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German Pages [284] Year 2016
Rita Rieger
Liebe – poetologisch und kulturell Figurationen im spanischen Roman um 1900
Mit 5 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7370-0639-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Karl-Franzens-UniversitÐt Graz und der Hugo Schuchardt’schen Malvinenstiftung. 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Für Maria
Inhalt
1 Liebe-Schreiben im spanischen Roman . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Theoretisch-methodologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Das System ›Literatur‹ um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zu Form und Funktion höchstpersönlicher Kommunikation im Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Liebe, Eros, Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Liebe als Kommunikationsmedium . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Zur Funktion des Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Liebe als passives Erleiden oder aktives Handeln? . . . . . . . . 2.4 Zum Verhältnis von Liebe und Sexualität . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Sexualität, Wahrheit und Individualität . . . . . . . . . . . 2.4.2 Liebe und Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Freundschaft als Garant dauerhafter Liebe . . . . . . . . . 2.5 Liebesgeständnis und (Lektüre-)Lust . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Zur sprachlichen Komponente von Liebe . . . . . . . . . . . . . 2.6.1 Liebe im Roman: ein Verliebt-Sein und ein Sprache-Sein . 2.6.2 Verführung als metareflexive Komponente . . . . . . . . . 2.6.3 Zur Erzählstruktur des ›Verliebens‹ . . . . . . . . . . . . . 2.7 Zur Methode des Typologisierens . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3 Ein historischer Streifzug durch Liebesreden . . . . . . . . . . . . . .
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4 Liebe – poetologisch und kulturell . . . . . . . . . . . . 4.1 Mystische Liebe als ästhetische Konstante der langen Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Juan Valeras ästhetische Mystik . . . . . . . . . 4.1.2 Pardo Baz#ns kritischer Mystizismus . . . . . . 4.1.3 Miguel de Unamunos mythische »biunidad« . .
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Inhalt
4.2 Zur Koevolution von Liebe und ästhetischen Neuerungen . . . . 4.2.1 Verlebendigung von Opern, literarischen Texten und Flamenco-Liedern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Stendhals Kristallisations-Konzept . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Jos8 Ortega y Gassets Metapher der Liebe als zentrifugale Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Re-Kreation als Funktion des Romans um 1900 . . . . . . . . . 4.3.1 Liebe und ihre Realisierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Gelebte Liebe und ihre Mängel . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Die aktivierende Komponente der Liebe . . . . . . . . . .
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6 Typ 2: Liebe als spielerisch reflektierte Diskurse . . . . . . . . . . . . 6.1 Gegen den Kategorisierungswahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Der Roman zwischen Bilden und Ereignen . . . . . . . . . . 6.1.2 Literatur und Leben – Zwei lebendige Realitäten . . . . . . . 6.2 Clar&ns skalare Liebes- und Romankonzepte . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Toleranz als Grundlage von Ästhetik und Liebe . . . . . . . 6.2.2 Skalare Geschlechterbilder in Clar&ns La Regenta . . . . . . 6.2.3 Schreibende um 1900 als hybride Monster . . . . . . . . . . 6.3 Liebe als Neugierde bei Emilia Pardo Baz#n . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Psycho-physische Liebe als ästhetische Kategorie bei Pardo Baz#n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5 Typ 1: Liebe als Praktikabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Wie sich der realistische Roman mit Gefühlen füllt . . . . . . 5.1.1 Die Rolle der Imagination im spanischen Realismus . . 5.1.2 Zur Bedeutung der Sprache im realistischen Schreiben . 5.2 Interesselose Liebe als ästhetische Kategorie bei Juan Valera . 5.2.1 Liebe als ästhetische und kulturelle Kategorie . . . . . . 5.2.2 Erfahrbare Schönheit in Juan Valeras Romankonzept . . 5.2.3 Liebesfigurationen in Pepita Jimenez . . . . . . . . . . . 5.2.4 Liebe als höchstpersönliche Kommunikation . . . . . . . 5.2.5 Ein Briefroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Durchschaubare Leidenschaften bei Benito P8rez Galdjs . . . 5.3.1 Tristana: Papierene Figuren und der europäische Liebesdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Ungeschriebene Protagonistinnen und Protagonisten . . 5.3.3 Verliebt-Sein als Medium der Re-Kreation . . . . . . . . 5.3.4 Liebesleidenschaft als implizite poetologische Grundlage bei Galdjs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5 Von der mimetischen zur reinen Kunst . . . . . . . . . .
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Inhalt
6.3.2 Die Dekonstruktion natürlicher Liebe in La madre Naturaleza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Kristallisationsprozesse der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4 Die Illusion einer natürlich gewachsenen Leidenschaft . . . 6.4 P8rez de Ayalas polyphone Liebe als ästhetische Kategorie . . . . 6.4.1 Zwei konträre Kraftrichtungen – Werther und Don Juan . . 6.4.2 Eleganz und Schönheit des Stils . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 P8rez de Ayalas symphonisches Romankonzept . . . . . . . 6.4.4 Die Mehrstimmigkeit tradierter Liebesdiskurse in Tigre Juan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.5 Multiperspektivität als Transformation einer harmonischen Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7 Typ 3: Liebe als intensiviertes Handeln und Erleben . . . . . . . . . . 7.1 Komponenten lebendiger Romane . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Tote Buchstaben und lebendige Worte . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Zur Bedeutung von Erinnerung und Zeit im modernistischen Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Ekstatische Liebe als ästhetische Kategorie bei Valle-Incl#n . . . . 7.2.1 Die Relation von Schönheit und mystischer Erotik . . . . . 7.2.2 Die Musikalität der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Zur Rolle der Sinne in den Sonatas . . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Intensivierungstechniken als Strukturelement des Romans . 7.2.5 Zum Prinzip der Übertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Lebendige Liebe bei Miguel de Unamuno . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Liebe als Erkenntnisansporn in Niebla . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Niebla nach dem Konstruktionsprinzip einer japanischen Puppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Welche Liebe überdauert? Von Königinnen, Drohnen und Bienen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.4 Gegen das bürgerliche Verschmelzungsideal der Liebe . . . 7.3.5 Liebe und Handlung in Niebla und La t&a Tula . . . . . . . 7.4 Zeitungebundene Sensibilität als ästhetische Kategorie bei Azor&n 7.4.1 Wahrgenommene Wiederholungen . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Azor&ns Romane – flüchtige Träume . . . . . . . . . . . . . 7.4.3 Liebesfigurationen in DoÇa In8s . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.4 Die Zeitenthobenheit der Liebe oder ein ganz gemeines Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.5 Vom Roman zum Prä-Roman . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8 Liebe als ästhetische und kulturelle Form . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
9 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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10 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Liebe-Schreiben im spanischen Roman Einem Menschen zu begegnen, bedeutet, von einem Rätsel wachgehalten zu werden. (Peter Sloterdijk)
Wie ist sie, die Liebe? Diese Frage scheint den literarischen Umgang mit Liebe implizit zu begleiten, und dennoch kann ihre Antwort aufgrund der vielschichtigen Konzeption von Liebe nur defizitär ausfallen. Liebe ist geistig und körperlich, himmlisch und irdisch, leidenschaftlich und freundschaftlich, triebhaft und willentlich, traditionell gebunden und revolutionär, flüchtig und ewig, poetologisch und kulturell. Liebe ist in literarischen Darstellungen um 1900 vor allem Aktivität. Daher fordert Liebe stets eine Reaktion heraus, sie kann nicht ignoriert werden. Die aus Liebe resultierenden Handlungen, das damit verbundene Heraustreten aus einer gewohnten Situation, die Dynamik – schlicht die Funktionen und Wirkungen ihrer aktivierenden Kraft stehen im Zentrum dieser Arbeit. Die Komplexität leidenschaftlicher Gefühle verringert sich trotz der Einschränkung des Interesses auf ihre aktivierende Funktion nicht, denn die Beschäftigung mit Liebe stellte bereits in der Antike – etwa in Platons Symposion – unterschiedliche Zugänge nebeneinander, die sich bis heute halten und wissenschaftliche Erklärungsversuche mit literarischen verbinden. Eine Erweiterung literaturwissenschaftlicher Ansätze scheint daher in der Beschäftigung mit dem Thema Liebe unerlässlich und wird auch in neuesten Publikationen erfolgreich umgesetzt, wie Niels Werber in Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation (2003) oder Oliver Jahraus in Amour fou. Die Erzählung der Amour fou in Literatur, Oper, Film: zum Verhältnis von Liebe, Diskurs und Gesellschaft im Zeichen ihrer sexuellen Infragestellung (2004) zeigen.1 Der Stand der aktuellen Forschung lässt erkennen, dass system- oder diskurstheoretische Zugänge in der Lage sind, der Komplexität von Liebe durch historisch systematische Analysen gerecht zu werden. Beide Ansätze ermöglichen es, moderne Liebe aus der Perspektive einer Koevolution von 1 Die Aktualität des Themas manifestiert sich in Studien an der Schnittstelle von Kultur- und Literaturwissenschaft und erfolgt meist als Sammelpublikation unterschiedlichster WissenschaftlerInnen vgl. etwa Neuhaus 2012 und die mit einer umfangreichen Bibliographie versehene Einleitung des Sammelbandes Liebe als Kulturmedium (vgl. Faulstich/Glasenapp 2002, 7–22). Zu den neueren genuin literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit Liebe aus narratologischer Sicht in der deutschsprachigen Literatur beschäftigen, zählt etwa Metz 2012.
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Roman und kulturell gelebten Leidenschaften zu erfassen und damit kulturelle Veränderungen mit ästhetischen zusammenzuführen. Im Folgenden beziehe ich mich daher auf Niklas Luhmanns Ansatz, Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium zu verstehen. Für Luhmann stellt die moderne, insbesondere romantische Liebe den Ort der höchstpersönlichen Kommunikation dar, dessen Funktion in der Entfaltung und Festigung von Individualität liegt (LP 24).2 Mithilfe Michel Foucaults Diskurstheorie wiederum rückt ein blinder Fleck der Systemtheorie – die starke Trennung der einzelnen Medien und Systeme sowie die Vernachlässigung der Sexualität als körperliche Komponente der Liebe – ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Niklas Luhmanns Ausdifferenzierung des Kommunikationsmediums Liebe und Michel Foucaults Analyse des Sexualitäts-Diskurses stellen somit die Grundlage der vorliegenden historischen und systematischen Analyse der literarischen Liebesdarstellungen im spanischen Roman um 1900 dar. Aufgrund der angenommenen wechselseitigen Beeinflussung von literarischen und kulturell gelebten Liebesdiskursen können Aussagen nicht nur über die Gestaltung des Romans, sondern auch über jene der Liebe getroffen werden. Die Interdependenz von realer und ästhetischer Liebe wird zudem von neuesten kongitionswissenschaftlich orientierten Emotionstheorien unterstützt, welche Emotionen anhand ihrer narrativen Struktur erklären. Liebe poetologisch und kulturell gelesen, kann daher neben literatur- und gattungstheoretischen Reflexionen auch Aufschluss über literaturexterne kulturelle Ereignisse geben. Niels Werber zeigt in Liebe als Roman deutlich, wie sehr sich die Medien ›Liebe‹ und ›Roman‹ im 18. Jahrhundert in ihrer Entwicklung beeinflussen. Dieses Wechselverhältnis kann auch für die Evolution der post-romantischen Liebe in Abhängigkeit von der Entfaltung des Romans festgestellt werden. Von besonderem Interesse ist hier die ästhetische Funktionalisierung von Liebe in Werken, die sich von romantischen Liebes- und Literaturvorstellungen absetzen. Die Form der romantischen Liebe zeichnet sich durch einen hohen Grad an Selbstreferenz aus, der sich darin äußert, dass sich Liebe selbst genügt, dass sie nur aus sich heraus legitimiert werden kann und nicht auf außenstehende Attribute wie Schönheit oder Tugend angewiesen ist (vgl. LP 43). »Ich liebe, weil ich liebe« lautet das Motto der Romantik, das auch auf die Kunst übertragen werden kann. Um nicht in Tautologien zu verfallen, wendet sich die literarisch gestaltete post-romantische Liebe wieder vermehrt ihrer Umwelt zu, ohne das selbstreferentielle Moment außer Acht zu lassen. Damit treten neben den Beziehungen zwischen den Kommunikationsmedien Liebe und Kunst jene zu anderen Systemen wie Wissenschaft, Ökonomie oder Religion verstärkt in den 2 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle LP auf Niklas Luhmann (2009): Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Vordergrund. Dieser Wandel kann auch hinsichtlich der Gattungsformen beobachtet werden, da sich der Roman weiter ausdifferenziert und Anleihen an philosophischen Formen wie dem Essay nimmt. Neben reinen Liebesromanen oder historischen Romanen, in denen die Liebe eine Rolle spielen kann, werden nun Romane geschaffen, die eine Affinität zu wissenschaftlichen Methoden oder philosophischen Spekulationen kennzeichnet. Um das hier beschriebene Bedeutungsfeld von Liebe als epistemologische, ästhetisch-poetologische und kulturelle Kategorie fassen zu können, verwende ich den Begriff der Figuration. Dieser lenkt die Aufmerksamkeit auf die Relation der einzelnen Teilbereiche und umfasst gleichermaßen Niklas Luhmanns Ansatz, Liebe als Kommunikationscode zu betrachten, Michel Foucaults diskurstheoretische Geschichte der Sexualität und schließlich auch Liebe als Allegorie, die auf das seit der Moderne nun wesentliche Moment der Sprachlichkeit verweist. Dabei ziehe ich Allegorie als spezifisch literaturinterne Figur heran, welche ermöglicht, die Konstellation von Liebe gleichermaßen als ästhetisch-poetologische Kategorie und als kulturelle Konstante zu behandeln, denn die moderne Allegorie verdeutlicht die Doppelfunktion der Sprache, die einerseits als Referenzmedium auf außerliterarische Ereignisse oder Faktoren fungiert, andererseits als Bezugnahme auf die Sprachlichkeit und damit auf die Literarizität des Textes. Durch die Berücksichtigung letzteres verweist Liebe auf ästhetische Kategorien und poetologische Programme und lässt Rückschlüsse auf die Schreibweisen der einzelnen Autorinnen und Autoren zu, die sich literarhistorisch wiederum durch eine Zuordnung der Romane zu Realismus oder Modernismo unterscheiden. Methodisch fließen die einzelnen theoretischen Ansätze in einer Typologie zusammen, die den anaphorischen Aspekt (Liebe/Roman als Abbild der Denkweise um 1900) und den kataphorischen Aspekt (Liebe/Roman als Modell für Nachfolgegenerationen) zugleich erfassen soll. Konsequent spaltet sich die in eine Typologie mündende Analyse daher in zwei Teile: Im Anschluss an die Darlegung der poetologischen Bedeutung von Liebe oder Emotion für die einzelnen Autorinnen oder Autoren, werden anhand ausgewählter Romane bevorzugte Liebesfigurationen der langen Jahrhundertwende diskutiert. Der Untersuchungsgegenstand wird dem Vorhaben entsprechend aufgefächert: Das aus Romanen bestehende Textkorpus wird um literaturkritische Essays, Zeitungsartikel und Schriften erweitert, in denen Liebe für die künstlerische Produktion von den gewählten Autoren und Autorinnen grundlegend diskutiert wird. Damit lässt sich der Analysegegenstand »literarische Liebe« als Konglomerat bestehend aus Figurationen von Liebe als Emotion und von Liebe als Schreibmodus charakterisieren. Die Analyse von Liebesfigurationen im spanischen Roman um 1900 wird zeigen, dass Liebesfigurationen in diesem Feld zwischen mehr oder minder rational distanziert dargestellter Liebe (Realismus) und Liebe als quasi lebendigem Herzstück poetologischer Strukturen (Moder-
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nismo) oszillieren. Beide literarische Zugänge haben die Innovation des Romans zum Ziel. Während im realistischen Modus großes Augenmerk auf den Repräsentationscharakter der Figurationen gelegt wird, fokussiert der modernistische Modus auf die Intensivierung individuellen Erlebens und somit auf einen Effekt, der durch verschiedenste ästhetische Experimente hervorgerufen werden soll. Trotz umfangreicher Studien zum Thema fehlt bislang eine eingehende Betrachtung von Liebe im spanischen Roman um 1900. Auch die neuere komparatistisch angelegte Forschung, wie Carsten Rohdes Kontingenz der Herzen. Figurationen der Liebe in der Literatur des 19. Jahrhunderts (2011), gibt zwar einen sehr guten Überblick über die deutschsprachige, französische und russische Literatur, spanische oder italienische Werke bleiben allerdings, wie auch Liebe als ästhetische oder poetologische Kategorie, unberücksichtigt. Dass hier ein Aufholbedarf vorliegt, steht außer Zweifel, stellt doch die spanische Literatur der Siglos de Oro mit Don Juan eine Verführer-Figur zur Verfügung, die nicht nur die Weltliteratur in schillernden Variationen bis in die Gegenwart durchwandert, sondern Liebe als Kommunikationsmedium mit der Funktion der Täuschung, der uneigentlich gemeinten Imitation oder der Machtausübung gleichsam inkarniert und um 1900 einen besonderen Stellenwert erhält.3 Zudem gelingt es insbesondere über Verführer-Figuren, die Funktionsweise von Liebe als Diskurs bzw. als Kommunikationsmedium im Sinne einer Erzählung im Roman vorzuführen. Seit dem 18. Jahrhundert zeichnen sich Luhmann zufolge Systeme dadurch aus, dass sie die ursprüngliche Unterscheidung eines Systems von anderen bzw. von der Umwelt im eigenen System wieder einführen, in anderen Worten, die Oppositionen von Geist und Sinnlichkeit werden in der Sinnlichkeit nachgezeichnet, die Unterscheidung von real und fiktiv ist Bestandteil des literarischen 3 Obschon auf vereinzelte Studien zu den ausgewählten Autorinnen und Autoren zurückgegriffen werden kann, fehlt bislang eine Analyse zum Epochenwechsel ebenso wie eine Herangehensweise, die Liebe als kulturelle und ästhetische Kategorie untersucht. Aus der umfangreichen Forschungslandschaft zu den Romanen der einzelnen Autorinnen und Autoren nähern sich folgende Werke dem Themenkomplex Liebe: Das dialektische Liebeskonzept Juan Valeras behandelt einschlägig Kennedy 1982; Grimbert 1992–1993 behandelt Galdjs’ Transformation des Tristan-Mythos in Tristana; sowie Guerrini 1978, die das Frauenbild und das Thema der Ehe in Galdjs’ Romanen allgemein behandelt. Nach wie vor hervorragend liest sich die Studie von Sobejano 1966 zur Liebessprache in Tristana sowie die Analysen zur Liebe allgemein von Montero-Paulson 1981 und Gulljn R. 2008; aus komparatistischer Sicht liegt eine Analyse zum Ehebruch in Clar&ns La Regenta und Werken seiner französischen Zeitgenossen vor (vgl. Schlickers 2001) sowie eine Studie zur dichotomen Liebeskonzeption in La Regenta (vgl. Garc&a Sarr&a 1975). Kostra 1977 analysiert Miguel de Unamunos Liebeskonzept als ontologische Kategorie. Emilia Pardo Baz#ns Roman Los Pazos de Ulloa wurde unter dem Aspekt der verbotenen Liebe erforscht (vgl. Cl8messy 1989). Zu P8rez de Ayalas Verknüpfung von Ehrdiskurs und Liebesdiskurs arbeitete Amorjs 1972 sowie aus gendersensibler Perspektive Paredes MHndez 2006.
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Systems, das sich im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdreferenz bewegt (vgl. KL 271 u. 277 u. 360).4 Bezogen auf Liebesfigurationen gilt für die Romantik noch die Differenz Diskurs über Liebe und Liebe, die in der Literatur nachgezeichnet wird und konsequenterweise literarische bzw. sprachlich geformte Liebe von erlebter trennt. Um 1900 hingegen wird diese Unterscheidung von Diskurs über Liebe und Liebe verworfen. Die autoreferenzielle Reflexion, die nunmehr erlebte mit versprachlichter Liebe gleichsetzt, erfolgt insbesondere anhand von Verführer-Figuren oder Kuppler-Figuren – seien es Menschen, Lieder oder Texte – oder anhand von mystischer Liebe als ästhetische Kategorie, die allesamt die Nivellierung der bis in die Romantik gültigen Leitdifferenz von Diskurs über Liebe und Liebe verdeutlichen. Mit dem Übergang vom Realismus zur künstlerischen Moderne fokussiert mein Vorhaben demnach auf eine Zeit, welche das Oszillieren der Kunst zwischen Selbst- und Fremdreferenz abwechselnd zum Programm erhebt, ohne die wirklichkeitskonstitutive Komponente von Literatur außer Acht zu lassen. Hierbei orientiere ich mich am Realismus-Verständnis der Autorinnen und Autoren, die keine klare Differenzierung zwischen naturalistischem und realistischem Schreiben vornehmen, realistische von modernistischen bzw. ›modernen‹ Schreibweisen hingegen durchaus abgrenzen. Grundlage einer Unterscheidbarkeit von Realismus und Modernismo sind damit nicht nur Stilbegriffe,5 4 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle KL auf Niklas Luhmann (2008b): Schriften zu Kunst und Literatur, hg. von Niels Werber, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 5 Dieser Ansatz zur Differenzierung von Realismus und Modernismo soll nicht über die Komplexität der Begriffe und die Vielfalt der Zugänge hinwegtäuschen. Der Realismus-Begriff des 19. Jahrhunderts wird im Allgemeinen an ein rational positivistisches Realitätskonzept geknüpft, das einer Poetik vorgelagert ist, die eine gegenwartsbezogene, sozialkritische, historisch markierte Kunst bezeichnet, die die Lebenswelt beobachtet und beeinflusst (vgl. Knaller 2015, 80). Auerbach 1994 nähert sich dem Realismus ausgehend von der philosophischen Verwendung über den Stilbegriff. Als Epochenbegriff behandeln Aust 2000, Villanueva 2004 und Ort 2007 den Realismus. Spezifischer geht Beyrie 2001 auf die Bedeutung der Geschichtsschreibung für das realistische Schreiben ein, wie auch Günter 2007, der den Einfluss der Presse auf die Romanproduktion untersucht. Bisher beschäftigte sich die Forschung auch mit realistischer Ästhetik spanischer Romane (vgl. Lissorgues 2001), dem spanischen Naturalismus aus poetologischer Sicht (vgl. Sotelo V#zquez A. 2002) sowie mit einer differenzierten Betrachtung von realistischen und naturalistischen Werken einschließlich umfangreicher Bibliographie (vgl. Rubio Cremades 2001). Die Komplexität des Begriffes Modernismo spiegelt sich in einer Gleichsetzung mit poetologischen Programmen der Generacijn del ’98 oder in Abgrenzung zu dieser Gruppe. Vereinzelte Studien modellieren die Merkmale des spanischen Modernismo anhand repräsentativer AutorInnen und Werke (vgl. Rjdenas Moya 2000) oder anhand spezifischer Gattungen wie der novela intelectual (vgl. Johnson 2001) oder dem spanischen Roman der 1920er Jahre (vgl. Serano Asenjo 2001). Umfassend behandelt Peter Bürger in seinen Studien die künstlerische Moderne aus einer gesamteuropäischen Perspektive (vgl. Bürger 1985, 1988 u. 2007) während Aurora Egido speziell den barocken Einfluss auf den spanischen Modernismo berücksichtigt (vgl. Egido 2009). Wie die Analyse der Poetiken ergeben wird, beziehe ich mich auf Charakteristika wie
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sondern unterschiedliche Realitätsbegriffe, die mit gegensätzlichen Sprachverständnissen einhergehen und jedem künstlerischen Programm vorgelagert sind. Susanne Knaller unterscheidet drei ideal-typische Realitätskonzepte anhand verschiedener Relationierungen von Realitätsmodell im Sinne einer Ontologie und Realitätsmodus im Sinne der Erfahr- und Darstellbarkeit von Wirklichkeit. Der ontologische Status von Realität kann als rational, konstruktiv oder virtuell bezeichnet werden. Die unterschiedlichen Formen der Realitätserfahrung und -darstellung wiederum lassen sich laut Knaller mit den Modi repräsentativ, performativ und experimentell abstrahieren. Diesen drei Komplexen entsprechen die Funktionen des Abbildens, Bildens und Intervenierens bzw. Ereignens.6 Die Erfassung der Wirklichkeit der Kunst über die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten von Modell und Modus ermöglicht einen differenzierten Blick auf die literarische Produktion der Jahrhundertwende, der den literarischen Realismus nicht zwingend auf ein rationales Wirklichkeitsverständnis, das im repräsentativen Modus präsentiert wird, reduziert. Denn die Analyse poetologischer und ästhetischer Schriften zeigt deutlich, dass der Umgang mit Realität im literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts nicht mehr länger nur an einen idealistischen Mimesisbegriff gebunden ist, da dieser durch die Orientierung des Literatursystems am Wissenssystem abgelöst wird. Diese Zäsur erweitert das rationale Realitätsmodell um die Komponenten des Sozialen und des EmpirischObjektiven, infolgedessen Wirklichkeit durch Empirie authentifiziert werden kann. Vom rationalen Modell, das im 17. und 18. Jahrhundert vorherrscht, unterscheidet sich das Realitätsmodell des 19. Jahrhunderts dadurch, dass Wirklichkeitsrepräsentationen nicht länger affektiv oder moralisch besetzt sind und einem Transzendentalauftrag folgen, vielmehr werden die Repräsentationen an objektivierbare Wirklichkeitsbeobachtungen sowie wissenschaftliche Realitätskonstruktionen anschließbar (vgl. Knaller 2010, 179). Zur Beschreibung des literarischen Realismus um 1900 wird ein zugrundeliegendes Realitätsmodell angenommen, das zudem die selbstreferentielle und selbstreflexive Komponente der realistischen Literatur berücksichtigt und damit den performativen Charakter sowie die mediale Verfasstheit realistischer Werke verstärkte Selbstreflexivität oder eine bewusst opak gestaltete Sprache, die es erlauben, ein modernistisches von einem realistischen Schreiben zu unterscheiden und damit als zugrundeliegende Stilbegriffe, die an je verschiedene Realitätskonzepte gebunden sind, einen Epochenwechsel zu kennzeichnen. Zur Kontextualisierung der Begriffe am Übergang von Realismus zu Modernismo kann auf die einschlägigen Werke von Miller 1993, Aubert 2001, Longhurst A. 2000 sowie Simon 2007 verwiesen werden. 6 Ausführlich zum Verhältnis von Realität und moderner Kunst siehe Susanne Knaller (2015): Die Realität der Kunst. Programme und Theorien zu Literatur, Kunst und Fotografie seit 1700, Paderbon: Fink sowie dies.: (2011): »Realitätskonzepte in der Moderne. Ein programmatischer Entwurf«, in: dies./Müller, Harro (Hg.): Realitätskonzepte in der Moderne. Beiträge zu Literatur, Kunst, Philosophie und Wissenschaft, Paderborn: Fink, 11–28.
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ausdrückt (vgl. Knaller 2011, 14). Die hier analysierten realistischen Werke bewegen sich demnach zwischen einem rationalen und einem konstruktiven Wirklichkeitsmodell, das entweder repräsentativ oder performativ wahrgenommen und vermittelt wird. Realismus als poetologische Kategorie der spanischen Literatur um 1900 bezeichnet eine Kunst, die gegenwartsbezogen ist, genaue Beobachtung der externen oder subjektiv inneren Wirklichkeit fordert, kritisch auf die soziale und kulturelle Umwelt referiert, sich als Reflexionsmedium von außertextueller und textueller Wirklichkeit versteht und von einer wechselseitigen Beeinflussbarkeit von Wirklichkeit und Literatur ausgeht und damit den konstruktiven Charakter der Kunst hervorhebt. Daran knüpft die Poetik des Moderismo insofern an, als sie auch gegenwartsbezogen agiert, dies jedoch über eine Stimulanz des körperlichen Erlebens im Akt der Lektüre zu erreichen sucht. Modernistische Literatur versteht sich nicht nur als Reflexionsmedium des Verhältnisses von außerliterarischer und literarischer Wirklichkeit, vielmehr wird Literatur als Erfahrungsraum von Wirklichkeit konzipiert, der die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt auflöst, und zudem die kreative Handlungsmacht der Lesenden betont. Kultur- und gesellschaftskritische Ansprüche geraten dabei in den Hintergrund. Die dem Modernismo zugeordneten Realitätsmodelle können als konstruktiv und virtuell bezeichnet werden, ihre Modi sind der performative und der experimentelle. Über die Berücksichtigung von Realitätskonzepten kann letztlich die Auflösung der bis in die Romantik geltenden Leitdifferenz von Liebe und Diskurs über Liebe erklärt werden. Während der repräsentative Modus auf ein Sichtbar-Machen, ein Abbilden und Enthüllen eines ›Außerhalb der Literatur‹ zielt, fallen im performativen Modus Partizipation und Beobachtung, Referenz und SelbstReflexivität sowie Formierung und Handlung zusammen (vgl. Knaller 2015, 62). Liebesdiskurse verlieren auf diese Weise ihren enigmatischen und transzendenten Charakter, vielmehr ziehen sie die Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Rezeption und die Wirkung der literarischen Gestaltung. Dies lässt sich anhand der daraus resultierende Nivellierung der Differenz von Liebe und Diskurs über Liebe nachvollziehen, durch die die Handlungsmacht sprachlicher Artefakte unterstrichen wird, denn Liebe zeichnet sich im Gegensatz zur romantischen Konzeption nicht länger durch ihre Inkommunikabilität aus, vielmehr ist Liebe, was sprachlich formuliert oder evoziert werden kann. Für das realistische und modernistische Schreiben wird besonders deutlich, dass sich die Wirklichkeit der Liebe nicht nur im referentiellen Inhalt äußert, sondern auch im Prozess der Äußerung selbst. Autorinnen und Autoren beider Epochen formulieren ihre poetologischen Programme somit ausgehend von einem konstruktiv-performativen Realitätskonzept. Unterschiede zwischen den beiden literarischen Strömungen finden sich in der Referenz, in den ästhetischen Tendenzen und dem Umgang mit Sprache. Realistische Autorinnen und
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Autoren fokussieren überwiegend auf Fremdreferenz und formulieren den Wunsch nach möglichst großer Kohärenz zwischen Faktizität und Fiktionalität, wodurch der semiotische Charakter der Figuration zugunsten einer rationalen Repräsentation weniger akzentuiert wird, allerdings nicht völlig negiert wird. Dahingegen akzentuieren modernistische Autorinnen und Autoren die Selbstreferenz, und betonen dadurch neben der konstruktiven auch die ästhetische und vor allem experimentelle Komponente der Semiosis, deren Funktionen in einem Bilden und Ereignen liegt. Einer Vorstellung von Roman als Studie des repräsentativen Realismus steht somit eine Idee des Romans als intensivierte Schreib- und Lektürepraxis gegenüber, die auf ein virtuell-experimentelles Realitätskonzept zurückgeht und Liebe weniger beschreibt, als vor Augen führt. Realismus und Modernismo greifen auf ein konstruktives Realitätsmodell zurück, orientieren sich jedoch an unterschiedlichen Darstellungsmodi. Denn die Funktion der jeweiligen Wirklichkeitsdarstellung liegt im realistischen Schreiben in der Konstruktion eines Abbildes (repräsentativer Modus), im modernistischen Schreiben hingegen in der Schöpfung eines Ereignisses (experimenteller Modus). Beide Schreibmodi reagieren auf die sich verändernden Konzeptionen von Liebe und Roman, weshalb Liebesfigurationen herangezogen werden können, um den Umschwung von realistischem Schreiben hin zu modernistischem Schreiben zu belegen und zugleich dessen Ursache offenzulegen. Das für die Analyse zentrale Textkorpus setzt sich aus Romanen zusammen, die sämtlich der kanonisierten Literatur entnommen wurden und sich auf die literarischen Epochen des Realismus und der künstlerischen Moderne aufteilen. Die Beschränkung der Textauswahl auf Werke des literarischen Kanons schließt zwingend gewisse Liebesdarstellungen (wie jene des erotischen Romans oder jener der zur Jahrhundertwende florierenden pornographischen Literatur) aus, geht jedoch mit der Annahme einher, dass über die Integration kanonisierter Werke in das Bildungssystem die jeweiligen Liebesdiskurse auf nachfolgende Generationen eine größere Wirkung ausübten und vor allem Leserinnen und Lesern leichter zugänglich waren. Auch die breitere Rezeption der ausgewählten Werke außerhalb nationalstaatlicher Grenzen scheint naheliegend. Die Auswahl der Romane orientierte sich zudem an einer möglichst variantenreichen Präsentation des Themenkomplexes Liebe, um mit jedem Roman ein Fragment oder eine Facette von Liebe darzustellen. Diese Vielfalt spiegelt sich auch in den unterschiedlichen Konzeptionen von Liebe als ästhetische und kulturelle Kategorie. Meine Textanalyse beginnt mit Juan Valera, dessen Unentschiedenheit zwischen positivistischen und idealistischen Welterklärungsmodellen den epistemologischen Bruch um 1900 dokumentiert. Sein Liebeskonzept fokussiert auf die interesselosen Seiten von Liebe und Roman. Zudem stellt Valera mit seinem Roman Pepita Jim8nez (1874) Liebe als Ort der höchstpersönlichen Kommuni-
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kation in Frage. Benito P8rez Galdjs wiederum schwankt zwischen repräsentativem und performativem Modus in der Darstellung von Liebe, die Liebe als kulturelle Leidenschaft und als poetologisches Element fasst. In seinem Roman Tristana (1892) wird Liebe dezidiert als Kommunikationsmedium reflektiert, das zu Zwecken der Persönlichkeitsentfaltung eingesetzt werden kann. Dadurch betont der spanische Autor die Performativität der Sprache und unterscheidet seine Schreibweise von einer rein rational-repräsentativen Realismuskonzeption. Beide Autoren gelten als Vertreter der realistischen Schreibweise. Sie grenzen sich im Romanverständnis und im Liebesverständnis von der Romantik ab, indem sie auf die Inkommunikabilität des Gefühls parodierend referieren. Das Neue am Realismus, so meine erste These, manifestiert sich darin, dass Liebe und Diskurs über Liebe zusammenfallen. Den Autoren und Autorinnen des Realismus gelingt die Darstellung dieser Nivellierung einer Leitdifferenz vor allem durch das Aufzeigen der Funktionsweise von Sprache. Liebe wird in Anlehnung an die Allegorie nicht darüber definiert, was sie vorstellt, sondern bedeutet Liebe in ihrem Funktionieren als Diskurs (vgl. de Man 1988, 11). Die Einebnung von Diskurs über Liebe und Liebe zieht sodann eine neue Leitdifferenz nach sich, indem das Charakteristikum der Inkommunikabilität durch jenes der Praktikabilität ersetzt wird. Im realistischen Schreibmodus findet die Differenzierung von liebt/liebt nicht somit ein Äquivalent in ist praktikabel/ impraktikabel. Konsequenz dieser Veränderung ist eine Aufwertung der gestaltenden, aktivierenden, auf das Handeln abzielenden Seite von Liebe. Meine zweite These lautet daher, dass das Konzept von Liebe als Passion in postromantischer Literatur durch jenes von Liebe als aktives Handeln ergänzt wird. Diese Konzentration auf die aktivierende Komponente von Liebe zeigt sich anhand von zwei privilegierten Metaphern für Liebe: Stendhal formt in De l’Amour (1843) seine Kristallisationsmetapher, die Liebe als geistige Tätigkeit konzipiert und immer wieder als Kontrastfolie für imaginäre und sinnliche Liebe in Romanen um 1900 herangezogen wird.7 Auch Jos8 Ortega y Gasset formuliert ein an der Aktivität von Liebenden und Geliebten orientiertes Liebeskonzept, das in seiner Fliehkraftmetapher kulminiert, die er in seinen »Estudios sobre el amor« (1926–1927) einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. Dieser Wandel von Liebe führt in weiterer Folge dazu, dass Liebesdiskurse im Roman kritisch diskutiert werden. Romane, die den Umbruch der literarischen Strömungen dokumentieren, weisen somit das Charakteristikum der kritischen Reflexion auf. Liebe und Roman werden zu Orten reflektierter Diskurse und grenzen sich von Konzepten einer natürlichen oder naturgegebenen Liebe ab. Die Leitdifferenz liebt/liebt nicht findet eine Entsprechung in ist reflektiert/ist natürlich. Den Übergang zwischen realistischem und modernistischem 7 Zur Metapher der Kristallisation in Stendhals Ästhetik siehe Bauereisen 2009, 215–234.
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Schreiben markieren die Werke von Leopoldo Alas alias ›Clar&n‹, Emilia Pardo Baz#n und Ramjn P8rez de Ayala. Alle drei sprechen sich gegen eine zu starke, ausgrenzende Klassifizierung und immer weiter führende Aufspaltung von Liebe und Roman aus. Clar&n tritt für ein skalares Roman- und Liebeskonzept ein, das mit La Regenta (1884–1885) geistige und körperliche, idealistische und realistische Formen integriert. Auch Emilia Pardo Baz#n akzentuiert eine Ganzheit, indem sie jedoch weniger auf sanfte Übergänge ausgerichtet ist, als dass sie eklektizistisch vorgeht. Sie vertritt ein uneingeschränktes Liebes- und Romankonzept, wie die Analysen von Los Pazos de Ulloa (1876) und La madre Naturaleza (1877) zeigen werden. Der Schriftsteller und die Schriftstellerin kombinieren zudem eine rational-repräsentative Sprache mit dem performativexperimentellen Charakter literarischer Sprache, indem beispielsweise die wiederholt differierende Gestaltung eines literarischen Topos auf die Gestaltungsmöglichkeiten der Sprache und den damit verbundenen Lektüregenuss verweist. Ramjn P8rez de Ayala versucht hingegen über die Integration von musikalischen Elementen in die Romanstruktur von Tigre Juan/El Curandero de su honra (1926) dieser Offenheit zu entsprechen. Er vertritt ein tolerantes, polyphones Liebeskonzept wie aus der Analyse seiner literaturkritischen Essays hervorgeht. Neben dem experimentellen Modus zeichnet sich in der Modellierung abstrakter Figurentypen P8rez de Ayalas Tendenz zum repräsentativen Modus ab, der mit der Vorstellung einer universellen Liebe korrespondiert. Das modernistische Schreiben zeichnet sich schließlich durch eine prominente Platzierung des Erlebens im Schaffens- und Rezeptionsakt aus. Das Attribut dieser Schreibweise liegt in einer gesteigerten Intensität sowohl der Schreibpraxis als auch der Lektüreerfahrung. Die Kehrseite dieses auf positives Erleben und aktives Gestalten ausgerichteten Konzepts liegt meines Erachtens in der Bewegungslosigkeit. Damit lässt sich die Leitdifferenz liebt/liebt nicht mit den Attributen intensiv handelnd und erlebend/bewegungslos umschreiben. In der Entwicklung des Romans äußert sich dies darin, dass vermehrt auf die aktive Beteiligung der Rezipienten oder Rezipientinnen im Akt der Lektüre Bezug genommen wird. Literatur wird als erfahrbares Ereignis gedacht. Aus den Reihen der modernistischen Autorinnen und Autoren habe ich zunächst Ramjn del Valle-Incl#n und Miguel de Unamuno ausgewählt. Valle-Incl#n verkörpert ein ekstatisches Liebes- und Romankonzept, das er in seiner ästhetischen Schrift La l#mpara maravillosa (1916) theoretisch formuliert und in seinem Romanzyklus Sonatas (1902–1905) bereits umsetzte. Ziel seiner Romane ist ein intensiviertes Erleben bei den Lesenden auszulösen. Ähnlich konzipiert zeigen sich Miguel de Unamunos poetologische Reflexionen sowie seine Romane Niebla (1914) und La t&a Tula (1921). Unamunos Neigung zu philosophischen Formen manifestiert sich in der Forderung, Kontemplation und Aktion zusammenzuführen. Liebe wird über die durch sie motivierten Handlungen vorgestellt. Azor&ns Roman
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DoÇa In8s (1925) markiert das Ende des erforschten Zeitraums. Die mit der künstlerischen Moderne entstandene neue Differenzierung in Liebe als intensivierte Praxis und Erleben versus Bewegungslosigkeit wird vor allem bei Azor&n und Valle-Incl#n mit Überlegungen zur Zeit kombiniert. Liebe wird in ihrer Überzeitlichkeit präsentiert, die dennoch immer wieder neue Formen hervorbringt. Aus der Perspektive einer Koevolution von Roman und Liebe lässt sich eine Tendenz zur Formlosigkeit feststellen, die das Innovationspotential von Roman und Liebe hervorhebt. Allen dreien gemeinsam ist eine Konzentration auf das Lieben-Wollen bzw. auf das Schreiben-Wollen als neues Charakteristikum des Romans. Die hier vorgestellten Werke werden in systematischen Textanalysen auf eine funktionale Differenzierung der Liebesdarstellungen nach Typen untersucht, wobei der Bedeutung des Begriffes typos insofern Rechnung getragen wird, als sich die ergebenden Typen nicht nur als ›Vorbild‹, ›Muster‹ oder ›Modell‹ nachfolgender Generationen verstehen, sondern auch im Sinne eines ›Abdrucks‹ oder ›Abbilds‹ Zeugen ihrer Zeit sind und Aufschluss über die Denkweise um 1900 geben.8 Der für die Moderne insgesamt zentrale Anspruch der Innovation lässt die literarischen Werke in ihrer Singularität in den Vordergrund rücken, eine lineare kausal-logische Motiv-Entwicklung wird zugunsten der Betrachtung von Diskontinuitäten verworfen. Gerade deshalb zeigt sich jedoch die Notwendigkeit, die einzelnen Liebesfigurationen selbst zu einem Exemplum oder Typus zu verdichten, um sie von anderen Konstellationen abgrenzen zu können. Liebe, poetologisch und kulturell, formt den spanischen Roman um 1900 als eine am Prozess orientierte Literatur, die zwischen Repräsentation und Erleben oszilliert. Dabei können Liebe und Roman nach ihrer Praktikabilität, Reflektiertheit oder Intensität differenziert werden. Die Entdifferenzierung von Liebe und Diskurs über Liebe zeigt sich in postromantischen Romanen schließlich noch darin, dass sich, systemtheoretisch gesprochen, sowohl die Funktion des Romans als auch die implizite Negation von Liebe ändern. Während bis ins 18. Jahrhundert Liebesreden von der Frage, ob mit Liebe auch Sexualität gemeint sei, geprägt waren, hinterlässt die Integration der körperlichen Liebe in den Diskursen ab dem 19. Jahrhundert eine Leerstelle. Meine dritte These lautet daher, dass mit der Nivellierung von Liebe und Diskurs über Liebe der (freie) Wille als Negation verhandelt wird. Dies zeigt sich an mannigfaltigen Variationen zu Topoi wie der Verführung oder der Kuppelei durch Natur, Gesellschaft oder Kunst sowie durch das besonders für den spanischen Modernismo typische Thema des Willens bzw. der Willensschwäche (abulia), die allesamt Wirkungsweisen von Machtmechanismen ge8 Zu ähnlichen Verwendungsweisen von Typ und Figur sowie Allegorie vgl. Auerbach 1967a, 57 u. 67–68, zu Typologie als Denkweise vgl. Frye 1988, 64–97.
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stalten. Die Funktion des Romans wird durch die Betonung des Handlungscharakters schließlich nicht länger auf eine suspense-Funktion reduziert, sondern äußert sich in einer Re-Kreation, die neben einem erholsamen Austritt aus dem mühsamen Alltag die Neu-Schöpfung bekannter literarischer Topoi genauso umfasst wie jene von Liebeskonzepten, des Romans oder der Identität der Lesenden. Den Begriff Re-Kreation entlehne ich dabei Miguel de Unamuno, der symptomatisch für das Literaturverständnis um 1900 in seinen poetologischen Texten die verschiedenen Umgänge mit Literatur, vom Schreibakt bis zur Lektüre, nicht allein über das Verb crear bestimmt, sondern über re-crear als literarische und kulturelle Handlung.
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Theoretisch-methodologische Grundlagen Qu’est-ce que je pense de l’amour? – En somme, je n’en pense rien. Je voudrais bien savoir ce que c’est, mais, 8tant dedans, je le vois en existence, non en essence. (Roland Barthes)
Im narrativen Umgang mit dem Themenkomplex Liebe liegt die Kunst darin, ein Erleben, ein Gefühl sprachlich oder gedanklich zu fassen. Umso mehr Geschicklichkeit wird verlangt, wenn die Unterscheidung sozial gelebter oder erfahrener Gefühle und literarischer Darstellungen in den Romanen aufgezeigt werden soll. Deshalb scheint es notwendig, theoretische und methodologische Ansätze heranzuziehen, die soziale und literar-ästhetische Aspekte der Liebesdarstellungen berücksichtigen. Neben der in der Forschung verbreiteten Verwendung von Niklas Luhmanns Systemtheorie und Michel Foucaults Diskurstheorie1 soll im Rückgriff auf gängige Erzähltheorien verhindert werden, dass 1 Um die Bandbreite der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema Liebe aufzuzeigen, seien hier einige viel zitierte Werke genannt: Nahe an der systemtheoretischen Konzeption von Liebe als Kommunikationscode analysiert Sylvie Durrer in ihrem Aufsatz »Un s8ducteur aux prises avec le script amoureux. Lecture d’une aventure du chevalier de Faublas« (2000) Liebe als Sprachcode. Niels Werbers Monographie Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation (2003) führt auf die Systemtheorie gestützt eine umfangreiche Analyse der korrelierenden Entwicklungen von Liebesdiskursen und Romanformen in der deutschsprachigen Literatur durch. Ebenfalls mit Schwerpunkt auf der deutschsprachigen Literatur beschäftigen sich die von Karl Heinz Götze u. a. publizierten Beiträge im Sammelband Zur Literaturgeschichte der Liebe (2009). Studien zur deutschen realistischen Literatur publiziert Karin Tebben in Von der Unsterblichkeit des Eros und den Wirklichkeiten der Liebe. Geschlechterbeziehungen – Realismus – Erzählkunst (2011). Der von Oliver Jahraus herausgegebene Band Amour fou. Die Erzählung der Amour fou in Literatur, Oper, Film: zum Verhältnis von Liebe, Diskurs und Gesellschaft im Zeichen ihrer sexuellen Infragestellung (2004) versammelt Beiträge, die sich aus systemtheoretischer oder diskursanalytischer Perspektive dem Thema der leidenschaftlichen Liebe nähern, wobei unterschiedliche Medien berücksichtigt werden. Der Schwerpunkt der Analysen liegt jedoch nicht auf spanischen Romanen. Ebenso greift die Germanistin Susanne Illmer in ihrem Werk Die Macht der Verführer. Liebe, Geld, Wissen, Kunst und Religion in Verführungsszenarien des 18. und 19. Jahrhunderts (2007) auf Niklas Luhmanns Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien zurück und verbindet diese mit Foucaults Diskurstheorie. Rein diskursanalytisch streift Jo Labanyi mit ihrer Studie Gender and modernization in the Spanish realist novel (2000) den Themenkomplex der Liebe. Carmen Mart&n Gaites Diskursanalysen in Usos amorosos del dieciocho en EspaÇa (62005) ermöglichen einen profunden Einblick in die Liebesbräuche des 18. Jahrhunderts. Die soziologisch ambitionierte Schriftstellerin lässt in dieser Studie ästhetische Überlegungen jedoch außer Acht. Myriam Diaz-Diocaretz und Iris
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die Literarizität der Texte in den Hintergrund gerät. Das Heranziehen soziologischer Theorien für eine literaturwissenschaftliche Arbeit liegt darin begründet, dass zwischen Liebe in Literatur und Gesellschaft insofern ein Wechselverhältnis besteht, als sich literarische Liebe nicht nur an der kulturellen Wirklichkeit im Sinne einer Referenzialisierbarkeit orientiert, sondern im Roman Formen intimer Kommunikation entwickelt und erprobt werden können, die sich über die Lektüre in der kulturellen Wirklichkeit verselbständigen, denn beide verfügen über denselben Code. Die soziologischen Ergebnisse zur intimen Kommunikation können daher gewinnbringend für die Beschreibung des Motivs Liebe im Roman herangezogen werden, auch wenn die Reflexion über Liebe in der Literatur anderen Zwecken dient als in außerliterarischen Bereichen, worauf besonders Niels Werber in seiner Monographie Liebe als Roman hingewiesen hat (vgl. Werber 2003, 18–19). Da mich insbesondere Liebe als ästhetische und poetologische Komponente interessiert, wird neben Systemund Diskurstheorie eine moderne Allegorietheorie herangezogen, um der Literarizität der Texte gerecht zu werden. Der aus den Theorien und ihren Methoden resultierende Pluralismus ist einerseits dem Thema zu verantworten, das aufgrund seiner Komplexität einen mehrdimensionalen Zugang fordert, andererseits bedient sich die Literaturwissenschaft seit jeher unterschiedlichster Ansätze der Erkenntnisgewinnung. Zudem verorten die beiden erstgenannten Theorien den hier verfolgten Ansatz nicht nur im Bereich des gesellschaftlichen Forschungsinteresses, sie fungieren ferner als Anknüpfungspunkte der Literaturwissenschaft an gesellschaftlich relevante Themen, denn beide Theorien schließen allgemeine Reflexionen über Literatur und deren soziale Bedeutung ein. Die folgende Gegenüberstellung der einzelnen Theorien orientiert sich an Luhmanns Leitgedanken der Theoriebildung, »draw a distinction«,2 indem zunächst die für den Themenkomplex Liebe relevanten Aspekte der Systemtheorie, danach jene der Diskurstheorie sowie die für die Analyse konstitutiven Merkmale der Allegorietheorie herangezogen werden. Das Zusammenfließen der Theorien mündet sodann in einer Methode, Zavala versammeln in ihrem Band Discurso erjtico y discurso transgresor en la cultura peninsular. Siglos XI al XX (1992) Beiträge unterschiedlicher Autorinnen und Autoren, die sich aus diskursanalytischer Sichtweise dem Thema der Erotik in der spanischen Literatur nähern. Im Bereich der französischen Literaturwissenschaft beschäftigen sich Alain Vaillant mit seiner Monographie L’amour-fiction. Discours amoureux et po8tique du roman / l’8poque moderne (2002) und Wolfgang Matzat in Diskursgeschichte der Leidenschaft. Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac (1990) mit der Thematik. Carsten Rohde betrachtet den diskursanalytischen Zugang kritisch aus komparatistischer Sicht in Kontingenz der Herzen. Figurationen der Liebe in der Literatur des 19. Jahrhunderts (Flaubert, Tolstoi, Fontane) und schlägt eine hermeneutische Lektüre der Liebesfigurationen vor. 2 Plakativ wird dieses Vorgehen in der dem Text vorgelagerten Grafik dargestellt und in Folge auf die Lektüre von wissenschaftlichen Texten übertragen (vgl. KL 7–13).
Das System ›Literatur‹ um 1900
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mit deren Hilfe Liebesfigurationen im spanischen Roman zu einzelnen repräsentativen Typen verdichtet werden können.
2.1
Das System ›Literatur‹ um 1900
Niklas Luhmanns Theorie der sozialen Systeme beschäftigt sich mit modernen Gesellschaften, die er als funktional ausdifferenziert von vormodernen Gesellschaftsformen unterscheidet. Der grundlegende Gedanke der Systemtheorie besteht in der Differenzierung. Bevor etwas beobachtet oder untersucht werden kann, werden durch das Treffen einer Unterscheidung die Positionen klargestellt, die Kontingenz der eigenen Sichtweise allerdings mit bedacht. Dies gilt auch für die vorliegende Arbeit, die sich methodologisch zwischen funktionaler Analyse der Systemtheorie, Diskursanalyse und Erzähltextanalyse verortet und mögliche andere Methoden daher zwingend vernachlässigt. Laut Luhmann unterscheidet sich die Gesellschaft als System von ihrer Umwelt, wobei sich Systeme durch Ordnung auszeichnen, Umwelt durch Unordnung. Systeme können weiter ausdifferenziert werden und Subsysteme entwickeln, beispielsweise ist die Ästhetik als ein Teilbereich des Systems Wissenschaft angelegt, die Literatur als ein Subsystem der Kunst. Die Systemtheorie stellt ein nicht-hierarchisches Theoriekonstrukt zur Verfügung, da jedes einzelne System für alle anderen Systeme Umwelt ist, demnach auch das Gesellschaftssystem nicht dem Wissenschafts- oder Kunstsystem übergeordnet ist. Romane als Produkte des Kunstsystems können daher auf ihre gesellschaftliche Umgebung Bezug nehmen, wie im Realismus, oder sie lehnen einen derartigen Rekurs ab und orientieren sich an Diskursen des Kunstsystems, wie in der künstlerischen Moderne. Selbst die eigenen ästhetischen Überlegungen einzelner Autoren und Autorinnen müssen nicht zwingend zu einer entsprechenden Umsetzung in der Romangestaltung führen. Ein für die Systemtheorie zentraler Gedanke ist, dass für das jeweilige System die Umwelt ebenso wichtig ist wie das System selbst oder, in paradoxer Formulierung, dass die »Systemtheorie […] von der Einheit der Differenz von System und Umwelt aus[geht]« (SOS 289).3 Eine potentielle Referenz auf die gesellschaftliche Realität spiegelt sich in Fragen zum Verhältnis von Mimesis und Poiesis der Literatur, die ästhetische und poetologische Überlegungen bis ins 20. Jahrhundert beeinflussen. Systemtheoretisch sind die einzelnen Systeme zwar operational geschlossen, sie verfügen jedoch über Anschlussmöglichkeiten, die eine Beziehung zwischen den Systemen ermöglicht. Um die Jahrhundertwende ziehen besonders die Schnittstellen zwischen Phi3 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle SOS auf Niklas Luhmann (2010): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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losophie oder Wissenschaft, Religion und Literatur als Teil der Kunst das Interesse der Autorinnen und Autoren auf sich. Dieses Interesse entspricht einer losen Koppelung, die es der autonomen Dichterin oder dem Dichter4 ermöglicht, neben der Übernahme und Transformation systemfremder Diskurse auch die Funktion der Literatur in Abgrenzung zu ihrer Umwelt neu zu diskutieren. Im Zuge der realistischen Schreibweise und ihren Forderungen nach Wissenschaftlichkeit gestaltet sich dieses Verhältnis von Fremd- und Selbstreferenz in einer Kontroverse über Informationsgehalt und Funktion von Romanen sowie der damit verknüpften Möglichkeit, die Lesenden zu bilden. Schriftstellerinnen und Schriftsteller greifen auf die wissenschaftlichen Methoden der Beobachtung, der detaillierten Beschreibung sowie des Experiments zurück und bezeichnen ihre Romane mitunter als Studien. Mit dem modernistischen Schreiben werden hingegen außerliterarische Funktionsansprüche entweder verabschiedet oder das Verhältnis von Gesellschaft und Kunst derart umgekehrt, dass die Romanwirklichkeit in ihrer Gültigkeit über die reale Wirklichkeit erhoben wird. Dies hat zur Folge, dass Poetiken neben produktionsästhetischen Überlegungen verstärkt rezeptionsästhetische Gedanken beinhalten und sich selbst als mögliche Lebensentwürfe präsentieren. Denn der Akt des Lesens wird zum schöpferischen Akt, der es den Rezipienten in Analogie zum Autor oder zur Autorin ermöglicht, neue Welten und Persönlichkeiten zu konstruieren. Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium nimmt dabei eine Zwischenstellung ein, da es zugleich an zwei Systemen – Kunst und Gesellschaft, Fiktion und Realität – Teil hat.
2.2
Zu Form und Funktion höchstpersönlicher Kommunikation im Roman
Liebe als Diskurs oder Kommunikationsmedium zu sehen, berücksichtigt die gesellschaftliche Prägung der Liebe und ihre historische Diversität. Gerade dieses Charakteristikum der Wandelbarkeit erlaubt es, Liebe immer wieder aufs Neue für literarische Kreationen attraktiv zu gestalten. Trotz der historischen Veränderungen und ästhetischen Innovationen lassen sich Konstanten in den unterschiedlichen Ausprägungen des Liebescodes finden, die von der Antike bis zur Jahrhundertwende und noch darüber hinaus in Philosophie und Literatur immer wieder bemüht werden, um Liebe zu beschreiben. Eines dieser traditionellen Elemente von Liebesdiskursen ist die Unterscheidung der Liebe in eine himmlische und eine irdische. Schon in der Antike unterscheidet »ein stets auf 4 In Anlehnung an die weitgefasste Verwendung von poeta als Literaturschaffende allgemein, beschränkt sich Dichter bzw. Dichterin hier nicht auf Autoren und Autorinnen von Poesie.
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Heilung bedachter Arzt« den Eros in einen ›guten‹ und in einen ›schlechten‹, in die himmlische und in die irdische Liebe, führt Alice Pechriggl in Eros an (Pechriggl 2009, 21). Im Verhältnis von Aktivität und Passivität kommt eine weitere bipolare Verbindung zum Tragen, die im Streben zum geliebten Menschen Liebe als aktives Prinzip symbolisiert, während es im Erleiden des Mangels der geliebten Person die passive Kehrseite verkörpert. Einigkeit herrscht schließlich darüber, dass die Liebe die Seelenruhe aus dem Gleichgewicht bringt. Der modern gebrauchte Begriff ›Liebe‹ beinhaltet nämlich nicht nur den griechischen Begriff eros – das sinnliche Begehren und Genießen –, sondern umfasst je nach Sichtweise agape¯ – die Liebe als Nächstenliebe – und philia – die Freundschaftsliebe (vgl. ebd., 8). Auch werden die Themen Ehe, Freundschaft und Verführung häufig in Zusammenhang mit Liebe diskutiert sowie die erste Phase der Liebe oder das Sich-Verlieben, das sich aufgrund des entfachten Gefühlswirbels besonders gut für literarische Darstellungen eignet.
2.2.1 Liebe, Eros, Leidenschaft Eine eindeutige Definition von Liebe ist bisher nicht gelungen und wird auch im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden können. Denis de Rougemont führt in Les mythes de l’amour (1996) diesen Mangel auf einen Reichtum zurück, der in den modernen europäischen Sprachen in den Worten ›Liebe‹, ›amour‹, ›amor‹ oder ›amore‹ eine Vielzahl von Bedeutungen anhäuft, die allesamt unterschiedlichste zwischenmenschliche Anziehungsformen konnotieren, in der griechischen Antike hingegen noch differenziert wurden.5 Neben philia, die selbst je nach ihren Bezugspunkten auf Freunde, Gäste oder die leidenschaftliche Liebe bezogen wurde, waren auch eros, die Liebe aus Neigung und Leidenschaft, agape¯ als interesselose Zuneigung, die von den frühen Christen auch in der lateinischen Entsprechung caritas zur Bezeichnung der Gottesliebe und der Nächstenliebe herangezogen wird oder mania als ungebremste Leidenschaft in Gebrauch, um nur einige zu nennen.6 Schließlich ergänzt noch cupere, ›begehren‹, das Bedeutungsfeld von Liebe und konnotiert in der Inkarnation Cupidos vielfach die Begierde, sogar die Sucht oder den tierischen Trieb (vgl. Ribi 2005, 9). All diese unterschiedlichen Bedeutungsnuancen fallen im modernen Gebrauch des deutschen Wortes Liebe, aber auch des spanischen amor zusammen und vereiteln eine knappe, widerspruchsfreie Definition. 5 Denis de Rougemont bezieht sich neben dem Griechischen und Lateinischen auf romanische Sprachen, das Englische und Deutsche, lässt die slawischen Sprachen jedoch unberücksichtigt. 6 Zu weiteren möglichen Bedeutungen von philia im Griechischen (vgl. Rougemont 1996, 14– 15).
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Theoretisch-methodologische Grundlagen
Selbst in der griechischen Antike ist unverkennbar, dass man nicht einfach von einem Eros sprechen kann, denn um die mythologische Figur ranken sich unterschiedliche Erzählungen, die nebeneinander überliefert werden: einmal ist Eros Aphrodites Sohn, ein anderes Mal ihr Gehilfe. In manchen Texten verkörpert Aphrodite die für die Liebe entscheidende Schönheit, während Eros den hässlichen Liebesschmerz darstellt, in anderen Texten hingegen überschneiden sich die Fähigkeiten der beiden mythologischen Figuren (vgl. Pechriggl 2009, 44–45) oder sie ergänzen sich, indem Aphrodite die physische Liebe symbolisiert und Eros über das Gefühl regiert. Gemeinsam ist ihnen ihre ambivalente Persönlichkeit, die in Platons Symposion mit Diotimas Definition von Eros als Zwischenwesen aufgegriffen wird. Eros sei weder Gott noch Mensch, sondern ein daimon, ein Wesen, das in sich widersprüchlich ist, da es Mangel und Erfüllung zugleich symbolisiert. Dieser Bestimmung im Symposion sind unterschiedliche Lobreden zu Ehren des Gottes vorgelagert, die das Spektrum gängiger Liebesdiskurse der Antike auffächern.7 In Diotimas Rede schließlich wird Eros als ein dynamisches Prinzip vorgestellt, dass sich zwischen extremen Gegensätzen bewegt, als Kind von Poros und Penia ist Eros ein Dämon, nicht reich und nicht arm, weder Gott noch Mensch, wissend und unwissend zugleich, auch stirbt er bald und blüht dann wieder auf (vgl. Platon, V 203c–204c). Die Liebe strebt nicht nach dem Schönen, sondern nach der Schöpfung im Schönen, sei es in körperlicher Hinsicht durch das Zeugen von Nachkommen oder in geistiger Hinsicht durch Reden, Schriften oder andere künstlerische oder philosophische Werke. In diesem Fortleben erhält der Mensch Anteil an der Unsterblichkeit und so verhält es sich nach Platon auch mit dem Wissen, das über die Erinnerung sich verändernd lebendig bleibt (vgl. ebd., V 208a–208b). Aufgrund dieser Mittelstellung gelingt es Eros zwischen Menschen und Göttern zu kommunizieren (vgl. ebd., V 201d–211c). Überdies ermöglicht diese bewegliche Position einen Anschluss an Luhmanns systemtheoretischen Ansatz, da Liebe als Kommunikationsmedium schließlich auch dazu dient, zwischen Menschen eine Mittelposition einzunehmen und Austausch zu ermöglichen. Das Trinkgelage endet mit der Rede des Alkibiades, der im Wein- und Liebesrausch seine Erzählung schließlich Sokrates widmet und dessen Vortrag relativiert. Damit
7 Während Phaidros Eros als elternlosen Gott darstellt, der die Menschen zu schönen Taten anstifte, unterstreicht Pausanias die Narrenfreiheit der Verliebten. Auch findet sich bereits im Symposion die wertende Unterteilung in einen moralisch oder gesundheitlich erstrebenswerten und einen schädlichen Eros bei Pausanias und Eriximachos. Aristophanes schließlich besingt den unvergesslichen Mythos der Hermaphroditen, der bis in die heutige Zeit eine Nostalgie nach der Verschmelzung mit der fehlenden Hälfte – la media naranja – in Erinnerung hält (vgl. Platon, V 189c–193d). Agathon wiederum lobt die Eigenschaften Eros’, während Sokrates Eros über ein auf einer Mangelerfahrung beruhendes Begehren definiert.
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öffnet sich das Symposion für zukünftige abweichende Liebesreden und verwirft damit einen absoluten Wahrheitsanspruch. Julia Kristeva bemerkt in ihrer Studie Histoires d’amour (1983), dass die jüdische Religion ihr Liebeskonzept auf die heterosexuelle Liebe und die Familie stützt, während der griechische, manische Eros die männliche Liebe und Sexualität behandelt. Die erste Überlieferung stellt dafür der Dialog von König Salomon und Sulamith dar (vgl. HA 78).8 Die Liebe Gottes, der seine Auserwählten grundlos liebt, zeichnet sich dadurch aus, dass sie einem Geschenk vergleichbar, weder verdient werden kann oder muss noch entzogen werden kann. Zentral für die Gottesliebe ist auch die Auffassung, dass diese Liebe, als agape¯ bezeichnet, von Eigenschaften des geliebten Menschen unabhängig ist und zudem nicht dargestellt werden kann (vgl. HA 107 u. 173–174). Im zwischenmenschlichen Bereich bietet das Hohelied der Liebe insofern eine Neuerung, als die Liebenden erstmals in der Liebesliteratur als autonome und freie Subjekte auftreten und handeln, denn die im Lied der Lieder dargestellte Liebe ist in höchstem Maße individualisiert, wenngleich sie in der jüdischen wie christlichen Deutung allegorisch gelesen wurde (vgl. HA 190–191). Gleichsam als Mittelfigur zwischen antikem Eros und den Liebesvorstellungen des christlichen Zeitalters steht Narziss, der nicht länger ein Gott der Liebe ist, der über seine Wirkungen definiert wird, sondern selbst ein leidenschaftlich Liebender ist, der einem Trugschluss erliegt und damit ein unmögliches Lieben symbolisiert (vgl. HA 154). Bernhard von Clairvaux wird im 12. Jahrhundert den Aspekt der Selbstliebe aufgreifen, indem er die Wichtigkeit, sich selbst zu lieben, »et plus encore de s’aimer en Dieu« hervorhebt (HA 207). Ein weiterer Kernpunkt der christlichen Liebesvorstellung ist der notwendige Tod. In der Ausrichtung auf die Wiederauferstehung, die mit einem vom Begehren befreiten, idealen Körper einhergeht, wird eine Identifizierung mit der höchsten Kraft in Aussicht gestellt (vgl. HA 178). Die dieser Homologierung vorangehende Zerstörung beeinflusst das Konzept der Leidenschaften bei den christlichen Autoren und Autorinnen nachhaltig und nähert Passion und Pathos einander an, wie Erich Auerbach in seinem Essay »Passio als Leidenschaft« (1967) erläutert. Etymologisch, so der Philologe, bedeuten passio und pathos ›Leiden‹ und konnotieren damit einen Aspekt der Passivität, der in der stoischen Philosophie und in der christlichen Auffassung darin seinen Ausdruck findet, die Leidenschaften als »Krankheiten der Seele« anzusehen, denn pathos drückt ein Befallen- oder Behaftet-Sein bezogen auf die sinnliche Qualität einer Sache aus (vgl. Auerbach 1967b, 161). Strukturell ist Pathos als periodisch wiederkehrender Zustand angelegt und bezieht sich auf die Wahrnehmung und das Erleben gleichzeitig. Insgesamt lässt 8 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle HA auf Julia Kristeva (1983): Histoires d’amour, Paris: Deno[l.
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sich festhalten, dass Pathos eben auch Schmerz, Leiden und Unglück bezeichnet. Während Aristoteles Pathos ethisch neutral verwendet – niemand kann aufgrund seiner pathe gelobt oder getadelt werden – streben christliche Autorinnen und Autoren die Passionen geradezu an (vgl. ebd., 162). Obwohl die Passionen im Christentum mit den concupiscentiae carnis, also mit der sündhaften Liebe, gleichgesetzt werden, handelt es sich nicht darum, ihnen durch Vermeidung zu entrinnen, vielmehr, erläutert Auerbach, suchen christliche Autoren und Autorinnen diese Passionen. Denn einer der Kernpunkte der christlichen Philosophie liegt darin, sich nicht dem Leiden der Welt zu entziehen, sondern sich leidenschaftlich diesem Leiden zu unterwerfen, die »Welt leidend zu überwinden« (ebd., 164). Die Leidenschaft als »glühende Gottesliebe« – die gloriosa passio – ist Angelpunkt der frühchristlichen Liebesphilosophie, die sich besonders in mystischen Schriften abzeichnet (vgl. ebd.). Leiden und Leidenschaft nähern sich im Liebesdiskurs einander an, beide Zustände werden ersehnt. Diese mangelnde Differenzierung von Leidenszuständen und Leidenschaft wird sich bis ins 18. Jahrhundert hinein halten. Gemeinsam haben christliche und antike Liebesvorstellungen, dass die Passion übermenschlichen Ursprung hat, sie kommt von Gott bzw. Amor, wird vorwiegend passiv empfangen und in weiterer Folge als freudiges Geschenk oder Qual erlitten. Für christliche Liebeskonzepte sprechend ist allerdings der ihnen inhärente Widerspruch zum Leben, denn in der leidenschaftlichen Liebe lässt sich die Gegenwart nur als vergangen denken, solange die Liebenden voneinander getrennt sind. Sie wird zur endlosen Flucht aus dem Hier und Jetzt. Denis de Rougemont führt in L’amour et l’occident (1972) dieses der okzidentalen Liebe inhärente Sehnen auf einen Todeswunsch zurück, auf eine Sehnsucht nach eben dem Zeitpunkt, der die begehrte Transformation ermöglicht, dem Leiden ein Ende setzt und die Liebenden zusammenführt (vgl. Rougemont 1972, 308). Diese enge Verknüpfung von Liebe und Gefahr oder Tod kann bereits in der griechischen Antike verzeichnet werden. Als göttlich induzierter Liebeswahn, heißt es in Platons Phaidros, ermöglicht Eros das Überschreiten der Lebenswelt, wobei dieser ekstatische Zustand mit einigen Gefahren verbunden ist (vgl. Pechriggl 2009, 33). Auf das Risiko der Liebe weisen auch mystische Autorinnen und Autoren hin, da die Liebe selbst weiterhin bis hin zur göttlichen Form ambivalent konzipiert ist. Denn das herbeigesehnte Ideal trägt teilweise sehr negative Züge, die so stark gezeichnet sind, dass die göttliche Liebe bei zu engem Naheverhältnis zu Verbrennungen führt (vgl. Auerbach 1967b, 169).9 Dennoch gilt es, diesen ekstatischen Zustand zu suchen. Erich Auerbach ver9 Die qualvollen Aspekte der göttlichen Liebe werden in der mystischen Literatur durch die Bilder des Verbrennens, des Martyriums, der Gefangenschaft, des Durchbohrens u. ä. veranschaulicht (vgl. Auerbach 1967b, 170).
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anschaulicht in seiner Argumentation, dass die mystische Passion das moderne Leidenschaftskonzept entscheidend prägt, indem es die beiden Gegensätze des Erleidens und der Ekstase zusammenführt, Passion meint nun Entzücken und Entrückung gleichermaßen. Diese Zusammenführung von gegensätzlichen Gefühlszuständen wird in der künstlerischen Moderne wieder aufgegriffen werden. Nach dieser kurzen Einführung in unterschiedliche vor-romanische Liebeskonzepte kann festgehalten werden, dass sich Liebe seit Beginn der europäischen Kulturgeschichte einer eindeutigen Festlegung durch einen Begriff entzieht. Vielmehr lässt sich der ihr inhärente Widerspruch nicht logisch denken und argumentieren. Konsequenterweise kann ein durch den Logos angestrebtes Verstehen damit auch nicht befriedigend ausfallen. Dieser Widerstand gegen eine vernunft-sprachliche Kommunizierbarkeit fordert schließlich die Dichtkunst heraus, immer wieder aufs Neue den Versuch zu unternehmen, die an sich aporetischen Liebesreden nachvollziehbar zu gestalten. Eros gilt damit nicht nur als Metapher des Philosophierens, sondern auch der dichterischen Schöpfung und zeigt in den unterschiedlichen Ausprägungen der Liebesreden die Verschränkung der Bereiche Gefühl und Literatur.10 Bevor ich auf einige Bruchstellen in der literarischen Gestaltung von Liebesreden eingehe, behandle ich kurz die häufig in Relation zu Liebe abgegrenzten Begriffe der Ehe, Freundschaft und Verführung.
2.2.2 Liebe als Kommunikationsmedium Liebe wird in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften vordergründig nicht als Gefühl, sondern als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium betrachtet, das einen erfolgreichen Verlauf der Kommunikation steigern soll (vgl. LP 9). Charakteristikum des Kommunikationsmediums Liebe ist das Thema der höchstpersönlichen Kommunikation. Damit ist jene Kommunikation gemeint, die es einem Individuum ermöglicht, sich von anderen zu unterscheiden, sei dies, dass sich das Individuum in einer Kommunikation selbst thematisiert oder seine Beziehung zu einem Sachthema in den Vordergrund rückt (vgl. LP 24). Auf diese Weise ermöglicht und fördert Liebe als Medium die kommunikative Bewältigung von Individualität (vgl. LP 15). Luhmann verabschiedet dabei den alten Begriff des Individuums, der es über seine Abgetrenntheit und Unteilbarkeit definierte. Im Zuge des Übergangs von stratifikatorischen zu funktional ausdifferenzierten Gesellschaften kommt es 10 In einer systematischen Aufstellung präsentiert die Anthologie Was ist Liebe? Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart den Themenkomplex als nach wie vor vernachlässigten Gegenstandsbereich der Philosophie (vgl. Hähnel/Schlitte/Torkler 2015).
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zu einer stärkeren Differenzierung von personalen und sozialen Systemen. Damit gelingt, laut Luhmann, die Selbstidentifikation nicht mehr über das Wissen der eigenen Existenz, seines Namens oder anderer allgemeiner sozialer Kategorien wie Alter, Geschlecht, sozialer Status und Beruf. Als Persönlichkeitssystem findet die oder der Einzelne vielmehr in der Differenz zu seiner Umwelt Bestätigung und nicht als Teil eines Subsystems. Das moderne Individuum zeichnet sich sodann durch seine Ortlosigkeit aus. Aus der Komplexität und Undurchsichtigkeit der modernen Gesellschaft, die eine Vielzahl von denkbaren Weltmöglichkeiten offeriert, resultiert der Bedarf nach einer verständlichen und vertrauten Nahwelt, die noch angeeignet werden kann. Diese Nahwelt entspricht jener von Intimbeziehungen, da sich Intimität dann ergibt, wenn immer mehr Bereiche des persönlichen Erlebens eines Menschen für einen anderen zugänglich gemacht werden und damit an Relevanz gewinnen. Aufgrund der wechselseitigen Konzeption dieses Prozesses spricht Luhmann von zwischenmenschlicher Interpenetration. In systemtheoretischen Termini umschreibt der Begriff ›Interpenetration‹ die wechselseitige strukturelle Beeinflussung zweier Systeme, die ihre eigene Struktur offerieren, um den Aufbau eines anderen Systems zu ermöglichen (vgl. SOS 304). Hier kann ein zweifacher Bezug zu literarischen Liebesdarstellungen hergestellt werden. Zum einen greifen Schriftsteller und Schriftstellerinnen im Sinne einer mimetischen Gestaltung auf den Verlauf zwischenmenschlicher Beziehungen zurück, zum anderen bezeichnet diese wechselseitige strukturelle Beeinflussung die Entwicklung des Literatursystems um 1900, wo Liebe als ästhetische Kategorie eine zentrale Rolle im Schaffensakt spielt. Literatur als Teilbereich des Kunstsystems integriert insbesondere Elemente der Wissenschaft, der Religion und anderer Subsysteme der Kunst wie Malerei, Musik und Film in ihr eigenes System. Im zwischenmenschlichen Bereich, so Luhmann, gewinnt Alter für Ego an Bedeutung, wenn Alter nicht nur von außen, also als Umwelt, wirkt, sondern gleichsam durch die Übernahme struktureller Elemente auch von innen Ego beeinflusst (vgl. SOS 304). Gerade diese Transformation von innen heraus ist zentral für modern gedachte Kunst, die sich aufgrund ihrer Autonomie nicht länger in einem hierarchischen Abhängigkeitsverhältnis von politischen oder religiösen Mäzenen befindet. Vergleichbar einem liebenden Menschen, dessen Individualität im Austausch mit anderen sowie in Abgrenzung zu anderen konstituiert wird, bildet Literatur ihre einzigartige Form in Relation auf andere Systeme, mit denen sich Literatur austauscht oder von denen sie sich abgrenzt. Treibende Kraft ist hierfür die Liebe zur Literatur. Durch das Aneignen systemfremder Diskurse oder Elemente wird die Komplexität des Literatursystems gesteigert. Die Literatur wiederum überprüft, einem Liebenden vergleichbar, diesen neuen Weltentwurf in der Kommunikation mit den Rezipienten auf Akzeptanz.
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Die der Liebe inhärenten paradoxen Wünsche charakterisieren die literarische Landschaft, die zwischen Realitätsnähe und Ästhetizismus schwankt und die Funktion der Literatur neu zu positionieren sucht. In zwischenmenschlichen Beziehungen soll beispielsweise Alter einerseits eine Stabilität signalisieren, die auf dauerhafte Liebe verweist, andererseits aber über die Fähigkeit verfügen, sich selbst in Richtung auf den Anderen oder die Andere zu transzendieren, und damit nicht nur die eigenen Interessen zu vertreten, sondern auch jene der Partnerin oder des Partners (vgl. SOS 306). Ebenso stellen sich für die Literatur um 1900 die Fragen nach Stabilität und Fähigkeit der Transzendenz des künstlerischen Bereiches. Insbesondere realistische Autorinnen und Autoren liebäugeln mit einer kulturell formgebenden Funktion der Literatur, indem sie ihre Romane als Studien konzipieren. Luhmann löst die Paradoxie der Liebenden mit dem Vorschlag, den Menschen als ein individualisiertes Weltverhältnis zu begreifen, das in der Lage ist, seinem Gegenüber eine zentrale Bedeutung in seiner eigenen Welt zuzuschreiben, bei gleichzeitiger Gültigkeit der eigenen Wichtigkeit im Weltverhältnis des anderen (vgl. SOS 306–307). Dieses Wechselverhältnis kann herangezogen werden, um die Beziehung von Schreibenden und Lesenden darzustellen, da die Schreibenden, die zum Großteil ihre Romane zunächst in Zeitungen und Zeitschriften publizieren, auf Kritiken reagieren können. Innerhalb produktionsästhetischer Überlegungen korreliert gerade die Paradoxie von gleichzeitiger Stabilität und Transzendenz mit einem Rückgriff auf ein mystisches Liebesverständnis, das um 1900 vielfach aufgegriffen wird, um Liebe als ästhetische Kategorie zu fassen. Denn einer der Grundgedanken von mystischer Liebe liegt in einer Verschmelzungsidee, die nicht in der Auflösung zweier Subjekte endet, sondern beide gleichermaßen bestehen lässt. Während gesellschaftlich das Kommunikationsmedium Liebe als Steigerung der Verstehens-Wahrscheinlichkeit fungiert (vgl. LP 28), ist es der Autor-LeserPakt, der im Bereich der Literatur die Wahrscheinlichkeit einer gelungenen Kommunikation erhöht. Für Kommunikationssituationen gelten nicht nur ihre Kontingenz und damit die Annahme, dass sich die Situation jeweils auch anders entwickeln könnte, im Gegenteil, es liegt eine doppelte Kontingenz in der Beziehung zweier Systeme vor. Erfolgreiche Kommunikation zeigt sich sodann in ihrer Anschlussfähigkeit, also darin, dass »ego alters Kommunikation zur Grundlage eigenen Erlebens und Handelns« (Werber 1992, 15) genommen hat. Diese Kommunikationsdefinition schließt die Ablehnung von Egos Wünschen oder seines Willens ein, denn grundlegend ist weniger eine Wunscherfüllung als die von Alter getätigte Differenzierung von Information und Mitteilung der Selektionsofferte (vgl. ebd.). Eine so verstandene Kommunikation wird in direkten Rezipienten-Appellen, die Bestandteil von Literaturkritiken oder paratextuellen Romanteilen wie Prolog und Epilog sind, von den Autorinnen und Autoren gekonnt inszeniert.
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Selbst der Rezeptionsvorgang kann vergleichbar einer intimen Kommunikationssituation gelesen werden. Das von Niklas Luhmann festgehaltene asymmetrische Kommunikationsverhältnis setzt sich einerseits aus dem Handeln im Sinne des Entwerfens einer Welt seitens der oder des Liebenden (Ego) und andererseits aus der Bestätigung oder Ablehnung dieses Weltentwurfs seitens der oder des Geliebten (Alter) zusammen. Die Tätigkeit von Alter beruht im Erleben und Projizieren. Abstrahiert betrachtet, gestaltet sich der Lektüreprozess analog, während der Autor oder die Autorin mit ihren Romanen einen Weltentwurf vorschlagen, erleben die Lesenden diesen im Akt der Lektüre und entwerfen im Lektüreprozess ihre Erwartungen aufbauend auf den bisherigen ›Handlungen‹ der Autoren und Autorinnen.11 Die Spezifik des Kommunikationsmediums Liebe liegt laut Luhmann darin, dass auf Erleben mit Handeln geantwortet werden muss und kein Erleben Egos zu einem direkten Erleben Alters führen kann. Eine in der Liebessemantik häufig auftretende ›wortlose‹ Übereinstimmung zeichnet sich in diesem Kontext dadurch aus, dass auf das Erleben des oder der Anderen bereits geantwortet wird, noch bevor Handlungen gesetzt wurden, einfach indem Ego Alter zuvorkommt (vgl. LP 26–27). Ein gleichzeitiges Erleben wird im Laufe der Ausdifferenzierung der Liebessemantik im Besonderen von der Romantik gefordert. Dabei führt die Unmöglichkeit der Dauer dieser Spontaneität letztlich zum Aufschub der Liebe in den Tod, denn jede auf das einmalige Erleben folgende Handlung, auch jedes Erleben selbst, ist bereits Reaktion, denkt bereits die oder den Anderen im eigenen Handeln oder Erleben mit und reflektiert darüber, wie Alter Ego erleben wird oder wie Alter seine Handlungen in Berücksichtigung von Egos Erleben durchführen wird. Die von der Romantik angestoßene Forderung eines unreflektierten Erlebens, losgelöst von Handlungen des Gegenübers, steigert das Scheitern von Kommunikation in Liebessituationen. Das führt Luhmann in seiner Studie Liebe als Passion zu der Aussage, »daß Liebe nicht nur eine Anomalie ist, sondern eine ganz normale Unwahrscheinlichkeit« (LP 10). Wenngleich Kommunikationscodes vorhanden sind, um diese Unwahrscheinlichkeiten zu verringern oder systemtheoretisch gesprochen, die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen zu steigern, so können Liebe, Geld oder auch Kunst als Kommunikationscodes die Übertragung von Differenzierungsleistungen annähernd sicherstellen oder zumindest erwartbar machen, indem sie die Motivation zur Annahme der Kommunikation und damit der ihr zugrundeliegenden Selektionsleistungen in das Handeln und Erleben Alters integrieren. Codes erleichtern diese Kommunikation, indem sie die Aufmerksamkeit auf nur für diesen Kommunikationstyp 11 Zum Erlebnischarakter der Lektüre, die von einem performativen Status der Literatur ausgeht, vgl. Fischer-Lichte 2012, 135–145.
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relevante Kommunikationen lenken und alle anderen ausschließen. Liebe als Code legt das Thema liebt/liebt-nicht fest, und grenzt es damit von möglichen anderen Codes wie recht/unrecht ab. Eine code-spezifische Strukturierung ermöglicht gewisse Regeln zu formulieren, nach denen auch sehr unwahrscheinliche Transaktionen, wie das Übernehmen von idiosynkratischen Weltbildern des oder der Anderen in der Liebe, erfolgreich durchgeführt werden können (vgl. KL 15–16). Durch den Wechsel von externer zu interner Fokalisierung ermöglichen es Romane, die Selektionsleistung und damit den Prozess der Akzeptanz und Aneignung von fremden Weltbildern nachvollziehbar zu gestalten. Liebe im Luhmann’schen Sinne ist eine Kommunikationsanweisung, die über eine realitätsgebundene Semantik verfügt, auf das tatsächliche Vorhandensein von Gefühlen jedoch nicht angewiesen ist. Bereits seit dem 17. Jahrhundert wird Liebe als Verhaltensmodell reflektiert, das nicht nur dazu dient, Gefühle auszudrücken und zu bilden, sondern das auch gespielt und simuliert oder anderen unterstellt werden kann (vgl. LP 22–23). Dies ist insofern möglich, als alle Kommunikationsmedien generalisierte Symbole benutzen, welche die sozialen und zeitlichen Differenzen überwinden und zu einer Vorverständigung führen (vgl. KL 22). Aufrichtigkeit als wichtiger Bestandteil kommunizierter Liebe ergibt sich aus dem Zusammenhang von Handlung und individuellem Selbstsein (vgl. LP 44). Sie ist nicht an eine objektivierte Definition der ›einen wahren Liebe‹ gebunden und kann in fiktiven Erzählungen genauso kommuniziert werden wie in realen, da die dem Kommunikationscode zugrundeliegende Liebessemantik auf einer kulturellen Entwicklung gründet, deren Überlieferung von besonders überzeugungskräftigen Sprachmustern und Situationsbildern auch von literarischen Texten geleistet wird (vgl. Reese-Schäfer 1999, 48). Dennoch führt die Orientierung an vorgefertigten Verhaltensmustern und Bedeutungszuschreibungen der Liebessemantik nicht unweigerlich zum positiven Ausgang einer Kommunikationssituation. Die Bedeutungsmuster grenzen lediglich ab, was und wie in welcher Situation gefühlt werden kann. In ihrem Beitrag »Emotionen in aller Munde? Zum Wandel wissenschaftlicher Interessen« argumentiert Katharina Scherke, dass der Ausgang der Situation ungewiss bleibt und an die jeweiligen Handlungen sowie die Interpretationen der Beteiligten gebunden ist (vgl. Scherke 2007, 22–23). Eine Analyse literarischer Liebesfigurationen kann deshalb Aufschluss über erfolgreiche, der Ironie12 preisgegebene oder verworfene Modelle um 1900 geben. 12 Ähnlich der Allegorie fungiert die Figur der Ironie in dem Sinne, dass sie auf die Textlichkeit der geschilderten Szenen aufmerksam macht und die Lesenden von der inhaltlichen Ebene distanziert (vgl. Schmelzer 2007, 273). Dabei können unterschiedliche Formen von literarischer Ironie zum Einsatz kommen.
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Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium schließt letztlich wie jede Symbolisierung auch die Negation ein. Konkret bezieht sich diese Ausschließung in der Liebessemantik bis ins 18. Jahrhundert auf die Sexualität. Luhmann zitiert die in der höfischen Literatur besungene amour lointain, die Riesenromane des 17. Jahrhunderts, die sich durch ein »Verwirr- und Versteckspiel« (LP 34) auszeichnen oder das sich lange erhaltende Thema der Tugendhaftigkeit bis zur Eheschließung als Beispiele der Negation von Sexualität. Erst mit der Aufklärung setzt sich langsam eine positive Sexuallehre durch. Dieser Ausschluss der Sexualität zeichnet sich im Sprachvollzug des Mediums als Zweideutigkeit ab und dient der Kommunikationslenkung (vgl. LP 34). Im spanischen Roman um 1900 bildet die Thematisierung von Sexualität, ästhetisch geformt als Erotik, einen integralen Bestandteil der Liebessemantik. Sinnlichkeit und Liebe sind derart miteinander verbunden, dass sie auch kommuniziert werden können, obschon diese Verbindung oder ihre Trennung in eine rein körperliche und eine rein geistige Liebesvorstellung weiterhin meist ironisierend thematisiert werden. Ich gehe daher von der These aus, dass die durch die integrierte Sexualität entstehende Leerstelle im Liebescode, vom (freien) Willen der liebenden Person gefüllt wird. Die Frage, die sich nun in Bezug auf Liebe stellt, ist: Liebt der Mensch, weil er es will oder wird er durch Kuppelei, Verführung, die Gesellschaft, die Kunst oder die Sprache dazu gebracht, zu lieben? Lieben und wollen – querer – bilden die zwei Seiten des Liebescodes um 1900. Ausgehend von einer Koevolution von Liebe und Roman gibt dieses veränderte Liebeskonzept auch über das Roman- bzw. in einem weitergefassten Sinne über das Kunstverständnis der Zeit Aufschluss.
2.2.3 Zur Funktion des Romans Luhmann gelangt in seinen Studien zur Liebe über die Analyse von literarischen Texten zu gesellschaftlich relevanten Aussagen, indem er sich auf die These stützt, dass die literarischen Darstellungen, auch wenn sie idealisierend und Mythen bildend agieren, ihre Themen und Leitgedanken in Reaktion auf die jeweilige Gesellschaft und nicht zufällig wählen (vgl. LP 24). Seit dem 17. Jahrhundert dient die Literatur als Lern- und Orientierungspunkt in Liebesangelegenheiten. Der Großteil der literarischen Liebenden agiert in Anlehnung an den sozial gelebten Code, nur eine geringere Gruppe von fiktiven Personen erneuert den Code (vgl. LP 12). Der Soziologe spricht sich dennoch dagegen aus, Literatur als Spiegel der Gesellschaft zu sehen, er betont indes die Leistung der Literatur, »funktionale Notwendigkeiten des Gesellschaftssystems« in eine tradierbare Form zu bringen (vgl. LP 24). Luhmann selbst untersucht das Kommunikationsmedium Liebe unter dem Aspekt der Passion. Hierin betont er besonders den
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passiven Aspekt des Liebens (vgl. LP 30), der für literarische Formen der Liebe um 1900 durch eine aktive Komponente erweitert wird. Literarhistorisch betrachtet, folgt der spanische Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die Romantik, die sich bezogen auf das Kommunikationsmedium Liebe durch Selbstreferenz und Selbstreflexivität auszeichnet: Die Liebe genügt sich selbst und kann nur aus sich selbst begründet werden wie auch der Roman. Sobald eine Reflexion in einem abgeschlossenen System oder Medium nur noch auf sich selbst bezogen ist, besteht systemtheoretisch gesprochen allerdings die Gefahr der Produktion von Tautologien und damit die Gefährdung des eigenen Fortbestehens (vgl. Werber 1992, 52). Da in selbstreflexiven Prozessen von Systemen immer auch Anregungen von anderen Systemen mit eingewoben werden, liegt die Vermutung nahe, dass sich das Kommunikationsmedium Liebe nicht in der romantischen, selbstreferentiellen Liebe erschöpft – auch wenn diese als Blüte der Entwicklung angesehen werden mag –, sondern, vom eigenen Fortbestehen getrieben, auf andere Kommunikationsmedien und Systeme zurückgreift, um sich anzureichern und weiterzuentwickeln. Für die Darstellung des Kommunikationsmediums Liebe in der Literatur um 1900 bedeutet dies eine Verknüpfung der Liebe mit Macht, Ökonomie, Wissen und Kommunikation, damit die Evolution des Literatursystems gewährleistet bleibt. Die aus den Romanen abgeleitete Typologie in Kapitel 4 sowie die folgenden Analysen von Liebesfigurationen in den Kapiteln 5 bis 7 veranschaulichen diese Annahme und präsentieren eine Erweiterung selbstreferentieller Darstellungen der Liebe. Die gewählten Autorinnen und Autoren reflektieren neben dieser Erweiterung des Literatursystems auch die Funktion der Literatur, im Speziellen jene des Romans. Während Luhmann das Spezifikum des Kunstsystems der Moderne in der Konzeption der Kunst als Weltkunst, im Sinne eines Sichtbarmachens der Weltkontingenz, sieht, wird diese Zuschreibung in der literaturwissenschaftlichen Forschung zu Recht kritisiert. Für Werke des literarischen Realismus trifft Luhmanns Zuschreibung dennoch zu, da mittels Kunst, Welt in der Welt beobachtbar wird, wobei der blinde Fleck dieser Beobachtung, der aufgrund der getroffenen Unterscheidungen und getätigten Beobachtungen unvermeidbar ist, reflektiert wird (vgl. Müller 1997, 217–218). Allein die Funktion der Kunst auf diesen Bereich zu reduzieren, wird abgelehnt. Niels Werber schlägt deshalb in seinem Werk Literatur als System (1992) in Anschluss an Gerhard Plumpe vor, die Funktion der Kunst nicht im existentiellen Bedarf an Selbstkonfrontation der Gesellschaft zu sehen, sondern die Aufgabe der Kunst und damit auch der Literatur in der Unterhaltung zu verorten. Anhand literarischer und ästhetischer Texte um 1800 veranschaulicht Werber überzeugend die Ausdifferenzierung der Literatur als System und ersetzt die Luhmann’sche Leitdifferenz schön/hässlich durch jene von interessant/uninteressant (vgl. Werber 1992, 27). Der von Werber und Plumpe vorgeschlagenen Differenzierung in interessant versus uninteres-
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sant werde ich folgen, da sie auch hundert Jahre später die Literatur noch ausreichend von anderen Kommunikationsmedien unterscheidet. Dennoch scheint mir angesichts des sich entwickelnden Films und der Kinobranche die Funktion der Literatur allein in der Unterhaltung zu sehen, nicht ausreichend. Die Aufgabe der Literatur müsste, wie auch Niels Werber für das Ende des 19. Jahrhunderts anmerkt, erst erstellt werden. Werber bringt mit Blaicher den Gedanken vor, die Funktion der Literatur ab dem Ende des 19. Jahrhunderts in einem Suspense zu sehen: Die Lesenden hegten den Wunsch, ihr eigenes Leben zeitweilig zu verlassen, um stattdessen mit fiktiven Figuren mitzuleben. Die Unterhaltung selbst sei nicht länger ausreichend zur Funktionsbezeichnung (vgl. Werber 2003, 191). Für die spanische Literatur um 1900 liegt jedoch die Vermutung nahe, dass eine Suspense-Funktion die Bestimmung der Literatur nicht ausreichend beschreibt. Der Roman dient zwar der Unterhaltung und kann die Funktion einer Auszeit im Sinne eines Miterlebens mit Protagonisten übernehmen, doch ist dem Großteil der spanischen Autoren und Autorinnen ein durch die Lektüre ausgelöstes reflektiertes, aktivierendes Moment zentrales Anliegen. Um die Funktion des Romans um 1900 adäquat zu beschreiben, schlage ich stattdessen den Begriff Re-Kreation vor, der sowohl auf die Weltflucht und damit auf den reinen Unterhaltungswert, als auch auf das schöpferische Moment anspielt. Mit unterschiedlichen Zielsetzungen integrieren Autorinnen und Autoren der Zeit die Lesenden in ihre poetologischen Überlegungen oder Romane. Die Wechselwirkung zwischen Realität und Fiktion wird daher hervorgehoben. Während realistische Werke als Studien konzipiert auch Weltwissen transportieren möchten, um dem sich im Werden begriffenen Bürgertum Anhaltspunkte bereitzustellen, zielen modernistische Werke auf ein intensiviertes Erleben im Akt der Lektüre, das mit Miguel de Unamuno letztlich existentiellen Charakter annehmen kann. Allein der Lektüreprozess fördert bereits eine veränderte Selbsterfahrung und lotet damit potentielle Erlebnisvarianten des Individuums aus, die besonders hinsichtlich der Suche einer neuen (nationalen) Identität Spaniens Bedeutungszuwachs erlangen. Die Doppelfunktion des Romans um 1900, als Wirklichkeit und Literatur zugleich, kann diese Annahme im Analyseteil bestärken.
2.3
Liebe als passives Erleiden oder aktives Handeln?
Eine zweite Beobachtungsebene bezogen auf die Systemtheorie ermöglicht es, Niklas Luhmanns Liebeskonzept kritisch zu betrachten. Luhmann hebt an unterschiedlichen Stellen den passiv erleidenden Aspekt der Liebe hervor und betont damit die Beeinflussbarkeit des menschlichen Erlebens durch Liebe. Eine
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aus Liebe resultierende Handlungsmotivation sei zweitrangig (vgl. LÜ 15–16).13 Darüber hinaus unterstreicht er in Liebe. Eine Übung (2008) vor allem den der Liebe zugrundeliegenden Gemeinschaftssinn, der für europäische Gesellschaften konstitutiv ist. Luhmann plausibilisiert diese Annahme durch Bezugnahme auf die ältere Literatur der griechischen Antike, in der Liebe »nur als Adjektiv (philos) zu finden« ist und »Verwandtschaftsverhältnisse einer nach Häusern, Geschlechtern und Stämmen differenzierten Gesellschaft« angibt (LÜ 28). Die aus Bekanntheit resultierende Liebe soll die Interaktion innerhalb der Gesellschaft erleichtern, gleichzeitig jedoch Fremden gegenüber verwehrt bleiben. Liebe als ›gesellschaftlicher Kitt‹ benötigt nicht zwingend Erotik, weshalb das »Erotische […] nicht ausgeschlossen, aber für die Strukturbildung nicht wesentlich« ist (LÜ 29–30). Dieser Gedanke der Freundschaft wird in der Romantik verstärkt wieder aufgegriffen und in den Liebesdiskurs insofern integriert, als sich die Leitdifferenzen der romantischen Liebe in den Unterscheidungen sinnlich/nicht-sinnlich und Liebe/Freundschaft manifestieren. Für nachfolgende Generationen konstatiert Luhmann eine Trivialisierung der Liebe in dem Maße, als Liebe nicht länger außergewöhnlichen (literarischen) Figuren vorbehalten ist. Vielmehr können sich mit dem Realismus alle Menschen die romantische Liebe aneignen, die als Zeichensystem erkannt wird und als Stimulierung der Imagination sowie in weiterer Folge des Reproduktionsprozesses der Gesellschaft agiert (vgl. LP 55 u. 207). Die Wahrnehmung von Liebe als Zeichensystem, Kommunikationscode oder Diskurs führt meines Erachtens durch den Rekurs auf die Imagination dazu, verstärkt den Gestaltungsspielraum der Liebenden hervorzukehren. Bereits Stendhals Metapher der Kristallisation spricht von Liebe als einer geistigen Tätigkeit. Mit Jos8 Ortega y Gassets Metapher der Liebe als zentrifugale Kraft, die zu einer ständigen Immigration der Liebenden führt, hat sich der Wandel von einer Liebe als reinem passiven Erleiden hin zu einer durch Handlungen markierten Liebe vollzogen, woraus ich ableite, dass eine als Passion konzipierte Liebe um ein hedonistisches Konzept erweitert wird. Diese andere aktive Seite der Liebe, die bereits in der Antike mit Eros bekannt war und mit dem Realismus einen Bedeutungszuwachs erhält, wird in der Systemtheorie zu stark vernachlässigt, weshalb eine zweite Theorie herangezogen werden muss, um den Themenkomplex Liebe umfassend behandeln zu können. Dazu gehe ich im nächsten Kapitel auf Michel Foucaults Diskurstheorie und seine Aussagen zum Dispositiv der Sexualität näher ein. Darüber hinaus ermöglicht Michel Foucaults Diskursanalyse einen blinden Fleck der Systemtheorie abzudecken, indem sie die Wirkmechanismen der Diskurse behandelt. Kontrollmechanismen sind zum einen die Zensur, jedoch auch die literarische 13 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle LÜ auf Niklas Luhmann (2008a): Liebe. Eine Übung, hg. von Andr8 Kieserling, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Theoretisch-methodologische Grundlagen
Kanon-Bildung, in der gewisse Werke von Autoren und Autorinnen aufgenommen werden, andere jedoch nicht. Sie geben damit über Reglementierungen des Liebesmotivs Aufschluss. Luhmanns Unterscheidung von Kommunikationsmedium und jeweils unterschiedlicher Ausprägung des Mediums, die er als Medium-Form-Verhältnis bezeichnet, bietet selbst einen Anknüpfungspunkt zur Diskurstheorie. Abstrahiert betrachtet, definiert Luhmann Liebe als Medium, das vergleichbar den Gefühlen in der Systemtheorie unsichtbar bleibt. Das Medium selbst ist von Dauer und verkörpert das Potential, während sich die einzelnen Formen des Mediums, die wiederum durch ihre Flüchtigkeit und beschränkte Gültigkeit voneinander unterschieden werden können, sichtbar und damit auch analysierbar zeigen (vgl. Krämer 1998, 560). Liebe im System der Literatur dokumentiert über die autopoietischen Qualitäten des Systems den Formwandel von Liebesdiskursen. Wie es allerdings eben zu dieser und keiner anderen Selektionsleistung kommt, lässt sich mittels diskursanalytischem Ansatz nachvollziehen, da das Konzept der Diskurse von einer Interrelation verschiedener Mechanismen ausgeht, die festlegen, was wann wie gesagt werden kann, um im diskursiven Feld wahrgenommen zu werden. Sowohl realistische als modernistische Werke werden von einem Innovationsgedanken durchzogen und streben eine Formveränderung an (vgl. Müller 1997, 218). Diese Formveränderung lässt sich um 1900 durch unterschiedliche Bezugnahmen der Literatur erklären. Werden einzelne Kunstwerke des Realismus überwiegend durch Fremdreferenz charakterisiert, indem sie sich auf die Umwelt des Kunstsystems beziehen, ermöglichen Romane des Modernismo einen Formzugewinn durch den Bezug auf unterschiedliche Formen des Kunstmediums. Techniken der Malerei, der Musik oder des Kinos werden in die Literatur übertragen. Dieser Rückgriff auf literaturexterne Elemente lässt sich mittels Diskurstheorie erklären.
2.4
Zum Verhältnis von Liebe und Sexualität
…la seule maniHre d’Þtre au cœur de la litt8rature, c’est de se maintenir ind8finiment / sa limite, et comme au bord ext8rieur de son escarpement. (Michel Foucault)
2.4.1 Sexualität, Wahrheit und Individualität Michel Foucault stellt sich in seiner dreibändigen Histoire de la sexualit8 (1976) die Frage nach der Verknüpfung von Wissen, Subjekt und Sexualität – die Ergründung der Ursachen für die lange Zeit tradierte Gleichsetzung von Sexualität
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mit moralisch Schlechtem und Bösem, deren einzig positiver Aspekt in der Reproduktion bestehe, bleibt dabei sekundär (vgl. DE 105).14 Da Liebe als Kommunikationsmedium für Niklas Luhmann Ort der höchstpersönlichen Kommunikation ist, indem sie es ermöglicht, die Individualität zu stabilisieren, lässt sich eine Parallele in Michel Foucaults Ausführungen zur Sexualität feststellen: Foucault vertritt die These, dass in den europäischen Kulturen Sexualität nicht geleugnet wird, sondern im Gegenteil, Bestandteil eines komplexen Dispositivs ist, dessen Zweck in der Konstitution von Individualität liegt, in einer Stabilisierung des damit verknüpften Verhaltens sowie in einer Art und Weise, sich selbst zu erkennen. Das Wechselverhältnis von Individualität und Liebesdiskursen wird in Romanen um 1900 beispielsweise durch die narrative Technik der freien indirekten Rede vor Augen geführt, die anhand eines unmarkierten Gleitens von einer Außensicht zur Innensicht Aufschluss über Kongruenz und Abweichung von tradierten Liebesdiskursen geben kann. Kommen die beiden Ansichten wie beispielsweise in Azor&ns DoÇa In8s (1925) zur Deckung, wird in dieser Ununterscheidbarkeit von fremder und eigener Sprache das Dilemma des modernen Liebesdiskurses deutlich: Wie kann eine Sprache, die allen zugänglich und verständlich ist, dieses einzigartige Gefühl der Liebe adäquat zum Ausdruck bringen und zum Ort der höchstpersönlichen Kommunikation werden? Können Diskurse über Liebe und Liebe noch voneinander getrennt werden? Abgesehen von der Ausdrucksebene stellt die Frage der Sexualität einen weiteren Schnittpunkt zwischen Diskurstheorie und Systemtheorie dar. Luhmann denkt Sexualität, solange sie nicht positiver Bestandteil des Liebescodes ist, in ihrer Negation mit, insgesamt definiert er sie jedoch in ihrer Exklusivität und Abgetrenntheit von öffentlichen Interessen sehr romantisch. Foucaults Studie erhellt diesen Aspekt des Themenkomplexes Liebe, indem er von einer Sexualpolitik ausgeht, welche die Sexualität in einer unendlichen Spirale mit »la coercition, le plaisir et la v8rit8« verbindet (vgl. DE 103 u. 570). Der französische Historiker analysiert daher den Sexualitätsdiskurs verstärkt in seiner Verbindung zu unterschiedlichen Mechanismen und Institutionen der Macht. In L’ordre du discours (1970) behandelt Foucault die Kontrollen und Prozeduren, denen Diskurse unterliegen, gefolgt von jenen Verfahrensweisen, die der Produktion von Diskursen immanent sind (vgl. Konersmann 2007, 79). Liebe wird, wie bereits bei Luhmann, nicht als Gefühl, sondern in Foucaults Fall als Diskurs gefasst. Beiden Theorien geht es darum aufzuzeigen, unter welchen Bedingungen Kommunikation oder Diskurse entstehen können, welchen Regeln sie dabei unterliegen, welche Vorlieben ihre Wahrnehmung lenken. Hierfür, so schreibt Michel Foucault in seiner L’arch8ologie du savoir (1969), muss auf den Einbruch 14 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle DE auf Michel Foucault (1994): Dits et 8crits 1954–1988, Paris: Gallimard.
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Theoretisch-methodologische Grundlagen
eines wirklichen Ereignisses verzichtet werden (vgl. AS 36).15 Nach beiden Theorien beschränken sich die Analysen auf die Beobachtung von diskursiven oder kommunikativen Ereignissen. Dieser unüberwindbare Bruch zwischen realen Gefühlen und literarischen oder kulturellen Praktiken und Reden führt in der Romantik zu einem eng mit dem Tod verknüpften Sehnen der Liebe nach Authentizität, das nur im Jenseits gestillt werden kann. Mit dem Realismus wird jedoch die Verquickung von Diskurs oder Kommunikationsmedium und erlebten Gefühlen thematisiert. Dabei werden Mechanismen der Ausschließung, die sich in Verboten, wie der Tabuisierung von Gegenständen oder Kommunikationen zeigen, der Ritualisierung von Handlungen oder dem ausschließlichen Recht des sprechenden Subjektes, wie sie Foucault in seiner Diskurstheorie anspricht (vgl. Foucault 2007, 11), literarisch geformt. Die Frage des Tabus geht im Sinne Foucaults mit einer Machtvorstellung einher, die nicht zwingend mit Gewalt und Repression gleichzusetzen ist. Diskurstheoretisch wird Macht unter ihrem hervorbringenden Charakter wahrgenommen, indem sie Reales produziert, insofern sie innerhalb von Disziplinargesellschaften Wissen hervorbringt, ordnet oder normalisiert. Somit wird ›Macht‹ vorwiegend operativ gesehen, sie bezeichnet »die Gesamtheit der Kräfteverhältnisse, die ebenso durch die beherrschten wie durch die herrschenden Kräfte hindurchgeht« (Deleuze 1987, 42–44). Das Verhältnis von Macht und Wissen wird als ein sich wechselseitig bedingendes beschrieben, denn die Macht liegt einerseits dem Wissen als Ursache zugrunde, da sie in der Lage ist, im Dispositiv das Sichtbare und das Sagbare zu verknüpfen, andererseits benötigt die Macht die Differenzierung und Verzweigung des Wissens, um zur Handlung zu werden (vgl. ebd., 58–59). Diese Wirkungsweisen von Diskursen können anhand literarischer Darstellungen offen gelegt werden, da interne Fokalisierungen durch das Nachzeichnen von Informationsverarbeitung die Beeinflussung der fiktiven Individualität veranschaulichen. Insbesondere realistische Romane veranschaulichen mittels polyperspektivischer Fokalisierung die Unmöglichkeit, den Ursprung eines Diskurses an ein bestimmtes Subjekt zu binden. Im Kontext von Liebesdarstellungen um 1900 ist es häufig die Gesellschaft, die als kollektive Kupplerin auftritt. Die im Realismus sehr gängige Null-Fokalisierung erweist sich aufgrund der Variabilität ihrer Standpunkte als besonders geeignet, das Wirken des Diskurses im Foucault’schen Sinne zu reflektieren. Wenn die Standpunkte dermaßen häufig wechseln oder der Beobachtungsstandpunkt nicht klar bestimmbar ist, kann die Beobachtung keiner bestimmten Person zugerechnet werden, so wie auch der Diskurs keiner bestimmten Position zugerechnet werden kann, da er sich aus dem Geflecht und 15 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle AS auf Michel Foucault (1969): L’arch8ologie du savoir, Paris: Gallimard.
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Zusammenspiel verschiedener Instanzen ergibt. Die Frage, wer nun eigentlich die Aussagen über die Liebe trifft, kann nicht eindeutig beantwortet werden, sowie es keine einzelne Person gibt, die hinter den Konventionen des Liebescodes steht. Im spanischen Roman des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wird dieser Mechanismus von Liebesdiskursen beispielsweise in Clar&ns La Regenta (1884–1885) reflektiert und in Ramjn P8rez de Ayalas Romanen Tigre Juan sowie El curandero de su honra (1926) offen angesprochen. Das Thema eines Kollektivs oder der Gesellschaft als Kupplerin greift jedoch auch auf andere Gattungen über, wie das Drama El gran Galeoto (1881) von Jos8 Echegaray zeigt, in dem zum einen die Gesellschaft als Kollektiv explizit als Kupplerin bezeichnet wird, zum anderen das Verlieben auf die Lektüre der Protagonisten zurückgeführt wird.16 Für die Jahrhundertwende bezeichnend handelt es sich hierbei um eine Doppelung im Sinne einer mise-en-abyme, denn nicht nur die Protagonisten von El gran Galeoto verlieben sich anhand der Lektüre von Dantes Divina Commedia, schon deren Liebende Paolo und Francesca entbrannten aufgrund der gemeinsamen Lektüre des Lanzelot in Leidenschaft füreinander (vgl. Livingstone 1970, 39). Die sich aus dieser Verdoppelung ergebende Lektürelust steht einer melancholischen Geständnisliteratur, wie sie im 18. Jahrhundert mit Briefromanen ihre Blüte erlebte, gegenüber und lässt Parallelen zu asiatischen Liebeskonzeptionen zu. Während sich der Okzident durch eine scientia sexualis auszeichnet, charakterisiert den Orient laut Foucault eine ars erotica: In asiatischen Kulturen wird die Wahrheit selbst aus dem Vergnügen gewonnen, die gesammelten Erfahrungen nach ihren Qualitäten und Wirkungen auf Körper und Seele analysiert und in einem Initiationsritus an Ausgewählte weitergegeben, schreibt Michel Foucault in seiner Analyse der Sexualität La volont8 de savoir. Während es im Orient darauf ankommt, das eigene Vergnügen und jenes des oder der Anderen zu intensivieren und zu steigern, wurde in den europäischen Kulturen kein Wissen vermittelt, das auf eine wechselseitig bedingte Verstärkung des Genusses oder des Vergnügens abzielt. Das Wissen über die Sexualität wurde heimlich ohne Initiation erlernt und die ›Kunst zu lieben‹ beruhte auf einzelnen interindividuellen Erfahrungen. Das Interesse der europäischen Kulturen an der Sexualität richtete sich vordergründig nicht auf das Vergnügen (le plaisir), sondern auf das Begehren (le d8sir). Im Vergleich zur asiatischen Liebeskunst sind laut Foucault die Rollen von Meister und Schüler in den europäischen Kulturen konsequenterweise verkehrt: Nicht der Meister tradiert ein Wissen, sondern das Wissen wird vergleichbar einer Beichtsituation durch Befragung und Interpretation des Geständnisses erst erfahren. Das Ziel ist keine Steigerung
16 Zum Topos des Buches als Kuppler vgl. Fischer 2001, 233–245.
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des Vergnügens, sondern eine Veränderung des Subjektes (vgl. HSI 76–78).17 Eine zentrale Rolle in der Entwicklung des Sexualitätsdiskurses nahm dabei die Institution der christlichen Moral ein. Das Christentum konnte sich zwar bereits auf die Stoiker berufen, wenn es darum ging, die Monogamie zu fordern, die alleinige Funktion der Sexualität in der Reproduktion zu sehen oder die sexuelle Lust zu verurteilen. Es brachte jedoch auch eine neue Technik zur gesicherten Umsetzung der Ethik ein: das Geständnis (vgl. DE 559–560). Mithilfe der Befragung war es möglich, das Innere der Menschen nach außen zu kehren. Der Pastor verlangte als Gegenleistung für die Sorge um das Seelenheil seiner Schäfchen »l’aveu exhaustif et permanent« (DE 564).18 In dieser Situation der Befragung entfaltet sich eine komplexe Relation von plaisir, da die sexuelle Lust, ein Diskurs mit einem gewissen Wahrheitsanspruch über die Lust und die Lust diese Wahrheit auszusprechen in ein sich wechselseitig bedingendes Verhältnis treten (vgl. DE 102). Aus dieser öffentlichen Selbstbefragung wird das Wissen über die Sexualität gewonnen, das eine Reihe von theoretischen Überlegungen und praktischen Effekten nach sich zieht (vgl. DE 230). In literarischen Liebesdarstellungen um 1900 wird diese Konfessions-Konstellation teilweise affirmiert, teilweise jedoch auch aufgebrochen. Dies äußert sich beispielsweise darin, dass die Liebenden im Geständnis als Unwissende präsentiert werden, indem erst außenstehende Personen die Gefühle der Liebenden als solche benennen. Oder aber das Verhältnis von Wissenden/Nicht-Wissenden verkehrt sich, indem Priester-Figuren als neue Protagonisten der M8nage-/-trois losgelöst von moralischen Vorstellungen fester Bestandteil der Liebestopik werden und von den Befragenden auf die Seite der Geständigen wechseln. Oder aber es wird die Konfessions-Konstellation wiederum aufgebrochen, indem traditionelle Geständnismedien wie Liebesbrief oder Memoiren sichtlich ironisiert werden. Hier zeichnet sich im europäischen Liebesdiskurs ein Bruch ab.
2.4.2 Liebe und Ehe Ehe und Liebe gelten bis ins 19. Jahrhundert häufig als unvereinbar, da die Ehe vorwiegend ökonomische Funktionen, wie den Erhalt des Namens oder des Besitzes durch die Sicherstellung von Nachkommen, erfüllt. In seiner Archäologie der Sexualität Le souci de soi. Histoire de la sexualit8 3 (1984) rollt Michel Foucault die Funktion der Ehe seit der Antike bis in die frühe Neuzeit auf, indem 17 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle HSI auf Michel Foucault (1976): La volont8 de savoir. Histoire de la sexualit8 1, Paris: Gallimard. 18 Der Historiker widmet in seiner Studie La volont8 de savoir. Histoire de la sexualit8 1 (1976) der Unterscheidung von scientia sexualis und ars erotica ein eigenes Kapitel (vgl. HSI 71–98).
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er neben den ökonomischen und rechtlichen Nutzen der Ehe besonders die Monopolisierung der Sexualität im 2. Jahrhundert v. Chr. hervorhebt. In dieser Zeit erfährt der Umgang der Ehepartner miteinander eine Veränderung, da nun die Individualität der Beziehung mehr Bedeutung erlangt. Foucault bindet diesen Bruch an die Tatsache, dass sich der gegenseitige Respekt der Eheleute steigert, indem die Treue nun auch die sexuelle Treue beider Partner umfasst. Damit werden die patriarchalischen Strukturen der antiken Gesellschaften zugunsten der Frauen insofern gelockert, als sie in Belangen der Ehe zumindest nicht länger unter der Herrschaft des Mannes stehen, sondern wie der Mann als wichtiger Teil der persönlichen Beziehung zwischen Mann und Frau wahrgenommen werden (vgl. HSIII 175–177).19 Die Festlegung der Ehe als einzig legitimer Ort der Lüste verbunden mit der Ansicht, Ehe beruhe auf gegenseitigem Respekt, führt zur paradoxen Aufforderung an den Mann, sich in der Ehe als Gatte und nicht als Liebhaber zu gebärden, dasselbe gilt natürlich auch für die Frau, die ihre Rolle als Gattin und nicht als Mätresse spielen soll. Die sexuelle Lust wird auf die Funktion der Fortpflanzung reduziert, Geschlechtsbeziehungen, die alleine dem Lustgewinn dienen, als Unrecht angesehen (vgl. HSIII 206– 207). Diese bereits in der Antike angelegte Konzeption von Ehe hält sich bis ins 19. Jahrhundert. Auch wenn viele Liebesgeschichten mit der Ehe enden, so scheint sie in unvereinbarer Opposition zu leidenschaftlicher Liebe zu stehen, da von einer guten Ehe Werte wie Nutzen, Gerechtigkeit, Ehre und Beständigkeit gefordert werden, die der Ehe vorausgehenden aufwühlenden Gefühle hingegen sind kaum erwünscht in dieser »douce soci8t8 de vie« (Lancelin/Lemonnier 2008, 61–62). So steht für leidenschaftliche Erlebnisse und Lustgewinn nur der außereheliche Ort zur Verfügung. Es verwundert daher nicht, dass die Moralisten des 16. Jahrhunderts in der Eheschließung den Beginn vieler Laster sehen. Denn eine Heirat bietet besonders Frauen die ersehnte Möglichkeit, dem Drang nach Zerstreuung und Unterhaltung in einem größeren sozial akzeptierten Rahmen nachzugehen, verglichen mit dem Aktionsradius von unverheirateten Frauen (vgl. UA 130–131).20 Auch wenn der moralistische Kommentar vermutlich spöttisch gemeint ist, wird deutlich, dass ökonomische Überlegungen die Reflexionen über Ehe dominieren. Der romantische Ruf nach freier Liebe, die ungeachtet gesellschaftlicher Schranken Erfüllung in der Ehe verspricht, verstummt spätestens am Ende des 18. Jahrhunderts, als die Ehe dermaßen an Prestige verloren hatte, dass niemand mehr ernsthaft glaubte, aus Gründen der 19 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle HSIII auf Michel Foucault (1984): Le souci de soi. Histoire de la sexualit8 3, Paris: Gallimard. 20 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle UA auf Carmen Mart&n Gaite (2005): Usos amorosos del dieciocho en EspaÇa, Barcelona: Anagrama.
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Theoretisch-methodologische Grundlagen
Liebe zu heiraten (vgl. UA 136). Liebe und Ehe entfernen sich voneinander, stattdessen bietet sich Freundschaft als gute Basis für eine dauerhafte Bindung wie die Ehe an.
2.4.3 Freundschaft als Garant dauerhafter Liebe Der Freundschaft gelingt, was die Liebe ständig angstvoll in Zweifel zieht und die Ehe aufgrund ihrer ökonomischen Interessen nicht erreicht: zwischenmenschliche Anziehung dauerhaft zu gestalten. Dies wird in den ersehnten gemeinsam verbrachten Gesprächen erreicht, die genügend Distanz bieten, um die Individualität der freundschaftlich verbundenen Person nicht einzuschränken, aber zu fördern. Wie die Liebe setzt die Freundschaft auf die Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit der Beziehung zum Freund oder der Freundin. Auch Freundschaften können als Orte der höchstpersönlichen Kommunikation angesehen werden, da es besonders unter Freundinnen und Freunden darum geht, Alter in seiner Singularität wahrzunehmen und zu respektieren. Die Freiheit der Freundschaft liegt darin begründet, dass die in der Liebesbeziehung häufig auftauchenden Besitzansprüche an das Gegenüber nicht in dem Ausmaß wie in einer Liebesbeziehung oder einer Ehe gestellt werden, denn der Sehnsucht nach körperlicher Verschmelzung wird in der Freundschaftsliebe nicht nachgegangen. Dadurch unterbricht die Freundschaft gewissermaßen das Begehren nach Einverleibung des oder der Anderen (vgl. Böhler 2000, 138–139). Während lodernde Passionen immer die Gefahr des Verbrennens und damit des Auslöschens mit sich bringen, zeichnet sich die Freundschaft durch eine beständige, gemäßigte Liebe aus, schreiben Aude Lancelin und Marie Lemonnier in ihrer historischen Studie Les philosophes et l’amour (2008). Echte Freundschaft sei von der zum Teil mühseligen Last der Fortpflanzung befreit und kenne nur »choix, admiration et enrichissement r8ciproques. Elle r8alise la parfaite unit8 entre attachement et libert8« (Lancelin/ Lemonnier 2008, 58). Durch das Fehlen des körperlichen Genusses wird auch die Gefahr der Übersättigung gebannt, die Geistigkeit als Grundlage der Freundschaft steigert geradezu die Freundschaftsliebe (vgl. Derrida 2000, 69), da der Imagination insofern keine Grenzen gesetzt werden, als eine Konfrontation mit der Realität in gewissen, vor allem körperlichen Bereichen ausgespart bleibt. Aus den genannten Gründen wird die Freundschaft häufig als bessere Grundlage für eine Ehe angeführt, die Liebe damit in den außerehelichen Bereich verlagert. Auch wird die eheliche Sexualität von Liebe losgekoppelt und aus ökonomischem Blickwinkel betrachtet.
Liebesgeständnis und (Lektüre-)Lust
2.5
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Liebesgeständnis und (Lektüre-)Lust
Während Foucault davon ausgeht, dass der sprachliche Ausdruck der Sexualität die Menschen nicht aus einer Unterdrückung befreit, sondern vielmehr der Verwaltung des Vergnügens dient, weshalb er auch eine »d8sexualisation«, die sich von sexuellen Normen ablöst, fordert (vgl. DE 234–235), bietet der spanische Roman um 1900 mit seinen ironischen Schilderungen und zum Teil grotesken Liebesgeständnissen Möglichkeiten, eine vom Begehren losgelöste Weltsicht zu präsentieren, in der das (Lese-)Vergnügen an vorderster Stelle steht. Überdies sind Literatur und Gesellschaft zwei unterschiedliche Systeme, die unterschiedlichen Restriktionsmechanismen unterliegen. Was im sozialen System gesetzlich oder moralisch verboten ist, kann literarisch durchaus realisiert werden, wie beispielsweise das in der Moral und Rechtsprechung verankerte Inzestverbot vieler Kulturen, das einer Mythologie und Narrationen, wie der Ödipus-Sage der griechischen Antike und anderen Beispielen neuerer Literatur, gegenübersteht. Um 1900 lassen sich hierzu zumindest drei Varianten ausmachen: Erstens spiegelt sich das Inzest-Motiv mit Benito P8rez Galdjs’ Tristana in der Konstellation des lüsternen Alten und der verführten Unschuld, die sich als Ziehvater-Tochter-Beziehung gestaltet. Zweitens kontrastiert Emilia Pardo Baz#n in La Madre Naturaleza eine ungewollte, aber geplante Onkel-NichtenHeirat mit einer willentlichen Bruder-Schwester-Liebe. Und schließlich gipfelt die Liebessehnsucht des Protagonisten von Ramjn del Valle-Incl#ns Sonatas in der Verführung seiner Tochter. Umgekehrt, merkt Foucault an, kann jedoch auch die Sprache rigoroser vorgehen als das Gesetz, wie er anhand des Umgangs mit Homosexualität im 19. Jahrhundert deutlich werden lässt. Wurde in der Jurisprudenz das Gesetz zugunsten der Homosexualität verändert, zeigte sich die Thematisierung von Homosexualität in Alltagssprache und Bereichen der Literatur weniger tolerant (vgl. DE 415–416). Letztliches Ziel jeder Diskursanalyse ist es, die Wissensbestände zu ergründen, die weniger über ihren Wahrheitsgehalt zu einem bestimmten Zeitpunkt definiert sind, als über die Handlungsmöglichkeiten, welche die Diskurse einräumen. Wissen ist dann »l’ensemble des conduites, des singularit8s, des d8viations dont on peut parler dans le discours« (AS 238). Dieses Wissen zeigt sich nicht nur in wissenschaftlichen Demonstrationen, sondern kann sich auch in Berichten oder politischen Entscheidungen sowie in Fiktionen entfalten (vgl. AS 261). Auf den Analysegegenstand des spanischen Romans um 1900 bezogen, resultieren daraus folgende Fragen: Welche Erkenntnisse über Liebe und Sexualität lässt die spanische Literatur um 1900 transparent werden? Welche Besonderheiten im Sprechen über Liebe werden von den Romanen festgehalten? Was wird durch Schweigen oder Leerstellen markiert? Worin unterscheiden sich Liebesdarstellungen der Romantik, des Realismus und der
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Theoretisch-methodologische Grundlagen
künstlerischen Moderne? Inwiefern zeigen die Differenzen einen literarhistorischen Epochenwechsel an und wo korreliert dieser Bruch mit unterschiedlichen Wissensorganisationen oder Realitätskonzepten? Die in den Kapiteln 5 bis 7 folgende Analyse unterschiedlicher poetologischer Texte sowie Romane des spanischen Realismus und der künstlerischen Moderne wird Antworten auf diese Fragen geben. Vorab kann festgehalten werden, dass die unterschiedlichen Schreibweisen von Realismus und künstlerischer Moderne Michel Foucaults Ablösung der klassischen Episteme durch die moderne Episteme aufgreifen. Wie der französische Historiker in Les mots et les choses (1966) konstatiert, lassen sich drei Zeitalter der Wissensorganisation unterscheiden: Das Zeitalter der Renaissance als jenes der Ähnlichkeiten, das Zeitalter der Klassik als jenes der Repräsentation sowie das Zeitalter der Moderne als jenes des Menschen und der Bedeutungen. In Foucaults Les mots et les choses zeichnet sich die klassische Episteme durch die Annahme aus, dass sich der Mensch in einer geordneten Natur bewegt, die mit Hilfe von mathematischen und geometrischen Methoden vermessen und klassifiziert werden kann. Mit dem Zeitalter der Repräsentation verlieren die Zeichen ihren direkten Zugang zu den Dingen, die sie bezeichnen, es gilt jedoch noch die Annahme von der allgemeinen Repräsentierbarkeit der Welt (vgl. MCH 86).21 Das Wissen organisiert sich im Gegensatz zum Zeitalter der Ähnlichkeiten nicht länger durch Kommentare, durch Auslegungen von Texten, welche die dahinterliegenden Dinge zum Vorschein bringen sollten wie im Zeitalter der Renaissance, sondern durch Kritik, die sich allein auf die Funktionsmechanismen der Diskurse bezieht. Die zentralen Fragen der Wissensorganisation im klassischen Zeitalter beschäftigen sich mit Kompositions- und Analysemerkmalen, welche bestimmte Manifestationen von Repräsentationen erlauben und andere ausschließen. Sätze haben in dieser Episteme einen effektiven Sinn, das Wissen zeigt sich in Ordnungen unterschiedlichster Arten (vgl. MCH, 92–94). Im klassischen Zeitalter stellt die Sprache ein transparentes Medium der Ideen dar. Dies äußert sich darin, dass Sprechen vor allem ein Benennen ist (vgl. Matzat 1990, 22). Das hier zugrundeliegende Realitätskonzept ist in Susanne Knallers Terminologie ein rational-repräsentatives. Mit Blick auf die Liebe stellt Wolfgang Matzat in seiner Diskursgeschichte der Leidenschaft. Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac (1990) fest, dass sich die Leidenschaften im Zeitalter der Klassik durch eine starke Vergesellschaftung auszeichnen. Das Begehren wird durch diskursgeschichtliche Faktoren hin zu einer Affektdämpfung modelliert (vgl. ebd., 28–29). Für das realistische Schreiben kann die Technik der Kritik, die von einem Großteil der 21 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle MCH auf Michel Foucault (1966): Les mots et les choses. Une arch8ologie des sciences humaines, Paris: Gallimard.
Liebesgeständnis und (Lektüre-)Lust
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Literaturschaffenden ausgeübt wird, bestätigt werden. Zudem halten wissenschaftliche, am Positivismus ausgerichtete Methoden, wie beispielsweise die genaue Beobachtung und Analyse gesellschaftlicher Vorgänge Einzug in das künstlerische Schaffensfeld. Eine transparente Sprachauffassung beschreibt realistische Literatur hingegen nur bedingt zutreffend, da Autorinnen und Autoren des Realismus den medialen Charakter der Sprache reflektieren und somit die Aufmerksamkeit auf die Materialität des Mediums lenken. Neben dem rational-repräsentativen Realitätskonzept ist realistischer Literatur auch ein konstruktiv-performatives Realitätskonzept vorgelagert. Neben der klassischen Episteme wird auch die moderne Episteme22 in der Literatur um 1900 reflektiert. Das moderne Zeitalter verabschiedet das Konzept einer statischen, natürlichen Ordnung und ersetzt dieses durch die Vorstellung von Geschichte, welche als verborgene Gesetzmäßigkeit aller Dinge gesehen wird. Zugleich treten objektive und subjektive Bedingungen der Erkenntnis auseinander und veranschaulichen den widersprüchlichen Zustand, in dem sich der moderne Mensch befindet. Einerseits wird die Erkenntnismöglichkeit durch die Transzendentalphilosophie an das Subjekt gebunden, andererseits entsteht durch den Objektivitätsanspruch der neuen Natur- und Sozialwissenschaften das Konzept einer die sichtbaren Dinge transzendierenden Erkenntnisform, die in der Lage ist, das Wesen der Dinge über ihre Erscheinung hinaus zu erfassen (vgl. ebd., 86). Somit stehen sich in der Moderne die Phänomene, die anhand ihrer Oberfläche erkannt werden können, und die Metaphysik der Objekte, die auf einen nie objektivierbaren Grund verweist, gegenüber. Foucault setzt dieses neue Verhältnis zwischen Sein und Repräsentation bereits mit Kant an (vgl. MCH 258). Im spanischen Roman um 1900 äußert sich der Rekurs auf die moderne Wissensorganisation darin, dass vermehrt die Paradoxie als strukturierendes Element literarischer Darstellungen herangezogen wird. Einerseits veranschaulicht bereits der realistische Roman dieses paradoxe Weltverständnis, da die Autoren und Autorinnen einen Anspruch auf Informationsvermittlung nicht verwerfen, obschon sie sich des fiktiven Charakters von Romanen bewusst sind. Andererseits führt der unlösbare Widerspruch in der Realitätswahrnehmung modernistische Autorinnen und Autoren dazu, die Paradoxie als strukturelles Element der Poetik zu integrieren, um den Lektüregenuss zu steigern. Diese Interessensverlagerung ist eng an eine Sprachreflexion gebunden. Im Zuge der Verschiebung von klassischer zu moderner Episteme bezieht sich die 22 Michel Foucault konstatiert einen weiteren Bruch in der Wissensorganisation am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wenn die klassische Episteme von der modernen abgelöst wird. Neue Wissenszweige wie jene der Philologie, Biologie oder Politischen Ökonomie bilden sich in den vom klassischen Zeitalter bisher unberücksichtigten Wissensbereichen heraus (vgl. MCH 220).
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Theoretisch-methodologische Grundlagen
Sprache auf sich selbst. Dadurch verliert sie ihre Transparenz, die es in der klassischen Ordnung ermöglichte, durch die Sprache, den Diskurs hindurchzugehen und zum Sein zu gelangen. Vom 19. Jahrhundert an wird die Sprache opak, sie wird eigenmächtig und gibt nur Auskunft über ihre Gesetze, über ihre Struktur, über die ihr eigene Objektivität. Damit geht der Sprache die Funktion verloren, als neutraler Erkenntniszugang fungieren zu können. Sie verlässt vielmehr ihr Dasein als unreflektiertes Medium und wird zum Erkenntnisgegenstand, auf den die Methoden des Wissens wie auf jeden anderen Gegenstand angewandt werden können (vgl. MCH 309). Bezogen auf das Sprachverständnis spiegelt der Epochenübergang von Realismus zu künstlerischer Moderne diesen Bruch der Wissensorganisation wider, da realistische Werke die semiotische Geste der Repräsentation (vgl. Knaller 2011, 18) verschleiern, während modernistische Werke die konstruktiven Seiten der literarischen Sprache, ihre Performativität, akzentuieren.
2.6
Zur sprachlichen Komponente von Liebe
Im Zuge der Sprachreflexion in Poetiken und Romanen um 1900 wird die Sprachgebundenheit von Liebe thematisiert und ist deshalb auch an kognitionswissenschaftliche Ansätze der Emotionsforschung des 20. und 21. Jahrhunderts anschließbar. Die Bedingung der Möglichkeit, Liebe als Emotion zu fassen, kann, wie Christiane Voss plausibel in ihrer Studie Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien (2004) erläutert, auf eine gemeinschaftlich eingeübte sprachliche Klassifikation emotionaler Verhaltensweisen zurückgeführt werden. Innerhalb einer Sprachgemeinschaft, so Voss, werden über Erzählungen bestimmte Verhaltensmuster als für die je spezifische Emotion adäquat gelernt, weshalb sie komplexe Emotionen wie Liebe auch zur Sprachkompetenz zählt (vgl. Voss 2004, 60).23 Die damit einhergehende mögliche Konsequenz einer Emotionsmodel23 Sprachlich äußert sich diese Bezugnahme auf die Welt darin, dass Emotionsverben transitiv sind und ihr Bezugsobjekt meist über eine Präposition angeschlossen wird (vgl. ebd., 77 u. 89). Auch die mit Liebe assoziierten Verben zählen zu den transitiven: Die deutschen Verben ›lieben‹ und ›mögen‹, die spanischen ›amar‹ und ›querer‹, das französische ›aimer‹ oder das italienische ›amare‹, auch das englische ›to love‹ werden zur Gruppe der transitiven Verben gerechnet. Weitere Emotionsverben des Wortfeldes ›Liebe‹ wären die transitiven Verben ›tomber amoureux/amoureuse (de)‹ und ›to fall in love (with)‹. Die deutsche, spanische und italienische Variante dieses Gefühlsausdrucks gehört zu den reflexiven Verben (›sich verlieben (in)‹, ›enamorarse (de)‹ oder ›innamorarsi (di)‹) und betont damit nicht nur die Referenz, sondern auch die Reziprozität der Terme. Gemeinsam ist den Emotionsverben der unterschiedlichen Sprachen die Notwendigkeit eines Objektbezuges als Bedingung, die Emotion vollständig sprachlich begreifen zu können. Voss argumentiert, dass im Rahmen
Zur sprachlichen Komponente von Liebe
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lierung in der Wirklichkeit aufgrund der Lektüre von Romanen wurde einerseits begrüßt oder zu pädagogischen Zwecken forciert, andererseits abgelehnt und mit Maßnahmen der Zensur oder allgemeiner durch die Kritik am Roman als schädliche Lektüre verhindert (vgl. Matzat 1990, 8). Noch bis ans Ende des 19. Jahrhunderts thematisieren spanische Schriftsteller wie Juan Valera in seinen literaturkritischen Artikeln Nutzen und Schädlichkeit der Romanlektüre. Durch den Verweis auf die wechselseitige Beeinflussung von Wirklichkeit und Literatur sowie durch die Betonung des Handlungscharakters von Sprache wird die These gestützt, dass die Funktion des Romans um 1900 weniger in einem Suspense als in einer Re-Kreation liegt. Romane werden geschrieben und gelesen, um einerseits der Wirklichkeit zu entfliehen und mit (selbst) geschaffenen Figuren mitzuleben, andererseits um kreativ tätig zu sein, sei es durch die schriftstellerische Tätigkeit, sei es durch eine implizit geforderte aktive Partizipation an der Romanhandlung im Akt der Lektüre oder aber durch ein MitErleben und Reflektieren, das letztlich zu einer emotionalen Neuschöpfung der Lesenden führt. Grundlage einer Steuerung von Emotionen durch Erzählungen ist die Annahme eines Narratives, das als »kulturell erworbenes und mental gespeichertes kognitives Schema im Sinne der frame theory« (Wolf 2002, 29) gesehen wird, als ein Konzept, das aus stereotypen Elementen besteht, die das Verstehen, die Kommunikation und die Erwartung steuern, schreibt Werner Wolf in »Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie« (2002).24 Narrativen Strukturen gelingt es, des Spracherwerbs nicht nur das semantische Verstehen der Emotionsterme erfolgt, sondern die Lernenden auch von Normen geprägt werden, die festhalten, welche Emotion in welcher Situation angebracht erscheint und welche nicht, denn eine Abweichung von den Regeln der Sprachgemeinschaft birgt das Risiko, nicht verstanden oder akzeptiert zu werden. An dieser Stelle möchte ich noch auf eine Besonderheit des Spanischen hinweisen, welche die Differenzierung des Verbes ›sein‹ in ›ser‹ und ›estar‹ betrifft. Während ›ser‹, sehr generalisiert ausgedrückt, Wesenszüge und andauernde Zustände bezeichnet, drückt ›estar‹ die temporäre Qualität des jeweiligen Zustandes oder der Situation aus. Diese Unterscheidung manifestiert sich bezogen auf das Thema der Liebe in den Begriffen ›estar enamorado/a‹, ›estar soltero/a‹, ›estar casado/a‹ aber auch ›estar vivo/a‹ und ›estar muerto/a‹. 24 Werner Wolf unterscheidet drei Funktionen von Narrativen, die auf anthropologische Grundbedürfnisse antworten: erstens die »Sinngebungs- oder ›philosophische‹ Funktion«, zweitens die »repräsentierende und (re)-konstruierende Funktion« und schließlich die »kommunikative, soziale und unterhaltende Funktion«. Mittels der Sinngebungsfunktion werden Erfahrungen von Veränderung und Kontingenz kohärent und kommensurabel dargestellt. Eigene und fremde Identität, ein für die Darstellung der Liebe zentrales Thema, wird konstituiert und kognitiv gefestigt, indem die Sinngebung kausal oder teleologisch erklärt wird. Die repräsentierende und (re-)konstruierende Funktion ermöglicht nicht nur eine theoretische Organisation zeitlichen Erlebens, sondern vergegenwärtigt dieses auch. Schließlich ermöglicht das Erzählen ein Miterleben, woraus die kommunikative Funktion resultiert. Dieses Miterleben befriedigt nicht nur das »soziale Ausgerichtet-Sein des Men-
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Theoretisch-methodologische Grundlagen
heterogene Elemente mittels assoziativer oder chronologischer Verknüpfung zu einem Sinnganzen zu synthetisieren. Mit Rückgriff auf Martha Nussbaum unterstreicht Christiane Voss daher die Wichtigkeit von Geschichten als Speicher, Vermittler und Architekten von Gefühlen und Lebensweisen. Denn erst über das erworbene Begriffsverständnis der Emotionsterme können vereinzelt wahrgenommene physische Veränderungen, Gefühle, Verhaltensweisen oder Meinungen als disperse Elemente eines emotionalen Sinnganzen erfasst werden. Die Lernenden orientieren sich dabei nicht nur an den eigenen Erfahrungen oder bekannten Vorbildern, sondern auch an erzählten Erfahrungen anderer (vgl. Voss 2004, 185–188 u. 200). Die soziale Akzeptanz der Emotion ist eng an die Transformation des Gefühlskomplexes in das logische System der Sprache gebunden und bringt im Prozess der Übertragung eine Distanzierung zu den Emotionen mit sich. Solange Liebe gestanden werden kann, solange sie sich im Bereich des Kommunikablen bewegt, partizipiert sie an der Gesellschaft (vgl. Martin 2003, 133). Wenn Liebe an die Sprache einer Gemeinschaft und damit an die Sprache der anderen gebunden ist, wenn sie »part des autres, du langage, des livres, des amis«, so lässt sich mit Recht fragen, »est-il si 8tonnant qu’il se manifeste dans la forme oF il y d’abord 8t8 reÅu?« (ebd., 125). Anders gefragt, wenn passionierte Liebe den Menschen über fiktive Narrationen vermittelt wird, ist es so abwegig, die reale Erfahrung von fiktiven Erzählungen geprägt zu sehen und damit Liebe und Erzählung gleichzusetzen? Auf diese Möglichkeit der Interdependenz zwischen literarisch gestalteter und sozial gelebter Liebe haben einerseits Luhmann, Foucault und Voss hingewiesen, andererseits inkludieren literarische Texte selbst Reflexionen über verbindende oder erotisierende Wirkungen der Literatur wie besonders Romane um 1900 zeigen. Liebe wird noch vor dem ersten zwischenmenschlichen Kontakt durch Lektüren, Gemälde- oder Musikrezeption ausgelöst. Neben den genannten Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen zwischen der narrativen Struktur sozial gelebter Liebe und fiktiver Liebe lohnt es, für ein besseres Verständnis nun die Besonderheiten fiktionaler Liebe herauszustreichen.
2.6.1 Liebe im Roman: ein Verliebt-Sein und ein Sprache-Sein Andr8 Gides Aphorismus »J’aime, donc je suis«, als Variante der Descartes’schen Erkenntnis »cogito ergo sum«, proklamiert im Lob des Gefühls ein neues auf Sensibilität basierendes Kunstverständnis und führt dieses in konziser Weise vor schen auf den anderen«, sondern auch die Ausrichtung auf »das andere« und antwortet damit auf den »Erlebnishunger« (Wolf 2002, 33).
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Augen. Der Satz drückt zwar durch den elliptischen Gebrauch des transitiven Verbs »aimer« in Gegenüberstellung zum intransitiven Verb »Þtre« eine unvollständige Ausschöpfung der Valenz des Verbes aus, dennoch wird die Kommunikation nicht gestört. Ganz im Gegenteil, die Vorstellung von Liebe wird durch die Schieflage des Parallelismus in eine bestimmte Richtung gelenkt, die den Aktant der Liebe als Leerstelle ausweist. Wer oder was wird geliebt? Es könnte auch das Ich selbst sein. Derart ermöglicht diese literarische Formulierung nicht nur die Reflexion der gewöhnlichen Objektbezogenheit des Emotionsverbs, sie kehrt vielmehr das Bild des grundlos intensivierten Lebensgefühls verliebter Menschen, oder genereller den Verweis auf die Untrennbarkeit von Leben sowie Liebe, hervor und hinterfragt gleichzeitig die Notwendigkeit einer Referenz. Der elliptische Gebrauch von »aimer« ermöglicht die Vorstellung einer objektlosen bzw. referenzlosen Liebe, die durch die poetische Sprache transportiert wird, wobei die Sprache selbst unumgänglich thematisiert wird. Um die Differenz von Selbstreferenz der literarischen Sprache und Fremdreferenz auf den Liebescode im modernen Roman zu veranschaulichen, bietet sich deshalb eine allegorische Lektüre an. Die Berührungspunkte von in literarischen Texten dargestellter Liebe und außerliterarisch erzählter Liebe liegen neben der sprachlichen Verfasstheit in ihrer gemeinsamen epistemologischen Basis. Der fiktive Liebesdiskurs unterscheidet sich von real erzählter Liebe jedoch darin, dass nicht nur Elemente des Kommunikationsmediums Liebe herangezogen werden, um Liebesdarstellungen zu generieren, sondern auch Bausteine anderer Systeme wie Kunst, Religion oder Wissenschaft einfließen. Aufgrund dieser Selektion werden die Diskurse der konventionellen semantischen und systematischen Gebundenheit an ihr jeweiliges System enthoben, der neue Text überschreitet die Grenzen bestehender Diskurse, indem er unterschiedliche, sogar konträre Diskurse miteinander kombinieren kann. Nach Wolfgang Iser liegt die Fiktionalität in der Selektionsleistung respektive im Akt des Fingierens. Die Fiktionalität literarischer Narrationen manifestiert sich darin, dass die in literarischen Texten dargestellte Welt eine Welt ist, die keine konkrete Entsprechung außerhalb des Textes hat, da sie eine Figuration, eine Welt des Als-ob ist. Der Akt des Fingierens der Autorin oder des Autors, erläutert Wolfgang Iser, der auf der Selektions- und Kombinationsleistung von Elementen unterschiedlicher Systeme besteht, liegt dieser Welt des Als-ob zugrunde und trennt sie gleichsam von der Realität (vgl. Iser 1983, 125–126). Intertextualität oder Interdiskursivität sind daher zentrale Merkmale des literarischen Liebesdiskurses. Für die vorliegende Arbeit lege ich das Hauptaugenmerk darauf, welche poetologischen und ästhetischen Diskurse neben literarischen Vorläufertexten aufgegriffen werden, und mit welcher Funktion sie in den Liebesdiskurs um 1900 eingeflochten werden. Der Gedanke einer reinen
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Abbildung der Wirklichkeit wird verworfen, auch das realistische Schreiben versteht sich als Gedankenexperiment. Konsequenterweise spricht Wolfgang Matzat in Zusammenhang mit literarischen Liebesdarstellungen daher auch von ›Modellierungen‹ (vgl. Matzat 1990, 14), Wolfgang Iser hingegen zieht den Begriff ›Figuration‹ heran, den ich in weiterer Folge aufgreife, da Figur sowohl den Prozesscharakter von Literatur als die rhetorische Kunstfertigkeit akzentuiert und damit in die Nähe des Allegorie-Begriffs rückt. Beide Begriffe unterstreichen die ästhetische Gestaltung vorhandener realer Elemente mit dem Ziel einer neuen Komposition. Dabei können literarische Texte auf ihren fingierten Status explizit hinweisen oder aber Fiktionssignale unterdrücken. Wird der Als-obCharakter und damit die Irrealität der dargestellten Welt unterstrichen, so dient laut Iser die dargestellte Welt als Analogon der empirischen Wirklichkeit, mit dem Ziel, bei den Rezipienten eine Reaktion auf die empirische Wirklichkeit auszulösen. Die Kontingenz der Realität wird besonders durch das Vor-AugenFühren anderer Wirklichkeiten tragend. Werden Fiktionssignale hingegen getilgt, wie es in realistischen Texten zum Teil der Fall ist, verwandelt sich die fiktive Welt in die Repräsentation einer empirischen Wirklichkeit, die vorgibt, von den Rezipienten außerhalb des Textes erfahrbar zu sein. Die Funktion der Verschleierung von Fiktionalität wiederum liegt darin, die literarische Weltdarstellung als Information zu präsentieren, die in der Lage ist, Realität zu erklären (vgl. Iser 1983, 139–144). Da Romane um 1900 sowohl auf ihre Literarizität als auch auf ihre Realitätsgebundenheit referieren, greife ich auf eine moderne Allegorietheorie zurück, um diese Konstellation zu beschreiben. Die Verbindung von Liebe und allegorischer Darstellungsform ist fest in der Geschichte literarischer Liebeserzählungen verankert, man denke an das Hohelied der Liebe. Allegorien im Sinne einer Personifikation oder als einer der vier Schriftsinne werden in dieser Arbeit ebenso wenig zur Begriffsbestimmung herangezogen als ein rein rhetorischer Allegorie-Begriff, dessen Verständnis im Verhältnis zum Symbolbegriff erfolgt.25 Um Liebe als kulturelle und ästhetische Kategorie zugleich erfassen zu können, erweist sich eine moderne rhetorischtextbildende Allegorie-Bestimmung als hilfreich. Allegorie bezieht sich auf ein prozessuales Textverständnis, das neben der Narration die Erzählung selbst als semiotisches Zeichen fasst und mit dieser weiteren Dimension Bewegung im Text ermöglicht (vgl. Knaller 2003, 11). Die auf einer thematischen Ebene erzählte Geschichte bezeichnet zunächst phantastische oder reale Liebesdarstellungen, die aus systemischer Perspektive Aufschluss über die Poetik der Autorinnen und Autoren gibt. Dabei sind die für 25 Einen guten Überblick zur Allegorie allgemein geben Gellrich 2002 und Campe 2002; in Abgrenzung zum Symbolbegriff und weiterführend wird Allegorie bei Knaller 2002, 21; 2003 verwendet; zur Unterscheidung von Allegorie, Symbol und Metapher siehe Kurz 1982.
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diesen Allegorie-Begriff konstitutiven Merkmale der Allegorie, wie das Vorhandensein von Fremd- und Selbstreferenz, Intertextualität und die sich aus der verändernden Reiteration von Prätexten ergebende Performanz (vgl. ebd., 11– 12), integraler Bestandteil der Romane um 1900. Diese prozessuale Konzeption der Allegorie als ständige Bewegung zwischen Selbst- und Fremdreferenz, die sich auch im Verweis auf Außersprachliches durch das Bewusst-Halten der sprachlichen Verfasstheit äußert, entspricht einem modernen Literaturverständnis (vgl. ebd., 33). Zwangsläufig bringt die Allegorie dadurch stets auch die Performativität der Sprache zum Ausdruck und kann daher in ihrer Ambivalenz Liebe in kultureller, wirklichkeitsorientierter und ästhetischer Hinsicht erfassen. Die Zusammenschau der einzelnen, unterschiedlichen Liebesfigurationen lässt jedoch weder ein totales Bild der Liebe noch des Romans entstehen, vielmehr bleibt ihr fragmentarischer Charakter aufrecht. Wenngleich mit den einzelnen Liebesfigurationen eine Bedeutung im Sinne der Referenz auf Liebe als Diskurs oder Code gesetzt wird, wird diese zugleich auch wieder dekonstruiert, da die Romane auf ihren sprachlich-fiktiven Charakter verweisen. Ironie kann dabei die Aufmerksamkeit auf Struktur und Konstruktionsprinzip der Allegorie und damit der Liebesfiguration lenken, denn sie dient der Brechung einer totalisierenden Vorstellung des »Allegorieraumes«, der in der Moderne als Epoche der Trennung von Subjekt und Objekt nicht länger als ein Raum der Ganzheit denkbar ist (vgl. Haverkamp 2000, 57–58). Liebesfigurationen allegorisch zu lesen, gibt daher Aufschluss nicht nur über kulturelle Liebeskonzepte, sondern gleichzeitig Einblick in die Poetik der Autorinnen und Autoren, woraus sich letztlich der Epochenwechsel von Realismus auf die künstlerische Moderne ableiten lässt. Die realistische Ironie thematisiert, vergleichbar der romantischen, die Problematik der Kunst, die sich im selbstgesetzten Anspruch auf Vollständigkeit einerseits und der Sprachkrise oder Reduktion der Kunst auf ihr System andererseits zeigt. Dahingegen genießt die modernistische Kunst eine größere Freiheit, die sich in der Offenlegung ihrer sprachbedingten Ohnmacht äußert. Die Allegorie spielt geradewegs mit dieser Dissoziation zwischen Wahrnehmung und Kommunikation (vgl. Haverkamp/Menke 2000, 87). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, merkt Bettine Menke an, wird das Augenmerk von einer dem Symbol vergleichbaren Vergegenwärtigung des Unsagbaren durch den »Effekt der mimetischen Simulation« in der figurativen Sprache bewusst auf das Konstruktionsprinzip der Allegorie und ihre Wirkungen gelenkt. Mimetische und allegorische Darstellung stehen daher auch in keinem unvereinbaren Gegensatz, sondern bedingen sich bis zu einem gewissen Grad wechselseitig, wie auch aus Susanne Knallers Allegorie-Definition hervorgeht (vgl. Knaller 2003, 11–12). Mit Paul de Man argumentiert Menke, dass repräsentationale Elemente für allegorische Darstellungsverfahren notwendig sind, um ein Verstehen zu
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gewährleisten (vgl. Haverkamp/Menke 2000, 93). Liebesfigurationen des Modernismo setzen diese repräsentationalen Ansprüche dahingehend um, dass sie beispielsweise Elemente der Liebessemantik in narrative Techniken transformieren. Konsequenterweise dekonstruiert das Lesen von Liebesfigurationen Liebe als Gefühl und zeigt den Charakter eines Kommunikationsmediums oder eines literarischen Diskurses, indem die Dissoziation zwischen Wahrnehmung und Kommunikation verdeutlicht wird. Gleichzeitig ermöglicht die Performativität der Allegorie das Auftreten der Liebe in der subjektiven Rezeption, die an die Flüchtigkeit des Augenblicks gebunden ist und sprachlich nicht erfasst werden kann. Die Leistung der modernen Allegorie liegt nun darin, spielerisch ein Wissen über Liebe zu zeigen, dessen Aufspüren in der Lenkung des Lektürevorganges ankert. Durch die wechselseitig gebrochene Überlagerung der beiden von der Allegorie erzeugten Bilder (ein Verliebt-Sein und ein Sprache-Sein) wird die Aufmerksamkeit der Lesenden auf den Prozess der Transformation, auf die Dynamik der Beziehung zwischen konträren Gegebenheiten gelenkt.26 Die Liebe selbst bleibt im Prozess vage anwesend, ihre Struktur enthüllt sich nicht nur in der Abwesenheit der fixierten Bedeutung (wie postmoderne Lesarten es bevorzugen), sondern gerade in der Präsenz der vollzogenen Bewegung, welche die Lesenden in den Worten Roland Barthes’ als »jouissance« an den Text bindet, die von der Logik der Sprache nicht eingeholt werden kann, ohne sich in ein ›langweiliges Gemurmel des plaisir‹ zu verwandeln (vgl. Barthes 1994, 1504– 1505). Der Liebesdiskurs wird nach Roland Barthes’ Ansatz in modernistischen Texten nicht länger bloß beschrieben, sondern verkörpert, wenn der räumliche Charakter als »l’empreinte d’un code« hervorgehoben wird (vgl. Martin 2003, 124). Die Verlagerung von inhaltlichen Elementen auf die strukturelle Ebene von Liebesnarrationen ermöglicht dabei die Verlebendigung dieser Elemente in der Lektüreerfahrung. Exemplarisch kann der paradoxe Wunsch der Liebenden nach Nähe und Distanz durch eine abwechselnd empathische und gefühlskalte Erzählhaltung Gestalt annehmen. Das Wechselbad der Gefühle wird sodann nicht länger beschrieben, als strukturelles Merkmal der Narration tritt es aus der Erzählung heraus und wird von den Lesenden im Augenblick der Rezeption erlebt. Dabei kann es insofern zu Rückkoppellungseffekten kommen, als sich die literarische Gestaltung von Liebe auf Topoi des Liebescodes auswirkt (siehe Kapitel 2.6.3).
26 Siehe dazu Susanne Knallers Ausführungen zur Rolle der Sehnsucht in Allegorie-Theorien in der Nachfolge Paul de Mans (vgl. Knaller 2003, 33–34).
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2.6.2 Verführung als metareflexive Komponente In der Beschäftigung mit dem Themenkomplex Liebe drängt sich früher oder später auch die Frage nach der Wahrheit der Liebe auf: Handelt es sich um echte Gefühle oder nur um zu einem bestimmten Zwecke vorgetäuschte? Die Verschränkung von Liebe und Wahrheit, als Kommunikationsmedium der Wissenschaften, verweist auf die epistemologische Funktion von Liebesfigurationen. Im Oszillieren zwischen Selbst- und Fremdreferenz reflektiert der spanische Roman um 1900 die Sprachbezogenheit der Liebe und präsentiert eine Nivellierung der Unterscheidung von Diskurs über Liebe und Liebe entweder als Information oder als Erleben, indem beide mittels narrativer Techniken nachfühlbar gestaltet werden. Denn Verführung zeigt neben der Kuppelei am deutlichsten, dass Liebe auch sprachlicher Natur ist, dass ihr Code aus semantischen Einheiten besteht, die auch unernst oder zu anderen Zwecken als zur Festigung einer Intimbeziehung eingesetzt werden können. Bei Verführung wird der Liebescode als kommunikative Strategie eingesetzt, um konkrete Machtverhältnisse zu beeinflussen. Systemtheoretisch gesprochen, ähneln sich die Kommunikationsmedien Macht und Liebe, da sie das Erleben und das daraus resultierende Handeln von Alter dahingehend verändern möchten, dass kontingente Kommunikationsselektionen Egos von Alter akzeptiert werden. Ein Unterschied zwischen Liebe und Macht als Medium besteht hingegen darin, dass Liebe auf das veränderte Erleben Alters einwirken möchte, Macht hingegen vordergründig die Handlungen Alters zu beeinflussen versucht. Grundvoraussetzung für die gelungene Kommunikation ist die Handlungsfreiheit aller Beteiligten, Macht ist demnach nicht gleichzusetzen mit einem Herrscher-Untertanen-Verhältnis, sondern operiert auf einer Ebene der Gleichberechtigung. Ziel der Kommunikation ist die Kommunikationsofferte so attraktiv zu gestalten, dass Alter auch Normbrüche und Tabuüberschreitungen der jeweiligen Gesellschaft wie den Ehebruch wagt. Um diese unwahrscheinliche Situation zu fördern, operiert Macht mit der Androhung von Sanktionen und setzt in vielen Fällen Zeit als Druckmittel ein. Während Luhmann Macht als ein eigenes Kommunikationsmedium konzipiert, das in den Bereich der Politik fällt, sieht Foucault alles Kommunizieren der Ordnung des Diskurses und damit den bestehenden Machtinteressen unterworfen. Das Foucault’sche Machtverständnis ist ebenso wenig hierarchisch gedacht wie Luhmanns Konzept, allerdings nimmt Macht eine stärkere Position innerhalb der Diskurstheorie ein. Wie Susanne Illmer in Die Macht der Verführer. Liebe, Geld, Wissen, Kunst und Religion in Verführungsszenarien des 18. und 19. Jahrhunderts (2007) erläutert, werden unter Macht jene Rahmengegebenheiten verstanden, die erfüllt sein müssen, damit ein Subjekt eigenständig anerkannt wird und am Diskurs partizipieren kann. Machtverhältnisse, argumentiert Illmer diskurstheoretisch, regulieren damit,
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was zu welchem Zeitpunkt in welcher Form gesagt und getan werden kann. Bewegen sich Individuen außerhalb dieser Rahmenbedingungen, werden sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen oder bestraft – wie im Falle der Wahnsinnigen und Kriminellen (vgl. Illmer 2007, 18). Für die Analyse von Liebesfigurationen scheint eine Differenzierung in wahre und strategisch instrumentalisierte Liebe gewinnbringend, zumal Don Juan eine für die gesamteuropäische Literatur prägende Figur ist, die mit Macht par excellence in Verbindung gebracht wird. Michel Foucaults Machtverständnis ist hierfür zu undifferenziert, wie auch Susanne Illmer anmerkt. Die Verführenden und die Liebenden würden gleichermaßen den Machtstrukturen unterliegen, eine Unterscheidung in wahre und falsche Liebe wäre damit hinfällig. Da diese Differenzierung jedoch in der literarischen Schöpfung grundlegende Bedeutung hat, werde ich mich in weiterer Folge an Luhmanns Medienkonzeption halten. Dass sich die Medien Liebe und Macht, aber auch Liebe und Wahrheit im literarischen Liebesdiskurs verschränken, zeigen Verführer- und Kuppler-Figuren besonders deutlich. Die Interrelation der Medien bewirkt, dass im Rückgriff auf das Medium Liebe die Verführer-Figuren selbst Gefahr laufen, diese Gefühle auszubilden. Gelingt ihnen allerdings die Affektkontrolle durch Distanzierung zu den eigenen Gefühlen, können sie ihre Machtposition stärken, indem sie ihr ursprüngliches Ziel erreichen. Als Konglomerat zweier Medien gibt Verführung aufgrund der Relation zum politischen Diskurs überdies Aufschluss über gängige Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen. In den Romanen der Jahrhundertwende wird Verführung nicht nur in der Konstellation des männlichen Verführers und der weiblichen Verführten thematisiert. Neben vorwiegend weiblichen Kuppler-Figuren, die genauestens über den Liebescode Bescheid wissen und selbst danach handeln, um wie im Fall von Visitacijn in La Regenta Ana Ozores zu Fall zu bringen und ]lvaro de Mes&a an seine Grenzen zu treiben, zeichnen vor allem die Romane von Unamuno und Valle-Incl#n Verführungsszenarien ambivalent. Während sich die Frauenfiguren zwischen femme fatale und femme fragile bewegen, verlieren die männlichen Verführerfiguren ihre unangefochtene Machtposition. Anhand der Verführungsszenarien lassen sich zudem rezeptionslenkende Mechanismen ausmachen, die schließlich dazu führen, dass Liebeskonzepte und Weltentwürfe in ihrer Vielseitigkeit als Kommunikationsofferte angenommen bzw. durchdacht werden. Liebe wird unter verschiedensten Aspekten thematisiert, als Wahrheitssuche, als Grundlage der Dichtkunst, in ihrer gesellschaftlichen Funktion, als religiöses Thema etc. – um Intimbeziehungen geht es scheinbar nur peripher. Allen Texten gemeinsam ist hingegen die Verführung
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der Lesenden, hin zu einem Sich-Verlieben in den Text oder zumindest hin zu einer Lektürelust.27 Deutlicher als Kupplerfiguren – die nicht immer einen Nutzen aus der angestifteten Liebesbeziehung ziehen – kann über Verführerfiguren die Verquickung von Liebe und Macht sowie die Bedeutsamkeit von Liebe als handlungsund erlebenssteuerndes Element reflektiert werden. Um 1900 zeigt sich der prototypische Don Juan als gebrochene Figur. Don Juan wird nicht länger allein über seine sexuelle Potenz definiert, er verliert das Attribut des Spötters und kann schon gar nicht mehr durch aufrichtige Liebe erlöst werden, wie noch in Jos8 Zorrillas Don Juan Tenorio. Verformungen des Ur-Stoffes von Tirso de Molina, die sich in einer nunmehr kraftlosen Figurencharakterisierung zeigen, führen zu stark gealterten Don Juans wie etwa Don Lope in Tristana: War Don Lope Garrido zunächst der unangefochtene Don Juan, so zeigt er im Verlauf der Liebesgeschichte zwischen Horacio und Tristana, verunsichert durch ihr Aufbegehren, Eifersucht und droht sogar, seine Geliebte zu töten, falls sie ihn betrügen sollte (vgl. T 69–70).28 Damit reiht sich die Figur in die Deformation des Don-Juan-Mythos um 1900 ein, die einen verfallenden Don Juan zeichnet, wie auch Clar&n in La Regenta (1884/85). Dieser Bezug zu etwas sehr Menschlichem, wie den durch den Alterungsprozess bedingten Verlust physischer und sexueller Kräfte, erfährt in Azor&ns Roman Don Juan eine Parallele, indem der Verführer als Mittelmaß vorgestellt wird: er ist weder groß noch klein, weder dünn noch dick (vgl. Azor&n 1948, 219). Dabei fällt jedoch auf, dass die Mittelposition des Verführers erhalten bleibt und sich darin zeigt, dass Verführer männliche und weibliche Attribute oder sinnliche und geistige Liebeskonzepte vereinen. Wie in Unamunos El Hermano Juan (1929) verwandelt sich Azor&ns Don Juan von einem Lebemann und Frauenschwarm in einen spirituell Liebenden, der sich in ein Kloster zurückzieht und der Welt den Rücken kehrt. Während Ramjn P8rez de Ayala in Tigre Juan/El Curandero de su honra (1926) die Verführerfigur wiederum doppelt, einerseits in den physisch attraktiven, jedoch gegen jede Persönlichkeitsveränderung resistenten Vespasiano, andererseits in den misogynen Don-Juan-Anhänger Tigre Juan. Von seinem übermenschlichen Podest wird Don Juan schließlich dann gestoßen, wenn P8rez de Ayalas Protagonist Tigre Juan den Wandel zu einem liebenden Ehemann vollzieht. Auch Valle-Incl#n charakteri27 Dieser Ansatz ist in der Literaturwissenschaft weit verbreitet (vgl. Wanning/Wortmann 2001, 7). Neben Frank Wanning spricht auch Carmen Mart&n Gaite von der verführerischen Funktion der Literatur, in Pido la palabra (2002) nennt sie sogar die Literatur als Ursprung der Liebe (vgl. Mart&n Gaite 2002, 213). Auch Roland Barthes spricht in Le Plaisir du texte (1994) von der verführerischen und erotischen Funktion der Literatur. 28 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle T auf Benito P8rez Galdjs (2008): Tristana, Madrid: Alianza.
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siert in seinen Sonatas (1902–1907) den Marquis als »Un Don Juan admirable. ¡El m#s admirable tal vez! Era feo, catjlico y sentimental« (SP 22).29 Am anschaulichsten gestaltet jedoch Clar&n in La Regenta diese Zwischenstellung Don Juans, indem er die Attraktivität des Verführers Don ]lvaro Mes&a und jene des Priesters Don Ferm&n de Pas einerseits auf ihre männliche-weibliche Konstitution zurückführt, andererseits anhand der beiden Figuren den Widerstreit einer spirituellen und einer sinnlichen Liebe veranschaulicht. In den so gestalteten Don Juan-Figuren zeigt sich das Interesse an traditionell antithetischen Konzeptionen wie einer spirituell-sinnlichen Liebe, männlich-weiblichen Figuren oder literaturkritischen Narrationen im spanischen Roman um 1900.
2.6.3 Zur Erzählstruktur des ›Verliebens‹ Damit literarische Figurationen des Sich-Verliebens von den Lesenden wiedererkannt werden können, müssen sie gewisse Elemente aufweisen, die dem außerliterarischen Gefühlscode entsprechen. Zu einem prototypischen Liebesdiskurs verdichtet, fasst Sylvie Durrer in ihrem Aufsatz »Un s8ducteur aux prises avec le script amoureux. Lecture d’une aventure du chevalier de Faublas« (2000) die einzelnen Phasen der beginnenden Liebe zusammen. Da diese Grundstruktur auch noch in modernen Texten als ein die Handlung organisierendes Element gefunden werden kann, greife ich die von Durrer herausgearbeiteten acht wichtigsten Phasen des Liebesdiskurses auf: 0) Naissance du sentiment amoureux 1) ScHne inaugurale, d8cisive (scHne de premiHre vue selon Rousset) 2) Confidence / un tiers 3) H8sitations, doutes 4) Compliments 5) D8claration d’amour 6) Partage, c8l8bration mutuelle 7) D8claration publique (Durrer 2000, 14–15)
0) Der Ursprung des Sich-Verliebens ändert sich je nach Epoche: Waren in der griechischen und römischen Antike die Götter verantwortlich für den beginnenden Liebeswahn, so wurde die Ursache der Liebe später in der Vorsehung gefunden, in der außergewöhnlichen Schönheit oder Tugendhaftigkeit der geliebten Menschen. Für den Zeitraum um 1900 entfachen entweder Zufall und 29 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle SP auf Ramjn del Valle-Incl#n (2009): Sonata de Primavera. Memorias del Marqu8s de Bradom&n, in: ders.: Sonata de Primavera. Sonata de Est&o. Memorias del Marqu8s de Bradom&n, hg. u. eingel. von Pere Gimferrer, Madrid: Espasa Calpe, 19–100.
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Langeweile oder aber Diskurse aus Liedern, Opern und Erzählungen die Liebe. Die Sprache als Ursprung der Liebe nimmt einen besonderen Stellenwert ein. Interessanterweise ist die Geburt des Gefühls der ersten Begegnung häufig vorgelagert, ein Hinweis darauf, dass Liebe kulturell geprägt ist und nur dann als solche erkannt werden kann, wenn die Betroffenen bereits wissen, wie sich Liebe anfühlen sollte. Wie zuvor bereits erläutert, erklären kultur- und sozialwissenschaftliche Forschungsansätze die Ausbildung komplexer Gefühle wie Liebe über die Aneignung kultureller Konstruktionen. Doch auch naturwissenschaftliche Forschungsansätze bestätigen den narrativen Charakter von Gefühlen, denn aus neurowissenschaftlicher Perspektive genügt es uns Menschen, von einer Handlung lediglich zu hören, um über die Spiegelneuronen spontan und unwillkürlich in Resonanz zur erzählten Handlung zu treten (vgl. Bauer 2005, 24). Nicht alleine die Beobachtung, sondern jede Wahrnehmung eines Vorganges führt dazu, dass im Beobachter oder in der Beobachterin die Spiegelneuronen zu feuern beginnen, dass also dieselben Handlungsnervenzellen aktiviert werden, die auch beim eigenen Vollzug der Handlung tätig sind (vgl. ebd., 76). Dieses In-Resonanz-Treten der handlungssteuernden Nervenzellen funktioniert auch, wenn die betreffende Handlung nur vorgestellt wird, wenngleich eine stärkere Reaktion verzeichnet wird, sobald die beobachtende Person die beobachtete Handlung simultan imitiert. Joachim Bauer merkt in seinem Werk Warum ich fühle, was du fühlst (2005) an, dass sich »die Spiegelneuronen des handlungssteuernden prämotorischen Systems« in einem Hirnareal befinden, in dem auch die sprachproduzierenden Nervenzellnetze liegen (ebd., 25). Die sich ihm aufdrängende Frage, ob »die Sprache etwa aus nichts anderem bestehen [sollte] als aus Vorstellungen über Handlungsprogramme« (ebd.), würde bei einer positiven Beantwortung die These stützen, dass der Umgang mit Liebe – die Bewältigung einer aus widersprüchlichen Gefühlsregungen bestehenden Situation – ebenfalls aus Erzählungen oder Romanen gelernt werden kann. Indem Sprache selbst zur Grundlage für die Ausbildung von Handlungsmustern in der Liebe wird, werden kognitivistische Forschungsansätze, welche von einer narrativen Struktur der Emotionen ausgehen, untermauert. Der Topos der aus der Lektürelust von Liebestexten entstehenden Liebe wäre damit mehr als nur ein literarisches Motiv – Paolo und Francesca da Rimini,30 die in Dantes Divina Commedia aufgrund der Lektüre des Lancelot in Liebe zueinander entbrennen, Emma Bovary, die sich angeregt von der Lektüre romantischer Werke auf die Suche nach dem außergewöhnlichsten Gefühl macht wie auch ihre spanische Entsprechung La Regenta – sie alle verkörpern beispielhafte Metatexte, die den Lesenden den Vorgang des Sich-Verliebens veranschaulichen. Unter diesem Gesichtspunkt führt Liebesliteratur gewisserma30 Oliver Jahraus bezeichnet das Paar als das erste Paar einer Amour fou (vgl. Jahraus 2004, 7).
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ßen zu einer Relaiswirkung, da die Narration einerseits aus der Beobachtung der Liebenden durch den Dichter oder die Dichterin hervorgeht, die Lektüre der Werke andererseits auf die Liebenden wirkt, die beobachtet und literarisch modelliert in ein Medium gebracht werden und so fort (vgl. Jahraus 2004, 7–8). Denn die Sprache als Teil dieses Resonanzsystems stößt in den wahrnehmenden Personen Handlungsszenarien an, die es ermöglichen, das »Agieren anderer Menschen intuitiv zu verstehen, indem wir es spontan in uns selbst simulieren« (Bauer 2005, 76). In anderen Worten, Liebesromane verdeutlichen den wirklichkeitsformenden Aspekt der Sprache. Auf einer metareflexiven Ebene gelingt dies insbesonders durch die Zeichnung von Kuppler- und Verführerfiguren. Diese handeln jedoch nicht nur nach dem Code der Liebe, sondern greifen auch auf jenen der Macht zurück. Konsequenterweise wird an der Entscheidungsfreiheit der verliebten Protagonisten gezweifelt wie auch an der Einzigartigkeit des Gefühls. Die im Liebescode mitgedachte Negation zeichnet sich um 1900 daher nicht länger in der Sexualität ab – die ja, wenn auch verhalten integraler Bestandteil ist –, sondern im (freien) Willen. Auch auf Don Juan, der spanische Vertreter im Figurenrepertoire der Weltliteratur, wird im Roman um 1900 immer wieder zurückgegriffen, wobei sich diese Figur nicht länger über Liebe als Kommunikationsmedium erhebt, sondern ebenso mit den Wirkungen des Diskurses konfrontiert wird. Die zwischenmenschliche Interaktion beginnt schließlich mit 1) der ersten Begegnung, die immer wieder auf die Sprache der Augen, auf den Augen-Blick, den Blickkontakt Bezug nimmt. Blicke überbrücken die Ratlosigkeit der verbalen Rede, sie können ein Höchstmaß an Intimität ausdrücken, wenn sie der Umarmung vergleichbar, wortlos aus zweien Eins machen (vgl. Rohde 2011, 203). Stendhal bezeichnet in De l’Amour Blicke sogar als »grande arme de la coquetterie vertueuse« (vgl. DAI 127),31 denn mit nur einem Blick kann alles gesagt sein und dennoch lässt sich ein Blick sehr leicht leugnen – er kann wörtlich nicht wiedergegeben werden. Juan Valera gestaltet den ersten Blickkontakt in Pepita Jim8nez ganz dem romantischen Liebesideal entsprechend als Ersatz für einen Mangel an verbaler Ausdrucksfähigkeit: »All& se descubren mil inefables misterios de amor, all& se comunican sentimientos que por otro medio no llegar&an a saberse, y se recitan poes&as que no caben en lengua humana, y se cantan canciones que no hay voz que exprese ni acordada c&tara que module« (PJ 229).32 Die Parallelen zum romantischen Liebeskonzept der Passion, die ihre höchste Erfüllung schließlich im Tod findet, wird wenige Zeilen später ange31 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle DAI auf Stendhal (1968): De l’Amour, Bd. I, Nendeln/Liechtenstein: Kraus Reprint. 32 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle PJ auf Juan Valera (2008): Pepita Jim8nez, hg. von Leonardo Romero Tobar, Madrid: C#tedra.
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sprochen, als Luis de Vargas als innersten Wunsch äußert: »quedarme muerto mir#ndola, aunque me condene« (PJ 230). Benito P8rez Galdjs präsentiert in Tristana das Motiv der Augensprache wiederum in einem medizinischen Kontext und erzielt dadurch eine kurzfristige Verkehrung der an und für sich belebenden Wirkung des feurigen Blickkontaktes zwischen Titelheldin und Horacio. Statt aufzulodern erfährt die Protagonistin ein totengleiches Erstarren: »pues en ambos el verse y el mirarse fueron una accijn sola, sintij una sacudida interna, como suspensijn instant#nea del correr de la sangre« (T 74). Der Blickkontakt löst gemischte Gefühle aus, eine tiefe Überraschung vermischt mit Irritation, Freude und Angst. Beide suchen erneut die ›Seelenfenster‹ des Gegenübers, bevor sich ihre Wege wieder trennen und das Bild des jungen Mannes in den Gedanken Tristanas eingraviert zurückbleibt. Für realistische Romane nimmt die Visualität aufgrund der Prämisse positivistischer Methoden zudem eine besondere Position ein, da detaillierte Beobachtungen die Grundlage des Liebesdiskurses bilden. Neben überbordenden sprachlichen Tableaus greifen die Autoren und Autorinnen auf Techniken der Malerei zurück, wie jene des Impressionismus. Stimmungsbilder werden dabei in Einzelbeschreibungen zergliedert, das Ganze gewissermaßen zerstückelt (vgl. Rohde 2011, 203–204). Oder aber der scharfe wissenschaftliche Blick wird in modernistischen Romanen zugunsten eines instabilen, Unsicherheit auslösenden Blickes aufgegeben, der das Potential hervorhebt und nicht die Manifestation. Stellvertretend für die Augensprache im modernistischen Schreiben möchte ich auf Azor&ns Verlieben in DoÇa In8s eingehen. In diesem Roman wird das Sehen selbst thematisiert und der Autor experimentiert mit räumlicher Perspektive, indem Wahrgenommenes aus unterschiedlichen Blickwinkeln präsentiert wird. Bei Azor&n wird der Augenblick zudem als zeitloser Moment konzipiert, der sich insbesondere aus dem Wechselspiel von Realitätswahrnehmung und erinnerter Wirklichkeit zusammensetzt und dadurch die Vermengung von subjektiver und objektiver Perspektive ermöglicht. Gleich nach dem entscheidenden Augenblick verlagert sich die Aufmerksamkeit in DoÇa In8s von den menschlichen Figuren hin zu ihrer Umwelt, die in gesteigertem Ausmaß wahrgenommen wird. La mirada del poeta ha quedado clavada en los ojos de la dama; la mirada de la dama se ha posado en los ojos del poeta. El aire es m#s resplandeciente ahora. Los p#jaros trinan con m#s alegr&a. Canta la calandria y contesta el ruiseÇor. Las flores tienen sus matices m#s vivos. Las montaÇas son m#s azules. El agua es m#s cristalina. El cielo es m#s brillante. Todo parece en el mundo fuerte, nuevo y espl8ndido. ¿Es el primer d&a de la
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creacijn? ¿Ha nacido ahora el primer hombre? Los ojos del poeta no se apartan de la faz de la dama, ni los ojos de la dama del rostro del poeta. (DI 143)33
Die Schilderung der verstärkten Wahrnehmung in kurzen Sätzen kommt den Pinselstrichen eines impressionistischen Gemäldes gleich und lässt offen, aus welcher Perspektive erzählt wird. Unklar bleibt, ob die vorangegangenen Darstellungen der Außensicht einer externen Fokalisierung entsprechen und damit auf eine Objektivierung abzielen oder der subjektiven Innensicht der Figuren Ausdruck verleihen, die neben den jeweiligen Augen des Gegenübers auch die Umgebung erblicken. Deutlich wird dadurch eine Ununterscheidbarkeit von Objekt und Subjekt. Hervorgehoben werden indes das gleichzeitige Vorhandensein von Außen- und Innensicht oder abstrahierter Liebe und Diskurs über Liebe, da beides ineinander verwoben präsentiert wird. Neben der Fragmentierung des narrativen Diskurses, die Anfang, Ende sowie ein textuelles Kontinuum verweigert, zählt diese Verschmelzung der Subjekt-Erzähler-Protagonisten-Welt mit der Objekt-Welt zu den epistemologischen Charakteristika der Erzählliteratur der 1920er Jahre.34 Nachdem sich die Betroffenen prototypisch durch einen Augenblick ineinander verliebt haben, die Wirrnisse der eigenen Gefühle geklärt sind und sich der Wunsch nach Versicherung des Gefühls auftut, wagt eine/r der Beteiligten den nächsten Schritt und es erfolgt 2) das Geständnis der Liebe an eine vertraute Person. Dieser Probedurchlauf der Deklaration prüft die Gefühle auf ihre soziale Kompatibilität und Kommunizierbarkeit. Danach folgt 3) eine Phase der Zweifel und des Zögerns, da die erste Hürde gleichsam gemeistert wurde, es nun jedoch darum geht, den geliebten Menschen mit den eigenen Gefühlen zu konfrontieren, die aufgrund von Kontingenz auf Zustimmung oder Ablehnung stoßen können. Dazu beginnt 4) eine Phase der Komplimente, die als abgeschwächte Form des Liebesgeständnisses angesehen werden kann und die eigentliche Liebeserklärung gleichsam vorbereitet, weshalb die beiden Phasen zum Teil auch ineinanderfließen (vgl. Durrer 2000, 24). Die Vorsicht in diesem SichHerantasten an den Gefühlszustand von Alter ermöglicht es, die eigene Individualität insofern zu schützen, als Schmeicheleien als Kommunikationsangebote doppelt interpretiert werden können – einerseits als Schnittstelle zur Geselligkeit, andererseits als Startpunkt einer Intimbeziehung. 5) Das Liebesgeständnis selbst – man möchte meinen als eine der wichtigsten Aussagen im Anbahnungsprozess einer Beziehung – wird dementsprechend vorsichtig, hypothetisch in einem untergeordneten Satzgefüge formuliert, wenn es nicht ganz 33 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle DI auf Azor&n (1990): DoÇa In8s. (Historia de amor), hg. von Elena Catena, Madrid: Castalia. 34 Näher zu den epistemologischen Eigenheiten narrativer Texte der 1920er Jahre siehe Domingo de Rjdenas Moya in »De la nueva prosa a la novela nueva« (2000), 48–49.
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ausgespart bleibt, wie es vor allem in den Romanen der künstlerischen Moderne der Fall ist. Der Chevalier de Faublas formuliert noch den Satz »que diriez-vous si je vous d8clarais que vous voyez / vos pieds un jeune homme qui vous aime« (ebd., 27). Liebeserklärungen dieser Art finden sich in den hier analysierten Romanen freilich nicht mehr, sie würden im 19. Jahrhundert antiquiert und kitschig wirken, die Verdoppelung des Geständnisses hingegen kennzeichnet auch noch Romane zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dabei verliert die Aussage ihren konstativen Aspekt, die Information über den Zustand der Gefühle wurde bereits der vertrauten Person erteilt. In der Geständnis-Phase der beginnenden Liebe verwandelt sich das te quiero in ein ¿me quieres? oder gar in die verzweifelte Aufforderung #mame – kurz die Liebeserklärung erklärt nicht länger, sondern fordert zu einer Reaktion auf. Alain Badiou betont in Lob der Liebe. Ein Gespräch mit Nicolas Truong (2011) überdies, wie wichtig das Aussprechen der Liebe besonders in einer Zeit des verstärkten Kontingenzbewusstseins ist, da erst mit der Verbalisierung das Spiel des Zufalls fixiert wird und eine Wahrheitskonstruktion, ein Weltentwurf zu zweit, beginnen kann. Erst das Geständnis der Liebe, so Badiou, ermöglicht den Beginn einer Dauer, da es der Beliebigkeit und Nicht-Notwendigkeit der Begegnung eine Hartnäckigkeit entgegenhält, die darauf abzielt, die zufällige Begegnung in eine feste Konstruktion zu transformieren, die notwendig gewesen zu sein scheint (vgl. Badiou 2011, 40 u. 43). Löst sich die Liebeserklärung hingegen im Schweigen auf, weil beispielsweise die dafür zur Verfügung stehenden sprachlichen Formen als trivial oder verfehlt angesehen werden, wird der Zufall affirmiert und das Potential des Ungewissen akzentuiert, ein Ansatz den Unamuno in der Gestaltung dieser Phase verfolgt. Mehr als das wörtliche Liebesgeständnis symbolisiert um 1900 der Kuss die Liebeserklärung, der losgelöst von einer tabuisierten Sexualität als Beginn einer Intimbeziehung gesehen wird und nicht länger Metapher der Liebesnacht ist, der nunmehr eine eigene Phase zugestanden wird. An dieser Stelle möchte ich zwei Kuss-Szenen und ihre literarische sowie kulturelle Funktion als Liebesgeständnisse gegenüberstellen. Die Szene in Emilia Pardo Baz#ns La Madre Naturaleza spielt in einer Idylle, deren Landschaft die jungen verliebten Halbgeschwister Manuela und Perucho zur Siesta einlädt: Al fin, sin saber cjmo, sin estudio, sin premeditacijn, tan impensadamente como se encuentran las mariposas en la atmjsfera primaveral, los rostros se unieron y los labios se juntaron con d8bil suspiro, mezcl#ndose en los dos alientos el aroma fragante de las frambuesas y fresillas, y residuos del sabor delicioso del panal de miel. (MN 272)35
35 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle MN auf Emilia Pardo Baz#n (1992): La madre Naturaleza, hg. von Ignacio Javier Ljpez, Madrid: Taurus.
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Im darauffolgenden Kapitel wird die Szene auf einer metareflexiven Ebene im stream of consciousness des Onkels Don Gabriel wieder aufgegriffen. Im gedanklichen Kommentar der Lektüre von Fray Luis de Lejns Traduccijn literal y declaracijn del libro de los Cantares de Salomjn (1798) informiert Gabriel die Lesenden, dass Manuela und Perucho anhand der Illustrationen dieses Werkes gemeinsam lesen gelernt hatten (vgl. MN 87). Durch die im XXII. Kapitel wiederholte Aufnahme des Themas wird die Funktion des Buches als Kuppler einerseits und als ästhetisches Werk andererseits hervorgehoben. Und wieder sind es Gabriels Reflexionen zur Kuss-Szene, welche diesem Element der Liebesdiskurse einen literarischen Wert zuschreiben: –[…] ¡Mire usted que estas metaf&sicas acerca del beso! No, y es que ningffln poeta ni ningffln escritor de ahora discurrir&a explicacijn m#s bonita: est# oliendo a Platjn desde cien leguas. ¡Qu8 lindo! Este deseo de cobrar cada uno que ama su alma, que siente serle robada por el otro, e irla a buscar en la boca y en el aliento ajeno, para restituirse de ella o acabar de entregarla toda. ¡Mire usted que es bonito, y endiablado, y po8tico, y todo lo dem#s que usted quiera! Ah…, pues no digo nada los detalles de…(MN 283)
Der dargestellte stream of consciousness Gabriels schlägt eine Brücke zu den Lesenden, wie anhand des Imperativs der Höflichkeitsform deutlich wird. Aussagen interner intradiegetischer Fokalisierung wechseln zu Aussagen einer Null-Fokalisierung, die sich in einem direkten Appell an die Lesenden richtet. Auch im fragmentarisch gestalteten Kapitel XXV, das inhaltlich Gabriels Gedanken während des Wartens auf die Rückkehr der beiden Jugendlichen behandelt, wird die natürliche Liebe weiter dekonstruiert. Gabriels eigene Gedanken werden von Erinnerungen an seine nächtliche Lektüre überlagert. Über beinahe wörtliche Parallelen wird die Kuss-Szene von Manuela und Perucho im eindeutig literarischen Kontext des Hohen Liedes der Liebe wiederbelebt: La sazjn es fresca y el campo est# hermoso: todas las cosas favorecen a tu venida y ayudan a nuestro amor, y parece que la naturaleza nos adereza y adorna el aposento. Voz de mi amado se oye: veislo, viene atravesando por los montes y saltando por los collados. La izquierda suya debajo de mi cabeza, y su derecha me abrazar#. (MN 301)36
Durch diese wiederholte Schilderung ein und derselben erotischen Szene in unterschiedlicher literarischer Gestaltung erfährt die Handlung eine gesteigerte Intensivierung, die weniger auf den Handlungsverlauf als auf das ästhetische Erleben der Rezipienten abzielt. Im Kontext der Liebesdiskurse verdeutlicht die 36 Während auf diese Textstelle aus La Madre Naturaleza eine als Zitat markierte Passage des Hohen Liedes folgt, beinhaltet bereits das oben angeführte Zitat direkte Bezüge auf den Bibeltext: »Horch! Mein Geliebter! / Sieh da, er kommt. Er springt über die Berge, / hüpft über die Hügel« (Hoheslied 2,8) oder »Seine Linke liegt unter meinem Kopf, / seine Rechte umfängt mich« (Hoheslied 1,6 u. 8,3).
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wiederholte Neuschreibung bekannter Topoi zum einen das Wirken altbekannter Diskurse wie im Hohen Lied der Liebe, zum anderen die Mehrleistung der literarischen Gestaltung, die zu immer neuen Lektüregenüssen führt, auch wenn das Thema altbekannt sein mag. Die zweite Variante stammt aus Azor&ns DoÇa In8s und verknüpft mit dem Kuss die Empfindung der Zeit- sowie Raumungebundenheit.37 Azor&n kehrt in den leidenschaftlichen Tableaus der Kapitel XXVII–XXVIII, Obsesijn (Ella) und Obsesijn (Pl), mithilfe einer Reduktion seiner Protagonisten auf zeitenthobene Typen das wiederholbare Element der Liebe hervor. An diese Verringerung von Einzigartigkeit im Individuum ist der Gedanke gebunden, eine raumüberwindende Liebe oder zumindest die Illusion dieser zu schildern. Dabei handelt es sich nicht um die Enthüllung einer bisher unbekannten Essenz des Gefühls, sondern um die Aneinanderreihung romantischer Topoi, in der erzähltechnisch interne und externe Fokalisierung abwechseln, sodass der Eindruck einer Universalität verstärkt wird: In8s und Diego betrachten verträumt den Abendstern aus ihren jeweiligen Zimmern, bis es zu diesem unwirklichen Kuss kommt, der den ›realen‹ in der Kapelle vorwegnimmt. Die Allgemeingültigkeit dieser leidenschaftlichen Einbildung wird verstärkt, indem die Figuren in den Kapitelüberschriften auf die Personalpronomen sie und er verkürzt werden:38 XXVII Obsesijn (Ella) […] La imaginacijn finge en la estancia unas manos varoniles que avanzan. […] Los labios de una faz se contraen; lucen dos ojos azules. […] ¿Se podr# revivir la juventud en el brillante lucero? Los labios han avanzado. En los labios de la dama se posan. Ya no refleja nada el espejo. La luz diurna se ha desvanecido. Sobre los labios de DoÇa In8s se apoyan otros labios. El beso es largo y apasionado. ¿Habr# en la estrella vespertina cuitas de amor? El astro rutilante ha desaparecido del cuadrado negro del balcjn. XXVIII Obsesijn (Pl) […] Los labios rojos resaltan m#s en la sombra. Unos ojos negros tienen destellos de bondad, unas veces; otras, miran de hito en hito y misteriosos. […] Los ojos del poeta miran la claridad lev&sima del cielo y no ven nada. […] Sobre los labios rojos y sensuales se han posado apasionadamente los labios del poeta. El beso ha resonado largo. […] Al &mpetu con que unos labios apretaban otros labios, ha sucedido un profundo desconsuelo. ¿Habr# en la lejana Venus cuitas de amor? En la noche rutila majestuosa la estrella de la tarde. (DI 143–146) 37 Ausführlicher zum Beginn der Liebe in DoÇa In8s vgl. Rieger 2014, 103–119. 38 DoÇa In8s selbst ist die emanzipierte Version ihrer literarischen Vorgängerin im Don-JuanMythos. Auch diese Orientierung der Protagonistin an einem Mythos wirkt gegen die Individualität und verstärkt den Eindruck einer universellen Gültigkeit oder variierten Wiederholung im Sinne Derridas.
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In der Darstellung der sich zeitgleich ereignenden fixen Ideen von ›ihr‹ und ›ihm‹ versucht Azor&n, die musikalische Technik des Kontrapunktes literarisch anzuwenden und präsentiert neben der Illusion eines raumüberwindenden Kusses die Vorstellung einer linear verlaufenden Zeit als kontingent. Dabei unterläuft das Medium der Schrift aufgrund seiner linearen Struktur eine gelungene Repräsentation der Gleichzeitigkeit und beschränkt den Versuch auf ein gedankliches Experiment, das zwar vorgestellt werden kann, dessen Verschriftlichung oder Lektüre allerdings immer scheitern muss. Wurden im virtuellen Kuss der Kapitel XXVII–XXVIII, Obsesijn (Ella) und Obsesijn (Pl), die räumlichen Distanzen überbrückt, so löst sich im Kapitel XXXVII, Los dos besos, in dem die Handlung in einer Kapelle situiert wird, die Zeit als trennender Faktor auf. Begleitet von Reflexionen über Beatriz’ und ihre eigene Identität fühlt sich DoÇa In8s magisch zur Grabstatue ihrer Vorfahrin hingezogen, sodass sie diese schließlich küsst, kurz bevor Don Diego seine Lippen leidenschaftlich auf jene der reifen Frau presst. »Y los dos se miraron en silencio, jadeantes, durante un largo rato que parecij un segundo« (DI 177). Ein ironischer Nachsatz verdeutlicht die paradoxe Zeitkonzeption, die den langen Blickwechsel auf eine fühlbare Sekunde reduziert. Der Kuss als kondensiertes Liebesgeständnis beschränkt sich, wie die Beispiele von Emilia Pardo Baz#n und Azor&n zeigten, nicht länger auf die Variation kultureller Referenz, sondern verdeutlicht in der Variation eines literarischen Topos die daran geknüpften ästhetischen Vorstellungen der Schreibenden. Stößt die Liebe auf Gegenliebe erfolgt 6) eine kurze Phase der glücklichen geteilten Gefühle, die den Liebenden dazu dient, ihre Verbindung rational zu erklären. Über Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse oder auch an wundersame noch vor ihrer Begegnung ähnlich erlebte Erfahrungen wird ihr Gefühl bestärkt, für einander bestimmt und geeignet zu sein, sich in gewisser Weise schon ewig zu kennen (vgl. Durrer 2000, 29–30). Mit der Romantik werden diese Aussprachen der Gefühle jedoch von Hindernissen durchzogen. Während sich die amour-go0t an diesen Vertrautheiten entzündet, verzweifelt die amourpassion an Situationen der trauten Zweisamkeit. Niemals wäre die Sprache in der Lage, die wirklichen Gefühle in der Feinheit all ihrer Nuancen auszudrücken, schreibt Stendhal noch 1843 (vgl. DAI 173–174). Ein Grund dafür liegt in der Widersprüchlichkeit und Doppeldeutigkeit der Sprache, denn einerseits eröffnet die Sprache der Liebe einen unendlichen Sinnhorizont – es ist beinahe gleichgültig, worüber sich die Liebenden unterhalten, alles wird nach dem Code liebt/liebt nicht interpretiert –, gleichzeitig droht jedoch die Gefahr des absoluten Sinnverlustes durch die Polysemie der Worte einerseits, aufgrund der rauschhaften Verzückung andererseits. Für literarische Liebesfigurationen bedeutet dies eine ständige Gratwanderung bezogen auf die sprachliche Gestaltung, die sich zwischen kommunikativer und referentieller Funktion bewegt
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(vgl. Hwang 1996, 174). Zudem kann aufgrund von realen oder imaginierten Hindernissen der Handlungsfortlauf besser strukturiert werden. Eine der wenigen Ausnahmen des Romans um 1900, in welchem die geteilte, gefeierte Liebe literarisch geformt wird, liegt mit Benito P8rez Galdjs’ Tristana vor (siehe Kapitel 5.3). Mit der Enttabuisierung der Sexualität wird zudem die Liebesnacht thematisiert. Um dies zu veranschaulichen, möchte ich zwei Extreme kontrastieren: zum einen die Wirkung der Johannisnacht in Juan Valeras Pepita Jim8nez und zum anderen eine der Liebesnächte des Marqu8s de Bradom&n aus Ramjn del Valle-Incl#ns Sonatas. Bis ins Mythische gesteigert, dient die Noche de San Juan in Pepita Jim8nez als romantische Kulisse der gemeinsamen Liebesnacht. Una poes&a melancjlica inspiraba a la Naturaleza, […] El aire era tan di#fano y tan sutil, que se ve&an millares y millares de estrellas fulgurando en el 8ter sin t8rmino. La luna plateaba las copas de los #rboles y se reflejaba en la corriente de los arroyos, que parec&an de un l&quido luminoso y transparente, donde se formaban iris y cambiante como en el jpalo. Entre la espesura de la arboleda cantaban los ruiseÇores. Las hierbas y flores vert&an m#s generoso perfume. Por las orillas de las acequias, entre la hierba menuda y las flores silvestres, reluc&an como diamantes o carbunclos los gusanillos de luz en multitud innumerable. No hay por all& luci8rnagas aladas ni cocuyos, pero estos gusanillos de luz abundan y dan un resplandor bell&simo. (PJ 287–288, m. Herv.)
In lyrischer Sprache gestaltet Valera die Szenerie getränkt mit romantischen Topoi, wenngleich ein ironischer Kommentar über Glühwürmchen die Lesenden in die Epoche des literarischen Realismus zurückbringt. Nach dieser kunstvollen Vorbereitung spart Valera die Beschreibung der intimen Begegnung konsequent aus. Pepita und Luis begrüßen sich noch mit dem förmlichen »Sie«, als die junge Witwe ihm kurz darauf ihre Liebe gesteht und durch die fehlende positive Gegenreaktion schließlich tränenüberströmten Gesichts den Raum verlässt. Es sind die Tränen, die Luis anregen, ihr nachzueilen. »El despacho quedj solo« (PJ 311) fährt der Erzähler knapp fort, bevor die beiden Figuren, zunächst Luis, dann Pepita die ›Bühne‹ wieder betreten. Die melancholische Stimmung, der Gebrauch des vertrauten »du« im folgenden Gespräch der beiden und letztlich Luis’ Sinneswandel, Pepita zu heiraten, sagen mehr als genug. Völlig amoralisch liest sich hingegen die Schilderung von Bradom&ns sadomasochistischem amourösen Abenteuer, das seine Geliebte und Kusine Concha mit dem Leben bezahlt: –¡Azjtame, Concha! ¡Azjtame como a un divino Nazareno!…!Azjtame hasta morir!… –¡Calla!… ¡Calla!… Y con los ojos extraviados y tembl#ndole las manos empezj a recogerse la negra y olorosa trenza: –Me das miedo cuando dices esas impiedades… S&, miedo, porque no eres tffl quien habla: Es Satan#s… Hasta tu voz parece otra… ¡Es Satan#s!…
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Cerrj los ojos estremecida y mis brazos la abrigaron amantes. Me parecij que en sus labios vagaba un rezo y murmur8 ri8ndome, al mismo tiempo que sellaba en ellos con los m&os: –¡Am8n!… ¡Am8n!… ¡Am8n!… Quedamos en silencio. Despu8s su boca gimij bajo mi boca. –¡Yo muero! (SO 96–97)39
Während Bradom&n nach Conchas Tod verstört das Zimmer verlässt, um sich von ihrer Schwester trösten zu lassen, beklagt er sich über das spöttische Schicksal, das ihm nicht lächle, sondern Grimassen schneide. Erotik, Schock und Komik wechseln sich für die Lesenden erlebbar ab und verkörpern damit den Liebeswahn des Protagonisten mehr als sie ihn beschreiben. Die thematische Integration der Sexualität in Romanen der langen Jahrhundertwende wird unterschiedlich gelöst: ein Extrem stellt die Leerstelle dar, die die erotische Phantasie der Lesenden anregen soll. Ein anderes ist die Schilderung exzessiver Liebesnächte wie im Falle Ramjn del Valle-Incl#ns, es fehlen jedoch auch romantische Beschreibungen wie jene in La Madre Naturaleza nicht. Die Phase, in der sich die Liebenden gegenseitig feiern, eine neue Welt entwerfen und Intimitäten ausleben, dient sodann der Vorbereitung für 7) das öffentliche Geständnis, sei es den Eltern gegenüber oder der Gesellschaft (vgl. Durrer 2000, 30). Hier enden schließlich viele Romane glücklich mit einer dauerhaften Liebe, die zu Ehe und Familiengründung führt, oder aber sie schließen unglücklich, aufgrund von unüberwindbaren Hindernissen, die letztlich das Ende der Liebe und des Romans herbeiführen. Bis ins 20. Jahrhundert zeigen Romane am Motiv der Liebe den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Poesie und Prosa. Dieser Konflikt wird letztlich versöhnlich gelöst. Die Romane enden mit einer Hochzeit oder Ehe, die selbst allerdings nicht genügend Spannungselemente aufweisen, um die Erzählung voranzutreiben (vgl. Werber 2003, 134–135). Deutlich zeigt sich dies beispielsweise am knappen Erzählerkommentar zur Heirat von Galdjs’ Tristana und Don Lope: »En suma: que se casaron…« (T 233). Mit dem Eingang der ›Prosa der Wirklichkeit‹ in die Literatur können Romane dagegen ebenso mit dem Ehealltag beginnen, der zumeist leidenschaftslos dargestellt wird. Passion ist um die Jahrhundertwende meist außerehelich gedacht, wie die Beispiele von Gustave Flauberts Madame Bovary, Theodor Fontanes Effi Briest oder Clar&ns La Regenta, aber auch Unamunos La t&a Tula und Azor&ns DoÇa In8s zeigen. Die Ehe als von ökonomischen Interessen geleitetes Vertragsverhältnis bildet den Hintergrund für eine Liebe, die nur durch Vertragsbruch erreicht 39 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle SO auf Ramjn del Valle-Incl#n (1988): Sonata de OtoÇo. Memorias del Marqu8s de Bradom&n, in: ders.: Sonata de OtoÇo. Sonata de Invierno. Memorias del Marqu8s de Bradom&n, hg. von Leda Schiavo, Madrid: Espasa Calpe, 31–103.
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werden kann. Im potentiellen Ehebruch liegt das spannungserzeugende Moment der Alltagsdarstellung verheirateter Menschen (vgl. Werber 2004, 136). Ein glückliches Ende dieser außerehelichen Liebesgeschichten ist demnach von vornherein ausgeschlossen, auch wenn sich kurzfristig eine Erfüllung der gesuchten Leidenschaften findet, wird die institutionelle Position der Ehe indirekt gestärkt, da das Streben nach Dauer außerhalb nicht erreicht werden kann. Sozialkritisch schildert Emilia Pardo Baz#n in ihrem Roman Los Pazos de Ulloa die Praxis, Ehe und Liebe voneinander zu trennen. Weniger Liebe als ökonomische und standeskulturelle Interessen prägen die Partnerwahl. Am Verhalten des Marquis wird deutlich, wie sehr die aristokratisch patriarchal organisierte Gesellschaft ihren Machtvorteil genießt. Die im Roman geschilderten unglücklichen Liebesgeschichten nehmen unter anderem ihren Ausgangspunkt in der schlecht getroffenen Partnerwahl von Don Pedro de Moscoso. Während der Markgraf seine sexuellen Bedürfnisse am Hauspersonal, seiner Geliebten Sabel und Mutter seines unehelichen Sohnes Perucho befriedigt, lässt er sich für seine Ehe vom Priester Juli#n beraten.40 Spontan fühlt sich Don Pedro zur ältesten seiner Kusinen hingezogen. Dabei bewundert er nicht ihre Schönheit, vielmehr studiert er ihre physische Konstitution, um abzuschätzen, inwiefern sie zur Reproduktion geeignet erscheint: ¡Soberbio vaso en verdad para encerrar un Moscoso leg&timo, magn&fico patrjn donde injertar el heredero, el continuador del nombre! El marqu8s present&a en tan arrogante hembra, no el placer de los sentidos, sino la numerosa y masculina prole que deb&a rendir; bien como el agricultor que ante un terreno f8rtil no se prenda de las florecillas que lo esmaltan, pero calcula aproximadamente la cosecha que podr# rendir al terminarse el est&o. (PU 212)41
Doch gegen alle Erwartungen entscheidet sich Don Pedro schließlich für die zweitjüngste Kusine Marcelina, Nucha, die ihm eigentlich nicht zusagt, jedoch besser den moralischen Vorstellungen Juli#ns entspricht. Wie in Clar&ns La Regenta zeichnet auch Pardo Baz#n die unmögliche Liebe zwischen einem Geistlichen und einer jungen Frau. Wie sehr die Verliebtheit des Priesters seine Wahrnehmung und in weiterer Folge seine Ratschläge beeinflusst, wird anhand
40 Die Gefühlslagen Don Pedros gegenüber Sabel sind hier sehr verkürzt dargestellt. Als Sabel nach seiner Hochzeit mit Nucha selbst heiraten möchte und mit ihrem Ehemann ein selbstständiges Leben beginnen will, tut der Markgraf alles, damit sie und ihr gemeinsamer Sohn Perucho auf seinem Gut bleiben, ein Hinweis, dass seine Zuneigung über rein körperliche Interessen hinausgeht. Für eine differenziertere Betrachtung vgl. Mayoral 1989, 38– 40. Zur Inszenierung einer erotischen Schönheit in der Figur Sabels vgl. Cl8messy 1881, 624– 627. Ausführlicher zur Rolle des Priesters siehe Clarke 1997. 41 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle PU auf Emilia Pardo Baz#n (1986): Los Pazos de Ulloa, hg. von Marina Mayoral, Madrid: Castalia.
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Theoretisch-methodologische Grundlagen
der Reaktion Don Pedros deutlich, als Don Juli#n Nucha als geeignetste Ehefrau vorschlägt: –¡Hombre! Es algo bizca… y flaca… Sjlo tiene buen pelo y buen genio. –SeÇorito, es una alhaja. –Ser# como las dem#s. –Es como ella sola. (PU 221)
Dabei verdeutlichen die konkurrierenden Perspektiven in der Wirklichkeitswahrnehmung die Unmöglichkeit, objektiv zu beschreiben, kommen jedoch der naturalistischen Forderung insofern nach, als zumindest zwei unterschiedliche Sichtweisen dargestellt werden (vgl. Hemingway 1997, 391). Emilia Pardo Baz#n gestaltet den Roman multiperspektivisch. Neben einer objektiv wirkenden externen Fokalisierung wird die Handlung auch aus einer internen Sichtweise insbesondere des zentralen Dreiergespanns Don Manuel-Nucha-Don Juli#n geschildert.42 In der extern fokalisierten Beschreibung des Hochzeitsfestes überwiegen negative Symbole. Die Hochzeitsfeier selbst suggeriert schon den unglücklichen Verlauf der Ehe, sie findet bei Einbruch der Dunkelheit in einer einsamen Kirche statt, gefolgt von einem Bankett, das mit einem Totenmahl verglichen wird: »Parec&a aquello la comida postrera de los reos de muerte« (PU 236). Selbst Julian verspürt während der Feier ein bedrückendes Gefühl, so als hätte er eine grausame Vorahnung des zukünftigen Unglückes, an dessen Ursprung er nicht unwesentlich beteiligt ist. Jahre später wird er erkennen, dass sich Don Pedros Lebenswandel nicht wesentlich nach der Hochzeit verändert und der Ehemann seine Frau Nucha sogar misshandelt: Y casi al tiempo mismo advirtij otra cosa, que le cuajj la sangre de horror: en las muÇecas de la seÇora de Moscoso se percib&a una seÇal circular, amoratada, oscura… Con lucidez repentina el capell#n retrocedij dos aÇos, escuchj de nuevo los quejidos de una mujer maltratada a culatazos, recordj la cocina, el hombre furioso… (PU 354)
Während in Juli#ns Augen Nucha durch das Erleiden der Misshandlungen umso deutlicher die Gestalt einer Heiligen oder Märtyrerin annimmt,43 entspricht die Anspielung auf häusliche Gewalt den sozialen Tatsachen, wie die Autorin in ihrem Artikel »Los cr&menes de amor. Los piropos. Los chistes. Los colmos y las 42 Für eine detaillierte Aufschlüsselung der Fokalisierung pro Kapitel vgl. Villanueva 1989, 30– 31. In diesem Zusammenhang ist auch Benito Varela J#comes Aufsatz »T8cnicas de focalizacijn en Los Pazos de Ulloa« (1989) von Interesse, da er die realistische Beschreibung im Zusammenhang mit dem Beobachten sowie dem Motiv des Fensters analysiert (vgl. Varela J#come 1989, 88). 43 Wie Don Ferm&n de Pas in La Regenta gelingt es Juli#n nicht, sich seine Liebe anders als spirituell zu denken, weshalb er Nucha in den ihm bekannten religiösen Diskurs verschiebt und sie dadurch ständig idealisiert, ohne auf ihre wahren Bedürfnisse einzugehen und damit an den sozialen Umständen aktiv etwas zu ändern. Ähnlich interpretiert Nelly Cl8messy (vgl. Cl8messy 1989, 53).
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semblanzas«, 1907 veröffentlicht in La Ilustracijn Art&stica, darlegt. Wenngleich die altbekannte Verbindung von Tod und Liebe in der Literatur höchste ästhetische Genüsse hervorrufen kann, beklagt die Autorin die traurige Entsprechung in der sozialen Wirklichkeit, wie aus folgendem Zitat des Artikels ersichtlich wird: Y ese bofetjn es el preludio de lo que vendr# m#s tarde, en una hora de exasperacijn brutal de celos o de soberbia; es el anticipo del navajazo feroz, del estrujjn de nuez que rompe el cart&lago, del puntapi8 que desgarra las entraÇas, del palo que abre el cr#neo, del proyectil que se incrusta en la masa encef#lica… ¡Va tan poco del primer maltrato al crimen! La bofetada anuncia la muerte; y las emplazadas, sin embargo, media hora despu8s de haber recibido en la mejilla el golpe y el insulto, se cuelgan del brazo del ofensor y se van con 8l a celebrar los chistes de una obreja teatral, donde quiz# ven reproducida, en broma, la escena en que acaban de ser protagonistas… (Pardo Baz#n 1972, 247).44
Indem Emilia Pardo Baz#n das soziales Tabu der ehelichen Gewalt literarisch gestaltet, hebt sie eine verdrängte kulturelle Seite, die an die Ehrendramen der Siglos de Oro erinnern und weniger an eine aufgeklärte südeuropäische Gesellschaft, ins Bewusstsein der Lesenden. Kein Hauch von Romantik zeigt sich in dieser engen Verbindung von Tod und Liebe in der Ehe, die krude Wirklichkeit verdeutlicht die ökonomischen Beweggründe von Eheschließungen. Im Bereich der Intimbeziehungen treffen demnach mehrere Diskurse aufeinander, da ein Austausch zwischen unterschiedlichen Systemen besteht. Ökonomische Interessen, philosophische und literarische Reden prägen die Liebesdiskurse im Laufe der Geschichte, wie folgender typologischer Einblick in Liebesdiskurse vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert zeigen möchte. Auch wenn die Darstellung chronologisch angeordnet ist, sind die Typen nicht auf die jeweilige Epoche beschränkt zu verstehen. Vielmehr liegt die Gewichtung auf den unterschiedlichen Redeweisen über Liebe, die auch gleichzeitig nebeneinander Bestand haben können, späteren Epochen vorgreifen oder auf vorangegangene verweisen.
44 Interessant ist der Aufbau dieses Artikels, der zunächst in der Schwebe lässt, ob es sich bei den Messerstechereien und anderen physischen Aggressionen um Auseinandersetzungen zwischen eifersüchtigen Ehemännern und ihren Nebenbuhlern oder um Übergriffe auf die eigenen Ehefrauen handelt. Erst im letzten Absatz dieses Teils, der sich mit den leidenschaftlichen Verbrechen beschäftigt, verdeutlicht Emilia Pardo Baz#n, dass die Gewaltakte gegen die eigenen Frauen gerichtet sind und, wie der Theaterbesuch suggeriert, längst nicht nur auf die untersten sozialen Schichten beschränkt sind (vgl. Pardo Baz#n 1972, 245–247).
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2.7
Theoretisch-methodologische Grundlagen
Zur Methode des Typologisierens
Jede Epoche entwickelt ihre eigene Liebestheorie, schreibt Jos8 Ortega y Gasset in seinen »Estudios sobre el amor« (1926–27) (vgl. EA 553)45 und stützt damit die These einer Unterscheidung von realistischen und modernistischen Liebesdarstellungen. Um die unterschiedlichen Formen von Liebesfigurationen veranschaulichen zu können, greife ich auf eine Typologie zurück, da im Begriff ›Typ‹ die Dimensionen der Denkform, des Analysewerkzeugs und der Rhetorik konfluieren. Erich Auerbach weist in seiner historischen Studie zum Begriff ›figura‹ auf die Bedeutungsähnlichkeiten zwischen figura, typos und allegoria mit teilweiser synonymer Verwendung in der griechischen und lateinischen wissenschaftlichen Terminologie hin. Ausgehend von der Rhetorik erstreckt sich der Begriff bald auf andere Wissensbereiche wie die Mathematik. Typos wurde Auerbach zufolge in den romanischen Sprachen als Fremdwort für figura verwendet (vgl. Auerbach 1967a, 57 u. 74), wobei figura als rhetorischer Begriff die drei Höhenlagen des Stils bezeichnete (vgl. ebd., 60). Anhand der mittelalterlichen Literatur lässt sich sodann eine unterschiedliche Verwendung von Typologie und Allegorie feststellen. In dieser Arbeit finden weder ›Typ‹ noch ›Figur‹ oder ›Allegorie‹ als rein rhetorische Begriffe Verwendung, vielmehr werden sie aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeit, die im doppelten Bedeutungsverweis liegt (vgl. Schlenstedt/George 2005, 203) – Text und Liebe – für die folgende Analyse fruchtbar gemacht. Northrop Frye erläutert in »Typologie als Denkweise und rhetorische Figur« (1988), dass Typologie als rhetorische Figur zeitlich konzipiert ist: »der Typus existiert in der Vergangenheit und der Antitypus in der Gegenwart, oder der Typus existiert in der Gegenwart und der Antitypus in der Zukunft« (Frye 1988, 67).46 Das Zusammenfließen von Rhetorik und Denkform ergibt sich daraus, dass sich Frye zufolge eine Denkweise durch eine spezifische Ordnung der Wörter auszeichnet (vgl. ebd.).47 Aus der christlichen Offenbarungstheologie stammend, bezeichnet das typologische Denken zunächst einen allgemeinen entwicklungsgeschichtlichen Inhalt. Der präfigu45 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle EA auf Jos8 Ortega y Gasset (1970): »Estudios sobre el amor«, in: ders.: Obras Completas V. (1933–1941), Madrid: Ed. de la Revista de Occidente, 549–626. 46 Zudem verweist typos auf das Allgemeine, Gesetzliche und Exemplarische. Durch die Nähe zu figura sei auf die bewegliche Konzeption des Begriffes verwiesen, die nicht von einer statuengleichen Liebesdarstellung oder Romankonzeption ausgeht (vgl. Auerbach 1967a, 57). 47 Einen guten Überblick zur Begriffsgeschichte gibt der Eintrag »Typisch/Typ(us)« von Dieter Schlenstedt und Marion George, die nach einer Einleitung zur Wortgeschichte, den Typ im theologischen Kontext, in der Wissenschaft und schließlich in Darstellungen der Kunst aufrollen (vgl. Schlenstedt/George 2005, 191–246). Zu einem beweglichen Figur-Begriff siehe auch Brandstetter/Peters 2002, 7–31.
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rative Typus-Begriff benennt die geschichtliche Vorausdarstellung einer Idee, d. h. ein Typisches im Sinne von ›vorbildliches Vergangenes‹ wird in Relation zu einem Antityp in der Gegenwart gesetzt oder ein Typisches der Gegenwart wird in der Zukunft erwartet. Damit ist der Antityp nicht nur reine Imitation des Typus, sondern eine veränderte Wiederholung, die sich in der abweichenden Gestaltung von literarischer und sozial gelebter Liebe manifestiert. Daraus folgt, dass die Denkform der Typologie zeitlich konzipiert ist, da sie dazu auffordert, Ereignisse der Vergangenheit oder Gegenwart unter dem Aspekt ihres prophetischen Gehalts wahrzunehmen (vgl. Bohn 1988, 7). Die zeitliche Konzeption von ›Typ‹ bietet zudem einen Anknüpfungspunkt zu ›Allegorie‹, für die eine veränderte Wiederholung aus intertextueller Sicht ebenso konstitutiv ist.48 Die sinnstiftende Komponente dieses Ordnungsmusters erweist sich sodann als äußerst produktiv, da sie gleichzeitig Kontinuitäten aufzeigt und dennoch Spielraum für Innovationen erlaubt. Im literaturwissenschaftlichen Kontext spiegelt sich der zeitliche Gehalt des Typs im Aufgreifen von poetologischen Neuerungen der Nachfolgegenerationen, ein Prozess, der von einzelnen Texten ausgelöst wird. Auf der dritten Bedeutungsebene, als Analysewerkzeuge, werden Typen schließlich über eine Familienähnlichkeit ihrer Elemente definiert. Im Verfahren des Vergleiches werden die Forschungsobjekte nach gemeinsamen Merkmalen gruppiert. Dabei berücksichtigen die einzelnen Typen die Vielfältigkeit der Untersuchungsgegenstände dahingehend, dass die einzelnen Texte nicht ident sein müssen, um zum selben Typus zu zählen. Das ermöglicht mir, so unterschiedliche Autoren wie Juan Valera und Benito P8rez Galdjs unter denselben Typ der Praktikabilität zu subsummieren. Um zu einer Typologie zu gelangen, nähere ich mich dem Themenkomplex Liebe daher von zwei widersprüchlichen Seiten. Zunächst folge ich Foucaults paradoxem Zugang einen Diskurs zu beschreiben, indem ich mich nicht an Ähnlichkeiten orientiere, sondern an Differenzen, Zwischenräumen und Abständen der Forschungsobjekte, die zu den diskursiven Formationen führen (vgl. AS 46–47). Diese Phase beschreibt die Werkauswahl und ermöglicht, den Untersuchungsgegenstand einzugrenzen. Die unterschiedliche Präsentation des Motivs Liebe ist daher auch Bedingung für die Romanauswahl. Im Rückgriff auf moderne Allegorietheorien, die allegorische Schreibweisen über das simultane Bestehen von »Zeigen und […] Diskurs über das Zeigen« definieren (Knaller 2002, 38), können sodann poetologische Neuerungen und Variationen des Liebescodes gleichermaßen erfasst werden. Dieses Vorgehen stützt sich auf die 48 Historisch betrachtet wird der Typus-Begriff als Denkform ausgehend von der Heilsgeschichte in weiterer Folge auch auf außerbiblische Fragestellungen angewandt. Weit verbreitet ist die Methode des Typologisierens insbesondere in der Geschichtsschreibung, weshalb der Typus-Begriff auch in literaturgeschichtlichen Analysen erfolgreich Verwendung finden kann.
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These, dass Liebesfigurationen nicht nur gesellschaftlich oder ästhetisch bedingte Variationen von Liebeskonzepten dokumentieren, sondern den Epochenbruch als ästhetische Kategorie bedingen und damit den Epochenwechsel von Realismus zu künstlerischer Moderne mitverantworten. Grundlegend ist die Annahme, dass die unterschiedlichen Schreibweisen mit je verschiedenen Realitätskonzepten gekoppelt sind, die dem Wechsel von einem repräsentativperformativen Modus im Realismus zu einem performativ-experimentellen Modus im Modernismo entsprechen. Im Prozess des Typologisierens, nachdem die einzelnen Werke aufgrund ihrer Abweichungen ausgewählt und in ihrer Spezifik erfasst wurden, konzentriere ich mich in weiterer Folge auf die Ähnlichkeiten in der Darstellung von Liebesdiskursen, damit die Verdichtung von Werken unterschiedlicher Autorinnen und Autoren hin zu einem repräsentativen Typ für eine Epoche gewährleistet werden kann. Dabei erfordert die Abstraktion an dieser Stelle ein Vernachlässigen der Besonderheiten der einzelnen Werke. Die in der Abstraktion gewonnenen Ähnlichkeiten ermöglichen scheinbar unzusammenhängende Facetten einer Liebe wie Azor&ns zeitenthobene und Ramjn del Valle-Incl#ns ekstatische Liebe im Typ Liebe als intensivierte Praxis und Erleben zu versammeln, da in diesem Fall die Attribute der Intensität in Handlung und Erleben die Werke beider Autoren charakterisieren. Die einzelnen zu differenzierenden Typen stellen Formen dar, die das Kommunikationsmedium um 1900 angenommen hat. Ziel ist es letztlich, anhand der poetologischen Texte und gewählten Romane gültige Aussagen über den gesamten Zeitraum tätigen zu können. Charakteristika der Epoche werden als Kontrastfolie zu den poetologischen und ästhetischen Schriften sowie der literarischen Umsetzung in den einzelnen Romanen herangezogen. Das Forschungsinteresse gilt den Grenzen, den Verschiebungen, welche diese Ausschnitte auszeichnen und die Spezifität des spanischen Romans zwischen 1874 und 1926 darlegen. Ich gehe davon aus, dass realistische Darstellungen allmählich die Differenzierung von Liebe in Liebe und Diskurs über Liebe verabschieden, um gerade die Ununterscheidbarkeit von Liebe und Diskurs über Liebe hervorzuheben. Daraus resultiert der Bedarf einer neuen Leitdifferenz, die in der Lage ist, Liebesfigurationen nach der Romantik zu charakterisieren. Für realistische Werke wird sich die Praktikabilität von Roman und Liebe als zentral erweisen. Die Unterscheidung von praktikabler bzw. realisierbarer Liebe und impraktikabler, weil lediglich imaginierter Liebe, korreliert mit Romankonzepten und avanciert zur neuen Leitdifferenz. Die für postromantische Konzepte konstatierte Abwertung des passiven Erleidens und der damit einhergehenden Aufwertung aktiver Handlungen prägt realistisches und modernistisches Schreiben gleichermaßen. Am Übergang vom realistischen zum modernistischen Modus lässt sich quasi als Zeuge des Umbruchs eine Vervielfältigung unterschiedlicher, kontrastierender oder sich ergänzender
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Liebesdiskurse im Roman feststellen. Allen gemeinsam ist der Hinweis auf den konstruktiven Charakter von Liebesdiskursen. Liebe wird sodann durch die Leitdifferenz der kritischen Reflexion versus einer natürlich geglaubten Liebe charakterisiert. Den modernistischen Typ prägt schließlich das Attribut der Intensität, die sich sowohl auf die Handlungen der Liebenden und Schreibenden wie auch auf das Erleben der Geliebten und Lesenden bezieht. Gegenpol der Intensität ist nun die Bewegungslosigkeit. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Typologien als Methode der Wissensordnung im Zusammenspiel von Fremd- und Selbstreferenz zudem den jeweiligen kulturell bedingten Beobachtungsstandpunkt und damit ihre eigene Kontingenz reflektieren. Obwohl die so gefasste Typologie eine von mehreren Möglichkeiten ist, sträubt sie sich gegen eine Auflösung in der Beliebigkeit historischer Fakten und Methoden genauso sehr, wie sie sich gegen den Gedanken wehrt, als Sammlung von Typen gesehen zu werden, die auf die starre Wiederholung des Gleichen reduziert wird. Vielmehr verkörpert der TypusBegriff eine dynamische Struktur, die sich zwischen einer festen Grenzziehung und einer Offenheit des Begriffs bewegt (vgl. Bohn 1988, 9). Diese Offenheit zeigt sich angesichts der Komplexität von Liebesdarstellungen als von grundlegender Bedeutung. Wurde eine Bestimmung der Liebe in der Antike bereits durch unterschiedliche Reden über sie gekennzeichnet, vervielfachen sich die Redeweisen über Liebe mit der Moderne. Weit davon entfernt einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, repräsentieren die gewählten Autoren und Autorinnen je eine typische Auffassung von Liebe. Juan Valera konzipiert sie interesselos, Benito P8rez Galdjs durchschaubar, Clar&n skalar, Emilia Pardo Baz#n uneingeschränkt, Ramjn P8rez de Ayala polyphon, Ramjn del Valle-Incl#n ekstatisch, Miguel de Unamuno lebendig und Azor&n zeitenthoben. Mithilfe der Typologie lassen sich schließlich Aussagen darüber treffen, welche Elemente des Liebesdiskurses immer wiederkehren oder wo es aus kulturellen oder ästhetischen Gründen zu Neuerungen in den Liebesdarstellungen kommt. Aus der Romananalyse wird deutlich, dass sich Liebesdarstellungen des 19. Jahrhunderts dadurch auszeichnen, dass die sprachliche Dimension der Liebesrede und deren gesellschaftliche Wirksamkeit als Diskurs, Kommunikationsmedium bzw. Erzählung in den Romanen explizit thematisiert und/oder kritisiert werden. Schließlich ermöglicht eine Analyse von Liebe als Diskurs oder Kommunikationscode, die in den Romanen präsentierten Liebesfigurationen nicht als subjektive Liebesauffassungen der einzelnen Autorinnen und Autoren zu lesen, sondern als Teilbereiche des Wissens um 1900. Als Diskurs gründen die Aussagen nicht in einem bestimmten Bewusstsein oder einer Mentalität, vielmehr werden die Aussagen gleichsam anonym hervorgebracht und müssen von allen Individuen befolgt werden, die in diesem Feld Aussagen tätigen möchten (vgl. AS 83–84). Das Heranziehen der poetologischen Programme komplettiert
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überdies das Liebesverständnis, um Liebe umfassend als sozial-kulturell-ästhetisches Konstrukt zu erfassen. Aus der Analyse lassen sich drei unterschiedliche Typen ableiten. Der erste Typ Praktikabilität hinterfragt Liebe als Ort der höchstpersönlichen Kommunikation und umfasst realistische Romane von Juan Valera und Benito P8rez Galdjs. Im zweiten Typ spielerisch reflektierte Diskurse versammeln sich Romane von Clar&n, Emilia Pardo Baz#n und Ramjn P8rez de Ayala, die Liebe als literarische Diskurse im Wechselverhältnis zur kulturell gelebten Liebe präsentieren und dabei Unzulänglichkeiten der kulturellen Praktiken kritisieren. Literarhistorisch stellen diese Romane Schwellenwerke dar, die sich zwischen realistischem und modernistischem Schreiben bewegen, da den Poetiken ein Wechsel der Realitätskonzepte von repräsentativperformativem Modus zu performativ-experimentellem Modus zugrunde liegt. Der dritte Typ Intensivierung von Handeln und Erleben grenzt sich von den vorhergehenden durch eine verstärkte Bezugnahme auf die Rezipientenperspektive in den poetologischen Überlegungen der Autoren und Autorinnen ab. Die darunter fallenden modernistischen Werke von Miguel de Unamuno, Ramjn del Valle-Incl#n und Azor&n zielen auf eine Intensivierung des Erlebens im Lektüreakt. Damit rückt das Ereignis als Funktion des experimentellen Realitätsmodus in den Vordergrund. Zudem fokussieren diese Romane zum einen, aufgrund eines an unterschiedlichen Künsten orientierten Innovationswunsches der Literatur, auf neue, ungeschriebene Wege, zum anderen wird Liebe in ihrer Alltäglichkeit, Universalität und Zeitlosigkeit erfasst. Der folgende historische Abriss literarischer Liebesdiskurse bietet die Grundlage für das Aufspüren der Einzigartigkeiten der gewählten Romane einerseits, den bis um 1900 überlieferten und bewährten Formen andererseits. Jene Elemente des Liebescodes, die über Epochen-Grenzen tradiert werden und in unterschiedlichen Variationen wiederkehren und jene anderen, die sich als neu in dieser Konstellation ergeben, konstituieren gleichermaßen das Wissen.
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Ein historischer Streifzug durch Liebesreden Die Liebe ist nicht eigentlich eine Möglichkeit, sondern eher die Überwindung von etwas, das als unmöglich erscheinen mochte. (Alain Badiou)
Denis de Rougemont rollt in seiner historischen Studie L’amour et l’occident (1972) wichtige Elemente europäischer Diskurstraditionen auf. Im Mittelalter kennzeichnet die höchste Liebe die Bereitschaft, in den Tod zu gehen, diesen sogar herbeizusehnen. Das zeigt sich nicht nur in der arabischen oder europäischen Mystik, sondern etwa auch in der provenzalischen Lyrik und im auch später immer wieder aufgegriffenen Mythos von Tristan und Isolde. Dabei muss ein metaphysisches Weltbild vorausgeschickt werden, das im Tod die ersehnte Erlösung von jeglichen Qualen bereithält. Nur so kann Teresa von ]vilas Ausspruch »Je meurs de ne pas mourir!« als Überleben gedeutet werden (Rougemont 1972, 116). In der arabischen Mystik ist der Todeswunsch ebenso Ausdruck großer Liebe. Rougemont zitiert das Beispiel Mose, der in seinem Wunsch am Berg Sinai Gott zu begegnen, sich seinen eigenen Tod ersehnt (ebd.). Neben der mystischen Liebe hält sich ferner ein mehr auf die weltliche Liebe bezogener Liebesdiskurs, der unter anderem von Averroes beeinflusst wird. In seinen Schriften bezieht er gegen eine absolute Enthaltsamkeit Position und verficht die Rücksichtnahme auf körperliche Bedürfnisse sowie den Einsatz des freien Denkens (vgl. Pechriggl 2009, 69).1 Obschon sich mystische Liebe und Minne grundlegend voneinander unterscheiden, verfügen sie über dasselbe Vokabular : In der Mystik ist Liebe gleichbedeutend mit Glückseligkeit, das höchste Streben gilt dem Besitz des 1 Alice Pechriggl zitiert aus Averroes Thesen, die sich gegen die christliche Moraldoktrin vergleichsweise liberal lesen, allerdings kein eigenes Programm bilden: »166. Die Sünde gegen die Natur, also der Missbrauch des Beischlafs, mag gegen die Natur der Art gehen, aber er geht nicht gegen die Natur des Individuums. / 168. Selbstbeherrschung (continentia) ist nicht ihrem Wesen nach eine Tugend. / 169. Vollkommene sexuelle Enthaltsamkeit (abstinentia) zerstört die Tugend und die menschliche Art. / 172. Sexuelle Lust verhindert nicht die Ausübung oder die Anwendung des Denkens. / 181. Keuschheit ist kein größeres Gut als die vollkommene Enthaltsamkeit. / 183. Die einfache Unzucht, also die des Ledigen mit einer Ledigen, ist keine Sünde« (Pechriggl 2009, 69–70). Auch wenn diese Thesen moralisch als körperfreundlicher erscheinen mögen, vertrat Averroes doch die schon bei den Stoikern verbreitete Position des richtigen Maßhaltens im Bereich der zwischenmenschlichen Intimbeziehungen.
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wertvollsten Objektes, das ja mit Gott etwas Außerordentliches, Unermessliches ist. Dagegen zeichnet sich die reine Minne durch Verzicht aus, denn je mehr der Troubadour entsagt, desto größer gilt seine Liebe zur angebeteten Dame (vgl. HA 192). Im Bereich der Kunst stellt sich also das Hindernis oder die Unerreichbarkeit der Liebe als verharrendes Element heraus, denn auch die Minne setzt auf eine unerreichbare Liebe, die von einem männlichen Sänger besungen wird. Kennzeichnend sind die Abwesenheit der Frau und die doppelte Vergegenwärtigung des Mannes. Der Sänger konstituiert nicht nur sein Subjekt, indem er spricht und benennt und damit etwas Verborgenes ins Sichtbare holt, er inszeniert sich auch als Künstler. Über die sprachliche Performanz gelingt es ihm, Liebe zu sprechen und hervorzurufen, ohne sich jedoch auf eine etwaige Erfüllung erst einlassen zu müssen, da die Liebesgesänge jederzeit zurückgenommen werden können (vgl. Bennewitz 2000, 159–160). Julia Kristeva weist in ihrer Studie Histoires d’amour (1983) darauf hin, dass besonders im Minnesang der Kunstcharakter in den Vordergrund des Liedes rückt, da Minnedichtung zunächst Inkantation der Freude, des joi ist, wodurch die Aufmerksamkeit eindeutig zugunsten der Aussage (8nonc8) auf die Äußerung (8nonciation) verschoben wird. Die Glückseligkeit des liebenden Sängers liegt in der durch Musik und Text gestifteten erträumten und dennoch realen Vereinigung zwischen idealisierter Dame und Dichter, denn diese Einheit resultiert aus der performativen Kraft der Sprache (vgl. HA 192 u. 236–237). Unter diesem Gesichtspunkt bleibt offen, ob die Angebetete nun eine Frau oder die Musik bzw. Kunst selbst ist (vgl. HA 354). Von ihrer Unerfüllbarkeit ist somit auch die höfische Liebe, die in der kastilischen Literatur im 15. Jahrhundert in der Lyrik besungen wird, getragen. Die in den cancioneros gefeierte Liebe zeigt sich nicht in ihrer Körperlichkeit, sondern wird als treuer Dienst an einer unerreichbaren Dame verstanden, wohlwissend, dass diese ihren ergebenen Diener nie erhören wird. In The Philosophy of Love in Spanish Literature. 1480–1680 (1985) erläutert Alexander Parker, dass das Schicksal Ursache der Passion ist, und dass die Liebenden dieser Übermacht weder entfliehen können, noch dies möchten, da es besser ist, durch Liebesleid gepeinigt zu leben als niemals geliebt zu haben (vgl. Parker 1985, 15–16). Julia Kristeva analysiert die höfische Liebe, in der sich zwei Aspekte überlagern: Zum einen deutet der Wunsch zu leiden auf den Einfluss der christlichen Philosophie, zum anderen entspricht das Verhältnis von Dame und Sänger jenem des Lehensherren und seines Vasallen. Erstere Rolle symbolisiert eine »Inbesitznahme«, während letztere einen »Dienst« verkörpert. Schlüsselbegriffe dieses Liebeskonzeptes sind onor, das für das Lehensgut und den Ruhmestitel steht sowie partage, die Gleichheit und Vertrautheit der Höflinge untereinander, die sie von der Außenwelt trennt. Schließlich ist auch noch eine, keinesfalls nur platonisch gedachte, Belohnung, merce, welche die Dame dem Vasallen gewährt, Bestandteil
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der Liebesauffassung. Wird Liebe begründet, so liegt ihr Ursprung in den Eigenschaften des Objektes, dessen Perfektion Auslöser der Leidenschaften ist. Um diese Vollkommenheit gebührend feiern zu können, wird der Name der Dame jeweils verschwiegen (vgl. HA 348). Die Marginalisierung der Sinnlichkeit und die damit verbundene Sublimierung und Idealisierung der Liebe in der höfischen Liebeslyrik hängen mit dem Bestreben zusammen, sich von der vulgären Masse abzuheben. Im Zuge der zunehmenden Aristokratisierung der mittelalterlichen Gesellschaft wird Liebe in den Bereich des Idealen, Unwahrscheinlichen und nur durch besondere Verdienste Erreichbaren verlagert. Mit diesem veränderten Verhaltenskodex distanziert sich das Subjekt von einer gemeinen und direkten Befriedigung seiner sinnlichen Bedürfnisse, Liebe wird zum gesellschaftlichen Distinktionsmerkmal (vgl. LP 50). Die Ehe wird im Vergleich zur Spätantike abgewertet, sie allein ist kein ausreichender Garant für Liebe mehr. Während Kernstück der Minne die Unerreichbarkeit des geliebten Menschen, also eine unüberwindbare Trennung, ist, wird diese im Ritterroman abgeschwächt. Die Trennung der Liebenden erfolgt temporär und wird als Voraussetzung angesehen, Erfüllung überhaupt erst zu erlangen. Die Rollenverteilung ist insofern noch dieselbe, als die Dame die Herrschende ist und der sie liebende Mann ihr Diener. Daneben vereint der mittelalterliche Liebesdiskurs die gegensätzlichen Forderungen der Eroberung und Selbstunterwerfung, solange sich der Werber nicht dem Widerstand der Geliebten unterwirft. Der Protest der Geliebten ist integraler Bestandteil des Codes, er würde bei dauerhafter Beachtung jedoch zum Ende der Liebe führen. Ein weiteres herausragendes Merkmal dieses Diskurses ist die Tatsache, dass das geliebte Objekt ausschließlich über positive Qualitäten verfügt, wodurch eine Intensivierung und Steigerung der Verbindung gewährleistet wird (vgl. LP 78–79). Die Ehe wiederum ist kein tragender Bestandteil in dieser Beziehung der Liebenden, sondern eine Verpflichtung, die von einer gefühlsmäßigen Bindung entkoppelt ist (vgl. Parker 1985, 28–29). Bezeichnend für literarische Liebesfigurationen ist die auf Fortsetzung getrimmte Strukturierung der Liebessituation, sei es ein Liebeswerben, ein Verliebt-Sein oder die Schilderung einer Beziehung. Denis de Rougemont spricht bezogen auf französische Ritterromane davon, dass sich Romane folgerichtig von real erlebten Situationen unterscheiden müssen und dahingehend auch eine implizite Komplizenschaft zwischen Schreibenden und Lesenden besteht. Die Autorinnen und Autoren beziehen sich nur insofern auf die höfische Moral oder die ritterlichen Tugenden, als diese herangezogen werden können, um den Fortgang der Handlung voranzutreiben, indem eine Wende auf die andere folgt (vgl. Rougemont 1972, 37). Diese Aussage lässt sich auch für literarische Liebesfigurationen nachfolgender Epochen konstatieren. Eine gleichbleibend glückliche Liebe ließe sich nicht spannend erzählen, wes-
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halb Hindernisse unterschiedlicher Art integraler Bestandteil vieler Liebesgeschichten sind. Während das höfische Lied aufgrund seiner Performanz auf seine eigene Inkantation verweist, verdichten sich die bisher gebrauchten Metaphern im semantischen Feld der Liebe im höfischen Roman zu Allegorien, nicht zuletzt mit dem Ziel, so Julia Kristeva, moralisch zu belehren. Das lyrische Ich der Gesänge wird von Erzählungen der Abenteuer eines Dritten abgelöst, wodurch die verliebte Äußerung (8nonciation) zugunsten der Aussage (8nonc8) in den Hintergrund rückt. Selbstreferentielle Bezüge dienen nicht länger dazu, die Freude am Text zu vergrößern, sondern zielen auf Kommunikation und Belehrung. Kristeva sieht im Roman de la Rose (1275–1280) eben dieses Umkippen von Lyrik in Narration, das schließlich auch die Frauen verdinglicht, da sie nun außerhalb der Äußerung stehen und als ein Objekt der Eroberung angesehen werden. Dies ebnet der Satire den Weg, wie im zweiten Teil des Rosenromans von Jean de Meung ersichtlich wird (vgl. HA 356, 358 u. 365). Ein typisches Beispiel dieser Allegorisierung in der spanischen Literatur ist der Roman La C#rcel de amor (1492) von Diego de San Pedro. Anschaulich wird das Gefängnis der Liebe zu Beginn beschrieben, als der Wanderer erfährt, dass, sofern er den Liebenden in seinem Turm aufsuchen sollte, er die ›Waffen des Herzens gegen die Traurigkeit‹ – Descanso, Esperanza und Contentamiento – ablegen müsse. Trotz der letztlich unerfüllten Liebe werden die weiblichen Figuren in einer »loa de la mujer« besungen, die stark christlich gefärbt ist.2 Die ungezügelte Leidenschaft dient aufgrund des tragischen Endes als Negativbeispiel für Liebe als Grundlage einer Ehe, argumentiert C8sar Besj Portal8s in »El sentimiento amoroso en la C#rcel de amor« (2002) (vgl. Besj Portal8s 2002, 11). Mit dem Einzug der Satire in die Liebeserzählungen geraten die Idealisierungsmöglichkeiten im Liebesdiskurs zu Leerstellen, die erst mit der Romantik wiederbelebt werden. Dann jedoch nicht mehr als joi der Liebe, vielmehr erhält die Courtoisie einen Anstrich der Sehnsucht und Melancholie, da das Erreichen des Ideals in den Bereich des Unmöglichen, wenn nicht sogar Unheilbringenden verschoben wird (vgl. HA 365). Dominieren die mittelalterliche Liebesliteratur christliche und mystische Ansätze, erfolgt in der Renaissance mit der Hinwendung zur griechischen und römischen Antike ein Bruch, indem Platons Eros-Philosophie nicht nur die Denkweise der Zeit, sondern das Kunstverständnis insgesamt beeinflusst. Als Voraussetzung der verschiedenen Hervorbringungsarten des Eros wird die Idee der Schönheit genannt (vgl. Pechriggl 2009, 74). Dabei referieren Autorinnen und Autoren im Neoplatonismus auf jenen Aspekt von Platons Liebesphiloso2 Zum Lob der Frauen siehe die Abschnitte Leriano contra Tefeo y todos los que dicen mal de mujeres sowie Da Leriano veinte razones porque los hombres son obligados a las mujeres oder Prueba por ejemplos la bondad de las mujeres (vgl. San Pedro 1492, o. S.).
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phie, der beschreibt, dass sich die Seele angezogen von der materiellen Schönheit über die Liebe zum menschlichen Körper, hin zur Liebe des Guten, weiter zur Schönheit der Idee und von dort zur Absoluten Schönheit nach oben bewegt. Die Sexualität findet in dieser Liebeskonzeption keinen Platz, sie wird auf eine biologische Notwendigkeit reduziert, die im Grunde jedoch von der Weisheit ablenkt. Der Liebende befindet sich also in einem ständigen Kampf zwischen physischer und spiritueller, vergänglicher und ewiger Liebe. Literarische Form findet dieser Widerstreit beispielsweise in Calderjn de la Barcas Ni amor se libra de amor, in dem das Auge als Kommunikationsmedium völlig ausgeschaltet wird und Psyche Cupidos Worte nur hören darf, um nicht jener der Liebe inhärenten Gefahr einer Ablenkung durch körperliche Schönheit zu erliegen (vgl. Parker 1985, 153). Das neoplatonische Konzept der Liebe stellt eine unglückliche Liebe vor, insofern, als sie in der Wirklichkeit keine erfahrbare Erfüllung finden kann. Daraus folgt die Desillusionierung in der Liebe aufgrund ihrer Unerreichbarkeit im Leben, ein Prinzip, das später in den Siglos de Oro als desengaÇo zum Lebensthema avanciert. Gründet die wahre Liebe der Renaissance in der Freundschaft zwischen den Menschen, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass die Liebenden gemeinsam zum höchsten Gut streben, liegt die Neuerung des Neoplatonismus in der Bedeutung der Rolle der Frau: Platon selbst hielt die Frauen zur wahren Liebe nicht fähig – seine Stufenleiter bezog sich allein auf Männer- und Knabenliebe. In der Renaissance hingegen ist die physische Schönheit der oder des Geliebten Ausgangspunkt der Seele in ihrer Wanderung von der menschlichen über die intellektuelle hin zu einer spirituellen Ebene. Die gegenseitige Anziehung führt schließlich zur Kontemplation der universellen Schönheit (vgl. ebd., 41–42). Herausragend ist die Charakterisierung menschlicher Liebe in der Renaissance durch explizite oder implizite religiöse Termini. Die Grenzen zwischen weltlicher und mystischer Liebe verschwimmen, denn es gilt derselbe semantische Code. In beiden Fällen liegt eine Trennung der Liebenden vor, ihre Vereinigung bedarf der Überwindung zahlreicher Hindernisse, die ersehnte unio mystica fordert die stellenweise Selbstauslöschung der Seele: Eben jene Teile der Seele, die an der sinnlich erfahrbaren Welt haften, müssen sterben, bevor es zu einer Hochzeit kommen kann (vgl. ebd., 99). Um zur Vervollkommnung seiner selbst zu gelangen, verfolgt das liebende Subjekt eine Ethik der Entsagung und Reinigung, die für beide Kontexte, den weltlichen und den geistigen, gleichermaßen gültig ist. Wie im religiösen Feld kommt es im weltlichen Bereich durch Mystifizierung der Geschlechterbeziehung zu einer Umorientierung, welche moralische Werte wie Achtung und Missachtung verstärkt in den Liebescode integriert (vgl. LP 58). Als die Freundschaft zum Wesens-
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merkmal der Liebe und der caritas-Tradition3 erhoben wurde, entstand auch die Grundlage einer sozialen Reflexivität im Werben der Liebe, denn der angebetete Mensch sollte die Bemühungen des sich in Selbstbeherrschung übenden werbenden Menschen anerkennen und ihn in seiner Selbstpraktik ermutigen. Es ist diese moralische Grundhaltung, die sich in der Reduktion egoistischer Motive und Selbstbezogenheit zeigt und sich im Begriff des Dienstes ausdrückt, der bis ins 17. Jahrhundert als Vorbild gilt. Konsequenterweise gilt, dass Liebe als Passion von der Vernunft gezügelt werden kann und soll (vgl. LP 59). Dennoch wird Liebe im 17. Jahrhundert nicht nur gefeiert, wie Auerbach in seinem Essay ausführt, sondern von ihren Kritikern auch als »amour« und »ambition«, als eine der gefährlichsten Leidenschaften angesehen, da sie abgesehen von der geistigen Unruhe, die sie mit sich bringt, nun durch Idealisierung zu einer Art Religion erhöht wird. Dabei steht nicht mehr die mystische Liebe zu einer höheren Kraft im Vordergrund, vielmehr können die Verliebten ihren Edelmut und ihre Herzensgröße in der zwischenmenschlichen Liebe unter Beweis stellen. Die weltliche Liebe gilt somit als erstrebenswert (vgl. Auerbach 1976b, 174). Demgegenüber unterstreicht Luhmann, dass bereits im 17. Jahrhundert Liebe als Verhaltensmodell reflektiert wird, was sich im literarischen Bereich durch Parodien nachweisen lässt. Die Handelnden zeichnen sich nun durch eine gesteigerte Aufmerksamkeit aus, da sie durch die Lektüre von Romanen mit dem Verhaltenskodex vertraut werden. Der Liebesdiskurs transportiert also ein Wissen um Liebe und ihre zugehörigen Floskeln und Gesten, die zur Kunst der Verführung gehören. Dieses Wissen dient einerseits als Orientierungspunkt in der Wahl des realen Partners, andererseits stellt es auch Erklärungsmodelle für unerfüllte Liebesbeziehungen bereit (vgl. LP 23 u. 37). Don Juan charakterisiert diese Epoche als ungeschlagener Verführer, wobei sich sein Liebeskonzept zwar an unzähligen Eroberungen orientiert, diese allerdings nicht an ein Besitzdenken gekoppelt sind. Don Juan liebt »ni le triomphe ni la gloire en soi, mais des deux le passage: l’8ternel retour, / l’infini« (HA 245). Der später von den Modernisten viel zitierte Anspruch, das Flüchtige mit dem Ewigen zu verbinden, findet bereits im 17. Jahrhundert eine Entsprechung. Hindernisse sind nach wie vor beharrende Elemente in der literarischen Liebesdarstellung. Allerdings wird in der barocken Gesellschaft, im Gegenteil zur mittelalterlichen Tradition, die Unerreichbarkeit der Geliebten nicht mehr auf die Standesunterschiede zwischen den Liebenden zurückgeführt, sondern in die 3 Die caritas sucht im Anderen das göttliche Prinzip zu lieben, das Seelenheil der geliebten Person steht hierbei im Vordergrund. Ausschlaggebend für diesen Liebestyp sind weder körperliche Merkmale noch besonders positive oder negative Charakterzüge, auch liebt der Mensch nicht der Gegenliebe willen. Caritas ist nicht am Schicksal des oder der Geliebten interessiert, sie ist der Person gegenüber indifferent und nur am Heil der oder des Geliebten ausgerichtet (vgl. LP 101).
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Entscheidungsfreiheit der Frau selbst transferiert. Dies trifft sowohl auf eheliche als auch auf außereheliche Beziehungen zu. In Frankreich führt diese Entscheidungsmacht zur Aufspaltung in zwei Haltungen angesichts des Werbers, wie Niklas Luhmann festhält: die pr8cieuses distanzieren sich von den Avancen und verneinen die Erfüllung der Liebe. Ihre moralische Haltung ist von einer Selbstpraktik geprägt, die darauf abzielt, die eigenen Lüste zu beherrschen. Dieses Verhalten wird mit Worten und Gesten kommuniziert und soll vom Mann respektiert werden. Das gegenläufige Frauenbild zeigt sich in den coquettes, die den Bemühungen des Galanten nachgeben (vgl. LP 59–60 u. 125). Das gesellschaftlich angestrebte Ideal ist jenes der pr8cieuses: Sie fordern Liebesbeweise, die in mündlicher oder schriftlicher Form zur Entwicklung des formulierbaren Diskurses beitragen. Aus dem Reflektieren des Codes resultieren Zweifel an der Echtheit der Gefühle, wodurch immer neue Liebesbeweise benötigt werden – die Liebe steht somit im Dienst von Innovation und Kreativität. Das vorrangige Ziel der Liebe scheint dann nicht die Erfüllung in der Ehe zu sein, denn die Ehe wird als sicherer Hafen von Indifferenz gegenüber der Liebe betrachtet. Vielmehr geht es darum, das Liebesglück in der Forderung nach einer sich ständig erneuernden Rede zu finden (vgl. LP 88–89). Für literarische Liebesfigurationen stellt dieser Anspruch eine gute Grundlage dar, Liebe in immer neuen Facetten zu schildern und nicht länger von der Imitation alter Modelle abhängig zu gestalten. Die Verschränkung von literarischen Innovationen und veränderten Liebescodes zeichnet Niels Werber anhand Madeleine de Scud8rys Roman Histoire romaine (1654–60) nach: Obwohl die Handlung des Romans im antiken Rom spielt, ist das Prosawerk thematisch der Salonkultur und der Liebe gewidmet. In diesem Roman finden die Lesenden die berühmte Carte de tendre, »eine Topologie der Affekte und Liebeskonzeptionen« (Werber 2003, 92). Werden in Tristan und Isolde der höfische und der feudale Moralkodex basal für die Entwicklung der Liebesintrige herangezogen, spielt Madeleine de Scud8ry nun die zwei vorherrschenden Liebescodes des 17. Jahrhunderts gegeneinander aus: die auf Sinnlichkeit ausgerichtete galante Liebe gegen die zärtlich reine Zuneigung der Preziösen (vgl. ebd.). Mit der zweiten Jahrhunderthälfte des 17. Jahrhunderts wird das Ideal zum privilegierten Thema des Liebesdiskurses. Ab diesem Zeitraum orientiert sich Liebe an einem Perfektionsgedanken, der von der Vollkommenheit des geliebten Objektes ausgeht (vgl. LP 57). Während die Gefühlswahrheit bereits im 17. Jahrhundert nicht mehr durch gesellschaftliche Referenz, sondern nur noch durch Selbstbeobachtung und Selbstbefragung festgestellt werden kann, vollzieht das Kommunikationsmedium Kunst diesen Wandel erst um 1700. Die bis dahin gängigen Regelkodizes in Kunst und Literatur werden verworfen, stattdessen orientieren sich Kunstschaffende an den Reaktionen der Einzelnen, sinnliche Eindrücke und deren Wirkungen werden wichtiger. Dies lässt sich auch am Roman des 18. Jahrhun-
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derts nachweisen, wie Niels Werber in seiner Monographie überzeugend nachzeichnet. Für Literatur und Liebe gilt gleichermaßen, dass die Innovationsforderung das klassische Ideal der Imitation ablöst (vgl. Werber 2003, 39). Dabei entsprechen die Struktur des Romans und seine Beziehung zu den Lesenden jener des Verführers oder des machiavellistischen Politikus, wie Werber anmerkt. Erst nach der Umsetzung ihrer Pläne, die sich durch ein gekonntes Spiel aus »Simulation und Dissimulation« ergeben, werden die Ziele erkenntlich (ebd., 54). Das Spiel um die Leidenschaften zeigt sich nun in zahlreichen Ratschlägen zum richtigen Verhalten in galanten Situationen: Besonders den Damen wird geraten, dass sie die doppelte Anschlussmöglichkeit des Liebescodes – hin zur Geselligkeit also dem plaisir und zur leidenschaftlichen passion – insofern nutzen, dass sie zwar zu verstehen geben sollten, die Absichten des Bewerbers verstanden zu haben, die Interpretation seiner Worte allerdings in den Dienst der Unterhaltung stellen sollten. Diese Finessen galanter Liebe werden über literarische Texte auch außerhalb des Hofes bekannt und können in gewisser Weise erlernt werden. Hier kommt es wiederum zu einem in der Literatur immer wieder thematisierten Rückkoppelungseffekt zwischen literarischer Gestaltung und Liebe (vgl. ebd., 63). Auch Carmen Mart&n Gaite führt in ihrer Studie Usos amorosos del dieciocho en EspaÇa (2005) in einem Rückblick auf das 17. Jahrhundert an, dass in Spanien die Liebe ebenfalls als Spiel verstanden wurde, deren zwei Säulen mentir und robar waren. In Abgrenzung zu Liebeskonzepten der Renaissance lässt sich also festhalten, dass Liebe tatsächlich als eine Erfindung oder Zerstreuung aufgefasst wurde, die es galt, zeitlich so lange als möglich in die Länge zu dehnen (UA 182). Als einen der kulturellen Unterschiede zwischen Frankreich und Spanien streicht Carmen Mart&n Gaite heraus, dass sich die französischen Frauen in den literarischen Salons im intellektuellen Bereich bewegen, während der Großteil der spanischen Frauen an ihr Haus gebunden ist. Frauen werden der Jungfrau Maria ähnlich im Haus verehrt, die eigens dafür eingerichtete Erfindung heißt estrado, eine Art Podium, das durch Balustraden vom restlichen Salon abgeschirmt ist.4 Der estrado ist mit Kissen, Schemeln und niedrigen Stühlen ausgestattet, damit sich die Frauen ungestört ihren Näh- und Stickarbeiten widmen können. Wird ein männlicher Gast in diesen öffentlich abgeschlossenen Raum eingeladen, gilt dies als äußerster Vertrauensbeweis (vgl. UA 27). Bis ins 18. Jahrhundert hält sich diese Vorrichtung als Schutzwall gegen das andere 4 Bereits für das 13. Jahrhundert kann eine Orientierung des männlichen Begehrens an Edelfrauen und der Hl. Maria festgestellt werden, ein Streben, das sich am Außergewöhnlichen und Unerreichbaren ausrichtet, das vor allem aber der männlichen Autorität entzogen bleibt. Am Hofe von Blanche de Castille (†1252) nahm beispielsweise eine Variante der höfischen Liebe Form an, welche die Eigenschaften der Frauen an jene der Heiligen anglich (vgl. HA 308).
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Geschlecht. Bezugnehmend auf einen französischen Reisebericht, schildert Carmen Mart&n Gaite diesen spanischen Brauch, der bis ins Zeitalter der Aufklärung hinein die Trennung der Geschlechter im öffentlich zugänglichen und doch privaten Raum versinnbildlicht: Los refrescos… no contribuyen m#s que las tertulias a multiplicar las relaciones entre los dos sexos… A medida que llegan los invitados, los hombres se separan de las mujeres. Estas van a sentarse en una habitacijn donde la etiqueta las hace estar juntas hasta que todo el mundo se ha reunido, o por lo menos los hombres est#n de pie sin acerc#rseles. La dueÇa de la casa les espera en un sof# en un lugar determinado de un saljn que, en las costumbres antiguas, affln subsistentes en parte, recib&a el nombre de estrado y sobre el cual suele estar colgada una imagen de la Virgen. La aparicijn del refresco relaja los rostros y los corazones, la conversacijn se anima y los dos sexos se aproximan.5
Steht der Gedanke des Spiels in barocken Liebeskonzepten im Vordergrund, wird dem Gefühl im 18. Jahrhundert mehr Eigenständigkeit zugeschrieben. Nicht länger die Differenz von Liebe und Vernunft steht zur Diskussion, sondern die Unterscheidung von passion und plaisir. Hier sollen wahre von falschen oder nur vorgetäuschten Gefühlen unterschieden werden, wobei sich die Unmöglichkeit der Kommunikation von echten Gefühlen im Laufe des Jahrhunderts immer stärker herauskristallisiert (vgl. LP 54). Einen Bruch mit vorangegangenen Epochen stellt die Eingliederung einer positiven Sexuallehre in den Liebesdiskurs dar, auch wenn sie vorerst noch mit Vorsicht rezipiert wird und sexuelle Kontakte zunächst nur heimlich gewünscht werden. Daraus resultiert eine Verhaltensveränderung der Liebenden, denn die Liebenden suchen nun keine Zustimmung im Außen mehr, der Darstellungszwang, der Teil des Spiels war, fällt, die Realisation der geschlechtlichen Beziehung findet ihren Sinn in sich selbst (vgl. LP 32). Trotz dieser scheinbaren Emanzipation der Liebenden von gesellschaftlichen Konventionen ihrer Umgebung wird nun die Ehe als idealer Ort für die Liebe propagiert. Hauptmerkmal der Ehe ist noch immer die Freundschaft, die als Grundstein für Intimität und Familie fungiert. Das zu diesem Konzept passende Frauenbild ist die femme fragile, die feingliedrig und zart ihre moralische Vollendung in der Ehe finden soll und ihr eigenes Sexualbewusstsein noch nicht offen artikuliert (vgl. LP 127). Neben dieser Innovation kommt es Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer Wiederbelebung des höfischen Vokabulars, indem cortejo als Bezeichnung des Freundes oder Geliebten einer verheirateten Frau neben »cortejar« und »hacer la corte«, ›umwerben‹ und ›den Hof machen‹, in der Liebessemantik einen breiten 5 Dieses Zitat entstammt dem Reisebericht von Jean FranÅois Bourgoing: Nouveau voyage en Espagne ou tableau de l’8tat actuel de cette monarchie, Paris, 1788, 3 Bde., Bd. II, 315, (zitiert in UA 27–28).
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Raum einnehmen (vgl. UA 3). In ganz Europa etabliert sich eine Umgangsform, die mit demselben Begriff als cortejo oder chichisveo bezeichnet wird. Darunter versteht man zunächst eine zumindest offiziell platonische Liebe oder Freundschaft der verheirateten Frau zu einem Vertreter des anderen Geschlechts, der nicht ihr Ehemann oder ein Verwandter ist. Vom Ehemann gebilligt, hat dieser cortejo freien Zutritt auch zu den privaten Räumlichkeiten der Hausdame und umschmeichelt sie mit zahlreichen kleinen Aufmerksamkeiten, Gefälligkeiten und legt insgesamt eine galante Haltung an den Tag. Diese ursprünglich bewusst zweideutig angelegte Umgangsform – niemand konnte sich einer tatsächlichen Beschränkung auf ein freundschaftliches Verhältnis sicher sein – wird in weiterer Folge normiert und bildet nun einen Teil des Verhaltenskodex ähnlich jenem des Umgangs in der Ehe, der sich weit entfernt von passionierten Momenten abspielt (vgl. UA 1). Beinahe synonym mit cortejo wird der Begriff chichisveo verwendet. Aus dem italienischen »bisbigliare« abgeleitet, bedeutet »cicisbeo« ursprünglich »susurro« oder »bisbiseo«, ›Flüstern‹ oder ›Murmeln‹ und bezeichnet eine vertrauliche oder tröstende Konversation einer Frau mit einem Mann (vgl. UA 7). Die Parallelen der vertraulich geflüsterten meist intimen Gespräche mit einer Beichtsituation sind augenfällig und wurden in der spanischen Literatur vielfach als Liebschaften zwischen Priestern und jungen Frauen thematisiert, meist um die Heuchelei der Kirchenvertreter aufzudecken (vgl. UA 8). Generell verliert die Religion im Laufe des 18. Jahrhunderts ihre Funktion, Menschen vom Leiden ihres Daseins zu befreien, vielmehr wird die Funktion religiöser Bräuche umgestaltet zu willkommenen Vorwänden, das Haus zu verlassen, weshalb besonders Spanierinnen als »devotas«, als ›Frömmlerinnen‹, mit eindeutig negativen, heuchlerischen Konnotationen bezeichnet wurden. Das enge Verhältnis von Religion und Liebe ist demnach nicht vergleichbar mit jenem der Renaissance oder des Mittelalters, als für das mystische und das profane Liebeskonzept nur eine Liebessemantik zur Verfügung stand. Im 18. Jahrhundert handelt es sich in dieser Verbindung mehr um eine Zweckehe, da religiöse Feste nun den galanten Bräuchen untergeordnet werden. Selbst die Kirchen werden zu Schauplätzen der Galanterie umgestaltet. Kritik an dieser ›verkommenen Moral‹ äußert sich in einer ambivalenten Beziehung der Gelehrten zur Frau, da sie in der Lage wäre, gleichzeitig Gott und dem Teufel eine Kerze anzuzünden (vgl. UA 200–201). Beide Begriffe cortejo und chichisveo bleiben über das 18. Jahrhundert hinaus erhalten. Mariano Jos8 de Larra verwendet cortejo als Bezeichnung für den Geliebten, auch Benito P8rez Galdjs verwendet den Begriff am Ende des 19. Jahrhunderts noch mit derselben ein Jahrhundert zuvor gefestigten Bedeutung, während Emilia Pardo Baz#n die Ambivalenz des Begriffs unerwähnt lässt und cortejo als Bezeichnung für »novio« oder »pretendiente« einsetzt. Schließlich findet der Begriff auch noch in Ramjn P8rez de Ayalas Romanen des be-
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ginnenden 20. Jahrhunderts (vgl. UA 20–21) oder in Azor&ns DoÇa In8s als Synonym für »novio« Verwendung. Von besonderer Bedeutung für den mit cortejo konnotierten Verhaltenskodex stellen sich die Saraos, die Tanzabende, heraus, die Kontaktanbahnungen im Tumult der schwierigen ausländischen Tänze wie »alemanda«, »minu8« und vor allem der »contradanza« ermöglichen (vgl. UA 39). Auch ist es üblich, dass der cortejo seiner Angebeteten in Fragen der aufwendig von ihrem Friseur gestalteten Frisuren sowie in Belangen der neuesten französischen Mode beratend zur Seite steht. Die Gestaltung der Haarpracht nimmt vergleichbar der Fächersprache eine zentrale Rolle im Liebesspiel ein, denn über die Anordnung der Locken werden heimlich Botschaften transportiert. Es etabliert sich ein geheimer Code, der über die Frisur die Seelenregungen hinsichtlich der Liebe verschlüsselt, denn von »a la adorable« über »a la celosa« bis zu »a la impaciente« wissen die Friseure Gefühle sichtbar auszudrücken (vgl. UA 45–46). Als Konsequenz dieser Normierung der Spielregeln werden Möglichkeiten der Freiheit und des Erfindungsreichtums derart eingeschränkt, dass die Liebe jedes Potential an Großartigkeit aber auch an Esprit einbüßt. Nicht nur wird die spontane Sprache der Liebe durch jene im Voraus festgelegten Konventionen des cortejo ersetzt, auch der semantische Code wird auf alle Liebessituationen anwendbar wahrgenommen. Das Innovationspotential der Sprache und in weiterer Folge auch der Liebe wird dadurch hintangestellt, weshalb die Sprache als Medium schließlich ganz aus dieser Relation verschwindet. Cortejo wird zum Synonym des Ehebruchs (vgl. UA 224). Gegen Ende der Herrschaft von Carlos IV trat in Reaktion auf diese Verfestigung der Spielregeln eine neue Mode als Gegenbewegung auf die Bühne: der majismo (vgl. UA 144). Die ursprünglich aus der Sprache entstandene Liebesbeziehung des cortejo oder chichisveo hat sich totgelaufen und drängt auf Erneuerung, die in der Forderung »zurück zur Natur« das romantische Liebeskonzept vorbereitet. Gesellschaftspolitisch übernimmt das Bürgertum die Modelle des Adels. Das Bedürfnis einer Individualisierung der Liebe ist fortan mit dem Anspruch, sich von der Galanterie zugunsten einer Hinwendung zur Natur zu entfernen, gekoppelt (vgl. LP 99). Während das Bürgertum die Verhaltensformen des Adels übernommen hat, sucht die Aristokratie ihrerseits nun am gegenüberliegenden Ende des Spektrums neue Distinktionsmöglichkeiten und findet diese im majismo, in der Hinwendung zur Natur (vgl. UA 106). Das neue Frauenbild wird in einer Landidylle inszeniert, die Geliebte lebt in Harmonie mit der Natur, ist landwirtschaftlich tätig, stillt ihre Kinder etc. – kurz gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist sie einer Hirtin der Schäferromane vergleichbar, ein Bild zu dessen Verbreitung in Europa Jean Jacques Rousseau nicht wenig beigetragen hat (vgl. UA 261–262). Außerdem wird mit dem Aufkommen des Bürgertums die aristokratische Zweckehe, die Liebe mit Pflicht verbindet, obsolet. An Stelle der Pflicht
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tritt Sympathie, und Liebe wird sodann von inniger Freundschaft abgelöst. Wie bereits im 2. Jahrhundert v. Chr. führt diese auf Freundschaft basierende Beziehung zu einer Verringerung des Unterschiedes zwischen den Rollenbildern (vgl. LP 102–103). Der majismo zeichnet sich durch eine Natürlichkeit aus, die fern jeglicher prätentiöser Konventionen ist und damit das romantische Programm vorbereitete. Mit der Romantik lodert in ganz Europa – Spanien gilt als das romantische Land par excellence – wieder das bekannte Modell der höfisch orientierten Liebe auf, einer Liebe, die auf Schönheit, Hindernissen und dem Mysteriösen, Schwierigen oder Flüchtigen aufbaut (vgl. UA 122). Die Romantik kehrt schließlich auch zur Liebe als bevorzugtem Romanmotiv zurück, wenn sie erkennt »daß nur in der Liebe der Mensch ganz Mensch ist« (Werber 2003, 109). Traditionell wurde der Roman bis ins 18. Jahrhundert als Liebesgeschichte definiert, da Liebe ein gängiges Motiv von Prosatexten war. Noch vor der Romantik kommt es zu einer Erweiterung des bevorzugten Romanthemas auf den Menschen. Diskursanalytisch gesprochen, findet im 18. Jahrhundert der Wechsel von der klassischen zur modernen Episteme statt. Das klare Erkennen und Analysieren von Repräsentationen wird zugunsten einer Aufwertung der Einbildungskraft abgelöst, wie Wolfgang Matzat in Diskursgeschichte der Leidenschaft. Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac (1990) bemerkt. Weder im Bereich der Intimbeziehungen noch in der Wissenschaft steht die Sicherung des Wissens weiterhin an oberster Stelle, vielmehr geht es um eine neue Denkform, die sich an der Erschließung einer hinter den Dingen liegenden Tiefendimension orientiert. Konsequenterweise rückt das Geheimnisvolle und Verborgene ins Zentrum der Aufmerksamkeit, während die cartesianische Vorstellung von klaren Ideen zumindest vorübergehend verworfen wird (vgl. Matzat 1990, 88). Ende des 18. Jahrhunderts wird mit der Romantik die Flüchtigkeit der Liebe zum Programm erhoben. Liebe ist bereits seit den Troubadours ein Synonym für Unsicherheit, Sorge und Gefahr. Das wechselseitige Vertrauen der Liebenden in den Code fördert keineswegs den Anreiz, wie anhand des sich immer stärker an pure Konvention angleichenden cortejo nachgezeichnet werden konnte, stattdessen unterstreicht die Eifersucht der spanischen Ehemänner als Ausdruck der bedrohten Liebe die Großartigkeit und auch Zerbrechlichkeit dieses Gefühls, das ständig vom Tod bedroht zu sein scheint. Nur das Bewusstsein eines potentiellen Verlustes dieser Zuneigung hält die Aufmerksamkeit aufrecht und garantiert ein Fortbestehen der Leidenschaften. Wird die Flüchtigkeit der Liebe mit der europäischen Romantik zum Programm erhoben, gilt sie in Spanien seit jeher als fester Bestandteil des semantischen Feldes (vgl. UA 176–177). Liebe wird von Sicherheit bedroht, von dem Gefühl einer beständigen, gleichbleibenden Beziehung. Mit der Romantik werden Dauer und Liebe nun endgültig unvereinbar. Nichtsdestoweniger wird die Ehe auch in der Romantik mit Liebe gleichge-
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setzt. Liebe ist das allein zulässige Kriterium für die Partnerwahl. Im Zuge dessen fällt die Unterscheidung in eine frivole und eine höher bewertete Liebe, der neue Code vermag in sich die Gegensätze zu vereinen. Wen die Liebe trifft, bestimmt nun der Zufall. Dadurch fallen die Standesgrenzen, da Liebe keine Voraussetzungen oder Vorinformationen des geliebten Objektes mehr benötigt. Im romantischen Liebesdiskurs ist Sexualität essentieller Bestandteil der Liebe. Darüber hinaus verbindet die Romantik die unterschiedlichen Diskurse über Liebe, indem sie den Code auf sich selbst bezieht (vgl. LP 54). Das liebende Subjekt zeichnet sich deshalb durch Selbstreferenz aus und ist sich im Klaren darüber, dass es zur Konstitution des Weltverhältnisses beiträgt. Dafür ist eine gesteigerte Aufmerksamkeit der Beteiligten nötig, die im Schlagwort der romantischen Liebe, der Empfindsamkeit, zusammenläuft. Diese Wende erfordert eine neue Ausdifferenzierung des Begriffs Liebe. Er meint nicht bloße Freundschaft, aber auch nicht einfach Gegenliebe, denn die romantische Liebe zeichnet sich besonders durch ihre Spontaneität aus und wird damit in ihrer Zeitlichkeit definiert. Nur in einem zeitlosen Moment ist es möglich, die Gefühlsregung identisch zu leben, keine vorangehende Überlegung, kein erinnertes Wissen sollen das Handeln steuern. Liebe soll reine Aktion inspiriert vom Moment selbst sein, keine Reaktion auf Handlungen des geliebten Wesens. Dadurch wird der Erinnerung in höchstem Maße misstraut, da sie nur reproduzierbare Texte, aber keine Gefühle erinnern kann (vgl. LP 176–177). Mit dem Vorsatz einer absoluten Präsenz ist Liebe jedoch zum Scheitern verurteilt, da sie nun eine zeitenthobene Existenz voraussetzt. Eine weitere Neuerung der Romantik ist schließlich die Lockerung des Nexus zwischen Leiden und Leidenschaft in den Passionen. Mit den romantischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern – Auerbach nennt vor allem Rousseau, Shaftesbury oder Mendelssohn – gelingt es, die Gefühle autonom zu setzen und damit den Bereich der Aktivität zu entfalten. Das spezifisch Neue an den modernen Leidenschaften ist nach Auerbach ihre Verbindung zum Erhabenen, denn die moderne Leidenschaftskonzeption übersteigt Begierde, Sucht oder Wahn, indem sie auch die schöpferische Komponente berücksichtigt (vgl. Auerbach 1967b, 161–162). Dies zeigt sich auch in der Rückbindung der romantischen Liebe auf die Selbstreferenz, die schließlich am Ende des 19. Jahrhunderts in der literarischen Liebesdarstellung zur Reflexion der Liebe als sprachliches Konstrukt führt. Daneben ist Liebe im 19. Jahrhundert von einem Fortschrittsglauben beeinflusst. Dies zeigt sich darin, dass sie sich einerseits an der Idealführung, andererseits an der Systematisierung des Geschlechtstriebs ausrichtet (vgl. LP 53). Während im 17. Jahrhundert die Verlautbarung seiner Abstammung neben der Liebeserklärung notwendig ist, um zu überzeugen, tritt nun an die Stelle des Verweises auf eine gute Herkunft eine auf die Zukunft gerichtete Erklärung, die
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Heiratsabsicht (vgl. LP 187). Diese Absicht soll der Nicht-Notwendigkeit der Liebe Einhalt gebieten, denn wie Carsten Rohde in seiner Monographie Kontingenz der Herzen. Figurationen der Liebe in der Literatur des 19. Jahrhunderts (Flaubert, Tolstoi, Fontane) (2011) darlegt, ist eben dieser Mangel an Notwendigkeit das Charakteristikum der europäischen Liebesdiskurse dieser Zeit. Kontingenz definiert Rohde unter anderem einerseits in Rückgriff auf den Soziologen Zygmunt Baumann, der den Begriff für postmoderne, durch Ambivalenz gezeichnete Gesellschaften als zentral ansieht, andererseits zieht er Graevenitz’ Definition heran, die das Kontingente als das »Nicht-Notwendige: das, was auch hätte nicht sein können oder auch hätte anders sein können« (Rhode 2011, 34) definiert. Das Kontingenzbewusstsein steigt in dem Maße, in dem sich die Säkularisierung durchsetzt, denn nachdem Gott und das transzendentale Subjekt geschwächt wurden, erscheint alles als kontingent, fast nichts mehr als notwendig. Dinge geschehen ohne logische Zusammenhänge, die Ereignisse entsprechen keiner wie auch immer gearteten Sinnordnung, allein die Zeit kann als ein Maß herangezogen werden (vgl. ebd., 185). Zwei Umgangsformen zeichnen sich mit dem gesteigerten Kontingenzbewusstsein ab: die Vervielfachung der Möglichkeiten öffnet Handlungsspielräume und erweitert damit individuelle Freiräume, die Kehrseite der Medaille zeigt sich hingegen, wenn diese Kontingenz bewältigt werden muss, wenn sie die Beteiligten unvorbereitet trifft und, wie beispielsweise in der Liebe, erlitten wird (vgl. ebd., 34). Diese Problematik der Kommunikationssituation in der Liebe äußert sich besonders in der Moderne, da konventionelle Codes wie jene der höfischen Liebe oder der Galanterie zunehmend verworfen werden. Damit wird die Undurchsichtigkeit und das permanente Wandlungspotential von Alter umso deutlicher. Dass es dennoch zu einer erfolgreichen Etablierung von Intimbeziehungen kommt, grenzt, wie Luhmann anmerkt, an eine ›ganz normale Unwahrscheinlichkeit‹. War Liebe bereits zu Beginn der Moderne vermehrt unter ihrem instabilen, widersprüchlichen und problematischen Charakter thematisiert worden, tritt Kontingenz auf den Spielplan, wenn traditionelle Handlungsplots wie die »verführte Unschuld« oder romanstrukturierende Elemente wie eine geheime Verwandtschaft oder Bekanntschaft der Liebenden vollends verworfen werden (vgl. ebd., 38). Carsten Rohde leitet aus russischen, französischen und deutschen Werken des 19. Jahrhunderts drei Liebestypen ab, um seine These der ›kontingenten Herzen‹ zu stützen. Er versteht darunter, dass in der Moderne alle »kontingenzabblockenden« und damit radikale Ausnahmezustände umgehende Sicherungssysteme von Sinn bezogen auf Liebe und Leidenschaften zusammenbrechen (vgl. ebd., 22). Auch wenn er spanische Romane ausspart, lohnt an dieser Stelle eine kurze Auflistung seiner Liebestypen: Der erste Typ bezeichnet »den nihilistischen Weg«, der Liebe in enger Verbindung mit Gewalt und Herrschaft sieht, da sich jeder Mensch in der Liebe einem anderen unterwirft, oder
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aber die Liebe entpuppt sich als narzisstische Projektion, die nur in geringem Maße auf den Anderen oder die Andere angewiesen ist. Durch eine Abwendung von moralischen Funktionen erhält die Liebe das Attribut eines Spiels besonders bei einigen Autoren und Autorinnen des Fin de SiHcle (vgl. ebd., 29), hier lässt sich eine Anschlussstelle zur barocken Liebeskonzeption ausmachen. Der zweite Typ beschreibt einen »utopistischen Weg«. Sein Motto lautet »Alles um Liebe. Auf Liebe kommt alles an«. Liebe wird nach wie vor in ihrer metaphysischen Verweiskompetenz wahrgenommen, sie steht einer negativen Realität entgegen und beinhaltet das Potential, das menschliche Miteinander positiv zu gestalten und zu beeinflussen. Liebe hat im zweiten Typ einen Erlösungscharakter, sie ist in der Lage, die empirische Negativität, die eine machthungrige, von Gewalt, Unfreiheit, Korruption und Furcht gezeichnete Welt symbolisiert, in eine Welt der Freiheit, des Vertrauens und der Treue zu transformieren (vgl. ebd., 29–30). Schließlich werden die beiden extremen Positionen um einen dritten Typ der Liebe ergänzt, der den »liberal-humanistischen Weg« kennzeichnet. Romane dieses Typs behandeln den Aspekt der Zerbrechlichkeit nicht nur der Liebe, sondern des menschlichen Daseins im Allgemeinen. Liebe ist in diesem Fall wohl eines der wichtigsten Dinge, aufgrund der sozialen Realität jedoch ist sie nicht nur positiv zu sehen, sie kann auch verletzen, da die Leidenschaften nur bis zu einem gewissen Grad kontrollierbar sind. Deshalb kommt es Rohde zufolge darauf an, Vorsicht walten zu lassen und Verständnis gegenüber der oder dem Anderen zu zeigen sowie die Kontingenz des eigenen Standpunktes zu berücksichtigen. Häufig enden Romane dieses Typs in einem Ethos der Vergebung, merkt er bezugnehmend auf Fontane an (vgl. ebd., 30). Für die spanischen Romane des 19. Jahrhunderts gilt dieses Kontingenzbewusstsein in eingeschränktem Maße, das zeigt sich insbesondere darin, dass explizit die Gesellschaft als Kollektiv die Rolle der Normierung übernimmt. Auch wenn es keinen unter einem bestimmten Namen ausgehandelten Liebescode mehr geben sollte, tritt die Sozietät oder die Sprache als Kupplerin auf, sie zieht die Fäden hinter den Handlungen, sie ist in der Lage, über Liebe/nicht Liebe zu entscheiden. Im Zuge dessen überträgt sich die Widersprüchlichkeit der Gesellschaft auf das Verhalten der Romanfiguren, hier lässt sich die Kontingenz, die literarische Werke im restlichen Europa kennzeichnet, auch im spanischen Roman festmachen. Dennoch lösen sich Liebesfigurationen im spanischen Roman um 1900 nicht einfach in Beliebigkeit auf. Vielmehr gehe ich davon aus, dass Literatur vorübergehende Verbindungen mit anderen Subsystemen der Gesellschaft eingeht, welche die unterschiedlichen Liebes- und Romankonzepte beeinflussen. Die Interrelation der Kommunikationsmedien Geld und Liebe äußert sich beispielsweise darin, dass die Figur der Prostituierten Einzug in die Höhenkammliteratur findet. Sie beschränkt ihre Funktion allerdings nicht nur auf die Versinnbildlichung der käuflichen Liebe, vielmehr fungieren Prostitution
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und Prostituierte als Allegorien für eine am Schein ausgerichtete bürgerliche Gesellschaft und für eine an Verkaufszahlen orientierte Romanproduktion. Diese enge Verschränkung der beiden Kommunikationsmedien ist den Zeitgenossen bekannt, wie Pmile Zola anhand seiner Erzählung Comment on se marie et comment on meurt (1893)6 veranschaulicht. In der Pr8face zeichnet er eine knappe historische Typologie der Liebe, die große Ähnlichkeiten zu Luhmanns systemtheoretischen Überlegungen aufweist: Zola sieht die Liebe im 17. Jahrhundert von schwerer Musik begleitet als etwas Großartiges, das einem streng geregelten Code unterworfen ist und vergleicht sie mit einem Herrn, »[qui] reste parfaitement noble, d’une tendresse r8fl8chie, d’une joie honnÞte«.7 Auf diese Liebesvorstellung folgt im 18. Jahrhundert eine Form, die der Liebe die Attribute der Unterhaltung, des Exzesses und der sinnlichen Genüsse zuschreibt. Zola charakterisiert die Zeit als »8poque adorable oF la chair fut reine, grande jouissance dont le souffle lointain nous arrive tiHde encore, avec l’odeur des chevelures d8nou8es« (Zola 1893, o. S.). Die Liebe im 19. Jahrhundert wird schließlich nicht anders beschrieben als »correct comme un notaire, ayant des rentes sur l’Ptat« (ebd.). Sie wird in die arbeitsfreie Zeit verschoben und bezahlt. So wurde aus der heroischen Liebe des 17. Jahrhunderts, der sinnlichen Liebe des 18. Jahrhunderts die positive Liebe, die man wie ein Gut auf der Börse handelt. Zum Geschlechterverhältnis bemerkt Zola sehr knapp, dass die unterschiedliche Erziehung und vor allem unzureichende Bildung der Frauen dazu führe, dass Mann und Frau im 19. Jahrhundert heiraten, ohne sich zu kennen und meist auch in der Ehe nicht mehr kennen lernen (vgl. ebd.). Gemeinsam mit der Positivität verliert die Liebe das Geheimnisvolle des Idealismus aus der Zeit um 1800. Verstärkt wird dies zudem durch eine Erklärung von Liebe als Triebhaftigkeit, wie Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Charles Darwin zeigen (vgl. Rohde 2011, 55). Die sexuellen Triebe werden zwar positiv festgestellt, moralisch dennoch verwerflich gewertet. Auch Arthur Schopenhauer unterstützt in Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) einen Ansatz, der danach trachtet, die Triebe zu überwinden und in ein höher stehendes Gefühl, das Mitleid, zu transformieren (vgl. ebd., 233–234). Die Liebe behält hier ihren Erlösungsgedanken, der auch bei Leo Tolstoi und Richard Wagner sichtbar bleibt, in deren Werken die Tugenden der Entsagung, des Mitgefühls, der Vergebung und der Nächstenliebe von den Widersprüchen des alltäglichen Lebens 6 Comment on se marie erschien 1893 zunächst in einer Beilage der Zeitung Le Journal. Comment on meurt wurde schon 1883 mit anderen Novellen in Buchform veröffentlicht (vgl. Zola 1974, 141). 7 Da in der mir zur Verfügung stehenden Ausgabe der Erzählung Comment on se marie et comment on meurt, das Vorwort fehlt, bezieht sich dieses und alle weiteren Zitate aus der Pr8face auf folgende Internetquelle: http://lettres.ac-rouen.fr/zola/txt/mar_pref.htm, o. S., [18. 06. 2012].
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erlösen sollen (vgl. ebd., 236). Das 19. Jahrhundert, um es noch einmal zu betonen, ist durchzogen von widersprüchlichen Liebeskonzeptionen, gegen eine prosaische, an der Lebenswirklichkeit ausgerichtete Liebe steht ein Heroismus Nietzsches oder der Renaissanceismus vieler französischer wie spanischer Autoren und Autorinnen, die nicht ohne Nostalgie einem verlorenen Ideal nachtrauern. Aus ästhetischer Perspektive fällt besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das erodierte Vertrauen in die Sprache und die noch im 18. Jahrhundert daran geknüpfte Kraft, Wahrheit auszusagen, auf. Bereits die realistischen Autorinnen und Autoren malen mehr durch ausufernde Detailbeschreibungen Szenen der zeitgenössischen Gesellschaft, als diese sprachlich zu fassen, schreibt Alain Vaillant in L’amour-fiction. Discours amoureux et po8tique du roman / l’8poque moderne (2002). Grundlage des Schreibens ist nicht länger ein gutes Gehör, das in der Lage wäre, einen geistreichen Gedanken aufzuschnappen, sondern eine gute Beobachtungsgabe, die aus dem Beobachteten mögliche pathologische Symptome deduzieren kann (vgl. Vaillant 2002, 58). Erotische Beschreibungen der realistischen Literatur dienen nicht dazu, Illusionen hervorzurufen wie beispielsweise der zeitgleich florierende triviale Liebesroman, stattdessen sollen die Fallen der sentimentalen Rhetorik dekonstruiert werden. Die narrative Distanzierung ermöglicht durch eine wie am Seziertisch ausgebreitete und zerstückelte Erotik, die Gültigkeit von gesellschaftlichen Codes in Bezug auf Liebe aufzuzeigen. Damit präsentiert der Diskurs nicht nur politische, sondern auch poetologische Implikationen (vgl. Vaillant 2002, 63). Spanische Autorinnen und Autoren der Jahrhundertwende greifen auf unterschiedliche Elemente der oben dargestellten Liebesdiskurse zurück, wobei zwei Konzepte als Ausgangspunkt oder Kontrastfolie der literarischen Produktion auf besonderes Interesse stoßen: Stendhals Kristallisationsmetapher und Jos8 Ortega y Gassets Konzeption der Liebe als Fliehkraft. Am Übergang von Realismus zu Modernismo oszilliert Liebe im spanischen Roman zwischen Repräsentation und Erleben, wie nachfolgende Typologie veranschaulicht.
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Liebe – poetologisch und kulturell L’amour est comme ce qu’on appelle au ciel la voie lact8e, un amas brillant form8 par des milliers de petites 8toiles, dont chacune est souvent une n8buleuse. (Stendhal)
Ästhetische und poetologische Überlegungen zur Dichtkunst im Allgemeinen aber auch zum Roman im Speziellen bewegen sich zur Jahrhundertwende im Spannungsfeld von Kunst, Religion und Wissenschaft. Während Poetiken den Diskurs des eigenen Systems aufgreifen, ist die Ästhetik als Theorie der Kunst systemtheoretisch gesprochen ein Subsystem der Wissenschaft, auf dessen Diskurse ebenso sehr wie auf jene des Systems Religion als Umwelt rekurriert wird. Diese der Literatur systemfremden Diskurse fließen transformiert in die poetologischen Überlegungen der Autoren und Autorinnen um 1900 ein. Allen spanischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern gemein ist ein Streben, das in Europa und auch innerhalb der iberischen Halbinsel als rückständig wahrgenommene Spanien dem Fortschritt anzunähern. Dies lässt sich anhand der Innovationen im Bereich des Romans erläutern, der Mitte des 19. Jahrhunderts eine erste Hochphase erlebt.
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Mystische Liebe als ästhetische Konstante der langen Jahrhundertwende
Neben dem Positivismus, dessen Methode der wissenschaftlichen Studie und detaillierten Beobachtung von realistischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen aufgegriffen wird, oder unterschiedlichen Techniken der Malerei und des Film, die in den modernistischen Schreibstil einfließen, zeigt sich die Mystik als bevorzugter Diskurs, um Gattungsinnovationen der gesamten Jahrhundertwende zu legitimieren und die ästhetische Seite von Liebe zu thematisieren. Mystik, so die vorherrschende Ansicht der Jahrhundertwende, verbindet Gegensätzliches, ohne die jeweiligen Eigenheiten der Oppositionen in einer Synthese zusammenzuführen. Stellvertretend für den realistischen und modernistischen Schreibmodus sowie für den Modus des Epochenwandels möchte ich kurz anhand von Juan Valera, Emilia Pardo Baz#n und Miguel de Unamuno den Einfluss von mystischer Liebe auf die jeweiligen ästhetischen Ansprüche aufzeigen.
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4.1.1 Juan Valeras ästhetische Mystik Valeras befremdlich anmutender Rückgriff auf eine Gottesvorstellung im Rahmen ästhetischer Überlegungen einer autonomen Kunst argumentiert der Schriftsteller aus seinem Liebeskonzept heraus: es gebe lediglich eine Liebe, die sich in unterschiedlichen Manifestationen zeige. Da Ursache und Ziel der zwischenmenschlichen Liebe in der Selbsterhaltung liegen, lässt sich für den spanischen Autor jegliche asexuelle Form der Liebe wie jene zu Wissenschaft oder Kunst nur über einen Gottesbezug erklären, wobei sich allerdings das Schöne und das Gute – trotz ihrer Einheit – nicht vermengen (vgl. VOCII 1585).1 Diese paradoxe Argumentationslinie der Vielfalt in der Einheit führt der spanische Autor fort, wenn er erläutert, dass der Künstler oder die Künstlerin die wahrgenommene ›trübe‹ Schönheit der Natur im Vergleich mit der empfangenen Idee des Schönen reinige und so eine artifizielle Schönheit schaffe. In einer Gegenüberstellung von religiösem Empfinden und Kunstsinn diagnostiziert Valera den Vorteil der Mystik in ihrer Ganzheit: während in der Kunst die Schönheit nie simultan, sondern stets nur in Teilen erfasst werden kann, auch wenn die Erinnerung und die Imagination eine Annäherung an das Erfassen des gesamten Kunstwerkes darstellen, operiert die Mystik in einem totalen Sinne, indem das göttliche Objekt im Ganzen die Seele der Betrachtenden einnimmt. Dort angekommen, genießen Mystikerin oder Mystiker, wenngleich sie nicht in der Lage sind, diese absolute Schönheit zu beschreiben oder darzustellen (vgl. VOCIII 1446).2 Valeras Anleihen am mystischen Diskurs gehen soweit, dass er die ästhetische Liebe als »un grado m#s en la escala de perfeccijn del amor« (VOCIII 1445) bezeichnet. Die Mystik steht dabei nicht in Opposition zur Kunst, sondern sei »un complemento y el t8rmino infinito de su progreso y desarrollo. El arte es una preparacijn, un medio, una proped8utica del misticismo« (VOCIII 1445). In der Mystik nun den grundlegenden Erkenntnisweg des spanischen Schriftstellers zu sehen, wäre dennoch ein Trugschluss. Als ästhetische Kategorie stellt Valera die Liebe in die Nachfolge der mystischen Liebe, der unbedingten, interesselosen Zuneigung einer Santa Teresa oder eines San Francisco. Dennoch warnt er gleichsam ironisch alle Künstlerinnen und Künstler davor, sich nun in den Mystizismus zu stürzen, um ästhetische Liebe in eine spirituelle Sphäre zu erheben. Auf diese Weise würde die Kunst zu Grunde gehen, die Kunstschaffenden benötigen eine interesselose, unbegründete Liebe als Anregung, danach sollte diese Emotion jedoch in eine neue Form gebracht 1 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle VOCII auf Juan Valera (1961): Obras completas II, Madrid: Aguilar. 2 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle VOCIII auf Juan Valera (1958): Obras Completas III, Madrid: Aguilar.
Mystische Liebe als ästhetische Konstante der langen Jahrhundertwende
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werden (vgl. VOCIII 1444). Überdies gibt er zu bedenken, dass Mystikerinnen und Mystiker als solche die Schönheit von Kunst und Natur verabscheuten (vgl. VOCIII 1445). Mehr als um eine mystische Haltung geht es um Kunst, worauf Jean Krynen und Arturo Garc&a Cruz zu Recht hingewiesen haben, wenn sie Valeras Religionsverständnis als ästhetisiert charakterisieren. Glaube und Imagination fallen nur dort zusammen, wo sie die Grenzen der Wissenschaft überschreiten. Valera selbst unterscheidet Religion und Kunst in seinen literaturkritischen Schriften nicht durchgängig (vgl. Garc&a Cruz 1978, 71), seine mystische Ästhetik oder seine ästhetisierte Mystik bedarf demnach einer Kontextualisierung in der Naturalismusdebatte seiner Zeit. Wie die Wissenschaften suchen auch Kunst und Religion nach der Essenz der Dinge. Aufgrund ihrer irrationalen Anlage erhalten sowohl religiöse Praktiken und Dogmen als auch künstlerische Schöpfungen den Glauben an das Verborgene und Wunderbare aufrecht. Gemeinsamkeiten der beiden Systeme finden sich in den Effekten, die sie hervorrufen, denn »ambos conducen al amor, al optimismo y son una tabla de salvacijn contra los males que acarrea el escepticismo« (ebd., 75). In einem unbekannten Unendlichen gelingt es der Imagination, sich frei von allen Systemzwängen zu bewegen und immer neue Formen der Kunst hervorzubringen. Und dennoch liegt Valera, trotz des Plädoyers für Irrationalität, nichts ferner, als dieser den Vorzug über rationale Erkenntnisformen zuzuweisen. Im Gegenteil, er spricht sich für die gleichberechtigte Beachtung aller unterschiedlichen menschlichen Fähigkeiten aus – wie sie in den zwei konträren Systemen Wissenschaft und Kunst aufzufinden sind –, ohne Präferenz (vgl. VOCIII 1095). Kunst als Wissenschaft auszugeben, widerstrebt ihm jedoch zutiefst, wie anhand seiner Bestimmung des naturalistischen Romans deutlich wird.
4.1.2 Pardo Bazáns kritischer Mystizismus Wie auch den einzelnen Prologen der galicischen Autorin entnommen werden kann, orientiert sich Pardo Baz#n in ihrem Romanverständnis nicht an einem kohärenten philosophischen System oder einer einzelnen Schule. Schon die Lektüre der Apuntes autobiogr#ficos (1886) führt auf ihre dynamisch konzipierte Poetik hin. Um die physischen und metaphysischen Dinge einer modernen Wirklichkeit erfassen zu können, bedient sich Pardo Baz#n zweier Methoden – der spanischen Mystik und des Kritizismus’ Kants: »Me persuad& de que para lo de tejas arriba me conven&a la filosof&a m&stica, que sube hacia Dios por medio del amor, y para lo de tejas abajo, el criticismo, m8todo prudente que no
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anda en zancos, pero no expone a ca&das« (POCIII 711).3 Für ihre Schreibweise ausschlaggebend ist dabei eine synkretistische Vorgehensweise, die unterschiedliche Lektüreergebnisse je nach dem ihnen beigemessenen Gewicht verbindet. Noch im Prolog zur vierten Ausgabe von La cuestijn palpitante verweist sie darauf, dass sich ihre ästhetischen Ideen seit der Erstveröffentlichung wohl weiterentwickelt, an der Basis jedoch kaum verändert haben und nach wie vor von Kritizismus sowie Mystik und vor allem vom Kombinieren der beiden Weltzugänge getragen werden: […] estos principios inmutables e inmejorables en que se basa mi est8tica, ni me pertenecen ni pertenecen a nadie en propiedad exclusiva: son a la cr&tica lo que el m8todo experimental a la ciencia: el fundamento, la base, el b#culo para caminar y no caerse: desde ellos se puede lanzar el juicio a otras regiones; sin ellos no se va a ninguna parte. […] Completarse sin desmentirse, es tal vez el ideal del pensamiento. (CP 110)4
Mit ihrer offengelegten Praxis verkörpert Emilia Pardo Baz#n die moderne Gesellschaft, die sich, wie Richard Rortys Ironikerin, kulturelle Inspiration aus den jeweils bestgeeignetsten Diskursen holt, wohlwissend, dass dieses Vorgehen selbst kontingent und historisch ist (vgl. Rorty 2004, 14). Der Rekurs auf mystische Diskurse prägt auch die literarische Produktion im restlichen Europa. Doch im Gegensatz zur Fin-de-SiHcle-Literatur Frankreichs, definiert die spanische Autorin Mystik nach der nationalen literarischen Tradition nicht ausschließlich spirituell, sondern als monode&smo intelectual dessen hervorragende Merkmale »la atencijn«, »la voluntad«, »la fijeza« und »la energ&a« sind (vgl. POCIII 1181). Aufmerksamkeit, Beharrlichkeit, energisches Auftreten und ein starker Wille zeichnen sodann auch die literarische und kritische Produktion der Autorin selbst aus.
4.1.3 Miguel de Unamunos mythische »biunidad« Der Rückgriff auf die Mystik erlaubt es Unamuno (1864–1936), wie bereits schon davor Juan Valera, Emilia Pardo Baz#n oder Clar&n und Ramjn del Valle-Incl#n, Oppositionen zu verbinden, die sich nicht nach der hegelianischen Dialektik in einer Synthese auflösen lassen oder im harmonischen Rationalismus der Krausisten vereinen. Unamuno verbindet Mystik zusätzlich noch mit der Vorstellung eines Mythen schaffenden Autors, dessen Ziel in der emotionalen 3 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle POCIII auf Emilia Pardo Baz#n (1973): Obras completas III. Cuentos. Cr&tica literaria (Seleccijn), hg. von Harry L. Kirby, Madrid: Aguilar. 4 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle CP auf Emilia Pardo Baz#n (1989): La cuestijn palpitante, hg. u. eingel. von Jos8 Manuel Gonz#lez Herr#n, Santiago de Compostela: Anthropos.
Mystische Liebe als ästhetische Konstante der langen Jahrhundertwende
101
Aufrüttelung seiner Lesenden liegt. Durch die Technik, sich widersprechende Positionen alternierend zu affirmieren – schreibt Rogelio Garc&a Mateo –, entsteht in den Lesenden selbst die intendierte Gefühlsmischung, die der Mystik entsprungen ist (vgl. Garc&a Mateo 1998, 680). Eine mystisch gefasste Leidenschaft wird somit zum Strukturprinzip von Unamunos Romanen. Der Autor bezeichnet diese Vermengung in seinem Gedicht »El Cristo de Vel#zquez« als »alterutral«, das eine und das andere, oder in einer anderen Wortschöpfung als »biunidad«, ein Begriff, der den dynamischen Prozess der Verschmelzung des Göttlichen mit dem Menschlichen benennt (vgl. ebd., 683–684). Diese Mischung von Extremen lässt sich schließlich auch in Unamunos Menschenbild finden, denn weder das ewig Männliche noch das ewig Weibliche, sondern die Kombination aus männlichen und weiblichen Attributen im Menschen charakterisieren seinen idealen Mystiker (vgl. ebd., 682). Der Dichter oder die Schriftstellerin fungiert in diesem Ansatz als Prophet und Mythengestalter, der auf Dinge aufmerksam macht, vor denen sich die Menschen verschließen, so schreibt Unamuno in »Yo, individuo, poeta, profeta y mito« (1922). Da Unamuno die Realitätswahrnehmung eng an den Sprachgebrauch knüpft, sagt der Dichter in dem Sinne Dinge voraus, als sein kreatives Wort die Wirklichkeit verändert: »Y as& el profeta predice y augura y anticipa y adivina; no porque diga lo que ha de ocurrir, sino porque ocurre lo que 8l dice. El que escribe historia hace historia. El que crea un mito crea una fuente de realidades futuras« (UOCVIII 477).5 Mit dem kreativen Wort werden neue Wirklichkeiten geschaffen. Das poetisch schreibende Subjekt rekurriert auf ein konstruktiv-performatives Realitätskonzept und ist sich dessen bewusst, neue Mythen inklusive seiner selbst ins Leben zu rufen. Auf Liebe als kulturelle Kategorie übertragen, bedeutet der Rekurs auf die Mystik eine Ablehnung eines auf reine Selbstaufgabe ausgerichteten Liebesverständnisses. Vielmehr hebt die mystische Liebe die Transformation des Ich auf, das eine Übersteigerung erfährt, ohne sich dabei selbst zu verlieren. Rogelio Garc&a Mateo sieht darin das Liebeskonzept der caritas angedeutet (vgl. Garc&a Mateo 1998, 683). Wenngleich die christliche Nächstenliebe die epistemologische und ontologische Seite von Unamunos Konzept gut erfasst, bleibt die ästhetische dabei unberücksichtigt. Dabei gilt gerade die unlösbare Opposition zwischen Ästhetik und Ethik als produktionsästhetische Antriebsfeder und verbindet Unamuno mit Juan Valera, Emilia Pardo Baz#n, Hegel oder Kierkegaard (vgl. Navajas 1992, 99). Die ethische Kategorie der compasijn ist im literarischen Kontext als Rezipienten-Figurenidentifikation von Relevanz, da
5 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle UOCVIII auf Miguel de Unamuno (1966): Obras completas VIII. Autobiograf&a y recuerdos personales, Madrid: Escelicer.
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Liebe – poetologisch und kulturell
Unamuno die Lesenden auffordert, die literarisch geformten existentiellen Problemstellungen der Figuren zu reflektieren und mitzuerleben. Um 1900 wird somit der religiöse Diskurs über das Randphänomen der Mystik aufgegriffen und ästhetisiert in den Kunstdiskurs integriert, um entweder Liebe als produktionsästhetische Voraussetzung zu beschreiben, den Roman von wissenschaftlichen Texten abzugrenzen oder aber das Ineinander-Greifen gegensätzlicher Bereiche wie Literatur und Leben zu verdeutlichen. Realismus und Modernismo rekurrieren dabei gleichermaßen auf die mystische Tradition Spaniens.
4.2
Zur Koevolution von Liebe und ästhetischen Neuerungen
Liebe als ästhetische Kategorie gedacht, orientiert sich zunächst an der Liebe zur Literatur, die als aktivierende Kraft verstanden, immer neue Romanformen generiert. Auf diese Weise lässt sich die Ausdifferenzierung des Romans seit der Moderne um 1800 in unterschiedliche Gattungen erklären. Liebe selbst wird wie der Roman im genannten Zeitraum jedoch kaum definiert, die unterschiedlichen Texte umschreiben meist die Liebe und stellen – typisch für die Moderne – keine klar umrissene Begrifflichkeit zur Verfügung, sondern behandeln einzelne Facetten oder Fragmente des komplexen Themas, wie die gewählten Romane bezeugen, die nach der unterschiedlichen Gestaltung von leidenschaftlicher Liebe ausgewählt wurden. Gleichsam als poetologische und kulturelle Kategorie gedacht, veranschaulicht Liebe in den ausgewählten Werken einzelne Facetten von Liebe um 1900, die mit den Attributen interesselos, durchschaubar, skalar, uneingeschränkt, polyphon, ekstatisch, lebendig und zeitenthoben präzisiert werden können. Um die ästhetischen und kulturellen Entwicklungen zu veranschaulichen, lassen sich die Liebesfigurationen zu drei unterschiedlichen Typen verdichten: 1) Liebe als Praktikabilität: dieser Typ entspricht realistischen Romanen. Liebe und Roman werden nach ihrer Realisierbarkeit ermessen und grenzen sich von impraktikablen, lediglich imaginären Liebesbeziehungen und Romanprojekten ab. 2) Liebe als spielerisch reflektierte Diskurse: Dieser Typ fasst Schreibweisen, die Anteil am realistischen und am modernistischen Modus haben. Dabei entspricht der kritische Anspruch einer Tendenz zum realistischen Schreiben, die spielerische und experimentelle Komponente einem Hang zum modernistischen Schreibmodus. Die in den Romanen integrierte Reflexion von Liebe als Diskurs in ihrem Wechselverhältnis zur kulturell gelebten Liebe korreliert mit gehäuft auftretenden selbstreflexiven Passagen der Romane und der Suche nach neuen Ausdrucksformen. Schließlich lässt sich aus dem Texkorpus ein weiterer Typ ableiten: 3) Liebe als Intensivierung. Hier liegt der Schwerpunkt auf einem intensivierten Handeln der Schriftstellerinnen und Schriftsteller
Zur Koevolution von Liebe und ästhetischen Neuerungen
103
sowie auf einem gestärkten Erleben der Rezipienten. Die neue Opposition von Liebe als Intensivierung bildet Bewegungslosigkeit bzw. Abgeschlossenheit. Alle Autorinnen und Autoren rekurrieren in ihren poetologischen Überlegungen auf das Argument der Offenheit und der Freiheit der Gattung Roman, die weder in formaler noch in thematischer Hinsicht Einschränkungen duldet. Zudem basieren ihre Poetiken auf Liebe als ästhetischer Kategorie oder als poetologischem Element, das von einer Liebe ausgeht. Auf diese Weise kann gezeigt werden, dass Liebe den Epochenwechsel von Realismus zu Modernismo einerseits als Romanthema dokumentiert, andererseits aufgrund ihrer vermehrt reflektierten Schöpferkraft im Kontext der literarischen Entwicklungen bedingt. Der Epochenwechsel von Realismus zu Modernismo ist hierbei von besonderem Interesse, da die Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft ein reentry erfährt und im Kunstsystem selbst noch einmal aufgegriffen wird. Die von Niklas Luhmann festgestellte Leitdifferenz der modernen ausdifferenzierten Gesellschaften findet ihren Höhepunkt in der Romantik mit der Unterscheidung von Liebe und Diskurs über Liebe, wobei sich die ›wahre Liebe‹6 durch eine unmögliche Kommunizierbarkeit auszeichnet. Auf das Subsystem der Literatur übertragen, bedeutet dies, dass sich in der Romantik ein autonomes und von der gesellschaftlichen Umwelt unabhängiges Romanverständnis durchsetzt. Durch die großen Umbrüche der Moderne wird Sprache nun opak gesehen, sie verliert ihren repräsentativen Charakter (vgl. MCH 309). Im Kontext der Liebe bedeutet dies, dass sich das Gefühl vordergründig durch seine Inkommunikabilität auszeichnet. Konsequenterweise folgt daraus eine begehrende Beziehung zwischen Liebe als Gefühl und Liebesdiskursen als Praxis und Reden der Lebenswelt oder Literatur. Diese Relation ist von einem unerfüllten Streben gekennzeichnet, da ein Erreichen des ›wahren‹ Gefühls unumgänglich verloren ist, wie Schema 1 veranschaulicht.
6 ›Aufrichtige Liebe‹ oder ›wahre Liebe‹ bezeichnen hier und in Folge das besonders in der Romantik literarisch gestaltete Sehnen nach einer unvermittelten Liebe, die von den anderen und der Sprache unabhängig erlebt wird und Authentizität verbürgen soll (vgl. Knaller 2007, 56). Diese inkommunikable Liebe wird im spanischen Roman um 1900 hinterfragt, weshalb ich sie uneigentlich gebrauche und unter Anführungszeichen setze. Der Authentizitätsanspruch verlagert sich von einer Liebe, die den Diskursen gegenübersteht, auf das Aufzeigen der wechselseitigen Wirkkraft zwischen Liebe und Diskursen. War in der Romantik nur außerdiskursive Liebe echt, ist es im Realismus gerade die Relation von jeweiligem Diskurs und der sich daraus verlebendigenden Liebe, welche die Authentizität begründet, da die bestimmende Komponente des Realismus, wie Susanne Knaller in Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität (2007) erläutert, in der Referenzauthentizität liegt (vgl. ebd., 26).
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Liebe – poetologisch und kulturell Liebesfigurationen in der Romantik
Inkommuni-
Liebesdiskurse
kabilität von
in Lebenswelt
Liebe als Gefühl
und Literatur
Schema 1
Liebe ist nach Luhmann als Passion, als ein passives Erleiden konzipiert, das mit der Romantik seinen Höhepunkt erreicht, da eine glückliche Erfüllung der Liebe nur im Jenseits – sprachlos – erfolgen kann (vgl. LP 176). Diese Leitdifferenz zwischen Liebe und Diskurs über Liebe wird auch nach der Romantik immer wieder aufgegriffen, doch verliert sie mit dem Realismus an Pathos. Mehr noch: Mit dem realistischen Schreiben wird die Ununterscheidbarkeit von Liebe und Diskurs über Liebe zentraler Bestandteil von Liebesfigurationen. Besonders eindeutig wird der Zusammenhang von erzählter Liebe und Emotion anhand von Kuppler- und Verführerfiguren, die in unterschiedlichen Variationen alle untersuchten Romane auszeichnen. Neben der vermeintlich guten Freundin Visitacijn in La Regenta, die Don ]lvaros Liebe zu Ana Ozores erkennt oder Unamunos Tula, die ihre Schwester mit Ramiro verkuppelt, sind auch männliche Figuren, die zur Entwicklung einer Liebe beitragen, aktiv : In Pepita Jim8nez tragen der Vikar, der Dekan und der Vater Pedro de Vargas zum Liebesglück von Pepita und Luis bei, während der Priester Julian in Los Pazos de Ulloa die Liebe für Nucha im Marquis entfacht. Neben der Natur, symbolisiert im Frühling oder in der Noche de San Juan (Pepita Jim8nez und La Madre Naturaleza), fungiert auch die Kunst als Celestina, indem Violinen-Stücke (La Regenta), Opernarien (DoÇa In8s), Flamenco-Lieder oder Märchen (Tigre Juan/El Curandero de su honra) aber auch historische Erzählungen, literarische und philosophische Texte (Tristana, Niebla, DoÇa In8s und Sonatas) liebesfördernd eingreifen.
4.2.1 Verlebendigung von Opern, literarischen Texten und Flamenco-Liedern Liebeskonzepte um 1900 heben die unumgängliche kulturelle oder literarische Vermitteltheit von Liebesvorstellungen hervor, ohne darin eine Qualitätsminderung der gesuchten Emotion zu vermuten. Nicht nur die fingierte Liebe eines
Zur Koevolution von Liebe und ästhetischen Neuerungen
105
Don Juan kann aus der Rezeption literarischer Gestaltungen gelernt werden, die ›wahre‹ Liebe wird ebenfalls seit jeher von Dichtern besungen, dergestalt, dass »antes de sentirlo lo conocemos, lo estimamos y nos proponemos ejercitarlo, como un arte o un oficio«, wie Jos8 Ortega y Gasset schreibt (EA 567). Die Autorinnen und Autoren der langen Jahrhundertwende gestalten je unterschiedlich das Verhältnis von Liebe und Diskurs über Liebe. Juan Valera konfrontiert etwa eine angelesene Liebe mit einer realisierbaren, Clar&n lässt seine Protagonistin Ana Ozores dieses in Literatur und Geschichtsschreibung häufig erwähnte außergewöhnliche Gefühl suchen, Emilia Bardo Paz#n kontrastiert die Vorstellung einer natürlichen mit einer durch Bibellektüren geprägten Liebe oder Unamuno und Valle-Incl#n, die ihre verliebten Protagonisten in ihren Handlungen von literarischen und philosophischen Texten beeinflusst zeigen. Besonders deutlich präsentiert jedoch Ramjn P8rez de Ayala diese Entdifferenzierung, nicht ohne die Interdependenz von Diskurs über Liebe und Liebe ironisch zu brechen. Dabei bilden in den Romanen Tigre Juan und El curandero de su honra (1926) keine philosophischen Konzepte die Hintergrundfolie, sondern Vorstellungen, die in der Masse der Gesellschaft kursieren, wie etwa Märchen, bekannte Dramen oder Lieder. In einer Rückblende erfahren die Lesenden, dass Tigre Juans Liebesvorstellungen seit seiner ersten Ehe mit Engracia von Flamencoliedern geprägt wurden: Era andaluza, de gentil figura, cenceÇa, armonioso el porte, rostro #rabe, de fino jvalo, suave piel de cera y ojos de aceituna. Al igual de las mujeres de Oriente, reconoc&a la cualidad masculina por excelencia en el imperio celoso y rudo. Desde niÇa, y en la masa de la carne, ten&a inculcado el sentimiento de que el amor es una pasijn sanguinaria. […] De la maÇana a la noche cantaba, con voz aterciopelada y dolorida, coplas flamencas –soleares, peteneras, saetas y esas canciones tan tristes que llaman »alegr&as«–, en las cuales siempre se celebraba el crimen por celos y el fatal ayuntamiento de amor y muerte. Con tales ingredientes de latinidad pat8tica, se estaba fraguando la eleg&a roja, el drama. (TJ 607)7
Die in den Flamenco-Liedern besungene Liebesvorstellung entspricht einem blutrünstigen Leidenschaftskonzept, das eine ganz andere Kombination von Liebe und Tod als jene der europäischen Romantik präsentiert. Nicht als erstrebenswerte Erlösung, welche die Verschmelzung der beiden Liebenden auf ewig gewährleistet, sondern als potentielle Lebensbedrohung aufgrund von Eifersuchtsdramen, von getarnten Besitzansprüchen einer patriarchal organisierten Gesellschaft sind Liebe und Tod aneinander gekettet. Im kulturellen Kontext des Orients präsentiert, verlebendigt die Beziehung zwischen Engracia und Tigre Juan dieses pathetische Konzept, denn eines Nachts stranguliert Tigre 7 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle TJ auf Ramjn P8rez de Ayala (1998): Tigre Juan, in: ders.: Obras completas II, hg. von Javier Serrano Alonso, Madrid: Castro, 531–649.
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Liebe – poetologisch und kulturell
Juan letztlich blind vor Eifersucht seine unschuldige Ehefrau. Das mittels Flamenco-Liedern repräsentierte pathetische Leidenschaftskonzept hat sich in Tigre Juans Charakter derart eingeschrieben, dass er auch mit seiner neuen Liebe, Herminia Buenrostro, und nach seiner Verwandlung nur ein Liebeskonzept, das die Eifersucht inkludiert, leben kann. Neben den wohlbekannten Liedern und der Anspielung auf Calderjn de la Barcas Ehrendrama El m8dico de su honra wird die mündliche Tradierung von Märchen herangezogen, um das Ineinandergreifen von künstlerisch geformten Liebesvorstellungen und realem Lieben zu veranschaulichen. In diesem Fall ist es DoÇa Iluminada, die Herminia mit einem Märchen auf die Ehe mit Tigre Juan vorbereiten möchte, das an Die Schöne und das Biest erinnert: Ella misma se ofrece al sacrificio. Sin otras armas que su flaqueza, su bondad y su hermosura, se adentra, decidida en la cueva del dragjn. […en la cueva…] La doncella se arrodilla y abre los brazos en cruz, disponi8ndose a bien morir. En este instante, ¡zas!, como por efecto de magia, el dragjn, que es un pr&ncipe encantado, torna en su ser propio, estrecha a la doncella contra su corazjn, suspir#ndole al o&do: Si por tu gentileza me hab&as hechizado, por tu esp&ritu de sacrificio me has librado del encanto; se casa con ella y… Color&n, colorado. Ahora, Herminia, a desencantar al infeliz dragjn. No te digo m#s. (TJ 645)
Die Wirkung dieses Märchens auf Herminia wird in der Hochzeitsnacht deutlich, wenngleich die Erzählerkommentare die Komik der Situation deutlich machen. Herminias Ängste vor dem Monster und der Hochzeitsnacht stehen Tigre Juans eigenen Ängsten gegenüber (vgl. CH 675). Wie der christliche Erlöser opfert sich Herminia den Küssen ihres Mannes: »Sintij aquellos besos como clavos que le perforasen en el cr#neo y las palmas, sujet#ndola de firme a los leÇos del t#lamo, igual que en una cruz« (CH 691).8 Das von diesem Märchen transportierte Konzept, insbesondere, da es DoÇa Iluminada vorstellt, kann als eine vom christlichen Passionsgedanken beeinflusste Liebesvorstellung gedeutet werden, die ein Opfer zur Voraussetzung der Erlösung im Sinne eines glücklichen Lebens macht. Ähnlich fungieren Liebesdiskurse der Kunst in Azor&ns DoÇa In8s (1925). Azor&n veranschaulicht die Interdependenz von erlebter Liebe und ästhetisch geformter Liebe, indem das Sich-Verlieben von DoÇa In8s und Don Diego durch den Kunstgenuss vorstrukturiert wird. Im Hause ihrer Tante wird DoÇa In8s mit Bellinis Oper Die Puritaner (1835) und Erzählungen über Don Diego konfrontiert. Das dreizehnte Kapitel, sprechend mit T&a Pompilia y el pianoforte betitelt, stellt die erste Erwähnung des Dichters aus Garcill#n in den Kontext einer ro8 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle CH auf Ramjn P8rez de Ayala (1998): El curandero de su honra, in: ders.: Obras completas II, hg. von Javier Serrano Alonso, Madrid: Castro, 651–783.
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mantischen Oper. Die Tante beginnt am Klavier sitzend zu singen, unterbricht dabei ihre Aufführung, um Diego de Garcill#n als Wunderkind zu preisen, während ihre Nichte das Libretto studiert.9 Die Protagonistin wird durch die Musik und die Reden ihrer Verwandten emotional vorbereitet, unterdessen beschäftigt sich der zukünftige Geliebte und Dichter mit romantischen Lektüren. Kontemplativ nähert sich der Poet seinem Zeitgenossen Campoamor, dessen Poes&as er sich kürzlich kaufte. Ein Hinweis auf das Jahr 1840 situiert den Handlungsverlauf ferner in der spanischen Romantik (vgl. DI 133). Seine Lektüren begleiten Don Diego selbst auf seinen Spaziergängen zum Alc#zar, wo er schließlich eines Tages im Frühsommer DoÇa In8s sehen wird. Noch bevor es zum entscheidenden Augenblick kommt, wird Don Diego im zentralen Kapitel des Romans XXVI La flecha invisible als liebeskrank dargestellt: Diego experimenta una ansiedad que no puede definir ; a veces se siente exaltado, y otras parece hundirse en un abismo. Quisiera hacer algo que no sabe lo que es. Cuando la naturaleza toda r&e, 8l siente honda melancol&a; en los crepfflsculos vespertinos, al tiempo que surge el lucero, su esp&ritu se estremece con una sensacijn indefinible. (DI 141)
Diese Mischung aus Melancholie und Überspanntheit, die Gefühlslage der Romantiker schlechthin, löst sich bald darauf im ersten Augenkontakt der beiden Protagonisten auf. Während die Konfrontation der Protagonisten mit romantischer Liebe in Literatur und Oper lediglich zur Stimulierung der Phantasie diente und ihre Gefühlslage auf Liebe einstellte, führt erst das ›reale‹ Zusammentreffen zu einer intensivierten Wahrnehmung der Wirklichkeit und damit zu einem gesteigerten Lebensgefühl, das für den dritten Typ Liebe als Intensivierung charakteristisch ist. Deutlich wird dadurch, dass Liebesreden das Gefühlsleben nachhaltig beeinflussen. Der Roman speist sich nicht nur aus der außerliterarischen Wirklichkeit, seine erzählte Liebe wirkt auf diese zurück. Die Ausdifferenzierung der Liebe in Liebe und Diskurs über Liebe oder ›objektive Realität‹ und Fiktion wird in Abgrenzung zur Romantik somit obsolet. An ihre Stelle tritt der Gedanke einer Wechselwirkung, die nicht nur Literatur und Wirklichkeit, sondern auch die beiden Liebenden einander annähert. Dadurch wird das Attribut der Inkommunikabilität, so meine erste These, zugunsten einer Gleichsetzung von Liebe und Diskurs über Liebe verworfen, wie Schema 2 veranschaulicht. Mit der Auflösung der Leitdifferenz Liebe und Diskurs über Liebe wird die Praktikabilität als neues Charakteristikum zur Umschreibung von Liebe he9 Bel sogno beato, / D’amore e contento / O cangia il mio fato, / O cangia il mio cor. De nuevo se interrumpe: –Esto quien lo canta deliciosamente es Diego el de Garcill#n. Diego el de Garcill#n es un portento; es nuestro poeta. ¿Te han hablado ya de Diego el de Garcill#n? Ya conocer#s a Diego. (DI 108).
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Liebe – poetologisch und kulturell Liebesfigurationen der langen Jahrhundertwende
Liebesdiskurse
Liebe als
in Lebenswelt
Gefühl
und Literatur
Schema 2
rangezogen. Ausschlaggebend für Liebe ist nun, ob und wie gehandelt wird. Dabei scheint es einerlei, ob es sich um eine literarische Figur oder um reale Menschen handelt. Die Frage, ob die Handlung lediglich in Gedanken durchgeführt wird, oder aber konkret realisiert wird, tritt ebenso in den Hintergrund. Realistische Liebesdarstellungen enden nicht mehr zwingend mit dem Tod, vielmehr verlaufen sie im Alltag. Von Interesse ist damit nicht länger die literarische Gestaltung der Inkommunikabilität des Gefühls, sondern die Modellierung der Praktikabilität von Liebe. Liebesfigurationen veranschaulichen nun die durch das Sich-Verlieben der Figuren ermöglichten Persönlichkeitsveränderungen, Erfahrungen oder angestoßenen Ereignisse, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der aktivierenden Wirkung der Liebe und den konkret daraus folgenden Handlungen. Diese Verlagerung der Liebe in den Bereich des Positiven korreliert mit einer Abwertung von Liebe als passivem Erleiden. Die Verschiebung der Aufmerksamkeit von einer letztlich unstillbaren Sehnsucht hin zur Tätigkeit korreliert mit einer um 1900 viel zitierten Metapher : Stendhals Kristallisations-Konzept stellt eine bedeutende Referenz für das realistische und modernistische Schreiben gleichermaßen dar. Denn Autorinnen und Autoren um 1900 greifen diese Metapher auf, um entweder das Wirken der Liebe als geistige Tätigkeit zu beschreiben, und damit Stendhals Konzept zu bestätigen, oder um die imaginierte Liebe mit einer abweichenden realen Liebe zu kontrastieren und insbesondere den körperlichen Aspekt dieser realen Liebe hervorzuheben.
4.2.2 Stendhals Kristallisations-Konzept 1843 verfasst Stendhal seine Studie De l’Amour, in der er vier Liebestypen differenziert. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass alle Typen nach denselben
Zur Koevolution von Liebe und ästhetischen Neuerungen
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Gesetzen geboren werden, leben und sterben oder in die Unsterblichkeit eingehen: 1) l’amour passion, 2) l’amour-go0t, 3) l’amour-physique, 4) l’amour de vanit8 (DAI 31). Die zärtliche Seele entflammt in l’amour-passion und ist untröstlich über ihre eigene Unfähigkeit, den Exzess der Gefühle zu verheimlichen, die prosaische Seele hingegen sieht jede Begegnung zufrieden als einen weiteren gelungenen Schritt in der Galanterie. Während der Liebeswahn den Betroffenen die Sprache verschlägt und die Eloquenz abspricht, prescht der Galante zufrieden voran. Für Stendhal ist offensichtlich, dass sich die leidenschaftliche Liebe durch einen Sprachverlust oder durch eine wundersame, unerklärliche Sprachkenntnis auszeichnet, denn »Sans s’en douter, un homme vraiment touch8 dit des choses charmantes, il parle une langue qu’il ne sait pas« (DAI 162). Kurz, die leidenschaftliche Liebe erhebt den Menschen über seine Interessen, die amour-go0t indessen wird sich immer seinen Interessen beugen (vgl. DAI 28 u. 105–106). Nach einer Differenzierung der unterschiedlichen Liebestypen entwickelt Stendhal in seiner Studie schließlich die Metapher der Kristallisation, um von Liebe zu sprechen. Interessant ist, dass dieses Liebeskonzept in Spanien erst gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts breiter rezipiert wurde. Zentraler Bestandteil der Liebe als Kristallisation ist die Einbildungskraft. Erst die Aktivierung der Imagination bestimmt die Zuneigung zu einem anderen Menschen: Aux mines de sel de Salzbourg, on jette, dans les profondeurs abandonn8es de la mine, un rameau d’arbre effeuill8 par l’hiver; deux ou trois mois aprHs on le retire couvert de cristallisations brillantes: les plus petites branches, celles qui ne sont pas plus grosses que la patte d’une m8sange, sont garnies d’une infinit8 de diamants, mobiles et 8blouissants; on ne peut plus reconna%tre le rameau primitif. Ce que j’appelle cristallisation, c’est l’op8ration de l’esprit, qui tire de tout ce qui se pr8sente la d8couverte que l’objet aim8 a de nouvelles perfections. (DAI 33)
Indem Stendhal die Imagination zum Angelpunkt der Liebe erhebt, erhalten die vergeistigten Konzepte des Idealismus eine neue Ausdrucksfläche. Ein möglicher Grund, weshalb sein Konzept erst auf den veränderten Weltbezug durch ein konstruktiv-performatives Realitätskonzept warten musste. Wenngleich die Liebe durch einen Stimulus von außen entfacht wird, genügt in weiterer Folge das Denken an Perfektion vollends, um sie in der oder dem Geliebten wieder zu erkennen, denn alles Schöne und Erhabene wird mit der Schönheit des geliebten Menschen gleichgesetzt (vgl. DAI 34 u. 70). Vordergründig genießen die Liebenden ihre eigenen Illusionen, genau das ermöglicht die Exklusivität des Gefühls, da nur die Illusion selbst ihr Begehren nähren und auskosten kann, ohne im Grunde auf reale Begegnungen angewiesen zu sein (vgl. Matzat 1990, 145). Diesen Gedanken wird Juan Valera in Pepita Jimenez aufgreifen, indem er die Liebe des Priesterseminaristen als reine geistige Tätigkeit präsentiert.
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Liebe – poetologisch und kulturell
Nun stellt sich Stendhal natürlich auch die Frage nach der Dauer der Liebe. Er beantwortet sie dahingehend, dass der ersten Kristallisation eine zweite folgt. Das Merkmal dieser zweiten Kristallisation besteht darin, die Liebe als Existenzgrundlage wahrzunehmen, denn diese Phase wird von dem Gefühl begleitet, entweder geliebt zu werden oder zu sterben (vgl. DAI 39). Die Liebe wird letztlich zur stärksten Leidenschaft ernannt, da sie es zu Wege bringt, dass sich die Realität ihren Wünschen anpasst (vgl. DAI 64). Sobald sich der Mensch verliebt, ist er nicht länger in der Lage, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, die kleinsten Unwichtigkeiten werden übertrieben, Zweifel und Hoffnungen steigern sich ins Romanhafte, denn der Zufall existiert nicht länger. Das Gefühl der Wirklichkeit geht verloren, wenn ein eingebildeter Gegenstand gleichbedeutend für das persönliche Glück wird wie ein realer (vgl. DAI 65). Der Begriff »romanesque« umfasst dabei bereits das Thema der Vermischung von Fiktion und Realität und damit die gegenseitige Beeinflussung von literarischer Liebesgestaltung und gelebten Intimbeziehungen. In anderen Worten, Liebe wird im 19. Jahrhundert als kulturell geprägter Diskurs reflektiert. Dabei warnt Stendhal vor einer philosophischen Analyse der Lektürelust, denn sie töte nicht nur die Lust im Moment, sondern auch jede potentielle zukünftige Lust mit der Begründung »rien ne paralyse l’imagination comme l’appel / la m8moire« (DAI 72). Während Stendhal gegen die Erinnerung argumentiert werden die Schriftstellerinnen und Schriftsteller der künstlerischen Moderne wie etwa Ramjn del Valle-Incl#n gerade die Erinnerung zu einem Pfeiler der ästhetischen Schöpfung und auch der Liebe erheben und sich dadurch vom romantischen Primat der Spontaneität abheben. Für Stendhal, wie für spanische Autoren und Autorinnen der langen Jahrhundertwende gilt jedoch die Betonung der Übertretung: »L’amour se cache par son excHs« schreibt Stendhal in seiner Studie (DAI 108). In der Übertretung bietet die Stendhal’sche Metapher einen Anknüpfungspunkt einerseits für die Entdifferenzierung von Liebe und Diskurs über Liebe, andererseits für experimentelle Romane des jungen 20. Jahrhunderts, die den großen realistischen Roman hinter sich lassen möchten. Darüber hinaus sieht Stendhal die Liebe, ganz der Tradition entsprechend, in ständiger Gefahr, die sich in der Verzweiflung äußert, verlassen zu werden (vgl. DAII 16).10 In seiner Analyse der Liebesformen in Europa streicht Stendhal als stärksten Gegner großer Leidenschaften in Frankreich das französische Konzept der Ehre heraus, sei sie nun an wahre Ehre oder an eine eitle, dem guten Ton nachgeäffte Ehre gebunden (vgl. DAII 19). Als großes Vorbild wahrer Leidenschaft gilt ihm vielmehr Italien, das Spanien vergleichbar noch an mittelalterlichen Liebeskonzepten orientiert sei und der Inspiration im Augenblick mehr Möglichkeiten 10 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle DAII auf Stendhal (1986): De l’Amour II, Nendeln/Liechtenstein: Kraus Reprint.
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einräume, da die Gesellschaft durch die Lektüre von Büchern noch nicht so vorgeprägt sei (vgl. DAII 24). Liebe verwandelt sich für Stendhal zu einem Mittel der Realitätsflucht, gegen ein von Heuchelei und Leidenschaftslosigkeit getränktes Frankreich sucht der französische Autor die ›wahre Liebe‹ als archaisches Gefühl in Italien und rebelliert damit gegen die Unfähigkeit der französischen Gesellschaft, Passionen zuzulassen (vgl. Rohde 2011, 86). Der Begriff der Ehre ist wiederum aus spanischen Liebesfigurationen nicht wegzudenken. Auch wenn Dramen um Ehre ihre Blütezeit in den Siglos de Oro erleben, wird das Thema auch Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach wie vor aufgegriffen – sei es nur, um die damit verbundenen Vorstellungen zu dekonstruieren. Im Modernismo schließlich wird Stendhals Metapher erneut bemüht, jedoch als narrative Technik angewandt, um das Erleben der Rezipienten zu steuern. Neben Stendhals ›Liebestheorie‹ zeigen sich Jos8 Ortega y Gassets Studien über die Liebe als einflussreich. Auch sie verfolgen nicht länger eine Liebeskonzeption, in deren Zentrum sich ein auf Erlösung ausgerichtetes Leiden befindet. Der spanische Philosoph fasst die kulturellen Veränderungen in seiner Theorie zusammen und beschreibt die aktivierende Komponente von Liebe. Wenngleich Liebe zunächst durch einen bittersüßen Stachel angefacht wird, treibt sie doch die Liebenden voran und lenkt ihre Handlungen.
4.2.3 José Ortega y Gassets Metapher der Liebe als zentrifugale Kraft In Abgrenzung zu Stendhals Theorie der Liebe als Kristallisation entwirft der spanische Literaturkritiker und Philosoph Jos8 Ortega y Gasset in seinen »Estudios sobre el amor« (1926–1927) eine Variante, die vor allem die Wechselseitigkeit der wirkenden Kraft betont: En el modo de comenzar se parece, ciertamente, el amor al deseo, porque su objeto –cosa o persona– lo excita. El alma se siente irritada, delicadamente herida en un punto por una estimulacijn que del objeto llega hasta ella. Tal est&mulo tiene, pues, una direccijn centr&peta: del objeto viene a nosotros. Pero el acto amoroso no comienza sino despu8s de esa excitacijn; mejor, incitacijn. Por el poro que ha abierto la flecha incitante del objeto brota el amor y se dirige activamente a 8ste: camina, pues, en sentido inverso a la incitacijn y a todo deseo. Va del amante a lo amado –de m& al otro– en direccijn centr&fuga. (EA 556)
Ortega y Gasset grenzt seine Liebesvorstellung von der romantischen, vom Begehren durchtränkten Liebe deutlich ab. Deseo entspricht einer passiven Haltung des Subjektes, das sich als Gravitationszentrum versteht und vom Objekt verlangt, dass es sich ihm annähern möge. Amor hingegen zeichnet sich
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Liebe – poetologisch und kulturell
durch Aktivität aus und zwingt die Liebenden, vergleichbar einer zentrifugalen Kraft, ihr Gravitationszentrum hin zum geliebten Menschen oder Objekt zu verlassen (vgl. EA 545). Angeregt durch die Lektüre des Augustinus formuliert der Spanier Liebe als »gravitacijn hacia lo amado« (EA 555). Liebe sei demnach auch nicht mit einer kurzfristigen Energieentwicklung – wie im coup de foudre – vergleichbar, sondern ein stetiger Strom, der ausgehend vom geliebten Objekt (Alter) als »incitacijn« seine Richtung verkehrt und in Form einer zentrifugalen Kraft nun vom Subjekt (Ego) zum Objekt (Alter) zurückfließt (vgl. EA 555–556). Kernstück dieses Konzeptes ist die psychische oder physische Bewegung der Liebenden, die sie zu einer unaufhaltsamen Emigration veranlasst: Este car#cter de hallarse ps&quicamente en movimiento, en ruta hacia un objeto; el estar de continuo marchando &ntimamente de nuestro ser al del prjjimo es esencial al amor y al odio. […] En el amar abandonamos la quietud y asiento dentro de nosotros, y emigramos virtualmente hacia el objeto. Y ese constante estar emigrando es estar amando. (EA 556)
Während Stendhal vorwiegend von der Imaginationstätigkeit der Verliebten ausging, betont Jos8 Ortega y Gasset viel stärker die Reziprozität der Liebe. Beiden gemeinsam und für eine post-romantische Liebesauffassung sprechend, ist die Betonung der Aktivität: die Liebe wird nicht länger über ein passives Erleiden definiert, sondern einmal über »l’op8ration de l’esprit«, das andere Mal über die ständige, dauernde Fortbewegung, die durch den Gebrauch des Gerundiums »estar amando« neben der Dauer der Handlung auch ihre Zeitlosigkeit betont. Auf diese Weise wird im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Zeitgebundenheit der Liebe reflektiert. Daraus resultieren nicht nur Fragen nach der möglichen oder unmöglichen Dauer des Gefühls, vielmehr wird das Konzept einer leidenschaftlichen Liebe, die ihre Passion vorwiegend aus dem zeitlichen Aufschub der Erfüllung nährt, einem hedonistischen (für modernistische Texte) oder einfach praktikablen Konzept (für realistische Texte), das eine Erfüllung noch im Diesseits verfolgt, gegenübergestellt. Mit diesem gewandelten Liebesverständnis korreliert eine veränderte Funktionszuweisung des Romans.
4.3
Re-Kreation als Funktion des Romans um 1900
Nachdem der Unterschied zwischen Liebe und Diskurs über Liebe durchlässig geworden ist, verliert Liebe als machtloses Erleiden an Bedeutung. Die Vorstellung der Passion wird um eine lebensfreundlichere Komponente ergänzt. Diese Erweiterung lässt sich anhand unterschiedlicher, dem Literaturverständnis vorgelagerter Realitätsbegriffe erklären, denn der repräsentativ-per-
Re-Kreation als Funktion des Romans um 1900
113
formative Modus realistischer Literatur wird vom performativ-experimentellen Modus abgelöst. Das aktiv schöpferische Moment der Liebe wird nun auch im Rezeptionsprozess, im Erleben der Liebenden, hervorgehoben. Liebe als Passion konzipiert, die auf einem passiven Erleiden beruht, wird damit zugunsten einer Aktivierung erweitert. Im kulturellen Kontext spiegelt diese auf das Handeln der liebenden Person ausgerichtete Verschiebung des Liebescodes das veränderte Geschlechterrollenverständnis. Aus poetologischer Sicht wird gerade die aktive Beteiligung der Lesenden gefordert, um ein intensiviertes Erleben zu ermöglichen. Die Lesenden werden angehalten, in der Romanlektüre mehr als nur Unterhaltung zu sehen. Somit wandelt sich die Funktion der Literatur, die bis zur Romantik in der reinen Unterhaltung oder in einem Suspense von der Realität bestand (vgl. Werber 2003, 191). Für realistische und modernistische Werke bietet sich als Funktion die Re-Kreation an, die neben der Auszeit vom Alltag die bewusste, aktive Neuschöpfung der literarischen Wirklichkeit und des lesenden Subjektes bezeichnet. Durch die unterschiedlichen vorgelagerten Realitätskonzepte korreliert die Funktion des realistischen Schreibens stärker mit einer angeregten Reflexion, während das modernistische Schreiben auf ein intensiviertes Erleben in der Lektüre setzt, da Realität im dritten Typ in ihrem experimentellen Charakter verstanden wird. Aus den um 1900 von Aktivität geprägten Liebesfigurationen werden in Folge drei Typen abstrahiert, wobei neben dem realistischen und modernistischen ein Typ den Umbruch symbolisiert.
4.3.1 Liebe und ihre Realisierbarkeit Der erste Typ umfasst realistische Romane, welche die Unterscheidung von Liebe und Diskurs über Liebe in einem re-entry wieder aufgreifen. Juan Valera kontrastiert in seinem als Briefroman konzipierten Werk Pepita Jim8nez (1874) die Liebe eines Priesterseminaristen, die der junge Mann aus Büchern gewonnen hat, mit der realen Liebe zur jungen Witwe Pepita Jim8nez. Angestoßen von der Liebe entfaltet der Protagonist seine Persönlichkeit und findet seinen Platz in der weltlichen Gesellschaft. Ebenso fungiert die Liebe in Benito P8rez Galdjs’ Tristana (1892) als Motor der individuellen Transformation der Protagonistin, die verschiedene Formen der Kunst erlernt. Dabei erfolgt diese Persönlichkeitsentwicklung immer in Relation und Abgrenzung zur Gesellschaft oder zu tradierten Liebesdiskursen. Während Juan Valera mittels unterschiedlicher Fokalisierung ironisch das einzigartige Erleben des Protagonisten mit konventionellen Elementen des Diskurses kontrastiert, präsentiert Benito P8rez Galdjs seine Protagonistin als sich der Diskursivität von Liebe bewusste Figur. Beide Romane entsprechen einem psychologischen Realismus, der das Innenleben der Figuren und damit die Informationsverarbeitung in Liebessituationen litera-
114
Liebe – poetologisch und kulturell
risch gestaltet. Die poetologischen Programme der beiden Autoren differieren stärker : Juan Valera reflektiert Liebe als mystisch-ästhetische Kategorie, die wenngleich sie von einer interesselosen Liebe ausgeht, in der Lage ist, den für den Roman geforderten Form- und Motivpluralismus zu fassen. Seine Poetik wird als idealistisch beschrieben. Benito P8rez Galdjs hingegen sucht eine möglichst große Repräsentation, die auf eine Wiedererkennbarkeit der literarisch geformten Stoffe in der Realität abzielt. Diese durchschaubare Leidenschaft findet ihre Entsprechung darin, dass der Autor die Sprachschöpfungen verliebter Menschen wirklichkeitsnah nachzeichnet, dadurch jedoch gleichsam auf seine romanimmanente Poetik verweist. Zudem tritt Galdjs mit seinem Argument einer repräsentativen Literatur für die Formpluralität des Romans ein, da der Roman alles behandeln kann, was es auch in der Wirklichkeit gibt. Mit dem realistischen Schreiben, das eine möglichst große Ähnlichkeit zwischen fiktiver Darstellung und Realität anstrebt, erfolgt daher kein Rückfall in die Episteme der Repräsentation, die noch davon ausgegangen war, dass es der Sprache gelingt, Ereignisse und Dinge der Welt zu benennen. Vielmehr inszeniert die realistische Sprache die durch die Benennung eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten der Sprechenden bis hin zur Konstruktion eigener Welten. Dies wird anhand der metareflexiven Passagen teils als integrierte Poetiken (Galdjs), teils als Verwirrspiel um die Autorschaft des vorliegenden Romans (Valera) deutlich. Den Poetiken des ersten Typs liegen somit zwei Realitätskonzepte zugrunde, die ein Wechselspiel von repräsentativem und performativem Modus erlauben. Die Frage der Aufrichtigkeit von Gefühlen tritt in den Hintergrund von Liebesfigurationen. Der Fokus verlagert sich hingegen auf die Darstellung der Wirkungsweise von Liebesdiskursen, wie die Analysen von Juan Valeras Pepita Jim8nez und Benito P8rez Galdjs Tristana zeigen werden. Insbesondere der auf einem rational-repräsentativen Realitätsbegriff basierende Schreibstil, der Fiktionalitätssignale so weit wie möglich vermeidet und sich an der Sprache ›lebendiger‹ Menschen orientiert, führt die Verwechselbarkeit von Fiktion und Realität anschaulich vor Augen. Damit einher geht eine Annäherung von objektiver Geschichtsschreibung bzw. wissenschaftlicher Studie und fiktivem Roman. Ein Effekt des realistischen Schreibens liegt nun darin, Liebe als Kommunikationsmedium zu reflektieren. Bekannte Beispiele hierfür finden sich in der europäischen Literatur mit Effi Briest, Madame Bovary oder auch La Regenta, die allesamt die fatalen Folgen der Verwechslung fiktiver und realer Liebe behandeln, zugleich jedoch die Sprachgebundenheit des Liebescodes bestätigen. Voraussetzung für diese Entwicklung ist eine Sprachreflexion, die Sprache als epistemologisches Medium erkennt und aufgrund der Sprachbezogenheit menschlicher Wahrnehmung, Realität als Konstruktion wahrnimmt. Dann ist es möglich, dass ein allmählicher Zweifel an der Konzeption von Liebe als Ort der
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Re-Kreation als Funktion des Romans um 1900
höchstpersönlichen Kommunikation beginnt, da sich die durch die Liebe erlangte Einzigartigkeit erst aufgrund eines kulturell etablierten Liebescodes, der großteils sprachlichen Charakter aufweist, manifestieren kann. Wenngleich die Liebe in diesem ersten Typ als Anreiz der Persönlichkeitsentfaltung konzipiert ist, so werden durchgehend die Literatur und damit die Sprache als Celestina erkannt. Als Leitdifferenz wird die Distinktion zwischen Liebe und Diskurs über Liebe immer stärker in Frage gestellt. Die in den genannten Romanen thematisierte Verwechslung der beiden Liebesformen gelingt gerade aufgrund der strukturellen Ähnlichkeiten zwischen den unterschiedlichen Liebesformen, auf die gegen Ende des Jahrhunderts immer deutlicher fokussiert wird, sodass sich mit den realistischen Romanen der Gegensatz von Liebe und Diskurs über Liebe letztlich vollends auflöst, siehe Schema 2. Diese Auflösungstendenzen einer Leitdifferenz des Liebescodes korrelieren mit einer Romanentwicklung, die sich aus einem rational-repräsentativen Realitätskonzept und einem konstruktiv-performativen Verhältnis zusammensetzt. Jene Autorinnen und Autoren, deren Poetik an der repräsentativen Wirkung des Mediums Roman orientiert ist, legen daher auch großen Wert auf eine ungekünstelte, der Wirklichkeit entsprechende Präsentation von Liebe. Da sich die Mimesis an den Verfahren und Wirkungsweisen von Liebesdiskursen orientiert, tritt zugleich die Performativität der Sprache in den Vordergrund, wie das Beispiel Tristana zeigt. Die Unterscheidung Liebe und Diskurs über Liebe löst sich auf, und es stellt sich die Frage nach einer neuen Differenzierung. Diese findet ihre Entsprechung in der Opposition Liebe als Praktikabilität und Impraktikabilität der Liebe (siehe Schema 3). Kernstück dieser neuen Liebeskonzeption ist die Frage nach Realisierbarkeit und Akzeptanz von Liebe als ästhetischer und kultureller Kategorie. Liebesfigurationen im Realismus
Liebe als
Liebe als
Impraktikabilität
Praktikabilität
Schema 3
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Liebe – poetologisch und kulturell
Wie Liebe als Kommunikationsmedium Weltentwürfe offeriert, tut dies der Roman. Ob der Roman als solcher anerkannt wird, sich quasi als praktikabel erweist, erfolgt vermehrt in Wechselwirkung zum lesenden Publikum, da zahlreiche Romane zunächst fragmentiert in Zeitungen publiziert wurden und auf Reaktionen der Rezipienten eingehen konnten, teilweise auch mussten, wie die rege Literaturkritik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt. Am Übergang von Realismus zu Modernismo stehen hingegen Romane, die sich durch eine Pluralisierung von Liebesdiskursen auszeichnen. Nicht nur die Liebe präsentiert sich als Praxis und Diskurs in unterschiedlichen Formen, auch der Roman strebt mannigfaltige Ausprägungen an, wie der zweite Typ veranschaulicht.
4.3.2 Gelebte Liebe und ihre Mängel Am Übergang vom realistischen zum modernistischen Schreiben wird der Liebesdiskurs in seinen unterschiedlichsten Formen sowie seiner Wechselbeziehung zur kulturell gelebten Liebe reflektiert, wie die Analysen von Clar&ns La Regenta (1884/85), Emilia Pardo Baz#ns La madre Naturaleza (1887) und Ramjn P8rez de Ayalas Doppelroman Tigre Juan/El Curandero de su honra (1926) zeigen werden. Hier stehen sich drei Ansätze gegenüber. Clar&n kritisiert anhand einer unmöglich dauerhaften Kombination von himmlischer und irdischer Liebe die Unzulänglichkeit herrschender Liebesdiskurse, während Emilia Pardo Baz#n veranschaulicht, dass auch eine scheinbar natürlich gewachsene Liebe auf kulturellen Diskursen gründet. Ramjn P8rez de Ayala wiederum rekurriert in seinem Roman auf die Konstruktionsprinzipien der Musik, bei gleichzeitiger Abstraktion der Protagonisten zu Figurentypen. Im Rückgriff auf Mythen wird Liebe als unterschiedliche, nebeneinander bestehende Diskurse, die in den Figuren eine lebendige Form annehmen, präsentiert. Alle drei Romane erweisen sich als Schwellenwerke, da sie durch implizite Diskursreflexionen in den Romanen darauf hinweisen, dass eine Unterteilung der Liebe anhand von Konventionen erfolgt, wie auch der Roman scheinbar willkürlich in Subgattungen differenziert wird. Skalarität, Uneingeschränktheit und Polyphonie sind die Attribute, die nicht nur ihre Poetiken, sondern auch die Liebeskonzepte von Clar&n, Pardo Baz#n und P8rez de Ayala bezeichnen. Liebe spaltet sich in unterschiedlichste Diskurse auf, die verschiedenste literarische Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. Wie Schema 4 veranschaulicht, wird Liebe über eine kritische Reflektiertheit bestimmt und von einer als naturgegebenen Vorstellung von Liebe abgegrenzt. Interessant ist, dass keiner der verschiedenen Liebesdiskurse einen moralischen Vorzug erhält und sich diese Vielfalt auch im Rekurs auf andere Kunst-
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Re-Kreation als Funktion des Romans um 1900 Liebesfigurationen am Umbruch von Realismus zu Modernismus
Liebe als
Liebe als
reflektierter
naturgegeben
Diskurs
Schema 4
diskurse in der Romangestaltung niederschlägt. Letzteres zeigt die Tendenzen hin zum modernistischen Schreiben, dem ein experimentelles Realitätskonzept vorgelagert ist. Durch die Interessensverschiebung auf die Gestaltungsmöglichkeiten wird das modernistische Verständnis von Roman und Liebe, das sich auf eine Intensivierung konzentrieren wird, bereits vorbereitet.
4.3.3 Die aktivierende Komponente der Liebe Die aktivierende Komponente der Liebe als bevorzugter Referenzpunkt literarischer Darstellungen wird im dritten Typ Liebe als Intensivierung erfasst. Diese Intensivierung bezieht sich auf die Handlungen der Schreibenden und auf das Erleben der Rezipienten gleichermaßen. Ziel des modernistischen Schreibens ist eine Verlebendigung der Literatur, die mittels Intensivierung erreicht werden soll. Liebe als kulturelle und als ästhetische Kategorie zeichnet sich nun durch ihren offenen und aktivierenden Charakter aus, ihr Gegenstück bildet die Bewegungslosigkeit, eine Starrheit, die kulturell wie poetologisch zum Ende jeglicher Kreation führen würde (siehe Schema 5). Der Tod selbst bietet sich als Terminus nicht an, da in der literarischen Schilderung der Wirkkraft von Liebe selbst der Tod überwunden werden kann oder zumindest als Grenzziehung betrachtet wird, die es gilt zu überschreiten, wie Ramjn del Valle-Incl#n in seinen Sonatas (1902–1905) vorführt.
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Liebe – poetologisch und kulturell Liebesfigurationen im Modernismus
Liebe als
Liebe als
Bewegungslosig-
Intensivierung
keit
Schema 5
Dieser Wandel vom Reflektieren zur Intensivierung wird zum einen in den Poetiken dokumentiert, da diese gleichzeitig als Schreibmanuale und Leseinstruktionen, welche die aktive Beteiligung der Rezipienten fordern, angelegt sind. Zum anderen erhalten Experimente mit Sprache im Kontext der Machart und Wirkungsweise anderer Kunstformen größeres Gewicht, da nun Elemente tradierter Liebesdiskurse vermengt mit Techniken der Malerei, des Films oder der Musik zum Strukturprinzip erhoben werden und Liebe somit nicht nur beschrieben, sondern in ihrer Wirkung vor Augen geführt wird. In diesem VorAugen-Führen ist das Ereignis als Funktion des virtuell-experimentellen Realitätskonzepts erkennbar. Die neue Leitdifferenz grenzt Liebe daher nicht länger über die Problematik der Trennung von Sprache und Erleben sowie einem damit einhergehenden unstillbaren Begehren ab (Schema 1), sondern über einen hedonistischen Gedanken, der aufgrund des Handlungscharakters der Sprache das positive Erleben in das Zentrum seiner Überlegungen rückt und Liebe als Gefühl in ihrer bewegenden Wirkung instrumentalisiert. Charakteristische Vertreter dieses Typs sind Ramjn del Valle-Incl#n mit seinen Sonatas (1902– 1905), Miguel de Unamuno mit seiner existenzialistisch-ästhetisch verstandenen Liebe in Niebla (1914) oder La t&a Tula (1921) sowie Azor&n mit seinem zeitenthobenen intensiven Konzept in DoÇa In8s (1925). Schreiben und Lieben fallen in den Poetiken der drei Autoren zusammen, wenngleich Valle-Incl#ns Poetik und damit auch Liebesverständnis aufgrund seiner zahlreichen interdiskursiven Bezüge zu Musik und Malerei als exklusiv ekstatisch bezeichnet werden kann, während Unamunos lebendige Liebesauffassung auf ein umfassenderes vitalistisches Konzept deutet. Azor&n wiederum übersetzt in seinem Roman unterschiedlichste Techniken der Malerei und des Films in narrative Verfahren, um sein Romankonzept der prenovela oder novela gaseiforme zu vermitteln und Liebe als zeitungebunden sowie gewöhnlich zu präsentieren. Liebe wird in diesem modernistischen Typ ambivalent als tra-
Re-Kreation als Funktion des Romans um 1900
119
gisch-komisch oder tragisch-gewöhnlich wahrgenommen, der Roman bewegt sich zwischen (philosophischem) Essay und (parodiertem) Liebesroman. Liebe wird nach diesem Typ als Intention zu lieben verstanden, der Roman fungiert als lebendiges Projekt, ein verändertes Erleben zu ermöglichen. Unterschiedlichste Techniken werden herangezogen, um die Formlosigkeit oder die Beweglichkeit zu veranschaulichen. Die neue Leitdifferenz zeigt sich in der Opposition von Liebe als Intensivierung von Praxis und Erleben und Bewegungslosigkeit. Leitunterscheidung einer so verstandenen Liebe ist damit alles Abgeschlossene, da sich darin bereits eine spezifische Manifestation des Potentials zeigt, eine bestimmte Form, die in ihrer Geschlossenheit an einen Endpunkt angelangt ist. Gleichzeitig öffnen sich durch die Betonung des Potentials Roman und Liebe für immer neue Variationsmöglichkeiten, die das Einbeziehen unterschiedlichster systemfremder Diskurse nicht ausschließen. Der nachfolgende Analyseteil wird neben den Gemeinsamkeiten die Besonderheiten der einzelnen Werke hervorheben, die einen Überblick der Landschaft von Liebesfigurationen im spanischen Roman um 1900 erlauben.
5
Typ 1: Liebe als Praktikabilität
Der erste Typ von Liebesfigurationen um 1900 definiert sich über die Praktikabilität von Liebe als kulturellem Faktum und ästhetischer Kategorie. Er umfasst die Romane Pepita Jimenez (1974) von Juan Valera und Tristana (1892) von Benito P8rez Galdjs, die ihre Gemeinsamkeit in der Gestaltung von Liebe als Ort der höchstpersönlichen Kommunikation finden und einem psychologischen Realismus zugerechnet werden können. Dabei erfolgt die Persönlichkeitsentfaltung der Figuren vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Konventionen, deren Gültigkeit in beiden Romanen mittels ironischer Brechung und anhand eines bewegten Realismus veranschaulicht wird, der zwischen rational-repräsentativem und konstruktiv-performativem Modell-Modus-Verhältnis wechselt. Valera und Galdjs präsentieren Liebe als historisierbares Kommunikationsmedium, das, wie auch der Roman, als ein kulturell geprägtes, wandelbares und dadurch auch beeinflussbares Konstrukt zu verstehen ist. Dies wird in parodistischen Rekursen auf tradierte Liebesdiskurse augenscheinlich. Liebe zeichnet sich konsequenterweise nicht länger durch ihre Inkommunikabilität aus, sondern durch ihre Praktikabilität, die von unterschiedlichen lebensweltlichen und literarischen Diskursen geprägt umgesetzt wird und je nach Epoche anders ausfällt. Während in Pepita Jim8nez die Wissensproduktion anhand der Geständnisse Luis’ de Vargas veranschaulicht wird, gestaltet Galdjs die Titelheldin von Tristana als Diskurserneuerin, die Liebe als sprachlich geformtes Instrument der Persönlichkeitsentfaltung wahrnimmt und Individualität wie Liebe durch zahlreiche Wort- und Satzkreationen aktiv formt. Charakteristikum des ersten Typs ist das Ineinandergreifen von Realität und Fiktion sowie von Liebe und Diskurs über Liebe, eine Verknüpfung, die neben der Individualität auch die Liebe sowie den Roman formt. Liebe wird in ihrer Handlungsmacht als Element der Re-Kreation verstanden und lässt sich nicht, wie noch in der Romantik, allein über ein passives Erleiden verstehen. Dass sich die einzelnen ästhetischen Liebeskonzepte von Juan Valera und Benito P8rez Galdjs voneinander unterscheiden, wird nicht nur in den Roma-
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Typ 1: Liebe als Praktikabilität
nen, sondern auch in ihren poetologischen Texten deutlich. Zur Charakterisierung von Liebe als poetologischem Instrument in Juan Valeras Schreiben wurden das Vorlesungsskriptum Filosof&a del Arte, die ästhetischen Essays Belleza, De la naturaleza y car#cter de la novela, Fines del arte fuera del arte und Apuntes sobre el nuevo arte de escribir novelas sowie seine Rede La libertad en el arte vor der Real Academia EspaÇola und die Literaturkritik Psicolog&a del amor herangezogen. In seinen explizit ästhetischen Texten zeichnen sich Interesselosigkeit sowie das Modell der mystischen Liebe als Charakteristikum von Liebe im Sinne einer ästhetischen Kategorie ab. Galdjs’ Liebes- und Romanverständnis orientiert sich hingegen stärker an der Idee der Repräsentierbarkeit von Gesellschaft und deren Emotionen, wie anhand seines Artikels Observaciones sobre la novela contempor#nea en EspaÇa (1870) und seiner Rede La sociedad presente como materia novelable (1897) aufgezeigt werden kann. Ausgehend von diesen Texten werden nicht nur die Gesellschaft, sondern Liebe und Roman durchschaubar konzipiert. Liebe als ästhetische Kategorie entpuppt sich in Galdjs’ Texten als metareferentielles Instrument des Romans, über das es gelingt, Schreibweise und Textgenese im Roman zu thematisieren. Beiden Autoren gemeinsam ist die Forderung, einen ›objektiven‹ Realismus mit Gefühlen und Imagination anzureichern. Sie sprechen sich gegen einen Realismus aus, der lediglich auf einer genauen Beobachtung sowie der daraus resultierenden Wirklichkeitsbeschreibung beruht und Romane hervorbringt, deren Erzählinstanzen sich ausnahmslos durch impassibilit8 auszeichnen. Hieran lässt sich erkennen, dass ein rational-repräsentatives Realitätskonzept nicht ausreichend für die Charakterisierung der Schreibmodi ist und um ein konstruktiv-performatives erweitert werden muss. Auch für den ästhetischen Bereich lässt sich Liebe als Praktikabilität erkennen, da beide Autoren den spanischen realistischen Roman erneuern. Valera gelingt dies, indem er in seinem Briefroman die Artifizialität des vorliegenden Textes hervorhebt und ein Verwirrspiel um die Identität des fiktiven Herausgebers inszeniert. Galdjs wiederum dramatisiert die Mittelbarkeit seiner Erzählung durch wechselnde Nähe-Distanz-Verhältnisse.
5.1
Wie sich der realistische Roman mit Gefühlen füllt
Juan Valera (1824–1905), als ältester Vertreter der gewählten Autorinnen und Autoren, vereint in sich die Widersprüchlichkeiten seiner Zeit. Eine eindeutige Klassifizierung des Schriftstellers als zu einer bestimmten literarhistorischen Strömung zugehörig erweist sich, wie vielfach in der Literaturgeschichtsschreibung vermerkt, als schwierig. Obwohl er zu Lebzeiten einer der bekann-
Wie sich der realistische Roman mit Gefühlen füllt
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testen Schriftsteller in der Hochphase des Realismus/Naturalismus1 ist, zeugen seine literaturkritischen Schriften und Reden, aber auch seine Romane von einer polemischen Haltung gegenüber dem realistischen/naturalistischen Roman: er bevorzugt eine eher am klassizistischen Ideal angelegte Schreibweise. Die aus Frankreich rezipierte Forderung der impasibilidad del autor scheint mit Valeras ästhetischen Ansprüchen unvereinbar zu sein. Emotionslos gestaltete Figuren könnten die Lesenden nicht mitreißen, sie seien keine Helden, sondern Marionetten – »pantins o fantoccini« (VOCII 653, Herv.i.O.). So sehr sich der idealistische Schriftsteller gegen den ›pathologischen‹ oder ›physiologischen Realismus‹ ausspricht, unterstützt er die Schilderung psychologischer Vorgänge. Valera ordnet in »De la naturaleza y car#cter de la novela« mit Referenz auf George Sand den psychologischen Roman eindeutig der Dichtkunst zu, auch wenn im Grunde der Handlungsverlauf kaum Fortschritte aufweist. Gerade die Ereignisse im Inneren der Seele verwandeln die gewöhnliche Fiktion in etwas Neues, Poetisches (vgl. VOCII 191). In seinen eigenen Romanen ist diese Bewegung im Inneren der Figuren in der Lage, zur mystischen und poetischen Ekstase zu führen (vgl. Krynen 1946, 10). Auch Benito P8rez Galdjs verwirft im Laufe seiner Schreibkarriere die für den realistisch/naturalistischen Roman kennzeichnende und Distanz schaffende Unparteilichkeit der Erzählinstanz, – die selbst die glühendsten Leidenschaften durch die fehlende emotionale Beteiligung der Erzählinstanz kühl und passionslos präsentiert. Stattdessen vertritt er ein realistisches Schreiben, dass durch Emotionalisierungsstrategien Erzählung und Lesende einander so weit wie möglich annähern soll. Damit Emotionen im realistisch/naturalistischen Roman mehr Bedeutungskraft erlangen, sollen die Figuren den Lesenden unvermittelt gegenübertreten, weshalb die späten Romane des kanarischen Autors vermehrt dialogische Passagen aufweisen, wodurch wiederum ihre Nähe zu Dramenstücken akzentuiert wird. Galdjs versucht durch diese Annäherung, die narrative Beweglichkeit des Romans mit der bewegenden Wirkung des Theaters zu verbinden (vgl. ebd., 72). Den Grund für diese Emotionalisierung des realistischen Romans, der sich explizit von seinem Modell aus Frankreich abgrenzt, sieht Benito P8rez Galdjs in den kulturellen Gegebenheiten Spaniens. Die äußeren sozialen Umstände des 19. Jahrhunderts lassen es seiner Ansicht nach nicht zu, dass sich der realistische/naturalistische Roman in Spanien entwickelt. Denn zum einen benötigt der Roman im Gegensatz zum Epos Zeiten des sozialen Friedens, die durch die gesellschaftlichen Veränderungen im Spanien des 19. Jahrhunderts nicht gegeben waren, zum anderen verurteilt Galdjs die modernen Entwicklungen, die
1 Juan Valera differenziert die Begriffe ›Realismus‹ und ›Naturalismus‹ nicht durchgehend und verwendet sie stellenweise synonym für das postromantische Schreiben.
124
Typ 1: Liebe als Praktikabilität
dazu anhalten, Literatur als Beruf anzusehen (vgl. ECL 106–107).2 Gebunden an ökonomische Interessen müssen die Schriftsteller und Schriftstellerinnen auf ihr Publikum reagieren. Dieses wünscht sich einen bestimmten Romantyp: »el de la novela de impresiones y movimiento, cuya lectura ejerce una influencia tan marcada en la juventud del d&a, reflej#ndose en nuestra educacijn y dejando en nosotros una huella que tal vez dura toda la vida« (ECL 108). Schließlich zeichnet sich Spanien durch eine mangelnde Beobachtungsgabe sowie eine überbordende Phantasie aus, die sich literarhistorisch in einer reichen Poesie, einer weitreichenden mystischen Literatur und dem großen spanischen Theater des 17. Jahrhunderts manifestiert. Der kanarische Schriftsteller erhebt den Lyrismus zum Charakteristikum der spanischen Kultur, unabhängig, ob es sich um die kastilische oder die andalusische Form handelt. Gleichsam in den Körper der spanischen Bevölkerung eingeschrieben, bestimmt dieser poetische Realitätszugang nicht nur die literarische Kreation, sondern zeigt sich auch im politischen System Spaniens, das wenig dem restlichen Europa des 19. Jahrhunderts und dessen beliebten Ideen einer vom Fortschrittsgedanken geprägten Wirklichkeit entspricht (vgl. ECL 106). Galdjs charakterisiert seine Landsleute, eingeschlossen sich selbst, als »somos unos idealistas desaforados, y m#s nos agrada imaginar que observar« (ECL 106). Die beiden Autoren verbindet ein psychologischer Realismus, dessen Kernstück die literarische Gestaltung von inneren Beweggründen, Handlungsmotivationen und Emotionen der Protagonisten ist. Konsequent wird dafür die Bedeutung der Imagination im realistischen Schreiben aufgewertet und verweist auf das konstruktiv-performative Modell-Modus-Verhältnis, das dieser Schreibweise vorgelagert ist.
5.1.1 Die Rolle der Imagination im spanischen Realismus Nach Juan Valera degeneriere der Naturalismus die Literatur und mache sie zu einem ›hybriden Monster‹, das weder Kunst noch Theorie, weder Poesie noch Wissenschaft sei. Besonders kritisiert Valera dabei den ›physiologischen‹ und ›pathologischen‹ Realismus (vgl. VOCII 683). Die wichtigsten Punkte seiner Polemik gegen den realistisch/naturalistischen Roman – den er in Opposition zum idealistischen sieht – sind in »De la naturaleza y car#cter de la novela« (1860) zusammengefasst. Der Anspruch des Realismus, das zu erzählen, was für gewöhnlich geschehe, wird von Valera deutlich abgelehnt. Er kann diese Forderung nicht mit dem Gedanken der Dichtkunst vereinbaren, da sich die Lite2 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle ECL auf Benito P8rez Galdjs (1990): Ensayos de cr&tica literaria, hg. von Laureano Bonet, Barcelona: Pen&nsula.
Wie sich der realistische Roman mit Gefühlen füllt
125
ratur im Feld der Phantasie und Imagination bewege (vgl. VOCII 186–187). Sich selbst bezeichnet Valera wiederholt als Vertreter der reinen Kunst: Yo soy m#s que nadie partidario del arte por el arte. Creo que la poes&a tiene en s& un fin alt&simo, cual es la creacijn de la hermosura. Creo que la poes&a, y por consiguiente la novela, se rebajan cuando se ponen por completo a servir a la ciencia, cuando se transforman en argumento para demostrar una tesis. (VOCII 197)
Juan Valera sieht die Aufgabe der Kunstschaffenden darin, weniger die Natur zu imitieren, als Schönheit nach dem innewohnenden Ideal zu schaffen. Völlig verfehlt scheint ihm hingegen ein Roman, der eine These beweisen oder gar bekannt machen wolle. Weitere Kritik gilt überdies dem experimentellen Roman Zola’scher Manier, der in Valeras Augen die wissenschaftliche Negation der Metaphysik literarisch gestalte. Eine Literatur ohne Metaphysik, Inspiration, künstlerische Intuition, kurz ohne Imagination, negiere sich selbst, da sie ihren Kern verleugne (vgl. VOCII 625). Konsequenterweise gestaltet sich Valeras Mimesis-Konzept zweiseitig: Zunächst orientiert er sich an der realistischen Darstellung im Sinne Aristoteles’ als Wahrscheinlichkeit der Dichtung bzw. als Repräsentation von Wirklichkeitsmechanismen und -relationen. Von dieser Naturnähe ausgehend, fordert der spanische Autor allerdings den Einsatz von Imagination und emotionaler Beteiligung des Dichters oder der Dichterin, um die Natur adäquat reproduzieren zu können. Pues precisamente esa reproduccijn intensa [de la Naturaleza] es la obra de la imaginacijn; y no sjlo de la imaginacijn, la cual, si machaca en hierro fr&o, nada forja, sino del sentimiento personal, de la pasijn del amor, de algo del alma vehemente y enamorada del artista o del poeta, cuyo fuego caldea, derrite y pone en fusijn cuantos materiales ha recogido, para forjar con ellos un objeto art&stico de m#s o menos precio y hermosura. (VOCII 626–627)
Nicht in übertriebenem Realitätssinn lässt sich Wahrheit finden, sondern in der auf Leidenschaften basierenden ›poetischen Lüge‹ (vgl. Garc&a Cruz 1978, 104). Für Valera wie für viele der späteren modernistischen Autorinnen und Autoren gilt, dass Schönheit eher im Mangel an Präzision zu finden ist, als in der detailgetreuen Mimesis.3 Untermauert wird dieses Argument gegen die von Zola geforderte Beobachtung der Gesellschaft als Grundlage des experimentellen Romans dadurch, dass die schärfsten Sinnesorgane nicht ausreichen würden, die Handlungsmotive, Gedanken und Gefühle der Figuren wahrzunehmen, dafür 3 In seinen Überlegungen zu »Qu8 ha sido, qu8 es y qu8 debe ser el arte en el siglo XIX« (1861) kritisiert Valera das Konzept der Mimesis als Ausgangspunkt von Kunst insofern, als er Musik und Architektur den bildenden und sprachgebundenen Künsten als überlegen ansieht, da sie nicht auf die Imitation von bereits Vorhandenem angewiesen sind (vgl. VOCII 217).
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Typ 1: Liebe als Praktikabilität
müssen sich die Schreibenden in die Abgründe ihrer jeweils eigenen Bewusstseinsbereiche begeben (vgl. VOCII 631–632).
5.1.2 Zur Bedeutung der Sprache im realistischen Schreiben Wenngleich sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Hinwendung zu individuellen, subjektiven Gefühlen deutlich abzeichnet, behält ein mimetisches Romankonzept seine Gültigkeit. Dieses will jedoch nicht als Ergebnis einer präzisen objektiven Schreibweise verstanden werden, sondern als poetologische Strategie, die in Galdjs’ und Valeras Romanen vor allem die Aufmerksamkeit auf die Sprache lenkt, da der sprachliche Ausdruck in der Lage ist, individuelle Weltwahrnehmungen zu vermitteln. Obschon die Sprache als grundlegendes Kommunikationsmittel aufgefasst wird, kann sie über die Zerrissenheit des modernen Menschen nicht hinwegtäuschen. Sie wird bewusst lediglich als Hilfsmittel zur Beschreibung der Realität bezeichnet. Diese Erkenntnis gestaltet Galdjs insofern innovativ, als er die Differenz von Sprache und Realität zum bevorzugten Vehikel der Kommunikation zwischen Erzählinstanz und Lesenden einsetzt (vgl. Garc&a Osuna 2011, 291). Besonders seine zweite Schaffensphase, deren Beginn mit La desheredada (1881) angesetzt wird und zu der auch noch Tristana (1892) zählt, zeigt diesen an unterschiedlichen Perspektivierungen orientierten Ansatz. Nachdem in der Restaurationszeit der Krausismus und seine sozial-pädagogischen Implikationen an Reiz verloren hatten, gewinnen narrative Strategien, welche die Subjektivität des Erzählten hervorheben, erneut an Bedeutung, wie Alfonso Garc&a Osuna in seiner Studie »Novela en el tranv&a: Galdjs y la problematizacijn del esquema discursivo del XIX« (2011) erläutert. Durch dieses Vorgehen – das bereits bei Balzac und Diderot Anwendung gefunden hatte – wird den Lesenden eine Haltung suggeriert, die dazu einlädt, den Text unterschiedlich interpretierbar zu lesen und als Reflexionsbasis der eigenen Erfahrungen heranzuziehen, da die Figuren und die Lesenden denselben kulturellen Wirkungsmechanismen unterliegen (vgl. ebd.). Darüber hinaus ermöglicht diese Technik, Einblicke in den literarischen Schreibakt zu geben, eine Vorgehensweise, die von modernistischen Autorinnen und Autoren der Folgegeneration, insbesondere von Azor&n, gepflegt werden wird. Resultat dieses Literaturkonzepts ist zunächst eine repräsentative Schreibweise,4 die zu einer Annäherung von Romanschreibenden und Leserschaft führt (vgl. Bonet 1990, 63). Da sich die Romansprache durch Klarheit, Schlichtheit 4 Bonet greift zur Beschreibung von Galdjs’ Schreibstil den von Lionel Trilling geprägten Begriff der ›Transparenz‹ auf (vgl. Bonet 1990, 63). Dieser fasst jedoch nur den repräsentativen Modus und lässt den performativen Modus außer Acht.
Wie sich der realistische Roman mit Gefühlen füllt
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und Wirklichkeitstreue auszeichnet, warf Unamuno Galdjs einen Mangel an persönlichem Stil vor : »Su personalidad art&stica era algo como una representacijn de la impersonalidad; era el hombre medio el que hablaba en 8l«.5 Galdjs’ Roman entspricht somit nicht nur der realistischen Forderung nach einem unparteilichen Erzähler, der Roman selbst versucht seine Fiktionalität zu verschleiern und seine Funktion auf das Abbilden der Wirklichkeit zu reduzieren. Gleichzeitig dient jedoch die Differenzierung von Fiktion und Realität nicht länger der Unterscheidung von realen Erlebnissen oder Gegebenheiten und imaginierten Erzählungen, vielmehr wird ihre Entdifferenzierung herangezogen, um die Menschlichkeit zu messen. Außergewöhnliche Ereignisse erscheinen ›wie in einem Roman‹ oder außerordentliche Menschen werden mit einem ›Romanhelden‹ verglichen, während die Erzählungen eines Cervantes, Dickens oder der realistischen Autorinnen und Autoren mit Aussagen wie »¡Qu8 verdadero es esto! Parece cosa de la vida« kommentiert werden (ECL 108), erläutert P8rez Galdjs die Situation bereits in seinen »Observaciones sobre la novela contempor#nea en EspaÇa« von 1870. Galdjs’ Realitätsbegriff kann daher nicht auf einen rein repräsentativen Modus reduziert werden, sondern bezieht sich durch die angenommene Vermischung von Fiktion und Realität sowie durch die bereits erwähnte Aufwertung der Imagination auch auf den performativen Modus. Auch Juan Valera thematisiert Sprache als Medium des realistischen Romans, verbindet seine Überlegungen jedoch mit ethischen Ansprüchen. Indem Juan Valera Moral und Unschuld zu unerlässlichen Qualitäten des zeitgenössischen Romans deklariert, verteidigt er sich gegen den kursierenden Vorwurf, moderne Romane seien schädlicher oder unsittlicher als jene vergangener Epochen. Er untermauert seinen Standpunkt vor allem mit sprachlichen Wendungen, welche die Laszivität und Rohheit der Umgangsformen zu Shakespeares, Quevedos oder Cervantes’ Zeiten bezeugen (vgl. VOCII 194). Auch schreibt Valera dem Geld keine so große Macht zu, dass es das Ehrgefühl – sei es der Frauen oder der Männer – in dem Maße verletzen könne, wie dies noch im 18. Jahrhundert der Fall gewesen wäre. Der Eingang von Prostituierten in die Höhenkammliteratur verdeutliche vielmehr diese verfeinerten Sitten, den höheren Stellenwert der menschlichen Würde, die selbst Figuren bis in die niederen Schichten der Gesellschaft ernst bis tragisch charakterisiere (vgl. VOCII 195). Wenngleich sich die Umgangsformen der Gesellschaft historisch betrachtet beträchtlich verfeinert haben, basiert Valeras Ästhetik auf dem Konzept einer Korrektur oder Verschönerung der Natur, die ferner für die Sprache der Figuren gilt. Nach einer kurzen Anekdote über den Wettstreit im authentischen Grunzen zwischen einem Ferkel und einem Scharlatan – den eindeutig der Scharlatan gewann – 5 Unamuno: De esto y de aquello, zitiert nach Gulljn R. 1966, 145.
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betont Valera die Wichtigkeit der sprachlichen Idealisierung – immer unter der Voraussetzung der Wahrscheinlichkeit. Während Juan Valera und Benito P8rez Galdjs beide für eine Aufwertung der Imagination eintreten, differieren ihre Ansichten zum poetischen Sprachgebrauch. Galdjs sucht den Realismus über eine möglichst wirklichkeitsnahe Sprache zu erreichen, während Valera über eine Idealisierung der Alltagssprache den Realitätseffekt umsetzen möchte. Abgesehen davon unterscheiden sich auch ihre Konzepte von Liebe als ästhetischer Kategorie. Juan Valera geht von einer interesselosen Liebe aus, die Gesellschaft und Literatur gleichermaßen prägt. Unterdessen sieht Galdjs in den Emotionen allgemein eine Ausprägung der zeitgenössischen Kultur, deren Mechanismen und Wirkungsweisen ebenso beobachtet wie literarisch beschrieben werden können. Von Galdjs liegen keine Texte zur ästhetischen Funktion von Liebe vor, doch kann sein Roman Tristana vor dem Hintergrund einer Koevolution von Roman und Liebe als exemplifizierender Metatext zu Liebe und Roman gelesen werden. Juan Valera hingegen reflektiert die ästhetischen Qualitäten von Liebe in unterschiedlichen Textformaten.
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Valeras viel kommentierte Rückgriffe auf die katholische Religion oder die spanischen Mystiker und Mystikerinnen, die ihm das Attribut eines ›mystischen Ästheten‹ einbrachten, stehen seiner skeptizistischen philosophischen Grundhaltung gegenüber. Arturo Garc&a Cruz merkt jedoch in Ideolog&a y vivencias en la obra de Don Juan Valera (1978) an, dass der Sprung des spanischen Autors vom Agnostizismus in den Mystizismus selbst ins Leere führe (vgl. Garc&a Cruz 1978, 83), da Valera weder in seinem Werk noch in seinem Leben die Mystik als ernsthafte Lösung der zentralen menschlichen Fragen ansieht. Valeras Hang zu humoristischer Themengestaltung und Ironisierung vervielfacht zudem die Schwierigkeit einer eindeutigen Zuordnung, gibt Robert Gene Trimble in Juan Valera en sus novelas (1998) zu bedenken (vgl. Trimble 1998, 26).6 Einigkeit herrscht hingegen darüber, dass Liebe das zentrale Motiv seiner Prosawerke darstellt. Nun geht es hier nicht darum, zu entscheiden, ob Valera eher Mystiker, Skeptiker (Garc&a Cruz, Varela Iglesias) oder Ästhet (Krynen) ist und welche der drei Konstanten in seinem Denken vorherrscht, vielmehr zeigt dieses Zusammenfließen unterschiedlicher Diskurse das epistemologische Spannungsfeld der zweiten Jahrhunderthälfte, in dem Erkenntnisgewinn zwischen reinem Positivismus und metaphysischen Spekulationen verortet wird, ohne länger auf Si6 Weiterführend zu Valeras synthetischem Idealismus-Konzept vgl. Thurston-Griswold 1990.
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cherheiten einer Synthese der beiden Oppositionen zurückgreifen zu können. Exemplarisch an Gott, der Freiheit oder der Unsterblichkeit der Seele vorgeführt, argumentiert Valera, dass weder deren Existenz noch deren Nicht-Existenz wissenschaftlich bzw. rational fundiert werden kann, weshalb der spanische Autor diese Unentschiedenheit zur Grundlage seiner ästhetischen und ethischen Überlegungen macht (vgl. Garc&a Cruz 1978, 49). Die Integration der Liebe als Kategorie im ästhetischen Denken Valeras ermöglicht meines Erachtens eben diese Kluft zu füllen und die gegensätzlichen Diskurse in einer Ästhetik zu vereinen, ohne dabei rationale Überlegungen auszuklammern. Dabei kommt der mystischen Tradition Spaniens eine bedeutende Rolle zu, da sie nicht nur diese Widersprüchlichkeit als zentrales Moment beinhaltet, sondern auch auf der in der spanischen Kulturgeschichte immer wieder thematisierten christlichen Liebe als Erkenntnismotivation fußt. Verflochten mit dem Diskurs der autonomen Kunst, bereichern die marginalisierten Reden des religiösen Systems Diskurse der Künste, ohne sie zu vereinnahmen. Daraus resultiert schließlich ein neuer ästhetischer Ansatz, der sich an den Wirkungen sowohl der Schönheit, als auch von Gott und der Liebe orientiert.
5.2.1 Liebe als ästhetische und kulturelle Kategorie Aus Valeras Vorlesungsmanuskript »Filosof&a del arte«7 geht hervor, dass er Liebe als integralen Bestandteil der künstlerischen Tätigkeit sieht: »Dejo declarado, seÇores, cu#l ha de ser y cjmo ha der ser la primera calidad del artista: el amor« (VOCIII 1446). Dieser Ansatz ist an sich nicht neu, der spanische Autor stellt sich selbst in die Nachfolge des Renaissance-Dichters Baltasar Castiglione, wenn er in seiner Rede »La libertad en el arte« an der Real Academia EspaÇola spricht: »Se dir&a que el amor, creatore d’ogni pensiero buono, es tambi8n fundamento del arte, y su primera y casi fflnica regla, condicijn y norma« (VOCIII 1092).8 Im Bereich der Kunst erfüllt Liebe demnach eine doppelte Funktion. Zum einen strebt sie nach Schönheit: »Lo que se llama estro o entusiasmo po8tico no es m#s que una locura de amor por la belleza art&stica« (VOCIII 1448). Zum anderen beschreibt sie die Wirkung des Kunstwerkes, die sich in einem interesselosen Vergnügen zeige. So unterteilt der spanische Autor in seiner Literaturkritik »Psicolog&a del amor« (1888) die ästhetische Liebe in eine passive, welche die Schönheit der Natur bewundert, und eine aktive, die zur Schöpfung 7 Die erste Einheit der aus drei Vorlesungen bestehenden Reihe ist leider nicht erhalten, eine Datierung dieses Manuskripts sowie weiterer Schriften fehlt in der hier vorliegenden Ausgabe seiner Obras Completas leider ebenso (vgl. VOCIII 1439–1454). 8 Hier wie im Folgenden entsprechen alle Hervorhebungen den Originaltextstellen, wenn nicht anders vermerkt.
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neuer Schönheiten in der Kunst führt (vgl. VOCII 1582), wodurch Liebe systemtheoretisch gesprochen das Handeln (Schreiben) von Ego und das Erleben (Lesen) von Alter strukturiert. Neben dieser Auffassung von Liebe als Grundlage von Kunstproduktion und Kunstrezeption beruht Valeras Liebeskonzept auf einer Engführung von Emotion, höherer Kraft, Wahrheit und dem Guten, ohne jedoch eine Absolutheit zu beanspruchen, wie dies für das Kunstverständnis der Klassik – in der ebenfalls das Wahre, Gute und Schöne zusammenfielen – noch Gültigkeit hatte.
5.2.2 Erfahrbare Schönheit in Juan Valeras Romankonzept Wenngleich Valera in seinem Essay »Belleza« durch einen historischen Überblick die mangelhaften Definitionen der Schönheit und des Schönen in der Kunstreflexion von der Antike bis ins 19. Jahrhundert kritisiert, muss er sich bald eingestehen, dass er selbst ebenso wenig in der Lage ist, das Schöne zu definieren. Er begnügt sich denn auch mit einer metaphorischen Beschreibung der Schönheit als Widerschein einer intrinsischen Güte, die reines Vergnügen und unbedingte Liebe hervorrufe (VOCIII 1463). Kernstück seiner ästhetischen Reflexionen ist ein den Künstler oder die Künstlerin motivierendes, ungreifbar, doch objektives no s8 qu8, wie er in seiner Rede »La libertad en el arte« bezugnehmend auf Gioberti ausführt: Tan poco se ha vencido esta dificultad desde Platjn hasta ahora, que Gioberti define la belleza un no s8 qu8 de inmaterial y de objetivo, que se presenta al esp&ritu del hombre y le atrae y arrebata. De esta definicijn, que no es definicijn, se deduce que la obra del artista es revestir de una forma sensible esa idea inmaterial, ese no s8 qu8 objetivo y misterioso. ¿Qui8n podr# dar reglas al artista para que se apodere de ese no s8 qu8 y nos lo haga perceptible por los sentidos? Del artista se puede decir, por consiguiente: sus fueros, sus br&os; sus pragm#ticas, su voluntad. Acaso en su voluntad, en el amor, que es apetito de belleza, reside el resorte, la fuerza, el principio del arte, que nos hace buscar lo bello en s&, lo bello ideal, realiz#ndolo algo en las bellezas particulares. (VOCIII 1089)
Dieses no s8 qu8 der Schönheit findet eine Entsprechung in Valeras Annahme, dass die Menschen über ein apriorisches Verständnis der Schönheit verfügen, ohne welches kein ästhetisches Urteil möglich wäre (vgl. VOCIII 1090). Nun lässt sich Valera jedoch nicht auf eine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Ästhetik festschreiben. So widerspricht er in seiner Abhandlung »Belleza« der Annahme einer apriorischen Kategorie ›Schönheit‹, indem er anführt, dass es im Geist keine vorgeformte ideale Welt gibt. Erst wenn die real existierenden schönen Dinge wahrgenommen werden, könnten sich im Geist die idealen Typen formen. Kunstschaffende müssten aus dem Realen einfach nur das Perfekteste auswählen, um das Ideale zu kreieren, wofür wiederum bereits
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ein Kriterium der Schönheit und Perfektion vorhanden sein muss (vgl. VOCIII 1460). Der epistemologische Abgrund zwischen empirischer Wahrnehmung und Idealismus scheint unüberbrückbar tief und unvereinbar. Ausgehend von einer idealistischen Position wechselt der spanische Autor zu jener der Erfahrungen und kehrt, ohne beide versöhnen zu können, wieder zur idealistischen Ausgangslage zurück. Fragen der Ursache von Schönheit werden nicht beantwortet, vielmehr in einer Kreisbewegung wiederholt, umso mehr als das Schöne an sich immateriell gefasst wird und eine Form benötigt, um wahrgenommen werden zu können. Dabei, so Valera, stehen dem Menschen nur das Gehör und der Gesichtssinn als verlässliche Quellen zur Verfügung. Alle anderen Sinne mögen zwar zu angenehmen oder erfreulichen Wahrnehmungen führen, jedoch würde niemand einen Duft noch einen Geschmack noch eine Berührung als schön bezeichnen.9 In einigen wenigen Künsten, wie der Plastik und der Architektur fallen die beiden Attribute des Kunstobjektes – Schönheit und Form – zusammen. In der Poesie zeige sich die Verquickung von Form und Schönheit beispielsweise in der metrischen Harmonie, in der Reinheit der Sprache oder in einer guten Anordnung der Wörter und Sätze. Es bedarf allerdings nicht zwingend des Originals, um die Schönheit der Poesie zu erkennen, da der Gedanke auch in anderen Formen wahrgenommen werden kann, wie Valera anhand von Übersetzungen erläutert. Diese Trennung von konkreter Form und Idee des Schönen erhebt die Dichtkunst über alle anderen Künste (vgl. VOCIII 1450). Valera schließt daraus, dass sich die Schönheit nicht in den einzelnen Worten verbirgt, sondern dazwischen, wie er mit Referenz auf Carlyle betont (vgl. VOCIII 1451). Folglich kennzeichnet ein Zwischenstadium die Schönheit, die einer genauen Bestimmbarkeit entbehrt – vergleichbar einem Liebeskonzept als daimon. Gegen Ende seiner Studie über die Schönheit schließt Valera damit, dass er eingesteht, nicht wissen zu können, was Schönheit sei, und dass das Wesen der Schönheit auch nicht erfasst werden könne. Er schlägt deshalb eine Annäherung an die Schönheit über die Wirkung vor, die sie hervorrufe: »Este efecto es el amor puro, desinteresado, extraÇo, o, mejor dicho, superior a todo anhelo o deseo de poseer el objeto bello y amado, cuya mera contemplacijn produce deleite, que puede subir hasta ser bienaventuranza« (VOCIII 1462). Nachdem zuvor die Liebe als Ausgangspunkt gewählt wurde, enden seine ästhetischen Reflexionen erneut bei der Liebe, diesmal aus rezeptionsästhetischer Perspektive. Im Sinne einer ästhetischen Kategorie dient ihm Liebe dazu, die Leerstelle zwischen idealistischen und positivistischen Ansätzen zu füllen. Sie scheint 9 Mit dieser Reduktion relevanter Sinnesorgane im Kunstkontext grenzt sich Valeras Literaturverständnis vom modernistischen Schreiben ab, wo u. a. dem Geruchssinn starke Bedeutung eingeräumt werden wird.
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dafür prädestiniert zu sein, da Liebe als Mischwesen Anteil an gegensätzlichen Bereichen hat. Entscheidend ist daher Valeras Ansicht, dass die absolute Schönheit nicht verstanden und deshalb auch nicht definiert werden kann, sondern vergleichbar einem Erleuchtungserlebnis nur begriffen werden kann: »La belleza absoluta no se comprende y, por tanto, no se define. Se concibe, s&, y esto basta para afirmar su existencia« (VOCIII 1446). Die Existenz der Schönheit wird a posteriori, aufgrund der von ihr hervorgebrachten, erfahrbaren Wirkung, bewiesen. Der Versuch einer Definition müsste folglich entweder negativ verfahren und sich vom Nicht-Schönen abgrenzen oder aber sich an ihrer Wirkung orientieren (vgl. VOCIII 1461–1462). Damit verdeutlicht bereits Valera, dass weder ein rational-repräsentatives Realitätskonzept für Wirklichkeitsdarstellungen ausreichend ist, noch ein rein performativer Modus.
5.2.3 Liebesfigurationen in Pepita Jimenez Juan Valeras erster vollständig publizierter Roman Pepita Jim8nez (1874) wurde von Clar&n als »la perla de las novelas espaÇolas contempor#neas« (zit. in Romero Tobar 2008, 32) bezeichnet, ein Attribut, das den spanischen Autor, der erst spät seine literarische Karriere beschritt, in die Reihe der klassischen Autorinnen und Autoren einreiht, versteht man klassisch im Sinn der Universalität und Zeitlosigkeit des Werkes. Der Inhalt der zugrundeliegenden Liebesgeschichte ist schnell erzählt: Ein junger Priesterseminarist, Luis de Vargas, besucht das ländliche Andalusien seines Vaters, bevor er sich ganz seiner geistlichen Laufbahn verschreiben möchte. Dort verliebt er sich jedoch in die junge Witwe Pepita Jim8nez, die, vom Vater des Seminaristen umworben, ebenfalls in Liebe für den angehenden Priester entbrennt. Schließlich endet die Geschichte nach einem inneren Kampf der Hauptfigur Luis mit Ehe und Familienglück sowie einem stolzen Vater, der seinen einzigen Sohn, nun nach seinem Vorbild geschaffen, sein weltliches Erbe antreten sieht. Abgesehen von der Universalität des Themas, spricht Carole Rupe Kennedy in La dial8ctica del amor en la obra narrativa de Juan Valera (1982) dem spanischen Autor die Rolle eines Revolutionärs in der spanischen literarischen Landschaft der zweiten Jahrhunderthälfte zu, da er mit seinem Roman Pepita Jimenez den psychologischen Roman erstmals in einem modernen Kontext präsentiere. Während ihre Ergebnisse sehr deutlich zeigen, dass Valera die Dialektik der Liebe als Basis jeder psychologischen Figurenanalyse heranzieht und die Liebe in seinem Gesamtwerk zum Lebensthema erhebt (vgl. Kennedy 1982, 1), fehlen bislang Ausführungen zur eingangs angesprochenen Koevolution von Roman und Liebe.
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Obschon sich Valeras Roman und seine Ästhetik der reinen Kunst an neuen Wegen der literarischen Gestaltung orientieren, wie sie in Frankreich mit Arthur Rimbauds Une saison en enfer (1873) oder Jules Barbey D’Aurevillys Les Diaboliques (1874) entstehen, so zählt sein Werk trotz technischer Neuerungen nicht zu jenen stimulierenden Innovationen der europäischen Literatur (vgl. Romero Tobar 2008, 32). Die Universalität seines Romans zeichnet sich dagegen in der zeitgenössischen positiven Rezeption ab, da unterschiedlichste Kritikerinnen und Kritiker Pepita Jim8nez nach ihrer FaÅon auslegten, wie Romero in seiner gut kommentierten Ausgabe erläutert.10 Betrachtet man Pepita Jim8nez im Kontext Valeras eigener ästhetischer Prinzipien und anhand von Liebe als poetologischem Instrument, zeigen sich die Innovationen des Romans dreifach: Erstens wird die Wirkweise von Liebe als Diskurs bzw. Kommunikationsmedium derart literarisch gestaltet, dass zum einen Liebe als Form der höchstpersönlichen Kommunikation parodiert wird, zum anderen die Briefform das Geständnis als Methode der Wissensgenerierung verdeutlicht. Zweitens rekurriert Valera auf Stendhals Kristallisationsmetapher, um eine imaginierte von einer praktikablen und letztlich erfolgreich realisierbaren Liebe zu unterscheiden. Und schließlich wird drittens Valeras ästhetisches Konzept einer interesselosen Liebe in metafiktionalen Passagen aufgegriffen, um das enge Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, Fiktionalität und Realität aufzuzeigen. Die Modernität des Romans zeigt sich auch in der Motivgestaltung sowie in der breiten Rezeption des Werkes von nachfolgenden Generationen.11 10 Neben moralischen Funktionen, die, den realistischen Prämissen folgend, den zeitgenössischen gesellschaftlichen Wandel Spaniens in der Abwendung Luis’ de Vargas von seinen mystischen Bestrebungen hin zur weltlichen Ehe nachzeichnen, wurde der Roman von anderer Seite als dem ästhetischen Idealismus nahe stehend eingeordnet oder mit dem malerischen Realismus eines Vel#zquez verglichen. Wiederum andere sahen die Innovation in der detaillierten psychologischen Analyse des Protagonisten, eine Erzähltechnik, die in der spanischen Prosaliteratur erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Aufschwung erlebte, oder in seinem einfachen Stil, wie der französische Kritiker Louis-Lande zu verstehen gab (vgl. Romero Tobar 2008, 35–37). Bis heute scheinen diese Positionen aufrecht, Valera wird sowohl als realistischer Schriftsteller gelesen, wenngleich vorzugsweise von psychischen Vorgängen seiner Figuren, oder aufgrund seines Ästhetizismus als Vorläufer des l’art pour l’art und damit der künstlerischen Moderne bezeichnet. Diese Idealisierung, die sich auch in der Sprache der einzelnen Figuren zeigt, verlagert Valeras Werk ans andere Ende des literarischen Realismus. 11 Neuerungen in der Motivgestaltung ergeben sich dadurch, dass das universelle Thema einer Dreiecksbeziehung transformiert wird, da nun ein Priester zum festen Bestandteil dieser Konstellation wird. Die um eine geistliche Komponente bereicherte Figurenzusammenstellung wird literarisiert und hat nicht länger die moralisierende Funktion vergangener Epochen inne, sondern zählt nun zum Inventar literarischer Motive, um die mit dem Thema Liebe verwobenen Konflikte darzustellen. Zudem entwirft Valera mit der als selbstbestimmt vorgestellten Figur Pepita Jim8nez einen neuen Frauentypus, der auf die erweiterten Zutrittsmöglichkeiten von Frauen im öffentlichen Leben Spaniens referiert und mit dem
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Für den spanischen Roman um die Jahrhundertwende und über die nationalsprachliche Literatur hinaus zeichnet sich die Gestaltung des Liebeskonfliktes typisch in einem Rückgriff auf den Widerstreit zwischen sinnlichmenschlicher und mystisch-göttlicher Liebe ab. Dieser Gegensatz ist bereits seit der Antike fester Bestandteil von Liebesdiskursen. Der Rekurs auf die Mystik enthüllt sich im spanischen Umfeld jedoch als mehrdeutig, da die häufig genannten spanischen Mystiker Santa Teresa de ]vila oder San Juan de la Cruz in einer Zeit nationaler Unsicherheit und politischer Umstrukturierung am Ende des 19. Jahrhunderts die Siglos de Oro und damit die nationale Glanzzeit in Erinnerung rufen, die von Neuerungen jeglicher Art gekennzeichnet war. Darüber hinaus bildet die Mystik einen Teil des religiösen Systems, der die Individualität hervorhebt und jegliche Art des Dogmatismus ablehnt. Schließlich spiegeln die intertextuellen Verweise auf den mystischen Diskurs die paradoxe Haltung einer Generation von Schreibenden, die in ihrem künstlerischen Ausdruck zwischen Erfolg und Zensur balancieren muss. Die folgende Analyse betrachtet daher die Entfaltung der Gefühle des Protagonisten, der einen inneren Kampf zwischen mystischer und irdischer Liebe austrägt, in Zusammenhang mit der Funktion, seine Individualität auszubilden. Dieser Ansatz gründet in Valeras Liebeskonzept selbst: denn jede Liebe wurzelt in der Selbstliebe, so schreibt Valera in seiner »Psicolog&a del amor«. Da jeder Mensch danach strebe, sein Wesen zu erhalten und es durch kein anderes zu ersetzen, stellt sich ihm die Frage: ¿Qu8 es, en qu8 consiste la ra&z del individuo, lo que nos determina y distingue de los otros, y que no queremos perder? […] Y, sin embargo, ese yo, despojado de cuanto es yo, es lo que se ama y se desea conservar, y por nadie ni por nada se cambiar&a, si cambiarlo fuera posible. (VOCII 1574)
Liebe verstanden als Ort der höchstpersönlichen Kommunikation ermöglicht die Konstruktion der Individualität. Doch eben diese Individualität, diese Einzigartigkeit des »yo« in Abgrenzung zu gesellschaftlichen Forderungen, wird nicht nur in Pepita Jim8nez in Frage gestellt, bereits in Valeras Liebeskonzept ist diese Frage nach der Singularität eines Menschen insofern angelegt, als der spanische Autor die Kluft zwischen Egoismus und Altruismus nur als Scheingegensatz konzipiert. In Analogie zu einer zwischenmenschlichen Liebe als Egoismus zu zweit, zieht er folgende Vergleiche: Realismus vermehrt in der Literatur reflektiert wird. Schließlich inspirieren seine narratologischen Experimente, wie beispielsweise die wechselnden Erzählperspektiven in der Anlage des Briefromans, die Werke seiner Zeitgenossen. Direkte Spuren hinterlies die Lektüre von Pepita Jim8nez bei Galdjs, Pardo Baz#n und Clar&n. Doch auch jüngere Schriftsteller wie Unamuno, Azor&n oder Perez de Ayala waren mit dem Werk des Andalusiers vertraut (vgl. Romero Tobar 2008, 43–47).
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[…] y as& pudiera llamarse al amor de la familia el ego&smo de seis, o de diez, o de quince; y el amor de la patria, el ego&smo de veinte o treinta millones; y el amor de Dios hacia nosotros o de nosotros hacia Dios, el ego&smo total; aquel punto sublime en que ego&smo y altruismo se confunden. (VOCII 1575)
Indem er die göttliche Liebe mit dem ›absoluten Egoismus‹ gleichsetzt, grenzt er sich auch in literarhistorischer Hinsicht vom poetologischen Programm der Romantik ab, das Liebe über ihre Inkommunikabilität definiert und damit eine klare Grenze zwischen eigenen, unvermittelbaren Gefühlen und jenen der anderen, kommunizierbaren zieht. Die Verbindung von Egoismus und Altruismus veranschaulicht einmal mehr die Entdifferenzierung von Liebe und Diskurs über Liebe, wie sie die Jahrhundertwende charakterisiert.
5.2.4 Liebe als höchstpersönliche Kommunikation Wenngleich Don Luis’ de Vargas Briefe, die realistisch gestalteten Gewissensberichten gleichkommen, Basis der geschilderten psychischen Entwicklung des jungen Mannes sind, wird bereits im ersten Teil des Romans die Illusion einer höchstpersönlichen Kommunikation immer wieder ironisch gebrochen. Während Liebe kulturell betrachtet der Selbstverwirklichung der beteiligten Personen dient, indem sie es ermöglicht, die Individualität zum ›Höchsten‹ zu steigern und systemtheoretisch gesprochen in der Ehe – als konstruierter Welt zu zweit – psychisches Gefühl und soziale Form so kunstvoll zu vereinen, dass die Doppelbedeutung der menschlichen Existenz als Individuum und Gesellschaftsmensch verwirklicht werden kann (vgl. Werber 2003, 14–15), wird eben diese Individualität des Protagonisten in Pepita Jim8nez in Frage gestellt. Augenfällig handelt es sich in den Briefen Luis’ um keine Konstruktion einer Welt zu zweit, denn seine Gegenspielerin als aktiv Handelnde kommt nur indirekt, aus seiner Perspektive, zu Wort. Seine Entwicklung gleicht einer Stendhal’schen Kristallisation, in der die Liebe als Stimulus dient, die Geliebte immer weiter perfektioniert wird, wobei eine Konfrontation von persönlichen und gesellschaftlichen Forderungen großteils ausgespart bleibt. Lou CharnonDeutsch erläutert Pepitas Charakterisierung in Gender and representation. Women in Spanish realist fiction (1990) als die Idee von Frau insgesamt, die sowohl den Vorstellungen von Zuneigung und Fürsorge ihres ersten, im Alter kranken Ehemannes entspricht, als auch jenem frommen und intellektualisierten Frauenbild des Vikars oder aufgrund ihres sozialen Aufstieges aus der Misere dem Hoffnungsbild ihrer Mitbürger und Mitbürgerinnen. Pepita spielt viele verschiedene Rollen. Als Inkarnation der Perfektion inspiriert sie ihre jeweiligen
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Mitmenschen, nach ihrem Ideal zu streben. Von besonderer Bedeutung erweist sich ihre Rolle aber für Luis de Vargas (vgl. Charnon-Deutsch 1990, 22). Luis’ Illusionen von Liebe werden durch subtil eingesetzte Ironie für die Lesenden ständig gebrochen. Als der Seminarist am Ende seines Briefs vom 4. April über seine Sentimentalität spricht, bleibt kein Zweifel am Ausdruck seiner Verliebtheit, insbesondere, da er einige Zeilen davor anmerkt, erstmals mehr als nur die ›göttliche Liebe‹ gespürt zu haben: »Confieso que algffln sentimiento profano se ha mezclado con esta pureza de afecto« (PJ 171). Humoristisch gestaltet, liest sich sodann die Gewissensprüfung, in der Luis seinen Gemütszustand auf Erfahrungen altruistischer Liebe zurückführt: »Siento una dejadez, un quebranto, un abandono de la voluntad, una facilidad tan grande para las l#grimas, lloro tan f#cilmente de ternura al ver una florecilla bonita o al contemplar el rayo misterioso, tenue y liger&simo de una remota estrella, que casi tengo miedo« (PJ 171).12 Tränen als Bestandteil eines melancholischen Liebeskonzeptes – gedeutet als Hinweis seines spirituellen Fortschrittes, da er annimmt, einem Mystiker vergleichbar, die Gabe der Tränen erhalten zu haben – spielen in Luis de Vargas’ Vorstellungen der Liebe eine entscheidende Rolle. Der junge Mann ist insgesamt im ersten Teil des Romans Verfechter einer passionierten, romantischen Liebe. Dass dieses Konzept nicht länger ernst zu nehmen ist, zeigt sich durch humorvoll zusammengestellte Innensichten des Seminaristen: auf die Beschreibung der physischen und psychischen Schönheit Pepitas, »[…] todo se une en perfecta armon&a, donde no se descubre nota que disuene«, folgt der verzweifelte Ausruf: »¡Cu#nto me pesa de haber venido por aqu& y de permanecer aqu& tan largo tiempo!« (PJ 188). Nur einem unglücklich Verliebten kann dieser schöne Anblick Verdruss bereiten. Obwohl Pepita zweifelsohne Luis inspiriert, sein Liebeskonzept zu reflektieren, fehlt dennoch ein Großteil der Konfrontationen der beiden Weltsichten. Die Individualität des Priesterseminaristen wird nicht durch das Wechselspiel von Aktion und Reaktion in der Liebeskommunikation geprägt. Seine Handlungen finden kaum eine Entsprechung in der Romanwirklichkeit, vielmehr reduziert sich Luis’ Aktivität auf Gedankenexperimente – seine Liebe gleicht eher einer Kristallisation. Pepitas Bild graviert sich sodann in Luis’ Gedanken ein und überstrahlt alles, obwohl er vergeblich um göttliche Hilfe bittet, ein noch größeres Konzept der Schönheit zu empfangen, das jenes von Pepitas Schönheit inkludiere, wie er im Brief vom 7. Mai seinem Onkel gesteht (vgl. PJ 217). Gegen Ende des Briefes bereitet er ein erstes Geständnis seiner Gefühle an den Dekan vor, indem er schreibt »pero no, yo no amo a Pepita todav&a. Me ir8 y la olvidar8« (PJ 218). Das tatsächliche Geständnis erfolgt zwei Briefe weiter. Nachdem er nur 12 Siehe auch Brief vom 8. April, wo Luis von seinem Mitgefühl überwältigt, angesichts zweier aus ihrem Nest gefallener Küken Tränen vergießt (vgl. PJ 182).
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fünf Tage später, zunächst rein hypothetisch als Rivale seines Vaters, seine missliche Lage durchspielt, kommt er nicht umhin, innerlich zerrissen, seinem Onkel im Brief vom 19. Mai seine Seelenregungen zu gestehen, die zwischen Liebeswahn und Liebeskrankheit schwanken: Al entrar, Pepita y yo nos damos la mano, y al d#rnosla me hechiza. Todo mi ser se muda. Penetra hasta mi corazjn un fuego devorante, y ya no pienso m#s que en ella. Tal vez soy yo mismo quien provoca las miradas si tardan en llegar. La miro con insano ah&nco, por un est&mulo irresistible, y a cada instante creo descubrir en ella nuevas perfecciones. (PJ 228)
Der Verlauf der Liebesgeschichte umfasst dann selbstredend die Augensprache des Verliebten, den ersten Kuss sowie die erste Liebesnacht. Mit der sinnlichen Erfahrung der Sexualität hat Luis de Vargas seine Entwicklung vom theoretischen, weltfremden tejlogo hin zu einem würdigen Nachfolger seines Vaters, des Kaziken, abgeschlossen, er hat nicht nur die Reitkunst, das Kartenspiel und die körperliche Liebe erlernt, er wird auch noch als Sieger eines Duells mit dem Conde de Genazahar ruhmreich die Ehre Pepitas verteidigen. So kommentiert der Erzähler in Paralipjmenos diese Meinungsänderung Luis’ aus der Sicht des jungen Mannes auch nicht mehr als »ca&da«, sondern bezeichnet sie als »cambio«. Gleichermaßen streicht die einzige, vom fiktiven Herausgeber abgedruckte Notiz des Dekans diese opportunistische Haltung hervor: Über seinen Neffen schreibt der Dekan: »Pens8 que ten&a una verdadera vocacijn, pero luego ca& en cuenta de que era un vano esp&ritu po8tico; el misticismo fue la m#quina de sus poemas, hasta que se presentj otra m#quina m#s adecuada« (PJ 322). Das mystische Streben Don Luis’ wird von seinem Onkel als Romantizismus ausgelegt, da er sein Wissen um diese Liebe aus Büchern gewonnen hat. Kein Wunder, dass Luis im gesamten ersten Teil versucht, Pepita einer seiner aus religiöser Lektüre stammenden angelesenen Frauenfiguren zuzuordnen. Die Titelheldin wird bis ins Übernatürliche erhöht, nimmt dabei allerdings nicht nur positive Züge als engelgleiches Wesen an, sondern auch diabolische als eine Art böser Geist, der alle verzaubert, die mit ihm zu tun haben (vgl. Kennedy 1982, 48). Deshalb steht dieser papierenen Liebe auch die sinnliche auf Pepita projizierte Liebe diametral gegenüber, die sich erst in Paralipjmenos in eine Erzählung verwandelt und charakteristisch für die Unterscheidung der Liebe um 1900 im spanischen Roman werden soll: Der angelesenen Liebe aus Büchern wird immer wieder eine Liebe oder ein Mensch aus carne y hueso gegenübergestellt, nicht nur hier in Valeras Roman, auch Clar&ns La Regenta (1884/1885) oder Unamunos La t&a Tula (1921) greifen diese Differenzierung auf. Im Gegensatz zur Romantik wird jedoch nicht die Inkommunikabilität der ›wahren Liebe‹ vorgestellt, sondern die Verlebendigung rezipierter Diskurse. Aufgrund der Ironisierung kann das dem Roman vorangestellte Lemma »La
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virtud no sabe fallar« und die psychologische Entwicklung des Protagonisten Luis de Vargas, der seine mystisch-göttliche Liebe zugunsten einer sinnlichmenschlichen verwirft, als Motto der modernen Ironikerin im Sinne von Richard Rorty gelesen werden. Nicht die Tugend ist gefallen, sondern die Bedeutung der Tugend hat sich den sozialen und kulturellen Gegebenheiten angepasst. Die im Begriff ›virtud‹ gesammelten Wertvorstellungen mussten sich ändern, um sich an Don Luis’ anzupassen. Ob sich in dieser Entwicklung das »yo« des Protagonisten nun endlich von unzeitgemäßen, durch religiöse Bücher vermittelten Vorstellungen befreien konnte oder einem anderen Diskurs unterlag, indem seine sich entwickelnde Liebe nicht nur von seinem Vater Don Pedro de Vargas, sondern auch vom Dekan, dem Vikar13 und AntoÇona herbeigeführt wurde, bleibt schließlich offen. Gegen Ende des Epilogs beschreibt der Vater manch nostalgischen Moment seines Sohnes. Obwohl Luis nun glücklich sei, vergesse er nicht, ein Ideal entwürdigt zu haben. Seinen Trost findet Luis darin, Gott als Ursache seiner Liebe zu Pepita anzusehen. Davon ganz abgesehen, rückt das Ende des Romans die Kunst in den Vordergrund, indem Pepitas ehemaliger Obstgarten nun mit einem luftigen Liebesschrein ausgestattet ist, worin sich neben bequemen Möbeln zwei Gemälde befinden: Eines zeigt Amor und Psyche, das andere Daphnis und Chloe. Schließlich erinnern die lateinischen LukrezVerse an die lateinischen Verse zu Beginn des Romans, sodass ein letztes Mal die Aufmerksamkeit auf die Gesamtkomposition des Werkes gelenkt wird.
5.2.5 Ein Briefroman Für das 19. Jahrhundert ungewöhnlich greift Valera in seinem ersten vollendeten Roman auf die Gattung des Briefromans zurück. Zu jener Zeit war er bereits aus der Mode gekommen, bevor es gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder zu einer parodistischen Hinwendung zu dieser Gattungsform kommt. Seine Wahl für dieses Subgenre wird in der Forschung meist biographisch erklärt, da er aufgrund seiner diplomatischen Tätigkeit eine umfangreiche Korrespondenz hinterließ und bis heute als einer »der besten Briefschreiber der spanischen Literatur« (Pörtl 1995, 238) gilt. Nach der Veröffentlichung seiner Briefwechsel kann als gesichert angesehen werden, dass manche Briefe auch die Funktion von Romanentwürfen übernommen haben (vgl. ebd., 239). 13 Der Vikar überwindet schließlich seine Überraschung und traut die beiden, nachdem er Don Pedro de Vargas seine Verwunderung angesichts der menschlichen Natur mitteilt, wie der Vater seinem Sohn in Paralipjmenos gesteht »[t]odav&a est# haci8ndose cruces al considerar cu#nto trabajaste en la viÇa del SeÇor en la noche del 23 al 24, y cu#n variados y diversos fueron tus trabajos« (PJ 337).
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Mit Pepita Jim8nez wird allerdings mehr als der Brief der Roman im Briefroman hervorgehoben, wie Tilmann Altenberg in seinem Aufsatz »La epistolaridad de Pepita Jim8nez de Juan Valera« (2003) mit Blick auf den Aufbau des Werkes anschaulich argumentiert. Zwei Erzählebenen lassen sich festmachen, die den Handlungsverlauf aus unterschiedlichen Perspektiven präsentieren. Auf intradiegetischer Ebene wird aus der Perspektive Luis’, Don Pedros und des Dekans die Geschichte einer sich entwickelnden Liebe erzählt, während auf extradiegetischer Ebene der fiktive Herausgeber Kommentare und Erklärungen der Ereignisse anfügt. Rein äußerlich ist der Roman dreigeteilt: Erster Teil, Cartas de mi sobrino, und letzter Teil des Romans, Ep&logo. Cartas de mi hermano, bestehen aus Briefen, die als Manuskript des Dekans gesammelt und einige Jahre nach dessen Tod von einem nicht näher genannten Herausgeber publiziert wurden. Im ersten Teil des Romans schildert Luis de Vargas in einer Reihe von Gewissensprüfungen in Briefform seinem Onkel, dem Dekan, seine Gefühlsregungen und Erlebnisse. Der letzte Teil des Romans rekurriert ebenfalls auf das Medium Brief, wenngleich der fiktive Herausgeber aus dem ihm vorliegenden Bündel keine vollständigen Briefe mehr abdruckt, sondern lediglich Briefauszüge aus der Korrespondenz zwischen Pedro de Vargas und seinem Bruder dem Dekan präsentiert. Zwischen den beiden Teilen befinden sich die mit Paralipjmenos bezeichneten Schilderungen einer allwissenden Erzählinstanz über die Gegebenheiten nach dem ersten Kuss zwischen Pepita und Luis, dem weiteren Verlauf der Handlung bis zur ersten gemeinsam verbrachten Liebesnacht, gefolgt von dem Entschluss zur Heirat. Besonders in diesem Teil findet ein ständiges Übertreten der Erzählebenen statt. Der nicht eindeutig als konkrete, in den Handlungsablauf involvierte Figur bestimmte fiktive Herausgeber kommentiert immer wieder die Geschehnisse der Diegese und bricht damit Valeras eigenes Gebot einer wahrscheinlichen Poesie. Gleich zu Beginn tritt der Roman als solcher in den Vordergrund, da der fiktive Herausgeber die Frage nach Autorschaft und Echtheit der Briefe offen lässt:14 Contiene el legajo tres partes. […] Todo ello est# escrito de una misma letra, que se puede inferir fuese la del seÇor de#n. Y como el conjunto forma algo a modo de novela, si bien con poco o ningffln enredo, yo imagin8 en un principio que tal vez el seÇor De#n [sic!] quiso ejercitar su ingenio componi8ndola en algunos ratos de ocio; pero, mirado el asunto con m#s detencijn y, notando la natural sencillez del estilo, me inclino a creer ahora que no hay tal novela, sino que las cartas son copia de verdaderas cartas, que el 14 Diese Problematisierung der Authentizität der Autorschaft findet sich auch bei Rousseaus Julie ou la Nouvelle H8lo"se und thematisiert dort das Dilemma des romantischen Subjektes, welches das von der Empfindsamkeitstheorie entworfene »Ideal eines sich selbst unvermittelt erfahrenden Ich[s]« zum Scheitern verurteilt, da sich das Ich wie auch die Liebe nur durch die anderen, durch Diskurse begründet (Knaller 2007, 56).
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seÇor de#n rasgj, quemj o devolvij a sus dueÇos, y que la parte narrativa, designada con el t&tulo b&blico de Paralipjmenos, es la sola obra del seÇor de#n, a fin de completar el cuadro con sucesos que las cartas no refieren. […] El mencionado manuscrito, fielmente trasladado a la estampa, es como sigue. (PJ 136–137)
Wird zunächst der Dekan als Autor des Manuskripts, das in allen Teilen ›dieselbe Handschrift‹ aufweist, vorgestellt, streut der fiktive Herausgeber mit dem darauffolgenden Satz und dem metafiktionalen Hinweis auf die Beschaffenheit der Texte als »algo a modo de novela« Zweifel an seiner Echtheit ein. Diese Zweifel an der authentischen Widergabe gefundener Brief werden sodann durch die Reduktion der Beteiligung des Dekans auf den Teil des Paralipjmenos relativiert bevor der fiktive Herausgeber am Ende dieser Art Einleitung die Zweifel wieder schürt, indem er das Augenmerk auf die Zweideutigkeit des Wortes »manuscrito« als ›Handschrift‹ und ›Manuskript‹ lenkt. Auf diese Weise wird die Funktion der Herausgeberfiktion als Beglaubigungsstrategie gleich zu Beginn verkehrt, weshalb die Lesenden nicht mit Sicherheit von einem unmanipulierten Text ausgehen können, da sich der erste Erzähler als unreliable narrator entpuppt.15 Die Anmerkung, lediglich der Titel des Textes sei hinzugefügt worden sowie die Namen verändert, um reale Personen und deren Leben nicht ungewollt in einen Roman aufzunehmen, legt eine ironische Lesart nahe, besonders vor dem Hintergrund des literarischen Realismus.16 Im Verlauf des Romans verstärkt sich die Vermutung der Unzuverlässigkeit oder zumindest der Ambivalenz des ersten Erzählers noch weiter. Dies erfolgt hauptsächlich im zweiten Teil, der eingangs wohl dem Dekan zugeschrieben wird, sich jedoch nicht auf dessen Perspektive reduziert und immer wieder Kommentare eines »sujeto, perfectamente enterado de todo« (PJ 247) erkennen lässt. Hinweise auf die Fiktionalität fehlen selbst im eigentlichen Briefteil des Romans nicht. Denn auch hier verlieren die Briefe ihre gewöhnliche Form. Nachdem der erste Brief »prototypisch« als »Diskursmarker« (Altenberg 2003, 243) eingesetzt wird, verschwinden ab dem zweiten Exemplar alle Anrede- und Grußformeln – nur das Datum bleibt erhalten. Zahlreiche illusionsbrechende Techniken durchziehen den Roman und stellen damit die für Briefromane charakteristische Nähe zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit sowie die Echtheit 15 Hier folge ich Altenberg nicht weiter, der davon ausgeht, dass die Lesenden keinen Grund haben, an der Aufrichtigkeit des Herausgebers zu zweifeln, auch wenn er anerkennt, dass die Perspektivierung im zweiten Teil des Romans gewisse Schwierigkeiten mit sich bringt: »Si bien es cierto que no hay por qu8 dudar de la fiabilidad del narrador-editor, cuyo compromiso con los personajes de la di8gesis es nulo, la narracijn de los ›Paralipjmenos‹ plantea un inconveniente« (Altenberg 2003, 236). 16 AzaÇa entdeckt eine mögliche real-historische Vorlage der Figur Pepitas in DoÇa Dolores Valera y ViaÇa, die in erster Ehe mit einem 80-jährigen früh verwitwet und in zweiter Ehe 1829 den ehemaligen Priesterseminaristen Don Felipe Ulloa heiratet (vgl. Romero Tobar 2008, 29).
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der geschilderten Gefühle des Priesterseminaristen in Frage. Schließlich gelingt es Valera mittels Ironie auch auf inhaltlicher Ebene, eine Identifikation der Lesenden mit dem seine Gefühle gestehenden Protagonisten zu vereiteln, da nicht nur die Lesenden, sondern auch alle anderen Beteiligten auf Handlungsebene viel früher die Verliebtheit Luis’ erkennen als dieser selbst. Diskurstheoretisch entsteht eben erst in dieser Beichte durch die Benennung von außen die Liebe als solche. Damit reflektiert Valera die Wissensproduktion in Liebesdingen, da nicht der erlebende Luis seine Gefühle erkennt, vielmehr verfügen die Gesellschaft oder der Diskurs über die Macht, seine Erlebnisse als Liebe einzuordnen. Für die Lesenden bedeutet dies, dass sie durch die doppelte Information des unwissenden Geständigen und der wissenden Umgebung die für Briefromane charakteristische limitierte Erzählperspektive des Protagonisten im ersten Romanteil übersteigen (vgl. ebd., 232–233). Valera wählt eine Technik, die auf die seit der Romantik etablierte Differenzierung der Liebe in Liebe und Diskurs über Liebe anspielt. Die im Epilog angeführten Briefe des Vaters sind aufgrund der vorgenommenen Kürzungen dann kaum noch als solche erkennbar und vermitteln mehr den Eindruck von Notizen, mit denen der Roman in einem Crescendo ausklingt. Völlig von der Briefromanstruktur gelöst wird der Mittelteil des Romans gestaltet, der aufgrund der Perspektivierung den fiktionalen Charakter des Textes hervorhebt. Zunächst beginnt Paralipjmenos noch mit einer dem fiktiven Herausgeber identen Stimme: No hay m#s cartas de don Luis de Vargas que las que hemos transcrito. Nos quedar&amos, pues, sin averiguar el t8rmino que tuvieron estos amores, y esta sencilla y apasionada historia no acabar&a, si un sujeto, perfectamente enterado de todo, no hubiese compuesto la relacijn que sigue. (PJ 247)
Sollte der fiktive Herausgeber vertrauenswürdig sein und das Manuskript tatsächlich so veröffentlicht haben, wie es in seine Hände gelangte, kann er selbst nicht der allwissende Erzähler des zweiten Teils sein, da ihn das Bündel erst über Umwege erreichte. Abgesehen von dieser narratologischen Unstimmigkeit, kündigt der Mittelteil überdies gleich zu Beginn indirekt eine neue, nicht passionierte Liebeskonzeption an. Die ›einfache und leidenschaftliche Geschichte‹ der Briefe des Neffen – als romantische, unerfüllte Liebe zweier junger Menschen, deren Glück aufgrund unüberwindbarer Hindernisse erst im Jenseits erreicht werden kann – stellt nicht den Endpunkt einer Entwicklung dar, sondern schreitet aufgrund nachstehender Aufzeichnungen noch weiter fort. Nun beginnt ein Verwirrspiel über diejenige Figur, die hier spricht. Valera gestaltet dieses ausgeklügelt, indem aus einer allwissenden Perspektive erzählt, die Identität der Sprechinstanz jedoch nie konkretisiert wird. Hinweise gibt es in unterschiedliche Richtungen. Zu Beginn des zweiten Teils scheint es plausibel,
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hinter dem ›wir‹ Don Pedro als Erzähler zu vermuten: »Nadie extraÇj en el lugar la indisposicijn de Pepita, ni menos pensj en buscarle una causa que sjlo nosotros, ella, don Luis, el seÇor De#n y la discreta AntoÇona sabemos hasta lo presente« (PJ 247). Doch bereits wenige Sätze später wird diese Vermutung widerlegt, wenn der Erzähler erläutert: A nadie le cab&a en la cabeza, a nadie le pasaba por la imaginacijn, que el tejlogo, el santo, como llamaban a don Luis, rivalizase con su padre, y hubiera conseguido lo que no hab&a conseguido el terrible y poderoso don Pedro de Vargas: enamorar a la linda, elegante, esquiva y zahareÇa viudita. (PJ 248)
Inhaltlich werden Pepitas Gefühlszustände, ihre Beichte an den Vikar, AntoÇonas Einschreiten und die wundersame Verführung der Noche de San Juan geschildert – allesamt Ereignisse und psychische Zustände, die den Wissensstand des Dekans oder Don Pedros übersteigen, soll das Gebot der Wahrscheinlichkeit nicht gebrochen werden. Diese Unstimmigkeiten werden insofern als metafiktionale Klammer im Roman thematisiert, als sich der fiktive Herausgeber noch einmal zu Wort meldet, um die Frage der Erzähleridentität erneut aufzuwerfen. Wieder argumentiert der Herausgeber für und gegen den Dekan als Verfasser dieses zweiten Teiles. Dieser Verfasser [t]ampoco hizo mal, en mi sentir, en ocultar su personalidad y en no mentar su yo, lo cual no sjlo demuestra su humildad y modestia, sino buen gusto literario, porque los poetas 8picos y los historiadores, que deben servir de modelo, no dicen yo aunque hablen de ellos mismos y ellos mismos sean h8roes y actores de los casos que cuentan. (PJ 319–320)
Wenngleich sich in dieser Textstelle die Herausgeberfiktion vom bisherigen ›Wir‹ zu einem ›Ich‹ kondensiert, wird auch dieses nicht als eine bestimmte Figur greifbar. Möglicherweise sollte die Diskussion um den Dekan als Verfasser von einer ganz anderen Figur ablenken, deren Zimmer mit einem Mahagonitischchen ausgestattet war, auf dem sich Schreibutensilien und Papier befanden und das über eine Vielzahl von Gebets- und Geschichtsbüchern in einem Schrank verfügte (vgl. PJ 249). Diese Beschreibung gilt einem hohen Zimmer im Hause von Pepita Jim8nez, das gleichsam ihr Rückzugsort war. Pepita würde als unerkannte Erzählerin für jene Passagen wahrscheinlich wirken, die vor allem zu Beginn der Paralipjmenos ihre Sichtweise der Liebesgeschichte und ihren seelischen Zustand spiegeln. Auch könnte sie als Vertraute von Luis und AntoÇona deren Sichtweise erfahren haben. Wie sie in den Besitz der Notiz des Dekans gekommen ist, bliebe allerdings offen, ginge man nicht gleich dazu über, in Pepita Jim8nez das alter ego von Juan Valera zu sehen, das im praktikablen, ›menschlichen‹ Liebeskonzept die Inkarnation des Schönen anerkennt und letztlich für die Schriftstellerei eintritt. Der Hinweis auf die Gebets- und Geschichtsbücher in Pepitas Zimmer, das außer ihrem Beichtvater und AntoÇona
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für gewöhnlich niemand betritt, erinnert zum einen an Recherchearbeiten des Autors, zum anderen sind diese Lektüreangaben so allgemein gehalten, dass sie einfach die Belesenheit der Protagonistin unterstreichen könnten. Wichtiger als die Klärung der Erzähleridentität ist jedoch der doppelte Effekt, der durch diese Unstimmigkeiten ausgelöst wird. Einerseits werden den Lesenden unterschiedliche Sichtweisen derselben Handlung geschildert, andererseits wird immer wieder die Fiktionalität des Textes in Erinnerung gerufen. Ganz deutlich wird dies auch mit den Motti belegt, die den Roman rahmen. Pedro de Vargas’ Briefe enden mit Lukrez-Versen, die den Sockel einer Venusstatue im Garten von Luis und Pepita schmücken: »Nec sine te quidquam dias in luminis oras exoritur, neque fit loetum, neque amabile quidquam« (PJ 352).17 Diese Hymne auf Venus als Muse des Dichters, mit der Lukrez um Inspiration für sein De rerum natura bittet,18 verweist am Ende von Pepita Jim8nez zurück an den Beginn des Romans, dessen vorangestelltes lateinisches Zitat »Nescit labi virtus« (PJ 135)19 als Kreation Valeras angesehen wurde.20 Das Spiel von Realität und Fiktionalität schließt in einer vernachlässigbaren Unterscheidung. Zentral bleibt hingegen die Liebe, welche die Grundlage für künstlerische Schöpfung und den eben gelesenen Roman sowie für Luis’ de Vargas Persönlichkeitsentfaltung bildet. Dass die einzelnen Resultate dieser Aktivierung an eine Form gebunden sind, die von unterschiedlichen Diskursen (oder Reden vertrauter Personen) geprägt werden, mindert die Schönheit nicht zwingend. Aufgrund ihrer Komplexität und dem Attribut der Unbestimmtheit wird Liebe in Juan Valeras Werken als epistemologische, ästhetische und poetologische Grundlage funktionalisiert, um eine Romanform zu schaffen, die sich außerhalb der poetologischen Programme seiner Zeit bewegt. Ziel ist dabei keine Oppositionsbildung, sondern das Aufzeigen der Ununterscheidbarkeit von Individuum und Gesellschaft beispielsweise in der Identitätskonstruktion des Protagonisten oder in der Romangestaltung, die den realistischen Forderungen nach Wirklichkeitsnähe insofern treu ist, als Pepita Jim8nez zu Recht als psychologischer Roman des Realismus bezeichnet werden kann, der dennoch immer wieder auf den Kunstcharakter verweist. Die implizite Thematisierung der künstlerischen Kreativität stellt einen Anknüpfungspunkt zu Galdjs’ Tristana dar, wonach 17 »y sin ti nada emerge a las divinas riberas de la luz, y no hay sin ti en el mundo ni amor ni alegr&a« (PJ 352, Anm. 335). 18 Ein Blick auf den Kontext der Verse verdeutlicht dies: Also lenkst du, o Göttin, allein das Steuer des Weltalls. / Ohne dich kann nichts Frohes der Welt, nichts Liebes entstehen: / Drum sollst du mir auch Helferin sein beim Dichten der Verse, / Die ich zum Preis der Natur mich erkühne zu schreiben. (Lucretius Carus 1993, V 21–25). 19 »La virtud ignora caer« (PJ 135, Anm. 1). 20 Noch 1985 wurde als Quelle für die dem Roman vorangestellte Maxime der nicht fallenden Tugend im Diccionario de expresiones y frases latinas Pepita Jim8nez angegeben, wenngleich sie aus der barocken Emblematik stammen dürfte (vgl. PJ 135, Anm. 1).
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Kunst eine entscheidende Rolle in der Persönlichkeitsentfaltung der Protagonistin spielt.
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Als Galdjs 1870 seinen Artikel »Observaciones sobre la novela contempor#nea de EspaÇa« schrieb, war er noch von einem euphorischen Glauben an das gesellschaftliche Veränderungspotential des Bürgertums geprägt, der sich bis zu seiner Antrittsrede mit dem Titel »La sociedad presente como materia novelable« (1897) für die Real Academia EspaÇola stark wandeln sollte (vgl. Bonet 1990, 32). In den 1870er Jahren sieht Galdjs im Bürgertum jene Schicht verkörpert, die den modernen Menschen mit seinen Tugenden und Lastern, mit seinen Versuchen, Probleme der Menschheit zu lösen, aber auch mit seinem ökonomischen Einfluss auf Handel und Geldwesen am besten charakterisiert. Die Aufgabe der Literatur liegt für Galdjs darin, diesen Lebensbereichen Form zu geben. Dies ist umso wichtiger, insofern der Mittelstand als eine Gesellschaftsschicht aufgefasst wird, die gerade im Begriff ist, sich zu bilden. Noch kann sie in ihrer Positivität nicht festgestellt werden, vielmehr handelt es sich um eine unförmige Anhäufung von Menschen, die sich aus den zwei gesellschaftlichen Polen zusammensetzt: dem aufstrebenden Volk und dem zerfallenden Adel. Aufgrund der großen Masse an Menschen, die von diesem gesellschaftlichen Umstrukturierungsprozess betroffen ist, zeigen sich weitreichende Änderungen in allen Bereichen des Lebens, die sich in einer neuen Reglementierung von Lebensbereichen – dem spirituellen ebenso wie jenem der Gefühle – äußert (vgl. ECL 112 u. 161–162). Der Zerfall der bis dahin gültigen gesellschaftlichen und ästhetischen Kategorien zeigt sich auch im Kunstsystem und führt die Romanproduktion auf neue Wege. Figuren, die in der Hochphase des spanischen Realismus/Naturalismus einen bestimmten sozialen Typ verkörpern, werden von Figurencharakterisierungen abgelöst, in deren Zentrum das Menschliche steht (vgl. ECL 164). Hier knüpft Galdjs an ein Literatur- und Geschichtsverständnis an, das durch Miguel de Unamuno in seiner Differenzierung zwischen Historia und Intrahistoria bekannt werden wird. Während sich die Schreibenden der spanischen Klassik eher mit Geschichtsschreibern als mit Literaturschaffenden vergleichen lassen, da sie sich vorwiegend auf kulturelle Höhepunkte beziehen, verlagern die Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihr Interesse auf ›prosaische Angelegenheiten‹ wie das Fühlen und Denken des Volkes (vgl. ECL 165). Diese Interessensverschiebung entspricht auch Unamunos Vorhaben, eine Intrahistoria zu schreiben.
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5.3.1 Tristana: Papierene Figuren und der europäische Liebesdiskurs Vielfach wurde in der bisherigen Forschung Tristana (1892) aus feministischer Sicht behandelt, welche den Roman, wenngleich als Beispiel einer der wenigen Beschreibungen von emanzipatorischen Versuchen einer Protagonistin des 19. Jahrhunderts, als letztlich gescheitert und moralisierend bezeichnet.21 Im Umfeld einer Passionsanalyse, die den repräsentativ-performativen Erzählstil berücksichtigt, zeigt sich Hans Feltens Verlagerung des Lektüreschwerpunktes in »Tristana: Esbozo de una lectura plural« (1996) hin zur Literarizität vielversprechend (vgl. Felten 1996, 51–57). Der Roman ist durchzogen von intertextuellen Bezügen, die sich von der mittelalterlichen Epik bis zur klassischen Literatur der spanischen Siglos de Oro erstreckt, wodurch die Romanfiguren deutlicher aus Papier erscheinen denn aus Fleisch und Blut. Bereits die Namen der Figuren verweisen auf die europäische literarische Tradition, genauer gesagt auf Mythen und Topoi, welche die europäischen Liebesdiskurse nachhaltig prägten. Der Name der Titelheldin geht auf die Vorliebe ihrer Mutter für Ritterromane zurück, wie der Erzähler im Roman erklärt: »Su niÇa deb&a el nombre de Tristana a la pasijn por aquel arte caballeresco y noble, que crej una sociedad ideal para servir constantemente de norma y ejemplo a nuestras realidades groseras y vulgares« (T 51). So erinnert der Romantitel bereits den unglücklichen Verlauf einer höfischen Liebesgeschichte des Mittelalters, verstärkt durch die Wiederbelebung des Mythos in Richard Wagners Oper am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Transposition des pathetischen Stoffes in einen realistisch/naturalistischen Roman erfährt besonders in Hinblick auf das banale, vollkommen unheroische Ende des Romans eine parodistische Verkehrung. Joan Grimbert analysiert in seinem Aufsatz »Galdjs’s Tristana as a subversion of the Tristan legend« (1992–1993) den Roman vor dem Hintergrund des Tristan-Mythos und stellt fest, dass es kaum einen Bezug gibt, der nicht den Prätext verdreht. Schon der Name Tristana bezieht sich ja nicht auf Isolde, sondern auf deren männlichen Geliebten. Die Blässe der spanischen jungen Frau wiederum lässt an Isolde des mains blanches denken. Tristana als weibliche Ausprägung des archetypischen Liebenden spiegelt sich in ihrer Forderung nach Freiheit der Liebe und der symbolischen Zusammenführung beider Geschlechter in einer Person (vgl. Grimbert 1992–1993, 111). In Tristanas und Don Lopes nahezu inzestuöser Verbindung eine schicksalhafte Verfehlung zu sehen, die auf ewig das Liebesglück der Protagonistin verhindern soll, entspricht hingegen nicht dem kultu21 Zu einer moralisierenden Lesart, die den physischen und psychischen Verfall der Protagonistin am Romanende als »gerechte Strafe« für die moralischen Verfehlungen der Protagonistin darstellt, vgl. Guerrini 1978, 254–255.
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rellen Verständnis einer aufgeklärten Leserschaft. Vielmehr ermöglicht dieser intertextuelle Verweis, auf die Bedeutung der Sprache für die Kultur aufmerksam zu machen. Es wundert daher auch nicht, dass eine der ersten Fähigkeiten, welche die junge Frau von ihrem Vorbild und Geliebten Don Lope erlernt, jene des Wortspiels ist. Genaugenommen schult sie in ihrer ersten Zeit, wie Erna Pfeiffer in ihrem Artikel »Tristana o el poder creador de la lengua: preliminares para un an#lisis multidimensional de la novela« (1991) unterstreicht, den Umgang mit Ambiguitäten und Polysemien der Wörter (vgl. Pfeiffer 1991, 20). Am Anfang von Tristanas Transformationsprozess, von einem unbeschriebenen Blatt hin zu einer jungen Frau mit eigener Meinung sowie mit von der gesellschaftlichen Norm abweichenden Wünschen, steht die Handhabe der Sprache: Y entre las mil cosas que aprendij Tristana en aquellos d&as, sin que nadie se las enseÇara, aprendij tambi8n a disimular, a valerse de las ductilidades de la palabra, a poner en el mecanismo de la vida esos muelles que la hacen flexible, esos apagadores que ensordecen el ruido, esas desviaciones h#biles del movimiento rectil&neo, casi siempre peligroso. (T 60)
Diese Sprachbeherrschung verbunden mit einem scheinbar willkürlichen Umgang mit bereits vorhandenem literarischen Material und vorliegenden zeitgenössischen Diskursen kann als metadiskursive Referenz gelesen werden, entspricht sie doch der Forderung eines wirklichkeitsorientierten Stils der realistisch/naturalistischen Romanciers. Damit tritt die Bedeutung der Relation Realität-Fiktion in den Hintergrund und der Roman selbst gibt in einer selbstreflexiven Biegung Aufschluss über den ihm zugrundeliegenden Schreibprozess. Tristana kennzeichnet eine Oszillation zwischen Verschleierung der Fiktionalität, die durch dialogische Teile und möglichst geringe Erzählpassagen erzielt wird, und bewusstem Vor-Augen-Führen der Literarizität des vorliegenden Romans, wodurch die Lesenden immer wieder aus ihrer Illusion gerissen werden. Die Romanheldinnen und -helden durchleben, wie es für den realistisch/ naturalistischen Roman insgesamt kennzeichnend ist, keine weltbewegenden Ereignisse. Vielmehr sind es die alltäglichen Versuchungen, die ihre Existenz bestimmen, da diese aufgrund der Einbildungskraft an Stärke gewinnen und schließlich zur Manifestation geheimer Wünsche – von einer glücklichen Ehe bis zum Ausleben einer mehr oder weniger idealisierten Liebe – führen. Ricardo Gulljn hebt in seiner Studie Galdjs, novelista moderno (1966) daher die Bedeutung der Imagination für den Handlungsverlauf hervor (vgl. Gulljn R. 1966, 166). Ironisch gestaltet, bleiben diese Wünsche in Tristana dem Bereich der Illusion verhaftet, da die Hauptfiguren letztlich genau jene Lebensweisen verkörpern, die sie zu Beginn des Romans ablehnten: Der, wenn auch schon ältere, stattliche Don Lope Garrido, Gegner der Ehe, heiratet ebenso wie Tristana, die
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unter seinem Einfluss den Gedanken an eine Heirat zunächst vehement ablehnte. Horacio, der nur im leidenschaftlichen Kernstück des Romans auftritt und zu Beginn sowie am Ende nicht erwähnt wird, zieht dem Leben als großartiger Künstler ein idyllisches Dasein am Land, ebenfalls leidenschaftslos verheiratet, vor. Im Verlauf der Dreiecksbeziehung wandeln sich so die Machtverhältnisse durchgehend. Nach diesem kurzen inhaltlichen Abriss möchte ich an den Beginn des Romans zurückkehren, wo die Figuren erst langsam geformt werden, sie in gewisser Weise also noch ungeschrieben sind.
5.3.2 Ungeschriebene Protagonistinnen und Protagonisten So als wollte der Autor die Lesenden direkt an der Figurengenese teilhaben lassen, wird Tristana zu Beginn des Romans als undefiniert präsentiert, indem ihr Aussehen und ihre Handlungen weder konkret jenen einer Bediensteten noch jenen einer Hausdame entsprechen: La otra, que a ciertas horas tomar&ais por sirvienta y a otras no, pues se sentaba a la mesa del seÇor y le tuteaba con familiar llaneza, era joven, bonitilla, esbelta, de una blancura casi inveros&mil de puro alabastrina; las mejillas sin color, los negros ojos m#s notables por lo vivarachos y luminosos que por lo grandes, las cejas incre&bles, como indicadas en arco con la punta de fin&simo pincel. (T 40)
Tristanas Porträt gleicht einem mit feinem Pinsel angefertigten Bild. Ihre Erscheinung wird als alabastern, von einem unwahrscheinlichen Weiß beschrieben und greift, wie das angeführte Zitat zeigt, auf Topoi der petrarkistischen Liebeslyrik zurück. Besonders deutlich wird dies, als nach der Blässe ihrer Haut, die wachen Augen, die feinen Züge, die sinnlichen Lippen, kristallene Zähne und ihr schimmerndes Haar in metaphernreicher Sprache beschrieben werden, um die Figur sinnlich wahrnehmbar zu gestalten. Die idealisierende Beschreibung kippt ins Lächerliche, als sie – »un puro armiÇo« – in ihrer alltäglichen Hausarbeit beschrieben wird. Die zarten Hände, Symbol absoluter Schönheit und in ihrer Blässe auch Metapher der Reinheit, kontrastieren mit den mit Schmutz konnotierten Utensilien Putzlappen und Klopfer : Sus manos, de una forma perfecta –¡qu8 manos!–, ten&an misteriosa virtud, como su cuerpo y ropa para poder decir a las capas inferiores del mundo f&sico: la vostra miseria non mi tange. Llevaba en toda su persona la impresijn de un aseo intr&nseco, elemental, superior y anterior a cualquier contacto de cosa desaseada e impura. De trapillo, zorro en mano, el polvo y la basura la respetaban. (T 40)
Mithilfe des ironischen Bruches, gelingt es Galdjs die Aufmerksamkeit auf die Fiktionalität der eben vorgestellten Figur zu lenken. Verstärkt wird diese Lesart
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durch einen eingeschobenen Erzählerkommentar, der kurz darauf dezidiert auf das papierene Wesen der Protagonistin hinweist: Pero ¿qu8 m#s, si toda ella parec&a de papel, de ese papel pl#stico, caliente y vivo en que aquellos inspirados orientales representan lo divino y lo humano, lo cjmico tirando a grave, y lo grave que hace re&r? De papel n&tido era su rostro blanco mate, de papel su vestido, de papel sus fin&simas, torneadas, incomparables manos. (T 41)
Ihrem Namensgeber Tristan geschuldet und mit Hinweisen auf das japanische Theater wird den Lesenden eine pathetische Figurenkonzeption präsentiert, wobei sich Pathos und Groteske hier mischen.22 Diese Spannbreite vom Erhabenen zum Komischen zeigt sich deutlich in der Konfrontation mit Schmutz: während sich der physische Schmutz geblendet von Tristanas Schönheit und Reinheit respektvoll zurückhält, wird die Titelheldin und ihr Aufenthalt im Hause von Don Lope Garrido, in dem sie alleine zurückbleibt, nachdem ihre Mutter verstorben war, Zündstoff für allerlei Gerüchte der Madrider Gesellschaft. Wird sie zunächst als Tochter Don Lopes bezeichnet, gilt sie in der Nachbarschaft abwechselnd als legitime Ehefrau oder Nichte. Bald jedoch verlieren sich die Gerüchte und Tristana »no era nada y lo era todo«, sie wird Teil des Haushaltes wie ein weiterer Gegenstand und die junge Frau findet sich zunächst mit ihrem Schicksal ab (vgl. T 41). Die Figur ist grob umrissen, vorwiegend durch externe Fokalisierung charakterisiert und verfügt noch über kein Innenleben – bis dahin zeigt sich den Lesenden eine passionslos gestaltete Titelheldin. Anders verhält es sich mit der Charakterisierung des Hausherrn. Don Lope Garrido verkörpert eine morbide Variante des Don-Juan-Mythos. Von Beginn an wird den Lesenden implizit eine Relation zu einer bestimmten Liebesauffassung mitgeteilt, noch bevor sie von der Erzählinstanz erfahren, dass die Beziehung zwischen Mann und Frau in Don Lopes Sicht über das Gesetz der Anarchie erklärt wird. Die Liebe sollte nur ihrem eigenen intrinsischen Kanon unterworfen werden. Jegliche äußere Beschränkung durch moralische Vorschriften etwa sei nicht natürlich, sondern aus politischen Gründen eingeführt worden, die obwohl sie ihre logische Kraft im Verlauf der Zivilisationsgeschichte bereits verloren hätten, aufgrund der menschlichen Trägheit noch immer befolgt würden (vgl. T 55). Don Lope kennt daher auch kaum Skrupel im Umgang mit Frauen. Nachdem er zunächst Tristana wie seinen Augapfel hütet, aus Angst und 22 Zu Parallelen und Unterschieden zwischen Pathos und Groteske sowie zum gleichen Ursprung des Erhabenen und Lächerlichen oder Komischen vgl. Janz 2010, Oesterle 2010 u. Zumbusch 2010. Spezifisch zum Pathos in der spanischen und hispanistischen Literatur ab dem 19. Jahrhundert vgl. die historisch-systematischen Einleitungen inkl. ausführlicher Bibliographie von Isabel Maurer Queipo und Tanja Schwan (vgl. Maurer Queipo/Schwan 2015, 9–25 u. 27–52).
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Unsicherheit, sie könnte angesichts des großen Altersunterschieds rebellieren, stellt sich schon bald ein der Ehe vergleichbarer Umgang zwischen den beiden ein. Ganz an seinem literarischen Vorläufer Don Juan orientiert, sucht der verarmte Adelige die ungebundene Verführungsmacht über die junge Frau und lehnt eine Heirat mit ihr ab: »pues aborrec&a el matrimonio; ten&alo por la m#s espantosa fjrmula de esclavitud que idearon los poderes de la tierra para meter en un puÇo a la pobrecita humanidad« (T 57). Dem reifen Don Juan gelingt es schließlich, in Tristana einen Zustand ›falscher Leidenschaft‹ hervorzurufen, der zeitweilig stark jenem ›wahrer Leidenschaft‹ ähnelte (vgl. T 57). Unterdessen erlangt Tristana als vormals papierene, unbeschriebene Figur immer stärker Eigenleben und beginnt, ihre von Don Lope geprägte Lebenssituation zu verabscheuen. In Gesprächen mit ihrer Bediensteten und engen Vertrauten Saturna – die Inkarnation des Pragmatismus (vgl. Gulljn G. 1977, 20) –, entwickelt Tristana ihr Konzept einer honradez libre, ein Lebensentwurf, der die Freiheit zum obersten Ziel erklärt und aus denselben Gründen wie ihr väterlicher Liebhaber die Ehe als gesellschaftliche Form der individuellen Sklaverei ablehnt. Dabei ist sich Tristana ihrer aussichtslosen Situation als entehrte Frau bewusst (vgl. T 61).
5.3.3 Verliebt-Sein als Medium der Re-Kreation Spätestens mit dem VII. Kapitel wird der Roman Tristana emotional aufgeladen, indem das Sich-Verlieben von Tristana und Horacio geschildert wird. Angestachelt durch das Verliebt-Sein erlebt Tristana eine Reihe unterschiedlicher Transformationen, in denen sie versucht, die verschiedensten Seiten ihrer Persönlichkeit auszuleben. Dies erfolgt im Dialog mit ihrem Geliebten, an dem sich beide aktiv beteiligen. So nehmen Tristana und Horacio abwechselnd die Perspektiven des Erzählens und Erzählt-Werdens ein. Unterschiedlichste Formen der Kommunikation, im direkten Gespräch oder mittels Briefkontakt, sind notwendig – und dessen ist sich Tristana von Beginn an bewusst –, um in der Liebe die eigene Individualität zu steigern. Tristana wünscht sich sodann auch nichts weiter als Kommunikation: »sjlo s8 que necesito que me hable, aunque sea por tel8grafo, como los sordomudos, o que me escriba« (T 76). Die Liebe ist nicht nur Ort der höchstpersönlichen Kommunikation und fördert damit durch die angefachte Imagination die Potentiale der eigenen Persönlichkeit, als Stimulus der Phantasie ist sie auch Voraussetzung für literarische Kreation, wie nachfolgend gezeigt werden soll.23 23 Dass die Liebesleidenschaft einen zentralen Stellenwert in Tristana einnimmt, wurde vielfach analysiert. Besonders detailliert differenzieren die Studien von Daria Jaroslava Mon-
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Wenngleich Galdjs’ Roman realistische Züge aufweist, kann nicht geleugnet werden, dass der romaneske Schreibprozess und damit die Imagination selbst Teil des Romans sind. Das Vorhaben des kanarischen Autors, die Emotionalität des Theaters mit der Gattung des Romans zu verbinden, lässt sich anhand von Tristana insofern aufzeigen, als der Roman an besonders spannungsgeladenen Stellen die einzelnen Figuren durch Dialoge unvermittelt präsentiert. Zu diesem Zwecke wird die Präsenz der Erzählinstanz auf ein Minimum reduziert und beschränkt sich auf an Bühnenstücke erinnernde Regieanweisungen, wie folgender Dialog zwischen Saturna und Tristana zeigt. Die beiden unterhalten sich über die Vorteile, Fremdsprachen zu lernen, Fachkenntnisse, die es einer Frau ermöglichen, unabhängig zu leben: –Pues eso de las lenguas –afirmj Saturna mirando a la seÇorita con maternal solicitud– s& que le conven&a aprenderlo, porque la que da lecciones lo gana, y adem#s es un gusto poder entender todo lo que parlan los extranjeros. Bien podr&a el amo ponerle un buen profesor. –No me nombres a tu amo. No espero nada de 8l (Meditabunda, mirando a la luz). No s8, no s8 cu#ndo ni cjmo concluir# esto; pero de alguna manera ha de concluir. (T 64)
Der typographisch durch Kursivierung markierte Erzählerkommentar im Textausschnitt erfüllt eine doppelte Funktion, indem er zum einen die Dramatisierung sowie größere emotionale Beteiligung anzeigt, zum anderen gleichzeitig auf den Charakter einer Inszenierung und dadurch auf die Fiktionalität des vorliegenden Gesprächs hinweist. Beide Komponenten fließen in einer verstärkten Emotionalität zusammen, die in einem ästhetischen Kontext präsentiert wird. Ebenso ist das Sich-Verlieben eng mit dem Akt des Schreibens verbunden, denn nach dem entscheidenden coup de foudre kommunizieren die beiden Liebenden zunächst durch Briefe miteinander. Der Inhalt des ersten Briefes bleibt den Lesenden unbekannt, doch schon ein Zitat aus dem zweiten Brief zeigt die romantische Konstitution der schriftlichen Kommunikationsform. Topoi wie eine Liebe, die bereits vor der ersten Begegnung vorhanden war, werden in Sätzen wie »Te quise desde que nac&« (T 79) festgeschrieben. Es verwundert daher nicht, dass sich die Liebenden ohne große Umschweife gleich duzen. Im dritten Brief wird bereits die Zeitlosigkeit ihrer Liebe beschworen, indem das Geständnis im Gerundium formuliert wird: »Te estoy queriendo, te estoy buscando desde antes de nacer –dec&a la tercera carta de ella, empapada en un espiritualismo delirante–« (T 79–80). Der Hinweis der Erzählinstanz auf den rauschhaften geistigen Zustand, in dem dieser Brief verfasst wurde, ist sehr kurz gehalten, um den Bewusstseinsstrom der Protagonistin nicht übermäßig zu tero-Paulson und Ricardo Gulljn den Verlauf der Liebe zwischen Horacio und der jungen Frau (vgl. Montero-Paulson 1981, 179–182 sowie Gulljn R. 2008, 10–17).
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unterbrechen. Neben einer Fülle an literarischen Topoi der Liebesdiskurse fallen die Erzählerkommentare immer kürzer aus, wodurch der Eindruck einer unvermittelten Kommunikation verstärkt wird. Nachdem mittels freier indirekter Rede und Briefzitaten Tristanas Gedanken- und Gefühlswelt der ersten Briefe wiedergegeben wurden, markiert der folgende Austausch sehr reduziert die Sprechenden durch die jeweiligen Personalpronomen: Y 8l a ella: »El d&a en que te descubr& fue el fflltimo de un largo destierro.« Ella: »Si algffln d&a encuentras en m& algo que te desagrade, hazme la caridad de ocultarme tu hallazgo. Eres bueno, y si por cualquier motivo dejas de quererme o de estimarme, me engaÇar#s, ¿verdad?, haci8ndome creer que soy la misma para ti. Antes de dejar de amarme, dame la muerte mil veces.« (T 80)
Diese Geständnisse, welche die Gefühle von Tristana zum Ausdruck bringen, zeigen einen hohen Grad an Literarizität, indem ihre Bitte bezüglich des Entliebens einem aufgeklärten Liebescode entspricht und an die Vereinbarungen aus Choderlos de Laclos Les Liaisons dangereuses (1782) erinnert. Während Horacio, bevor er Tristana kennenlernte, davon ausging, die Liebe existiere nur im Begehren sie zu besitzen, konfrontieren ihn die gemeinsamen Gespräche mit neuen Konzepten, da die junge Frau von der transzendierenden Kraft der Liebe wie besessen ist und immer ›mehr‹ fordert. Die von der Erzählinstanz vielfach betonte Wirkung der Liebe äußert sich sowohl in einer angefachten Sinnlichkeit als auch in einer beflügelten geistigen Tätigkeit, hier insbesondere einer entflammten Sprachkompetenz der beiden. Al contacto de la fantas&a exuberante de ella, despert#ronse en 8l poderosas energ&as de la mente; el ciclo de sus ideas se agrandj, y comunic#ndose de uno a otro el poderoso est&mulo de sentir fuerte y pensar hondo, llegaron a un alt&simo grado de tempestuosa embriaguez de los sentidos, con rel#mpagos de atrevidas utop&as erjticas y sociales. Filosofaban con peregrino desenfado entre delirantes ternuras, y, vencidos del cansancio, divagaban l#nguidamente hasta perder el aliento. Callaban las bocas y los esp&ritus segu&an aleteando por el espacio. (T 119)
Doch dieser verzauberte Zustand ist nicht von Dauer. Bevorzugt Horacio zunächst noch die Liebe aufgrund ihrer Neuheit der Kunst, quälen ihn bald Gewissensbisse, da er seine Malerei vernachlässigt. Auch wird ihm Tristanas rebellische Phantasie insgeheim unlieb und er hofft darauf, sie mit genügend Zuneigung zu besänftigen und im wahrsten Sinne des Wortes zu domestizieren, um aus ihr eine (Haus-)Frau nach seinen Vorstellungen – und jenen der konservativen Gesellschaftsschichten – zu machen: »Esperaba que su constante cariÇo y la accijn del tiempo rebajar&an un poco la talla imaginativa y razonante de su &dolo, haci8ndola m#s mujer, m#s domestica, m#s corriente y ffltil« (T 123). Neben der angeregten geistigen Tätigkeit und der Konzentration auf die Gegenwart bietet der Sprachgebrauch einen weiteren metadiskursiven An-
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knüpfungspunkt zur impliziten Poetologie von Benito P8rez Galdjs, da die beiden Liebenden Schriftstellerinnen und Schriftstellern vergleichbar ihre eigene Sprache entwerfen, die sich aus literarischen Zitaten, Andalusismen und umgangssprachlichen Wendungen zusammensetzt. Die Sprache der Liebenden, die besonders in den Kapiteln XIV bis XXI dargelegt wird, erfüllt damit eine doppelte Funktion: eine authentische Sprache zweier verliebter Menschen zu präsentieren und gleichzeitig auf das Schreiben eines Romans zu referieren. Galdjs taucht dabei in die Sprache der Liebenden ein, wie es bisher kein spanischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts wagte und laut Gonzalo Sobejanos »Galdjs y el vocabulario de los amantes« (1966) nur noch in Emilia Pardo Baz#ns Werken anzutreffen ist (vgl. Sobejano 1966, 86). Die Wirklichkeit der Liebenden als Ort der höchstpersönlichen Kommunikation, die eine exklusive Welt zu zweit schafft, welche Außenstehenden nur bedingt zugänglich ist, manifestiert sich in Tristana über einen Sprachgebrauch, der Zitate von Anekdoten mit fremdsprachlichen Ausdrücken oder berühmten Versen vermischt, wie folgende Passage verdeutlicht: De un cuento que ella oyj a Saturna salij aquello de ¿la jazemos?, manera festiva de expresar sus proyectos de fuga; y de otro cuentecillo chusco que Horacio sab&a, salij el que Tristana no le llamase nunca por su nombre, sino con el de seÇj Juan, que era un gitano muy bruto y de muy malas pulgas. […] Rara vez la llamaba 8l por su nombre. Ya era Beatrice, ya Francesca, o m#s bien la Paca de R&mini; a veces Chispa o seÇ# Restituta. Estos motes y los terminachos grotescos o expresiones l&ricas, que eran el saborete de su apasionada conversacijn, variaban cada pocos d&as, segffln las an8cdotas que iban saliendo. (T 131–132)
Typisch für Liebende werden statt der bürgerlichen Namen Spitznamen verwendet, auch entstammen die an anderer Stelle erwähnten, direkten zärtlichen Adressierungen von Tristana an Horacio als »rico« oder »cielo« dem gewöhnlichen Sprachgebrauch ebenso, wie die indirekten Gefühlsausdrücke durch fingierte Beleidigungen wie »pintamonas« artikuliert werden. Die Dialoge zwischen den Liebenden erlangen ihren Reiz durch das spielerische Element, das von lyrischen Ausdrücken über kindliche bis hin zu grotesken Wortdeformationen reicht. Als besonderes Zeichen der Lebendigkeit ihrer Liebe steht der Wandel dieser Liebessprache, die sich in einem anhaltenden Prozess der Erneuerung befindet und augenblicklich ändert (vgl. Sobejano 1966, 86). Die Aneignung literarischer Diskurse und ihre Transposition auf die sozial gelebte Wirklichkeit werden anhand der Deformation von Francesca de R&mini hin zur gewöhnlichen Paca de R&mini nachvollziehbar gestaltet und unterstreichen einmal mehr die wechselseitige Beeinflussung von Realität und Fiktion. Dieser Teil des Romans, der die kreative und spielerische Fähigkeit der beiden Protagonisten hervorhebt, entspricht der Phase der gefeierten geteilten Liebe,
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wie sie aufgrund der fehlenden Spannungselemente nur selten im Roman dargestellt wird. Im 19. Jahrhundert sahen Kritikerinnen und Kritiker in dieser an der Wirklichkeit orientierten Sprechweise eine unzulängliche Fähigkeit des Autors, das Tragische, poetisch Hohe oder Erhabene adäquat auszudrücken. Gonzalo Sobejano weist in seinem Aufsatz »Galdjs y el vocabulario de los amantes« (1966) jedoch darauf hin, dass durch die wenig gekünstelte und ›naturnahe‹ Sprache der Liebenden ein ganz anderes Ziel verfolgt wurde: ein Überschreiten der öffentlichen Aussagen, das Bedürfnis eines individuellen Ausdrucks, der sich vom konventionellen Schönheitsverständnis insofern abhebt, als er möglichst nahe am realen Leben orientiert ist. Die Sprachkreation der Liebenden in Tristana entspricht so dem Versuch, den normalen Sprachgebrauch zu vermeiden, indem die Protagonisten verschiedene Mechanismen wie die Tendenz zur Kindlichkeit, den Hang zur Volkstümlichkeit, zur Komik, zu Erfindungen, die Vorliebe für Fremdes und für Literarizität in ihren Sprachspielen anwenden (ebd., 95).24 Anstatt die allzu bekannten Diskurse zu wiederholen, streben die Hauptfiguren, und hier vor allem die Titelheldin, danach, produktiv zu werden. Sobald ihre Sprache ermüdet und an Glanz verliert, sucht insbesondere Tristana Varianten in einer anderen Sprache, vorzüglich im Italienischen oder Englischen oder in einer Eigenkreation. Dies alles geschieht vor dem Hintergrund einer scheinbar spielerischen Situation, die beiden Liebenden geben sich kindlich unschuldig, so als wüssten sie nicht um die Tragweite ihrer Gefühle und die daraus resultierenden Handlungen. Sie inszenieren gleichsam ihre Liebe, in dem sie in die Rolle verschiedener Dramen- oder Opernfiguren schlüpfen. Auf diese Weise wird ein imaginärer Übergang von einem Alter in das andere, von einer sozialen Klasse in die andere, von einem Kulturkreis in den anderen, von einem Gefühlszustand in einen neuen vorgeführt. Ausgehend vom Alltäglichen gelingt somit der Sprung in die poetische Freiheit (vgl. ebd., 98–99). Anhand der geteilten, gefeierten Liebe zeichnet sich ab, dass Benito P8rez Galdjs neben dem repräsentativen Modus auf ein konstruktiv-performatives Realitätskonzept zurückgreift, um Kunst zu schaffen.
5.3.4 Liebesleidenschaft als implizite poetologische Grundlage bei Galdós Durch den Übergang vom Alltäglichen zur Kunst präsentiert Galdjs im Roman in der Realität wiedererkennbare Leidenschaften sowie ein poetologisches Konzept, welches auf Liebe basiert. Es bedarf der Leidenschaften, um sprachliche Innovationen hervorzubringen. Galdjs’ Liebesdiskurs spannt sich dem24 Für eine detaillierte Differenzierung, welche Ausdrücke dem jeweiligen Mechanismus zugeordnet werden vgl. Pfeiffer 1991, 23–24 sowie Sobejano 1966, 95–98.
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zufolge auf und umfasst Liebe als ästhetische Kategorie, als fiktiven Diskurs und als realen, kulturellen, gelebten Diskurs. Die zeitweilige Ununterscheidbarkeit der drei Komponenten wird durch eine Erzählform hervorgehoben, die sich zwischen repräsentativem und performativem Modus bewegt. Denn dieses Oszillieren ermöglicht nicht nur einen scheinbar unvermittelten Kontakt von Lesenden und Romanfiguren sowie es aufgrund der präsentierten individuellen Liebessprache die Einfühlung erleichtert, gleichzeitig wird durch die Referenz auf literarische Figuren die wechselseitige Beeinflussung von Realität und fiktiver Kreation betont. Dieselbe Funktion erfüllen die immer wieder eingestreuten, stark verkürzten Kommentare der Erzählinstanz, die mehr Regieanweisungen gleichen als den für realistisch/naturalistische Romane typischen, beschreibenden Anmerkungen. –Al extranjero, al extranjero (palmoteando). Yo quiero que tffl y yo seamos extranjeros en alguna parte, y que salgamos del bracete sin que nadie nos conozca. –S&, mi vida. ¡Qui8n te ver# a ti…! –Entre los franceses (cantando) y entre los ingleses…Pues te dir8. Ya no puedo resistir m#s a mi tirano de Siracusa. ¿Sabes? Saturna no le llama sino don Lepe, y as& le llamar8 yo tambi8n. (T 132)
Während die Reduktion der Erzählerkommentare die direkte Kommunikation zwischen Figuren und Lesenden begünstigt, legen die stichwortartigen Erzählerkommentare den Inszenierungscharakter der Dialoge und damit die Fiktionalität des vorliegenden Gesprächs nahe. Wie im ersten Abschnitt dieses Kapitels bereits erläutert, können in Tristana Varianten gängiger Topoi des europäischen Liebesdiskurses festgestellt werden, angefangen vom Tristan-Mythos über das petrarkistische Liebesideal der Renaissance und den barocken DonJuan-Mythos bis hin zur romantischen Liebesvorstellung, die von Horacio und Tristana zu Beginn ihrer Liebe erkennbar sind. All diese Referenzen werden jedoch nicht affirmiert, sondern in parodistischer Verdrehung präsentiert und verweisen damit zum einen auf die Unzulänglichkeit, die kulturelle Wirklichkeit sprachlich umfassend zu beschreiben, und zum anderen auf die literarische Fundierung der Liebe. Galdjs präsentiert mit Tristana somit kein innovatives Liebeskonzept oder lediglich einen Streifzug durch den europäischen Liebesdiskurs, sondern eine auf Leidenschaften gegründete werkimmanente Poetik. Ungeklärt ist bisher noch das Liebeskonzept der Titelheldin, das weder jenem der Romantik noch jenem der unio mystica entspricht. Ganz im Gegenteil, Tristana hält das in der Romantik erneut bemühte Verschmelzungsideal für eine Erfindung des Egoismus und bevorzugt ein Leben in Freiheit, das beide Persönlichkeiten in ihrer Unterschiedlichkeit aufrecht erhält (vgl. T 155). Schon bald nach dem Sich-Verlieben ist sich Tristana dessen bewusst, dass sie die Leidenschaft Horacios benötigt, um ihre Gedanken in Schrift umwandeln zu
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können. Gleichwohl erkennt sie auch, dass das Schreiben notwendig ist, um nicht nur Horacio, sondern sich selbst in einem kreativen Akt zu schaffen. Leidenschaftliche Liebe ermöglicht daher nicht nur die Neukonzeption der Individualität, sondern auch der Kunst. Daher sucht die Titelheldin wie eine Schriftstellerin in ihren Briefen an Horacio nach den geeigneten Worten »D8jame a m& que te fabrique…; no, no es 8sa la palabra; que te componga…; tampoco… que te reconstruya… tampoco… D8jame que te piense, conforme a mi real gana« (T 175). Je weiter sie in ihre fiktive Welt eintaucht, desto unwichtiger wird die reale Person Horacio. Der Prozess geht soweit, dass sich die Protagonistin nach einer gewissen Zeit der Trennung an sein Aussehen nicht mehr erinnern kann und das von ihr entworfene Idealbild eines Malers immer weiter ausführt. Besonders während ihrer Krankheit, noch vor der Operation, wird das Schreiben zum Selbstzweck, völlig losgelöst von der Realität lebt Tristana mehr in ihrer Phantasiewelt und sendet die Briefe lediglich aus Gewohnheit nach Villajoyosa ab (vgl. T 178).
5.3.5 Von der mimetischen zur reinen Kunst Was bedeutet diese Dominanz der Literarizität nun für das Romanende? Bereits die Zeitgenossen von Galdjs sahen das Romanende als missglückt an, denn Tristanas Beinamputation wurde als Einladung verstanden, ihre Entwicklung als Teil eines am Ende antifeministischen Diskurses zu lesen. Psychoanalytische Lesarten heben die Korrelation von Beinverlust und der Aufgabe der Erkenntnissuche hervor, die zwar kurzfristig durch das Orgelspiel sublimiert wird, dennoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass die Integration von männlichen und weiblichen Persönlichkeitsanteilen der Protagonistin letztlich scheitert (vgl. Pfeiffer 1989, 224). Am Ende bleibt die Protagonistin, die nach immer mehr Licht strebte, verstümmelt zurück. Wie Ana Ozores in La Regenta scheitert Tristana in ihrem Bestreben, sich gegen die gesellschaftlichen Konventionen aufzulehnen.25 Schließlich bietet sich noch eine weitere Lesart an, die 25 Janett Reinstädler schlägt in ihrem Artikel »›¡Qu8 vida tan estfflpida!‹ Ideale, frustrierte Frauen und der ›realistische‹ Roman der Restauration« (1999) eine gendersensible Lesart vor, indem sie betont, dass in Galdjs’ und Clar&ns künstlerischer Produktion das Andere, sprich die Weiblichkeit, literarisch kontrolliert und in seine Schranken verwiesen wird. Die Romane können als Versuch gelesen werden, die im 19. Jahrhundert ins Schwanken geratenen Geschlechterbilder neu zu konsolidieren, da zum einen die herrschenden Rollenklischees kritisiert werden, sie zum anderen trotz aller Kritik indirekt reproduziert werden. Die Charakterisierung der Protagonistinnen in La Regenta (1884/85) oder Tristana (1892) verdeutlicht somit den gesellschaftlichen Umbruch, der eng an den Kräfteverfall bestehender Geschlechterideologien gebunden ist (vgl. Reinstädler 1999, 226). Eine sozial-historische Lesart wiederum zieht Parallelen zur nationalen Geschichte, die Spanien geschwächt durch den Verlust der Kolonien
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den Sprung von einer sich künstlerisch entfaltenden jungen Frau hin zu diesem prosaischen von der öffentlichen Kunst losgelöstem Ende als Literarisierung der marginalisierten Position von Schriftstellerinnen und Schriftstellern gegen Ende des 19. Jahrhunderts liest (vgl. Reinstädler 1999, 225). Ich möchte an dieser Stelle daran anknüpfen und das Romanende von Tristana im Kontext poetologischer Überlegungen des kanarischen Dichters aufrollen. Deutlich ist zu erkennen, dass mit der Beinoperation die Sprache des Romans wechselt. Nun strukturieren nicht mehr die durch die Liebe angeregten und im Fieberrausch Tristanas noch fortgeführten Wortschöpfungen die Erzählung, das neue Leben Tristanas zeigt sich in einer knappen, realistischen Sprache, die zunächst einmal detailgetreu den Ablauf der Amputation in medizinischem Vokabular schildert. Poco despu8s, bien ligadas las arterias, cosida la piel del muÇjn y hecha la cura antis8ptica con esmero prolijo, empezj el despertar lento y triste de la seÇorita de Reluz, su nueva vida, despu8s de aquel simulacro de muerte, su resurreccijn, dej#ndose un pie y dos tercios de la pierna en el seno de aquel sepulcro que a manzanas ol&a. (T 194)
Die poetisch extravagante Sprache schweigt. Prosa und Poesie oder das Heroische und das Gewöhnliche stehen sich in Galdjs’ Romanen jedoch nicht ausschließend gegenüber, sondern bilden zwei Seiten derselben Medaille (vgl. Gulljn R. 1966, 152). Als zwei mögliche Ausdrucksformen werden sie herangezogen, um den Prozess des Erzählens im Roman in den Vordergrund zu rücken. Alfonso Garc&a Osuna sieht daher in Tristana weniger die Schilderung eines unglücklichen Frauenlebens, sondern den Prozess des Erzählens selbst, der den Lesenden die Subjektivität der Realitätswahrnehmung und damit auch der Lektüre vor Augen führt (vgl. Garc&a Osuna 2011, 292). Gegen Ende des Romans verstummt die poetische Sprache zusehends. Schon bevor Tristana operiert wird, hört sie bei zunehmender Betäubung Musik, die auf ihre neue Passion, das Klavierspiel, voraus deutet. Ihre literarischen Qualitäten scheinen nach dem medizinischen Eingriff vollends verschwunden zu sein. Als sie einen Brief an Horacio schreiben möchte, fällt ihr zunächst nichts ein. Erst die sichtlich bemühten Anregungen Don Lopes, der sich anbietet, ihr den Brief zu diktieren, stimulieren sie erneut: –Pues toma… Escribe tffl y desp#chate a tu gusto (d#ndole la pluma y poni8ndole delante la tabla con la carpeta y papel). Qu8…, ¿tan premiosa est#s? ¿Yesa inspiracijn y esos arranques? ¿Adjnde diablos se han ido? und die gesellschaftlichen Umstrukturierungsprozesse zerfallen sieht (vgl. Pfeiffer 1991, 27). Aus einer poetologischen und epistemologischen Perspektive interpretiert Uta Felten die Beinamputation als Spiegel der modernen Gesellschaft und Kunst, die sich durch eine Zerstückelung diverser Mythen auszeichnet (vgl. Felten 2015, 86–88).
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–¡Qu8 torpe estoy! No se me ocurre nada. –¿Quieres que te dicte yo? Pues oye: »¡Qu8 bonito eres, qu8 pill&n te ha hecho Dios y qu8… qu8 desabridas son tantas perfecciones!… No, no me caso contigo ni con ningffln seraf&n terrestre ni celeste…« Pero qu8, ¿te r&es? Adelante. »Pues no me caso. […] Para que te vayas enterando, #ngel m&o…« No, esto de #ngel es un poquito cursi…»…pues para que te vayas enterando, te dir8 que tengo alas…, me han salido alas. Mi pap# piensa traerme todos los trebejos de pintura, y ainda mais, me comprar# un organito […]. Comparados conmigo, los #ngeles del cielo ser#n unos murguistas…« (T 197– 198)
Der kursivierte, in Klammern gesetzte Erzählerkommentar zu Beginn der Textstelle kann als Hinweis auf die neue Rolle gelesen werden, die Don Lope nun spielt. Allzu leicht jedoch ist seine Intention, die er hinter einer väterlich fürsorglichen Maske zu verstecken sucht, erkennbar, von Tristanas Zustand selbst zu profitieren. Don Lopes Aussagen zeugen zwar, wie gut er seine TochterGeliebte kennt, die gewählten Formulierungen gleiten jedoch ins Groteske ab, wie die Bemerkung über die ›Abgeschmacktheit so vieler Perfektionen‹ verrät. Auch inhaltlich verrät der Briefvorschlag mehr über seine als über ihre Gedankengänge. Schon lange ist das Thema der Ehe zwischen Tristana und Horacio nicht mehr aktuell, die Stilisierung der Liebenden als Engel wirkt völlig übertrieben, basierte die ›mystische‹ Entwicklung der Liebe zwischen den jungen Menschen doch auf ihrer räumlichen Trennung und zehrte von den gemeinsam erlebten körperlichen Genüssen. Auch wirkt der eingestreute Andalusismus im Kontext des Briefes fremd, da er sich nicht auf eine gemeinsame Zukunft der Liebenden in Freiheit bezieht, sondern auf ein Geschenk von Don Lope. Dennoch regt dieser Briefentwurf durch sein Ringen um adäquate Gefühlsausdrücke Tristana an, selbst wieder kreativ tätig zu werden. Als sich Horacio und Tristana nach langer Trennung und nach ihrer Krankheit wiedersehen, stehen ihnen die durch die Lebensumstände verursachten Veränderungen wörtlich ins Gesicht geschrieben. Die unschuldige Blässe ist aus beider Antlitz gewichen. Nach einem Blick in den Spiegel stellt Tristana entsetzt fest, dass ihr Teint jenem von Packpapier ähnelt und kommt nicht umhin, ihre Enttäuschung über die sonnengegerbte Haut Horacios festzustellen. Sein Liebesgeständnis wirkt gezwungen und ihr Gespräch voller verbaler Zärtlichkeiten lässt einen Mangel an Vertrautheit erkennen. Der reale Horacio entspricht nicht im Geringsten dem Idealbild, das sich Tristana während seiner Abwesenheit zurechtgelegt hatte. Im Gegenteil, Horacio erscheint ihr ungehobelt, grob, gewöhnlich, seine Versuche, die gemeinsame Liebe auflodern zu lassen, als künstlich und von Mitleid motiviert (vgl. T 213). Das Leben hat sich in den Gesichtern der Figuren eingezeichnet, auf dem Papier ist beinahe schon der ganze Roman zu lesen. Auch Don Lope ist nicht länger der, der er einmal war, da ihn die Krankheit seiner Tochter-Geliebten um
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weitere Teile seiner Ersparnisse gebracht hatte und er sich in einer peinlichen ökonomischen Notlage befindet, die aufs Äußerste mit seinem ritterlichen Stolz kontrastiert. Er glaubt nicht länger an Charakterstärke, die Umstände führen ihn zu einem Leben ohne Würde: »No hay m#s que hechos, accidentes. La vida de los dem#s es molde de nuestra propia vida y troquel de nuestras acciones« (T 200). Endgültig verabschiedet sich Tristana emotional von ihrem Geliebten, als sie erfährt, dass Don Lope und Horacio gemeinsam über ihre Zukunft beraten und Horacio ihr eine Orgel schenken wird. Das Einverständnis der beiden Männer, verbunden mit den ›offenen‹ Gesprächen über Horacio zwischen Don Lope und Tristana, in denen der Hausherr den Maler als sympathisch, moralisch integeren Menschen lobt, da er sich nicht einfach aus dem Staub macht, sondern sich als wahrer Freund erweist, stimmen Tristana traurig. Die junge Frau scheint völlig verwandelt, ihr vormaliges Talent zu malen, scheint verschwunden zu sein, auch langweilen sie bald die Gespräche mit Horacio, sodass sie sein sich schleichend einstellendes Fernbleiben kaum erwähnt. Die Vergangenheit wird beiderseits im Schweigen begraben: […] uno y otro parec&an acordes en dar por fenecida y rematada definitivamente aquella novela, que, sin duda, les resultaba inveros&mil y falsa, produciendo efecto semejante al que nos causan en la edad madura los libros de entretenimiento que nos han entusiasmado y enloquecido en la juventud. (T 222)
Diese Textstelle verdeutlicht die Austauschbarkeit von Fiktion und Realität, da die in die Ferne gerückten gemeinsamen Gefühle am Ende des Romans unwahrscheinlich und falsch erscheinen. Zudem ist der Roman als Schreibprojekt beinahe abgeschlossen. Tristana verlässt ihre resignierte Haltung jedoch erneut, indem sie eine weitere bereits vor der Operation angekündigte Verwandlung durchlebt und sich als Improvisationskünstlerin des Orgelspiels zeigt. Im Ausleben ihrer verschiedenen Persönlichkeitsfacetten entfernt sich Tristana immer weiter von den fremdreferentiellen Forderungen realistischer Kunst und nähert sich abstrakteren Formen an. Konnten Malerei und Schreiben noch an der Wirklichkeit angelehnt erfolgen, gilt dies nicht mehr für die Musik. Tristana sucht schließlich das Gegenteil vom Menschlichen: Como quien se arroja a un pi8lago tranquilo, zambulljse la seÇorita en el mare magnum musical, y all& se pasaba las horas, ya sumergi8ndose en lo profundo, ya saliendo graciosamente a la superficie, incomunicada realmente con todo lo humano y procurando estarlo con algunas ideas propias que affln la atormentaban. (T 226)
1902 wird Galdjs in seinem Prolog zu Alma y vida die Musik heranziehen, um seinen kreativen Akt des Schreibens zu beschreiben, führt Alan Smith in »Galdjs dice su po8tica« (2011) an. Als einzige Kunst, die nicht realistisch ist, symbolisiert die Musik den reinen Ausdruck der künstlerischen Kreativität (vgl. Smith 2011, 90). Wenngleich Tristana durch die Hinwendung der Protagonistin zur
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Musik auf ein späteres Kunstverständnis des kanarischen Autors vorausdeutet, bleibt der Roman noch der realistisch/naturalistischen Tradition verhaftet. Die gegen Romanende skizzierte Abwendung vom Menschen sowie von einem mimetischen Kunstverständnis wird ironisch dargestellt, da sie mit einer neuen Begeisterung Tristanas für spirituelle Angelegenheiten korreliert, die bald eine oberflächliche Frömmelei übersteigen. Don Lope selbst findet Vergnügen an der Zeit, die er nun in den Kirchen verbringt und die beiden ziehen aus ökonomischen und infrastrukturellen Gründen vom Paseo de Santa Engracia zum Paseo del Obelisco um. Diese vorletzte Wandlung erfolgt von beiden unbemerkt, Don Lope wird als senil und stark gealtert beschrieben und auch Tristana kürzt unbewusst die Stunden, in denen sie sich der Musik widmet zugunsten jenen der geistigen Versenkung (vgl. T 228). Von der vormaligen rebellischen Haltung gegenüber gesellschaftlicher Konventionen beider Protagonisten bleibt am Ende nichts zurück. Völlig grotesk wirkt die Heirat der beiden drei Jahre nach der Operation – ein absurdes Projekt, wie die Erzählinstanz anmerkt. Die Eheschließung entbehrt jeglicher emotionaler Beteiligung seitens der Figuren aber auch des Erzählers: »En suma: que se casaron…« (T 233) heißt es knapp. Tristana bemerkt beinahe die Eheschließung nicht, die damit verbundene gesellschaftliche Rehabilitierung wird weniger als Erleichterung denn als »hecho impuesto por el mundo exterior, como el empadronamiento, como la contribucijn, como las reglas de polic&a« (T 233) empfunden. Tristanas letzte Verwandlung bringt schließlich eine weitere neue Neigung zum Ausdruck, die sich losgelöst von sprachlichen Abstraktionen nun ganz den körperlichen Bedürfnissen widmet: sie erlernt die kulinarische Kunst der Konditorei. Ob die beiden glücklich lebten, wird im letzten Satz des Romans in Frage gestellt: »¿Eran felices uno y otro?… Tal vez« (T 234). Am Romanende verstummt zwar die poetische Sprache vollends, die Kunst hingegen bleibt latent vorhanden. Ich favorisiere daher eine Lesart, welche in den letzten beiden Transformationen Tristanas eine Entreferenzialisierung des künstlerischen Aktes sieht, der sich zwischen mimetischer und performativer Kunstauffassung – durch Musik oder Patisserie – bewegt. Ob es sich dabei lediglich um eine neue Mode handelt, dieser Schritt von der Sprache hin zu einer nicht repräsentativen Kunst zu einem glücklicheren Leben führt oder die Sprachkunst für Galdjs selbst an ihre Grenzen gelangt ist, bleibt unbeantwortet. *
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der erst dynamisch konzipierte Typ von Liebesfigurationen über Juan Valeras und Benito P8rez Galdjs’ Poetiken beschrieben wurde, die zwischen Selbst- und Fremdreferenz oszillieren. Valera greift den aus dem religiösen Feld stammenden Diskurs der Mystik auf und
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verbindet ihn mit systeminternen Diskursen der Literatur, während Galdjs, bei gleichzeitigem Anspruch die Realität zu schildern, durch Dramatisierung seines Romans auf Diskurse des kunstinternen Systems rekurriert. Juan Valera fasst Liebe interesselos, einerseits als eine widersprüchliche Kategorie, der es gelingt, ästhetische Innovationen des Romans zu ermöglichen, andererseits als kulturelles Phänomen, das Liebe als Gefühl und Diskurs gleichermaßen konzipiert. In der Persönlichkeitsentfaltung seines Protagonisten Luis de Vargas, der sich von einer aus Büchern angelesenen mystischen Liebe abwendet, um eine reale romantische Liebe letztlich leben zu können, verdeutlicht Valera die Diskursivität auch dieser realen Liebe, umso mehr als sein Liebesroman anhand einer metareflexiven Ebene die Fiktion der verschriftlichten Liebesgeständnisse herausstreicht. Von einem romantischen Liebeskonzept grenzt sich jenes in Pepita Jim8nez insofern ab, als die Leidenschaften wie auch in Tristana ohne Pathos in einer Ehe enden bzw. sich im Alltagsleben verlaufen. Galdjs’ Roman veranschaulicht das Ineinandergreifen von Fremd- und Selbstreferenz, Realität und Fiktion in dem Maße, als er eine Protagonistin zeichnet, die nicht nur anhand von Elementen des mittelalterlichen, petrarkistischen, barocken und romantischen Liebesdiskurses charakterisiert wird, sondern die sich der Wirkung des Kommunikationsmediums Liebe bewusst ist und willentlich die Kommunikation sucht. Er konzipiert Liebe durchschaubar. Im Rückgriff auf die Handlungsmacht von Liebe wird über metareflexive Passagen zudem der ästhetisch-didaktische Anspruch des spanischen realistischen Romans verdeutlicht und die Funktion von Liebe und Roman in der ReKreation, der identitären Neuschöpfung verortet. Liebe als poetologisches Instrument bereichert das literarische Programm des Realismus, indem beide Autoren für eine stärkere Integration von Gefühlen und Imagination in das Schreiben plädieren und eine streng genommene Unparteilichkeit ablehnen. Gattungstypologisch erneuert Galdjs mit Tristana den Roman, indem er zum Zwecke einer größeren Wirklichkeitsnähe längere Passagen der Narration dramatisiert. Gleichzeitig wird dadurch das Zusammenfallen von Diskurs über Liebe und Liebe illustriert. Beiden gemeinsam ist eine Liebe, die ungeteilt den Entfaltungsprozess der Protagonisten vorantreibt und ästhetisch wie kulturell über ihre Praktikabilität charakterisiert wird. Dies grenzt den ersten Typ auch vom zweiten ab, in dem Liebe nicht vorrangig Ort einer praktikablen Kommunikation ist, sondern Ort der kritischen Auseinandersetzung mit Diskursen.
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Typ 2: Liebe als spielerisch reflektierte Diskurse
Der zweite Typ steht an der Schwelle von Realismus zu Modernismo und fasst Liebe als kritisch reflektierten Diskurs, der verschiedene Liebesreden kontrastiert und sich von einer naturgegebenen Vorstellung von Liebe abgrenzt. Zu diesem Typ werden Clar&ns La Regenta (1884/85), Emilia Pardo Baz#ns La madre Naturaleza (1887) und Ramon P8rez de Ayalas Tigre Juan/El Curandero de su honra (1926) gezählt. Allen gemeinsam ist die Reflexion von Liebe anhand unterschiedlicher, gleichberechtigt nebeneinander stehender Diskurse. Während Clar&n anhand der Dichotomisierung von Liebe in eine himmlische und eine irdische die daran geknüpfte Kategorisierung der Geschlechter in männliche und weibliche kritisiert, zeigt Pardo Baz#n in ihrem Roman die kulturelle Prägung auch einer scheinbar natürlichen Liebe auf. P8rez de Ayala wiederum lässt seine zu Figurentypen stilisierten Protagonisten jeweils gegenläufige Liebesdiskurse verkörpern, von denen keiner den Vorzug erhält. Sowohl Clar&n als auch Pardo Baz#n werden mitunter als Verfechter des naturalistischen Romans gefeiert und tragen zur Abgrenzung von Realismus und Naturalismus bei. Aufgrund der zeitgleichen Rezeption von naturalistischen Programmen und modernistischen Schreibweisen lassen die gewählten Werke neue Romankonzeptionen erkennen, die sich anhand verstärkter intertextueller Bezüge oder selbstreflexiver Momente an den modernistischen Roman und somit an ein virtuell-experimentelles Modell annähern und nicht eindeutig dem Naturalismus zugeordnet werden können. P8rez de Ayalas literarhistorische Zwischenstellung ergibt sich daraus, dass die typografische Präsentation einiger Passagen eine Nähe zum modernistischen Schreiben und damit zu einem virtuell-experimentellen Realitätskonzept aufweist, seine Figurencharakterisierung sowie Sprache wiederum auf den rational-repräsentativen Modus verweisen. Generell äußert sich die Schwellenposition der hier behandelten Texte darin, dass die Autoren und die Autorin in ihren poetologischen Reflexionen eine zu strenge Klassifizierung sowohl von Liebe als auch von Roman kritisieren bzw. den Gültigkeitsanspruch nur eines einzigen Konzeptes ablehnen. Clar&n und Pardo Baz#n möchten im Rekurs auf die Freiheit der Gattung neue, vom rea-
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Typ 2: Liebe als spielerisch reflektierte Diskurse
listischen Programm abweichende Romanformen nicht ausschließen, während P8rez de Ayala auf realistische Modi zurückgreift, um seinen ›modernistischen‹ Roman zu gestalten. Um Clar&ns Schreibmodus im zeitlichen Umfeld von La Regenta zu beschreiben, werden seine Essays Del Naturalismo (1882), Del estilo en la novela (1882–1883), einige Artikel aus Ensayos y revistas: 1888–1892, Gedanken aus Cavilaciones (1881), Rezensionen zu Werken seiner realistischen Zeitgenossen sowie die Erzählung Apolo en Pafos (1887) herangezogen. In diesen Texten wird deutlich, dass Clar&n Liebe sowohl ästhetisch als auch kulturell skalar denkt. Durch ihren Blick auf die literarischen Entwicklungen in Europa ergänzen die Schriften von Emilia Pardo Baz#n die Naturalismusdebatte in Spanien. Von besonderem Interesse sind die Artikelsammlung La cuestijn palpitante (1882– 1883), der literaturkritische Aufsatz La novela novelesca (1891), 5ltimas modas literarias (1890) sowie ihr Vortrag La revolucijn y la novela en Rusia (1887) im Ateneo. Ihre Poetik formuliert die Galicierin insbesondere in den Prologen ihrer Romane und in ihren Apuntes autobiogr#ficos (1886). In diesen Metatexten zeichnet sich die enge Verquickung von Kritik und Literatur wie auch das eklektizistische Vorgehen der Autorin ab, das auf ihre Offenheit und Neugierde zurückgeführt werden kann. Emilia Pardo Baz#ns Konzepte von Liebe und Roman werden daher durch das Attribut uneingeschränkt vorgestellt. Auch wenn mit den Texten von Clar&n und Pardo Baz#n die Differenzen bzw. Gemeinsamkeiten von Realismus und Naturalismus in der spanischen Literatur diskutiert werden, sehe ich ausgehend von La Regenta und La madre Naturaleza keine Zuordnung der Werke zum Naturalismus. Vielmehr entpuppen sich die ›neuen‹ Schreibmodi als Tendenzen des modernistischen Schreibens, die das realistische Literaturverständnis bereichern. Der Schreibmodus von Ramjn P8rez de Ayala wird anhand seiner Essaysammlungen Las M#scaras und M#s divagaciones literarias sowie mithilfe einiger Literaturkritiken und des Artikels Sobre los escritores y poetas espaÇoles (1916) charakterisiert. P8rez de Ayalas Texte, wie auch sein Doppelroman Tigre Juan/El Curandero de su honra, bezeugen ein großes Interesse an Musik und musikalischen Strukturen. Dabei steht ein harmonischer Zusammenklang unterschiedlichster Stimmen im Zentrum, weshalb sein Liebeskonzept als polyphon bezeichnet wird. Das für den zweiten Typ grundlegende Liebeskonzept geht mit Clar&ns Skalarität, Pardo Baz#ns Eklektizismus und P8rez de Ayalas Polyphonie von einer Ganzheit aus, die in der Lage ist, Liebe materiell und geistig, kulturell und ästhetisch oder historisch und gegenwärtig zu sehen. Abgelehnt wird hingegen die Vorstellung einer naturgegebenen, ›wahren‹ Liebe, die keine Diskursivierung erfährt und somit ohne kulturelle Formung entsteht.
Gegen den Kategorisierungswahn
6.1
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Gegen den Kategorisierungswahn
Prägt die literarische Landschaft Spaniens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Literaturkritik sowie die Realismus/Naturalismus-Debatte, so wird neben Leopoldo Alas, »Clar&n« (1852–1901), die Galicierin Emilia Pardo Baz#n (1851–1921) als herausragende Vertreterin ihrer Zeit genannt.1 Ramjn P8rez de Ayala hingegen wird schon aufgrund seiner Jugend häufig als modernistischer Autor klassifiziert, der Tendenzen eines psychologischen Realismus aufweist. Die Gemeinsamkeit der Dreien, die es erlaubt, sie im zweiten Typ zu verdichten, ergibt sich in ihrer Diskussion der von Positivismus und Naturalismus angestoßenen, immer feiner differenzierenden Zergliederung des menschlichen Lebens und der Literatur. Dabei richtet sich ihre Kritik gegen einen rationalen Kategorisierungswahn, der als Einschränkung der Kunst angesehen wird und zudem der realistischen/naturalistischen Forderung widerspricht, den Menschen umfassend zu charakterisieren. Wie bereits Juan Valera und Benito P8rez Galdjs bemühen sie das Argument der Freiheit der Literatur und der Synthese widersprüchlicher Elemente wie Phantasie und Wissenschaftlichkeit, um ihre Schreibweisen zu legitimieren. Mit dem Epochenwechsel versuchen die Schreibenden einen Spagat zwischen widerstreitenden ästhetischen Programmen, um auch der Vielseitigkeit von Kunst und Leben Ausdruck verleihen zu können. Clar&n formuliert dies in seiner Kritik zu Peredas »El buey suelto« in Solos de ›Clar&n‹ (1881) als Ineinander von Individuellem und Generischem: Todo es leg&timo en el arte, el realismo y el idealismo; pero a condicijn de que el primero no olvide, en lo singular que directamente copia, buscar lo propio para la expresijn de lo gen8rico; y de que el segundo, el idealismo, lo ejemplar y perfecto que 1 Während La cuestijn palpitante Emilia Pardo Baz#ns Sichtweise des literarischen Naturalismus offenlegt, lässt Clar&ns Prolog für die zweite Herausgabe der Artikelsammlung seine Perspektive durchscheinen. Er definiert in diesem Vorwort Naturalismus zunächst negativ, um gegen die in der Presse kursierenden Meinungen unterschiedlicher Kritiker Stellung zu beziehen: »El naturalismo no es la imitacijn de lo que repugna a los sentidos, Sr. Campoamor, querid&simo poeta; porque el naturalismo no copia ni puede copiar la sensacijn, que es donde est# la repugnancia. […] El naturalismo no es tampoco la constante repeticijn de descripciones que tienen por objeto representar ante la fantas&a im#genes de cosas feas, viles y miserables. […] El naturalismo no es solidario del positivismo, ni se limita en sus procedimientos a la observacijn y experimentacijn en el sentido abstracto, estrecho y ljgicamente falso, por exclusivo, en que entiende tales formas del m8todo el ilustre Claudio Bernard. […] El naturalismo no es el pesimismo, diga lo que quiera el notable filjsofo y cr&tico Gonz#les Serrano, y por m#s que en esta opinijn le acompaÇe acaso la poderosa inteligencia de DoÇa Emilia Pardo Baz#n, autora de este libro. […] El naturalismo no es una doctrina exclusivista, cerrada, como dicen muchos: no niega las dem#s tendencias. Es m#s bien un oportunismo literario; cree modestamente que la literatura m#s adecuada a la vida moderna es la que 8l defiende. […] El naturalismo no es un conjunto de recetas para escribir novelas, como han cre&do muchos incautos« (CP 125–128).
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Typ 2: Liebe als spielerisch reflektierte Diskurse
concibe, lo aplique veros&milmente a una creacijn individual, viva, y por todos lados determinada y acabada. (OS 1069)2
Ein Romankonzept dieser Art, das sich durch seine formale Freiheit und thematische Offenheit auszeichnet und zwei oppositionelle Positionen zu verbinden sucht, reibt sich notwendig an einer strengen Klassifizierung, die auf bestehende Kategorien zurückgreift. Deutlich beziehen Clar&n und Emilia Pardo Baz#n gegen die Anwendung parzellierter Systeme Stellung, die in Wissenschaft und Literatur immer neue Teilungen, Unterteilungen und Nomenklaturen hervorbringen, sodass nicht länger von Gattungen, sondern bereits von Subgattungen gesprochen wird. Die dadurch erwirkten Einschränkungen werden mit ökonomischen Argumenten verknüpft, da die Schreibenden sich in der misslichen Lage befinden, den Schubladen und Statistiken der Rhetoriker entsprechen zu müssen, um erfolgreich zu sein (vgl. OS 1051). Dies wiederum führt jedoch zu einem Verlust des Zaubers der poetischen und künstlerischen Wirklichkeit (vgl. N 348).3
6.1.1 Der Roman zwischen Bilden und Ereignen Das neue Literaturverständnis trachtet nach einer Verlebendigung von Literatur, die zunächst dadurch erreicht wird, dass die Autoren des Epochenbruchs die Funktionen der Literatur zwischen Bilden und Ereignen ansiedeln. Diese Überlegungen sind bezogen auf Clar&n und Emilia Pardo Baz#n in die Realismus-Naturalismus-Debatte der Zeit eingebettet. In Solos de Clar&n (1881) vergleicht der Autor das literarische Werk mit einer menschlichen Statue, die nur dann lebendig erscheint, wenn ihre Muskeln und Knochen durchscheinen. Von diesem ›guten Realismus‹ grenzt er den ›schlechten‹ ab, der die literarischen Figuren wie Leichen auf dem Seziertisch präsentiert und durch das Öffnen des Körpers die Anatomie freilegt (vgl. OS 1030). Diese allzu detaillierte Betrachtung einer toten Realität lehnt Clar&n als unnatürlich ab. Denn unter ›natürlich‹ versteht Clar&n eine literarische Darstellungsweise, die den Gesetzen und Abläufen der Wirklichkeit entspricht, wie er in seinem Essay »Del Naturalismo« erläutert (vgl. N 333). Mit dieser Forderung kommt er dem europäischen Diskurs des literarischen Realismus nach, wie er beispielsweise in Frankreich praktiziert wurde. Dennoch dekonstruiert Clar&n in weiterer Folge die für den 2 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle OS auf Leopoldo Alas ›Clar&n‹ (1966): Obras Selectas, Madrid: Biblioteca Nueva. 3 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle N auf Leopoldo Alas ›Clar&n‹ (2002): »Del Naturalismo«, in: Sotelo V#zquez, Adolfo: El naturalismo en EspaÇa. Cr&tica y novela, Salamanca: Almar, 325–359.
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Naturalismus häufig zitierte Metapher einer fotografischen Reproduktion der Wirklichkeit im Sinne einer Kopie, indem er zwei Aspekte des naturalistischen Schreibens hervorhebt: Dice el naturalismo que el objeto real no necesita, al pasar a la expresijn art&stica, sufrir m#s transformaciones que las que esencialmente ha de traer todo remedo humano de realidad exterior. Es claro que el naturalista que con mayor esmero copia la realidad, no puede hacer : 1.) que el material que 8l maneja sea id8nticamente de la misma materia que copia; la imitacijn no est# en la materia, sino en la forma. 2.) Tampoco puede prescindir de las leyes psicoljgicas que exigen ver siempre de un modo singular los objetos, de una manera y expresarlos con un estilo, sin que nada de esto sea tomado de lo exterior, sino formas de la personalidad. (N 335)
Neben der Imitation, die sich auf die Form der aus der Realität stammenden Objekte und auf deren Relationen zueinander bezieht, gewinnt die Persönlichkeit des schreibenden Subjektes an Bedeutung. Bereits die Beobachtung der Schreibenden und die damit verbundene selektive Wahrnehmung, gefolgt von der Auswahl der ästhetisch relevanten Objekte, sind eng an die psychologische Verfasstheit der Schreibenden gebunden. Im selben Jahr wie Clar&n, jedoch unter Einbezug des französischen Modells, spezifiziert auch Emilia Pardo Baz#n das Verhältnis von Phantasie und Wissenschaftlichkeit in der Kunst in La cuestijn palpitante (1882): No hay artista que se avenga a confundir as& los dominios del arte y de la ciencia: si el arte moderno exige reflexijn, madurez y cultura, el arte de todas las edades reclama principalmente la personalidad art&stica, lo que Zola, con frase vaga en demas&a, llama el temperamento. Quien careciere de esa quisicosa, no pise los umbrales del templo de la belleza, porque ser# expulsado. (CP 152–153)
Eine gewisse Subjektivität, eine Persönlichkeit, ein Temperament in Zolas Worten, erweisen sich für die Kunst als unerlässlich, um das Ziel der künstlerischen Schönheit zu erreichen, die sich von einer objektiven Wahrheit unterscheidet. Diese Bedeutung von Wahrheit im Roman wird von Pardo Baz#n in ihren Apuntes autobiogr#ficos (1886) weiter diskutiert. Im Gegensatz zu einer Chronik, erläutert sie, reicht es für den Roman nicht aus, wahre Gegebenheiten getreu und exakt zu erzählen. Wenngleich für das realistische Schreiben das Paradigma einer repräsentativen Darstellung gilt, so betont die spanische Autorin doch die künstlerische Handlungsfreiheit in der Wahrheitskonstruktion: »[…] todos los elementos han de ser reales, sjlo que la verdad se ve y resalta mejor cuando es libre, significativa y creada por el arte« (POCIII 727). Während Juan Valera für das realistische Schreiben die Integration der Imagination fordert, thematisieren Clar&n und Emilia Pardo Baz#n das moderne Thema der subjektiven Wahrnehmung, das eine objektive Beobachtung bereits vereitelt. Konsequenterweise wird die je individuell gestaltete literarische Dar-
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Typ 2: Liebe als spielerisch reflektierte Diskurse
stellung und damit die Funktion des Bildens aufgewertet. Gerade weil sich beide der Perspektivität der Schreibenden sowie der blinden Flecken der Beobachtenden bewusst sind, fordern sie keine weitere Parteinahme der Schreibenden in der Darstellung der Wirklichkeit und befürworten die impassibilit8 des französischen Naturalismus, denn die Realität ereignet sich bereits in der Darstellung ihrer Wahrnehmung. Damit grenzen sie sich auch von Juan Valeras ähnlich argumentierter Literaturvorstellung ab. Analog einer Laborsituation wird die als Experiment bezeichnete Phase des kreativen Aktes verstanden, in der die Wirklichkeit durch die Anordnung der Beobachtungsdaten neu geschaffen wird.4 Die genuin literarische Seite dieser aus den Naturwissenschaften entlehnten Vorgehensweise betrifft die literarische Sprache, wie sie Clar&n in seinem Artikel »Del estilo en la novela« (1882) diskutiert. Clar&n kritisiert in seinem Artikel die in Spanien vorherrschende Sprache der Literatur, die der freien Entwicklung eines natürlichen, einfachen aber dennoch ausdrucksstarken Stils und damit der Sprache des Romans im Wege steht. Die moderne literarische Sprache, fährt er in seiner Kritik fort, wird von politischen, akademischen, journalistischen und ›schwatzhaften poetischen‹ Diskursen geprägt, in deren Sprachgebrauch auch in der Hochphase des literarischen Realismus/Naturalismus eine prunkvolle Sinnlichkeit, sogar eine Schwülstigkeit vorherrschen (vgl. Clar&n 1882, 23). Der realistische Roman zielt jedoch darauf ab, einen Einblick in die Denkmuster der Menschen zu ermöglichen, wie Emilia Pardo Baz#n im Prolog zu La dama joven hinsichtlich einer adäquaten literarischen Sprache erläutert: »Juzgo imperdonable artificio en los escritores alterar o corregir las formas de la oracijn popular, entre las cuales y la idea que las dicta ha de existir sin remedio el nexo o v&nculo misterioso que enlaza a todo pensamiento con su expresijn hablada« (POCIII 666).5 In Anlehnung an Cervantes sollte der Roman eine Mischung aus Eloquenz und ungeschliffener Sprache des Volkes sein (vgl. POCIII 667). Dabei zielt das Sprachexperiment darauf ab, Wissen zu generieren, indem entweder die angenommenen Gesetze bewiesen werden, das Wirken anderer Kräfte gezeigt oder die Annahme falsifiziert wird. Wie auch immer das Experiment ausgehen mag, am Ende resultiert daraus ein Ergebnis: »un resultado, 4 Clar&n fasst Ziel und Konstruktionsprinzipien der naturalistischen Literatur in seinem Essay über den Naturalismus in folgenden knappen Sätzen zusammen: »Finalidad: la verdad de lo real tal como es. Medios: la observacijn de los datos, minuciosa, atenta, sistem#ticamente estudiados; y despu8s en la composicijn la experimentacijn, que es la que da la enseÇanza, el resultado, que es la obra del arte despu8s de la gestacijn y de todos los trabajos preparatorios« (N 341). 5 In La cuestijn palpitante verweist Pardo Baz#n in dieser Hinsicht auf Zola, dem es gelingt, in den Lesenden die Illusion zu erzeugen, das Denken der Romanhelden beobachten zu können (vgl. CP 272).
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una enseÇanza, o bien A o bien -A que dec&a Fichte« (N 344). Der Roman integriert auf diese Weise Methoden der wissenschaftlichen Studie, über die es gelingt, das konstruktive Element der Wirklichkeitswahrnehmung und die Ereignishaftigkeit von Texten zu vermitteln und Literatur als etwas Lebendiges zu beschreiben. Denn, so schreibt P8rez de Ayala in seinem Artikel »Sobre los escritores y poetas espaÇoles« (1916), »todo arte literario que con dignidad lleve tal nombre, ha de ser en alguna manera filosof&a, conciencia esencial de la vida. La obra literaria debe hacerse; ser acto antes que letra« (PAOCII 560, m. Herv.).6 Ernsthafte Literatur ist sozusagen lebendig und philosophisch zugleich, ihr ist neben einem rational-repräsentativen ein virtuell-experimentelles Realitätskonzept vorgelagert. Für Liebe und Roman wird auf diese Weise bereits die Wichtigkeit des Ereignens hervorgehoben.
6.1.2 Literatur und Leben – Zwei lebendige Realitäten Während Unparteilichkeit und Wissenschaftlichkeit als methodische Zugänge mit geringen Einschränkungen akzeptiert sind, wird die Motivwahl für realistische/naturalistische Romane eingeschränkt. Emilia Pardo Baz#n lehnt wie ihre Zeitgenossen Romane explizit ab, die sich vorwiegend an ›abstoßenden‹ oder ›schamlosen‹ Themen orientieren. Ebenso missbilligt die Autorin ausufernde und dadurch die Lesenden ermüdende Beschreibungen oder einen ewig düsteren Blick auf die Realität, welcher Anmut, Ausgelassenheit und Geschicklichkeit in Stil und Konzeption der literarischen Konstruktion vermissen lässt (vgl. POCIII 572). Das Tragische sowie das Komische sind für die spanische Schriftstellerin unerlässliche Bestandteile des modernen Romans, der sich als Abbild des menschlichen Lebens versteht: »Y siendo la novela, por excelencia, trasunto de la vida humana, conviene que en ella turnen, como en nuestro existir, l#grimas y risas, el fondo de la eterna tragicomedia del mundo« (POCIII 572). Dieses Wechselspiel freudiger und schmerzhafter Emotionen kennzeichnet ihr zufolge insbesondere die Tradition des spanischen Realismus, der bereits Jahrhunderte davor großartige Werke wie La Celestina oder den Quijote hervorgebracht hat oder in den Bildern von Goya und Vel#zquez die Moden überdauerte. Dabei handelt es sich in den Worten Pardo Baz#ns um einen indirekten, unbewussten Realismus voller Inspiration, dessen Menschlichkeit darauf beruht, den Idealismus nicht auszuschließen, sondern Materie und Geist, Himmel und Erde zu vereinen (vgl. POCIII 572–573).7 Den auf diese Weise prototypisch 6 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle PAOCII auf Ramjn P8rez de Ayala (1965): Obras completas II, hg. von J. Garc&a Mercadal, Madrid: Aguilar. 7 Im Prolog zu La dama joven (1885) spricht sich Pardo Baz#n ebenso wie Clar&n gegen eine zu
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Typ 2: Liebe als spielerisch reflektierte Diskurse
für die spanische Literatur definierten Realismus zieht sie dem französischen Naturalismus vor, wie sie in La cuestijn palpitante darlegt: Si es real cuanto tiene existencia verdadera y efectiva, el realismo en el arte nos ofrece una teor&a m#s ancha, completa y perfecta que el naturalismo. Comprende y abarca lo natural y lo espiritual, el cuerpo y el alma, y concilia y reduce a unidad la oposicijn del naturalismo y del idealismo racional. (CP 154)8
Der spanische Realismus/Naturalismus ähnelt in seinem Streben nach Lebendigkeit dem russischen Realismus. Mit ähnlichen Zielen der Verbreitung aktueller literarischer Moden wie in La cuestijn palpitante konferiert Pardo Baz#n 1887 im Ateneo de Madrid über den russischen Realismus und dessen Vertreter Tolstoi, Gogol, Turgeniev, Dostoievsky, die bis dahin kaum einem breiten Publikum bekannt waren. Obgleich sich die spanische Autorin den russischen Werken lediglich in französischer Übersetzung nähert, extrahiert sie mithilfe eigener und der literaturkritischen Anmerkungen von EugHne Vogü8s Le Roman Russe das für sie distinguierende Merkmal dieser literarischen Entwicklungen.9 Metaphorisch für die Lebendigkeit der russischen Formvariante steht die Bezeichnung eines Naturalismus »con ventanas y respiracijn«, der auf pseudowissenschaftliche und positivistische Methoden verzichtet, um das Innenleben, die Denkvorgänge und Seelenregungen der Menschen darzustellen (vgl. Sotelo V#zquez M. 2002, 418–419). Das diesem Literaturverständnis vorgelagerte Realitätskonzept verlangt offensichtlich nach einem ästhetischen Realismus-Begriff, der in der Lage ist, Gegensätze, wenn nicht zu synthetisieren, so doch gleichermaßen zu erfassen. Die Betonung positiver kultureller Ereignisse ist es auch, die Emilia Pardo Baz#n erneut in »5ltimas modas literarias« (1890) heranzieht, um sich von dem in Kunst und Kultur um sich greifenden Ennui des ausgehenden Jahrhunderts zu distanzieren. Spanien befinde sich in einer Phase der Gelassenheit und Freude, weshalb der (emotionale) Einfluss der Dekadenz-Literatur kaum Spuren in der starke, ausschließende Klassifizierung innerhalb der Gattung Roman aus und bekräftigt auch an dieser Stelle, dass die Kunst alles darstellen könnte, Körperliches genauso wie Geistiges (POCIII 669). 8 Wenngleich das gesamte Werk zunächst unter anderem darauf abzielte, begriffliche Unklarheiten im Gebrauch von Realismus und Naturalismus aufzudecken, wird deutlich, dass Pardo Baz#n selbst die ästhetische von der philosophischen Verwendung nicht streng trennt sowie die Begriffe ›Realismus‹ und ›Naturalismus‹ schließlich synonym verwendet. 9 Die Charakterisierung des russischen Romans von Emilia Pardo Baz#n basiert zum Großteil auf der Lektüre von Vogü8s literaturkritischem Werk, wie Cristina PatiÇo Eir&n in ihrem Aufsatz »La revolucijn y la novela en Rusia, de Emilia Pardo Baz#n, y Le Roman Russe, de EugHne Melchior de Vogü8, en el c&rculo de la intertextualidad« (1997) nachweist. Die beiden Literaturkritiker unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der Romanfunktion. EugHne Vogü8 schreibt dem Roman eine eindeutig moralische Funktion zu, während Emilia Pardo Baz#n diese bezweifelt (vgl. PatiÇo Eir&n 1997, 262–263).
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spanischen Kultur hinterlassen werde (vgl. POCIII 939). Dass Emilia Pardo Baz#n ihre Rolle als Realitätskonstrukteurin deutlich erkennt, zeigt die bewusste Perspektivierung ihrer Wahrnehmung auch auf positive Seiten der Wirklichkeit, wie aus dem Vorwort zu La Tribuna (1882) ersichtlich wird. Der als Studie bezeichnete Roman bedient sich der naturalistischen Analyse, zeigt jedoch nicht nur die krankende Seite einer Gesellschaft, im Gegenteil, die beobachtende Methode soll die Existenz beider menschlicher Seiten belegen: »el calor de corazjn, la generosidad viva, la caridad inagotable y f#cil, la religiosidad sincera, el recto sentir que abunda en nuestro pueblo, mezclado con mil flaquezas, miserias y preocupaciones que a primera vista lo oscurecen« (Pardo Baz#n 2002, o. S.). Dennoch geht es ihr nicht darum, einen exklusiv positiven oder gar verklärenden Naturalismus ins Leben zu rufen, wie die Schilderung des Ehelebens in Los Pazos de Ulloa zeigt. Vielmehr führt ihre bewusste Aufmerksamkeitslenkung auf die erfreulichen Ereignisse des kulturellen Lebens dazu, die Objektivität von Wahrnehmung und wissenschaftlich präsentierter Literatur im Realismus/Naturalismus zu hinterfragen. Der Roman wird zum Schauplatz eines Bewusstseins-Konfliktes, wie es Ramjn P8rez de Ayala in seiner Essaysammlung Las M#scaras formulieren wird: Toda novela o drama que con dignidad ostente tal denominacijn debe ser reflejo fidel&simo del esp&ritu liberal, en cuanto a sus elementos componentes (llamadlo realismo, si gust#is; yo lo llamo idealismo), y en cuanto a su desarrollo, debe ser conflicto de conciencia, o, al menos, conflicto susceptible de ser trasmutado en conflicto de conciencia. (PAOCIII 58)10
Auch in den Texten des asturischen Schriftstellers zieht sich die charakteristische Abgrenzung von ›Realismus‹ und ›Idealismus‹ durch, allerdings fungieren die austauschbaren Begriffe nicht länger als unvereinbare Opposition, wie noch bei Juan Valera. Ein Spezifikum von Ramjn P8rez de Ayalas Poetik ist neben der Thematisierung von Wahrnehmung und Darstellbarkeit der Realität in der Kunst schließlich noch ein weiterer Topos der klassischen Moderne – die Verflüchtigung des Realen –, der es erlaubt, ihn zum zweiten Typ zuzuordnen. Das transitorische Element manifestiert sich in einer immer weiteren Entfaltung des Denk- und Vorstellbaren (vgl. Aubert 2001, 13), ein Ansatz, der die Literaturproduktion und -rezeption gleichermaßen beeinflusst. Im ersten Buch von Las M#scaras erläutert P8rez de Ayala diese Mechanismen von Kunst dergestalt, dass Literatur Fragmente zweier Realitäten als unterschiedliche Facetten eines Diamanten verbindet: »[…] dos altas realidades: Vida y Arte. Toda obra de arte 10 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle PAOCIII auf Ramjn P8rez de Ayala (1966): Obras completas III, hg. von J. Garc&a Mercadal, 11–660.
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Typ 2: Liebe als spielerisch reflektierte Diskurse
genuino es condensacijn de realidades mfflltiples, forma somera y adamantina donde se compendian formas innumerables« (PAOCIII 42). Vielfältigkeit charakterisiert Leben und Kunst gleichermaßen. Dieser Gedanke Ramjn P8rez de Ayalas erinnert stark an die Kritik zu starker Klassifizierungen bei Clar&n und Emilia Pardo Baz#n, schlägt jedoch auch eine Brücke zu Miguel de Unamuno, da auch Unamuno das Wechselverhältnis von Literatur und Leben betont.11 Der Formenreichtum des menschlichen Lebens soll sich auch in der Literatur wiederfinden, wie P8rez de Ayala in seinem Essay »Libros«, publiziert in M#s divagaciones literarias, schreibt: »En rigor no hay ni debe haber prelacijn ni subordinacijn entre estos dos t8rminos de la vida y de los libros, sino perfecta fusijn« (PAOCIV 1252).12 Auf diese Weise gelingt es der Literatur ein authentisches, direktes, kristallisiertes Leben zu verbreiten, da sie typische Elemente des Lebens in kondensierter Form darbietet (vgl. Campbell 1967, 450). Überdies lassen sich Literatur und Leben analog erklären. Denn einerseits gehorcht die Literatur wie das Leben nur ihrer jeweilig eigenen Logik, andererseits sind Erfahrungen und Erkenntnisse, die völlig von lebender, wahrnehmbarer Materie abgetrennt gewonnen werden, weder Kennzeichen guter Literatur noch des Lebens (vgl. PAOCIV 1253). Aufgrund dieses engen Verhältnisses von Leben und Literatur fordert P8rez de Ayala eine gewisse Ernsthaftigkeit im literarischen Schaffen, die aus drei unterschiedlichen Positionen vermittelt werden kann: Erstens durch Ironie, zweitens durch Humor und drittens durch Satire.13 Die Ironie, so der spanische Autor, zeichnet sich durch eine intellektuelle Toleranz aus, die auf ein Verstehen der menschlichen Natur zurückgeht und dieses Verständnis derart präsentiert, dass sich die allzu ernsten Menschen der ironischen Darlegung nicht bewusst werden und sich selbst noch ernst genommen fühlen. Dem gegenüber steht die Annäherung an menschliche Problematiken aus einer humoristischen Perspektive, die genährt von einer Art »simpat&a sentimental y cordial« (PAOCIII 37) gegenüber der fehlenden Ernsthaftigkeit der Menschen sowie getrieben von dem Streben, die tiefe Verbundenheit der Menschen zu intensivieren, sich selbst nicht allzu ernst nimmt. Schließlich führt P8rez de Ayala noch die Satire als dritten Weg an, der darauf abzielt, Irrtümer aufzuzeigen, indem Fiktionen als solche markiert werden (vgl. PAOCIII 37). Anhand der Liebesleidenschaften 11 Ein weiterer Einfluss von Miguel de Unamuno zeigt sich darin, dass Ramjn P8rez de Ayala den Menschen als ein zukünftiges Projekt versteht, dessen Erfahrungen sich paradoxerweise aus der Zukunft und aus der Vergangenheit zusammensetzen (vgl. Amorjs 1972, 32). Die Bedeutung von Unamuno für das Schaffen P8rez de Ayalas unterstreicht auch Juan Ramjn Prieto Jambrina (1998). 12 Hier und weiterer Folge verweist die Sigle PAOCIV auf Ramjn P8rez de Ayala (1963): Obras completas IV, hg. von J. Garc&a Mercadal. 13 Allgemein zum Humor in P8rez de Ayalas Texten siehe Ayo 2003.
Claríns skalare Liebes- und Romankonzepte
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exemplifiziert der Autor sodann seine Theorie. Wenngleich die Passionen aufgrund ihrer allgemeinen Verbreitung als literarisches, ernstzunehmendes Thema geeignet erscheinen, ermuntern sie doch meist zur Satire, es sei denn, sie fungieren als transzendentaler Ausdruck. In seltenen Fällen spornt die Schilderung von Liebesleidenschaften die Schreibenden zum Humor und noch seltener zur sanften Ironie an (vgl. PAOCIII 38). Die bisherige Forschung sieht in P8rez de Ayalas Werk dennoch eine Dominanz der feinen Ironie (Amorjs 1972) oder des menschenfreundlichen Humors (Ayo 2003; Prieto Jambrina 1998). Seit der Romantik bedienen sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Ironie, um die aufgeklärte Vernunft zu kritisieren. Ein Unterschied im Einsatz dieser rhetorischen Figur um 1900 liegt darin, dass die romantische Ironie die unaufhaltsame Kraft des Individuums hervorhebt, währenddessen die modernistische Ironie gerade die Integrität des Individuums in Frage stellt, da es sich in einer befremdlichen Umgebung, in einer ungeordneten, kontingenten und gleichmütigen Welt bewegt (vgl. Ayo 2003, 698). Ironie und Humor beinhalten eine kritische Perspektive, die jedoch im Schaffen der im zweiten Typ genannten Autorin und Autoren mit einer toleranten bzw. offenen Einstellung gegenüber den verschiedensten Formen des Lebens sowie dem Wunsch, die Wirklichkeit zu verstehen, einhergehen. Dies betrifft auch Liebe als kulturelle und ästhetische Kategorie. Clar&n greift auf ein skalares Konzept zurück und tritt für Toleranz ein, um einer Zergliederung entgegenzuwirken. Emilia Pardo Baz#n wiederum sieht ihre Schreibweise von einer Liebe motiviert, die einer unparteilichen Offenheit und Neugierde entspricht, weshalb ihr Konzept als uneingeschränkt bezeichnet wird. Und schließlich tritt auch P8rez de Ayala, ähnlich wie Clar&n, für eine harmonische, nun jedoch polyphone Vorstellung von Liebe und Literatur ein, die durch Darstellung und Operationalisierung verschiedenster Kunstdiskurse eine Wiedererkennbarkeit zeitgenössischer kultureller Mechanismen und Muster gewährleisten soll.
6.2
Claríns skalare Liebes- und Romankonzepte
Die Unzulänglichkeit allzu strenger Klassifizierungen im Feld der Literatur zeigt sich in Clar&ns Werk nicht nur in seinem Roman La Regenta (1884/85), sondern auch in seinen ästhetischen und poetologischen Reflexionen, die er in Form von unterschiedlichen Textsorten hinterlassen hat. Neben ästhetischen Essays geben seine Zeitungsartikel, Literaturkritiken und Erzählungen Aufschluss über seine Literaturkonzepte. Von besonderer schöpfungsästhetischer Bedeutung sind sein Essay »Del Naturalismo« (1882), der in der Zeitschrift Diana veröffentlicht wurde und seine Artikel »Del estilo en la novela« (1882/83), die in der Zeitschrift Arte y Letras die Öffentlichkeit erreichten.
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Kurz vor der Jahrhundertwende verdichtet Clar&n seine poetologischen Reflexionen in seinen Ensayos y revistas: 1888–1892 (1892), deren verschiedene Essays zwar kein eindeutiges Romankonzept vorstellen, jedoch nach neuen Wegen der Romangestaltung suchen. Während Leopoldo Alas in »La novela del porvenir« feststellt, dass die nach den Prämissen des Naturalismus geformten Romane ihren Zenit noch nicht erreicht haben (vgl. Clar&n 1892b, 384–391), konstatiert er in »La novela novelesca« neue Tendenzen der Romangestaltung, die besonders von einer jüngeren Dichtergeneration favorisiert werden (vgl. Clar&n 1892a, 137–157). In der begrifflichen Fassung dieser neuen Romanform schwankt er zwischen »novela psicoljgica«, »novela de sentimiento« und dem Begriff der »novela novelesca«, letztere Bezeichnung entlehnt er von BrunetiHre und Prevost. Von Prevost übernimmt er auch die Definition, dass unter »novelesca« nicht eine ausführlichere Fabel der Romane gemeint sei, sondern ein größerer Ausdruck emotionaler Belange (vgl. Clar&n 1892a, 141). Neben dem naturalistischen Roman ist dieses Subgenre des Romans von ebenso großer literarischer Bedeutung und Reichweite: »Y es particularmente leg&tima la forma de la novela que atiende al alma, no por el an#lisis, sino por su hermosura, por la belleza de sus expansiones nobles, no menos bellas que la formidable lucha de sus pasiones; es leg&tima y es oportuna la novela de sentimiento« (ebd., 154). Trotz dieser Hinwendung zum Gefühlsleben möchte Clar&n diese Form des Romans vom Feuilleton streng abgegrenzt wissen, wie auch von den ›kränkelnden‹ Romanen der Fin-de-SiHcle-Literatur (vgl. Clar&n 1892b, 387). Verfolgt man die zahlreichen Literaturkritiken Clar&ns, die immer wieder Hinweise auf seine eigene Romanpoetik enthalten, wird deutlich, dass sich der spanische Autor in den 1880er Jahren immer mehr von der realistischen/naturalistischen Schule und der Forderung einer unpersönlichen, emotionslosen Darstellungsweise distanziert. Wenngleich er den Naturalismus nicht völlig verabschiedet, sucht er doch neue Ausdrucksformen, die in seiner Erzählung Apolo en Pafos (1887) durch die Hinwendung der Poesie zur Liebe symbolisiert werden.
6.2.1 Toleranz als Grundlage von Ästhetik und Liebe Während sich die novela novelesca auf die menschlichen Gefühle im Allgemeinen bezieht, rückt Leopoldo Alas die Bedeutung der Liebe für die Kunst in seiner Erzählung Apolo en Pafos (1887) in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Der Protagonist der Erzählung ist Clar&n selbst, der auf der Suche nach dem Gott der Heil- und Dichtkunst, Apoll, gefolgt von seinen neun Musen bei Venus auf Paphos findet. Neben einer langen Passage, die das Vorgehen und die Bedeutung der Real Academia EspaÇola für die spanische Literatur reflektiert, geben die
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Reden der Musen zunächst Aufschluss über die Romankonzepte der Zeit bis die Erzählung schließlich mit einer ›Lektion in Toleranz statt in Ästhetik‹ von Apoll als alter ego Clar&ns ein Liebeskonzept präsentiert, dass ästhetisch inspirierend wirken soll. Von Beginn an erfahren die Lesenden, dass Apoll dem Großteil seiner Musen überdrüssig geworden ist, da er die Hoffnung in die Dichtkunst verloren hat und nun erfolglos versucht, sich von seinen Musen auf Paphos zu erholen: »En fin, no s8 lo que me digo; pero lo que juro es que Venus vale m#s y merece m#s consideraciones que todas las Musas juntas« (AP 18).14 Apoll wendet sich von den zeitgenössischen literarischen Entwicklungen ab und bevorzugt die Göttin der Liebe als Verkörperung der natürlichen und ewigen Poesie (vgl. AP 111–112). Sein Sinneswandel trifft selbst Minerva, die Göttin der Kriegskunst und Wissenschaften. Noch in seiner Gunst stehen die Musen Polymnia, Euterpe, Terpsichore und Erato. Polymnia, die Muse der Rhetorik mit der Hoheit über das Drama, erscheint als erste. Sie stellt eine hermaphroditische Erscheinung dar, eine mögliche Anspielung auf Apolls Gefallen an beiden Geschlechtern. Clar&n selbst wertet das männliche Aussehen der Muse, das sich in ihrem streng prüfenden Blick sowie in den männlichen Gesten und Gebärden äußert, ambivalent. Die von ihr verkörperte nicht klar kategorisierbare Geschlechtlichkeit löst in ihm Anziehung und Abneigung zugleich aus (vgl. AP 20–21). Euterpe, ›die Erfreuende‹, die häufig mit einer Flöte dargestellt wird, Terpsichore, ›die den Tanz Genießende‹, deren Attribut die Leier ist und Erato, ›die Sehnsucht Erweckende‹, die tanzend dargestellt wird, prägen Apolls Literaturverständnis. Maß, Rhythmus, Takt, Harmonie der Töne und eine Geschicklichkeit in den Bewegungen sind ihm nach wie vor von großer Bedeutung (vgl. AP 40) und verbinden sein ästhetisches Programm mit jenem von Ramjn P8rez de Ayala. Nach dem Drama wird in der literaturkritischen Erzählung als zweite Gattung die Naturlyrik mit Erato bedacht. In einem Dialog zwischen Erato und Clar&n erfahren die Lesenden, dass die Muse der Natur von der aktuellen Dichtkunst und deren Versuchen, die Natur zu besingen, enttäuscht ist (vgl. AP 100–101). Die Muse, die über den Gesang der Natur richtet, beklagt, dass im 19. Jahrhundert trotz unterschiedlicher Versuche kaum jemand verstanden habe, die Liebe der Natur zu besingen, stattdessen verliere sich die Dichtung im Romantizismus, dessen Qualen nicht in der Lage sind, die spontane, unschuldige, süße Liebe der Landschaft zu besingen und stattdessen ein Schmerz in den Gedichten dominiert, der die schönsten Gesänge der Natur verfälscht. Eratos Enttäuschung betrifft auch die modernen Dichter, »[…] los naturalistas, los imp#vidos, los formistas, los esculturales, los pesimistas, los nirvanistas…« (AP 14 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle AP auf Leopoldo Alas ›Clar&n‹ (1887): Apolo en Pafos. Online verfügbar unter : http://www.todoebook.net/ebooks/ClasicosEspanoles/Leo poldo%20Alas%20Clarin%20-%20Apolo%20en%20Pafos%20-%20v1.0.pdf [02. 07. 2013].
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103), die allesamt vorgeben, ihre Poesie an der Natur auszurichten und dennoch Eratos Literaturverständnis nicht entsprechen. Clar&ns Kritik an der sogenannten modernen Literatur gestaltet sich wie folgt: No es impasibilidad lo que yo pido, ni que el poeta pretenda mirar las cosas del mundo con la serenidad de un dios; no necesita el artista dejar de ser hombre, como se figuran muchos ahora. Adem#s, entre los poetas modern&simos que se creen desligados de la tradicijn y de la herencia rom#ntica, hay preocupaciones idealistas, aunque ellos lo nieguen; y ese mismo impersonalismo, y sobre todo el tecnicismo, la ciencia y el arte descriptivos tomados como objeto inmediato y fflnico, la transcendencia metaf&sica que casi siempre late en las obras de esos autores, sea para blasfemar, o para dudar, o para resignarse, son elementos extraÇos a la verdadera poes&a natural, segffln esta Musa la entiende y la inspira…(AP 103–104)
Die Forderungen der Realisten und Naturalisten werden abgelehnt, weder scheinen die Unparteilichkeit, noch die Faszination an der Technik oder die wissenschaftlichen Methoden des Romanschreibens als für die Dichtkunst angemessene Zugänge. Im Gegenteil, die Literatur solle die Natur ihrer selbst willen besingen, als reales Wesen, deren einzige Transzendenz in ihrer Schönheit liegt sowie in den natürlichen Eindrücken und Affekten, die durch sie ausgelöst werden (vgl. AP 106). In den vielen unterschiedlichen Schulen, neuen Rhetoriken, der Dominanz der Prosa über den Vers, dem utilitaristischen Gedanken des naturalistischen Romans oder in dem Ansatz, die Wahrheit als einzige Inspirationsquelle zu sehen, ortet die Muse als Sprachrohr der Clar&n’schen Kritik die Ursache dafür, dass die Literatur der Zeit wenig mit Dichtkunst gemeinsam habe (vgl. AP 111). Die mehrdeutige Anlage der Erzählung ermöglicht es der Forschung, Apolo en Pafos einerseits als Beschreibung des dominierenden realistischen/naturalistischen Romans zu lesen (vgl. Beser 1968, 281–282), andererseits in diesem Text Clar&ns modernistische Geisteshaltung auszumachen, die sich im Verlust genauer Bezugspunkte und der damit einhergehenden Unmöglichkeit einer definitiven Kategorisierbarkeit sowie eines Harmoniegedankens äußert (vgl. Romero Samper 2003, 75–89). Ausgelöst wurde dieser Streit durch die Lektüren von Juan Valeras »Apuntes sobre el nuevo arte de escribir novelas« (1886/87) und Emilia Pardo Baz#ns »La revolucijn y la novela en Rusia« (1887), die in der Erzählung aufgegriffen werden. Dort heizt eine Nebenfigur, Hermes, den Streit insofern an, als er die beiden Musen danach fragt, wie der Schriftsteller und die Schriftstellerin denn den Roman definieren. Die Antwort verrät keine klare Begriffsbestimmung, sondern verweist auf die Ableitung impliziter Romankonzepte: Nada dicen de eso; pero a lo que se deduce de la doctrina respectiva de uno y otro autor, segffln Valera, la novela no debe acercarse a la historia, pues 8sta lleva la verdad por
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delante, y aqu8lla para nada la necesita; en cambio, la escritora coruÇesa da tal importancia y car#cter utilitario e influencia social a la novela, que ljgicamente podr&a Cl&o sostener que, de ser este g8nero segffln esa seÇora dice, es un modo de historia de la actualidad. (AP 118–119)
Die realistische Schreibweise wird sodann über den Streit von Kalliope, der Muse der epischen Dichtung, und Kleio, der Muse der Geschichte, fortgesetzt. Kalliopes Wort tritt für eine Entdifferenzierung von Geschichtsschreibung und Roman ein. Beide sollten sich in Zukunft noch viel weiter, bis zur Ununterscheidbarkeit, annähern, damit der Roman das erzieherische Potential der Kunst stärker hervorbringen könne und die Historiker die Mysterien der poetischen Vision erkennen können, um auf diese Weise die größtmögliche Ähnlichkeit mit der vergangenen Realität zu erzielen (vgl. AP 121–122). Die zwei Textsorten, Roman und historischer Text, beziehen sich auf die Wahrheit, weshalb Kleio von einem Schönheitskonzept ausgeht, das seinen Ursprung in der Wirklichkeit nimmt: »La mayor belleza no la compone el sujeto soÇador, que as& pronto se agotar&a el manantial de lo bello art&stico; de fuera adentro, de la realidad a la fantas&a, viene la savia del arte, y toda otra forma de vida es anuncio de muerte« (AP 122). Am Ende der Auseinandersetzung steht Kleios Wort und bekräftigt den Wirklichkeitsbezug der realistischen Literatur, doch wie bereits erwähnt, endet die Erzählung nicht hier. Apoll als alter ego Clar&ns greift letztlich ein, um zwischen den Musen Versöhnung zu bringen. Um sich einer Systematisierung zu entziehen, wählt Leopoldo Alas zwei Strategien. Zunächst distanziert sich Apoll dezidiert davon, Ästhetik-Lektionen zu erteilen. Auch bezeichnet er die folgenden Ausführungen als Unterricht der Toleranz und Weitsicht, mit dem Ziel, insbesondere die Freiheit in der Romanproduktion hervorzuheben: Bien sabe Zeos [sic!], mi Padre, que me pesa dar lecciones de est8tica; pero no siento darlas de tolerancia, de esp&ritu expansivo. S& es cierto que hay g8nero de novela que viene casi a confundirse con la historia, as& como hay modo de escribir historia que es obra de arte casi casi novelesco; no te niego que la verdad comporta m#s poes&a, por comportar m#s belleza que cuanto cabe que invente el hombre, y esto por las razones que oscuramente has pretendido alegar ; pero no toda la historia necesita ir por ese camino, ni, y esto sobre todo, la novela en general es como tffl dices, pues ha habido, hay y habr# siempre novela puramente fant#stica, aspiracijn de la idealidad, reflejo del puro anhelo, que ser# tan leg&tima como la m#s instructiva, profunda e histjrica creacijn del novelista m#s concienzudamente enamorado de la realidad y su belleza. Por eso hubo, hay, y seguir# habiendo, novelas que, m#s que a Cl&o, se acerquen a Cal&ope, al poema 8pico. (AP 124–125)
Apoll gesteht Kleio zu, dass die vorherrschende Zeit den realistischen Roman bevorzugt. Dennoch kritisiert er an Juan Valera, dass dieser Partei für einen spezifischen – den idealistischen – Romantyp ergreift, dessen Schwerpunkt auf der Zerstreuung und Unterhaltung liege. Die vorausgesetzte Trennung in un-
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terschiedliche Romantypen, gepaart mit einer Wertung, ist nicht nur willkürlich, fährt Apoll fort, sondern auch unwürdig all jener Schreibenden, »noblemente inspirados por el amor serio y profundo de la bella santidad de las cosas« (AP 126), da Wissenschaft und Poesie gleichermaßen lehren. Aus diesen Lektionen in Weitsicht und Toleranz kann Clar&ns skalares Romankonzept deduziert werden, das binäre Ordnungsschemata sprengt und derart offen konzipiert ist, dass unterschiedlichste Literaturformen in ihm Platz finden. Mangelhaft präsentiert sich die Poesie Apoll lediglich dann, wenn sie die Existenz der Musik, des harmonischen Zusammenspiels der Dinge unberücksichtigt lässt, da erst in der Musikalität Geheimnisse der Wirklichkeit transportiert werden können, die auf andere Art und Weise inkommunikabel sind, sowie es eine Wahrheit gibt, die lediglich durch die Kunst vermittelt werden kann (vgl. AP 127). Um den Streit unter seinen Musen schließlich zu beenden, fordert Apoll diese zur Liebe auf: »amad y comprender8is, amad e inspirar8is, tolerar es fecundar la vida« (AP 128). Die am Ende der Erzählung an das christliche Gebot der Nächstenliebe gemahnende Aussage erhält im Kontext des ansonsten sehr lethargisch geschilderten Dichtergottes eine kitschige Note – Ironie ist die zweite Technik, die Clar&n einsetzt, um eine Instrumentalisierung seiner ästhetischen Reflexionen zu vermeiden. Nach diesen Lektionen des Mitgefühls und der Toleranz wendet sich Apoll von seinen Musen ab und Venus zu, um mit ihr, vergleichbar einem gewöhnlichen Liebespaar, den Sonnenuntergang zu betrachten. In einer letzten Wendung gibt die Erzählung auch noch Aufschluss über christliche und pagane Liebes- und Kunstkonzepte. Denn am Strand treffen die beiden auf den Apostel Paulus von Tarsus, der sich auf dem Weg befindet, die christliche Heilslehre zu verbreiten, da ihn die Menschen vor 2000 Jahren missverstanden hatten. Paganismus und Christentum stehen konfliktfrei nebeneinander, als Apoll und Paulus jeweils sich selbst als die personifizierte Poesie bezeichnen und die Ansichten ihres Gegenübers akzeptieren (vgl. AP 133–134). Mit diesem Ausklang spielt Clar&n auf die Widrigkeit von binären Liebes- und Literaturkonzepten an, die zwischen paganer und christlicher, irdischer und himmlischer Liebe oder alter und moderner Literatur differenzieren und führt mit der poetologischen Erzählung Skalarität auf unterschiedlichen Ebenen vor, wie er es auch in seinem Roman La Regenta (1884/85) umsetzt. Skalarität zeigt sich in Clar&ns Erstlingsroman im Romankonzept, im Liebesverständnis und in den Geschlechterbildern, die hermaphroditische Züge aufweisen und wie Polymnia eine Zwischenstellung einnehmen.
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6.2.2 Skalare Geschlechterbilder in Claríns La Regenta15 Liebe und Glaube bilden zwei der thematischen Säulen in Leopoldo Alas ›Clar&ns‹ Roman La Regenta (1884/85). Der spanische Autor greift damit eine Konstante des okzidentalen Liebesdiskurses auf, den Konflikt zwischen körperlicher und spiritueller Liebe. Gleichzeitig zeigt er die Schwierigkeiten einer scharfen Grenzziehung und gestaltet die vorgeführten Geschlechterbilder skalar, indem er eine genaue Unterscheidung von maskulin und feminin in Frage stellt. Die klassische Vorlage für das skalare Liebeskonzept bietet der antike Dialog in Platons Gastmahl, in dem Eros als daimon bezeichnet wird, als ein Mischwesen weder Mensch noch Gott (vgl. Platon 2008, 201d–212c). Gegen den Klassifizierungswahn entwirft Clar&n seine Protagonisten als Hermaphroditen, die ebenfalls bereits im Gastmahl von Aristophanes als ›ganze Menschen‹ besungen wurden (vgl. Platon 2008, V 189a–194b). Denn es gab damals noch das männlich-weibliche Geschlecht, das dem Aussehen und der Bezeichnung nach aus den beiden anderen Geschlechtern, dem männlichen und dem weiblichen, gemeinsam bestand. Jetzt aber existiert es nicht mehr, außer als Schimpfname. (Platon 2008, V 189e)
Clar&n belebt den antiken Mythos wieder. Ende des 19. Jahrhunderts fungiert der Mythos jedoch nicht länger als Teil einer nostalgischen Erinnerung an vergangene glückliche Zeiten, in der Gegensätze noch nicht unversöhnlich getrennt waren, sondern als erfahrbare Wirklichkeit, die sich gegen eine positivistische Klassifizierung des Menschen samt seiner Eigenschaften zerteilt in binäre Kategorien sträubt. Spätestens ab dem 17. Jahrhundert verlieren Foucault zufolge Hermaphroditen ihre magische Zwischenstellung und werden in den folgenden Epochen in Medizin und Jurisprudenz verstärkt unter dem Gesichtspunkt der Abweichung von üblichen Klassifikationen betrachtet. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigt sich das Dispositiv des wahren Geschlechts in einer Medizin des Sexes und füllt ab dieser Zeit zahlreiche medizinische Bücher über Hygiene und gerichtliche Gutachten mit Stellungnahmen zur Einordenbarkeit von Menschen in ein binäres Schema bestehend aus Mann und Frau (vgl. Schäffner/Vogl 1998, 218–220).16 Das produzierte Wissen kreist jedoch nicht vorrangig um die De15 Ausführlicher wird die hier und im Folgekapitel angeführte Analyse in meinem Aufsatz behandelt (vgl. Rieger 2012, 207–222). 16 Der biologistische Zugang und die Kategorisierungsversuche beziehen in ihrer Herangehensweise auch Erkenntnisse der Tierwelt ein, in der Zwitterwesen durchaus bekannt sind, womit Hermaphroditen auch einen Übergang zu Außermenschlichem sichtbar machen. Clar&n wird diesem Aspekt der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse bezogen auf Hermaphroditen in seiner Figurencharakterisierung insofern gerecht, als seine Hermaphroditen
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finition von zwei Geschlechtern, eher werden Abweichungen im körperlichen und geistigen Sinne konstatiert, die als »physische Perversionen« und »moralische Verirrungen« bezeichnet werden (ebd., 232). Auch im folgenden Jahrhundert dominiert ein auf trennscharfe Klassifikation ausgerichtetes Interesse der Medizin und Rechtsprechung den Umgang mit Hermaphroditen. So verwundert es nicht, dass sich mit dem Ende des 19. Jahrhunderts die neu aufkommende Psychoanalyse ebenfalls mit dem reinen Geschlecht der Hermaphroditen beschäftigt. Eben dieses Geschlecht wird als etwas Verborgenes gesehen, das durch verschiedene therapeutische Maßnahmen ins Bewusstsein gehoben werden kann. Dabei verweist die Berücksichtigung psychischer Faktoren erstmals auf eine immaterielle Komponente der Geschlechtszugehörigkeit und bietet Nährboden für Ansätze des 20. Jahrhunderts, die von einer stark kulturellen Prägung des Geschlechts ausgehen. Um die Jahrhundertwende werden neben körperlichen also auch psychische Faktoren relevant, die Sexualität wird nun unter dem Gesichtspunkt der Anziehung zum anderen oder gleichen Geschlecht berücksichtigt. Erhält man im 17. Jahrhundert eine ›Sexualität‹ und seit dem 18. Jahrhundert ein ›wahres Geschlecht‹, so besitzt der Mensch ab dem 19. Jahrhundert vor allem einen ›Sexualtrieb‹, der sich im Geständnis, in der Selbstaussage sowie der Selbstdarstellung offenbart. Das wahre Geschlecht als Diskurs, so Wolfgang Schäffner, formiert sich in der Korrelation von physiologischen Daten, Trieben und Verhaltensweisen, deren Kausalität den Einzelnen verborgen bleibt und dadurch das wahre Geschlecht zu einem Geheimnis macht (vgl. Schäffner/Vogl 1998, 241–242). Der einzelne Mensch ist nicht länger in der Lage, sich selbst und sein Geschlecht zu erkennen. In den letzten 30 Jahren des 19. Jahrhunderts tritt aufgrund der Ordnung des Sexes die Differenzierung von heterosexuell versus homosexuell neben jene von Mann/ Frau hinzu. Dies führt insofern eine weitere Einengung der Identitätsbestimmung von Menschen herbei, als die Kategorisierungsbestrebungen dahin tendieren, jede Unschärfe auszuschließen (vgl. Sedgwick 1990, 2). In der Literatur wird dies durch die verbreitete Zeichnung Don Juans als feminin aufgegriffen. Beinahe zeitgleich zu dieser um die psychologischen Einsichten erweiterten Abgrenzung des Geschlechts erfolgt allerdings auch die Erkenntnis, dass binär strukturierte Kategorisierungsvorhaben zur Beschreibung der Realität unzureichend sind. In Bezug auf Otto Weinigers 1903 publizierter Studie Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung führt Wolfgang Schäffner an, dass »es tatsächlich nur ›unzählige Abstufungen zwischen Mann und Weib, sexuelle Zwischenstufen‹ gibt, daß Mann und Frau ›in der Wirklichkeit‹ nicht existieren«
mehr als nur menschliche Züge aufweisen. Siehe die Figurenanalyse von Don ]lvaro Mes&a, Don Ferm&n de Pas und DoÇa Ana de Ozores.
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(Schäffner/Vogl 1998, 232). Im 20. Jahrhundert greifen die Gender Studies17 diese Unzulänglichkeit einer binär strukturierten Taxonomie des Feldes Geschlecht hinsichtlich einer umfassenden Identitätsbestimmung auf und betonen, dass weit mehr als zwei Kombinationsmöglichkeiten von chromosomal sex, unterschieden in masculine/feminine, und gender, geteilt in masculine/feminine, mit den jeweiligen sexuellen Präferenzen zu anderem und gleichem Geschlecht oder Gender gelebt werden können (vgl. Sedgwick 1990, 25). Vielmehr, so resümiert Eve Kosofsky Sedgwick in Epistemology of the closet (1990), spiegelt die Sexualität, und damit verwoben auch die Liebe, das volle Spektrum unterschiedlicher Positionen von kontingenten Weltsichten und Welterklärungsmodellen wider. Diese Komplexität von Sexualität ermöglicht es der Literatur, anhand des Liebesmotivs unterschiedliche Fragen des Mensch-Seins zu verhandeln: Sexualität und damit auch die Liebe betrifft die Bereiche des Intimen und Sozialen, sie kann aber auch Aspekte des biologischen Determinismus und der kulturellen Sozialisation umfassen oder sich mit der physischen oder symbolischen Ausdeutung von Wahrnehmungen beschäftigen (vgl. ebd., 29). Anhand der Titelheldin, Ana de Ozores, die mit dem Gerichtspräsidenten V&ctor Quintanar verheiratet ist und von allen ›die Präsidentin‹ genannt wird, soll im Folgenden gezeigt werden, wie und mit welcher Funktion Clar&n in seinem Roman La Regenta skalare Geschlechterbilder und die damit verwobenen Liebeskonzepte entwirft. Als Gegendiskurs konzipiert, dienen sie Clar&n dazu, die Auflösung von Grenzen in seinem Roman auf unterschiedlichen Ebenen vor Augen zu führen: Der spanische Autor reaktiviert ein dem Liebesmotiv in vielen Epochen inhärentes Muster der Grenzüberschreitung zwischen Körperbezogenheit und Spiritualität oder, anders formuliert, zwischen irdischen und göttlichen Sphären sowie zwischen den Geschlechtern. Für gewöhnlich werden die skalaren Geschlechterbilder in La Regenta und ihre Relation zu binären Kategorien mit herrschenden Machtstrukturen verknüpft (vgl. Labanyi 2000, 209–261). Im Gegensatz dazu gehe ich jedoch davon aus, dass es in Clar&ns Roman nicht um eine Bestätigung herrschender Dichotomien wie Mann/Frau oder Körper/Geist geht. Vielmehr werden die genannten Gegensätze in Frage gestellt, indem ambigue gestaltete Figuren teils attraktiv, teils ironisch angelegt sind. Das Interesse der Analyse richtet sich deshalb nicht auf Binaritäten als starre Oppositionen, sondern auf jenen Ort kulturellen Selbstverständnisses, der sich einer eindeutigen Zuordnung entzieht und den Clar&n mit Eros und Hermaphroditen beschreibt. Unter Berücksichtigung dieser Spannungsverhältnisse zwischen Einheit und Trennung im Kontext von Geschlechterbildern und Liebe lässt sich zeigen, dass der gemeinhin dem Realismus/Na17 Beispielsweise Judith Butler, die vor allem die kulturelle Komponente in der Körperwahrnehmung betont (vgl. Butler 2007, 304).
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turalismus zugeordnete Roman eine Poetik der gezielten Auseinandersetzung mit realistischen Mustern verfolgt und auf diese Weise einen Weg in die künstlerische Moderne beschreiten will.
6.2.3 Schreibende um 1900 als hybride Monster Die Titelheldin des Romans, DoÇa Ana de Ozores, wird von den Bewohnern Vetustas kurz Regenta genannt, da sie zum einen mit dem ehemaligen Gerichtspräsidenten V&ctor Quintanar verheiratet ist, zum anderen die Stadt aufgrund ihrer herausragenden Schönheit und Tugendhaftigkeit zu beherrschen scheint. Ihre Attraktivität liegt ebenso wie jene der beiden Rivalen und Werber um ihre Liebe, Don ]lvaro Mes&a und Don Ferm&n de Pas, in einer Kombination aus femininen und maskulinen Attributen begründet. Bereits als junge Frau zeigt Ana de Ozores Bestrebungen, schriftstellerisch tätig zu werden, und erhält den Spitznamen ›Jorge Sandio‹, der in der Gesellschaft Vetustas jedoch negativ konnotiert ist und als »una cosa hombruna, un vicio de hombres vulgares, plebeyos« (LRI 301)18 mit der Vorstellung einer ehrbaren Frau unvereinbar zu sein scheint. Dieser intertextuelle Hinweis auf die französische Schriftstellerin George Sand, die selbst aufgrund ihres Pseudonyms und ihrer Kleidung ›maskulinisiert‹ in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde,19 betont erstmals die zweideutige Anlage der Protagonistin. Wenngleich ihre Verse als ›nicht schlecht‹ beurteilt werden, unterwirft sich DoÇa Ana dem Diskurs des ›wahren Geschlechts‹: »Se jurj a s& misma no ser la ›literata‹, aquel ente h&brido y abominable de que se hablaba en Vetusta como de los monstruos asquerosos y horribles« (LRI 303). Mit einem autoreflexiven Seitenhieb wird die gesellschaftliche Marginalisierung von Literaten, insbesondere jedoch das nach wie vor bestehende Tabu, als Frau den Lebensunterhalt durch Schriftstellerei zu bestreiten, aufgegriffen. Im Roman unterwirft sich die Protagonistin in Folge dem gängigen Frauenbild und entscheidet sich dazu, ihre weibliche Seite auszuleben. Indem sie beginnt, ihren femininen Körper als ihr größtes Kapital zu pflegen, versucht sie der Obhut ihrer Tanten und damit dem repressiven Moment durch eine Heirat zu entkommen. Ihre skalare Geschlechtlichkeit verlässt DoÇa Ana jedoch durch die Ehe mit dem um vieles älteren Gerichtspräsidenten V&ctor Quintanar nicht, wie die Beschreibung ihres Schlafzimmers seitens einer Freundin zeigt: »Fuera de la 18 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle LRI auf Leopoldo Alas ›Clar&n‹ (2008): La Regenta I, hg. von Juan Oleza, Madrid: C#tedra. 19 Aurore Dupin, Baronne Dudevant (1804–1876) publizierte unter männlichem Pseudonym (vgl. Grimm/Arend 1999, 257–258).
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limpieza y del orden, nada que revele a la mujer elegante. […] All& no hay sexo. Aparte del orden, parece el cuarto de un estudiante« (LRI 215). Ihre GenderNeutralität findet auch in den Vergleichen mit einem Engel und Raffaels Madonna de la Sedia20 ihren Ausdruck, der sie vorwiegend dann ähnelt, wenn sie unter einem ihrer hysterischen Anfälle21 leidet. Konträr zu dieser Desexualisierung der Protagonistin lesen sich die Hinweise darauf, dass sich zahlreiche Kamelien in ihrem Garten befinden, die zu ihren Lieblingsblumen zählen. Doch auch ihr gelingt das Ausleben eines skalaren Geschlechterbildes auf Dauer nicht. Als Frau des Gerichtspräsidenten, demnach eines Repräsentanten der Staatsmacht und der institutionalisierten Diskurse, die eine binäre Geschlechterdifferenzierung zu Kontrollzwecken forcieren, bleibt ihr die Möglichkeit einer hermaphroditischen Erscheinung verwehrt, während eine ätherische Darstellung dem herrschenden Frauenbild näher und damit akzeptierter scheint. Nichtsdestoweniger bricht DoÇa Anas skalares Wesen immer wieder durch und spiegelt sich auch in ihrer Sehnsucht nach einer außergewöhnlichen Liebe. Amor gehört zu jenen Bereichen, die ihr bisher verschlossen blieben, denn ihre Erfahrungen heben sich deutlich von jenen Beschreibungen ab, die ihr aus Gesprächen und Erzählungen, literarischen Werken oder sogar der Geschichte bekannt sind. Aufgrund der frustrierenden Erfahrungen in ihrer Ehe und entmutigt durch ihre unfreiwillige Kinderlosigkeit, sucht sie Zuflucht in der Mystik, einer Form der Liebe, die außerhalb gesellschaftlicher Konventionen zu stehen scheint.22 Sie hofft, auf diesem Weg Zugang zur schöpferischen Komponente der Liebe zu erlangen. Ihr Priester, Don Ferm&n de Pas, teilt ihre Sehnsucht nach Anerkennung einer Individualität, die hin zur Ganzheit strebt. Daraus entwickelt sich eine innige körperlose Freundschaft: »Ellos eran dos #ngeles puros que no ten&an cuerpo« (LRII 291).23 Das Streben nach einer mystischen Liebe der Protagonistin liegt in ihrer Sehnsucht begründet, konventionelle Vorstellungen zu durchbrechen. Gerade deswegen wirken die Rivalen Don ]lvaro Mes&a und Don Ferm&n de Pas gleichermaßen anziehend auf die junge Frau, da die beiden Charaktere die gewöhnlichen Grenzen der Klassifikation überschreiten. »Ambos le parecieron a la Regenta hermosos, interesantes, algo como San
20 Ana wird an unterschiedlichen Stellen mit der Heiligen Jungfrau, im Speziellen mit jener von Raffaels Gemälde, verglichen (vgl. LRI 411 sowie LRII 176 u. 350–351). 21 Zu Anas Hysterie und Freud (vgl. Resina 2003, 229–252). 22 Diskurstheoretisch stellt die Mystik eine Gegenstrategie zur Pastoralmacht dar, die eine unvermittelte Kommunikation zwischen Gott und dem Menschen ermöglicht. Sie zeichnet sich durch ambigue Erfahrungen aus, durch das Erkennen des Wissens als Unwissenheit, der Nacht als Erleuchtung, der Erleuchtung als blind etc. (vgl. Foucault 2006, 307–309). 23 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle LRII auf Leopoldo Alas ›Clar&n‹ (2009): La Regenta II, hg. von Juan Oleza Madrid: C#tedra.
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Miguel y el diablo, pero el diablo cuando era Luzbel todav&a; el diablo arc#ngel tambi8n« (LRI 598).24 Sobald sich Ana de Ozores jedoch der körperlichen Sehnsüchte des Priesters und dem damit verbundenen Machtmissbrauch seinerseits in ihren gemeinsam verbrachten, ›spirituellen Gesprächen‹ bewusst wird, stellt sich die über die Kirche vermittelte mystische Liebe als Irrweg dar. Die Präsidentin zieht sich zurück, um die Erfüllung ihrer Liebe in der Sinnlichkeit zu finden und begeht, an dauerhafte Liebe glaubend, Ehebruch. Der Durchbruch der unterdrückten sexuellen Bedürfnisse wurde häufig realistisch/naturalistisch als die unausweichliche Fatalität des physiologischen Determinismus gedeutet, wie beispielsweise von Antonio Vilanova in Nueva lectura de ›La Regenta‹ de Clar&n (2001) (vgl. Vilanova 2001, 188). Eine alternative Lesart lässt hingegen die Erfüllung der sinnlichen Aspekte einer Liebe notwendig erscheinen, die durch den zuvor angestrebten geistig-spirituellen Weg enttäuscht wurde. DoÇa Ana verschreibt sich konsequenterweise dem diskursiv eingeschriebenen zweiten Weg der körperlichen Liebe. Die Figur DoÇa Ana de Ozores zeigt am deutlichsten die Dynamik einer Suche nach Liebe, die angetrieben von der Erinnerung an einen Mythos nun aufgrund des vorherrschenden binären Diskurses zwischen geistig-spiritueller und körperlicher Variante wählen muss. Der Romanverlauf kritisiert hierbei deutlich, dass die Konzentration auf jeweils ein Extrem gleichermaßen ins Unglück führt. Als sie am Ende des Romans allein zurückbleibt, da V&ctor im Duell mit Don ]lvaro getötet wurde und der Geliebte selbst in Madrid weilt, unternimmt sie einen letzten Versuch zur mystischen Liebe, die sie mit Ferm&n verbindet, zurückzukehren. Dieser ist jedoch in seiner nunmehr teuflischen Rolle gefangen und bietet keinen Zugang zum hermaphroditischen Zustand mehr. Eine alles umfassende Liebe, wie sie die Mystik oder der griechische Mythos verspricht, ist dem in Binaritäten differenzierten Diskurs zufolge nicht länger erreichbar. Am Ende des Romans steht der Tod, die Bewegungslosigkeit, die sich nicht nur in Ana de Ozores’ Ausschluss aus der Gesellschaft Vetustas zeigt, sondern auch in der Ausweglosigkeit ihrer Situation. Denn die Motive ihrer Liebe haben sich in Nichts aufgelöst und keine Liebe, weder die zur Literatur noch die in der Ehe legitimierte, weder die spirituelle noch die körperliche, führte zu einem glücklichen Ergebnis. Das auf Figurenebene vermittelte Misstrauen an der Gültigkeit von Diskursen bezogen auf die Lebenswelt entspricht nicht nur der Luhmann’schen Ausdifferenzierung der Liebe des 19. Jahrhunderts in Liebe und Diskurs über Liebe, sondern kann auch als Verweis auf die erneut thematisierte Sprachkrise der 24 Zur Zwischenstellung von Don Juan-Figuren allgemein siehe auch Arias 1992 und 1993. Das Thema der Liebe zwischen Erotik und Religiosität rollt Garc&a Sarr&a 1975 auf.
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literarischen Folgegeneration, die Schriftsteller und Schriftstellerinnen der künstlerischen Moderne, gedeutet werden. La Regenta eröffnet mit der Gestaltung von skalaren Geschlechterbildern und einem Liebeskonzept, das sich auf einen Menschen bezieht, der in sich männliche und weibliche Attribute vereint und damit außerhalb gängiger Diskurse angesiedelt ist, eine alternative Weltsicht, die über jene des spanischen Realismus/Naturalismus hinausreicht. Die Funktion der gebrochenen Einheiten von Liebe und des skalaren Geschlechterbildes am Ende des Romans liegt in der gesteigerten dramatischen Wirkung der Figurenhandlungen und bestätigt scheinbar positivistische Erklärungsmodelle. Ein glücklicher Handlungsverlauf würde hingegen nicht nur anachronistisch, sondern auch utopisch wirken und sich damit zu stark von realistischen, gesellschaftsbezogenen Schreibweisen entfernen. Demgegenüber übersteigt schon die innere Zerrissenheit der Charaktere die für den Realismus/Naturalismus charakteristischen Figurentypen, die eine Wiedererkennbarkeit der sozialen Wirklichkeit sichern sollen, und kündigt als Verweis auf die novela novelesca und die höhere Bewertung des menschlichen Gefühlslebens eine Schreibart des Modernismo an. Clar&n rückt mit Ferm&n de Pas deutlich die Darstellung der Beweggründe eines Priesters aus carne y hueso ins Zentrum der Aufmerksamkeit sowie mit der Zeichnung Ana de Ozores eine Frauenfigur, die dem für realistische/naturalistische Werke typischen literarischen Bild der Frau, die sich entweder als angel oder als culebra zeigt, gegenläuft (vgl. Miller 1993, 118). Don ]lvaro Mes&a wiederum wird als gelungene Mischung der spöttischen Liebe Don Juans und der christlichen Nächstenliebe des Messias gezeichnet, der zwar zeitweilig selbst seinen sprachlichen Verführungskünsten unterliegt, ansonsten jedoch ohne psychologische Tiefe angelegt ist. Diese Figurenkonzeption zeigt deutlich Clar&ns Kritik an gängigen Diskursen und literarischen Programmen. Der spanische Autor scheint am Höhepunkt einer Epoche das Ende der großen Romane (1884–1885) bereits abzusehen.25 Dies manifestiert sich in der ambiguen Struktur von La Regenta auf inhaltlicher sowie formal-ästhetischer Ebene. Der Umfang der Narration entspricht ganz den großen realistischen Romanen, während die wechselnde Perspektivierung auf mehr als eine Lesart des Romans hindeutet. Clar&ns Wegbereitung für die künstlerische Moderne zeigt sich in der Gestaltung vielschichtiger, lebensnaher Charaktere und wird durch das Hervortreten des künstlerischen Moments gesteigert, indem der Roman durch zahlreiche intertextuelle Verweise, eingeblendete Theaterstücke, 25 Zwei Jahre nach der Veröffentlichung des zweiten Teiles von La Regenta betont Leopoldo Alas in einer Rezension zu Emilia Pardo Baz#ns Werk Los Pazos de Ulloa die Antiquiertheit des spanischen literarischen Realismus/Naturalismus (vgl. Miller 1993, 139–140). Diese Haltung fasst er in seinen Essays »La novela del porvenir«, »La novela novelesca« sowie der Erzählung Apolo en Pafos, wie bereits angeführt, erneut zusammen.
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evozierte Opern und Gemälde bereichert wird.26 La Regenta kann somit in seiner Gesamtkonzeption als ein Schwellenwerk gelesen werden, das den Übergang von Realismus/Naturalismus zur künstlerischen Moderne manifestiert und sich einer eindeutigen literarhistorischen Kategorisierung entzieht.
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Abgesehen von poetologischen Überlegungen in der polemisch rezipierten, literarhistorisch interessanten Schrift La cuestijn palpitante (1882–1883),27 formuliert Pardo Baz#n bekannterweise ihre Poetik in den jeweiligen Prologen ihrer Romane, in denen sie an verschiedenen Stellen ihr selektierendes Vorgehen im Umgang mit ästhetischen und poetologischen Fragestellungen erläutert.28 Die für den realistischen/naturalistischen Roman kennzeichnenden Prologe fungieren zweifach: Einerseits als paratextuelles Fiktionssignal, wie realistisch auch immer der darauffolgende Wirklichkeitsentwurf erscheinen mag, andererseits als Medium der produktionsästhetischen Metareflexion (vgl. PatiÇo Eir&n 2003, o. S.). Emilia Pardo Baz#n gilt als eine der Initiatorinnen der kulturellen Selbstreflexion im Spanien des 19. Jahrhunderts (vgl. Gulljn G. 1997, 181–182), wie sich auch anhand ihres Romankonzeptes zeigen lässt, das eine Form sucht, Emotionalität und Rationalität zu verbinden. Ihr lebendiges Kunstverständnis hält auch nach dem Höhenflug des naturalistischen Romans an, denn Emilia Pardo Baz#n zeigt sich neuen Formen gegenüber aufgeschlossen. In ihrem Artikel »5ltimas modas literarias« (1890) verleiht sie ihrem Enthusiasmus Ausdruck, als sie anhand Verlaines Versen die 26 V&ctor Quintanar, Anas Ehemann, zitiert etwa häufig Verse klassischer spanischer Ehrendramen, die Protagonistin selbst besucht eine Inszenierung Zorrillas Don Juan Tenorio, die im Roman kommentiert wird. Ausführlicher dazu siehe S#nchez 1969, 491–509. Don Ferm&n de Pas’ Verliebtheit wird anhand Charles Gounouds Oper Faust vermittelt oder Don Alvaros Zwischenstellung durch seine zahlreichen Bibelzitate verdeutlicht. Nicht zuletzt ähnelt Ana Raffaels Madonna und das Mahl ]lvaros und seiner Freunde wird auf Leonardo da Vincis Abendmahl bezogen. 27 La cuestijn palpitante ist eine Sammlung von Zeitungsartikel, die weder als ästhetisches Traktat noch als poetologisches Programm konzipiert waren, sondern dem Zweck dienten, die Geschichte des Naturalismus im Roman nachzuzeichnen. In den Passagen, in denen Pardo Baz#n mit der naturalistischen Strömung übereinstimmt, übersetzt sie teilweise wörtlich Aussagen und Ansichten aus Pmile Zolas Le roman exp8rimental (vgl. die kommentierte Ausgabe von Gonz#lez Herr#n, CP 54 u. 56). 28 Auch ihre Vortragsreihe im Ateneo in Madrid zu La revolucijn y la novela en Rusia (1887) gibt Aufschluss über produktionsästhetische Romankonzepte, während die literaturkritischen Artikel der von Pardo Baz#n gegründeten Zeitschrift Nuevo Teatro Cr&tico vorwiegend den rezeptionsästhetischen Aspekt erhellen, wie Marisa Sotelo V#zquez in »Fundamentos est8ticos de la cr&tica literaria de Emilia Pardo Baz#n« (2002) erläutert (vgl. Sotelo V#zquez M. 2002, 416).
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neuesten literarischen Innovationen diskutiert, die sich in dem Versuch zeigen, Methoden der Malerei auf die Literatur in transformierter Form anzuwenden (vgl. POCIII 936). Kritisch wiederum äußert sich die spanische Autorin zu Marcel Pr8vosts Artikel »Le Roman romanesque«, zu dem sie von den Herausgebern des El Heraldo de Madrid wie auch Juan Valera und Clar&n um eine Stellungnahme gebeten wurde. In ihrem Artikel »La novela novelesca« (1891) beantwortet Pardo Baz#n denn auch die viel diskutierte Frage nach der Bedeutung von Gefühlen und Intellekt, Imagination und Studie für die literarische Produktion, indem sie die unterschiedlichen Meinungen französischer Schriftsteller zu diesem Thema anführt. Sie schließt die Debatte mit einem Verweis auf den Schriftsteller Ludovic Hal8vy, der ihre eigene Schreibweise – ein aus verschiedensten Theorien und Methoden selegierendes Vorgehen – untermauert: »Finalmente, Ludovico Hal8vy proclama que el verdadero artista es, ante todo, ecl8ctico, y que a cada escuela le llega su San Mart&n« (POCIII 1001). Lediglich solch einer Schreibweise, von Pardo Baz#ns Kritikern als literarischer Opportunismus bezeichnet, gelingt es, den inneren Widerspruch der Schönheit zu lösen (vgl. Sotelo V#zquez M. 2002, 421). Erstmals deutlich in La cuestijn palpitante formuliert, bleibt Pardo Baz#n dem ästhetischen Eklektizismus zeitlebens treu, um den Beschränkungen und Ausschweifungen bestimmter Schulen zu entgehen. Damit repräsentiert Emilia Pardo Baz#n das Vorgehen moderner Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die, systemtheoretisch gesprochen, nach der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in unterschiedliche autopoietische Systeme die Funktion der Kunst im ästhetischen Erleben sehen, dennoch die durchlässigen Schnittstellen zwischen den einzelnen Systemen nutzen, um Erkenntnisse aus anderen Systemen für innovative Romanproduktionen anzueignen, zu transformieren und das Literatursystem auf diese Weise zu bereichern. Wenngleich dieses Vorgehen für die spanische Literatur insgesamt auszeichnend ist, liegt die Besonderheit der galicischen Schriftstellerin darin, den Prozess des Auswählens zum literarischen Programm zu erheben und damit explizit auf die der Literatur innewohnende Dynamik in einem reflexiven Prozess aufmerksam zu machen. Nun stellt sich die Frage, inwiefern Leidenschaften als ästhetische Kategorie für Pardo Baz#n von Relevanz sind.
6.3.1 Psycho-physische Liebe als ästhetische Kategorie bei Pardo Bazán An nur wenigen Stellen ihrer literaturkritischen Texte bezieht sich die spanische Autorin ausführlich auf Liebe oder Gefühle im Allgemeinen als ästhetische Kategorie. Zu nahe scheint der vom Realismus abgelehnte und noch an die Romantik erinnernde Sentimentalismus der vorangegangenen Generation. Dass
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die Liebe dennoch impliziter Bestandteil ihrer Poetik ist, lässt sich aus einer Literaturkritik zu Paul Bourgets Werken Un corazjn femenino und Fisiolog&a del amor moderno ableiten. Nachdem sie letzteres Werk des französischen Schriftstellers knapp als philosophische Studie in der Nachfolge von Stendhal, Schopenhauer und Spinoza bezeichnet, kritisiert sie die thematische Gestaltung des Romans, der weder durch Neuheit noch durch Originalität besticht. Insbesondere die stark auf die physischen Komponenten reduzierten Beschreibungen von Liebe und Eifersucht missfallen der spanischen Kritikerin. Yo no dir8 que se pueda escribir hoy un tratado de las pasiones con el criterio atribuido a Platjn: Sorbet / la neige avec un biscuit, como dice cierto poeta de la patria de Bourget; pero tampoco se ha de desconocer la inmensa variedad y riqueza de modificaciones que el instinto reproductor, comffln a todas las especies animales, sufre en el hombre, por la naturaleza racional y la responsabilidad moral de nuestra especie. En el hombre, nada es principalmente f&sico. (POCIII 1066–1067)29
Diese Besprechung mit der leicht ironischen Note durch Jean Richepins Vers spiegelt Pardo Baz#ns allgemeine Kritikpunkte an der naturalistischen Methode wider, solange Naturalismus als eine Perspektive verstanden wird, die sich auf die reine Materialität der Wirklichkeit limitiert. Schon in La cuestijn palpitante kreidet die Autorin den naturalistischen Romanciers an, mehr die Risiken und Hässlichkeiten der Leidenschaften zu zeichnen und damit die Lesenden zu enttäuschen: »En cuanto a la pasijn, sobre todo la amorosa, fuera de los caminos del deber, lejos de glorificarla, dir&ase que se han empeÇado los realistas en desengaÇar de ella a la humanidad, en patentizar sus riesgos y fealdades, en disminuir sus atractivos« (CP 287). Dabei kritisiert sie als eine der größten ästhetischen Fehlleistungen der naturalistischen Strömung die Reduktion der menschlichen Leidenschaften auf ihre physisch-chemischen Ursachen, dieses »mostrar y poner de realce la bestia humana« (CP 150). Mehr als dieser Methode kann sie Daudets stilistischen Techniken abgewinnen, die in der Lage sind, die emotionale Beteiligung der Lesenden hervorzurufen (vgl. CP 245). Ihre eigene Liebeskonzeption formuliert die spanische Schriftstellerin in Bourgets Romankritik vorsichtig: »Quiz# es el amor una inmensa curiosidad, una aspiracijn a abarcar todo el espect#culo del mundo y de las conquistas de la razjn humana« (POCIII 1065). Liebe als Neugierde gedacht, als ein Streben, alles menschlich Erfahrbare und Denkbare zu erfassen, kann auch – so lässt sich hier ableiten – im Sinne einer ästhetischen Kategorie für das realistische Schreiben funktionalisiert werden, das im Realismus versucht, die Wirklichkeit in all ihren 29 Der zitierte Vers stammt aus der ersten Strophe von Jean Richepins Liebesgedicht »D8claration«: L’amour que je sens, l’amour qui me cuit, / Ce n’est pas l’amour chaste et platonique, / Sorbet / la neige avec un biscuit ; / C’est l’amour de chair, c’est un plat tonique. (Richepin 1882, 3).
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Facetten künstlerisch zu erfassen. Dabei verwehrt sich die spanische Schriftstellerin, die platonische Man&a, den Enthusiasmus der Schreibenden, pathologisch zu sehen. Vergleichbar den Verliebten ist dieser Wahn uneigentlich: »El delirio, que Aristjteles y Platjn juzgaron compaÇero inseparable de la poes&a y del don de profec&a, no es un fenjmeno morboso, sino un entusi#stico transporte, semejante al del enamorado que se declara loco, aunque bien le consta que no lo est#« (POCIII 1169). Der ästhetische Liebeswahn hebt den Geist und führt zur Erkenntnis, argumentiert sie nach Platon (vgl. POCIII 1169), die gezogene Parallele zum Wahn von Verliebten untermauert dabei die für Kunstschaffende gültige Loslösung von allen sozialen Verpflichtungen. Dass die Leidenschaften daher unerlässlicher Bestandteil der Kunst sind, fügt die spanische Autorin ebenso im zweiten Artikel von La cuestijn palpitante an, wo sie eine zu strenge Ausklammerung der Passionen im naturalistischen Roman ablehnt. Anhand der Frage des freien Willens erörtert Emilia Pardo Baz#n das spannungsgeladene Wechselverhältnis von sinnlichen und intellektuellen Bedürfnissen des Menschen. Dieser Konflikt ist es, der von der Kunst in unzähligen Varianten verewigt wird und dessen Wirkung auf dem Fühlen und Mitfühlen beruht (vgl. CP 148).
6.3.2 Die Dekonstruktion natürlicher Liebe in La madre Naturaleza Der Roman Los Pazos de Ulloa (1886) und dessen Fortsetzung La madre Naturaleza (1887) gelten nicht nur als die naturalistischen Romane der Autorin schlechthin – Maurice Hemingway teilt La madre Naturaleza das Attribut »primera obra maestra« zu –, da die spanische Autorin in diesem Roman die durch den Realismus/Naturalismus entstehenden Widersprüche von Wissenschaft und Kunst kreativ gestaltet (vgl. Hemingway 1989, 71).30Außerdem wird in beiden Romanen Liebe als zentrale kulturelle und ästhetische Komponente aufgegriffen.31 Mit Pardo Baz#n lässt sich die Diskrepanz zwischen Liebe und Diskurs über Liebe, die in ihren Werken als Widerstreit von Natur und Kultur dargestellt wird, im poetologischen Kontext untersuchen. Analog zu Emilia Pardo Baz#ns literaturkritischem Werk, das sich durch ein spannungserzeugendes Wechselverhältnis von ästhetischen und ethischen Vorstellungen auszeichnet, präsentieren auch diese beiden Romane Gegensätze, die nicht in einer 30 Maurice Hemingway zeigt anhand der Figur des Arztes Juncal, dass der Erzähler zunächst eine den Naturalismus befürwortende Position suggeriert, während in weiterer Folge Juncal in satirischem Licht präsentiert wird. Damit entzieht sich der Roman einer definitiven Parteinahme und entspricht der geforderten Unparteilichkeit der Erzählinstanz (vgl. Hemingway 1989, 70). 31 Ausführlich untersucht Nelly Cl8messy Liebe als zentrales Thema nicht nur dieser beiden Romane in ihrer umfangreichen Analyse Emilia Pardo Baz#n como novelista (1981).
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Synthese aufgelöst werden, sondern in ihrer Ambiguität aufrechterhalten bleiben (vgl. Kronik 1989, 173). Während in Los Pazos de Ulloa der Priester Juli#n versucht, das moralisch verkommene Leben auf dem Landgut des Marquis erfolglos in Ordnung zu bringen und damit eine moralisch angesehene Form des Liebesdiskurses inkarniert, stellt im zweiten Roman Gabriel de la Lage die vermittelnde Figur dar, die das Verhalten der Provinzbewohner kritisch beobachtet.32 Beiden gemein ist ihre zeitweilige Beobachterposition, beide scheitern in ihrem Vorhaben, die Wirklichkeit zu verändern. Zentrales Thema der Romane ist die Liebe in ihren unterschiedlichen Formen.33 In der Romananalyse werde ich mich auf das Liebeskonzept des Marqu8s Don Pedro de Moscoso, auf jenes von Gabriel de la Lage und schließlich auf die von Perucho und Manuela verkörperte Liebesvorstellung konzentrieren, da sich damit ein idealistisches und ein scheinbar natürliches, wenn auch inzestuöses, materialistisches Konzept gegenüberstehen. In der Präsentation dieser verschiedenen Liebesvorstellungen spiegeln sich Literaturauffassungen unterschiedlicher literarischer Epochen, nicht zuletzt das realistische Schreiben am Übergang zum Modernismo selbst.
6.3.3 Kristallisationsprozesse der Liebe Gabriel de la Lage wird als ein Intellektueller mit intensivem, zartem und kurzsichtigem Blick vorgestellt. Ein intelligenter Mann, der zu Nachdenklichkeit neigt, sogar zur Träumerei (vgl. MN 102). Seine Lektüreliste ähnelt stark jener von Emilia Pardo Baz#n, die sie in ihren Apuntes autobiogr#ficos kommentiert und der Erstausgabe von Los Pazos de Ulloa voranstellt, auch wenn die Figur Gabriels nicht ganz den Auffassungen der Autorin entspricht. Gemeinsam ist beiden ein eklektizistischer Zugang, auch Gabriel ist Anhänger des Kritizismus, für alle metaphysischen Dinge beruft er sich jedoch auf die Philosophie Krauses: »Y resolvij que 8l era kantiano a puÇo cerrado, pero sin aplicar el m8todo cr&tico del maestro, como entonces se dec&a, m#s que a las cosas de la ciencia; para las de la vida se agarrj con dientes y uÇas a la 8tica de Krause« (MN 135–136). Das Motiv der von Ungeziefer zerfressenen Bücher der Bibliothek – das an Don Quijotes Bücherbrand erinnert sowie an die Bestandsaufnahme des Kapelans Juli#n in Los Pazos de Ulloa –, wird in La madre Naturaleza wieder aufgenommen und verweist auf das enge Verhältnis von Literatur und Kritik im spanischen Realismus/Naturalismus. Schonungslos von Motten durchlöchert 32 Die vermittelnde Funktion der beiden Figuren analysiert Luis Mateo D&ez (vgl. D&ez 1989, 146). 33 Marina Mayoral gibt in ihrem Artikel »El tema del amor en las novelas de los Pazos« einen Überblick über die verschiedenen Liebesbeziehungen in den beiden Romanen (vgl. Mayoral 1989, 37–50).
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findet Gabriel La Henriade (1728) von Voltaire, Rousseaus Julie, ou la nouvelle H8lo"se (1761), Du contrat social (1762), Pmile (1762) und seine Conf8ssions (1782 u. 1788) und zahlreiche andere sentimentale Romane. Die Gesänge aus Pamela or Virtue Rewarded (1740) und Clarissa or the History of a Young Lady (1748) von Samuel Richardson ließen sich die Ratten schmecken. Auch die Abhandlung Moral universal (1874) von William Tiberghien, der in der Nachfolge Krauses steht, fiel dem Ungeziefer zum Opfer. Einzig einige Werke von Feijoo und Sarmiento waren noch lesbar, wie die namentliche Nennung von Bänden des El Viajero universal, o noticia del mundo antiguo y nuevo (1797) von Joseph de la Porte sowie Frey Luis de Lejns De los nombres de Cristo (1787) oder seine Übersetzung des Cantar de los cantares (1798) unterstreicht (vgl. MN 217). Dieser morbide Blick auf bekannte Werke der europäischen Literatur suggeriert, dass die noch 100 Jahre zuvor als authentisch vorgestellten Liebesdiskurse und Welterklärungsmodelle nicht länger aktuell sind. Doch auch Gabriels Liebesauffassungen werden durchgehend ironisiert, wobei in dieser Figur zudem Liebesdarstellung und metatextuelle Reflexionen zusammenfallen. Durch unterschiedliche Techniken streut die spanische Autorin mittels dieser Figur immer wieder Fiktionssignale ein, die den fiktiven Charakter des vorliegenden Romans und auch der geschilderten Liebe vor Augen halten. Insbesondere zwei bekannte Motive werden parodiert: Stendhals Kristallisationsmetapher und das Pygmalion-Motiv. Stendhals zu Beginn des Realismus verfasste Studie über die Liebe, in der er Passion auf eine geistige Tätigkeit reduziert, wird von Gabriel repräsentiert. Auf dem Weg zu seiner Nichte Manuela, die er gedenkt zu ehelichen (falls sie zustimmen sollte), verteidigt er heldenhaft ihre Schönheit im Gespräch mit dem Arzt Juncal, noch bevor er sie überhaupt gesehen hat: »–¿M#s lindo que mi sobrina? Mire usted que voy a defender, sin haberla visto, como el ingenioso hidalgo, que es la m#s hermosa mujer de la tierra« (MN 162). Gabriels Enthusiasmus und seine Liebe werden doppelt ironisch gebrochen, da zum einen die Lesenden der Zeit sich sicherlich an Stendhals Kristallisationsmetapher erinnerten, zum anderen vergleicht sich der Protagonist selbst mit Don Quijote. Diese selbstreflexive Sichtweise unterbricht die Schilderung seines leidenschaftlichen Verliebt-Seins immer wieder, dennoch zeigen sich bald Auswirkungen seiner Tagträume. Der Gedanke an die baldige Ankunft am Landgut der Ulloas und das nahende Zusammentreffen mit seiner novia rufen physische Reaktionen hervor – sein Blut erstarrt vor Aufregung (vgl. MN 164). Die Erzählinstanz vergleicht seine Liebesträume mit der Tätigkeit eines Schriftstellers, zieht jedoch eine strenge Grenze zwischen Realität und Fiktion: En la fantas&a incorregible del artillero, los objetos y los sucesos representaban todo cuanto el novelista o el autor dram#tico pudiese desear para la creacijn art&stica, y por
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lo mismo que no desahogaba esta ebullicijn en el papel, all# dentro segu&a borbotando. Si la realidad no se arreglaba despu8s conforme al modelo fant#stico, Gabriel sol&a pedirle estrechas cuentas; de aqu& sus reiteradas decepciones. (MN 167)
Während Stendhal davon ausgeht, dass die Liebe die einzige Leidenschaft ist, der es gelingt, dass sich die Wirklichkeit an sie anpasst, wird diese Auffassung im Roman Pardo Baz#ns für gewöhnlich entweder durch Autokritik der Figur, durch einen Erzählerkommentar oder durch die Sichtweise einer anderen Figur hinterfragt. Auf dem Weg zu den Pazos betrachtet Gabriel verliebt die sich ihm wunderbar zeigende Landschaft. Während die Erzählinstanz zunächst noch eine Anpassung der Wirklichkeit an die leidenschaftliche Phantasie nahelegt »La naturaleza se asemeja a la mfflsica en esto de ajustarse a nuestros pensamientos y estados de #nimo« (MN 169), tritt im Gespräch mit Juncal die Differenz zu Tage. Denn statt an Liebe denkt Juncal an einen gewaltsamen Tod: »Cerquita de aqu& –advirtij Juncal– mataron al excomulgado de Primitivo, el mayordomo de los Pazos« (MN 169). Auf diese Weise werden die Kristallisationen Gabriels, aber auch die Erwartungshaltungen der Lesenden kontinuierlich gebrochen. Konsequenterweise entspricht das erste Treffen mit Manuela schließlich auch nicht Gabriels bukolischen Vorstellungen, sondern verläuft seitens der jungen Frau kalt und abweisend (vgl. MN 183). Das offizielle Werben Gabriels bei seinem Schwager kippt schließlich völlig ins Komische. Als sich der Brautvater nach den Gründen der plötzlichen Heiratsabsicht erkundigt, antwortet Gabriel in knappen Worten: –Tres meses hace que me gusta. –¿Sin verla? –¡Se entiende! Casi no la he visto affln a estas horas. A ti, ¿qu8 te importa eso? Es cuenta de ella y m&a. No se te pide sino la aquiescencia y nada m#s. (MN 200)
Das ernstgemeinte Gespräch nimmt unweigerlich groteske Züge an, da die Situation zum einen nach einer wohlüberlegten Entscheidung verlangt, diese jedoch auf reiner Phantasterei beruht. Zum anderen zieht Don Gabriel eben diesen mangelnden realen Kontakt heran, um sein und Manolitas moralisch integres Verhalten zu unterstreichen. Manolita hingegen reagiert auf das Liebesgeständnis Gabriels wenngleich geschmeichelt doch abweisend, da sie hier etwas Anormales für eine Onkel-Nichte-Beziehung vermutet (vgl. MN 207). Nach dieser ersten desillusionierenden Konfrontation mit der Realität – die nach Stendhal notwendig ist, um die Kristallisation weiter voranzutreiben – rekurriert Gabriel auf das Pygmalion-Motiv. Wie die Lesenden in der Aussprache zwischen Perucho und Gabriel gegen Ende des Romans erfahren, wurde das Vorhaben, Manolita wie Pygmalion nach seinen Vorstellungen zu formen, bereits von Gabriels Konkurrenten Perucho realisiert. Er war es, der sich nach dem Tod ihrer Mutter um sie kümmerte. Er brachte ihr alle – in seinen Augen –
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notwendigen Dinge bei. Er lehrte sie das Gehen, versorgte sie mit Nahrung, bewachte ihren Schlaf, dachte sich Spiele für sie aus, unterrichtete sie im Lesen und Schreiben, verteidigte sie mit seinem Leben gegen einen tollwütigen Hund, kurz: er liebte sie über alles (MN 325–326). Wiederholt scheitert Gabriel de la Lages Kristallisationsprozess an der Konfrontation von Realität und Imagination. Nicht Erfüllung, sondern mehrfache Enttäuschungen stehen am Ende seiner geistigen amourösen Abenteuer. Auch dieses wiederholte Scheitern wird einer kritischen Reflexion des Protagonisten unterzogen. Laureano Bonet sieht in der Figurenkonzeption Gabriels den Romanhelden des Modernismo vorbereitet, der sich durch psychische Müdigkeit oder durch seine sich selbst bewussten Misserfolge auszeichnet, die mit einem dekadenten Spanien koinzidieren (vgl. Bonet 1997, 60). Dass gerade an jenen Stellen von La madre Naturaleza, wo Gabriel auftritt, die Erzählinstanz auf das Romanschreiben Bezug nimmt, verdeutlicht meines Erachtens überdies die Ansicht, auch die realistisch/naturalistisch dargestellte Liebe von der sozial gelebten Liebe getrennt zu betrachten, und vergleichbar modernistischer Werke, die Fiktionalität des vorliegenden Romans zu betonen. Ein rationales Realitätsmodell wird abwechselnd mit einem konstruktiven Modell als Grundlage der Literatur herangezogen. Neben dem an der Imagination ausgerichteten Liebeskonzept Don Gabriels, repräsentieren Manuela und Perucho eine natürliche, materialistische Liebesauffassung.
6.3.4 Die Illusion einer natürlich gewachsenen Leidenschaft Während die Natur in Los Pazos de Ulloa insbesondere durch die interne Fokalisierung Juli#ns von Beginn an als schrecklich präsentiert wird,34 kommen die Naturbeschreibungen in La madre Naturaleza einem farbenprächtigen Gemälde gleich, das aus einer Reihe von loci amoeni besteht, deren Flora und Fauna auf das erotische Abenteuer von Perucho und Manuela vorausweisen (vgl. Bonet 1997, 59). Von der Natur beschützt, sind die beiden Kinder zu Jugendlichen herangewachsen, die Natur zeigt sich als Mutter, als »protectora y cjmplice« (MN 61). Eine Störung dieses natürlichen Gleichgewichts ergibt sich erstmals, als die beiden durch Peruchos Studium in der Stadt voneinander getrennt werden. Die Unzertrennlichen erkrankten »… de una cosa que aqu& llamamos saudades« (MN 170). Im Gegensatz zu Don Gabriels abstrakter, stark vergeistigter Liebeskonzeption präsentiert der Roman mit dem Liebespaar ManuelaPerucho ein materialistisches und dennoch äußerst romantisches Ideal. Diese 34 Zur Funktion der »schreckenerregenden Natur« in Los Pazos de Ulloa vgl. Clarke 1997, 67– 83.
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am Lauf der Natur orientierte Auffassung wird auch vom algebrista Antjn vertreten. Als halbgebildete Gegenfigur zum Arzt Juncal vermittelt der Tierarzt eine Mischung aus wissenschaftlicher und volksgläubiger Weltsicht. Die Natur, so scheint es, ist auf seiner Seite, als er während eines nächtlichen Spaziergangs mit Manuela und Perucho über das Leben und die Liebe philosophiert: Pues all& dice, ¡s&, seÇorito!, que las estrellas del cielo son como nosotros… »con perdjn«, como este universo mundo de ac#… y que tambi8n all& nacen, y mueren, y comen, y andan atr#s de las muchachas… Al llegar aqu& guiÇj picarescamente el algebrista el ojo izquierdo a la bjveda celeste, y como si obedeciese a un conjuro, el hermoso lucero de Venus comenzj a rielar con dulce brillo en el sereno espacio. (MN 82)
Durch den kontrastierenden Erzählerkommentar wird diese Weltsicht jedoch ironisch gebrochen, da der Blick des betrunkenen algebrista zum Himmel einer Regieanweisung für den Abendstern gleicht, der unverzüglich zu glitzern beginnt. Die Liebe scheint inszeniert, und das an das Mittelalter erinnernde Welterklärungsmodell, das von einer Entsprechung von Makro- und Mikrokosmos ausgeht, höchst zweifelhaft. Immer wieder wird auch diese als natürlich präsentierte Liebe ironisiert oder in ihrer Konventionalität charakterisiert. Emilia Pardo Baz#n wendet dafür Intertextualität und überraschende Wortkombinationen an. Um den fiktiven Charakter der vorliegenden Geschichte zu unterstreichen, nennt die Autorin im Roman selbst die literarischen Prätexte. Zum einen diente Paul et Virginie als Vorlage der Liebesgeschichte, zum anderen häufen sich Reminiszenzen an das Hohe Lied der Liebe. Ihre zweite Technik der ungewöhnlichen Kombination von Wörtern dient dazu, Topoi der tradierten Liebesdiskurse zu brechen. Dies gelingt, wie auch bei Juan Valera, durch das Einführen von medizinischem Vokabular in die Beschreibung einer romantischen Situation: »El mancebo le tomj la mano, y la pasej por su pecho, hasta colocarla all&, donde, sin estar situado el corazjn, se percibe mejor su di#stole y s&stole« (MN 85). Pardo Baz#n zieht noch eine weitere Technik heran, um die Diskursivität und damit den artifiziellen Charakter der natürlichen Liebe zu akzentuieren. Betrachtet man die Dreiecksbeziehung Gabriel-Manuela-Perucho, so werden die zentralen Stellen der Liebesgeschichte gedoppelt. Gabriel gesteht der jungen Frau seine Liebe auf einem Spaziergang, der die beiden in die Natur, insbesondere in den Wald führt. Analog zur Geständnissituation zwischen Gabriel und Manuela erfolgt im Kapitel XX die Aussprache zwischen Manuela und Perucho ebenso im Wald, diesmal endet sie jedoch mit einem unter beidseitigem Einverständnis geschlossenen Eheversprechen (MN 261). Dass es sich hierbei um ein passioniertes, auf das Beheben eines Mangels ausgerichtetes Liebeskonzept handelt, wird an der Freude deutlich, die insbesondere Perucho nach
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der positiv verlaufenen Aussprache verspürt, wähnt er sich schon im Besitz seiner lange ersehnten Geliebten. Parec&ales que sin m#s que trocar aquellas cuatro frases, se les hab&a quitado de delante un estorbo grand&simo, y ensanch#ndoseles el corazjn, y arreglado todo el porvenir a gusto y voluntad suya. En especial el gal#n no cab&a en s& de gozo y orgullo, y sosten&a a Manuela y la empujaba por la cintura con la tierna autoridad del que cuida y atiende a una cosa absolutamente propia. (MN 264)
Schließlich werden in La Madre Naturaleza weder die natürliche noch die idealistische Liebe als diskursunabhängige Liebe dargestellt. Während Peruchos Leidenschaften, wenngleich selbst konventionalisiert und dem Diskurs des Hohen Liedes entsprechend, unter dem Vorzeichen der natürlichen Liebe präsentiert werden, so wird seinem Liebesschmerz am Ende des Romans die Realitätsnähe abgesprochen, wenn Gabriel sein Leiden wie eine dramatische Aufführung wahrnimmt (vgl. MN 327). Wieder ist es die Figur Gabriels, die auf die fiktive Gestaltung dieser herzzerreißenden Situation aufmerksam macht. Damit wird die Aufmerksamkeit der Lesenden zum einen auf die Perspektive des Beobachters Gabriel und seine Wahrnehmung der Wirklichkeit, zum anderen von der inhaltlichen auf die formale Ebene und somit auf die ästhetische Funktion der Erzählung gelenkt. Dies soll jedoch nicht dazu verleiten, die von Gabriel oder Juli#n vertretenen Liebeskonzepte am Ende als siegreich hervorstechen zu lassen. Nicht ohne Grund wendet sich Manuelas Onkel mit den Worten an den Priester : »Cura de Ulloa, ni tffl ni yo; tffl un iluso y yo un necio. Quien nos vence a los dos, es… el rey… ¡No, el tirano del mundo!« (MN 378). Angesichts der Liebe taugen weder ein rein idealistisches, noch ein exklusiv materialistisches Konzept. Die Lösung, falls eine solche überhaupt intendiert sein mag, liegt wohl in der Verwunderung und Neugierde, die Gabriels letzte Worte bei seiner Abreise zum Ausdruck bringen, denn als er seinen Blick zurückwendet, wird er sich seiner ambivalenten Gefühlslage bewusst: »[…] una extraÇa mezcla de atraccijn y rencor, mientras pensaba: –Naturaleza, te llaman madre… M#s bien deber&an llamarte madrastra« (MN 379). Die Natur zeigt sich unbeeindruckt. Allein der bitter-süße Nachgeschmack einer schönen Lektüre bleibt erhalten (vgl. Bonet 1997, 64). Wie auch immer der Liebesdiskurs gestaltet sein mag, er fasziniert aufgrund seines ästhetischen Wertes, ein Anspruch, damit das Wesen der Leidenschaften zu erfassen, wird nicht gestellt.
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Pérez de Ayalas polyphone Liebe als ästhetische Kategorie
In seiner Liebeskonzeption Clar&ns toleranter Liebe ähnlich geht Ramjn P8rez de Ayala (1880–1962) von einem übergeordneten harmonischen Liebeskonzept aus, das in der Lage ist, den dem Menschen innewohnenden Streit zwischen Vernunft und Gefühl zu beenden (vgl. Gulljn R. 1966, 158). P8rez de Ayala spezifiziert dieses Gefühl in seiner Kritik zu Benito P8rez Galdjs’ Sor Simona als guten Willen, als dieses unbeschreibliche und religiöse Etwas, das er als den Willen zu lieben bezeichnet: »No del amor del sexo y de concupiscencia, que es el amor del instinto, ni el amor de la seca verdad intelectual, que es el amor de la razjn, sino la voluntad de amar ; el amor por el amor, el amor en todas las criaturas, el amor c#lido y fecundo« (PAOCIII 41). Dieser Autor nähert sich der Liebe über das Lieben-Wollen. P8rez de Ayala denkt diese Liebe jedoch nicht nur ideologisch als kulturelle Kategorie,35 die ein friedvolles Zusammenleben erleichtern soll, sondern auch ästhetisch, denn dieser Wille, der von einer liberalen Haltung gekennzeichnet ist, die sich in einer Sympathie mit allem Existierenden äußert sowie jedem das Recht nach seiner Art zu sein, zugesteht, dient allen Schreibenden als Voraussetzung der Romanschöpfung. Dem kreativen Akt liegt eine Liebe zum Leben zugrunde, weshalb P8rez de Ayala auch die lebendigen, möglicherweise auch schmerzhaften Erfahrungen der unterschiedlichsten Gefühle gegenüber einer rein rationalen Erfassung von Leidenschaften bevorzugt.36 Dass diese Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion aber auch mit Gefahren verbunden sein kann, erläutert P8rez de Ayala anhand der Leidenschaften in Las M#scaras: Toda nuestra vida sentimental est# tejida con ficciones que reputamos realidad permanente y tomamos demasiado en serio. Al cabo de algffln tiempo, emancipados ya de una ficcijn, nos maravillamos de haberla tomado tan a pecho y nos re&mos, a veces con benevolencia, a veces con rubor, de nosotros mismos. (PAOCIII 36)
35 In seiner Kritik zu Benaventes Drama El collar de las estrellas definiert P8rez de Ayala Liebe nicht anhand ihrer Worte, sondern anhand ihrer Handlungen und schließt mit der Aussage »El amor es una verdadera fraternidad universal, sentimiento de la comunidad de origen« (PAOCIII 84). 36 Siehe dazu die Analyse von Brenton Campbell in seinem Aufsatz »The Esthetic Theories of Ramjn P8rez de Ayala« (1967). Campbell differenziert vier Elemente der Ästhetik von Ramjn P8rez de Ayala. 1) Die ästhetische Wahrnehmung, die in einem wachen Bewusstsein besteht und ein gemischtes Gefühl aus Neuheit sowie Vertrautheit hervorruft. 2) Die Natur der Kunst, die von P8rez de Ayala mehr mit einem quid divinum umschrieben, als begrifflich klar definiert wird. Unter diesen Bereich fallen die Reflexionen des Schriftstellers zum Verhältnis von Schönheit, Eleganz und Stil. 3) Die ästhetische Kreation, die auf einem erlebten Gefühl des Lebens basiert und schließlich noch 4) die Funktion der Kunst, die hauptsächlich darin gesehen wird, ästhetische Emotionen in den Rezipienten hervorzurufen (vgl. Campbell 1967, 447–453).
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Um diesem Irrtum zu entgehen, schlägt der asturische Schriftsteller dem sich selbst als tragisch wahrnehmenden Menschen eine Distanzierung zu seiner Wirklichkeit vor, um das eigene Schicksal in Bezug auf jenes der Menschheit zu kontemplieren (PAOCIII 36). Nur jene Themen, die von der Allgemeinheit gefühlt werden, eignen sich für eine ernsthafte Beschäftigung. Dies gilt auch für die ästhetische Formung von Romanplots. Liebe als Lieben-Wollen nähert den asturischen Schriftsteller zudem einerseits Miguel de Unamunos Liebes- und Romankonzept an, andererseits verweist P8rez de Ayalas Anspruch, im Roman wirklichkeitsrelevante Ereignisse zu verhandeln auf realistische Forderungen. Seine tolerante Haltung, die an Clar&ns Erzählung Apolo en Pafos erinnert, kann als Credo des Schriftstellers gelesen werden, das er als Grundprinzip auf die Schöpfung, die Welt, das Leben, aber auch auf einen guten Roman sowie ein gutes Drama überträgt (vgl. PAOCIII 53). Poetologisch wirkt sich diese ästhetische Toleranz dahingehend aus, dass P8rez de Ayalas Romane vermehrt multiperspektivische Erzählsituationen aufweisen. Anhand einer Parabel vom Wolf und vom Schaf veranschaulicht P8rez de Ayala seinen Gedanken der Harmonie und wiederholt am Ende seiner Überlegungen nochmals, dass sich der liberale Geist darin äußert, den Wolf mit Wolfsaugen und das Schaf mit Schafsaugen zu betrachten oder in anderen Worten »en mirarlos a todos como a nosotros mismos« (PAOCIII 54). Als ästhetische und kulturelle Kategorie beschreibt P8rez de Ayala Liebe auch in seinen literaturkritischen Artikeln und greift immer wieder die beiden extremen Konzepte von Don Juan und Werther auf.
6.4.1 Zwei konträre Kraftrichtungen – Werther und Don Juan Ein immer wiederkehrendes Thema in P8rez de Ayalas Romanen ist die kulturelle Auffassung von Liebe der Spanier, die er in kurzen Erzählungen ebenso gestaltet wie in seinem letzten großen Romanzyklus Tigre Juan/El curandero de su honra.37 Dabei lässt sich Liebe nicht auf eine individuelle Problematik reduzieren, sondern wird generalisiert betrachtet, um kulturelle Muster aufzuzeigen (vgl. Amorjs 1972, 103). Von besonderem Interesse für P8rez de Ayala sind zwei spanische Konzepte, die von Don Juan Tenorio und El m8dico de su honra symbolisiert werden. Es handelt sich um den erlösten Verführer und ein übersteigertes Ehrkonzept, die – wie die Analyse von P8rez de Ayalas letztem Romanzyklus zeigen wird – auch in den 1920er Jahren von kultureller Bedeutung sind. Ausgehend von einer 37 Einen Überblick zur thematischen Gestaltung von Liebe in unterschiedlichen narrativen Texten P8rez de Ayalas gibt Amorjs 1972, 74–75.
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Kritik zur Komödie Don Juan, buena persona der Gebrüder ]lvarez Quintero widmet P8rez de Ayala der literarischen Figur Don Juan eine Reihe von Essays, in denen er die literarhistorische Entwicklung Don Juans in Europa nachzeichnet und die jeweiligen Besonderheiten hervorhebt. Das wesentliche Merkmal Don Juans sieht P8rez de Ayala in seiner diabolischen, übermenschlichen Fähigkeit, durch Liebe zu verzaubern: »La verdadera esencia del donjuanismo es el poder misterioso de fascinacijn, de embrujamiento por amor« (PAOCIII 341). Im Kontext der Liebesdiskurse ist Don Juans gegenläufiger Archetyp der junge Werther, denn während Don Juan die Leidenschaften dominiert, lebt Werther seinen Leidenschaften unterworfen. Hierin liegt für P8rez de Ayala auch die Innovationskraft des spanischen Mythos. Werther reaktualisiert in gewisser Weise die Liebesauffassung des Mittelalters, der Ritterromane oder jene Form der reinen Liebe, die den Liebenden schließlich tötet. Im Rückgriff auf die Terminologie Ortega y Gassets erläutert P8rez de Ayala, dass sich im Gravitationszentrum die unerreichbare Geliebte befindet. Dahingegen wandelt sich bereits Tirso de Molinas Don Juan selbst zum Gravitationszentrum, nicht er bewegt sich in einer zentrifugalen Richtung auf die liebenden Frauen zu, sondern zieht sie an, gleichgültig, ob er sie liebt oder nicht. Auf diese Weise werden die Geschlechterbeziehungen revolutioniert, da sich nicht länger die Dame, sondern der Herr im Gravitationszentrum befindet: »Y as& resulta, curiosa paradoja, que el m#s varonil gal#n, gal#n de innumerables damas, pudiera asimismo decirse que es la dama indiferente de innumerables galanes, ya que ellas son quienes le buscan y siguen y se enamoran de 8l, que no 8l de ellas« (PAOCIII 341–342). Um 1900 wird diese Auffassung insofern parodiert, als wie bei Clar&n, Unamuno, Valle-Incl#n oder Azor&n auch von P8rez de Ayala die femininen Züge Don Juans vermehrt betont werden. Aufschlussreich präsentiert sich diese Gegenüberstellung von Don Juan und Werther, die verdeutlicht, dass wenngleich zahlreiche Versuche unternommen werden, lange tradierte Diskurse zu verlassen, diese immer noch weiterleben, wie in diesem Fall das Ideal der romantischen Liebe oder ihr Gegenstück der kalten Verführung. Wenngleich diese Oppositionen die Geschlechterverhältnisse betreffen, so ändert sich nichts an der Tendenz, dass alles auf ein Gravitationszentrum zuströmt, dessen Kern durch ein Fehlen von Gegenliebe charakterisiert ist. Dass P8rez de Ayala hingegen Ortega y Gassets Liebeskonzept folgt, das von einem liebenden Subjekt ausgeht, welches sein Gravitationszentrum in einer dauernden Bewegung verlässt, veranschaulicht der Handlungsfortgang in den Romanen Tigre Juan und El curandero de su honra. Zunächst soll jedoch in einem kurzen Seitenblick noch auf P8rez de Ayalas Umgang mit literarischen Modellen eingegangen werden, die er in einigen Artikeln über den Stil zusammenfasst.
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6.4.2 Eleganz und Schönheit des Stils In seiner Essaysammlung M#s divagaciones literarias schreibt P8rez de Ayala über den Stil in der Kunst.38 Dabei fokussiert er insbesondere auf zwei Aspekte – die Schönheit und die Eleganz. Während er nach Aristoteles die Schönheit als statische Qualität begreift, definiert er die Eleganz als dynamische Qualität (vgl. PAOCIV 1051). Insgesamt jedoch lässt sich der Stil nur erfahren, nicht jedoch erklären und noch weniger imitieren: »El estilo es un quid divino, un no s8 qu8 evidente e inimitable que los lectores (y as& todos los del oficio) no aciertan a explicarse« (PAOCIV 1054). Diesen Überlegungen zum Stil folgt eine Reihe von kurzen Artikeln über die historische Entwicklung der ästhetischen Ideen von der Antike bis zu Lessing. Gegen die moderne Tendenz der immer weiter verästelten Unterteilung und Fragmentierung erinnert P8rez de Ayala an die Verbindung von Wahrem, Schönem und Gutem der griechischen Antike (vgl. PAOCIV 1057). Insbesondere die Symmetrie als konstitutives Element schöner Kunst beeinflusst auch sein eigenes Schreiben. Um sich von einer rein utilitaristischen Kunst zu distanzieren, merkt der spanische Schriftsteller an, dass das Nützliche ein Begehren und den Wunsch zu besitzen hervorruft, während das Schöne – wie auch bei Kant – interesselos ist und keinen Besitzwunsch auslöst (vgl. PAOCIV 1060). Von Hegel und Schopenhauer greift P8rez de Ayala die Rolle der Musik in der Kunst auf. Schopenhauers Innovation sieht der spanische Autor darin, eine mit der asiatischen Auffassung von Musik verbundene sexualisierte Emotion in die europäische Philosophie eingeführt zu haben, die sich vom Begehren oder der Passion unterscheidet. Para el griego, la mfflsica p#nica no era propiamente mfflsica humana, racional; lo era, por el contrario, la mfflsica del gimnasio, ritmo y melod&a, o sea dinamismo individual mesurado. Para el oriental, la mfflsica es un placer sensual, un lenitivo sensual, un anest8sico de la sensibilidad, una inhalacijn plena de Nirvana, una inmersijn en lo inefable absoluto. La mfflsica de Oriente es no solo sensual, sino &ntegramente sexual; expresijn profunda y entraÇable de la ciega voluntad de reproduccijn que anima al universo. (PAOCIV 1068)
Während in der griechischen Antike die Musik entweder in der Form der panischen Musik als irrational und übermenschlich gefasst wurde oder als individuell gemäßigt, wie sie in den Gymnasien gespielt wurde, zeichnet sich die asiatische Musik durch ihre Sinnlichkeit aus. Der sinnliche Genuss der asiatischen Musik erstreckt sich bis hin zu einem Eintauchen in das Unsagbare und ist 38 Die vorliegende von Garc&a Mercadal zusammengestellte Ausgabe der Obras completas von P8rez de Ayala weist bedauerlicherweise keine Angabe des jeweiligen Publikationsjahres der einzelnen Essays und Artikel des spanischen Autors auf. P8rez de Ayalas Artikelreihe über den Stil stammt von 1923 (vgl. Rand 1962, 667).
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dennoch nicht ausschließlich am Jenseits orientiert. Im Gegenteil, der ungebrochene Wille des Lebens manifestiert sich in dieser Musik, die schließlich die Formen der europäischen modernen Musik beeinflusst. In seinen letzten beiden Romanen kombiniert P8rez de Ayala diese beiden konträren Musikvorstellungen und überträgt sie auf die Literatur. Während er zum einen am klassischen Ideal der Symmetrie festhält – der Doppel-Roman spiegelt zwei verschiedene musikalische Tempi – zeichnen sich die Werke durch eine große Experimentierfreude sowie einen spielerischen Umgang mit narrativer Literatur aus, die Techniken der mise-en-abyme, der Selbstreflexion oder des Sprachbewusstseins ebenso betreffen wie intertextuelle Spiele oder die Poetisierung der Narration.39 Das Zusammenfügen unterschiedlichster Techniken wie auch ideologischer Perspektiven führt zu einer Schreibweise, deren Prämisse in der Harmonie, im musikalischen Sinne als stimmiger Klang verstanden, liegt. Die von ihm angestrebte Eleganz kann in Techniken wie beispielsweise der Intertextualität oder des Kontrapunktes gelesen werden, welche die Dynamik hervorheben, während die statische Schönheit durch den Rückgriff auf Mythen und Allegorien erlangt wird.
6.4.3 Pérez de Ayalas symphonisches Romankonzept Wie Azor&n beschäftigt sich Ramjn P8rez de Ayala mit Zeitvorstellungen und ihren Auswirkungen auf die Romanproduktion. Auch P8rez de Ayala geht von einer zyklischen Zeitvorstellung aus, in der sich alle Ereignisse und Erkenntnisse wiederholen, sich demnach alles ähnelt, auch wenn die Menschen sich unterscheiden. In seinen Romanen greift der asturische Schriftsteller daher häufig auf klassische Mythen zurück (vgl. Amorjs 1972, 66). Dabei verfolgt der Autor mit dieser anti-realistischen Technik das Ziel, die Selbstreflexion der Lesenden zu steigern, da durch den Rekurs auf Mythen die unmittelbare Situation transzendiert werden kann (vgl. Macklin 1980, 17). Zudem veranschaulicht dieses Charakteristikum von P8rez de Ayala seinen Anspruch ›Alt‹ und ›Neu‹ zusammenzuführen. Bereits Emilia Pardo Baz#n charakterisiert in ihrem Artikel »Le mouvement litt8raire en Espagne. Les poHtes espagnols du XXe siHcle« bezogen auf P8rez de Ayalas Lyrikband seine Schreibweise als gelungenen Versuch, das Antike und das Moderne zu vereinen, indem der junge Autor auf die mittelalterlichen Dichter zurückgreift und dennoch moderne Ideen gestaltet (vgl. POCIII 1279). Diese Technik lässt sich auch auf seine Prosawerke übertragen. Analog zu Miguel de Unamuno, der Sprache als Hilfsmittel der zwischen39 Ausführlich zu unterschiedlichen narrativen Techniken vgl. Longhurst A. 2000, 30–31 sowie Rjdenas 2000, 52.
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menschlichen Kommunikation betrachtete, fordert auch Ramjn P8rez de Ayala, dass das literarische Werk zunächst gelebt wird, da selbst die Imagination eng an die Sprache geknüpft ist. Dies wird deutlich, wenn Autorinnen und Autoren versuchen, sich Dinge außerhalb ihrer Erfahrungsbereiche, abgetrennt von sinnlicher Wahrnehmung, vorzustellen. Denn die Imagination rekurriert sodann auf das Wortgedächtnis, auf Lektüreerinnerungen, die eine Reihe von unendlichen Wiederholungen lebendiger Bilder oder realer Emotionen nach sich ziehen (vgl. PAOCII 562). Schon die Verschriftlichung der Idee entspricht einer Übersetzung, da Idee und Sprache nicht eins sind: »El idioma no es a la obra literaria como la piel a la carne, sino como el vestido al nudo« (PAOCII 561). Für die Rezipienten bedeutet dies, dass hinter der Sprache, die vorwiegend als formgebendes Element der Idee fungiert, die Idee begriffen werden soll. Ein weiterer Innovationsversuch, der P8rez de Ayala mit den modernistischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern Spaniens und ganz Europas verbindet, die sich von der realistischen Erzählkunst abheben, liegt darin, sich von einer linearen Roman- oder Dramenstruktur zu lösen, die sich aus Präsentation, Höhepunkt und Ende zusammensetzt (vgl. Amorjs 1972, 362). Dabei greift der spanische Autor auf andere Kunstformen zurück. Gemäßigter als Ramjn del Valle-Incl#n versucht P8rez de Ayala, Elemente der Musik in die Erzählkunst einzuflechten. Im Gegensatz zu den Symbolisten stützt sich P8rez de Ayala jedoch nicht auf die Klangfarbe der Wörter, vielmehr versucht er musikalische Architekturprinzipien wie beispielsweise sanfte sowie abrupte Übergänge oder den Kontrapunkt zu imitieren (vgl. ebd., 363).40 Diese Integration musikalischer Strukturprinzipien wird in der modernistischen Literatur häufig aufgegriffen, lässt sich jedoch beispielsweise auch bei Emilia Pardo Baz#ns Variationen zur Liebesnacht in La Madre Naturaleza finden.
6.4.4 Die Mehrstimmigkeit tradierter Liebesdiskurse in Tigre Juan Der zweiteilige Roman Tigre Juan y El curandero de su honra (1926)41 zählt zur dritten Schaffensphase des asturischen Schriftstellers, die nach der ersten, von autobiographischen Elementen geprägten und der zweiten, von philosophisch 40 Andr8s Amorjs zieht Parallelen zu Aldous Huxleys Werke Crome Yellow (1921) und Point Counter Point (1928). Der biritsche Schriftsteller könnte P8rez de Ayalas Schreiben inspiriert haben (vgl. Amorjs 1972, 363). Schon in seinem Roman Belarmino y Apolonio setzt P8rez de Ayala die Technik des Kontrapunktes ein, indem die geschilderte Realität auf unterschiedlichen koexistierenden Ebenen präsentiert wird: als unmittelbare Wirklichkeit, als philosophischer Symbolismus und als Neuschöpfung eines klassischen Mythos (vgl. Livingstone 1970, 29). 41 P8rez de Ayala beendete den Roman 1925 und publiziert ihn 1926.
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oder universellen Themen dominierten Phase der »novelas poem#ticas«, den Schlusspunkt seiner literarischen Karriere bildet (vgl. Amorjs 1972, 14). Einflussreich für diese letzte Phase zeigten sich die Freundschaft mit Miguel de Unamuno, P8rez de Ayalas Reisen nach Deutschland und Italien (1911/12) und schließlich die Atmosphäre des Ersten Weltkrieges (vgl. Prieto Jambrina 1998, 45). Neben den kulturellen Faktoren spielen überdies das musikalische Interesse und P8rez de Ayalas Affinität zum Theater, wie sie aus seinen zahlreichen Kritiken hervorgehen, eine große Rolle in der Konzeption dieser beiden letzten Romane. Wie vielfach bemerkt, entwirft der Autor Tigre Juan und El curandero de su honra konform den Elementen einer Symphonie. Thematischer Schwerpunkt ist die Liebe und das durch sie bewirkte Transformationspotential in den Figuren. Tigre Juan setzt sich aus zwei Teilen, Adagio und Presto, zusammen, gefolgt von El curandero de su honra, der mit Presto beginnt, mit einem Adagio anschließt und schließlich mit einer Coda und einem weiteren metareflexiven Teil Parergon endet, der anhand unterschiedlicher Dialoge zwischen den Protagonisten Juan, Col#s und Iluminada die Erzählungen retrospektive kommentiert. Der Handlungsverlauf der einzelnen Teile entspricht den Tempi der übergeordneten Begriffe, sodass im ersten Adagio ruhig die Verkettung der Protagonisten und schließlich Juans Sich-Verlieben in die Angebetete seines Neffen Herminia vorgestellt werden. Der erste, mit Presto überschriebene Teil verweist auf eine Beschleunigung, die sich aus der Verfestigung der Leidenschaften Tigre Juans ergibt, der zweite stellt die Hochzeitsvorbereitungen zwischen Juan Guerra und Herminia Buenrostro dar. Schließlich folgt in einem zweiten Adagio die vorübergehende Trennung von Herminia und Juan, in der sich die Liebe zueinander noch festigt. Im glänzenden Schluss der Symphonie, der Coda, wird schließlich die Versöhnung aller gefeiert. Der glückliche Ausgang der unterschiedlichen Liebesgeschichten entspricht ganz dem Skriptum – estaba escrito heißt es an unterschiedlichen Stellen des Romans. Der eigentliche Roman endet poetisch mit einem Gedicht. Ihren jeweiligen Ursprung nehmen die einzelnen Liebesgeschichten im künstlerischen Ausdruck. Vergleichbar Platons Symposion oder den Musikern eines Orchesters repräsentieren die einzelnen Protagonisten von Tigre Juan und El curandero de su honra unterschiedliche Liebeskonzepte. Im Kontext von P8rez de Ayalas essayistischem Werk ist das gegensätzliche Paar Tigre Juan und sein Neffe Col#s zum vielzitierten Brennpunkt der Romane avanciert, da sich die Diskussionen der beiden an P8rez de Ayalas literaturkritischen Aufsätzen anlehnen. Tigre Juan wird als misogyner Mensch gezeichnet, der aufgrund eines Kindheitstraumas Frauen entweder als Heilige oder Prostituierte wahrnimmt. Dass er dadurch die Realität meist verfehlt, zeigt sich beispielsweise in der Ignoranz gegenüber den Gefühlen Iluminadas, die er lediglich als rein vergeistigte, ihrem verstorbenen Ehemann treue Ausnahmeerscheinung bemerkt. Der Protagonist zieht trotz
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seines offenkundigen Hasses Frauen an, eine Dualität, die in seinem Nachnamen symbolisiert wird: Juan Guerra Madrigal (vgl. Macklin 1980, 20). Zahlreiche Passagen geben über innere Monologe oder durch intern fokalisierte Erzählerkommentare Aufschluss über Tigre Juans Angst vor Frauen und seinen geheimen Wunsch, Don Juan zu ähneln. Col#s vertritt die gegenteilige Ansicht. Er sieht im Donjuanismus ein falsch verstandenes, durch die Gesellschaft angeeignetes Männerbild. Seine Vorstellung von Männlichkeit in Verbindung mit Liebe orientiert sich an Goethes Werther und erinnert an P8rez de Ayalas Essays. Als »hijo del viento« symbolisiert der Ziehsohn eine Variante des romantischen Liebeskonzeptes: Freiheit und Gleichheit der Liebenden bilden seine Grundlage.42 Beide finden Partnerinnen, um ihre Vorstellungen auch im Leben zu verwirklichen. Carmina wird durch ihre Ziehmutter DoÇa Iluminada mittels Abenteuer- und Ritterromanen sowie Erzählungen über den abwesenden Col#s auf eine Liebe in Freiheit vorbereitet (vgl. CH 662). Tigre Juan wiederum liebt schließlich Herminia und lebt – frei nach Voltaire – glücklich in der besten aller Welten: Viv&a en el mejor de los mundos posibles, que era su mundo interior. […] El mundo exterior, para 8l, no se manifestaba sino como proyeccijn sumisa de su mundo interior. La realidad deb&a someterse a sus deseos, so pena de ser fulminada por uno de los rayos invisibles que 8l llevaba empuÇados en la diestra. (CH 657)
Ein zwischen aufopfernder Nächstenliebe und reinem Egoismus oszillierendes Konzept wird von DoÇa Iluminada, »la viuda de Gjngora« repräsentiert. Diese Figur lebt ein vergeistigtes Liebeskonzept, schon in ihrer Ehe mit Don Bernardino43 Gjngora spielte Erotik keine Rolle, wie die Lesenden von der Erzählinstanz erfahren: »No eran hombre y mujer, sino dos socios bien avenidos. En el caso de doÇa Iluminada y don Bernardino, la virginidad de entrambas partes era absoluta, de orden f&sico« (TJ 548). Als Witwe verliebte sich DoÇa Iluminada immer mehr in Tigre Juan, doch auch diese Liebe bleibt ein Wollen. Während Col#s die Verliebtheit der Frau erkennt und seinem Ziehvater die Heirat mit der Witwe vorschlägt, kann Tigre Juan diese Möglichkeit nicht in Erwägung ziehen. Aus seiner Perspektive wird DoÇa Iluminada als »casi desprovista de existencia corpjrea« (TJ 563) vorgestellt. Gekonnt werden zahlreiche Metaphern des Lichts und der Dunkelheit zur Charakterisierung der Protagonistin herangezogen, wie 42 Der Einfluss des Windes auf die Figurencharakterisierung zeichnet sich nicht nur in Col#s Vagabundenleben ab, sondern manifestiert sich teilweise auch in den Instrumenten. Er spielt Okarina und Akkordeon, zwei Instrumente, die durch Luftströme zum Klingen gebracht werden, neben ungewöhnlichen improvisierten Instrumenten aus Gläsern, Klötzen und den Kuhglocken der »cencerristas« (TJ 550). 43 Der Vorname des Ehegatten spielt möglicherweise auf Bernhard von Clairvaux an.
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bereits auch ihr Name andeutet. Obschon diese Figur nie eine gleichsam körperlich und geistig erfüllte Liebe durchlebte, ist es sie, welche die Liebesranken aller anderen durchschaut und insgeheim die Fäden zieht, damit die Liebesgeschichten von Tigre Juan und Herminia oder Col#s und Carmina zu einem glücklichen Ende führen. Dieses Verhalten wird in einer Anspielung auf den konzeptistischen Lyriker Gjngora noch verdeutlicht (vgl. Amorjs 1972, 368). Ihre besonderen Kenntnisse werden auf ihre gescheiterten Liebesbeziehungen zurückgeführt. Sie selbst beschließt, ihre Liebe zu Tigre Juan in einem heroischen Akt zu opfern, indem sie alles tut, um ihn glücklich zu machen. Dass die Witwe im Geheimen die Fäden der Liebesgeschichten gezogen hat, wird durch die Namensgebung des Kindes von Tigre Juan und Herminia – Mini als Spitzname für Iluminado Herminio – am Ende des Romans nochmals bekräftigt. Auf einer Metaebene verdeutlicht das Ende des Romans noch einmal das Verwerfen einer ›natürlichen‹ Liebe zugunsten einer durch unterschiedliche Diskurse geformten. DoÇa Iluminadas Gegenspieler ist Don Vespasiano Cebjn. Sein Name erinnert an den Herrscher im dekadenten Rom und an gut gemästetes Fleisch zugleich (vgl. Amorjs 1972, 368). Aus einer Null-Fokalisierung erfahren die Lesenden, dass DoÇa Iluminada die positive Elektrizität verkörpert, während Don Vespasiano, als ein lediglich auf sein eigenes Vergnügen ausgerichtetes, ›schlechterzogenes Kind‹, die negative darstellt (CH 662).44 Vespasiano liebt ›nur‹ körperlich, in jeder Stadt eine andere Frau. Herminia Buenrostro wiederum wird – abgesehen von ihrer Schönheit – wenig aktiv gezeichnet. Zunächst wehrt sie sich noch gegen die Kuppelei von DoÇa Iluminada, indem sie die Freundin des Hauses auf den wahren Beweggrund ihrer Selbstlosigkeit aufmerksam macht: Querer para otros lo mismo que para s&, es ir contra el querer de los dem#s. As& quieren las personas mayores, que como ya no pueden querer, porque no pueden conseguir, sjlo quieren obligar a los otros a que quieran sin querer. Pero los jjvenes no queremos as&, porque queremos de verdad. […] Queremos para nosotros, nada m#s que para nosotros. No podemos querer sin querer, ni dejar de querer queriendo. (TJ 642)
Einzig an dieser Stelle, die die Relation von Lieben und Wollen thematisiert, und in El curandero de su honra, als Herminia die Flucht mit Vespasiano ergreift, ist der Figur ein größerer Handlungsradius gegeben. Ansonsten wird der Großteil ihres Denkens von der Gesellschaft, vom Kreis der Familie und Freunden bestimmt.45 Dies zeichnet sich anhand ihrer Verlobungszeit ab. Halb ängstlich, 44 Wie Don ]lvaro in Clar&ns La Regenta gestaltet P8rez de Ayala seinen Don Juan androgyn. Zunächst aus der Sicht Col#s (TJ 561), dann aus jener der Erzählinstanz: »Era guapo, con una belleza decadente de emperador romano o de seÇora madura en libertinajes« (CH 665). 45 Zum Verhältnis der dargestellten Geschlechterrollen im Kontext der gesellschaftlichen
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halb gespannt erwartet sie den Tag der offiziellen Deklaration Tigre Juans, doch der Unglückstag scheint nicht zu kommen. Abgesehen von Herminia sind ihre Großmutter, DoÇa Iluminada, der Priester Don Sincerato und Tigre Juan durch die allmähliche Verfestigung der Vorstellung einer Heirat zwischen den beiden bald der Überzeugung, dass schon seit Langem eine gegenseitige Leidenschaft zwischen den Verlobten vorliegt. Humoristisch gestaltet, formt der Wille zu lieben nicht nur die Realität Tigre Juans, sondern gleich die Wirklichkeitswahrnehmung der gesamten Gesellschaft. Die Ablehnung Herminias dient dabei als Kontrapunkt, um den Konstruktionscharakter dieser Wirklichkeit hervorzuheben. Das offizielle Verlobungsgeschenk, ein Armband mit der Gravur »soy de Tigre Juan« wird sodann aufgrund Juans Nervosität auch von Familie und Freunden gemeinsam der jungen Frau angelegt, sodass »Herminia recibij la impresijn de que no era sjlo Tigre Juan sino la sociedad entera quien la esposaba« (CH 659). Diese Schilderung der Verlobungszeit materialisiert die Stendhal’sche Kristallisationsmetapher ausgedehnt auf die gesamte Gesellschaft. Die Tragikomik dieser Situation spiegelt sich im emotionsgeladenen Eheversprechen Tigre Juans, das jenem Herminias gegenübersteht, die ihr JaWort im Tonfall einer Herausforderung artikuliert. Zudem wird die Zeremonie vom taub-stummen Chor begleitet, der ihnen in Zeichensprache ein Lied singt (vgl. CH 673–674), das zum einen DoÇa Iluminadas Aussage zu bekräftigen scheint, dass die Liebe nicht nur blind, sondern auch taub sei. Zum anderen wird gleichzeitig jedoch auch die Schönheit der Situation in Frage gestellt, da P8rez de Ayala in seinen Essays M#s divagaciones literarias die antike Vorstellung aufgreift, die Schönheit werde insbesondere über Gehör- und Gesichtssinn wahrgenommen (vgl. PAOCIV 1057). Auf diese Weise werden die einzelnen Perspektiven immer wieder ironisch gebrochen und kein inkarniertes Liebeskonzept erhält den Vorzug.
6.4.5 Multiperspektivität als Transformation einer harmonischen Liebe Die Mehrperspektivität resultiert aus einer unbeteiligten Erzählerhaltung, die an die vom realistischen Schreiben geforderte impassibilit8 erinnert. Gleichzeitigt ergibt sich aus der Gegenüberstellung unterschiedlichster Lebens- und Liebeskonzepte durch die einzelnen Figuren eine Polyphonie, in der im Idealfall keine der Stimmen eine bevorzugte Position erhält. Ausgesprochen wird dies in einer metareferentiellen Passage von DoÇa Iluminada, als sie sich, zwischen Col#s und Tigre Juans Ansichten vermittelnd, folgendermaßen zu Wort meldet: »Dejemos Umbrüche im Spanien der 1920er Jahre sowie dem Einfluss Schopenhauers und Weiningers auf das Frauenbild jener Zeit (vgl. Paredes MHndez 2006).
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a cada cual con su verdad, siempre que sea de buena fe, aunque nuestra verdad sea m#s noble y m#s bella« (CH 766). Lediglich Herminia Buenrostros Ansichten scheinen sich derart zu verwandeln, dass sie von ihrer ursprünglichen Ablehnung Tigre Juans am Ende des Romans genau seinen Vorstellungen – seiner inneren Welt – entspricht, indem sie selbst ein auf Eifersucht und Ehrgedanken basierendes Liebeskonzept von ihrem Mann fordert. Allerdings erfahren die Lesenden diesen Gesinnungswandel Herminias im Parergon als Erzählung Tigre Juans (vgl. CH 768). P8rez de Ayalas vielfach konstatierter Sinn für Humor kommt in der Szene der Johannisnacht besonders zur Geltung. Während im Volksglauben diese Nacht den Liebenden gewidmet ist, findet in eben dieser Nacht zunächst die vorübergehende Trennung von Tigre Juan und Herminia statt. Die magische Wirkung dieser Nacht, in der alles danach strebt, eine verlorene Einheit wiederzuerlangen, wird von den sich vermengenden Elementen Wasser und Feuer symbolisiert (vgl. Amorjs 1972, 372). Die beiden Protagonisten gehen jedoch getrennte Wege, obgleich beide gedanklich zueinanderfinden. Wenig kongruent wird Herminias Einsicht, zu Juan zurückzukehren, geschildert, da sie schon vor ihrer Flucht weiß, dass Vespasiano seine Liebesschwüre nicht ernst meint. Tigre Juans Wandel läuft ebenso wenig rational ab, es bedarf des Einsatzes magischer Rituale seines Freundes Nach&n de Nacha, der in der Lage ist, seinen bösen Geist auszutreiben. Die Szene insgesamt, wie auch die vorangehenden Erscheinungen Engracias, der ermordeten ersten Ehefrau Tigre Juans, sind einer dramatischen Inszenierung nachempfunden: NACH2N DE NACHA (derramando el agua) Vis bautizare volo. Afuxi, afuxi, Xuan Cabrito. Afuxi a tierra de Egito. Esconxfflrote. Escampen estos sesos escurecidos. Ah& viene san Xuan, con el caballo ru#n. La figa pa la mociquina falduda. Xuan; la Virgen te ayuda. (CH 723)46
Schon die graphische Gestaltung mit den an Regieanweisungen erinnernden Anmerkungen der Erzählinstanz lenkt die Aufmerksamkeit der Lesenden auf die Performanz der Situation. Dem in diesem Fall heilenden, in jeder Hinsicht jedoch persönlichkeitsverändernden Potential der Sprache bzw. des asturischen Dialektes steht eine ironische Kontextualisierung gegenüber, die aus einem als frauenfeindlich konzipierten Protagonisten die Eifersucht und Misogynie zugunsten der Liebe austreiben soll. Gedoppelt wird der Effekt, wenn die Ereignisse im Leben Herminias, die sich in der rechten Spalte geschildert finden, parallel gelesen werden. Dort erläutert Col#s, dass sich – wie wissenschaftlich 46 P8rez de Ayala gibt die Bedeutung der Wörter afuxi (huye) und esconxfflrote (te conjuro) in einer Anmerkung an, insgesamt veranschaulicht der Sprachgebrauch Ritualcharakter und Volksnähe.
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erwiesen – der menschliche Körper beständig erneuert, der Geist jedoch unveränderlich ist: Los elementos constitutivos de nuestro organismo se est#n renovando sin cesar. De tiempo en tiempo, un lapso de algunos aÇos, no hay en nuestros tejidos una sola c8lula antigua. Hemos cambiado de cuerpo. Y sin embargo, el esp&ritu persevera en su unidad, con la memoria del cuerpo ya desechado y la conciencia del cuerpo flamante. Lo cual demuestra que el esp&ritu no es una funcijn del cuerpo. (CH 723)
Das nebeneinanderfließende Leben, das mittels Kontrapunkt in zwei parallelen Spalten geschildert wird, vervielfacht die Lektüren des Romans, da die ReLektüre einer Spalte nach der Lektüre der zweiten die Bedeutungsebenen durch Symmetrien, Konkordanzen aber auch unterschiedlichen Erlebnissen der beiden Protagonisten multipliziert. Wie Amorjs in seiner Monografie feststellt, nimmt P8rez de Ayala eine narrative Technik vorweg, die Cort#zar in seinem Roman Rayuela perfektionieren wird (vgl. Amorjs 1972, 365).47 Letztlich endet der Roman jedoch glücklich, ausschlaggebend für dieses harmonische Ende ist die Bereitschaft aller Protagonisten (außer Vespasiano) ihr eigenes Gravitationszentrum zu verlassen und sich auf die geliebte Person zuzubewegen. *
In Abgrenzung zum ersten Typ zeigt der zweite Typ Liebe als spielerisch reflektierte Diskurse unterschiedliche, sich widersprechende Liebesdiskurse in ihrer Konstruktion als Kommunikationsmedium auf, welche das moderne Individuum in Kategorien einteilt und damit die Individualität reglementiert. Mehr als die Praktikabilität steht hier die Reflektiertheit von Liebe und Roman im Vordergrund. Konsequent erfolgt die Differenzierung anhand von Liebe als spielerisch reflektierte Diskurse versus Liebe als naturgegeben. Die Wirkungsweisen von Liebe als Diskurs oder Kommunikationsmedium thematisiert Clar&n anhand der Geschlechterrollenbilder, da er die Protagonisten von La Regenta skalar zeichnet. Gegen eine binäre Kategorisierung des Lebens, des Liebens und der Literatur gerichtet, vertritt der spanische Autor ein Liebeskonzept, dessen Grundlage die Toleranz darstellt. Sein Roman selbst kann wie jener von Emilia Pardo Baz#n als Schwellenwerk zwischen Realismus und Modernismo gelesen werden. Denn neben ausführlichen psychologischen Studien zeigen sich seine Charaktere innerlich zerrissen und scheitern schließlich an einer glücklichen Bewältigung des Lebens, wie zahlreiche Figuren modernistischer Romane. Zudem integriert Clar&n Theaterstücke, Anspielungen auf Opernarien und Gemälde in seinen Roman und kann damit als Vorläufer der nachfolgenden mo47 John Macklin sieht in der Narration in zwei Spalten die Intention, weniger die Gleichzeitigkeit von zwei Begebenheiten als die Einheit in der Entzweiung zu betonen (vgl. Macklin 1980, 30).
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Typ 2: Liebe als spielerisch reflektierte Diskurse
dernistischen Autoren gesehen werden, die über die strukturelle Integration von Kunstdiskursen nach Intensität von Liebe, Romanschreiben und Lektüre streben. Dem repräsentativen Realismus verhaftet, zeigt sich hingegen das beschriebene Aufdecken zweier sich widersprechender Liebesdiskurse – die himmlische und die irdische Liebe, deren Gegenstück Clar&ns skalare Liebesauffassung ist. In Emilia Pardo Baz#ns Roman La madre Naturaleza vervielfachen sich die Liebesdiskurse sodann. Beide Werke veranschaulichen den Einfluss der Lektüre auf Liebeskonzepte oder, anders gesagt, die Ununterscheidbarkeit von Liebe und Diskurs über Liebe. Sozialkritisch präsentiert die Autorin die Ehe als von ökonomischen Interessen geleitete Institution und bricht ein Tabu, indem sie die inzestuöse Liebe der Jugendlichen literarisch formt und damit dem realistischen Roman mit seinem Anspruch auf Informationsvermittlung gerecht wird. Modernistische Züge trägt ihr Werk, wenn sie auf die Performativität der Sprache aufmerksam macht, indem sie nicht nur eine natürlich gewachsene Liebe als durch Bibellektüre angeeignet zeigt. Vielmehr verweist sie auf den experimentellen Modus und die Bedeutung der Wahrnehmung, wenn sie über die verfremdende Wiederholung einer erotischen Szene die ästhetische Mehrleistung der literarischen Präsentation und den Lektüregenuss hervorhebt. Auf diese Weise liegt die Funktion der Literatur in einem Abbilden, Bilden und Ereignen zugleich und referiert auf die eingangs vorgestellten drei unterschiedlichen Realitätskonzepte mit ihrem repräsentativen, performativen oder experimentellen Modus. Das Emilia Pardo Baz#ns Poetik zugrundeliegende Liebeskonzept kann als uneingeschränkt bezeichnet werden, das über die Offenheit der Kategorie ihr selegierendes Vorgehen erklärt. Als Neugierde verstanden, verweist ihr Liebeskonzept bereits auf das ästhetische Liebesverständnis modernistischer Werke, die neben der Intensität des Erlebens jenes der Praxis von Lieben und Schreiben hervorheben. Anders als der ernüchternde Ausgang von La Madre Naturaleza endet Ramjn P8rez de Ayalas Doppelroman Tigre Juan/El curandero de su honra harmonisch mit mehrfachen Liebesheiraten. Der Autor präsentiert die Verquickung von Liebe und Ehre in spanischen Liebeskonzepten aus unterschiedlichen Perspektiven und hebt besonders Don Juan und Werther als Verkörperungen gegensätzlicher Diskurse hervor. Insgesamt veranschaulicht P8rez de Ayala in seinem Roman die Entdifferenzierung von Liebe und Diskurs über Liebe, indem der Einfluss von Liebesreden, Liebesliedern oder Märchen auf das Sich-Verlieben in der Figurencharakterisierung sichtbare Spuren hinterlässt. Sein Liebesverständnis akzentuiert das Lieben-Wollen, das letztlich gelebt wird. Liebe ästhetisch gedacht lässt sich für diesen Autor als polyphon bezeichnen, da sein Literaturverständnis Anleihen an herrschenden Diskursen der Musik und Philosophie nimmt. Der offensichtliche Rekurs auf Jos8 Ortega y Gassets dynamisches Liebeskonzept wird oberflächlich umgesetzt, indem sich die Protagonisten zwar physisch bewegen, psychisch
Pérez de Ayalas polyphone Liebe als ästhetische Kategorie
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jedoch nur geringe Wandlungen durchlaufen. Liebe dient ihnen dabei als Ansporn eines harmonischen Zusammenlebens. Während P8rez de Ayalas rationalrepräsentativer Sprachgebrauch sowie sein auf Eleganz beruhendes Schönheitsideal auf realistische Schreibmodi verweisen, weist der Roman in typographischer Hinsicht Experimentierfreude auf und zeigt damit die Tendenz hin zum modernistischen Schreiben. Allen Autoren gemein ist ihre Opposition zu binären Ordnungsschemata sowie der Ansatz, Literatur als uneingeschränkt und wandelbar zu betrachten. Vom dritten Typ, der Liebe als Intensität versteht, grenzt sich der zweite insofern ab, als ein dem realistischen Programm inhärenter Anspruch der Repräsentation sowie der Aufdeckung kultureller Phänomene erhalten bleibt.
7
Typ 3: Liebe als intensiviertes Handeln und Erleben
Auch für das modernistische Schreiben gilt, dass die Differenz Liebe und Diskurs über Liebe aufgelöst wird. Während der zweite Typ die Kritik an vorhandenen Diskursen hervorhebt und bereits darauf hinweist, dass das Erleben von Liebe und Literatur immer größere Bedeutung erlangt, verlagert sich die Charakterisierung der Liebe mit dem dritten Typ vollständig auf ein intensiviertes Handeln und Erleben, das sich produktionsästhetisch durch die Erneuerung narrativer Techniken im Rückgriff auf Verfahren anderer Künste und die Aufforderung zu einer aktiven Lektüre zeigt, die wiederum zu einem gesteigerten Lektüregenuss führen. Damit einher geht eine Erweiterung der europäischen Liebesvorstellung als Passion hin zu einer Idee, welche die aktive Komponente der Liebe hervorhebt. Der dritte Typ Liebe als intensiviertes Handeln und Erleben veranschaulicht anhand Ramjn del Valle-Incl#ns Sonatas (1902–1905), Miguel de Unamunos Niebla (1914) sowie La t&a Tula (1921) und Azor&ns DoÇa In8s (1925) die neue Epoche. Ein verbindendes Merkmal dieses Schreibmodus liegt darin, dass die erzähltechnischen Experimente in der Suche nach neuen Bezeichnungen für die Gattung Roman münden. Während Unamuno statt Romane n&volas schreibt, bezeichnet Valle-Incl#n seine kurzen Romane als Sonaten und Azor&n spricht nicht länger von Roman, sondern von einem Prä-Roman. In ihrer Suche nach poetologischen Innovationen greifen die Autoren auf systemfremde Diskurse wie jene der Philosophie oder anderer Künste zurück und experimentieren vor allem mit Elementen aus Film, Malerei und Musik. Ziel ist nicht nur die thematische Referenz auf andere Kunstformen, vielmehr richtet sich das Interesse der Autoren auf die Operationalisierbarkeit systemfremder Elemente mit dem Zweck, Literatur und Leben anzugleichen bzw. Literatur lebendig und dynamisch zu gestalten. Wieder wird die Mystik als Metapher neuer Liebes- und Romankonzepte herangezogen. Deutlich zwischen Mystik und Erotik bewegt sich Ramjn del Valle-Incl#ns Schreibmodus, den er in La l#mpara maravillosa (Ejercicios Espirituales) (1916) formuliert. Anhand dieses Schreib- und Lesemanuals wird nicht nur die für die Jahrhundertwende charakteristische Vermengung von Erotik und Mystik ver-
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Typ 3: Liebe als intensiviertes Handeln und Erleben
anschaulicht, auch zeigt die Konzeption des Textes bereits das neue Literaturverständnis, das Schreiben und Lesen zusammenführt. Valle-Incl#ns Ausrichtung auf ein ästhetisches wie kulturelles Heraustreten-aus-dem-Gewohnten, wie er es in seiner ästhetischen Schrift und den vier kurzen Romanen der Sonatas präsentiert, wird akzentuiert. Sein Liebeskonzept wird als ekstatisch bezeichnet, da der Schriftsteller fernab moralischer Vorstellungen Liebe und Roman aus dieser dynamischen Perspektive auffasst, die eine aktive körperliche Beteiligung der Lesenden mitdenkt. Auch Miguel de Unamuno thematisiert das Erleben im Bereich der Literatur, allerdings in einem existentialistischen Kontext. In seinem Falle opponiert (Er-)Leben mit Tod. Die Innovation Unamunos liegt nun darin, dass diese Opposition nicht mit jener von gelebter Wirklichkeit und Literatur bzw. Kunst korreliert, vielmehr werden Kunstgenuss und Subjekt neu definiert. Die für Unamunos Liebespoetik relevanten Texte setzen sich aus dem Roman Como se hace una novela (1927), dem Essay Del sentimiento tr#gico de la vida (1913) und den Prologen zu Amor y pedagog&a (1902) sowie Tres novelas ejemplares y un prjlogo (1920) zusammen. Unamunos Liebes- und Romankonzept wird in Folge als lebendig bezeichnet. Kernstück von Azor&ns Literatur- und Liebesvorstellung ist wiederum der Gedanke einer Überzeitlichkeit, die mit der Auflösung gängiger Zeit- und Raumkonzepte einhergeht und generationenverbindend fungiert. Wenngleich jede Epoche ihre eigene Variation von Liebe bzw. Literatur prägt, ermöglicht gerade die direkte Erfassung des Lebendigen in literarischen Werken das Überdauern künstlerischer Werke. Sein Liebes- und Romankonzept lässt sich somit als zeitenthoben bezeichnen. Um Azor&ns Poetik zu umreißen, werden schließlich verschiedene Artikel wie La Celestina (1914), seine Sammlung Castilla (1912) oder Cl#sicos y modernos (1913) sowie die Romane La voluntad (1902), Superrealismo (1929) und El escritor herangezogen. Die im dritten Typ versammelten Romane und Autoren präsentieren Liebe als intensiviertes Erleben und grenzen sie von Bewegungslosigkeit ab, die in ästhetischer wie kultureller Hinsicht nicht adäquat erscheint, um Liebe und Roman zu umschreiben. Damit einher geht eine Aufwertung der Lesenden-Aktivität, die auf die Romanproduktion insofern rückwirkt, als dass sich Literatur erst im Akt der Lektüre ereignet. Während das realistische Schreiben Leben und Roman darin zusammendenkt, dass der Roman Aufschluss über Wirkmechanismen der Wirklichkeit geben kann und diese zur Reflexion aufbereitet, präsentiert modernistische Literatur sich selbst als materiell und lebendig. Dies führt zu einer erneuten Diskussion der Bedeutung von Zeit für die Kunst. Da mit dem dritten Typ für literarische Schöpfungen weniger ein repräsentativ-performativer Modus als ein performativ-experimenteller Modus entscheidend ist, schwankt die Funktion modernistischer Literatur nunmehr zwischen Bilden und Ereignen.
Komponenten lebendiger Romane
7.1
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Komponenten lebendiger Romane
Die neue Schreibweise, die unter der literarhistorischen Strömung des Modernismus subsummiert wird, orientiert sich nun eindeutig an einer Aufwertung des Lebens in vielerlei Hinsicht. Nun fungiert der Roman als produktive Schnittstelle von Kunst und Leben, die die Lesenden direkt involvieren möchte und neben einer Reflexion des menschlichen Lebens auf eine Steigerung des Erlebens abzielt. Die dafür nötige literarische Sprache wird entweder bewusst schlicht gehalten, um die Ununterscheidbarkeit von Alltagsleben und Kunst zu veranschaulichen, wie im Falle Azor&ns. Oder es wird die Opazität der Sprache durch eigensinnige Metaphern und Neologismen betont, wie anhand von Ramjn del Valle-Incl#ns und Miguel de Unamunos Texten gezeigt werden soll. Mit dieser Ausrichtung am Erleben gewinnt das Thema der Zeit erneut Relevanz. Aus einer temporalen Perspektive dominiert, wie im realistischen Schreiben, auch im modernistischen Roman ein Fokus auf die Gegenwart. Im Modernismo handelt es sich nun jedoch nicht mehr darum, den gegenwärtigen sozialen Hintergrund der Lesenden lesbar zu gestalten, vielmehr soll durch einen erhöhten Abstraktionsgrad das präsentische Erleben der Einzelnen in der Lektüre gestärkt werden. Dazu können Romanhandlungen auch in der Vergangenheit, von Antike bis Romantik, angelegt sein. Die Referenz auf die zeitgenössische soziale Wirklichkeit ergibt sich in einer Fortsetzung realistischer/naturalistischer Prinzipien nun in der Präsentation von Wirkungsmechanismen realer Vorgänge. Liebe wird dadurch nicht länger beschrieben, sondern als narratives Strukturprinzip funktionalisiert und unterscheidet sich je nach Liebeskonzept der jeweiligen Autoren. Allen gemein ist eine Auffassung von Liebe als Intensivierung, die mit Jos8 Ortega y Gassets Liebeskonzept übereinstimmt und den Roman insofern prägt, als sich im Rückgriff auf unterschiedlichste Diskurse, die von den Lesenden aktiv wahrgenommen werden können, der Roman gleichsam auflädt und so zu einer intensiveren Lektüre führt.
7.1.1 Tote Buchstaben und lebendige Worte Wie bereits im Realismus wird mit der künstlerischen Moderne erneut die Verbindung von Referent, Sprache und Subjekt problematisiert. Während sich die Sprache realistischer Werke durch ihr Pendeln zwischen repräsentativem und performativem Modus auszeichnet, der Roman als Medium der Realitätsdarstellung teilweise hinter dem Gegenstand verschwinden soll, verlagert sich die Bewegung mit dem modernistischen Schreiben hin zu einer Oszillation zwischen performativem und experimentellem Modus. Laut Foucault wird die Sprache ab dem 19. Jahrhundert dicht, sie entfaltet ihre Geschichte, ihre Gesetze
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Typ 3: Liebe als intensiviertes Handeln und Erleben
und ihre eigene Logik, wie der neue Wissenszweig, die Sprachwissenschaft, belegt (vgl. MCH 309). Das neue an dieser Sprachauffassung, in deren Zentrum nicht länger die repräsentierende Kraft der Sprache steht, ist ihre Verweiskraft auf die im Sprechakt getätigten Handlungen oder erlebten Erfahrungen. Il [le langage] n’est plus un systHme de repr8sentations qui a pouvoir de d8couper et de recomposer d’autres repr8sentations; il d8signe en ses racines les plus constantes des actions, des 8tats, des volont8s; plutit que ce qu’on voit, il veut dire originairement ce qu’on fait ou ce qu’on subit; et s’il finit par montrer les choses comme du doigt, c’est dans la mesure oF elles sont le r8sultat, ou l’objet, ou l’instrument de cette action; les noms ne d8coupent pas tellement le tableau complexe d’une repr8sentation; ils d8coupent et arrÞtent et figent le processus d’une action. (MCH 302)
Dieser Paradigmenwechsel zeichnet sich in essentialistischen Ästhetiken wie jenen des Symbolismus, aber auch des Modernismo ab. Jos8 Manuel Pereiro Otero führt an, dass Signifikat und Signifikant voneinander getrennt werden, um eine alternative Welt zu schaffen. Ein zweites Signifikat schiebt sich über das erste, wenngleich dieses latent vorhanden bleibt und somit eine Verdoppelung des Sinns ermöglicht. Die im Text genannten Objekte verweisen nicht einfach auf den Referenten, sondern repräsentierten andere Konzepte und Ideen, die einen Bedeutungsüberschuss schaffen, der jenseits der wörtlichen Bedeutung liegt (vgl. Pereiro Otero 2008, 71). Während die realistische Sprache eine andere Wirklichkeit konstruiert, indem sie aufzeigt, wie unsichtbar das Medium Sprache gehandhabt werden kann, akzentuiert das modernistische Schreiben die Materialität sowie den performativen Charakter der Sprache und die daraus folgenden Wirkungen. Charakteristikum des modernistischen Schreibens, insbesondere Valle-Incl#ns ästhetischer Sprache, ist eine Überfülle an evozierten Sinneswahrnehmungen, die allesamt dazu eingesetzt werden, die poetische Sprache von der alltäglichen zu unterscheiden. Dem Dichter obliegt es, so Valle-Incl#n in La l#mpara maravillosa, das Gefängnis der Alltagssprache zu sprengen, indem er sich an der Grenze der sprachlichen Konventionen aufhält. Signifikant und Signifikat sollen neu verbunden und vergleichbar den Monstren der Bestiarien als eigene Kreatur geschaffen werden, deren Einzigartigkeit auf der Kombination bekannter Elemente beruht (vgl. LM 534).1 Analog dem Gleichklang von Akkorden entspricht das Übereinander von alten und neuen Signifikaten der dritten Rose in Valle-Incl#ns Ästhetik. Es ist die »rosa del matiz«, die in der Lage ist, das Werden und Vergehen zugleich darzustellen. Miguel de Unamuno reflektiert hingegen das dem modernistischen Schreiben 1 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle LM auf Ramjn del Valle-Incl#n (1974): La l#mpara maravillosa, in: ders.: Obras escogidas I, hg. von Herederos de Ramjn del ValleIncl#n, Madrid: Aguilar, 519–596.
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zugrundeliegende lebendige Sprachverständnis in Relation auf seine kulturelle Wirklichkeit. In seinem Roman Cjmo se hace una novela (1927) verdeutlicht der Schriftsteller ein Realitätskonzept, das eng an Textualität und Sprache gebunden ist. Mit existentialistischem Interesse beschreibt Unamuno anhand des Gegensatzpaares razjn und verdad die Wirkungsweise von Sprache auf den Menschen als kulturellem Wesen. Die Sprache ist unfähig, die Wahrheit als etwas Universelles zu artikulieren, da sie die Individualität der Menschen ignoriert. Wahrheit separiert daher die Menschen. Das einende Element hingegen ist die razjn, die Vernunft oder das Recht (vgl. UOCVIII 739).2 Das führt ihn nun dazu, die mit dem Realismus und beispielsweise von Clar&n in Apolo en Pafos thematisierte Trennung von Literatur und Geschichtsschreibung zu verwerfen, da beide auf Sprache zurückgreifen. Jeder Mensch, so Unamuno, wird aus einer schriftlichen oder mündlich überlieferten Legende geboren (vgl. UOCVIII 764). Auf diese Weise wird in einer Umkehrung des Verhältnisses von Literatur und Realität im Romanschreiben die performative Kraft der Sprache rehabilitiert, zugleich jedoch ebenso die Prägung des Menschen durch unterschiedlichste Diskurse reflektiert. Mensch-Sein bedeutet für Unamuno deshalb auch eine Rolle spielen, die durch das Wirken der Imagination und des Willens zum Sein geformt wird. Nicht die Sprache versucht einer immer schon dagewesenen Realität in einer Repräsentation nachzukommen, sondern sie ist es, die eine zukünftige, noch nicht manifeste Realität entwirft. Der wahre Mensch ist, in anderen Worten, Subjekt seines Romans. In dieser Entdifferenzierung von Fiktion und Realität gleicht das zutiefst Menschliche dann auch der Oberfläche. Es bleibt nichts zu ergründen, nichts, was hinter der Fassade läge: »Pero ¿un hombre histjrico?, ¿un hombre de verdad?, ¿un actor del drama de la vida?, ¿un sujeto de novela? Este lleva las entraÇas en la cara. O dicho de otro modo, su entraÇa –intranea–, lo de dentro, es su extraÇa –extranea–, lo de fuera; su forma es su fondo« (vgl. UOCVIII 765). Form und Inhalt, Performanz und Bedeutung verschmelzen auf diese Weise. Solange die Sprache jedoch nicht bewusst kreativ genutzt wird, bilden Wörter lediglich Hilfsmittel des Ausdruckes und damit einer Form der zwischenmenschlichen Kommunikation, der der persönlich-schöpferische Faktor fehlt und die nicht in der Lage ist, eine individuelle Existenz zu vermitteln. Um dieses Potential auszuschöpfen und vor allem den gedachten Weltentwurf zu artikulieren oder zu verschriftlichen, gewinnt die rhetorische Formgebung literarischer Texte als Ausdruck der Wirklichkeit selbst an Bedeutung. Den Aspekt der Handlung, der sich in der Artifizialität des Textes äußert und gezielt an das Erleben der Rezipienten gerichtet ist, erweitert die an die semantische 2 Ausführlicher zu Unamunos Sprachtheorie siehe Luby 1989, 509–512.
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Ebene gebundene Sinngebung. Intensive rhetorische Figuren wie Parodie oder Ironie, Antithesen und Oxymora, aber auch syntaktische Experimente zeichnen modernistische Werke besonders aus. Diese Verschiebung der Bedeutung von der inhaltlichen Ebene hin zur Struktur des Textes entspricht dem modernistischen Streben, bis ans Wesen der Wörter und damit auch der Existenz vorzudringen, ein ästhetisch-existentielles Vorhaben, das neben Unamunos Werken auch jene von Valle-Incl#n durchzieht. Nach Susanne Knallers Realitätsbegriffen ist der Literatur somit weder ein rein rationales Konzept, noch ein konstruktives vorgelagert. Modernistische Texte bezeugen vielmehr einen performativ-experimentellen Modus. Bezogen auf Literatur kommt Unamuno zu dem Schluss, dass die Sprache im Hier und Jetzt erfahren werden muss, indem sie an die eigenen Erfahrungen der Lesenden anknüpft, wie aus der Gestaltung des Liebesmotivs in Niebla und La t&a Tula abzulesen sein wird.
7.1.2 Zur Bedeutung von Erinnerung und Zeit im modernistischen Roman Die ästhetische Moderne als re-entry der Ausdifferenzierung von modernen Gesellschaften mit autonomen, in sich geschlossenen, autopoietischen Subsystemen äußert sich in der Wiederaufnahme der Diskussion über den Begriff der ›Moderne‹. Über die Landesgrenzen hinweg beeinflusst Charles Baudelaires Schrift Le peintre de la vie moderne (1863) die spanischen Autoren und Autorinnen bis in die Avantgarden des 20. Jahrhunderts hinein. Der moderne Künstler suche laut Baudelaire »[…] de d8gager de la mode ce qu’elle peut contenir de po8tique dans l’historique, de tirer l’8ternel du transitoire« (Baudelaire 1962, 466). Das Streben der Kunstschaffenden, aus dem Vergänglichen das Ewige zu destillieren, korreliert mit poetologischen Versuchen, einer chronologischen Zeitvorstellung im linearen Medium der Schrift entgegenzuwirken. Beispielsweise prägen neben der Flüchtigkeit auch die Isolierbarkeit bzw. die Wiederholbarkeit als wichtige Aspekte der Zeit Azor&ns Schaffen (vgl. Bernal MuÇoz 2001, 29). Während die Isolierbarkeit der Zeit die Möglichkeit hervorhebt, aufgrund der Dreiteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft den Augenblick der Gegenwart ästhetisch zu erfassen und selbst in seiner Vergänglichkeit lebendig zu halten, löst das Konzept der Wiederholbarkeit Zeit in ihrer Unterteilbarkeit auf und korrespondiert auf diese Weise mit Baudelaires modernem Konzept des Schönen, das das Antike und das Moderne als zwei notwendige Bestandteile voraussetzt. »La modernit8, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moiti8 de l’art, dont l’autre moiti8 est l’8ternel et l’immuable« (ebd., 467). Baudelaire, Unamuno, Valle-Incl#n und Azor&n verbindet ein Kunstverständnis, das sich selbst als modern mit allen Konsequenzen des Wandels und der Kontingenz begreift, bei gleichzeitiger
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Anstrengung den eigenen Werken eine Note der Überzeitlichkeit zu verleihen. In ihren Überlegungen zur Kunst rekurrieren die genannten spanischen Autoren wieder auf eine mystische Ästhetik.3 Aspekte, die diese Außerzeitlichkeit ermöglichen und auch verdeutlichen, sind zum einen der in den ästhetischen Ansätzen vorhandene Rückgriff auf die Erinnerung, zum anderen die aktive Auseinandersetzung mit ästhetischen Emotionen als Basis künstlerischen Schaffens. Klassische Werke, so Azor&n, erhalten dadurch ihren Charakter der Zeitlosigkeit, dass sie die Sensibilität der Lesenden ansprechen und auf diese Weise die Flüchtigkeit von Kunst und Leben überwinden (vgl. Azor&n 1975, 1137). Azor&n verflicht in seinen romanimmanenten Poetiken die Opposition von Flüchtigem und Ewigem mit dem Zwillingspaar Leben und Tod.4 Bereits zu Beginn seiner Schriftstellerkarriere kommt der schreibende Protagonist Yuste in La voluntad (1902) zum Schluss, dass die Ewigkeit nicht existieren kann, da sich die Zeitlosigkeit der Ewigkeit und das Leben gegenseitig ausschließen: »Vida es sucesijn; sucesijn es tiempo. Yel tiempo, cambiante siempre, es la ant&tesis de la eternidad, presente siempre« (AOCI 446).5 Beeinflusst wurde dieses Zeit- und Lebenskonzept von Bergsons Philosophie – insbesondere seinem Zeitkonzept, das sich in eine Dauer und eine Abfolge differenzieren lässt – und dem malerischen Impressionismus (vgl. Bernal MuÇoz 2001, 81). Aus der Ablehnung einer stabilen Form werden unterschiedliche poetologische Erneuerungen in Azor&ns Œuvre hervorgehen, gilt doch das Leben und damit der Wandel als zentraler Bestandteil seiner Literatur, dessen schwierige Darstellung aufgrund der Bewegtheit der Materie Innovationen fordert. Während das Leben ständig wandelnd zeitlich fortschreitet, bleibt die Substanz der Dinge unberührt und ewig. Das Wesen der Dinge manifestiert sich für Azor&n in den Phänomenen, die über die Empfindungen begriffen werden – wohl wissend, dass diese Eindrücke durch die Wahrnehmung beschränkt werden und kontingent sind. Dennoch sind es diese Empfindungen, welche die Welt gestalten: Da die Empfindungen das Bewusstsein formen und dieses wiederum die 3 Die Zeitenthobenheit gilt als Konstante der mystischen Traditionen in unterschiedlichsten Epochen. Das Streben nach einer anderen Wirklichkeit, in der sich eine höhere Harmonie oder Schönheit offenbart, ist nicht nur Teil der Mystik, sondern seit der Romantik ästhetisches Ziel der europäischen Literatur (vgl. Allegra 1988, 7). Darüber hinaus verweist die ästhetische Zeitdebatte auf die Philosophien von Bergson und Heidegger (vgl. D&az-Plaja 1965, 117). 4 Aurora Egido vertritt in ihrer Monographie El Barroco de los modernos. Despuntes y pespuntes (2009) die These, dass die Zeitdebatte der künstlerischen Moderne vom barocken VanitasGedanken geprägt war. Sie untermauert dies anhand der Rehabilitierung des Begriffes Barock durch die Vertreter der 98er Generation und der Avantgarde, die schließlich zu einer Wiederbelebung im Neobarock und Ultrabarock führten (vgl. Egido 2009, insbes. 23). 5 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle AOCI auf Azor&n (1975): Obras Completas I, Madrid: Aguilar.
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Typ 3: Liebe als intensiviertes Handeln und Erleben
Welt erschafft, reduziert sich die Realität auf die Einbildung, das Leben auf das Bewusstsein. Wie in Miguel de Unamunos Mensch- und Literaturverständnis ist die Diskrepanz zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit dabei nicht länger von Bedeutung, Fragen der Wahrheit oder des Verfehlens werden irrelevant (vgl. AOCI 447). Bei Ramjn del Valle-Incl#n tritt die Bedeutung der Erinnerung für das literarische Schaffen stärker als bei Azor&n in den Vordergrund. Analog zu Baudelaire nähert er sich dem geforderten ewigen Aspekt moderner Kunst über die Erinnerung. Denn der Erinnerung kommt es zu, Hierarchien zu stürzen, Harmonien zu zerstören, zumal sie in der Lage ist, Unterschiedlichstes gleichberechtigt nebeneinander zu stellen oder kleinsten Details die größte Bedeutung beizumessen (vgl. Baudelaire 1962, 470–471). Wie Baudelaire geht der spanische Autor in La l#mpara maravillosa (1916) davon aus, dass die Kunst nur dann überdauern kann, wenn die von ihr produzierten Bilder der Welt Annäherungen an Erinnerungen sind, da sich diese dem Zeitverlauf widersetzen und somit eine unveränderliche Vision der Dinge ermöglichen (vgl. LM 565). Auf die literarische Produktion übertragen, veranschaulicht der Kristall als Metapher eines ästhetischen Prinzips in Valle-Incl#ns Gesamtwerk das Streben nach Perfektion und Dauer. Sein Perfektionsgedanke äußert sich in einer höchst labyrinthisch angelegten literarischen Produktion, da er seine Texte vor jeder Neuausgabe – viele seiner Texte erschienen zunächst in Zeitungen und Zeitschriften, bevor sie in Buchform publiziert wurden – überarbeitete und somit unterschiedliche Versionen einzelner Texte vorliegen.6 Valle-Incl#n konzipiert den Kristall als Metapher für die literarische Sprache jedoch nicht nur durchscheinend, sondern auch opak und geheimnisvoll, wenn er schreibt: »Ambicion8 que mi verbo fuese como un claro cristal, misterio, luz y fortaleza« (LM 568). Antithetisch wird die Klarheit des Kristalls dem Geheimnis gegenübergestellt, das ungreifbare Licht der unbezwingbaren Festung. Auf das literarische Werk übertragen, lässt auf diese Weise die diaphane Seite des Werkes literarische Vorgängermodelle erkennen oder mittels Wiederholungen das Ewige, Wiederkehrende der Realität, das sich sprachlich fassen lässt. Dahingegen erscheint die opake Seite den Rezipienten in ihrer Unzugänglichkeit als 6 Es würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen, auf die Modifikationen in den unterschiedlichen Ausgaben der Sonatas und der L#mpara einzugehen. Der Hinweis soll vielmehr als noch zu leistendes Forschungsdesiderat wahrgenommen werden, zukünftig eine Studie zu den einzelnen Textversionen durchzuführen. Leda Schiavo bemerkt in ihrer Einführung zu Sonata de OtoÇo und Sonata de Invierno, dass von der Wintersonate acht Versionen und von allen übrigen 10 Versionen vorliegen. Die Romane ähneln damit einem Palimpsest und erscheinen in ständiger Bewegung. Schiavos Ausgabe bezieht sich auf die jeweils letzte Überarbeitung von 1933 (vgl. Schiavo 1988, 9). Ausführlicher dazu neben Schiavo vgl. Villanueva 2005, 57 oder Gjmez de la Serna 1974, XVIII.
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Rätsel und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Materialität der Sprache. Die Moderne, der Wandel, die veränderliche Zeit und das Zeitlose ergeben sich aus dem Oszillieren zwischen den beiden Polen in der Rezeption, die wie ein Blick durch eine kristalline Form immer neue Welten, immer neue Blickwinkel erschließt. Genau diese Kombination aus Statik und Veränderung, die auch P8rez de Ayala thematisiert, lässt das Kunstwerk unvollendet und ewig lebendig erscheinen. Grundlegend dafür ist die Arbeit der Rezipienten am ästhetischen Prozess, wie folgende Passage belegt: La creacijn est8tica es una larva ang8lica. Fruto de la luz, como la clara entraÇa del d&a, puede ser comparada a una matriz cristalina, donde cada mirada penetra con distinto rayo y alumbra un mundo distinto. Toda expresijn suprema de arte […] es un centro y lleva consigo la idea de quietud y de eterno devenir, es la beata aspiracijn. (LM 582– 583)
Darüber hinaus symbolisiert Valle-Incl#n den Gedanken der Zeitlosigkeit mit Homer. Der Künstler wird als blinder Prophet vorgestellt, der in der Lage ist, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenzufügen (vgl. Derrida 2008, 15). Die Prophetie umgeht scheinbar die perspektivische Brechung der menschlichen Wahrnehmung, sie ermöglicht ein uneingeschränktes Sehen, da das Vorhersehen seine Aufmerksamkeit der Wirklichkeit in ihrer Pluralität schenkt. Valle-Incl#n untermalt den ästhetischen Zugang, indem er sich nicht wie Baudelaire auf die zeitgenössische Malerei bezieht, sondern auf die bildende Kunst der griechischen Antike. Die blinden Augen von Götterstatuen versinnbildlichen ein gesteigertes Sehen: Las pupilas ciegas de los dioses en los m#rmoles griegos simbolizan esta suprema visijn que aprisiona en un c&rculo todo cuanto mira. Es la gracia plural y matinal que tienen los viejos poemas y las viejas piedras de la arquitectura. ¡Gracia plural, gracia religiosa, comunijn con la eterna sustancia! (LM 572)
Der Mensch erhält lediglich über die Erinnerung Zugang zum Wesen der Wirklichkeit, wenn die Dinge der Zeit und ihrer Tendenz zur Veränderung enthoben werden. Allein durch die Verfestigung im Zuge der Imagination kristallisieren Ereignisse, nur die Erinnerung verleiht den Ereignissen die angemessene Intensität und eine Einheit, in deren Zentrum sich die gesuchte Emotion befindet (vgl. LM 565). Unter dieser Emotion versteht Valle-Incl#n eine ekstatische Liebe, die es dem Künstler ermöglicht, alles mit derselben Intensität zu lieben, und die ihn gleichzeitig in die Lage versetzt, die Dinge in ihrem ruhenden Sein zu erkennen. Erste Differenzen in der Liebeskonzeption zwischen Valle-Incl#n und der durch den Rekurs auf die Kristallmetapher naheliegende Metapher Stendhals zeigen sich durch die deutliche Betonung der erotischen Komponente seitens des spanischen Autors. Eine Parallele hingegen stellt die Signifikanz der geistigen Tätigkeit für die Liebe dar, einmal durch Imagination,
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Typ 3: Liebe als intensiviertes Handeln und Erleben
das andere Mal durch Erinnerung angestoßen. Auf diese Weise kann auch ein Realitätsverständnis angenommen werden, das sich auf den performativen Modus sowie den experimentellen Modus bezieht und für den Roman die Funktionen des Bildens und Ereignens anstrebt.
7.2
Ekstatische Liebe als ästhetische Kategorie bei Valle-Inclán7
Ramjn del Valle-Incl#n (1866–1936) formuliert seine Ästhetik in La l#mpara maravillosa (Ejercicios Espirituales) (1916), in den ersten beiden Gedichten von La pipa de kif (1919), in der Farsa italiana de la enamorada del Rey (1920) und in einigen Szenen von Luces de bohemia (1920) sowie dem Prolog und Epilog von Los cuernos de don Friolera (1921) wie Antonio Risco in El demiurgo y su mundo. Hacia un nuevo enfoque de la obra de Valle-Incl#n (1977) anführt (vgl. Risco 1977, 65). Für die Schaffensperiode des Romanzyklus Sonatas (1902–1905) sind seine Reflexionen in La l#mpara maravillosa ausschlaggebend, da sie, wenngleich erst 1916 publiziert, seiner Romanpoetik entsprechen, bevor sich der spanische Autor vermehrt der Groteske und dem Theater – seiner Kreation der esperpentos – zuwendet. Die ästhetische Schrift, in der die erläuternden gegenüber den beschreibenden Passagen überwiegen, ist zugleich Praxis und Interpretation von Valle-Incl#ns ästhetischem System. Jos8 Manuel Pereiro Otero schreibt dem Werk in La escritura modernista de Valle-Incl#n. Org&a de colores (2008) eine dreifache Relation zum modernistischen Schreiben zu: erstens als prototypisches Exemplar, zweitens als Exegese des eigenen Vorgehens und drittens als Initiationshandbuch für andere Künstler und Künstlerinnen, die an der Schulung ihrer Sensibilität interessiert sind (vgl. Pereiro Otero 2008, 132). Der für seine Extravaganz und seinen Hang zu Provokationen bekannte Autor erklärt in La l#mpara maravillosa weniger sein poetologisches Vorgehen als er es vorführt, indem er zunächst versucht ein Gefühl zu präzisieren, um es danach mit Worten zu konkretisieren (vgl. ebd., 146). Mit diesem hybriden Text präsentiert Valle-Incl#n eine Ästhetik, die von der Mystik, einer ekstatischen Liebe und dem Streben nach Zeitenthobenheit getragen wird. Als Reaktion auf einschneidende sozio-politische Veränderungen, die sich in Spanien in den letzten Jahrzehnten des 19. und in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts ereignen, ist ein Rückgriff auf mystische Konzepte, deren Charakteristikum in der Vereinbarung von Gegensätzen liegt, eine der erprobten 7 Die im Folgenden dargelegte Analyse von Ramjn del Valle-Incl#ns erotischem Literaturverständnis lässt sich vergleichbar Azor&ns Ansatz als passionslose Leidenschaft darstellen. Zum Verhältnis von Pathos und Mangel an Leidenschaft in Ramjn del Valle-Incl#ns Sonatas vgl. Rieger 2015, 127–142.
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Möglichkeiten der spanischen Geschichte mit verschiedenen Brüchen umzugehen (vgl. Certeau 2009, 48–49). Ramjn del Valle-Incl#ns Verständnis von Mystik bestätigt jedoch nicht den aus dem religiösen Diskurs stammenden Begriff, vielmehr wird Mystik wie bereits bei Juan Valera, Emilia Pardo Baz#n oder Miguel de Unamuno für ästhetische Belange funktionalisiert. Der Rekurs auf mystisches Gedankengut – insbesondere die Berechtigung paradoxer Verhältnisse – ermöglicht so eine Erweiterung des ästhetischen Diskurses, der als Teilbereich des Wissenschaftssystems logische Argumentationen vorzieht. Überdies verweist die literarische Form, in der seine Ästhetik verfasst ist, auf das Ineinandergreifen ästhetischer und literarischer Diskurse, die – wie in den vorangegangenen Kapiteln bereits gezeigt werden konnte – um 1900 zu romanimpliziten Poetiken und fragmentierten Ästhetiken führen. Allgemein beschränkt sich die Funktionalisierung der Mystik für die Kunst um die Jahrhundertwende nicht auf die spanische Literatur, sie findet im gesamteuropäischen Raum statt.
7.2.1 Die Relation von Schönheit und mystischer Erotik Als ästhetische Kategorie stellt Valle-Incl#n die Liebe über die Vernunft: zunächst sollen die Kunstschaffenden die Schönheit erleben, bevor sie sich mit ihr rational beschäftigen und die dem System der Ästhetik inhärenten Normen applizieren (vgl. LM 522). Aus schöpfungsästhetischer Perspektive ist es das Potential einer lebendigen Schönheit, die nicht nur die Liebe hervorruft, sondern ebenso den kreativen Akt anstößt. »VI. La belleza es la posibilidad que tienen todas las cosas para crear y ser amadas« (vgl. LM 542). Aufgrund der gestaltenden Kraft der Schönheit können Vergangenheit und Zukunft verbunden werden und bereits der kleinste Moment dieser ästhetischen Liebe birgt in sich die Ewigkeit (vgl. LM 543). Dieses so verstandene Konzept von Liebe wirkt über längere Passagen von der christlichen Mystik inspiriert, wenn nicht immer wieder erotisches Vokabular dazwischen gestreut erscheinen würde, das eher an eine Profanation als an Hymnen des Göttlichen denken lässt, wie beispielsweise in Valle-Incl#ns siebter Regel: »VII. Toda forma suprema de amor es una matriz cristalina y eterna. Ser bello es hacerse centro de amor y morar otra vez en el himen divino« (vgl. LM 544). Valle-Incl#n schließt hier die göttliche und in weiterer Folge die ästhetische Liebe der sehenden Dichter und Dichterinnen mit seiner Metapher des Kristalls kurz, wobei der äquivoke Begriff »matriz« in den Bedeutungen ›Gebärmutter‹ und ›Matrize‹ oder ›Gussform‹ kombiniert mit »himen divino« sowohl den schöpferischen Gedanken als auch die Erotik der ästhetischen Kategorie ins Gedächtnis ruft.
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An die platonische Ästhetik erinnernd, beschreibt der spanische Autor sodann drei Phasen der Liebe, die es zu durchlaufen gilt, bis ein Zugang zur ewigen Schönheit gewährt wird: Tres son los tr#nsitos por donde pasa el alma antes de ser iniciada en el misterio de la Eterna Belleza: Primer tr#nsito, amor doloroso. Segundo tr#nsito, amor gozoso. Tercer tr#nsito, amor con renunciamiento y quietud. Para el ext#tico no existe mudanza en las im#genes del mundo, porque en cualquiera de sus aspectos sabe amarlas con el mismo amor, remontado al acto eterno por el cual son creadas. (LM 522)
Sich widersprechende Leidenschaften wie Schmerz, Liebesgenuss und Entsagung führen in Analogie zu Platons Stufenleiter zur ästhetischen Ekstase, die ein Heraustreten aus der Zeit ermöglicht. Neben der christlichen Lehre des Leidens findet sich auch eine vom Genuss geprägte Liebeskonzeption, gefolgt von einer destruktiven und ekstatischen. Durch die oben erwähnte poetische Sprache, die aufgrund der Re-Kontextualisierung und Anreicherung von sprachlichen Elementen die Sinnlichkeit steigert, entsteht ein Text, der sich an der Grenze der Ausdrucksfülle bewegt sowie die Eigenschaften der Wollust erlangt (vgl. Pereiro Otero 2008, 12). Anhand seiner mystischen Erotik rollt Valle-Incl#n die Entwicklung der Kunst in einem historischen Rückblick auf. Der Autor spricht von drei ästhetischen Perioden, die unterschiedlichen Kreisen entsprechen sowie von je einer Rose symbolisiert werden: die erotische Rose der griechischen Tragödie, die klassische Rose der Renaissance und schließlich die enigmatische Rose der Nuance, die das aktuelle Kunstverständnis prägt. Dabei wird die Rose nicht als schmerzhaftes Symbol der Vergänglichkeit der Schönheit, sondern als ästhetisches Symbol verwendet (vgl. D&az-Plaja 1965, 113). »La primera rosa est8tica florece del concepto teoljgico del Logos Esperm#tico. Se abre en el cielo del Padre Creador y sella con el enigma del futuro la eterna voluntad del mundo« (LM 557). Auch in dieser Wortwahl kombiniert der spanische Autor religiöses und erotisches Vokabular. Was im oben zitierten Satz zusammengefasst wird, spezifiziert Valle-Incl#n davor etwas genauer, indem er anführt, dass die erotische Rose der griechischen Tragödie den ›ewigen Willen der Welt‹ repräsentiert – die Unsterblichkeit oder das Leben – und dadurch dem Hermetismus der platonischen Ideen entspricht. Der griechischen Kunst im Allgemeinen gelingt es aufgrund ihrer Erotik, die Zukunft zu affirmieren, da, laut Valle-Incl#n, die Liebe die Form aufrechterhält. Repräsentiert wird dieses Zusammenfallen von Erotik und Religiosität von den Göttern Venus und Apoll, die das Streben einer Vergöttlichung des menschlichen Fortpflanzungstriebes symbolisieren (vgl. LM 556–557). Nach der antiken Kunst beschreibt der spanische Autor die nächste Periode, die er in der klassischen Rose symbolisiert sieht. Die zweite Phase dieser his-
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torischen Betrachtung der Ästhetik charakterisiert ein geometrisches Kunstverständnis, Androgynie, das Wort und insbesondere das Verlangen, Gegensätze zu verbinden. Als repräsentative Künstler und Kunstformen nennt Ramjn del Valle-Incl#n Leonardo da Vinci, Diego de Vel#zquez oder den Flamboyantstil. »La rosa cl#sica de maravillosa geometr&a, enlace del momento que pasa y el que se anuncia, sella el enigma del presente y se abre en el cielo, todo amor, del Verbo« (LM 559). Während sich die erotische Rose der griechischen Antike an der Zukunft und dem künstlerischen Überleben orientierte, richtet sich die klassische Rose an der Gegenwart und dem Erlösungsgedanken aus, der sich in der Verbindung von Gegensätzen offenbart. Die dritte ästhetische Rose umfasst schließlich den ersten und letzten Augenblick, sie zeichnet sich durch eine mystische Verbindung aus, welche die Pole des Werdens und Vergehens im Bewusstsein zusammenführt. Grundlegend ist ein blitzartiger Bewusstseinsakt, der an eine Epiphanie erinnert und es ermöglicht, das Unwandelbare der Dinge, das außerhalb der Zeit zu finden ist, zu erkennen. Valle-Incl#n fasst seine Beschreibungen dieser mystisch-ekstatischen Kunst in folgender Aussage zusammen: »La tercera rosa est8tica, unidad de conciencia, sella el enigma del pasado y se abre en el cielo est#tico del Paracleto« (LM 560). Wie aus seinem kurzen historischen Abriss ersichtlich, verbindet Valle-Incl#n Komponenten der antiken, christlichen und zeitgenössischen Weltsicht und den damit verbundenen Kunstauffassungen und kommt somit dem Programm der Moderne nach, das Transitorische mit dem Unveränderlichen zu verbinden. Aus der Fülle unterschiedlicher ästhetischer und poetologischer Programme um die Jahrhundertwende bezieht sich der spanische Autor explizit auf die französischen Symbolisten, indem er wie jene einen veränderten Einsatz der menschlichen Sinne verlangt. Die Menschen benötigen in der modernen Zeit den scharfen Blick eines Adlers und das gute Gehör eines Maulwurfs, um die feinen Unterschiede der Zeit wahrnehmen zu können: »]guilas y topos son las bestias que simbolizan los modos del humano conocer. ]guilas de ojos soberanos, y topos auditores« (vgl. LM 548). Gerade den Maulwurf als Symbol eines guten Gehörs einzusetzen, verweist zum einen auf die – bereits für am Realismus orientierten Schreibenden – gängige Technik, mittels ironischer Brechung ästhetische Reflexionen vor einer Instrumentalisierung zu bewahren. Andererseits entspricht die Kombination eines für gewöhnlich als majestätisch wahrgenommenen Tieres wie des Adlers, mit einem außerhalb biologischer Forschung und Faszination unbedeutenden, da kaum direkt sichtbaren, unterirdisch lebenden Tieres wie des Maulwurfs Valle-Incl#ns ästhetischer Forderung nach ungewöhnlicher Begriffsverknüpfung und danach, sich der Musikalität der poetischen Sprache zu erinnern.
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7.2.2 Die Musikalität der Sprache An unterschiedlichen Stellen seiner Poetik unterstreicht Valle-Incl#n konsequenterweise die Grenzerfahrung, welche die Schreibenden im Prozess der künstlerischen Schöpfung durchlaufen. Der kreative Akt bewegt sich an der Schnittstelle zum Unsagbaren: »El poeta solamente tiene algo suyo que revelar a los otros cuando la palabra es impotente para le [sic!] expresijn de sus sensaciones: Tal aridez es el comienzo del estado de gracia« (LM 525). Diese aus der Mystik stammende und für gewöhnlich von Schriftstellern gefürchtete ›Trockenheit‹ verwandelt sich in einen erstrebenswerten Zustand, der die Suche nach einer neuen, poetischen Sprache eröffnet. Genauer noch behandelt der spanische Autor Sprache in einem Unterkapitel von La l#mpara maravillosa, das er mit »El milagro musical« betitelt (vgl. LM 533–548). Der Dichter sucht die Trockenheit auf, um sie jedoch nicht zu erleiden, sondern um unermüdlich darum zu kämpfen, sein Geheimnis sprachlich auszudrücken. Voraussetzung ist ein Abstieg des schreibenden Subjektes in seine verworrensten inneren Winkel. Dem Gedanken eines Initiationsrituals folgend, fasst Valle-Incl#n diese Überlegungen in einer ersten ästhetischen Regel zusammen, die um das bislang Ungesagte kreist: »I. Cada d&a de Dios hemos de abrir en nuestra alma una sima de emociones y de intuiciones, adonde jam#s haya llegado la voz humana, ni en sus ecos« (LM 535). Um dieses bislang noch nie Gesagte schließlich sprachlich fassen zu können, zitiert Valle-Incl#n den symbolistischen Dichter Paul Verlaine und dessen Ratschlag, sich in der Wortwahl immer ein wenig zu irren, um dem Außergewöhnlichen Ausdruck zu verleihen (vgl. LM 536). Denn Sprache als milagro musical verstanden, richtet sich nicht allein an der Bedeutung von Wörtern aus, vielmehr äußert sich die poetische Sprache in ihrer Sinnlichkeit, ihren klanglichen Komponenten: »La suprema belleza de las palabras solo se revela, perdido el significado con que nacen, en el goce de su esencia musical, cuando la voz humana, por la virtud del tono, vuelve a infundirles toda su ideolog&a« (LM 545). Eine Steigerung erfährt die geforderte Sinnlichkeit der Sprache noch, wenn das schreibende Subjekt Rhythmen und Melodien durch die Wiederholung von Worten und Lauten bewusst formt.
7.2.3 Zur Rolle der Sinne in den Sonatas Ein Wechselspiel von visuellen und auditiven Wirkungen literarischer Sprache sowie der Anspruch, ein zeitenthobenes Werk zu schreiben, kennzeichnen auch den Romanzyklus Sonatas von Valle-Incl#n, zumal die Frauenfiguren stark idealisiert sind und stets aus der rückblickenden Perspektive des Protagonisten als Erinnerungen geschildert werden. Auslöser der Liebe ist wie bei Stendhal
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eine überbordende Imagination. Durch die Intensivierung der Sinnlichkeit wird bei Valle-Incl#n mehr als bei Stendhal der ekstatische Charakter der Liebe hervorgehoben.8 In den Sonatas wird diese Intensivierung durch die überlagerten Evokationen von Geruchserlebnissen, Lautklängen und visuellen Eindrücken erreicht und so die Erinnerung wie auch die Lektüre belebt. Das folgende Zitat aus der Sommersonate unterstreicht die Kraft der Einbildung, die es ermöglicht, selbst etwas so Flüchtiges wie einen Duft in die Gegenwart zurückzuholen: »Y era tal el poder sugestivo del recuerdo, que en algunos momentos cre& respirar el perfume voluptuoso que al andar esparc&a su falda, con ondulaciones suaves« (SE 116).9 Die vergangenen Ereignisse kristallisieren in der Imagination und bleiben auf diese Weise in der Gegenwart zugänglich. Dabei ist sich der Protagonist Marqu8s de Bradom&n des Illusionscharakters seiner Erinnerungen und auch seiner Liebe bewusst. Im darauffolgenden Satz der eben zitierten Sommersonate bezeichnet der Graf sein Leben als einen rastlos fiebrigen Liebestraum (vgl. SE 116). Die Einbildung überbietet in den Sonatas nicht nur die Realität, die Leidenschaften werden zur Ekstase gesteigert und bewegen sich in den Bereichen des Wahns, der pathologische Merkmale trägt. Diese kristallinen Leidenschaften, die von einer Abweichung vom Normalen gezeichnet sind, charakterisieren den Protagonisten der Romane ebenso wie die Poetik Valle-Incl#ns in La L#mpara maravillosa. Ejercicios espirituales von 1916. Neben der Reaktivierung von Sinneseindrücken verdoppelt die Anlage des Werkes als fiktive Memoiren den Protagonisten in ein erlebendes Ich und in ein erzählendes Ich. Die dabei angewandte ironische Distanzierung des Erzählers verhindert oftmals eine Identifikation mit dem Protagonisten und ein Nachempfinden seiner vorwiegend amourösen Abenteuer. Konsequenterweise erschöpfen sich die kristallinen Leidenschaften auch nicht in einer Beschreibung. Als Strukturprinzip der Sonatas durchziehen sie den gesamten Romanzyklus, indem die Überschreitung auf unterschiedlichsten Ebenen evident wird, wie beispielsweise in einer Anti-Sentimentalität, die statt einer mitleidenden Iden8 Aufgrund der unterschiedlichen kulturellen und literarhistorischen Kontextualisierung unterscheidet die beiden Autoren voneinander die Tatsache, dass Stendhal äußerst großen Wert darauf legt, dass sein Werk De l’Amour gerade wegen der Thematik als wissenschaftliche Studie und nicht als Roman wahrgenommen wird, während Valle-Incl#n seine poetologische Schrift mit einem märchenhaft phantastischen Titel La l#mpara maravillosa bestückt und dezidiert gegen eine wissenschaftliche Sprache Position bezieht. 9 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle SE auf Ramjn del Valle-Incl#n (2009): Sonata de Est&o. Memorias del Marqu8s de Bradom&n, in: ders.: Sonata de Primavera. Sonata de Est&o. Memorias del Marqu8s de Bradom&n, hg. u. eingel. von Pere Gimferrer, Madrid: Espasa Calpe, 101–190. Eine ironische Note erhält diese, in der Forschung vielfach als kitschig bezeichnete Passage, wenn sie als Parodie eines romantischen Textzitates gelesen wird. Juan Amparo de Bolufer verweist auf das Motiv des erinnerten Duftes als Essenz der geliebten Frau, das keine Erfindung Valle-Incl#ns ist, sondern einem Zitat aus Villiers de l’Isle-Adams Virginie et Paul entspricht (vgl. Bolufer 2000, 34–35).
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tifikation mit den Figuren die Lektürelust forciert, die sich aus der Evokation unterschiedlichster sinnlicher Momente ergibt. Auf der Figurenebene ermöglicht es die Erinnerung, eine gesteigerte Sinnlichkeit zum Ausdruck zu bringen, da neben visuellen auch auditive oder olfaktorische Eindrücke gleichberechtigt im Gedächtnis des Protagonisten fortdauern. Die daraus resultierende Intensivierung verleiht der folgenden in der Sommersonate beschriebenen ersten Begegnung mit NiÇa Chole in einer Kajüte etwas Übernatürliches. Die junge Frau wird nicht einfach in ihrer klar ersichtlichen Positivität gesehen, vielmehr tritt sie im Zwielicht in Erscheinung: Recuerdo perfectamente que estaba desierta y un poco oscura. Las luces del amanecer cabrilleaban en los cristales. Pasa un momento. Oigo voces y gorjeos: Un rayo de sol m#s juguetjn, m#s vivo, m#s alegre, ilumina la c#mara, y en el fondo de los espejos se refleja la imagen de la NiÇa Chole. (SE 117)
Im Wechsel der grammatischen Zeit von Imperfekt zu Präsens wird die Lebendigkeit der Erinnerung verdeutlicht. Die syntaktische Struktur verlangt nach Pausen und lädt zum Genuss der evozierten Szene mit ihren sich ändernden Lichteffekten – die in einem Trikolon vom Verspielten ins Vergnügte gesteigert werden – und dem Vogelgezwitscher ein. Mischen sich hier visuelle und auditive Erinnerungen, so regt Valle-Incl#n in der Frühlingssonate vor allem visuelle Vergegenwärtigung an. Auf der Handlungsebene werden neue Figuren häufig in einem ikonischen Vergleich eingeführt (vgl. Schulz-Buschhaus 1988, 91). Die Protagonistin Maria Rosario und ihre Schwestern werden als »un grupo casto y primaveral« vorgestellt. Unweigerlich treten Primavera und die drei Grazien Sandro Botticellis vor das innere Auge der Lesenden, spätestens dann, wenn der Name des Renaissancemalers fällt. Die Bilder selbst werden in den Romanen nicht abgedruckt, damit erfolgt die Repräsentation nur in der Einbildung der Lesenden und unterstreicht die Wirkmacht der Imagination bzw. Erinnerung. Neben dieser Fülle an Evokationen visueller Wahrnehmungen wird die Musikalität der Sprache auf syntaktischer, semantischer und phonologischer Ebene umgesetzt, wie Mar&a del Pilar Pueyo Casaus in Valle-Incl#n a la luz del decadentismo europeo y del modernismo hisp#nico (2009) beschreibt. Lexikalisch evozieren sprechende exotische oder ungebräuchliche Namen die Musikalität, phonologisch erinnern Reim und Rhythmus an die Musik. Immer wieder gestaltet Valle-Incl#n Passagen mit mehrmaligen Wiederholungen nach dem Muster eines Ritornells. In der Sonata de Primavera treten die fünf Schwestern beispielsweise wie ein Refrain in der Ferne auf (vgl. Pueyo Casaus 2009, 55). Die von Ulrich Schulz-Buschhaus für den spanischen Autor als kennzeichnend beschriebene dreifache Adjektivierung kann als musikalischer Akkord gedeutet werden (vgl. Schulz-Buschhaus 1988, 95). Die ›Lust am Text‹ erwächst auch noch im 20. Jahrhundert genau aus diesen Brüchen (vgl. Barthes 1994, 1497): aus
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einer poetisch melodischen Sprache, deren Gedanke schwankt und abzubrechen droht oder aus einem evozierten Bild, das sich gleichsam zwischen die Zeilen schiebt.10 Kristalline Leidenschaften, so lässt sich festhalten, setzen die Distanz zwischen den Liebenden voraus, nur in der Abwesenheit der geliebten Menschen gelingt es, den Kristallisationsprozess zu fördern. Als Repräsentation von Abwesendem kann die Kristallisation ferner für die Ästhetik fruchtbar gemacht werden. Da erlebte Gefühle und die geliebten Menschen über die sprachliche Repräsentation in den Romanen vergegenwärtigt werden, veranschaulicht die Verlebendigung aus der Distanz den literarischen Schaffensvorgang. Gerade die Abwesenheit der geliebten Person lenkt die Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Aktivität, die rege Tätigkeit der Einbildung, die durch metaphorischen Sprachgebrauch noch gefördert wird. Wenngleich der durchscheinende Charakter von Kristallen oder Glas den medialen Zug der Sprache betont, tritt auch die Materialität der Sprache in den Vordergrund. So akzentuiert Valle-Incl#n das musikalische und bildspendende Element der Sprache, die sprachliche Erscheinung selbst soll Faszination ausüben, fern jeglicher Ansprüche auf Tiefenbedeutungen. »¡Viva la bagatela!« ruft der Protagonist der Memorias amables gegen Ende der Wintersonate aus, ein Motto, das sich auch in der Poetik des spanischen Dichters wiederfindet, indem der Arbeit am Oberflächlichen, am Sichtbaren und Hörbaren der Dichtkunst größte Bedeutung zukommt. Durch diese Hinwendung zur Oberfläche entspricht Liebe nicht länger der semantischen Ebene des kulturellen Codes, vielmehr werden Teilbereiche der kulturell wirksamen Formen, wie etwa eine intensivierte Wahrnehmung der Umwelt oder die emotionale Verwirrung der Anfangsphase, vorgeführt.
7.2.4 Intensivierungstechniken als Strukturelement des Romans Die in den Sonatas präsentierte Wirklichkeit ist eine durch und durch literarisch-künstlerische (D&az-Plaja 1965, 204), in der die Empathie mit dem Protagonisten nicht länger im Vordergrund steht. Diese Verlagerung des Schwerpunktes von einer wahrscheinlichen oder psychologisch-realistischen Figu10 Diese Ästhetik der kontemplativen Unterbrechung zeichnet die Schreibweisen in der europäischen künstlerischen Moderne vielfach aus. Neben Valle-Incl#ns Sonatas weist auch Georges Rodenbachs Roman Bruges-la–Morte diese Struktur auf (vgl. Berg 1986, 130). Weitere Ähnlichkeiten zwischen den beiden Autoren zeigen sich auf der Ebene der Motive, wie beispielsweise der in der Moderne verbreitete Haarfetisch, aber auch auf formaler Ebene. Neben der methaphernreichen Sprache stehen beide Autoren in der Nachfolge Charles Baudelaires, der eine lyrische Prosa fordert, die den Bewegungen des Traums Ausdruck verleihen könnte. Zu Rodenbach und Baudelaire vgl. ebd., 129.
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rencharakterisierung hin zum Werk als Gesamtkunstwerk ermöglicht es, die von Ekstase und Mystik angereicherte Leidenschaftskonzeption auf unterschiedlichen Ebenen des Textes zu evozieren: auf der sprachlichen, auf der Ebene der Figurenkonzeption und schließlich auch durch Thema und Motive. Die Gefühllosigkeit ist dabei der notwendige Konterpart der Leidenschaften, um das Wechselbad der Gefühle eines verliebten Menschen vor Augen zu führen. Die Übertretung oder Ekstase kann insofern als literarisches Leitmotiv des Romanzyklus betrachtet werden, als die erotischen Abenteuer des Protagonisten in unterschiedlichen Variationen, vergleichbar dem Aufbau der musikalischen Gattung der Sonate, präsentiert werden.11 Auch der Aufbau des Romanzyklus entspricht einer Übertretung im geringen Ausmaß: die nach den Jahreszeiten benannten Einzelromane folgen einem verkehrten Jahresverlauf, indem die Erzählung mit der Sonata de OtoÇo (1902) beginnt, gefolgt von Sonata de Est&o (1903), Sonata de Primavera (1904) und schließlich mit der Sonata de Invierno (1905) endet. Neben der werkimmanenten Funktion manifestiert sich die Übertretung in der unterschiedlichen literarhistorischen Kategorisierung des Zyklus: Während der Großteil der Forschung die Romane als Schlüsselwerke des spanischen Modernismo bezeichnet – wenngleich einmal dem Symbolismus, ein anderes Mal der Dekadenzliteratur oder der art nouveau zugeschrieben –, trägt das Werk auch Züge des postmodernismo, wie Pere Juan i Tous in seinem Artikel »La sensualidad pervertida del divino marqu8s. Necrofilia decadentista en las Sonatas de Valle-Incl#n« (1988) argumentiert (vgl. Tous 1988, 102 u. 104–105), sowie Bezugspunkte zum naturalistischen Schreiben, insbesondere die impassibilit8 des Erzählers. Von den Zeitgenossen wurden die Sonatas aufgrund ihres innovativen, anti-realistischen Charakters, ihres Stils, der neuen literarischen Sprache und der formalen Schönheit des Werkes gelobt (vgl. Bolufer 2000, 24). Zudem wurden sie als eine Art neue Liebesdoktrin gelesen, die über das kulturelle Bedürfnis einer Neudefinition von Liebe Aufschluss gibt, wie Juan Amparo de Bolufer mit Bezug auf Gonz#lez Blancos Kritik von 1905 feststellt (vgl. ebd., 24). Valle-Incl#ns zeitenthobene Leidenschaften, die eingangs als kristallin bezeichnet wurden, kennzeichnen auch die Passionen des Protagonisten der So11 Dar&o Villanueva führt als Hauptthemen der Sonaten die bereits von Amado Alonso festgestellten Themen der erotisch-galanten Liebe, des Todes und der Religion an. Diesen drei in der Forschung bekannten Themen fügt Villanueva ein weiteres für die D8cadence-Literatur typisches hinzu, das sich im Satanismus, Sakrileg oder in der Übertretung äußert. (Vgl. Villanueva 2005, 65) Ausgehend von einer ekstatisch-mystischen Liebeskonzeption greife ich Villanuevas Vorschlag der Übertretung auf. Ich möchte mich jedoch nicht auf die thematisierte Überschreitung der Grenzen von religiösen und profanen Diskursen beschränken, sondern die Transgression als poetologisches Strukturelement erforschen.
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natas, den Marqu8s de Bradom&n. Der spanische Autor präsentiert in seinem Romanzyklus eine Form von Erotismus, unter der die Schriftsteller des Modernismus das Streben nach Transzendenz in der Ekstase verstanden – nicht nur in sinnlicher Hinsicht, sondern auch in spiritueller und intellektueller. Letztes Ziel der Ekstase ist die Auslöschung des Ich (vgl. Pueyo Casaus 2009, 90). Diese ekstatische Leidenschaft manifestiert sich in den Sonatas durch verschiedene Formen der Grenzüberschreitung, welche Stendhals Metapher der Kristallisation für romantische Liebe noch übertreffen: Denn in Bradom&ns Passionen fließen religiöse und erotische Leidenschaften, eine geheime Begeisterung für Homoerotik, Sadomasochismus, die Faszination an inzestuösen Verbindungen oder die Nekrophilie zusammen. Wie für modernistische Werke spezifisch, fehlt jegliche moralische Anklage. Im Zentrum steht die Übertretung an sich, die auch in der Figurenkonzeption des Marquis deutlich wird: Bradom&n ist ein Mosaik aus Casanova, Marquis de Sade, Protagonisten D’Annunzios und Barbey D’Aurevillys,12 allesamt Figuren, die unter den Modernisten und Symbolisten aufgrund ihrer Übertretungen gefeiert wurden (vgl. Risco 1977, 26). Auch die für die kastilische modernistische Prosa typische ironische Neuschreibung literarischer Topoi zeichnet Valle-Incl#ns Romanzyklus aus. In den Sonatas werden nicht nur beliebte Themen und Diskurse der Jahrhundertwende versammelt wie sexuelle Perversionen, das Sakrileg, die Vermengung von Mystischem und Profanem, der Satanismus, das Makabre, die Lust an der Agonie, der Ästhetizismus, die Suche nach Analogie, die Bevorzugung des Außergewöhnlichen, Archetypischen, Exotischen und Mysteriösen (vgl. Schiavo 1988, 10). Es sind genau diese Themen der Kunst, die der spanische Autor im selben Werk auch parodiert, erweitert durch Themen der Intellektuellen wie Arthur Schopenhauers Pessimismus, die Amoralität Friedrich Nietzsches, die Verherrlichung der Barbarei, das Lob der Lüge, die spanische Dekadenz oder die Faszination für Richard Wagners Musik (vgl. ebd.).13
12 Mit Jules Barbey D’Aurevillys Erzählungen verbindet Valle-Incl#n die thematische Engführung von Profanem und Sakralem sowie das Motiv der Transgression, das eng an das Thema des Todes gebunden ist (vgl. Barbey D’Aurevilly 1973). Da sich das Heilige häufig in Verbotenem äußert, zielen modernistische Autoren darauf ab, Verbote zu brechen, um sich dem Heiligen durch blasphemische Bibelzitate oder Entweihungen anzunähern. Göttliches und Teuflisches werden dabei als gleich übermächtig angesehen (vgl. Noir 2002, 131–132). Die Faszinationskraft des Übernatürlichen wurde ebenso in Clar&ns La Regenta herangezogen, um die Attraktivität von Don ]lvaro und Don Ferm&n zu begründen. Im Rückgriff auf dieses Motiv, das insbesondere das modernistische Schreiben charakterisiert, nähert sich Leopoldo Alas in diesem Moment dem Modernismo an. 13 Valle-Incl#ns Verformung unterschiedlicher Prätexte und deren Re-Kontextualisierung kann als Streben nach dem idealen Werk verstanden werden, das aus unterschiedlichen Fragmenten bestehend die Gesamtheit aller Werke suggeriert. Näher dazu vgl. Baulj DomHnech 2011, 2.
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7.2.5 Zum Prinzip der Übertretung Die Werke der Moderne, so Roland Barthes, versuchen einen Riss zu schaffen, einen Ort des Sich-Verlierens. Das Skandalöse an der Lektüre-Lust ist dann auch nicht ihre Unmoral, sondern ihr a-topischer Charakter (Barthes 1994, 1505), der aus dem Hin-und-Her-Pendeln der Lust zwischen Faszination und Ablehnung resultiert. Damit verlassen Liebesfigurationen den rein beschreibenden Bereich und werden als Strukturprinzip von Erzählungen funktionalisiert. Ein Anspruch auf Authentifizierbarkeit und Objektivierbarkeit künstlerischer Weltdarstellung gerät trotz der Betonung von Imagination und jeweiliger individueller Beteiligung der Rezipienten dennoch nicht völlig aus dem Blickfeld, da die Kunstschaffenden im Hegel’schen Sinne danach trachten, dem Wesen der Dinge Ausdruck zu verleihen. Dennoch erfährt die Frage nach einer historischen Wahrheit nicht vorrangige Beachtung, vielmehr steht die sinnliche Nachvollziehbarkeit der Darstellung im Zentrum der künstlerischen Produktion. Da diese eine aktive Beteiligung der Rezipienten verlangt, betont Valle-Incl#n an unterschiedlichen Stellen seines Werkes La l#mpara maravillosa, dass nur vermittelt werden kann, was im Keim in den Rezipienten bereits angelegt ist. Ohne Bewusstsein über mögliche Formen des Liebesdiskurses können diese auch nicht nachvollzogen und im Akt der Lektüre erlebt werden. Die eigene Grenzüberschreitung kann als zentrales Motiv der Sonatas gelesen werden. Wie in der Musik präsentieren die Sonaten dieses Thema in unterschiedlichen Variationen, bis es am Ende zu einer Rekapitulation in der Wintersonate kommt, wie Dar&o Villanueva in Valle-Incl#n, novelista del modernismo (2005) anmerkt (vgl. Villanueva 2005, 65–66). Der Protagonist Bradom&n selbst symbolisiert einen Aspekt der Transgression, da er zwar als bewundernswerter Don Juan vorgestellt wird, zugleich stereotype Vorstellungen dahingehend bricht, als er im Folgesatz als hässlich, bigott und sentimental näher charakterisiert wird (vgl. SP 22).14 Schon diese erste Charakterisierung des Protagonisten zu Beginn der Herbstsonate erfolgt antithetisch und steigert das emotionale Erleben der Lesenden.15 Ebenso zeigt die Autocharakterisierung des Marquis in der Sonata de Est&o seine ambigue Konzeption, wenn er sein Lebensmotto als pervertiertes Gebot der Nächstenliebe formuliert: »Despreciar a los dem#s y no amarse a s& mismo« (SE 176). Demgegenüber steht der Wunsch 14 Ursprünglich befand sich diese Figurencharakterisierung zu Beginn der Herbstsonate, in neueren Ausgaben leitet sie jedoch die Frühlingssonate ein, vermutlich aufgrund der Annahme der Herausgeber oder Herausgeberinnen, dass die Lesenden die Sonaten dem Jahresverlauf folgend lesen würden. 15 Die Einheit von Gegensätzen in Paradoxa und Oxymora zählt zu den gängigen Techniken der pathetischen Form und wird neben anderen rhetorischen Mitteln herangezogen, um Emotionen auszulösen (vgl. Dachselt 2003, 85).
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der Sonata de Primavera, doch / la Werther lieben zu können, mit großen, tragischen Gefühlen. Der Protagonist der Sonaten, diese bewundernswerteste aller Don-Juan-Figuren, ist daher nicht nur ein kaltblütiger Verführer, sondern auch zutiefst romantisch. Seine Sehnsucht gipfelt schließlich in den samtenen Augen Maximinas, seiner Tochter. Als Leitthema durchziehen ihre »ojos de terciopelo« die gesamte Wintersonate. Valle-Incl#n variiert den Topos der Augensprache dahingehend, dass er über den Blick in die samtenen Augen das Thema des Sehens selbst thematisiert, denn über den Blick in die ihm eigenen, sehr ähnlichen Augen gelingt es symbolisch, den Horizont des eigenen Gesichtsfeldes zu übertreten. Indem er im Sehen seiner Tochter sein eigenes Sehen erkennt, überschreitet er es. Der blinde Fleck des Auges, die Blindheit des eigenen Sehens – sein Tod, weil das Auge dort nicht sieht, nie aktiv sein kann – wird, wenn auch nur für kurze Zeit, aufgehoben. Hierin liegt die große Faszination an diesen samtenen Augen, die aufgrund der Ähnlichkeit zu Bradom&ns eigenen Augen in einer anderen Lesart auf seine narzisstisch begründete Liebe anspielen. Ähnlich wie der Blick durch einen Kristall das Auge bricht und das Sehen vervielfacht, fungiert die poetische Sprache. Die einzelnen Wörter unterhalten eine starke Beziehung zum Tod und zu den Toten, die sie millionenfach vor ihnen verwendet hatten: »Son las palabras espejos m#gicos donde se evocan todas las im#genes del mundo. Matrices cristalinas, en ellas se aprisiona el recuerdo de lo que otros vieron y nosotros ya no podemos ver, por nuestra limitacijn mortal, […]« (LM 546). Wörter sind magische Spiegel, kristalline Matrizen, welche die Grenze der Zeit und der Sterblichkeit ständig erinnern und verschieben. Die Passionen in Valle-Incl#ns Sonatas und seiner Poetik gründen auf einer ekstatischen Liebe, auf kristallinen Leidenschaften, in deren Zentrum sich die Übertretung befindet. Dieses sich aus der Ekstase ergebende Wechselspiel von Passion und Gefühllosigkeit führt schließlich zu jener Intensivierung, die ein modernes Liebeskonzept bewirkt, das erfolgreich das direkte Erleben im Augenblick gegen ein langweiliges Wiederholen vorhandener Diskurse oder gegen ein auslöschendes Vergessen setzt. Im Kontext der Jahrhundertwende fungiert Ramjn del Valle-Incl#ns Romanzyklus nicht länger als Exemplar, den fiktionalen Status des Romans oder das Wechselverhältnis von Realität und Fiktion, von Liebe und Diskurs über Liebe im Roman vor Augen zu führen, vielmehr wird das Ausmaß und die Wirkung der Interdependenz von Fiktion und Realität nachvollziehbar gestaltet. Die unterschiedlichen Diskurse über Liebe erheben weder einen Authentizitäts- noch einen Objektivierungsanspruch, vielmehr leiten sie zum direkten Erleben an, indem sie ihren Inhalt wörtlich verkörpern. Dabei wird die Rolle der Rezipienten aufgewertet, da das gesteigerte Erleben Kunstschaffende und Lesende gleichermaßen ergreift. Dieser Literaturauffassung liegen ein konstruktiv-performatives und ein virtuell-experimentelles
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Realitätskonzept zugrunde, welche die Funktion der Literatur nicht nur in einem Bilden, sondern auch in einem Ereignen, welches das Erleben der Rezipienten affiziert, verorten. Dieselbe Konstellation von Modell und Modus ist auch Miguel de Unamunos Literaturverständnis vorgelagert.
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Lebendige Liebe bei Miguel de Unamuno
Miguel de Unamuno setzt die realistische/naturalistische Tradition fort, seine Poetik in den Prologen zu formulieren. Darüber hinaus hat er mit Cjmo se hace una novela (1927) ein Werk hinterlassen, das seine Schreibweise kondensiert. Die Schrift lässt sich kaum eindeutig kategorisieren, da sie aus einem existentialistischen Romanfragment, literarischen Referenzen, der Schilderung historischer Ereignisse, literaturtheoretischer Betrachtungen und autobiographischer Details zusammengesetzt ist. Zudem gibt der Inhalt des Textes weniger Aufschluss darüber, wie ein Roman gemacht wird, als darüber, wie ein Roman gelesen und durch die Lektüre belebt werden kann. Die für den Modernismo typische Verflechtung von Leben und Kunst, Schreiben und Lesen erfährt hier insofern Ausdruck, als die Lesenden selbst zu Kunstschaffenden stilisiert werden. Gemeinsam mit dem schreibenden Subjekt wird der Roman von den Lesenden geschaffen. Das Ziel der Literatur ist, wie erwähnt, nicht nur ein Bilden im Sinne eines performativen Realitätsmodus, sondern auch ein Ereignen des experimentellen Modus, der sich im Erleben der Lesenden manifestiert. Dazu benötigt es allerdings Lesende, die ihre Lektüre nicht als reinen Zeitvertreib wahrnehmen, wie Unamuno in einem direkten Appell an sein Publikum erläutert: El hombre de dentro, el intra-hombre –y 8ste es m#s divino que el tras-hombre o sobrehombre nietzscheniano[sic!]– cuando se hace lector h#cese por lo mismo autor, o sea actor ; cuando lee una novela se hace novelista; cuando lee historia, historiador. Y todo lector que sea hombre de dentro, humano, es, lector, autor de lo que lee y est# leyendo. Esto que ahora lees aqu&, lector, te lo est#s diciendo tffl a ti mismo y es tan tuyo como m&o. Y si no es as& es que ni lo lees. (UOCVIII 761)
Eingebettet in eine Poetik der Reflexion und Diskursivität (vgl. Navajas 1992, 66) argumentiert Unamuno das weitgehende Fehlen einer Romanhandlung als sekundär, die Lesenden sollten sich nicht fragen, wie die Figuren enden werden, sondern wie sie selbst enden werden (vgl. UOCVIII 750). Die aus der Romantik stammenden Topoi der Lesbarkeit der Welt oder des Lebensbuches – die dazu führten, die Welt als Roman wahrzunehmen (vgl. Illmer 2007, 248) – werden transformiert wiederbelebt. Die Romanlektüre soll im besten Falle eine Veränderung des realen Lebens herbeiführen, schreibt Unamuno in Como se hace una
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novela. Vergleichbar der Eucharistie stärkt die Lektüre in Unamunos Weltsicht das Leben: »Cuando un libro es cosa viva hay que com8rselo, y el que se lo come, si a su vez es viviente, si est# de veras vivo, revive con esa comida« (UOCVIII 720). Der Lektüreakt wird zur Inkorporation menschlicher Lebensentwürfe erhoben. Weit entfernt davon, lediglich der Unterhaltung zu dienen, beeinflusst die Lektüre die Existenz der Lesenden (vgl. La Rubia Prado 1999, 38). Unamuno reduziert die Funktion seiner Romane jedoch nicht allein auf diesen lebenswissenschaftlichen Aspekt von Literatur. An unterschiedlichen Stellen seiner Prologe wie beispielsweise in Amor y pedagog&a (1902) greift Unamuno das Thema der burla auf, die Frage, wann der Autor das Geschriebene ernst meint und wann er es ironisiert (vgl. UOCII 306).16 Der Roman, der als erster seiner nivolas gilt, führt vor Augen, wie der Protagonist Apolodoro zu lieben beginnt, um Literatur zu schaffen und in diesem selbst geschaffenen Theater sich kontempliert und seine Liebe analysiert (vgl. UOCII 312). Der Roman zeigt nicht nur, dass Miguel de Unamuno Liebe auch ästhetisch denkt und wie seine Zeitgenossen zur Grundlage des literarischen Schöpfungsprozesses erhebt. Die literarische Schöpfung schließt letztlich auch die Fiktionalisierung der Lesenden mit ein, wie das Ende des Prologs verdeutlicht: Par8monos. Me has venido, lector, acompaÇando en este mutuo monodi#logo; me lo has estado inspirando, soplando, sin tffl saberlo, me has estado haciendo mientras yo lo estaba haciendo y te estaba haciendo a ti como lector. Gracias, pues, gracias de corazjn, por ello. Y como es tu obra, se te ofrece tuyo. (UOCII 316)
Bereits der Prolog illustriert, dass mit Amor y pedagog&a (1902) eine neue Gattungsform das Publikum erreicht, der philosophisch-intellektuelle Roman. Die durch diesen Roman angestoßene literarische Wende hält sich in Spanien bis in die 1930er Jahre. Dabei wird die Schilderung des Überlebenskampfes der Protagonisten durch die Repräsentation von reflektierenden und über ihre Leben sprechenden Figuren abgelöst (vgl. Johnson 2001, 93). Das neue Attribut des Romans ist seine philosophische Färbung. Denn Unamuno fordert die Lesenden dazu auf, im Roman das Leben zu reflektieren und zugleich zu leben (vgl. Diez 1976, 97). Ein Vorhaben, dessen Prämisse in der Vermengung von Realität und Fiktion artikuliert wird sowie an Emilia Pardo Baz#ns Schreibweise erinnert, die die kantische Kritik mit gelebtem Mystizismus vereint. Die Fiktionalisierung der Welt zieht in Miguel de Unamunos meistgelesenem Roman Niebla (1914) noch weitere Kreise, da der Prolog von einer Romanfigur, V&ctor Goti, geschrieben ist. Diesem ist ein Post-Prjlogo von M. de U. angefügt. 16 Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle UOCII auf Miguel de Unamuno (1967): Obras completas II. Novelas, Madrid: Escelicer.
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Beide sind, wie vielfach bemerkt, Teil des Romans. Der eigentliche Prolog von 1935 ist mit Prjlogo a la tercera edicijn, o sea, historia de »Niebla« betitelt. Diese Verflechtung richtet eine weitere Perspektive auf den literarischen Schaffensakt. Analog zu Ramjn del Valle-Incl#ns esperpento gestaltet Unamuno seine nivola als Roman, der die Gattungsgrenzen überschreitet.17 Diese Übertretung, die sich vor dem Hintergrund des realistischen Romans literaturkritischen Klassifizierungsvorgehen entgegensetzt, durchzieht das gesamte Vorwort von V&ctor Goti. Nach einer Anspielung auf Unamunos Aufsatz zu Pornographie, wird die Koevolution von Erotischem und Metaphysischem in der spanischen Kultur aufgerollt.18 Während die Religiosität mit der Kampf- und Kriegskunst gleichgestellt wird, verbindet Goti das metaphysische Interesse mit Erotik und Wollust, die Mystik sei schließlich eine Mischung aus beiden: Es la religiosidad lo que le hace al hombre ser belicoso o combativo, o bien es la combatividad la que le hace religioso, y por otro lado es el instinto metaf&sico, la curiosidad de saber lo que no nos importa, el pecado original, en fin, lo que le hace sensual al hombre, o bien es la sensualidad la que, como a Eva, le despierta el instinto metaf&sico, el ansia de conocer la ciencia del bien y del mal. Y luego hay la m&stica, una metaf&sica de la religijn que nace de la sensualidad de la combatividad. (UOCII 547)
Gegen Ende des Prologs wird jedoch selbst diese Ansicht relativiert, indem in einer Referenz auf den philosophischen Protagonisten von Amor y Pedagog&a, Fulgencio Entrambosmares del Aquiljn, 16 weitere binäre Kombinationsmöglichkeiten angeführt werden, von der »religijn erjtica« über den »erotismo 17 Im Prolog zu Tres novelas ejemplares y un prjlogo (1920) verwirft Unamuno den Begriff der nivola als Erfindung für seine Kritiker, um eine Zuordnung des Romans zu verhindern (vgl. UOCII 971). 18 Während Unamuno selbst die spirituelle Liebe als körperlich denkt, scheinen die folgenden drei zwischen April 1907 und Februar 1908 in der argentinischen Zeitung La Nacijn publizierten Artikel den kulturellen Wandel, mehr Nacktheit in der Öffentlichkeit zuzulassen, abzulehnen. Ironisch zerlegt Unamuno in »Sobre la lujuria« (1907) das Hauptargument gegen die kritisierte Wollust, es zeuge von einer verminderten Spiritualität oder größeren Dummheit, indem er einen der großen Weltmythen Don Juan Tenorio als Beispiel heranzieht. In »Sobre la pornograf&a« (1907) führt er nicht weniger ironisch die weite Verbreitung der Pornographie auf fehlende Ideale, den Mangel spiritueller Beunruhigungen oder religiöser Betätigungen und schließlich auf den Tod des Romantizismus zurück, der von einer Lebensfreude, einem neuen Vitalismus verdrängt wurde. Schließlich kritisiert Unamuno in seinem Artikel »Sobre Don Juan Tenorio« (1908) die zahlreichen Imitatoren Don Juans, die im Alter weniger unsterblich als höchst bürgerlich werden. »No son, como Werther, v&ctimas de los anhelos de su corazjn, sino que lo son de la vaciedad de su inteligencia« (UOCIII 330). Der Beitrag endet mit der Begegnung zwischen dem noblen Caballero Don Quijote und dem ›verruchten‹ Don Juan, der versucht, die ehrenwerte Nichte des Ritters zu verführen. Doch Don Quijote weigert sich, den Ehrlosen zu töten: »Don Juan vive y se agita mientras Don Quijote duerme y sueÇa, y de aqu& muchas de nuestras desgracias« (UOCIII 331). Hier und in weiterer Folge verweist die Sigle UOCIII auf Miguel de Unamuno (1968): Obras completas III. Nuevos ensayos, Madrid: Escelicer.
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metaf&sico« bis hin zu mit sich selbst identen Kombinationen wie der »metaf&sica metaf&sica« etc. (vgl. UOCII 548). Während V&ctor Goti die sprachspielerische Kombinatorik verkörpert, präsentiert sich Unamuno im Post-Prjlogo als ernstzunehmende, sozial-ethisch engagierte Autorfigur. Schon alleine die Tatsache, dass dem fiktiven Prologverfasser Goti jener von Unamuno unterzeichnete folgt, fungiert als distanzierendes Moment. Dieses Oszillieren zwischen Seriosität und Spott des Autors fasst Unamuno insbesondere im Prolog zur dritten Ausgabe zusammen, in dem er explizit die Tragikomik seines Romans für die zahlreichen Übersetzungen verantwortlich sieht, da sich darin das zutiefst Menschliche offenbart (vgl. UOCII 553). Unamuno weist in diesem konventionellen Prolog, den er mit »Historia de Niebla« (1935) betitelt, auf die unterschiedlichen Bezeichnungen seines Romans hin, der bereits zu Lebzeiten des Autors als »phantastischer Roman« oder »novela tragicjmica« bezeichnet wurde. Die Forschung sieht in dieser verschiedenen Etikettierung als »melodrama existencial«, »novela filosjfica«, »novela metaf&sica«, »existencialista«, »anti-novela«, »novela experimental« etc. Unamunos Gattungsinnovation, die vor dem Hintergrund der Romanform des 19. Jahrhunderts einem »avantgardistischen Formsturz« gleicht (vgl. Lope 2000, 57). Verhältnismäßig spät bezieht sich Miguel der Unamuno auf den Realismus in seinen Prologen. Erst im Prolog zu Tres novelas ejemplares y un prjlogo (1920) fragt er nach der Wirklichkeit des Realismus, um sogleich polemisch den schöpferischen Charakter des realistischen Schreibens zu negieren: »Verdad es que el llamado realismo, cosa puramente externa, aparencial, cortical y anecdjtica, se refiere al arte literario y no al po8tico o creativo.« (UOCII 972) Das eigentlich Reale zeigt sich für Unamuno in der schöpferischen Kraft, nicht darin zu präsentieren, wie der Mensch ist, wie er glaubt zu sein oder wie ihn die anderen wahrnehmen. Vielmehr offenbart sich das Reale im Streben des Menschen, jemand zu sein, und nur der Erfolg oder das Scheitern dieses Strebens ist von Belang (vgl. UOCII 973). Im querer – im Wollen und Lieben – liegt die gestaltende Kraft begründet. Nur das Nicht-Wollen setzt der Kreativität ein Ende (vgl. UOCII 973). Dies überträgt der spanische Autor auch auf den Lektüreprozess, der neben dem Lesegenuss eine Neuschöpfung der Romanhandlung und des lesenden Subjektes beinhaltet: »Porque sabido es que el que goza de una obra de arte es porque la crea en s&, la re-crea y se recrea con ella« (vgl. UOCII 974). Ausgehend von der schöpferischen Funktion der Literatur verbindet Unamuno Realität und Fiktion hin zu einer mystisch-mythisch anmutenden Ästhetik, die Glauben und Schöpfen, Lieben und Leben zusammenführt. Dabei grenzt Unamuno die Sinnlichkeit keineswegs aus seiner Poetik aus. Er fordert von seinen Lesenden ein Sich-Einlassen auf die conmocijn, auf die ästhetische Erschütterung (vgl. UOCII 977). Den Schreibenden steht der Rekurs auf die Performativität der Sprache sowie vielfältige Kombinationsmöglichkeiten ihrer
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Elemente zur Verfügung, um diese emotionale Beteiligung der Lesenden zu erreichen.
7.3.1 Liebe als Erkenntnisansporn in Niebla Unamuno schafft mit Augusto P8rez eine Figur, deren Modernität in der Orientierungslosigkeit angesichts der Vielfalt möglicher Liebesdiskurse ankert. Dabei reflektiert der Protagonist alle Möglichkeiten gleichwertig. Allein seine Handlungen zeigen, dass zwei Liebestheorien von besonderer Bedeutung sind. Zum einen der eingangs schon erwähnte Ansatz von Stendhal, mit dessen Hilfe Gedankenwelt bzw. Wortwelt und Realität kontrastiert werden. Zum anderen das auf die Schönheit, das Wissen ausgerichtete Liebeskonzept Platons, das in der Renaissance erneut aufgegriffen wurde.19 Der Protagonist von Niebla lebt die Stufenleiter, wie sie die Seherin Diotima Sokrates beschreibt, wörtlich aus. Eine Gegenüberstellung von Roman und Prätext soll diese Verflechtung nachvollziehbar machen: Das ist nämlich die richtige Art, sich dem Bereich der Liebe zu nähern oder sich von einem anderen dorthin führen zu lassen: Beginnend mit dem vielfältigen Schönen hier, soll man um jenes Schönen willen immer weiter emporsteigen wie auf einer Leiter, von einem schönen Körper zu zweien, von zweien zur Gesamtheit der schönen Körper, von den schönen Körpern zu den schönen Tätigkeiten und von den Tätigkeiten zu den Kenntnissen, um schließlich zu jener zu gelangen, welche die Kenntnis keines anderen als jenes Schönen selbst ist, damit er am Ende einsieht, was das Schöne selbst ist. An diesem Punkt des Lebens, mein lieber Sokrates, wenn überhaupt irgendwo, ist das Leben für den Menschen lebenswert, in der Schau des Schönen selbst. (Platon 2008, 211b–211c)
Schon der Romanbeginn zeigt, wie Augusto sprichwörtlich einem schönen Körper nachgeht. Doch seine Konzentration auf Eugenia verliert an Bedeutung, als er im zehnten Kapitel die Schönheit aller ihm begegnenden Frauen erkennt. Die Kenntnis des Absoluten offenbart sich ihm schließlich in der Selbsterkenntnis seines geträumten Daseins und damit in der Ästhetisierung des Lebens. Zunächst jedoch verliebt sich Augusto, über sich selbst ganz erstaunt, in alle ihm begegnenden Frauen. Als er seinem Freund diese neue Entwicklung mitteilt, klärt ihn dieser mit folgenden an Diotimas Rede erinnernden Worten auf:
19 Einen weiteren Verweis auf Liebesdiskurse der Renaissance gibt Eugenias Zeichnung, an der insbesondere ihre Augen, ihre weißen Hände und ihre Abwesenheit als Charakteristika des petrarkistischen Liebesdiskurses hervorstechen.
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Tffl estabas enamorado, sin saberlo, por supuesto, de la mujer, del abstracto, no de 8sta ni de aqu8lla; al ver a Eugenia, ese abstracto se concretj y la mujer se hizo una mujer y te enamoraste de ella, y ahora vas de ella, sin dejarla, a casi todas las mujeres, y te enamoras de la colectividad, del g8nero. Has pasado, pues, de lo abstracto a lo concreto y de lo concreto a lo gen8rico, de la mujer a una mujer y de una mujer a las mujeres. (UOCII 588)
Die Anlehnung an die platonische Stufenleiter konkretisiert sich im Verlauf des Romans dahingehend, dass Augusto neben Eugenia konkret Rosario, die Büglerin, liebt und sich schließlich auch zu seiner Köchin Liduvina hingezogen fühlt.20 Für seine psychologische Studie der Frau (in Kapitel XXIV) kann der Protagonist sodann auf drei Frauen zurückgreifen, die er jeweils unterschiedlichen Bereichen zuordnen kann: Eugenia der Imagination, Rosario dem Herzen und Liduvina dem Magen. Damit scheint er immer näher seine eigene Seele zu erkunden, denn »cabeza, corazjn y estjmago son las tres facultades del alma que otros llaman inteligencia, sentimiento y voluntad« (UOCII 643). Der spirituellamourösen Entwicklung Augustos geht ein Dialog zwischen Augusto und V&ctor Goti in Kapitel X voran, in dem der Schriftsteller Goti die Meinung vertritt, dass Liebe reine Metaphysik sei, insbesondere Augustos Liebe, die sich allein im Kopf abspielt, da Augusto nichts weiter als eine fiktive Gestalt sei, reine Idee. Schmerzlich getroffen rebelliert Augusto gegen diese seine Existenz bedrohende Aussage und sucht nach Möglichkeiten, seine Verliebtheit wie auch seine Existenz zu beweisen. Im Gespräch mit seiner Köchin Liduvina findet er eine erste Lösung darin, als Zeichen seines Liebeswahns Dummheiten zu begehen, die zum einen darin liegen, Eugenias Hypothek abzubezahlen,21 zum anderen eine Affäre mit Rosario, der Büglerin, zu beginnen. Liduvina kommentiert letzteres freudianisch als Sublimierung und konterkariert somit das platonische Konzept. Zu diesem Zeitpunkt, gestützt auf seine körperlichen Erfahrungen, ignoriert Augusto trotz V&ctors Anspielungen jedoch die Fiktionalität seiner Liebe sowie seines Wesens.
7.3.2 Niebla nach dem Konstruktionsprinzip einer japanischen Puppe Im Herzen des Romans, im Kapitel XVII, wird eine neue diskursive Ebene eingefügt. Don V&ctor erzählt die Don Elo&no-Episode, eine von vier Binnener20 Im Kapitel XXIII ruft der Protagonist im Selbstgespräch entsetzt aus: »¡Me parece que, sin darme cuenta de ello, me voy enamorando… hasta de Liduvina! ¡Pobre Domingo! Sin duda« (UOCII 637). 21 Und in weiterer Folge auch noch als Trauzeuge zu fungieren und Eugenias Verlobten eine Anstellung zu verschaffen, die letztlich dazu führt, dass beide den betrogenen Augusto einsam zurücklassen.
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zählungen, die den Hauptdiskurs unterbrechen. Don Elo&no vermählt sich sterbenskrank mit DoÇa Sinfo, da diese sich die Witwenpension nicht entgehen lassen möchte. Als Don Elo&no jedoch nicht wie vereinbart stirbt, trennen sich die beiden im Streit. Miguel de Unamuno verwendet die Technik der mise-enabyme, um die Strukturen der Haupterzählung teils antithetisch, teils durch Parallelismen, die sich bezogen auf Augusto P8rez’ Geschichte anaphorisch oder kataphorisch verhalten, zu spiegeln (vgl. Lope 2000, 66). V&ctor beschließt diese Episode – die in Hinblick auf Eugenias Geldgier anaphorischen Charakter hat – für sein literarisches Projekt festzuhalten und gibt sich als Chronist oder realistischer Autor : –Cosas que no se inventan, que no es posible inventar. Ahora estoy recogiendo m#s datos de esta tragicomedia, de esta farsa ffflnebre. Pens8 primero hacer de ello un sainete; pero consider#ndolo mejor, he decidido meterlo de cualquier manera, como Cervantes metij su Quijote aquellas novelas que en 8l figuran, en una novela que estoy escribiendo para desquitarme de los quebraderos de cabeza que me da el embarazo de mi mujer. (UOCII 615)
Augustos Freund fungiert hier als metafiktionaler Spiegel, der den Aufbau des Romans bis zu einem gewissen Grad erläutert. Zunächst erklärt er, dass sein Roman wie das Leben keine vorbestimmte Handlung hat, sondern seiner eigenen Logik folgen wird. Die Figuren zeichnen sich durch ihre Taten und Reden aus. Keine Erzählinstanz führt die Figuren ein, erst im Verlauf des Romans werden die Charaktere ersichtlich. Statt minutiöser Beschreibungen folgen zahlreiche Dialoge, welche die Lust an der Plauderei – am Sprachspiel – zum Ausdruck bringen sollten. Und für einsame Momente, so V&ctor weiter, erfindet er schreibend einen Hund, damit der Monolog in einer dem Dialog ähnlichen Form erscheint. In Anlehnung an Manuel Machados sonite tauft er diesen Roman nivola, als neue Gattung, die keinen Regeln unterworfen ist und alle kreativen Ideen beinhalten kann (vgl. UOCII 615–616). Augusto ahnt, wer der Held dieser nivola sein soll und stellt die Calderjn’sche Frage nach Leben oder Traum. Der Handlungsstrang zu V&ctor Gotis Romanprojekt wird erst im Kapitel XXV erneut aufgegriffen. Dort liest der Schriftsteller Augusto Fragmente seines Werkes vor und verteidigt sich gegen den Vorwurf einer pornographischen Schreibweise mit den Argumenten der Realisten: »Lo que hay aqu& son crudezas, pero no pornograf&a. […] Lo que hay es realismo« (UOCII 647). Realismus und Zynismus zeichnen seinen Stil aus, der zur Groteske neigt, wie auch der Zweifel, da er den Gedankenstrom bis hin zur Imagination vorantreibt. Kurz, V&ctor Goti wird als an der Wirklichkeit interessierter Skeptiker präsentiert, der sich seines fiktiven Daseins bewusst ist. Abgesehen vom Post-Prjlogo spricht der fiktive Autor Miguel de Unamuno
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am Ende des XXV. Kapitels in einem von der Haupterzählung graphisch durch Kursive abgehobenen Teil erstmals die Lesenden an. Die neu eingeführte Metaebene, die Augusto und V&ctor als Unamunos Kreationen vorgibt, wird in den Kapiteln XXXI–XXXIII durch eine Metalepse überschritten, da Augusto vor seinem Selbstmord die Konfrontation mit seinem Autor sucht. Der Protagonist erreicht die letzte Stufe der Leiter, den Kern seiner Existenz, das Wesen des Romans: die Sprachschöpfung. Während in Niebla das modernistische Schreiben durch zahlreiche selbstreflexive Biegungen betont wird, stellt La t&a Tula das Experimentieren modernistischer Schreibender anhand einer Liebe dar, die lebendig und doch von bislang konkreten Begrifflichkeiten losgelöst präsentiert wird.
7.3.3 Welche Liebe überdauert? Von Königinnen, Drohnen und Bienen Solange man über Leidenschaften sprechen kann, sind sie Teil der Gesellschaft und fungieren im Luhmann’schen Sinne als Verfestigungsmechanismen von Individualität. Wie gestaltet sich das Verhältnis von Individualität und Gesellschaft, wenn es sich um Diskurserneuerer handelt, um Autoren im Sinne Foucaults? Aus dieser Perspektive möchte ich den Roman La t&a Tula (1921) analysieren. Grob umrissen, erzählt der Roman das Leben der Protagonistin. Die beiden Schwestern Gertrudis und Rosa waren als Waisenkinder von ihrem Onkel mütterlicherseits Primitivo, einem Priester, aufgezogen worden, bevor Tula die Ehe zwischen Rosa und Ramiro arrangiert, die Kindererziehung übernimmt, nach Rosas Tod Ramiro mit seinem Dienstmädchen verheiratet und schließlich nach deren Tod ihre nun insgesamt fünf Kinder aufzieht und den ältesten Sohn, Ramirito, vermählt, bevor sie selbst stirbt. Tula übernimmt die Funktion der Biene, während, so könne man meinen, Rosa und Ramiro Königin und Drohne verkörpern. Das Lieben und Leben der titelgebenden Protagonistin wird v. a. durch ihre (Sprach-)Handlungen vermittelt und dient dazu, die Ungewöhnlichkeit des präsentierten Liebeskonzepts zu unterstreichen. Dennoch handelt es sich bei dieser Liebe nicht um etwas ganz Neues, vergleichbar der inkommunikablen Liebe der Romantik, sondern um eine Konzeption, die mündlich oder im direkten Kontakt tradiert wird. Bereits im Prolog – »Que puede saltar el lector de novelas« (UOCII 1039) – werden fiktive und historische Persönlichkeiten herangezogen, um die Protagonistin indirekt zu charakterisieren. Es sind dies Don Quijote, Teresa de ]vila, Abisag22 und Antigone. Allen vieren gemeinsam ist eine unkonventionelle 22 Im Prolog zu La t&a Tula spielt Unamuno auf ein geplantes Werk über Abisag an, das er mit dem Kapitel V »Abisag, la sunamita« von La agon&a del cristianismo (1924) realisieren wird.
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Liebe, eine Tanten-, Onkel- oder Schwesternschaft, die zwischen Tragik und Groteske oszilliert. Das Abenteuer der Heiligen Teresa war das Ideal, den Karmeliterorden zu reformieren, indem sie den gewohnten schlaffen Ablauf durch neue Regeln ersetzte, deren Ziel ein reines, einfaches, asketisches und zufriedenes Leben war (vgl. Longhurst C. 1989, 146). Auch Gertrudis gründet eine neue Gemeinschaft basierend auf ihren Vorstellungen der Reinheit und Askese – wenngleich nur im familiären Rahmen –, in der sie letztlich nach ihrem Tod wie eine Heilige verehrt wird. Ihre spirituelle Nachfolge tritt Manolita an, der es gelingt, die Erinnerung nicht nur an Tula, sondern auch an Rosa, Ramiro, Manuela, sogar Primitivo, den sie selbst gar nicht kannte, zu tradieren und damit die Unsterblichkeit ihrer (spirituellen) Vorfahren zu gewährleisten. Neben den quijotesken und teresianischen Wurzeln des Romans widmet Unamuno einen Großteil des Prologs dem Begriff der »sororidad«. Inbegriff der Schwesternschaft ist Sophokles’ Antigone, die Schwester-Tante Polyneukes, die aus Liebe gegen das Gesetz Kreons verstößt, um ihren Bruder zu beerdigen. Sororidad fu8 la de la admirable Ant&gona, esta santa del paganismo hel8nico, la hija de Edipo, que sufrij martirio por amor a su hermano Polinices, y por confesar su fe de que las leyes eternas de la conciencia, las que rigen el eterno mundo de los muertos, en el mundo de la inmortalidad, no son las que forman los d8spotas y tiranos de la tierra, como era Creonte. (UOCII 1041)
Wie Antigone stellt Tula die Gesetze der patriarchal organisierten Gesellschaft in Frage und folgt einem ›alten Gesetz‹, frei von Vorurteilen und persönlichen Interessen (vgl. Bravo Guerreira 1989, 415). Auch Tula verkörpert zugleich eine Mutter- und Schwesternliebe, nicht frei von unausgesprochenen Leidenschaften für Ramiro. Am Ende seines Prologes distanziert sich Unamuno mit Blick auf die mögliche Rezeption des Romans von einer strengen Geschlechterrollenzuschreibung, indem er die zuvor eingeführte Metapher der Bienen und Drohnen wieder aufgreift. Da jeder Mensch männliche und weibliche Komponenten inkarniert, kann die befruchtende sowie die Wissen sammelnde und verbreitende Tätigkeit geschlechterunabhängig ausgeführt werden: »O hay, si se quiere, abejos y z#nganas« (UOCII 1043).23 Eindeutig tritt jedoch die Kritik einer Liebe hervor, die sich am bürgerlichen Verschmelzungsideal orientiert. Dort definiert Unamuno das in der Bibel häufig zitierte »kennen« als ein Zeugen im Bewusstsein: »Conocer es, en efecto, engendrar, y todo conocimiento vivo supone la penetracijn, la fusijn de las entraÇas del esp&ritu que conoce y de la cosa conocida. Sobre todo si la cosa conocida, como sucede, es otro esp&ritu, y m#s si la cosa conocida es Dios, Dios en Cristo, o Cristo en Dios. De donde que los m&sticos nos hablen de matrimonio espiritual y que la m&stica sea una especie de meterjtica m#s all# del amor« (UOCVII 324). In Niebla verficht Eugenias Onkel den körperlich-erotischen Aspekt dieser Definition. 23 Gonzalo Navajas deutet die Bienenstock-Allegorie sozial-politisch-spirituell: solange auf einer materiellen Ebene die Unsterblichkeit angestrebt werde, werde Krieg unter den
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7.3.4 Gegen das bürgerliche Verschmelzungsideal der Liebe Während Tulas Liebe in ihren Handlungen fußt und damit eine (wieder-)belebte Praxis betont, symbolisiert Ramiro das Wirken der Diskurse und die eingeschriebene Sehnsucht, Liebe zu leben. Der Vater von Rosas Kindern wird als willensschwacher Mann dargestellt, der es nicht wagt, seiner Schwägerin zu widersprechen. Erst nach dem Tod Rosas gewinnt die Figur im VII. Kapitel an Tiefe, als Ramiro in seinen einsamen Nächten über die Liebe reflektiert. Nach der ersten Phase der Verliebtheit, gefolgt von Ramiros Zweifel über seine Fruchtbarkeit, erfährt er mit seinem ersten Kind die ›wahre‹ Liebe: El amor, s&. ¿Amor? ¿Amor dicen? ¿Qu8 saben de 8l todos esos escritores amatorios, que no amorosos, que de 8l hablan y quieren excitarlo en quien los lee? ¿Qu8 saben de 8l los galeotos de las letras? ¿Amor? No amor, sino mejor cariÇo. Eso de amor –dec&ase Ramiro ahora– sabe a libro; sjlo en el teatro y en las novelas se oye el yo te amo; en la vida de carne y sangre y hueso el entraÇable ¡te quiero! Y el m#s entraÇable affln call#rselo. ¿Amor? No, ni cariÇo siquiera, sino algo sin nombre y que no se dice por confundirse ello con la vida misma. (UOCII 1064)
An die romantische Liebeskonzeption angelehnt, definiert Ramiro Liebe über ihre Inkommunikabilität und verurteilt den literarischen Diskurs als lebensfern. Die Liebe, so setzt er seinen Gedankengang fort, ist vergleichbar dem wahren Gebet nicht auf bestimmte Rituale begrenzt, sondern durchzieht das gesamte Leben, den ganzen Alltag. In der Schilderung Ramiros Bewusstseinsstroms nach Rosas Tod erfahren die Rezipienten den Verlauf der ehelichen Liebe, von der körperlichen Begierde bis hin zu einer Verschmelzung der beiden Partner. Al principio de su matrimonio fue, s&, el imperio del deseo; no pod&a juntar carne con carne sin que la suya se le encendiese y alborotase y empezara a martillarle el corazjn, pero era porque la otra no era affln de veras y por entero suya tambi8n; pero luego, cuando pon&a su mano sobre la carne desnuda de ella, era como si en la propia la hubiese puesto, tan tranquilo se quedaba; mas tambi8n si se la hubiera cortado habr&ale dolido como si se la cortasen a 8l. ¿No sintij, acaso, en sus entraÇas, los dolores de los partos de su Rosa? (UOCII 1064)
Nach einer pathetischen Beschreibung von Rosas Tod, der durch in den Gedankenstrom eingelagerte, erinnerte Dialoge zwischen Rosa und Ramiro an emotionaler Kraft gewinnt, wird deutlich, dass diese unio mystica die Hoffnung des Witwers auf ein Weiterleben seiner Frau in seinem eigenen Leben nährt. Ironisch gebrochen wird das romantische Ideal lediglich durch die indirekte Analogie der Textstelle mit jener aus Niebla, die weniger auf ein authentischMenschen herrschen. Der Friede wiederum werde durch eine Unsterblichkeit erreicht, die auf Selbstschöpfung basiere oder durch geistige Nachkommen, seien dies Menschen oder künstlerische Werke, erlangt werden könne (vgl. Navajas 1992, 127).
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einzigartiges Erleben, als auf einen bekannten, von Campoamor künstlerisch gestalteten Diskurs hinweist und aufgrund der intertextuellen Konzeption die ästhetische Gestaltung offenlegt. Dort diskutieren Augusto und V&ctor das romantische Motiv der Verschmelzung im Kapitel XXII: –Pues dec&a [Campoamor] que cuando uno se casa, si lo hace enamorado de veras, al principio no puede tocar al cuerpo de su mujer sin emberrenchinarse y encenderse en deseo carnal, pero que pasa tiempo, se acostumbra, y llega un d&a en que lo mismo le es tocar con la mano al muslo desnudo de su mujer que al propio muslo suyo; pero tambi8n entonces, si tuvieran que cortarle a su mujer el muslo, le doler&a como si le cortasen el propio. –Y as& es, en verdad. ¡No sabes cjmo sufr& en el parto! (UOCII 635)
Wie P8rez de Ayalas Figuren verkörpert Ramiro alltägliche oder literarische Diskurse, die gleichberechtigt nebeneinander zu stehen scheinen. Erst nach dem Tod Rosas wird Campoamors Vorstellung abgelehnt, wenn Ramiro im Gedenken an seine Frau nur noch »cosas de amor de libro y no de cariÇo de vida« (UOCII 1066) erinnert. Diese Erkenntnis, dass die Erinnerung vergleichbar fiktiven Diskursen eine Distanz zur gelebten Realität voraussetzt, lässt Tulas Leidenschaft umso deutlicher hervortreten, da sich ihre nach wie vor durch Handlungen auszeichnet. Tulas Charakter zeichnet sich durch eine Hingabe an die Kinder einerseits und eine unerbittliche Härte im Umgang mit ihrer Schwester und ihrem Schwager andererseits aus, der teils an ihren knappen Worten, teils an der Interpretation ihrer Blicke gemessen wird. Durch einen Gedankenstrom des Onkels erfahren die Lesenden, dass das Wissen in seiner Familia in der mütterlichen Linie weitervererbt wurde, von seiner Mutter an seine Schwester und von dieser an seine Nichte Gertrudis. Um welches Wissen es sich dabei handelt, wird nicht näher spezifiziert und auch Tulas Handlungen geben Rätsel auf. Einerseits möchte man meinen, dass sie Ramiro zur Ehe mit Rosa drängt, um selbst Tante zu werden und ihren Lebensplan zu erfüllen. Zum anderen sieht sie wie Unamunos Prophet Dinge voraus und konfrontiert ihre Familienmitglieder mit Unannehmlichkeiten wie beispielsweise nach Rosas erster Entbindung: Als wäre sie die geborene Hebamme, kümmert sie sich darum, dass die Geburt gut verläuft, präsentiert den Erstgeborenen stolz dem Vater und stößt diesen mit der Aufforderung vor den Kopf: »Ahora –le dijo tranquilamente 8sta–, ve a dar las gracias a tu mujer, a pedirle perdjn y a animarla. […] Ya me entiendo y ella te entender#« (UOCII 1055). Tulas bestimmtes Auftreten lässt Ramiro an der
Lebendige Liebe bei Miguel de Unamuno
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Mutterschaft seines ersten Kindes zweifeln. »¿Cu#l es la madre?« fragt er sich im Geheimen.24 Tulas Figurenkonzeption lässt die Frage, wen sie nun eigentlich liebt, offen. Ihr bisweilen forsches, gefühlloses Vorgehen kann als purer Egoismus oder Narzissmus gedeutet werden (vgl. La Rubia Prado 1999, 187). Demgegenüber zeigt sie starke Gefühle in der Kindererziehung, in der sie zudem nach einem ausgewogenen Rollenbild der Geschlechter zu streben scheint: »–Es que yo soy chico y tffl no eres m#s que chica –oyj que le dec&a un d&a, con su voz de trapo, Ramir&n a su hermanita. –Ramir&n, Ramir&n –le dijo la t&a–, ¿qu8 es eso? ¿Ya empiezas a ser bruto, a ser hombre?« (UOCII 1067). Doppelsinnig liest sich ihre Meinung, dass Rosita keinen typischen Frauenberuf wie beispielsweise Näherin erlernen soll – denn das Handwerk der Frauen läge nicht darin, Männer und Frauen zu kleiden, sondern sie zu machen (vgl. UOCII 1071). Diese Aussage ist ambivalent zu deuten, da sie unweigerlich Tulas Drängen auf Nachkommenschaft gegenüber Rosa nach deren Eheschließung erinnert. Sieht Gertrudis in manchen Frauen nichts weiter als Reproduktionsmaschinen oder vertritt sie ein Menschenbild, in dem die Menschlichkeit erst durch Frauen geformt werden muss? Für die zweite Variante spricht, dass Tula die tradierten Rollenbilder nicht weitergeben und schon gar nicht selbst leben möchte.25 Aufschlussreich gestaltet sich der Dialog zwischen Ramiro und Tula nach der Geburt des ersten Kindes von Manuela. Denn dieses Mal steigert sich Ramiros Liebe zur Mutter seines Kindes nicht, weshalb Gertrudis ihn zur Rede stellt: –[…] ¿Por qu8 la tratas con ese cariÇoso despego y como a una carga? –¿Y qu8 quieres que haga, que me enamore de ella? –Pero ¿no lo estabas cuando la sedujiste? –¿De qui8n? ¿De ella? –Ya lo s8, ya s8 que no; pero lo merece la pobre… –¡Pero si es la menor cantidad de mujer posible, si no es nada! –No, hombre, no; es m#s, es mucho m#s de lo que tffl crees. Affln no la has conocido. (UOCII 1085)
Erzähltechnisch von Interesse ist die Dramatisierung der Szene, in der Erzählerkommentare völlig fehlen. Unamuno häuft in La t&a Tula solche Passagen an, um den Ereignischarakter des Romans zu stärken und den Interpretationsraum 24 Ricardo Diez argumentiert dafür, den Roman als philosophische Studie über Wesen und Effekte der Mutterliebe losgelöst von Sexualität und Ehe zu lesen (vgl. Diez 1976, 183). 25 Tula fühlt sich wie auch Tristana zu keiner der klischeehaften Laufbahnen einer bürgerlichen Frau – die Ehe oder das Kloster – hingezogen. Denn ihr missfällt es, ausgewählt zu werden, sie bevorzugt es, selbst zu wählen, wie sie Ramiro in Kapitel VI erklärt und damit eine dem hegemonialen Frauenbild weniger entsprechende Vorliebe äußert (vgl. UOCII 1059). Gegen ein geistliches Leben sprechen ihre Freiheitsliebe und die Abneigung, sich Geboten unterzuordnen oder sie aufzuerlegen (vgl. UOCII 1069).
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für die Lesenden zu öffnen. Auch wenn Ramiro gleich darauf mit einem Vorwurf kontert, Tula selbst würde mehr denken als nach ihren Gesetzen handeln, versucht Tula, in Ramiro ein Bewusstsein für sein unreflektiertes Verhalten wachzurütteln. Waren es dieselben Beweggründe, die zu Beginn des Romans Gertrudis dazu veranlassten, die Heirat von Ramiro und Rosa einzufädeln? Nach dieser Lesart würde Tula aufgrund ihrer Liebe zu Rosa oder Frauen im Allgemeinen zu ihren unkonventionellen Handlungen angetrieben.26 Ob sich Tulas Liebe nun auf sich selbst, die Menschen im Allgemeinen, auf Ramiro, die Kinder, ihre Schwester oder Frauen im Allgemeinen bezieht, fest steht, dass es der Protagonistin auf unterschiedliche Weisen gelingt, die Menschen ihrer Umgebung dazu zu bringen, ihr idiosynkratisches Weltbild zu übernehmen. Auch wenn Gertrudis in keinem ständigen Dialog ihre Liebe bespricht, so führt sie durch ihr Handeln einen ungeschriebenen Diskurs fort, der nicht durch Blutsverwandtschaft vererbt wird. Vielmehr repräsentiert ihre Tantenliebe eine Wissensvermittlung, die dem Erhalt der Familiengeschichte dient. Manolita, die jüngste Tochter Manuelas, nimmt nach Tulas Tod ihren Platz ein und setzt die Tradition fort. Sie alleine – deren Augen an jene von Gertrudis erinnern – wurde in die Geheimnisse eingeweiht, alle anderen, so scheint es, bleiben »¡MuÇecos todos!« (UOCII 1105).
7.3.5 Liebe und Handlung in Niebla und La tía Tula Die in Niebla aufgegriffenen unterschiedlichen Diskurse über Liebe, die zum Großteil parodiert werden, lassen schließlich mit dem Ausgang des Romans eine opportunistische Haltung erkennen. Um der Existenz oder Unsterblichkeit Willen wird jener Diskurs herangezogen und imitierend gelebt, der das eigene Überleben sichert. Liebe reduziert sich dadurch auf reine Worte, die als Stimulans für Handlungen zu lebendigen Diskursen werden. Demgegenüber präsentiert Miguel de Unamuno mit La t&a Tula die Kehrseite der Münze, indem er eine unausgesprochene Liebe, deren Diskurs sich mehr in der Praxis als in der Rede manifestiert, literarisch gestaltet. Zusammengenommen repräsentieren die beiden Romane Diskurs als Rede und Praxis. Ein expliziter Verweis auf Niebla im Prolog von La t&a Tula (vgl. UOCII 1040–1041) sowie ein weiterer intertextueller Verweis auf Unamunos erste nivola stellen die Romane in enge Beziehung zueinander. In einer Gegenüberstellung der Protagonisten von Niebla und La t&a Tula tritt Gertrudis als Gegenfigur zu Augusto P8rez auf. Während Augusto erst aufgrund 26 Im XV. Kapitel gesteht sie Ramiro, dass Männer ihr eigentlich immer suspekt waren, sie selbst vor Ramiro Angst hatte (vgl. UOCII 1088).
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der Liebe zu existieren beginnt, scheint Tula von Anfang an ein Ziel zu verfolgen, das von einer unkonventionellen Liebesvorstellung, gebunden an ein unausgesprochenes Wissen, getragen wird. Carlos Longhurst akzentuiert in seinem Aufsatz »Para una interpretacijn de ›La t&a Tula‹« (1989) die Komplexität der Protagonistin, die das Lager der Leserinnen und Leser sowie Kritikerinnen und Kritiker in zwei extrem konträre Positionen spaltet. An einem Pol befinden sich diejenigen, die in Gertrudis ein ideales Frauenbild sehen, das sich durch die beinahe heilige Aufopferung zum Wohle der anderen auszeichnet. Am entgegengesetzten Pol wird insbesondere die Monstrosität der Protagonistin wahrgenommen. Dabei entspricht Gertrudis in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit dem Menschenbild Unamunos, das in sich die ›sieben Tugenden‹ und ›sieben Todsünden‹ vereint (vgl. Longhurst C. 1989, 143). Der lebendige Mensch mit seinem Lieben und Wollen ist auch Angelpunkt von Azor&ns literarischem Schaffen.
7.4
Zeitungebundene Sensibilität als ästhetische Kategorie bei Azorín27
Azor&n (1873–1967) prägte in einem Beitrag der Tageszeitung ABC vom 19. Mai 1910 den Begriff der Generacijn del ’98 (vgl. Tudela 1969, 30), zu der er selbst gezählt wird und verdeutlicht damit ein Bestreben, die unterschiedlichen Schreibweisen der neuen Generation abstrahiert in einem Begriff zu fassen. Die neuere Forschung deutet hingegen vermehrt darauf hin, dass Azor&ns eigene Romane im Rückgriff auf filmische Elemente die ästhetischen und poetologischen Neuerungen der 98er Generation übersteigen. Deshalb zählt Dagmar Schmelzer in ihrer Monografie Intermediales Schreiben im spanischen Avantgarderoman der 20er Jahre. Azor&n, Benjam&n Jarn8s und der Film (2007) Manuel Ruiz zu den Autoren des arte nuevo der 1920er Jahre, indem sie Parallelen zum Schreiben von Benjam&n Jarn8s und anderen Avantgarderomanciers hervorhebt (vgl. Schmelzer 2007, 165). Azor&ns Neuerungen der Gattung Roman werden auf seine Experimentierfreudigkeit zurückgeführt, die besonders darin besteht, Techniken der Malerei und des Films auf die Literatur zu übertragen sowie das Alltägliche der Figuren in die Höhenkammliteratur einzuführen. Seine Prosawerke zeichnen sich durch ihren metafiktionalen Charakter aus, weshalb neben seinen literaturkritischen Schriften seine Romane Aufschluss über seine Poetik geben. Zentraler Bestandteil dieser Poetik sind Gefühle oder Empfindungen, die in einer ästhetischen Sensibilität zusammenlaufen. 27 Zum Aspekt von Azor&ns passionslosen Leidenschaften in Relation zu seinem Romankonzept vgl. Rieger 2014, 103–119.
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Auf wenige Worte reduziert, merkt Azor&n bereits 1894 in Buscapi8s. S#tiras y cr&ticas seine Abneigung gegen das naturalistische Schreiben an: Der Naturalismus hätte seinen erniedrigenden Stempel bereits im spanischen Geist hinterlassen, »matando y escarneciendo lo que hay de m#s noble, de m#s sacrosanto, en el hombre« (AOCI 42). Gegen die kalte Erzählweise des 19. Jahrhunderts fordert Azor&n vor allem Sensibilität, die er als ästhetisches no s8 qu8 zur Grundlage künstlerischer Kreativität erhebt (Granell 1949, 12). Wie die Passion zeichnet sich auch diese ästhetische Empfindsamkeit durch ihren passiven Charakter aus. Dennoch führt letztere nicht zu einer der Leidenschaft vergleichbaren Seelenunruhe (vgl. ebd., 32–33). Vielmehr soll es den Kunstschaffenden in der Kontemplation gelingen, über Sensibilität das Wesen der Dinge, ihren repräsentativen Charakterzug zu erkennen und in Folge darzustellen. Ataraxie und Willensschwäche werden zu zwei wesentlichen Attributen von Azor&ns Poetik sowie der modernistischen Autorinnen und Autoren insgesamt. Jos8 Luis Bernal MuÇos führt dies in seiner Studie Tiempo, forma y color. El arte en la literatura de Azor&n (2001) auf den Einfluss der Philosophie Schopenhauers zurück, welche die europäische Literatur der künstlerischen Moderne wesentlich beeinflusste. Grundlegend sei eine ästhetische Sensibilität, die den Menschen von seinem Begehren befreit und die mit Leid konnotierten Passionen lindert (vgl. Bernal MuÇoz 2001, 79). Zeitgenössische Literaturkritikerinnen und Literaturkritiker sahen die Werke der jungen Modernisten als passionslos und dennoch voller Empfindsamkeiten. Um 1900 kursierten die Werke unter »literatura emotiva« oder »literatura de emotivos« (Granell 1949, 81). Wenngleich Azor&n keine Poetik der gefühlsbetonten Literatur im Sinne einer geschlossenen Abhandlung verfasste, greift er in unterschiedlichen Textsorten das Thema immer wieder auf. Sein Artikel »La Celestina« (1914) veranschaulicht stellvertretend die Bedeutung der Emotion für die Schreibenden der Jahrhundertwende: Anlässlich einer Neuedition des Renaissance-Werkes hebt Azor&n die literarische Bedeutung des Romans La Celestina noch 300 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung und damit seine Modernität hervor, die sich zweifach äußert: Zunächst resultiert die Lebendigkeit des Werkes aus den dargestellten Momenten tiefer Emotion. Des Weiteren drücken die gezeichneten psychischen Prozesse der Figuren die Modernität aus, da die Handlung nicht ins Abstrakte abgleitet wie vergleichsweise in den Ritterromanen. Juan Goytisolo nennt in seiner kulturhistorischen Studie EspaÇa y los espaÇoles den Roman La Celestina als erstes Werk, in dem die Wertehierarchie bezogen auf ideale und körperliche Liebe umgekehrt wurde (vgl. Goytisolo 1969, 54).28 In La Celestina erkennt 28 Ich danke Prof. Volker Roloff für den Lektürehinweis. Juan Goytisolo erläutert den Widerstreit zwischen himmlischer und irdischer Liebe als typisch spanisch und führt ihn auf die kulturelle Vielfalt Spaniens zurück. Die mystische Liebe einer Teresa von ]vila, die nach
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Azor&n das Motto der neuen Schreibweise: Eine Literatur, die sich auf ein bestimmtes Moment der spanischen Realität bezieht, insbesondere auf die prosaische, winzige, alltägliche Wirklichkeit, deren Lebendigkeit in der Universalität von Gefühlen und Empfindungen wurzelt (vgl. AOCI 1183). Grundlage der Kunst um 1900 ist das Leben, allerdings reicht eine Beschreibung des Lebens wie im costumbrismo oder im Realismus nicht aus. Den modernistischen Autoren und Autorinnen geht es vor allem darum, die Kunst pulsierend, lebendig, erlebbar zu gestalten. Dabei wendet sich Azor&n von einem stilistischen Perfektionsgedanken ab, denn das facettenreiche Leben – voller syntaktischer, stilistischer und orthographischer Mängel – ist von zentraler Bedeutung (vgl. AOCI 1143). Für die Kunstschaffenden bedeutet dies, dass die Sinnesorgane und die dazugehörigen Wahrnehmungsformen des Sehens, Riechens und Hörens im kreativen Akt große Bedeutung erlangen. Dennoch handelt es sich nicht um eine detaillierte Wiedergabe von passiven Realitätsperzeptionen. Vor allem deshalb, weil die reine Empfindung nicht wahrnehmbar ist. Die ästhetische Sensibilität entspricht einer Bewegung, die von einem Stimulus der äußeren Realität ausgeht und zum geistigen Begreifen einer Sache führt – dieser Prozess spielt sich jedoch nur in der inneren Wirklichkeit der Kunstschöpfenden ab. Manuel Granell definiert die Empfindung demzufolge »como la aprehensijn mental de un est&mulo f&sico« (Granell 1949, 174). Das Ziel ästhetischer Sensibilität ist es, die gewöhnliche Wahrnehmung und damit die Grenzen menschlicher Fähigkeiten zu transzendieren. Reine intuicijn reicht dafür nicht aus, es bedarf der Abstraktionskraft der sensibilidad, um den lebendigen Kern der Dinge in ihrer Zeitlosigkeit zu erfassen (vgl. ebd., 176–177). Denn vergleichbar Jos8 Ortega y Gassets Konzept des Sich-Verliebens werden die Kunstschaffenden erst nach dem ersten ›Stachel‹ der Realität aktiv. Das ästhetische Gefühl verfügt über assoziative Kraft, welche vor allem in der Erinnerung zu Verbindungen einer Empfindung mit anderen Empfindungen – frei jeglicher Wertung und Bevorzugung – führt. So gelingt es den Kunstschaffenden, ausgehend von einem Gefühl etwas Neues zu schaffen, das ästhetischen Genuss hervorruft und mittels dessen es gelingt, selbst noch das Unsagbare und Unbegreifbare darzustellen (vgl. ebd., 175). Azor&n schafft auf diese Weise mannigfaltige Gefühlsmischungen – »conciertos de olores con el contrapunto de los sonidos« (Bernal MuÇoz 2001, 73). Vielfach wurden Eindrücke des Gesichtsinns als gehäufte Sinneswahrnehmung in Azor&ns Werken konstatiert, doch fehlen auch auditive und olfaktorische Impressionen nicht. Lediglich der Tastsinn tritt in den Hintergrund. An dieser Stelle wurde immer wieder auf die Parallele zwischen impressionistischer Malerei und Literatur des Modernismo aufmerksam gemacht. Beiden Ewigkeit strebt, steht einer auf den augenblicklichen Genuss bezogenen Liebe des p&caro gegenüber (vgl. Goytisolo 1969, 52).
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gemeinsam ist das Primat, anstatt Dinge zu zeigen, wie sie gesehen werden, das Sehen selbst zu malen. Es steht nicht länger ein Objekt im Vordergrund des künstlerischen Prozesses, sondern die Fülle von Eindrücken, Empfindungen und Gefühlen, welche die Betrachtung dieses Objektes hervorruft. Analog dem Impressionismus zählt weniger die äußere Form, als die innere, subjektiv geprägte, chromatische Menge an Farben. Diese Bevorzugung der Sensibilität durchzieht nicht nur die bildende Kunst, sie prägt auch die Philosophie und die Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in denen die Realität auf Sinneszustände reduziert wird (vgl. Granell 1949, 187). Andr8 Gides Maxime »J’aime, donc je suis«, die das Descartes’sche Modell »Cogito ergo sum« ablöst, kennzeichnet die Kunst der Jahrhundertwende bis weit in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts (Bernal MuÇoz 2001, 72). Untrennbar verflochten mit dieser Ästhetisierung von Gefühlen sind Überlegungen zu Zeit, die sich in Azor&ns Werken unterschiedlich manifestieren.
7.4.1 Wahrgenommene Wiederholungen Während Raum im Sinne Kants als Anschauungsform den Menschen in Verbindung mit seiner Außenwelt setzt, repräsentiert Zeit die Beziehung zur Innenwelt. Im Rückgriff auf Nietzsche transformiert Azor&n die Idee der »ewigen Wiederkehr« in ein »ver volver«, das mehr als die Wiederkehr die Wiederholung meint und seine zyklische Zeitkonzeption hervorhebt, die er in Abgrenzung zu Campoamors Diktum »Vivir es ver pasar« in Castilla (1912) formuliert: Dir&ase que las nubes son »ideas que el viento ha condensado«; ellas se nos representan como un »traslado del insondable porvenir«. »Vivir –escribe el poeta– es ver pasar.« S&; vivir es ver pasar : ver pasar all# en lo alto las nubes. Mejor dir&amos: vivir es ver volver. Es ver volver todo un retorno perdurable, eterno; ver volver todo –angustias, alegr&as, esperanzas–, como esas nubes que son siempre distintas y siempre las mismas, como esas nubes fugaces e inmutables. Las nubes son la imagen del tiempo. (AOCI 1013)
Die Wolken als Symbol der Wiederholbarkeit der menschlichen Existenz vereinen in sich die Flüchtigkeit der Zeit und eine Vorstellung von Unveränderbarkeit, von Ewigkeit, die sich in der Wiederholung von Emotionen – Ängsten, Freuden, Hoffnungen – äußert. Abgeschlossen werden Azor&ns Überlegungen zu Zeit durch eine Fortsetzung der Liebesgeschichte von La Celestina. Ins Triviale transponiert, schildert der Autor den Handlungsverlauf 20 Jahre nach dem Verlieben von Calixto und Melibea, die nicht wie in Fernando Rojas Version tragisch ums Leben kommen, sondern sich in trauter Zweisamkeit über ihre
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inzwischen beinahe erwachsene Tochter Alisa freuen. Die Erzählung endet mit der Beobachtung Calixtos, wie ein Jüngling seinem Falken folgend in den Garten eindringt, die schöne Tochter Alisa erblickt und sich in sie verliebt. Calixto errät bereits die Worte des jungen Mannes, eine alte Geschichte beginnt von Neuem, erblickte Calixto seine Melibea damals vom Zufall getrieben im Garten, als er seinem Falken nacheilte (vgl. AOCI 1014). Das Stilmittel, seine zyklische Zeitkonzeption in Fortsetzungen klassischer Werke einzubetten, wendet Azor&n mehrfach an. Beispielsweise auch in »La Fragancia del Vaso«, ein Text, der Cervantes La Ilustre Fregona fortschreibt. Kernpunkt von Azor&ns Texterweiterung ist der unaufhörliche Zeitstrom Richtung Tod, der anhand von Alltagsschilderungen präsentiert wird. Wie glücklich auch immer einzelne Passagen eines Lebens verlaufen sein mögen, es bleibt lediglich die Erinnerung zurück »es decir, la fragancia del vaso« (AOCI 1019) und selbst diese nur solange, bis die Altersdemenz sie aus der Erinnerung löscht. Verbunden mit den Reflexionen über Zeit sind die unterschiedlichen Geschichtskonzeptionen der einzelnen Vertreter der 98er Generation: Unamunos Konzept der Intrahistoria findet in Azor&ns Werken eine Entsprechung durch die Differenzierung der Vorkommnisse in »grandes y menudos hechos«. Um die Bedeutung der Emotion für die modernistischen Autorinnen und Autoren sowie in weiterer Folge für ihre Werke zu erläutern, ist an dieser Stelle ein kurzer Exkurs zu Unamunos Geschichtsverständnis notwendig, das wohl das bekanntere ist: Unamuno unterscheidet zwischen historischen Tatsachen, deren Wesenszug die Flüchtigkeit, Vergänglichkeit und schließlich deren Vergessen ist, und intrahistorischen Vorkommnissen, die aufgrund ihrer Beständigkeit die Menschheit prägen. Azor&ns Zeitkonzeption weist dieselbe Spaltung auf, jedoch betitelt er diese Differenzierung anders und reduziert sie vorwiegend auf ästhetische Überlegungen. Die ›großen Fakten‹ gehen in eine Art historisches Gedächtnis ein, während die ›kleinen Fakten‹ die Handlungen des alltäglichen Lebens konstituieren. Dort kommt das zutiefst Menschliche zum Vorschein, in den kleinen, gewöhnlichen Vorkommnissen der Routine (vgl. Bernal MuÇoz 2001, 20–21). Azor&ns Ziel ist demnach weniger, einen großen Roman oder ein Epos zu schreiben, sondern das überindividuell Alltägliche zu fassen. Ein Ansatz, der sich sowohl inhaltlich als auch formal in seinen Romanen darstellt.
7.4.2 Azoríns Romane – flüchtige Träume Der spanische Autor verflicht in seinen Prosawerken Romantheorie und Roman. Häufig treten Schriftsteller als Protagonisten auf und die narrativen Werke leben von Überlegungen zum Wesen der Kunst im Allgemeinen, besonders jedoch zu
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Form und Funktion des Romans.29 Gattungstheoretisch stehen diese ensayos de novela zwischen dem großen Roman des Realismus und dem Essay und veranschaulichen die Suche der modernistischen Schriftsteller und Schriftstellerinnen – insbesondere jene von Unamuno, Azor&n und Valle-Incl#n – nach neuen Möglichkeiten des Romans, indem dessen Grenzen ausgelotet werden (vgl. Livingstone 1970, 19–20). Technische Neuerungen ergeben sich durch die Transposition von Verfahren der Malerei, der Musik und des Kinos in die Literatur, aber auch innerliterarisch erweitert Azor&n den Roman durch die Verflechtung von dramatischen Elementen und poetischer Sprache, um zu einer Sprache zu gelangen, die in der Lage ist, die Wirklichkeit nachempfindbar zu vermitteln. Damit verfolgt er das Ziel, eine »vista mfflltiple«, eine so breit wie möglich gestreute Perspektive auf die Wirklichkeit zu erreichen (vgl. ebd., 26). Aufgrund dieser multiplen Perspektivierung kennzeichnen unversöhnliche Antagonismen Azor&ns Romane und ihre Figuren als Menschen der Moderne, die einer inneren Spaltung unterliegen. Der Roman ist daher gleichzeitig Roman und Romantheorie wie die Protagonisten über ein Ich verfügen und dieses reflektieren können. Der spanische Autor thematisiert unterschiedlichste Polaritäten: Realität versus Fiktion, Zeit versus Zeitlosigkeit, Aktion versus Kontemplation, Künstlichkeit versus Spontaneität. In der Verknüpfung von Wahrheit und Poesie führt Azor&n die Gegensätze wie außen/innen, Objekt/Subjekt oder Kunst/Leben im Roman zusammen, woraus eine innere Verdoppelung resultiert, die seine Werke auszeichnet (vgl. ebd., 31–32). Dabei besteht die epistemologische Neuerung darin, die Gegensätze nicht in einer Union zu verschmelzen, sondern als reziproke Seiten einer Ganzheit zu präsentieren (vgl. ebd., 35). Bezogen auf die ästhetische Umsetzung, fordert Azor&n vor allem sprachliche Klarheit. In Cl#sicos y modernos (1913) fasst Azor&n seine Poetik in drei Grundregeln zusammen: »lo que debemos desear al escribir es ser claros, precisos y concisos« (AOCI 1102). Er geht davon aus, dass sich die literarische Sprache von der Alltagssprache unterscheiden müsse, sei es im Roman oder im Theater. Die Frage nach dem Ausmaß der künstlerischen Sprachtransformation beantwortet er sehr vage, da es sich um eine Frage des Gefühls handle (vgl. AOCI 1102). Diese Gefühle zeichnen sich wiederum durch ihre Zeitlosigkeit aus, weshalb er die jungen Dichterinnen und Dichter in direkte Nachfolge der ästhetischen Gefühlslagen des 19. Jahrhunderts stellt. Die junge Generation amalgamiert in sich den leidenschaftlichen Schrei Echegarays, den subversiven Sentimentalismus Campoamors und die Realitätsauffassung von Galdjs (vgl. AOCI 1128). Obwohl Sensibilität und konzise Formulierungen sowie klarer Ausdruck das Gesamtwerk Azor&ns charakterisieren, lassen sich unterschiedliche Nuancen festhalten, 29 Ausführlich zu den Künstlerromanen Azor&ns (vgl. Livingstone 1970; Granell 1949).
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die zu einer gängigen Dreiteilung seines Gesamtwerkes führten. Manuel Granell unterteilt in seiner Monografie Est8tica de »Azor&n« (1949) das Œuvre des spanischen Autors in drei Etappen. Der Roman DoÇa In8s (1925) steht an der Schwelle von erster zu zweiter Schaffensphase. Zunächst widmete sich Azor&n dem alltäglichen Leben, der prosaischen Wirklichkeit, den in der Literaturgeschichte lange Zeit verschmähten menschlichen Kleinigkeiten, die allesamt die Vergänglichkeit des Lebens aus einer externen Perspektive veranschaulichen, von denen ausgehend es den Kunstschaffenden dennoch gelingt, den Sprung ins Zeitlose zu schaffen. Seine späteren Werke zeugen hingegen von seinem Interesse für das Kino. Wiederkehrende Techniken dieser Phase sind das Spiel mit Raum und Zeit, das Vermitteln eines Eindruckes, der räumliche sowie zeitliche Nähe und Distanz zugleich suggeriert – geschildert wird dies aus einem subjektiven Bewusstsein heraus. Zu dieser Phase wird auch die pre-novela Superrealismo (1929) gezählt. Das Gefühl, das spontane Empfinden, das die objektive Hierarchie der Dinge durcheinanderwirbelt und zu Vermischungen der Gegenstände und Erlebnisse führt, kennzeichnet auch DoÇa In8s. Entscheidend ist die Verschiebung in der Darstellungsweise der Welt: Während sich Romane der ersten Phase oft an Techniken des Impressionismus anlehnten und dabei die Dinge der äußeren Realität mit ihrer psychologischen Tiefe präsentierten, konzentriert sich Azor&n in der zweiten Schaffensphase nur noch auf die psychische Ebene. Die Zeit als Abfolge von Momenten verliert an Bedeutung, da sich alles im Moment, im Augenblick, abspielt (vgl. ebd., 141). Hier fließen nun neben dem dynamischen Prinzip auch überirdische Elemente in die Erzählungen ein. Emotionen und Gefühle werden abstrahiert und als »sensaciones absolutas« ästhetisiert (ebd., 165–166). Zeit und Raum werden nicht mehr als extern wahrnehmbare Gegebenheiten dargestellt, vielmehr verbindet sich die Wahrnehmung mit der Erinnerung, mit dem Ziel, neue Gefühle zu schaffen und unterschiedlichste Blickwinkel zu bedienen. Konsequenterweise werden weit entfernte und nahe Objekte hierarchielos aneinandergereiht, da sich alles im Moment trifft. Auch die Vermischung von Vulgärem, Alltäglichem mit dem Unerwarteten, Absurden oder Überirdischen charakterisiert dieser Schreibweise (vgl. ebd., 166–167). Bezogen auf sein Gesamtwerk verschiebt sich Azor&ns Aufmerksamkeit immer stärker weg vom Menschlichen hin zu einer sich steigernden Abstraktion. Nicht einzelne Schicksale sind von Bedeutung, sondern das Problem von Zeit und Raum, von Wille und Intelligenz. Das Ziel ist schließlich eine »novela de lo indeterminado« zu schreiben, einen Roman ohne Raum, Zeit und Figuren, beschreibt Azor&n sein poetisches Vorhaben in Capricho (vgl. Livingstone 1970, 115). Diese Romanidee des Unbestimmten kondensiert im Konzept der »novela gaseiforma« und äußert sich durch die Abwendung von einem klaren Handlungsverlauf zugunsten einer amorphen, fragmentarischen Struktur der Werke
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(vgl. ebd., 136–137). Während in El libro de Levante dieses poetologische Konzept als »Propjsito de escribir una novela. […] primera sensacijn de una novela. […] Cosa indistinta; con todo el atractivo de un sueÇo vago, confuso; pero que sentimos profundamente« (Azor&n 1960, 347) vorgestellt wird, stellt El escritor die Umsetzung eines gasförmigen Romans dar. Auch die Schriftstellerfigur in DoÇa In8s verkörpert in ihrem Tun diese Entwicklung vom geschlossenen Roman des 19. Jahrhunderts zu einem Prä-Roman, wie im Anschluss an die Analyse der Liebesfigurationen gezeigt werden wird.
7.4.3 Liebesfigurationen in Doña Inés Amors unsichtbarer Pfeil trifft genau in der Mitte von Azor&ns Roman die Herzen von DoÇa In8s de Silva und Diego de Garcill#n. Dieser magische Moment löst eine gesteigerte Wahrnehmung der Umgebung aus. Systemtheoretisch betrachtet, ist diese Intensivierung ausschlaggebend dafür, dass Liebe zum Ort der höchstpersönlichen Kommunikation werden kann, indem Liebe eine Welt zu zweit schafft, in der sich Individualität im Kommunikationsmedium Liebe entfaltet (vgl. LP 17–18). Das eigene Weltverständnis wird als Kommunikationsofferte an den geliebten Menschen adressiert. Besonders der Roman bietet die Möglichkeit, durch wechselnde Erzählperspektiven nicht nur die subjektive Sicht der Liebenden und damit die Selektionsleistung der gebotenen Information zu schildern, sondern auch den Kontrast dieser Individualität zur objektiven Realität, sprich zur Umwelt, hervorzuheben. Allerdings lässt sich das moderne Individuum der 1920er Jahre nicht einfach kommunizieren, denn die für die Moderne charakteristische Spaltung in ein Persönlichkeitssystem und eine Umwelt30 wird in ihrer Differenz verschleiert.31 An dieser Schnittstelle setzt DoÇa In8s an und versucht in unterschiedlichen Variationen Gegensätze wie Subjektivität versus Objektivität, Handlung versus Kontemplation, Realität versus Irrealität, Zeit versus Zeitlosigkeit oder Roman versus Romantheorie zu verquicken (vgl. Livingstone 1970, 31–32).32 30 Luhmann setzt die Neudefinition des Individuums um 1800 an. Davor als Natur verstanden, zeichnet sich das Individuum in der Moderne durch seine einzigartige Weltkonstitution aus, die es mithilfe der Liebe kommuniziert (vgl. LP 17). 31 Während sich Liebe systemtheoretisch betrachtet bis in die Romantik durch ihre Exklusivität auszeichnet und anhand der geschaffenen Nahwelt der Liebenden Möglichkeiten bietet, Individualität zu steigern, deren Sinn sich allein den Liebenden erschließt (vgl. LÜ 19), hebt Azor&n die Allgemeingültigkeit der Liebe hervor undreduziert damit den Anteil an Originalität der Individuen. Die Misere des modernen Individuums besteht dadurch nicht länger in der Inkommunikabilität der Einzigartigkeit, sondern in der mangelnden Abgrenzung zu anderen Systemen. 32 Jos8 Mart&nez Ruiz wird als ein Meister in der Vermengung von Realität und Fiktion be-
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Ein Beispiel hierfür ist das erste Kapitel. Häuser und Straßen werden detailliert beschrieben. Hinter den ausdruckslosen Wänden findet sich ein gewisser Trost angesichts der Vergänglichkeit: »Detr#s de esas paredes inexpresivas est# lo anodino. Lo anodino, es decir, lo id8ntico a s& mismo a lo largo del tiempo; lo inalterable – dentro de lo uniforme – en la eternidad« (DI 70).33 Im kontemplativen Akt gelingt es den Beobachtenden, das ewig Unveränderliche zu extrahieren, wobei hierfür nicht nur eine scharfe Beobachtungsgabe nötig erscheint, sondern immer auch ein Gefühl, un sentimiento, das weniger als eine spezifische Emotion definiert wird, denn als ein irrationaler Eindruck, der die Wahrnehmung begleitet. Grundlage der künstlerischen Schöpfung ist damit ein experimenteller Realitätsmodus, dessen Funktion im Ereignis liegt. Zum Ausdruck kommt hier die Bedeutsamkeit des Blickes, von Sehen in Azor&ns Romanen der ersten Schaffensphase. Im entscheidenden Augenblick – der metaphorisch den Beginn der Liebe bezeichnet – fließen narrative Techniken des Visuellen, die Thematisierung verschiedener Zeitkonzepte und das Sich-Verlieben ineinander. Diese Verknüpfung entspricht zum einen Azor&ns ›Ästhetik der Ruhe‹, die sich durch eine intensivierte Wahrnehmung mittels eingehender Kontemplation auszeichnet, zum anderen stimmt sie mit dem Liebesdiskurs des jungen 20. Jahrhunderts überein, in dem das Sich-Verlieben als Aufmerksamkeitsphänomen vorgestellt wird. Denn Jos8 Ortega y Gasset führt in seinen Essays »Estudios sobre el Amor« (1926–1927) das mit dem Sich-Verlieben einhergehende, gesteigerte Lebensgefühl auf eine Reduktion der Aufmerksamkeit zurück, die sich in der Phase der Verliebtheit wie gelähmt oder gefangen nur auf ein Wesen konzentriert. Durch das Ausblenden aller übrigen Informationsangebote entsteht daher der ›falsche‹ Eindruck einer überragenden Intensität (vgl. EA 580). Ortega y Gasset formuliert seine Liebestheorie in Abgrenzung zu Stendhals Konzept der Kristallisation in De l’Amour (1826–1853). Hauptkritikpunkt Ortega y Gassets ist die schwermütige Konzeption der Stendhal’schen Liebe als Phantasmagorie, als Projektion der Imagination, die unweigerlich eines Tages in Konfrontation mit der Realität erlischt (vgl. EA 564). Diese idealistische mit Pessimismus gekoppelte Liebeskonzeption charakterisiert noch das frühe 19. Jahrhundert, sie genügt zu Beginn des 20. Jahrhunderts alzeichnet, da er im Umkreis der 98er Generation der Einzige ist, dessen Pseudonym Azor&n auf eine von ihm geschaffene Figur in den Romanen La voluntad (1902) und Antonio Azor&n (1903) zurückgeht. 33 Elena Catena führt in ihrer kommentierten Ausgabe des Romans den ungewöhnlichen Gebrauch des Wortes »anodino« in Azor&ns Romanen an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde »anodino« vorwiegend im medizinischen Bereich mit der Bedeutung ›schmerzstillend‹ verwendet. Der spanische Autor rekurriert jedoch auf das französische Äquivalent »anodin« und dessen figurative Bedeutungen ›unbedeutend‹, ›neutral‹, ›farblos‹ und fügt selbst noch eine weitere Sinnschicht hinzu, indem er »anodino« nun gleichsetzt mit ›dem sich selbst identen‹ (vgl. DI Anm. 2, 70–71).
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lerdings nicht mehr, um den Zustand der Verliebtheit oder die Liebe selbst ausreichend zu beschreiben, da vermehrt auf die aktivierende und vitalisierende Wirkung der Liebe hingewiesen wird, die zu einem gesteigerten Lebensgefühl führt. Konsequenz dieses Vitalismus ist, wie bereits erwähnt, eine Abwendung vom bis in die Romantik gültigen Konzept der Liebe als Passion – im Sinne eines Erleidens – hin zu einer passionslosen Liebe, deren Kernstücke Intensivierung, Aktivität und reziproker Austausch sind und die selbst bei unglücklichem Verlauf stärker am Leben als am Tod interessiert ist. Kennzeichnet die romantische Liebe ein unerfülltes Begehren, grenzt Jos8 Ortega y Gasset Liebe vom Begehren ab. Während das Begehren als passiver Wunsch des Subjektes, das Objekt möge sich ihm als seinem Gravitationszentrum annähern, definiert wird, ist in Ortega y Gassets Verständnis Liebe ihrem Wesen nach aktiv und veranlasst die Liebenden, sich aus ihrem Zentrum hin zum geliebten Objekt zu bewegen. Gestützt auf die Ausführungen des Heiligen Augustin, formuliert Ortega y Gasset Liebe sodann als »Amor es gravitacijn hacia lo amado« (EA 554–555). Wenngleich sich Begehren und Liebe zu Beginn ähneln, fährt er fort, beginnt der Liebesakt erst nach dem Stimulus durch das Objekt, der das Subjekt in zentripetaler Richtung erreicht. Nach diesem ›Ansporn‹34 fließt die Liebe einem Strom vergleichbar in entgegengesetzter Richtung des Ansporns vom liebenden Subjekt aktiv zum geliebten Objekt zurück und stellt damit eine zentrifugale Kraft dar. Kernstück dieses Konzeptes ist, wie bereits in Kapitel 4 erläutert, die psychische Bewegung der Liebenden, die sie zu einer unaufhaltsamen Emigration veranlasst (vgl. EA 556). Bereits Stendhals Ansatz der Kristallisation versteht Liebe als geistige Tätigkeit und weist mit dieser aktiven Komponente eine Parallele zu Jos8 Ortega y Gassets Konzept der ständigen virtuellen Emigration auf. Die beiden Vorstellungen unterscheiden sich jedoch dahingehend, dass in der spanischen Auffassung die Wechselwirkung größere Bedeutung einnimmt: Während der Prozess der Kristallisation auf das liebende Subjekt beschränkt bleibt, unterstreichen die Ideen des Ansporns und der zentrifugalen Dynamik eine wechselseitige Bewegung, die vom liebenden Subjekt, dem Zentrum der Wahrnehmung, wegführt. Darüber hinaus suggeriert die grammatikalische Verwendung einer infiniten Verbalform wie des Gerundiums – Ortega y Gasset spricht nicht von »ama«, sondern von »estar amando« (EA 556) – die unbegrenzte Dauer dieses Zustandes und verknüpft das Thema der Zeitlichkeit mit dem Versuch, Liebe neu zu definieren. In unterschiedlichen Gedankenexperimenten werden dabei Zeit- und Raumvorstellun34 Jos8 Ortega y Gasset verwirft den Begriff der Gefühlswallung oder Erregung (excitacijn) als Beginn der Liebe zugunsten der Anstachelung oder des Ansporns (incitacijn) (vgl. EA 556). Der Einfluss des Tango Argentino in der europäischen Kultur liegt hier nahe. Eine detaillierte Studie zum Wechselverhältnis von Liebeskonzepten in Musik, Lied und Tanz des Tango Argentino und der Literatur der 98er scheint vielversprechend.
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gen an ihre Grenzen getrieben. Der Liebesdiskurs Ortega y Gassets verdeutlicht dies, indem er als Symptom der ›wahren Liebe‹ einen Kontakt zweier Menschen oder des Menschen zu einem Objekt in einer Nähe sieht, die räumlich nur ungenügend erfasst werden kann: »Pste es el s&ntoma supremo del verdadero amor : estar al lado de lo amado, en un contacto y proximidad m#s profundos que los espaciales« (EA 570). Parallelen zwischen Stendhals und Jos8 Ortega y Gassets Ansatz finden sich hingegen darin, dass beide von einem bereits vorhandenen Verständnis der Liebe ausgehen, um sie beschreiben zu können. In seinem ersten Versuch eines Vorwortes zu De l’Amour vergleicht der französische Autor die Liebe mit einer komplizierten geometrischen Figur, die von unbekannter Hand auf eine Tafel gezeichnet wurde. Stendhal selbst beschränkt sich auf die Erklärung der Funktionsweise der Liebe und geht von einem Liebesverständnis a priori aus, das zwar nicht erklärt werden kann, seinen Beschreibungen und dem Zugang der Lesenden jedoch in gleichem Maße zu Grunde liegt (vgl. DAI 10). In Azor&ns Roman ergibt sich das Wissen um Liebe durch die Rezeption von Bellinis Oper und der Lyrik Campoamors. Zudem werden die im Roman DoÇa In8s dargestellten Liebesfigurationen vor dem Hintergrund der romantischen Liebeskonzeption Stendhals präsentiert, nicht ohne das Vorläufermodell zu ironisieren. Stendhals Verliebter passt aufgrund der Kristallisationen, die nichts weiter als entzückende Illusionen sind, die Realität seiner Imagination an. Diese Vermischung von Realität und Einbildung zeichnet sich in DoÇa In8s ab. Die Autoren unterscheiden sich dahingehend, dass Stendhal der inneren Wirklichkeit mehr Wirkungsmacht zuschreibt als der äußeren, während Azor&n von einer Ununterscheidbarkeit von innerer und äußerer Realität ausgeht. Um diesen Differenzierungsmangel zu transportieren, experimentiert der Autor mit räumlicher und subjektiver Perspektive hinsichtlich der gezeigten Blickrichtungen. Zudem greift er Stendhals Überlegungen parodierend auf, indem beispielsweise der Blick des Verliebten auf die Landschaft nicht länger die besondere Wirklichkeit des Liebenden verrät, sondern Allgemeinwissen. Landschaftliche Elemente als Exemplum der Übertragung innerer Vorstellungen auf die Realität untermauern Stendhals Argumentation, dass die Liebe die einzige Kraft sei, die von der Wirklichkeit verlange, dass sie sich jener anpasse: L’amour-passion jette aux yeux d’un homme toute la nature avec ses aspects sublimes, comme une nouveaut8 invent8e d’hier. Il s’8tonne de n’avoir jamais vu le spectacle singulier qui se d8couvre / son .me. Tout est neuf, tout est vivant, tout respire l’int8rÞt le plus passionn8. Un amant voit la femme qu’il aime dans la ligne d’horizon de tous les paysages qu’il rencontre, et faisant cent lieus pour aller l’entrevoir un instant, chaque arbre, chaque rocher lui parle d’elle d’une maniHre diff8rente, et lui en apprend quelque chose de nouveau. (DAII 162)
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Laut Stendhal sieht ein Liebender in Anlehnung an Werther beim Betrachten des Horizontes die Silhouette seiner Geliebten. Azor&n greift dieses Motiv auf, ironisiert es dahingehend, als die beschriebene Hügelkette, die vom Turm des Alc#zar in Segovia erkannt wird, landläufig als »mujer muerta« oder »mujer tumbada« bezeichnet wird und damit weniger die Realität eines Verliebten schildert, sondern die alltägliche Umgebung der dort ansässigen Bevölkerung. Eine weitere Verkehrung romantischer Ideale ins Ironische betrifft die Protagonisten selbst. Während sich die Romantiker für das Begehren, für den Wunsch begeistern, dabei jedoch nie eine Seite jenseits des Begehrens erreichen und die Sensibilität daraus resultierend im Bereich der Einbildung verhaftet bleibt (vgl. Livingstone 1970, 142), wirkt eine nach diesem Modell gestaltete Figurencharakterisierung in den 1920er Jahren grotesk. Die Figuren Don Juan und DoÇa In8s parodieren ihre literarischen Vorläufermodelle, indem ihr Begehren als ein illusionäres dargestellt wird, dessen Erfüllung großteils in ein ewiges Noch-Nicht verschoben wird, lediglich ›unschuldige‹ Handlungen manifestieren sich: Während ein einzelner Kuss in DoÇa In8s den Skandal um die Protagonistin und das Ende einer potentiellen Beziehung zu Diego de Garcill#n auslöst, wird Don Juan 1922 im gleichnamigen Roman auf Flirtversuche reduziert. Mit allen Rollenklischees konfrontiert, begrenzt sich der Aktionsradius des Protagonisten auf ein ungenutztes Potential. Azor&ns Don Juan übersteigt die den Roman einleitende Charakterisierung des auktorialen Erzählers in Don Juan nicht: »Don Juan es un hombre como todos los hombres. No es alto ni bajo; ni delgado ni grueso. Trae una barbita, en punta, corta. Su pelo est# cortado casi al rape. […] Pone la amistad – flor suprema de la civilizacijn – por encima de todo« (Azor&n 1948, 219).35 Azor&n und die spanische Prosa der 1920er hinterfragen damit erneut das romantische Konzept der Liebe als Ort der höchstpersönlichen Kommunikation, indem der Umgebung der Protagonisten und auch der Gewöhnlichkeit von Liebe vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt wird. In Anlehnung an filmische Techniken erfahren zudem Objekte und Figuren eine hierarchische Gleichstellung, weshalb Dingen Handlungsrelevanz zukommen kann (vgl. Schmelzer 2007, 184). Während die romantische Liebe das SichVerlieben anhand der Einzigartigkeit des Gefühls und dessen Inkommunikabilität charakterisiert,36 hebt Azor&n die Wiederholbarkeit und damit indirekt
35 Wie in Unamunos Hermano Juan verwandelt sich Azor&ns Don Juan von einem Lebemann und Frauenschwarm in einen spirituell Liebenden, der sich in ein Kloster zurückzieht und der Welt den Rücken kehrt. Damit wird einmal mehr das Interesse an der metaphysischen Seite der Verführer-Figur deutlich. 36 Besonders dem Medium Schrift wird in der Romantik misstraut, wenn es Liebe in ihrer einzigartigen Unsagbarkeit transportieren soll, da die Versprachlichung von Gefühlen ihre Dämpfung oder Trivialisierung und dadurch eine Annäherung an Gewohntes voraussetzt.
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die Alltäglichkeit bzw. Gewöhnlichkeit der Erfahrung hervor. Literarisch unterstreichen seine knappen Sätze mittels mehrfacher Anaphern und Superlativen den repetitiven Eindruck. Die Wiederholbarkeit verdeutlicht damit nicht nur ein unveränderliches, Epochen überdauerndes Gefühlserlebnis, vielmehr bietet sie Anknüpfungspunkte für Azor&ns Gestaltung von Zeit- und Raumvorstellungen.
7.4.4 Die Zeitenthobenheit der Liebe oder ein ganz gemeines Gefühl In DoÇa In8s wird die Zeit als Gegenwart in ihrer Janusköpfigkeit besonders im Kapitel XVI »T&o Pablo y el Tiempo« thematisiert, als ein Moment, der nicht nur Aufschluss über die Vergangenheit gibt, sondern bereits auch zukünftige Ereignisse beinhaltet. Doch eben dieser gegenwärtige Moment lässt sich nicht festhalten, nur im Gefühl begreifen: »No se puede perdurar en la percepcijn de la hora, del minuto y del segundo sin acabar por tener la visijn total del tiempo« (DI 115). Daraus resultiert auch die Überlegung, dass die Anschauungsformen Raum und Zeit nicht existieren. Im gefühlsgeladenen Moment wird der Zeitstrom unterbrochen, auch die Wiederkehr der Gefühle ermöglicht in Kombination mit Azor&ns Konzept des »ver volver« von einer Zeitenthobenheit auszugehen, die Einheit und Diversität zusammendenken kann, denn das Gefühl ist Präsenz (vgl. Granell 1949, 159).37 Eine andere Möglichkeit, diese Zeitlosigkeit literarisch umzusetzen, ist die Verzögerung des ›realen Lebens‹ der Protagonisten, in dem Handlungen kaum voranschreiten und die fiktive Welt statisch präsentiert wird. Der Aspekt der Isolierbarkeit von zeitlichen Momenten gepaart mit einer statischen Präsentation der Figuren hebt in leidenschaftlichen TaDie Liebenden der Romantik balancieren zwischen erfolgreicher Kommunikation und Erhalt der eigenen durch den Genie-Gedanken gefestigten Originalität (vgl. Werber 1992, 172). 37 Julian Palley analysiert DoÇa In8s hinsichtlich unterschiedlicher Zeitkonzepte. Neben der Ewigen Wiederkehr Nietzsches nimmt der spanische Autor Anleihen an Prousts Evokation der Vergangenheit durch physische Sinneseindrücke. Daneben findet sich ein demiurgisches oder göttliches Konzept des Wandels, aber auch Bergsons dur8e. Insbesondere Nietzsches Idee der Ewigen Wiederkehr fand im Spanien der Jahrhundertwende aufgrund der politischen Gegebenheiten größeren Anklang als in anderen europäischen Ländern (vgl. Palley 1971, 253). Die Thematik des Wandels innerhalb des Gleichbleibenden prägt nicht nur Ästhetik und literarische Produktion, vielmehr durchzieht sie alle intellektuellen Bereiche, die rückwärtsgewandt in der glorreichen Geschichte Spaniens nach dem essentiell Spanischen suchen, um nach dem Desastre der verlorenen Kolonien eine nationale Identität zu restabilisieren. Reale und fiktive Personen nehmen dabei gleiche Bedeutung an, neben Don Juan und Don Quijote werden Santa Teresa oder Celestina wiederbelebt. Besondere Bedeutung erhalten der Ritter der traurigen Gestalt und die Mystikerin, da sie, von ihrer Imagination angespornt, versuchen, ihre Ideen umzusetzen und mit dieser idealistischen Aktivität eine Grundlage für ein neues nationales Identitätskonzept bieten, das die locura und die Liebe als eine mögliche Ausprägung der Leidenschaften integriert.
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bleaus der Kapitel XXVII–XXVIII Obsesijn (Ella) und Obsesijn (Pl) das wiederholbare Element der Liebe hervor, wie in Kapitel 2.6.3 geschildert. Mithilfe der Zeit- und Raumungebundenheit wird nicht nur die Allgegenwart der Liebe hervorgehoben, sondern die zeitliche Konzeption als solche wird verworfen. Indem sich der Augenblick zur Ewigkeit dehnt, verdichtet sich die Liebe in diesem ersten realen Kuss. Vergleichbar einem ›Spiel zweier Spiegel in Bewegung‹ (vgl. Egido 2009, 136), lässt der gegenwärtige Moment nicht nur die Vergangenheit erkennen, gleichzeitig ist in der Vergangenheit bereits der gegenwärtige Augenblick lesbar. Diese Verdoppelung der Zeit führt Aurora Egido auf den Einfluss der barocken Literatur auf die spanische Moderne zurück (vgl. ebd.). Für Azor&n handelt es sich um das tragischste aller Gefühle: »¿Habr# sensacijn m#s tr#gica que aquella de quien sienta el tiempo, la de quien vea ya en el presente el pasado y en el pasado el porvenir?« (AOCI 1013). Die Tragik basiert nun nicht länger auf einer unerfüllten Leidenschaft, sondern auf der Tatsache der Wiederholbarkeit von erlebten Gefühlen. Liebe als Passion zögert den Augenblick der Erfüllung sowie die räumliche Nähe zugunsten einer Distanz und Hindernissen, welche die Leidenschaften aufrechterhalten, zeitlich hinaus, da für den romantischen Liebenden das Leid die privilegierte epistemologische Basis bildet (vgl. Rougemont 1996, 47;1972, 54).38 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verdrängt die vitalistische Konzeption der Liebe jedoch Gedanken an das potentielle Ende der Situation und ebnet den Weg für ein passionsloses Liebeskonzept. Ähnlich dem Augenblick des Sich-Verliebens löst der Kuss die Grenzen von Raum und Zeit, Realität und Fiktion und aufgrund der Analogie zu DoÇa Beatriz’ Liebesgeschichte von Liebe und Diskurs über Liebe auf, indem Roman und Romankonzept zusammenfallen. Frappierende Ähnlichkeiten zeigen nicht nur die Porträts von In8s und Beatriz im Kapitel XXXVI El Retrato, ident wird auch das Altersverhältnis der Pärchen (junger Mann und reife Frau) sowie die äußere Gestalt der beiden jungen Dichter geschildert. Tragisch endet die Liebe von In8s’ Vorfahrin, da der Ehemann – ein »hombre de accijn« – den Troubadour kurzerhand köpft und seiner Gattin das Haupt samt den geliebten Haaren in einer Schatulle überreicht. DoÇa Beatriz verfällt daraufhin dem Wahn. Eine weitere Spiegelung wird hinzugefügt, zieht man Stendhals De l’Amour als Prätext heran, der die Legende einer der ältesten leidenschaftlichen Geschichten des Mittelalters erzählt, nämlich die illegitime Liebe zwischen dem Troubadour Guillaume de Cabstaing und seiner Herrin.39 Schon als In8s die Statue von Beatriz einige Tage zuvor 38 Die europäische Vorstellung einer passionierten Liebe, die auf einem Transzendenz-Gedanken beruht, zeichnet sich durch einen inhärenten Todeswunsch aus (vgl. Rougemont 1996, 241). 39 Als der Ehemann die wechselseitige Liebe entdeckt, tötet er den Dichter mit dem schönen
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berührt hatte, überkam sie ein Schaudern, das sich angesichts der ähnlichen Porträts nun noch verstärkt und als unruhiges Gefühl auf ihren Onkel überträgt. Hinter diesem unheimlichen Gefühl verbirgt sich die Vermutung der Wiederholung bereits gelebter Leben – der Irrealität der eigenen Identität sowie der Gewöhnlichkeit der eigenen Existenz. Einzig der Umgang mit dem unglücklichen Liebesverlauf unterscheidet die einzelnen Varianten der Liebesgeschichte, welche zugleich die Performativität der Sprache akzentuieren: Steht zunächst der physische Tod als letzter Ausweg in Stendhals Legende, bleibt DoÇa Beatriz – wenngleich im Wahn – nach dem Ende der Liebe noch am Leben. DoÇa In8s lässt sich schließlich am Ende des Romans von den einst erlebten Gefühlen inspirieren und wiederholt eine Reise. Dieses Mal reist sie nach Argentinien, wie sie davor als Geliebte Don Juans von Madrid nach Segovia reiste und veranschaulicht damit das obsolete Konzept einer auf Leiden gegründeten Liebesvorstellung. Die Tragik verlagert sich in die zirkuläre Struktur, die sich im Aufbau des Romans spiegelt, dessen Ende an seinen Beginn zurück verweist, wo im Kapitel III El cuartito eine sehnsuchtsvoll betrachtete Lithographie von Buenos Aires, der Geburtsstadt des Dichters Diego, beschrieben wird, die sich im Zimmer von DoÇa In8s befindet. Die anhand der Liebesgeschichte entwickelten Auflösungstendenzen von Zeit- und Raumkonzepten reichen bis in die poetologischen Überlegungen des spanischen Dichters, wie im abschließenden Abschnitt dargelegt werden soll.
7.4.5 Vom Roman zum Prä-Roman Azor&ns erste Schaffensperiode durchzieht eine »est8tica del reposo«, die er durch die Reduktion der Handlung auf ein Minimum und die Suspension der Bewegung aufgrund von malerisch präsentierten statischen Szenen erreicht. Im Einfrieren des Augenblickes überträgt Azor&n eine Technik, die erstmals von Vel#zquez in der Malerei eingesetzt wurde, auf die Literatur. Die von Lessing in Laokoon (1766) vorgenommene Teilung der Künste in zeitliche (Literatur) und räumliche (Malerei) möchte Azor&n nicht länger aufrechterhalten, seiner Ansicht nach müssen im 20. Jahrhundert beide zusammen betrachtet werden, um die je einzelne Kunstform zu verstehen (vgl. Jurkevich 1995, 289). Mittels ästhetischer Ruhe wird, obschon nur ephemer, die Flüchtigkeit der Zeit und ihr unaufhaltsamer Fortgang hin auf den Tod wenn nicht überwunden, so verschleiert. In Haar und kredenzt seiner Frau unwissend dessen Herz. Nachdem sie die Wahrheit erfahren hatte, antwortete sie ihrem Mann »que le cœur avait 8t8 si bon et savoureux, que jamais autre manger ou autre boire ne lui iterait de la bouche le go0t que le cœur du seigneur Guillaume y avait laiss8.« Von ihrem Ehemann verfolgt, stürzt sie sich schließlich in den Tod (DAII 87– 88).
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seinem Versuch, nicht einfach zu beschreiben, rekurriert Azor&n auf Techniken der Malerei, der Musik und des Films, um die von ihm angestrebte Illusion einer räumlichen Tiefe zu erreichen. Das zugrundeliegende Problem, das nicht nur Azor&n, vielmehr modernistische Autorinnen und Autoren generell beschäftigt, ist die Unvereinbarkeit von Kontemplation und Aktion, Erleben und Handeln. Gelingt es wohl in der Kontemplation, die Sensibilität des Künstlers über die Zeit hinweg zu schärfen, so hört dennoch das Leben dabei auf, gelebt zu werden (vgl. Livingstone 1970, 81). Gegen die Zerrissenheit als Grundlage der condition humaine strebt Azor&n in seinem Gesamtwerk eine »novela de lo indeterminado« an, einen Roman des Unbestimmten, der weder über Zeit noch Raum noch Figuren verfügt und schließlich etwas Unveränderbares präsentiert (vgl. ebd., 115). Ansätze dazu lassen sich bereits in DoÇa In8s feststellen und verdeutlichen die Koevolution von Liebe und Literatur. Denn Azor&ns Liebeskonzeption äußert sich im überzeitlichen Potential. Narratologisch drückt es sich im Versuch aus, eine »novela gaseiforme« zu schreiben, einen Roman, der sich durch seine ungreifbare Form auszeichnet – einen Roman vor seiner Entstehung, der weder über einen konkreten Anfang noch über ein finales Ende verfügt. Dabei ist diese Romantheorie mittels parallelem Handlungsstrang in DoÇa In8s integriert: Indem Don Pablo seiner Nichte die Ergebnisse seiner Recherchen zu dem geplanten Buchprojekt schildert – die Mappe mit dem gesammelten Material trägt den Titel DoÇa Beatriz. (Historia de amor) – konfluieren im Roman Theorie und Roman. Noch ist Don Pablos Werk nicht vollendet, noch befinden sich die einzelnen historischen Daten und ästhetischen Vorstellungen unsortiert in seiner Vorstellung wie die Gaswolke, die sich zu einem Planeten formen wird. Enthusiastisch beginnt Don Pablo zu schreiben, als ihn eine Schreibhemmung, die gefürchtete ›Trockenheit‹, überkommt. Die Geschichte wird erzählt als eine, die sich nicht so leicht in Worte fassen lässt, wenngleich dem Onkel schließlich die Fortsetzung der Arbeit gelingt. Während sich in den geschilderten Liebesgeschichten die Zeit verdoppelt, führt die literarische Technik der mise-enabyme zwischen den an Tableaus erinnernden Kapiteln zu einer Tiefenillusion. Beide Verfahren veranschaulichen in DoÇa In8s das Zusammenfallen von Theorie und Roman in der literarischen Kommunikation sowie Liebe und Diskurs über Liebe in der Kommunikation zwischenmenschlicher Anziehung. Konsequenz dieser Herangehensweisen ist weniger ein romantischer Eskapismus, als eine Neuinterpretation der Realität, die es ermöglicht, Gegensätze zusammenzufügen und sie als reziproke Seiten einer Ganzheit zu präsentieren, die sich in ständigem Austausch befinden. Da sich diese Weltsicht einer verstandesmäßigen Erfassung entzieht, wird die Bedeutsamkeit der Gefühle hervorgehoben. Dasselbe betrifft die künstlerische Kreation: »En realidad, opinar, yo no opino nada; lo que hago es sentir« (Azor&n 1943, 89). Bereits in Azor&ns erster Schaffensphase zeichnet sich die Charakterisierung des Onkels in DoÇa In8s
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durch denselben Tenor aus, wenn der Rückzug des Dichters nichts anderes bedeutet, als Ideen, ihre widersprüchliche Verbindung, die Formen, Farben, Lichtschattierungen oder die Stille der Welt sinnlich zu genießen: »su gozar codicioso de las ideas, del contraste y relacijn de las ideas; su fruicijn lenta y suave del mundo, de las formas, del color, de las gradaciones de luz, del silencio, ¿qu8 son si no voluptuosidad y sensualismo?« (DI 205). Chaotisch vereint in der Erinnerung, inspirieren einst wahrgenommene Empfindungen den Schriftsteller zu neuen Werken. Im gewöhnlichen, allgemeinen, zeitungebundenen, aber sinnlichen Ereignis – ein Augenblick, ein Sich-Verlieben, ein Kuss – kondensiert nicht nur eine neue Romanform, es drückt sich auch ein verändertes Liebesverständnis aus, dessen Kernstück nicht länger ein zeitlich bedingtes Leiden ist, sondern ein intensiviertes Leben gefolgt vom Ansporn zu innovativen Handlungen. Von der zyklischen Struktur, die versucht die Dreiteilung der Zeit zu überwinden, nähert sich DoÇa In8s dem Konzept des Prä-Romans anhand der Binnenerzählung über T&o Pablos Schriftstellertum an. Dennoch halten sich einige Elemente, die den großen realistischen Roman parodieren – die Kapitelanzahl, der Epilog – und zu einer obschon verzögerten, so doch geschlossenen Form führen. Die Forderung nach einem Prosawerk ohne Figuren, Zeit und Raum ist hingegen in der Entpersonalisierung der Figuren, der Dissolution von Zeit- und Raumkonzepten sowie der asyndetischen Reihung der Kapitel, von denen jedes für sich ein Eigengewicht erlangt, angelegt. Mehr als fließenden Übergängen eines Films ähnelt der Handlungsverlauf aufgrund abrupter Kapitelabfolgen einem Daumenkino, bestehend aus autonomen Tableaus, die einen intensivierten Lektüregenuss evozieren. *
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Ramjn del Valle-Incl#n, Miguel de Unamuno und Azor&n im dritten Typ Liebe als intensiviertes Erleben dem Erleben eine größere Bedeutung zumessen als die realistischen Autorinnen und Autoren zuvor. Ein konstruktiv-virtuelles Realitätskonzept im performativ-experimentellen Modus, das die Funktion der Literatur im Bilden und Ereignen ansieht, kann durch die dafür nötige aktive Beteiligung der Lesenden daraus abgeleitet werden. Miguel de Unamunos Romane tendieren mit ihrer Affinität zu philosophischen Essays zur Fremdreferenz bei gleichzeitiger Selbstreferenz. Unamuno wendet vermehrt Techniken wie Metareflexion oder Metalepse an, um das Ineinanderfließen von Realität und Fiktion zu veranschaulichen. Sein Konzept von lebendiger Liebe und Roman zielt auf ein intensiviertes Erleben, da in direkten Lesendenappellen gleichsam ein Erleben und Reflektieren des Romans gefordert wird. In Unamunos Poetik nimmt Liebe als strukturelles Element Anleihen an einer gelebten Liebe, die sich vorwiegend an ihren Hand-
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lungen zeigt. Dahingegen gelingt der performativ-experimentelle Modus ValleIncl#n dadurch, dass er eine Ausdrucksfülle herbeiführt, die alle Sinne gleichermaßen einbezieht. Sein Liebeskonzept wird als ekstatisch bezeichnet. Dabei greift er neben der mystischen Liebe auf Stendhals Kristallisationsmetapher zurück, um diese, erweitert durch eine erotische Komponente, als narratives Strukturprinzip zu gestalten, das gezielt mit der Involviertheit des Körpers im Lektüreakt spielt. Seine Sprachspiele betonen Performanz und Experiment, wie seine Ausführungen zur Musikalität der poetischen Sprache untermauern, wobei die Musik nicht nur anhand des Klangcharakters in seine Romane einfließt, sondern auch strukturell durch leitmotivische Wiederholungen einer Sequenz. Gattungstypologisch zeichnen sich seine Romane durch lyrischen Sprachgebrauch aus und heben damit die systeminterne Referenz hervor, wie sie sich auch in der Bezeichnung seiner Romane als Sonaten spiegelt. Azor&n wiederum schreibt in klarer, konziser Sprache, die dem repräsentativen Modus realistischer Romane nahesteht, um die Ununterscheidbarkeit von Liebe und Diskurs über Liebe zu veranschaulichen. Auch erinnert seine Charakterisierung von Liebe als gewöhnlich und alltäglich an die realistische Forderung, die Wirklichkeit zu repräsentieren. Dennoch handelt es sich um einen modernistischen Schreibstil, da die für modernistische Werke zentrale Komponente des intensivierten Erlebens im Vordergrund steht und in der Übertragung filmischer, malerischer, dramatischer und musikalischer Diskurse als strukturelle Elemente seines Romans erreicht wird. Azor&n gelingt die Umsetzung, indem er in DoÇa In8s die romantische Liebe anhand von Bellinis Oper und Campoamors Versen als die Liebe stimulierende Legenden heranzieht sowie die einzelnen Kapitel seines Romans in Form von Tableaus organisiert und dadurch einerseits eine Tiefenwirkung, andererseits durch Leerstellen den Effekt eines Daumenkinos erreicht. Die sich aus den Vorlagen entzündende Liebesgeschichte endet nicht tragisch, sondern vitalistisch. Insgesamt vertritt Azor&n ein zeitenthobenes Liebeskonzept, das weniger den Stillstand als die Wiederkehr der Gefühle bezeichnet. Er beschreibt auf diese Weise nicht nur die Alltäglichkeit der Liebe als kulturelles Phänomen, die Zeitlosigkeit liegt auch seiner Poetik zu Grunde. In ästhetischer Hinsicht spricht der Autor von einer passionslosen sensibilidad, der es gelingt, Gefühl und Kontemplation, vergleichbar einer mystischen Liebe, zu vereinen. Charakteristikum seiner Liebeskonzeption ist die Konzentration auf den Beginn einer Liebe, auf den Versuch oder die Absicht zu schreiben. Im Experiment, Roman und Liebesdiskurs zu erneuern, kehrt Azor&n die Wichtigkeit der ungeordneten, chaotischen, noch formlosen Fülle im Sinne einer prenovela hervor, die ihre Entsprechung in der ästhetischen sensibilidad hat, welche als Voraussetzung jeder Kreation angesehen wird. Allen Autoren gemeinsam ist eine Liebesauffassung, die sich durch gebrochene Tragik auszeichnet und das leidenschaftliche Liebeskonzept der Passion
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um ein vitalistisches, aktiv handelnd und erlebendes erweitert. Dies äußert sich im Rekurse auf Stendhals Kristallisationsmetapher und Jos8 Ortega y Gassets Gravitationsbild, wobei ersteres Konzept zugunsten des dynamischeren verworfen wird. Die Dynamik als grundlegendes Element einer kulturell sowie poetologisch verstandenen Liebe äußert sich in einem Streben, Beweglichkeit und Statik im Roman zu verbinden. Den neuen Gegenpol zu Liebe als intensiviertes Erleben bildet die Bewegungslosigkeit oder der Stillstand. Kulturell erfährt dieser Wandel von einem passiven Erleiden der Liebenden hin zu einem mitgestaltenden Erleben eine Entsprechung im veränderten Geschlechterrollenverständnis des frühen 20. Jahrhunderts. Während Valle-Incl#n schließlich über ein ekstatisches Schreiben versucht, traditionelle, passionierte Liebesdiskurse zu verlassen, transformiert Unamuno einerseits mittels Parodie gängige Liebesdiskurse, andererseits gestaltet er mittels einer lebendigen Liebe das Wirken von Diskursen als Praktiken. Der spanische Autor verweist mit seinem Konzept der Liebe als Wollen auf die für postromantische Liebesfigurationen charakteristische Negation des (freien) Willens, das sowohl für realistische als auch für modernistische Figurationen Gültigkeit besitzt und im Rekurs auf das Potential kulturelle und ästhetische Innovationskraft birgt. Allgemein reflektieren die drei Autoren die Entdifferenzierung von Diskurs über Liebe und Liebe sowie den Einfluss von philosophischen oder alltäglichen Liebesreden sowie Liebesliedern oder Legenden auf das Sich-Verlieben selbst. Damit klingt der freie Wille als Leerstelle des Liebescodes an. Die Funktion des modernistischen Romans liegt in der Anregung, Lektüre nicht nur als Zeitvertreib, sondern als lebensnahe, kreative Praxis zu verstehen, die es ermöglicht, unterschiedlichste Lebensentwürfe zu denken und zu leben. *
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Liebe als ästhetische und kulturelle Form
Liebe als ästhetische und kulturelle Form zu lesen, geht von der Annahme aus, dass sich im Roman zwei erzeugte Bilder überlagern, eine kulturell geprägte Liebesgeschichte und eine Poetik. Als kulturelle Form des intimen Zusammenlebens der langen Jahrhundertwende zeichnet sich Liebe im spanischen Roman dadurch aus, dass sie zunächst auf die romantische Verzauberung mit einer Nüchternheit reagiert und konsequent die Leitdifferenz von Liebe und Diskurs über Liebe aufhebt, bevor sie mit dem Modernismo wieder verstärkt auf das Erleben eingeht. Nicht länger steht zur Debatte, ob wahre Gefühle kommunikabel sind oder nicht, vielmehr zeigen die Texte, dass Liebe und Diskurs eng miteinander verbunden werden, sodass sich Liebe nunmehr dadurch auszeichnet, wie sie gelebt werden kann. Als Ort der höchstpersönlichen Kommunikation gestaltet sich Liebe als Spannungsfeld von persönlicher Orientierungslosigkeit (etwa in Pepita Jim8nez und Niebla) oder individuellem Streben (Tristana, La t&a Tula, Sonatas, DoÇa In8s) und gesellschaftlichen Interessen (La Regenta, La Madre Naturaleza, Tigre Juan/El Curandero de su honra). Mithilfe der Konzentration auf die Oberfläche kultureller Phänomene steht nun die Praktikabilität von Liebe, wie sie sich in gesellschaftlichen Strukturen und deren Wirkmechanismen manifestiert, im Vordergrund und charakterisiert vor allem den Realitätszugang realistischer Autorinnen und Autoren. Im ästhetischen Bereich spiegelt dies die Funktion des Romans wieder, der einerseits als Abbild der kulturellen Wirklichkeit auftritt, andererseits im Schreiben Wirklichkeit schafft und somit als Orientierungspunkt für das im Entstehen begriffene Bürgertum fungieren kann. Liebe als ästhetische und kulturelle Kategorie wird für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den Attributen interesselos (Valera) und durchschaubar (Galdjs) bezeichnet und referiert auf diese Weise auf die Doppelfunktion der realistischen Literatur. Als weitere Folge der kulturellen Entdifferenzierung von Liebe und Diskurs über Liebe kann die bewusste Öffnung hin zu verschiedensten, gleichzeitig vorhandenen Liebesreden und ihrer jeweiligen kulturellen Form angesehen werden. Die Kehrseite dieser Multiplikation von Liebesdiskursen zeigt sich
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darin, dass die Vorstellung einer ›naturgegebenen‹ Liebe verworfen wird. Liebe fungiert nicht länger nur als Ort der höchstpersönlichen Kommunikation, sondern inkludiert fortan die kritische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Diskursen, die auf ihren individualitätsformenden Charakter hin reflektiert werden. Dies öffnet der Literatur auch die Möglichkeit, weniger erfreuliche Ereignisse der gegenwärtigen Kultur um 1900 wie etwa häusliche Gewalt und Inzest als soziale Wirklichkeit und integrative Bestandteile von gelebter Liebe zu thematisieren. Implizit – und das betrifft soziale wie literaturkritische Machtgefüge – werden die vom Positivismus, den Natur- und den Sozialwissenschaften angestoßenen Kategorisierungsversuche, die sich auch auf den Literaturbetrieb ausweiten, als für eine Studie des menschlichen Lebens und Liebens oder des literarischen Schaffens als unzureichend kritisiert. Dies zeigt sich etwa an hermaphroditischen Figurenkonzeptionen (Clar&n), an performativ gestalteten intertextuellen Spielen (Pardo Baz#n) oder an Versuchen der Literatur, Techniken nicht-mimetischer Künste wie der Musik (P8rez de Ayala) umzusetzen. Die spanischen Autorinnen und Autoren reagieren auf die kulturellen und ästhetischen Entwicklungen dahingehend, dass neben der Reflexion dem ästhetischen Erleben vermehrt Bedeutung beigemessen wird, wie es in Folge das modernistische Schreiben charakterisieren wird. Liebe und Roman, die Anleihen am realistischen und modernistischen Schreiben nehmen und aufgrund ihrer Mittelposition selbst eine eindeutige Einordnung in bestehende Schemata vereiteln, können als skalar (Clar&n), uneingeschränkt (Pardo Baz#n) und polyphon (P8rez de Ayala) bezeichnet werden, sie betonen die kulturelle und ästhetische Mehrstimmigkeit und das immer wieder bemühte Argument der literarischen Gestaltungsfreiheit. Mit dem neuen Jahrhundert zeichnet sich im modernistischen Schreiben schließlich eine Hinwendung zum Erleben ab. Die Rolle gesellschaftlicher Konventionen tritt für Liebe und Roman in den Hintergrund, denn das individuelle Handeln und Erleben erfährt eine Aufwertung. Diese Ausrichtung kondensiert im Attribut der Intensität, die Liebe wie Roman als ekstatisch (ValleIncl#n), lebendig (Unamuno) oder zeitenthoben (Azor&n) charakterisiert. Verstanden als Ort der höchstpersönlichen Kommunikation verkörpern die Liebeskonzepte eine aktive Beteiligung der Liebenden, die Liebe nicht länger auf ein passives Erleiden reduziert, sondern ihren dynamischen, konstruktiven, wirklichkeits- und persönlichkeitskonstituierenden Aspekt hervorhebt. Während diese aktivierende Komponente im realistischen Schreiben noch in Konfrontation mit der kulturellen Wirklichkeit und den sozial praktikablen Möglichkeiten erfolgte, verschiebt sich der Fokus im jungen 20. Jahrhundert auf das präsentische Erleben, das zugleich intendiert und gefordert wird. Der Roman selbst versteht sich als Verlebendigung, als Ereignis, das auf die aktive Beteiligung der Lesenden angewiesen ist und ihr Erleben gleichsam bedingt. Leben und Lite-
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ratur werden austauschbar, Fragen nach Wirklichkeit oder Fiktion zugunsten des eigenen Erlebens verworfen. Allen Romanen gemein ist die Verortung von Liebe im Spannungsfeld von Kunst, Mystik und Wissenschaft sowie die Rückbindung der Liebe an künstlerische oder alltägliche Diskurse: Die Ursache der Liebe liegt weder im ökonomischen Bereich, noch kann sie in einer unermesslichen Schönheit des/der Geliebten gefunden werden, vielmehr wird sie durch bereits rezipierte Texte, Lieder oder durch die erfahrenen kollektiven (Sprach-)Handlungen der Gesellschaft ausgelöst. Damit ändert sich auch die im Kommunikationscode mitgedachte Negation. War dies bis in die Romantik die Sexualität, so ist es um 1900 der (freie) Wille der liebenden Person. Ausdrucksstark bezeichnet das spanische Verb querer diese Doppeldeutigkeit in seinen Konnotationen als ›lieben‹ und ›wollen‹, wobei sich in Realismus und Modernismo die Frage stellt, ob lieben mit dem eigenen Wollen gleichgesetzt werden kann. Liebe als ästhetisch-poetologische und kulturelle Kategorie erweist sich aufgrund ihrer Offenheit als geeigneter Zugang, um Umbruchssituationen wie jene um 1900 gewinnbringend zu erforschen. Zu zeigen bliebe, wie sich das Wechselverhältnis von Literatur und Liebe nach der transicijn, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert oder in der hispanoamerikanischen Literatur gestaltet. Die Tragbarkeit der Typologie und ihre Differenzierung in 1) Liebe als Praktikabilität, 2) Liebe als spielerisch reflektierte Diskurse und 3) Liebe als intensiviertes Handeln und Erleben könnte auch an historisch älteren oder jüngeren Texten erprobt werden.
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