren. In der Bedrohung, Konfrontation, im Kampf oder Bestreben nach Tugend und Beständigkeit erweist sich die sittliche Integrität der weiblichen Figur. Es handelt sich um eine Tugenddarstellung ex negativo. Dennoch ist die galante Protagonistin keine Picara-Figur. Es sollen daher abschließend standesspezifische Strukturen in die Analyse einbezogen werden.

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle: Weiblichkeit und Stand in Bohses Ariadne (1699) und Rosts Die Unvergleichliche Heldin unserer Zeiten (1715) Soziale Positionen werden in der Frühen Neuzeit und im 18. Jahrhundert grundlegend durch den Stand einer Person innerhalb der Ständehierarchie bestimmt. Über die Zugehörigkeit zu sozialen Ständen strukturieren sich Partizipationschancen sowie Ausgrenzungsformen, definieren sich Interaktionsformen, Konventionen und Restriktionen und interferieren mit der Kategorie Geschlecht. Auch im Rahmen der Fiktion wird die Protagonistin in spezifischen Standes- und Sozialstrukturen situiert, so dass innerhalb der erzählten Geschichte ständische Umgangsformen und Konventionen beachtet, ignoriert oder variiert werden können. Im Zentrum der folgenden Textanalyse steht das Verhältnis von sozialem Stand, Alter und Geschlecht: Sowohl Bohse/Talanders Roman Ariadnens Königlicher Printzessin von Toledo Staats= und Liebesgeschichte (1699)478 als auch Rost/Meletaons Die Unvergleichliche Heldin unserer Zeiten (1715)479 betonen das jugendliche Alter der Protagonistin und ent-

476 Singer:

Der galante Roman, S. 44f. S. 45. 478 Talander [August Bohse]: Ariadnens königlicher Printzeßin von Toledo Staats= und Liebes=Geschichte: Nebst einer Vorrede, wie weit die unter seinem Nahmen herausgekommne Liebenswürdige Europäerin Constantine vor seine Arbeit zu halten / Zu vergönnter Gemüths=Ergötzung an das Licht gegeben von Talandern. Leipzig: Gleditsch, anno 1699. 479 Meletaon [Johann Leonhard Rost]: Die / Unvergleichliche / Heldin / unserer Zeiten; / in dem Bildniß / Der Schönen Holländerin / von der / Mademoiselle S* / in einer / Galanten Begebenheit / nach den Leben abgeschildert; / und / aus dem Französischen ins / Teutsche übersetzet: / 477 Ebd.,

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

wickeln ausgehend von dieser Altersstruktur Liebes-, Standes- und Vater-TochterKonflikte. Der Verweis auf die Jugend der Hauptfigur wird Teil galanter Erzählstrategien, die es im Rahmen der Fiktion erlauben, ständische Erwartungshaltungen zu ignorieren und umzugestalten. Als motivierendes Moment des Konfliktaufbaus wird zunächst der Anspruch der weiblichen Hauptfigur auf eine freie Liebeswahl untersucht (Kapitel 4.3.1). Beide Protagonistinnen wehren sich gegen die Logik der ständisch-dynastischen Heiratspolitik und streiten für eine selbstbestimmte Liebe. Diese Konfliktkonstellation, auf deren Grundlage ein Konzept galanter Liebe ausgehandelt wird, erzwingt den Widerstand der jungen Frauen gegen die väterliche Autorität. Die Analyse konzentriert sich daher auf Alters- und Generationenkonflikte im weiblichkeitszentrierten Roman (Kapitel 4.3.2). Untersucht wird, in welcher Weise alters- und standesspezifischen Strukturen die weibliche Figurenkonzeption prägen und welche weiterführenden Textfunktionen sich mit diesen Erzähl- und Konfliktkonstellationen verbinden (standesübergreifende Liebe, Aushandlung eines Konzepts galanter Liebe, Kapitel 4.3.3). Abschließend wird an Rosts Unvergleichlicher Heldin untersucht, welche inhaltlichen und formalen Modifikationen sich im weiblichkeitszentrierten Roman nach 1710 beobachten lassen, die auf einen Reformprozess in Absicht auf die weibliche Leserschaft hindeuten (Kapitel 4.3.4). Dies lässt sich als Ausdruck von Rosts gendermotivierter Romankritik werten, wie sie in Kapitel 3.3.2.4 vorgestellt wurde. Während Bohse mit der Ariadne einen ‚originären‘ galanten Roman vorlegt, handelt es sich bei Rosts Unvergleichlicher Heldin um eine Übersetzung aus dem Französischen. Vorlage ist der französische Roman Heroïne incomparable de nôtre Siecle réprésentée au naturel dans la Belle Hollandoise par Madmoiselle S* (1713).480 Ob es sich tatsächlich um die Publikation einer realen Autorin handelt, „der Mademoiselle S* oder wer sonsten unter diesem Namen die Feder mag geführet haben“,481 will Meletaon nicht entscheiden – die Frage der weiblichen Autorschaft spielt für

von / MELETAON. / Nürnberg / Bey Johann Albrecht. A[nno] 1724 [Erstausgabe Nürnberg: Johann Albrecht, 1715]. Französischer Prätext: [anonym]: L’Heroïne incomparable de Notre Siècle, Réprésentée au naturel dans la Belle Hollandoise, Par Mademoiselle S*. Histoire Galante. A La Haye, Chez David Duri, Marchand Libraire, à la Grande Salle de la Cour. M.DCC.XIII [1713]. 480 Der Prätext wird in der Vorrede expliziert: „Hier lieffere ich […] die Übersetzung einer galanten Historie / welche unter dem Titul: L’Heroïne incomparable de nôtre Siecle réprésentée au naturel dans la Belle Hollandoise par Madmoiselle S* à la Haye Chez David Duri, Marchand Libraire à la grande Salle de la Cour M.D.CCXIII [1713] […] heraus kommen; und mir unlängst nebst noch einem andern kleinen Frantzösischen Roman, von einer gewisen Stands=Person aus dem allerliebsten Sachsen Lande mit dem Befehl überschicket worden / daß ich sie […] in meinen Neben-Stunden […] in das Teutsche übersetzen solte“, Meletaon: Unvergleichliche Heldin, Vorrede, unpag. [A 16 af.]. 481 Ebd., unpag. [A 16a].

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle

349

ihn keine Rolle. Vermutlich stammt der Text von Jean Nicolas.482 Aus zwei Gründen wurde der Roman dennoch in die Analyse aufgenommen. Zum einen verweist er auf die Übersetzungstätigkeit junger galanter Autoren, die vielfach französische Romane ins Deutsche übertrugen und sie damit für den deutschen Romanhandel erschlossen.483 Zum anderen lassen sich über den Vergleich mit dem französischen Prätext Hinweise zur Übersetzungspraxis galanter Autoren und zu deren Eingriffen sowie Neuakzentuierungen gewinnen. Rost übernimmt das französische Original nicht wortgetreu, sondern setzt eigene semantische Akzente. Durch Nuancen in der Übertragung verändert sich auch die Figurenkonzeption der Protagonistin, sie wird ‚tugendhafter‘ als ihre galanten Vorgängerfiguren, weswegen diesen Differenzen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. 4.3.1 Geschlecht, Alter, Stand: Vertikale und horizontale Differenzen Mit Ariadnens Königlicher Printzessin von Toledo Staats= und Liebesgeschichte gestaltet Bohse/Talander eine weibliche Hauptfigur des gehobenen Adels, deren ständische Herkunft bereits in der Titelgestaltung betont wird. Als „königliche Prinzessin“ eines spanischen Hofes stammt Ariadne aus den obersten gesellschaftlichen Schichten, womit zugleich das sozial-ständische Setting der Plot- und Konfliktgestaltung spezifiziert ist.484 Auch Rost/Meletaon exponiert mit der „Schöne[n] Holländerin“, Tochter aus „einer der vornehmsten Familien in Holland“, eine Protagonistin des gehobenen Adels.485 Durch die Titelgestaltung Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten wird die Holländerin als generalisierendes Ideal einer vorbildhaften Weiblichkeit stilisiert. Die „schöne Holländerin“ trägt keinen individualisierten Figurennamen, sondern wird im Text nur „die Holländerin“ genannt, wodurch der Exempelcharakter der Frauenfigur betont wird. Wie bereits in den vorherigen Romanen sind das (preziöse) Keuschheitsideal und die rigide Abwehr der Liebe Ausgangspunkt der weiblichen Figurencharakterisierung. Ariadne wird als eine „rechte Feindin aller verliebten Regungen“ beschrieben,486 während die Holländerin ein Siegelwappen ihr Eigen nennt, ein mit Dornen umgebenes Herz mit der Inschrift „Ich lebe in Sicherheit“.487 Dennoch entwickeln beide Protagonistinnen ‒ nun am Beginn des Romans ‒ ein exklusives Liebesverhältnis. Im Zentrum steht die Liebe der Prinzessin Ariadne und des Königssohns

482 Olaf

Simons, Anton Kirchhofer u.a.: The Novel in Europe 1670‒1730, URL: http://www.pierremarteau.com/library/g-1715-0020.html [03.03.2015]. 483 Yong-Mi Quester: Frivoler Import. Die Rezeption freizügiger französischer Romane in Deutschland (1730 bis 1800). Mit einer kommentierten Übersetzungsbibliographie. Tübingen 2006. 484 Talander: Ariadne, S. 1. 485 Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 3, 12. 486 Talander: Ariadne, S. 2. 487 Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 28.

350

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Siegerich488 bzw. die adlige Holländerin und der vermögende Baron D*.489 Die Beziehung kann aus verschiedenen Gründen nicht unmittelbar realisiert werden, so dass sich um ihre Durchsetzung die gesamte weitere Konfliktgestaltung gruppiert (Heliodor-Schema). Mit der Konzentration auf ein einzelnes zentrales Paar schließen beide Texte an spätere Romanmodelle Scudérys und La Fayettes an, die in ihren ‚Novellen‘ die Vielzahl unterschiedlicher Paarkonstellationen und Erzählstränge, die für Scudérys frühe Romane typisch sind, bereits beschränken.490 Bohse reflektiert diese formale Figurenreduktion in einem Kommentar des auktorialen Erzählers: „Und wäre allhier viel von denen sich […] ereigneten […] Begebenheiten zu erzählen / wenn wir nicht denjenigen den Raum dieses Tractats gewiedmet / was vornehmlich die darinnen aufgeführten Haupt=Personen betrifft.“491 4.3.1.1 Widerstand gegen die ständische Heiratspolitik: Freie Liebeswahl Die Romane stellen zwei unterschiedliche Modelle der Paarbildung und der freien Liebeswahl vor. Bohse kombiniert das Liebessujet mit einem Alters- und Generationenkonflikt, der im Laufe des Romans in verschiedenen Variationen zum Tragen kommt. Durch den Kontrast zwischen ‚Alten‘ und ‚Jungen‘, autoritärem Vater und alten Zwangsehemännern auf der einen Seite sowie junger Protagonistin und jungem Liebhaber auf der anderen werden vertikale und horizontale Interaktionsstrukturen im Roman installiert, die es erlauben, die internen Strukturen des galanten Liebes- und Geschlechtermodells genauer zu konturieren. Die Analyse schließt an die Ausführungen zur galanten Liebe als reziprokem Modell an (Kapitel 4.2.3.4) und führt sie jetzt in Relation zu anderen Nebenfiguren der Handlung weiter aus. Die Situierung der Protagonistin innerhalb ständischer, alters- und geschlechterspezifischer Macht- und Interaktionsstrukturen in Relation zur erzählten ‚Umwelt‘ der Figur lässt Rückschlüsse zur Konzeption und internen Struktur der vorbildhaften Paarbeziehung (Ariadne‒Siegerich) zu. Die Zuneigung Ariadnens zu Siegerich wird aus einem Heiratskonflikt motiviert: Die Protagonistin soll an den zwar mächtigen, aber herzlosen und politisch kalkulierenden Herzog Ramiro von Braganza verheiratet werden, der für die junge Prinzessin ein höchst unliebsamer Heiratskandidat ist.492 Gegen Ramiro spricht nicht

488 Talander: Ariadne,

S. 2. Unvergleichliche Heldin, S. 9f. 490 Auch Bohses frühe Romanproduktion folgt der Plotstruktur von Scudérys Frühwerk mit einer Vielzahl an Schauplätzen und Figurenpaaren, z.B. Talander [August Bohse]: Talanders Liebes=Cabinet der Damen / Oder curieuse Vorstellung der unterschiedlichen Politic und Affecten, welcher sich alles galante Frauen=Zimmer in den Lieben bedienet. Leipzig: Christian Weidmann, 1685. 491 Talander: Ariadne, S. 268, Hervorheb. K.B. 492 Ebd., S. 7f. 489 Meletaon:

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle

351

nur seine kalkulierende Heiratspolitik,493 sondern vor allem sein hohes Alter – er hat „bereits das funffzigste Jahr erreichet“.494 Die unterschiedliche Altersstruktur wird offensiv betont (der „meist=verlebte Fürst“, der „mürrische alte Herr“),495 besonders in der Figurenrede Ariadnens: „O wie unglückselig bin ich / hub sie zu klagen an / daß meine Jugend eines alten Fürsten seinen unannehmlichen Begierden soll dienstbar werden.“496 Der ständisch-dynastischen Heiratspolitik des Hofes hält die Protagonistin die Vorstellung der freien Liebeswahl entgegen. Im Selbstgespräch fragt sie sich: „warum soll nicht die Wahl bey dir bleiben / dich an einen Printzen zu ergeben / den du besser leiden möchtest?“497 Die Introspektion ‒ hier als knappe Passage eingefügt und die Möglichkeiten einer internen Figurenperspektivierung auslotend ‒ schärft das Bewusstsein für die persönliche Situation. Die Protagonistin wird aggressiver im Wunsch nach emotionaler Selbstbestimmung: „es wäre mir der Todt viel angenehmer / als da ich eine höchst widrige Vermählung mit dem alten Hertzog von Braganza aus Zwang des Königs eingehen soll.“498 Siegerich, der zunächst vergeblich um Ariadne geworben hat,499 bietet seine Hilfe an, die Eheschließung zu vereiteln und stattdessen seine Liebe anzunehmen. Ein Brief dient als „Dolmetscher des Hertzens“.500

493 Ariadne

zum Vater: „Die Regiersucht des Hertzogs von Braganza ist so bekant als seine grosse Macht. […] Würde es nicht Ew. Majestät hernach gereuen / daß sie mich unvergnügt in meiner Ehe wüsten“ (ebd., S. 10). 494 Ebd., S. 8. 495 Ebd., S. 18, 23; desweiteren „der alte Ramiro“ (ebd., S. 20), der „alter Herr“ (ebd., S. 8), „der alte und beschwerliche Bräutigam“ (ebd., S. 48), „der alte und verdrießliche Gemahl“ (ebd., S. 49), „der alte Hertzog von Braganza“ (ebd., S. 9, 13, 15), der „Herr […] / den ich [Ariadne] mehr als einen Vater / denn einen Gemahl ansehen kann“ (ebd., S. 9). Die Figurencharakterisierung der Protagonistin betont hingegen deren Jugend: Ariadne ist die „junge Gemahlin“ (ebd., S. 8), „von zarter Jugend“ (ebd., S. 31), die „junge Dame“ (ebd., S. 353), weiterführend Kap. 4.3.2.3 Alter und Geschlecht: Reziproke, egalitäre Beziehungsstruktur. 496 Talander: Ariadne, S. 12. 497 Ebd., Hervorh. K.B. 498 Ebd., S. 13. 499 Siegerich bemüht sich „erstlich ihr [Ariadnens] Gemüth durch seine Verdienste zu gewinnen“ (ebd., S. 3), präsentiert sich bei Turnieren als erfolgreicher Kämpfer und Krieger, beschenkt die Heldin mit Kriegsbeute und schleust die Sklavin Tiresia als Kammerfrau bei Ariadne ein, der er die Freiheit verspricht, wenn sie Ariadne eine Liebe zu Siegerich „einflüstert“ (ebd.). Ariadne zeigt sich jedoch unbeeindruckt: „der Printz mag sich entzünden lassen / von wem er will / meine Augen seynd zu dergleichen Geschäffte nicht gewehnet“ (ebd., S. 6). „Was will doch der Printz? Will nun alle Welt mich nöthigen / daß ich lieben soll / da ich so schlechte Lust darzu habe / meine Freyheit bereits zu verkauffen“ (ebd., S. 21). Erst mit dem Angebot, bei der Vereitlung der unliebsamen Ehe behilflich zu sein, gewinnt Siegerich Ariadnes Zuneigung. 500 Ebd., S. 17. Brief Siegerichs an Ariadne: „wo ich nur die Erlaubniß bekomme […] und hoffen darff / daß der schönsten Princeßin [meine Ergebenheit] angenehmer sey / als das angebotene Bindniß eines meist=verlebten Fürsten: So sollen Dero Befehle alles bey mir mögliche machen / und wolte ich eher tausend mahl sterben / als einmahl versäumen / mich würcklich zu erweisen [Hervorh. K.B.]“ (ebd, S. 18).

352

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Die Liebeswahl der Protagonistin und der Paarbildungsprozess werden in Bohses Roman nicht psychologisch plausibilisiert. Die eigentlichen Gefühle bzw. die Erkenntnis persönlicher Empfindungen bleiben ausgespart, sie werden im Text nicht diskursiv erfasst.501 Stattdessen repräsentieren sich die Emotionen auf der Handlungsebene des Textes: Der Roman zeigt durch die Konfliktgestaltung, dass Ariadne eine besondere Zuneigung zu Siegerich gefasst haben muss, denn motiviert durch die Liebe zu ihm ist sie bereit, den Hof „heimlich“ zu verlassen.502 Was der Roman diskursiv nicht artikuliert, inszeniert er über die Handlungsgestaltung und vermittelt es performativ. Wie in den anderen Texten wird das Paar getrennt, Sieg­erich ist in Kriegsgeschäften unterwegs,503 so dass die Protagonistin mit der Kammerfrau Alihde und mit Fernando, dem Diener Siegerichs,504 selbstständig „ihre Flucht“ bewerkstelligen muss.505 Zuerst in der Verkleidung als männlicher Pilger unterwegs, gibt sie sich später als „Graf von Tortosa“ aus und verbleibt fast den gesamten Roman in dieser Rolle.506 Ihre Entscheidung zur Flucht legitimiert Ariadne durch die „Triebe der Liebe“ – diese hätten sie dazu ermutigt, „alle anderen Betrachtungen hintan zu setzen“, um Siegerich die „Treue“ zu beweisen. Gleichzeitig kann durch die Liebe die unerwünschte Ehe mit dem alten Herzog verhindert werden. In einem Brief an Siegerich erklärt Ariadne: Die Liebe hat mich etwas wagen heissen / wozu ich ausser ihre Triebe nimmermehr wäre behertzt gewesen. Doch ich hoffe / es soll dieses […] zu erkennen geben / […] wie ich ihnen meine Treue zu erweisen alle andere Betrachtung hintan setze. Zwar hätte es bald […] mein Leben gekostet: Doch es wäre mir leichter angekommen / solches einzubüßen / als mich mit einer verdrießlichen Person zu vermählen [Hervorh. K.B.].507

Das Motiv der freien Liebeswahl ergibt sich handlungslogisch aus dem privaten Konflikt der Protagonistin (Wunsch, der Ehe mit Ramiro zu entgehen) und wird zum erzählerischen Movens, um die ständische Konvenienzehe (zu der Ariadne vom Vater gezwungen werden soll) gegen das noch zu konkretisierende Ideal einer galanten Liebe auszuspielen. Mit der Entscheidung für Siegerich ist die Liebe der Protagonistin an die Treue gebunden, für die es in der Romanhandlung allerdings noch keine verbindliche Grundlage gibt. Im Gespräch unter vier Augen hatte sich das Paar 501 Während

Ariadne den Liebesbrief liest, flüstert ihr „die Liebe“ ein: „so du ja lieben sollst / so nimm dir diesen Gegenstand / der dir mehr Vergnügung als die verdrießliche Beywohung eines mürrischen alten Herrn verspricht“ (ebd., S. 23). 502 Ebd., S. 77. 503 Ebd., S. 37. 504 Ebd., S. 79. Fernando wird als „Bedienter“ Siegerichs bezeichnet (ebd., S. 66), auch als „Stallmeister“ (ebd., S. 79). Siegerich pflegt ein enges Verhältnis zum Diener und vertraut ihm seine Gefühle an (ebd., S. 66f.). Er vermacht Ariadne den Diener, damit dieser die Protagonistin unterstützt (ebd., S. 67). 505 Ebd., S. 77. 506 Ebd., S. 84. 507 Ebd., S. 82f.

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle

353

zwar einander versprochen, womit die „Freyheit dahin“ ist.508 Doch mit der Flucht vor der Ehe wechselt die Protagonistin keineswegs in ein neues Heiratsversprechen oder eine verlässliche Beziehungskonstellation. Der Text gibt keinen Hinweis, dass Siegerich überhaupt in die Fluchtpläne der Prinzessin eingeweiht ist. Ariadne weiß weder, wo sie den Prinzen nach der Flucht treffen kann (es wurde auch kein Treffpunkt verabredet), noch ob er sie tatsächlich liebt und ihr seinerseits die Treue hält. Der Diener Fernando beauftragt einen Boten, Siegerich ausfindig zu machen und ihn von Ariadnens Flucht zu unterrichten.509 Per Brief überlässt es Ariadne dem Geliebten, in der Fremde mit ihr zusammenzutreffen und das Bündnis zu erneuern: „Wann sie mich demnach noch also lieben / wie ich es wünsche / so schencken sie mir mit ehesten desto höchst=verlangte Gegenwart.“510 Die preziöse Romantradition und das Heliodor-Schema legen das Motiv der freien Liebeswahl zwar insofern nahe, als dass sich die Liebe auch gegen die Widerstände der Umwelt oder das missgünstige Glück (Fortuna) zu verteidigen hat, doch schließt insbesondere der preziöse Roman Scudérys jede Darstellung aus, die mit einer offensiven Konfrontation oder gar Negation ständischer Hierarchien und Autoritäten verbunden ist.511 Unterordnung des Willens unter das Gesetz von Stand, Diskretion und Höflichkeit, die Wahrung der bienséance (Wohlanständigkeit) und bel air (gemäßigtes, höfliches Auftreten) sind Gebote, die im preziösen Roman eine unbedingte Wahrung ständischer Konventionen verlangen.512 Der galante Roman junger Autoren um 1700 geht in dieser Hinsicht eigene Wege. So ungenügend die Handlungsgestaltung psychologisch erscheinen mag, ist bedeutsam, dass nicht die ständisch-dynastische Heiratskonvention das Paar von höchstem königlichem Stand verbindet, sondern dass die Wahl des Partners auf der persönlichen Entscheidung der Protagonistin fußt. Mit der Flucht widersetzt sich Ariadne offensiv der ständischdynastischen Heiratspolitik, verstößt gegen höfische Verhaltenskonventionen und verweigert sich der Autorität des Königs und Vaters.

508 Ebd.,

S. 59‒64, hier S. 61 (heimliches Treffen Siegerichs und Ariadnes im Wald). zum Boten: „Ich weiß nicht / ob er [Siegerich] noch in Sardinien anzutreffen ist. Darum ist wohl das beste; ihr gehet nach Valentia, daselbst werdet ihr schon hören; wo anitzo des Königs […] Armee stehet / die er als Feld=Herr commandiret / begebet euch so dann vollends zu ihm; vermeldet / daß ich seinen Freund [Ariadne] in Sicherheit gebracht / und daß selbiger mit Verlangen seiner Ankunfft erwarte [Hervorh. K.B.]“ (ebd., S. 81f.). 510 Ebd., S.  83. Konditionalsätze (wenn‒dann) drücken aus, dass ein Ereignis unter einer spezifischen Bedingung der Fall ist. Da sich Ariadnens Aufforderung auf ein zukünftiges Ereignis bezieht (das spätere Treffen in der Fremde), ist die Bedingung für das Zusammentreffen (die beiderseitige Liebe) zwar potentiell möglich und anzunehmen, aber nicht schon notwendig erfüllt. Erfüllt sich die Bedingung nicht (liebt Siegerich Ariadne nicht mehr), so bliebe auch Ariadne allein in der Fremde zurück. 511 Kap. 4.1.4 und Kap. 4.2.3 Modifikation preziöser Liebes- und Geschlechtermodelle im galanten Roman (I) und (II). 512 Büff: Ruelle und Realität, S. 135, ferner S. 34, 127, 215, 248. 509 Fernando

354

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Ein anderes Modell der Paarbildung stellt Rost vor, der die Hauptfigur expliziter noch zum Agens der Liebesbeziehung macht. Die Holländerin wählt den Liebhaber, ohne wie Ariadne durch äußere Umstände (Ehezwang) dazu getrieben zu sein. Aus eigenem Wunsch forciert sie die Beziehung zum Baron und drängt dem Zusammensein ihre Regeln auf. Dabei ist die weibliche Figurenkonzeption mit zwei inszenatorischen Rahmungen verknüpft, die der Plausibilität der Hauptfigur zuarbeiten. Zum einen verlagert sich das äußere soziale Umfeld der Romanhandlung stärker in ein familiäres Milieu gehobener Aristokratie. Während in Bohses Ariadne höfische „Turniere / […] Stiergefechte / Jagten / Ballette“ und „öffentliche Feste“ auf einen repräsentativen Hofstaat verweisen,513 verliert das adlig-aristokratische Setting in der Unvergleichlichen Heldin weitgehend die Züge einer höfisch-repräsentativen Öffentlichkeit. Der Roman zeigt die Hauptfigur ausschließlich im semiöffentlichen Raum der Familie, bei Assembleen, geselligen Zusammenkünften im Haus der Eltern, im Theater oder bei privaten Spazierfahrten.514 In dieser Sphäre familiärer Privatheit nimmt das Verhältnis zwischen Eltern und Tochter einen informelleren Charakter an, was die Protagonistin nutzt, um sich der ständischen Heiratspolitik der Eltern zu widersetzen bzw. sie zu beeinflussen (Kapitel 4.3.3.1). Zum anderen wird die Protagonistin ganz im Sinne der preziösen Romantradition als exzeptionelle Figur eingeführt, die ‒ so lässt sich schließen ‒ aufgrund ihrer Außergewöhnlichkeit ohne Weiteres in der Lage scheint, die Liebeswahl unabhängig vom Wissen der Eltern zu treffen. Wie die preziösen Heldinnen gilt die Holländerin als Ausnahmeerscheinung ihres Geschlechts, die sich jedem Vergleich entzieht und demnach eigene Standards setzt. Text und Vorrede (übernommen von Mademoiselle S*; mit einem Hinweis zur Übersetzung ergänzt und unterzeichnet von Meletaon) rühmen die Protagonistin als „Zierrath / und vor eine Verwunderung ihres Geschlechtes“,515 die „ein jeder […] zu bewundern sehnete.“516 Die Holländerin wird als mustergültige Identifikationsfigur eingeführt, welche die „öffentliche Hochachtung und Verehrung“ der „größten des Landes“ und aller Personen „von Adelichen Stande“ genießt.517 Ihre Einzigartigkeit wird von ihrer Umwelt durchgängig anerkannt und gründet auf unterschiedlichen Eigenschaften und Kompetenzen, wobei vor allem ihr „kluger Geist“518 betont wird: Sie wuste ihre Meynung auf das beste an den Tag zu legen / und besaß anbei ein sonderbares Kunst=Stücke des Verstandes / welches eben ihre Conversation so gefällig machte; worzu noch

513 Talander: Ariadne,

S. 2. Unvergleichliche Heldin, S. 9f., 41f., 107f. 515 Ebd., Vorrede, unpag. [A 8a]; „Zierde ihres Geschlechtes“ (ebd., S. 159 im Text). 516 Ebd., S. 6. 517 Ebd., S. 3, 6. 518 Ebd., S. 3. 514 Meletaon:

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eine erleuchtete Klugheit zurechnen / die man keineswegs zu hintergehen vermochte [Hervorh. K.B.].519

In der Vorrede ist vom „natürliche[n] Verstand“520 der Protagonistin die Rede („esprit tout naturel“),521 der ‒ so ergänzt der Haupttext ‒ trotz ihrer Jugend so ausgeprägt sei, dass er sogar die Erziehung durch Eltern und Autoritätspersonen ersetzt: „Sie lebte zwar noch in der ersten Jugend; hingegen diente ihr der angewachsene Verstand an statt der Auferziehung.“522 Rost nimmt an dieser Stelle einen Eingriff in den französischen Prätext vor, wo es heißt: „Quoy qu’elle fut fort jeune, sa prudence avancée [ihre ausgeprägte Vorsicht, Bedachtsamkeit, Zurückhaltung] lui tenoit lieu d’éducation.“523 Indem Rost die „ausgeprägte Vorsicht“ als „angewachsener Verstand“ übersetzt, suggeriert der Text eine erworbene, ange­eignete Erkenntnisfähigkeit, welche die Holländerin in die Lage versetzt, persönliche Bedürfnisse und Wünsche zu erfassen und durchzusetzen, obwohl oder gerade weil sie sich der Welt und deren Einflüssen nicht verschließt: „[So] wuste sie sich selber auf das beste in acht zu nehmen. Sie hatte die Welt samt deren Schwachheiten erkennen lernen / und man konnte alles was Wunder=würdig war / an ihr beobachten.“524 Neben Jugend, Verstand und Weltkenntnis zählen Schönheit, „Lebhafftigkeit“ und „Humeur“ zu den Vorzügen der Holländerin, wodurch sie beliebte Teilnehmerin „auserlesenste[r] Zusammenkünffte“ und „angenehmste[r] Compagnien“ ist.525 Obwohl sich der Plot in einem privaten Setting entwickelt, wird die Protagonistin nicht auf ein enges familiäres Umfeld beschränkt. Ihr „sittsames […] Wesen“526 und eine „gewissenhaften Schamhafftigkeit“527 bewahren sie vor moralischen Gefährdungen, die im gesellschaftlichen Verkehr lauern könnten: „Alle Complimenten so man bey ihr ablegte / empfinge sie mit gelassenen und lachenden Gesichte; Und da ihr jederman recht gab: So erzeigte sie sich auch ihrer Seits gegen dieselbigen freundlich und höflich.“528 Ihr „unvergleichliche[r] Caracter“ zieht „viele Anbeter“ an sich, deren amouröse Avancen sie jedoch strikt ablehnt.529 519 Ebd.,

S. 5. natürlicher Verstand wuste eine Sache weit besser als manche Gemüther zu überlegen [Hervorh. K.B.]“, (ebd., Vorrede, unpag. [A 10b]). Weiblicher Verstand und Natur rücken in ein enges Verhältnis: „worzu noch kömmt; daß alle unvergleichlichen Gaben der Natur / mit den Gaben des Verstandes vereiniget waren [Hervorh. K.B.]“ (ebd., S. 4). 521 [anonym]: L’Heroïne incomparable, Vorrede, unpag. [A 6b]. 522 Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 3. 523 [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 2, Hervorh. K.B. 524 Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 3. 525 Ebd., S. 4f. 526 Ebd., S. 4. Im frz. Prätext: „Elle avoit de la retenuë & modestie [sie war zurückhaltend und höflich]“, [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 2. 527 Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 4. Im frz. Prätext: „une scrupuleuse pudeur [eine gewissenhafte Schamhaftigkeit]“, [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 2. 528 Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 5f. 529 Ebd., S. 31, 9. 520 „Ihr

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Bereits hier zeigt sich eine gemäßigtere, sittsam-schamhafte Anlage der weiblichen Figurenkonzeption, als etwa in Rost früherer Atalanta (Kapitel 4.2). Entscheidend für die weibliche Figurenkonzeption ist zunächst, dass die Gesamtheit aller positiven Eigenschaften auf den Geist oder Verstand der Holländerin zurückgeführt wird. In der Vorrede wird ihr „Verstand“ als so außergewöhnlich stilisiert, dass er sogar die Bedeutung des sozialen Standes verblassen lässt. Wichtiger als der Adel der Herkunft sei der Adel des Verstandes: „Sie war zwar aus einem vornehmen Hause entsprossen: nichts desto weniger war der Adel ihres Verstandes noch höher als der Stand zu schätzen.“530 Indem der Verstand und nicht der Stand, d.h. Vernunftbegabtheit statt Herkunft, zum konstitutiven Moment der weiblichen Figurenkonzeption wird, verändern sich die Parameter der sozialen, privaten und ständischen Welt. In der Fiktion des Romans geraten Verbindlichkeit und Reichweite ständisch-geschlechterspezifischer Konventionen in Bewegung und können neu moduliert werden. 4.3.1.2 Transformation des preziösen Esprit-Begriffs: Der Verstand der Protagonistin Die Konzeptualisierung der Holländerin als ‚vernünftige Frau‘, die ihre Liebesentscheidung unabhängig vom ständischen Kalkül zu treffen befähigt ist, offenbart eine Problematik, die auf die Übersetzung aus dem Französischen zurückzuführen ist. Der Passus, der das Verhältnis zwischen Verstand und Stand reflektiert, lautet im französischen Prätext: „Elle [la Hollandoise] étoit d’une Maison Illustre; mais la Noblesse de son esprit étoit plus glorieuse que celle du sang“.531 Während Rost am Beginn des Romans esprit noch mit der Wendung „kluger Geist“ übersetzt,532 verwendet er jetzt und im weiteren Text konsequent den Begriff „Verstand“.533 Dadurch kommt es zu einer Vermischung unterschiedlicher semantischer Konzepte, des preziösen esprit und eines Verstandesbegriffs, wie er im deutschen Kontext um 1715 geläufig ist. In der französischen Tradition ist esprit ein facettenreiches Konzept, das auf engste mit einem preziösen Verständnis von Weiblichkeit verbunden ist. Scudéry stilisiert die Frau als zentrales Gunstobjekt und Richterin des Geschlechter- und Sozialkontakts, deren gloire (Ruhm, Vortrefflichkeit) und vertu (Tugend) sich in erster

530 Meletaon:

Unvergleichliche Heldin, Vorrede, unpag. [A 8b], Hervorh. K.B. An anderer Stelle: „[Es] ereignete sich / daß ein vornehmes Frauen=Zimmer gebohren wurde / welche sich so wohl durch ihr ansehnliches Herkommen / als noch mehr durch ihren klugen Geist ein sonderbahres Ansehen brachte [Hervorh. K.B.]“ (ebd., S. 2f.). 531 [anonym]: L’Heroïne incomparable, Vorrede, unpag. [A 5a f.]. In Rosts Übersetzung: „Sie war zwar aus einem vornehmen Hause entsprossen: nichts desto weniger war der Adel ihres Verstandes noch höher als der Stand zu schätzen [Hervorh. K.B.]“, Meletaon: Unvergleichliche Heldin, Vorrede, unpag. [A 8b]. 532 Ebd., S. 3. 533 Ebd., sowie S. 4, 5, 16, 18, 22, 29, 30, 31, 49, 96, 139, 143, 145, 166, 177, 183, 194f.

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Linie auf beauté (Schönheit) und esprit (Geist) gründen.534 Das Konzept des Esprit stellt für die Preziösen eine Möglichkeit dar, die prinzipielle Vernunftbegabtheit des weiblichen Geschlechts zu verteidigen und zu legitimieren. Der Begriff wird geschlechterübergreifend geprägt („L’esprit n’a point de sexe“),535 gleichwohl wird diese Vernunftbegabtheit nicht im Sinne eines rationalen Verstandesbegriffs (raison) gefasst. Sondern es handelt sich um die Vorstellung einer kultivierten und kultivierenden Bildung, die nicht mit Gelehrsamkeit gleichzusetzen ist. Explizit lehnen die Preziösen weibliche Gelehrte, femmes savantes, ab.536 In preziösen Weiblichkeitskonzeptionen avanciert der esprit zum wichtigen Moment, das mit der Schönheit (beauté) zu einer Symbiose verschmilzt und die Vortrefflichkeit der vorbildlichen Dame ausweist.537 Der Esprit stellt sich als ein Konglomerat verschiedener Eigenschaften und Kompetenzen dar, das Schönheit (beauté), Geist (esprit), Tugend (vertu), Keuschheit (pudeur) und Wohlanständigkeit (bienséance) miteinander verbindet. Im angemessenen Auftreten, Verhalten und Sprechen (air galant) äußern sich diese weiblichen Tugenden und bezeugen in ihrer Symbiose die Vortrefflichkeit und den Ruhm (gloire) der Dame. Das antike Kalokagathia-Ideal, die harmonische Verbindung von körperlichen wie seelisch-geistigen Vorzügen als Ausdruck einer sittlichen Vollkommenheit, wird in der preziösen Tradition explizit für das weibliche Geschlecht in Anspruch genommen (Kapitel 3.4.2.2). Der französische Prätext L’Heroïne incomparable übernimmt diese Weiblichkeitskonzeption und modifiziert sie zugleich. Der dreifache Rezeptionsprozess – die Adaption preziöser Konzepte à la Scudéry im französischen Prätext L’Heroïne incomparable von Jean Nicolas (oder Mademoiselle S*), den Rost wiederum als Die Unvergleichliche Heldin unserer Zeiten übersetzt – hat auch Auswirkungen auf die Figurenkonzeption der Holländerin in Rosts Übersetzung. Während bei Scudéry der erste Hinweis auf die Vortrefflichkeit und Exzeptionalität der Frau in der Regel durch die Schönheit (beauté) signalisiert wird,538 betont die Figurenkonzeption der L’Heroïne incomparable ausdrücklich den esprit der Belle Hollandoise,539 rühmt ihn noch vor den Vorzügen ihrer äußeren Erscheinung und exponiert dies explizit in der Vorrede: [C]ar la Philosophie la plus éclairée nous enseigne que l’esprit & la sagesse sont de tout Sexe; que les Ames d’une même espéce ont des mouvemens semblables, qu’ayant des principes communs de raison & d’équité naturelle, elles sont capable des memes vertus […].540

534 Büff:

Ruelle und Realität, S. 141. S. 52. 536 Ebd., S. 101; Gelzer: Konversation und Geselligkeit, S. 481, Anm. 22. 537 Büff: Ruelle und Realität, S. 156. 538 Ebd., S. 156. 539 „Ce fut […] que nâquit une Demoiselle illustre par sa naissance, & encore plus recommandable par son Esprit“, [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 2. 540 Ebd., Vorrede, unpag. [A 2a]. Übers. K.B.: „Denn die aufgeklärteste Philosophie lehrt uns, dass Geist und Klugheit beiden Geschlechtern zu Eigen sind; dass die Seelen derselben Art ähnliche 535 Ebd.,

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Rost übersetzt: [W]eil uns die vollkommenste Welt=Weißheit unterrichtet / daß Verstand und Klugheit bey beyderley Geschlecht zu finden; und daß die Seelen von einerley Art auch gleiche Bewegungen haben; denn indem sie mit den gemeinen Principiis der Vernunfft und der natürlichen Billichkeit begabet: so seyn sie auch zu eben denselbigen Tugenden geschickt […].541

Der französische Prätext gibt eine Neugewichtung von beauté und esprit vor, insofern vor allem der Esprit zum Ausdruck weiblicher Vorbildlichkeit wird, wobei die Vorstellung der äußeren Schönheit selbstverständlich mittransportiert wird.542 Da Rost den Begriff esprit mit „Verstand“ übersetzt, bringt er das preziöse esprit-Konzept der weiblichen Figur mit einem Verstandesbegriff in Verbindung, wie er im deutschen Kontext gebräuchlich ist. Hübners Curieuses und Reales Natur=Kunst=Berg=Gewerck und Handlungs=Lexicon (1714) erklärt, welche semantischen Facetten der Begriff „Verstand“ im deutschen Sprachgebrauch um 1715 umfasst: Als „Intellectus theoreticus“ (theoretisches Vermögen) bezeichnet er die Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, zu beschreiben und zu reflektieren, zu verknüpfen und selbstständig Urteile zu fällen.543 Als „Intellectus practicus“ (praktisches Vermögen) erlaubt er es, diese Erkenntnisse „zu Nutzen an[zu]wende[n]“.544 Obwohl esprit in der preziösen Tradition gerade nicht als intellektuelles Verstandesvermögen konzipiert ist, rückt Rost mit seiner Übersetzung die weibliche Figurenkonzeption in die Nähe eines theoretischen und praktischen Verstandes- bzw. Vernunftbegriffs. Die Handlungsgestaltung mag dies indirekt nahelegen, denn im Gegensatz zu Scudérys Kritik an den femmes savantes wendet sich der französische Prätext nicht gegen eine weibliche Gelehrsamkeit. Im Gegenteil: Holland, die Heimat der Belle Hollandoise, wird als Land der „femmes savantes“, der „gelehrten Frauenzimmer“ gepriesen.545

Bewegungen vollziehen und aufgrund allgemeiner Prinzipien der Vernunft und natürlichen Gerechtigkeit derselben Tugenden fähig sind.“ 541 Meletaon: Unvergleichliche Heldin, Vorrede, unpag. [A 3a f.]. 542 „L’Eloge d’une Personne […] qui joignit à la beauté du corps celle de l’esprit“, [anonym]: L’Heroïne incomparable, Zueignung, unpag. [A 1a] (der Vorrede vorangestellt). 543 Johann Hübner: Art. Intellectus, intelligentia, Verstand. In: Johann Hübners Curieusen und Reales Natur=Kunst=Berg=Gewerck und Handlungs=Lexicon […], Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch und Sohn, 1714, S.  826f.: So umfasst der „Verstand“ oder „Intellectus“ die unterschiedlichen Erkenntnisvermögen Memoria (Erinnerung/Gedächtnis)‚ Judicium (Urteilskraft) und Ingenium (Geist, Schöpferkraft), die wie folgt zusammenwirken: „des Menschen Verstand [stellet] sich eine Sache blos und an sich selbsten vor […]. Hierauf raisonniret er etwas von den Sachen, legt solchen eine Beschreibung bey […], endlich verknüpft er dergleichen raisonnement mit einander, und macht einen Schluß oder Syllogismum […]“. 544 „Intellectus theoreticus ist, welcher eine Sache schlechter dings erkennet, practicus aber, der sie zu Nutzen anwendet“ (ebd. S. 826). 545 „La Hollande est le séjour le plus charmant & le plus agréable de toute l’Europe […]; si vous aimez l’Esprit, c’est là que se trovent des Genies du premier Ordre dans toutes fortes de Sciences; c’est là qu’on voit des Dames Savantes […] tant elles sont ornées de toutes les qualitez naturelles qui composent un mérite eminent“, [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 1. Rost übersetzt: Die

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Obwohl die Holländerin keine Gelehrte ist, zeigt sie im Roman sehr wohl Facetten im Sinne von Vernunftbegabung und rationaler Entscheidungskompetenz. Der Text ‚erzählt‘, wie die Holländerin unabhängig von Wissen und Einverständnis der Eltern Handlungsoptionen und eigene Interessen feststellt, vergleicht und abwägt, um unabhängig von ständischen Heiratsstrategien eine Liebesentscheidung zu treffen (Intellectus theoreticus), die sie letztlich auch durchsetzt (Intellectus practicus). Mit dem Begriff „Verstand“ schärft Rost eine Facette der weiblichen Figurenkonzeption, die im preziösen esprit-Konzept nicht angelegt ist und im Prätext begrifflich nicht erscheint, die sich aber über die Figuren- und Konfliktgestaltung implizit zeigt bzw. narrativ inszeniert wird. Mit der Verwendung des Begriffs „Verstand“ überführt Rost die im Figurenverhalten angelegte Semantik auf eine begrifflich-nominelle Ebene. Auf einer Assemblee wird die Holländerin auf den Baron D* aufmerksam, der ihr durch sein Auftreten und Verhalten „vor andern wohl anstunde“.546 Nachdem sie als Sängerin einer Arie prominent in Erscheinung getreten ist, fordert sie ihn auf, ebenfalls ein Lied zum Besten zu geben.547 Mit seinem Gesang rührt der Baron das „Herz“ der Protagonistin, so dass sie sich „entschließt“, ihn zu lieben: Unter allen Anwesenden / war demnach keiner als dieser junge und Liebens=würdige Baron, der ihren Augen wolgefiehle / und ihr das Hertz rührete / auch einen Vortheil über ihr Gemüth erhielte. Sie selber aber entschloß sich ihre Blicke auf keinen andern zu werffen / weil sie mit einem standhafften unwanckelbahren Wesen begabet war [Hervorh. K.B.].548

Auch der französische Prätext führt die Liebeswahl der Protagonistin auf eine persönliche Entscheidung zurück, rückt sie aber im Sinne preziöser Vorstellungen stärker in die Nähe der ‚Freundschaft‘ („Elle crût qu’elle ne pouvoit mieux placer son amitié que sur une Personne qui étoit à son gré“)549 und verbindet sie mit einer Haltung der ‚Schuldigkeit‘, zu der sich die Hollandoise verpflichtet fühlt („Elle crût […] qu’il étoit de son devoir d’écarter tous ceux qui lui faisoient la cour“).550 Rost

Heimat der Heldin, Holland, sei der „aller=annehmlichste […] Aufenthalt von gantz Europa“, wo sich die „geschicktesten Leute von allen Arten der Wissenschafften aufgehalten“ und es „auch gelehrtes Frauenzimmer“ gibt, die „mit allen natürlichen Eigenschafften gezieret [seyn] / die ihnen die stattlichsten Verdienste verursachen [Hervorh. K.B.]“, Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 1f. 546 Ebd., S. 10. 547 Ebd., S. 9f. 548 Ebd., S. 11. „Il n’y eut que ce jeune & aimable Baron qui plût à ses yeux, lui seul toucha son cœur; lui seul fit impression sur son esprit: ferme & inébranlable, elle ne pût tourner ses regards sur un autre. Elle crût qu’elle ne pouvoit mieux placer son amitié que sur une Personne qui étoit à son gré; & qu’il étoit de son devoir d’écarter tous ceux qui lui faisoient la cour“, [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 5f. 549 Ebd., S. 6, Hervorh. K.B. „Sie glaubte, sie könnte ihre Freundschaft aufs beste auf eine Person richten, die nach ihrem Belieben sei [Übers. K.B.].“ 550 Ebd., Hervorh. K.B. „Sie glaubte, es sei ihre Schuldigkeit all jene abzuweisen, die ihr den Hof machten [Übers. K.B.].“

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hingegen betont den Willensentschluss der Protagonistin („sie selber aber entschloß sich“),551 der durch die Empfindung des Herzens motiviert wird. In diesem Sinne zeigt sich die Liebe als spontaner Affekt (das „Herz rühren“), der anschließend in eine bewusste Entscheidung überführt wird und von nun an das Handeln der Protagonistin nach rationalen Gesichtspunkten bestimmt: Die Realisierung des Entschlusses (freie persönliche Liebeswahl) steht im Mittelpunkt der folgenden Konfliktgestaltung.552 Das Verhalten der galanten Holländerin unterminiert die Logik einer ständisch-dynastischen Heiratspolitik, bei der die Liebes-/Heiratswahl familiären Autoritäten (Vater, Eltern) obliegt. Bevor ständische, alters- und geschlechterspezifische Konfliktstrukturen in Rosts Unvergleichlicher Heldin daraufhin untersucht werden, inwiefern sie geeignet scheinen, eine ‚tugendhafte‘ Semantik des galanten Weiblichkeitsnarratives zu stärken, soll zunächst an Bohses Ariadne umfassender diskutiert werden, welche Konflikte sich aus der Interferenz von Geschlecht, Alter/Jugend und Stand ergeben und wie diese Strukturen im galanten Roman funktionalisiert werden. Rosts Roman tritt zunächst in den Hintergrund, wir werden aber später erneut als Vergleichstext darauf zurückkommen (Kapitel 4.3.3). 4.3.2 Macht der Jugend: Alters- und Generationenkonflikte Der Wunsch, den Liebespartner frei zu wählen, mithin der Widerstand gegen Konvenienzehe und ständisch-dynastische Heiratspolitik, ist in Bohses Ariadne mit einem bewussten Verstoß der Protagonistin gegen die Autorität des Vaters verbunden. Der Liebeskonflikt (freie Liebeswahl) impliziert einen Tochter-Vater-Konflikt, der in diesem Falle auch einen Standeskonflikt bedeutet, denn die Protagonistin ignoriert nicht nur die väterliche Autorität, sondern auch die Vorgabe des Königs. Die Jugend, das jugendliche Alter, wird dabei zum wichtigen Moment, um den Verstoß gegen ständische und familiäre Konventionen zu legitimieren. Bohse/Talander gestaltet Ariadnens Flucht aus dem Königspalast als Reaktion auf das restriktive Verhalten des Vaters und Königs Alerico, der die Tochter zur Ehe mit dem politisch vorteilhaften Herzog Ramiro von Braganza zwingt. Der Vater informiert Ariadne über die geplante Hochzeit. Der Tochter wird keine Wahl eingeräumt, ob sie das Ehebündnis eingehen möchte oder nicht. Selbstverständlich erwartet und verlangt der Vater, dass sie sich der Entscheidung fügt und zum Wohle des Staates die Ehe mit dem Herzog akzeptiert. Machtpolitische Interessen bestimmen die Heiratspolitik des Königs: Ich weiß […] / daß [Ihr, Ariadne] die Wohlfahrt des Toletanischen Reichs zu befördern keine Gelegenheit vorbey lassen [werdet]; so wohl als ihr durch alle Königl. Geburt dazu verbunden

551 Meletaon: 552 Kap.

Unvergleichliche Heldin, S. 11. 4.3.3 Modifikation galanter Weiblichkeitsnarrative nach 1710.

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seyd. […] Erwarte demnach / daß ihr hierinnen meinen väterlichen Willen folget / und eine so vortheilhaffte Vermählung nicht ausschlaget [Hervorh. K.B.].553

Ariadne wird „blaß / und wuste sich sofort nicht zuerholen“.554 Ihr königlicher Stand verpflichtet sie, im Sinne des Staates zu handeln; als Tochter hat sie die Entscheidung des Vaters zu respektieren. Standes- und Tochter-Vater-Konflikt werden im Liebeskonflikt deutlich: Sich dem König zu widersetzen hieße, die Autorität des Staatsoberhauptes anzuzweifeln. Den Willen des Vaters abzulehnen, verletzt die Autoritätspflicht der Tochter. Ariadnens „langes Schweigen“ ist dem König beredte Antwort,555 so dass er die Protagonistin an ihre Pflicht erinnert: „Schönheit und Jugend seynd die Gaben / nach welchen Privat=Personen ihre Heyraths=Wahl mögen anstellen. Uns Königen giebt das Interesse des Staats andre Reguln / und müssen wir uns mehr nach diesem / als nach der Vergnügung des gemeinen Mannes / richten.“556 Eine freie Liebeswahl steht der Protagonistin nicht zu, die sich aus diesem Grund als „Opfer“ ihres Standes begreift. Während Privatpersonen dem Recht des „freien Willens“ nachgehen können, sieht sich Ariadne aufgrund der königlichen Herkunft in dieser Freiheit beschränkt. Allein in ihrer Kammer sinniert sie: Sollen nun die Staats=Angelegenheiten deinem freyen Willen ein Gesetze geben / und du dich selbst dem Nutzen des Toletanischen Reichs aufopffern? Daß dich doch das Glück mit keiner so hohen Geburt beleget hätte; […] Aber so ist dir dein Königlicher Stand ein Ursprung deines Unvergnügens und eines unnennbaren Kummers [Hervorh. K.B.].557

Die Herkunft aus einer der höchsten sozialen Stände wird vom bürgerlichen Autor Bohse nicht als Privileg des Schicksals oder als persönlicher Vorteil beschrieben, sondern als Defizit. Die Verpflichtungen, die sich aus der hohen Geburt für die privaten Verhältnisse der Protagonistin ergeben, werden von der Prinzessin als Belastung empfunden. Der Liebeskonflikt bietet im Roman die Möglichkeit, auf das Recht des „freien Willens“ zu insistieren. Das junge Alter der Protagonistin wird dabei ins Feld geführt, um den Widerstand gegen Vater und Staatsraison zu rechtfertigen: Die Verbindung zwischen Ariadne und Ramiro ist gerade deswegen zu kritisieren, weil die junge Frau zu einer Zwangsehe mit einem alten Ehemann verpflichtet wird, der sie nicht aus Neigung, sondern aus Staatsraison heiratet. Der Altersunterschied wird betont und instrumentalisiert, um dem Herzog die Qualitäten eines Liebhabers abzusprechen, der einer jungen Gemahlin prinzipiell nicht gerecht werden kann, weil sein Interesse dem Staat gilt. Der Erzähler erklärt die Reichweite des Konflikts:

553 Talander: Ariadne, 554 Ebd.,

S. 8. 555 Ebd., S. 9. 556 Ebd. 557 Ebd., S. 12.

S. 7f.

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Sie [Ariadne] hatte ohne diß biß anhero der Liebe wenig Gehör gegeben / und nun kame es ihr um desto verdrießlicher vor / daß sie den Anfang in Lieben bey einem alten Herrn machen […] sollte. Denn Ramiro hatte bereits das funfftzigste Jahr erreichet / und war zumahl ein Fürst / der mehr dem Staate zum besten / als aus eigener Zuneigung an eine neue Heyrath gedachte; auch der die Regierungs=Geschäfte sich mehr ein Ernst seyn liesse / als daß er auf liebreiche Bedienung einer jungen Gemahlin viel Zeit wenden sollen [Hervorh. K.B.].558

Polemisch spielt der Roman Jugend und Alter, Gefühl und Staatsraison gegen­ einander aus. In einer handlungsorientierten Erzählliteratur ist auch jetzt kaum eine andere Konfliktlösung möglich: Mit der Flucht vom Hof setzt die Protagonistin ein Zeichen gegen die Staatsraison und gegen die Autorität des Alters, verkörpert durch den Vater und den Herzog Ramiro.559 Die Flucht vom Hof erscheint als logische Konsequenz einer Konfliktsituation, die Staatsraison und Gefühl, väterliche Autorität und persönlichen Freiheitsanspruch als unlösbaren Konflikt inszeniert. Die Flucht der Protagonistin wird im Text nur noch als Tatsache vermerkt: [E]s hatte sich der Hertzog von Braganza zum Beylager mit Ariadnen eingefunden; Diese aber war heimlich fortgegangen / und wuste kein Mensch / wo sie hingekommen. Fernando ließ sich gleichfalls nirgends finden / dahero [der Vater] die nicht unbegründete Muthmaßung nahm / es würde selbiger die Princeßin in ihrer Flucht begleiten […].560

4.3.2.1 Standesübergreifende Liebes- und Geschlechterkonstellation Wie schon Kapitel 4.1 und 4.2 zeigen, verbindet der galante Roman das Reise- und Fluchtmotiv oft mit dem Wechsel der Protagonistin ins andere Geschlecht. Das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch gehört zum wichtigen Bestand des galanten Erzählrepertoires; in Bohses Ariadne wird es nun funktionalisiert, um Szenen einer standesübergreifenden Liebe zu motivieren. Auch weiblichkeitszentrierte Romane, deren Plot in einem aristokratischen Milieu angesiedelt ist, gestalten das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs. Die Prinzessin Ariadne und ihre Kammerfrau Alihde nutzen die Verkleidung als männliche Pilger, um unerkannt vom königlichen Hof zu entkommen;561 anschließend tarnen sie sich als „junge Herren von vornehmen Stande“ und besteigen ein Schiff nach Sardinien.562 Die Protagonistin nennt sich von nun an „Graf von Tortosa“.563 Was zur Funktion und Rezeptionsweise galanter Gendernarrative gesagt wurde (Kapitel 4.1.3.2), gilt erneut hier: 558 Ebd.,

S. 8.

559 Im Widerstand

gegen Vater und Zwangsgatten wird die Prinzessin v.a. von ihrer Dienerin Tiresia unterstützt, die selbst den Aufbruch zu ihrem Geliebten plant (ebd., S. 50). „[Tiresia] redete ihr [Ariadne] aber so fort zu […]: Ey der Hertzog von Braganza muß sichs schon vergehen lassen / Ew. Hoheit zur Gemahlin zu verlangen: und wenn tausend mahl der König solches ihm versprochen hätte. Lieben sie den Printz […] so sehr / als er […] liebet / so werde[n] sich bald Mittel finden / diesen alten und beschwerlichen Bräutigam abzudringen“ (ebd., S. 48). 560 Ebd., S. 78. 561 Ebd., S. 79. 562 Ebd., S. 81. 563 Ebd., S. 84.

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle

363

Mit der männlichen Kleidung übernehmen die weiblichen Figuren das Auftreten und Benehmen junger Männer, greifen nachhaltig in ihr Äußeres ein (sie kürzen ihr Haar)564 und werden von den Figuren der Romanwelt ausnahmslos als ‚Männer‘ wahrgenommen. Die intradiegetische Täuschung ist perfekt: „Jedwedes sahe diese zwey jungen Herren [Ariadne, Alihde] wegen ihrer ungemeinen Schönheit mit Verwunderung an / und sonderlich den Grafen von Tortosa, denn also nennete sich Ariadne“.565 Wie schon im Falle von Placidie (Kapitel 4.1) wird auch die Prinzessin Ariadne sprachlich-grammatikalisch maskulinisiert, indem der Text häufig nur noch von dem „jungen Grafen“ oder dem „jungen Herrn“ spricht.566 Gleichzeitig betont der Erzähler, vor allem in Konfliktsituationen mit weiblichen Figuren, das angenommene Geschlecht: „der Graf von Tortosa, ich meine die Princeßin Ariadne“,567 „Dieser (ich will sagen Ariadne)“.568 Beständig wird das Wissen der Leser und Leserinnen reaktualisiert, dass sich hinter der Maske des Mannes eine weibliche Figur verbirgt. Im Spiel mit dem inkongruenten Leser- und Figurenwissen verbindet auch Bohse das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch mit der Inszenierung fiktiver Frau-Frau-Beziehungen. Unterwegs in der Fremde und auf eine Nachricht von Siegerich wartend, verkürzt sich Ariadne die Zeit mit der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten.569 Unter anderem besucht sie den berühmten Garten der „jungen Gräfin Antonetta von Vardes“.570 Ariadnens Tarnung als Mann erfordert es, dass sie der jungen Witwe mit „verpflichtete[m] Compliment“ begegnet,571 so „daß Antonetta den jungen Grafen von Tortosa, ich meine die Princeßin Ariadne, ohne Empfindlichkeit der Liebe nicht lange anschauen oder mit ihm umgehen kunte.“572 Ariadne wird als Figur beschrieben, die so einzigartig sei, dass jeder – egal ob Mann oder Frau – von ihr eingenommen sein muss. Alihde schwärmt: „Sie mögen sich als eine Dame oder als ein Cavallier sehen lassen / so wird alles gleich bey dem ersten Anblick von ihnen eingenommen / und muß seine Freyheit gefangen geben“.573 Die

564 „Es

hatte aber so wohl die Princessin als Alihde, um desto unerkanter zu seyn / gleich bey Antretung ihrer Flucht sich die Haare lassen abschneiden / und Fernando kauffte ihnen gleich in Marsiliens Cavalliers Kleider ein / damit sie als junge Herren von vornehmen Stande sich darinnen könten aufführen“ (ebd., S. 81). 565 Ebd., S. 84. 566 Ebd., S. 86f., 90, 95‒97, 99, 100f. 567 Ebd., S. 85. 568 Ebd. 569 „Indeß nun […] wolte Ariadne, um sich die Zeit zu verkürtzen alles / was merckwürdiges in Marsilien war / besehen / und begab sich mit ihrem Kammer=Fräulein / so nebst ihr sich in Cavalliers Kleider verstecket […] in die Stadt“ (ebd., S. 84). 570 Ebd. 571 Ebd. 572 Ebd., S. 85. 573 Ebd., S. 87.

364

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Hauptfigur übernimmt die Codes der männlichen Rolle so überzeugend, dass sich auch Antonetta in Ariadne bzw. den Grafen von Tortosa verliebt: Dieser (ich will sagen Ariadne,) wolte an der Höflichkeit / die einem jungen Cavallier gegen die Damen gebühret / nichts lassen ermangeln: Er [Ariadne] bedienete demnach die schöne Antonetta auf das verpflichteste / und da selbige meinete / ihre Gestalt hätte die gewöhnliche Würckung in dieses Herrn seinem Hertzen gethan / […] fassete [sie] gleich die Hoffnung / wofern sie weiter zusammen kommen würden / daß es ohne Liebes=Erklärung nicht abgehen könte [Hervorh. K.B.].574

Antonettas „Wahl“ fällt auf die maskierte Protagonistin und sie „beschloß / dieser oder keiner solte zu ihrer Besitzung gelangen.“575 Ausführlich beschreibt der Roman das Liebeswerben Antonettas,576 das sich zwar rein kommunikativ im Gespräch vollzieht, doch von der Prinzessin befördert wird, denn „Ariadne wolte diese galante Liebkosung erwiedern.“577 In der Fiktion des Romans und im satirisch-humoresken Spiel weitet Bohse Elemente der Verwechslungskomödie aus. Er konstruiert eine vermeintlich homoerotische Begegnung zwischen der Prinzessin und der Gräfin, deren ‚Opfer‘ Antonetta ist, weil sich Ariadne in ihrer Rolle als Mann nicht zu erkennen gibt. Das Spiel aus Scherz und Ernst wird auch in der Begegnung zwischen weiblichen Figuren der höchsten Stände fortgeführt. Selbst von einer erdichteten Verlobten lässt sich Antonetta nicht abschrecken und versucht, Ariadne zum vermeintlichen Treuebruch zu bewegen: „Wäret ihr der erste Liebhaber / fragte die verliebte Gräfin / welcher von seiner Erst=geliebten abstünde?“578 Schließlich vergisst Antonetta Stand, Ehre und Zurückhaltung und erklärt der verkleideten Protagonistin unumwunden ihre Liebe: „Eure Schönheit zwinget mich / zu meiner Beschämung euch mein Hertz so weit zu eröffnen. […] [E]rbarmet euch über diese Leidenschafft / die mich nöthiget / daß ich so gar meiner selbst und des Wohlstandes / der mir gebühren solte / darüber vergesse.“579 Um Antonetta zu trösten, geht Ariadne auf das Liebeswerben ein.580 Obwohl der Text von Anfang an signalisiert, dass es sich bei der fiktiven FrauFrau-Konstellation um keine aussichtsreiche oder ernsthafte Liebesoption handelt,

574 Ebd.,

S. 85. S. 90. 576 Antonetta bietet der Protagonistin an, „täglich“ ihren Garten zu besuchen (ebd., S. 88) und quartiert sich selbst dort ein, um Ariadnens Besuche nicht zu verpassen (ebd., S. 95f.). Sie bewirtet Ariadne mit „Erfrischungen von Wein und Früchten“ (ebd., S.  101), führt sie in verborgene Gänge des Gartens (ebd., S. 105) und genießt Ariadnens Komplimente (ebd., S. 102f.). 577 Ebd., S. 86. 578 Ebd., S. 107. 579 Ebd., S. 107f. 580 Antonetta bittet: „[H]abt ein Mitleiden mit der Gewalt meiner Liebe“ (ebd., S. 107), worauf der Erzähler kommentiert: „Ariadne kunte nicht länger die gute Gräfin von Vardes in so verwirretem Zustande lassen / dahero tröstete sie selbige / und versprach / sich dahin zu bemühen / ihr zu Liebe die Marggräfin von Albula [die vermeintliche Verlobte] zu vergessen“ (ebd., S. 108). 575 Ebd.,

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle

365

erscheint sie romanintern dennoch möglich. Zwar „hätte [Antonetta] aller dieser Regungen können überhoben seyn / wenn sie gewust / wer hinter dieser schönen Masque verborgen stäcke.“581 Doch „so war sie mit allerhand angenehmer Unruhe beschäfftiget / und muste die Liebe zu einer Person ihres eigenen Geschlechts empfinden / so gar ihr allen Schlaf entziehen.“582 Ariadne nimmt das verwegene „LustSpiel“ gelassen. Ihrem Diener Fernando gesteht sie unbekümmert: „Wenn wir nur durch dieses Lust=Spiel / daß ich die Grafin also teusche / nicht ihren Zorn auf uns laden. Doch sie kan endlich […] / nichts mehr von mir verlangen / als daß ich mich / wenn es nöthig / ihr entdecke / wie daß ich selbst eine Dame sey“.583 Sorglos flirtet Ariadne mit Antonetta.584 Die Konfliktgestaltung mag überraschen, doch zeigt sich, dass sie vor allem dazu dient, männliche und weibliche Figuren unterschiedlicher Stände einander zuzuführen und standesübergreifende Liebes- und Geschlechterkonstellationen zu motivieren. Diese reetablieren eine heteronormative Geschlechterordnung unter veränderten ständischen Zeichen. Vor allem für Ariadnens Dienerschaft bedeutet der Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch einen Wechsel des sozialen Standes. Während die Kammerfrau Alihde durch die Flucht ihrer Herrin gezwungen ist, in die Rolle eines jungen Kavaliers von Stande zu wechseln, gibt sich der Diener Fernando als „Hofmeister“ der Herren aus; Fernando gilt nun selbst als „Graf“.585 Kammerfrau und Diener steigen durch die Flucht der Protagonistin unverhofft in der sozialen Hierarchie und erweitert den Rahmen ihrer sozialen Privilegien. Rein formell (aus Sicht der Nebenfiguren) ist der Hofmeister Fernando die Aufsichtsperson über den jungen Grafen von Tortosa, d.h. der Diener ist zur Erziehungsinstanz über seine

581 Ebd.,

S. 100. Nachdem Ariadne bemerkt, welche Wirkung ihre Komplimente und ihr Verhalten bei Antonetta verursachen, versichert sie gegenüber Fernando: „Mir ist leyd / erklährete sich Ariadne, wenn diese Dame in solchem Irrwahn solte gerathen seyn / der ihr eine vergebliche Unruhe erwecken dürffte“ (ebd., S. 87). Um ihr wahres Geschlecht allerdings nicht zu verraten, verhält sie sich weiterhin als der galante Kavalier und provoziert dadurch Antonettas Liebeswunsch. 583 Ebd., S. 101. 584 Ariadne beim Besuch von Antonettas Garten: „Der Graf von Tortosa [Ariadne] rühmete / […] daß sie sich vor die gnädige Erlaubnis ihn [den Garten] öffters zu besuchen sehr verbunden hielten. Antonetta gab hierauf lächeln zur Antwort: daß das charmanteste in dem gantzen Garten sich wiederum mit dem Herrn Grafen hinaus begäbe. Wie nun dieses nur als einen schertzende Schmeicheley aussehen solte / so verriethe sie doch durch eine aufsteigende Röthe / daß diese Verpflichtung aus dem Hertzen hervor gebracht worden. Ariadne wolte diese galante Liebkosung erwiedern / sagte demnach: Wann Ihre Gnaden […] mit uns zugleich dieses vergnügte Revier verlassen / so ist darwider nichts einzuwenden. […] Worauf noch Ariadne einige Lobes=Erhebungen ihrer Schönheit gab / u. damit schieden sie unter höflicher Empfehlung von einander“ (ebd., S. 86f.). Auch geringer Körperkontakt ist möglich: Antonetta zeigt Ariadne den Garten, „da sie denn Ariadne, das Amt eines höfflichen Cavalliers beobachtend / bey der Hand führete“ (ebd., S. 101). 585 „Er [Fernando] gab beyde [Ariadne und Alihde] vor junge Grafen / sich aber vor ihren Hoffmeister aus“ (ebd., S. 80). Fernando wird jetzt als „Graf“ angesprochen (ebd., S. 106). 582 Ebd.

366

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Herrin geworden. Informell macht der Liebeskonflikt um Antonetta den Diener aber auch zum Verbündeten der Protagonistin. Das Verhältnis zwischen Diener und königlicher Prinzessin wird egalitärer. Sprachlich äußert sich dies unter anderem darin, dass Ariadne von Fernando und sich im freundschaftlichen Plural („wir“) spricht.586 Fernando wiederum identifiziert sich so stark mit der neuen Rolle als vermeintlicher Adliger bzw. lässt der Text ihn seine Rolle so beherzt annehmen, dass er schließlich erfolgreich um die Hand der Gräfin Antonetta von Vardes anhält und sie sogar heiratet.587 Denn um zu verhindern, dass Antonettas Begehren tatsächlich auf Ariadne fällt, erlaubt die Prinzessin dem Diener, um die Gräfin zu werben. Ariadne: Höret Fernando […], ich will einen Vorschlag thun / damit der Gräfin / und auch euch zugleich / besser geholffen würde. […] Daß ihr Hertz nicht unempfindlich / wollet ihr […] aus der gegen mich gemerckten Liebe überreden. Ich werde ihr aber ausser Freundschafft / so unser Geschlecht seines gleichen wiedmet / wenig Vergnügung schaffen können. Darum will ich euch dieses auftragen / meine Stelle anzunehmen / und mit eurer Gegengunst ihre Liebe zu belohnen. Sie soll von grossem Vermögen seyn. Schönheit / Verstand und Freundlichkeit fehlet ihr auch nicht. Habt ihr nun Beliebung / eure Partie bey ihr zu machen / so will ich […] euch gerne das Wort reden [Hervorh. K.B.].588

Während sich der Diener bereits ohne Wissen seiner Herrin um die Gräfin bemüht589 und ihr schließlich offen seine Liebe gesteht,590 vermittelt auch Ariadne für ihn. Um Fernando als potentiellen Liebhaber attraktiver zu machen, dichtet sie ihm die Aussicht auf eine Ehrenstelle und eine ansehnliche Herkunft an.591 Antonetta lehnt die Verbindung zunächst ab, weil ihr Begehren auf Ariadne gerichtet ist – die soziale Reputation und der geringere Stand, den Fernando auch in der vermeintlichen Stellung als adliger Hofmeister im Vergleich zur vermögenden Gräfin einnimmt, sprächen aus Sicht Antonettas allerdings nicht gegen eine Beziehung. Sie gesteht: „Wann der

586 Ariadne

im Plural zu Fernando: „Die Princeßin lachte […] und sagte: Wenn wir nur durch dieses Lust=Spiel / daß ich die Grafin also teusche / nicht ihren Zorn auf uns laden [Hervorh. K.B.]“ (ebd., S. 101). 587 Liebeswerben Fernando um Antonetta (ebd., S.  96–98); Liebeserklärung Fernando (ebd., S. 98f.); Verlobung (ebd., S. 789); Hochzeit (ebd. S. 801f.); Antonetta als verheiratete Frau und Gemahlin Fernandos (ebd., S. 824f.). 588 Ebd., S. 88f. [im Original S. 68, Druckfehler]. 589 „ohne Vorwissen“ Ariadnens (ebd., S. 96). 590 Fernando zu Antonetta: „[V]ielleicht gibt mir das Glück den Vortheil / daß ich in kurtzen Ew. Gnad. mit mehrerer Freyheit eröffnen mag / wie viel Gewalt dero Vollkommenheiten über mein Hertz gewonnen“ (ebd., S. 100f.). Antonetta instrumentalisiert Fernandos Zuneigung, damit die Fremden, v.a. Ariadne, die Stadt nicht verlassen: „Auch rieth ihr zumahl ihre Liebe / […] Fernando […] immer bey einer kleinen Hoffnung zu erhalten / damit er sich nicht mit seinen jungen Grafen [Ariadne] allzu bald von Marsilien wieder entfernete“ (ebd., S. 100). 591 Ariadne zu Antonetta: „Allein darf ich bey Ew. Gnaden etwas auszubitten hoffen / so machen sie diesen meinen Hoffmeister [Fernando] durch ihre Gegengunst gleichsam glücklich. […] Sein gutes Geschlecht ist in Arragonien bekant / und seine Verdienste bey einem Printzen in solchem Ansehen / daß er ihn bey unserer Wiederkunfft mit einer der ansehnlichsten Ehrenstellen bedencken wird. Darum sie mit ihm keine üble Partie treffen solten“ (ebd., S. 106).

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle

367

Herr Graf [Fernando] vor sich meine Gegengunst ausbäth / so würde ich mich leicht von dessen annehmlicher Person zu der Einwilligung bereden lassen“ ‒592 vorerst jedoch hindert die Liebe zu Ariadne sie daran. Die Wertschätzung des Mannes niederer Herkunft wird zum späteren Zeitpunkt erneut deutlich, als Antonetta (die sich nicht sofort für Fernando entscheidet) zwischen ihm und Alexander wählen kann, einem Grafen aus vornehmen Haus mit großem Vermögen.593 Obwohl Fernando ein „Frembder [ist], dessen Wesen und Geschlecht ich so gar nicht kenne“, sprechen seine „Kühnheit“ und „Hartnäckigkeit“, womit er um Antonetta wirbt, aus Sicht Antonettas für ihn.594 Auftreten und Persönlichkeit stechen ständische Herkunft und Vermögen aus. Mit der Verlobung und Eheschließung Antonettas und Fernandos am Ende des Romans wird dieses Ideal standesübergreifender Liebe in der Fiktion tatsächlich realisiert: Der Mann niederen Standes heiratet die Frau höheren Standes. Die fiktive Frau-Frau-Konstellation zwischen Ariadne und Antonetta motiviert folglich einen Liebeskonflikt, der es dem niederen Figurenpersonal – hier dem standesniederen Mann, dem Diener Fernando – gestattet, um die Gunst einer Gräfin zu werben, die in der sozialen Ständehierarchie weit über ihm steht. Im Roman erfüllt die fiktive Frau-Frau-Konstellation zwischen der als Mann verkleideten Protagonistin und der Gräfin somit nicht die Funktion, einer Liberalisierung weiblicher Erotik und Sexualität (im Sinne weiblicher Homosexualität) das Wort zu reden, sondern sie dient dazu, die Option der standesübergreifenden Liebe zu thematisieren; in diesem Falle mit sozialen Aufstiegschancen für den Mann. Der bürgerliche Autor Bohse gestaltet eine Konfliktsituation, die erzählt, wie es dem Mann mittlerer Kondition gelingt, durch Dissimulation Zugang zu einer höheren Sozialschicht zu erlangen und in diese einzuheiraten, was ihm andernfalls aufgrund ständischer Reglements verwehrt bliebe. In ähnlicher Weise treten später Szenen hinzu, in denen die Kammerfrau Alihde den Grafen von Riehla für sich gewinnt und heiratet, so dass auch die rangniedere Frau in der Ehe mit einem Mann hohen Standes vermählt wird.595 Standesgrenzen geraten sowohl nach ‚oben‘ als auch nach ‚unten‘ in Bewegung (sozialer Aufstieg mittlerer Figuren / sozialer Abstieg standeshoher Figuren). Im galanten Roman werden ständische Transgressionen durch das Liebessujet motiviert und im Rahmen von Nebenhandlungen ausagiert. Die Liebe zwischen Diener und Gräfin (Fernando‒Antonetta) mag wohl vor der Option einer Liebe zwischen Figuren desselben Geschlechts (Antonetta‒Ariadne) als die vertretbarere Alternative erscheinen. Der Roman hält die Möglichkeit offen, die Konfliktsituation als homoerotische Szene zu rezipieren, zementiert aber letztlich eine heteronormative Geschlechterordnung zwischen Mann und Frau, deren standesspezifischen Beschränkungen durchlässiger werden. Mit dieser Konfliktgestaltung setzt der galante 592 Ebd.

593 Ebd.,

S. 156.

595 Ebd.,

S. 467, 489‒513, 660‒695, 713‒750.

594 Ebd.

368

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Roman starke thematische Impulse, die im 18. Jahrhundert nicht nur vom empfindsamen Roman, sondern auch von der Dramatik aufgenommen werden (standesübergreifende Liebe in Gellerts Leben der schwedischen Gräfinn von G*** 1747/48, Lessings Emilia Galotti 1772; Schillers Kabale und Liebe 1784 usw.). 4.3.2.2 Konvenienzehe ‒ Versteckte Liebe ‒ Galante Liebe Doch zurück zur Haupthandlung, der verhinderten Liebe zwischen Ariadne und Siegerich. Bohses unterteilt den Roman in drei „Bücher“: Der erste Teil von ca. 300 Seiten widmet sich der „Liebes=Geschichte“ Ariadnens; Buch zwei konzentriert sich auf die „Staats=Geschichte“ der Protagonistin (ebenfalls 300 Seiten). Buch drei versucht, Staats- und Liebesgeschichte zu verquicken und zu vermitteln (erneut 300 Seiten). Dabei werden im Laufe des Romans zwei konträre Liebeskonzepte erkennbar (ständische Konvenienzehe versus galante Liebe), die durch zahlreiche Exempel und Nebenhandlungen vielfältige Variationen erfahren und sich aus dieser Vielfalt an Erscheinungsformen der Liebe herauskristallisieren. Nach vielfältigen Abenteuern in der Fremde (Schiffsunglück, Gefangennahme, Versprechen Ariadnens die mahometanische Prinzessin Ambre zu heiraten, Flucht aus den Fängen des algerischen König Beg Achmet usw.)596 kehrt Ariadne zum Vater zurück, der ihr in Konzession an die Heimkehr die freie Liebeswahl schriftlich zusichert, sie damit aber täuscht.597 Zu einer Ehe mit Ramiro wird die Protagonistin zwar nicht gezwungen, doch entgegen ihrer Erwartung muss sie nun den alten König Froila heiraten.598 Alle Turbulenzen um die Flucht der Protagonistin scheinen umsonst. Enttäuscht, dass Siegerich es in all der Zeit nicht geschafft hat, sie in der Fremde zu finden, fügt sich Ariadne dem Willen des Vaters. Den Geliebten trifft sie erst am heimatlichen Hof wieder.599 Trotz der Ehe mit Froila bricht die Beziehung zu Siegerich jedoch nicht ab – im Gegenteil, die Beständigkeit und Exklusivität der galanten Liebe kann sich nun gegen die Ehe mit dem ‚Falschen‘ (Froila) beweisen. Das Paar trifft Ver-

596 Ebd.,

S. 122–140, 354‒394. Nachforschungen nach Siegerich, der im Auftrag des Königs unterwegs ist, erfährt auch der Vater Alarico von ihrem Aufenthaltsort und sendet einen Versöhnungsbrief (ebd., S. 180). Der Bote täuscht Ariadne, indem er vorgibt, der Vater gestehe ihr nun die freie Heiratswahl zu: „sonderlich trachtete er ihr dieses glaubend zu machen / daß des Königes Absicht / sie an den Hertzog von Braganza zu vermählen / gantz geändert / […] über dieses Ramiro selbst […] / da diese Heyrath Ihrer Hoheit so gar sehr zuwider / sie darzu nicht weiter nöthigen wollte“ (ebd., S. 180f.). 598 Ebd., S. 182. 599 „Wie sie [Ariadne] dann […] zu einer ziemlichen Entrüstung gebracht endlich anhub: Ach! Siegerich liebt nicht eifrig genug / sonst hätte er schon […] Gelegenheit genug gehabt / mich wieder zu sehen / und mein Schicksal vergnügter zu machen. […] [S]eine Langsamkeit in Entschliessen zeiget eine lauliche Liebe gegen mich an“ (ebd., S. 187). Und auch Siegerich ärgert sich über seine Langsamkeit (ebd., S. 191). Zur (preziösen) Lauheit in der Liebe (tiédeur) vgl. Kap. 4.2.3.1 Ehefeindlichkeit und Liebesmisstrauen. 597 Durch Ariadnens

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle

369

einbarungen, wie die verbotene Liebe vor den Augen des zukünftigen Gemahls, des Vaters und der Hofgesellschaft im Geheimen fortzuführen ist.600 Der Text gibt vor, die weibliche Treue (zum Gatten Froila, gleichzeitig aber auch zu Siegerich) vorzustellen, inszeniert in der Figuren- und Konfliktgestaltung de facto aber den weiblichen Ehebruch. Während Ariadne Siegerich auffordert, ihre Ehe mit Froila zu respektieren („Allein […] so verlanget nicht / wenn ich vermählet bin / daß ich jemahls mit euch in geheim rede. Fodert nicht von mir einige Zeugnisse meiner […] Gegengunst“),601 zeigt der Roman, wie die Verbindung zwischen den Liebenden dennoch aufrechterhalten werden kann. Der Text liest sich geradezu als Ratgeber, der die ‚Praxis der versteckten Liebe‘ erklärt. In Fettdruck werden die wichtigsten Regeln typografisch hervorgehoben (eine Neuerung beispielsweise im Vergleich zu Bohses früherem Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimmers) und von der Protagonistin in verallgemeinerndem Stil formuliert: Die Liebenden sollen ihre Gefühle zueinander niemals öffentlich verbalisieren, da sie belauscht werden könnten.602 Briefe sind zu vermeiden, denn als schriftliche Dokumente beweisen sie den Ehebruch.603 Auch sollten die Liebenden von Zeit zu Zeit den Hof verlassen, um sich nicht unverhofft zu verraten; das Bewusstsein für den Betrug muss stets geschärft bleiben.604 Eine Möglichkeit des unbemerkten Kontakts bieten die Bälle und Tanzvergnügungen, die dem Austausch der Geschlechter samt Körperkontakt mehr Freiheiten einräumen als andere Gelegenheiten.605 Fettdruck und verallge-

600 Ebd.,

S. 230‒237. S. 233. 602 Ariadne zu Siegerich: „Saget mir auch nichts in öffentlichen Versammlungen des Hofes / wann ihr mir etwan zur Seiten kämet / von eurer Liebe. Dergleichen Bekäntnisse seynd mit tödtlicher Gefahr umschlossen: Denn es kan solche leicht ein unvermutheter Aufmercker hören / und so dann unser Verräther werden [fett im Orig.]“ (ebd., S. 235). 603 Ariadne zu Siegerich: „Vielweniger schreibet mir / und schwärtzet das Papier mit euren Flammen: Denn Briefe können durch tausend Zufälle in unrechte Hände kommen / und alsdenn statt der erwarteten Vergnügung nichts als Unglück und ängstliche aber zu späte Reue erwecken [fett im Orig.]“ (ebd., S. 236). Auch Scudérys Romane verbieten den Liebenden, Briefe (billets doux) zu wechseln, wenn die Liebe geheim bleiben soll, Kayling: Rezeption und Modifikation des Eros-Begriffs, S. 303. 604 Ariadne zu Siegerich: „Endlich so wird es auch dienlich sein / daß Ew. Liebd. zuweilen Ursachen suchen / sich vom Hofe zu entfernen / damit dem Könige euer stetes Anwesen keinen Verdacht erwecke […]. Denn es möchte bey der nie unterbrochenen Gegenwart eines von uns beyden leicht einmahl die höchst nöthige Verstellung aus der Acht lassen / und durch einen […] Blick / oder durch etliche Worte / die noch in dem Hertzen glimmende Liebe kund geben: So aber muß man durch die Abwesenheit die Erinnerung schärffen / wie man sich in Gegenwart hernach wieder zu verhalten habe“, Talander: Ariadne, S. 236. 605 „Es ist diese Übung [das Tanzen] eine von denen bequemsten / die Vergnügung der Verliebten zu befördern. Man hat darinnen mehrere Freyheit / als bey allem andern Zeit=Vertreib / sich der Geliebten zu nähern / seine Leidenschafft durch verpflichtete Gebehrden zu erkennen zu geben; […] des beständigen Anschauens ohne Furcht zu geniessen / und die Augen ohne Scheu vor denen Aufmerckern unbeweglich an einander zu hefften: durch das stumme Hände=drücken zusammen vertraulich zu reden / auch nach Endigung dieser reitzenden Bewegungen sich zu der / 601 Ebd.,

370

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

meinernder Sprachduktus betonen den Regelcharakter der Hinweise. Der Roman inszeniert den Ehebruch als logische Konsequenz einer Liebe, die nicht frei gewählt ist (bzw. die frei gewählte Liebe verteidigen soll). Dieser Tabubruch ist mit einer weiten Lizenz körperlicher Freiheiten verbunden. Nachdem sich das Paar auf die Regeln der versteckten Liebe verständigt hat, tauschen sie Zärtlichkeiten aus; der „Liebes=Honig“ lässt sie aneinander kleben usw.606 Anschließend schenkt die Protagonistin dem Geliebten einen Ring in symbolischer Herzform und besiegelt damit ihr Versprechen, ihm trotz aller äußeren Zwänge treu zu bleiben.607 Legitimiert wird der Verstoß gegen Sitte, Anstand und die ständische Konvention durch persönliches Empfinden und den Anspruch auf ein privates Glück, das nur fälschlicher Weise vom Schicksal verhindert wird. Fortuna, das unbeständige Glück, muss sich geirrt haben – Ariadne begreift die Ehe mit Froila als „Unfall“ der Vorsehung.608 Wenn „die Liebe unsere Sehnsucht und unsern Willen vereiniget“, so sei es ungerecht, dieses Glück zu vereiteln.609 Die Protagonistin beschwert sich: „O unbarmhertziges Schicksal / wie hast du mit mir und denen Neigungen meines Hertzens so grausam gehandelt“.610 Auch Siegerich glaubt, dass das Glück seine Geduld nur auf die Probe stellt, sich letztlich aber zugunsten des privaten Liebeswunsches wenden wird.611 Die Figuren akzeptieren weder die ständische Konvention noch die göttliche Vorsehung, sondern sind überzeugt, vom Schicksal unverdienter Maßen um ihre Lebenschancen betrogen zu werden. Wenn überhaupt, dann wird die Liebe (Amor) zur entscheidenden Schicksalsmacht, von der sich die Protagonisten leiten lassen, nicht aber Vorsehung (Providentia, Fortuna) oder Konvention (dynastische Heiratspolitik). Die ständische Konvenienzehe mit Froila gerät zur ‚Probe‘, welche

so man liebet / zu setzen / und ihr so viel von dem Anliegen des Hertzens zu eröffnen / als man ihr gerne wolte wissen lassen“ (ebd., S. 246f.). 606 Ebd., S.  248. „[D]emnach aber befand sie [Ariadne] sich zu schwach / den verliebten Printz gantz und gar von ihrem Munde abzuhalten: Zumahl da er ihr erstes Einwenden gleich mit einigen Küssen unterbrach / und wann sie weiter reden wolte / immer in dergleichen süßen Verhinderung fortfuhre. […] [U]nd als ob eine sanffte Ermattung die Lebens=Geister gantz zerstreuete / ließ er den glückseligen Mund auch auf die schnee=weissen Marmor=Gebirge der schönsten Brüste fallen / und sammlete auf denselben […] den Liebes=Honig ein; Die Princeßin wolte widersprechen; Allein die Liebe umnebelte die Vernunfft […]; Sie hielt […] den Mund mit tausend Küssen beschäfftiget / und alle Gedancken waren auf einer so vergnügten Weide / davon sie sich nicht so leicht zurück zu begeben Lust hatten“ (ebd., S. 237f.). 607 Ebd., S. 249. 608 Ebd., S. 232. 609 Ebd., S. 339. 610 Ebd., S. 338f. Mehrere Stellen referieren auf das (unbarmherzige) „Schicksal“, das „Verhängnis“ oder das „missgünstige Glück“ und somit auf eine überindividuelle Schicksalsinstanz i. S. Fortuna (ebd., S. 12, 31, 224, 232f., 339, 340, 449f.). 611 Siegerich zu sich selbst: „[H]alte dafür / es könne das Glück sich noch wol mit dir versöhnen / und nach deiner probirten Gedult dich endlich zur Besitzung dieser himmlichen Princeßin gelangen lassen“ (ebd., S. 241).

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle

371

die galante Liebe von Ariadne und Siegerich durch Geduld und Beständigkeit zu bestehen hat. Diese Konfliktgestaltung ist keineswegs nur satirisch-scherzhaftes Spiel, denn Bohse scheint hier an Scudérys Konzept der heroischen Liebe (amour heroïque) anzuknüpfen. Im Konzept der amour heroïque versucht Scudéry, die „unvereinbar scheinenden Welten, amour und honneur [Liebe und Ehre bzw. ständische Edikette], zu versöhnen“, so Vanessa Kayling, und eine Art Konsens zwischen dem „individuellen Bedürfnis nach Liebe und der Verpflichtung gegenüber bestimmten Instanzen (Familie, Herkunft, Staat)“ herzustellen.612 Politisches Kalkül, das Streben nach Ehre, Ruhm, Prestige und die Einhaltung der ständischen Etikette sollen mit dem Wunsch nach persönlicher Glückserfüllung vereinbar sein. Mit der amour heroïque erhält die Liebe die Dignität einer ehrenvollen Leidenschaft (einer passion honnête oder passion noble), die nicht im Widerspruch steht zum Streben nach Ehre und Ruhm, sondern im Gegenteil zum Ausdruck eines ehrenwerten, heroischen Empfindens wird.613 Allgemeiner ließe sich sagen, dass Scudéry mit dem Konzept der amour heroïque ein Modell rationaler Affektkultivierung entwirft, das es erlaubt, die Zwänge, die mit der Integration des Subjekts in die Strukturen der höfisch-ständischen Gesellschaft verbunden sind (Affektkontrolle, soziale Rücksicht/Vorsicht) zu emotionalisieren und positiv zu besetzen. ‚Vernünftige‘ Affektkontrolle und ‚emotionale‘ Liebesempfindung – raison (Vernunft) und passion (Leidenschaft) – werden im Modell der amour heroïque korreliert und zum höheren Gefühlsausdruck standesbewusster kultivierter Liebe (amour heroïque) synthetisiert. Obwohl Scudérys Liebeskonzept durch die Sublimation und Mäßigung der Leidenschaften geprägt ist (und körperlich-erotische Kontakte vor bzw. außerhalb der Ehe strikt ausklammert),614 enthält die amour heroïque ein leidenschaftliches Element, da ohne eine gewisse Art des leidenschaftlichen Eifers und ehrgeizigen Strebens (ambition) auch kein Engagement für die kultivierte Liebe vorhanden wäre –,615 wobei in Scudérys Konzeption der Part der Liebenswerbung selbstredend dem Mann zufällt, die Position, sich zum Liebesobjekt zu machen, hingegen der Frau. Als ‚vernünftige Leidenschaft‘ verhindert die amour heroïque eine Degeneration irrationaler, überbordender Affekte, ohne zum Ausdruck gefühlsloser Rationalität zu verflachen. In der preziösen Tradition eröffnet die amour heroïque ein Emotiv standesbewusster Liebesbeziehungen, das über eine rein rational kalkulierende Heiratspolitik (ohne Rücksicht auf private Gefühle) hinausgeht, sich aber im Rahmen ständischer Konventionen bewegt und diese stabilisiert.

612 Kayling: 613 Ebd.

614 Büff:

Rezeption und Modifikation des platonischen Eros-Begriffs, S. 288.

Ruelle und Realität, S. 148f; Kayling: Rezeption und Modifikation des platonischen ErosBegriffs, S. 303. 615 Ebd.

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Die Gestaltung der Haupthandlung (Ariadne–Siegerich) zeigt starke Ähnlichkeiten zu Scudérys amour heroïque. Formal genügt das vorbildhafte Hauptpaar voll und ganz den Anforderungen der ständischen Heiratspolitik, beide sind königlicher Herkunft und von hoher Geburt; gleichzeitig fußt ihre Beziehung auf einer emotionalen Verbindung. Staatsraison und private Gefühle schließen sich in der galanten Liebe nicht aus, sondern gehen hier eine Symbiose ein, so dass auch ständisch-repräsentative Herrschaft von der galanten Liebe gesättigt ist.616 Gleichzeitig betont Bohse, wie schon andernorts die ‚leidenschaftliche‘ Komponente der Liebe (Kapitel 3.3.2.3 und 4.2.3). Die Suche nach einem geeigneten Ausdruck, der Emotionalität und Empathie im Roman handlungsorientiert vermittelt, impliziert auch ‒ so könnte man sagen ‒ eine Erweiterung weiblicher Handlungsspielräume. Denn wenn sich die Qualität und Exklusivität der galanten Liebe (Treue/Verbindlichkeit motiviert durch Emotion) gerade dadurch erweist, dass sich die weibliche Hauptfigur (Ariadne) auch durch die erzwungenen Ehe zum ‚Falschen‘ (Froila) nicht von der freien Liebeswahl (Siegerich) abbringen lässt, dann ist die galante Protagonistin keineswegs passives Liebesobjekt, sondern greift aktiv und engagiert in den Verlauf der Dinge ein ‒ wenn nötig mit den Risiken des Ehebruchs. Aus sozialhistorischer Sicht ist dies ein offensiver Affront gegen ständisch-dynastische Konventionen und Normen, literarisch betrachtet kommt diese Konfliktgestaltung aber einer jungen galanten Poesie zwischen Scherz und Ernst entgegen und konturiert die galante Liebe ex negativo. 4.3.2.3 Alter und Geschlecht: Reziproke, egalitäre Beziehungsstruktur Das Konzept galanter Liebe ist durch ein reziprokes und prinzipiell gleichberechtigtes Verhältnis der Geschlechter geprägt, wie es bereits in Bohses Constantine (1698) mit der „Gleichheit der Gemüther“, „Mittheilung der Hertzen / Sinn und Gedancken“ oder in der Versteckten Liebe im Kloster (1694) mit der Aufforderung, „zu lieben und geliebt zu werden“, verhandelt wird.617 In der Ariadne greift Bohse diese Problematik in der Ausgestaltung der Figurenkonstellation auf. Insbesondere über die Altersstruktur der Figuren werden im Roman horizontale wie vertikale Beziehungs- und Dominanzkonstellationen konstruiert. Während die Gleichaltrigkeit (Horizontale) ein reziprok-egalitäres Verhältnis der Figuren zum Ausdruck bringt, das die jungen Protagonisten in einen spezifischen Generationen- und Gruppenzusammenhang stellt, impliziert der Altersunterschied (Vertikale) ein hierarchischautoritäres Verhältnis. Gleichaltrigkeit bzw. Altersunterschied distanzieren und kontrastieren ‚alte‘ und ‚junge‘ Protagonisten, deren jeweilige Allianz untereinander sich dadurch stärkt. Diese Darstellungsstrategie kommt zunächst geschlechter­ übergreifend zur Anwendung und verfestigt den Gegensatz zwischen jung und alt.

616 Vgl.

Schlussgestaltung in Bohses Ariadne in Kap. 4.3.2.3 Alter und Geschlecht: Reziproke, egalitäre Beziehungsstruktur. 617 Talander: Liebenswürdige Constantine, S. 258; Kap. 4.1.4 und Kap. 4.2.3.4.

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle

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Anschließend wird die Altersdifferenz mit den konträren Liebeskonzepten (galante Liebe versus ständische Konvenienzehe) korreliert, die dann gegeneinander ausgespielt werden können. In der neuen Position als Königin und Ehefrau von Froila wechselt Ariadne an den Hof von Saragossa, wo sie die Bekanntschaft verschiedener Damen macht. Das Alter – konkret die „Jugend“ – verbindet die jungen Frauen und motiviert die Vertrautheit ihrer Beziehung: „Die Königin [Ariadne] empfing sie [die Damen] gantz liebreich […]. Und weil sonderlich die gleiche Jugend die beste Vertraulichkeit machet / als[o] bezeugete sie gegen selbige am meisten ihre Zuneigung.“618 Die neuen Sozialbeziehungen am Hof von Saragossa strukturieren sich weniger über die soziale Position der Protagonistin als Königin und Ehefrau als vielmehr über das Alter. Als emotional wertvolles Verhältnis wird die Freundschaft zu gleichaltrigen Frauen beschrieben und auch in heteronormativen Beziehungen gilt Gleichaltrigkeit als positiv. Ariadne „beneidet“ die „Princeßin Julie“ um ihre Verbindung mit einem gleichaltrigen Partner,619 wobei das gleiche Alter zum Ausdruck einer Gleichheit der Gemüter wird: „Ihr bekommt einen Gemahl / der an Gemüthe und Jahren den eurigen gleichet. Und was muß doch dieses vor eine grosse Vergnügung seyn.“620 Die Partner, die sich an Gemüt und Jahren gleichen, schenken einander ihr „ganzes Herz“ aus „freiem Willen“: „Sie [Julie] ergiebt sich einem Gemahl / gedachte Ariadne […] / welchem sie aus freyen Willen ihre Gegengunst schencket / und davor sein gantzes Hertz zu eigen bekommt.“621 Obwohl die Gleichheit der Gemüter nicht näher expliziert wird und die Modalitäten der konkreten Mann-Frau-Beziehung noch unbestimmt bleiben, schärft sich das positive Ideal galanter Liebe, das mit der freien Liebeswahl (Kapitel 4.3.1.1), einer Emotionalisierung der Paarbeziehung (Kapitel 4.3.2.2) und nun mit einer Gleichheit der Gemüter in Verbindung gebracht wird. Demgegenüber werden Beziehungen, wie sie Ariadne zum „alten König“ Froila erlebt,622 negativ konnotiert. Die ständische Konvenienzehe muss ohne Emotionalität auskommen, weil sie nur erzwungener Maßen und aus Staatsraison geschlossen wird. Das Negativideal der Konvenienzehe ist nicht mit Scudérys Konzept der amour heroïque gleichzusetzen, sondern verkörpert die Ehe im Sinne einer rationalen, gefühllosen Heiratspolitik, wogegen sich auch die amour heroïque wendet. Im Vergleich zu Julies Liebesglück werden der Protagonistin die Nachteile der eigenen Ehe bewusst: „Ich aber bin gezwungen worden / einem Könige dienstbar zu werden / dessen Person mir von Natur zuwider ist / und der mich nicht weiter liebet / als

618 Talander: Ariadne,

S. 337, Hervorh. K.B. lieb sie [Ariadne] die Princeßin Julie hatte / so beneidete sie doch den Vortheil ihrer Liebe“ (ebd., S. 338). 620 Ebd., S. 337. 621 Ebd., S. 338f. 622 Ebd., S. 449; Hinweise auf Froilas hohes Alter (ebd., S. 232, 254f., 338f., 353, 358, 462). 619 „So

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es der Nutzen seines Staats erfo[r]dert.“623 Politisches Kalkül ist dabei nur eine Seite der Medaille. Explizit wird die Unmöglichkeit der ‚Liebe‘ zwischen dem königlichen Paar mit dem Altersunterschied begründet und die ständische Konvenienzehe dadurch stigmatisiert. Der Erzähler erklärt: [Man gönnte Froila zwar] / daß er in Besitzung eines so unschätzbaren Schatzes [Ariadne] gelanget: es waren aber unterschiedene / die ihm heimlich wünscheten / daß er ein fünff und zwanzig Jahr zurück haben möchte. […] Es zweiffelten manche / ob der König wegen Ungleichheit des Alters würde von einer so muntern und schönen Princeßin vollkommene Gegengunst zu erwarten haben [Hervorh. K.B.].624

Der Erzähler führt die Altersdifferenz schließlich sogar als Scheidepunkt ins Feld, an dem „Liebe“ und „Vernunft“ sich unweigerlich trennen. Eine Liebe zwischen der jungen Protagonistin und dem alten König Froila ist unter vernünftigen Gesichtspunkten schlechterdings nicht möglich: Die Vorstellungen / welche die Liebe der Vernunfft entgegen setzte / bestunden darinnen: Die Königin wäre eine junge Dame; ihr Gemahl aber hätte fast noch zwey mahl so viel Jahre auf sich / und känte sie also bey dieser Ungleichheit des Alters ihn schwerlich lieben. Seine Bedienung würde sie mehr reitzen als sättigen; und der Frühling ihrer zarten Jugend sie offters dazu anmahnen / sich nach einem anständigen Liebhaber umzusehen [Hervorh. K.B.].625

Stand, Ehre, Prestige und Vermögen machen Froila keineswegs zu einem begehrenswerten Liebespartner  –  im Gegenteil, der junge Prinz Siegerich „samt seiner muntern Jugend und annehmlichen Person“626 erscheint als die „viel gleichere Partie“, bei dem die Protagonistin „mehr Vergnügung zu genießen“ hätte.627 Kurz, über die Altersstruktur vermittelt der Text ein horizontales-egalitäres Verhältnis zwischen Ariadne und Siegerich und bringt das Konzept der galanten Liebe mitsamt den Implikationen der Gleichheit der Gemüter, der freien Liebeswahl und einer Emotionalisierung mit dem jungen Figurenpersonal in Verbindung. Demgegenüber verweist das Konzept der ständischen Konvenienzehe auf eine vertikal-hierarchische und autoritäre Beziehungsstruktur zwischen altem Mann und junger Frau, deren Verhältnis als erzwungen und lieblos beschrieben wird. Die Kontrastierung und Abgrenzung zwischen jung und alt, galanter Liebe und ständischer Konvenienzehe, wird im Text mit einem erotischen Argument unterlegt, das eine Lockerung weiblicher Sexualrestriktionen suggeriert. Bereits der Erzähler deutete an, dass der alte König der jungen Gemahlin wohl auch in erotischer Hin-

623 Ebd.,

S. 339. S. 254f. 625 Ebd., S. 353. 626 Ebd., S. 11. 627 „[U]nd die da wusten / daß Printz Siegerich vorhero auf ihre [Ariadnens] Vermählung umgegangen / die gaben alle Beyfall / diese Partie wäre viel gleicher gewesen / und hätte die Königliche Braut wohl mehr Vergnügung […] zu geniessen gehabt [Hervorh. K.B.]“ (ebd., S. 255). 624 Ebd.,

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle

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sicht nicht gerecht werden kann und sich die Protagonistin über kurz oder lang nach einem „anständigen Liebhaber“ umsehen wird.628 Unmittelbar nach der Hochzeit mit Froila wird Ariadne ein Liebesverhältnis mit Don Pliego, dem „jungen Marggrafen de Falses“ nachgesagt,629 den es „kränckete / daß die muntere Jugend einer so schönen Fürstin unter denen Verdrießlichkeiten / womit sie von einem so alten Herrn täglich gemartert würde / solte so unverschuldeter Weise verblühen.“630 Das Gerücht des sexuellen Fehltritts, mit dem sich Ariadne zu Unrecht konfrontiert sieht, motiviert letztlich die Scheidung von Froila – der König verstößt die vermeintlich untreue Gattin, so dass Ariadne endlich für die Verbindung mit Siegerich frei wird.631 Der Ehebruch von Seiten der Frau, wird – obwohl ihn Ariadne nicht begeht – im Roman keineswegs geächtet. Im Gegenteil: Das hohe Alter Froilas und die Jugend des Verehrers Pliego lassen selbst Siegerich den vermeintlichen Ehebruch der Geliebten verständlich erscheinen. Siegerich ist zwar gekränkt, dass Ariadne einen Verehrer zu bevorzugen scheint, der „so ungeschickt ist / daß er [die] Bekantschafft nicht so heimlich halten kan / daß davon der König nichts erfahre“,632 aber er „bedauerte die schöne Königin / und entschuldigte sie fast in seinem Gemüthe / daß sie einen Liebes=Fehler begangen / nachdem ihr Gemahl ihr wäre von ihrem Vater auffgenöthiget worden / und sie vor dessen Person allezeit ein Abscheu getragen.“633 Ja, Siegerich glaubt, Ariadne hätte sich sicher „durch den Eckel vor ihrem alten Gemahl und die Liebkosungen dieses jungen Herrn verführen lassen.“634 Die Ambivalenz, die sich mit dem (unterstellten) Ehebruch verbindet, lässt sich romankonzeptionell erklären: Ob ausgeführt oder unterstellt desavouiert der vermeintliche Ehebruch der Protagonistin die Verbindlichkeit und Legitimität der erzwungenen Konvenienzehe, die nur missachtet werden kann. Die galante Liebe, basierend auf der freien Liebeswahl, der Gleichheit der Gemüter, gebunden an Emotionalität und eine (innerliche wie äußerliche) Aktivität der Akteure, erfordert von Mann und Frau ein Wissen um persönliche Dispositionen, Empfindungen und Bedürfnisse, ein (emotionales wie rationales) Unterscheidungsvermögen, um die Liebeswahl überhaupt treffen zu können, und nicht zuletzt ‒ so zeigt es die Konfliktgestaltung ‒ Handlungsbereitschaft, Mut und Durchsetzungs-

628 Ebd.,

S. 353. S. 448. 630 Ebd., S. 358. 631 Verstoßung Ariadne nach Alagon (ebd., S. 413‒446); Scheidung Ariadne – Froila (ebd., S. 628); „Inmittelst ging die Trauung des Königs [Froila] mit der Princeßin Blanca vor sich“ (ebd., S. 534). „Die Königin Ariadne, so ergrimmt auch sie auf ihren gewesenen Gemahl / den König Froila, war / muste sich doch wegen der heimlichen Liebe […] zu Siegerich / innerlich verbunden halten / daß […] sie des gezwungen eingegangenen verdrießlichen Ehe=Bandes […] erlassen“ (ebd., S. 542). 632 Ebd., S. 448. 633 Ebd., S. 447f., Hervorh. K.B. 634 Ebd., S. 462, Hervorh. K.B. 629 Ebd.,

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vermögen, um die Liebe zu verwirklichen und zu schützen. Am Ende des Romans erfährt dieses Modell galanter Liebe eine euphorische Apotheose mit der Vermählung des „nie […] schöneren und gleichen Paar[es]“635 und einer Harmonisierung aller Liebes-, Standes-, Generationen- und Geschlechterkonflikte. Das königliche Paar erhält nicht nur den Segen des Vaters und somit die väterliche Absolution,636 sondern auch die Zustimmung des geschiedenen Gatten Froila („heyrathen sie nach Selbst=belieben“).637 Der Roman nimmt sich in dieser Stelle das Recht erzählerischer Willkür heraus, insofern Froila aus etwas fadenscheinigen Gründen Siegerich zu seinem rechtmäßigen Erben erklärt,638 wodurch die Verbindung von Ariadne und Siegerich auch als ‚politisch‘ kluge Lösung gilt, die der „Wohlfahrt des Staats“ dient.639 Mit einem Kuss wird das etwas pikante Liebesverhältnis zwischen Ariadne und Antonetta am Wochenbett der Protagonistin in eine Freundschaft der Frauen überführt.640 Antonetta heiratet Fernando, so dass auch das standesungleiche Paar, ebenso wie die Kammerfrau Alihde und der Graf von Riela, glücklich in der Ehe vereint werden.641 Im Zeichen der galanten Liebe werden Machtinteressen und Generationenkonflikte, Liebes- und Staatsgeschichte aufgelöst (Deeskalation). Am Ende leben alle mitsamt Kindern in einer harmonisch-toleranten Gemeinschaft, wo die einen die Treue pflegen und die anderen weiterhin mit dem Laster kämpfen.642

635 „[J]edweder gestund / dass das Verhängniß nie ein schöner und gleicher Paar zusammen geführet

hätte“ (ebd., S. 711); Hochzeit Ariadne – Siegerich (ebd., S. 708‒713). bittet Ariadne den Vater um dessen Zustimmung zur Hochzeit, der zur „Wohlfahrt des Staates“ einwilligt (ebd., S. 664). Anschließend hält Siegerich standesgemäß beim Vater um die Hand der Tochter an und kann ihn ebenfalls von der politischen Klugheit dieser Entscheidung überzeugen (ebd., S. 679‒686, bes. S. 684f.). 637 Ebd., S. 704. 638 Siegerich überzeugt Froila, ihm sein Königreich zu vermachen, da es dann in der Verbindung mit Ariadnens Reich zur mächtigsten Macht Europas würde. Der mittlerweile kranke und altersschwache Froila lässt sich überzeugen, bittet aber bis zum Tod zu warten: „[S]o warten Sie zum wenigsten / […] biß ich [Froila] mit Tode abgegangen / und alsdenn heyrathen sie nach Selbst=belieben“ (ebd.). Froila ernennt Siegerich zu seinem „Erben“ (ebd., S. 623). 639 Ebd., S. 665, 684f., 704. 640 „[Ariadne] that der Gräfin von Vardes [Antonetta] noch die besondere Gnade / daß sie ihren Mund küssete / und sagte lächelnd: Diese Gunst hat ja wohl ehe der Graf von Tortosa bey euch genossen. Antonetta nahme so gnädigen Schertz mit einer demüthigen Bescheidenheit auf […]. Sie geriethen darauf auf allerhand artige Gespräche von dem damahligen Anwesen und gehabten Zeit=Vertreib“ (ebd., S. 819). 641 Ebd., S. 804‒817. 642 Der Roman endet mit Ehebruch und lasterhaften Fehltritten von Antonetta und Charlotta, gegen die sich die Treue Ariadnens und Alihdes als positives Gegenbild konturiert (ebd., S. 823‒834, 845‒891). 636 Zuerst

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4.3.3 Modifikation galanter Weiblichkeitsnarrative nach 1710 Auf Rosts Bemühungen, den Roman zu reformieren, die er mit der moralischen Gefährdung der weiblichen Leserschaft begründet, ging Kapitel 3.3.2.4 bereits ein. In den Jahren nach 1710 verstärken sich Tendenzen, den Roman inhaltlich wie formal auf weibliche Leserkreise abzustimmen bzw. über den Roman Einfluss auf Lektüre und moralische Prägung von Frauen zu nehmen. Im Roman lassen sich diese Reformbemühungen umsetzen, was exemplarisch an Rost/Meletaons Die Unvergleichliche Heldin unserer Zeiten (1715) sowohl als romankonzeptioneller als auch gendergeprägter Modifikationsprozess beschrieben werden kann. Bei der französischen Romanvorlage L’Heroïne incomparable (1713) handelt es sich um einen Text, der preziöse Konzepte Scudéry’scher Prägung schon modifiziert hat, denn in das Narrativ der Belle Hollandoise schreibt sich bereits das Ideal einer häuslich-familiären Tugendhaftigkeit der Frau ein. Der französische Prätext scheint offenbar geeignet, eine tugendhafte Konzeption der Protagonistin weiter auszubauen, die Rost zum späteren Zeitpunkt der Romankarriere zu forcieren beginnt. Französische Romane prägen nun erneut die Gattungsentwicklung. 4.3.3.1 Tochter-Eltern-Konflikt und Tilgung des Fluchtmotivs Auch in Rosts Roman verbindet sich der Liebeskonflikt (Anspruch auf die freie Liebeswahl) mit einem Generationen- bzw. Tochter-Vater-Konflikt. Allerdings findet eine entscheidende Umstrukturierung im gesamten Setting und Plot statt: Die Holländerin flüchtet nicht aus der Heimat, sie verbleibt ausschließlich im privaten Umfeld des aristokratischen Elternhauses; der Konflikt wird gewissermaßen in den ‚eigenen vier Wänden‘ ausgetragen. Außerdem verändert sich die Familienkonstellation, da neben den Vater die Mutter tritt, die in Bohses Ariadne gar nicht erst auftaucht. Die Protagonistin muss zwar zwei Parteien von der persönlichen Liebeswahl überzeugen, doch findet sie in der Mutter auch eine Verbündete. Die Liebeswahl allerdings geht von der Protagonistin selbst aus und findet zunächst im Geheimen statt (Kapitel 4.3.1). Ohne das Wissen der Eltern beginnt die schöne Holländerin ein Verhältnis mit dem Liebhaber, Baron D*, und hält dies längere Zeit vor Vater und Mutter geheim. So gestattet sie dem Baron eine Briefkorrespondenz, obwohl sie weiß, dass „ihre Frau Mutter […] in dergleichen Fällen sich gar ernsthafft bezeigete / und folglich diesen Brief=Wechsel vor was Lasterhafftes aufnehmen dürffte: allein sie wolte die Sache schon so geheim spielen / daß sie hierüber aller Vorwürffe überhoben bliebe.“643 Die engsten Diener werden ins Vertrauen gezogen und stellen die heimlichen Briefe zu; Formen der Dissimulation bleiben also weiterhin präsent. Die schriftliche Korrespondenz ermöglicht erste Verpflichtungen, im persönlichen Kontakt verlangt die Protagonistin jedoch Diskretion und hält den

643 Meletaon:

Unvergleichliche Heldin, S. 18, Hervorh. K.B.

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Verehrer auf züchtige Distanz.644 Dadurch wahrt sie ihre „Reputation“, prüft gleichzeitig die „Beständigkeit“ des Barons und vermehrt sein Begehren, indem sie ihn in die Position des Werbenden drängt – das preziöse Modell ist unverkennbar.645 Auch der Paarbildungsprozess vollzieht sich vollständig im Rahmen von tugendhafter Mäßigung und Enthaltsamkeit; erotische Freizügigkeiten werden der Holländerin nicht eingeräumt. Zwar zeigt sie sich dem Baron von ihrem Fenster aus im Negligé und lächelt ihm zu,646 doch unterbindet sie alle erotischen „Gunstbezeugungen“.647 Als Übersetzung des französischen Prätextes L’Héroïne incomparable trägt der Roman starke Züge preziöser Weiblichkeit: Die Tabuisierung weiblicher Sexualität scheint Rost Bestreben entgegen zu kommen, den galanten Roman und dessen Weiblichkeitsnarrativ zu reformieren. Die (Re-)Aktualisierung des Keuschheitsgebots und die Tilgung erotisch freizügiger Szenen scheinen eine geeignete Strategie zu sein, um einer moralischen Gefährdung der weiblichen Leserschaft entgegen zu wirken. Überraschende Facetten enthält die Figurenkonzeption dennoch. Durch ihre „kluge Vorsicht“ gelingt es der Protagonistin, die Mutter zu täuschen, als diese das Liebesverhältnis entdeckt.648 Auf einer Kutschfahrt nähert sich der Baron, um seine Referenz zu erweisen.649 Die Mutter wird aufmerksam  –  aus „des Barons Bezeugen“ schließt sie, dass jener „eine Neigung“ zu ihrer Tochter tragen müsse. Die Holländerin indes stellt sich unwissend, auf eine „vernünfftig[e]“ Art täuscht sie die Mutter und verharmlost ihre Bekanntschaft zum Baron.650 Sie räumt aber ein, ihn auf einigen „Assemblées gesehen“ zu haben, wo er durch seine anständigen Manieren „bey jederman beliebt“ sei.651 Im harmlosen Gespräch mit der Mutter bringt sie die soziale Reputation des Barons ins Spiel – für jene hinreichender Grund, um den Baron als attraktiven Heiratskandidaten ins Auge zu fassen. In geschickter Verstellung (Dissimulation) beweist die Holländerin ihre Ehrbarkeit: Die Protagonistin, die ihre Liebeswahl längst getroffen hat, erklärt der Mutter, dass sie sich niemals erlauben würde, ohne das Wissen der Eltern einen Partner zu wählen, da diese Entscheidung ausschließlich Vater und Mutter zustünde:

644 Ebd.,

S. 26f. S. 12f.; Kap. 4.1.4 und Kap. 4.2.3 Modifikation preziöser Liebes- und Geschlechtermodelle im galanten Roman (I) und (II). 646 Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 18f. 647 „[W]enn er vertraute Gunst=Bezeugungen von ihr forderte / schlug sie ihm selbige ab“, Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 13. 648 Ebd., S. 125. 649 Ebd., S. 41, auch im Folgenden. 650 Die Mutter erkundigt sich bei der Tochter, „ob sie nicht aus des Barons Bezeugen wahrgenommen / daß er eine Neigung zu ihr trüge? […] Die schöne Holländerin versetzte sehr vernünfftig zur Antwort: Es stünde nicht in ihrem Vermögen / die Reitzungen seines Hertzens auszuforschen [Hervorh. K.B.]“ (ebd.). 651 Ebd., S. 42. 645 Ebd.,

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Es erwiederte aber die schöne Holländerin: Weil ihr keine Herrschaft über ihre Neigungen geziemte / worüber nur ihr Herr Vatter und Frau Mutter zu gebieten: so beruhete es bey ihnen / wie sie ihr Glück beliebten einzurichten; aus eben dieser Ursache wollte sie sich ohne deren Vorbewust niemahls zu etwas entschliessen.652

In täuschender und zugleich kooperativer Weise räumt sie den Eltern das Recht der Partnerwahl ein. Vorgeblich respektiert die Holländerin die ständische Konvention und kann durch die Verstellung als ‚gehorsame Tochter‘ die Zustimmung der Mutter gewinnen.653 Diese verspricht, die Verbindung mit dem Baron befördern zu helfen und vermittelt beim Vater.654 Mit der Entdeckung des Verhältnisses ist die Liebe jetzt allerdings unmittelbar an die Institution der Ehe gebunden. Während in Bohses Ariadne alle Anstrengungen darauf gerichtet sind, die Ehe zum ‚Falschen‘ (Ramiro, Froila) zu verhindern und von einer Eheschließung mit dem Geliebten (Siegerich) bis zum Schluss des Romans nie die Rede ist, konzentriert sich der Konflikt bei Rost nur noch auf die Frage, ob die Protagonistin den Liebhaber als Bräutigam durchsetzen kann oder die Ehe durch Autoritätspersonen (Vater, Mutter) festgelegt wird. Der Liebeskonflikt wird nun ausschließlich zwischen Tochter und Vater ausagiert. Vehement verteidigt die Holländerin die persönliche Liebeswahl, während der Vater unmissverständlich seinen „Widerwillen gegen die Heurath“ ausspricht.655 Aus patriotischen Gründen ist er gegen die Verbindung, weil der Baron ein „Fremde[r]“, ein „ausländische[r] Baron“ sei.656 Die Tochter interveniert – ständische Bedenken hinsichtlich der Wahl des Gatten lasse sie gelten, patriotische jedoch nicht: „wenn ich mich wider meinen Stand verheurathet / können sie mir Dero Einwilligung mit allem Recht versagen; wofern ich aber mit meiner Wahl auf eine solche Person gerathe / die / ob sie schon ein Ausländer / doch sehr reich / und von vornehmer Geburt ist / so darff ich füglich daran zweiffeln.“657 Konsequent macht sie einen Anspruch auf persönliches Glück geltend und gibt dies dem Vater deutlich zu verstehen: „[Ich] hoffe auch / sie werden meiner Neigung keine Gewalt anthun / noch mir einen solchen Mann geben / der mich unglückselig machte.“658 Dies müsse auch im Sinne des Vaters sein; der Erzähler erklärt: „sie glaubte auch, der Herr Vatter würde sie zu keinem Bündnis nöthigen / das nicht mit ihrem Sinne überein käme / noch ihr eine

652 Ebd.

653 „Ihre

Frau Mutter war mit dieser Antwort auf das beste zu frieden / und gab das Versprechen von sich / daß sie sich niemal[s] einem Bündnis [der Tochter] zu widersetzen begehrte / daß ihrem Glücke den Weg bahnte / maßen man jederzeit eine Person von vornehmer Geburt / einem geringern fürziehen müste“ (ebd., S. 43). Selbstredend geht die Mutter von der Logik der ständischen Heiratspolitik aus. 654 Ebd. 655 Ebd., S. 48. 656 Ebd., S. 43, 48. Der Vater hält es für „genehmer / wenn seine Tochter ihre Liebe an statt eines ausländischen Barons einem Lande=Kind gewidmet“ (ebd., S. 43). 657 Ebd., S. 45f. 658 Ebd., S. 45.

380

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Person aufdringen / zu welcher sie nicht die geringste Neigung trüge / indem ihr auf solche Weise das Unglücke auf dem Fusse nachfolgte.“659 Als der Vater sich nicht umstimmen lässt, wird der Protest der Tochter massiver. Die Protagonistin kündigt an, jede andere Ehe zu verweigern, wenn der Vater den Baron nicht akzeptiert: Die schöne Holländerin / bedeutete ihrem Herrn Vatter / wie sie zwar […] die vornehmsten Herren des Landes / welche ihr aufgewartet / gesehen hätte: hingegen müste sie gestehen daß ihr keiner davon anständig gewesen; sondern es gefiel ihr der Baron unter allen am besten: dannenhero sie sich nimmermehr zu verheurathen gedächte / wofern es nicht mit diesem geschehen könnte [Hervorh. K.B.].660

Der Vater versucht sie mit „tausenderley Fürstellungen davon abwendig zu machen“,661 erklärt auch, „wie er das Wohlseyn einer werthesten Tochter / die er so zärtlich liebte / niemahl verhinderen würde; allein […] / daß man die Verheurathung mit einem Fremden wol vermeiden könte.“662 Als er sieht, dass die Tochter nicht umzustimmen ist, zieht er sich aus dem Konflikt zurück: „[So] bequemte er sich zum Still=schweigen“.663 Die Protagonistin deutet dies wohlwollend als Einwilligung, den Baron zur nächsten Assemblee ins Haus der Eltern einzuladen.664 Im Gegensatz zum strengen, autoritätsbewussten Vater und König in Bohses Ariadne tritt hier eine Vaterfigur auf, die zwar auf die patriarchale Autorität besteht, sie aber weniger dominant durchsetzt.665 Am Ende schweigt der Vater und gibt der Protagonistin somit Raum, das weder ‚Dafür‘ noch ‚Dagegen‘ dem eigenen Interesse gemäß auszulegen. Das Verhältnis von Tochter und Eltern schwankt auf beiden Seiten zwischen dem Anspruch, persönliche Interessen durchzusetzen, und der Bereitschaft, dem anderen Gehör zu schenken. Im Vergleich zum starren Modell von Unterordnung und Gehorsam bzw. offener Rebellion in Bohses Roman, kann die Holländerin den Streit um die freie Liebeswahl in der Interaktion mit Vater und Mutter im Elternhaus ausgetragen. Das bedeutet zugleich, dass eine Flucht mitsamt ihren Möglichkeiten und Komplikationen von vornherein ausgeklammert bleibt. Anders formuliert: die Egalisierung innerfamiliären Strukturen macht das Fluchtmotiv obsolet bzw. eine Tilgung des Fluchtmotivs ist dann möglich, wenn das Eltern-TochterVerhältnis kooperativer ausgelegt wird. Die modifizierte Beziehungsstruktur impli-

659 Ebd.,

S. 49f. S. 49. 661 Ebd., S. 50. 662 Ebd., S. 45. 663 Ebd., S. 50. 664 Ebd., S. 51f.; Holländerin zum Baron: „[F]inden [Sie] sich nur fleissig in unsern Assemblées ein / und ermangeln nicht / sich gegen meine Eltern höflich zu erzeigen; ich versichere Sie / daß Sie sich dadurch Deroselben Wohlgewogenheit auswürcken können“ (ebd., S. 66). 665 Das zeigt sich auch in der formalen Gestaltung: Während die Argumente der Holländerin in direkter Figurenrede zeitdeckend formuliert werden, gibt der Erzähler die Einwände des Vaters größtenteils in indirekter Rede und stark gerafft wider. 660 Ebd.,

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle

381

ziert jedoch (neue) Reglementierungen; vor allem wird die Unvergleichliche Heldin strikt auf ihre zukünftige Rolle als Ehefrau und Gattin festgelegt (Kapitel 4.3.3.3). 4.3.3.2 Einschränkung des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs Mit der Tilgung des Fluchtmotivs tritt auch der Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch in den Hintergrund. Während sich Ariadne in der Fremde als Pilger, Graf von Tortosa oder Don Livio tarnt,666 als verkleideter Mann getäuschten Frauen die Liebe verspricht usw., verbleibt die Holländerin ausnahmslos in der Rolle als Frau. Das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs erfüllt in Rosts Unvergleichlicher Heldin weitgehend ornamentale Funktion und dient der Unterhaltung. Der Wechsel ins andere Geschlecht wird der Heldin nur noch als ‚Verkleidung‘ und im Rahmen von Vergnügungen zugestanden. Mit einer Gruppe von Männern und Frauen trifft sich die Holländerin zu einem Jagdausflug, bei dem sich die Damen „als Amazoninen ausgekleidet hatten“, sie treten als männliche Kriegerinnen auf.667 Auch die Holländerin erscheint als heroische Amazone, die „weit besser als die Cavaliers schliessen [schießen] konte“ und deren Erscheinung wie Auftreten dazu verleiten, „daß man sie vor einen warhafften Cavalier“ halten muss.668 Während der französische Prätext L’Heroïne incomparable die Transformation ins andere Geschlecht als so perfekt lobt, dass „nichts Weibliches“ mehr an der Heldin zu bemerken sei („il ne paroissoit rien d’effeminé dans sa taille“,669 es zeigte sich nichts Weibisches in ihrer Figur), beschränkt sich Rost darauf, die verblüffende Gewandtheit der Frau im männlichen Kostüm zu betonen. Er übersetzt den genannten Passus: „Der Unterschied zwischen ihr und allen andern Frauen=Zimmer / erhellte unter andern auch daraus / weil nichts affectiretes an ihrer Taille zu erkennen war.“670 Zudem setzt Rost die Protagonistin sprachlich von der Gruppe der amazonischen Damen ab. Er stilisiert sie als bewundernswerte Ausnahmeerscheinung und als Sonderfall. Subtil, kaum merkbar greift der Autor in den französischen Prätext ein, der die Holländerin als eine von vielen Amazoninnen aufgezählt hatte: „il s’y trouva plusieurs Seigneurs, & plusieurs Dames […] qui étoient vêtuës en Amazonne. La Belle Hollandoise s’habilla en Heroïne“.671 Rost fügt die adversive Konjunktion „hingegen“ ein, die einen Gegensatz zwischen den amazonischen Damen und der Holländerin installiert: Es „fanden sich viele Herren und unterschiedliches vornehmes Frauen=Zimmer dabey ein / die sich als Amazoninen ausgekleidet hatten;

666 Episode, in der Ariadne in Gefangenschaft des algerischen Königs Beg Achmet gerät und als Don

Livio verspricht, dessen Tochter Ambre zu heiraten, Talander: Ariadne, S. 122–140, 354‒394. Unvergleichliche Heldin, S. 86‒104, hier S. 86. 668 Ebd., S. 86f. 669 [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 40, Hervorh. K.B. 670 Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 87, Hervorh. K.B. 671 [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 39. 667 Meletaon:

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

die schöne Holländerin hingegen / stellte eine Heldin […] für.“672 Die adversive Gegenüberstellung betont den Exklusivitätscharakter, doch ist die Protagonistin jetzt eine „Heldin“, keine Amazone. Sie ist bewundernswürdiger Einzelfall, keine Massenerscheinung. Obwohl die Holländerin recht männlich auftritt, dafür das Lob der gesamten Gesellschaft erhält673 und anschließend mit dem Degen noch einen Eifersuchtsstreit zwischen dem Baron D* und einem Kavalier schlichtet,674 ist der Wechsel ins männliche Geschlecht auf das Spiel, die Vergnügungsjagd, beschränkt und gilt lediglich als Verkleidung. Im Rahmen der erzählten Geschichte ist der Wechsel ins andere Geschlecht ansonsten nur männlichen Figuren gestattet, stellt aber auch hier lediglich amüsantes Ornament dar; das Motiv hat keine handlungsstrukturierende Funktion mehr. So stellt der Kammerdiener des Barons D* in der Verkleidung als Dienstmagd die heimlichen Briefe zwischen dem Paar zu.675 Er agiert dabei so überzeugend, dass selbst der Vater der Holländerin ihn für eine „Demoiselle“ hält.676 Obwohl dadurch die heimliche Korrespondenz plausibilisiert wird, ist der Geschlechtertausch dafür keine notwendige Bedingung; das Motiv dient der Unterhaltung. Ein anderes Mal verkleidet sich der Verehrer C** (Konkurrent des Baron D*) als Dame, um der Protagonistin nach einem Komödienbesuch eine heimliche Botschaft zuzustecken und ihr einen Kuss abzuringen.677 Auch dies ist eine unterhaltsame Episode. Indem der handlungstragende Charakter des Motivs eingeschränkt wird, verliert der Kleider-,

672 Meletaon:

Unvergleichliche Heldin, S. 86, Hervorh. K.B. übernimmt den französischen Prätext weitestgehend: „Der Unterschied zwischen ihr und allen andern Frauen=Zimmer [Prätext: Elle se distingua de toutes les Personnes de son Sexe] / erhellte unter andern auch daraus / weil nichts affectiretes an ihrer Taille zu erkennen war [il ne paroissoit rien d’effeminé dans sa taille]; so daß auch zu zweiffeln / ob jemahl eine Heldin von solcher Majestät und Annehmlichkeit [jamais Heroïne ne parue avec tant de majesté & de grace] in der Welt gewesen: drum legten auch alle Herren und das gegenwärtige Frauen=Zimmer / die artigsten und verbindlichsten Complimenten [des compliments doux & engageants] bey ihr ab“, Ebd., S. 87; [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 40. 674 Der fremde Kavalier im Wald möchte die Heldin zum Abschied küssen, worauf es zum Streit zwischen Baron D* und dem Fremden kommt, den die Holländerin couragiert schlichtet. Rost übernimmt den französischen Prätext unverändert: „[Der Fremde] wollte ihr mit einem Kuß das Adjeu sagen; allein da ihn der Baron so nahe auf sie zugehen sahe: zog er vom Leder [tira son épée] und deute[te] ihn an: wie er dergleichen Unternehmen für eine Beschimpfung [une injure] auslegte und deswegen Rache foderte [il vouloit s’en venger]; dahero der Edelmann die Fuchtel [dégaina aussi son épée] gleichergestalt entblössete. Das bey der schönen Holländerin befindliche Frauen=Zimmer [Les Demoiselles] / erschrack zwar auf das äusserste hierüber; sie in Gegentheil legte ihre Gelassenheit nicht im geringsten ab [mais elle ne perdit rien de sa tranquilité]; sondern als sie sahe / daß sie aneinander gekommen / trat sie mit dem Degen in der Faust darzwischen [les voyant tous deux aux mains, elle tira son épée, & se mit entre-deux] / und verursachte dadurch / daß sie den Streit alsobald einstelleten“, Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 102; [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 47. 675 Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 22f. 676 Ebd., S. 23. 677 Ebd., S. 126. 673 Rost

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle

383

Rollen- und Geschlechtertausch an erzählerischer Bedeutsamkeit. Er wird zum amüsanten, pikanten Moment, das den Unterhaltungswert des Romans in harmloser Weise stützt, aber keine ambivalenten Effekte für die weibliche Figurenkonzeption verursacht. Als Motivik des weiblichkeitszentrierten Romans wird der Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch beschränkt; im empfindsamen Roman des 18. Jahrhunderts taucht er gar nicht mehr auf. 4.3.3.3 Sanktionierung galanter Weiblichkeit in der Ehe Die Ehe, deren Thematisierung im preziösen Roman Scudérys und in weiblichkeitszentrierten Romanen bis 1700 eine Leerstelle bildet, da sie konstatiert, aber narrativ nicht ausgestaltet wird, gewinnt nach 1710 an Bedeutung.678 Das Motiv der Ehe scheint ein besonders wirksames Instrument zu sein, um galante Liebesund Geschlechtermodelle nach Maßgabe männlicher Interessen zu modifizieren und weibliche Figurenkonzeptionen patriarchalen Geschlechterordnungen anzupassen. Rosts Unvergleichliche Heldin kann diesen – keineswegs reibungslosen ‒ Prozess abschließend illustrieren. Die Holländerin wird als Figur gestaltet, die eine Einschränkung bisheriger Freiheiten in der Ehe selbst wünscht und dies explizit formuliert. Wie der Text jedoch zu dieser Position gelangt, ist interessant. Auf einer Assemblee im Haus der Eltern kommt es in Gegenwart etlicher Gäste zu einem Streitgespräch zwischen dem Baron D* und dem „Edelmann“ Marquis de C**,679 der nach einem Komödienbesuch (als Frau verkleidet) der Holländerin einen Kuss gestohlen hatte und nun um sie wirbt.680 Beide Verehrer buhlen um die Holländerin (die Anzahl potentieller Kandidaten wird reduziert). Es folgt eine Art allegorisches Streitgespräch, bei dem der Edelmann C* das Prinzip der „Verwegenheit im Lieben“ (témérité) vertritt, während der Baron D* die „Beständigkeit im Lieben“ (constance

678 Diese

Tendenz setzt sich im frühen 18. Jahrhundert fort, denn Liebe – Ehe werden im Roman ab 1730 ein wichtiges Thema, Günter Dammann: Liebe und Ehe im deutschen Roman um 1730. In: Das Werk Johann Gottfried Schnabels und die Romane und Diskurse des frühen 18. Jahrhunderts. Hg. v. Günter Dammann u. Dirk Sangmeister. Tübingen 2004, S. 35‒90. 679 Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 132. 680 „[A]ls ein junger Herr / ein so schönes Frauen=Zimmer [die Holländerin] in der Comödie gesehen / und sich fast sterblich in sie verliebet hatte: Ersuchte er eine Comödiantin / sie möchte ihm ihre Kleider lehnen; worein er sich verbarg / und der schönen Holländerin […] nachfolgte. […] [D]a sie still stunde / und die Nacht die Leute unkänntlich machte / erkühnte er sich gar sie zu küssen; dieweil ihn nun die schöne Holländerin wahrhafftig vor ein vornehmes Frauenzimmer hielte: gab sie ihm einen Kuß dargegen / und verschafft ihm dadurch den Vortheil / daß er nachfolgendes Billet unvermercket in ihre Schürtze stecken konte: Mein schönstes Frauen=Zimmer. Ich bin keines weges eine Person von Dero Geschlecht; sondern ich hab mich darum unter entlehnten Kleidern verborgen / damit ich Sie desto füglicher anbeten könte; ich habe sie auch in keiner andern Absicht geküsset / als daß Ihnen dadurch zu erkennen geben wollen mit welcher Inbrünstigkeit und mit was für einem zärtlichen Hertzen ich seye Dero vollkommen verliebter Diener Der Marquis D* [Hervorh. K.B.]“, Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 126f.; Identifizierung Marquis D* = der Edelmann Marquis de C** (ebd., S. 137).

384

4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

& fidélité) verteidigt.681 Die Holländerin initiiert das Rededuell, denn sie berichtet der Gesellschaft von der verwegenen Aktion C*s, in der Verkleidung als Dame ihre Bekanntschaft gesucht zu haben (avanture), und entzückt damit die anwesenden Damen.682 Auch die Mutter ist vom verwegenen „Streich“ des Edelmanns begeistert.683 Formal an die Conversation à la française erinnernd, dreht sich das Streitgespräch um die Frage, ob die Verwegenheit oder die Beständigkeit der Liebe als vorbildlich zu erachten sei; ein Problem, das keineswegs von vornherein geklärt ist. Der Edelmann C** verteidigt sein Verhalten: Die Liebe selbst entschuldige die Verwegenheit und sei daher kein Laster zu nennen, das die „Ehre“ des Frauenzimmers angreifen könne.684 Die Zustimmung der anwesenden Damen scheint ihm Recht zu geben.685 Auch Baron D* hält die Liebe durchaus für kein Laster. Er kritisiert aber die Verwegenheit als Hinterlist und Wankelmut, die lediglich auf eine verwerfliche Befriedigung der Leidenschaften ziele und keine „wahrhafte Neigung“ sei.686 Sein Programm ist eindeutig – Beständigkeit und Standhaftigkeit binden sowohl Mann als auch Frau: [E]r seines Ortes hingegen / hegte keine andere Absicht / wenn er ein Frauen=Zimmer zur Ehe begehrte / als wie er in seiner Liebe eine unveränderliche Standhafftigkeit gegen sie ausüben und zu ihren Wohlseyn etwas beytragen könte; dannenhero […] [v]erbiete [er] allen denjenigen / sie mögen auch seyn wer sie wolten / die unverbrüchlichste Beständigkeit in seiner Liebe streitig [zu] machen [Hervorh. K.B.].687

Rost ergänzt in dieser Passage den Hinweis auf die „Ehe“,688 der im französischen Prätext nicht erscheint. Somit steht nicht mehr die Frage nach dem besseren ‚Liebhaber‘ (amant) im Raum, sondern nach dem vorteilhafteren ‚Ehemann‘. Während der Konkurrent C* durch eine hohe Herkunft, ständische Reputation und die Bekanntheit seiner Familie besticht,689 sprechen „Verstand“ (esprit) und das „artige gefällige Wesen“ (maniére agréable, douceur, & sa comlaisance) für Baron D*.690 Neutral 681 Edelmann

‒ Verwegenheit (ebd., S. 132, 134f.), Baron D* ‒ Beständigkeit (ebd., S. 134, 135, 136), [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 60f. 682 Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 130f.; die anwesenden Damen meinen, jede würde gern an ihrer Stelle gewesen sein (ebd., S. 132). 683 Ebd., S. 129. 684 Ebd., S. 133. 685 Ebd., S. 132. 686 Ebd., S. 134f. 687 Ebd., S. 135f. 688 „[P]our lui quand il recherche une Demoiselle, il n’a point d’autre but que de l’aimer constamment, & de contribuër à son bonheur“, [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 62. 689 Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 133, ferner S. 137. 690 „Er [der Vater] hätte sie [die Tochter] zwar gerne dem Baron gewidmet / der aus einem vornehmen Geschlechte herrührte / und sich durch seinen Verstand und durch sein artiges gefälliges Wesen vor andern empor hub [qui se faisoit distinguër par son esprit, par sa douceur, & par sa comlaisance]; indem er sie aber auch dem jungen Edelmanne / als einem Herrn / gewünschet / dessen Familie in dem gantzen Lande bekandt war [dont la Famille étoit fort connuë dans le

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle

385

verfolgen Protagonistin, Mutter und Vater den Schlagabtausch, ergötzt zeigen sich die anwesenden Damen und Herren – die Gesellschaft kann keinem der beiden Verehrer die Wertschätzung verwehren.691 Verwegenheit, Herkunft und Reichtum stehen gleichwertig neben Beständigkeit, Verstand und gefälligem Wesen und sprechen sowohl für den einen als auch für den anderen Verehrer, zumal beide aus respektablem Hause stammen. Die Kriterien der ständischen Heiratspolitik ringen mit dem Ideal der galanten Liebes-Ehe um ihre Legitimation. Der Vater sieht sich aufgrund der Unentscheidbarkeit des Konflikts veranlasst, die Liebeswahl an die Tochter zu delegieren: Er „schätzte auch einen so hoch als den andern / daß er nicht wuste wem er den Vorzug geben sollte […]: so verstattete [er] seiner Tochter die freye Wahl“.692 Stand, Herkunft und Reichtum, die Kriterien der ständischen Konvenienzehe, entscheiden nicht selbstverständlich über die Liebe, so lässt der Vater den Edelmann und die Salongemeinschaft wissen: „ich habe allerdings die Ehre dero gantze Famille zu kennen / […] allein was die Liebe meiner Tochter anbetrifft / verstatte ich ihr eine freye Wahl und verlange ihr keine aufzudringen […]: zu dem Ende es nur auf ihr beruhet ob ihr dergleichen partie anständig ist.“693 Offiziell gesteht der Vater nun der Tochter die freie Liebeswahl zu, die sich jene am Beginn des Romans erstritten hatte. Damit überträgt er der Protagonistin zugleich die moralische Last, zwischen der Verwegenheit der Liebe und der Beständigkeit im Lieben bzw. zwischen Stand / Reichtum oder Verstand / Wesen wählen zu müssen. Die Protagonistin wird zur moralischen Richtinstanz, die mit ihrer Entscheidung für den Baron D* Stand und Reichtum eine Absage erteilt und die Beständigkeit im Lieben favorisiert.694

Païs]; und [der] ausser dem stattlichen Reichthum [grands biens] […] / die schönsten Qualitäten des Leibes und Gemüthes besaß [Hervorh. K.B.]“ (ebd., S.  145f.; [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 66). Die Holländerin lobt das „artige Wesen“ von Baron D*: „[Von allen Ihren positiven Eigenschaften] will ich nur gedencken / daß dero artiges und angenehmes Wesen [vôtre douceur, & la maniére agréable] / […] mich dergestalt berühret / daß ich Ihnen meine Wohlgewogenheit schön längstens zu erkennen gegeben / […] [und] sie hiernächst versichern kan / daß kein Mensch jemals vermögend gewesen / Ihnen den Vorzug abzugewinnen“, Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 180; [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 82. 691 Meletaon: Unvergleichliche Heldin, S. 145. „Diese Eiffer=volle Uneinigkeit / so zwischen den beeden Mit=Buhlern entstanden / erweckte bey der gesamten Compagnie ein nicht geringes Ergötzen; ein jedes lobte so wohl den Baron als den jungen Edelmann; und zwar den einen / weil er sich […] die Bezeugung seiner Beständigkeit angelegen seyn liesse; den andern aber / weil er sich den Vorzug vo[r] dem Baron und das Hertz der Schönen Holländerin zu besitzen wünschte: die ohne einer Parthei beyzupflichten / nur eine aufmerksame Zuhörerin bey dem […] Gespräche abgab [Hervorh. K.B.]“ (ebd., S. 136). 692 Ebd., S. 145f. 693 Ebd., S. 138, Hervorh. K.B. „[J]’ai bien l’honneur de connoître toute vôtre Famille […]: mais je laisse à ma Fille la liberté d’un choix, je ne la veux pas contraindre [ich möchte sie ihr nicht aufzwingen; Hervorh. K.B.]“, [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 63. 694 Das „artige und angenehme Wesen“, des Barons „Liebens=würdigen Geberden [machen] Hertz und Sinnen [der Heldin] unverzüglich unterwürffig“, Meletaon: Unvergleichliche Heldin,

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4. „Die unvergleichliche Heldin unserer Zeiten“: Gendernarrative im galanten Roman

Der zukünftige Gatte bietet ihr die „Herrschaft“ innerhalb der ehelichen Beziehung an und ist bereit, sich der „Gewalt“ der Frau zu unterwerfen: „[W]enn wir nur […] alle beyde vollkommen vereiniget: So versichere ich Sie / daß ich Ihnen als Gemahl die Herrschafft niemahl zu entziehen begehre; sondern alles was ich besitze / liefere ich in Dero Gewalt.“695 Baron D* zeigt sich als gut instruierter amant nach preziösem Vorbild. Die Holländerin lehnt diese „Herrschaft“ jedoch ab – Rost greift auch hier in den Prätext ein, der originale Wortlaut wird in eckigen Klammern angegeben: Monsieur, […] ich weiß gar wohl was eine Frau ihrem Mann vor Ehrerbietung bezeigen muß / daß sie nemlich keine Höflichkeit gegen ihn spahren / und die ihm geziemende Ehre nicht aus der Acht lassen soll: dannenhero verlange ich niemal[s] den Vorzug vor Ihnen [im Original: je n’anticiperai jamais sur vos droits = niemals würde ich in Ihre Rechte eingreifen]; vielmehr widme ich Ihnen jederzeit ein gehorsames / williges und gefälliges Hertze / das Ihnen mit der aufrichtigsten Zärtlichkeit ewig zugethan ist [im Original: vous aurez toûjours en moi un Coeur soumis, docile, complaisant, & tendre pour vôtre personne = Sie werden in mir immer ein demütig-ergebenes, gefügiges, gefälliges und gegen Ihre Person zärtliches Herz finden, Hervorh. u. Übers. K.B.].696

Obwohl auch der französische Prätext eine freiwillige Unterordnung der Frau unter die Herrschaft des Mannes artikuliert, ist doch von einem grundsätzlichen Verzicht auf den weiblichen „Vorzug“ nicht die Rede, auch nicht von einem „gehorsamen“ Herz der Frau. Rosts Übersetzung verstärkt die unterordnende Tendenz der weiblichen Figurenrede und entwirft eine Figur, die aus dem freigewählten Gehorsam größte Befriedigung zieht. Massiv greift Rost/Meletaon in den Prätext ein, als die Holländerin dem Baron ihre aufrichtige Loyalität versichert. Mit dem Übergang in die Ehe erklärt sich die Unvergleichliche Heldin unserer Zeit selbst zum „Besitz“ des Gatten; ein Passus, den der französische Prätext nicht aufweist. Die ursprünglich ‚nur‘ „ergebene Dienerin“ lässt den Ehemann nun „Gesetze nach eigene[m] Wohlgefallen“ vorschreiben. In freier Assoziation ergänzt Rost den französischen Prätext: Prätext: Monsieur […], il y a long-tems que j’ai fixé mon choix sur vous […]; vous pouvez maintenant compter sur moi, comme sur vôtre très humble Servante.697

S.  180. Gleichwohl entschärft der Roman den Konflikt zwischen Stand / Reichtum und Vernunft / Wesen, da der Baron ein Mann aus angesehenem Hause mit ansehnlichem Vermögen ist (ebd., S. 170‒173). 695 Ebd., S. 181; Baron D*: „[I]ch will [...] nicht das geringste fürnehmen / worzu sie mir nicht Dero Einwilligung geben“ (ebd., S. 181f.). 696 Ebd., S. 181f.; „Monsieur […], je sai[s] le respect qu’une Epouse doit avoir pour son époux, qu’elle doit / manquer de condescendance pour lui, & qu’elle doit lui render l’honneur qui es dû, je n’anticiperai jamais sur vos droits, & vous aurez toûjours en moi un Coeur soumis, docile, complaisant, & tendre pour vôtre personne“, [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 82f. 697 [anonym]: L’Heroïne incomparable, S. 72.

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Dts. [K.B.]: Monsieur, ich habe meine Wahl seit langer Zeit auf Sie gerichtet. Nun können Sie auf mich zählen als Ihre sehr ergebene Dienerin. Rosts Übertragung: Monsieur jetzt ist Ihnen diejenige vollkommen zu eigen welche Ihnen ihr Hertz schon vorlängsten gewidmet; […] nunmehro könne Sie mir als ihrer demüthigsten Dienerin Gesetze nach eigenen Wohlgefallen fürschreiben [Hervorh. K.B.].698

Die Erklärung des Erzählers, die Frau sei als „Crone des Mannes“ zu achten, die er „stets als den kostbaresten Theil von sich selbst betrachten“ und sich „ihrem Glücke auf keinerley Art widersetzen“ wird,699 kann nur mehr als schwache Reminiszenz an ältere preziöse und galante Vorbilder gewertet werden. Die Holländerin in Rosts Roman findet als Mutter eines Sohnes und gefügige Gattin in der Stille eines harmonischen Landlebens zur standesspezifischen Geschlechtsidentität, die bereits starke Züge von Weiblichkeitskonzeptionen der Empfindsamkeit und des 18. Jahrhunderts aufweist.700 Mit dieser Figurenkonzeption unterscheidet sich Die Unvergleichliche Heldin (1715) deutlich von Rosts früherer Romanproduktion Atalanta (1708), von der sich der Autor zur selben Zeit offensiv distanziert und zu einer Reformierung von Gattung und Weiblichkeitsnarrativ auffordert. Obwohl es sich bei der Unvergleichlichen Heldin um eine Übersetzung aus dem Französischen handelt, lassen sich deutliche Verschiebungen semantischer, stilistischer und romankonzeptioneller Art erkennen, die nicht allein auf eine Reformierung des Romans, sondern auch auf dessen Weiblichkeitsnarrativ zurückwirken. Motive wie der Kleider-, Rollen-, Geschlechtertausch und das Reise-/Fluchtmotiv werden getilgt, Figurenkonstellation und Setting verändert (familiäres Umfeld, Harmonisierung Eltern-Tochter-Konflikt) und insbesondere das Motiv der Ehe scheint eine Leerstelle zu füllen, aus der heraus sich preziöse wie galante Gendernarrative patriarchalen Geschlechterordnungen gemäß ‚um-schreiben‘ lassen. 4.3.4 Fazit: Eskalation und Deeskalation Mit der Stilisierung der galanten Protagonistin als Figur „unserer heutigen Zeit“ und der Situierung des Plots in einem weltlichen Umfeld, das die Züge eines raum-

698 Meletaon:

Unvergleichliche Heldin, S. 158. indem die Frau vor des Mannes Crone zu achten: so müste er sie stets als den kostbaresten Theil von sich selbst betrachten / der / wie leicht zu errathen / sich ihrem Glücke auf keinerley Art widersetzen: vielmehr der erste zur Vermehrung ihrer Glückseeligkeit seyn würde / so sie ihm nicht den geringsten Anlaß zu einigen Missvergnügen verursachte“ (ebd., S. 219f.). 700 Ebd., S. 224. 699 „[J]a /

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zeitlich enthobenen locus amoenus verliert, werden ständisch-soziale Strukturen im Roman um 1700 prinzipiell referentialisierbar. Konzeptionell und poetologisch stellen galante Autoren diese Referentialisierbarkeit bewusst her, indem sie den Roman in zwar unbestimmter, aber doch explizit formulierter Nähe zur „wahrhaftigen Praxis“ der „heutigen Welt“ verorten (Kapitel 3.4.1.2). Der galante Roman stellt ständisch-soziale Fragen nicht ins Zentrum der Konfliktgestaltung, die Texte sind nicht als gesellschaftspolitische Stellungnahmen zu begreifen. Dennoch verhandeln sie ständische, alters- und generationenspezifische Aspekte, die auch die weibliche Figurenkonzeption prägen. Beide Romane stellen die freie Liebeswahl ins Zentrum der Konfliktgestaltung und relativieren damit die Logik der ständischen Konvenienzehe, die als rational kalkulierte Heiratspolitik den Interessen übergeordneter familiärer Autoritäten (Vater/Eltern) folgt und auf den Machterhalt der Herrschaftseinheit innerhalb einer sich selbst reproduzierenden hierarchischen Standesstruktur zielt. Diesem ständischen Kalkül widersetzt sich die galante Protagonistin vehement. Auch formallogisch wird der Widerstand der weiblichen Figur provoziert, denn in einer handlungsorientierten Erzählliteratur, die dem Darstellungsprinzip ex negativo folgt, lässt sich die Vorbildlichkeit der Figur vor allem im Kontrast zur erzählten Welt konturieren (mehr dazu in der Schlussbetrachtung, Kapitel 5). Gleichzeitig lassen die Texte aber auch die Tendenz zu einer Emotionalisierung erkennen, denn Liebes- und Geschlechterverhältnisse werden im galanten Roman emotiv angereichert. Das Motiv der freien Liebeswahl verbindet sich mit einer „Gleichheit der Gemüter“, die eine Emotionalisierung der Paarbeziehung impliziert. Scudérys Konzept der amour heroïque scheint hier einen An­stoß geliefert zu haben. Um ein galantes Liebes- und Geschlechtermodell handlungszentriert darzustellen, wählt der Roman um 1700 kreative Lösungen. Junge galante Autoren entwickeln eine eigene Bildsprache, um mit vertikalen und horizontalen Strukturen umzugehen. So werden motiviert über das Liebessujet vertikal-autoritäre und horizontal-egalitäre Beziehungsstrukturen im Roman moduliert. Vor allem Bohse/Talander entwickelt eine poetische Bildsprache, die horizontale und vertikale Differenzen variationsreich aufnimmt, z.B. im Kontrast zwischen Jung und Alt, Tochter und Vater, altem (Zwangs-) Ehemann und junger Gattin oder, in Verbindung mit dem Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch, von ‚falschen‘ Männern oder Frauen, Diener und Gräfin, Kammerfrau und Graf (standesungleiche Liebe). Im Rahmen der Fiktion lassen sich hierarchische, statische und undurchlässige Strukturen poröser gestalten zugunsten flexibler, egalitärerer Beziehungen. Deutlicher als in den vorangegangenen Romanen wird aber auch eine Harmonisierungstendenz erkennbar. Beide Texte enden mit der Auflösung aller Liebes-, Geschlechter-, Generationen- und Ständekonflikte in der Ehe, die romankonzeptionell an Bedeutung gewinnt. Mit dem Übergang der Protagonistin in die Ehe ‒ einem Motiv, das in der preziösen Romantradition zwar konstatiert, aber nicht narrativ ausgestaltet wird ‒, werden die Konfliktstrukturen (freie Liebeswahl, Widerstand gegen familiäre und ständische Autoritäten, Flucht aus dem Elternhaus, Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch) eingehegt und deeskaliert. Sie erscheinen nur mehr

4.3 Zwischen ‚Rite de Passage‘ und ständischer Geschlechterrolle

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als Element eines ‚Rite de passage‘, einer Übergangsphase, die der Protagonistin im Übergang von der Rolle als junger Frau zur Gattin und Ehefrau zuge­standen wird, und mit deren Abschluss sie mehr und mehr auf eine standesspezifische Geschlechtsidentität festgelegt wird. Retrospektiv deeskaliert die Schlussgestaltung die vorangegangenen Konflikte, mit denen die Protagonistin im Rahmen der erzählten Geschichte konfrontiert war (Eskalation ‒ Deeskalation). Nun wird auch deutlich, welche grundlegende Funktion die Paratexte für den weiblichkeitszentrierten Roman erfüllen und worin ihr parergonales Prinzip besteht. Formen und Strategien der Deeskalation – die als Formen der Leserlenkung zu werten sind, da sie Rezeption und Bewertung der weiblichen Figur und des Konfliktaufbaus beeinflussen –, erscheinen im galanten Roman vor 1700 erst am Ende der erzählten Geschichte, in der Schlussgestaltung. Ohne die Hinweise der Vorrede(n), die die Protagonistin als positive Figur einführen, würde die romaninterne Erzählung, die intradiegetische Gestaltung der weiblichen Figur, über weite Strecken ambivalent, wenn nicht gar provokant erscheinen. Die Hinweise der Paratexte und die Schlussgestaltung entschärfen diese Ambivalenz. Dass solch eine ‚Durchformung‘ des Textes mit deeskalierenden, wertenden Momenten nach 1710 zunimmt, zeigt Rost Roman, bei dem deeskalierende Momente früher schon in den Handlungsverlauf integriert werden, so dass nicht erst am Ende (wie in Bohses Ariadne) deutlich wird, wie Leser und Leserinnen die Konfliktgestaltung und die weibliche Figurenkonzeption rezipieren sollten.701 Auch gewinnen Erzählerkommentare, wertende und moralisierende Erläuterungen, d.h. leserlenkende Einordnungen des Erzählers an Explizitheit. Die formalen Weichen für eine moralisch-didaktische Funktionalisierung des Romans, die im 18. Jahrhundert insbesondere für das weibliche Geschlecht entworfen wird, sind gelegt.

701 Die

Holländerin kämpft zwar für die freie Liebeswahl, streitet gegen den Vater (Eskalation), zeigt sich aber von Beginn an kooperativ, flüchtet nicht aus dem Elternhaus, trägt ein sittsamkeusches Verhalten zur Schau, willigt selbstverständlich in die Ehe ein usw. (Deeskalation).

5. Schlussbetrachtung: Gattung im Prozess und die Variabilität galanter Weiblichkeitsnarrative

Um das Verhältnis von Gattung und Geschlecht im galanten Roman um 1700 genauer zu bestimmen, wurden inhaltliche und formale Konstruktionsprinzipien galanter Weiblichkeitsnarrative untersucht und ausgehend von den Para-, Peri- und Epitexten eine kontextualisierende Analyseebene entwickelt, die zur Einordnung der Romane weiterführende Hinweise liefert. Abschließend sollen die wichtigsten Ergebnisse benannt und diskutiert werden. Ausgangspunkt der Untersuchung war die Feststellung, dass der Roman um 1700 in kodifizierten Poetiken und Dichtungstheorien kaum Erwähnung findet und insofern als eine relativ unreglementierte Textform zu beschreiben sei. Gattungsrelevante Diskussionen finden stattdessen gattungsimmanent, im Roman und seinen Paratexten, statt, wobei hier besondere Freiheiten entstehen, gerade weil systematische Romantheorien um 1700 fehlen. Mit Blick auf diese dynamischen Gattungszusammenhänge wurde nach genderspezifischen Implikationen und Effekten gefragt, die sich mit der galanten Romanproduktion verbinden. In der narrativen Praxis greifen galante Autoren auf unterschiedlichste Stoffe, Motive und Erzählformen der poetischen Traditionen des In- und Auslandes zurück, die sie in Verbindung mit der weiblichen Hauptfigur vielfältig kombinieren und variieren. So erweist sich das Liebessujet als zentrale Thematik im galanten Roman, das mit dem Heliodor-Schema (Trennung der Liebenden), aber auch dem Motiv der preziösen Liebesabwehr (Liebesmisstrauen und Ehefeindlichkeit) und Elementen der Abenteuer- und Reiseliteratur (Flucht und Gefahren der Reise) verbunden wird. Zwei typische Modelle des Figuren- und Konfliktaufbaus lassen sich erkennen. Entweder wählt die weibliche Hauptfigur am Beginn der Erzählung einen Liebespartner, doch wird die Verbindung durch äußere Umstände verhindert, so dass die Protagonistin für die Durchsetzung der Liebe kämpfen muss (Syringe, Atalanta, Ariadne). Oder die Protagonistin versucht, sich der Liebe zu entziehen, entwickelt dann aber nach und nach eine Bereitschaft, sich auf die Liebe und die exklusive Paarbeziehung einzulassen (Constantine, Placidie, Holländerin). Die Trennung der Liebenden und die Verhinderung der vorbildlichen Paarbeziehung ist im weiblichkeitszentrierten Roman um 1700 ein typisches Motiv. Häufig treffen die Liebenden nur am Beginn und Ende des Romans aufeinander, begegnen sich kurzzeitig oder zufällig. Die Liebe steht als Wunsch oder persönliche Verpflichtung im Raum, bildet aber nur Ausgangs- und Endpunkt der Romanhandlung und motiviert den gesamten Konfliktaufbau, in dessen Zentrum die Aktionen der weiblichen Figur stehen. Die vorliegende Studie rekonstruiert die Kategorie Geschlecht im Roman relational in Interferenz mit raumzeitlichen, interaktionalen und standesspezifischen Struk-

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5. Schlussbetrachtung: Gattungsdynamik und Variabilität galanter Weiblichkeitsnarrative

turen (Gender ‒ Körper – Raum – Stand). Durch die Kombination der weiblichen Figur mit dem Reise- und Fluchtmotiv, dem Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch, der Anfeindung von Treue und Tugend durch das Laster, Kampf und Gewalt u.ä. entfalten galante Weiblichkeitsnarrative ungewöhnliche Facetten. Um sich lasterhaften Verehrern zu entziehen, dem entfernten Liebhaber nahe zu sein oder sich von unglücklichen Lieben zu erholen, führen Flucht oder Unternehmungslust in die Fremde. Selbstbestimmt reisen die weiblichen Hauptfiguren durch die Welt, verfügen eigenmächtig über Reiserouten und Reisedauer und genießen freien Zugang zu territorialen wie sozialen Sphären außerhalb des engeren Familienkreises. Auf ihren Reisen geraten die Protagonistinnen auch in schwierige Situationen (Entführungen, Gefangennahmen, Verwechslungen), doch durch Umsicht, taktisches Kalkül und Mut können sie sich in Gefahrensituationen stets bewähren und auf Konflikte zum eigenen Vorteil einwirken. Häufig wechseln sie dabei ins männliche Geschlecht (Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch). Als verkleidete Männer verbergen die weiblichen Figuren Ausgangsgeschlecht und Figurenidentität (Dissimulation), können unerkannt reisen und weitgehend selbstbestimmt leben. Kühn und im eigenen Sinne kalkulierend nehmen sie die Vorteile männlicher wie weiblicher Geschlechterrollen in An­spruch. Nie gänzlich, aber zum Teil recht langwierig, verbleiben die Protagonistinnen in der Verkleidung als Mann, so dass sich Handlungs- und Geschlechterrestriktionen im Rahmen der Fiktion weit ausdehnen können. So profitieren galante Frauenfiguren von Privilegien und Handlungsfreiheiten des Mannes, die bis zum Recht auf Satisfaktion, d.h. zur Tötung lästiger Liebhaber, gehen und romankonzeptionell die Bestrafung des Lasters motivieren (Rache der Intrige). Als ‚Männer‘ geraten die Protagonistinnen zudem in soziale Sphären, zu denen sie andernfalls kaum Zugang fänden, z.B. wenn sie auf Räuber und Banditen treffen oder als Kavaliere und Handlungsreisende an fremden Höfen einkehren. In diesem Zusammenhang trifft die galante Protagonistin nicht selten auf weibliche Figuren, die sich in den vermeintlichen Mann verlieben. Die Texte konstruieren erotisch-scherzhafte Konfliktsituationen, wenn die als Mann maskierte Frau auf das Liebeswerben weiblicher Figuren galant-höflich reagiert und dadurch amouröse Kontakte zum eigenen Geschlecht provoziert (fiktives Frau-Frau-/fiktives Mann-Mann-Verhältnis). Unabhängig von einer Eheschließung stehen im eigenen wie im anderen Geschlecht erotische Kontakte zu Männern und Frauen offen, ohne dass die Frauenfiguren dem Spott und der Schelte als ‚lasterhafte‘ Frauen ausgesetzt sind, wie in der Tradition frühneuzeitlicher Tugend-Laster-Schriften. Romanintern, im Rahmen der erzählten Geschichte, gelten solche Konflikte als amüsante Episode; die Gesamtkonzeption zielt hingegen auf eine Harmonisierung und Auflösung aller Konfliktstrukturen, so dass die Schlussgestaltung heteronormative Genderordnungen reetabliert und stabilisiert (Eskalation – Deeskalation). Romanintern irritiert die Konfliktgestaltung allerdings patriarchale Machtstrukturen, z.B. wenn die Protagonistin bewusst die Autorität des Vaters ignoriert und die freie Liebeswahl verteidigt, indem sie strategisch aus der

5. Schlussbetrachtung: Gattungsdynamik und Variabilität galanter Weiblichkeitsnarrative

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Heimat bzw. dem Kreis der Familie flüchtet (Widerstand gegen die ständisch-dynastische Heiratspolitik). Vor dem Hintergrund soziokultureller Geschlechterordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts, die mit starkem Reglement für das weibliche Geschlecht verbunden sind (Vormundschaft des Mannes über die Frau, des Vaters oder Ehemannes über Tochter und Gattin), überrascht der weiblichkeitszentrierte Roman durch seine Unkonventionalität und gar Radikalität. Aufgrund der Ergebnisse der vorliegenden Studie lassen sich die galanten Weiblichkeitsnarrative indes als Resultat eines spezifischen Zusammenspiels von gattungs- und genderrelevanten, medialen, sozialen und poetischen Bedingungen der Buch- und Medienlandschaft um 1700 beschreiben. Die Expansion des Buchhandels begünstigt im Untersuchungszeitraum (1690‒1720) die Generierung neuer Gattungen und populär-deutschsprachiger Lektüreformate, deren immanente Formalisierung zum Zeitpunkt der Entstehung recht offen scheint. Inhaltliche und formalästhetische Kriterien erschließen sich sukzessive in der Gattungspraxis und lassen sich erst nachträglich beschreiben, systematisieren und formalisieren. Der galante Roman erfährt keine explizite und systematische Theoretisierung wie in der Romantheorie des 18. Jahrhunderts, so dass die Gestaltung von Gattungsexemplaren in besonderem Maße von Vorlieben, Interessen und Vermögen der Textproduzenten (junge Autoren) abhängig ist, aber auch davon, auf welche Produktions- und Distributionsbedingungen die Verfasser stoßen (Buch- und Verlagswesen, Verleger), für welche Leserkreise sie schreiben (junge Männer und Frauen), an welchen poetischen Traditionen sie sich orientieren (preziöser Roman, deutsche ‚Klassiker‘) und wie sie mit diesem poetischen Wissen umgehen (‚Experiment‘, Spiel).

I. Mit Blick auf die vier Kontextbereiche, denen sich die Studie widmet (Markt – Autoren – Leserin – Poetik), können vier Interdependenzeffekte identifiziert werden, die das Verhältnis von Gattung und Geschlecht betreffen. Sie beziehen sich zunächst auf die galante Romanproduktion in einem weiteren Sinne und lassen sich als erster Schwerpunkt der Studie wie folgt resümieren: (1) Die Expansion des Buchhandels begünstigt nicht nur die Partizipation junger Autoren an der Textproduktion (insbesondere im Bereich der Belles Lettres und hier vor allem ‚kleiner Schriften‘ wie dem Roman), sondern mit zunehmender Verbreitung des Romans im Buchhandel verstärkt sich auch das Interesse junger Autoren, die eigene Textproduktion aufzuwerten. Der Roman mag nicht nur Zeugnis des privaten ‚Zeitvertreibs‘ sein, sondern die Autoren bemühen auch poetologische Argumente, um die Texte zu legitimieren. Diese Auseinandersetzungen finden gattungsimmanent, im Roman selbst und den Paratexten, statt. Wie an Bohses Poesie zwischen Scherz und Ernst (1692), Hunolds Satyrischer Schreibart (1706) und Se-

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5. Schlussbetrachtung: Gattungsdynamik und Variabilität galanter Weiblichkeitsnarrative

lamintes Ingenium der Wollust (1711) gezeigt wurde, greifen junge Autoren selektiv und willkürlich auf bestehende poetische Traditionen und Gattungskontexte zurück (Aristoteles: Tragödie, Scudéry/Huet: preziöser Roman, Thomasius: deutscher Roman, Lohenstein: Trauerspiel, Morhoff: furor poeticus, Ingenium). Sie treten für eine Lektüre des ‚Vergnügens‘ (delectatio) ein und stärken die Erfindung (inventio) sowie die schöpferische Kreativität des Autors (ingenium), wodurch sich die Textproduktion auch in Differenz zu bekannten Textformen als etwas ‚Eigenes‘ rechtfertigen lässt. Dies erklärt noch nicht die spezifische Semantisierung von Weiblichkeit im Roman, legitimiert aber einen innovativen, auch unkonventionellen Umgang mit der Gattung. Insgesamt entwerfen junge (studentische) Autoren eine „Poesie zwischen Scherz und Ernst“, die zwei Rezeptionsmodi offen lässt – den Scherz und den Ernst (mehr dazu in Abschnitt III). Marktstrukturelle Entwicklungen begünstigen die Entfaltung einer galanten Unterhaltungsliteratur, die sich als ernsthaft-vergnügliche Poesie präsentiert, im Scherzhaft-Arguten jedoch ein poetologisches Zentrum findet. (2) Deutlich lässt sich das Interesse von Autoren und Verlegern erkennen, den Absatzmarkt galanter Schriften und potentielle Leserkreise auszuweiten, so dass der Roman in unterschiedliche ständische und geschlechterspezifische Sphären diffundiert. Damit treten auch Frauen in den Fokus von Autoren und Verlegern, die zur Romanlektüre animiert werden. Textuell wie paratextuell entwerfen galante Autoren die ‚Imago der lesenden Frau‘: Zuschriften und Dedikationen widmen den Roman realen, in der Regel adlig-angesehenen Frauen; Briefsteller fingieren scheinbar ‚reale‘ Frauenbriefe, die zur Romanlektüre anleiten; Protagonistinnen im Roman werden als Romanleserinnen stilisiert und empfehlen reale Romane usw. Junge Autoren nutzen vielfältige Strategien, um Frauen als antizipierte Leserinnen zu adressieren, wodurch sie einerseits den Absatzmarkt für die eigene Textproduktion erweitern, andererseits aber auch die (Roman-)Lektüre von Frauen und die Integration weiblicher Leser in den Romanmarkt forcieren. Dies scheint insofern notwendig, als dass Frauen um 1700 prozentual immer noch eine unterrepräsentierte Lesergruppe sind. Eine spezifisch auf das weibliche Geschlecht ausgerichtete Romantradition, wie seit dem 18. Jahrhundert mit dem empfindsamen Roman, existiert um 1700 nicht. Der galante Roman adressiert daher Männer und Frauen gleichermaßen als Rezipienten – der galante Liebesroman wendet sich ursprünglich an die breitere Leserschaft (junger) Männer und darüber hinaus auch an lesende Frauen aller Stände. (3) Die Gleichzeitigkeit männlicher und weiblicher Leserkreise stellt die Gattungspraxis vor gewisse Herausforderungen. Frauen werden zu Leserinnen einer Unterhaltungsliteratur, die in Deutschland vor allem von jungen Männern rezipiert und verfasst wird, zwischen Scherz und Ernst schwankt und die Leser unter anderem mit satirischen oder frivolen Elementen ‚vergnügt‘. Es wird notwendig, die Poesie zwischen Scherz und Ernst für weibliche Leserkreise zu rechtfertigen und entsprechende Rezeptionsmodi zu entwerfen. Mit dem ‚Wirkungskonzept des Las-

5. Schlussbetrachtung: Gattungsdynamik und Variabilität galanter Weiblichkeitsnarrative

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ters‘, das die Tugend ex negativo konturiert, scheint sich ein geeignetes, wenn auch recht argutes Konzept gefunden zu haben. In der als vorbildhaft geltenden Tradition französischer Autorinnen (Scudéry) gilt das Darstellungsprinzip ex negativo als gängiges Mittel der preziösen Conversation à la française. Junge Autoren in Deutschland nehmen dieses formal­ästhetische Prinzip auf, übertragen es auf den Roman und bringen es konzeptionell mit der Tugend-Laster-Darstellung in Verbindung. So lässt sich ex negativo auch ein ‚Vergnügen‘ am Laster rechtfertigen, insofern der Text einer (scheinbar) sittlichen Absicht dient ‒ wofür im galanten Roman die antizipierte Leserin in Anspruch genommen wird. Recht ambivalent argumentiert Bohse, dass der Roman als ‚Spiegel‘ diene, der das Laster deswegen so deutlich vor Augen führe, damit die Leserin angeregt würde, sich selbstständig zu versittlichen. In diesem Sinne sei es Frauen erlaubt, sich an der Lektüre des Lasters zu ‚vergnügen‘, während männliche Leser die ‚Sittlichkeit‘ bzw. die Kniffe und Tricks des weiblichen Geschlechts kennenlernten. Die Logik dieser Wirkungsästhetik wurde in Kapitel 3.3.2.3 besprochen; es kann nicht entschieden werden, wie viel Ernst oder Scherz sich damit verbinden oder ob sich nicht vielmehr prodesse- und delectatio-Konzepte, Satire und Tugend-Laster-Momente überlagern. Da Ambiguität und Ambivalenz Teil galanter Stil-, Konversations- und Sozialformen sind, könnte die weibliche Figur bzw. die Leserinnenkonstruktion hier auch genutzt worden sein, um das argute Prinzip im Rahmen des Roman und seiner Paratexte zu entfalten. (4) Im Laufe der Gattungsentwicklung ‒ allerdings nicht sofort, sondern erst sukzessive ‒ reflektieren galante Autoren argute Leserinnenkonzepte und entsprechende Romandarstellungen selbst als problematisch. Dies provoziert massive Reformanstrengungen, die sich auf eine inhaltliche und formalästhetische Umgestaltung des weiblichkeitszentrierten Romans richten. Ein veränderter Umgang mit der Gattung ist festzustellen, den die Autoren häufig mit einer ‚Reifung‘ bzw. einer veränderten Einstellung als Autor in Verbindung bringen. Am letzten Roman des Untersuchungszeitraums (Meletaon: Unvergleichliche Heldin unserer Zeiten, 1715) ließ sich dies als romankonzeptioneller und gendergeprägter Modifikationsprozess beschreiben: Indem aus ‚Rücksicht‘ auf die weibliche Leserschaft Motive und Plotstrukturen verändert werden, erhält auch die weibliche Figurenkonzeption neue (‚tugendhaftere‘) Züge. In Zukunft müssten Produktion und (antizipierte) Rezeption, Autorkonzepte, Genderwissen und Textmodulation genauer untersucht werden. Doch wird deutlich, dass textuelle und paratextuelle Genderkonstruktionen bzw. die Verwendung der Kategorie Geschlecht im Roman keine dem Text inhärenten Parameter sind, sondern sich durch die Textgestaltung (Gattungspraxis) konkretisieren, auf Rezeptionskontexte ‒ ob imaginär oder real ‒ appliziert werden und auf diese reagieren, kurz: wandelbar sind und funktional variabel.

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5. Schlussbetrachtung: Gattungsdynamik und Variabilität galanter Weiblichkeitsnarrative

II. Damit eröffnet sich ein zweiter Schwerpunkt der Studie, der die galante Romanproduktion im engeren Sinne betrifft, nämlich das Verhältnis von Gattung und Geschlecht, wie es sich in den einzelnen Textanalysen im Verhältnis zur preziösen Romantradition rekonstruieren lässt. (5) Junge Autoren stilisieren die galante Romanpraxis zwar als ‚neu‘ und innovativ, doch vollzieht sie sich keineswegs im ‚luftleeren Raum‘. Im Rekurs auf die preziöse Romantradition französischer Autorinnen (in der vorliegenden Arbeit beschränkt auf Scudéry) erfährt der galante Roman entscheidende Impulse. Die Textanalysen zeigen, dass galante Autoren in der Anbindung an den preziösen Roman nicht nur weibliche Hauptfiguren, weiblichkeitszentrierte Plotstrukturen und Figurenkonstellationen übernehmen. Sie adaptieren auch ein preziöses Liebes- und Geschlechtermodell, das die Romane Scudérys, die Konversations- und Geselligkeitsform der Conversation à la française sowie die Salonkultur der Preziösen prägt. Im Gegensatz zur preziösen Tradition nutzen junge deutsche Autoren den Roman jedoch als Medium, um die rigide Weiblichkeitszentriertheit und die asymmetrische Geschlechterstruktur des preziösen Modells zu modifizieren, woraus ‒ ob von den Verfassern intendiert oder nicht lässt sich im Rahmen dieser Arbeit kaum entscheiden ‒ ein symmetrisches und reziprokes Liebes- und Geschlechtermodell emergiert. Idealtypisch, d.h. stark verallgemeinernd, lässt sich festhalten: Während das preziöse Modell im Anschluss an die mittelalterliche Troubadour- und Minnetradition den weiblichen Part, die Frau, als ideellen wie personellen Fixpunkt, als Zentrum des gesamten Geschlechter- und Sozialkontakts stilisiert (maîtresse), die als Inkorporation der Tugend zum ausschließlichen Referenzpunkt für den Mann wird, der sich seinerseits ‒ festgelegt auf die Position des gefügig Dienenden (amant) ‒ zugunsten der sittlichen Vervollkommnung bedingungslos um die Gunst der Dame bemüht, suchen galante Autoren nach poetischen Ausdrucksformen, die den Einfluss des männlichen Parts stärken und den Mann (respektive die männliche Autorität) als gestaltende und einflussnehmende Instanz des Modells ‚reetablieren‘. Diese Modifikation erfolgt nicht in Form einer simplen Umkehrung der asymmetrischen Struktur (indem sich der Mann über die Frau erhebt). Vielmehr wird der männliche Einfluss gestärkt, indem das Verhältnis der Geschlechter zum reziproken und symmetrischen Modell umcodiert und in der Reziprozität auf den Mann zurückgelenkt wird. Im Liebes- und Geschlechtermodell des galanten Romans ist die Liebe des Mannes keine bedingungslose Voraussetzung des Mann-Frau-Verhältnisses, sondern seine Liebe für die Frau setzt die Liebe der Frau für den Mann voraus, fordert und forciert sie und umgekehrt. Mann und Frau, männlicher wie weiblicher Part, erscheinen im galanten Modell als reziprok aufeinander bezogene, gleichermaßen aktive und autonom entscheidende Instanzen (Partner). Das galante Modell bedeutet für die Frau den Verlust der unumschränkten Verfügungsgewalt über den Mann und die Aufgabe der einflussreichen Position als Herrscherin (maîtresse). Gleichzeitig wer-

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den weiblicher wie männlicher Part aus einer starren, recht statischen Geschlechterstruktur entbunden – soll sich die Frau der Liebe des Mannes verdient machen, so ist sie wie der Partner gezwungen, Aktivität (als äußere wie innere Tätigkeit) aufzubringen. Beide Geschlechter verfügen über autonome Entscheidungskompetenzen hinsichtlich der Liebeswahl und der Aushandlung des Mann-Frau-Verhältnisses. Die galante Liebe entsteht weder durch eine vorsätzliche Einschränkung potentieller Liebespartner noch aufgrund äußerer (ständischer, heiratspolitischer) Zwänge. Sie basiert auf der freien – auch zeitlich ausgedehnten – Liebeswahl beider Partner, die sich gegenseitig prüfen, die Wahl gegen Widerstände auf die Probe stellen, ebenso wie äußere Hindernisse diese ‚Probe‘ verstärken. Widerstand gegen Konflikte und Hindernisse, d.h. die serielle Bestätigung der (Liebes-)Wahl, bürgt pro- und retrospektiv für eine dauerhafte Paarbeziehung und konturiert deren Notwendigkeit. Dies setzt eine freie und persönliche Liebeswahl voraus, die es wert ist, sowohl von weiblichem als auch männlichem Part verteidigt zu werden. Das asymmetrische Dominanz- und Unterordnungsverhältnis des preziösen Modells wird im galanten Roman sowohl handlungslogisch als auch figurenkonzeptionell in eine Struktur überführt, die man als reziprokes Kooperationsmodell bezeichnen könnte.1 (6) Die strukturelle Umcodierung des galanten Liebes- und Geschlechtermodells impliziert eine Emotionalisierung des Verhältnisses der Geschlechter, wofür die handlungsorientierte Erzählliteratur um 1700 entsprechende Darstellungsformen auf der Handlungsebene des Textes findet. Erzählen im galanten Roman ist in der Regel an einen auktorialen Erzähler gebunden, der allerdings die Geschehnisse des Handlungsverlaufs extern fokalisiert. Zu Gefühlen, Gedanken, inneren Motivationen der Figuren gibt der Erzähler kaum Auskunft. Psychologische Formen des Erzählens (innerer Monolog, Bewusstseinsstrom, auktoriale Explikation von Emotionen) fehlen fast vollständig. Briefe, Arien, Gedichte ermöglichen zwar Einblick in die Innenperspektive der Figuren, sie bilden im galanten Roman aber kein zentrales Darstellungsprinzip.2 Zudem bieten sie Ausgangspunkte, um weitere Konflikte zu motivieren: Wenn Briefe fingiert, durch unbefugte Figuren abgefangen oder Gesänge belauscht und die Inhalte weiter getragen werden, liegen neue Handlungskonflikte nahe oder können plausibilisiert werden. Wichtige Formen der Figurencharakterisierung und der Leserlenkung, insbesondere der explizite (moralisierende) Erzählerkommentar, treten im weiblichkeitszentrierten Roman vor 1700 kaum auf

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Das galante Liebes- und Geschlechtermodell bezieht sich ausschließlich auf die Phase der Paarbildung. Zur weiteren Konzeptualisierung des Verhältnis der Geschlechter in der Ehe macht der galante Roman vor 1710 kaum Aussagen, denn wie in der preziösen Tradition bildet die Ehe (mariage) eine narrative Leerstelle, Kap. 4.2.3.1 Ehefeindlichkeit und Liebesmisstrauen. 2 Romane, die ausschließlich oder überwiegend aus Briefen bestehen, treten um 1700 noch nicht auf – v.a. nicht homodiegetisch aus Sicht der Protagonistin (Hauptfigur), wie dies z.B. Samuel Richardsons mit dem Roman Pamela (1740) anregt, der für den deutschen empfindsamen Roman (C.F. Gellert) zum wichtigen Stimulus wird.

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5. Schlussbetrachtung: Gattungsdynamik und Variabilität galanter Weiblichkeitsnarrative

und werden erst in späteren Romanen ausgebaut und gestärkt.3 So erzeugt die narrative Struktur des Romans eine intradiegetische Dynamik, insofern immer wieder neue, äußere Handlungsformen erfunden werden (müssen), die das Verhältnis der Figuren, die Qualität von Beziehungen, Affekten und Emotionen handlungsorientiert darstellen. Die galante Prosa im Roman lässt ‚symbolische‘ Formen eines Erzählens entstehen, die von der Leserschaft verlangen, in der Erzählung des äußeren Verhaltens innere (affektive bzw. emotionale) Dispositionen zu entschlüsseln, ohne dass diese sprachlich expliziert werden. (7) Das Bemühen um eine Emotionalisierung scheint durch die Erotisierung des Figurenverhaltens konterkariert zu werden, denn eine argute Erotik prägt den galanten Roman. Es sei denn, man deutet die Erotisierung als eine narrative Strategie, die eine Neustrukturierung des preziösen Modells auf Ebene der Figureninteraktion anregt. Die Dominanz der preziösen maîtresse ist ausnahmslos an das Keuschheitsverdikt, an die Sublimation und Disziplinierung sinnlicher Affekte gebunden. Körperliche Annäherungen sind strikt untersagt. Weibliche Vorbildfiguren im preziösen Roman bringen in Dialogen und Verhalten eine feindselige Einstellung zur körperlichen Liebe, auch zur Ehe zum Ausdruck und zwingen den Mann unter das Gebot einer erotischen Sublimationslogik, die körperliche Kontakte ausschließt.4 Der galante Roman hingegen erotisiert das Verhältnis der Geschlechter. Die Textanalysen zeigen, dass auch die galante Protagonistin unbeschadet erotische Freiheiten genießt, was letztlich heißt: Sie geht auf das Liebesstreben des Mannes ein. Die Texte suggerieren einerseits eine Liberalisierung weiblicher Erotik und Sexualität; andererseits wird im Vergleich zur preziösen Tradition deutlich, dass die Erotisierung auch auf den Kern weiblicher Macht- und Einflussstrategien zielt, wie sie das preziöse Modell mit der sublimierten Liebe (amitié tendre) vorgibt. Eine geschlechterübergreifende Erotisierung, wie sie der deutsche weiblichkeitszentrierte Roman zeigt, beschränkt die Möglichkeiten weiblicher Figuren, die Erotik der Frau als ‚Waffe‘ (im Sinne von Anreiz und Entzug) einzusetzen, so dass das Verhältnis von Dominanz und Unterordnung neu verhandelt werden muss (kann). Aus dieser Perspektive ließe sich die narrative Erotisierung weniger als eine imaginative Erfüllung erotischer Wünsche von Männern (bzw. männlicher Figuren) oder gar als Impuls für eine Liberalisierung weiblicher Erotik deuten, sondern vielmehr als Kritik an der preziösen Dominanz der Frau und den machtinternen Strukturen des preziösen Modells. In symbolischer Lesart, so diese Interpretation, zeigt der galante Roman performativ, dass Liebe und Erotik verbinden; sie implizieren notwendig Kontakt, Austausch, die Suche nach Nähe samt der Problematik von Distanz und Distanzierung, die im galanten Roman ein zentrales Thema sind. Solange Erzählerkommentar und psychologische Darstellung allerdings nur vereinzelt

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Hierzu Florack: Antifranzösische Polemik im galanten Roman, S. 13‒32. Kap. 4.1.4 Modifikation preziöser Liebes- und Geschlechtermodelle im galanten Roman (I).

5. Schlussbetrachtung: Gattungsdynamik und Variabilität galanter Weiblichkeitsnarrative

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auftreten, bleibt die Tiefenstruktur der erotischen Liebe ungeklärt. Die Handlungsebene suggeriert lediglich eine – auch erotische ‒ Paarstruktur, die im Geben und Nehmen reziprok und symmetrisch erscheint, anstatt asymmetrisch und restriktiv. Auch wenn eine Hauptfunktion dieses Erzählens nicht in der erotischen Liberalisierung oder Egalisierung des Verhältnisses der Geschlechter liegen mag, sondern vielmehr darin, die internen Machtstrukturen des preziösen Modells mit den Mittel einer handlungszentrierten Erzählliteratur zu desavouiert, setzen die Texte doch potentiell Autonomieimpulse, weil sie das weibliche Geschlecht als aktiven Part inszenieren und selbstständiges Interagieren propagieren.

III. Die sieben kontext- und textzentrierten Ergebnisse lassen sich nun durch Überlegungen ergänzen, die aus literaturwissenschaftlicher Sicht Hinweise zu prozessualen Gattungsdynamiken und ihren geschlechterspezifischen Implikationen geben. So wird im Vergleich zum preziösen Roman Scudérys die inhaltliche und formalästhetische Variationsbreite der galanten Romanproduktion deutlich, die auf eine produktive Adaption statt auf eine reproduzierende Orientierung an der preziösen Tradition verweist. Formale Elemente wie der handlungstragende Dialog, der im Roman Scudérys einer klaren Zielsetzung folgt (nämlich das preziöse Modell von maîtresse und amant dialogisch-erörternd zu bestätigen),5 wird im galanten Roman in Handlungsszenen überführt. In der Konfrontation mit unzähligen Konfliktsituationen, die der ‚Prüfung der Liebe‘ dienen, ist die Protagonistin (wie die männliche Figur) gezwungen, aktiv zu agieren. Handlungsorte vervielfältigen sich, das statische Setting des preziösen Romans (Garten, Hof, raumzeitlich enthobener locus amoenus) wird dynamisiert und konkretisiert, denn die Protagonistin wechselt beständig zwischen verschiedenen, teils abstrakten, teils konkret benannten Orten (Städte, Schlösser, Inseln usw.). Wenn dialogische Strukturen, wie sie der preziöse Roman vorgibt, in narrative Sequenzen übertragen werden und sich Handlungsorte vervielfältigen, so bietet sich erzähltechnisch das Reisemotiv an, das aus anderen Gattungszusammenhängen bekannt ist (Heldenepos, Abenteuerroman, Reisebericht) und Erzählformen der räumlichen Bewegung, wechselnder Schauplätze usw. zur Verfügung stellt. Allerdings legt die Reise- und Abenteuerliteratur auch spezifische Plotmuster und Konfliktsituationen nahe (Schiffbruch, Überfall, Flucht, Gefahr), die in der poetischen Tradition meist männliche Figuren besetzen. Wenn galante Auto5

Es handelt sich hierbei nicht um ein rational-stringentes, sondern eher um ein assoziatives Erörtern, das aber diskursiv-begrifflich in der Form des Dialogs vonstatten geht, anstatt die Thematik wie im galanten Roman handlungszentriert auszubreiten. Zur Form des preziösen Dialogs Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer, S. 34‒51, bes. S. 36; Ders.: Konversation und Geselligkeit, S. 473–524, bes. S. 475f.

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5. Schlussbetrachtung: Gattungsdynamik und Variabilität galanter Weiblichkeitsnarrative

ren im Roman auf diese Motive zurückgreifen, ins Zentrum der Erzählung aber eine weibliche Hauptfigur stellen, überlagern sich poetische und geschlechterspezifische Aspekte. An diesem Punkt tritt eine spezifische Doppelstruktur der Protagonistin in den Blick. Einerseits ist die weibliche Figur Teil des narrativen Figurenpersonals, über das die Geschichte erzählt wird; sie ist ein poetisches Form- und Funktionselement und in diesem Sinne sprachlich-textuelles ‚Material‘. Andererseits ist sie aber auch Trägerin der soziokulturellen Kategorie Geschlecht, die nicht nur das Figurengeschlecht markiert, sondern den Text transzendiert, weil auch extratextuelle Lebenswelten durch Geschlechterkategorien geprägt sind. Von den Leserinnen und Lesern verlangt dies, beständig zwischen der Funktion der Protagonistin als formaler Handlungsträger der Narration und den sozialen Implikationen als geschlechtlich markierte Figur zu abstrahieren und zu differenzieren. Diese Abstraktions- und Differenzierungsleistung verkompliziert sich, wenn das Motiv des Kleider-, Rollen- und Geschlechtertauschs hinzutritt. Wie sich anhand des Referenz- und Verweissystems geschlechternormierter Markierungen im Text und der Spannung zwischen Leserund Figurenwissen zeigt (Kapitel 4.1.3.2), wird Lesern und Leserinnen abverlangt, beständig zwischen narrativer Textfunktion und geschlechterspezifischer Rolle der Figur zu differenzieren und je nach erzähltem Kontext ‚umzuschalten‘ (im vermeintlichen ‚Mann‘ eine Frau zu erkennen, in anderen Szenen die Frau aber als ‚Mann‘ zu lesen usw.). Misslingt dies, entstehen Ambivalenzen, die einer Poesie zwischen Scherz und Ernst indes entgegenkommen. Ein noch flexibleres ‚Umschalten‘ verlangt der galante Roman – und steigert damit Ambiguität und Ambivalenz ‒, indem der Text unterschiedliche Möglichkeiten der Referentialisierbarkeit zwischen Text und ‚Wirklichkeit‘ konstruiert und diese textuell wie paratextuell verquickt. Das prekäre Verhältnis des Romans zwischen Historie und Fiktion, zwischen ‚wahrer‘ und ‚erfundener‘ Erzählung, wurde in Kapitel 3.4.1.2 ausgeführt und in den Kontext der Romanreflexionen von Huet und Thomasius gestellt, die am Beispiel des preziösen Roman von einer ‚Sittenlehre‘ sprachen, die zwischen Fiktion und Historie changiert. Junge galante Autoren tragen hier zur weiteren Verundeutlichung bei: Geht es um satirische Aspekte, so betonen sie die „Erfindung“; doch ausschließlich als Posse soll der Text nicht verstanden werden, denn er referiere auch auf die „heutige Welt“, so dass – meist in Verbindung mit der Funktion als Sittenlehre ‒ der ‚ernsthafte‘ Charakter der Textgestaltung betont wird. Auch die paratextuellen und textuellen Leserinnenkonstruktionen stellen eine Referentialisierbarkeit von Text und Kontexten her, insofern sie eine Leserschaft außerhalb des Textes adressieren. Und nicht zuletzt wird aus der Fiktion selbst heraus die Referentialisierbarkeit zur ‚Wirklichkeit‘ gestützt, wenn die Protagonistin in Text und Paratexten als Gestalt der sogenannten „heutigen Welt“ stilisiert wird. Die galante Protagonistin ist keine mythische Amazone, keine heroische Ausnahmegestalt der Antike und auch keine stoisch-statische Inkorporation der Tugend, die in einem raumzeitlich enthobenen locus amoenus dialogisiert und sinniert. Sondern sie

5. Schlussbetrachtung: Gattungsdynamik und Variabilität galanter Weiblichkeitsnarrative

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ist eine aktive Figur der „heutigen Welt“, bestens vertraut mit allen Schwachheiten und Schändlichkeiten der „wahrhaftigen Praxis“ (Bohse). Beständig kreist das galante Erzählen um eine Fiktion von Authentizität (Authentizitätsfiktion), ohne dass genau geklärt ist, ob auch die Leserschaft mit dem galanten Konzept fiktionalisierter Wirklichkeitstransformation, insbesondere im Roman als marginaler Gattung, vertraut ist. Anders formuliert: Gehen die Leser(innen) als souveräne Rezipienten einen „Fiktionsvertrag“ (Eco) ein oder werden sie nicht vielmehr durch die Lektüre und den Roman erst mit diesem vertraut gemacht?6 Diese Ambivalenz und Spezifik lässt sich durch den sozialhistorischen Kontext der Romanpraxis genauer einordnen. Anders als in Frankreich wenden sich in Deutschland vor allem männliche Autoren der Gattung zu, genauer junge Akademiker.7 Die soziale Verortung der Verfasser im studentisch-akademischen Milieu scheint die galante Romanpraxis weiterführend geprägt zu haben. Der privilegierte Status als Student, der soziale wie juristische Sonderrechte umfasst (Libertas academia), die „Kühnheit der Jugend“ und die anonymen Strukturen des Buchhandels bieten jungen Autoren einen sozialen wie medialen ‚Schutzraum‘. Diesen nutzen jene, um eine Poesie zwischen Scherz und Ernst zu entwerfen, die sowohl scherzhaft-satirisch als auch ernsthaft und kritisch sein kann (soll). Bekannte Motive der Satire werden in die Romanhandlung integriert (das lasterhafte Klosterleben, die böse Mutter, der alte Ehemann usw.). Gleichzeitig lässt sich in einer Poesie zwischen Scherz und Ernst aber auch Kritik platzieren (Sitten- und Gesellschaftskritik), die über ein reines Lachen und Verlachen hinausgeht und zum Teil heftig ausfällt. Galante Autoren erweitern klassische Konzepte der Satire, die mit dem Lachen und Verlachen auf eine Befreiung, eine Katharsis vom Laster zielen. Sie installieren und erweitern Rezeptionsmodi (z.B. im Rückgriff auf raumzeitliche Strukturen des Romans, Kapitel 4.1.2), die es sowohl erlauben, sich über das Laster zu empören (Polemik) oder im Gegenteil, das Laster als satirischen Scherz zu rezipieren, als Unterhaltung. Changierend zwischen Scherz und Ernst gibt der galante Roman vielfältigen Funktionalisierungen Raum, z.B. die „heutige“ lasterhafte und verdorbene Welt zu kritisieren und sich gleichzeitig satirisch daran zu belustigen. Für die Inszenierung von Weiblichkeit bleiben solche funktionalen Bestimmungen des Romans als Textform oder Gattung nicht ohne Folgen. Der weiblichkeitszentrierte Roman um 1700, der von der preziösen Tradition weibliche (Haupt-)Figu6

Der Fiktionalitätsdiskurs müsste in Zukunft weiter diskutiert werden; in der Forschung existieren unterschiedliche Ansätze und Theorie, die insbesondere in historischer Perspektive kontrovers diskutiert werden, Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität; Britta Hermann: ‚Wir leben in einem colossalen Roman‘. Fiktivität und Faktizität um 1800. In: Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle (1750–1850). Hg. v. Britta Hermann u. Barbara Thums. Würzburg 2003, S. 115–138. 7 Selbst Bohse/Talander, der zu Zeiten seiner höchsten Popularität das Studium längst beendet hat, nutzt die Selbststilisierung als studentischer Autor, Kap. 3.2.2.1 Bohses Selbststilisierung als studentischer Autor.

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ren als positives Figurenpersonal übernimmt, den Text gleichzeitig zu Zwecken der (satirischen) Sittenkritik nutzt, wozu er das preziöse Darstellungsprinzip ex negativo auf die Tugend-Laster-Darstellung sowie den Roman im Ganzen ausdehnt, und sich darüber hinaus als vermeintliche Wirklichkeitsdarstellung (Authentizitätsfiktion) präsentiert, birgt gewisse Ambivalenzen, die sich aufgrund der geschlechterspezifischen Figurenwahl verstärken können. Wenn zeitgenössische Sitten kritisiert werden sollen, so wird die weibliche Figur zum formalen Funktionsträger dieser Kritik. Über die Protagonistin artikuliert sich eine Protesthaltung gegenüber der „heutigen Welt“, wobei die weibliche Figur – d.h. eine Frau – der Welt entgegen tritt und sie kritisiert. Selbst wenn die weibliche Figur vor dem Laster warnen soll, muss sie notwendig im Zusammenhang mit dem Laster dargestellt werden und ist häufig selbst vom Laster angefeindet. Da der Roman poetologisch zwischen Scherz und Ernst changiert, ist nicht mehr ohne Weiteres zu entscheiden, ob die Protagonistin eine satirische Figur sei, die verlacht werden soll, ob sie ironisch zu lesen ist, so dass ihr tollkühne Spitzen eingeräumt werden können, oder ob sie wie in der preziösen Tradition als positive Vorbildfigur firmiert. Diese inhaltlich-konzeptionelle Ambivalenz verstärkt sich aufgrund formalstruktureller Aspekte oder wird durch diese geradezu generiert. Das Darstellungsprinzip ex negativo setzt voraus, dass erst in der Kontrastierung von (lasterhafter) Romanwelt und formalem Handlungsträger der Kritik (in diesem Falle: die weibliche Figur) ein kritisches Funktionspotential zum Ausdruck kommt. Um der Romanwelt überhaupt ein Korrektiv entgegensetzen zu können, muss sich die Protagonistin konträr zur Romanwelt positionieren. Indem sie gegen den Vater opponiert, in der Rolle als Mann zeigt, dass die galante Liebe standes- und geschlechterübergreifend wirksam ist oder kurzerhand aus dem intriganten Umfeld flüchtet, zeigt sie der „heutigen Welt“ deren Schwachstellen auf, die (so suggeriert es das Konzept der Sittenkritik) gemeinhin übersehen würden. Poetologische Funktionen und Wirkungsabsichten des Romans überlagern sich an dieser Stelle mit geschlechterspezifischen Aspekten und irritieren so hegemoniale Genderordnungen. Doch nicht nur romankonzeptionell, sondern auch intradiegetisch lässt sich eine Überlagerung poetischer und geschlechterspezifischer Aspekte beobachten. Im Vergleich zum preziösen Modell wird die statische Dominanz der Frau eingeschränkt, um den Einfluss des Mannes zu stärken (galante Paarbeziehung). In Bezug auf die (lasterhafte) Romanwelt und ihre Kollektive müssen Autonomie- und Machtpotentiale der Frau aber gestärkt werden, damit die Protagonistin der lasterhaften Welt ein Korrektiv entgegensetzen und dieses auch verwirklichen kann (Verhältnis galante Figur und Romanwelt). Gleichzeitig ist die Protagonistin Teil der ‚galanten‘ Romanwelt; die Figuren preisen die Exzeptionalität der weiblichen Hauptfigur, ja, sie werden selbst zu Zeugen, die ihre Vorbildlichkeit bestätigen ‒ und somit auch ihre Widerständigkeit nobilitieren. Für die Figuren der Romanwelt ist die Protagonistin Inbegriff einer galanten Conduite, was auch die Paratexte nahe legen (Protagonistin als Vorbild und repräsentative Figur). Autonomie und Unterordnung, Rebellion und

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Anpassung beziehen sich auf unterschiedliche (Sozial-)Sphären im Roman, werden aber ausnahmslos über die weibliche Hauptfigur vermittelt und laufen in ihr zusammen. Diese konzeptionelle Ambivalenz wird im galanten Roman nicht problematisiert. Möglicherweise wird dies auch gar nicht als problematisch wahrgenommen oder vielleicht sogar gezielt inszeniert  –  arbeiten solche Ambivalenzen doch den satirisch-scherzhaften Facetten einer ‚Poesie zwischen Scherz und Ernst‘ zu. Die vorliegende Studie schlägt vor, die Spezifik galanter Weiblichkeitsnarrative aus der Dynamik eines offenen Gattungsprozesses zu erklären, der sich als komplexes Zusammenspiel heterogener Faktoren beschreiben lässt und deren Interdependenzen nicht in jeder Hinsicht vorgängig kontrollier- oder überschaubar sind. Kombination und Variation von Stoffen, Motiven und Konfliktstrukturen provozieren semantische Verschiebungen, die ihrerseits formale Anpassungen erfordern und umgekehrt. Form und Inhalt des literarischen Textes lassen sich nicht trennen. Doch gerade weil Romantheorien – als eigenständige, sekundäre Reflexionsangebote über Stoffe, Formen und Wirkungsweisen der Gattung – erst im 18. Jahrhundert formuliert werden, eröffnen sich um 1700 enorme Spielräume für die Romanpraxis, die junge Autoren nutzen, um experimentell mit verschiedenen Elementen der literarischen Traditionen ‒ und auch mit geschlechtlich markierten Figurenkonstellationen ‒ umzugehen. Bekanntes wird vielfältig kombiniert, variiert und bringt ‚Neues‘ hervor (poetische Innovation), was die jungen „neuen Poeten“ selbstbewusst zum Anspruch der galanten Poesie erheben. Aufgrund der Interferenz von Form und Inhalt und durch die Pluralisierung von Paratexten mögen dabei auch Weiblichkeitsnarrative entstehen, die geeignet erscheinen, hegemoniale Genderordnungen zu irritieren.

IV. Die vorliegende Studie hat das Verhältnis von Gattung und Geschlecht anhand textueller und paratextueller, poetisch-poetologischer, sozialhistorischer und marktstrukturell-ökonomischer Aspekte untersucht, die sich wechselseitig beeinflussen und in ihrer Interdependenz die Gattungspraxis prägen. Die Untersuchung lässt viele offene Fragen zurück, von denen in einem Ausblick einige benannt werden sollen.8 (1) Ein Desiderat stellt zunächst das Verhältnis von weiblichkeitszentriertem Roman und historischer weiblicher Leserschaft dar. Wie die Begriffsprägung der ‚männlichen Imago der Leserin‘ deutlich macht, sind Rückschlüsse auf historische Leserinnen galanter Romane um 1700 mit Vorsicht zu ziehen. Hier wären aus literatursoziologischer Perspektive weitere Arbeiten wünschenswert. Deutlich wurde

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In verschiedenen Forschungskontexten werden einzelne Aspekte bereits aufgegriffen, doch wird zugunsten eines synoptischen Überblicks auf eine Dokumentation des Forschungsstandes verzichtet.

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bisher, dass Inhalte, Funktionen und Wirkungsabsichten erst nach und nach in Bezug auf die weibliche Leserschaft reflektiert werden. Im Zuge dieser Reflexionen konkretisieren sich Vorstellungen von der galanten (Roman-)Leserin, aber auch romankonzeptionelle Aspekte wandeln sich, die die Gattung im Ganzen betreffen. Eine geschlechterspezifische Differenzierung und Funktionalisierung des Romans, wie sie die literaturwissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung im 18. Jahrhundert rekonstruiert (Becker-Cantarino, Kord, Schlimmer), lässt sich zum frühen Zeitpunkt der galanten Gattungspraxis nicht feststellen. Dies scheint indes weder möglich noch nötig, weil sich männliche und weibliche Leserkreise überschneiden und zunächst überhaupt und grundsätzlich für die Romanlektüre gewonnen werden sollen. Obwohl Frauen in Deutschland (anders als in Frankreich und England) um 1700 selbst nicht als Romanautorinnen auftreten, prägen sie als antizipierte Leserinnen die Gattungsentwicklung. Die Integration von Frauen in den Romanmarkt (selbst in der Rolle als ‚nur‘ antizipierte Rezipientinnen) regt generell ein Nachdenken über Strukturen, Formen und Inhalte einer ‚weiblichen‘ und ‚männlichen‘ Lektüre an. Retrospektiv findet die Differenzierung des Romans in Texte für Frauen und Texte für Männer im 18. Jahrhundert (‚Frauenroman‘ versus Bildungsroman) einen maßgeblichen Impuls in der galanten Romantradition. Die Reglementierung und Tilgung von Motiven und Konfliktmustern, die eine ambigue, argute oder ambivalente Konzeption der weiblichen Figur begünstigen (Flucht, Gefahr/Abenteuer, Kleider-, Rollen- und Geschlechtertausch, Widerstand gegen den Vater/männliche Autorität, die ledige junge Frau/Ausblendung der Ehe), kann als Ausdruck eines nachträglichen geschlechterspezifischen Formalisierungsprozesses der Gattung gewertet werden. Indem greift, was galante Autoren und Verleger forcieren, nämlich dass Frauen zu Rezipientinnen und Käuferinnen des Romans werden, scheint auch eine (moralische) Verantwortung des (männlichen) Autors stärker in den Blick zu treten. Der Roman wird geschlechterspezifisch reformiert und im 18. Jahrhundert für die moraldidaktische Erziehung des weiblichen Geschlechts instrumentalisiert (Gottsched, Gellert). Die vorliegende Studie zeigt, dass dies keine der Gattung inhärente Funktion ist, so dass erneut Fragen zu Partizipations-, Ausschluss- und Selektionsmechanismen von Markt und Geschlecht diskutiert werden müssen. Denn auch Texte von Männern können – ob intendiert oder nicht ‒ Emanzipationsimpulse für Frauen setzen. (2) In diesem Zusammenhang müsste das Verhältnis von fiktionalem Weiblichkeitsnarrativ und soziokulturellem Genderwissen/-praktiken genauer untersucht werden. Es ist ein äußerst interessantes Desiderat zu prüfen, ob und in welchem Maße reale Frauenbiografien die galante Romanpraxis anregen oder ob die Romane weibliche Biografien beeinflussen. Biografien historischer Frauen, die um 1700 tatsächlich als Männer lebten, männliche Lebensformen und Berufe übernahmen wie die Piratin Anne Bonny (1690–1720), die „Jungfer Heinrich“ Anna Ilsabe Bunck (†  1702) oder Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagranthinus Rosen-

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stengel (1689–1721), die sogar eine Frau heiratete, können hier einen Ansatzpunkt bieten.9 Zu denken wäre auch an Hamburger Opernsängerinnen und Künstlerinnen um 1700, auf die Hunold Beziehungen zur Conradi und Madame R. (Rischmüller) aufmerksam macht. (3) Aus literaturwissenschaftlicher, genderkritischer und transnationaler Sicht müsste das Verhältnis von jungen Autoren in Deutschland und preziösen Autorinnen in Frankreich weiterführend untersucht werden. Wenn der preziöse Roman aus einem gehoben-aristokratischen Milieu Frankreichs in vielfältige ständische Sphären Deutschlands diffundiert, stehen weitere Aspekte dieser Adaptions- und Modifikationsprozesse in Frage. Schlagen sich standesspezifische Differenzen in der Textgestaltung nieder? Welche Rolle spielen Stand, Alter, Geschlecht im Rahmen poetischer Valorisierungsprozesse (‚hoher‘ preziöser Roman der älteren Autorinnen versus ‚niedere‘ Literatur, Roman als pejorative, nicht akzeptierte Gattung im deutschen Kontext, die zunächst junge Männer bedienen)? Auch wenn der preziöse Roman weiblichkeitszentrierte Liebes- und Geschlechtermodelle popularisiert, sind die sozialhistorischen Verhältnisse des 17. und 18. Jahrhunderts patriarchal geprägt. Gerade die poetische Produktion von Frauen (des vermeintlich ‚schwachen‘ Geschlechts) könnte ein wichtiger Stimulus für die Romanproduktion junger Autoren gewesen sein. Denn obwohl die preziösen Vorbilder, vor allem Scudéry, durch adlige Herkunft, soziale und poetische Reputation (europaweiter Erfolg) und einen Altersunterschied von zwei Generationen den jungen, bürgerlichen und unbekannten Poeten ständisch und poetisch überlegen sind, handelt es sich um weibliche Autoren. Junge (studentische) Verfasser sind zwar im Schreiben, in der Gestaltung poetischer Texte unerfahren, doch auf Textsorten zurückzugreifen, die selbst Frauen bedienen, sie zu verändern und durchaus radikal mit den Vorläuferinnen zu brechen, mag in einer patriarchalen Gesellschaft vertretbarer erscheinen, als sich männlichen Koryphäen der Poesie vergleichbar zu machen und sich an deren ‚hohen‘ Werken und Maßstäben beurteilen zu lassen. Die Kategorie Geschlecht, so scheint es, begünstigt im Kontext der deutsch-französischen Romanrezeption eine poetische Selbstermächtigung junger männlicher Autoren. Ständische, poetische, geschlechterspezifische Interdependenzen wären hier zu prüfen. (4) Weiterer Untersuchungen bedarf in diesem Zusammenhang der gesamte Komplex junger Männlichkeit und junger ‚Avantgarde‘ (um als Hilfskonstruktion diesen Begriff des 20. Jahrhunderts zu verwenden). Und zwar ohne Einschränkung auf das studentische Milieu im engeren Sinne, sondern weitere Kontexte sollten einbezogen werden wie das Zeitschriftenwesen, Theater u.ä. Die Forschung zum 9

U.a. Rudolf Dekker u. Lotte van de Pol: Frauen in Männerkleidern. Weibliche Transvestiten und ihre Geschichte. Mit einem Vorwort von Peter Burke. Aus dem Niederländischen von MariaTheresia Leuker. Berlin 1990; Otto Ulricht (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln 1995; Michel Foucault: Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin/Herculine Barbin. Übers. v. Wolfgang Schäffner. Frankurt a.M. 2004.

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studentischen Milieu, zu studentischen Habitusformen und Lebensweisen wurde in den letzten Jahren vielfältig forciert. Jungen Männern um 1700 stehen aber genauso Aktions- und Agitationsräume außerhalb des universitären Bereichs zur Verfügung. Ein Seitenblick auf subkulturelle Milieus mag hier sicherlich fruchtbar sein. Werkmonografien und biografische Forschungen sollten auch adlige Autoren in den Blick nehmen, die in der vorliegenden Studie ausgeblendet wurden. Anders als die hier besprochenen Autoren bürgerlicher Herkunft treffen junge Adlige (z.B. Heinrich Anselm von Ziegler und Klipphausen, der 1689 als 26-Jähriger die Asiatische Banise veröffentlicht) auf vollkommen andere soziale, sozioökonomische Produktions- und Lebensbedingungen. (5) Grundsätzlich sind weiterführende Untersuchungen zum Buch- und Verlagswesen um 1700 notwendig. Mit den anonymen und pseudonymen Strukturen des Buchhandels verbinden sich viele offene Fragen. Unter anderem betrifft dies die Verlagspraxis (später) bekannter Verleger wie Johann Ludwig Gleditsch, Johann Friedrich Gleditsch in Leipzig, die als maßgebliche Verbreiter und Distribuenten (früh-) aufklärerischen Schrifttums gelten, ihren Einfluss und Ruhm aber durch populäre Schriften in der gesamten Bandbreite, mit einem nicht zu unterschätzenden Teil an Raub- oder Nachdruckauflagen, erlangten. Mit Blick auf ein europaweites Buchund Verlagsnetzwerk treten hier Fragen zum Autorbegriff, zu Autorschafts­modellen, mediale Bedingungen und materiell-sozioökonomische Aspekte des Buchwesens in den Vordergrund. (6) Wünschenswert und notwendig ist eine religionskritische und theologische Auseinandersetzung. Eine genauere Klärung des Verhältnisses von Galanterie und Religion (z.B. Hunolds Beziehung zum Pietismus, der sich Rose in Teilen widmet und wozu in Zukunft mehr Einsichten zu erwarten sind),10 steht bisher noch aus. Untersuchungen zum Verhältnis der verschiedenen Konfessionen und deren Einfluss auf soziale wie künstlerische Kommunikationsformen, kulturelle Milieus und Mentalitäten sind regional, territorial, stände- und genderdifferenziert interessant. (7) Von Interesse dürften in Zukunft vor allem Fragestellungen zum transnationalen Kultur- und Literaturtransfer (Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien u.a.) sein sowie damit zusammenhängende intertextuelle, intermediale und transgenerische Transferprozesse. In der vorliegenden Arbeit wurden transgenerische Aspekte nur partiell am Beispiel von Brief, Arie, Gedicht im Roman gestreift. Besondere Beachtung verdienen jedoch auch intermediale Gattungsbeziehungen, z.B. von Oper/Musik und Roman. Hunolds Tätigkeit für das Hamburger Opernhaus zeigt, dass sich der Umgang mit unterschiedlichen Gattungsformen oft durch Arbeits- und Anstellungsverhältnisse ergibt bzw. die Beschäftigung damit anregt oder notwen10

‚Gesammlet und ans Licht gestellet‘. Die Verbindung von Literatur, Musik und Theologie in Anthologien des frühen 18. Jahrhunderts. 3. Internationale Menantes-Konferenz zum 10-jährigen Bestehen der Menantes-Literaturgedenkstätte Wandersleben. Wandersleben, 11.‒14.06.2015 (Publikation in Planung).

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dig macht. Auch Bohse schreibt am Weißenfelser Hof Singspiele und Opern. Eine Untersuchung transgenerischer Beziehungen zwischen galantem Roman und musikalischen Kunstformen ist ein ausgesprochen reizvolles Forschungsfeld, das auch in genderorientierter Perspektive interessant ist (Hamburger Opernsängerinnen, weibliches Künstlertum um 1700). Die Liste ließe sich fortsetzen – die vorliegende Studie hofft indes, dass gattungs- und genderorientierte Fragestellungen in der Galanterieforschung weiter aufgegriffen werden. Denn dass Gender und Literatur vielfältige Interferenzen eingehen, deren Dynamiken, Konstruktionsweisen und Effekte ‒ auch wenn sie oft kaum wahrnehmbar scheinen und möglicherweise auch unintendierte Emergenzen erzeugen ‒ offenzulegen sind, zeigt der weiblichkeitszentrierte galante Roman um 1700.

6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

6.1 Primärliteratur [anonym]: Eines Aufrichtigen Patrioten Unpartheyische Gedancken über einige Quellen und Wirckungen des Verfalls der ietzigen Buch=Handlung / Worinnen insonderheit / Die Betrügereyen der Bücher=Pränumerationen entdeckt / Und zugleich erwiesen wird / Daß der unbefugte Nachdruck un=privilegirter Bücher ein allen Rechten zuwiederlauffender Diebstahl sey. / Schweinfurth / bey Tobias Wilhelm Fischer / 1733. In: Quellen zur Geschichte des Buchwesens. Hg. v. Reinhard Wittmann, München 1981. [anonym]: Curieuses Studenten=Bibliothecgen, worinnen gezeiget wird, was ein Studiosus Theologiae, Juris, Medicinae, Philosophiae u. Politices entweder von nöthigen und nützlichen Büchern sich anschaffen, oder von welchen er einige Nachricht haben solle und müsse. Zum vierdrenmahl gedruckt, vielfältig vermehret und verbessert, und mit einem nöthigen Register versehen. Leipzig, verlegts Friedrich Groschuff, 1718 [Erstausgabe 1707]. [anonym]: Der Entlarffte Ritter im Nonnen=Kloster Durch artige Begebenheiten und selzame Liebes=Intriquen vorgestellet. Leipzig / Verlegts Johann Gabriel Grahl / Buchhändler. An[no] 1711. [anonym]: Art. Gressel. In: Beyträge zur Oettingischen politischen=kyrchlichen= und gelehrten Geschichte, von dem Verfasser der Oettingischen Bibliothek gesammelt und herausgegeben. Oettingen, bey Johann Heinrich Lohse / Hochfürstl. Buchdr. 1773. [anonym]: Historischer und verständiger Blumen-Gärtner / oder Unterricht von Bau- und Wartung der Blumen, Bäume und Stauden=Gewächse, so zur Aufputzung eines Gartens dienen können, Leipzig, Gleditsch & Weidmann, 1715. [anonym]: Der Müßige Amant, In welchem Funffzig Neue Spanische Geschichte vorgestellet werden / Der galanten Welt zu vergönnter Gemüths=Ergetzung / aus der Französischen in die Teutsche Sprache übersetztet. I. II. und III. Theil. Wien und Leipzig / Verlegts Johann Gabriel Grahl / 1712. [anonym] [Gottsched, Johann Christoph]: Die Vernünftigen Tadlerinnen, Das X. Stück. Den 7. März 1725, 4. Aufl. Hamburg, verlegts Conrad König, 1748 [Erstausgabe 1725]. [anonym] [Riederer, Johann Friedrich]: Die abentheuerliche Welt in einer Pickelheerings=Kappe, Oder Satyrische Gedichte / In welchen allerhand im Schwang gehende Mißbräuche, Laster und Unförmlichkeiten der Menschen auf eine ridi-

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6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

cule, doch vernünfftige Art Monathlich vorgetragen, Und vermittelst zweyer besondern Satyren, Davon gegenwärtige Piece […] sich betittult, Gleich einer Braut auf dem Tantze herum genommen werden sollen / Nürnberg s.n. [1718‒1719]. [anonym] [Schmidt, Samuel Heinrich]: Die Durchläuchtigste Welt / Oder Kurtzgefaßte Genealogische / Historische und Politische Beschreibung / meist aller jetztlebenden Durchläuchtigsten Hohen Personen / sonderlich in Europa […] / In Vorstellung Dero Nahmen / Geburts-Zeit / Regierung / Bedienung / nechsten Vorfahren […] abgefasset von einem der solche Wissenschafften Sehr Hoch Schätzete. Hamburg bey Benjamin Schiller, 1697. [anonym] [Tentzel, Wilhelm Ernst]: Monatliche Unterredungen Einiger Guten Freunde Von Allerhand Büchern und andern annehmlichen Geschichten. Allen Liebhabern Der Curiositäten Zur Ergetzligkeit und Nachsinnen Heraus gegeben. Bde. 1–10. Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch, Thomas Fritsch 1689–1698. [anonym] [Thomasius, Christian]: Schertz= und Ernsthaffter, Vernünfftiger und Einfältiger Gedancken, über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen / Erster Monath oder Januarius in einem Gespräch vorgestellet von der Gesellschafft derer Müßigen. Franckfurth und Leipzig, Verlegts Moritz Georg Weidmann, Buchhändler, 1688. Photomechan. Reprod. Frankfurt a.M. 1972. [anonym] [Wedel, Benjamin]: Geheime Nachrichten und Briefe von Herrn Menantes Leben und Schrifften. Cöln: Bey Johann Christian Oelschnern, 1731. Amaranthes [Corvinus, Gottlieb Siegmund]: Das Carneval Der Liebe, Oder Der in allerhand Masquen sich einhüllende Amor, in Einer wahrhafftigen Liebes=Roman Der Curiösen Welt entdecket Von Amaranthes. Leipzig, Verlegts Johann Christian Martini, Buchhändler in der Nicolai=Stasse, 1712. ‒ Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon. Worinnen nicht nur Der Frauenzimmer geistlich- und weltliche Orden, Aemter, Würden, Ehren-Stellen, Professionen und Gewerbe, [...] Nahmen und Thaten der Göttinnen, [...] gelehrter Weibes-Bilder [...], auch anderer [...] Trachten und Moden, [...] Gewohnheiten und Gebräuche, [...] Ergötzlichkeiten, [...] Gebrechen [...] und alles [...], was einem Frauenzimmer vorkommen kan, und ihm nöthig zu wissen, Sondern auch Ein vollkommenes und auf die allerneueste Art verfertigtes Koch- Tortenund Gebackens-Buch, Samt denen darzu gehörigen Rissen, Taffel-Auffsätzen und Küchen-Zettuln, Ordentlich nach dem Alphabet [...] abgefaßt [...] dem weiblichen Geschlechte insgesamt zu sonderbaren Nutzen, Nachricht und Ergötzlichkeit auff Begehren ausgestellet von Amaranthes. Leipzig / Bey Johann Friedrich Gleditsch und Sohn, 1715. Aramena: Die Durchlauchtigste Margaretha von Oesterreich / In einer Saats= und Helden=Geschichte / Der galanten Welt zu vergnügter Gemüths=Ergötzung communiciret von Aramenen. Hamburg, In Verlegung Samuel Heyls, 1716 [Erstausgabe 1706]. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Hg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1999.

6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

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Assarino, Luca: La Stratonica Di Luca Assarino […], Bologna per Carlo Zenero, 1642. Barcley, John: Ioannis Barclaii Argenis, Parisiis: Nicolas Buon, 1621. Deutsche Übersetzung von Martin Opitz: Neue Jugend-Lust / Das ist / Drey Schauspiele: I. Vom verfolgten David / II. Von der Sicil. Argenis, / III. Von der verkehrten Welt. Franckfurt und Leipzig / Zu finden bey Christian Weidmannen. Druckts Johann Köler, 1684. Barrin, Jean: Die Venus im Kloster / Oder Die biss aufs Hembd ausgezogene geistliche Nonne: bestehet In vier überaus vorwitzigen Gesprächen / Welche Der Abt von Mundellzheim der Frau Aebtissin zu Dittlenheim dediciret und zugeschrieben. Von Jean Barrin, Cölln: A. Marten [Marteau?], 1689. Beier, Adrian: Kurtzer Bericht / von Der Nützlichen und Fürtrefflichen Buch=Handlung / und Deroselben Privilegien. auffgesetzet von Adrian Beiern, J.C. / Jena / Uf Unkosten Johann Meyers. Anno 1690. In: Quellen zur Geschichte des Buchwesens. Bd. 1: Das Buchwesen im Barock. Hg. v. Reinhard Wittmann. München 1981. Behmeno: Poetisches Cabinet, In sich haltend allerhand Geist= und Weltliche Gedichte / der Seelen zu einer reinen Lust / Und dem Gemüth zum erlaubten Zeit=Vertreib auffgerichtet / und Nebst einer abgenöthigten Defension wider den albernen Selamintes, Der neu=begierigen Welt mitgetheilet von Behmeno. Franckfurt und Leipzig / im Jahr 1715. Der Beständige T.: Die Versteckte Liebe im Kloster. In einer annehmlichen Liebesgeschichte Den müssigen Stunden der Galanten Welt gewidmet. Samt noch einem Anhang / genannt Der Schlüssel des Hertzens / oder die Art zu lieben. Durch den Beständigen T. / Franckfurt / bey Christoph Wohlfahrten / 1694. ‒ Die Albanische Sulma / in einer wohlständigen und reinen Liebes=Geschichte / samt andern mit einlauffenden artigen Begebenheiten / und beygefügten Brieffen / Zu vergönnter Gemüths=Ergötzung an das Licht gebracht / durch den Beständigen T. Cölln / bey Peter Marteau, 1698. Biondi, Giovanni Francesco: L’Eromena: Divisa in 6 libri / Del Sig. Cavalier Gio. Francesco Biondi. Venetia: Pinelli, 1624. Biondi, Johann Frantz [Stubenberg, Johann Wilhelm von]: Eromena. Das ist / Liebsund Heldengedicht / In welchem / nechst seltenen Begebenheiten viel kluge Gedancken / merckwürdige Lehren / verständige Gespräche und verborgene Geschichten zu beobachten / Von Herrn Johann Frantz Biondi / Rittern und der Königlichen Majestät in Großbritannien Kämmerern in Welscher Sprache geschrieben / anjetzo aber / in die Hochteutsche übersetzet. Durch ein Mitglied der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschafft. Nürnberg: bey Michael Endter, 1650. Boccaccio, Giovanni: Das Dekamerone, Bd. 1., 2. Aufl. Berlin 1987. Catalogus Librorum Jo. Friderici Gleditsch & Filii, Bibliopolarum Lipsiensium’. In: Die Europäische Fama / Welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket. Der 143. Theil. [s.l.] 1713.

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6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

Catalogus Universalis Sive Designatio Omnium Librorum […] Verzeichnüsz aller Bücher / so zu Franckfurt in der Fasten=Messe / wie auch Leipziger Oster=Messe des ietzigen 1699sten Jahres / entweder gantz neu / oder sonsten verbessert / oder auffs neue wieder auffgeleget und gedruckt worden sind […]. Leipzig / In Verlegung Johann Grossens seel. nachgelassene Erben / Druckts Christian Scholvien / 1699–1711. Celander: Der Verliebte Studente / In einigen annehmlichen / und wahrhafftigen Liebes=Geschichten / welche sich in einigen Jahren in Teutschland zugetragen. Der galanten Welt zu vergönter Gemüths=Ergetzung Vorgestellet / von Celander. Cölln, Bey Pierre Martaux, 1709. ‒ Historische Lust-Grotte / In sich haltend: Hundert Historien / aus vielen der glaubwürdigsten und neuesten Scribenten zusammen gesetzet / Und Dem Curieusen Leser Zu vergönneter Gemüths-Ergetzung eröffnet / Von Celander. Hamburg / In Verlegung Christian Liebezeit, 1710. ‒ Die unglückliche Barsine / Princeßin aus Armenien / In einer Angenehmen Liebes= und Helden=Geschichte / Dem curieusen Leser zur vergönneten Gemüths=Ergötzung vorgestellet / Von Celander. Hamburg / In Verlegung Christian Liebezeit, 1713. ‒ Des Verliebten Studentens ander Theil, welchen unter der Lebens= und Liebes=Gesichte des Spanischen Marchesens Infortunio de Stellos / Der galanten Welt zur Vergönten Belustigung Schertz= und Ernsthafft vorstellet Celander. Cölln bey Peter Marteaus ältesten Sohne Jonas Enclume genandt / 1715. ‒ Celanders Verliebte= Galante / Sinn= Vermischte und Grab=Gedichte. Hamburg und Leipzig / Bey Christian Liebezeit / Anno 1716. Le Content: Accademischer Frauenzimmer=Spiegel / Das ist curieuse Liebes=Begebenheiten / So sich in der That auf einer wohlbekandten Sächsischen Universität vor einigen Jahren zugetragen. Ausgefertiget von Le Content. Im Jahr 1718 [s.l.]. Corps universel diplomatique du droit des gens; ou recueil des traitez d‘alliance, de paix, de treve [...] depuis le règne de l‘empéreur Charlemagne jusques à présent […]. Bd. 7 (1680‒1700), Amsterdam: Brunel, 1731. Dunkel, Johann Gottlob Wilhelm: Johann Gottlob Wilhelm Dunkels Historisch=Critische Nachrichten von verstorbenen Gelehrten und deren Schriften. Insonderheit aber Denenjenigen, welche in der allerneuesten Ausgabe des Jöcherischen Allgemeinen Gelehrten=Lexicons entweder gäntzlich mit Stillschweigen übergangen, oder doch mangelhaft und unrichtig angeführet werden. Des Ersten Bandes Erster Theil. Cöthen: Cörnerische Buchhandlung, 1753. Eberti, Johann Caspar: Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen=Zimmers / darinnen die Berühmtesten dieses Geschlechts umbständlich vorgestellet werden. Franckfurth und Leipzig / bey Michael Rohrlach, 1706. Der Erwachsene [Birken, Sigmund von]: Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst / oder Kurtze Anweisung zur Teutschen Poesy / mit Geistlichen Exempeln […] /

6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

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verfasset durch Ein Mitglied der höchstlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft Den Erwachsenen. Nürnberg: Christof Riegel, 1679. Florando [Negelein, Joachim]: Betrüglicher Courtesie-Spiegel Des Galanten Academischen Frauenzimmers / Welcher die mancherley artigen Aventuren und lustigen Liebes=Intriguen derselben in einem Roman fürstellet. Herausgeben von Florando. Franckfurt, Leipzig 1714. Fritsch, Ahasverus: Tractatus de Typographis, Bibliopolis, Chartariis et Bibliopegis, In quo de eorum statutis & immunitatibus abusibus item & controversiis, censura librorum, inspectione Typographiarum & Biliopoliorum, ordinatione Taxae & c. succincte agitur / Pro usu Reip. Literariae Scriptus […] Ahasveri Fritschii, D. / Jenae, Sumtibus Zachariae Herteli, Bibliopol. Hamburg. Litoris Samuelis Adolphi Mülleri. Anno M DC LXXV [1675]. Gellert, Christian Fürchtegott: Gesammelte Schriften. Bd. VII: Religiöse Selbstbekenntnisse, tägliche Aufzeichnungen, Bibliothek der schönen Wissenschaften, Dokumente zu Leben und Werk. Hg. v. Kerstin Reimann u. Sibylle Schönborn. Berlin/New York 2008. Glaubitz, Friedrich Erdmann von: Die Anmuthige Pistophile / In einer wahrhafften, ob wohl verdeckten Liebes= und Helden=Geschichte ausführlich entworffen von F. E. von Glaubitz. Franckfurt und Leipzig / Bey Michael Rorlachs Wittib und Erben, 1713. Happel, Eberhard Guerner: Mandorell hält einen schönen discours von dem Ursprunge der Romanen. In: Traité de l’Origine des Romans. Faksimiledrucke nach der Erstausgabe von 1670 und der Happelschen Übersetzung von 1682. Mit einem Nachwort von Hans Hinterhäuser. Stuttgart 1966. ‒ Africanischer Tarnolast, Das ist: Eine anmuthige Liebes- und Helden-Geschichte, von einem mauritanischen Printzen und einer portugallischen Printzessin. Ulm [s.n. = Wagner] 1689. Heidegger, Gotthard: Mythoscopia Romantica oder Discours von den so benanten Romans. Faksimileausgabe nach dem Originaldruck von 1698. Hg. v. Walter Ernst Schäfer. Bad Homburg 1969. Heinsius, Wilhelm: Allgemeines Bücher=Lexikon oder vollständiges Alphabethisches Verzeichniß der von 1700 bis zu Ende 1815 erschienenen Bücher welche in Deutschland und in den durch Sprache und Literatur damit verwandten Ländern gedruckt worden sind […]. Bd. 3. Leipzig bey Johann Friedrich Gleditsch, 1812. ‒ Allgemeines Bücher=Lexikon oder vollständiges Alphabethisches Verzeichniß der von 1700 bis zu Ende 1815 erschienenen Bücher welche in Deutschland und in den durch Sprache und Literatur damit verwandten Ländern gedruckt worden sind. Nebst Angabe der Drucker, der Verleger und der Preise. Bd. 5: Anhang (Vierte Abtheilung: Romane und Schauspiele enthaltend). Leipzig bey Johann Friedrich Gleditsch, 1817. Horaz: Die Dichtkunst des Horaz oder der Brief an die Pisonen. Urschrift, Übersetzung, Erklärung. Hg. v. August Arnold. 2. Aufl. Halle a.S.: Pfeffer, 1860.

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6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

Hübner, Johann: Johann Hübners Curieusen und Reales Natur=Kunst=Berg=Gewerck und Handlungs=Lexicon […], Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch und Sohn, 1714. Huet, Pierre Daniel: Traité de l’Origine des Romans. Faksimiledrucke nach der Erstausgabe von 1670 und der Happelschen Übersetzung von 1682. Mit einem Nachwort von Hans Hinterhäuser. Stuttgart 1966. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1974. Leipziger Oster=Messe 1713. Catalogus Librorum Jo. Friderici Gleditsch & Filii, Bibliopolarum Lipsiensium’, in: Die Europäische Fama / Welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket. Der 143. Theil. [s.l.] 1713. Liger, Louis: Le Jardinier Fleuriste et historiographe ou la culture universelle des fleurs, arbres, arbustes et arbrisseaux, Par le Sieur Louis Liger, Amsterdam: Roger, 1706. Deutsche Ausgabe: [anonym] Historischer und verständiger BlumenGärtner, oder Unterricht von Bau- und Wartung der Blumen, Bäume und Stauden-Gewächse, so zur Aufputzung eines Gartens dienen können, Leipzig: J.L. Gleditsch & Weidmann, 1715. Lohenstein, Daniel Capar von: Sophonisbe. Trauerspiel. Breßlau / Auf Unkosten Jesaiae Fellgibels / Buchhändlers aldar. 1680. Hg. v. Rolf Tarot. Stuttgart 1991. Mademoiselle S*: L’Heroïne incomparable de Notre Siècle, Réprésentée au naturel dans la Belle Hollandoise, Par Mademoiselle S*. Histoire Galante. A La Haye, Chez David Duri, Marchand Libraire, à la Grande Salle de la Cour. M.DCC.XIII [1713]. Maerck, Georg Friedrich: Hochtröstliche Todes=Gedancken, oder seelige Todes= Betrachtung […], Leipzig / Verlegts Johann Christian Wohlfahrt, Druckts Christoph Balth. Lampe, 1691. Mayer, Johann Friedrich: Mayers gesamlete Thränen von einer herzlich betrübten Mutter wegen des erbärmlichen Abfalls ihres Evangelischen Sohns zum Papstthum, Hamburg [s.n.] 1697. Meletaon [Rost, Johann Leonhard]: Die getreue Bellandra / In einem Liebes= und Helden=Roman / Dem Curieusen Leser zur vergönnten Ergötzung des Gemüts vorgestellet / Von Meletaon. Franckfurt und Leipzig / Zu finden bey Wolfgang Michahelles [in Nürnberg]. Anno 1708. ‒ Die Unglückseelige Atalanta oder Der schönen Armenianerin Lebens= und Liebes=Beschreibung in einem Asiatischen Helden=Gedicht. Der galanten Welt zur erlaubten Gemüths=Belustigung aufgesetzet von Meletaon. Franckfurt und Leipzig, bey Wolffgang Michahelles, 1708 [hier verwendet in der inhaltlich unveränderten Ausgabe Leipzig: Johann Leonhard Buggel, 1717]. ‒ Die Türckische Helena / Der curieusen und galanten Welt in einer Liebes=Geschichte Zu betrachten abgebildet Von Meletaon. / Gedruckt im Jahr Christi 1710, s.l. [Nürnberg: Wolfgang Michahelles]. ‒ Der Verliebte Eremit / Oder des / Gravens von Castro / Lebens= und Liebes=Ge-

6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

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schichte / Der / Galanten Welt / in einem / ROMAN / überreichet / von / MELETAON. / Gedruckt in diesem 1711. Jahr, s.l. [Nürnberg: Johann Albrecht]. Die Liebenswürdige und Galante Noris / In einem Helden=Gedichte der curieusen Welt / zur Lust und Ergötzung / auffgeführet von / Meletaon. Leipzig / In Verlag Johann Ludwig Gleditsch und M.G. Weidmanns, 1711. Schauplatz der Galanten und Gelährten Welt / Welcher die mancherley Begebenheiten auf Universitäten in einem Roman fürstellet / Und einen jungen Menschen erinnert / wie er sich an demselbigen spiegeln soll / damit er auf Academien Geld und Zeit vernünfftig anwenden / und von denselbigen mit Nutzen nach Haus gehen kan; In Zweyen Theilen / Schertz= und Ernsthafft eröffnet von Meletaon. / Nürnberg / In Verlegung Johann Christoph Lochners / Buchhändlers. Gedruckt bey Georg Christoph Lochner, Anno 1711. Die Durchlauchtigste Prinzessin Tamestris aus Aegypten in einem Roman Der Galanten Welt ergebenst überreichet von Meletaon. Nürnberg / Zu finden bey Johann Albrecht. An[no] 1712. Von der Nutzbarkeit des Tantzens. Wie viel selbiges zu einer Galanten und wohlanständigen Condvite bey einem jungen Menschen und Frauenzimmer beytrage / Auch wie man dadurch […] Kinder als erwachsene Leute von beederley Geschlechte / zur Höflichkeit / Artigkeit und Frey=müthigkeit anweisen solle. Franfurt und Leipzig [Nürnberg]: Johann Albrecht, 1713. Curieuse Liebes=Begebenheiten. Aus dem Frantzösischen übersetzet; Und mit den darzu ghörigen Kupfern nebst einer Vertheidigung wider Celandern, an das Licht gestellet von Meletaon. Cölln gedruckt im Jahr 1714. Bescheidene Verantwortung und abgenöthigte Ehrenrettung wider Celanders grobe Beschuldigung und unbesonnene Injurien, Die er der Dedication und Vorrede des Verliebten Studenten zu seiner beharrlichen Schande einverleibet; der gantzen vernünften Welt zur Nachricht und Beurtheilung öffentlich ausgefertiget von Meletaon. In: Curieuse Liebes=Begebenheiten. Aus dem Frantzösischen übersetzet; Und mit den darzu ghörigen Kupfern nebst einer Vertheidigung wider Celandern, an das Licht gestellet von Meletaon. Cölln gedruckt im Jahr 1714 [Verteidigungsrede beigefügt im Anhang, S. 163‒254]. Der Durchlauchtigste Hermiontes / Cron=Printz aus Syrien. Der galanten Welt in einem Helden=Gedichte abgebildet / von Meletaon. Nürnberg / Zu finden bey Johann Albrecht. Anno 1714. Die Unvergleichliche Heldin unserer Zeiten; / in dem Bildniß / Der Schönen Holländerin / von der / Mademoiselle S* / in einer Galanten Begebenheit / nach den Leben abgeschildert; / und aus dem Französischen ins Teutsche übersetzet: / von MELETAON. / Nürnberg / Bey Johann Albrecht. A[nno] 1724 [Erstausgabe Nürnberg: Johann Albrecht, 1715]. Die Leichteste Art / Teutsche Briefe / zu schreiben. Durch Regeln und Exempel überaus deutlich und gründlich verfasset von Johann Leonhard Rost. Nürnberg / Verlegts Johann Albrecht. Gedruckt bey Johann Ernst Adelbulner. Anno 1717.

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6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

‒ Unterricht von Billeten […] welche Mans=Personen […] und das Frauenzimmer an bekante und gute Freundinnen in allerhand Angelegenheiten anzufertigen pflegen. Leipzig: Johann Christoph Cörner, 1717. Melisso: Die in dem Grabe erlangte Vermählung der beeden Verliebten / Rapymo und Sithbe, der Galanten Welt in einem Liebes=Roman Zu vergönnter Belustigung ans Licht gestellet von Melisso. Leipzig [s.n.] / 1717. Menander [Walter, David Christian]: Der unvergleichlich=schönen Türckin / wundersame Lebens= und Liebes=Geschichte. Zur angenehmen Durchlesung aufgezeichnet / von Menander. Zu finden in der Franckfurter und Leipziger Messe. [s.n.] An[no] 1723. Menantes [Hunold, Christian Friedrich]: Die Verliebte und Galante Welt / Jn vielen annehmlichen und wahrhafftigen Liebes=Geschichten / Welche sich in etlichen Jahren her in Teutschland zugetragen. Ans Licht gestellet von / Menantes. Hamburg / Bey Gottfried Liebernickel / 1700. ‒ Die Liebens=Würdige Adalie. In einer annehmlichen und wahrhafftigen Liebes-Geschichte / Der Galanten Welt zu vergönnter Gemüths=Ergetzung Heraus gegeben von Menantes. Hamburg: Verlegts Gottfried Liebernickel / Buchh. im Dohm / 1702. ‒ Die Allerneueste Art Höflich und Galant zu Schreiben / Oder Auserlesene Briefe / In allen vorfallenden / auch curieusen Angelegenheiten / nützlich zu gebrauchen / Nebst einem zulänglichen Titular- und Wörter-Buch von Menantes. Hamburg Bey Gottfried Liebernickel im Dohm, 1702 [Erstausgabe verschollen; hier verwendet in der Zweitausgabe Hamburg: Gottfried Liebernickel, 1707]. ‒ Die Allerneueste Art / Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen. Allen Edlen und dieser Wissenschafft geneigten Gemüthern / Zum Vollkommenen Unterricht / Mit überaus deutlichen Regeln / und angenehmen Exempeln ans Licht gestellet / Von Menantes. / Hamburg / Bey Gottfried Liebernickel / im Dom / 1707 [Erstausgabe Hamburg: Gottfried Liebernickel 1702]. ‒ Satyrischer Roman, oder allerhand wahrhaffte, lustige, lächerliche und galante Liebes=Begebenheiten / Ausgefertiget von Menantes. Denen / als ein Anhang / die Lindenfeldische Fama und allerhand Urtheile von neuen Büchern beygefüget worden. Franckfurt und Leipzig / bey Carl Christoph Immig / Buchhändlern. 1726 [Erstausgabe Hamburg: Benjamin Wedel, 1706]. ‒ Der Europäischen Höfe / Liebes= und Helden=Geschichte / Der Galanten Welt zur vergnügten Curiosité ans Licht gestellet / Von Menantes. Hamburg / Bey Gottfried Liebernickels Seel. Wittwe, 1709. ‒ Satyrischer Roman, Ander Theil. Der Galanten Welt zur vergnügten Curiosité / ans Licht gestellet Von Menantes. Stade / In Verlegung Hinrich Brummers, 1710. ‒ Die Manier Höflich und wohl / zu / Reden und zu Leben / Mit hohen vornehmen Personen / seinesgleichen und / Frauenzimmer / Als auch / Wie das Frauenzimmer eine geschickte Aufführung gegen uns gebrauchen könne / Ans Licht gestellet / von Menantes. Mit Königl. Polnis. und Chur=Sächsis. Privil. / Hamburg / Bey

6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

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Johann Wolffgang Fickweilern / Buchhändler im Dohm / 1710 [hier verwendet in der Auflage Hamburg: Christian Wilhelm Brandt / Buchhändlern im Dohm, 1730]. ‒ Menantes / Academische / Neben=Stunden / allerhand neuer / Gedichte. / Nebst / Einer Anleitung / zur vernünftigen Poesie. / Halle und Leipzig / verlegts / Johann Friedrich Zeitler. 1713. Morhof, Daniel Georg: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie / deren Ursprung / Fortgang und Lehrsätzen / Samt dessen Teutschen Gedichten […] / Lübeck und Franckfurt / In Verlegung Johann Wiedemeyers / M.DCC [1700]. [Erstausgabe Kiel: Reumann, 1682]. Neumeister, Erdmann: De Poetis Germanicis huius seculi praecipuis dissertatio compendicaria [Faksimile der Dissertation von 1695 = Raisonnement über die Romanen, s.l., 1708]. Hg. v. Franz Heiduk u. Günter Merwald. Bern 1978. ‒ Lob-Gedichte des so genannten Bauer-Hundes / Oder Fürstl. Leib-Hundes zu Weissenfels / Mit allerhand Sitten-Lehren und angenehmen Galanterien Moralisch vorgestellet / von einem Tugend-Freund und Laster-Feind. Gedruckt in diesem ietztlauffenden Jahr [s.l.] [s.n.], [ca. 1700]. Oldekop, Johann Georg: Die guten Beschäfftigungen eines in die Ewigkeit hineilenden Gläubigen / wurden in einer Gedächtniß-Predigt des weyland Hoch-Edelgebohrnen / Vest- und Hochgelahrten Herrn Christoph Woltereck / Hoch-Fürstl. Braunschw. Lüneburgischen Ober-Amtsmanns / bey dem Residentz-Amte zu Wolfenbüttel / am 11. Sonntag nach Trinit. 1735 / Jn der Haupt-Kirche daselbst […] vorgestellet […]/  von Johann Georg Oldekop / Hochfürstl. Hof-Prediger / und Archidiacono an benannter Kirche. Wolffenbüttel / druckts Christian Bartsch, Hertzogl. privil. Hof- und Cantzeley-Buchdrucker. Im Jahr 1737. Palmenes: Die Beständigkeit im Lieben an der Africanischen Bernandis. In einer wahrhafftigen Liebes- und Helden-Geschichte / an das Licht gestellet von Palmenes. Leipzig: Martini, 1715. Paritius, Georg Heinrich: Cambio Mercatorio, Oder Neu erfundene Reductiones Derer vornehmsten Europaeischen Müntzen / Welche Auf eine vorhin niemahls so kurtz und leicht gesehene Manier / […] durchgehends ineinander zu übersetzen gelehret werden / daß ein jeder / so nur deß Multipliciren und Dividirens erfahren ist / ohne mündliche Instruction hierauß alle Müntzen ineinander zu reduciren erlernen kan […], Regensburg, 1709. Pater, Paul: De Germaniae Miraculo optimo, maximo, Typis Literarum, earumque differentiis, Dissertatio, qua fimet Artis Typographicae universam rationem explicat Paulus Pater / Prostat Lipsiae / Apud Jo[hann]. Frider. Gleditsch & filium, Anno MDCCX [1710]. In: Johann Christian Wolf: Monumenta typographica, quae artis hujus praestantissimae originem, laudem et abusum posteris produnt / instaurata studio et labore Jo. Christiani Wolfii. Pars Secunda [Theil 2]. Hamburg: Christian Herold, Anno MDCCXL [1740], S. 705‒866. Paulini, Christian Franz: Poetische Erstling, Oder: Allerhand Geist- und Weltliche Teutsche Gedichte, Leipzig / bey Johann Ludwig Gleditsch, 1703.

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6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

‒ Das Hoch= und Wohl=gelahrte Frauenzim[m]er. Nochmahls mit mercklichen Zusatz vorgestellet. Erfurt: Stößel, 1705. Pernauer, Ferdinand Adam von: Almahide/oder / Leibeigne Königin Andere Theil, Aus des Herrn Scudery Französischem ins Hochteutsche übersetzet von Ferdinand Adam Pernauern / Herr von Perney Freyherrn, Dem im löbl. Pegnesischen Blumen=Orden benannten / Dafnis / Nürnberg, In Verlegung Johann Hofmann / Kunst= und Buchändler / 1685. Philopatore: Stärcke der Liebe vorgestellet in des spanischen Marchesen Don Roderigo und der Printzessin Dona Sylvia Manacadada, Staats= und Liebes=Geschichte und zu vergonneter Gemüths=Ergötzung / verfertiget von Philopatore. Hamburg [s.n. = Christian Liebezeit] 1707. Pherophonandro: Die Böse Frau/Das ist: Artige Beschreibung der heut zu Tage in der Welt lebenden Bösen Weiber/Wie nemlich dieselben auff so unterschiedene Art und Weise/nicht so wohl gegen die Männer/als auch unter sich selbst/und gegen männliglich/ihre Bosheit auszuüben wissen/In allerhand lustigen Begebenheiten lebendig vorgestellet von Pherophonandro. [s.n.] Anno 1683. Pinther, Julius Theodor: Chronik der Stadt Chemnitz und Umgebung oder Chemnitz wie es war und wie es ist [1855]. Reprint. Hg. v. Verl. für sächs. Regionalgeschichte. Burgstädt 1997. Polyempirus: Charlatanerie der Buchhandlung, welche den Verfall derselben durch Pfuschereyen, Praenumerationes, Auctiones, Nachdrucken, Trödeleyen u.a.m. befördert / von zwey der Handlung Beflissenen unpartheyisch untersuchet. Reprint d. Ausg. Sachsenhausen, Mistkütze, 1732. Mit einem Nachwort von Karl Klaus Walther. München 1987. Reinwald, Georg Ernst: G. E. Reinwalds Academien= und Studenten=Spiegel: In Welchem Das heutige Leben auf Universitäten gezeiget, geprüfet und beklaget wird. Berlin bey Johann Andreas Rüdiger, 1720. Rotth, Albrecht Christian: Kürtzliche / Doch deutliche und richtige Einleitung zu den Eigentlich so benahmten Poetischen Gedichten / i.e. den Feld=und Hirten=Gedichten / zu den Satyren / zu den Comödien und Trägödien / wie auch zu den Helden= und Liebes=Gedichten / Dabey Theils deren Ursprung / theils ihr Wachsthum und Beschaffenheit / theils wie sie noch itzo müssen eingerichtet werden / vorgestellet wird / Der studirenden Jugend zum besten entworffen von Albrecht Christian Rotthen / des Gymnasii zu Halle in Sachsen ConR. / Leipzig / in Verlegung Friedrich Lanckischen Erben / Anno 1688. Sarcander: Amor auf Universitäten / In verschiedenen Liebes=Intriguen / zu vergönnter Gemüter=Ergötzung vorgestellet von Sarcandern, [s.n.] Cöln 1710. Scheibel, Gottfried Ephraim: Die Unerkannten Sünden der Poeten / Welche man Sowohl in ihren Schriften / als in ihrem Leben / wahrnimmt / Nach den Regeln des Christenthums / und vernünfftiger Sittenlehre / geprüfet von Gottfried Ephraim Scheibel / Collega des Gymnasii zu S. Elisabeth in Breßlau. Leipzig / Verlegts Johann Michael Teubner, 1734. Nachdruck. In: Quellen zur Geschichte des Buchwesens. Bd. 2. Hg. v. Reinhard Wittmann. München 1981.

6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

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Schmeizel, Martin: M. Schmeizels / Rechtschaffener / ACADEMICVS, / Oder / Gründliche Anleitung, / Wie ein / Academischer Student / Seine / Studien und Leben / gehörig einzurichten habe, / Zum Gebrauch / Ordentlicher Lectionen / entworffen. / Nebst einem Vorbericht / I. Von dem Schul=Wesen in Deutschland / überhaupt, / II. Von denen Universitäten überhaupt, / III. Von der zu Halle insonderheit. / HALLE im Magdeburgischen, 1738. / zu finden in der Rengerischen Buchhandl., [1738]. Schwetschke, Gustav: Codex Nundinarius Germaniae Literatae Bisecularis. MeßJahrbücher des deutschen Buchhandels von dem Erscheinen des ersten Meß=Kataloges im Jahr 1564 bis zu der Gründung des ersten Buchhändler=Vereins im Jahre 1765. Halle: Schwetschke, 1850. Scudéry, Madeleine de: Clélie. Histoire romaine. Première Partie. Paris: Courbé, 1654. ‒ Histoire de Mathilde d’Aguilar, Paris Chez Edme Martin et François Eschart, MDCLXVII [1667]. Selamintes [Wendt, Christoph Gottlieb]: Die Glückliche und Unglückliche Liebe: Oder Der Unterscheid der Menschlichen Gemüther / In einigen Wahrhafften Geschichten / so das heutige Seculum, Zum Beweißthum der allgemeinen Thorheit / erleben müssen / Abgebildet von Selamintes. Hamburg / Verlegts Christian Liebezeit / Buchhändler in der St. Johannis Kirchen 1711. Talander [Bohse, August]: Der Liebe Jrregarten / Jn welchem Hoher Personen unterschiedene Liebes=Geschichte sammt andern merckwürdigen Begebenheiten auff das anmuthigste vorgetragen werden / geöffnet durch / Talandern. Leipzig / Verlegts von Johann Caspar Meyern, Anno 1684. ‒ Talanders Liebes=Cabinet der Damen / Oder curieuse Vorstellung der unterschiedlichen Politic und Affecten, welcher sich alles galante Frauen=Zimmer in den Lieben bedienet. Leipzig: Christian Weidmann, 1685. ‒ Amor an Hofe / Oder das spielende Liebes=Glück Hoher Standes=Personen / Cavalliere / und Damen / der Galanden Welt zu vergönneter Gemüths=Ergötzung an das Licht gegeben von Talandern. Mit Churfl. Sächs. Gnäd. Privilegio. Dresden / druckts und verlegts / Christoph Mathesius. 1689 [Neuauflagen 1690, 1691, 1696, 1706, 1710, 1720]. ‒ Die Eifersucht der Verliebten / nach ihren Fehlern und Vortheilen / In einer anmuthigen Liebes=Geschichte der curieusen Welt zu sonderbarer Gemüths=Ergötzung vorgestellet Von Talandern. Leipzig: Friedrich Lankischs Erben, 1689. ‒ Le Mary jaloux / Oder der Eifersüchtige Mann / In einer angenehmen Frantzösischen Liebes=Geschichte vorgestellet / Und aus derselben Zu fernerem Nachsinnen derjenigen Vortheile / so aus ungleichen Heyrathen entstanden / Ins Teutsche übersetzt / Von Talandern. Dreßden. Verlegts Gottfried Kettner / Druckts Johann Riedel, 1689. ‒ Der Allzeitfertige Briefsteller / Oder / Ausführliche Anleitung: wie wohl an hohe Standes=Personen, als an Cavalliere, Patronen, gute Freunde, Kauffleute und auch an Frauenzimmer ein geschickter Brieff zu machen und zu beantworten. Alles mit gnugsamen Disposionen und mehr als vierhundert ausgearbeiteten Brieffen /

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6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

wie auch einen kurtzen Frantzösisch=Teutsch= und Italienischen Titutar=Buch / denen / so ein gutes Concept verfertigen zu lernen begierig sind / zu sonderbaren Nutzen an das Licht gegeben von Talandern. Mit Curfl. Sächs. Gnädigsten Privilegio. Franckfurt und Leipzig / Zu finden bey Johann Theodor Boetio, Buchhändlern in Dreßden. Anno 1692 [Erstausgabe Frankfurt/Leipzig: Boetius 1690]. Des Galanten Frauenzimers Secretariat Kunst oder Liebes= und Freundschaffts Brieffe / in neun Abtheilungen / deren iede hundert Brieffe in sich hält nebst einem nöthigen Titular=Büchlein und vollständigen Register / der curieusen Welt zur Ergötzung und beliebter Nachahmunng an das Licht gegeben von Talandern. Leipzig / Verlegts Johann Friedrich Gleditsch, Anno 1692. Der getreuen Bellamira wohlbelohnte Liebes=Probe: Oder / Die triumphirende Beständigkeit / In einem cuieusen Roman / Der galanten Welt / Zu vergönnter Gemüths=Ergötzung an das Licht gegeben von Talandern. Leipzig / Verlegts Moritz Georg Weidmann / Druckts Christian Scholvien / A[nn]o 1692. Schauplatz Der Unglückseligen=Verliebten / Welche sich Unter der Regierung Carl des achten / Königes von Franckreich befunden / In einem annehmlichen Roman / Zu vergönnter Gemüths=Ergötzung Der galanten Welt eröffnet von Talandern. Leipzig / In Verlegung Moritz Georg Weidmanns. Anno 1693. Neu=eröffnetes Liebes=Cabinet des galanten Frauenzimers / Oder: Curiose Vorstellung der unterschiedlichen Politic u. Affecten / Welcher sich alle galante Damen im Lieben bedienen / Vorgestellet von Talandern. Leipzig: verlegts Friedrich Groschuff anno 1694. Die Durchlauchtigste Olorena / Oder Warhafftige Staats= und Liebes=Geschichte dieser Zeit / Welche wegen sonderlicher Glücks=Fälle / und des / wider die zwey mächstigsten Staaten von Europa / bewehrten Heldenmuths / des unvergleichlichen Carlloreno merckwürdig ist / Zu vergönneter Gemüths=Ergötzung in Druck befördert von Talandern. Leipzig / In Verlegung Moritz Georg Weidmanns, 1694. Die Amazoninnen aus dem / Kloster / in einer angenehmen Liebes=Geschichte / Zu vergönnter Gemüthsergötzung / auffgeführet / von Talandern. / Cölln / Bey Johann Ludwig Gleditschen und M.G. Weibmanns Erben. / 1696. Amor am Hofe / Oder / Das spielende Liebes=Glück Hoher Standes=personen / Cavalliere und Damen / Anderer und Letzter Theil / Der Galanten Welt Zu vergönneter Gemüths=Ergötzung an das Licht gegeben von Talandern. Mit Cursfl. Sächs. Gnäd. Privilegio. / Dresden / Bey Johann Theodoro Boetio. Im Jahr 1696. Des Französischen Helicons Monats=Früchte / Oder getreue Ubersetzung und Auszüge allerhand curiöser und auserlesener Französischer Schrifften / Von Staats=Welt=und Liebes=Händeln / wie auch andern Moralischen/Geographischen und dergleichen lesenswürdigen Materien / zu vergnönnter Gemüths=Ergötzung überreichet […] von Talandern. Leipzig: Gleditsch, 1696‒1703. Schauplatz der Unglückselig=Verliebten / Welche sich unter der Regierung Carl des Achten / König von Franckreich befunden / In einem annehmlichen Roman

6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

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der galanten Welt zu vergönnter Gemüths=Ergetzung eröffnet von Talandern. Verlegts Johann Ludwig Gleditsch und M.G. Weidmanns Erben / Anno 1697. ‒ Neu=Erleuterter Brieffsteller / Das ist: Gründliche Anweisung / wie ein geschickter deutscher Brief so wohl an Standes=Personen und Cavalliere / Kriegs=Bediente / Gelehrte und Kauffleute / als auch an Frauenzimmer abzufassen / Alles mit neu=ausgearbeiteten Exempeln und unter galanten Leuten eingeführten FORMULN; Nebst einem in vier Sprachen abgefassten vollständigen Titular=Büchlein und ausführlichen Dolmetscher Aller ausländischen Wörter / die sich bißhero in Briefen und Avisten eingeschlichen haben / vorgestellet von Talandern. Leipzig / verlegts Joh. Friedr. Gleditsch. Im Jahr Christi 1697. ‒ Curieuse und Historische Reisen durch Europa / Darinnen aller dieses Welt=Theils bewohnenden Völcker Uhrsprung / Religion / Sitten und Gebräuche / nebst der Regiments=Art und ihrer Stärcke oder Kriegs=Macht begriffen […] Aus der Französischen Sprache in unsere Hochteutsche übersetzet / und mit einigen Anmerckungen auch voll=ständigen Register versehen / von Talandern. Verlegts Johann Ludwig Gleditsch / und M.G. Weidmans seel. Erben, 1698 [s.l., Leipzig]. ‒ Die Liebenswürdige Europäerin Constantine In einer wahrhafftigen und anmuthigen Liebes=Geschichte dieser Zeit / Der galanten und curieusen Welt zu vergönneter Gemüths=Ergötzung vorgestellet von Talandern. Franckfurth und Leipzig / Verlegts Christoph Hülße / Anno 1698. Unveränd. Nachdr., Frankfurt a.M. 1970. ‒ Ariadnens königlicher Printzeßin von Toledo Staats= und Liebes=Geschichte: Nebst einer Vorrede, wie weit die unter seinem Nahmen herausgekommne Liebenswürdige Europäerin Constantine vor seine Arbeit zu halten / Zu vergönnter Gemüths=Ergötzung an das Licht gegeben von Talandern. Leipzig / Bey Johann Ludwig Gleditsch, anno 1699. ‒ Gründliche Einleitung zun Teutschen Briefen / Nach den Haupt=Reguln der teutschen Sprache eröffnet / Und allen Liebhabern eines teutschen Concepts, sonderlich aber Denen zum Nutzen abgefasset / So des Autoris Collegia in diesem nöthigem Studio frequentiren / Auch nach gegebenen richtigen Lehr=Sätzen mit einer Jetzt üblichen Titulatur und allerhand Brief=Mustern erläutert Von Talandern. Bey Ernest Claude Bailliar, MDCCVI [1706] [Erstausgabe 1700]. ‒ Talanders / Letztes / Liebes= und Helden=Gedichte / der galanten Welt / Zu vergönnter Gemüths=Ergötzung / aus schuldigster Erkenntnis vor die gnädige und gütige Aufnahme seiner bißherigen / Romanen überreichet / und nebst / Einem Verzeichniß aller seiner im Druck / befindlichen Schriften ans Licht / gegeben / Im Jahr 1706. / Zu finden bey Johann Ludwig Gleditsch / in Leipzig [1706]. ‒ Der getreue Hoffmeister adelicher und bürgerlicher Jugend / oder Auffrichtige Anleitung / wie so wohl ein junger von Adel als anderer / der von guter Extraction, soll rechtschaffen aufferzogen werden / er auch seine Conduite selbst einrichten und führen müsse / damit er beydes auff Universitäten / als auf Reisen

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6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

und Hofe / sich beliebt machen / und in allerhand Conversation mit Manns=Personen und Frauenzimmer vor einen klugen und geschickten Menschen passiren möge. Allen denen / so Tugend und Ehre lieben / zu verhoffenden Nutzen an das Licht gegeben von Talandern. Leipzig / in Verlag Joh. Ludw. Gleditsch Anno 1706 [Erstausgabe Leipzig: Johann Ludwig Gleditsch, 1703]. ‒ Curieuse und deutliche Vorstellung unterschiedlicher Politic und Affecten / deren sich alles galante Frauen=Zimmer im Lieben bedienet / da denn unter anmuthigen Liebes=Verwirrungen und eingemischten Regeln das Naturel honetter Damen Zu vergönneter Gemüths=Ergötzung in zweyen Theilen entdecket wird von Gustav Hobes, welcher zuletzt beygefüget Eine merckwürdige Deducation, daß eine kluge und sinnreiche Frau die Gesetze ihrer Ehe zu bewahren / oder so sie etwan aus Schwachheit gefehlet / ihren Fehler galant und vernünfftig zu verbergen wisse / hingegen eine Einfältige und Dumme solches nicht thun könne. Liebenthal zu finden bey Hermann von der Linden [Leipzig: Friedrich Groschuff] / 1708. Tentzel, Wilhelm Ernst: CURIEUSE BIBLIOTEC, Oder Fortsetzung Der Monatlichen Unterredungen einiger guten Freunde / Von allerhand Büchern und andern annehmlichen Geschichten / allen Liebhabern der Curiositäten zur Ergötzlichkeit und Nachsinnen vormahls heraus gegeben Von Anno 1689 bis 1698. Durch Wilhelm Ernst Tentzeln / Kön. Poln. und Churfl. Sächs. Rath und Historiographum in Dreßden. Des ersten Repositorii erstes Fach 1704. Franckfurt und Leipzig / Bey Philip Wilhelm Stock [Bde. 1–3: Frankfurt/Leipzig: Philipp Wilhelm Stock, 1704–1706]. Der Unglückseelige [Stubenberg, Johann Wilhelm von]: Clelia. Eine Römische Geschichte / Durch Herrn von Scuderi, Königl. Französ. Befehl=habern zu unser Frauen de la Garde, in Frantzösischer Sprache beschrieben; anitzt aber ins Hochdeutsche übersetzet Durch ein Mitglied der hochlöbl. Frucht=bringenden Gesellschaft, den Unglückseeligen. Nürnberg / in Verlegung Michael und Joh[ann] Friedr[ich] Endtern / 1664. Veramor: Die Teutsche Avanturiere / oder wahrhaffte Geschichte, wunderbare fata und gar besondere Begegenheiten eines charmanten Bürger=Mädgens in Tilinien [s.l.] 1725. Voitüre, Vincent: Les Oeuvres de Voiture, Paris: Courbé, 1650. Deutsche Übersetzung 1672: [anonym]: Liebes Und Lebens-Geschichte des Alcidalis Und der Zelide. Erstmals durch Vincent Voiture (1597–1648) hervorgebracht. Theils aus dem Frantzösischen ins Teutsche übersetzet / theils vollends ergäntzet und außgeführet Durch A.M. / Hats verleget Rupertus Völcker Buchhändler in Berlin. Franckfrut an der Oder Druckts Andreas Becmann / Anno 1672. Will, Georg Andreas: Nürnbergisches Gelehrten=Lexicon oder Beschreibung aller Nürnbergischen Gelehrten beyderley Geschlechtes nach Ihrem Leben / Verdiensten und Schrifften zu Erweiterung der gelehrten Geschichts=kunde und Verbesserung vieler darinnen vorgefallenen Fehler aus den besten Quellen in alphabetischer Ordnung verfasset von Georg Andreas Will […], Dritter Theil von

6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

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N–S. Nürnberg und Altdorf, zu finden bey Lorenz Schüpfel der Lobl. Univers. Buchhändlern, 1757. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal=Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […]. Bd. 58. Hg. v. Johann Heinrich Zedler, Johann Peter Ludewig u. Carl Günther Ludovici. Halle und Leipzig, Verlegts Johann Heinrich Zedler, 1748.

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6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

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6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

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Hausen, Karin: Die Polarisierung der ‚Geschlechtercharaktere‘. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Hg. v. Werner Conze. Stuttgart 1976, S. 367–393. Heinlein, Otto: August Bohse ‒ Talander als Romanschriftsteller der galanten Zeit. Bochum 1939. Heinzelmann, Elke: Kontroverser Diskurs im 18.  Jahrhundert über die Natur der Frau, weibliche Bestimmung, Mädchenerziehung und weibliche Bildung. Berlin 2007. Held, Jutta (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit. München 2002. Hermann, Britta: ‚Wir leben in einem colossalen Roman‘. Fiktivität und Faktizität um 1800. In: Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle (1750–1850). Hg. v. ders. u. Barbara Thums. Würzburg 2003, S. 115–138. Herzog, Urs: Der deutsche Roman des 17. Jahrhunderts. Eine Einführung. Stuttgart 1976. Heuser, Magdalene: ‚Ich wollte dieß und das von meinem Buche sagen, und gerieth in ein Vernünfteln‘. Poetologische Reflexionen in den Romanvorreden. In: Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800. Hg. v. Helga Gallas u. Magdalene Heuser. Tübingen 1990, S. 52–65. Hinderer, Walter: Liebessemantik als Provokation. In: Codierungen von Liebe in der Kunstperiode. Hg. v. Walter Hinderer u. Alexander von Bormann. Würzburg 1997, S. 311–338. Hirschauer, Stefan: Hermaphroditen, Homosexuelle und Geschlechtswechsler. Transsexualität als historisches Projekt. In: Geschlechtsumwandlung. Abhandlungen zur Transsexualität. Hg. v. Friedemann Pfäfflin u. Astrid Junge. Stuttgart 1992, S. 55‒94. ‒ Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung. In: Geschlechtersoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 41. Hg. v. Bettina Heintz. Köln 2001, S. 208‒235. Holm, Christiane: Die verliebte Psyche und ihr galanter Bräutigam. Das RomanProjekt von Susanna Elisabeth und Johann Ludwig Prasch. In: Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle. Hg. v. Thomas Borgstedt u. Andreas Solbach. Dresden 2001, S. 53–85. Horn, Franz: Die Poesie und Beredsamkeit der Deutschen, von Luthers Zeit bis zur Gegenwart. Berlin 1823. Hufschmidt, Anke: Adlige Frauen im Weserraum zwischen 1570‒1700. Status, Rollen, Lebenspraxis. Münster 2001. Inhetveen, Heide: ‚Ich ergreife mit vielen Vergnügen die Feder‘. Die landwirtschaftlichen Briefe der Henriette Charlotte von Itzenplitz an Albrecht Daniel Thaer um 1800. Bliesdorf 2013. Jaumann, Herbert: Satire zwischen Moral, Recht und Kritik. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Satire im 17. Jahrhundert. In: Simpliciana 13 (1991), S. 15‒27.

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6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

‒ Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden 1995. Jütte, Robert: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München 1991. Kablitz, Andreas: Mimesis versus Repräsentation. Die Aristotelische Poetik in ihrer neuzeitlichen Rezeption. In: Aristoteles. Poetik. Hg. v. Otfried Höffe. München 2010, S. 215–232. Kaminski, Nikola: Über die Schwelle der Un/Aufrichtigkeit. Die ‚Wahrhafftigkeit‘ von Talanders Liebenswürdiger Europäerin Constantine. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hg. v. Claudia Benthien u. Steffen Martus. Tübingen 2006, S. 311–327. Kauer, Ute: Narration und Gender im englischen Roman vom 18. Jahrhundert bis zur Postmoderne. Heidelberg 2003. Kayling, Vanessa: Die Rezeption und Modifikation des platonischen Eros-Begriffs in der französischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts unter Berücksichtigung der antiken und italienischen Tradition. Bonn 2010. Kayser, Christian Gottlob: Christian Gottlob Kayser’s vollständiges Bücher-Lexikon. Enthaltend alle von 1750 bis zu Ende d. Jahres 1910 in Deutschland u. in d. angrenzenden Ländern gedruckten Bücher u. Landkarten. Index locupletissimus librorum. Leipzig 1972. Kayser, Werner: Hamburger Bücher. 1491–1850. Aus der Hamburgensien-Sammlung der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Hamburg 1973. Kemper, Hans-Georg: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/I: Aufklärung und Pietismus. Tübingen 1991. Kendell, Walton L.: Fearning Fictions [1978], dt.: Furcht vor Fiktionen. In: Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie. Hg. v. Maria R. Reichert. 2. Aufl., Paderborn 2010, S. 94‒119. Kirchhoff, Albrecht: Versuch einer Geschichte des deutschen Buchhandels im XVII. und XVIII. Jahrhundert bis zu Reich’s Reformbestrebungen. Leipzig 1853. ‒ Lesefrüchte aus dem Archiv der kursächsischen Bücher-Commission zu Leipzig. In: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels 8 (1883), S. 78–122. ‒ Der ausländische Buchhandel in Leipzig im 18. Jahrhundert. In: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels 14 (1891), S. 155–182. ‒ Lesefrüchte aus den Acten des städtischen Archivs zu Leipzig. In: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels 14 (1891), S. 196–269. ‒ Zum Firmenrecht. In: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels 14 (1891), S. 363–366 ‒ Lesefrüchte aus den Acten des städtischen Archivs zu Leipzig. In: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels 15 (1892), S. 189–297. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800–1900. 4. Aufl., München 2003. Kelchner, Ernst: Art. Johann Friedrich Gleditsch u. Johann Ludwig Gleditsch. In: Allgemeine Deutsche Biographie 9 (1879), S. 222‒224.

6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

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Kleinschmidt, Erich: Gradationen der Autorschaft. Zu einer Theorie paratextueller Intensität. In: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Theorie, Formen, Funktionen. Hg. v. Frieder von Ammon u. Herfried Vögel. Berlin 2008, S. 1–17. Klinger, Cornelia: Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht. In: Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II. Hg. v. Gudrun-Axeli Knapp u. Angelika Wetterer. Münster 2003, S. 14– 48. Klinger, Judith u. Thiemann, Susanne (Hg.): Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit. Potsdam 2006. Kloss, Gerrit: Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit im 9. Kapitel der aristotelischen ‚Poetik‘. In: Rheinisches Museum 146 (2003), S. 160–183. Knapp, Fritz Peter u. Niesner, Manuela (Hg.): Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter. Berlin 2002. Könneker, Barbara: Satire im 16. Jahrhundert: Epoche – Werk – Wirkung. München 1991. Kohl, Katrin Maria: Poetologische Metaphern. Formen und Funktionen in der deutschen Literatur. Berlin 2007. Kolesch, Doris: Kartographie der Emotionen. In: Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. Hg. v. Helmar Schramm, Ludger Schwarte u. Jan Lazardzig. Berlin 2003. Koloch, Sabine: Kommunikation, Macht, Bildung. Frauen im Kulturprozess der Frühen Neuzeit. Berlin 2011. Kord, Susanne: Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft 1700–1900. Stuttgart 1996. Kraft, Stefan: Geschlossenheit und Offenheit der ‚Römischen Octavia‘ von Herzog Anton Ulrich, ‚der roman macht ahn die ewigkeit gedencken, den er nimbt kein endt‘. Würzburg 2004. Krieg, Walter: Materialien zu einer Entwicklungsgeschichte der Bücher-Preise und des Autoren-Honorars vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Nebst einem Anhange Kleine Notizen zur Auflagengeschichte der Bücher im 15. und 16. Jahrhundert. Wien u.a. 1953. Krille, Annemarie: Beiträge zur Geschichte der Musikerziehung und Musikübung der deutschen Frau (1750–1820). Berlin 1938. Kroll, Renate: Femme poète. Madeleine de Scudéry und die ‚poésie précieuse‘. Tübingen 1996. Lanser, Susan Sniader: Fictions of Authority. Women Writers and Narrative Voice. Ithaca/N.Y. 1992. Lämmert, Eberhard u. Wahrenburg, Fritz (Hg.): Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland. 2 Bde. Köln 1971. Lehmann, Christine: Das Modell Clarissa. Liebe, Verführung, Sexualität und Tod der Romanheldinnen des 18. und 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1991.

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6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

Lehnert, Gertrud: Maskeraden und Metamorphosen. Als Männer verkleidete Frauen in der Literatur. Würzburg 1994. Lindemann, Mary: Gender tales. The multiple identities of Maiden Heinrich, Hamburg 1700. In: Gender in early modern German history. Hg. v. Ulinka Rublack. Cambridge 2002, S. 131‒151. Lindner, Ernst Otto: Die erste stehende Deutsche Oper. Berlin 1855. Lißmann, Katja: Der pietistische Brief als Bildungs- und Aneignungsprozess. Anna Magdalena von Wurm in ihren Briefen an August Hermann Francke (1692‒1694). In: Vormoderne Bildungsgänge. Selbst- und Fremdbeschreibungen in der frühen Neuzeit. Hg. v. Juliane Le Jacobi u.a. Köln 2010, S. 63–79. Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000. Losfeld, Christophe: Galanterie in Frankreich. Genese und Niedergang eines Verhaltensideals. In: Galanterie und Frühaufklärung. Hg. v. Daniel Fulda. Halle a.S. 2009, S. 13–50. Lumme, Christoph: Höllenfleisch und Heiligtum. Der menschliche Körper im Spiegel autobiographischer Texte des 16. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1996. Lutz, Helma u. Wenning, Norbert: Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatte. In: Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Hg. v. Helma Lutz u. Norbert Wenning. Opladen 2001. Maas, Utz: Der Ausbau des Deutschen zur Schriftsprache. In: Euphorion 108 (2014), H. 3, S. 325‒363. Martens, Wolfgang: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1971. ‒ Leserezepte fürs Frauenzimmer. Die Frauenzimmerbibliotheken der deutschen Moralischen Wochenschriften. In: Archiv für die Geschichte des deutschen Buchwesens 15 (1975), S. 1143–1200. Martinez, Matias u. Scheffel Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 7. Aufl., München 2007. Meid, Volker: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung 1570–1740. München 2009. ‒ (Hg.): Geschichte des deutschsprachigen Romans. Bearbeitet v. Heinrich Detering u.a. Stuttgart 2013. Meise, Helga: Die Unschuld und die Schrift. Deutsche Frauenromane im 18. Jahrhundert. Berlin 1983 (zweite Aufl. 1992). Mezei, Kathy: Who Is Speaking Here? Free Indirect Discourse, Gender and Authority in Emma, Howard’s End, and Mrs. Dalloway. Chapel Hill 1996. ‒ Ambiguous discourse. Feminist narratology and British women writers. Chapel Hill 1996. Mertens, Eberhard: Innovation und Tradition: Die Weidmannsche Verlagsbuchhandlung 1680‒2005. In: 60 Jahre Georg Olms – 325 Jahre Weidmann. Hildesheim 2006, S. 33‒43.

6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

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Messerli, Alfred: Gebildet, nicht gelehrt. Weibliche Schreib- und Lesepraktiken in den Diskursen vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Die lesende Frau. Hg. v. Gabriela Signori. Wiesbaden 2009, S. 295–320. ‒ Leser, Leserschichten und -gruppen, Lesestoffe in der Neuzeit (1450–1850): Konsum, Rezeptionsgeschichte, Materialität. In: Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch. Hg. v. Ursula Rautenberg. Berlin 2010, S. 443–518. Meusel, Johann Georg: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen Teutschen Schriftsteller. Bd. 4. Leipzig 1804. Meyer, F. Hermann: Die geschäftlichen Verhältnisse des deutschen Buchhandels im 18. Jahrhundert, in: Archiv für die Geschichte des deutschen Buchhandels 5 (1880), S. 176–179. ‒ Druckkosten im 17. und 18. Jahrhundert. In: Archiv für die Geschichte des deutschen Buchhandels 6 (1881), S. 276‒279. Mommertz, Monika: Geschlecht als ‚tracer‘: Das Konzept der Funktionenteilung als Perspektive für die Arbeit mit Geschlecht als analytischer Kategorie in der frühneuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte. In: Nonne, Königin und Kurtisane. Hg. v. Michaela Hohkamp u. Gabriele Jancke. Königstein i.T. 2004, S. 17–38. Moore, Cornelia Niekus: The Poetess Aramena and Her Novel Margaretha von Österreich. Women Writing Novels. In: Daphnis 17 (1988), S. 481–491. Mourey, Marie-Thérèse: Um Lohensteins Sophonisbe (1669/1680). Einleitung. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 37 (2010), H. 1/2, S. 1–3. Münster, Reinhold: Friedrich von Hagedorn. Personalbibliographie. Mit einem Forschungsbericht und einer Biographie des Dichters. Würzburg 2001. Neumann, Birgit u. Nünning, Ansgar: Probleme, Aufgaben und Perspektiven der Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. In: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Hg. v. Marion Gymnich, Birgit Neumann u. Ansgar Nünning. Trier 2007, S. 1–28. Neumeyer, Jochen: Person, Fiktion, Recht. Verletzungen des Persönlichkeitsrechts durch Werke der fiktionalen Kunst. Baden-Baden 2010. Nieberle, Sigrid u. Strowick, Elisabeth (Hg.): Narration und Geschlecht. Texte ‒ Medien ‒ Episteme. Köln 2006. Nieberle Sigrid: Gender Studies und Literatur. Eine Einführung. Darmstadt 2013. Niderst, Alain, Denis, Delphine u. Maître, Myriam (Hg.): Chroniques du Samedi. Suivies de pièces diverses (1653‒1654). Madeleine de Scudéry, Paul Pellisson et leurs amis. Paris 2002. Nünning, Vera u. Nünning, Ansgar (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart 2004. ‒ Von der feministischen Narratologie zur gender-orientierten Erzähltextanalyse. In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hg. v. Vera Nünning u. Ansgar Nünning. Stuttgart 2004, S. 1–32. Nusser, Peter: Romane für die Unterschicht. Groschenhefte und ihre Leser. 5. Aufl., Stuttgart 1981.

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6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

‒ Unterhaltung und Aufklärung. Studien zur Theorie, Geschichte und Didaktik der populären Lesestoffe. Frankfurt a.M. 2000. Öhlschläger, Claudia: Gender/Körper, Gedächtnis und Literatur. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hg. v. Astrid Erll u. Ansgar Nünning. Berlin/New York 2005, S. 227–248. Ohnesorg, Stefanie: Mit Kompass, Kutsche und Kamel: (Rück-)Einbindung der Frau in die Geschichte des Reisens und der Reiseliteratur. St. Ingbert 1996. Opitz-Belakhal, Claudia: Geschlechter-Geschichte. Frankfurt a.M. 2010. Paisey, David L.: Deutsche Buchdrucker, Buchhändler und Verleger 1701–1750. Wiesbaden 1988. Pelous, Jean-Michel: Amour précieux, amour gallant (1654–1675). Essai sur la représentation de l’amour dans la littérature et la société mondaines. Paris 1980. Pelz, Annegret: ‚Ob und wie Frauenzimmer reisen sollen?‘. Das reisende Frauenzimmer als Entdeckung des 18. Jahrhunderts. Oldenburg 1993. Penzkofer, Gerhard: L’art du mensonge. Erzählen als barocke Lügenkunst in den Romanen von Mademoiselle de Scudéry. Tübingen 1998. Peter, Alexandra-Bettina: Vom Selbstverlust zur Selbstfindung. Erzählte Eifersucht in Frankreich des 17. Jahrhunderts. 2. Aufl., Berlin 2011. Piller, Gudrun: Private Körper. Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts 2007. Porter, Roy: History of the body. In: New perspectives on historical writing. Hg. v. Peter Burke. Cambridge 1991, S. 206–232. Quester, Yong-Mi: Frivoler Import: Die Rezeption freizügiger französischer Romane in Deutschland (1730 bis 1800). Tübingen 2006. Quinkertz, Ute: Zur Analyse des Erzählmodus und verschiedener Formen von Figurenrede. In: Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Hg. v. Peter Wenzel. Trier 2004, S. 141–161. Raabe, Mechthild: Leser und Lektüre im 18.  Jahrhundert. Die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1714–1799. Teil B, Bd. 1: Die Leser und ihre Lektüre. München, 1989. ‒ Leser und Lektüre im 17.  Jahrhundert. Die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1664–1713. Teil A, Bd. 1: Leser und Lektüre, Lesergruppen und Lektüre. München 1998. Reske, Christoph: Die Buchdrucker des 16. und 17.  Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzing. Wiesbaden 2007. Richter, Dieter: Die Angst des Reisenden, die Gefahren der Reise. In: Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. Hg. v. Hermann Bausinger u.a. München 1991, S. 100‒107. Roßbach, Nikola: Der böse Frau. Die Malus Mulier-Texte der Frühen Neuzeit. Königstein i.T. 2009.

6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

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‒ Wissenstransfer – Lexikographie – Gender: Gottlieb Siegmund Corvinus’ Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon. In: Gellert und die empfindsame Aufklärung. Vermittlungs-, Austausch- und Rezeptionsprozesse in Wissenschaft, Kunst und Kultur. Hg. v. Sibylle Schönborn u. Vera Viehöver. Berlin 2009, S. 175–188. Rose, Dirk: Galanter Roman und klassische Tragödie: Hunolds ‚Europäische Höfe‘ und Schillers ‚Prinzessin von Zelle‘ im gattungsgeschichtlichen Kontext. In: Aufklärung und Weimarer Klassik im Dialog. Hg. v. André Rudolph u. Manfred Beetz. Tübingen 2009, S. 1–28. ‒ Conduite und Text. Paradigmen eines galanten Literaturmodells im Werk von Christian Friedrich Hunold (Menantes). Berlin/Boston 2012. Rublack, Ulinka: Dressing up. Cultural identity in Renaissance Europe. Oxford 2010. Schamel, Christine: Vom Kampf der Geschlechter zur Utopie des Ausgleichs. Die Überzeitlichkeit der Mann-Frau-Beziehung bei Madeleine de Scudéry, Ninon de Lenclos, Crébillon fils, Laclos, Preziösensatirikern und Romankritikern. Frankfurt a.M. 1999. Schieth, Lydia: Die Entwicklung des deutschen Frauenromans im ausgehenden 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte. Frankfurt a.M. 1987. Schlimmer, Angelika: Der Roman als Erziehungsanstalt für Leser. Zur Affinität von Gattung und Geschlecht in Friedrich von Blanckenburgs ‚Versuch über den Roman‘ (1774). In: Das Achtzehnte Jahrhundert 29/2 (2005), S. 209–221. Schmidt, Rudolf: Deutsche Buchhändler, deutsche Buchdrucker. Beiträge zu einer Firmengeschichte des deutschen Buchgewerbes. Hildesheim 1979 (= Nachdruck der Ausgabe Berlin 1902–1908). Schmidt-Kohberg, Karin: Repräsentationen gelehrter Frauen in Frauenzimmer-Lexika des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Nonne, Königin und Kurtisane. Wissen, Bildung und Gelehrsamkeit von Frauen in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Michaela Hohkamp u. Gabriele Jancke. Königstein i.T. 2004, S. 135–152. Schneider, Margot: ‚Amour Passion‘ in der Literatur des 17. Jahrhunderts, insbesondere im Werk Mme. de La Fayettes. Darmstadt 1983. Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1987. ‒ Weibliches Lesen: Romanleserinnen im späten 18. Jahrhundert. In: Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800. Hg. v. Helga Galla u. Magdalene Heuser. Tübingen 1990, S. 20–40. Schubert, Ernst: August Bohse, genannt Talander. Ein Beitrag zur Geschichte der galanten Zeit in Deutschland. Breslau 1911. Schumann, Jutta: Die andere Sonne. Kaiserbild und Medienstrategien im Zeitalter Leopolds I. Berlin 2003. Sieber, Andrea: Der Fall Achilles: Begehren und gender-Dynamik im mittelalterlichen Antikenroman. In: Emotionen in Geschlechterverhältnissen. Affektregu-

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6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

lierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel. Hg. v. Sabine Flick. Bielefeld 2009, S. 125–140. Siegert, Reinhard: Nachdruck und ‚Reichsbuchhandel‘. Zu zwei Stiefkindern der Buchhandelsgeschichte. In: Buchkulturen. Beiträge zur Geschichte der Literaturvermittlung. Festschrift für Reinhard Wittmann. Hg. v. Monika Estermann, Ernst Fischer u. Ute Schneider. Wiesbaden 2005, S. 265–281. Signori, Gabriela (Hg.): Die lesende Frau. Wiesbaden 2009. Simons, Olaf: Marteaus Europa oder der Roman, bevor er Literatur wurde. Eine Untersuchung des deutschen und englischen Buchangebots der Jahre 1710 bis 1720. Amsterdam 2001. Simons, Olaf u. Gaab, Hans: Johann Leonhard Rost – ‚Romanist‘ und Astronom. In: Astronomie in Nürnberg. Hg. v. Gudrun Wolfschmidt. Hamburg 2010, S. 305‒331. Singer, Herbert: Der galante Roman. Stuttgart 1961. ‒ Der deutsche Roman zwischen Barock und Rokoko. Köln 1963. Solte-Gresser, Christiane; Emmerich, Wolfgang u. Jäger, Hans Wolf (Hg.): Eros und Literatur. Liebe in Texten von der Antike bis zum Cyberspace. Festschrift für Gert Sautermeister. Bremen 2005. Stauffer, Isabelle: ‚Querelle im galanten Gewand‘: Maria Katharina Stockfleths ‚Die Kunst- und Tugend-gezierte Macarie‘. In: Feministische Studien 25/1 (2007), S. 25–39. ‒ Verführende SchriftKörper? Liebe, Ekel und Tod bei Christian Friedrich Hunold. In: Deutsche Vierteljahrschrift für Literatur- und Geistesgeschichte 1 (2009), S. 128–144. ‒ Die Scudéry-Rezeption im Pegnesischen Blumenorden. Galanterietransfer aus genderkritischer Sicht. In: Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. v. Ruth Florack u. Rüdiger Singer. Berlin/Boston 2012, S. 251‒273. ‒ Zwischen Frankreich und Deutschland übersetzen. Landes- und Sprachgrenzen in der galanten Literatur. In: Die Erschließung des Raumes. Konstruktion, Imagination und Darstellung von Räumen und Grenzen im Barockzeitalter. Bd. 2. Hg. v. Karin Friedrich. Wiesbaden 2014, S. 781‒798. Steidele, Angela: In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Magaretha Linck alias Anastasius Langrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721. Biographie und Dokumentation. Köln 2004. Steigerwald, Jörn: L’appropriation culturelle de la galanterie en Allemagne. Christian Thomasius lecteur de Madeleine de Scudéry. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1/2 (2008) S. 31–46. ‒ Galanterie als Kristallisations- und Kreuzungspunkt um 1700: Eine Problemskizze. In: Galanterie und Frühaufklärung. Hg. v. Daniel Fulda. Halle a.S. 2009, S. 51–79. ‒ Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650‒1710). Heidelberg 2011.

6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

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‒ Affekt-Erzählungen. Die galanten Novellen Scudérys und Villedieus. In: Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. v. Ruth Florack u. Rüdiger Singer. Berlin/Boston 2012, S. 179‒196. Steinecke, Hartmut u. Wahrenburg, Fritz (Hg.): Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Stuttgart 1999. Steinecke, Hartmut (Hg.): Romanpoetik in Deutschland. Von Hegel bis Fontane. Tübingen 1984. Stockhorst, Stefanie: Reformpoetik. Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten. Tübingen 2008. ‒ Rinazimentales ‚self-fashioning‘ in der Wahrnehmung um 1800. Zur Formierung des neuzeitlichen Geniebegriffs am Beispiel der Vita von Benvenuto Cellinis. In: Euphorion 109 (2015), H. 1, S. 1‒20. Sulzgruber, Andreas: Johann Gottfried Schnabels ‚Der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Cavalier‘ als Unterhaltungslektüre. In: Delectatio. Unterhaltung und Vergnügen zwischen Grimmelshausen und Schnabel. Hg. v. Franz M. Eybl u. Irmgard M. Wirtz. Bern 2009, S. 207‒233. Thiemann, Susanne: Sex trouble. Die bärtige Frau bei José de Ribera, Luis Vélez de Guevara und Huarte de San Juan. In: Geschlechtervariationen. Gender-Konzepte im Übergang zur Neuzeit. Hg. v. Judith Klinger u. Susanne Thiemann. Potsdam 2006, S. 47‒82. Tiemann, Hermann: Die heroisch-galanten Romane August Bohses. Kiel 1932. Ulricht, Otto (Hg.): Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit. Köln 1995. Viala, Alain: L’esprit galant. In: L’esprit galant au XVIIᵉ siècle. Hg. v. Francois Lagarde. Paris 1997, S. 53–74. Voßkamp, Wilhelm: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg. Stuttgart 1973. ‒ Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte. Hg. v. Walter Hinck. Heidelberg 1977, S. 27–44. Waldberg, Max von: Art. Rost. In: Allgemeine Deutsche Biographie 29 (1889), S. 274–276. Walgenbach, Katharina; Dietze, Gabriele; Hornscheidt, Antje u. Palm, Kerstin (Hg.): Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen/Farmington Hills 2007. Walther, Karl Klaus: Die deutschsprachige Verlagsproduktion von Pierre Marteau / Peter Hammer, Köln. Zur Geschichte eines fingierten Impressums. Leipzig 1983. Wagniart, Anne: Lohensteins Sophonisbe und die Polemik um die politische Ausrichtung des schlesischen Kunstdramas. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 37 (2010), H. 1/2, S. 83–101. Warhol, Robyn R.: Gendered Interventions: Narrative discourse in the Victorian novel. New Brunswick 1989.

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6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

Weber, Ernst (Hg.): Texte zur Romantheorie I (1626–1731). Mit Anmerkungen, Nachwort und Bibliographie. München 1974. ‒ Die poetologische Selbstreflexion im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts. Zu Theorie und Praxis von Roman, Historie und pragmatischem Roman. Stuttgart u.a. 1974. Weber, Ernst u. Mithal, Christine: Deutsche Originalromane zwischen 1680 und 1780: Eine Bibliographie mit Besitznachweisen (Bundesrepublik Deutschland u. Deutsche Demokrat. Republik). Berlin 1983. Weller, Emil: Die maskirte Literatur der älteren und neueren Sprachen. Leipzig 1856. ‒ Die falschen und fingierten Druckorte. Repertorium der seit Erfindung der Buchdruckerkunst unter falscher Firma erschienenen deutschen, lateinischen und französischen Schriften. Erster Bd., 2. verm. u. verb. Aufl., Leipzig 1864. Wenzel, Peter: Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier 2004. Werber, Niels: Liebe als Roman: zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. München 2003. Wiemers, Gerald: Alma mater Lipsiensis. In: Leipzig als ein Pleißathen. Eine geistesgeschichtliche Ortsbestimmung. Hg. v. Axel Frey u. Bernd Weinkauf. Leipzig 1995, S. 12–40. Wiggin, Bethany: Novel Translations. The European Novel and the German Book 1680‒1730. New York 2011. Willenberg, Jennifer: Distribution und Übersetzung englischen Schrifttums im Deutschland des 18. Jahrhunderts. München 2008. Wirth, Uwe: Das Vorwort als performative, paratextuelle und parergonale Rahmung. In: Rhetorik. Figuration und Performanz. Hg. v. Jürgen Fohrmann. Stuttgart 2004, S. 603–628. ‒ Spuren am Rande zwischen genuiner und degenerierter Indexikalität. In: Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger. Hg. v. Heike Gfrereis u. Marcel Lepper. Göttingen 2007, S. 181–195. ‒ Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. München 2008. Wirtz, Irmgard M.: Zur Poetik der Unterhaltung. Ein diskursives Feld zwischen Roman und Ethik um 1680. In: Delectatio. Unterhaltung und Vergnügen zwischen Grimmelshausen und Schnabel. Hg. v. Franz M. Eybl u. Irmgard M. Wirtz. Bern 2009, S. 101–122. Wittmann, Reinhard: Der gerechtfertigte Nachdrucker? Nachdruck und literarisches Leben im achtzehnten Jahrhundert. In: Buch und Buchhandel in Europa im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Giles Barber. Hamburg 1981, S. 294–320. ‒ Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750–1880. Tübingen 1982.

6. Literatur (Primär- und Sekundärliteratur)

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‒ Geschichte des deutschen Buchhandels. München 1999. Wood, Jean u. Fürstenwald, Maria: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und gelehrte Frauen des deutschen Barock. Ein Lexikon. Stuttgart 1984. Würzbach, Natascha: Raumdarstellung. In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hg. v. Vera Nünning u. Ansgar Nünning. Stuttgart 2004, S. 49–71. Zeller, Rosmarie: Die Bewegung der Preziösen und die Frauenbildung im 17. Jahrhundert. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17.  Jahrhundert. Hg. v. August Buck u.a. Hamburg 1981, S. 457–465. Zimmer, Wolfgang: Die literarische Kritik am Preziösentum. Meisenheim a.G. 1978. Zipfel, Frank: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001. Zymner, Rüdiger: Gattungstheorie, Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn 2003.

7. Bibliografie (1680–1720): Ein vorläufiges Korpus weiblichkeitszentrierter Roman(-Prosa)texte

Bibliothekssiglen: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz 1a 3 Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt Halle a.S. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen 7 8 Universitätsbibliothek Kiel Universitätsbibliothek Greifswald 9 18 Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg 23 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena 27 28 Universitätsbibliothek Rostock Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar 32 Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern Schwerin 33 35 Gottfried Wilhelm Leibnitz Bibliothek Hannover Universitäts- und Landesbibliothek Erfurt/Forschungs39 bibliothek Gotha Staats- und Universitätsbibliothek Bremen 46 138 Eutiner Landesbibliothek 700 Universitätsbibliothek Osnabrück Ha 33 Bibliothek Franckesche Stiftungen Halle a.S. L British Library London Die Auflistung erfolgt zeitlich chronologisch, nicht alphabetisch, und umfasst auch deutschsprachige Übersetzungen. Die Wundergeschichte Oder Lebens-Beschreibung / Der Henriette Sylvie / In seche Theilen verfasset, Und zu der Teutschen Nation Nutz und Ergetzlichkeit aus dem Frantzösischen ins Teutsche mit Fleiß übersetzt / Von Moliere. [s.n.] [s.l.] 1680. Standort/Signatur: 3 {AB 42 8/k, 1 (1)} Die Keusche und mit allen Tugenden schön-begabte SUSANNA: Allen In gewissen Fällen angefochtenen Gemüthern / um derselbigen Anliegen darmit wo nicht gäntzlich zu mindern / doch in etwas zu lindern / auf nachgedrucktes Papier beschrieben / und ihnen zu sonderbahrem Gefallen erleutert / Von Sir Galen. Ulm: Mathäus Wagner 1682. Standort/Signatur: 1a {Bo 15240}

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7. Bibliografie: Ein vorläufiges Korpus weiblichkeitszentrierter Roman(-Prosa)texte

Almahide / oder Leibeigne Königin / Aus des Herrn Scudery Französischem ins Hochteutsche übersetzet von Ferdinand Adam Pernauern / Herrn von Perney Freyherrn / Dem im löbl. Pegnesischen Blumen-Orden benannten Dafnis / Nürnberg: Johann Hofmann 1682–1696. Standort / Signatur: 39 {Poes 8° 01350/01 (01)} Entführung der preißwürdigen Helena von Amsterdam / Sampt einer Beschreibung einer schönen Hermaphroditin. Liebesgeschichten. Auß d. Frantz. in das Teutsche übersetzt. Basel: Richter 1683. Standort/Signatur: 23 {M: Lm 4033} Die Böse Frau / Das ist: Artige Beschreibung der heut zu Tage in der Welt lebenden Bösen Weiber / Wie nemlich dieselben auff so unterschiedene Art und Weise/nicht so wohl gegen die Männer / als auch unter sich selbst/und gegen männliglich / ihre Bosheit auszuüben wissen / In allerhand lustigen Begebenheiten lebendig vorgestellet von Pherophonandro. [s.l.] 1683. Standort/Signatur: 23 {M: QuN 834 (1)} Die Gute Frau / Das ist: Wahrhafftige Beschreibung der Art und Weiße / auff was maße heut zu tage die Weiber von ihren ungehobelten und ungeschliffenen Männern gemartert / gekräncket / geängstiget / und gequältet werden / Alles mit unleugbaren Geschichten / denen Männern zur Warnung / und ihren Weibern zum Trost / durch die Feder entworffen von PATENTIA. [s.l.] 1684. Standort/Signatur: 23 {M: QuN 834 (2)} Der Madam / De la Valliere / Merckwürdige Lieb- und Lebens-Geschicht / so sich zwischen Jhr und Konig Ludwigen den XIV. in Franckreich eigentlich zugetragen / Kurtz beschrieben / samt allen darbey vorgehenden Begebenheiten. [s.l.] 1684. Standort/Signatur: 3 {AB 42 2/i, 2 (2)}; 23 {Xb 3727} Die Ehrgeitzige Grenaderin / Aus dem Französischen des Herrn von Prechac, verdeutschet durch J.S.V.G. / Zu finden Bey Joh. Schumann in Zeitz. / M.DC.LXXXIV [1684]. Standort/Signatur: 39 {Poes 8° 01218/07}; 18 {A/17869}; 23 {M: QuN 918 (1)} Das politische Hof-Mädgen / Das ist allerhand neue, selzame und wunderliche Griffgen […] / Pamphilo Castimonio / Freistadt an der Gehl [Gotha] 1685. Standort/Signarut: 1a {Yu 8316}; 23 {M: QuN 765 (3)} Talanders Liebes=Cabinet der Damen / Oder Curieuse Vorstellung der unterschiedl. Politic und Affecten, welcher sich alles galante Frauen Zimmer in den Lieben bedienet. Leipzig: Christian Weidmann 1685. 1a {Yu 8107} Die Aller-Durchlauchtigste Käyserin Statira oder Cassandra: Mit Persianisch-GriechischScyth- und Amazonischen Staats- und Liebes-Geschichten / Welche sich Unter des Darius und Grossen Alexanders bestrittenen Regierung begeben / Nebenst vielen schönen Kupffern / Aus dem Frantzös- und Holländischen ins Teutsche übersetzet von Christoff Kormarten / I.U.D. [Christoff Kormarten] / Zu Leipzig / Verlegts Johann Friedrich Gleditsch / Anno MDCLXXXVI [1686]. 39 {Poes 8° 00723/03 (01)}

7. Bibliografie: Ein vorläufiges Korpus weiblichkeitszentrierter Roman(-Prosa)texte

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Falsette, Das ist: Eine Beschreibung einer Ertzbetriegerin, die sich eine Zeithero in hiesiger Gegend wunderseltsam bekannt gemacht. Aufgesetzt von ***. Gedruckt in diesem Jahr [s.l.] [um 1700] 1a {Yu 9941} Floriduns Jungferliche Ständen, Oder Zeitvertreiber / Darinnen meistentheils alle jungferliche kurtzweilen, welcher sie sich zu gebrauchen pflegen [...] entdecket werden / nebst einen Anhang Die Buhlende Jungfer genannt [s.l.] [Johann Gorgias] 1686. 1a {Yu 7491} Der verliebte Solande, und die gegenliebende Florame, das ist, Hellpolierter Liebes-Spiegel: darinn sich ein noch ungeübter Liebhaver wol besehen […] / von Philogamo aus Paphos [Johannes Riemer] [s.n.] 1687. 23 {Microfilm 1:375} Die Unglückselige Princessin Arsinöe, Welche durch eine sehr angenehme Liebes-Geschichte sowohl in seltzsamen Staats- und Glücks-Verwirrungen, als auch verschiedenen curieusen Liebes-Briefen, Zu vergönneter Gemüths-Ergötzung vorgestellet wird von Talandern. [s.n.] 1687. 39 {Poes 8° 02256/04} Die Venus im Kloster Oder Die biss aufs Hembd ausgezogene geistliche Nonne: bestehet In vier überaus vorwitzigen Gesprächen Welche Der Abt von Mundellzheim der Frau Aebtissin zu Dittlenheim dediciret und zugeschrieben / [Jean Barrin]. Cölln: A. Marten 1689. 1a {Xx 6430} Der Politischen Jungfern Narren-Seil, Das ist, Genaue und eigendliche Beschreibung, welcher Gestalt heut zu Tage das Frauen-Volck, und sonderlich die Jungfern, das verliebte und buhlerische Manns-Volck so artig weiß bey der Nase herum zu führen, Sie zu vexiren, agiren, und endlich listig gar abzuweisen, auch was es offters vor ein Ende mit dergleichen Frauens-Volck nehme. Allen Curiosen zu sonderbahren Belustigung, andern zur Zeit-vertreibenden GemüthsErgötzung, sonderlich aber allen Buhlern zur Warnung, und denen Frauens-Volck zur Besserung und Erbauung vorgestellt, von Ignatio Francisco à Clausen. [s.l.] 1689. 1a {Yu 8821} Die Asiatische Banise, Oder Das blutig- doch muthige Pegu, Dessen hohe Reichs-Sonne bey geendigtem letztern Jahr-Hundert an dem Xemindo erbärmlichst unter- an dem Balacin aber erfreulichst wieder auffgehet […] Alles in Historischer, und mit dem Mantel einer annehmlichen Helden- und Liebes-Geschichte bedeckten Wahrheit beruhende. Diesem füget sich bey eine, aus Italiänischer in Deutsch- gebundene Mund-Art, übersetzte Opera, oder Theatralische Handlung, benennet: Die listige Rache, oder Der Tapffere HERACLIUS, Auffgesetzet von H.A. v. Z u. K. [Heinrich Anselm von Ziegler und Klipphausen], Leipzig: Johann Friedrich Gleditsch 1689. 7 {MA 88-57:411}; 8 {Film 842-411}; 23 {Xb 6559}; 27 {2006 R 125}; 46 {ja 4111-411}; 700 {9890-691 2:411} Die offenhertzige Jungfrau / oder Entdeckte Scheinheiligkeit dess Frauenzimmers. [s.n.] [s.l.] 1689. 1a {Xx 6430} Joachim Meiers von Perleberg,  |  Durchl. Römerin  |  LESBIA,  |  Das ist,  |  Alle Gedichte des berühm-  |  ten Lateinischen Poeten Catullus, nebst  |  Einführung fast aller Geschichten damahliger  |

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Zeit, und vieler Römischen Antiqvitäten, aus denen be-  |  wehrthesten Geschicht-Schreibern gezogen, mit vielen  |  Römischen, Gallischen, Teutschen, Asiatischen und anderen Begebenheiten,| Wie auch nicht weniger merckwür-  |  digen Staats-Sachen ausgezieret,  |  alles auf die anmuthigste und bißhero un-  |  gewöhnliche Art,  | In einer anmuthigen| Liebes-Geschicht  |  vorgestellet,  | und mit schönen Kupffern gezieret.  | LEIPZIG,  | Verlegts Moritz Georg Weidmann 1690. 1a {Yu 8901}; 23 {Xb 3270}; 27 {8 Phil. VIII, 102/40}; 32 {14, 6: 3 [b]} Die Liebe Der Messaline Gewesener Königin von der Insul Albion / Worin der heimliche Betrug mit dem Printzen von Vallis, mit der Frantzösischen Ligue, und einige andere Intriguen des Englischen Hofes, von diesen vier letzten Jahren her entdecket worden / Durch eine vornehme Persohn so der Messaline Vertraute gewesen. Leiden: Martens 1690. 3 {AB 96742 (5)} Die gekrönte Unschuld oder Leben der frommen Hirlandin / […] genommen aus dem berühmten frantz. Geschichtschreiber Cerizier in das hochteutsche übersetzet […] durch ein Mit-Glied des hochberühmten Palmen-Ordens, genannt, der Wenige. Augsburg 1690. 7 {MA 88-57:245}; 8 {Film 842-245}; 23 {Microfilm 1:245}; 46 {ja 4111-245}; 700 {9890-691 2:245} Des galanten Frauenzimmers Curieuse Flöh-Jagt [...] Von Simplicismo Spring ins Feld. (s.l.) Schwarzwald [um 1691]. 1a {Yz 3847}; zit. auch bei Weber/Mithal (1983), S. 142. Der getreuen BELLAMIRA wohlbelohnte Liebes-Probe: Oder, Die triumphirende Beständigkeit, In einem curieusen Roman Der galanten Welt Zu vergönnter Gemüths-Ergötzung an das Licht gegeben von Talandern. Leipzig: M.G. Weidmann, druckts Chr. Scholvien 1692. Ha 33 {ABb 250:5807-5809}; 33 {MF 1:5807-5809}; 35 {germ 570/650:Hauptw.:5807-5809} u.a. Neu-eröffnetes Liebes-Cabinet des galanten Frauenzim[m]ers, Oder Curiose Vorstellung der unterschiedlichen Politic und Affecten, Welcher sich alle galante Damen im Lieben bedienen / vorgestellt von Talandern. Leipzig: Friedrich Groschuff 1694. 3 {AB 67 10/b, 7}; 23 {Lo 549} u.a. Die versteckte Liebe im Kloster / In einer annehmlichen Liebesgeschichte den müssigen Stunden der galanten Welt gewidmet: Samt noch einem Anhang, genannt Der Schlüssel des Hertzens, oder die Art zu lieben. Franckfurth: Christoph Wohlfahrten 1694. 3 {AB 42 8/k, 10 (1)}; 23 {AB 42 8/k, 10 (1)} u.a. Die Durchlauchtigste Olorena, Oder Warhafftige Staats- und Liebes-Geschichte dieser Zeit, Welche wegen sonderlicher Glücks-Fälle, und des, wider die zwey mächtigsten Staaten von Europa, bewehrten Heldenmuths, des unvergleichlichen CARLLORENO merckwürdig ist. Zu vergönneter Gemüths-Ergötzung in Druck befördert von Talandern [August Bohse]. Leipzig: M.G. Weidmann 1694. 1a {Yu 8204}; 23 {Wa 5752 }; 32 {M5:20[a]} u.a. Aurorens, Königlicher Princeßin aus CRETA, Staats- und Liebes-Geschichte, Der galanten Welt zu vergönnter Gemüths-Ergötzung vorgestellet von Talandern. Leipzig: J.L. Gleditsch u. M.G. Weidmanns Erben 1695. 3 {AB 67 11/f, 16}; 23 {M: Lo 550}

7. Bibliografie: Ein vorläufiges Korpus weiblichkeitszentrierter Roman(-Prosa)texte

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Die getreue Sclavin Doris / in einen annehmlichen Liebes und Helden= Roman / Der galanten Welt zu vergönneter Gemüths=Ergötzung / vorgestellet von / Talandern. Leipzig / bey Johann Ludwig Gleditschen. / Anno 1696. 9 {520/Bm 565 12°}; 23 {Xb 970 (2)} u.a. Des Galanten Frauenzimmers kluge Hofmeisterin: aus dem Französischen ins Teutsche übers. Leipzig: Thomas Fritsch 1696. 3: {AB 42 8/k, 16 (1)}; 23: {M: Pb 151} u.a. Die Amazoninnen aus dem Kloster, in einer angenehmen Liebes-Geschichte, Zu vergönnter Gemüthsergötzung auffgeführet von Talandern. Cöln: J.L. Gleditsch u. M.G. Weidmanns Erben 1696. 1a: {Yu 8206 MF}; 23: {Wa 1738} Lebens- und Liebes-Beschreibung Der Gräfin D***: Worinnen zugleich ihre unglückliche Begebnüssen eröffnet / Und die unschuldige Beschuldigungen / womit öfters die Verleumbdung und böse Nachrede das Frauenzimmer zu belegen pflegt entdecket werden / [Henriette Julie de Castelnau de Murat]. Franckfurt: Helmer 1697. 23: {M: QuN 934 (1)} Des Englischen Hofes Liebes-Irrgarten Oder allerhand curieuse Liebes-Intriguen Welche in Engelland unter denen grossen Herren und Damen des Hofes vorgegangen / von Einer vornehmen Dame aufgezeichnet, und in das Teutsche übersetzet durch Charizedum. Franckfurt u. Leipzig 1697. 1a {Zd 1640} Die unglückselige Moscowitin Abra Mule, oder wahrhaffte Liebes-Geschichte, welche [...] Intriguen des Türckischen Serail vorstellet. 1698. Zit. nach Weber/Mithal (1983), S. 100, ohne Standortnachweis. Vermutlich dts. Prosaübersetzg. aus dem Franz. oder Engl.: Abra-Mulè, or, A thrue history of the dethronement of Mahomet IV / written in French by M. Le Noble. London 1696. 1a, 3, 7, 700 u.a. {elektron. Ressource, GVK} Zaraide oder die gerechtfertigte Unschuldige / Aus dem Französischen ins Teutsche übersetzt / Mit historischen Anmerkungen von Joachim Meiern von Perleberg [Joachim Meier]. Franckfurt u. Leipzig: Lipper 1695. 7 {8 FAB III, 3128}; 23 {M: Lo 5349}; 32 {14, 6: 3 [a]} Die Liebenswürdige Europäerin Constantine In einer wahrhafftigen und anmuthigen Liebes=Geschichte dieser Zeit Der galanten und curiösen Welt zu vergönneter Gemüths=Ergötzung vorgestellet von Talandern. Franckfurth und Leipzig / Verlegts Christoph Hülße / Anno 1998. Ha 33 {ABb 250:13427-13428}; 23 {GE 44-0055:13427-13428} u.a. Die Albanische Sulma: in einer wohlständigen und reinen Liebes-Geschichte samt andern mit einlauffenden artigen Begebenheiten und beygefügten Brieffen Zu vergönnter Gemüths-Ergötzung an das Licht gebracht / durch den Beständigen T. Cölln: Marteau [Leipzig: Gleditsch & Weidmann] 1698. 1a {Yu 8212}; 3 { Dd 4983 b (1)}; 23 {Xb 2524} u.a.

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7. Bibliografie: Ein vorläufiges Korpus weiblichkeitszentrierter Roman(-Prosa)texte

Ariadnens, königlicher Printzeßin von Toledo, Staats- und Liebes-Geschichte: nebst einer Vorrede, wie weit d. unter seinem Nahmen herausgekommene Liebenswürdige Europäerin Constantine vor seine Arbeit zu halten / zu vergönnter Gemüths-Ergötzung an das Licht gegeben von Talandern. Leipzig: Gleditsch & Weidmann 1699. 18 {A/203760}; 23 {Wa 6904} Staats- und Liebesgeschichte der Türckischen Asterie / Aus dem Frantzösischen übersetzet / und mit Historischen Anmerckungen zu Erklärung der Geschichte des Tartarischen Monarchen Tamerlans erläutert von Imperiali [Joachim Meier]. Frankfurt/Leipzig [um 1700]. 1a {Yu 8976}; 23 {M: Lm 1067a} Der Frauen und Weiber Privilegia [s.n.] [s.l.] [um 1700]. 1a {Yz 630}; 3 {Pon IIh 264, QK} Der vortrefflichen Egyptischen Königin / Cleopatra / Curiöse Staats-und Liebes-Geschicht. / Vormahls von dem Hrn. Calprenede / in Frantzösischer Sprach geschrieben, numehro aber in Hoch-Teutsche Sprach übersetzet / Durch| / J. W. / Worinnen auch zugleich die alte Römische Historien mit vorgestellet werden./Mit Knönigl. Pohln. und Churf. Sächs. Privilegio./ HAMBURG / Verlegts Johan Jost Erythropel 1700. 7 {8 FAB III, 3556}; 27 {8 G.B.1675} Liebesgeschichte der getreuen Cleone [s.n.] [s.l.] [um 1700]. Zit. nach Weber / Mithal (1983), S. 195, ohne Standortnachweis. Vermutlich dts. Prosaübersetzg. aus dem Engl.: Cleone. Ein Trauerspiel aus d. Englischen von Robert Dodsley [s.l.] [um 1700]. 35 {Lh 5288:85,2} Liebesgeschichte der Melinte. [s.n.] [s.l.] [um 1700]. Zit. nach Weber / Mithal (1983), S. 197, ohne Standortnachweis. Vermutlich dts. Prosaübersetzg. aus dem Franz.: Ariane, où se voit les avantures de Melinte, de Palamede, Epicharis, Aetelephe, Damintas, et Dericine & Episistrate. Avec le retour en Sycile. Rouen: Boulley 1644. 9 {523/Bf 201(1/2)} Die hitzige Indianerin, Oder Artige und Curieuse Beschreibung Derer Ost-Indianischen FrauensPersonen, Welche So wohl aus Europa in Ost-Indien ziehen, oder darinnen gebohren werden, sie seyn gleich aus vermischten oder reinem Heydnischen Geblüte derer Indianer / Aus eigner Erfahrung entworffen, Durch den Dacier [Andrea Pinxner]. Cölln: Marteau [Leipzig: Heybey], 1701. 1a {Yv 80}; 23 {M: Lo 5501} u.a. Das entmaskete Frauenzim[m]er / Oder Die entdeckte Liebe: Wie selbige heutiges Tages bey dem Frauenvolcke im gebrauch ist / Durch allerhand Lustige Geschichte vorgestellet / Aus dem Französischen übersetzet. Jena: Johann Meyer 1701. 1a {50 MA 17820} Die Liebes-Würdige ADALIE. In einer annehmlichen und wahrhaffigen Liebes-Geschichte Der Galanten Welt zu vergönnter Gemüths-Ergetzung. Heraus gegeben von Menantes. Hamburg: Liebernickel 1702. Ha 33 {ABb 250:7661-7662}; 18 {A/49880}; 23 {GE 44-0055:7661-7662} u.a.

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Die durchläuchtigste polnische Venda: Curieuser Staats- u. Liebes-Roman / worinnen unter Einführung der alten deutsch- und polnischen Geschichte / die Veränderungen u. Staatsbegebenheiten itziger Zeiten [...] beschrieben seynd. / Von Imperiali [Joachim Meier]. Leipzig: König 1702. 1a {Yu 8931}; 7{DD2002 A 341, Ausg. 1715} Curieuser Frauenzimmer-Roman, oder Liebes-Assemblé. Von Abelinda. Leipzig: Heydler 1703. 3 {AB 42 8/k, 10 (2)} Liebe und Intriquen unterschiedener Maitressen / vornehmer Potentaten / Mit unpartheyischer Feder / entworffen. [s.n.] Cölln, Bey Peter Marteau, Anno 1703. 23 {XFilm 1:588}; 138 {IV i 130} u.a. Die Erlauchtete Sklavin, Welche Nach deren sonderbaren Zufällen u. Begebenheiten In Einer angenehmen Historie aufgeführet, Von H.M.S. Cölln: Bey Peter Marteau 1704. 1a {Yv 141}; 23 {Wa 6111} Die Amazonische SMYRNA Worinnen Unter Einfürung Trojanischer, Griechischer, Amazonischer und Asiatischer Geschichten, Die Begebenheiten jeziger Zeiten, und deren Verändrungen und Kriegs-Läuffte, auf eine sehr curiöse Weise, in einem Annehmlichen Staats- und LiebesRoman verwikkelt vorgestellet worden, Von Imperiali [Joachim Meier]. Frankfurt/Leipzig: M.A. Fuhrmann 1705. Ha 33 {ABb 250:18258-18259}; 23 { Microfilm 1:255} u.a. Die durchlauchtigste Römerin Delia, das ist: alle Gedichte des berühmten lateinischen Poeten Tibullus [...] Von Imperiali [Joachim Meier]. Frankfurt/Leipzig: M.A. Fuhrmann 1706/1707. 27 {8 Phil.VIII,103/48} u.a. Die unglückselige Princeßin Michal und der verfolgte David verfertiget von Pallidor [Georg Christian Lehms]. Hannover: N. Förster 1707. 1a {Yv 291} Deß Schwedischen Hofs / Liebes- Und Helden-Geschichte/Der Galanten Welt in einer / der artigsten und denckwürdigsten Liebes-begebenheit vorgestellet / und besonders dem Honetten Frauenzimmer zu vergönter Belustigung übergeben / [s.n.]. Cölln bey Peter Marteau. / 1707. 1a {Yv 350} Curieuse und deutliche Vorstellung unterschiedlicher Politic und Affecten / deren sich alles galante Frauen-Zimmer im Lieben bedienet, da denn unter anmuthigen Liebes-Verwirrungen und eingemischeten Regeln das Naturel honetter Damen zu vergönneter Gemüths-Ergötzung in zweyen Theilen entdecket wird / von Gustav Hobbes [August Bohse] / Liebenthal: von der Linde [Friedrich Groschuff] 1708. 7 {MA 88-57:253}; 23 {Microfilm 1:253} u.a. Die getreue Bellandra / In einem Liebes- und Helden-ROMAN Dem Curieusen Leser zur vergönnten Ergötzung des Gemüts vorgestellet / Von MELETAON [Johann Leonhard Rost]. Frankfurt/Leipzig: W. Michahelles 1708. Ha 33 {ABb 250:17890}; 1a {Qr 9760} u.a.

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7. Bibliografie: Ein vorläufiges Korpus weiblichkeitszentrierter Roman(-Prosa)texte

Die Unglückseelige ATALANTA oder Der schönen Armenianerin Lebens- und Liebes-Beschreibung in einem Asiatischen Helden-Gedicht Der galanten Welt zur erlaubten Gemüts-Belustigung aufgesetzet von Meletaon [Johann Leonhard Rost]. Frankfurt/Leipzig 1708. 18 {R 07 r 3 u 1} u.a. Der schönen Ariana anmuthige Staats- und Liebes-Geschichte: Auch mit anmuthigen Kupffer­ stücken gezieret / Ehemals vom Herrn des Marets, Königlichen Rathe, in Frantzösischer Sprache geschrieben, und aus selbiger vor mehr als viertzig Jahren ins Teutsche gebracht; Nun aber Mit einer gantz neuen, und so wohl dem Texte als der jetzigen teutschen Red-Art näher kommenden Übersetzung versehen Von Talandern [August Bohse]. Franckfurt: Sand 1708. 1a {Xx 3937}; 7 {8 FAB III, 3651} Minervens entworffene Portraits Der galanten Leipzigerinnen / Bey Gelegenheit des Vornehmen Christ- und Seeligmannischen Liebes-Festes an das Licht gestellet / von Pallidor [Georg Christian Lehms]. Leipzig: Rumpff 1709. 7 {8 PHIL VI, 8995 (21)} ANTONIA de PALMA in einer angenehmen Staats und Liebes Geschichte so des letzten Romans Andren Band vollends abgiebet, der galanten Welt zu vergönnter Gemüths-Ergötzung aufgeführet von TALANDERN [August Bohse]. Leipzig: J.L. Gleditsch & M.G. Weidmann 1709. Ha 33 {ABb 250:9005-9006}; 18 {Scrin A/523}; 23 {GE 44-0055:9005-9006} u.a. Lebens- und Liebs-Beschreibung,/ Der weyland Wunderschönen Gabriele D’Etrees, Hertzogin von Beaufort, Königs Henrici IV. In Franckreich sehr liebgewesenen Maitresse, und Elter-Mutter, Des […] Duc de Vendome […]. Strasburg, 1709. 7 {DD2007 A 216}; 32 {Scha Pa 00609} Der Welt-bekannten MADAME de MAINTENON / Liebes-und Lebens-AVANTUREN, /Aus dem Französischen ins Teutsche / übersetzet / von FERNANDO. Freyburg / Anno 1710. 7 {8 H GALL UN III, 3640}; 28 {Rb-7376(1).5} Die Bösen Weiber. / Cölln, / bey Peter Marteau / 1710. 1a { Yz 531}; 23 {M: QuN 606.1 (3)} Die Türckische Helena / Der curieusen und galanten Welt in einer Liebes-Geschicht Zu betrachten abgebildet / Von MELETAON. [Johann Leonhard Rost] Gedruckt im Jahr Christi. 1710. Ha 33 {ABb 250:18265-18266}; 1a {Yv 431} u.a. Portugalische CLARA, Und Affricanischer TARNOLAST, In einer anmuthigen Liebs- Und Helden-Geschicht / Der galanten Welt vorgestellt / ULM / bey Daniel Bartholomæ / 1710 [Neuauflage von Eberhard Guerner Happels Afrikanischer Tarnolast, 1689]. 27 {8 Hist.un.VIII,53} Die Liebenswürdige und Galante NORIS, in einem Helden-Gedichte der curieusen Welt zur Lust und Ergötzung auffgeführet von MELETAON [Johann Leonhard Rost]. Leipzig: Gledisch & Weidmann 1711. 1a {Yv441}; 23 {Wt 453}

7. Bibliografie: Ein vorläufiges Korpus weiblichkeitszentrierter Roman(-Prosa)texte

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Liebes-Geschichte der Printzessin / Normanna [...]| von MELETAON [Johann Leonhard Rost]. [...] Nürnberg 1711. Dünnhaupt (1990), S. 3505; Weber/Mithal (1983), S. 197, ohne Standortnachweis. Die Durchlauchtigste Prinzessin / TAMESTRIS / aus ÆGYPTEN in einem ROMAN / Der Galanten Welt / ergebenst überreichet / von MELETAON [Johann Leonhard Rost].| Nürnberg / Zu finden bey Johann Albrecht. An[no] 1712. 1a {Yv 450} Die entdeckte Geheime HISTOIRE von der Königin SAHRA / Und denen Ahracenern, oder / Die Hertzogin von Marlborough / demasquiret, / Worinnen verschiedene von der Regierung Caroli II. biß auf diese Zeit in Engeland vorgefallene Liebes-und Staats-Intriguen, sammt andern / diesem Reich angehende remarquable Begebenheiten / und Politische Zufälle / Aus Frantzösischer Nachricht / Sammt dem Schlüssel und einer Vorrede / communiciret werden von PAULO MONTINI. / HAAG, bey HINRICH PETKIO 1712. 8 {K119} Die unglückliche Barsine Princeßin Aus Armenien / In einer Angenehmen Liebes- und HeldenGeschichte, Dem curieusen Leser zur vergönneten Gemüths-Ergötzung vorgestellet / Von Celander. Hamburg, In Verlegung Christian Liebezeit 1713. 7 {DD2008 A 178} Die Anmuthige PISTOPHILE / In einer wahrhafften / ob wohl verdeckten Liebes-und HeldenGeschichte / ausführlich entworffen / von Friedrich Erdmann von Glaubitz. / Frankfurt und Leipzig / bey Michael Rorlachs Wittib und Erben 1713. 3 {AB 39 3/k, 33 (1)}; 23 {M: Lo 1911} Die ATALANTIS der Madame MANLEY / Oder eine geheime Nachricht / von denen vornehmsten Personen / In Engelland / und derselben INTRIQUEN Von dem Jahr 1683. bis jetzo / Aus dem Frantzösischen accurat übersetzet / und mit einem curieusen Anhang / vermehret. Haag / bey Heinrich Scheurleer 1713. 27 {8 Bud.Angl.65(2)} Der schönen und liebenswürdigen ESTHER / merckwürdige und angenehme Lebens-Geschichte / Der galanten Welt zu wohl erlaubter Gemüths-Vergnügung / an das Licht gestellet / von Pallidor [Georg Christian Lehms]. / Leipzig bey Johann Ludwig Gleditsch und Moritz Georg Weidmann / Anno 1713. 1a {Yv 311}; 7 {DD2001 A 27} u.a. Betrüglicher Courtesie-Spiegel Des Galanten Academischen Frauenzimmers. Welcher Die mancherley artigsten Aventuren und lustigsten Liebes-Intriguen derselben in einem Roman fürstellet von Florander [Joachim Negelein]. Franckfurt/Leipzig 1714. 1a {Yv 801} Der Lustige Weiber-Procurator: Welcher Das Weibliche Geschlecht Gegen Alle Spötter und Verächter Desselben / Bester massen defendiret / Ihm das gebührende Lob beyleget / Die beywohnenden Tugenden erhebet / Und Dessen sonderbare Gerechtigkeiten und Privilegia darstellet / Bey müssigen Stunden Entworffen Und mit einem Register versehen Von F.J.R.I.U.P. [Friedrich Julius Rottmann] / Cölln: Marteau 1714. Ha 33 {ABb 250:17891-17892}; 23 {M: QuN 606.1 (1)}

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7. Bibliografie: Ein vorläufiges Korpus weiblichkeitszentrierter Roman(-Prosa)texte

Die Rachgierige FLEURIE, über Den grausamen Mord ihres geliebtesten LUCIDAMORS, in einer Liebes und Helden-Geschicht / Der Galanten-Welt / Zu vergönnter Belustigung / vorgestellet / und mit schönen Kupfern geziert / von MELISSO. Franckfurt und Leipzig bey Joh. Hofmanns sel. Erben 1715. 3 {3/25:Vmeli 1000}; 23 {GE 58-4850} u.a. Die Unvergleichliche Heldin unserer Zeiten; / in dem Bildniß / Der Schönen Holländerin / von der / Mademoiselle S* / in einer Galanten Begebenheit / nach den Leben abgeschildert; / und aus dem Französischen ins Teutsche übersetzet: / von MELETAON [Johann Leonhard Rost]. / Nürnberg / Bey Johann Albrecht. An[no] 1715. 23 {M: Lm 2715a} Die Beständigkeit im Lieben an der Africanischen BERNANDIS. In einer wahrhafftigen Liebesund Helden-Geschichte / an das Licht gestellet von PALMENES. Leipzig: Martini 1715. 23 {HAB: M: Lo 5877} Das Leben Der Schönen Oesterreicherin. Beschrieben von LISANTES. [s.l.] Anno 1716. 3 { AB 40 12/i, 13 (1)}; 23 {XFilm 1:568} u.a. Die dem lieben Frauenzimmer sehr angenehmen auch commoden Contusche und Reiffen-Röcke Wider Etliche Verächter dererselben gründlich und vernünfftig vertheidiget, Und bey dieser Dritten Auflage in vielen verbessert / von Leucoranden [Eleonora Charlotte Leucorande]. Linden-Stadt [Leipzig] 1717. 1a {Pn 3522}; 7 {DD94 A 428 (1)} Die niederländische Amazone, oder Curieuse Lebens-Beschreibung und Helden-Thaten einer gewissen Weibs-Person aus den Niederlanden, welche lange Zeit Kriegs-Dienste verrichtet. Aus dem Holländischen in das Teutsche übersetzt. [s.n.]  / Augspurg 1717. L {001017584} Die Gekrönte Beständigkeit in einer ungemein curieusen Liebes-Geschicht der Marquisin de Mauleon. [s.n.] Franckfurt/Leipzig 1718. 1a {Xy 1366} Die Galante und Liebens-würdige Salinde: Der Galanten Welt in einem Academischen und Liebes-Roman, Zu erlaubten Zeitvertreib / nebst einem völligen in der Vorrede enthaltenen Unterricht / Wie ein neu-angehender Academicus Seine Conduite So wohl in Prosecution seiner Studien, als auch in Compagnien bey Frauenzimmer / in seinem Beutel und anderer Orten mehr / einrichten solle / Alles solches mit denen in dem Roman zu findenden Exempeln bewiesen / und denen / die diese gefährliche Wanderschafft noch vor sich / zum Besten ans Licht gestellet Von Melisso. [s.l.] 1718. 1a {Yv 1096}; 32 {14,7: 73} u.a. Accademischer Frauenzimmer-Spiegel: das ist einige curieuse Liebes-Begebenheiten, so sich in der That auf einer wohlbekandten sächsischen Universität vor einigen Jahren zugetragen / ausgefertigt von Le Content. [s.l.] 1718. 3 {Ha 179: Lf 392 o (5)}

7. Bibliografie: Ein vorläufiges Korpus weiblichkeitszentrierter Roman(-Prosa)texte

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Das bey Academien lebende galante, ehrliche und tugendhaffte Frauenzimmer, in einigen angenehmen Liebes-Geschichten aufgeführet / von Parthenophilo. Leipzig: Martin 1719. 1a {Qs 120}; 9 {520/Bm 283 adn1}; 32 {14, 8 : 86 [a]} Die Liebes-Geschichte der Durchlauchtigsten Prinzeßin MEDEA aus CYPERN. Beschrieben und mit schönen Kupfern gezieret / von ORMENIO. [s.l.]. Gedruckt im Jahr 1719. 1a {Yo 1218}; 32 {XFilm 1:569} u.a. Die Belohnte Untreu, Oder Liebes-Geschicht der Gräfin von Bouteville / nachmahln vermählter Hertzogin von Chatillon, Wegen derer darinn enthaltenen gantz besondern Umständen und artigen Begebenheiten, Aus dem Französischen übersetzt. Franckfurt und Leipzig / bey Johann Martin Hagen 1721. 1a {Xy 1136}; 138 {VI a 407}

Personenregister

Ahlefeld, Ulrica Antonetta von  83 Albrecht, Johann  75, 88, 92, 130, 157, 176, 191f., 348 Amaranthes → Corvinus, Gottlieb Siegmund 192 Andreä, Johann N.  76 Anton Ulrich, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg  1, 4, 15, 20f., 73 Aramena 148 Aristoteles  34, 198‒204, 206, 230, 249, 394 Arnold, Johann  104 Assarino, Luca  49, 118 Aulnoy, Marie Catherine Le Jumel de Barneville Baronne de  10, 51, 147, 299f. Barclay, John  49, 104, 118, 144, 217 Barrin, Jean  164 Baumann, Christoph  96 Beer, Johann  125 Beier, Adrian  67f. Behmeno  3, 10, 16, 105, 120, 129, 137, 158, 176, 190 Behns, Aphra  148 Bergmann, Michael  20 Der Beständige T.  205‒207, 253‒298 Biondi, Giovanni Francesco  118 Biondi, Johann Frantz → Stubenberg, Johann Wilhelm von  49, 118 Birken, Sigmund von → Der Erwachsene 7, 20‒22, 322 Blanckenburg, Friedrich von  15, 24, 153‒155, 188 Boccaccio, Giovanni  264, 269, 303 Bodmer, Johann Jakob  2, 157 Boetius, Johann Theodor  75, 91, 95, 97‒101, 103f. Bohse, August → Talander  1‒3, 10f., 15, 22, 38, 40f., 43, 49f., 54, 61, 72‒75, 82f., 85, 87, 91, 93‒98, 100‒105, 107f., 111, 116‒122, 124f., 127, 129f., 132‒134, 136, 141f., 157‒162, 164‒172, 175‒182, 185, 187, 189‒199, 206‒209, 211‒214, 217, 221, 226‒242, 248, 250, 253, 257f., 298, 301‒306, 309, 311, 313, 316f., 321, 323,

328, 330, 332, 338f., 342, 347‒352, 354, 360‒364, 367‒369, 371f., 377, 379f., 388f., 393, 395, 401, 407 Bohse, Gottfried  94 Breitinger, Johann Jakob  2 Brendecke, Henning  95 Bucholtz, Andreas Heinrich  15, 20f. Celander → Gressel, Johann Georg; Woltereck, Christoph  3, 10, 41, 55, 59, 75, 105, 113, 117, 123, 134‒141, 157, 190, 216, 218, 242 Le Content  59, 137 Conradi Demoiselle  210f., 243‒246, 405 Corvinus, Gottlieb Siegmund → Amaranthes 192 Crommer, Clara Maria  148 Cyprian, Juliane Magdalena  148 Dafnis → Pernauer, Ferdinand Adam von  48 Defoe, Daniel  144 Eberti, Johann Caspar  151, 191 Der Erwachsene → Birken, Sigmund von  7, 20‒22, 322 Fayette La, Marie-Madeleine  6, 10, 20, 48‒50, 52, 147, 172f., 201, 217, 249, 291, 350 Fénelon, François  144 Fielding, Sarah  148 Fiennes, Celia  299, 301 Florando → Negelein, Joachim  113 Florinus, Franciscus Philippus  304 Fritsch, Ahasverus  79f., 84, 97 Fritsch, Catharina Magaretha  102 Fritsch, Johann  71, 76, 84, 102, 104 Fritsch, Thomas  75f., 84f., 92, 98‒100, 102‒104, 300, 447 Gellert, Christian Fürchtegott  1‒3, 154, 157, 188, 248, 368, 397, 404 Gensch, Christian  91 Glaubitz, Friedrich Erdmann von  234, 451

456 Gleditsch, Johann Friedrich  60, 67, 71, 73, 75‒78, 98f., 101‒104, 137, 161, 171, 191f., 358, 406 Gleditsch, Johann Ludwig  61f., 71, 73‒77, 83‒90, 92, 94, 98, 100‒106, 116‒118, 121, 161, 164, 189‒191, 257f., 347, 406 Goethe, Johann Wolfgang von  3, 153, 300 Goldini, Carlo  269 Gottsched, Johann Christoph  2, 20, 114, 157, 248, 404 Gottsched, Louise Adelgunde  150 Gottschling, Caspar  20 Grahl, Johann Gabriel  62, 77, 256f. Greiffenberg, Catharina Regina von  7, 322f. Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 15, 176, 208 Groschuff, Johann Friedrich  50, 71f., 75, 86, 132, 158, 162, 165 Groß, Johann  91, 102 Günderrode, Karoline von  269 Günther, Michael  91, 94f. Händel, Georg Friedrich  244 Hagedorn, Friedrich  83 Hagedorn, Hans Spatius  83f. Happel, Eberhard Guerner  15, 21, 173, 201‒203, 221, 253 Harsdörffer, Philipp  20 Heidegger, Gotthard  2, 24, 109, 182, 253f. Horaz 172f. Hübner, Johann  78, 81, 104, 358 Huet, Pierre Daniel  50, 172f., 176, 199‒206, 249, 394, 400 Humboldt, Alexander von  255 Hunold, Christian Friedrich → Menantes 2‒4, 7, 10f., 15, 40, 50, 68, 74, 83‒87, 89‒91, 95, 108, 125‒134, 140f., 158, 160‒164, 176, 182f., 187, 190‒193, 208‒216, 226, 242‒248, 250, 393, 405f. Immig, Carl Christoph  127, 212 Imperali  217 Janson, Johann  67, 72 Johann Adolf I.  199 Johann Georg, Herzog zu Sachsen Weißenfels 197f. Johann Georg IV., Kurfürst von Sachsen  197f. Johann Georg III., Kurfürst von Sachsen  199 Kant, Immanuel  43f. Karsch, Anna Louisa  150

Personenregister Keiser, Reinhard  244 Kemmerich, Dietrich Hermann  104, 301 Kepler, Johannes  82 Kettner, Gottfried  94f. Kircheisen, Christian  75 Kircher, Athanasius  104 Kleist, Heinrich von  269 Knoch, Friedrich  77 Lampe, Christoph Balthasar  257 Lanckisch, Florentine  75 Lanckisch, Friedrich  20, 71, 75f., 94 Lessing, Gotthold Ephraim  368 Liebernickel, Gottfried  50, 68, 83‒85, 90, 126f., 163 Liebezeit, Christian  62, 69, 74, 105, 134, 163, 190, 216, 221 Liger, Louis  84 Linck, Catharina Magaretha  299, 404f. Limburg, Amalia Alexandrina Friederike zu 336f. Lohenstein, Daniel Capar von  15, 73, 192‒ 197, 199, 217, 225, 227, 248f., 253, 394 Lozano, Francisco  255 Madame R*** → Rischmüller  187, 210‒212, 242‒247, 405 Mademoiselle S* → Nicolas, Jean  347‒349, 354, 357 Maerck, Georg Friedrich  257 Manley, Delarivier  148 Marivaux, Pierre Carlet de  144, 269 Martini, Johann Christian  75, 77, 234 Mathesius, Christoph  49, 94‒98, 100 Mayer, Johann Friedrich  72 Meister, Christoph  126 Meister, Johanna Elisabeth  125 Meister, Johanna Sophia  125 Meletaon → Rost, Johann Leonhard  1, 3, 10, 15, 50, 55, 59, 62, 74f., 85, 88‒92, 117, 123, 130‒141, 144, 157, 160, 163f., 175f., 179, 182‒192, 216, 281, 288, 298, 301, 303, 306, 309, 335‒343, 346‒349, 354‒360, 377‒387, 389, 395 Melisso  75, 133f., 157, 176 Menander → Walther, David Christian  2, 91, 105, 157 Menantes → Hunold, Christian Friedrich  2‒4, 7, 10f., 15, 40, 50, 68, 74, 83‒87, 89‒91, 95, 108, 125‒134, 140f., 158, 160‒164, 176, 182f., 187, 190‒193, 208‒216, 226, 242‒248, 250, 393, 405f.

Personenregister Merian, Maria Sybilla  76, 195, 299 Meyer, Conrad Ferdinand  269 Meyer, Johann Caspar  75, 94f., 158 Michahelles, Wolfgang  88, 91, 189, 301 Mieth, Johann Christoph  71f. Molière → Poquelin, Jean-Baptiste  50, 269 Morhof, Daniel Georg  20, 132, 221f., 225, 249, 394 Motte La, Antoine Houdar de  287f. Negelein, Joachim → Florando  113 Nesselrode, Franz Freiherr von  194, 196 Neumeister, Erdmann  34, 125f., 165, 226 Nicolas, Jean → Mademoiselle S*  347‒349, 354, 357 Opitz, Martin  20, 104, 118 Palmenes 234 Parthenophilus  137 Pater, Paul  60, 77‒81 Paulini, Christian Franz  73, 151 Pernauer, Ferdinand Adam von → Dafnis  48 Pfalz, Liselotte von der  299 Philopatore  105, 221, 223 Platon  221, 291f., 300, 326 Polyempirus  64, 69 Poquelin, Jean-Baptiste → Molière  50, 269 Postel, Christian Heinrich  74 Pratsch, Susanna Elisabeth  146, 148 Pufendorf, Samuel von  104, 331 Pure, Michel de  51 Rebenlein, Georg  95 Reimmann, Jakob Friderich  20 Reinwald, Georg Ernst  254 Reuter, Christian  241 Richardson, Samuel  144, 397 Rischmüller → Madame R***  187, 210‒212, 242‒247, 405 Roche La, Sophie von  153 Roche-Guilhem La, Anne de  147 Rochefoucauld La, François  104 Ross, Thomas  95 Rost, Johann Leonhard → Meletaon  1, 3, 10, 15, 50, 55, 59, 62, 74f., 85, 88‒92, 117, 123, 130‒141, 144, 157, 160, 163f., 175f., 179, 182‒192, 216, 281, 288, 298, 301, 303, 306, 309, 335‒343, 346‒349, 354‒360, 377‒387, 389, 395 Rotth, Albrecht Christian  20‒22, 168, 172 Rügen, Johann Konrad  96

457 Sachsen-Gotha-Altenburg, Anna Sophie von 83, 160f. Sand, Johann M. von  77 Sand, George  269 Sarcander  113, 137 Schiller, Friedrich von  3, 152, 269, 368 Schiller, Benjamin  72 Schmeizel, Martin  122f. Schmidt, Samuel Heinrich  72 Schnabel, Johann Gottfried  3, 176, 218, 383 Schwetschke, Gustav  59f., 256 Scudéry, Madeleine de  6f., 10, 20, 46‒52, 108, 110‒112, 128, 140, 144, 147, 173, 177, 192, 204, 217, 235, 249, 256, 289‒292, 313f., 316‒323, 345, 350, 353, 356‒358, 369, 371‒373, 377, 383, 388, 394‒396, 399, 405, 418 Scudéry, Georges  47f. Seckendorff, Veit Ludwig von  104 Selamintes → Wendt, Christoph Gottlieb  3, 10f., 15, 62, 105, 120, 129f., 137, 158, 160, 163, 192f., 216‒226, 240, 242, 249, 284, 328 Sévigné, Marie de Rabutin-Chantal, Marquise de  10, 51 Shakespeare 269f. Spener, Philipp Jakob  84 Stetten, Maria Magdalena von, geb. Sultzer 94f. Stockfleth, Maria Catharina  15, 146, 148 Stolle, Gottfried  20 Stubenberg, Johann Wilhelm von → Der Unglückseelige  49, 118 Sulzer, Johann Georg  188 Talander → Bohse, August  1‒3, 10f., 15, 22, 38, 40f., 43, 49f., 54, 61, 72‒75, 82f., 85, 87, 91, 93‒98, 100‒105, 107f., 111, 116‒122, 124f., 127, 129f., 132‒134, 136, 141f., 157‒162, 164‒172, 175‒182, 185, 187, 189‒199, 206‒209, 211‒214, 217, 221, 226‒242, 248, 250, 253, 257f., 298, 301‒306, 309, 311, 313, 316f., 321, 323, 328, 330, 332, 338f., 342, 347‒352, 354, 360‒364, 367‒369, 371f., 377, 379f., 388f., 393, 395, 401, 407 Telemann, Georg Philipp  244 Tietze, Immanuel  81, 97 Thomasius, Christian  48, 50, 104, 108‒112, 132, 173‒175, 198f., 203‒206, 211, 218, 221, 224, 249, 331, 394, 400 Tschirnhaus, Ehrenfried Walther von  104

458 Veramor  234 Voitüre, Vincent  51, 118 Walther, David Christian → Menander  2, 91, 105, 157 Wedel, Benjamin  50, 68, 74, 85‒87, 95, 118, 125‒127, 132, 191, 210‒212, 214‒216, 242‒247 Weidmann, Christian  72, 94f., 118, 158, 165, 350 Weidmann, Maria Sacerin  102 Weidmann, Moritz Georg d. Ä.  48, 73, 102, 173, 193 Weidmann, Moritz Georg d. J.  61f., 71, 73‒77, 84‒88, 92, 94, 100‒105, 116‒118, 121, 164, 189, 347 Weise, Christian  15, 104, 125, 132

Personenregister Wendt, Christoph Gottlieb → Selamintes  3, 10f., 15, 62, 105, 120, 129f., 137, 158, 160, 163, 192f., 216‒226, 240, 242, 249, 284, 328 Wieland, Christoph Martin  3, 188 Wolf, Johann Christian  60, 78f. Wolff, Christian  104 Wohlfahrt, Johann Christian  256f. Woolf, Virginia  269 Zacharias, Leonhard  94f. Zahn, Johann Christian  71 Zedler, Johann Heinrich  104, 222, 224f. Zeidler, Johann Gottfried  65 Zesen, Philipp von  15, 172, 200 Ziegler und Klipphausen, Heinrich Anselm von  192, 217, 406, 445 Zunner, Johann David  76f.