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German Pages [309] Year 2013
Andreas Holzer Tatjana Marković
G A L I N A I van o v na U s t v o l’ s k a j a
EUROPÄISCHE KOMPONISTINNEN Herausgegeben von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld Band 8
Andreas Holzer Tatjana Marković
Galina Ivanovna Ustvol’skaja Komponieren als Obsession Mit einem Essay und einer Wortsäule von Edu Haubensak
2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Die Reihe »Europäische Komponistinnen« wird ermöglicht durch die Mariann Steegmann Foundation
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Galina Ustvol’skaja im Sommer 1950. Privatbesitz von Konstantin Bagrenin.
© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-21031-1
Inhalt Vorwort der Herausgeberinnen ........................................................
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Vorbemerkungen .................................................................................
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Prolog .................................................................................................... Annäherungen ................................................................................ Erste Totale. Edu Haubensak: Existenzielle Botschaften aus dem Reich der Einsamkeit. Die russische Komponistin Galina Ustvol’skaja ...................................................................................... Feindliches Umfeld ................................................................. Höchste Höhen, tiefste Tiefen ................................................ Am Rand, aber wichtig ...........................................................
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Lebenslinien ......................................................................................... Voraussetzungen ............................................................................. »Ich will ein Orchester sein« ................................................... Schulbildung ........................................................................... Petrograd – Leningrad ............................................................ Schülerin von Dmitrij Šostakovič ........................................... »Schreiben sie kürzer, aber begabter!« – Die Kompositionslehrerin ... Ustvol’skaja im Fokus des sowjetischen und russischen Musikschrifttums ............................................................................ Religiös? Spirituell? Geistig? – Zum performativen Charakter der späten Sinfonien ....................................................................... »Ich bin keine Frau, ich bin nur Galina Ustvol’skaja« – zum Selbstverständnis als Komponistin .................................................. Zur Rezeption im »Westen« ........................................................... Marginalia zu Alltäglichem ............................................................
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Betrachtung des Werks ..................................................................... Galina Ustvol’skajas kompositorisches Profil .................................. Einleitung ............................................................................... Spezifische Charakteristika ..................................................... Gibt es ein Kompositionssystem? ................................... Kumulation extremer Ausdrucksmittel ........................... Reduktion als kritischer Aspekt ......................................
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Inhalt
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Antihierarchik .......................................................... Antinarrativität? ....................................................... Gattungs- und Formkonzeptionen .......................... Spezifische Werkbetrachtungen ............................................... Die »sowjetischen« Stücke ............................................... Ansatzpunkt Šostakovič? ................................................. Performative Extreme: Die späten Klaviersonaten ........... Die Kompositionen ...........................................................
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Epilog .................................................................................................... 231 Die Musik von Galina Ustvol’skaja ist ............................................ 231 Anhang .................................................................................................. Zeittafel .......................................................................................... Werkliste(n) .................................................................................... I) Ustvol’skajas Katalog .......................................................... II) Von Ustvol’skaja abgelehnte Werke ................................... Aufnahmen der Werke Galina Ustvol’skajas ................................... Filme über Galina Ustvol’skaja ....................................................... Notenbeispiele aus den Kapiteln Lebenslinien und Betrachtung des Werks ........................................................................................ Erläuterungen zur CD ....................................................................
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Literatur- und Quellenverzeichnisverzeichnis ................................ Quellen ........................................................................................... Literatur .......................................................................................... Internetseiten ..................................................................................
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Abbildungsnachweis .......................................................................... 291 Personen- und Werkregister ............................................................. 292
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Inhalt
Vorwort der Herausgeberinnen »Es soll nur die echte und starke Musik erklingen!« Galina Ustvol’skaja und das Dilemma der »Frauenmusik« Galina Ustvol’skaja hat sich nicht häufig mit klaren Worten schriftlich geäußert. Dass es so wenige Schriftdokumente aus ihrer Hand gibt, ist gewissermaßen Teil ihrer Persönlichkeit. Umso erstaunlicher daher, dass sie sich just zum Thema dieser Monographien-Reihe geäußert hat, einer Reihe, die bewusst Frauen ins Zentrum des Betrachtens rückt, genauer gesagt: komponierende Frauen. Von dieser Form des ebenso bewahrenden wie zugleich ghettoisierenden Blickwinkels hielt Ustvol’skaja nichts. Klar positionierte sie sich gegen Festivals zum Thema »Frau und Musik«, wie sie seit den 1970er Jahren in Westeuropa immer häufiger initiiert worden waren: »Was das Festival der Frauenmusik betrifft, so möchte ich folgendes sagen: Ob wirklich zwischen einer Männer- und einer Frauenmusik unterschieden werden kann? Wenn heute Festivals der Frauenmusik durchgeführt werden, so sollte es mit der gleichen Berechtigung auch Festivals der Männermusik geben. Ich bin aber der Meinung, dass solch eine Trennung nicht existieren darf. Es soll nur die echte und starke Musik erklingen! Eigentlich bedeutet die Aufführung im Rahmen von Frauenmusikveranstaltungen für die dargebotene Musik eine Demütigung.« (vgl. S. 102 dieses Buches)
Eine Demütigung mithin auch die Aufnahme ihrer Person und ihres Werkes in die Reihe »Europäische Komponistinnen«? Es berührt eine grundsätzliche Frage, ob komponierenden Frauen ein separater Raum des Gehörtwerdens, ein separater Raum, in dem über sie nachgedacht, gesprochen und geschrieben wird, zugeteilt werden soll. Dafür spricht, dass durch die lange Marginalisierung noch immer Schutzräume notwendig sind, damit die Präsenz von Frauen und ihr Handeln überhaupt sichtbar gemacht werden können. Dagegen spricht, dass mit dieser Form des Schutzraums zugleich ein erneuter Ausschluss stattfindet, die noch dazu jeder Frau den Stempel des Geschlechts aufdrückt, so als sei weiterhin das musikalische Handeln von Männern die Regel, das musikalische Handeln von Frauen hingegen die Ausnahme, anzukündigen mit einer rhetorischen Fanfare. Um diesem Dilemma auszuweichen, hat die Historikerin Karin Hausen mit guten Gründen für den »Neubau« unseres Geschichtsgebäudes plädiert, Vorwort der Herausgeberinnen
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in dem die Architektur nicht mehr den Bedürfnissen bürgerlicher Repräsentationskonventionen folgt. In diesem Neubau gibt es einen weiten Bewegungsradius für alle, die das Haus bewohnen, besuchen oder auch nur im Vorbeigehen betrachten. In einem solchen Haus würde es keinen »FrauenRaum« geben, keinen Raum für das »Festival der Frauenmusik«, keine Demütigungen des bislang Marginalisierten. An dieser offenen Architektur arbeitet auch die Reihe »Europäische Komponistinnen« mit. Und dies ist kein Widerspruch, obwohl sie ausschließlich Raum bietet für Frauen. Wie aber kann das sein? Um in der Metapher des Hausbauens zu bleiben: Ohne Material ist ein Hausbau nicht möglich, jedes Haus besteht aus der Summe zahlloser Einzelteile. Was aber, wenn das Material fehlt? – Grundlagen sind bereitzustellen, aus denen das Gebäude einer offenen Musikgeschichte entstehen kann, Grundlagen, wie sie monographische Studien darstellen. Die Reihe »Europäische Komponistinnen« ist mithin gedacht, dieses Material für den Neubau des Hauses einer Musikgeschichte bereitzustellen. Warum aber dann der Schutzraum? Stellt man sich die Monographie als Baumaterial vor, so ist klar, dass dieses Material nie ›rein‹, sondern selbst bereits ›behauen‹ ist: durch den Blickwinkel des Autors oder der Autorin, durch ihre Herangehensweisen, ihre Perspektiven. Und hier kann die Reihe gerade mit ihrem Fokus auf komponierende Frauen möglicherweise leisten, was Ustvol’skaja unmöglich schien: das Betrachten der »echten und starken« Musik unabhängig vom Geschlecht derjenigen Person, die sie erdacht hat. Denn das Wissen um die Fallstricke der Geschlechtergeschichte, das in diesem publizistischen Raum für komponierende Frauen existiert, ermöglicht nicht zuletzt eine anregende Reflexion darüber, warum sich eine Komponistin gegen Frauenmusikfestivals aussprechen musste, um als Komponistin gehört zu werden. Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld Berlin und Oldenburg, 2013
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Vorwort der Herausgeberinnen
Vorbemerkungen Als Grundlage für die Übertragung russischer Namen diente das Translationssystem ISO 9 (Version 1968). Beibehalten wurden die Schreibweisen in den Zitaten und in den Besetzungsangaben der Tonträger (s. Anhang). An erster Stelle der Dankesadressen muss der Witwer Konstantin Bagrenin genannt werden, der uns in Sankt Petersburg – in jener Wohnung, die er nahezu ein halbes Jahrhundert mit Galina Ustvol’skaja bewohnt hat – äußerst freundlich und entgegenkommend empfangen, und dankenswerterweise auch eine größere Anzahl an Photographien für die Publikation zur Verfügung gestellt hat. Herzlicher Dank gebührt Ksenija Mavleeva, die uns mit ihrer Arbeit in den Sankt Petersburger Bibliotheken eine große Hilfe war. Sehr erfreulich war die Arbeit in der Paul Sacher Stiftung in Basel, die eine kleine Sammlung über die Komponistin beherbergt. Speziell danken möchten wir Heidy Zimmermann. Gedankt sei auch dem Hamburger Sikorski-Verlag, dessen Drucke die Grundlage für die den Großteil der Notenbeispiele bilden. Weiters möchten wir noch Marian Y. Lee danken, die ihre Arbeit zum Doctor of Musical Arts geschickt hat, und schließlich Annegret Huber und Benjamin Meyer, die als anregende Gesprächspartner die Entstehung des Buches begleitet haben. Abschließend danken wir noch den Herausgeberinnen für die gute Zusammenarbeit. Für die Notenbeispiele der bei Sovetskij kompozitor’ gedruckten Werke (Pionier-Suite, Sport-Suite) konnten trotz aller Bemühungen keine Abdruckerlaubnisse eingeholt werden. Die AutorInnen stehen jedoch jederzeit für allfällige Ansprüche zur Verfügung.
Vorbemerkungen
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Prolog Annäherungen Eine Künstlerpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts, deren Musik in den Konzertsälen erklingt, sollte – so wäre zu vermuten – bereits seit geraumer Zeit in der Musikliteratur angekommen sein. Nicht so im Falle der russisch-sowjetischen Komponistin Galina Ustvol’skaja, zumindest nicht im »Westen«. Als ihr Name dort um 1990 in Konzertprogrammen und nachfolgend im Musikschrifttum auftauchte, hatte sie bereits ihr letztes Werk, das sie an die Öffentlichkeit entließ (die 5. Sinfonie »Amen« [1989/90]) in Arbeit. Damals waren viele Vertreter der »sowjetischen Avantgarde«, so etwa Sofija Gubajdulina, Alfred Šnittke oder Edison Denisov, schon seit einiger Zeit recht gut bekannt. Galina Ustvol’skajas Musik war »plötzlich da«, und sie sorgte für ein gehöriges Maß an Verblüffung. Die archaisch anmutenden, durch reduktionistische Techniken und dynamische Extreme gekennzeichneten Stücke waren kaum irgendwelchen Vorbildern zuzuordnen und wurden in den Rezensionen dementsprechend mit einem zu Superlativen neigenden Vokabular bedacht. Die Besonderheit der Rezeption resultierte nicht zuletzt daraus, dass über ihre Person kaum etwas in Erfahrung zu bringen war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihre Heimatstadt Petrograd/Leningrad, die nun wieder zu Sankt Petersburg wurde, kaum verlassen. Anders als im Falle der oben genannten Avantgardisten gab es zunächst auch keine vergleichbaren personellen Verbindungen, die diesem Informationsnotstand hätten abhelfen können. Darüber hinaus waren allenfalls ein oder zwei Photographien von ihr greifbar. Die ersten Texte über Ustvol’skaja waren demnach in hohem Ausmaß auf die Informationen angewiesen, die sie selbst in die Öffentlichkeit entließ. Angesichts ihres äußerst scheuen Wesens waren diese kärglich genug; Interviews lehnte sie bis auf wenige Ausnahmen ab. 1998 ließ sie sich in Wien nach langer Überzeugungsarbeit zu einem Interview unter der Bedingung überreden, keine Aufnahmen zu machen. Ihr Mann, Konstantin Bagrenin, erinnert sich daran, dass sie, nachdem sie doch eine Kamera entdeckte, auf diese zuging, sie zu Boden warf und den Raum verließ (http://ustvolskaja.org/eng/interview.php; 19. 2. 2012). Auch die »Sammlung Ustvol’skaja« in der Baseler Paul Sacher Stiftung ist von sehr kleinem Umfang: Neben den Noten finden sich keine längeren Schriften und nur wenige Briefe, die allesamt aus der jüngeren Vergangenheit stammen. Zumeist handelt es sich um kurze Korrespondenzen mit dem Hamburger Verlag Sikorski, der nicht nur einen Großteil ihrer Werke »Bilder« von Galina Ustvol’skaja
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publizierte, sondern überhaupt als Mentor osteuropäischer, vor allem sowjetischer/russischer Musik gelten kann. Selbst Bücher ihrer SchülerInnen Ol’ga Gladkova (2001) und Semën Bokman (2007) haben weder den Umfang an biographischen Informationen wesentlich erweitert, noch tiefergehende Einsichten in ihre Kompositionen geboten. Eingehenderen analytischen Auseinandersetzungen mit ihrem Werk begegnet man erstmals in einem in jüngster Vergangenheit erschienenen Band der Musik-Konzepte (Bd. 143, 2009). Der darin enthaltene Beitrag von Dorothea Redepenning relativiert im Übrigen einige jener bereits »liebgewordenen Bilder« über die Komponistin, die bis dahin in den einschlägigen Texten weitertransportiert worden waren. Welcher Art waren diese Bilder? Wie gesagt waren die Skizzierungen ihrer Persönlichkeit nicht zuletzt auf die spärlichen Äußerungen der Komponistin nach der Bekanntwerdung im Westen angewiesen. Wenig verwundert es daher, dass in fast allen Texten jene Informationen wiederkehren, die auf ein schrulliges oder auch rätselhaftes Persönlichkeitsbild verweisen und somit einer gewissen Mystifizierung Vorschub leisten. Dazu gehören die Aufforderung, ihre Werke möglichst nicht zu analysieren, die Abneigung gegenüber der Bezeichnung »Kammermusik«, die Aversion gegen ihren Lehrer Dmitrij Šostakovič, der Verweis, dass ihre Stücke zwar einen spirituellen, aber keinen religiösen Charakter hätten, und dass diese bei keinen Frauenmusik-Festivals aufgeführt werden sollten, sowie die Ablehnung gegen jegliche Vergleiche ihrer Werke mit anderen kompositorischen Tendenzen. Alles verwies darauf, dass sie ein völlig isoliertes Dasein in ihrer Heimatstadt geführt habe, abseits des öffentlichen Musiklebens. Das stimmt zwar bis zu einem gewissen Grad, muss aber doch relativiert werden. Auch sie hatte, wie viele KomponistInnen der damaligen Zeit, in ihrer früheren Schaffensphase (Ende der 1940er bis Anfang der 1960er Jahre) zwei kompositorische Schienen bedient: eine Schiene, die – wie sie später sagte – ihre »eigentlichen« Werke umfasste, und eine weitere, die durch »typisch sowjetische« Stücke gekennzeichnet ist und demnach weitgehend den Dogmen des Sozialistischen Realismus entsprach (aber doch nicht ganz!). Diese zweite Schiene ist im öffentlichen sowjetischen Musikleben durchaus wahrgenommen und gewürdigt worden. Es gibt etliche positive Werkbesprechungen in der Zeitschrift Sovetskaja muzyka, dem offiziellen Organ des Komponistenverbandes, einige kritische Erwähnungen, sowie mehrere Würdigungen in musikgeschichtlichen Darstellungen der Zeit. 1959 ist sogar eine kleine Biographie von Lidija Rappoport über sie herausgekommen, die erwartungsgemäß den »sowjetischen« Teil ihrer Arbeiten in den Fokus gestellt hat. Darin konstatiert die Autorin, dass Galina Ustvol’skaja vor allem mit der 12
Prolog
vokal-sinfonischen Byline Der Traum des Stepan Razin, die 1949 in Moskau, Leningrad und anderen Städten aufgeführt worden war, einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht hätte (Rappoport 1959, S. 4f.). Im großen Saal der Leningrader Philharmonie sind sogar vier aufeinanderfolgende Saisons mit diesem Werk, das die Komponisten im Übrigen ja auch in ihr Verzeichnis der »eigentlichen« Werke aufgenommen hat, eröffnet worden. Diese »sowjetische« Schiene ist im späten Selbstbild der Komponistin, das sie der Öffentlichkeit anvertraut hat, praktisch nicht mehr enthalten. Sie habe jene Werke nur »aus äußerster materieller Not heraus« (Gladkova 2001, S. 18) komponiert, um ihrer Familie zu helfen. Dennoch sollte man sich eine Bewertung dieser Schiene nicht zu leicht machen: Immerhin hat sie einige dieser sowjetischen Stücke, teilweise nachträglich, ihrem Werkkatalog beigefügt. Interessanterweise gibt es in den späteren, in der Tauwetter-Phase entstandenen Stücken dieser Schiene Ansätze, kompositionstechnische Mittel, die sie in den »eigentlichen« Werken entwickelt hat, einzubauen. Hat Ustvol’skaja zumindest eine Zeit lang über eine Zusammenführung beider Schienen nachgedacht? Natürlich verfolgt jeder Mensch mit seiner Selbstdarstellung bestimmte Intentionen, die letztlich auch die Selektion der dargebotenen Informationen bestimmen. Dazu gilt es zu bedenken, dass Gedächtnis keine passive Instanz ist, aus der wie aus einer Datenbank Ereignisse einfach abgerufen werden. Vielmehr unterliegen diese immer schon einer Interpretation, die sich im Laufe der Zeit auch gewandelt haben kann. Insofern können beispielsweise die uns zugänglichen Mitteilungen über Šostakovič, die allesamt aus der Zeit nach 1990 stammen, niemals das sich über Jahrzehnte erstreckende Verhältnis zu ihrem Lehrer wiedergeben, sondern allenfalls die Bilanz, die Ustvol’skaja nachträglich gezogen hat. Schon allein dadurch, dass Erinnerung immer nur fragmentarisch und in einer bereits interpretierten Dimension vorliegt, hat jede Form von autobiographischer Rekonstruktion einen gewissen performativen Charakter. Immer ist die/der Biographierte auch bis zu einem gewissen Grad Konstrukteur ihrer/seiner Biographie. Es geht allerdings weder darum, der Biographierten Manipulation zu unterstellen, noch um eine säuberliche Differenzierung zwischen »authentischem und inszeniertem Verhalten« (vgl. Bödeker 2003, S. 36f.), das wäre naiv. Vielmehr geht es um eine Kontextualisierung der Aussagen, um die Rekonstruktion der Beweggründe, oder auch um die Frage nach den Adressaten. Dazu ein Beispiel: Wenn Galina Ustvol’skaja in einem der raren Interviews erzählt, dass sie als kleines Kind unters Klavier gekrochen sei, um mit ihren Eltern nicht auf Besuch gehen zu müssen, weil sie lieber allein bleiben wollte (Gladkova 2001, S. 17), so gibt es keinen Grund, »Bilder« von Galina Ustvol’skaja
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an der Richtigkeit dieser Erinnerung zu zweifeln. Aber gerade angesichts der Tatsache, dass Ustvol’skaja generell nur spärliche Bruchstücke über ihr Leben preisgegeben hat, kommt diesen selektierten Bruchstücken eine besondere Bedeutung zu. Der Beweggrund, gerade dieses Bruchstück – die Geschichte mit der Flucht unters Klavier – zu erzählen, wird wohl damit zu tun haben, der Zurückgezogenheit und Isoliertheit ihres Lebens mit einem anschaulichen Bild Ausdruck zu verleihen. Womöglich war auch die Absicht mit im Spiel, einer gewissen Kohärenz ihrer Biographie in dem Sinne Vorschub zu leisten, dass diese Isolation auch weiterhin für ihr Dasein als Künstlerin gegolten habe. Sie hatte ja verschiedentlich den Eindruck erwecken wollen, jegliche Auseinandersetzung mit Werken anderer unterlassen zu haben, oder überhaupt wenig Musik zu kennen. Angesichts ihres Studiums, ihrer Jahrzehnte währenden Tätigkeit als Kompositionslehrerin und der Kenntnis davon, dass sie Konzerte besucht hat (wenngleich wohl in eher spärlichem Ausmaß), handelt es sich dabei offensichtlich um eine Überzeichnung. In Anlehnung an Pierre Bourdieus Habitus-Konzept gilt es zu bedenken, dass alle individuellen Vorstellungen und Praktiken eines Künstlers mit der »Kollektivität und seinem Zeitalter« verbunden sind »und, ohne dass dieser es merkte, seinen anscheinend noch so einzigartigen Projekten Richtung und Ziel weist« (Bourdieu 1974, S. 132). Bourdieus theoretisches Modell kann als vermittelndes Konzept zwischen einer extrem individualistischen Sichtweise einer künstlerischen Existenz und einer strukturalistischen Auffassung, welche die Künstlerin zu einer bloßen Merkmalsträgerin kollektiver Bedingungen degradieren würde, verstanden werden. Demgemäß muss es im Kontext der Einschätzung von Ustvol’skajas Werken darum gehen, im Rahmen der sich ständig verändernden politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen den »Möglichkeitsraum« zu umreißen, der als Basis ihres künstlerischen Denkens und Handelns vorausgesetzt werden kann, ohne dadurch aber die zweifellos gegebene außergewöhnliche persönliche Charakteristik einzuebnen. Beim Versuch, diesen »Möglichkeitsraum« näher zu bestimmen, steht man insofern immer noch vor nicht unerheblichen Problemen, als die Kenntnisse über das »Feld« der Kunst bzw. Musik in der Sowjetunion – um einen weiteren von Bourdieu geprägten Terminus zu strapazieren – nach wie vor beschränkt sind. Betrachtet man den für Ustvol’skajas kompositorische Entwicklung maßgebenden Zeitraum von den 1930er bis in die 1960er Jahre, so war die »westliche« Perspektive in Hinblick auf die Kompositionslandschaft lange Zeit fast ausschließlich auf die Person Dmitrij Šostakovič beschränkt. Alles andere wurde undifferenziert der Rubrik »Sozialistischer Realismus« einverleibt und damit einer näheren Betrachtung als unwürdig erachtet. 14
Prolog
Diese Fokussierung auf eine Person führte zu der Konsequenz, dass einer Biographie, die, etwas überspitzt ausgedrückt, als Folie für das gesamte sowjetische Musikleben herhalten sollte, zu viel aufbürdet worden ist. Damit wird ein wesentliches Potential von Biographik, nämlich zur Differenzierung eines Zeitbildes beizutragen, geradezu konterkariert. Des Weiteren entsteht dadurch die Gefahr, in Erzählmodi der alten Heroenbiographien zu verfallen, und die wesentlich breiteren biographischen Forschungsansätze der jüngeren Vergangenheit zu vernachlässigen. Einen bedeutsamen Beitrag für breitere und tiefergehende Einsichten in das sowjetischen Musikleben und in die Kompositionslandschaft boten die in der jüngeren Vergangenheit erschienenen Arbeiten von Dorothea Redepenning, deren Geschichte der russischen und sowjetischen Musik (1994 und 2008) den Forschungsstand aus westlicher Sicht geradezu auf eine neue Stufe gehoben hat. Ihre umfassenden und differenzierten Erörterungen der kompositionsgeschichtlichen Entwicklungen haben auch ganz wesentlich dazu beigetragen, allzu einfach gestrickte Schwarzweißmuster wie: regimekritisch versus regimetreu, oder regimetreu = konservativ = tonal, bzw. regimekritisch = progressiv = atonal, zu überwinden. Selbst in Zeiten des tiefsten Stalinismus gab es individuelle Haltungen, unterschiedliche Motivationen und auch gewisse Handlungsspielräume (was gleichwohl nicht als Beschönigung missverstanden werden sollte!). Eine weitere Facette des vorherrschenden Bildes von Galina Ustvol’skaja, die der Relativierung bedarf, ist gegeben durch die Konturierung einer allzu statischen Biographie. Dazu gibt es freilich zunächst genug Anlass: Viele Künstlerbiographien könnten geschrieben werden auf der Basis von räumlichen Veränderungen, die ein wechselndes Umfeld nach sich gezogen und dementsprechend zu Entwicklungsschüben oder zumindest zu perspektivischen Veränderungen beigetragen hätten. Man könnte etwa an den Werdegang eines Edison Denisov denken, der neben seinen umfangreichen Kontakten im eigenen Land bereits sehr früh Beziehungen zum Westen einfädelte, die ihm zahlreiche Impulse boten. Nichts Vergleichbares ist bei Ustvol’skaja zu beobachten; es ist schwer zu sagen, mit welchen Bereichen der zeitgenössischen Kompositionslandschaft sie sich überhaupt näher auseinandergesetzt hat. Dennoch ist sie auch in Leningrad einem sich immer wieder verändernden Umfeld gegenübergestanden, das trotz aller Zurückgezogenheit zu einer Veränderung ihrer künstlerischen Perspektive beigetragen haben dürfte. Es wäre auch falsch, ihren kompositorischen Werdegang als entwicklungslos zu bezeichnen, wenngleich wesentliche Merkmale ihres künstlerischen Profils bereits in den späten 1940er Jahren deutlich greifbar sind. »Bilder« von Galina Ustvol’skaja
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Angesichts der spärlichen Quellenlage besteht für diese biographische Annäherung erst gar nicht die Gefahr, eine geschlossene lineare Erzählung im Sinne eines »theoriefernen Entwicklungsromans« (vgl. Scheuer 1995, S. 125) darzubieten. Vielmehr stellte sich beständig die Frage, wie mit den Lücken umzugehen ist. Oftmals erwies es sich als einziger Weg, eine Art »Möglichkeitsraum«, ein denkbares Szenario oder Milieu zu entwickeln, in das sich die biographierte Person einbetten ließe. Natürlich könnte man darin eine gewisse Form von Kompensation sehen, welche die Gefahr in sich birgt, dass das biographische Subjekt in diesem Szenario gewissermaßen verschwindet. Zu denken wäre in diesem Zusammenhang etwa an den Diskurs um Stephen Greenblatts Shakespeare-Biographie (2004), dem ähnliche Vorwürfe entgegengebracht wurden. Im Aufbau des Buches sind die drei traditionellen Säulen der Biographik (Leben, Werk, Umfeld) gleichermaßen deutlich auszumachen wie der Versuch zu deren Vernetzung. Als Eröffnung dient ein Essay des Schweizer Komponisten Edu Haubensak, der einen ersten kompakten Gesamteindruck vermitteln soll, und der darüber hinaus eine sehr persönliche Einschätzung von Galina Ustvol’skajas Musik abbildet. Dieser Band der Reihe Europäische Komponistinnen ist dadurch gekennzeichnet, dass im Vergleich zu den bislang vorliegenden Bänden der Besprechung der Werke ein ungleich größerer Raum zugemessen wird. Damit korrelieren auch umfassendere Einblicke in die eigenartige Welt ihrer Partituren. Das liegt zum einen natürlich an den außergewöhnlich spärlichen biographischen Informationen und der radikalen Verschlossenheit der Künstlerin, die sich nur selten und ungerne zu Wort gemeldet hat; und wenn, dann betraf das unmittelbar ihr kompositorisches Schaffen. Beiträge zu gesellschaftspolitischen, religiösen oder ästhetischen Diskursen liegen nicht vor. Zum anderen ist diese Gewichtung aber auch der Überzeugung der AutorInnen geschuldet, dass in der Musik – mehr als in den anderen Künsten – einem interessierten Laienpublikum oftmals allzu wenig an Kenntnis und Verständnis der künstlerischen Objekte zugetraut und zugemutet wird. Natürlich sind die Werkbesprechungen in diesem Buch durch das Bemühen gekennzeichnet, einen LeserInnenkreis auch außerhalb der Musikwissenschaft anzusprechen. Dennoch werden, je nach Kompetenz, unterschiedliche Rezeptionsqualitäten zu erwarten sein. Aber selbst ein Laie, der einen Notentext kaum oder gar nicht lesen kann, wird den optischen Qualitäten der Partituren einige sinnliche Eindrücke entnehmen können; sei es der reduktive Gestus, die insistierende Penetranz der eigenartig notierten Clusterfolgen, oder die Obsession der oftmals zahlreichen Wiederholungen.
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Erste Totale Edu Haubensak: Existenzielle Botschaften aus dem Reich der Einsamkeit. Die russische Komponistin Galina Ustvol’skaja. Nur 36 Stücke hat sie im Lauf ihres schweren Lebens geschrieben, 25 davon ließ sie gelten – die russische Komponistin Galina Ustvol’skaja hat wahrhaft gerungen um ihre Musik. Herausgekommen sind sehr spezielle, äußerst bedrängende Werke. Der Versuch einer Annäherung. Das Entstehen einer Komposition sei immer das Ergebnis eines Denkprozesses, sagte Galina Ustvol’skaja über ihre Arbeit 1960. Früh schon entwickelte sie eine unverwechselbare, eigene Musiksprache quer zu den Vorstellungen der Apparatschiks einer sowjetischen Musik, die im Sinne des sozialistischen Realismus hohles Pathos und den Dienst am Vaterlande forderten. Ihr Gesamtwerk umfasst 36 Kompositionen, und von diesen ließ sie 25 gelten – wahrlich ein schmales Œuvre, das aber an musikalischer Brisanz und Eindringlichkeit kaum zu überbieten ist. Abgesehen davon verachtete sie alle Vielschreiber. Konzentration auf das Wesentliche war ihre Devise, jeder einzelne Ton zählte, als ob das Weiterleben, das Existieren davon abhinge: Komponieren als Obsession. Das ist in ihrem Werk geradezu physisch spürbar; mit unglaublicher Wucht schleudert sie ihre Klänge durch den Raum, explosionsartig werden Klangkomplexe freigesetzt und pulsierend repetiert. Feindliches Umfeld Ein Leben lang war Galina Ustvol’skaja in St. Petersburg in kleinen Wohnungen zu Hause. Geboren während der weißen Nächte des Juni 1919 im damaligen Petrograd, das danach in Leningrad umgetauft wurde, durchlebte sie ein für viele Künstler geradezu katastrophales Russland. Der Vater war Rechtsanwalt, die Mutter Lehrerin und der Großvater eine bedeutende Persönlichkeit in der geistlichen Welt. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg starb ihr Vater, danach lebte die Familie in schwierigen materiellen Verhältnissen. Ihre Jugend verlief in Einsamkeit, gern bummelte sie alleine durch die Stadt oder fuhr mit der Straßenbahn hinaus zu den Inseln und schaute den Vögeln beim Baden zu. Niemand konnte das eigenwillige Kind verstehen. Ustvol’skaja spielte nach eigenen Angaben schlecht Violoncello, Ein Essay von Edu Haubensak
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auf einem schlechten Instrument. Ihre früheste musikalische Kindheitserinnerung war eine mit der Mutter besuchte Aufführung der Oper Evgenij Onegin von Pëtr Čajkovskij, die ihr einen großen Eindruck machte. Danach sagte sie: »Ich will ein Orchester sein!« Die Entwicklung als Komponistin in einem feindlichen Umfeld führte Ustvol’skaja auf eigenständige musikalische Wege. Bereits Ende der vierziger Jahre schrieb sie Partituren ohne Taktstriche, nur dem einzelnen, fortlaufenden Puls vertrauend. Viele ihrer Werke sind im Einvierteltakt notiert, jeder einzelne Ton wird gleichwertig gewichtet. In ihren Notentexten begegnet man häufig der Überschrift »espressivissimo« (eine sehr seltene Anweisung an die Interpreten), und oft stehen Fortissimo und Pianissimo unmittelbar nebeneinander. Ihre Musik ist eigentlich nicht schwer zu verstehen, wenn man den ersten Affront der Klangattacken überstanden hat. Dann öffnen sich musikalische Welten, in denen Zartes und Schroffes mittels der barocken Terrassendynamik in extremis hörbar werden. Nichts ist brav, alles von größter Intensität. In der Zeit des Studiums am Leningrader Konservatorium (1937 bis 1947) war Ustvol’skaja fasziniert von der Musik Franz Schuberts und Gustav Mahlers. In Gesprächen mit Tatjana Rexroth erzählte sie über die damaligen Schwierigkeiten, an Partituren zu gelangen, die im Westen aufgeführt und besprochen wurden. Noten von Igor’ Stravinskij waren nur zum Teil vorhanden, und die Partitur zu Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire war nicht aufzufinden, da das Stück verboten war. Diese Musik wurde als verderblich für die Parteilinie gehalten. Ustvol’skaja studierte in der Klasse von Šostakovič Komposition, und die engen Verbindungen zwischen musikalischer und privater Ebene führten zu unauflösbaren Konflikten. Die Schwierigkeiten kulminierten, als Šostakovič um ihre Hand bat und eine Abfuhr erlitt. Šostakovič verehrte Ustvol’skaja und bewunderte ihre Musik. Den Mut zu haben, eine von oben befohlene staatliche Ästhetik zurückzuweisen und die entsprechenden Entbehrungen auf sich zu nehmen, das muss ihn beeindruckt haben. Gleichzeitig war Šostakovič im (ambivalenten) Pakt mit der Macht, stand selber gerne im Zentrum und förderte deshalb kaum Aufführungen seiner ehemaligen Elevin. Ustvol’skaja grenzte sich ab und verbrannte sämtliche Briefe von ihm. Immer habe er geschwiegen, wenn es schlecht um sie gestanden habe, sagte sie. Unterschiedlich ist die Wahl des Instrumentariums in den Sinfonien der beiden Komponisten: Während Šostakovič traditionell für groß besetzte Orchester schrieb, wählte Ustvol’skaja höchst originell zusammengesetzte Ensembles mit menschlichen Stimmen. In der frühen, 1955 geschriebenen 1. Sinfonie werden zwei Knabenstimmen mit hellen Instrumentalfarben 18
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umgeben, im (noch traditionell besetzten) Orchester sind unter anderem Piccoloflöten und hohe, kleine Trompeten, Celesta, Harfe und solistisch eingesetzte Streicher vorgesehen. Erst viele Jahre später komponiert sie die 2. Sinfonie (1979), die einen Sprecher und hauptsächlich Bläser verlangt. Immer aber ist das Klavier mit dabei, das – mit einer Ausnahme – an allen fünfundzwanzig gültigen Kompositionen Ustvol’skajas beteiligt ist. Die Zahl der Instrumente späterer Sinfonien reduzierte sich dann auf einige wenige, die 4. und 5. Sinfonie verlangen noch vier beziehungsweise sechs Musiker. Das verdeutlicht, wie wenig konventionell die Denkweise der Komponistin war. Eine andere Wurzel ihres Schaffens ist die lebenslange Einsamkeit, an der sie seit ihrer Kindheit litt. Ustvol’skajas Musik hat eine zutiefst existenzielle Dimension, in ihr verkörpert sich das Drama ihres Seins. Die inneren Notlagen, die wir alle kennen, sind bei ihr hörbar. So zu leben wie Diogenes im Fass, das wäre für sie eine adäquate Lebensform, meinte sie einmal lakonisch. Andere Geistesverwandte sind vielleicht der rumänische Denker und Aphoristiker E. M. Cioran. Seine Buchtitel Vom Nachteil, geboren zu sein, Lehre vom Zerfall oder Syllogismen der Bitterkeit sprechen für sich. Aber Galina Ustvol’skajas Musik ist immer wieder sanft und zerbrechlich. Dort, im fünffachen Pianissimo, werden reduzierte Klangräume geschaffen und Gegengewichte zu den martialischen Abschnitten gesetzt. Höchste Höhen, tiefste Tiefen Ein Jahr vor ihrem Tod 2006 wurde in St. Petersburg und in Amsterdam ein halbstündiger Dokumentarfilm für einen holländischen Fernsehkanal gedreht. In diesen Interviews spricht die Komponistin auf luzide Weise von ihren ganz eigenen Vorstellungen über ihre Musik. Insbesondere wurde sie gefragt, ob ihr kompositorischer Antrieb religiöse Wurzeln habe. Sie antwortete: »Ein spiritueller Mensch ist ein großer Mensch, auch ohne Religiosität. Meine Arbeit ist nicht religiös, aber durchaus spirituell.« Der Titel des Films, Schrei ins All, bezieht sich auf eine Notiz Ustvol’skajas in der 2. Sinfonie und meint den beschwörend in Russisch vorgetragenen Text aus mittelalterlichen Quellen »Aai a-ich-ich! O Gott«, aber auch die in sich kreisenden Anrufe wie »Wahre und gute Ewigkeit! – Ewige und gute Wahrheit! – Wahre, ewige Güte!«. Die Instrumente sind als Blöcke geordnet: sechs Flöten, sechs Oboen, sechs Trompeten, Posaune und Tuba, Trommeln und Klavier. Es ist der Atem, der zwanzigfach gepresste Atem, der die Klänge zum Ein Essay von Edu Haubensak
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Glühen bringt, es sind das mit Fäusten traktierte Klavier und die archaische Trommel, die den Hörer mit unerbittlicher Wucht erschüttern. Einen guten Einstieg in ihr Werk bieten die sechs Klaviersonaten. Zwischen 1947 und 1955 entstanden die ersten vier, später erst die charakteristische fünfte und die mit den Handkanten gespielte sechste. Schon die ersten Sätze der ersten Sonate zeigen die Handschrift der Komponistin. Auf jeder Note ein Akzent, doppelt punktierte Rhythmik und seufzermotivische Halbtontriller. Erst im vierten und fünften Satz beginnt sie mit leisen Akkorden und längeren Gesängen im Diskant. Ustvol’skaja ist eine Melodikerin, sie denkt linear. Oft zweistimmig polyphon. Selbst die Tonballungen entstehen aus melodischem Denken. Monolithische Klangblöcke werden im Raum repetiert, und die engen Intervallschichten wirken wie dunkelfarbene Kuben, die hin und her geschoben werden. Übrigens schrieb sie am Tisch, ohne Hilfe eines Instruments. Die 5. Klaviersonate (1986) in zehn Teilen ist die bekannteste und mit ihrem einprägsamen Kopfmotiv auch die zugänglichste. Symmetrisch gebaut, werden die einzelnen Abschnitte konzis und plastisch dargestellt, neue Techniken, wie mit den Knöcheln zu spielende Cluster-Figuren, werden verlangt. Alle Töne gruppieren sich um den zentralen Ton Des im Zentrum der Tastatur. Ustvol’skajas Vorstellung von Musik spielt sich immer wieder in den extremen Lagen ab: im allerhöchsten Register und gleichzeitig im Subkontrabass, in den tiefsten Tönen des Klaviers, und ihre Ekstasen sind tief empfundener Schmerz. Die 1988 geschriebene sechste Sonate zeigt die Komponistin von der schroffsten Seite: mit beiden Handkanten geschlagene Cluster, die nicht einmal genau definiert sind, nur der Diskant als melodische Linie ist thematisch und soll hervorgehoben werden. In meinem Hörprotokoll aller sechs Sonaten steht: »…jede gespielte Note ist einsam, getrennt von der vorherigen, getrennt von der nachfolgenden. Da ist das Lamento versteckt, das ständige Rufen (ins All) ohne Aussicht auf Antwort … Das ist das Spirituelle.« Erst spät kam Galina Ustvol’skaja zum ersten Mal aus ihrem Land heraus: 1996, als sie vom holländischen Dirigenten und Pianisten Reinbert de Leeuw zu einem nur ihr gewidmeten Konzert in Amsterdam eingeladen wurde. Mstislav Rostropovič dirigierte die 2. Sinfonie und spielte das ihm gewidmete Große Duett für Violoncello und Klavier mit Reinbert de Leeuw. Endlich wurde Ustvol’skaja auch im Westen wahrgenommen, ihre Partituren sind in Deutschland verlegt, nahezu alle ihre Werke sind in verschiedenen Interpretationen auf CD eingespielt (teilweise vergriffen), und eine 20
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informative Biographie von Ol’ga Gladkova wurde ins Deutsche übersetzt. Ustvol’skajas Musik ist mit 15- bis 20-jähriger Verspätung meist in Leningrad uraufgeführt worden, ihr letztes Werk, die 5. Sinfonie, hatte dann in New York Premiere. Manchmal lässt sie einen auch in stilles Gelächter ausbrechen – falls man nicht bereits durch ihre Musik eingeschüchtert wurde – wenn etwa eine Piccoloflöte neben einer Tuba und einem Klavier zum Einsatz kommen. In den ersten Takten der Komposition Nr. 1 mit dem Untertitel »Dona nobis pacem« antworten die schneidenden und schrillen Töne der Piccoloflöte und des Klaviers auf die abstürzenden Glissandi der Tuba. Ein absurdes, phantastisches Gespräch ungleicher Wesen. Zwei weitere Werke entstehen und werden zu einem Zyklus Kompositionen 1-3 (1970-75) zusammengefasst. Ustvol’skajas Vorstellung von Instrumentalmusik – sie wies das Wort Kammermusik zu Recht weit von sich – ist auch hier geprägt durch eine ausgefallene Wahl der Instrumente; so sieht sie etwa zusätzlich einen Holzkubus vor, auf den mit Holzhammern geschlagen wird. Acht Kontrabässe, Holzkubus und Klavier sind die Instrumente für Nr. 2, vier Flöten, vier Fagotte und Klavier für die Nr. 3. Was für eine Musik kann man da erwarten? Ein weiterer Schritt der Archaisierung in ihrem Schaffen. Am Rand, aber wichtig In den fünfziger und sechziger Jahren wurden, neben dem Serialismus (der Allgemeingültigkeit beanspruchte), eine ganze Reihe von höchst eigenständigen Positionen in der zeitgenössischen Musik bezogen. Diese Kompositionen entstanden lokal und im Verborgenen. Denken wir nur an die großartigen Kompositionen von Giacinto Scelsi, Conlon Nancarrow, Harry Partch, Morton Feldman und eben Galina Ustvol’skaja. Sie alle gehören zu den Großen, Spätentdeckten. Unverwechselbar sind diese Musiksprachen, auch wenn untereinander Gemeinsamkeiten existieren. Die Repetitionen, das Motorische ist Ustvol’skaja nah, und charakteristisch ist ihr Verzicht auf jegliche Polyrhythmik. Immer wieder schreibt sie innerhalb eines eisernen Pulses – in langsamen oder horrenden Tempi – synkopisch oder (doppelt) punktiert. Die Musik von Galina Ustvol’skaja ist: abgründig, absolut, anrufend, archaisch, asketisch, bedrohlich, bohrend, brisant, brutal, drastisch, eigenständig, einsam, ekstatisch, entbehrend, erschütternd, existenziell, explosiv, expressiv, extrem, gepresst, gerastert, glühend, gnadenlos, großartig, grotesk, heidnisch, hypnotisch, inbrünstig, intensiv, karg, klagend, kompromisslos, kosmisch, laut, Ein Essay von Edu Haubensak
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leidenschaftlich, leise, magisch, monolithisch, obsessiv, peitschend, physisch, pulsierend, radikal, repetierend, rituell, schmerzhaft, schneidend, schrill, schroff, seufzend, spirituell, unbeugsam, unkonventionell, unverwechselbar, verborgen, wuchtig und zart. Aufführungen sind immer noch rar. Dieser Text erschien am 18. Oktober 2008 in der Neuen Zürcher Zeitung. Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.
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Lebenslinien Voraussetzungen »Ich will ein Orchester sein« Ein Problemfeld der biographischen Darstellung einer künstlerischen Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts dürfte im Regelfall in der Schwierigkeit liegen, die adäquaten Selektionen aus der Fülle des vorhandenen Quellenmaterials zu treffen, wird doch allein durch dessen Gewichtung – was sollte hervorgehoben, was zumindest erwähnt und was kann vernachlässigt werden? – in erheblichem Maße die Perspektive auf das biographische Subjekt bestimmt. Vor dieser Problematik steht man beim Verfassen einer Monographie über Galina Ivanovna Ustvol’skaja nicht, ganz im Gegenteil. Denkbar spärlich gesät sind die greifbaren Informationen, so dass an die Darstellung einer halbwegs geschlossenen chronologischen Entwicklung erst gar nicht gedacht werden kann; immerhin entgeht man dadurch der Gefahr des an älterer Biographik oftmals zurecht kritisierten »unreflektierten Nacherzählens einer Lebensgeschichte und ihres vermeintlichen Zusammenhangs« (Bödeker 2003, S. 14). Besonders wenig wissen wir über die gesamte Zeit vor ihrem Studium bei Dmitrij Šostakovič, wobei – abgesehen von einigen dürren Daten – ein erheblicher Teil dessen aus einem einzigen Interview stammt, das sie ihrer Schülerin und Biographin Ol’ga Gladkova (vgl. Gladkova 2001, S. 16ff.) viele Jahrzehnte später gegeben hat. Da weder Briefe noch irgendwelche Berichte aus dieser Lebensspanne vorliegen, sind wir in besonders hohem Maße auf die persönlichen Erinnerungen der Komponistin angewiesen. Da Erinnerung nicht als passiver Vorgang angesehen werden kann, sondern unweigerlich mit einer Reinterpretation des Vergangenen verbunden ist, wird Bedeutung geschaffen: Die im genannten Interview ausgebreiteten Mitteilungen sind daher nicht bloß als authentische Wiedergaben von bestimmten Ereignissen oder Erlebnissen zu sehen, sondern als Bericht einer Frau, die inzwischen in vielen Jahrzehnten zahlreiche Lebenserfahrungen gesammelt hat, und aus der daraus entwickelten Perspektive sich ihren Adressaten mitteilt. Wenn man davon ausgeht, dass diese genannte Interview-Situation, die für Ustvol’skaja im Übrigen mit einer ungeheuren Überwindung verbunden gewesen sein muss, einige Zeit zuvor geplant war, ist auszuschließen, dass die darin vorgebrachten Erinnerungsfragmente gerade zufällig auftauchten; Voraussetzungen
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vielmehr wird sie sehr bewusst überlegt haben, was sie von sich preisgeben, und welches Bild ihrer Persönlichkeit dadurch gezeichnet werden soll. Letzten Endes werden Teile ihres Lebens nur durch diese Aussagen zum zu beobachtenden Objekt. Die Mitteilungen sind somit als performativer Akt zu verstehen, wobei zu bedenken ist, dass mit dem Ausmaß an Lücken, die kaum zu füllen sind, auch die Spielfläche für die »Inszenierung« zunimmt. Angesichts der weitgehend fehlenden biographischen Quellen wird aber auch die Biographin oder der Biograph in verstärktem Maße – um mit Bourdieu zu sprechen – zum »Komplizen« der Erzählenden, da jene die dargebotenen Informationen mit Begierde aufgreifen werden, mit zumindest beschränkter Möglichkeit, Kontextualisierungen vorzunehmen (angesichts der dürftigen biographischen Erinnerungssplitter wird man sich vielmehr vor der Gefahr einer Überinterpretation in Acht nehmen müssen). Diese Konstellation könnte an Roland Barthes’ »Biographeme« erinnern: »Wäre ich Schriftsteller und tot, wie sehr würde ich mich freuen, wenn mein Leben sich Dank eines freundlichen und unbekümmerten Biographen auf ein paar Details, einige Vorlieben und Neigungen, sagen wir auf »Biographeme«, reduzieren würde, deren Besonderheit und Mobilität außerhalb jeden Schicksals stünden« (Barthes 1986, S. 13). Eine Differenz eröffnet sich allerdings in Hinblick auf den Schluss dieses Zitats: Galina Ustvol’skaja wollte mit jenen »paar Details«, die sie uns, der Nachwelt, hinterlassen hat, doch sehr klar auf eine schicksalhafte Konstellation ihres einsamen Lebenswegs verweisen. Worin bestehen nun diese »Biographeme«? Auffallend ist zunächst einmal, dass im besagten Interview fast nur Privates, persönlich Erlebtes zur Sprache gebracht wird; über Politisches oder Religiöses erfahren wir genauso wenig wie über ihre musikalische Lebenswelt. Offensichtlich geht es ihr darum, die Einbettung ihrer Person in allgemeine gesellschaftliche Bedingungen auszublenden und ihr Dasein als Außenseiterin oder Einzelgängerin, das als solches sich schon in der Kindheit abgezeichnet hätte, hervorzukehren: »Auf der Datscha gingen alle Kinder zusammen spielen, aber ich versteckte mich vor ihnen, setzte mich ins Dickicht am See und zeichnete. In der Kindheit verstand man mich absolut nicht – übrigens, wie auch heute; ich wuchs allein auf. Ich war ganz allein. Die Eltern lebten ihr eigenes Leben. Seitdem sind meine Nerven zerrüttet... Ich erinnere mich daran, dass ich, als ich noch ganz klein war, unter das Klavier kroch, um zu vermeiden, mit den Eltern auf Besuch zu gehen. Ich wollte allein bleiben.« (Zit. nach Gladkova 2001, S. 17)
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Damit werden wir in eine Lebenswelt hineingeführt, die von Anfang an durch Zurückgezogenheit, Einsamkeit und eine ungewöhnliche Scheu vor ihrer Mitwelt gekennzeichnet ist, wobei wir nur darüber spekulieren können, ob diese Eigenschaften in gewisser Weise schon Teil ihres Wesens waren, oder doch die Folge von traumatischen Erlebnissen. Möglicherweise ist sie von ihren Eltern stark vernachlässigt worden; das Phänomen, dass sie andere Kinder gemieden habe, ja offensichtlich gar Angst vor diesen hatte, lässt sich daraus allein allerdings nicht erklären. Aber nähere Einblicke gewährt sie uns nicht; alles, was sie uns über ihr Elternhaus mitteilt, beschränkt sich auf karge Einzelheiten: »Mein Vater, Ivan Michailowitsch Ustvolski, war Jurist, Rechtsanwalt, und kam aus einer Priesterfamilie: Mein Großvater war eine große, bedeutende Persönlichkeit in der geistlichen Welt. Von dieser Herkunft zeugt auch unser Familienname. Meine Mutter, Xenia Korniljewna Potapova, die meinen Vater, der sofort nach dem Krieg starb, um viele Jahre überlebte, war Schullehrerin. Sie kam aus einer verarmten Adelsfamilie, die ihr eine gute Bildung ermöglichen konnte. Soweit ich mich erinnern kann, lebten wir ständig in materiellen Schwierigkeiten. In der Not trug ich den Mantel meines Vaters – er war mir zu lang – und ein neues Halstuch von ihm, das ich später einem Mädchen geschenkt habe. Ich schenkte gern, obwohl wir selbst nichts übrig hatten.« (Zit. nach Gladkova 2001, S. 16)
Die Mutter wird von Ol’ga Gladkova als intelligente, aber äußerst gebieterische, kalte Frau geschildert, während der Vater zumindest gelegentlich sich der Tochter zugewandt haben dürfte. Ustvol’skajas Kompositionsschüler Semën Bokman bestätigte, dass das Verhältnis mit der Mutter offenbar ein sehr schwieriges gewesen sein muss, ohne allerdings genaueres darüber sagen zu können. Immerhin hatte er den Eindruck, dass die Familie das Beste für die Ausbildung unternommen habe (Bokman 2008, http://www.westeast. us/15/article/2407.html). Damit ist das Informationspotential über das Elternhaus bereits ausgeschöpft, und somit müssen viele Fragen unbeantwortet bleiben: Welcher Art waren die politischen Interessen? Spielte Religion eine Rolle im Familienleben, zumal in einem Familienzweig offenbar eine weit zurückreichende Verbindung mit der (orthodoxen) geistlichen Welt bestanden hatte? Ihr späterer Mann Konstantin Bagrenin erzählt, dass Religion in konfessioneller Hinsicht keine Rolle gespielt habe, auch später nicht. In der Nähe der gemeinsamen Wohnung in Sankt Petersburg, die sie 1967 bezogen, befindet sich eine schöne Kirche – Galina Ustvol’skaja war niemals dort. Das Voraussetzungen
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Andenken an den Großvater wurde offenbar bloß durch die Erbschaft zweier alter Bibeln hochgehalten. Allerdings führte sie immer wieder intime Zwiegespräche mit Gott (Interview mit Konstantin Bagrenin am 13. Juli 2012; Informationen aus dem Privatleben beziehen sich auch in weiterer Folge, soweit nicht anders vermerkt, auf dieses Gespräch). Immerhin deutet einiges darauf hin, dass man Galina Ustvol’skaja zumindest eine gute Ausbildung zukommen lassen wollte; so erhielt sie etwa mit ihrer Schwester Tat’jana bei einer Freundin der Mutter, die als Hauslehrerin engagiert war, Deutschunterricht (auch das Verhältnis der beiden Schwestern zueinander verbleibt weitgehend im Dunkeln, jedenfalls bestand in weiterer Folge kein enger Kontakt). Sie kannte viele deutsche Gedichte auswendig, las Werke von Goethe, Schiller und Heine, aber auch deutschsprachige Zeitungen (Rexroth 2000, S. 24). Und welche Rolle spielte die Musik? Die Eltern musizierten jedenfalls nicht, immerhin aber stand – wie aus der obigen Interviewpassage nebenher zu erfahren war – ein Flügel in der Wohnung, den Galina Ustvol’skaja nicht nur als Schutzraum, sondern auch seiner Bestimmung gemäß benutzte. Aber schon die Frage, seit wann, in welchem Ausmaß, bzw. von wem sie Unterricht erhielt, muss weitgehend unbeantwortet verbleiben. Auf jeden Fall erhielt sie Unterweisungen an der Schule der alteingesessenen Leningrad Capella. Diese bis ins 15. Jahrhundert zurückreichende Institution beherbergte nicht nur den berühmten Chor, sondern auch breitgefächerte musikalische Ausbildungsmöglichkeiten. Außerdem lernte sie dort zwischen 1934 und 1937 Violoncello, dessen Beherrschung sie im Gegensatz zu den pianistischen Fähigkeiten allerdings nicht sehr weit gebracht hat. Ausflüge ins Leningrader Theater- oder Konzertleben dürften zumindest gelegentlich auf dem Programm bestanden haben, wobei der Besuch von Čajkovskijs Evgenij Onegin offensichtlich einen besonders tiefen Eindruck hinterlassen hat: »Als ich in der Kindheit Eugen Onegin in der Oper hörte, heulte ich so, dass man mich aus dem Zuschauerraum entfernt hat. Onegin tat mir einfach leid. Mutter sagte, dass man ›Galina nirgends hin mitnehmen darf, weil sie uns nur Schande bringt.‹ Ich erinnere mich, dass das Orchester auf mich einen solchen Eindruck gemacht hat, dass ich sagte: ›Ich will ein Orchester sein!‹« (Zit. nach Gladkova 2001, S. 16)
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Schulbildung Für die musikalische Ausbildung hat sich in der Sowjetunion in den 1920er Jahren ein dreistufiges System von Musiklehranstalten herausgebildet, das zumindest in den Grundzügen für das gesamte weitere Jahrhundert maßgebend geblieben ist. Der gesamte Bereich der Bildung und der Kultur unterstand damals dem bereits 1917 ins Leben gerufenen Volkskommissariat für Aufklärung (Narodnij komitet prosveščenija; bzw. in der Kurzform NARKOMPROS), das sich, in einer Scharnierfunktion zwischen der Partei und den diversen Bildungsinstitutionen, aus 15 Abteilungen zusammensetzte. Die Kunst-Abteilung war entsprechend den Sparten in Unterabteilungen gegliedert (Bildende Künste, Literatur, Theater, Musik), welche abermals durch spezifische Sektoren strukturiert waren (vgl. Redepenning 2008, S. 132f.). Als Basis des dreistufigen Systems fungierten Allgemeine Musikschulen, die sowohl unabhängig als auch in die allgemeinbildenden Schulen integriert sein konnten, und deren Besuch im Normalfall sieben Jahre umfasste. In größeren Städten gab es auch Höhere Musikschulen, die auf elf Jahre (zehn Hauptklassen und ein Jahr Vorbereitung) angelegt waren (1946 gab es 15 derartige Einrichtungen in der Sowjetunion; vgl. Jagolim 1946, S. 4). Für die vierjährige Mittelstufe, in die in der Regel 14- oder 17-jährige SchülerInnen eintraten, hat sich zunächst, ganz im Zeichen der TechnikBegeisterung des Jahrzehnts, die Bezeichnung »muzykalnyi technikum« durchgesetzt. Im Laufe der 1930er Jahre wurde der zweite Namensteil durch »Lehranstalt« ersetzt, wobei im jüngeren deutschsprachigen Schrifttum auch oft die Bezeichnung »Musikfachschule« begegnet (1946 gab es 89, im Jahr 1975 231 derartige Institutionen). Hier wurde, durchaus mit unterschiedlichen Schwerpunkten, bereits alles geboten, was anschließend in den Konservatorien vertieft werden sollte: Instrumental- und Gesangsausbildung, Chorleitung, Dirigieren, Musikpädagogik, Musiktheorie und Komposition. Voraussetzung für den Eintritt war ein zumindest siebenjähriger Schulabschluss und eine Aufnahmeprüfung. Die Spitze des Systems bildeten schließlich die Konservatorien (1946 waren es 20 an der Zahl, 1975 ebenso), deren Besuch die Absolvierung einer Musikfachschule voraussetzte (Ausnahmen waren allerdings nicht ausgeschlossen). Für die Dauer des Studiums waren überwiegend fünf Jahre vorgesehen, wobei eine vom Staat geförderte Aspirantur angeschlossen werden konnte. In allen Bereichen sind natürlich sowohl strukturelle als auch personelle Maßnahmen getroffen worden, um den staatlichen Einfluss zu gewährleisten, in den Konservatorien bis in die Reihen von Studierenden hinein. Voraussetzungen
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Diese waren schließlich auch dazu angehalten, in der Öffentlichkeit präsent zu sein; so musste etwa nach einem Beschluss des Leningrader Konservatoriums aus dem Jahr 1924 jeder Instrumentalist oder Sänger einmal im Studienjahr in einer öffentlichen Einrichtung – sei es in einer Fabrik, einem Betrieb oder auch einem Klub der Roten Armee – auftreten, und ab 1928 wurde die Absolvierung von Praktika in diversen gesellschaftlichen Bereichen bzw. im Kunstbetrieb eingefordert (Redepenning 2008, S. 184f.). Galina Ustvol’skajas Einstieg in dieses System erfolgte 1926 mit dem Besuch der bereits erwähnten, an der Leningrader Capella angesiedelten Schule, wo sie neben dem Instrumentalunterricht (Klavier, Violoncello) bereits auch in alle grundlegenden musiktheoretischen Fächer eingeführt wurde. Im Bereich des Chorsingens wäre es denkbar, dass zumindest anfänglich neben dem zunehmend im Vordergrund stehenden Singen von Volks- und Massenliedern auch anderes im Repertoire verankert gewesen sein könnte. Ein wichtiger Bestandteil waren schließlich Hörkurse, deren Sinn und Zweck nicht zuletzt darin lag, den Kindern von Anfang an die Bedeutungshaftigkeit von Musik zu insinuieren. Dass sich Galina Ustvol’skajas Lust an der Schule in Grenzen hielt, zeigt nicht nur ein dreimaliger Schulwechsel: »Seit meiner Kindheit duldete ich keinen Druck auf mich. Sehr oft blieb ich dem Schulunterricht fern. Ich fuhr lieber mit der Straßenbahn zu den Inseln und sah mir stundenlang an, wie die Vögel in Wasserpfützen badeten. Ich bummelte ziellos durch die Stadt und schaute mir die Schaufenster an. Oft kam ich spät nach Hause, weil ich wusste, dass mich dort Tadel erwartete.« (Zit. nach Gladkova 2001, S. 16)
Wiederum beschränken sich ihre Mitteilungen auf karge persönliche Erfahrungen, die uns keinerlei Einblicke in das Schulwesen gewähren. So wäre etwa die Frage von Interesse, wie weit schon in den ersten Jahren ihrer Schulzeit der musikalische Unterricht – etwa in Hinblick auf das musikalische Repertoire in den Hörkursen, oder auch im Chorunterricht – durch jene Doktrinen, die später in den »Sozialistischen Realismus« mündeten, bestimmt war, oder ob zunächst noch pluralistischere Verhältnisse vorzufinden waren. Die Absolvierung der Grundschulzeit Galina Ustvol’skajas fällt genau in jene kulturpolitische Phase, als ein zunächst noch vielfältiges Musikleben durch zunehmenden Parteieinfluss sukzessive verengt worden war. Bis zu ihrem Eintritt in die Nikolaj Rimskij-Korsakov-Musikfachschule im Jahr 1937 waren sämtliche Bereiche der Kultur fest im Griff der stalinistischen Repressionen. 28
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Petrograd – Leningrad Zeit ihres Lebens war Petrograd (von 1924 bis 1991 Leningrad) der Lebensmittelpunkt von Galina Ustvol’skaja. Ein einziges Mal, während der langwierigen Blockade im Zweiten Weltkrieg, hat sie im Rahmen der Evakuierung die Stadt für eine etwas längere Zeit verlassen, erst ab 1995 absolvierte sie gelegentlich einige kürzere Auslandsaufenthalte (z. B. Amsterdam, Wien). Wenn im Folgenden das Kultur- bzw. Musikleben der nach Moskau zweitgrößten Metropole des Landes gezeichnet wird, so soll damit das spezifische Umfeld umrissen werden, in dem sich die Komponistin entfalten konnte. Allerdings stehen wir auch hier vor dem Problem, dass zumindest für die Zeitspanne bis zum Kompositionsstudium bei Šostakovič (ab 1939) nicht viel mehr als ein »Möglichkeitsraum« aufgezeigt werden kann, ohne im Einzelnen sagen zu können, welche Facetten dieser Möglichkeiten Galina Ustvol’skaja tatsächlich benutzt bzw. überhaupt wahrgenommen hat. Sind die Kenntnisse über die private Sphäre schon dürftig genug, so fehlen zunächst auch weitgehend die Scharniere, die eine Einbettung einer Person in die Umgebung erst ermöglichen würden. Selbst die grundlegendsten Fragen müssen weitgehend offen bleiben: Mit welcher Musik ist sie außerhalb des schulischen Bereichs in Berührung gekommen? Wir haben von einem Opernbesuch erfahren – waren Theaterbesuche in ihrer Familie eine regelmäßige Angelegenheit? Ging man ins Konzert? Gab es in der elterlichen Wohnung in der Fornarygasse 11/56 (und damit in unmittelbarer Nähe zu Musikfachschule, Konservatorium und etlichen Theatern), in der sie bis 1957 wohnte, ein Radio? Wenn ja, seit wann? Die ärmlichen familiären Verhältnisse, von denen die Biographin Ol’ga Gladkova spricht, würden eher für eine geringe Teilnahme am Kulturleben sprechen, andererseits konnte man sich aber immerhin eine Hauslehrerin leisten. Neben der Frage, was sie aus ihrem kulturellen Umfeld wahrgenommen hat bzw. wahrnehmen konnte, muss man sich natürlich des Weiteren fragen – ab wann? Auch darüber lässt sich letzten Endes nur spekulieren. Zumindest im Groben kann aber davon ausgegangen werden, dass mit einer bewussten Wahrnehmung der Kulturlandschaft erst in der Phase der durch einen zunehmenden Parteieinfluss geprägten Verengung zu rechnen ist; von der pluralistischen Vielfalt der 1920er Jahre könnte sie bestenfalls indirekt, etwa durch Kontakte mit einschlägigen Personen, die noch an der Musikfachschule oder später am Konservatorium tätig waren, erfahren haben. Diese Phase einer zunehmend zentralistisch gesteuerten Restriktion hat sich aber über einen längeren Zeitraum erstreckt, der mit gewissen Schüben um Voraussetzungen
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die Jahre 1928/29, 1932, und 1936/37 abgesteckt werden kann (wobei erst durch den letzten Schub von einer weitgehend flächendeckenden »Stalinisierung« der Verhältnisse gesprochen werden kann). Zur Orientierung: 1937, also in einer Zeit des schlimmsten stalinistischen Terrors, begann Galina Ustvol’skaja ihr Studium an der Leningrader Musikfachschule. Angesichts der Tatsache, dass sowohl hier wie auch am Konservatorium weiterhin Personen beschäftigt waren, die schon in den 1920er Jahren in verschiedenen Bereichen des Musiklebens der Stadt mitbestimmend waren, erscheint es durchaus als sinnvoll, auch diese Zeitspanne zumindest schlaglichtartig in die Skizzierung der kulturellen Landschaft mit einzubeziehen (vgl. Redepenning 2008, S. 129-298; Schwarz 1982, S. 73-288; Haas 1998). Wenngleich Petrograd nach dem Ersten Weltkrieg, bzw. nach der Oktoberrevolution als ausgeblutete Stadt bezeichnet werden kann – die Einwohnerzahl hat sich von weit über zwei Millionen vor dem Krieg auf knapp über 700.000 im Jahr 1920 reduziert – so kamen trotz der prekären wirtschaftlichen Verhältnisse viele Bereiche des Kulturlebens relativ rasch wieder in Gang. Und obwohl der Sitz der Hauptstadt nach Moskau verlegt worden war, kann die Folgezeit nicht, wie von einigen Beobachtern verlautbart, als Phase des Niedergangs bezeichnet werden. Abgesehen davon, dass in Leningrad besonders lange ein gewisser Widerstand gegenüber dem StalinRegime zu verorten war, haben sich dem Ruf der Stadt bald neue Facetten angelagert, die Svetlana Boym folgendermaßen umreißt: »Yet it is precisely at the time when Petrograd-Leningrad stopped being the capital of the Russian empire and lost its political importance to Moscow that the Petersburg myth acquired a new life, becoming a spiritual retreat of Soviet outsiders, a place where at least nostalghia for world culture was possible. If in the nineteenth century the abstract, intentional, fictional quality of St. Petersburg made it seem uninhabitable and inhumane, in the twentieth century this literary otherworldness and melancholic beauty made Leningrad more liveable. So the city’s most literary double became a kind of utopian oasis, a home of the Soviet night – to paraphrase Mandelstam.« (Boym 2001, S. 129)
Nach der Verstaatlichung sämtlicher wichtiger Institutionen im Jahr 1918 war die Kulturlandschaft der Stadt sogar durch expansive Bestrebungen gekennzeichnet: Als Beispiele für Neugründungen seien das Kleine Opernund Balletttheater (1918) und die Petrograder Staatliche Philharmonie (1921) erwähnt, mit der, neben dem Staatlichen Sinfonieorchester (dem ehemaligen Hoforchester), nunmehr ein zweiter leistungsfähiger orchestra30
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ler Klangkörper zur Verfügung stand. Die umfassenden Verstaatlichungen haben zunächst auch keineswegs verhindert, dass zahlreiche neue kulturelle bzw. künstlerische Verbände entstanden sind, die zu einem pluralistischen Kulturleben beigetragen haben. Die 1922 gegründete (und erst 1937 aufgelöste) Gesellschaft für Kammermusik, die über einen eigenen Konzertsaal verfügte, widmete sich verschiedensten Bereichen des zeitgenössischen Komponierens; und in noch höherem Ausmaß gilt das für die im darauffolgenden Jahr ins Leben gerufene Assoziation zeitgenössischer Musik (Associacija sovremennoj musyki, oder kurz: ASM), die sich dem Ziel verschrieb, auf allen Ebenen die Neue Musik, sowohl die sowjetische wie auch die ausländische, zu fördern. Ein Blick auf die Mitglieder dieses Verbandes lässt ein sehr breites künstlerisches Spektrum erkennen: Im 1926 formierten Leningrader Zweig dieser Organisation (LASM) etwa, dem die gesamte Abteilung Komposition und Musikwissenschaft des Konservatoriums beigetreten ist, finden sich mit Boris Asaf ’ev, Lev Knipper, Aleksandr Mosolov, Gavriil Popov, Nikolaj Roslavec, Jurij Šaporin, Vladimir Ščerbačëv, Dmitrij Šostakovič und Maksimilian Štejnberg (um nur die bekanntesten zu nennen) Vertreter unterschiedlichster ästhetischer Vorstellungen, was auch immer wieder zu internen Auseinandersetzungen und gelegentlich auch Abspaltungen geführt hat. Immerhin konnten diese Auseinandersetzungen zunächst noch in aller Öffentlichkeit ausgetragen werden. Heftiger waren wohl die Dispute der ASM mit der 1923 gegründeten Russischen Assoziation Proletarischer Musiker (RAPM), die sich für »die Musik der arbeitenden, unterdrückten Klassen«, und gegen »die Musik der Gutsherrn und der Bourgeoisie, zu der fast die gesamte sogenannte ›geschriebene‹, kulturelle Musik, gehört« (zit. nach Lobanova 1998, Sp. 721), eingesetzt hat. Im Sprachgebrauch dieser Dispute begegnet man mit den Kampfwörtern »westlich«, »bürgerlich«, »formalistisch«, »dekadent«, »antivölkisch« bereits dem grundlegenden Vokabular des späteren Sozialistischen Realismus. Die Zielvorstellung einer »Proletarisierung« wichtiger Institutionen hat aber, wie etwa im Fall der Konservatorien, kaum funktioniert. Des Weiteren war, ungeachtet der Angriffe von Seiten der RAPM, die »westliche« Musik in allen Facetten im Kulturleben der Stadt bis zum Ende der 1920er Jahre ebenso präsent wie »westliche« Interpreten: Bruno Walter konnte als Förderer von Šostakovič fungieren, Kreneks als »Jazzoper« rezipierter Jonny spielt auf war ähnlich erfolgreich wie in anderen europäischen Metropolen, da wie dort gab es Kritik. Auch auf der Ebene des Musikschrifttums spiegelte sich zunächst noch das pluralistische Klima: Der Verlag Triton, der immerhin bis 1936 existierte (und der 1927 bemerkenswerterweise einen KooperationsverVoraussetzungen
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trag mit der Universal Edition in Wien geschlossen hatte), publizierte zahlreiche Werke von ASM-Komponisten; die Befürworter neuer Musik hatten bis 1929 mehrere Zeitschriften, u. a. Sovremennaja Muzyka (Zeitgenössische Musik), als Sprachrohr zur Verfügung. Auf dem wissenschaftlichen Sektor wurden nicht zuletzt Bücher aus dem deutschsprachigen Raum, etwa von Guido Adler, Egon Wellesz oder Ernst Kurth, stark rezipiert. Der Komponist und Musikwissenschaftler Boris Asaf ’ev, der 1925 am Leningrader Konservatorium die erste musikwissenschaftliche Abteilung in Russland bzw. der Sowjetunion überhaupt gegründet hat, rekurrierte in seinem bekanntesten Buch, Die musikalische Form als Prozess (1930), stark auf Kurths dynamischen Formbegriff. Nachdem schon 1928 die Attacken der RAPM immer heftiger geworden waren, kam es vom 14.-20. Juni 1929 in Leningrad zu einer »Allrussischen Musikkonferenz«, die ganz zu einem Schauplatz der proletarischen Kräfte geriet; Mitglieder der ASM – so sie, wie Asaf ’ev oder Roslavec, überhaupt involviert waren – mussten dem Druck nachgeben. Gefordert wurde eine »Kulturrevolution«, eine »Verschärfung des Klassenkampfes«, ein Vorgehen gegen den »Formalismus in der Musikwissenschaft« sowie gegen »religiöse Musik«. Dagegen sollte die proletarische Musik (gemeint waren in erster Linie Massenlieder) als »Mittel kommunistischen Einflusses auf die Massen« bzw. als »Mittel des Klassenkampfes« lanciert werden (Lobanova 1998, Sp. 723). Wenngleich diese Proklamationen durchaus im Sinne der kommunistischen Partei (KPdSU) waren, entschied sich diese wenige Jahre später, wohl auf Grund der unübersichtlichen Lage, zu rigorosen Maßnahmen: Ein Erlass des Zentralkomitees vom 23. April 1932 bewirkte eine Auflösung sämtlicher bestehender Institutionen (auch der RAPM), um eine straffe zentralistische Neuordnung der Kulturlandschaft einzuleiten. Eine wesentliche Folge war die Gründung des Sowjetischen Komponistenverbandes als zentral gesteuerte Dachorganisation (aber mit einem Netzwerk von Sektionen), dem mit der Zeitschrift Sovetskaja muzyka ein entsprechendes Organ zur Verfügung stehen sollte. Die proletarischen Organisationen waren nunmehr zwar aufgelöst, dennoch flossen deren bereits oben genannte Ziele in die Bedeutungssubstanz jenes Begriffes ein, der fortan die Vorstellungen der Parteilinie repräsentieren sollte – den Sozialistischen Realismus. In seinem Aufsatz Über den Sozialistischen Realismus (1933) lieferte der Dichter Maksim Gor’kij gewissermaßen eine gültige Definition, die im groß angelegten 1. Kongress des Sowjetischen Schriftstellerbandes im darauf folgenden Jahr nochmals ausformuliert wurde (die erste dementsprechende Veranstaltung des Komponistenverbandes fand 32
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erst 1948 statt!). Aber dennoch war die ins Auge gefasste Vereinheitlichung der Kulturlandschaft noch für einige Zeit mehr Intention als Realität – durchaus entsprechend der politischen Situation: Gerade die Leningrader Parteisektion mit ihrem Vorsitzenden Sergej Kirov machte immer wieder mit Eigenständigkeiten gegenüber der Linie Stalins auf sich aufmerksam. Der populäre Parteichef fiel am 1. Dezember 1934 einem nie gänzlich geklärten Attentat zum Opfer. In den folgenden Jahren verschärften sich die Attacken auf Künstler insofern, als, zusätzlich zur bislang überwiegenden ästhetischen Kritik, die Personen selbst zunehmend ins Visier gefasst wurden. Aufführungsverbote wurden mit einer antisowjetischen, verräterischen, volksfeindlichen, ja kriminellen Haltung der Urheber begründet; sichtbar etwa an der Absetzung von Gavriil Popovs 1. Sinfonie (die Aufführung war für den 22. März 1935 in Leningrad geplant gewesen), oder natürlich noch mehr am viel besprochenen Artikel Chaos statt Musik in der Pravda vom 28. Januar 1936 über Šostakovičs Oper Lady Macbeth des Mzensker Kreises (Ledi Makbet Mcenskogo uezda, 1932 vollendet), der als ein stellvertretendes Exempel zur Durchsetzung des Sozialistischen Realismus – exekutiert an einem bekannten und erfolgreichen Komponisten – zu verstehen ist (vgl. Redepenning 2008, S. 365ff.). Auch am Leningrader Konservatorium hatten seit Ende der 1920er Jahre die Spannungen zugenommen. War zuvor noch die gesamte Abteilung Komposition und Musikwissenschaft Mitglied der ASM, so verschärften sich nunmehr die Konflikte zwischen modernen, konservativen und proletarischen Kräften (die durch die Ernennung von A. Maširov, einem musikfremden Parteisoldaten, zum Direktor der Institution 1930 erheblichen Auftrieb erhielten). Die Wege von maßgebenden Konservatoriumsmitgliedern verliefen sehr unterschiedlich: Die eher konservativ eingestellten Jurij Šaporin und Pëtr Rjazanov etwa bewegten sich, schon vor dem Parteierlass von 1932, deutlich in Richtung Sozialistischer Realismus; Šaporin (18871966) war 1948 im Zuge der formalistischen Säuberungen sogar Berater Andrej Ždanovs. Die bewegte Karriere von Vladimir Ščerbačëv (1887-1952) schließlich ist ein gutes Beispiel dafür, dass Schwarz-Weiß-Perspektiven der Komplexität der Lage nicht gerecht werden: Nachdem dieser schon als junger Komponist und Korrepetitor mit Sergej Djagilevs Balletttruppe in weiten Teilen Europas unterwegs gewesen war, beteiligte er sich aktiv an der Oktoberrevolution. Als Professor für Komposition am Petrograder Konservatorium (seit 1923) und Mitglied der LASM war er sehr offen für neue musikalische Tendenzen, was ihn zunehmend in das Zentrum der Kritik von proletarischer Seite brachte – mit dem Ergebnis, dass er 1931 seine Professur Voraussetzungen
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verlor. Nach einem Intermezzo in der Provinz wurde er aber bereits ab 1933 zu einer wichtigen Person in der Leningrader Zweigstelle des Komponistenverbandes, und ab 1944 abermals Professor am Konservatorium, bis er schließlich 1948 den Säuberungen Ždanovs zum Opfer fiel und aus allen Funktionen entlassen wurde. Schülerin von Dmitrij Šostakovi• Nach Absolvierung der Rimskij-Korsakov-Musikfachschule studierte Galina Ustvol’skaja ab 1939 Komposition bei Dmitrij Šostakovič, der (zunächst?) an komponierende Frauen gar nicht geglaubt habe (Hentova 1993, S. 259). Dieser war seit 1937 am Leningrader Konservatorium, zuerst im Fach Instrumentation, und ab dem nächsten Studienjahr auch als Kompositionslehrer, angestellt. Das Studium währte zwar bis zu dessen Amtsenthebung im Jahr 1948, wurde aber mehrfach unterbrochen: Ein erster Einschnitt ergab sich durch die Evakuierungen (1941) während der Blockade Leningrads, wobei Šostakovič nach Moskau, und Ustvol’skaja mit anderen Mitgliedern des Konservatoriums nach Taškent evakuiert worden ist (sie konnte demnach bei der denkwürdigen Aufführung der 7. Sinfonie ihres Lehrers im belagerten Leningrad am 9. August 1942 nicht dabei sein). 1943 bekam Šostakovič schließlich eine Stelle als Professor für Komposition am Moskauer Konservatorium, betreute allerdings nach der Blockade einige Studierende, darunter Galina Ustvol’skaja, in Leningrad weiter (am 6. Februar 1947 war er auch Vorsitzender der Leningrader Sektion des Sowjetischen Komponistenverbandes geworden). Mit dem Eintritt in das Konservatorium beginnt eine sich über mehrere Jahrzehnte hinweg erstreckende Beziehung, deren spannungsreicher Charakter schwer zu durchleuchten ist. Auf den ersten Blick scheinen die Quellen ein einseitiges Verhältnis nahe zu legen: Den durchwegs wertschätzenden Äußerungen Šostakovičs über seine Schülerin stehen die zunehmend abweisenden derselben gegenüber. So etwa vernichtete sie sämtliche von ihm erhaltenen Briefe: Im Jahr 1965 brachte Ustvol’skaja ihrem Mann, Konstantin Bagrenin, zwei verschnürte Bündel, eines mit Briefen, eines mit Musikmanuskripten, und bat ihn, alles zu zerstückeln und in den Müll zu werfen. Ihr Mann habe sich zunächst geweigert, und meinte, sie sollte das lieber selber machen. Ustvol’skaja entgegnete, dass sie sich nicht die Finger schmutzig machen wolle. Nachdem sie die Vernichtung der Briefe, die von Šostakovič waren, überwacht hat, kam ein Telefonanruf dazwischen. Wäh34
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renddessen entdeckte Bagrenin unter den Manuskripten unter anderem das Oktett (1949/50) und das Trio für Klarinette, Violine und Klavier (1949), die bis dahin ja noch nicht im Druck erschienen waren. Die Komponistin entschied sich dafür, die beiden Stücke »leben zu lassen«. Somit hat ein Zufall die Existenz der beiden Werke, die Ustvol’skaja schließlich in ihren »eigentlichen« Werkkatalog aufnahm, gerettet (vgl. Bagrenin; ustvolskaya.org/eng/ precision.php; 22.3.2012). Trotzdem dürfte sich das Wesen bzw. der Verlauf der Beziehung zwischen Ustvol’skaja und ihrem Lehrer keineswegs so eindeutig abgespielt haben, wie die durchwegs vernichtenden Aussagen der Schülerin vermuten lassen. Es kann auch den folgenden Ausführungen keinesfalls die Intention zu Grunde liegen, endlich Klarheit in eine Sache zu bringen, die letztlich nicht klarzustellen ist. Zumindest die private Ebene wird zu großen Teilen im Ungewissen verbleiben müssen – und das ist auch gut so. Aber wie dem auch sei, Šostakovič ist, inklusive der familiären Ebene, eine der wenigen Bezugspersonen Ustvol’skajas, deren Beziehung überhaupt einigermaßen beschreibbar ist. Šostakovič trat die Stelle am Leningrader Konservatorium in einer Zeit ungeheurer Repressionen an. Am 28. Januar 1936 war jener berühmte Pravda-Artikel (»Chaos statt Musik«) erschienen, in dem seine Oper Lady Macbeth des Mzensker Kreises, zuvor geradezu flächendeckend erfolgreich, zum Zielpunkt einer Kampagne geworden war, die in erster Linie auf die Proklamation der Doktrinen des Sozialistischen Realismus am Exempel eines im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehenden Werkes eines bekannten Komponisten ausgerichtet war (vgl. Redepenning 2008, S. 366ff.). Daran schloss sich ein Aufführungsverbot an, und auch die 4. Sinfonie (bereits in der Phase der Einstudierung!) musste zurückgezogen werden. Vor allem aber dürften die tragischen Ereignisse im persönlichen Umfeld eine existenzielle Unsicherheit nach sich gezogen haben: Sein Schwager, ein Physiker adeliger Herkunft, wurde hingerichtet, die Schwester ausgewiesen. Aus dem Tagebuch seines Kompositionslehrers Maksimilian Štejnberg wissen wir, dass Šostakovič am 4. Januar 1937 bezüglich einer Anstellung am Konservatorium vorgesprochen hat; mit der etwas zynisch wirkenden Beifügung Štejnbergs, dass seinem ehemaligen Schüler – sinngemäß – das Komponieren momentan nicht so von der Hand gehen würde (vgl. Moshevich 2004, S. 89). Wenngleich er die ihm schließlich zugesprochene Stelle für Komposition und Instrumentation wohl unter dem Druck der aus den Aufführungsverboten und den mangelnden Aufträgen resultierenden problematischen finanziellen Verhältnissen angepeilt hatte, muss daraus nicht geschlossen werden, dass Šostakovič Voraussetzungen
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diese nicht mit vollem Einsatz ausgefüllt hätte. Galina Ustvol’skaja deutet das hingegen zumindest an: »Der Kompositionsklasse von Šostakovič war ich formal zugeordnet. Während des Vorspiels der Schülerkompositionen ging Dmitrij Dmitrievič nervös im Zimmer hin und her, rauchte ›Belmor‹ und ging oft hinaus, ohne ein Wort zu sagen. Wie es mir scheint war er ein neidischer Mensch... Praktisch unterrichtete er Instrumentation gar nicht, und ich strebte das auch gar nicht an.« (Zit. nach Gladkova 2001, S. 20)
Dem ließe sich entgegenhalten, dass Šostakovič Unterrichtsvorbereitungen mit großem Aufwand betrieb, indem er etwa für jene Stücke, die er mit den Studierenden besprechen wollte, oftmals eigenhändig vierhändige Klavierfassungen anfertigte. Weiters wird mehrfach berichtet, dass er für seine Schüler wichtige Kontakte einfädelte; etwa mit den gerade für das Leningrader Musikleben maßgebenden Dirigenten Evgenij A. Mravinskij und Ivan I. Sollertinskij, oder auch mit dem ebenso einflussreichen wie wendigen Vissarion J. Šebalin (vgl. Meyer 1995, S. 259). Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass die äußerst kontaktscheue Galina Ustvol’skaja diese Verbindungen, so weit sie diesbezüglich überhaupt je involviert war, in irgendeiner Weise in Anspruch genommen oder gar gepflegt hätte. Und schließlich unterstreichen auch die wenigen Notizen, in denen Šostakovič von seiner Lehrtätigkeit sprach, eher deren Wertschätzung (eingedenk aller Vorsicht, die gegenüber derartigen schriftlichen Darstellungen angebracht ist) – so etwa in einem Bericht aus dem Jahr 1941: »My pupils were waiting for me in one of the lecture-halls of the Leningrade Conservatoire. Abram Lobovsky, a third-year student in the composition department, placed the score of the first two movements of his cello sonata on the piano stand in front of me. I played the first movement. The theme developed free and easily. The finale of the second movement will require a little more work, however. Then a second-year-student, Galina Ustvol’skaja, came, and I listened to her latest work – Variations for two pianos.« (Zit. nach Grigorijev 1981, S. 85)
Diese Mitteilung ist auch insofern interessant, als Šostakovič hier von Variationen für zwei Klaviere spricht, einer Komposition seiner Schülerin, die in den bisherigen Werkverzeichnissen nicht aufscheint. Das bislang früheste erwähnte Stück, ein nicht publiziertes Streichquartett aus dem Jahr 1945, hat 36
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Ustvol’skaja – wie wohl etliche zuvor angefertigte Kompositionen, die ihren späteren Ansprüchen nicht genügten – verworfen. Das erste von ihr auch in ihren späteren Werkkatalog aufgenommene Stück, das Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauken (1946) stammt aber, wie etliche weitere Kompositionen, durchaus noch aus der Phase ihrer Studienzeit (bis 1947), bzw. aus der Zeit der daran anschließenden Aspirantur (bis 1950). Nachdem sich nach der ersten Aufführung seiner 5. Sinfonie (am 21. November 1937) auch seine Situation als Komponist wieder gebessert hatte, wurde Šostakovič am 23. Mai 1939 sogar zum Professor ernannt. Diese Position hatte er zunächst bis zur Evakuierung im Oktober 1941 inne, dann wieder ab 1947, bis er schließlich im Zuge der »formalistischen Säuberungen« 1948 sowohl diese als auch die 1943 in Moskau angetretene Stelle als Kompositionslehrer verlor (zwischen 1961 und 1966 unterrichtete er dann abermals in Leningrad). Während der ersten Leningrader Zeit hatte er etwa ein Dutzend Kompositionsschüler, darunter Jurij Levitin, und nicht zuletzt Georgij Sviridov, der später äußerst erfolgreich werden sollte. Wie kann man sich nun den Unterricht, den Galina Ustvol’skaja bei ihm genossen hatte, vorstellen? Wenngleich Šostakovič großen Wert auf die Beherrschung der grundlegenden theoretischen Fächer wie Kontrapunkt, Harmonielehre oder Formenlehre legte, so verzichtete er doch, im Unterschied zu seinem Lehrer Štejnberg und den meisten seiner Kollegen, auf die Hinzuziehung jeglicher Lehrwerke. Möglicherweise kann darin ein bewusster Akt der Distanzierung von akademistischen Haltungen gesehen werden. Etliche der in der jüngeren Vergangenheit verfassten musiktheoretischen Schriften, wie etwa Boris Asaf ’evs Die musikalische Form als Prozess, oder die Texte von Nikolaj Roslavec, standen überdies aus ästhetischen bzw. politischen Gründen ohnehin nicht mehr zur Debatte. Ein erheblicher Teil des Unterrichts, der sich sowohl aus Einzel- als auch aus Gruppenstunden zusammensetzte, bestand jedenfalls aus dem Studium von Werken, die er für maßgebend hielt, wobei dieses Spektrum ein sehr weitgefächertes war. Eine zentrale Rolle spielten zweifellos das Repertoire sinfonischer Musik, von den »Wiener Klassikern« bis zu Gustav Mahler und den Sinfonischen Dichtungen von Richard Strauss, und nicht zuletzt Werke russischer Provenienz wie etwa von Čajkovskij, Borodin, Taneev, sowie – mit Abstrichen – Prokof ’ev und Stravinskij. Dazu kamen immer wieder Kompositionen von Verdi und Berg (von Schönberg mochte er offensichtlich nur das 2. Streichquartett). Ausgesprochene Abneigungen hegte er gegenüber Rahmaninov, Skrjabin und der Pathetik Wagners (vgl. Fay 2004, S. 279f.). Das im Blickpunkt stehende Spektrum reichte demnach bis in die unmittelbare Gegenwart, wobei geVoraussetzungen
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legentlich auch eigene Werke als Studienobjekte fungierten (ausgenommen waren natürlich in Ungnade gefallene Stücke wie die Oper Lady Macbeth). Ein weiterer wichtiger Aspekt ist schließlich darin zu sehen, dass Šostakovič immer wieder auch außerhalb des Repertoires der großen Kunstmusik stehende musikalische Genres (von der Operette über Tanzmusik bis hin zu den Massenliedern) als Betrachtungsobjekte heranzog, was bis zu einem gewissen Grad sicherlich seinen ästhetischen Überzeugungen entsprach, teilweise aber wohl auch ein notwendiges Zugeständnis an die kulturpolitischen Richtlinien war. Die Auseinandersetzung mit den Werken erfolgte einerseits durch Hören, andererseits durch vierhändiges Klavierspiel, wobei er selbst in der Regel den unteren Part übernahm (etliche Prüfungen im Rahmen des Kompositionsstudiums mussten ebenfalls in Form einer vierhändigen Präsentation von Stücken absolviert werden). In vielen Fällen, und das gilt selbst für so umfangreiche Stücke wie die 9. Sinfonie von Mahler oder Stravinskijs Psalmensinfonie, hat er eigens für die Studierenden Klavierauszüge angefertigt. Offensichtlich konnte Stravinskijs Œuvre vor dem Zweiten Weltkrieg noch ohne größeres Risiko in die Lehre einbezogen werden; erst 1948 wurde er zum »Apostel der reaktionären Kräfte in der bürgerlichen Musik« (vgl. Schwarz 1982, S. 369). Diese Abqualifizierung entstammt der Feder des Generalsekretärs des Komponistenverbandes, Tihon N. Hrennikov, der, basierend auf der folgenreichen Resolution Ždanovs über Muradelis Oper Die große Freundschaft, in seiner ersten großen Rede in dieser Funktion zu einem Rundumschlag über die Vergangenheit der russisch/sowjetischen Musik ausgeholt hatte. Ein weiterer Teil des Unterrichts bestand schließlich in der Besprechung von Schülerarbeiten, wobei nur fertige Stücke, oder zumindest größere Abschnitte davon – aber jedenfalls keine Skizzen – vorgelegt werden durften. Der Bericht eines Studienkollegen Galina Ustvol’skajas, Jurij Levitins, lässt erkennen, dass die Schüler auch gelegentlich vor ungewöhnliche Aufgaben gestellt wurden: »Ich weiß noch, wie unser Lehrer einmal alle Studenten seiner Klasse zusammenrief; er suchte ein Gedicht (von Heine) aus und schlug vor, dass jeder von uns ohne ans Klavier zu gehen und möglichst schnell daraus ein Lied machen sollte. Er selbst machte ebenfalls mit. Jeder von uns bemühte sich, eine möglichst originelle, ›tiefe‹ und ›kluge‹ Musik zu schreiben, obgleich wir wussten, dass dies Šostakovič sicherlich besser machen würde. Es erübrigt sich wohl hinzuzufügen, dass unser Lehrer als erster fertig war. Wie groß war unser
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Erstaunen, als sich herausstellte, dass sein Lied völlig unprätentiös, ohne krampfhafte Suche nach ›Tiefe‹ und ›Vielschichtigkeit‹ war [...] Das Lied war anmutig und einfach – nichts mehr.« (Zit. nach Meyer 1995, S. 260)
Levitins Mitteilung, die diesbezüglich auch von anderen Schülern bestätigt wird, verweist auf einen offensichtlich zentralen Aspekt von Šostakovičs Unterrichtspraxis, der mit einer wichtigen ästhetischen Vorstellung korrespondiert – der Forderung nach Knappheit. In der Besprechung der Schülerarbeiten ging es immer wieder darum, alles Überflüssige, bloß Ornamentale, oder auch Redundante, auszumerzen. Darin ist eine deutliche Übereinstimmung mit einem ästhetischen Grundsatz zu sehen, der auch für Galina Ustvol’skaja Zeit ihres Lebens maßgebend blieb; und daraus resultieren wohl auch gewisse Parallelen hinsichtlich der musikalischen Präferenzen: Gemeinsam war beiden einerseits die Ablehnung der üppigen Klanglichkeit Skrjabins, für Šostakovič eine »Mischung aus Theosophie und Parfums« (vgl. Bokman 2007, S. 128); andererseits die Bewunderung von Stravinskijs Fähigkeit zur Kürze. Die größte gemeinsame Vorliebe ist aber wohl in der Wertschätzung der Sinfonik Gustav Mahlers zu sehen. Ustvol’skaja hat später ihren Schülern erzählt, dass sie von ihrem Lehrer mit »Mahlaria« angesteckt worden sei (Bokman 2007, S. 49). Auch die literarischen Interessen (Gogol’, Čehov, Leskov) gingen zumindest zum Teil in eine ähnliche Richtung. Abgesehen von einer gewissen Überschneidung der Interessen und auch einiger ästhetischer Haltungen stellt sich aber die Frage, was Galina Ustvol’skaja denn von ihrem Lehrer letztlich gelernt haben könnte. Ein erster Blick auf bislang getroffene Einschätzungen ergibt ein recht zwiespältiges Bild: Fast in der gesamten einschlägigen Literatur wird Šostakovič als ein geradezu übermächtiges Vorbild für seine Schüler gezeichnet; erstmals womöglich von Aleksandr Kostomolockij, der in einer Karikatur im 4. Heft der Zeitschrift Sovetskaja muzyka aus dem Jahr 1948 eine Schlange von Šostakovič-Klonen aus dem Tor des Moskauer Konservatoriums heraustreten lässt. Tatsächlich sollen sich einige Schüler eine ähnliche Brille zugelegt haben (vgl. Abb. 1). In einer späteren Einschätzung sieht der mit ihr befreundete Komponist Viktor Suslin in Galina Ustvol’skaja die einzige Ausnahme: »[...] it took Galina almost superhuman strength to avoid his influence: she is the only one of Šostakovič’s pupils who did not become his clone, but succeeded in developing a language completely her own. This must have been a tremendous effort of will.« (Derks 1995, S. 32) Voraussetzungen
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Abbildung 1: Fay 2004, S. 284
Natürlich könnte es sein, dass Suslin in einer kuriosen Interview-Situation, als er in Gegenwart der Komponistin Fragen über diese beantwortete, in besonderer Weise die von Ustvol’skaja vertretene Position bestärken wollte. Des Weiteren wäre hinzuzufügen, dass Suslin in einer längeren Mitteilung an Ustvol’skaja ein Jahr zuvor eine äußerst negative Einschätzung Šostakovičs erkennen ließ, die von jener mit folgender Unterzeichnung be40
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kräftigt wurde: »Ich, Galina Ustvol’skaja, setze meine Unterschrift ganz und vollständig unter diesen Aufsatz von Viktor Suslin. 25. 8. 94«. Daraus ein kurzer Ausschnitt: »Dmitrij Dmitrjewitsch hat, wie mir scheint, so etwas wie den Stein der Weisen gefunden, der ihm erlaubte, sehr mittelmäßige Musik in gewaltiger Menge zu komponieren und dabei als Genie zu erscheinen, und zwar nicht nur anderen, sondern auch sich selbst gegenüber. Diese Möglichkeit gab ihm die Dialektik. [...] die von Šostakovič getragene Maske des Märtyrers hinderte ihn keineswegs daran, großartige Geschäfte nach allen Regeln der sowjetischen Gesellschaft zu betreiben.« (4. August 1994; Bestand Ustvol’skaja der Paul Sacher Stiftung in Basel, übersetzt von der Komponistin).
In einer kurzen (ebenfalls in der Paul Sacher Stiftung befindlichen) Notiz aus dem Jahr 1994, in der Ustvol’skaja einige Gedanken über ihr Verhältnis zu ihrem Lehrer ausbreitet, versuchte sie eine möglichst große Distanz in den Raum zu stellen: »Niemals, zu keiner Zeit, nicht einmal während meiner Studienjahre in der Kompositionsklasse von Dmitrij Šostakovič, standen mir seine Musik und Persönlichkeit nahe.« (1. Januar 1994)
Ähnliches vernimmt man im Interview mit der Biographin Ol’ga Gladkova: »Dmitrij Dmitrijevič lud mich zu seinen Proben und Konzerten ein. Natürlich konnte ich nicht ablehnen. Es kam vor, dass ich während eines ganzen Konzertes stehen musste, weil sich bei Šostakovičs Konzerten im Großen Saal der Philharmonie das Publikum wie Sardinen in der Büchse drängte. Mit großer Mühe hielt ich die Konzerte durch, denn die Musik zerschnitt mir die Ohren, die Seele tat weh. Ich wäre gern gegangen, aber nach dem Konzert musste man Šostakovič und Mravinskij die Hand drücken. Šostakovičs Musik hat mich immer deprimiert. Wie konnte, und, so scheint es, kann man immer noch eine solche Musik genial nennen? Mit der Zeit wird sie verblassen.« (Gladkova 2001, S. 20f.)
Die Frage, ob oder in welcher Weise die Musik Šostakovičs für ihr kompositorisches Denken maßgebend gewesen ist, kann letztlich nur auf musikanalytischer Ebene entschieden werden, und wird daher zunächst beiseite gelassen. Die Geschichte der persönlichen Beziehung dürfte wohl weniger eindeutig Voraussetzungen
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abgelaufen sein, als es die obigen rückblickenden Einschätzungen nahe legen wollen. Ein großes Problem in der Bewertung dieser Beziehung besteht darin, dass in vielen Belangen nur die Mitteilungen Galina Ustvol’skajas vorliegen, die sie rückblickend – durchwegs in einer zeitlichen Distanz von mehreren Jahrzehnten – getroffen hat. Und diese Rückblicke lassen kein gutes Haar an der Persönlichkeit Šostakovičs. Aber auch die Quellen aus dritter Hand, die noch dazu in Hinblick auf viele Fragestellungen nur vereinzelt vorliegen, sind mit großer Vorsicht zu genießen, weil sie in der Regel mit deutlichen Interessenslagen verbunden sind: Entweder geht es – wie im obigen Beispiel von Viktor Suslin – um die Bekräftigung einer gemeinsamen Abneigung; oder es geht um eine Hervorkehrung der großen Lehrerpersönlichkeit, der überdies seine Schüler in allen möglichen Angelegenheiten unterstützt habe. Gerade in Hinblick auf den letztgenannten Aspekt stößt man auf Widersprüchliches: Wenig Zweifel dürfte noch daran bestehen, dass Ustvol’skajas Nominierung für ein Stipendium (1941) und die Aufnahme in den Sowjetischen Komponistenverband (1947) von Šostakovič eingefädelt worden ist. Unterschiedliche Aussagen existieren aber in Hinblick auf dessen Haltung im Zusammenhang mit einem Versuch, Ustvol’skaja aus dem Konservatorium auszuschließen (es muss sich um die Zeit der Aspirantur zwischen 1947 und der Entlassung Šostakovičs 1948 handeln; und es ist auch nicht ganz klar, wer diesen Ausschluss bewirken wollte). Die eine Seite geht zurück auf einen Brief Šostakovičs an Edison Denisov vom 6. Mai 1950, wo er diesen auf mögliche Schwierigkeiten bezüglich der Aufnahme ins Moskauer Konservatorium vorbereiten möchte: »Wenn Sie auf den Gedanken kommen, ans Konservatorium zu gehen, dann sollen Sie schon vorher sicher sein, dass man Sie auch annimmt. Ich persönlich zweifle daran nicht, aber nach meiner Erinnerung gab es mehrere Fälle, wo die Prüfenden sich irrten. So wurde seinerzeit ein Komponist von großer Begabung, J. W. Sviridov, nicht ans Moskauer Konservatorium aufgenommen. Aus dem Leningrader Konservatorium wollte man die begabten Komponisten Ustvol’skaja und Levitin exmatrikulieren. Wegen der beiden letzteren führte ich förmliche Kämpfe mit meinen verehrten Kollegen (damals unterrichtete ich am Leningrader Konservatorium).« (Hellmundt/Meyer 1982, S. 224)
Den Inhalt dieser Briefstelle, der für etliche spätere Darstellungen die Basis bildet, stellt Ustvol’skaja – wiederum in einer zeitlichen Distanz von einem halben Jahrhundert – allerdings in Frage: 42
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»Als ich als berufsuntauglich aus dem Konservatorium entfernt werden sollte und dies im Dekanat der Fakultät diskutiert wurde, sagte Dmitrij Dmitrijevič kein Wort zu meiner Verteidigung, stand auf und verließ den Raum. Michail Fabianovič Gnessin verteidigte mich und erreichte meine Wiederaufnahme... Ich will, dass sich endlich die Wahrheit über Šostakovič als Komponist und Mensch durchsetzt. Es ist an der Zeit, jenen langjährigen unerschütterlichen und bornierten Standpunkt gegenüber der Persönlichkeit von Šostakovič aufzugeben. Die Persönlichkeit von Dmitrij Dmitrijevič hat meine besten Gefühle belastet und getötet. Ausführlicher werde ich nichts mehr dazusagen. Die Einzelheiten würden zu weit führen.« (Gladkova 2001, S. 20)
Ihr späterer Mann, Konstantin Bagrenin, behauptet wiederum, es wäre Maksimilian Štejnberg, der Lehrer Šostakovičs, gewesen, der sich in der entscheidenden Sitzung des Akademischen Ausschusses des Konservatoriums für sie eingesetzt habe, während Šostakovič den Raum verlassen und auf dem Gang geraucht habe (Bagrenin; ustvolskaya.org/eng/precision.php; 22. 3. 2012). Es wäre allerdings auch denkbar, dass Šostakovič sich aus diplomatischen Gründen nicht selbst exponieren wollte, aber auf Gnessin oder Štejnberg eingewirkt haben könnte. Der tatsächliche Ablauf dieser Causa wird sich wohl nicht mehr eruieren lassen. Auffallend ist allerdings, dass Ustvol’skaja sich nicht immer ausschließlich negativ über Šostakovič geäußert hat. Die Zitate etwa in Sof ’ja Hentovas Buch Bemerkenswerter Šostakovič (Udivitel’nyj Šostakovič; bzw. in der englischen Übersetzung Amazing Šostakovič) zeichnen durchaus ein differenzierteres Bild. So erfährt man, dass schon während der Studienzeit die Kontakte in den privaten Bereich ausgedehnt worden waren; etwa durch vierhändiges Klavierspiel in Šostakovičs Wohnung. Auch nach dem Studium bzw. der Aspirantur dürfte das enge Verhältnis weiter bestanden haben; so war es Galina Ustvol’skaja, die den offensichtlich schwer deprimierten Komponisten nach der Uraufführung von dessen Lied von den Wäldern am 15. November 1950 in Leningrad – eines jener patriotischen Werke, die unter massivem politischen Druck entstanden sind (und für das er daraufhin mit einem Stalinpreis belohnt wurde) – in seiner Wohnung im Hotel Europa tröstete. Der Bericht von einer Feier nach der Erstaufführung des 1. Violinkonzerts in Leningrad 1955 an anderer Stelle (Wilson 1994, S. 275f.) verweist darauf, dass Ustvol’skaja auch in dieser Zeit nach wie vor zum engsten Freundeskreis gezählt haben muss. Nach dem Tod seiner Frau Nina Varzar im November 1954 trug sich Šostakovič offenbar sogar mit Heiratsgedanken, die aber einseitig verblieben:
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»He wanted to bring me closer right away. He wrote many, many letters. When I had my tonsils removed in the clinic of the Academy of Military Medicine, he wrote two letters a day. A nurse was amazed: ›who is this boy who writes to you?‹ There could have been more letters if I were more communicative… He signed them ›Your Mitya‹ and requested insistently that I call him Mitya. I could not do that and signed my letters ›Galia Ustvol’skaja‹… He liked it when I spoke German. I translated the Farewell song from Mahler’s das Lied von der Erde for him. He wanted to learn German, but could not. He asked: ›Why don’t you want to marry me?‹« (Hentova 1993; zit. nach Bokman 2007, S. 137f.)
Nach der Zurückweisung entschloss sich Šostakovič zu einer Heirat mit der Lehrerin und politisch sehr aktiven Margarita Andreevna Kajnova, die allerdings bereits 1959 wieder geschieden wurde – und abermals intensivierten sich die Kontakte mit Galina Ustvol’skaja. Laut Maksim, dem Sohn Šostakovičs, habe sein Vater in seinem Leben niemanden so geliebt wie Galina Ustvol’skaja (Bokman 2008). Diese war, nachdem sie bis 1957 in der Wohnung ihrer Eltern gelebt hatte, in eine eigene Unterkunft in der Blagodatnajastrasse gezogen, wo sie Šostakovič oftmals empfangen hat (1967 oder 1968 gab es einen abermaligen Wohnungswechsel in den Gagarin-Prospekt 17, zusammen mit ihrem Ehemann Konstantin Bagrenin; vgl. Gladkova 2001, S. 46. Bagrenin nennt das Jahr 1967, Ustvol’skaja spricht im nachfolgenden Text sogar von einer 14-jährigen Periode in der vorhergehenden Wohnung): »For a long time I lived in a communal flat together with my parents; Dmitrij Dmitrijevič did not come here. But when I moved into a flat on Blagotatny Pereleuk, he, when in Leningrad, came often. I lived there for fourteen years, during which our close relationship took place … We would go out of town. Once, we were walking in the woods and suddenly he scattered money between the trees! It was early spring. Snow was melting a little. He loved snow. When the snow melted he became sad. Twice I visited his dacha in Bolshevo… We walked a lot. At that time, U.F.O. was a popular conversation topic. Once he saw in the sky a flying dot and said: ›there is a flying saucer. There are people in it.‹ He was very impressionable.« (Hentova 1993; zit. nach Bokman 2007, S. 136f.)
Um 1960 waren die Kontakte der beiden offenbar besonders intensiv; das bezeugen etwa auch die Briefe Šostakovičs an seinen Freund Isaak Davidovič 44
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Glikman (Glikman 1995), aus denen hervorgeht, dass er auch in künstlerischen Fragen immer wieder den Rat Ustvol’skajas gesucht hat. Und auch der Brief im Anschluss an den tragischen Tod von Ustvol’skajas Ehemann (oder Freund?), des Leningrader Komponisten Jurij Anatol’evič Balkašin (1923-1960; er starb in der Folge eines epileptischen Anfalls), zeugt von tiefem Mitgefühl, verbunden mit großen Sorgen um ihre Zukunft (Glikman 1995, S. 177). Balkašin wird in der Literatur als Ehemann erwähnt, während der spätere Ehemann Konstantin Bagrenin meint, dass es sich bloß um eine Freundschaft gehandelt hätte. Sie hätten in einer gemeinsamen Wohnung gelebt, allerdings in getrennten Zimmern. Auch Šostakovič bemerkte, dass er sich über das Verhältnis der beiden zueinander nicht im Klaren sei. Jedenfalls habe Ustvol’skaja Balkašin geliebt, wollte ihn aber nicht heiraten (Mokrousov 2004). Tatsächlich hat sie in den 1960er Jahren offenbar wenig komponiert oder zumindest wenig an die Öffentlichkeit entlassen – wobei allerdings nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, dass ausschließlich dieser persönliche Schicksalsschlag dafür verantwortlich gewesen wäre. Ein plausibler Grund könnte in einem gewissen Wandel ihrer künstlerischen Haltung gesehen werden, der im Übrigen auch mit der offensichtlichen sukzessiven Distanzierung von Šostakovič im Verlauf dieser Jahre einhergeht. Bis 1961 hat Galina Ustvol’skaja neben ihren »eigentlichen« Werken (vgl. Werklisten) recht kontinuierlich auch Stücke typisch sowjetischen Zuschnitts komponiert (z. B. Der Mensch vom hohen Berg, 1952; Sport-Suite, 1957; Feuer in der Steppe, 1958; Heldentat, 1959). Das Loblied (1961; für Knabenchor, Trompete, Schlagzeug und Klavier; Text von Sergej Davydov) war nun das letzte Stück der »sowjetischen Schiene«, danach folgt ein Jahrzehnt des Schweigens oder Suchens. Abgesehen vom Duet für Violine und Klavier entlässt sie erst wieder mit der Komposition Nr. 1 »Dona nobis pacem« (1970/71) ein Werk an die Öffentlichkeit. Genau in diese Zeit fallen nun aber auch einige, in der Literatur bereits viel diskutierte Ereignisse in der Karriere Šostakovičs, die auch für die Distanzierung Ustvol’skajas von ihrem Lehrer mitverantwortlich gewesen sein könnten: Er wurde innerhalb eines kurzen Zeitraums 1. Sekretär des Komponistenverbandes der RSFSR, Mitglied der kommunistischen Partei, und schließlich am 18. März 1962 sogar Deputierter des Obersten Sowjets. Des Weiteren publizierte er – diesmal offensichtlich ohne expliziten politischen Druck – unter dem Titel Der Künstler unserer Tage einen Aufsatz in der Prawda, in dem er sich in ungewöhnlich ausgeprägter Form als Parteiideologe zu erkennen gab. Ob er sich damit »endgültig zur Parteiorthodoxie bekehrt« hätte, wie das Boris Schwarz (Schwarz 1982, S. 549) interpretiert, sei dahinVoraussetzungen
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gestellt; jedenfalls ist auffallend, dass er in der Argumentation gegen »selbstzufriedene Individualisten« zum Teil die selben Formulierungen aufgriff, die einst gegen ihn vorgebracht worden waren. Es ist durchaus denkbar, dass diese Vorgangsweisen von Šostakovič für Galina Ustvol’skaja eine ungeheure Enttäuschung bedeuteten und Anlass genug waren, die Kontakte zu reduzieren oder auch gänzlich einzustellen. Die Briefe an sie hat sie alle vernichtet, und als sie von der Parteimitgliedschaft ihres ehemaligen Lehrers erfahren hatte, habe sie ein von ihm als Geschenk erhaltenes Portrait wütend in Stücke gerissen und in der Toilette versenkt (Bokman 2007, S. 42). Dazu könnte auf persönlicherer Ebene noch kommen, dass Šostakovič auch in der einflussreichen Position, in der er sich nunmehr durch seine Funktionen befand, offenbar keinerlei Initiativen ergriffen hat, die Publikation oder die Aufführung von Werken seiner ehemaligen Schülerin zu befördern. Im Zuge der Erörterung der Beziehung der beiden zueinander darf auch der Blick auf die künstlerische Ebene nicht fehlen, wobei explizit kompositionstechnische Fragen zunächst wie gesagt noch ausgespart bleiben. Vieles scheint auch auf dieser Ebene eine eher einseitige Ausrichtung zu bestätigen: Während Galina Ustvol’skaja offenbar zu keinem Zeitpunkt ein anerkennendes Wort über die Musik ihres Lehrers verloren hat (zumindest ist nichts dergleichen bekannt), hat dieser mehrfach seiner Wertschätzung für das Werk der Schülerin Ausdruck verliehen. In einem Brief an Boris Tiščenko (ein Kompositionsschüler von beiden) erinnert er sich beispielsweise an das erste Hörerlebnis von Ustvol’skajas Oktett in einem Konzert: »Das Oktett hatte auf mich einen so starken Eindruck gemacht, dass ich mir den weiteren Teil des Konzerts nicht mehr anhören konnte.« (Zit. nach Gladkova 2001, S. 38)
Ein weiterer Ausdruck der Wertschätzung kann darin gesehen werden, dass er seiner Schülerin etliche mit einer persönlichen Widmung versehene Autographe geschenkt hat – den Zyklus Aus jiddischer Volkspoesie op. 79, die 24 Präludien und Fugen für Klavier op. 87, Fragmente zur Oper Die Spieler (nach der Vorlage von Ustvol’skajas Lieblingsdichter Gogol’) und schließlich das 5. Streichquartett op. 92. Obwohl auch Galina Ustvol’skaja etliche Widmungen vergeben hatte (etwa an die Interpreten Mstislav Rostropovič, Aleksej Ljubimov und Reinbert de Leeuw) – eine Widmung an ihren Lehrer sucht man vergebens (vgl. Gladkova 2001, S. 30f.). In besonderer Weise lohnt sich ein Blick auf das oben genannte 5. Streichquartett (1952), da in diesem Werk ein Zitat aus Ustvol’skajas Trio 46
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für Klarinette, Violine und Klavier (1949) eine prominente Rolle spielt (jüngere Forschungen haben allerdings in den Raum gestellt, dass Ustvol’skaja sich ihrerseits schon auf eine Skizze von Šostakovičs 9. Sinfonie aus dem Jahr 1945 bezogen haben könnte, die ihr der Lehrer möglicherweise vorgespielt habe; vgl. Jeremiah-Foulds 2010, S. 22f.):
Notenbeispiel 1: Ustvol’skaja, Klarinettentrio, 3. Satz, Ziffer 30 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Es ist zwar hier nicht der Ort, auf grundsätzlicher Ebene der andernorts ohnehin schon oftmals erörterten Frage nachzugehen, wie mit der Einbindung von Zitaten, zumal in und vor allem aus Instrumentalwerken, interpretierend umzugehen sei. Trotzdem dürfen einige Überlegungen dazu nicht fehlen. Zuzustimmen ist dem gelegentlich vorgebrachten Vorwurf, dass viele Analysen einschlägiger Stücke in ihrem Interpretationsrahmen allzu sehr dem Nachspekulieren der semantischen Deutung der verwendeten Zitate Raum verleihen, und die kompositionstechnische Ebene Voraussetzungen
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demgegenüber vernachlässigen würden. Aber – abgesehen davon, dass es um letztere hier noch nicht geht: Die Einbindung von Zitaten ist ein wesentliches Mittel einer »Bedeutungsaufladung«, um die es Šostakovič wohl immer in gewisser Weise gegangen ist, auch oder gerade in reinen Instrumentalwerken. Im Nachspüren dieser Bedeutungen kann letztlich nur das Ziel verfolgt werden, einen möglichst plausiblen Rahmen zu erstellen, der aber niemals zu einer eindeutigen »Entschlüsselung« führen kann. Diese würde meines Erachtens nicht einmal dann vorliegen, wenn es gelänge, ein Schriftstück mit den klar formulierten Intentionen des Autors zu finden; selbst dann wäre eben nur dessen Gestaltungswille, nicht aber eine eindeutige Klarlegung des musikalischen Sachverhalts, der nach wie vor vieldeutig bleiben würde, gewährleistet. Ein erster Schritt für die Erstellung der Rahmenbedingungen führt in die Umstände der Entstehungszeit: Das 5. Streichquartett entstand 1952 (also noch vor Stalins Tod), in einer Zeit gravierender Repressionen. Eine Folge dieses Drucks war die unausweichliche Anfertigung von politisch erwünschten Kompositionen – wie etwa das oben erwähnte Lied von den Wäldern, nach dessen Erstaufführung der verzweifelte Šostakovič von seiner Schülerin getröstet worden ist. Gerade in dieser politisch so schwierigen Phase könnte die Beziehung der beiden, wenngleich wohl in unterschiedlicher Gewichtung, demnach durch eine besondere Qualität gekennzeichnet gewesen sein. Es kann, wie die nachfolgenden analytischen Einblicke zeigen werden, kein Zweifel darüber bestehen, dass der Verwendung des Zitats aus Ustvol’skajas Klarinettentrio nicht bloß ein verschämter Verweischarakter, sondern eine eminente Bedeutung für die Dramaturgie der Werkkonzeption zugesprochen werden muss. Das belegt allein schon die besondere Platzierung und Herausarbeitung des Themas an exponierten Stellen: Das erste Mal erscheint es nach einer langen Steigerungsphase am Ende der Durchführung des ersten Satzes, ein weiteres Mal in dessen Coda, und schließlich ein drittes Mal an ebenso hervorgehobener Position im dritten bzw. letzten Satz. Ein denkbarer Bedeutungshorizont ist in einigen bislang vorliegenden Besprechungen in wesentlichen Aspekten angerissen worden, am eingehendsten vielleicht in den folgenden Ausführungen: »An der Schnittstelle zur Reprise wird dieses Thema zum zentralen Angelpunkt, zum emotionalen Eckstein des ganzen Satzes. Noch wichtiger aber erscheint hier die spirituelle Rolle des Themas – die eines Vermittlers, der die unversöhnlichen Gegensätze transzendiert. Ustvol’skaja, so die unverkennbare
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Symbolik dieser Stelle, spendet dem betrübten Šostakovič Trost. Verstärkt wird die Präsenz des Ustvol’skaja-Zitats in den letzten Takten, wo eine Solovioline im Dreiertakt das Thema dreimal zu einer Begleitung im Zweiertakt vorträgt und damit den melancholischen Abgesang des Satzes markiert.« (Blois 2000, S. 44)
In weiterer Folge konstatiert Louis Blois, dass jede Wiederkehr des Themas einen »Ausdruck der Erlösung oder des Jubels« ausstrahlen würde, und auf kompositionstechnischer Ebene als »Anknüpfung an die freizügige Motivtechnik seiner Studienjahre« bzw. an die »eigene Periode experimentellen Komponierens« gesehen werden könnte. Neben den auf die Zeitumstände ausgerichteten und kompositionstechnischen Deutungen und den möglicherweise dahinterstehenden nostalgischen Gefühlen bringt er schließlich noch einen expliziten Botschaftscharakter ins Spiel: Im dritten Satz steht das »Ustvol’skaja-Thema« in Nachbarschaft zu einem Zitat aus einem eigenen Werk, der 5. Sinfonie, mit der eben jene Periode des experimentellen Komponierens endgültig zu Ende gegangen sei. Aus dieser Verquickung der Themen zieht Blois folgenden Schluss: »Mit ihrer Verknüpfung im Finale des Quartetts wollte Šostakovič vielleicht auf seine Weise – mit einer bedachtsam ironischen Geste – Ustvol’skaja ermutigen, ihre musikalische Sprache über sein eigenes Idiom hinaus weiterzuentwickeln.« (Blois 2000, S. 45)
Um diesem weiten Spekulationsraum eine einigermaßen nachvollziehbare Basis zu verleihen, soll im Folgenden die dramaturgische Funktion des »Ustvol’skaja-Themas« im Verlauf des Stücks an Hand der Partitur nachgezeichnet werden. Der erste Blick muss bereits dem Beginn des ersten Satzes von Šostakovičs Quartett gelten:
Voraussetzungen
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Notenbeispiel 2: Šostakovič, 5. Streichquartett, Beginn 1. Satz © Mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition A. G. Wien
Die kurze, viertaktige Einleitung erfüllt im Wesentlichen zwei Funktionen: Erstens werden, wie das Kadja Grönke recht treffend bezeichnet, die tonalen Zentren chromatisch angereichert (vgl. Grönke 1998, S. 184f.), und zweitens exponiert Šostakovič kurze melodische Bausteine, die als eine flexibel handhabbare thematische Substanz für den ersten Satz, letztlich sogar für das ganze Werk, fungieren. Eine besondere Rolle spielt insbesondere die mit der Punktierung beginnende Figur in der Viola im zweiten Takt, und zwar sowohl im Hauptsatz als auch in der Durchführung. Auffallend ist dabei, dass diese Figur in der gesamten Exposition immer in der gleichen Tonhöhe erklingt (c – d – es – h – cis), wobei die Anordnung der ersten vier Töne (fett gedruckt) als Variation des Anagramms D(mitrij) – Es (S) – C – H(ostakovič) verstanden werden kann. Das mag zunächst noch als etwas weit hergeholt erscheinen, da die Töne nicht – wie etwa am Beginn des 8. Streichquartetts – in der richtigen Reihenfolge erscheinen, und mit dem cis überdies noch ein »überschüssiger« Ton vorliegt. Aber abgesehen davon, dass Šostakovič dieses Anagramm gerade in Werken aus dieser Zeit besonders häufig einsetzte (etwa im 1. Violinkonzert, in der 10. Sinfonie, sowie in allen Streichquartet50
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ten von Nr. 4 bis Nr. 8), ist es eben doch auffällig, dass eine Figur, die diastematisch geradezu beliebig verformbar wäre, ohne ihre motivische Prägnanz zu verlieren, die ganze Exposition hindurch konstant bleibt. Dieses Potential der diastematischen Variabilität wird erst in der Durchführung ausgeschöpft. Die Dramaturgie dieses äußerst dicht ausgeführten Formteils ist durch eine groß angelegte Steigerungswelle gekennzeichnet, deren aufgewühlter Gestus auch durch die Verarbeitung des in der Exposition noch lyrisch aussingenden Seitenthemas (ab Ziffer 21) nicht beruhigt werden kann. Ab Ziffer 25 – das Fortissimo ist längst erreicht – beginnt eine (auf Ziffer 3 des Hauptsatzes rekurrierende) Verarbeitungsphase, die vor allem zwei den Spannungsaufbau unterstützende Funktionen erfüllen soll:
Notenbeispiel 3 : Šostakovič, 5. Streichquartett, 1. Satz, S. 13 © Mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition A. G. Wien
Erstens werden bis Ziffer 29 die Punktierungen, und damit auch das »Anagramm-Motiv«, sistiert; und zweitens wird der Gestus des ab Ziffer 29 mit einem Höchstmaß an Eindringlichkeit ins Spiel gebrachte »Ustvol’skajaThemas« in gewisser Weise (etwa durch die Tonrepetitionen) vorbereitet. Somit wäre eher David Fanning als Louis Blois zuzustimmen, der diesen Einsatz als »Durchbruch« qualifiziert (Fanning 2008, S. 48), während letzterer davon spricht, dass »das Thema lediglich an verschiedenen Stellen herbeizitiert, nicht aber in die motivische Struktur der Komposition integriert wird« (Blois 2000, S. 48). Diese Stelle bei Ziffer 29, die eindeutig den Höhepunkt des gesamten ersten Satzes ausmacht (fff, espressivo), ist nun durch eine Überlagerung von Texturen gekennzeichnet, die eine semantische Deutung geraVoraussetzungen
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dezu aufdrängt: Der den beiden Violinen übertragenen »Ustvol’skaja-Textur« steht in den beiden unteren Stimmen ein dem Hauptsatz entnommenes Material gegenüber, das von der »Anagramm-Figur« – nunmehr allerdings in ständig sich verändernder Gestalt – dominiert wird. Aber selbst innerhalb dieser Kulmination (Ziffer 29-32) versucht Šostakovič nochmals eine steigernde Wirkung zu erwirken, indem er das »Ustvol’skaja-Thema« bei seinem zweiten Auftreten in ein extrem hohes Register platziert, und gleichzeitig die Variationen der »Anagramm-Figur« in eine Art »Engführung« treibt. Diese dramatische Zuspitzung mündet bei Ziffer 31 in das Resultat, dass nur mehr die »Ustvol’skaja-Textur« übrig bleibt (erst in der darauffolgenden Rückführung zur Reprise tritt die »Anagramm-Figur«, wieder in der ursprünglichen Tonlage c – d – es – h, in Erscheinung). Ohne statt dessen eine neue Deutung dieses Verlaufs anbieten zu wollen, muss doch die oben getroffene Einschätzung von Louis Blois in Frage gestellt werden, der im Einsatz des Ustvol’skaja-Themas bei Ziffer 29 eine »Transzendierung unversöhnlicher Gegensätze« verortet hat. Nach der Reprise des kantabel-tänzerischen Seitensatzes mündet der Satz ab Ziffer 47 in eine duolische Begleittextur, die als Grundierung für das ab Ziffer 49 abermals erscheinende, augmentierte »Ustvol’skaja-Thema« fungiert (von Blois recht treffend als »melancholischer Abgesang« charakterisiert):
Notenbeispiel 4: Šostakovič, 5. Streichquartett, 1. Satz, S. 20 © Mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition A. G. Wien
Wieder erklingt das Thema dreimal, und abermals wird es bei jedem erneuten Auftreten in die Höhe geschraubt, bis es bei Ziffer 53 in einen expo52
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nierten liegenden Ton (viergestrichenes f !) mündet, der über nicht weniger als 29 Takte ausgehalten wird und schließlich als Scharnier zum folgenden zweiten Satz (Andante) dient. Zwei Takte nach Ziffer 53 schält sich nun aus der amotivischen duolischen Begleittextur in geradezu verschämt stockender Weise nochmals die »Anagramm-Figur«, diesmal ohne Punktierung, heraus, ohne dass damit allerdings weitere Konsequenzen erwachsen würden. Auch dazu könnten zahlreiche Spekulationen in den Sinn kommen…:
Notenbeispiel 5: Šostakovič, 5. Streichquartett, 1. Satz, S. 22 © Mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition A. G. Wien
Das »Ustvol’skaja-Thema« spielt schließlich nochmals im Schlusssatz eine maßgebende Rolle. Dabei handelt es sich um einen Satz, der sowohl durch formale Komplexität gekennzeichnet ist (und mit der Deutung als »SonatenRondo« – vgl. Kuhn 2010, S. 48 – nur notdürftig etikettiert ist), als auch unterschiedlichste Ausdrucksebenen durchläuft: Der äußere Rahmen wird von melancholisch-elegischen Abschnitten (am Ende sogar morendo!) bestimmt, die tänzerisch-beschwingte Teile einschließen. Das dramatisch bewegte Zentrum des Satzes wird allerdings von einem wild bewegten Gestus (feroce) dominiert, und abermals bringt Šostakovič das »Ustvol’skaja-Thema« in diesem Kontext. Voraussetzungen
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Louis Blois hat Stoff für weiterführende Deutungen bzw. Spekulationen geliefert, indem er das fanfarenartige Motiv bei Ziffer 108, das dem Eintritt des »Ustvol’skaja-Themas« vorangeht, als unmittelbares Zitat auffasst, das dem Schlusssatz der 5. Sinfonie Šostakovičs entnommen worden sei. Die von Blois selbst angebotene Deutung liegt darin, dass dieser möglicherweise darauf hinweisen wollte, dass mit der Komposition dieser Sinfonie die »eigene Periode experimentellen Komponierens« (Blois 2000, S. 45) zu Ende gegangen sei. Allerdings hat gerade dieses Werk, und insbesondere das Finale, von Anfang an eine derartige Masse an unterschiedlichen Interpretationen nach sich gezogen (zwischen den Polen Anpassung und Subversion oder gar Auflehnung gegen das Regime), dass ein Zitat daraus zumindest für die Rezipierenden kaum als ein Verweis in eine bestimmte Richtung aufgefasst werden kann (selbst wenn der Verfasser das womöglich intendiert hätte). Außerdem ließe sich darüber streiten, ob es sich hier tatsächlich um ein konkretes Zitat handelt. Keinesfalls ist es ein wörtliches, da dem Quartauftakt in der 5. Sinfonie Sekundschritte folgen. Allerdings gibt es bei Ziffer 129 eine Variante, die in dieselben seufzerartigen Figuren mündet wie im Streichquartett (2 Takte nach Ziffer 108); und es sind genau diese Figuren, die den Einsatz des »Ustvol’skaja-Themas« (wie im ersten Satz im Fortissimo, espressivo) auf fis vorbereiten. Diesem fis ist im Folgenden ein besonderes Augenmerk zu widmen: Mit dem zweiten Einsatz dieses Themas bringt Šostakovič in der Viola und im Cello einen Orgelpunkt auf g ins Spiel, der sich über nicht weniger als 39 Takte erstreckt und mit dem in der Violine immer wieder angepeilten fis eine Reibungsfläche bildet. Nach diesen 39 Takten, in deren Verlauf die »Ustvol’skaja-Textur« bis auf Andeutungen zurückgenommen worden ist, wird diese wieder ins Spiel gebracht (wiederum auf fis), diesmal allerdings in verhaltenem Gestus, und ohne das durch eine fallende kleine Terz bestimmte Eröffnungsmotiv (s. Notenbeispiel 6, im Anhang). Nach dem dritten Auftreten mündet das Thema in der hier stimmführenden 2. Violine (Ziffer 117) wiederum in ein liegendes fis, das in weiterer Folge mehrfach von anapästischen D-Dur-Akkorden, im ff und pizzicato, gleichsam (durch die Töne d und a) umschlossen wird (einen denkbaren, aber wohl eher fragwürdigen Deutungsstrang, nämlich diese D-Dur-Akkorde mit den ausgedehnten und exzessiven D-Dur-Akkordrepetitionen am Ende der 5. Sinfonie Šostakovičs in Verbindung zu bringen, möchte ich hier nur andeuten, nicht aber weiter verfolgen). Dieses anapästische Motiv wird von einigen russischen Musikwissenschaftlern als ein der Diktion des Kosenamen »Miten’ka« abgeleitetes rhythmisches Pendant zum melodischen Anagramm 54
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»DSCH« verstanden (vgl. Fanning 2004, S. 288). Legt hier Šostakovič seine schützende Hand um seine ehemalige Schülerin? Gerade diese letztgenannte Deutung evoziert nochmals die Frage, wie weit derartige Auslegungen, die auf einer spekulativen Ebene getroffen worden sind, sinnvoll bzw. überhaupt angebracht sind (um das nochmals zu betonen: Damit soll weniger der Anschein einer »Entschlüsselung« erweckt als vielmehr eine Art »Möglichkeitsraum« angedeutet werden). Immerhin stehen dahinter Überlegungen, die zumindest bis zu einem gewissen Grad den ästhetischen Intentionen Šostakovičs entsprechen, die wohl grundsätzlich mit der Vorstellung von Musik als Medium von Botschaften verbunden sind. Des Weiteren wird nicht zu Unrecht insbesondere die Gattung Streichquartett als jenes Metier betrachtet, in dem Šostakovič in besonderer Weise seine ganz persönliche musikalische Sprache ausgebildet hat. Insofern ist es durchaus angebracht, wenn Louis Blois das 5. Streichquartett, das der Autor im Übrigen bis nach Stalins Tod zurückgehalten hat, als »musikalisches Tagebuch der persönlichen und beruflichen Erschütterungen der damaligen Zeit« bezeichnet (Blois 2000, S. 44). Wenn Šostakovič dieses Zitat aus Ustvol’skajas Klarinettentrio 22 Jahre später nochmals heranzieht, und diesmal sogar in einer textgebundenen Komposition, so könnte man vordergründig meinen, dass damit einer Klärung, auch für das Streichquartett, Vorschub geleistet werden könnte. Im neunten Lied (Nacht) aus der Suite auf Verse von Michelangelo Buonarotti op. 145 (1974) ist der gesamte Verlauf der Singstimme aus diesem thematischen Material entwickelt (die nachfolgende Version des Textes bezieht sich auf die Nachdichtung von Jörg Morgener in der Partitur von Sikorski): NACHT »Welch eine Nacht, die schlafend wir hier sehn, sie schuf gewiss ein Engel eigenhändig. Wenn sie auch steinern, ist sie doch lebendig: Weck sie nur auf, sie wird dir Rede stehn.« »Ich lieb den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein. Wenn rings nur Schande herrscht und nur Zerstören, so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören. Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.«
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Die erste Strophe ist ein kleines Huldigungsgedicht von Giovanni Strozzi an Michelangelos Statue Nacht (1531 in San Lorenzo, Florenz, aufgestellt), dem der Schöpfer etliche Jahre später die zweite Strophe als Entgegnung hinzugefügt hat. Nebenbei bemerkt, hat schon diese Textkonstellation unterschiedliche Deutungen nach sich gezogen: Während Michelangelo nach Morgener in diesen Zeilen seinem »leidenschaftlichen Zorn über den Untergang der Freiheit in seiner Heimatstadt« Ausdruck verliehen hätte (Sikorski-Partitur 1974, S. 55), sieht Louis Blois darin eine ironische Erwiderung (Blois 2000, S. 46). Entscheidend ist hier aber, wie Šostakovič den Text aufgefasst haben mag, und wie der abermalige Verweis auf seine Schülerin zu verstehen ist. Die Themenbereiche, die der bereits schwerkranke Künstler in seinen letzten Vokalkompositionen aufgegriffen hat, kreisen allesamt um Fragestellungen, die Kadja Grönke überzeugend umrissen hat: »Šostakovičs Auswahl der vertonten Texte macht die späten Vokalzyklen zum Ort der satirischen Entlarvung, der Klage und Anklage und des künstlerischen Protests, den anders auszudrücken dem Komponisten nicht möglich ist. Gleichzeitig aber sind diese Werke immer auch Medium der Reflexion und der Selbstbesinnung. Demzufolge ergibt sich ein weiterer, nicht weniger wichtiger Themenschwerpunkt, der sich mit der Stellung der Kunst und der Funktion des Künstlers in der Gesellschaft auseinandersetzt. In den Kontext von Gewalt und Tod gerückt, offenbart dieser Aspekt das Ringen um einen übergeordneten ethischen Standpunkt, der sich gegen Moral und Unmoral dieser Welt behaupten kann. Letztlich fragen Šostakovičs späte Vokalzyklen beharrlich nach Pflicht und Mission des Künstlers in einer korrumpierten, kunstfeindlichen Welt.« (Grönke 1996, S. 292)
Insbesondere die Sonette acht (Schaffen) und neun (Nacht) – die Titel stammen im Übrigen von Šostakovič – setzen sich mit dem Selbstverständnis des Künstlers und mit dem Schaffensprozess auseinander; und vor allem der Wortlaut der zweiten Strophe des neunten Sonetts scheint diesbezüglich für Galina Ustvol’skaja maßgeschneidert zu sein. Man könnte geradezu meinen, die Worte wären der extrem zurückgezogen, ja isoliert lebenden Künstlerin in den Mund gelegt worden. Naheliegend wäre des Weiteren, dass Šostakovič mit dem abermaligen Aufgreifen des Zitats aus Ustvol’skajas Klarinettentrio von 1949 (erstmals in seinem 5. Streichquartett aus dem Jahr 1952) an eine Zeit erinnern wollte, in der »nur Schande und Zerstören« geherrscht hatten. Allerdings erklang damals das »Ustvol’skaja-Thema« in einem äußerst aufgewühlt-kämpferischen Kontext, von dem in der späten Suite nichts mehr 56
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geblieben ist. Der Charakter eines elegischen Abgesanges in Nacht wird aber doch an einer Stelle in auffallender Weise durchkreuzt: Im Zwischenspiel zwischen den beiden Strophen ist die ansonsten weitgehend gleichförmige Begleittextur des Klaviers (bzw. des Orchesters) durch eine dreitaktige Enklave (T. 33-35) unterbrochen, die Kadja Grönke als Zitat aus der 14. Sinfonie dechiffriert hat: »Denn in den Takten 33 bis 35 von Nacht kehren die vermollten Quintprogressionen wieder, die im Tod des Dichters den Nachklang von Kjuhel’bekers emphatischem Bekenntnis zur Überlegenheit der Kunst wachhalten. Kjuhel’bekers idealistisches Gedicht wird nicht direkt zitiert, sondern ausdrücklich in seiner verwandelten, entidealisierten Form: als nicht realisierbare, aber anzustrebende Positiv-Utopie.« (Grönke 1996, S. 326)
Ein weiterer Grund, dass Šostakovič das Ustvol’skaja-Zitat nochmals aufgegriffen hat, könnte – diesmal mit Blick auf die erste Strophe von Nacht – auch darin liegen, dass er das künstlerische Potential seiner ehemaligen Schülerin als gleichsam »versteinert« sah: Galina Ustvol’skaja hatte die ganzen 1960er Jahre hindurch fast nichts komponiert oder zumindest wenig fertiggestellt (wobei die Gründe, wie bereits oben erwähnt, sowohl auf persönlicher wie auch auf künstlerischer Ebene vermutet werden können). Und es stellt sich für mich durchaus die Frage, ob Šostakovič von dem Neuansatz seiner Schülerin, manifestiert zunächst durch die Kompositionen Nr. 1 und 2 (die beide noch vor der Michelangelo-Suite entstanden sind), überhaupt gewusst hat. Der Kontakt der beiden dürfte zu dieser Zeit weitgehend abgebrochen gewesen sein, und beide Kompositionen sind erst nach Šostakovičs Tod aufgeführt bzw. gedruckt worden.
»Schreiben sie kürzer, aber begabter!« – Die Kompositionslehrerin Galina Ustvol’skaja war von 1947 bis 1977, und damit schon während der Zeit ihrer Aspirantur (1947-1950), Dozentin für Komposition an der Leningrader Rimskij-Korsakov-Musikfachschule. Angesichts des heute im »Westen« verbreiteten Bildes über die Komponistin, aber auch auf Grund der Tatsache, dass es während ihrer Studienzeit Bestrebungen gegeben hatte, sie aus dem Konservatorium zu entfernen, drängt sich die Frage auf, warum sie die Stelle überhaupt bekommen hat, und warum sie diese in weiterer Folge Die Kompositionslehrerin
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über drei Jahrzehnte hinweg ausüben konnte. In Hinblick auf die Beantwortung der ersten Frage ist wohl davon auszugehen, dass die Fürsprache, bzw. die Vermittlung Šostakovičs eine gewisse Rolle gespielt haben dürfte, auch wenn Ustvol’skaja später jegliche Unterstützung durch ihren Lehrer verneint hatte. Einige Monate später hätte diese Vermittlung nicht mehr funktionieren können: Im Januar 1948 hatte das Zentralkomitee der VKP (ab 1952 KPdSU) unter der Leitung Andrej Ždanovs eine Konferenz der Musikschaffenden einberufen, deren Beschlüsse zu weitreichenden »Säuberungen« im Musikleben der Sowjetunion führten. Schon in seiner dortigen Rede hatte Ždanov im Verweis auf jene Komponisten, die eine »formalistische, volksfremde Richtung« vertreten würden, Šostakovič an erster Stelle genannt. Und schließlich müssten die Konservatorien, die zur Nachahmung der »Formalisten« (neben Šostakovič wurden unter anderem noch Prokof ’ev, Hačaturjan, Šebalin, Popov und Mjaskovskij erwähnt) erziehen würden, besonders ins Auge gefasst werden (vgl. Redepenning 2008, S. 497). Auch wenn die Musikfachschulen wahrscheinlich weniger im Visier standen, muss Ustvol’skajas Position in dieser Phase aber doch als gefährdet angesehen werden. Als Komponistin dürfte Ustvol’skaja zum Zeitpunkt des der Konferenz folgenden Erlasses (10. Februar 1948) noch kaum über das Konservatorium hinaus bekannt gewesen sein: Zwar hatte sie neben einigen verworfenen Studienwerken bereits Stücke komponiert, die sie später in ihr Werkverzeichnis aufgenommen hat (Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauken; 1. Klaviersonate) – deren Aufführungen erfolgten allerdings durchwegs erst viel später. Und mit der Komposition von typischen »sowjetischen« Stücken, deren Uraufführungen zumeist recht bald nach der Fertigstellung zu Stande kamen, begann sie erst im darauffolgenden Jahr (Der Traum des Stepan Razin wurde 1949 fertiggestellt und 1950 erstmals aufgeführt; mit diesem Werk erlangte sie umfassendere öffentliche Beachtung). Aber wenngleich fast nur diese zweite Schiene als aufführungswürdig erachtet worden war, und die des »Formalismus« verdächtigen Instrumentalwerke weitgehend in der Schublade verbleiben mussten, hat man in politisch maßgebenden Kreisen offenbar sehr wohl von diesen gewusst: Als im Herbst 1958 eine amerikanische Delegation, der u. a. die Komponisten Roger Sessions und Roy Harris angehörten, mehrere sowjetische Städte besuchte, bekam diese in einem Konzert in Leningrad die Violinsonate Ustvol’skajas zu hören (vgl. Schwarz 1982, S. 515ff.). Natürlich gilt es zu bedenken, dass dieses Ereignis bereits in die »Tauwetter«-Phase fällt; und es ist wohl auch davon auszugehen, dass diese Wahl weniger aus einer hohen Wertschätzung ihres Œuvres heraus motiviert war, sondern vielmehr durch die Absicht, eine Art »Vorzeige-Avantgardistin« 58
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zu präsentieren. Aber es kann doch als Indiz dafür gesehen werden, dass die Kenntnis dieser eigenwilligen Instrumentalwerke in einschlägigen Kreisen noch keine negative Konsequenz für ihre berufliche Stellung gehabt hat. Im Laufe der 1960er Jahre hat der Direktor des Konservatoriums, der Pianist Pavel Serebrjakov (Direktor von 1961 bis zu seinem Tod 1977; im Übrigen der erste Interpret ihres Klavierkonzerts), Ustvol’skaja sogar das Angebot unterbreitet, am Konservatorium zu arbeiten: »She said that the conservatory director Pavel Serebriakov had invited her to work at the conservatory. ›And you did not accept?‹ I asked. ›But it means constantly being under stress there. It is simply an unnatural state of being!‹ she replied almost insulted. Later she explained that she would have accepted the position as an associate professor, but Serebriakov did not find it possible to offer her that.« (Bokman 2007, S. 159)
Wie schwierig die Situation in Hinblick auf ihre Lehrtätigkeit zu beurteilen ist, bzw. wie wechselhaft und oft auch widersprüchlich viele Vorgangsweisen in dieser Zeit in der Sowjetunion waren, zeigt schließlich folgende Aussage Ustvol’skajas, die sie in einem Interview mit ihrer Schülerin und Biographin Ol’ga Gladkova, etliche Jahrzehnte später, von sich gegeben hat: »Ich habe lange in der Musikfachschule gearbeitet, ungefähr dreißig Jahre. Aber ich habe nur unterrichtet, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen und glaube nicht, dass ich Dutzende bekannter Komponisten ausgebildet habe – dafür war das Konservatorium da. Die Studenten verhielten sich mir gegenüber sehr gut. Als man mich aus dem Lehrkörper der Schule wegen der Aufführung meines Klavierkonzerts – es war verboten – entfernt hatte, organisierten die Studenten neben der Schulverwaltung einen Protestposten mit dem Plakat ›Bringen sie uns Ustvol’skaja zurück‹. Und tatsächlich kam ich zurück.« (Gladkova 2001, S. 23)
Zunächst erscheint es verwunderlich, dass Proteste von Studierenden und des Verwaltungspersonals von Erfolg gekrönt waren. Der Zeitpunkt der erwähnten Aufführung lässt sich nicht genau bestimmen, dürfte aber in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre stattgefunden haben (vgl. Redepenning 2009, S. 7), das heißt bereits in der Ära Brežnev. Insgesamt ergibt sich folgendes Bild: Die Anstellung an der Musikfachschule erfolgte noch vor dem Einsatz massiver Repressionen im Gefolge des erwähnen Erlasses im Februar 1948. Die oben erwähnte Aufführung der Die Kompositionslehrerin
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Violinsonate fiel – fünf Jahre nach dem Tod Stalins 1953 – in eine Zeit vorsichtiger Liberalisierungen unter Hruščëv (»Tauwetter«-Periode), die auch mit »Entstalinisierungen« und einer partiellen Rücknahme der Beschlüsse von 1948 verbunden waren. Nachdem Hruščëv selbst am Ende seiner Ära (etwa ab 1962-1964) wiederum eine äußerst restriktive Haltung gegenüber der Kulturlandschaft eingenommen hatte, setzte Brežnev diese Linie fort, auf der Ebene des Musiklebens unterstützt durch den Sekretär des Komponistenverbandes, Tihon Hrennikov, der immer wieder Attacken gegen Künstler, die sich von der Parteilinie entfernt hätten, ritt. In der obigen Aussage erwähnte Ustvol’skaja, dass sie nur aus finanziellen Gründen unterrichtet hätte. Wenngleich das zutreffen dürfte, da sie wohl lieber in noch größerer Zurückgezogenheit gelebt hätte, muss das nicht heißen, dass sie ihren Unterricht nicht ernst genommen hat; alle diesbezüglichen Äußerungen ihrer SchülerInnen bezeugen ihr ein großes Engagement. Aus der Reihe ihrer Zöglinge, darunter viele danach im lokalen Musikleben verankerte Musiker (z. B.: Boris Kravčenko oder Vadim Veselov; s. Ho/Feofanov 1989, S. 565. Weitere Schüler: Sergej Petrovič Banevič, Moris Slemovič Bonfel’d, Arkadij Borisovič Tomčin; s. Ovčinnikov 2007, S. 20), sind heute vor allem drei Namen – Boris Tiščenko, Ol’ga Gladkova und Semën Bokman – mit einem gewissen Bekanntheitsgrad verbunden. Boris Tiščenko (geb. 1939 in Leningrad) besuchte nach seinem Studium bei Ustvol’skaja (1954-57) das Konservatorium, und war während der Zeit seiner Aspirantur auch Schüler von Šostakovič. Daran schloss sich eine durchaus erfolgreiche Laufbahn als Komponist an, wobei die stilistische Einschätzung im Musiklexikon Die Musik in Geschichte und Gegenwart – Šostakovič und Ustvol’skaja hätten seinen Stil geprägt (Karpinskij 2006, Sp. 856) – eher als reflexartig bezeichnet werden muss und zumindest in Hinblick auf das Vorbild Ustvol’skaja zu hinterfragen ist. In der großen Heterogenität seiner musikalischen Mittel, in der recht konventionelle tonale Spielarten neben dodekaphonen Techniken ebenso Platz haben wie der Rekurs auf Folklore oder Jazz, ist kaum eine Herleitung aus diesem Vorbild erkennbar; und wenn Tiščenko avancierte Klangmittel verwendet (wie etwa Cluster, die auch bei Ustvol’skaja vorzufinden sind), dann in völlig anderen Funktionen. Im Übrigen dürfte sich auch die Wertschätzung der Lehrerin in Grenzen gehalten haben: Auf Bokmans Frage, was sie vom Erfolg von »B. T.« (ich gehe davon aus, dass Boris Tiščenko gemeint ist) halte, habe sie ganz erregt reagiert: »›B. T. is famous?‹ she exclaimed. ›Pozhlakov is famous! Kolker is famous!...‹ After a short pause she continued: ›He, by the way, used to say that he got eve-
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rything from me, here, at the college...I went through hell with him. He wrote like Chopin, then like someone else… I wanted to expel him… His mother came… told me how talented he was… in physics, mathematics,‹ recalled Ustvol’skaja, nervously shivering. She could not stand dealing with students’ parents.« (Bokman 2007, S. 28f.)
Auch Tiščenko selbst hat in einem Rückblick verlautbart, dass Ustvol’skaja sein »Geschreibsel« abgelehnt hätte. Sie hätte ihm immer wieder nahe gelegt, »wahrhaftig« zu schreiben (Tiščenko 1988, S. 108). Überhaupt schien sich die Lehrerin oftmals sehr lakonisch und kurz angebunden über vorgelegte kompositorische Arbeiten geäußert zu haben: »Das ist schlecht«, »das ist banal«, »quadratisch« (?), »das ist trivial«… Entscheidend war für Ustvol’skaja wohl in erster Linie der eigenständige Charakter einer Komposition: In einer Aufgabe, Variationen über ein bestimmtes Thema zu verfassen, habe Tiščenko eine Art sich vergrößernder Dreiklänge geschrieben. Ustvol’skajas Reaktion: »Kennen sie Liszts Faust-Sinfonie? Das gibt es schon dort!« Darin kann im Übrigen auch ein Indiz gesehen werden, dass sie doch eine gewisse Repertoirekenntnis gehabt haben dürfte, entgegen der oftmaligen Beteuerung, nichts zu kennen. Grundlegende musiktheoretische Aspekte seien im Unterricht kaum berührt worden, gelegentlich wäre die Verletzung von Normen, etwa durch Stravinskij, zur Sprache gekommen. Bemerkenswert ist Tiščenkos Hinweis, dass Ustvol’skaja die SchülerInnen ganz selten doch zu sich in die Blagodatnajastrasse eingeladen habe, wo sie einmal neben Mahlers Lied von der Erde auch Šostakovičs 10. Sinfonie angehört hätten! Das muss im Jahr 1957 gewesen sein, also in einer Zeit, als der Bruch Ustvol’skajas mit ihrem ehemaligen Lehrer noch nicht endgültig vollzogen war. Von ihren eigenen Werken habe er im Unterricht nur zwei Suiten und die Filmmusik zu Das Mädchen und das Krokodil kennengelernt. Auf die Frage, was sie denn gerade komponiere, habe sie immer ausweichend geantwortet. Die anderen beiden Schüler, Ol’ga Gladkova, und Semën Bokman, kennt man vor allem durch ihre Biographien. Laut Konstantin Bagrenin wäre Gladkova aus der großen Schar an Schülerinnen und Schülern die einzige gewesen, der Ustvol’skaja ein besonderes Talent zugesprochen hätte. Der Weg Gladkovas führte allerdings zur Musikwissenschaft. Bokman hat sein Studium bei Ustvol’skaja 1974 abgeschlossen, lebt seit 1998 in den USA, und ist Mitglied der NACUSA (National Association of Composers, USA). Dank der beiden, sehr persönlich ausgerichteten Biographien sind uns Einblicke in die Unterrichtspraxis gewährt, wobei Bokmans Darstellung überhaupt weitgehend durch seine Erinnerungen an die Studienzeit geprägt ist. Der Großteil dieser ErinneDie Kompositionslehrerin
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rungen, bzw. die Vielzahl an Ereignissen, die dargeboten werden, ist sehr stark auf die Zeichnung eines Persönlichkeitsbildes ausgerichtet, während die Informationen über den Ablauf und die Inhalte des Unterrichts – was zumindest die Musikwissenschaft mehr interessieren dürfte – merkwürdig dürftig ausgefallen sind. So erfährt man etwa eine Menge an Einzelheiten, die das schon hinlänglich bekannte Bild einer extrem scheuen Persönlichkeit untermauern: – – – –
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Vor ihrem Unterricht habe sie regelmäßig Spaziergänge in möglichst ruhige Regionen der Stadt, etwa auf die Inseln, unternommen; es wäre völlig unvorstellbar, die Künstlerin, womöglich noch mit einem Sektglas in der Hand, bei einem Empfang zu sehen; um Anrufer, Gratulanten oder Besucher zu minimieren, habe sie ihren Geburtstag vom Juni in den (schulfreien) Juli verlegt; wenn sie mit ihrem Mann mit der Bahn (zumeist nach Litauen) in den Urlaub fuhr, hätten sie immer Karten für das ganze Abteil bestellt, um der Gefahr möglicher Gesprächsanknüpfungen zu entgehen; alle Einladungsversuche von Studierenden habe sie ausgeschlagen (immerhin habe sie einige Schüler zu sich nach Hause eingeladen, die auf Grund der angespannten finanziellen Lage ihrer Lehrerin oftmals Nahrungsmittel mitbrachten); sie habe es möglichst vermieden, mit den Eltern der Studierenden zu sprechen; auf persönlicher Ebene habe sie, allerdings immer wieder durch Unstimmigkeiten beeinträchtigt, Kontakte zu ihrem Neffen und dessen Familie gepflegt; und schließlich erfährt man auch noch einige Bruchstücke zu ihrem 1941 geborenen, also deutlich jüngeren Mann Konstantin Bagrenin, den sie 1966 geheiratet hatte:
»Upon one of my visits I found Galia upset, taking valerian drops. She told me that her husband left; and all because they could not share their time. Both wanted to compose. ›He left … I stay here with the slammed door … But Semyon, my music is not like his… He scribbles his little symbols [chord symbols: Erg. von Bokman]… I can’t stand it! This is graphomania…‹ Kostia, a former student of hers, wrote songs, and it was strange to me, that someone so close to Galia could write that kind of music. But they were together – husband and wife – two such different people. I replied that, of course, Kostia’s work might not be great, but if it was important to him, she ought to have been more considerate of it. Ustvol’skaja was surprised that I did not support her and, obviously, not expecting such a reply from me she looked perplexed.« (Bokman 2007, S. 69f.)
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Ungeachtet ihres scheuen Wesens wird ihr von allen Zöglingen eine ungemein starke persönliche Ausstrahlung zugesprochen; Tiščenko spricht von einer geradezu »magnetischen« Aura, der man sich kaum habe entziehen können. Die Begegnungen mit ihr – so Semën Bokman – wären so eindrücklich gewesen, dass die Erinnerungen bis ins Detail auch nach Jahrzehnten noch nicht verblasst wären. Bokman zeichnet aber auch Wesenszüge, die für die Bewertung der vorliegenden Aussagen Ustvol’skajas bedenkenswert sind: Ihre Ausdrucksweise sei durch außergewöhnliche Knappheit gekennzeichnet gewesen, verbunden mit einem kategorischen Impetus, der wohl jeglichen Ansatz zu womöglich ausufernden Diskussionen von vornherein unterbinden sollte. Darüber hinaus habe sie aber auch oftmals, sehr situationsbezogen, zu pointiert-überspitzten Äußerungen tendiert, die durchaus im Widerspruch zu bereits getroffenen stehen konnten. Das ist schon insofern bedenkenswert, als zu vielen Fragen in Hinblick auf biographische Aspekte nur eine einzige Aussage vorliegt – man wird also sehr genau abwägen müssen, wie damit umzugehen ist. Dementsprechend muss differenziert werden zwischen spontan getroffenen Bemerkungen, und etwa Briefen, deren Texte wohl auf abgewogenen Überlegungen basieren dürften. Allerdings gilt es auch hier, den dahinter stehenden Intentionen nachzuspüren. Trotz aller eindrücklicher Erinnerungen, die Bokman vor seinem Publikum ausbreitet, bleiben entscheidende Fragen offen, und das ist ihm durchaus auch selbst bewusst: »How did Galina Ustvol’skaja begin her career as a composer? Was she ever a beginner? (Once, I asked Galina Ivanovna about it. She made a joke, but did not answer my question.) Who were the musical and non-musical heroes and idols of her childhood and youth? Who had the most significant influence on her? How were her views and opinions formed? Who were her favorite and least favorite teachers, in life and in music? I hoped to receive the answers from O. Gladkova’s monograph on Ustvol’skaja. But her book does not answer these important questions because Ustvol’skaja herself does not offer any answers. To me, Gladkova’s book is valuable first and foremost because, in what is written (and what is not) I can clearly see Ustvol’skaja’s personality the way I remember her.« (Bokman 2007, S. 45)
So sehr, wie dem obigen Zitat von Bokman zu entnehmen ist, Galina Ustvol’skaja den Fragen ihrer Schüler und Schülerinnen nach ihren musikalischen Vorlieben und ihren kompositorischen Bezugspunkten auch aus dem Weg gegangen sein mag; und so sehr sie mit einer Unkenntnis des verDie Kompositionslehrerin
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gangenen und gegenwärtigen Repertoires kokettierte – zumindest en passant sind in ihrem Unterricht doch genügend (zumeist sogar wertende) Verweise auf ältere wie auch zeitgenössische Musik bzw. Komponisten eingeflossen, um daraus zumindest ansatzweise so etwas wie ein musikalisches Weltbild abzuleiten. Dieses erweist sich gegenüber dem für ihre eigene Studienzeit bereits herauskristallisierten als durchaus konstant. Wertschätzung fand sie für die Knappheit Weberns oder auch Stravinskijs. Gelegentlich hat sie ihren Studierenden sogar den Besuch bestimmter Werke empfohlen – so etwa den Zolotoj petušok (Goldenen Hahn, Nikolaj Rimskij-Korsakov), Boris Godunov (Modest Musorgskij), oder Petruška (Igor’ Stravinskij). Die Uraufführung der 14. Sinfonie Šostakovičs am 1. Oktober 1969 hat sie sogar mit ihren Schülern gemeinsam besucht (also zu einem Zeitpunkt, als die Beziehung zu ihrem Lehrer bereits völlig zerbrochen gewesen sein dürfte). In ihrer Kritik, die sie trotz aller Zurückhaltung gelegentlich doch einfließen ließ, nahm sie auch gegenüber Zeitgenossen kein Blatt vor den Mund, selbst wenn es sich um eigene Schüler handeln sollte, wie das Beispiel Tiščenko gezeigt hat: Neben Šostakovič oder Prokof ’ev erstreckte sich ihre Kritik etwa auch auf ihren Studienkollegen Georgij V. Sviridov, der sich nicht vom Vorbild seines Lehrers Šostakovič habe lösen können (vgl. Bokman 2007, S. 22). Die Lehre dürfte weder vom äußeren Ablauf her, noch durch die Verfolgung von speziellen Unterrichtsmethoden, durch strikte Vorgaben geprägt gewesen sein: »Ustvol’skaja often said that she was not a teacher, but she was a brilliant teacher indeed. Without inventing a teaching method, she was a school unto herself. Possessing such unusually attractive energy and charm that made her influence almost hypnotic, she did not let this influence extend too far. She found always ways to excite, to ignite, and to provoke interest.« (Bokman 2007, S. 21)
Natürlich würde man genau über diese Anregungen gerne Näheres erfahren, aber es ist wohl davon auszugehen, dass diese in sehr spezifischen Unterrichtssituationen zum Tragen gekommen sind, die schwerlich einer konkreten Beschreibung zugänglich sind. Auch bei Komponisten, bei denen die Quellenlage ungleich umfangreicher ist, wie etwa bei Šostakovič, lässt sich daraus kaum ein anschauliches Bild über den Verlauf des Unterrichts nachzeichnen. Immerhin werden wir durch die Berichte ihrer Schüler und Schülerinnen über einige grundlegende Vorgangsweisen informiert: Neben den Einzelbetreuungen, die sich gelegentlich in lockerer Art und Weise bis in die 64
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Abendstunden ziehen konnten, gab es auch einen Gruppenunterricht, bei dem alle Zöglinge anwesend sein mussten, und wo alle vor dieselbe Aufgabe gestellt wurden. Diese bestand offensichtlich sehr oft darin, auf der Basis eines Themas, das an die Tafel geschrieben wurde, einen Variationensatz zu gestalten. Wenn Ustvol’skaja dafür auch gerne Volkslieder benützte, so war ihr aber sehr daran gelegen, den Übungscharakter dieses Vorgangs zu betonen; in Bezug auf die Kompositionspraxis war sie ein vehementer Gegner von Zitattechniken jeglicher Art. Teil dieser Gruppenstunden war aber auch das Anhören von Musik, verbunden mit nachfolgenden Diskussionen (Bokman nennt Stravinskijs Psalmensinfonie als einziges konkretes Beispiel). In den früheren Jahren ihrer Unterrichtstätigkeit hat sie, wie von Tiščenko zu erfahren war (s. o.), offenbar auch gelegentlich eigene Stücke herangezogen. Davon hat sie später gänzlich Abstand genommen. Diese Information ist insofern interessant, als sich darin doch ein gewisser Gesinnungswandel widerspiegeln könnte, den Ustvol’skaja in späteren Jahren immer beiseite geschoben hat: In den 1950er Jahren konnte sie zu den Stücken der »sowjetischen Schiene«, die der Ideologie des Sozialistischen Realismus entsprachen, offenbar durchaus noch stehen. Später hat sie einen Teil davon nicht nur aus ihrem autorisierten Werkverzeichnis gelöscht, sondern sämtliche vorhandenen Noten der einschlägigen Stücke vernichten wollen. Natürlich gilt es mitzubedenken, dass in der Anfangsphase ihrer Lehrtätigkeit jeder Lehrende in besonderer Weise dazu angehalten war, derartige Werke ins Zentrum des Unterrichts zu stellen. Eine weitere typische Aufgabenstellung im Unterricht war die Gestaltung von »Akustik-Bildern«, beispielsweise nach der Vorgabe »Birke im Herbst« (Rexroth 2000, S. 25). Diese Art der Problemstellung war wohl darauf ausgerichtet, einerseits die individuelle Phantasie aus der Reserve zu locken, andererseits aber auch, die Benützung von ganz bestimmten Kompositionstechniken hintanzustellen. Sie hat ihren Schülern immer abgeraten, auf bestimmte, bereitliegende Techniken (etwa auf serieller Basis) zurückzugreifen. Die vorgelegten Arbeiten wurden schließlich niemals auf Einzelheiten hin korrigiert, besprochen wurde immer nur die Stringenz der Gestaltung, vor allem wohl die Möglichkeiten zu kürzen bzw. zu straffen.
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Ustvol’skaja im Fokus des sowjetischen und russischen Musikschrifttums Die Rezeption von Galina Ustvol’skajas Œuvre in ihrer Heimat – zunächst der Sowjetunion, und ab 1991 der Russischen Föderation – erfolgte in unterschiedlichen Textsorten: in musikgeschichtlichen Darstellungen und Lexika, in Artikeln in Musikzeitschriften, in Rezensionen, und auch in Monographien. Die genannten Texte wurden verfasst von Musikwissenschaftlern, Komponisten, Kunsthistorikern, Theaterwissenschaftlern und Politikern. Bereits vierzig Jahre vor Ol’ga Gladkovas Monographie (1999; auf Deutsch 2001), die auch im Westen bekannt wurde, erschien in der Sowjetunion ein schmales Bändchen von Lidija Grigor’evna Rappoport, das ganz der Künstlerin gewidmet war, und das gewissermaßen ein Narrativ eröffnete. Ungewöhnlich genug, und im Westen kaum vorstellbar, dass einer Komponistin, die erst vor zwölf Jahren ihr Studium beendet hatte, eine derartige Aufmerksamkeit zu Teil wurde. Während der Diskurs in der Sowjetunion, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Werke im Konzertleben nie sehr präsent waren, bereits in den 1950ern einsetzte, erfolgte die »Entdeckung« ihrer Musik im Westen erst ab etwa 1990, gefolgt von Drucklegungen und Aufnahmen ihrer Werke sowie vom Musikschrifttum. Danach wurde ihre Musik von russischen Interpretinnen und Interpreten gewissermaßen wiederentdeckt. Symptomatischerweise entschuldigte sich der russische Pianist Aleksej Ljubimov bei Ustvol’skaja, dass er den Wert ihrer Musik, obwohl er diese schon seit den 70ern kannte, nicht ermessen konnte. Erst nach der wachsenden Anerkennung im Westen seit den 90ern habe er sich in diese Musik hineinfinden können – »ihre Musik wartet immer noch auf ihre Zeit« (Ovčinnikov 2007, S. 20): »Ich muss mich bei Galina Ustvol’skaja und vielen Musikern entschuldigen, dass ich in den 1970ern und 1980ern ihre Musik ignorierte, obwohl ich viele ihrer Stücke in den Händen hatte. Das lag daran, dass Ustvol’skaja keinen Stellenwert in der Avantgardeszene der Zeit hatte, sie war davon völlig unabhängig. Im Westen wurde sie in den frühen 1990er Jahren entdeckt. Und erst dann entdeckte ich sie neu und erkannte sie als große Komponistin. Dank der Aufmerksamkeit und den Bewertungen, die sie meinen Aufnahmen widmete, hatte ich dann auch die Ehre, mit ihr persönlich zu sprechen.« (Worte A. Ljubimovs im Kontext eines Projekts mit dem Titel Am Vorabend Neuer Horizonte vom 18. Dezember 2009 im Mariinskij Theater, als er alle sechs Klaviersonaten und das Grand Duet für Cello und Klavier spielte. Übersetzt von Tatjana Marković)
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Es ist bemerkenswert, dass Ustvol’skaja erst als älterer Mensch, als sie die 70 überschritten hatte, ihre Werke in etwas größerem Umfang in Konzerten hören konnte. Das einzige ihr gewidmete Konzert in Sankt Petersburg bzw. Russland überhaupt fand anlässlich ihres 85. Geburtstages im April 2004 im Ermitage-Theater in ihrer Heimatstadt statt! Eine Analyse des sowjetischen/russischen Schrifttums über Galina Ustvol’skaja lässt unterschiedliche Beobachtungsfelder erkennen: biographische Zugänge, die professionelle und private Beziehung zu ihrem Kompositionslehrer Dmitrij Dmitrievič Šostakovič, die pädagogische Ebene, die Relationen zum kulturpolitischen Kontext, Untersuchungen zum Stil ihrer Musik oder der Blick auf die Aufführungen ihrer Musik durch unterschiedliche Interpreten. Bestimmte Charakterisierungen ihrer Musik ziehen sich wie ein roter Faden durch sämtliche Darstellungen: Originalität, Unabhängigkeit, Autonomie, Einzigartigkeit, Individualität. In den meisten Texten wird ihr Werk in drei Perioden eingeteilt: Die erste reiche bis 1964 (Duet für Violine und Klavier), die zweite umfasse die 1970er Jahre (v. a. die drei Kompositionen) und die dritte alles danach Geschriebene. Die erste Periode wäre gekennzeichnet durch überwiegend »akademische« Instrumentalgattungen wie dem Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauken, den vier Klaviersonaten und den 12 Präludien, der Sonate für Violine und Klavier und dem Grand Duet für Violoncello und Klavier, sowie dem ungewöhnlichen Oktett. Fast alle Darstellungen stimmen darin überein, dass im Oktett (1950) erstmals ihr besonderer Stil zum Ausdruck kommen würde, der sich nunmehr auch von Šostakovič losgelöst habe (z. B. Raaben 1998, S. 17). Nach einer allgemein so benannten Phase des Schweigens (1964-1970), in der sie im Übrigen sehr wohl komponierte, aber nichts an die Öffentlichkeit entließ (http://ustvolskaya.org/precision.php), beginne eine durch religiös konnotierte Werke bestimmte Periode, die mehrfach mit einer Hinwendung zu einer »Neuen Sakralität« in Verbindung gebracht wurde (z. B. Levaja 2010). Diese Linie würde sich in der dritten Periode ab der 3. Sinfonie (1983) fortsetzen. Unklar bleibt allerdings durchwegs, wieso dann überhaupt von einer dritten Periode zu sprechen wäre. Es ist bemerkenswert, dass dieses von sowjetisch/russischer Seite gezeichnete Bild nur auf jenen Werken beruht, die Ustvol’skaja später als ihre »eigentlichen« anerkannte, und sämtliche »sowjetischen« Werke ausschließt – und zwar sowohl die von ihr abgelehnten, aber auch jene, die sie in das Verzeichnis der von ihr anerkannten Werke aufnahm. Auch die oben getroffene Einschätzung, dass die erste Periode durch »akademische« Gattungen gekennzeichnet sei, erfordert eine Bemerkung: Die Besetzung des Oktetts ist Ustvol’skaja im Fokus des Musikschrifttums
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keineswegs akademisch; und jene Sonaten, oder auch die 1. Sinfonie, die auf herkömmliche Gattungsbezeichnungen verweisen, sind in ihrer Konzeption und der spezifischen Behandlung der Instrumente weit entfernt von einer »akademischen« Machart. Hinsichtlich biographischer Informationen enthalten alle Texte über die Komponistin die groben Daten über ihre Ausbildung und ihre Arbeit. Darüber hinausgehend erfährt man, durchaus ihren Wünschen entsprechend, so gut wie nichts, abgesehen von ein paar dürftigen Details, die sie in einem Interview mit Ol’ga Gladkova von sich gegeben hat (Gladkova 2001, S. 16-23). Die informativste und verlässlichste Quelle ist wohl eine von Andrej Bahmin in Zusammenarbeit mit Ustvol’skajas Witwer, Konstantin Bagrenin, eingerichtete Website (http://ustvolskaya.org), wobei Dank eines ausführlichen Interviews ( Juli 2012) mit letzterem und zahlreichen zur Verfügung gestellten Materialien auch vieles in dieses Buch einfließen konnte. Ein Aspekt, der sowohl ihre professionelle als auch ihre private Sphäre betrifft, hat allerdings durchwegs Aufmerksamkeit und Neugier nach sich gezogen – ihre Beziehung zu Dmitrij Dmitrijevič Šostakovič. Es wird allerdings von den meisten Autoren und Autorinnen (z. B.: Borisova 2004, S. 45; Ovčinnikov 2007, S. 20; Levaja u. a. 2010; S. 201) betont, dass dieser zwar einen ungeheuren Einfluss auf seine Schüler ausgeübt habe, nicht aber auf Galina Ustvol’skaja, die von Anfang an einen unabhängigen Weg eingeschlagen habe. Das Narrativ, das sich durch alle Quellen zieht, bestärkt, dass Ustvol’skajas Leben durch ihre Musik, ihre Kreativität bestimmt war: »Umgeben von schwierigen Umständen […] einer schrecklichen Realität, opponierte Ustvol’skaja durch die ungebrochene Stärke ihres Geistes. In ihrem Leben waren so viele Zwänge, dass wir über ihre Person nicht auf der Basis der biographischen Fakten urteilen können, und das durch Zwänge nicht Erreichbare fand ihren Ausgang zuallererst in der Kunst. Somit – ihre Biographie ist ihre kreative Arbeit.« (Sanin 1990, S. 11, übersetzt von Tatjana Marković)
Die Texte der sowjetischen/russischen AutorInnen sind demzufolge weitgehend fokussiert auf ihre Musik, auf einzelne Werke oder Werkgruppen, nur gelegentlich garniert mit Verweisen auf biographische Bedingungen. Einige wenige Texte betrachten ihr Œuvre allerdings auch in einer weiteren Perspektive. So versucht etwa Lev Nikolaevič Raaben Ustvol’skajas Werk in den Kontext einer »spirituellen Renaissance« im Zuge der unter Hruščëv eingeleiteten Tauwetter-Phase zu stellen. Wenn Raaben, oder auch Ljudmila 68
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Dmitrievna Nikitina in ihrer Studie über sowjetische Musik und die zeitgeschichtliche Situation (1991), eine Kontextualisierung vornehmen, so ist das für westliche Beobachter schon insofern wichtig, als die dortigen Kenntnisse über die sowjetische Kulturpolitik, und insbesondere die Kompositionslandschaft, nach wie vor als mangelhaft bezeichnet werden müssen. Darüber hinausgehend versucht letztere auch, Ustvol’skajas Wirken in den Kontext der westeuropäischen Kompositionslandschaft zu stellen. Und wenn Nikitina Ustvol’skajas Musik mit dem lettischen Komponisten Janis Andreevič Ivanov, dem estnischen Komponisten Vel’o Tormis, oder dem aus Dagestan stammenden Murad Magomedovič Kažlaev vergleicht, so dürften diese im Westen überwiegend nicht einmal namentlich bekannt sein. Dadurch zeigt sich, wie viel Bedarf an Forschung bzw. an Forschungsaustausch in diese Richtung noch besteht. Ustvol’skajas Komposition Feuer in der Steppe (Ogni v stepi, 1958), die bislang allenfalls im Kontext der damaligen politischen Situation in der Sowjetunion beachtet worden ist, versucht Nikitina auch in das Licht von maßgebenden Tendenzen der 1920er Jahre zu stellen, als vielfach versucht worden war, den Rhythmus und die Geschwindigkeit von Maschinen in der Musik abzubilden. Zu denken wäre an Pacific 231 von Arthur Honegger, das Ballett Le Pas d’acier (Stal’noj skok) von Sergej Prokof ’ev, die Oper Eis und Stahl (Lëd i stal’; uraufgeführt 1930 in Leningrad) von Vladimir Mihajlovič Deševov, oder an Maschinenmusik (Muzyka mašin), den ersten Satz aus der Ballettsuite Stahl (Stal‘) von Aleksandr Vasil’evič Mosolov (Nikitina 1991, S. 121). Es lässt sich allerdings nicht sagen, ob Ustvol’skaja auch nur eines dieser Stücke gekannt hat. Gleichzeitig ließe sich Feuer in der Steppe mit der für alle Sowjetstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg typischen Glorifizierung der Arbeit in Verbindung bringen, Seite an Seite mit Šostakovičs Lied von den Wäldern (Pesn’ o lesah, 1949) und Über unsrer Heimat strahlt die Sonne (Nad rodinoj našej solnce sijaet, 1952), beide inspiriert durch den Dichter Evgenij Aronovič Dolmatovskij (Nikitina 1991, S. 122). Die Musikproduktion in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg war natürlich den Argusaugen der Kommunistischen Partei ausgesetzt. Wie groß die Rolle war, die man der Musik in der Parteiideologie einräumte, zeigt der Bericht des dritten Plenums des Sowjetischen Komponistenverbandes, das 1949 im großen Saal des Moskauer Konservatoriums abgehalten wurde. Ziel des Treffens war die Anhörung von Musikstücken, die seit dem zweiten Plenum, also mehr oder weniger im Jahr 1949, komponiert worden waren, um »die Leistungen zu bewerten und um Wege zu finden, unsere Schwächen zu überwinden« (N. N. 1949, S. 57). Wie laut Bericht »Kamerad Hrennikov« Ustvol’skaja im Fokus des Musikschrifttums
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bemerkte, sollten sowjetische Komponisten die »großen Hoffnungen rechtfertigen und Werke schaffen, die unserem großen Volk gerecht werden, wert der großen Epoche Stalins« (vgl. Hrennikov 1949, S. 45-57). Tihon Nikolaevič Hrennikov (1913-2007) war 1948 Sekretär des Sowjetischen Komponistenverbandes geworden und hatte diese Stellung nicht weniger als 43 Jahre inne. Nachdem er diese Position zunächst auf Stalins Anordnung erhalten hatte, wurde er später (1986 und 1991) aber auch zweimal wiedergewählt. Als Komponist hatte er zwischen 1940 und 2006 nahezu 50 Auszeichnungen erhalten. Hrennikovs umfassender Artikel gibt nicht nur die ideologischen Konzeptionen der Partei und deren Anforderungen wieder, er liefert auch eine detaillierte Durchleuchtung der Musikproduktion des Jahres 1949 in der Sowjetunion in ihren verschiedenen Republiken und unterschiedlichen Nationalitäten. Dabei fällte er über verschiedenste Kompositionen Urteile, vorrangig über vokal-instrumentale und sinfonische Werke, die sich den »wichtigsten aktuellen Themen unserer Gegenwart« gewidmet hätten (Hrennikov 1949, S. 46). Selbstverständlich waren diese Urteile von größter Bedeutung für die Komponisten und deren Ansehen. In der Liste der beurteilten Stücke findet sich auch Galina Ustvol’skajas in diesem Jahr komponierte Byline Der Traum des Stepan Razin (Son Stepana Razina) für Bariton und Orchester. Hrennikov gab seinen Eindruck kund, dass es eine Gruppe junger sowjetischer Komponisten gäbe, die »auf dem richtigen Weg« wären; das zeige sich in folgenden Werken: im Son Stepana Razina, der Kantate Rodnye polja von Evgenij Fedorovič Svetlanov, der Prazdničnaja uvertjura von Aleksandr Grigor’evič Arutjunan, dem Violinkonzert von Arno Arutënovič Babadžanjan, und dem Sinfonischen Poem Za otčiznu von Revaz Il’i Lagidze. Unter den genannten Stücken würden aber jene von Svetlanov, Ustvol’skaja und Babadžanjan Schwächen aufweisen, wobei bei Svetlanov und Ustvol’skaja mangelnde Umsicht in der Behandlung des musikalischen Materials und dessen langsame Entfaltung zu beanstanden wären. Es handelt sich hierbei um eine öffentliche Abkanzelung junger Komponisten und Komponistinnen im wichtigsten staatlichen Publikationsorgan im Bereich der Musik, der wenig Positives enthielt und wohl kaum als Ermutigung aufgefasst werden konnte. Im Übrigen komponierte Galina Ustvol’skaja gerade in dieser Zeit sehr viel; in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zum Stepan Razin entstanden die 2. Klaviersonate, das Klarinettentrio und das Oktett (die Hrennikov wohl noch viel weniger erfreut hätten). Die genannten Werke sind nicht umsonst erst viel später (1967, 1968 und 1970) uraufgeführt worden, und wohl nicht bloß aus dem gelegentlich ins Spiel gebrachten Grund, dass Ustvol’skaja so hohe Ansprüche an die Ausführenden stellen würde. Unter diesen Umständen blieb 70
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kein anderer Weg als die innere Emigration, da sie niemals daran dachte, das Land, oder auch nur die Stadt Leningrad, zu verlassen. Durch die verspäteten Drucklegungen und Aufführungen konnte sich natürlich in weiterer Folge kaum ein Diskurs über ihr Werk entfalten. Aber es gab auch positive Reaktionen in diesem Zeitraum: Anders als Hrennikov bewertete Nadežda Jakovlevna Brjusova Ustvol’skajas Byline Der Traum des Stepan Razin als konsistente und durchdachte Komposition. Die besondere Leistung bestünde in der Annäherung an einen volksmusikalischen Stil und in der adäquaten Behandlung der epischen Vorlage (Brjusova 1950, S. 16). Auch Arnol’d Naumovič Sohor hob hervor, dass sich Ustvol’skajas musikalische Behandlung des Stoffes aus der Masse an gesichtslosen Kantaten und Oratorien der Zeit durch ihren völlig neuen, zeitgemäßen Ausdruck deutlich abhebe (Sohor 1959, S. 165). Neben der patriotischen war eine weitere Thematik nach dem Krieg sehr gefragt – die Welt der Kinder; und zwar in Werken über und für Kinder. Mit der 1. Sinfonie, sowie der Pionier-Suite (Pionerskaja) und der KinderSuite (Detskaja) trug auch Ustvol’skaja zu diesem Genre bei. Wenn Ljudmila Nikitina deren Verbundenheit mit russischen volksmusikalischen Traditionen hervorhebt, so geht es weniger um eine einschlägige Qualifizierung der Komponistin in diese Richtung, sondern vielmehr darum, dass sie (neben Komponisten wie Georgij Vasil’evič Sviridov, Al‘fred Garrievič Šnittke, Rodion Konstantinovič Ščedrin, German Germanovič Galynin, Jurij Markovič Bucko, Alemdar Sabitovič Karamanov, Kara Abul’faz Karaev) neue Horizonte für die Behandlung volksmusikalischer Traditionen, abseits platter Folklore, eröffnet hätte (Nikitina 1991, S. 142). In ähnlicher Weise wären die Verbindungen ihrer Ensemblekompositionen zu zeitnahen Stücken von Sulhan Fedorovič Cincadze, Boris Aleksandrovič Čajkovskij, Roman Semënovič Ledenëv, Vadim Nikolaevič Salmanov, Edison Vasil’evič Denisov oder Al’fred Šnitke zu untersuchen. In ihrer Tendenz zu monodischen Ausprägungen stünde sie, so Nikitina, vor allem Jurij Bucko und der jungen Sofija Asgatovna Gubajdulina nahe: »In Werken dieses Typs wird der improvisatorische Charakter durch spezifisch fließende Texturen und eine klare Materialorganisation erzeugt. Die Prinzipien einer Materialorganisation im Sinne einer ›melodischen Improvisation‹ stammen aus Denkweisen, die vor der klassischen Ära anzusetzen sind. Sie waren auf Grund ihres intonatorischen Reichtums für viele Komponisten anziehend.« (Nikitina 1991, S. 175, übersetzt von Tatjana Marković) Ustvol’skaja im Fokus des Musikschrifttums
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Da einige Kompositionen Galina Ustvol’skajas Texte einbeziehen oder Titel aufweisen, war auch die Frage der Auseinandersetzung mit dem Wort, oder ein Bezug zu außermusikalischen Welten, immer wieder ein Thema in den Schriften über die Komponistin. Die zu beobachtende programmatische Spannweite war ja durchaus breit gefächert, von Referenzen zur sowjetischen »Realität«, dem Verweis auf einen Nationalhelden und aufständischen Führer, bis hin zu sehr persönlichen Bekenntnissen, die von einem Bedürfnis nach Friede und Rettung sprechen. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Zugangsweisen in den Texten über dieses Metier. Die unterschiedlichen Zugangsweisen sind aber auch bedingt durch die wechselnden politischen Verhältnisse. So war Lidija Rappoport 1959 noch davon überzeugt, dass Ustvol’skaja zu jenen Komponisten gehöre, die den schwierigsten Weg, in Form einer Auseinandersetzung mit den wichtigsten zeitgenössischen Themen, gegangen seien – der Tapferkeit des sowjetischen Volkes und seiner Jugend oder die Aufbauarbeit im Komsomol. Als beispielhaft dafür nennt sie Stücke wie die Kantate Der Mensch vom hohen Berg (Čelovek s gory Vysokoj) und das Sinfonische Poem Feuer in der Steppe (Ogni v stepi). Die musikalische Sprache dieser Werke sei durch eine »zauberhafte, eindringliche Lyrik« gekennzeichnet (Rappoport 1959, S. 3). In ähnlicher Weise pries Svetlana Katonova den Mut der Komponistin, sich solch wichtiger Themen wie der sozialistischen Arbeit bzw. der Arbeit der Bergleute anzunehmen (Katonova 1956, S. 268). Zwei der Suiten, die Pionier-Suite und die Kinder-Suite stellte sie gar in die Tradition einschlägiger Stücke von Schumann, Musorgskij, Čajkovskij, Bizet und Prokof ’ev, wobei sie die Tradition durch die »scharfsinnige Behandlung des Orchesters« (Ebd., S. 268) bereichert habe, und der »Bezug auf die unmittelbare Realität« als die Verkörperung einer typisch sowjetischen Haltung verstanden werden kann (Ebd., S. 266). Mehrere Autoren befassen sich mit der Einbeziehung des »religiösen Worts« in der Musik Galina Ustvol’skajas. Manche Einschätzungen gehen dabei allerdings von falschen Voraussetzungen aus, wenn diese ihr Werk bis 1970 als durchwegs autonom einschätzen: Erst mit den Kompositionen ab den 1970er Jahren habe sie Sprache eingesetzt, zunächst bloß in Form von Untertiteln (Komposition Nr. 1-3), dann mit Texten (2.-5. Sinfonie). Dabei sei es zu einer zunehmenden »verbalen Verkörperung des tiefen, substanziellen Inhalts ihres Werks, des religiösen Gehalts«, gekommen (Levaja 2010, S. 393). Damit wird einerseits ignoriert, dass sie auch in früheren Stücken programmatische Titel (etwa in den Suiten) oder Texte (in der 1. Sinfonie oder in Der Traum des Stepan Razin) verwendete. Andererseits: Wäre es – auch angesichts der Tatsache, dass sie die Untertitel zu den Kompositionen im Erstdruck 72
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nicht verwenden durfte – nicht denkbar, dass sie schon zuvor derartige »verschwiegene Programme« im Sinne gehabt haben könnte? Klingt nicht das Oktett etwa ähnlich sakral? Gelegentlich wurde im Übrigen ein eventueller Bezug zu Stravinskijs Psalmensinfonie in den Raum gestellt, die schon in der Kompositionsklasse bei Šostakovič ein wichtiges Beobachtungsobjekt war. Manche Autoren haben aber auch den Umgang mit Texten in ihren früheren Werken ins Auge gefasst. Stellvertretend seien zwei Betrachtungen der 1. Sinfonie (1955; Text von Gianni Rodari) in Augenschein genommen, die erst elf Jahre nach ihrer Fertigstellung im Rahmen des Leningrader Frühlings (Leningradskaja muzykal’naja vesna) 1966 erstmals aufgeführt wurde. Mihail Tarakanov, der diesem Ereignis eine umfangreiche Rezension widmete (Tarakanov 1966, S. 25-33), betonte, dass sich diese Sinfonie von allen anderen in dieser Stadt aufgeführten Werken durch ihre Originalität und Einzigartigkeit unterscheiden würde. Es handelt sich um ein Triptychon, in dem zwei Instrumentalteile einen vokalen Mittelteil umrahmen, der wiederum aus acht auf dem Text Gianni Rodaris basierenden Miniaturen besteht. Der Text über das traurige Leben eines Kindes in einer kapitalistischen Großstadt habe in diesem Stück die monochromen Farben der Musik bestimmt, die – analog zur Schwarz-Weiß-Photographie – zu einer stilistischen Askese geführt hätten (Tarakanov 1966, S. 27). Ustvol’skajas musikalisches Denken sei horizontal bestimmt und führe zu komplexen polymodalen Kombinationen, verbunden mit äußerst dissonanten Klängen und durchdringenden dissonanten Pedaltönen im hohen Register. Der Vokalpart, der eigentlich von zwei Knabenstimmen vorgetragen werden sollte, ist im Rahmen dieser Erstaufführung von einem Kinderchor hinter einem Vorhang realisiert worden, was unglücklicherweise noch zur Folge hatte, dass der Text vollkommen unverständlich blieb. Dieser mangelnde Respekt vor ihrer Partitur (der im Übrigen sogar zu Eingriffen in die Partitur führte!) dürfte die Komponistin, die bekannt ist für ihre hohen Anforderungen an die Ausführenden, sicherlich verletzt haben. Im Rahmen der Diskussionen über die aufgeführten Werke in diesem Festival wurden aber genau die von Tarakanov beschriebenen Charakteristika von Ustvol’skajas Stück heftig kritisiert; insbesondere die »freudlose Tonalität« verkörpere einen schwerwiegenden kompositorischen Mangel. Tarakanov teilte diese Einschätzung nicht und beklagte vielmehr, dass es so selten Gelegenheit gäbe, eine derart gehaltvolle und originelle Musik zu hören (Tarakanov 1966, S. 29). Immerhin ist es bemerkenswert, dass 1966 ein Autor im Sprachrohr des Sowjetischen Komponistenverbandes und somit wichtigstem staatlichem Publikationsorgan, der Zeitschrift Sovetskaja muzyka, eine deutlich von der Parteiideologie abweichende Position vertreten konnte. Ustvol’skaja im Fokus des Musikschrifttums
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Das Verständnis des Textes bzw. der 1. Sinfonie überhaupt scheint sich in den 1990er Jahren etwas verändert zu haben. Aleksandr Sanin brachte zum Ausdruck, dass Ustvol’skaja eher auf die verborgene Ebene des Textes abgezielt habe. Sie selbst habe zum Ausdruck gebracht, dass es eines radikaleren Textes bedurft hätte, die Unerbittlichkeit des Lebens wiederzugeben (vgl. http://ustvolskya.org/1st.symph.php). Die Stimmen der beiden Jungen hätten nicht nur die Tragödie der Sowjetunion verkörpern sollen, sondern die Tragödie der Menschheit an sich (Sanin 1990, S. 13). Das Hauptaugenmerk der sowjetischen/russischen Texte betrifft die stilistischen Merkmale ihrer Musik, seien es die einer bestimmten Periode oder die eines konkreten Stücks. In der Untersuchung ihrer musikalischen Sprache sind sich nahezu alle Beobachter einig, dass ihr Stil originell, autonom und einzigartig sei. Elena Vasil’evna Borisova charakterisiert die äußerst dissonante Klangwelt als »un-ästhetisch« oder gar als »anti-ästhetisch«, wobei sowohl Ustvol’skajas als auch Šostakovičs Musik eine unmittelbare Widerspiegelung der tragischen Weltzustände seien, in ihrem »Mangel an Licht und Schönheit« (Borisova 2004, S. 45). Jeglichen »Klang-Hedonismus« suche man in ihrer Musik, die »eine Reflexion der Disharmonie der Welt« wäre, vergebens (Gnatenko 1995, S. 5). Oder in besonders plastischer Ausdrucksweise: »Ustvol’skaja ist eine Künstlerin mit einer originellen, kreativen Handschrift. Die Besonderheiten, die Spezifika ihrer musikalischen Sprache sind faszinierend. Ihr Klang ist robust, scharf dissonant, absolut ›unbequem‹ zu hören. Eine geradezu hypnotische, suggestive Kraft – das ist es, was man zuerst bei Galina Ustvol’skajas Musik fühlt. Es scheint, als ob diese Musik direkt auf eine tiefer liegende Ebene unseres Wissens gerichtet wäre und dass sie sich nicht nur an das Verstehen, sondern sogar mehr noch an ein intuitives, unmittelbares Begreifen richte.« (Levaja 2010, S. 390)
Dieselben oder ähnliche Adjektiva – hart, asketisch, dunkel, intensiv, äußerst statisch, überwiegend kontrastlos – werden von zahlreichen Exegeten immer wieder verwendet. Anstelle konventioneller Entwicklungen beobachtete man eine ungeheure Spannung von Beginn an. Durch extatische Repetitionen würde ein Siedepunkt erreicht, der den Eindruck einer permanenten Kulmination und eines gefrorenen Zeitflusses zugleich vermittle (Borisova 2004, S. 45). Sämtliche MusikwissenschaftlerInnen stimmen darin überein, dass sich die spezifische und ausgereifte musikalische Sprache Ustvol’skajas bereits 74
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im Oktett für zwei Oboen, vier Violinen, Klavier und Pauken (1949/1950) herausgebildet habe. Laut Nikitina kündige das Oktett stilistische Aspekte an, die erst ein Jahrzehnt später für die Ensemblemusik schlagend geworden wären, wobei der Ausgangspunkt der besonderen Stellung schon in der ungewöhnlichen Wahl der Instrumente läge. In Hinblick auf die musikalischen Detailstrukturen sei zwar der Einfluss Šostakovičs offensichtlich, die »Intonationen« und der Charakter der Fortschreitungen können aber bereits als eigenständig angesehen werden (Nikitina 1991, S. 170). Die besondere Stellung des Oktetts ist auch einigen Rezensionen zu entnehmen: Im Moskauer Vyborgskij Kulturpalast (Vyborgskij dvorec kul’tury) fanden regelmäßig Konzerte statt, die Werken Leningrader Komponisten gewidmet waren. Anlässlich eines Konzerts im Jahr 1970 befragte die Zeitschrift Sovetskaja muzyka zwei Komponisten (Revol’ S. Bunin, Tomas I. Korganov) und einen Musikwissenschaftler (Mihail E. Tarakanov) nach ihren Eindrücken. Alle drei sahen in Ustvol’skajas Oktett das bemerkenswerteste der fünf aufgeführten kammermusikalischen Stücke von KünstlerInnen unterschiedlicher Generationen. Tarakanov begründete das damit, dass Ustvol’skaja mit dem Publikum in ihrer höchst eigenen Sprache kommuniziert habe, die allenfalls ein wenig an Stravinskij erinnere. Bunin betonte wiederum die Besonderheit und Originalität ihres kreativen Denkens, das auf einen sehr hohen und distinkten Geschmack verweise. Neben der auffälligen Zusammensetzung der Instrumente hob Korganov insbesondere die Behandlung des Schlagwerks hervor. Hinzugefügt werden muss noch, dass es sich hier um die Uraufführung des Stücks handelte, wieder einmal zwanzig Jahre nach der Entstehung! Im Versuch, das Oktett in den Kontext der zeitgenössischen Kompositionslandschaft zu stellen, sahen Kiralina Južak und Ljudmila Nikitina Berührungspunkte mit kammermusikalischen Werken von Jurij Bucko. Gemeinsam sei beiden die Auseinandersetzung mit alten monodischen Traditionen der Volksmusik, der Gregorianik oder des »znamennyi raspev«, dem wesentlichsten Typus altrussischer liturgischer Gesänge (vgl. Nikitina 1991, S. 170). Ustvol’skaja hat eine dezidierte Auseinandersetzung mit diesen Traditionen allerdings von sich gewiesen. Hinzugefügt werden muss des Weiteren, dass bei Bucko wie auch bei anderen Komponisten die Beschäftigung mit den genannten Genres erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre einsetzte, also fast zwei Jahrzehnte nach der Entstehungszeit von Galina Ustvol’skajas Stück. Die Analyse des Oktetts führte mehrere Autoren dazu, die Aussage des Stücks mit apokalyptischen Vorstellungen in Verbindung zu bringen, nicht zuletzt auf Grund der bedrohlichen Ostinati in Konnex mit den Paukenschlägen, die im Übrigen auch in der späteren Komposition Nr. 2 »Dies irae« Ustvol’skaja im Fokus des Musikschrifttums
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wieder auftauchen (dort handelt es sich allerdings um einen Holzkubus). Ein weiteres Indiz für eine Deutung in diese Richtung sah man in der Symbolik der Zahl Fünf, wobei die mit dieser Zahl verbundenen »Teufelsmächte« vor allem im fünften Satz des fünfteiligen Werks zum Ausdruck kämen (Levaja u. a. 2010, S. 394). Ausgehend vom Oktett kamen verschiedenste sowjetische/russische Musik MusikwissenschaftlerInnen zu sehr ähnlichen Ergebnissen bezüglich der allgemeinen stilistischen Charakteristika von Galina Ustvol’skajas Musik: das Fehlen jeglicher Rhetorik, keine melodischen Verbindungen, ein monolithisch-asketischer Ausdruck als Ergebnis einer immer auf gleichem Level gehaltenen Dramaturgie (unterstützt durch den Verzicht auf Taktstriche und die weitgehende rhythmische Reduktion auf eine durchgehende Viertelbewegung), die Fokussierung auf bloß eine thematische Ebene, die eine Nähe zum Minimalismus insinuiere. Ein zentrales stilistisches Merkmal sei des Weiteren die »Horizontalität«; sie operiere mit separierten melodischen Linien, die in ihrer Unabhängigkeit scharfe Dissonanzen, zumeist auf einem extremen dynamischen Level, hervorrufen würden. Mit anderen Worten, alle musikalischen Mittel (Rhythmus, Register, Klangfarbe, Dynamik) seien auf extreme Spannung und Dramatik ausgerichtet (Čeredničenko 2002, S. 360ff.). Wollte man Ustvol’skajas Musik generell charakterisieren, so wäre der geeignete Begriff nicht »Minimalismus«, sondern »Asketismus« (Sohor 1959, S. 167f.), in Verbindung mit »Maximalismus« des Ausdrucks (Vasil’eva 2004, http://www.dissercat.com/ content/tvorchestvo-galiny-ustvolskoi-v-aspekte-novoi-sakralnosti). Selbst in Stücken, die an Liedern, Märschen und Tänzen orientiert wären, wie etwa die Byline Der Traum des Stepan Razin, seien diese expressiven Intentionen erkennbar (Katonova 1956, 266f.). In einer bemerkenswerten Studie betonte Kiralina Južak als hauptsächliches Wesensmerkmal den archaischen Charakter, der sich neben dem monodischen Gestus auch im Zugriff auf modale Skalen (v. a. phrygisch) und die »alexandrinische« Skala (bekannt auch als »Skrjabins Modus«, der durch eine bestimmte Folge von Ganz- und Halbtönen bestimmt ist – z. B. c – d – dis – e – f – g – as – a) manifestieren würde ( Južak 1979, S. 90). Die Verwendung dieser Skala wäre im Übrigen laut Aleksandr Naumovič Dolžanskij auch typisch für Šostakovič (vgl. Južak 1979, S. 88f.). Sämtliche Beobachter kamen zu dem Ergebnis, dass der individuelle und originelle Charakter ihrer Musik einen eigenen Kosmos schaffe, der so spezifisch und einzigartig sei, dass man sogar von einer eigenen kompositorischen Richtung sprechen könne (Borisova 2004, S. 45), die im Kontext der zeitgenössischen Kompositionslandschaft eine in sich abgeschlossene Welt verkör76
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pere, ohne jegliche Einflüsse, und ohne auf jegliche Modeerscheinungen zu rekurrieren (Levaja u. a. 2010, S. 390). Diese Einschätzung bedarf allerdings näherer Untersuchungen (s. Kap. Spezifische Charakteristika). Insgesamt waren es verschiedene Gründe, die einer breiteren Präsenz von Galina Ustvol’skajas Werken im Konzertrepertoire im Wege standen, insbesondere in der Sowjetunion: Neben einem mangelnden Verständnis müssen wohl ihre besonderen Ansprüche mitbedacht werden (die, wie am Beispiel der Uraufführung der 1. Sinfonie stellvertretend zu sehen war, allerdings oftmals übergangen worden sind), und schließlich sicherlich auch ihr extrem scheues Wesen, das jeglichen Kontakt mit der Öffentlichkeit möglichst vermeiden wollte. Fast alle bis 1970 komponierten Stücke mussten lange auf ihre Aufführung warten, und dennoch wurden sie »aufgenommen als unerwartete Entdeckungen, die nichts von ihre Frische und Aktualität verloren« hätten (Levaja u. a. 2010, S. 390). So spielte das Entstehungsdatum der Werke keine Rolle, alle Werke würden so klingen als ob sie gerade oder für die Zukunft komponiert worden seien (Sanin 1990, S. 15). Am Ende der 1950er Jahre war die Rezeption von Ustvol’skajas Werk allerdings weitgehend beschränkt auf die sinfonische Byline Der Traum des Stepan Razin, das als eines der wenigen früheren Werke mehrfach aufgeführt wurde. Aber auch damals gab es Stimmen, die diese Situation auf Grund der originellen Qualitäten ihres Œuvres als nicht gerechtfertigt erachteten (z. B. Sohor 1959, S. 50). Russische Musikwissenschaftler der jüngeren Vergangenheit mussten erkennen, dass Galina Ustvol’skaja seit etwa 1990 außerhalb Russlands höher geschätzt wurde und auch stärker präsent war als in ihrer Heimat. In einem Nachruf sah sich Ilja Ovčinnikov veranlasst, die gegenwärtige Situation eher resignierend zu beurteilen: »In Moskau waren dieses Jahr die Kompositionen von Galina Ustvol’skaja in drei Konzerten vertreten, und was die Hauptstadt betrifft, ist das eine Menge. So wie es aussieht, haben wir keinen Grund zur Annahme, dass sich diese Situation nach dem Tod Galina Ustvol’skajas ändern wird.« (Ovčinnikov 2007, S. 20, übersetzt von Tatjana Marković)
Es scheint aber doch, als ob sich die von Ovčinnikov so pessimistisch eingeschätzte Situation langsam, aber doch, ändere. Immerhin gibt es bereits einige russische Städte, wie etwa Saratov, wo die Stücke Galina Ustvol’skajas regelmäßig im Repertoire des Konzertlebens aufscheinen.
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Religiös? Spirituell? Geistig? – Zum performativen Charakter der späten Sinfonien Dass Galina Ustvol’skaja zumindest in einem weiteren Sinne ein tief religiöser Mensch war, steht wohl außer Zweifel. Schwieriger ist es schon, das Wesen dieser Religiosität zu erfassen, zumal sie sich erwartungsgemäß auch zu diesem Aspekt kaum geäußert hat. Zwar erfährt man aus dem Interview mit der Biographin und Schülerin Ol’ga Gladkova (Gladkova 2001, S. 16), dass ihr Vater aus einer Priesterfamilie stammte, und ihr Großvater eine bedeutende Persönlichkeit in der geistlichen Welt gewesen sei. Ob diese Herkunft für das Familienleben irgendeine Rolle gespielt hat, verbleibt allerdings im Dunkeln. Das gilt vor allem für die Lebenspanne bis in die 1960er Jahre, als sie ihren zweiten Mann, Konstantin Bagrenin, kennenlernte. War Religiosität ein wichtiges Gesprächsthema? Hat man unter Umständen sogar einige Bücher aus dem Besitz des Großvaters aufbewahrt? In ihren privaten Besitz sind nur zwei alte Bibeln übergegangen. Auch für die Zeit nach den 1960ern bleibt man weitgehend auf Aussagen aus jenem kleinen Kreis von Personen, die mit ihr in Kontakt waren, angewiesen. Von Bagrenin wissen wir, dass die Ausübung von Religiosität in konfessioneller Hinsicht überhaupt keine Rolle spielte, dass sie nie eine Kirche besucht habe. Allerdings habe sie immer wieder sehr persönliche Dialoge mit Gott geführt. Das intime Gebet war ihr sehr wichtig; in gewisser Weise findet das einen Niederschlag in den Sinfonien – die fünfte und letzte Sinfonie »Amen« (1989/90) integriert das christliche Gebet schechthin, das Vaterunser. Aus dem Umfeld ist Ähnliches zu vernehmen: »Ustvol’skaja wurde nie bei einem Gottesdienst gesehen; weder folgt sie dem Ritus, noch fastet sie, noch empfängt sie die heiligen Sakramente, aber sie trennt sich nie von einem kleinen Kreuz, das sie um den Hals trägt.« (Rexroth 1998, S. 82)
Oder, in den Worten einer ihrer Schüler; hier bereits verbunden mit einer persönlicheren Deutung: »Is Ustvol’skaja religious? She does not practice any particular religion. However, she undoubtedly believes in some Higher Power, which she calls the Spirit. (It seems to me, she does not call it God because it is a religious term; and to say ›I believe in God‹ would attest to being religious.) Her faith, though, as it is refracted in her music, contains a fear of the Superior, of the ›world to
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come‹ and of the unknown. Her supplications for Forgiveness, Serenity, and Grace are very close to the Russian orthodox tradition, which portrays God as a menacing and punishing judge.« (Bokman 2007, S. 39)
Offensichtlich handelt es sich um eine Religiosität/Spiritualität abseits konfessioneller Bindungen oder auch Vorlieben, geprägt durch eine sehr persönliche Beziehung zu Gott. Bis zu einem gewissen Grad ist die Auffassung von Religion als persönliche Angelegenheit durch die politischen Bedingungen während der Sowjetzeit geradezu erzwungen worden. Seit der Revolution 1917 sind durch umfassende Repressionen nahezu alle Voraussetzungen einer öffentlichen Glaubensausübung sämtlicher Konfessionen eliminiert worden. Gab es beispielsweise 1917 noch etwa 70.000 Kirchen im Land, so hatte sich diese Anzahl 1938 bis auf wenige hundert verringert. Parallel zu den politischen und kulturellen Entwicklungen kamen die Restriktionen allerdings nur schrittweise in Gang, 1924 konnte immerhin noch Antonij Preobraženskijs Buch Liturgische Musik in Russland im Druck erscheinen. In den Ergebnissen der »Allrussischen Musikkonferenz« im Jahr 1929, die hier stellvertretend genannt sei, wurden in erhöhtem Ausmaß äußerst aggressive Haltungen zu den Kirchen und zur Kirchenmusik sichtbar, und ab demselben Jahr sorgte der Verbund der Kämpfenden Gottlosen für flächendeckende Verbote öffentlicher religiöser Manifestationen. In den Schulen wurde der Religionsunterricht durch die Fächer »Historischer Materialismus« oder »Wissenschaftlicher Atheismus« ersetzt. Allerdings existierten die Kirchen im Untergrund weiter, selbst die Komposition geistlicher Musik ist nie ganz abgebrochen. Wie weit Repertoires geistlicher Musik in privaten Kreisen gepflegt wurden, lässt sich natürlich schwer abschätzen. Während des Zweiten Weltkrieges kam es sogar zu gewissen Liberalisierungen; viele Kirchen und Klöster wurden wiedereröffnet. Diese begrenzte Tolerierung öffentlich institutionalisierter Religionsausübung ist auch in der Nachkriegszeit zunächst aufrecht erhalten worden, allerdings unter schwer durchschaubaren Verhältnissen. Jedenfalls nahm mit dem Abstand vom Krieg die antireligiöse Propaganda eher wieder zu, und am 22. Parteitag der KPdSU im Jahr 1960 wurde die Überwindung von Religiosität abermals als dezidiertes Ziel festgeschrieben. Während gegenüber dem Ausland weiterhin die Mär von einer freien Religionsausübung hochgehalten wurde, mussten die Kirchen von neuem zunehmend in den Untergrund abtauchen. In der Hruščëv-Ära ist allerdings auch ein deutlicher Akzeptanzverlust der Parteiideologie zu beobachten, dem die wachsende Koalition opposiReligiös? Spirituell? Geistig?
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tioneller Kräfte mit religiösen Interessen gegenüberstand. Der Ausdruck von Protesthaltungen manifestierte sich immer mehr auf religiöser Ebene, wobei diese äußerst unterschiedliche Facetten annehmen konnte: Neben der Zuwendung zu den traditionellen Konfessionen standen überkonfessionelle, oder auch ins Esoterische reichende Haltungen. Mit der Zuwendung zu religiösen, spirituellen Themen verband man nicht zuletzt den Ausdruck geistiger Autonomie. Überhaupt wurde »Geistigkeit« nun zu einem besonderen Schlagwort: Der Begriff kann der in Russland so ausgeprägten Lust an Wortschöpfungen, an der Etablierung von Schlagwörtern, die bestimmte soziokulturelle Verhältnisse, politische Haltungen und Denkweisen, oder auch Mentalitäten umreißen sollten, zugerechnet werden. Aufgekommen ist der Terminus bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts, wobei er schon damals einen Gegensatz zur Alltagsorientierung, zum Primat von Ökonomie und Politik, verkörpern sollte. Als Signum für Idealismus, Freiheit und Unabhängigkeit wurde »Geistigkeit« im Verlaufe der Sowjetunion vor allem von Künstlern und Philosophen verwendet, nicht zuletzt um ihre Machtlosigkeit zu umschreiben. Gelegentlich wurde das Schlagwort aber auch von der Sowjetideologie im Sinne eines Gegensatzes zum »geistlosen« westlichen Kapitalismus aufgegriffen. Letztlich handelt es sich aber natürlich um einen äußerst unscharfen, in seiner Bedeutung dehnbaren Begriff, der nur in konkreten Kontexten spezifiziert werden kann. Wenn Galina Ustvol’skaja in einem späten Text mit dem Titel Meine Gedanken über das Schöpferische (Ustvol’skaja 2000, S. 23) davon spricht, dass sie nur ihr »wahres, geistiges, nicht religiöses Werk« in ihr Werkverzeichnis aufgenommen habe, so steckt hinter dem Wort »geistig« der Verweis auf die sehr persönliche, existenzielle Dimension ihres Schaffens, das sie bewusst von allen Strömungen abheben wollte. Nach einer zunehmenden Tendenz, Religion in halböffentlichen Räumen auszuüben (Franz 2002, S. 378), kam es schließlich im Zuge der Perestrojka zur endgültigen Legalisierung von Religion. Und ein besonderer Motor zur Produktion religiöser Musik war dann auch die 1.000-Jahrfeier der Christianisierung Russlands 1988, die einen regelrechten Boom, der auch in weiterer Folge anhielt, befördert hat. Konzerte mit religiöser und zum Teil sogar explizit liturgisch-ritueller Musik gab es nunmehr in geradezu inflationärer Zahl, und in der Degradierung von Brustkreuzen zum beliebten Modeschmuck zeigt sich die Ausstrahlung dieser Welle bis hinein in die Alltagskultur ( Jakubiak 2002, S. 205). Dieser religiöse Boom auf allen Ebenen ist aber von vielen BeobachterInnen durchaus auch mit kritischen Augen gesehen worden, unter anderem von Galina Ustvol’skaja. Auf die Frage der Biographin Ol’ga Gladkova, wie sie zur »Mode der Religiosität« der letzten Jahre stehe, 80
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antwortete sie gewohnt lapidar: »Negativ« (Gladkova 2001, S. 22). Lassen wir daher mit Edison Denisov einen Künstler zu Wort kommen, der sich etwas ausführlicher darüber geäußert hat: »Solche pseudogeistlichen Werke schreiben zur Zeit diejenigen sowjetischen Komponisten, die früher offizielle Komponisten waren. Früher komponierten sie Kantaten auf Stalin und jetzt ›geistliche‹ Musik. Viele der zeitgenössischen Künstler in Russland betreiben diese Neue Religiosität nicht aufrichtig. Es ist eine Modeerscheinung. Sie ziehen sich diese sakrale Haltung wie eine leichte neue Kleidung über, sie sind wie Chamäleons.« ( John 1996, S. 169)
Wenn auch in der Sowjetunion die Religion, die »Opium für das Volk« oder schlicht »antisowjetisch« sei, zurückgedrängt worden war, hatte die Staatsführung doch bestimmte Aspekte übernommen und instrumentalisiert. Dazu gehörte neben der geradezu kultischen Verehrung des Staatsoberhauptes, etwa mit Kranzniederlegungen als ein Beispiel beliebter ritueller Handlungen, auch die Übernahme von religiösen musikalischen Gattungen. Das gilt insbesondere für die Kantate, aber auch für das Oratorium, dessen Funktionalisierung im Sinne einer »sowjetischen Gattung« 1927 (10. Jahrestag der Revolution) mit dem von einem Moskauer Komponistenkollektiv komponierten Stück Auf dem Weg zum Oktober (Put’ Oktjabrja), gewissermaßen als Initialstück, eingeleitet wurde. Insbesondere nach dem »Großen Vaterländischen Krieg« entstand eine nahezu unüberschaubare Fülle von einschlägigen Werken, und zwar von älteren und etablierten Komponisten wie auch von der jüngeren Generation, für die derartige Kompositionen oftmals das Ende der Ausbildung, oder den Einstieg ins Berufsleben markierten (Redepenning 2008, S. 512ff.). Wie ihr Lehrer Dmitrij Šostakovič, der mit dem Oratorium Das Lied von den Wäldern (1949), oder der Kantate Über unserer Heimat strahlt die Sonne (1952) dem massiven politischen Druck Genüge tun musste, hat auch Galina Ustvol’skaja einige Werke dieser Genres vorgelegt. Von den Kantaten Der Mensch vom hohen Berg (1952) und Morgenröte über der Heimat (1952 – es ist fraglich, ob es sich dabei um eine Komposition von Ustvol’skaja handelt), sowie der Byline Der Traum des Stepan Razin (1949) wollte sie später allerdings nur letztere für ihr Werkverzeichnis akzeptieren. Mit dem Loblied für Knabenchor, vier Trompeten, Schlagzeug und Klavier (also einer durchaus ungewöhnlichen Besetzung) nach einem Text von Sergej Davydov, der – ebenso zeittypisch – der Anpreisung des Friedens gewidmet ist, entstand 1961 die letzte der »sowjetischen« Kompositionen Ustvol’skajas. Danach folgte nahezu eine Jahrzehnt, in dem sie, abgesehen von einem Duet Religiös? Spirituell? Geistig?
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für Violine und Klavier (1964), nichts an die Öffentlichkeit entließ, wenngleich sie permanent am Komponieren war. Warum sie in dieser Phase besonders kritisch war (eine Sinfonie, an der sie arbeitete, fand beispielsweise nicht ihre Akzeptanz), ist nicht so leicht zu sagen; es kämen verschiedene Gründe in Frage. Ab der Komposition Nr. 1 »Dona nobis pacem« (1970/71), mit der wieder eine kontinuierlichere Schaffensphase einsetzte, tragen nun, außer den beiden letzten Klaviersonaten, alle Werke religiöse Titel, wobei die Sinfonien 2-5 auch mit religiösen Texten versehen sind: – Komposition Nr. 1 »Dona nobis pacem« – Komposition Nr. 2 »Dies irae« – Komposition Nr. 3 »Benedictus, qui venit« – 2. Sinfonie »Wahre, ewige Seligkeit« (Text: Hermannus Contractus) – 3. Sinfonie »Jesus, Messias, errette uns« (Text: Hermannus Contractus) – 4. Sinfonie »Gebet« (Text: Hermannus Contractus) – 5. Sinfonie »Amen« (Text: Vaterunser) Dass Galina Ustvol’skaja in den drei Kompositionen auf lateinische Titel aus der katholischen Liturgie zurückgriff, darf keineswegs als religiöses Plädoyer für den Katholizismus verstanden werden. Ab Ende der 1960er Jahre entstanden viele vokal-instrumentale Werke, oder auch reine Instrumentalstücke, mit derartigen Titeln; verwiesen sei etwa auf Arvo Pärts Credo (für Klavier, Chor, Orchester; 1968), auf Sofija Gubajdulinas Introitus (Konzert für Klavier und Kammerorchester; 1978) und Offertorium (Violinkonzert; 1980), oder auf Aleksandr Knajfels Agnus Dei (für 4 Instrumentalisten; 1985 – der Text soll in diesem Stück als Grundlage für die innere Haltung der Interpretierenden und Rezipierenden dienen). Zum einen kann darin ein Ausdruck des Protests gegenüber dem Regime, der sich ab den 1960er Jahren zunehmend mit Religiosität verbunden hatte, gesehen werden, zum anderen aber auch ein langsam voranschreitendes Nachlassen der staatlichen Repressionen. »Gleichzeitig empfand man Latein als eine universale Sprache, und zwar als Sprache der musikalischen Gattungen wie Messe, Requiem, Stabat Mater; Gattungen, die kulturgeschichtlich tief verwurzelt waren und hohe künstlerische Ausprägungen gefunden hatten. In ihrer Bedeutung wurde diese Sprache zum Inbegriff der hohen Geistlichkeit gleichzeitig mit der zunehmenden religiösen Bedeutung des lateinischen Gebets. Das Paradox bestand darin, dass die zeitgenössischen Messen und andere Musikwerke mit geistlichen Titeln von Komponisten geschaffen wurden, die weder aus-
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gesprochene Atheisten noch echte Katholiken oder orthodoxe Christen waren, vielmehr Menschen, die das Unfassbare, die Gott suchten. Die Wahl geistlicher Gattungen bedeutete eher eine Auseinandersetzung mit alten Kulturschichten, mit Urgründen der Kultur. Die Bevorzugung der lateinischen Sprache bedeutet aber keineswegs eine Favorisierung des Katholizismus. Geistliche lateinische Texte geben den russischen Komponisten die Möglichkeit der Umdeutung der allgemeinmenschlichen Kategorien wie Gut und Böse, Leben und Tod, Sünde und Buße.« (Radwilowitsch 2000, S. 21)
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich die Welle an religiösen Kompositionen, noch verstärkt. Trotz der häufigen Verwendung liturgischer Texte waren viele dieser Werke dennoch nicht für die Liturgie bestimmt – Natal’ja Guljanickaja hat dafür den Terminus »Nova musica sacra« eingeführt (vgl. Redepenning 2008, S. 734). In jüngeren russischen musikgeschichtlichen Darstellungen werden auch Ustvol’skajas Kompositionen und Sinfonien zumeist in diese Kategorie eingeordnet (z. B. Levaja 2010). Einen aufschlussreichen Einblick in die Veränderungen im Umgang mit religiöser Thematik ab den 1960er Jahren bietet ein Blick auf die von Radwilowitsch angesprochenen Requiem-Vertonungen: War Dmitrij Kabalevskijs den Opfern des »Großen Vaterländischen Krieges« gewidmetes Requiem (1963) nach dem Poem von Robert Roždestvenskij noch eine allen Maßstäben des Sozialistischen Realismus gerecht werdende Gedenkkomposition, so kann das vom Ustvol’skaja-Schüler Boris Tiščenko in Gedenken an die kritische Schriftstellerin Anna Ahmatova komponierte Requiem (1968) in seinem stilistischen Nebeneinander unterschiedlichster kompositorischer Techniken geradezu als ein Suchen aus den Grenzen der ideologischen Fesseln verstanden werden. In einem späteren Interview gab Tiščenko zu erkennen, dass er während der Komposition am Requiem zwar weder »gestört, bespitzelt oder bedroht« worden war, sich allerdings dessen bewusst war, ein Stück für die Schublade zu schreiben ( John 1996, S. 154). Achmatovas 1935-40 entstandener, stark autobiographischer Gedichtzyklus Requiem ist erst 1987 veröffentlicht worden, Tiščenkos Vertonung kam 1989, anlässlich des 100. Geburtstags Ahmatovas, zur Uraufführung. Alfred Šnittke, der sich weder als praktizierend-gläubiger Mensch noch als Atheist bezeichnete (vgl. Schwarz 1982, S. 991), vertonte 1975 als erster den, wenn auch stark gekürzten, lateinischen liturgischen Requiemtext (als Auftrag für eine Bühnenmusik zu Friedrich Schillers Don Carlos). Zwar konnte Religiös? Spirituell? Geistig?
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auch dieses Werk in der Sowjetunion erst fünf Jahre danach erstaufgeführt werden – allerdings wäre hier wohl eher zu fragen, wie es überhaupt 1980 dazu kommen konnte, zumal die Aufführung an einem durchaus prominenten Ort (der Moskauer Čajkovskij-Halle) stattfand, und zumal das kulturpolitische Klima und die entsprechenden Restriktionen im Laufe der 1970er Jahre zunehmend wieder frostiger geworden waren. Allerdings blieben Sanktionen nicht aus; Šnittke bekam etwa anlässlich der zeitnahen Londoner Uraufführung seiner 2. Sinfonie Sankt Florian kein Ausreisevisum. Beispiele wie die Aufführungsgeschichte von Pärts Credo (vgl. Kautny 2002, S. 83ff.), oder Šnittkes Requiem (vgl. Lesle 1990, S. 387-398) zeigen wieder einmal, dass in der Sowjetunion zu keiner Zeit glasklare Richtlinien in der Umsetzung kulturpolitischer Ziele anzutreffen waren; immer gab es Unwägbarkeiten, persönliche Willkür. Manches, das an einem Ort verboten worden war, konnte an einem anderen durchgehen. Die religiös konnotierten Werke Ustvol’skajas, die noch vor der Perestrojka in der Sowjetunion gedruckt worden waren (das geschah zumeist etwa fünf Jahre nach der Komposition; betroffen sind die Kompositionen 1-3 und die 2. Sinfonie), mussten ohne die Titel erscheinen: »Sehr verehrter Herr Professor Sacher, auf Bitten der Komponistin Galina Ustvol’skaja übersende ich ihnen die Druckausgaben zweier ihrer Werke: Sinfonie Nr. 2 und Sinfonie Nr. 4. Beide Ausgaben, in die die Komponistin in diesem Jahr (1997) handschriftlich zahlreiche Anmerkungen und Korrekturen eingetragen hat, stellen somit die neuesten Fassungen dieser Werke dar. Die Korrekturen wurden nicht von der Hand Ustvol’skajas ausgeführt, sondern von der ihres Mannes, Konstantin Macuchin [= Bagrenin; Anm. des Verfassers], der ihr ständiger Helfer ist. Frau U. bat mich, Ihnen auszurichten, dass einige der Korrekturen damit zusammenhängen, dass der Verlag Sovietskij Kompozitor aus Gründen der Zensur die Sinfonie Nr. 2 ohne ihren eigentlichen Titel (Wahre, ewige Seligkeit) gedruckt hat. Ebenso wurden andere Komponenten, die einen religiösen Charakter tragen, weggelassen. Andernfalls hätte die Sinfonie im Jahr 1982 nicht zum Druck in der UdSSR zugelassen werden können.« (Brief von Viktor Suslin, Internationale Musikverlage Hans Sikorski, an die Paul Sacher Stiftung, Ende 1997)
Es gab Überlegungen, ob Ustvol’skaja die genannten Titel von allem Anfang an vorgesehen hatte, da die Titelblätter der Manuskripte (die heute in der Paul Sacher Stiftung aufbewahrt werden) offensichtlich erst später hin84
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zugefügt worden sind (vgl. Lee 2002, S. 44, 84). Konstantin Bagrenin hat allerdings bekräftigt, dass die Komponistin die Titel von Anbeginn an vorgesehen hatte. Dass die Beiziehung religiöser Titel der oben angesprochenen Tendenz, oppositionelle Haltungen mit religiösen Ausdrucksmitteln zu verknüpfen, entsprach, kann angenommen werden, wenngleich sich die Komponistin darüber durchaus widersprüchlich geäußert hat: Marian Y. Lee, die eine Doktorarbeit über The Spiritual Works of a Soviet Artist (2002) verfasst hat, war es bemerkenswerterweise gelungen, Ustvol’skaja zumindest zweimal am Telefon zu interviewen: Beim ersten Gespräch habe sie die Frage, ob diese Titel Ausdruck einer Protesthaltung seien, sofort bejaht, während beim zweiten Interview dieselbe Frage kategorisch verneint wurde. Von ähnlich widersprüchlichen Aussagen berichtet im Übrigen auch ihr Schüler Semën Bokman – eine Erklärung dafür muss wohl in der Situationsbezogenheit des jeweiligen Gesprächs gesucht werden. Es ist gut vorstellbar, dass Ustvol’skaja gelegentlich ein dezidiertes »ja« oder »nein« bloß dazu verwendet hat, um über ein Thema nicht länger sprechen zu müssen. Eine weitere Möglichkeit, auf die religiöse Ebene Bezug zu nehmen, bestand im Rekurs auf alte liturgische Melodien, entweder in einer konkreten Verwendung, oder auch nur daran anklingend. Diese Melodien waren ja zumindest im öffentlichen Raum lange Zeit kaum greifbar gewesen. 1965 konnte aber eine vom Kirchenmusikforscher und Byzanthinisten Nikolaj Uspenskij veröffentlichte Studie Altrussische Gesangskunst (Drevnerusskoe pevčeskoe iskusstvo) erscheinen, der 1968 eine nach Kirchentönen und Gesangsarten geordnete Notenausgabe unter dem Titel Beispiele altrussischer Gesangskunst folgte (Redepenning 2009, S. 13). Diese Ausgaben, deren Titel bezeichnenderweise die liturgische Herkunft des Repertoires verschweigen, haben regelrecht eingeschlagen, so dass schon nach wenigen Jahren eine Neuauflage beider Publikationen notwendig wurde. Der Zugriff zahlreicher KomponistInnen auf dieses Repertoire kann auf mehrere Gründe zurückgeführt werden. Zunächst einmal boten sowohl die Modalität der Melodien wie auch die freie Metrik und der reduktive Charakter Ansätze für eine vorsichtige Distanzierung vom vorwiegend Dur-Moll-tonalen Gestus der regimetreuen Normen. In dieser Hinsicht korrespondiert diese Tendenz mit einer »neuen volkstümlichen Welle«, die in veränderter Perspektive auf volksmusikalische Quellen zurückgriff: »Den Komponisten der ›Neuen Volkstümlichen Welle‹ ist ein gesteigertes Interesse an den archaischen Schichten des Volkstümlichen gemeinsam: an den alten Beschwörungen, den ritualen Tänzen, den Totenklagen und – allReligiös? Spirituell? Geistig?
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gemein gesprochen – der rituellen und zeremoniellen Musik. Man begann, die echten Volksweisen zu schätzen, unverdorben und unverzerrt durch kanonisierte Bearbeitungsweisen. Von daher entstand das wachsende Interesse an volkstümlicher Aufführungspraxis und Techniken; als Beispiele seien das gleitende Glissando genannt, die abgehackten Worte, die instabilen Strukturen, der improvisierende Stil … Diese – man könnte sagen – Maximalcharakteristika der Volksmusik wurden im Lichte der zeitgenössischen Kompositionssysteme überprüft.« (Schwarz 1982, S. 861)
Von Interesse waren demnach nicht länger die üblichen plump hervorkehrenden Zitiertechniken, sondern strukturelle Mittel, die als Erweiterung der musiksprachlichen Ausdrucksmittel dienen sollten. Ob mit dem Zugriff auf die alten liturgischen Melodien religiöse Motive verknüpft waren, lässt sich nicht generalisieren: Wenn etwa Alfred Šnittke in seinen vier Hymnen (1974-1979) auf Melodien der Uspenskij-Sammlung zurückgriff, so war das nach dessen eigener Aussage »nicht mit religiöser Motivation verbunden«, sondern dem Versuch einer Erweiterung des musikalischen Materials geschuldet (Redepenning 2009, S. 16). Dagegen heißt es im Vorwort zu Jurij Buckos Polyphonem Konzert (1969), in dem diese liturgischen Weisen anscheinend zum ersten Mal überhaupt eingearbeitet worden waren: »Die Kenntnis der traditionellen christlichen Symbolik muss für die Behandlung des Notentextes dieses Werkes unbedingt erlernt werden.« (Vgl. Redepenning 2009, S. 16) Der russische Musikwissenschaftler Boris Kac hat in einer sehr bemerkenswerten Besprechung von Ustvol’skajas Komposition Nr. 1 in der Sovetskaja muzyka (1980, S. 9-17; publiziert auch in den Musik-Konzepten 143, 2009, S. 74-92) herausgearbeitet, dass die Komponistin im zweiten Teil dieses Stücks ein nur leicht transformiertes Zitat aus Uspenskijs Sammlung verwendet habe:
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Notenbeispiel 7: Kac 2009, S. 85
Wenn es sich tatsächlich um ein bewusstes Zitat handeln sollte (wofür die starke Ähnlichkeit spricht), so wirkt es keinesfalls wie ein solches, da der engmelodische, freimetrische Gestus dem Stil Ustvol’skajas seit den 1950er Jahren eigen ist (der bis in die 1960er Jahre allerdings von den »sowjetischen Kompositionen« als zweitem Gleis begleitet worden ist). Die Melodie tritt also keineswegs aus ihrer Umgebung hervor. Dem muss noch zweierlei hinzugefügt werden: Der verwandte Gestus von Ustvol’skajas Melodiebildung mit den orthodoxen Weisen würde wahrscheinlich bei eingehender Suche noch zahlreiche Beispiele ermöglichen, wo über eine direkte Bezugnahme nachgedacht werden könnte. Andererseits ist aber bislang meines Wissens noch kein zweites Beispiel entdeckt worden, wo die Übereinstimmung derart hoch wäre als in dem von Kac angeführten. Das wirft zahlreiche Fragen auf: Handelt es sich in diesem einen Fall vielleicht doch um eine nicht beabsichtigte Ähnlichkeit? Wenn nicht – warum sollte Galina Ustvol’skaja gerade an dieser Stelle ein konkretes Zitat verwenden? War der für sie typische reduktionistische, freimetrische melodische Gestus schon von Anfang an, etwa in der 2. Klaviersonate (1949), durch die Nähe zu den alten liturgischen Melodien motiviert? Und wenn ja – war es eine bewusste Auseinandersetzung, Religiös? Spirituell? Geistig?
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ermöglicht etwa durch ein einschlägiges Gesangsbuch, das noch aus Großvaters Zeiten im Familienbesitz war? Oder handelte es sich doch um einen eher unbewussten Rekurs im Sinne von Mihail Bahtins »Genregedächtnis« (vgl. Kac 2009, S. 79)? In Bahtins Konzept spielt die Überlegung eine wichtige Rolle, dass jegliche Äußerungen nicht nur durch komplexe intertextuelle Bezüge bestimmt sind, sondern auch durch diachrone Prozesse, bzw. durch soziokulturelle Tendenzen, die diesen Äußerungen offen, oder aber auch verdeckt, zu Grunde liegen würden. So kann die Wahl der Ausdrucksmittel eines Künstlers durch bewussten Zugriff auf etwas bestimmt sein, aber auch durch das Aufgreifen von etwas, dessen Herkunft nicht immer bewusst vor Augen liegen muss. Damit soll weder einer romantischen Mystifizierung des Schaffensprozesses das Wort geredet werden, noch muss das in letzter Konsequenz zu Roland Barthes’ Rede vom »Tod des Autors« führen. Eher soll im Sinne des »Habitus«-Begriffs von Pierre Bourdieu, der gewisse Analogien zu Bahtins »Genregedächtnis« aufweist, zwischen einseitig subjektiven Entscheidungen eines Künstlers im Sinne romantischer Inspiration, und einem bloßen Ausgeliefertsein an strukturelle Zeitumstände, vermittelt werden. Nur mit dieser vermittelnden Perspektive kann man der Besonderheit von Galina Ustvol’skajas künstlerischen Ausdrucksmitteln gerecht werden. Im Übrigen war auch ihrem Schüler Semën Bokman, der Uspenskijs Sammlung erstanden hatte, eine gewisse Affinität von Ustvol’skajas Stücken zu diesen Melodien aufgefallen. Auf seine Frage, ob sie durch die alten liturgischen Weisen inspiriert worden sei, habe sie eine direkte Bezugnahme verneint; die Ähnlichkeit sei auf anderem Wege zustande gekommen – was immer das auch heißen mag (vgl. Bokman 2007, S. 38). Wie hat die Künstlerin selbst ihre Werke in Hinblick auf eine religiöse, geistige oder spirituelle Ausrichtung verstanden? Diese Frage soll sich hier ausschließlich auf jenen Teil ihres Œuvres beziehen, den sie später als ihr »wahres« akzeptiert hat (ausgenommen sind also die einschlägigen »sowjetischen« Kompositionen). Zunächst muss einmal festgehalten werden, dass mit der deutlichen Bezugnahme auf die religiöse Sphäre, durch suggestive Titel oder Texte, keinerlei grundsätzliche stilistische Veränderungen einhergingen. Es kann also nicht von einem »religiösen Stil« oder dergleichen gesprochen werden. Die Kompositionen und die Sinfonien, sowie die späten Klaviersonaten setzen bruchlos jenen Weg fort, den sie schon in früheren Klaviersonaten, im Oktett, oder im Grand Duet eingeschlagen hatte. Wenngleich eine religiöse Konnotation zumindest im weitesten Sinne durch die entsprechenden Titel und vor allem die Texte außer Zweifel steht, so ist 88
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doch deren spezifische Ausrichtung, deren Wesenhaftigkeit, nicht so ohne weiteres beschreibbar. Zu dieser Situation hat nicht zuletzt die Komponistin selbst in hohem Maße beigetragen. Manche ihrer Äußerungen zu dieser Problematik scheinen das Fragezeichnen eher zu vergrößern, als einer Klärung der Sachlage dienlich zu sein. In der Summe ergibt sich aber doch das Bild einer tiefen Religiosität und Gottesgläubigkeit, allerdings abseits spezifischer Konfessionen: Aus dem Interview Ol’ga Gladkovas mit Ustvol’skaja (Gladkova 2001, S. 22): O. G.: G. U.: O. G.: G. U.:
Halten sie sich für einen gläubigen Menschen? Ja. Ihre Musik nennt man nicht selten religiös… Das ist ein großer Irrtum. Ich habe mich ja schon mehrfach dazu geäußert.
Aus einem Text über ihre Sinfonie Nr. 4, den sie für den Sikorski-Verlag geschrieben hat (zitiert nach Sperber 1989, S. 65) – der die obige apodiktische Aussage relativiert: »Meine Werke sind zwar nicht religiös im liturgischen Sinn, aber von einem religiösen Geist erfüllt. Sie sollten nach meinem Gefühl am besten in einem Kirchenraum erklingen, ohne wissenschaftliche Einführungen und Analysen. Im Konzertsaal jedoch, also in einer weltlichen Umgebung, klingen sie anders. Die Sinfonie heißt Gebet. Was kann man über ein Gebet sagen? Die Worte definieren das Wesen.«
Einige Jahre später, in ihrem umfangreichsten Text (fast eine DIN A4-Seite), der vorliegt (Meine Gedanken an das Schöpferische, 17. Januar 1994; abgedruckt in: MusikTexte 83, 2000, S. 23): »Ich habe in meinen ›Katalog‹ mein wahres, geistiges, nicht religiöses Werk aufgenommen.«
1994 plante Walter Kläy im Schweizer Radio (DRS, Studio Bern) eine umfangreichere Sendung über die Komponistin. In der Vorbereitungsphase sandte er an sie ein Schreiben, das neben der Beschreibung der Sendung auch eine Liste von sechs Fragen enthielt, und überdies den Wunsch, dass Ustvol’skaja doch selbst einen kleinen verbalen Beitrag liefern möge. LetzReligiös? Spirituell? Geistig?
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teres lehnte sie erwartungsgemäß ab, und auch hinsichtlich der Beantwortung der Fragen war sie in ihrer brieflichen Reaktion sehr zurückhaltend, nimmt aber doch zur Frage nach einer religiösen Ausrichtung ihrer Musik Stellung: »Ich kann nur auf eine einzige Ihrer Fragen antworten – die Frage über die Religiosität und Geistlichkeit meiner Musik. Meine Musik ist keine Hinwendung an irgendeine bestimmte Kirche oder Konfession. Sie ist nicht geschrieben für die Kirche und ist in diesem Sinne weder religiös, noch geistlich, sondern eine Hinwendung an Gott. Es ist eine neue Musik, und alles Neue ist nicht sofort angemessen verständlich. Wenn meine Musik in einer gewissen Zeit ein Urteil erfahren wird, so werden diese Fragen – davon bin ich überzeugt – nicht aufkommen. Jedes Kunstwerk ist umso wertvoller, je mehr es für sich selbst spricht. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist es kein Kunstwerk.« (18. September 1994, Sammlung Ustvol’skaja in der Paul Sacher Stiftung in Basel, übersetzt von Andreas Holzer)
Und schließlich in einem Amsterdamer Interview mit der Musikjournalistin Thea Derks, in dem Viktor Suslin in ihrem Beisein die Antworten gab: »Although Galina employs religious texts, she doesn’t want her music to be labeled religious. It springs directly from the contact she feels with God and doesn’t have any liturgical meaning. Nor is it part of any denomination. Yet her music would benefit from being performed in a church, because only there the acoustics would be good enough to do justice to the tremendous power of expression of her music.« (Derks 1995, S. 32)
Der Theologe Kurt Anglet, der sich in seinem Buch Detonation des Schweigens (2008) intensiv mit der religiösen Dimension der Musik Galina Ustvol’skajas auseinandergesetzt hat, wendet sich vehement gegen die von Suslin eingebrachte Darstellung, dass dem Kirchenraum bloß aus akustischen Gründen der Vorzug zu geben sei. Vielmehr müsse man Ustvol’skajas Aussage, dass ihre Musik »von religiösem Geist« erfüllt sei, ernst nehmen. Wenn sie in den Raum stelle, dass ihre Musik »nicht religiös im liturgischen Sinne« sei, so dürfe überdies keineswegs daraus geschlossen werden, dass es um eine Religiosität des Individualistisch-Privaten gehe (Anglet 2008, S. 18). Religiöser »Geist« sei, entgegen derartiger postmoderner Auffassungen von Religion, niemals einem Einzelnen vorbehalten, sondern immer kollektiver Natur. Das 90
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würde auch durch die Titel (etwa die 4. Sinfonie: »Gebet«; oder die 5. Sinfonie: »Amen«) und Texte der späteren Werke bestätigt: Dass diese nicht auf einen bloß assoziativen Verweischarakter reduziert werden dürften, sondern einem Gebetscharakter der Musik an sich Ausdruck geben würden, bestätige sich vor allem in ihrem letzten Werk, der 5. Sinfonie, wo nicht weniger als das Vaterunser, das christliche Gebet schlechthin, rezitiert würde. Diese theologischen Spekulationen, die so haltlos nicht sind, erfahren auch eine gewisse Unterstützung von Seiten der Musikwissenschaft. Nicht wenige Beobachter schreiben der Musik Ustvol’skajas, insbesondere in Werkbesprechungen der Sinfonien, einen rituellen Charakter zu. Wenn etwa Oliver Korte von »Musik als geistlichem Ritual« spricht, so will er den Begriff »Ritual« ausdrücklich als Gegenbegriff zu »Individualität« verstanden wissen, als standardisierte Handlung, die auf überindividuelle Gültigkeit zielen würde und somit auch der »psychischen Entlastung« des Individuums dienen könnte (Korte 2002, S. 311). Natürlich gilt es zu bedenken, dass »Ritual« mittlerweile ein nahezu inflationär gebrauchter Begriff ist, der durch keine eindeutige Definition, sondern nur kontextbezogen, beschreibbar ist. Insbesondere durch und im Gefolge von Clifford Geertz (The Interpretation of Cultures, 1973) wurde das Ritual zu einem zentralen Modell für die Beschreibung kultureller und sozialer Handlungen. Wenn die Adjektive formal, stereotypisch, repetitiv, zweckmäßig, paradigmatisch, zeitlos und performativ als die dem Ritual am häufigsten zugeschriebenen gelten können, so sind die meisten davon mit dem Gestus der Musik Ustvol’skajas gut in Verbindung zu bringen. Das gilt vielleicht insbesondere für die Eigenschaftswörter repetitiv, zeitlos und performativ, die im Übrigen auch für die Charakterisierung ritueller Handlungen aus den oben genannten hervorgehoben werden sollten. Vor allem die Werke ab den Kompositionen sind oftmals durch wenige Motive oder melodische Modelle bestimmt, die in transformierten Repetitionen den gesamten musikalischen Verlauf bestimmen. Der zeitlos-archaische Charakter ergibt sich vor allem aus dem Moment der Reduzierung des musikalischen Materials auf elementare Bausteine. So besteht etwa der erste Teil der Komposition Nr. 1 »Dona nobis pacem« diastematisch nahezu ausschließlich aus Sekunden, und die Metrik wird durch die insistierende Folge von Viertelnoten weitgehend auf den elementaren Schlag reduziert, der sich jeglicher Hierarchie verweigert (vgl. Notenbeispiel 16). In besonderer Weise kann den späteren Stücken Ustvol’skajas schließlich ein performativer Charakter zugesprochen werden. Das zeigt sich zunächst schon durch einen Blick auf die herangezogenen Texte, die im Sinne der DifReligiös? Spirituell? Geistig?
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ferenzierung von John L. Austin (How to Do Things with Words, 1962) nicht konstativer, sondern performativer Art sind. Das heißt: Diese Texte beschreiben nichts, schildern keinen Tatbestand, der dann etwa auch als wahr oder falsch einzustufen wäre; vielmehr vollziehen diese als performative Sprechakte eine Handlung – nämlich die einer Anrufung. Neben dem Vaterunser (5. Sinfonie) gilt das auch für die Texte von Hermannus Contractus (bzw. Hermann von Reichenau, 1013-1054), die den Sinfonien 2-4 zu Grunde liegen: 2. Sinfonie:
»O! Herr! Wahre und selige Ewigkeit! Ewige und selige Wahrheit! Wahre, ewige Seligkeit! O! Herr!«
3. + 4. Sinfonie:
»Starker Gott, Wahrer Herr, Vater des ewigen Lebens, Schöpfer der Welt, Jesus Messias, Errette uns!«
Ustvol’skaja entnahm diese Texte der Sammlung Denkmäler Mittelalterlicher Lateinischer Literatur des 10.-12. Jahrhunderts (hg. von M. E. GrabarPassek und M. L. Gasparov, übersetzt von S. S. Averinzev, Moskau 1972). Warum hat sie gerade diese Texte ausgewählt? Es mag verführerisch sein, die Auswahl mit der Behinderung des Benediktinermönchs, der deshalb auch den Beinamen »Hermann der Lahme« erhalten hat, in Verbindung zu bringen. Hermann litt seit seiner Kindheit an einer spastischen Lähmung, die nicht nur die Fortbewegung, sondern auch das Schreiben und Sprechen beeinträchtigte. Das nun mit der Beeinträchtigung der Ausdrucksmöglichkeiten der Künstler in der Sowjetunion in Analogie zu setzen, wie verschiedentlich getan, scheint mir aber schon insofern wenig angebracht, als Ustvol’skaja kaum etwas über die biographischen Begebenheiten von Hermann gewusst haben dürfte. Ausschlaggebend war wohl eher der eindringliche Charakter der Anrufung, der von Ustvol’skaja im Falle der 2. Sinfonie noch verstärkt wurde. Es handelt sich um Ausschnitte aus der Dreifaltigkeitssequenz De sancta trinitate, wobei sie bloß zwei Versikel benützte: für die 2. Sinfonie Versikel 4a (ergänzt durch die 92
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Ausrufe »O! Herr!«), und für die 3. und 4. Sinfonie die Zeilen 4-9 aus dem Versikel 6b (vgl. Zink 2009, S. 58ff.). Diese Texte sind weder auf eine Auslegung, eine Interpretation hin konzipiert, und sie erschließen sich auch weniger in einem stillen Lesen als vielmehr in der lauten Ausführung, also in einer »Handlung«: »Der Mangel [der in der einseitigen Fokussierung auf die Funktion des Bedeutens von Sprache bzw. von Schrift gelegen hat; Anm. d. Autors] zwingt zur Rehabilitation der Präsenz der Stimme, ihrer spezifischen Materialität und Ekstatik, wodurch sie aus ihrem Schatten, ihrer Verdrängung heraustreten: Laut, als Singularität, als intensives Geschehen, als leibhafte Manifestation, die begegnet und durch die der Andere teilnehmend zugegen ist, sich aussetzt, entblößt, zeigt, auch das, was nicht gesagt wird oder gesagt werden kann, was nicht in der Textur des Textes aufgeht, daher nicht einmal ausweisbar oder markierbar scheint und doch unabweisbar ›da‹ ist […] Der Ort der Schrift erweist sich dann als der des Sagens oder Sagbaren, der der Stimme als der Moment ihrer Setzung, der Performanz. Dabei bezeichnet das Performative jenes, das am Gesagten als sein Anderes haftet, ohne in ihm aufzugehen. Es ist, im Gegensatz zum Rhetorischen, auf Effekte gerichtet, die im Vollzug der Sprache selber liegen. Das Performative hat deshalb seine Stellung im Gewicht der Wirksamkeiten, diese wiederum in einem Sichzeigen.« (Mersch 2002, S. 116-118)
Der intendierte performative Charakter der Texte wird durch die Anweisungen Ustvol’skajas in den Partituren zu den Sinfonien noch verdeutlicht: So sollen die Ausführenden allesamt in schwarzer Kleidung auftreten, und die Sprecher in der 2. und 5. Sinfonie sollen ihre Texte so vortragen, als ob sie innig zu Gott beten würden. In der 2. Sinfonie soll der Interpret beim Ausruf »O!« die Hände seitlich an den Mund halten, und sie dann bei »Herr!« betend in die Höhe führen. Im Verlauf der Partitur sind diese Stellen, die insgesamt fünfmal vorkommen, mit der Anmerkung »Ruf ins Universum! Zu Gott betend« versehen (siehe Notenbeispiel 8, im Anhang: Gezeigt wird die letzte Anrufung am Ende der Sinfonie). Damit zeigt sich überdies, dass Ustvol’skaja den Text zur 2. Sinfonie, der an sich schon repetitive Elemente aufweist, oftmals wiederholt, und somit den rituellen Charakter dadurch noch erhöht. Das gilt auch für die Texte in den anderen Sinfonien, auch für das Vaterunser. Derartige Wiederholungen wären im Übrigen in der orthodoxen Liturgie undenkbar, geradezu an Blasphemie grenzend (vgl. Lobanova 1999, S. 54). Aber auch durch Momente Religiös? Spirituell? Geistig?
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der instrumentalen Ausführung werden Anklänge an rituelle Prozesse gewahr. So trifft die Pianistin der 2. Sinfonie oftmals auf Hinweise wie »mit der Faust«, oder »sehr feste, kräftige Schläge«. Weit übertroffen wird das freilich noch durch Anweisungen, welche die Interpretierenden der 5. Klaviersonate erwarten: Im fünften Teil sind nicht weniger als 144 viertönige Cluster – abgesehen von den letzten vier allesamt im drei- bis sechsfachen (!) Fortissimo – mit den Knöcheln der linken Hand zu spielen, wobei der Anschlag deutlich zu hören sein sollte (siehe Notenbeispiel 9, im Anhang). Kein Wunder, dass diese auf jeden Fall Schmerzen bereitende Ausführung einige Exegeten zum Vergleich mit einer mittelalterlichen Selbstkasteiung geführt hat. Diese Extreme könnte man freilich auch mit einem Charakterzug Ustvol’skajas in Verbindung bringen, der in ihrem Umfeld angesprochen worden war: In einem Brief an seinen Freund Isaak Glikman attestierte Dmitrij Šostakovič seiner Schülerin Dostojevskij’sche Charakterzüge; vor allem Selbsterniedrigung und Dünkel seien geradezu krankhaft ausgeprägt. Und auch Glikman beobachtete eine »außerordentliche Bescheidenheit, die zum Teil schon an Selbsterniedrigung grenzte« (Glikman 1995, S. 168f.). Einige der in den letzten Seiten angesprochenen Aspekte unterstützen eine Deutung der spezifischen Religiosität Ustvol’skajas, die erst in jüngster Zeit ins Spiel gebracht worden ist: Rainer Nonnenmann bringt das Denken und die künstlerische Haltung der Komponistin mit den Ideen der Gnosis in Verbindung, einer ab dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert aufgekommenen Strömung, die ein radikal dualistisches Weltbild entfaltete (Nonnenmann 2012, S. 6f.). Einer ewig bösen materiellen Welt stünde ein ewig guter, wahrer Gott als Lichtgestalt gegenüber, der entfernt und völlig unfassbar sei. Angesichts der schweren Prüfungen, die der Mensch in der materiellen Welt durchlaufen muss, bleibt nur die Hoffnung auf Erlösung, auf Rettung. Genau darauf beziehen sich ja jene Texte von Hermannus Contractus, die Ustvol’skaja für die Sinfonien Nr. 2-4 ausgewählt hat. Unterstrichen wird dieser Aspekt noch in der 2. Sinfonie, wo dem mehrmaligen Ruf des Solisten: »Aj! Gospodi!« (»O! Herr!«) folgende Erläuterung hinzugefügt ist: »Ruf ins Universum! Zu Gott betend« (vgl. Notenbeispiel 8). Auch den an die Gnostiker herangetragenen Vorwurf, dass sie eine religiöse Konfession zu einer Philosophie »degradieren« würden, könnte man unschwer mit Äußerungen Ustvol’skajas in Verbindung bringen: Immer wieder brachte sie zum Ausdruck, dass ihre Werke zwar spirituell, aber nicht religiös im engeren Sinne, sondern allenfalls von einem religiösen Geist erfüllt seien. Und wenn man an die krassen Gegensätze denkt, die in vielen ihrer Werke aufeinanderprallen, vor allem das unmittelbare Nebeneinander von ohrenbetäubender Lautstärke 94
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und äußerster Zartheit, so wäre auch die Verbindung der kompositorischen Faktur mit dem gnostischen Dualismus nicht allzu weit hergeholt. Es wurde bereits darauf verwiesen, dass das Klavier bei Ustvol’skaja, insbesondere in den späteren Stücken, oftmals als »Schlaginstrument« verwendet wird, wobei schon der Gestus des Schlagens als solcher wesentlich für den intendierten rituellen Charakter sein dürfte. Immer wieder stößt man auf Ausführungsanweisungen folgender Art: »Mit der Faust; die unteren Noten leicht berührend, die oberen (führenden) Noten hervorheben« (Beginn der 2. Sinfonie); oder: »Weiße Tasten mit der ganzen Handfläche anschlagen, immer sehr scharf, heftig und deutlich!« (Komposition Nr. 2, bei Ziffer 32). Aber auch die eigentlichen Schlaginstrumente spielen in den religiös konnotierten Werken eine tragende Rolle. Während sie in der 2. und 3. Sinfonie in ein – wenn auch ungewöhnliches – orchestrales Umfeld eingebettet sind, ist ihre Funktion in der Komposition Nr. 2 und in der 4. und 5. Sinfonie eine besonders auffällige: Die 4. Sinfonie ist die am kleinsten besetzte; neben dem Tam-Tam ist noch eine Trompete, ein Klavier und eine Altstimme vorgesehen. In der Komposition Nr. 2 und in der 5. Sinfonie wird das kleine Ensemble (in der Komposition handelt es sich um 8 Kontrabässe und Klavier, in der Sinfonie um Violine, Oboe, Trompete, Tuba und Sprecher) jeweils durch einen Holzkubus ergänzt, dessen Maße in der Komposition Nr. 2 ungefähr, in der 5. Sinfonie genau angegeben sind: Die Seitenlängen sollen 43 x 43 cm betragen, die Wandstärke 0,5 cm. Zur Betätigung sind zwei Holzhammer vorgesehen. Dieser Kubus könnte an das Semanterion (in Russland auch Bilo genannt), das hölzerne Schallbrett der orthodoxen Kirchen erinnern, das oft statt oder auch zusammen mit Glocken zum Einsatz kam, und im Übrigen auch mit ein bis zwei Hammern bedient wurde (vgl. Reich 2005, S. 351). Es ist bereits gesagt worden, dass von einem »religiösen Stil« keine Rede sein kann. Dennoch ist zu fragen, wie in den entsprechenden Werken die musikalische Faktur im Verhältnis zur textlichen Grundlage konzipiert ist. Auffallend ist zunächst, dass der Textanteil von der 2. Sinfonie (in der erstmals erst nach 16 Partiturseiten die Textrezitation einsetzt) bis zur 5. Sinfonie ständig zunimmt, so dass in dieser der Text als durchgehend vorgetragenes Gebet erkennbar wird. Deshalb sei ein etwas eingehenderer Blick auf die 5. Sinfonie, das letzte von Galina Ustvol’skaja komponierte Stück überhaupt (1989/90), das sie an die Öffentlichkeit entlassen hat, geworfen. Die Textbehandlung des Vaterunser ist durch etliche Wiederholungen, sowie durch drei Einschübe von Anrufungen an Gott geprägt (die Anordnung der Zeilen im Folgenden entspricht den im Werk zusammen zu artikulierenden Phrasen; Religiös? Spirituell? Geistig?
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die Bezeichnung der Abschnitte den von Michael Zink in der weiter unten abgebildeten Formübersicht getroffenen Zuordnungen): Apostrophe: Du-Bitten: Apostrophe: Wir-Bitten:
Apostrophe: Wir-Bitten:
Apostrophe: Doxologie:
Vater unser im Himmel! Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Vater unser! Vater! Vater! Vater unser! Unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, und vergib uns unsere Schuld, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Vater unser! Vater! Vater! Vater unser! Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Vater unser! Vater! Vater! Vater unser! Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen!
In Hinblick auf die grobe musikalische Form ist Michael Zink zuzustimmen, der von drei »Strophen« spricht (in der folgenden Übersicht mit »V« bezeichnet; Zink 2009, S. 71): Die zweite Strophe ist eine geringfügig veränderte Wiederholung der ersten, die dritte eine durch Einschübe erweiterte (wobei die Einschübe keine neuen Elemente einbringen):
Abbildung 2: Zink 2009, S. 71.
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Schon ein Blick auf die Übersicht von Zink lässt vermuten, dass die musikalische Konzeption der Form nicht mit der des Gebets in Übereinstimmung zu bringen ist; ebenso wenig lassen sich die Textwiederholungen aus dem musikalischen Verlauf ableiten. Ganz und gar nicht kann von einem »Entlangkomponieren« am Text gesprochen werden. Im Groben entsteht somit zunächst der Eindruck, dass der Gebetstext und die Musik wie zwei unabhängige Schichten überlagert werden. Um zu klären, ob diese Beobachtung sich auch ins Detail fortsetzt, muss die musikalische Konzeption etwas genauer ins Auge gefasst werden: Der Verlauf der Strophen ist durch eine Folge unterschiedlicher Texturen bestimmt, die in der Partitur auch mit den eingetragenen Ziffern korrespondieren. Dass diese Texturen aber auch allesamt bis zu einem gewissen Grad verwandt sind, liegt daran, dass sowohl der Melodieverlauf als auch die rhythmische Faktur durch den für Ustvol’skaja so typischen reduktiven Charakter gekennzeichnet sind: Die melodischen Fortschreitungen sind in hohem Ausmaß durch Sekundschritte bestimmt, die rhythmische Bewegung in weiten Teilen durch insistierende Viertel. Der Verlauf der Texturen ist nun folgender (die Zahlen in den Klammern nach den Texturnummerierungen sind die in der Partitur eingetragenen – sie bezeichnen den Beginn der jeweiligen Textur; hinzugefügt werden die Entsprechungen zur obigen Übersicht von Zink): 1. Strophe: Textur 1 (1+2 = V.1.1+V.1.2): Oboenmelodie (Wiederholung ab Ziffer 2), mit Ereignissen »am Ton« (Tuba, Holzkubus, Trompete).
Notenbeispiel 10: S. 2, System 1 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG Religiös? Spirituell? Geistig?
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Textur 2 (3 = V.1.3): chromatisches Violinostinato (das auch in weiterer Folge immer mit der Ausführungsbezeichnung fervido – also: glühend, inbrünstig, innig – versehen ist); Trompete und Tuba in engem Tonraum; dazu kommt eine fallende Linie in der Oboe.
Notenbeispiel 11: S. 3, System 1 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Textur 2‘ (4 = V.1.4): Bläsertrio ohne das Violinostinato, die Oboenmelodie ist nun aufsteigend. Auffallend sind 2 Viertelpausen, die in dieser Strophe nur hier und am Strophenende vorkommen.
Notenbeispiel 12: S. 4, System 1 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
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Textur 2 (5): nur 1 »Takt« Textur 3 (5 = T. 40): ebenfalls nur 1 Takt; bloß Viertelschläge auf dem Holzkubus. Textur 4 (6 = V.1.5): synkopischer Gestus, die Viertelbewegung wird unterbrochen; charakteristisch sind des Weiteren die Crescendi (Oboe, Trompete).
Notenbeispiel 13: S. 6, System 1 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Textur 5 (7 = V.1.6): regelmäßige Schläge des Holzkubus, mit Bläsertrio; auffallend sind die Triller in der Trompete. Textur 6 (8 = V.1.7): alle 5 Instrumente spielen durchgehend; charakteristisch ist des Weiteren das Tremolieren am Holzkubus.
Notenbeispiel 14: S. 7, System 1 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
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Textur 5 (9 = V.1.8): nach dieser Textur schließt mit einer Viertelpause die erste Strophe.
2. Strophe: Die gleich lange zweite Strophe ist durch dieselbe Texturfolge wie die erste gekennzeichnet, allerdings mit Stimmtausch von Oboe und Trompete. 3. Strophe:
Textur 1 (18+19 = V.3.1+V.3.2) Textur 2 (20 = V.3.3) Textur 7 (21 = V.3.4): Erweiterung; Tuba mit einzelnen Tönen der Oboe, die – bis auf den ersten – immer die Pausen der Tubamelodie ausfüllen.
Notenbeispiel 15: S. 18, System 1 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Textur 4 (22 = V.3.5) Textur 8 (22, ab T. 168 = V.3.6): Ostinatomodell der Violine, solo. Textur 1 (23+24+25 = V.3.7+V.3.8): Erweiterung; die Textur ist durchbrochen von Solopassagen des Holzkubus‘ (vgl. Textur 3). Textur 5 (26 = V.3.9) Textur 6 (27 = V.3.10) Textur 1 (28 = V.3.11): die Oboenmelodie klingt nur mehr an; mit leisen Schlägen am Holzkubus (ritenuto) endet das Stück.
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Mit der Disposition dieser Texturen lässt sich keinerlei dramaturgische Funktion in Hinblick auf eine Textausdeutung erkennen, etwa in der Weise, dass sich die textlosen Abschnitte von jenen mit Text nach bestimmten Prinzipien unterscheiden würden. Auch die deutlich zu differenzierende Dreischichtigkeit des Satzes (Schicht 1: Violine mit ostinatem Modell; Schicht 2: Bläsertrio, wobei die Tuba in zweifacher Funktion – in Textur 1 in Bordunfunktion und in den anderen Texturen als Triopartner – fungiert; Schicht 3: Schläge in unbestimmter Tonhöhe auf dem Holzkubus) scheint nur nach innermusikalischen Aspekten, zur Strukturierung der Strophen, geordnet zu sein. Warum hat Galina Ustvol’skaja nach der 5. Sinfonie nichts mehr publiziert? Eine möglicherweise verlockende romantisierende Deutung in der Weise, dass nach einem Werk, das auf »das« christliche Gebet schlechthin zurückgreift, nichts mehr gesagt werden könnte, trifft jedenfalls nicht zu: Am 2. August 1993 schrieb sie in einem Brief an ihren Hamburger Verlag Sikorski, dass sie »ein Werk im Kopf« habe, »bei dem – so glaube ich – Gott mir helfen wird, es zu komponieren« (Brief in der Sammlung Ustvol’skaja in der Paul Sacher Stiftung in Basel). Des Weiteren erfahren wir von Konstantin Bagrenin, dass sie eigentlich immer am Komponieren war, selbst noch in im hohen Alter, als sie schon sehr krank war (http://ustvolskaya.org/eng/precision. php, 11. April 2012). Leider hat sie aber nichts mehr an die Öffentlichkeit entlassen.
Religiös? Spirituell? Geistig?
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»Ich bin keine Frau, ich bin nur Galina Ustvol’skaja« – zum Selbstverständnis als Komponistin Die Kapitelüberschrift verweist darauf, dass Galina Ustvol’skaja offensichtlich daran gelegen war, sich von allen Zuschreibungen zu einem weiblichen Rollenverständnis zu distanzieren. Allerdings stammt diese Äußerung (sie beschließt damit einen Brief vom 23. Dezember 1993 an Harry Vogt, den Leiter der Wittener Tage für neue Kammermusik) – wie fast alle, die wir von ihr besitzen – aus einer späteren Phase ihres Lebens, in der sie zumindest zaghaft Kontakte zum Westen geknüpft hatte. Bereits fünf Jahre zuvor hatte sie in einem Brief an den Verlagsdirektor Hans-Ulrich Duffek vom Hamburger Verlag Sikorski (vom 29. September 1988) klar dargelegt, dass sie von speziellen Festivals für Komponistinnen wenig halte, wenngleich sie der Aufführung ihrer Werke bei diesen immer zugestimmt hat: »Was das Festival der Frauenmusik betrifft, so möchte ich folgendes sagen: Ob wirklich zwischen einer Männer- und einer Frauenmusik unterschieden werden kann? Wenn heute Festivals der Frauenmusik durchgeführt werden, so sollte es mit der gleichen Berechtigung auch Festivals der Männermusik geben. Ich bin aber der Meinung, dass solch eine Trennung nicht existieren darf. Es soll nur die echte und starke Musik erklingen! Eigentlich bedeutet die Aufführung im Rahmen von Frauenmusikveranstaltungen für die dargebotene Musik eine Demütigung. Anton Tschechov äußert sich darüber aus einem ähnliches Anlass: ›Wenn eine Katze etwas Bedeutendes schreiben wird, so wird auch sie anerkannt werden.‹ Ich hoffe sehr, dass ich mit meinen Äußerungen niemand beleidige – Ich spreche doch aus dem Innersten meiner Seele.«
Zu ihrer Stellung als Komponistin in der Sowjetunion gibt es überhaupt keine überlieferten Äußerungen von ihr selbst; auch gegenüber ihren Schülern schien dieser Aspekt niemals angesprochen worden zu sein. Hatte sie als Komponistin Nachteile gegenüber ihren männlichen Kollegen, etwa in Hinblick auf die Drucklegung oder die Aufführung ihrer Werke? Oder existierten in der Sowjetunion tatsächlich keinerlei Unterschiede im Verhalten gegenüber »Männermusik« und »Frauenmusik«? Erfuhren Frauen zumindest grundsätzlich die selben Förderungen bzw. Schikanen wie ihre männlichen Kommilitonen? Waren die Honorare für vergleichbare Werke auf dem selben Niveau? Ist ihre Anstellung 1947 als große Besonderheit zu werten, die womöglich nur durch Unterstützung Šostakovičs zustande kommen konnte? 102
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Diese Fragen lassen sich überwiegend nicht eindeutig beantworten; wieder einmal ist man darauf angewiesen, zunächst die allgemeinen Rahmenbedingungen nachzuzeichnen, um daraus ein gewisses Möglichkeitsfeld ableiten zu können. Insbesondere im ersten Jahrzehnt des Bestehens der Sowjetunion ist in Hinblick auf die Frauenfrage ungeheuer viel aufgebrochen, zum Teil geradezu in einer experimentellen Art und Weise. Manches ist schon während der Kriegsjahre vorbereitet worden: Bedingt durch die Kriegsereignisse war die Präsenz von Frauen in vielen Lebensbereichen stark in den Vordergrund getreten (bis 1917 betrug der Anteil der Landarbeiterinnen etwa 72 %, im Bereich der Arbeiterschaft hatten sie zu Männern zahlenmäßig aufgeschlossen). Und schließlich waren es im Februar 1917 in Petrograd zunächst die Frauen, die auf der Straße demonstrierten und Frieden und Brot einforderten. Bereits nach der Abdankung des Zaren am 2. März hatte die provisorische Regierung das aktive und passive Wahlrecht für Frauen beschlossen (Navailh 2006, S. 258), früher als in den meisten westlichen Staaten. Auch die Liberalisierung des Scheidungsrechts, die ebenfalls noch 1917 erfolgte, war weitreichender als in irgendeinem anderen europäischen Staat. Kein Wunder, dass Vladimir I. Lenin mit besonderer Emphase auf diese Phänomene verwiesen hat: »Aufklärung, Kultur, Zivilisation, Freiheit – alle diese klingenden Worte gehen in allen kapitalistischen bürgerlichen Republiken Hand in Hand mit unerhört niederträchtigen, abscheulich-schmutzigen und bestialisch rohen Gesetzen über die Ungleichheit der Frau, wie die Gesetze über Eherecht und Scheidung, über die Ungleichheit zwischen dem außerehelichen und dem ›legitim geborenen‹ Kind, über die Privilegien für die Männer und Erniedrigungen und Beleidigungen für die Frau. Das Joch des Kapitalismus, der Druck des ›geheiligten Privateigentums‹, die Despotie der spießbürgerlichen Engstirnigkeit, die Habgier des Kleinbesitzes – das war es, was die demokratischsten Republiken der Bourgeoisie gehindert hat, diese schmutzigen und schändlichen Gesetze anzutasten. Die Sowjetrepublik, die Republik der Arbeiter und Bauern, hat diese Gesetze mit einem Schlage hinweggefegt und hat vom Gebäude der bürgerlichen Lüge und bürgerlichen Heuchelei keinen Stein auf dem anderen gelassen.« (Zit. nach Köhler 1954, S. 4)
Es war zumindest die Absichtserklärung der Bolschewiki, den Frauen nicht nur auf rechtlicher Ebene, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen Gleichberechtigung zu verschaffen. Im Wesentlichen sollte das durch die Zum Selbstverständnis als Komponistin
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selbstverständliche Einbeziehung der Frauen in den Arbeitsprozess, verbunden mit einer Übernahme der häuslichen Pflichten durch die öffentliche Hand, gewährleistet werden (durch die Einrichtung von zentralen Wäschereien, Großküchen, Kinderkrippen und Kindergärten. Vgl. Dieckmann 1990, S. 5). Als herausragende Vorkämpferin für die Anliegen der Frauen muss Aleksandra Kollontaj (1872-1952) genannt werden, die bereits 1917 Mitglied des Zentralkomitees wurde, im Folgenden als Regierungsmitglied maßgeblich an der Formulierung der Familiengesetzgebung beteiligt war, und ab 1922 schließlich als erste weibliche Botschafterin überhaupt fungierte. Im Laufe der 1920er Jahre stießen ihre äußerst liberalen Vorstellungen allerdings auf zunehmenden Widerstand. Auf institutioneller Ebene sollte die 1919 geschaffene Frauensektion ( Jenotdel) im Zentralkomitee die Frauenfrage vorantreiben, und zwar in allen Lebensbereichen. Bis zum Ende der 1920er Jahren durchliefen etwa 10 Millionen Frauen die Schulungen des Jenotdel, die etwa einfache Arbeiterinnen oder Frauen aus ländlichen Regionen für bestimmte Arbeiten im öffentlichen Bereich qualifizieren sollten. Viele der angesprochenen Ambitionen sind natürlich kaum verwirklicht worden. Von Anfang an war die Situation für die Frauen in der Sowjetunion durch starke Widersprüche gekennzeichnet, und so begegnet man in den 1920er Jahren unterschiedlichsten Frauenbildern nebeneinander: »[...] hier die fortschrittliche Arbeiterin mit rotem Halstuch, schlecht gekleidet und von gestrengem Wesen, dort die rückschrittliche Bäuerin, das weiße Kopftuch in die Stirn gedrückt; hier die emanzipierte, militante und herausfordernde Genossin aus dem Komsomol (der kommunistischen Jugendorganisation), dort die frivole Stenotypistin, kokett und aufreizend. Die Frau verkörperte gleichzeitig die Vorhut und die Nachhut der Gesellschaft. An Gewissheit und Desorientierung schieden sich die Geister. Ende der zwanziger Jahre wimmelten die Romane von eigensinnigen, verstörten und unglücklichen Heldinnen. Die Zügellosigkeit der Stadt und der Konservatismus auf dem Land beschäftigten Herrscher wie Beherrschte. Die Frauen wollten Stabilität, die Männer drückten sich vor ihrer Verantwortung, und die Partei suchte an ihrem Weltentwurf festzuhalten. Seit 1926 war klar, dass die Familie überleben wird.« (Navailh 2006, S. 270f.)
In der Stalin-Ära sind nahezu sämtliche der oben nur angedeuteten Bestrebungen wieder zurückgedrängt worden. Offiziell wurde verlautbart, dass die Frauenfrage nunmehr gelöst sei, und dementsprechend wurde das Jenotdel 1929 ersatzlos aufgelöst. Statt dessen kam es, durchaus parallel mit ande104
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ren Staatssystemen, zu einer massiv lancierten Aufwertung des traditionellen Frauenbildes, verkörpert vor allem durch die alles überragende, hingebungsvolle Mutterrolle, die im Laufe der 1930er Jahre immer mehr propagiert wurde. »Skromnost« (Bescheidenheit) wurde zum verordneten Leitbild für die sowjetische Frau (dass Šostakovičs Frauenbild in seiner Oper Lady Macbeth des Mzensker Kreises dem nicht entsprach, war – neben zahlreichen anderen – sicherlich auch ein wesentlicher Grund für die heftigen Angriffe im legendären Pravda-Artikel Chaos statt Musik vom 28. Januar 1936). Erst in der Hruščëv-Ära kamen davon abweichende Frauenfragen wieder auf das politische Tablett. 1960 wurde mit Ekaterina Alekseevna Furceva (19101974) eine Frau Ministerin für Volksbildung. Das war allerdings auch in der Sowjetunion die große Ausnahme. Die in der Öffentlichkeit maßgebenden Funktionen waren wie in anderen Ländern fast ausschließlich von Männern besetzt. Das gilt etwa auch für die Drahtzieher in Gremien wie dem Komponistenverband. Wie lässt sich nun aber die Stellung von Künstlerinnen in der Sowjetunion umreißen? Während die Lebenswelten von Frauen in den unterschiedlichen Phasen der sowjetischen Geschichte in vielen Bereichen (etwa dem privaten Raum, der Arbeitswelt, oder auch auf politischer Ebene) recht gut erforscht sind, kann Vergleichbares für den künstlerischen Sektor kaum gesagt werden. Und das, was vorliegt, gilt überwiegend der Literatur oder den Bildenden Künsten. Das hat ganz vordergründig schon damit zu tun, dass etwa in der literarischen Sparte ein ungleich größeres Beobachtungsfeld in Augenschein genommen werden kann, aus dem sich eine große Bandbreite von Verhaltensweisen und Strategien der unterschiedlichen Autorinnen ableiten lässt: Neben der kompromisslos oder auch nur teilweise regimetreuen Schriftstellerin begegnet man regimekritischen und verbotenen Autorinnen (Anna Ahmatova beispielsweise durfte schon seit 1922 nichts mehr veröffentlichen). Neben ins Exil Gegangenen sind jene zu finden, die im Untergrund weitergearbeitet haben; bzw. auf der einen Seite Sachen »für die Schublade« geschrieben, und andererseits als Übersetzerinnen oder Journalistinnen für ihren Lebensunterhalt gesorgt haben (vgl. Marsh 2001, S. 173ff.). All dies gilt aber natürlich auch für männliche Autoren. Worin bestehen nun geschlechtsspezifische Differenzen? In der Frühphase der Sowjetunion war Lyrik und Autobiographik zumindest tendenziell stärker bei weiblichen Autoren vertreten, ebenso die Thematisierung von Geschlechterrollenbildern und das Feld der Sexualität. All diese Themen mussten in der Stalin-Ära allerdings den »großen gesellschaftlichen Themen« im Sinne des Sozialistischen Realismus weichen. Die Sondierung von Differenzen würde Zum Selbstverständnis als Komponistin
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sich nunmehr wohl vor allem auf die Auslotung von Subtexten zu konzentrieren haben. Weiters kann gesagt werden, dass – auch relativ gesehen – weit weniger Schriftstellerinnen umgebracht oder verschleppt worden sind als ihre männlichen Kollegen (Marsh 2001, S. 178), woraus wohl abgeleitet werden könnte, dass man Frauen für weniger beachtenswert, und damit auch für weniger gefährlich hielt. Im Vergleich dazu lässt die Situation in den Bildenden Künsten doch einige interessante Differenzen erkennen, die möglicherweise auch für den Bereich der Musik geltend gemacht werden könnten. Nachdem zur Zeit des Fin de Siècle in Russland ein ebenso heftiger Diskurs über die Geschlechterfrage geführt worden war wie in anderen europäischen Staaten, wollten sich die weiblichen Vertreter der Avantgarde-Szene in den Bildenden Künsten, zum Teil noch vor der Revolution, von allen geschlechtsbezogenen Konnotationen offenbar radikal distanzieren. Die Geschlechterthematik galt nunmehr als ›bourgouise‹: »Im Unterschied zu dieser ersten Künstlerinnengeneration wollten Natalia Gontscharowa, Olga Rozanowa, Alexandra Exter, Ljubow Popowa oder Warwara Stepanowa – um nur die Prominentesten zu nennen – weder als Frauen in der Kunst sichtbar werden, noch als Frauen sprechen und schon gar nicht als Frauen angesprochen werden. Ihre Weigerung, dem Geschlecht im Kontext der Kunst auch nur die geringste Bedeutung beizumessen, wird in ihrem programmatischen Charakter vor allem bei den Künstlerinnen deutlich, die in die publizistischen Schaukämpfe der Avantgarde vor der Revolution eingriffen und nach der Oktoberrevolution in den entscheidenden Gremien der Reorganisation der Künste mitarbeiteten, ohne weibliche Interessen auch nur zu erwähnen, geschweige denn zu vertreten.« (Schmidt-Linsenhoff 1993, S. 114f.)
Etliche der oben genannten Künstlerinnen haben sich der Gruppe Supremus um Kazimir Malevič angeschlossen, die sich ja unter anderem einer »gegenstandslosen Gleichheit« – eine Formulierung von Malevič selbst – verschrieben hatten. Die »gegenstandslose Neuschöpfung der Welt«, befreit vom »Gerümpel der Vergangenheit«, und begleitet von einer »Entrümpelung des Bewusstseins«, sollte alteingesessene Rollenbilder überwinden (vgl. SchmidtLinsenhoff, S. 122f.). Im Verlauf der 1920er Jahre sind derartige autonome Konzeptionen freilich zunehmend zurückgedrängt worden zugunsten von Idealen der »Nützlichkeit«, bzw. von Arbeiten, die im Dienst der technischen Modernisierung stehen sollten. 106
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Vergleichbare Untersuchungen gibt es zum Bereich der Musik nicht, und auch die Kenntnisse (zumindest im »Westen«) über die vorangegangenen oder zeitgenössischen Kolleginnen von Galina Ustvol’skaja halten sich in engen Grenzen. Da es in der frühen Phase der Sowjetunion nur sehr vereinzelt Komponistinnen gab, waren Gruppenbildungen wie jene im Sektor der Bildenden Künste schon aus quantitativen Gründen kaum möglich, und demnach konnte sich auch kein vergleichbarer Diskurs über eine »gegenstandslose Gleichheit«, womöglich auf atonalem Boden, entfalten. Unter den Doktrinen des Sozialistischen Realismus war in weiterer Folge eine derartige Auffassung von Musik ohnehin nicht mehr denkbar, zumindest nicht in einem öffentlichen Diskurs. Im 19. Jahrhundert waren komponierende Frauen in Russland ähnlich dünn gesät wie in anderen europäischen Ländern; erst im Übergang zum 20. Jahrhundert begegnet man vereinzelt Komponistinnen, die auch öffentlich registriert wurden. Dazu gehören etwa Julija Lazarevna Vejsberg (18781942) und Ljubov Streicher (1888-1958), die beide am Petersburger Konservatorium studiert hatten. Zumindest Streicher dürfte Ustvol’skaja gekannt haben, da diese unter anderem Schülerin von Mihail Gnessin war – jenem Gnessin, der laut Ustvol’skaja durch seine Fürsprache ihren Verbleib am Konservatorium ermöglicht hatte. Während Vejsberg allen neueren kompositorischen Tendenzen eher ablehnend gegenüberstand, wurde Streichers Stil etwa in der Komponistenanthologie von Rena Moisenko (Realist Music. 25 Soviet Composers, Berlin 1949), wenngleich wohl aus sozialistisch-realistischer Perspektive, geradezu als extrem neuartig qualifiziert. Immerhin reihte Moisenko die beiden genannten in die Riege der 25 bedeutendsten komponierenden Persönlichkeiten der jüngeren Vergangenheit ein. In welchem westlichen Land könnte man sich aus dieser Zeit eine Anthologie vorstellen, die ebenfalls zwei Frauen in eine äquivalente Gruppe aufgenommen haben könnte? Eine ähnliche Frage drängt sich auf in Hinblick auf Lidija Rappoports kleine Biographie über Galina Ustvol’skaja (Moskau 1959; in einer Reihe über »Junge Komponisten der Sowjetunion«): Welcher westlichen Komponistin des 20. Jahrhunderts ist im Alter von 40 Jahren eine Biographie gewidmet worden? Über andere Komponistinnen ihrer Generation – Nina Makarova, Sara Levina oder die Stalinpreis-Trägerin Tat’jana Petrovna Nikolaeva – ist so gut wie nichts bekannt, letztere kennt man allenfalls als (auch im »Westen«) recht erfolgreiche Pianistin. Es gab wie gesagt im Bereich der Musik keine der Situation in der Literatur oder den Bildenden Künsten entsprechenden Gruppierungen, oder auch nur einzelne Komponistinnen, die sich in irgend einer Weise wahrZum Selbstverständnis als Komponistin
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nehmbar mit Frauenfragen auseinandergesetzt hätten. So begegnen uns die ersten einschlägigen Informationen erst aus der Spätphase der Sowjetunion, bzw. überhaupt erst aus der Zeit nach der »Wende«. Ohne das mit genauen Statistiken belegen zu können, dürfte jedoch in der gesamten Ära der Sowjetunion der Anteil von Frauen in der Kompositionsszene deutlich über dem westlicher Länder gelegen haben (ähnliches gilt im Übrigen auch für den Sektor der Musikwissenschaft: Aus einer Mitgliederliste des musikwissenschaftlichen Instituts des Moskauer Konservatoriums von 1962 geht hervor, dass von den 20 aufgelisteten Personen nicht weniger als 11 Frauen waren; vgl. Schwarz 1982, S. 613f.). In einer Diskussionsrunde mit sowjetischen/ russischen Komponistinnen (Ekaterina Čemberdži, Svetlana Izkova, Anna Ikramova, Tamara Ibragimova, Ol’ga Korovina, Ol’ga Magidenko) im Rahmen des Internationalen Musik-Festivals in Heidelberg vom 2. November 1991 wurde von der Gesprächsleiterin Dorothea Redepenning die Frage in den Raum gestellt, wie denn zahlenmäßig das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Studierenden aussehe. In diesem Zusammenhang verwies sie auf eine Umfrage der Zeitschrift Sovetskaja muzyka aus dem Jahr 1988, in der Studierende, die gerade ihr Kompositionsstudium abgeschlossen hatten, befragt worden waren. Von den insgesamt 26 involvierten Personen waren 7 Frauen. Die Frage, ob dieses Verhältnis als repräsentativ betrachtet werden könne, wurde von der gesamten Gruppe, zumindest bezogen auf das Studium, weitgehend bejaht. Fünf der sechs am Gespräch beteiligten Komponistinnen ließen darüber hinaus erkennen, dass sie in der Ausbildung keine Nachteile erfahren hätte. Eine davon, Anna Ikramova, konnte dem allerdings nicht uneingeschränkt zustimmen: »Ich habe da ganz andere Erfahrungen gemacht. Ich war unter anderem und leider auch Schülerin von Tichon Chrennikov. Ich möchte über ihn hier nichts schlechtes sagen, sondern nur berichten, dass dort sehr viele Frauen studiert haben. Ich habe mich furchtbar geärgert über diese Situation, nicht weil Frauen mehr oder weniger begabt sind, sondern weil einige hysterisch reagierten. Weil wir viele Frauen waren, wurden wir mit Nachsicht behandelt und nicht genug gefördert.« (Redepenning 1991, S. 54)
Eine – auf Grund des eingeschränkten Untersuchungsfeldes notgedrungen oberflächliche – Analyse der Situation könnte zu der Vermutung gelangen, dass die wie immer auch gearteten Barrieren, eine tendenziell männlich dominierte Ausbildung anzustreben, in der Sowjetunion womöglich geringer waren als in westlichen Ländern. Aber gilt das für die gesamten sieben Jahr108
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zehnte in gleicher Weise? Die greifbaren Informationen sind viel zu dürftig, um daraus ein Bild zusammensetzen zu können. Selbstverständlich wird es sowohl in der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Ländern als auch im Westen im Verlauf des Studiums zu unterschiedlichen Erfahrungen gekommen sein, die schwer generalisiert werden können. Das gilt schließlich auch für die Situation aktiver Komponistinnen. Angesichts der von den Künstlerinnen (wie auch von den Künstlern) oftmals ins Spiel gebrachten Unwägbarkeiten und Zufälle, aber auch mit Blickpunkt auf regionale Differenzen (etwa zwischen den Vorgangsweisen der Kulturministerien der UdSSR und der RSFSR), kann auf Grund des schmalen Untersuchungsfeldes wenig Grundlegendes gesagt werden. Wurden Frauen beispielsweise von den an die Kulturministerien angegliederten »Ankaufskommissionen« gleich behandelt? Je nach Gattung der eingereichten Arbeit, aber auch je nach Alter und Ansehen der Person gab es gewisse finanzielle Spannen. Zwei Komponistinnen der oben genannten Runde (Ol’ga Magidenko und Anna Ikramova) gaben diesbezüglich kund, dass sie für ihre Sinfonien nur etwas erhalten hätten, weil sie gerade ein Kind bekommen hatten. Für die Drucklegung der Werke sei vor allem der Bekanntheitsgrad ausschlaggebend gewesen – und wenn Ol’ga Magidenko in Hinblick auf diesen Aspekt ihre Lebenssituation als verheiratete Frau und Mutter schildert, so entspricht das alteingesessenen Klischeebildern: »Die Situation der Komponistinnen ist bei uns ziemlich schwierig, weil unsere ökonomische Situation schwierig ist, und das fällt auf die Frauen zurück. Ich möchte das am Beispiel meiner Familie verdeutlichen. Mein Mann Sascha (Alexander Raskatov) verliert relativ wenig Zeit mit der Suche nach materiellen Dingen; denn in unserem Land ist das die Aufgabe der Frau. Daher ist meine Zeit für schöpferische Arbeit begrenzt. Es gelingt mir zwar, regelmäßig zu komponieren, doch für alles weitere – die Organisation von Aufführungen, die Drucklegung usw. – reichen meine physischen Kräfte einfach nicht aus. Und weil ich für die Erziehung und Ausbildung der Kinder zuständig bin – wir haben zwei Söhne – und weil es bei uns nicht üblich ist, dass irgend jemand auf einen Komponisten zukommt und ihn bittet, seine Werke zu zeigen, deshalb sind meine Werke nach der Geburt meines zweiten Kindes nicht mehr aufgeführt worden. Das heißt, es gelingt mir, Musik zu schreiben, die ich dann in den Schreibtisch lege.« (Redepenning 1991, S. 49)
Da Galina Ustvol’skaja keine Kinder bekommen hat, lässt sich ihre Situation damit nicht vergleichen. Was die Veröffentlichung ihres Œuvres betrifft, so Zum Selbstverständnis als Komponistin
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ist – abgesehen von einigen »sowjetischen« Stücken – auch der Großteil ihrer Werke erst mit starker Verspätung gedruckt worden. Aber das gilt auch für zahlreiche männliche Zeitgenossen; nichts deutet darauf hin, dass sie als Frau diesbezüglich stärker (oder womöglich auch weniger) benachteiligt worden wäre. Allerdings: Selbst wenn das der Fall gewesen wäre, wäre es sehr fraglich, ob sie sich je darüber geäußert hätte. Auffallend ist schließlich, dass Ustvol’skaja in keiner der Rezensionen ihrer Werke dezidiert als komponierende Frau angesprochen wird. Anders als im 19. Jahrhundert, wo in kaum einer Besprechung ein Verweis auf das Kuriosum einer komponierenden Frau fehlte, war das in dieser Zeit allerdings auch im Westen nicht mehr die Regel. Konkrete geschlechtsbedingte Benachteiligungen sind für sie also nicht greifbar, auch nicht im Bereich des privaten Raumes. Daraus lässt sich aber keineswegs auf eine Chancengleichheit zwischen Mann und Frau in den Künsten schließen. Blickt man auf das Spektrum an Entfaltungsmöglichkeiten, so werden sehr schnell die Grenzen für weibliche Karrieren sichtbar. Entscheidungstragende Funktionen waren fast ausschließlich in den Händen von Männern. Auch der Verlauf von Karrieren entsprach in der Sowjetunion weitgehend den typischen Rollenmodellen: Die Möglichkeiten zu einer planvollen Entfaltung der Laufbahn, die Aufstiegsmöglichkeiten, die Chancen zu einer Ortsveränderung und die damit verbundenen Optionen zu neuen Kontakten – all das war vorwiegend den Männern vorbehalten, zumindest hatten sie es leichter. In Hinblick auf den statischen Verlauf der Karriere Galina Ustvol’skajas gilt es freilich zu bedenken, dass diese scheue Persönlichkeit wohl nie eine bewegte Laufbahn, die sie stärker in das Licht der Öffentlichkeit gerückt hätte, angestrebt hatte. Aber man kann sich fragen, ob das nicht auch damit zu tun gehabt haben könnte, dass dieser Möglichkeitsraum letztlich nicht existiert hatte. Es ist vielleicht auch gar nicht so einfach, zwischen den folgenden beiden Fragestellungen zu entscheiden: Ist die außergewöhnliche, eigenwillige Kompositionsweise Ustvol’skajas der Grund, dass sie lieber im Hintergrund blieb? In der Position Šostakovičs wäre eine solche Schreibweise völlig undenkbar gewesen. Oder hat sich dieser exzentrische Kompositionsstil womöglich auch herausgebildet, gerade weil eine Karriere wie jene ihres Lehrers gar nicht zur Disposition stand? Wenn die Erträge einer genderspezifischen Perspektive in diesem Kapitel wenig ertragreich waren, so muss das nicht daran liegen, dass diese Thematik überhaupt keine Rolle gespielt hätte. Wir sind allerdings in der Auseinandersetzung mit jeglicher Materie darauf angewiesen, was überliefert ist. Und überliefert wird das, was als überlieferungswürdig erachtet (und zugelassen) 110
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wird. Als Beispiel dafür ist ein Blick in die erwähnte Kurzmonographie Lidija Rappoports aus dem Jahr 1959 aufschlussreich: Die Ustvol’skaja offensichtlich wohlgesonnene Autorin versucht deutlich, das Werk der Komponistin zu würdigen. Im Ausdruck dieser Würdigung spielt aber die individuelle Situation Ustvol’skajas, etwa auch ihr Werdegang als Frau, überhaupt keine Rolle. Gewürdigt werden jene Werke, in denen sich die Künstlerin den »großen gesellschaftlichen Themen« gestellt (vgl. Kap. Die »sowjetischen« Stücke), sowie Volksverbundenheit, Verständlichkeit und Optimismus an den Tag gelegt habe. Die von Ustvol’skaja später als ihre »eigentlichen« Werke bezeichneten Stücke, die ihren eigenwilligen Stil auch vor 1959 schon zum Ausdruck brachten (wie die Klaviersonaten oder das Oktett), werden nur am Rande miterwähnt. Dass Rappoport diese Stücke selbst tatsächlich als nebensächlich betrachtete, oder dass sie an der persönlichen Situation der Komponistin (in einem Milieu, das auch in der Sowjetunion männlich dominiert war) nicht interessiert wäre, lässt sich daraus freilich nicht ableiten. Aber derartige Perspektiven waren außerhalb des damaligen (öffentlich zugelassenen) Diskurses. Schließlich sei der Blick nochmals auf die Überschrift dieses Kapitels gelenkt: »Ich bin keine Frau – ich bin nur Galina Ustvol’skaja.« Wenn sich die Komponistin gar so sehr davor verwahrte, als Frau angesprochen zu werden, so könnte das ja auch einen gewissen Argwohn erwecken. Wollte sie damit schmerzliche Erfahrungen, gerade als Frau, verdrängen? Carolyn Heilbrun hat in ihrem vielbeachteten Buch Writing a woman’s life (1988) herausgearbeitet, dass viele Schrifstellerinnen in autobiographischen Darstellungen ihre Wut, ihren Schmerz und ihre Verzeiflungen unterschlagen oder diese in eine spirituelle Akzeptanz transformiert hätten (Heilbrun 1989, S. 12). Es könnte verführerisch sein, diesen Befund mit der Deutung von Ustvol’skajas 6. Klaviersonate (1988) durch Maria Cizmic zu verknüpfen. Cizmic bringt die extremen Clusterfolgen dieser Sonate, die den Interpretierenden unweigerlich Schmerzempfindungen bereitet, mit den in der Spätphase der sowjetischen Geschichte gehäuften Aufarbeitungen traumatischer Erfahrungen in Verbindung (Cizmic 2012). Hat Ustvol’skaja auf diese Art traumatischen Erfahrungen, die in der stalinistischen Zeit und auch danach kein Ventil finden konnten, Ausdruck verliehen? Aber selbst wenn man dieser Argumentation Plausibilität zuerkennt – und es spricht einiges dafür – so würde es in den Bereich der Spekulation fallen, das mit ihrem Frausein in Verbindung zu bringen (was Cizmic im Übrigen auch nicht tut). In den stalinistischen Repressionen spielte die Frage des Geschlechts wohl eine untergeordnete Rolle.
Zum Selbstverständnis als Komponistin
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Zur Rezeption im »Westen« Die Bekanntschaft mit der Musik Galina Ustvol’skajas außerhalb des »Eisernen Vorhangs« erfolgte erst knapp vor dessen Fall, in den späten 1980er Jahren. In diesem Zeitraum waren die Namen vieler sowjetischer Avantgarde-Komponisten dort längst ein Begriff: Stücken von Alfred Šnittke, Edison Denisov, Viktor Suslin oder Sofija Gubajdulina konnte man zumindest vereinzelt schon zwei Jahrzehnte früher begegnen (zumeist auf spezifischen Festivals). Woran liegt das? Ustvol’skajas Stellenwert ist auch innerhalb der »Warschauer-Pakt«-Staaten nicht so einfach zu beschreiben. In der Sowjetunion selbst gibt es etliche Belege, dass sie nicht so gänzlich ignoriert worden war, wie man das in den ersten Texten, die über ihre Person im Westen verfasst worden sind, dargestellt hat. Zu dieser Darstellung hat Ustvol’skaja im Übrigen ihr Schäufelchen beigetragen, schon allein etwa dadurch, dass sie einen Teil jener typisch »sowjetischen« Kompositionen (z. B. die programmatischen Suiten und die huldigenden Kantaten), die in den 1950er Jahren durchaus gewürdigt worden waren, aus ihrem Œuvre ausschließen wollte. Wie für viele andere sowjetische KomponistInnen fanden die ersten Aufführungen ihrer Werke außerhalb des Landes im Rahmen des »Warschauer Herbstes« statt. Aber obwohl sie seit Ende der 1950er Jahre mehrfach im Festival-Programm vertreten war, hat das zunächst nicht zu einer internationalen Bekanntheit beigetragen. Die Programme dieser bemerkenswerten Veranstaltungen sind im Westen sehr wohl registriert worden, und für Künstler wie Penderecki, Lutosławski oder Denisov hat die Präsenz in Warschau sicherlich zu ihrer internationalen Laufbahn beigetragen. Ustvol’skajas Name taucht im Westen in diesem Kontext, so weit wir das sehen, erst in Rezensionen aus dem Jahr 1986 auf: Während der Interpretation ihres Großen Duetts durch den Moskauer Cellisten Ivan Moninghetti und den Komponisten und Pianisten Krzystof Meyer, der sich als Präsident des Polnischen Komponistenverbandes tatkräftig für Ustvol’skaja eingesetzt hatte, sollte ein am Podium stehender leerer Stuhl auf die Abwesenheit der Komponistin verweisen (Gojowy 2008, S. 406). Und ein anderes Mal, als ihre Sonate für Violine und Klavier von Mihail Vajman und Marija Karandašova aufgeführt worden war, habe der sowjetische Musikwissenschaftler Mihail Semënovič Druskin die Komponistin mit dem Hinweis entschuldigt, sie sei krank. Dabei hatte Ustvol’skaja von dieser Aufführung überhaupt nichts erfahren! (Bagrenin 2012). Ein ähnliches Bild bietet der Blick auf die Musikliteratur: Während sie in etlichen musikhistorischen Darstellungen und Lexika, sowie in mehre112
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ren Artikeln der Musikzeitschrift Sovetskaja muzyka durchaus gewürdigt und nur vereinzelt kritisiert worden ist, dürfte sich ihre Bekanntheit in den anderen osteuropäischen Ländern in Grenzen gehalten haben. Sogar in Abhandlungen, die der zeitgenössischen Kompositionslandschaft einen großen Stellenwert einräumen, taucht ihr Name nicht auf. Dabei erwähnt etwa Karl Laux in seinem Buch über Die Musik in Russland und in der Sowjetunion (Berlin 1958) zahlreiche, zum Teil sogar nach Galina Ustvol’skaja geborene Komponistinnen (Tat’jana Petrovna Nikolaeva, Nina Makarova, Varvara Geigerova, Jarja Levina, Tamara Popadenko u. a.; vgl. Laux 1958, S. 401f.), die – vielleicht mit Ausnahme von Nikolaeva – heute weitgehend unbekannt sein dürften. Ähnliches gilt für Václav Kučeras Schrift Nové proudy v sovětské hudbě (Neue Strömungen in der sowjetischen Musik, Prag 1967), und auch in Hannelore Gerlachs Abhandlung über Fünfzig sowjetische Komponisten der Gegenwart (Leipzig 1984) findet der Name Ustvol’skaja keine Erwähnung. Die erste Aufführung von Werken im »Westen« dürfte 1975 in den USA stattgefunden haben. Laurel Fay, einer Spezialistin für die russische bzw. sowjetische Musikkultur, bekannt auch als Autorin eines Buches über Šostakovič (Shostakovich and His World, 2004), kamen 1975 als Studentin an der Cornell University in New York einige Partituren Ustvol’skajas in die Hände. Die im Folgenden beschriebene Aufführung fand am 5. Mai 1975 statt (Lee 2002, S. 2): »In a curious set of circumstances, I first encountered Ustvolskaya’s scores in the mid-1970s and was impressed enough to arrange a full-length concert of her music at Cornell University. I can’t say it was a roaring success. Shortly after, while studying at the Leningrad Conservatory, I was fortunate enough to make her acquaintance and hear more of her music, which was highly respected by a small but discerning Russian audience.« (http://schirmer.com; 20. Januar 2011)
1977 taucht der Name Ustvol’skaja in einem Symposium zur Biennale in Zagreb auf (Gojowy 2008, S. 589). Dieses 1961 gegründete Festival kann neben dem Warschauer Herbst als wichtigster Knotenpunkt für Neue Musik im östlichen Europa angesehen werden. John Cage, Maurizio Kagel, Luigi Nono oder Iannis Xenakis waren dort ebenso vertreten wie Krzysztof Penderecki oder Witold Lutosławski, und 1967 waren die in der Sowjetunion noch gebrandmarkten Komponisten Alfred Šnittke, Edison Denisov und Valentin Syl’vestrov zu hören. Im Rahmen des Symposiums 1977 sollte Abraham Zur Rezeption im »Westen«
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Jusfin einen Vortrag über Ustvol’skaja halten, der Autor erhielt jedoch keine Ausreiseerlaubnis aus der Sowjetunion. Die besondere Beziehung Galina Ustvol’skajas zu Deutschland – abgesehen davon, dass sie ja auch sehr gut Deutsch sprach, und schon von Kind auf deutsche Literatur gelesen hat – begann offensichtlich 1984, als sich der Hamburger Sikorski-Verlag, der generell ein großes Interesse an osteuropäischen Künstlern an den Tag legte (und legt), für ihre Werke zu interessieren begann. Im Laufe der Zeit sind sämtliche der von ihr autorisierten Stücke bei Sikorski erschienen. Aus den an den Verlag gerichteten Briefen sind auch viele jener Bekenntnisse entnommen, die in den frühen Texten über ihre Person im Westen immer wieder zitiert worden sind, und die damit erheblich zur Entstehung des sehr eigenwilligen Bildes über ihre Person beigetragen haben: Zu diesen Bekenntnissen gehört die Aufforderung, ihre Werke nicht zu analysieren (17. Mai 1988), des Weiteren die ablehnende Position gegenüber Frauenmusikfestivals (29. September 1988), die negative Haltung gegenüber ihrem Lehrer Šostakovič, den sie u. a. als »Vielschreiber« abqualifizierte (2. August 1989), die Abneigung gegenüber dem Begriff »Kammermusik«, die Distanzierung von Werken, die sie aus materiellen Gründen komponieren musste (22. Oktober 1989), oder auch die Mystifizierung des Kompositionsprozesses, der nur von Gott abhängen würde (4. Februar 1990). Etliche dieser Punkte hat sie nochmals in einem etwas längeren Text (Meine Gedanken über das Schöpferische, 17. Januar 1994; publiziert in MusikTexte 83, 2000, S. 23) zusammengefasst und dem Verlag zugeschickt. Zur ersten Aufführung von Werken im deutschen Sprachraum kam es offenbar erst 1988 in Heidelberg. Ein in der Literatur mehrfach auftauchender Hinweis, dass Musik von Ustvol’skaja bereits bei den Wiener Festwochen 1986 aufgeführt worden sei, lässt sich durch einen Blick in die einschlägige Programmübersicht nicht bestätigen. Dabei konnte man gerade in Deutschland schon in den 1960er und 1970er Jahren Bekanntschaft mit zeitgenössischen sowjetischen Komponisten und Komponistinnen machen. Besonders bemerkenswert war eine Veranstaltung des Westdeutschen Rundfunks unter dem Motto »Begegnungen mit der Sowjetunion« im März 1979 in Köln, in der mit Arthur Lourié oder Joseph Schillinger sowohl wenig bekannte Komponisten der jüngeren Vergangenheit, wie auch zahlreiche junge zeitgenössische Künstler und Künstlerinnen vertreten waren. Dass selbst dem maßgeblich für die Gestaltung der Konzerte verantwortlichen Redakteur Detlef Gojowy, einem äußerst versierten Kenner der sowjetischen Musiklandschaft, der Name Ustvol’skaja erst im darauffolgen114
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den Jahr erstmals begegnet ist, spricht Bände. Bemerkenswert war dieses Festival aber auch deshalb, weil es in der Sowjetunion heftige Reaktionen hervorgerufen hat. Nach der wechselhaften Hruščëv-Ära war es unter seinem Nachfolger Leonid Brežnev tendenziell wieder zu Verschärfungen in der kulturpolitischen Landschaft gekommen, die in verstärkten Attacken gegen jegliche Abweichungen von den Dogmen des Sozialistischen Realismus ihren Ausdruck fanden. Im musikalischen Bereich kamen diese insbesondere im 6. Allunionskongress der Komponisten (10.-16. November 1979) in Moskau zur Geltung, wo der seit 1948 (und danach bis 1991!) als Generalsekretär des Komponistenverbandes wirkende Tihon Hrennikov in seinem umfassenden Rechenschaftsbericht ausführlich auf die Kölner Veranstaltung Bezug nahm: »In diese ›Begegnung‹ sind aus irgendeinem Grund ›Werke‹ eines gewissen Arthur Louriè eingezogen, der schon 1920 aus Sowjetrussland emigrierte, und später Emigrierte wie Joseph Schillinger und Andrej Volkonsky. Kommt es ihnen zu, unser Land und unsere Musik zu repräsentieren? In diese unerfreuliche Gesellschaft sind nach dem Willen der Veranstalter auch sowjetische Komponisten geraten, hauptsächlich junge. Hier hat man die Musik von Prokofjew, Mjaskowski, Chatschaturjan, Karajev, Schtschedrin, Eschpaj, Boris Tschaikowski oder Kantscheli nicht aufgeführt. Dagegen gab es im Programm jene, die die Veranstalter für würdig befanden, die sowjetische Avantgarde genannt zu werden: Elena Firsowa, Dmitri Smirnow, Alexander Kneiffel, Viktor Suslin, Alexander Artjomow, Sophia Gubaidulina und Edison Denissow. Das Bild ist ein wenig einseitig, nicht wahr? Fast dasselbe Bild bot kürzlich das Programm der Biennale in Venedig [...].« (Sovetskaja kul’tura, 23. November 1979; zit. nach Gojowy 2008, S. 167)
Für die von Hrennikov im Kontext der sowjetischen Avantgarde genannten Künstler, für die sich das Schlagwort »Hrennikov’sche Sieben« verbreitet hat, blieben die Attacken zum Teil nicht auf die verbale Ebene beschränkt: Firsova, Smirnov, Suslin und Gubajdulina sahen letztlich nur mehr in der Emigration einen Ausweg. Galina Ustvol’skaja blieb von den nunmehr wieder zunehmenden Bedrängungen wohl weitgehend verschont. Einerseits war sie schon seit einigen Jahren in Pension, und andererseits war sie selbst in der Sowjetunion nur einem relativ kleinen Kreis bekannt. In einem Gespräch mit Dorothea Redepenning beim Internationalen Musikfestival in Heidelberg 1991 haben einige der beteiligten jungen sowjetischen Komponistinnen verlautbart, dass während ihrer Ausbildungsphase wohl Sofija Gubajdulina als Zur Rezeption im »Westen«
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Vorbildfigur präsent gewesen, die Musik Galina Ustvol’skajas jedoch kaum oder überhaupt nicht bekannt gewesen sei (Sperber 1992, S. 52f.). Eine besondere Rolle für die Etablierung der Werke Galina Ustvol’skajas spielte zweifellos das Internationale Festival »Komponistinnen gestern – heute« in Heidelberg. Seit der Gründung 1985 haben die Konzerte und Symposien zur Bekanntmachung zahlreicher Komponistinnen aus vielen Ländern einen erheblichen Beitrag geleistet, wobei von Anfang an die Begegnung mit osteuropäischen Künstlerinnen einen besonderen Stellenwert eingenommen hat. 1988 stand das Festival und der begleitende Kongress überhaupt unter diesem Motto. Nachdem man in den Jahren zuvor vor allem Werke rumänischer Komponistinnen (Violeta Dinescu, Myriam Marbe, Adriana Hölszky) kennenlernen konnte, bildeten in diesem Jahr sowjetische Künstlerinnen einen Schwerpunkt: Neben Werken von Ustvol’skaja standen außerdem Stücke von Sofija Gubajdulina, Elena Firsova und Tat’jana Sergeeva am Programm. Von Ustvol’skaja war neben der Sonate für Violine und Klavier sogar die Uraufführung der 4. Sinfonie »Gebet« (für Altstimme, Trompete, Tam-Tam und Klavier) zu hören, in der mit der Sängerin Roswitha Sperber im Übrigen auch die Gründerin des Festivals beteiligt war. Weitere Aufführungen ihrer Werke folgten in den Jahren 1991 (Sonate für Violine und Klavier, 5. Sinfonie »Amen«) und 1992 (Komposition Nr. 1 »Dona nobis pacem«; 4 Klaviersonaten). Abermals konnte Ustvol’skaja der Einladung nicht folgen: »Vielen Dank für die Einladung zum Heidelberger Festival. Unglücklicherweise geben mir verschiedene Umstände nicht die Möglichkeit, nach Heidelberg zu kommen. Noch immer hängen unsere Handlungen von vielen Umständen ab, aber unser Geist nicht – meine Gedanken werden im November in Heidelberg sein. Es freut mich sehr, dass dieser Brief mir die Gelegenheit gibt, Ihnen noch einmal für die wunderbare Aufführung meiner 4. Sinfonie ›Gebet‹ zu danken, und ich bin froh, dass in der Aufführung der 5. Sinfonie ›Amen‹ mit dem Heidelberger Festival Ensemble die gleichen Musiker teilnehmen, die – zusammen mit Ihnen – schon die 4. Sinfonie ›Gebet‹ so unerreichbar wiedergegeben haben. Außerdem freue ich mich darüber, dass sie Olga und Josef Rissin eingeladen haben, die ich persönlich kenne und deren künstlerische Fähigkeiten ich sehr hohen Wert beimesse. Es ist schwierig für mich irgendeine andere Person zu treffen – ich bin extrem ungesellig, aber Ihnen gegenüber habe ich ein Gefühl besonderer Art
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und möchte bei ihrem (Leningrader) Konzert auf jeden Fall anwesend sein.« (Brief an Roswitha Sperber vom 14. Juli 1991)
In einem Bericht über das Festival des Jahres 1991 in der russischen Musikzeitschrift Muzykal’naja akademija bekennt die russische Musikwissenschaftlerin Tatjana Frumkis, dass sie die Musik der Petersburger Komponistin hier in Heidelberg erstmals gehört hatte. Das wirft nochmals ein Licht auf den geringen Bekanntheitsgrad dieser Musik in Russland, der zu dieser Zeit möglicherweise geringer war als in der Sowjetunion der 1950er oder 1960er Jahre. 1992 erhielt Ustvol’skaja, wiederum in Abwesenheit, den »Heidelberger Künstlerinnenpreis«. In seiner Laudatio zeichnet Detlef Gojowy ein Bild von der Komponistin, das zwar in manchen Belangen (etwa die Darstellung der westlichen Avantgarde betreffend) diskussionsbedürftig sein mag, andererseits aber doch einige signifikante Rezeptionshaltungen skizziert, die auch in den folgenden Jahren immer wieder begegnen: »Es mag bis vor kurzem Freunde der zeitgenössischen Musik gegeben haben, und es wird sie noch immer geben, denen der Name Galina Ustvol’skaja nichts sagt. Bei allen Überraschungen, die uns die Musik eines Alfred Šnittke und Andrej Volkonsky, von Edison Denissow und Sofija Gubajdulina in letzter Zeit bereitet hat, ist die Musik von Galina Ustvol’skaja noch immer außerhalb unseres Gesichtskreises geblieben. Und es war doch eine überraschende Musik, die da in die wohlgeordnete Welt unserer musikalischen Experimentierlabors einbrach. Nicht, dass sie in irgendeiner Weise unmodern gearbeitet gewesen wäre, eben das nicht: es war eine Musik von verblüffend neuen Klangstrukturen und Baugesetzen – was ihr fehlte, waren Dinge, die man der Avantgarde inzwischen obligatorisch zurechnete oder zugehörig wähnte: Dekomposition, die Emotionsabwehr, das Wüten im eigenen Fleisch, der Kulturpessimismus und die Hoffnungslosigkeit. Aber es war keine zerbrochene Musik, die da aus dem ›atheistischen Russland‹ herübertönte, sondern eine Art von Musik, wie wir sie seit Johannes Brahms nicht mehr gewohnt waren, eine Musik, für die der Philosoph Ernst Bloch den Ausdruck ›Das Prinzip Hoffnung‹ geradezu erfunden haben könnte: eine Musik voller Zuversicht, voller Verheißungen, in christlichen Begriffen gedacht: eine Musik von Glaube, Liebe, Hoffnung. Für das westliche Publikum wurde sie eben darum zum Erlebnis: dass so etwas noch möglich war!« (Zit. nach Sperber 1997, S. 209)
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Zunächst verweist Gojowy darauf, dass schon die bisherigen Erfahrungen mit der »sowjetischen Avantgarde«, denkt man etwa an die Musik von Šnittke, Denisov, Gubajdulina, oder auch Pärt, äußerst unterschiedliche Klangwelten erkennen ließen. Die eigenwilligen Stücke Ustvol’skajas brachten nun nochmals eine völlig neuartige musikalische Sprache ins Spiel, fernab jeglicher denkbarer Erwartungshaltungen. Damit soll keineswegs einer Mystifizierung ihrer Kompositionsweise Vorschub geleistet werden. Aber auch wenn sich der außergewöhnliche Charakter ihrer Schreibweise sehr wohl in den soziokulturellen bzw. künstlerischen Kontext einbetten lässt, so sind doch einfache Zuordnungen nicht so ohne weiteres möglich. Des Weiteren begegnete man hier einer Musik, der allseits ein besonders hoher emotionaler Ausdrucksgestus zugesprochen wurde. Im Westen war im Sprechen über Neue Musik die emotionale Ebene kaum vorhanden. Die Einforderung von Emotionalität war dort vielmehr gerade in Zusammenhang mit jenen kompositorischen Tendenzen zu vernehmen, die eine dezidierte Distanzierung von der Avantgarde verkörperten und oftmals irgendwelchen Neotendenzen geschuldet waren. Schließlich beschreibt Gojowy noch eine weitere wichtige Rezeptionshaltung, die bis heute in nahezu allen Texten über die Komponistin ihren Niederschlag gefunden hat: Wo immer es darum geht, die Besonderheit dieser Musik zu beschreiben, findet sich die Dimension des Spirituellen, oder auch des Rituellen. Über die Schwierigkeit, die geeigneten Begriffe – religiös? geistig? spirituell? – für die Wesenheit von Ustvol’skajas Kompositionen ab den 1970er Jahren zu finden, wurde schon nachgedacht. Aber auch die Rezeption im Westen, um die es hier geht, ist durch eine gewisse Bandbreite gekennzeichnet, deren Ränder mit dem Verweis auf die philosophische Ebene einerseits, und die christliche Konnotation andererseits, ebenfalls im Ausschnitt aus Gojowys Laudatio angedeutet sind. Gojowys Verwunderung (»dass so etwas noch möglich war!«...) bezieht sich gerade auf diesen integralen Bestandteil des Religiösen, der das Phänomen Ustvol’skaja – oder, genauer gesagt, die Wahrnehmung ihrer Musik in den 1990er Jahren – von früheren Spielarten von Spiritualität im Kontext neuer Musik unterscheidet. Spirituelles Denken war zwar bei verschiedenen Künstlern der Nachkriegs-Avantgarde, beispielsweise bei Karlheinz Stockhausen oder Giacinto Scelsi, durchaus zu beobachten, allerdings wurde diese Ebene zunächst kaum registriert oder thematisiert. Explizite Verknüpfungen von Musik und Religion sind nur vereinzelt, etwa bei Olivier Messiaen, Klaus Huber, Dieter Schnebel oder Krzysztof Penderecki zu finden. Zum einen waren die religiösen Haltungen sämtlicher genannter Komponisten sehr unterschiedlich, 118
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so dass kaum ein gemeinsamer Nenner gefunden werden könnte; und zum anderen hielt sich die Rezeption dieser individuellen Konzepte in überschaubaren Grenzen. Gerade gegenüber Messiaen waren immer wieder auch Reaktionen zu beobachten, die dessen Religiosität als ein Phänomen, das sich mit der musikalischen Moderne kaum vertragen würde, nicht ganz ernst nahmen. Und auch Penderecki wurde, nachdem er sich mit Werken wie Anaklasis (1960) in der Darmstädter Avantgarde-Szene etabliert hatte, nach der Komposition der Lukas-Passion (1966) von einigen Beobachtern der Neue Musik-Szene als rückwärtsgewandter Abtrünniger abqualifiziert. Deutlich wurde die Artikulation spiritueller Sehnsüchte im Rahmen jener Tendenzen der 1960er und 1970er Jahre, die sich explizit gegen eine angeblich allzu konstruktivistische und sinnenfeindliche Avantgarde gewendet hatten, und die auch eine gewisse Breitenwirkung erreichten. Zu denken wäre hier an die Zuwendung zu fernöstlichen Philosophien und Musikkulturen, an die amerikanische Minimal Music, oder auch an Personen wie Peter Michael Hamel (Durch Musik zum Selbst, 1976), Joachim Ernst Berendt und nunmehr verstärkt auch Stockhausen. Die Spiritualität dieser oftmals unter der Rubrik »New Age« qualifizierten Phänomene war aber durchwegs eher auf esoterische Dimensionen ausgerichtet, wenngleich auf Versatzstücke verschiedener Religionen durchaus zugegriffen wurde. Auf eine doch erheblich andere Facette von Spiritualität kommt Peter Niklas Wilson in einem Text mit dem Titel Sakrale Sehnsüchte. Über den »unstillbaren ontologischen Durst« in der Musik der Gegenwart (1995) zu sprechen. Hier geht es um ein Phänomen der 1980er Jahre, als sich um die Stücke des späten Luigi Nono, sowie um die Musik der erst jetzt entdeckten Komponisten Morton Feldman und Giacinto Scelsi, ein gewisser Kult ausgebildet hat. Bei Nono geht es um die Kompositionen ab dem Streichquartett Fragmente – Stille. An Diotima (1979/80), die gegenüber den politisch engagierten Stücken davor einen deutlich introvertierteren Charakter aufweisen, bei Feldman vor allem um seine auf Mustern beruhenden, teilweise extrem langen und stillen Werke, die zeitnah zu Nonos Quartett entstanden sind. Das den Kultstatus im Wesentlichen bestimmende und alle drei Œuvres verbindende Element war die Reduktion. Wilson ist nun allerdings nicht darauf aus, diesen Komponisten selbst die Befriedigung von »New Age-Bedürfnissen« zu unterstellen, oder gar ein Schielen auf daraus allenfalls zu rekrutierende kommerzielle Erfolge. Vielmehr kritisiert er einerseits bestimmte Huldigungen von deren Musik, die daraus geradezu »hypertrophe Heilserwartungen« (Wilson 1995, S. 266) ableiteten, und andererseits bezieht er sich auf Verhaltensweisen des Publikums, das sich dieser Musik in einem quasi Zur Rezeption im »Westen«
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sakral-andächtigen Habitus zuwenden würde. Man könne »im Klang sein« (um eine von Feldman geprägte Ausdrucksweise zu verwenden) und müsse nicht dem Entwicklungsdenken eines womöglich verästelt konzipierenden Subjekts nachgrübeln. Insbesondere Nonos Gedankenwelt würde sich, so Wilson, mit dieser spirituellen Deutung kaum in Einklang bringen lassen. Dem ist sicherlich zuzustimmen, wohingegen Scelsi genügend Munition für die angesprochene Vereinnahmung geboten hat. Insgesamt lässt sich sagen, dass ein vormals eher an Gegenbewegungen zur Avantgarde festzumachendes spirituelles Bedürfnis nunmehr im Kernbereich der Neuen Musik bemerkbar wird. Wilsons Darstellung bedürfte sicherlich einer eingehenderen Betrachtung; hier geht es vor allem darum, dass sich im Fall Ustvol’skaja bis zu einem gewissen Grad Ähnlichkeiten aufzeigen lassen. Ist die Rezeption der Musik Ustvol’skajas in den 1990er Jahren als Fortsetzung jenes Trends zu verstehen, auf den Wilson hingewiesen hat? Traf bzw. trifft sie auf einen ähnlichen »Erwartungshorizont«, um einen vor allem von Hans Robert Jauß geprägten Begriff zu strapazieren? Ist in der Begegnung mit ihrem Werk auch eine Funktionalisierung »als psychologisches Schmiermittel neosakraler Verhaltensweisen« (Wilson 1995, S. 265f.) zu beobachten? Oder liegt der Fall hier doch etwas anders? Und wenn ja, inwiefern? Auf abstrakter Ebene liegen die musikalischen Ähnlichkeiten abermals im Aspekt des Reduktiven, so unterschiedlich die Klangwelt von Ustvol’skajas Musik gegenüber der der oben genannten Komponisten auch sein mag. Im Übrigen ist ja auch die Musik von Nono, Feldman und Scelsi in ihren konkreten Ausprägungen extrem different. Aber der allen gemeinsame reduktive Charakter ermöglicht eine konzise Orientierung, eine Konzentration des Hörens auf die erklingenden Phänomene, die alle zur Hauptsache werden, ohne durch ornamentale Beigaben gestört oder durch labyrinthische Verästelungen irritiert zu werden. Besonders bei Feldman und Ustvol’skaja kommt noch die repetitive Ebene hinzu, die ebenfalls einer rituell-spirituellen Auffassung entgegenkommt. Eine gewisse Parallele lässt sich auch zwischen Scelsi und Ustvol’skaja finden: Scelsi betrachtete sich ja weniger als Komponist denn als Medium für kosmische Kräfte, und auch Ustvol’skaja hat in einem mittlerweile vielzitierten Briefausschnitt die Abhängigkeit ihrer kompositorischen Kräfte von übergeordneten Faktoren in den Raum gestellt: »Ich würde gern ein Werk für ihren Verlag schreiben, aber das hängt von Gott ab, nicht von mir. Wenn Gott mir die Möglichkeit zu schreiben gibt, dann tue ich das unbedingt. Mein Arbeitsprozess unterscheidet sich in jeder Hinsicht
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von dem anderer Komponisten. Wenn ein heiliger Zustand eintritt, dann schreibe ich. Danach ruht das Werk eine Weile, und wenn seine Zeit kommt, dann lasse ich es in die Welt. Kommt seine Zeit nicht, so vernichte ich es. Aufträge nehme ich nicht an. Der gesamte Arbeitsprozess vollzieht sich in meinem Kopf und in meiner Seele. Nur ich selbst entscheide über den Weg meiner Schöpfungen. ›Lass mich, Gott, schaffen!‹, bete ich.« (Brief an Hans Sikorski vom 4. Februar 1990; zitiert nach der Übersetzung von Redepenning 2007, S. 39)
Einige Jahre später machte sie dem Hamburger Verlag Hoffnungen, die sich dann allerdings nicht erfüllt haben: »Sehr geehrter Herr Sikorski! Ich bin Ihnen für ihre Aufmerksamkeit und Hilfe sehr dankbar. Lebenshilfe – das bedeutet Schaffenshilfe. Ich habe ein Werk im Kopf, bei dem – so glaube ich, Gott mir helfen wird, es zu komponieren. Wenn das geschieht, werde ich sie unbedingt an erster Stelle davon unterrichten. Wahrhaftig zutiefst dankbar, Ihre Galina Ustvol’skaja« (2. August 1993)
In diesen Briefen ist aber auch ein signifikanter Unterschied zu all den oben erwähnten Komponisten zu beobachten, nämlich das explizite Hervorkehren der religiösen Sphäre. Sie stellt ihr kompositorisches Vermögen als göttliches Geschenk dar, und ab 1970 sind alle Werke (ausgenommen die Klaviersonaten) durch die Titel oder die Beiziehung von Texten religiös konnotiert. Ähnliches lässt sich im Übrigen bei Sofija Gubajdulina beobachten; auch sie sieht in ihrem Komponieren einen religiösen Akt, »eine Art Gottesdienst« (Lesle 1992, S. 33). Auffallend erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass dieses Hervorkehren von Religiosität bei Künstlern aus osteuropäischen Ländern offenbar als »authentischer« wahrgenommen wird als bei westlichen Kollegen. Das wird wohl in erster Linie daran liegen, dass viele Künstler in den ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten über lange Zeit existenziellen Bedrohungen ausgesetzt waren, wo jede Form religiöser Äußerung als oppositionelle Handlung angesehen werden musste. Etwa zeitgleich mit den oben angesprochenen Rezeptionsphänomenen im Kontext von Nono, Scelsi und Feldman entwickelte sich um den estnischsowjetischen Komponisten Arvo Pärt ein Kult, der in seiner Breitenwirkung jenen bei weitem überstieg und eine nicht unerhebliche kommerzielle Dimension erreichte. Das brachte ihm den Vorwurf ein, dass er bloß BedürfZur Rezeption im »Westen«
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nisse nach Ganzheit, Einheit und Transzendenz bedienen würde. Die letztlich äußerst komplexen Facetten der internationalen Pärt-Rezeption können hier nicht näher erörtert werden (vgl. Kautny 2002), ich verweise nur auf jene Aspekte, die auf Überschneidungen hinsichtlich der Rezeptionshaltungen gegenüber Ustvol’skaja hindeuten könnten. Wiederum ist es der reduktive, archaische Charakter seiner Musik, der die Basis für zahlreiche verbale Einschätzungen darstellte: Es handle sich um die Musik eines »Mönchs«, die als »Glaubensbekenntnis« nicht analysierbar sei, die als »unaufhörliches Gebet« ein »Stück göttlicher Liturgie« darbiete, und auf das »Überkonfessionelle« verweise (Kautny 2002, u. a. S. 220ff.). Auf musikalischer Ebene sind die Ähnlichkeiten zwischen Pärt und Ustvol’skaja mit dem abstrakten Aspekt der Reduktion allerdings bereits ausgeschöpft, zu unterschiedlich sind die individuellen Ausprägungen. Weitere Parallelen gibt es aber in biographischer Hinsicht: In beiden Fällen verbleiben weite Bereiche der Biographie im Geheimnisvollen, beide Lebensführungen sind, umgeben von einer geschäftigen, säkularisierten Konsumgesellschaft, durch eine geradezu mönchische/ nonnenhafte Zurückgezogenheit gekennzeichnet. Beiden gemeinsam ist schließlich auch die Tendenz zum Überkonfessionellen: Ustvol’skaja beteuerte zwar ihre Gläubigkeit, fühlte sich aber keiner speziellen Konfession zugehörig; Pärt trat vom protestantischen zum orthodoxen Christentum über, bediente mit seinen Werken allerdings überwiegend den katholischen Ritus. Es geht jetzt aber weniger darum, die Überschneidungen zwischen den beiden Persönlichkeiten herauszufiltern, entscheidender ist, dass diese Merkmale – Archaik, Eremitentum, Überkonfessionalität – vielerorts auf einen einschlägigen Erwartungshorizont getroffen sind. Einen Erwartungshorizont, der im Westen einerseits durch ein Abdriften von vielen Konfessionen, aber andererseits durch ein eher ansteigendes Bedürfnis nach Spiritualität bzw. Transzendenz gekennzeichnet ist. Die Zuschreibung einer spirituellen Wirkung ist bei Pärt wie bei Ustvol’skaja in einigen Fällen noch mit einem anderen signifikanten Moment verknüpft – dem einer antisubjektivistischen Kunstauffassung. Wie im obigen Zitat, in dem Ustvol’skaja ihre Inspiration als gottgegeben beschreibt, hat sich auch Pärt in mehreren Gesprächen als Medium dargestellt, das ohne subjektiv-rationales Zutun bloß Eingegebenes niederschreibe. Und dieses Selbstportrait ist vielfach übernommen worden: Paul Hillier etwa verglich Pärt diesbezüglich mit orthodoxen Ikonenmalern, die sich ebenfalls einer antisubjektivistischen Kunst- und Glaubenstradition gewidmet hätten (Hillier 1997, S. 3ff.). Im Wirken Galina Ustvol’skajas sieht der Fundamentaltheologe Kurt Anglet schließlich gar eine Auflehnung gegen 122
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und eine Abkehr von einer hybriden säkularisierten Welt, die auch die Kirche im Zuge einer misslungenen Anpassung erfasst hätte. Im Jahr 2008 hat Anglet, Professor am Seminar Redemptoris Mater in Berlin, und 2002 zum Priester geweiht, ein Buch mit dem Titel Detonation des Schweigens. Galina Ustvol’skaja zum Gedächtnis verfasst, in dem die Künstlerin zum Widerpart einer durch Selbstübersteigerung gekennzeichneten Moderne hochstilisiert wird. Ihren Ausdruck habe diese Selbstübersteigerung etwa im »Obskurantismus«, bzw. in der »lächerlichen Selbstmystifikation« Karlheinz Stockhausens gefunden, die nicht mit dem bloß individuellen Wesenszug des Exzentrischen abgetan werden könne. Vielmehr würde dadurch »die Banalität einer selbstkonstruierten Welt« zu Tage treten (Anglet 2008, S. 7). Dagegen habe das musikalische Werk Ustvol’skajas die »Ambivalenz des modernen Säkularisierungsprozesses« in einer Weise durchbrochen wie kaum ein anderes: »[...] ein Werk, dessen Maß trotz seiner minutiösen Bestimmung durch die Komponistin bis ins kleinste Detail, etwa die Garderobe des Sängers, von außen, genauer: von oben her vorgegeben erscheint. Es handelt sich um ein Werk, in dem nicht unsere Empfindungen oder Stimmungen, Gedanken oder Erinnerungen den Ton angeben. Vielmehr dringt die Musik auf uns ein wie ein gewaltiges Naturgeschehen, das sich über uns entlädt – wie ein Gewitter, könnte man meinen, wäre der Vergleich nicht unzutreffend. Denn um ein Naturgeschehen im landläufigen Sinne handelt es sich gerade nicht, sondern um den Einbruch des Ewigen in die Zeit – von seinem leisesten Nahen bis hin zu einer ins Kosmische reichenden Erschütterung.« (Anglet 2008, S. 8)
Bei aller Emphase, die hinter dieser Einschätzung steckt, bleiben aber doch die musikalischen Merkmale erkennbar, die Anglet zu seinen Ausführungen geleitet haben dürften. Dass weder »Empfindungen oder Stimmungen, Gedanken oder Erinnerungen den Ton angeben« würden, liegt daran, dass Ustvol’skaja auf keinerlei vorgefasste musikalische Ausdrucksgesten zurückgreift, die ein derartiges Hörerlebnis befördern könnten. Reminiszenzen sind allenfalls zu kirchlichen Melodien gegeben, die aber nicht als subjektivistisch konnotiert werden. Mit dem »Einbruch des Ewigen in die Zeit« ist wohl das fast durchwegs vorherrschende unerbittliche Fortschreiten von gleichen Notenwerten, ohne metrische Gliederung, gemeint, das augen- bzw. ohrenscheinliche Abgrenzungen vermeidet. Im Versuch, die Wirkung der Musik Ustvol’skajas zu deuten, holt Anglet weit aus, zieht immer wieder Vergleiche mit Texten von Franz Kafka (Betrachtung, Der Prozess). Herangezogen werZur Rezeption im »Westen«
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den vor allem jene Passagen, in denen Kafka eine durch moderne »Bauernfänger« und neue »Bilderdiener« dominierte Gesellschaft, die den Idolen der Macht oder des Marktes huldige, entlarft habe: »Mit dieser Gesellschaft radikal gebrochen zu haben, das macht die eigentümliche Faszination der Musik Galina Ustvol’skajas aus, wie sie auch der Hörer empfindet, dem die theologischen Bezüge ihres Werkes fremd sind [...] Gegen diese [die oben genannten Bauernfänger und Bilderdiener; Anm. d. Verf.] bläst Ustvol’skajas Musik zum Angriff, läutet deren Ende ein, wie sich ein gewaltiger Donner aus dem Schweigen erhebt, aus dem Schweigen Gottes, um die Welt dem Schweigen, das den Dingen innewohnt, zu entreißen – dem Schweigen des Todes.« (Anglet 2008, S. 74f.)
Dieses Zitat ist dem Ende des Buches entnommen, wo Kurt Anglet im Habitus des erzürnten Predigers auf breiter Ebene apokalyptische Bilder heraufbeschwört. Es mag sich zwar hier um eine besondere Art der Rezeption durch einen Fundamentaltheologen (der sich allerdings sehr stark mit aktuellen Fragen und Problemen zu Politik und den Künsten auseinandersetzt) handeln; einiges von dem, was hier angedeutet wurde, ist allerdings auch – wie sich zeigen wird – im Musikschrifttum im engeren Sinne anzutreffen. Darüber hinaus ist dieses Buch auch als Zeichen dafür zu sehen, dass Spiritualität heute nach wie vor hoch im Kurs steht. Das bekräftigen zahlreiche weitere Auseinandersetzungen damit, etwa eine Tagung des Darmstädter Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (INMM) 2007, oder ein von Karl Baier herausgegebenes Handbuch Spiritualität (2006) – um nur einige Beispiele zu nennen. Nach den bereits besprochenen Aufführungen Ende der 1980er Jahre in Heidelberg waren die Werke Ustvol’skajas bei vielen wichtigen europäischen Festivals, und nicht nur bei speziell Frauen gewidmeten, vertreten. Zu nennen wären etwa die Wittener Tage für neue Kammermusik, das Holland Festival in Amsterdam, oder Wien Modern. Wie gut sie etwa in Deutschland präsent war, geht aus einer von Christel Nies recherchierten Statistik hervor, welche die aufgeführten Werke von Komponistinnen bei 11 Festivals im Zeitraum zwischen 1990 und 2000 erfasst. In der folgenden Übersicht sind jene Künstlerinnen angeführt, die mit mindestens 10 Aufführungen vertreten sind (vgl. Nies 2002, S. 36ff.):
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Anzahl der Aufführungen Sofija Gubajdulina Annette Schlünz Galina Ustvol’skaja Younghi Pagh-Paan Adriana Hölszky Isabel Mundry Carola Bauckholt Violeta Dinescu Kaija Saariaho Charlotte Seither
34 21 19 15 14 13 11 11 10 10
/
aufgeführte Werke 28 18 11 13 13 11 11 10 9 6
Diese Statistik umfasst zum einen nicht sämtliche Veranstaltungen, zum anderen sind speziell Komponistinnen gewidmete Festivals bewusst ausgeklammert, aber ein tendenzieller Eindruck wird dadurch jedenfalls vermittelt. Wenn mit Sofija Gubajdulina und Galina Ustvol’skaja zwei sowjetische/russische Komponistinnen in vorderster Front vertreten sind, so gilt das tendenziell auch für andere europäische Länder, aber die besonders hohe Präsenz in Deutschland dürfte doch etwas hervortretend sein. Dem entspricht auch die Tatsache, dass ein auffallend hoher Prozentsatz der aus der Sowjetunion emigrierten Komponisten und Komponistinnen ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlegt haben (vgl. Redepenning 1997, S. 123). Eine besondere Rolle dürfte in diesem Zusammenhang wohl der Hamburger Sikorski-Verlag, mit dem Lektor Viktor Suslin, spielen, der als maßgebendes westeuropäisches Publikationsorgan für osteuropäische Musik anzusehen ist. Als Indiz für die internationale Geltung Galina Ustvol’skajas kann schließlich das Phänomen gelten, dass sie in Nigel Williams Buch The best music you’ve never heard (2008) aufscheint – neben Größen aus Rock, Funk, Reggae und Jazz; bzw. Personen wie Lorie Anderson, Alice Cotrane, Jimmy Scott, Sun Ra u. a. Aus mehreren Gründen muss schließlich die Beziehung Ustvol’skajas mit Holland hervorgehoben werden. Abgesehen davon, dass ihre Werke seit den frühen 1990er Jahren dort gut vertreten sind, hat sie im Komponisten, Dirigenten, Pianisten und Leiter des Schönberg-Ensembles Reinbert de Leeuw einen Interpreten ihrer Musik kennengelernt, der offenbar ihren Vorstellungen besonders nahe gekommen ist. Schon die 1993 erfolgte Aufnahme der 3 Kompositionen mit dem Schönberg-Ensemble fand ihren Zuspruch; sie war möglicherweise mitbestimmend, dass Ustvol’skaja 1995 für einige Tage nach Holland reiste – ihr erster Auslandaufenthalt überhaupt, im Alter von Zur Rezeption im »Westen«
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75 Jahren! Am 18., 19. und 20. Januar besuchte sie im Amsterdamer Concertgebouw eine Aufführungsserie (mit dem gleichnamigen Orchester), in der jedesmal ihre 3. Sinfonie und die 4. Sinfonie Šostakovičs auf dem Programm standen. Bemerkenswert ist, dass die äußerst scheue Komponistin nach dem Erklingen ihrer Sinfonie der Aufforderung des Dirigenten Valerij Gergiev gefolgt ist, sich auf der Bühne zu zeigen, wobei dem minutenlang applaudierenden Publikum die Besonderheit der Situation offenbar durchaus bewusst war. Weniger verwunderlich war, dass sie immer vor Šostakovičs Sinfonie das Gebäude verließ... Im Umfeld dieser Konzerte kam es zu einem Ereignis, dass dermaßen kurios und zugleich bezeichnend verlaufen ist, dass es eine genauere Schilderung rechtfertigt. Nach der Aufführung der 3. Sinfonie am 18. Januar ist die Journalistin Thea Derks mit der Mitteilung an die Komponistin herangetreten, dass sie für den gleichen Abend eine Radiosendung über ihre Musik gestaltet habe. Da Ustvol’skaja offensichtlich gerührt war von dieser Verständigung, fragte Derks, ob sie nicht bereit sei, ein Interview zu geben. Nachdem die spontane Reaktion ablehnend gewesen war, beriet sich Ustvol’skaja dann doch mit ihrem Mann, und willigte schließlich zu einem Interview am folgenden Tag ein. Vor dem geplanten Gespräch wollte sie dann aber doch nicht mehr so recht; sie fühle sich nicht ganz wohl, und außerdem wisse sie nicht, was sie überhaupt sagen sollte. Thea Derks gelang es allerdings nochmals, sie zu einem Interview am nächsten Tag zu überreden. Alles schien zunächst zu funktionieren – bis die Journalistin ihr Aufnahmegerät auspackte. Selbst auf die Beteuerung hin, dieses Interview nicht im Radio zu senden, sondern bloß schriftlich zu veröffentlichen, wollte Ustvol’skaja jetzt absolut nichts mehr sagen; überdies habe sich herausgestellt, dass man bereits ein Treffen mit Reinbert de Leeuw vereinbart hätte. Viktor Suslin, der Ustvol’skaja zu de Leeuw begleiten sollte, erwies sich schließlich als Retter der Situation: Zwar verwies auch dieser zunächst darauf, dass Ustvol’skaja generell keine Interviews gebe, der Vorschlag von Derks, dass Suslin die Fragen stellen könnte, fand aber dann doch allgemeine Zustimmung. Aber auch der Verlauf des Interviews war kurios. Galina Ustvol’skaja antwortete eigentlich nur auf die erste Frage – ob ihr das Konzert gefallen habe – selbst. Sie zeigte sich von der Aufführung nicht angetan: Die Akustik sei ungünstig gewesen, ebenso die Platzierung einiger Instrumentalisten, der Sprecher sei zu wenig verstärkt worden, und schließlich sei die Wiedergabe, da es sich um eine ad hoc zusammengestellte Formation aus dem Concertgebouw-Orchester gehandelt habe, insgesamt nicht sehr erbaulich ausgefallen. In weiterer Folge des Interviews übernahm zunehmend Suslin selbst die Beantwortung der 126
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Fragen. Als die Rede auf Šostakovič kam, sprang Ustvol’skaja auf und verweigerte jede Aussage dazu. Da sie nunmehr aber auch zu anderen Themen nichts mehr sagen wollte, musste das Interview bald abgebrochen werden (vgl. Derks 1995, S. 31-33). Insofern erscheint es als umso bemerkenswerter, dass zehn Jahre später, also 2005, ein etwas mehr als halbstündiges filmisches Portrait von Josée Voormans entstehen konnte (erschienen als DVD bei VPRO unter dem Titel Schrei ins All). Neben Ausschnitten aus Proben und Aufführungen unter der Leitung von Reinbert de Leeuw, unter der Anwesenheit der Komponistin, ist diese auch in ihrer Wohnung, und an einem ihrer Lieblingsplätze, unter einer Birke in einem Park in der Nähe von Sankt Petersburg zu sehen (vgl. Tafel 7 und 8). Darüber hinaus hat sich die nunmehr 86-jährige Künstlerin auch zu kurzen verbalen Äußerungen hinreißen lassen. Wiederum verwies sie etwa darauf, dass ihre Arbeit nicht religiös, aber durchaus spirituell sei. Darüber hinaus ist sogar zu sehen, wie sie mit dem Vokalsolisten der 2. Sinfonie über dessen Part spricht und mit ihm probt (es gibt mehrere filmische Dokumentationen, drei davon sind auf DVD erhältlich – vgl. Anhang). Ustvol’skajas Begeisterung über den Pianisten und Dirigenten Reinbert de Leeuw, der seit der Gründung 1974 des Schönberg Ensembles dieses auch leitete, soll zum Anlass genommen werden, um die Haltung der Komponistin zu den InterpretInnen ihrer Werke etwas näher ins Auge zu fassen. Dass sie in de Leeuw geradezu einen Idealfall sah, beweisen etliche Briefe; so schrieb sie etwa an Hans-Ulrich Duffek, den Verlagsdirektor bei Sikorski: »Ich hätte den großen Wunsch, dass das Große Duett von Reinbert de Leeuw aufgeführt wird. Dann würde es unter Berücksichtigung der oben genannten Anweisungen so erklingen, wie ich es erdacht habe. Auf der Schallplatte mit O. Malov und O. Stolpner ist das Große Duett ungenügend interpretiert. Diese Aufnahme darf nicht als Maßstab dienen.« (30. April 1994, Sammlung Ustvol’skaja in der Paul Sacher Stiftung)
Dabei war der in diesem Brief erwähnte Oleg Malov einer der wenigen Pianisten, der sich bislang in umfassender Weise mit dem Œuvre Ustvol’skajas auseinandergesetzt hatte, und dem sich die Komponistin mehrfach in großer Dankbarkeit verbunden zeigte. Zehn Jahre zuvor hatte sie an den damaligen Verlagsdirektor, Jürgen Köchel, noch geschrieben, dass man im Zuge einer geplanten Aufführung unbedingt Oleg Malov als Experten einladen sollte, den sie damals noch als »den bisher einzigen echten Vortragenden ihrer Werke« bezeichnet hatte (Brief an Jürgen Köchel vom 20. Oktober Zur Rezeption im »Westen«
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1984). Immerhin war diesem Pianisten auch die 3. Klaviersonate gewidmet. 1994 veranlasste Ustvol’skaja allerdings, diese Widmung in der vorgesehenen Druckausgabe der Sonate im Sikorski-Verlag zu streichen (Aktennotiz des mit Ustvol’skaja befreundeten Lektors Viktor Suslin nach einem Telefongespräch mit der Komponistin am 19. Januar 1994). Vor einer CDProduktion des belgischen Labels Megadisc im darauffolgenden Jahr, in der zwei Sinfonien und das Klavierkonzert mit dem St. Petersburger Sinfonischen Orchester und Malov als Solisten aufgenommen werden sollten, erhob Ustvol’skaja gar heftigen Protest, da das von ihr erwünschte Niveau mit dieser Konstellation keinesfalls erreicht werden könne (Brief an Patrick de Clerck vom 14. September 1995; Sammlung Ustvol’skaja in der Paul Sacher Stiftung). Dass sie die Aufnahmen ihrer Werke mit Argusaugen verfolgte, zeigt auch ein für Ustvol’skajas Verhältnisse geradezu ausschweifender Brief an Ariola Classics (München, 20. Dezember 1997), der weitere Einschätzungen zu verschiedenen Interpretationen enthält: »Sehr geehrte Damen und Herren, Ihre Firma hat in der Serie ›Musica non grata‹ (Nr. 74321499562) eine CD mit Werken von mir herausgebracht, die von der sowjetischen Firma ›Melodija‹ in verschiedenen Jahren auf Schallplatte aufgenommen worden waren. Ich bin Ihnen für Ihr Interesse an meiner Musik dankbar und möchte hoffen, dass die Neuauflage der alten Aufnahmen nicht nur von ökonomischen Erwägungen bestimmt war, sondern auch von Ihrer Gewissheit, dass die Aufnahmen in Zusammenarbeit mit dem Komponisten entstanden sind und – bei allen möglichen Mängeln – die Eigenschaft besitzen, die man gemeinhin ›Authentizität‹ nennt. Leider ist dies nicht der Fall. Pavel Serebryakov z. B. hat nicht nur mein Klavierkonzert aufgenommen, ohne etwas davon zu sagen, er hat auch grobe Willkür hinsichtlich des Notentextes walten lassen. Die Aufnahme des Oktetts fand ebenfalls ohne meine Teilnahme und Kontrolle statt und ist interpretatorisch weit von dem entfernt, was ich mir als Autorin vorgestellt habe. In keinster Weise kann ich diese Interpretationen autorisieren, zumal es wesentlich ›adäquatere‹ CD-Einspielungen meiner Werke gibt (z. B. die Aufnahme meines Klavierkonzerts mit Alexej Ljubimov oder des Großen Duetts mit M. Rostropovich). Es ist sehr traurig, dass Sie bei der Herausgabe einer CD mit Werken eines noch lebenden Komponisten nicht die Zeit gefunden haben, sich für dessen Meinung über die Solisten und die Qualität der Interpretation zu interessieren.« (http://ustvolskaya.org/eng/ performers.php; 23. März 2012)
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Auch mit der Interpretation ihrer Klaviersonaten durch die deutsche Pianistin Marianne Schroeder zeigte sich Ustvol’skaja unzufrieden. Nachdem ihr Marita Emigholz eine Bandaufnahme der Sonaten zugeschickt hatte, beklagte sie vor allem die mangelnde Differenzierung der dynamischen Abstufungen, zeigte sich auch verwundert: »Frau Schroeder fand in meiner Musik etwas, das ich nie vermutet hätte: Jazz, Bach, Choräle, Concerto Grosso, Neoklassizismus, Improvisation. Woher kommt das?« (Brief an Marita Emigholz vom 22. Oktober 2012; Sammlung Ustvol’skaja in der Paul Sacher Stiftung)
Diese briefliche Reaktion ist eine der wenigen, in der Ustvol’skaja zu etwas konkreteren Bewertungen fand. Auf der schon mehrfach erwähnten, von Andrej Bahmin und ihrem Mann Konstantin Bagrenin gestalteten Website ustvolskay.org ist im Übrigen eine Liste der von ihr favorisierten Aufnahmen zu finden (Stand: 11. Mai 2012). Nach den obigen Erörterungen zur Kontaktaufnahme Galina Ustvol’skajas mit dem Westen sollen die Reaktionen auf ihre Musik nochmals stärker ins Auge gefasst werden. Im oben erwähnten Zitat von Detlef Gojowy war bereits zu vernehmen, dass es sich um eine »Musik von verblüffend neuen Klangstrukturen und Baugesetzen« handele, die für große Überraschung sorgte. Alsbald begegnete man ersten Einschätzungen zur Genese dieser eigenartigen Kompositionen, die aber mangels näherer Auseinandersetzungen damit bei eher platten Analogien hängen blieben. Wenn von einer Nähe zum Minimalismus, zu Webern, oder zur orthodoxen Kirchenmusik die Rede war, so konnten sich derartige Inbezugsetzungen nur auf sehr oberflächlich-abstrakte Ähnlichkeiten, etwa auf Aspekte der Reduktion oder des Repetitiven, berufen. Mit Recht hat sich Ustvol’skaja von Anfang an davon distanziert. Hier soll es aber vorerst weniger um die kompositionstechnischen Einschätzungen gehen, die in einem späteren Kapitel behandelt werden; vielmehr soll die Beschreibung der Wirkung ihrer Musik im Vordergrund stehen. Da Musik aber nicht nur »wirkt« – so wie die Sonne auf die Haut, die dadurch einen Sonnenbrand »bewirken« kann – müssen gleichzeitig auch die Erwartungshaltungen und daraus erwachsende Zuschreibungen ins Auge gefasst werden. Rezeption ereignet sich in einem komplexen Netzwerk von Strukturen innerhalb eines Feldes (im Sinne von Pierre Bourdieu), das durch Institutionen und Diskurse, mit den dahinterstehenden Personen und deren Erfahrungen, Erwartungen und Intentionen bestimmt ist. Zur Rezeption im »Westen«
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Die folgende kleine Auswahl an Reaktionen lässt den oftmals zu beobachtenden Versuch erkennen, einer durch extreme Ausdrucksmittel gekennzeichneten Musik ein ebenso zu Extremen tendierendes Vokabular gegenüberzustellen, das überwiegend in einem durchaus homogenen Wortfeld seinen Platz findet. »Ein ganzer Abend Ustvol’skaja: Ich hätte das nicht für möglich gehalten. Für das Auffassungsvermögen gibt es gewisse Grenzen. Einen Abend lang wird die Seele zerkratzt und geschunden. Keine Sekunde Aufschub, nicht einmal ein luftiges Intermezzo oder eine Träumerei. Nichts als ein schonungsloses Hämmern auf dem Amboss der Wahrheit. Nicht nur geht es so weiter, sondern ist im Laufe der Jahre eigentlich immer schlimmer geworden [sic]. Die Violinsonate, das Eröffnungswerk des Konzerts, ist noch ein Euphemismus verglichen mit dem Duet für Violine und Klavier, mit dem das Programm nach der Pause anhub.« (Elmer Schönberger über ein Konzert in St. Petersburg vom 8. April 1991, zit. nach Schönberger 2000, S. 30) »It is not difficult to imagine the disgust someone of Ustvol’skaja’s temperament must have felt at having to filthy her hands with concessions to the Soviet Communist Party. Referring to her slab-like sonorities delivered with piledriving staccato attack, Dutch critic Elmer Schoenberger has called her ›the lady with the hammer‹. Perhaps more accurate would be ›the lady with the flail‹. The puritanical lashing fury of her music often suggests the image of Christ flogging the money lenders from the temple, while several writers have remarked on the ›Old Testament‹ vengefulness they hear in her work. There is a pounding masculinity in many of Ustvol’skaja’s scores – few men, let alone women, have written music as violent as this – which bespeaks an affinity more for Jehovah than for Jesus, for the railing prophets of the exile rather than the Gospel message of love.« (McDonald, S. 2f., 15. Februar 2011) »Die 73jährige Russin strapaziert die Klaviatur mit hart knirschenden Cluster-Repetitionen und dynamischen Extremen, die sich dem westlichen Begriff von ›Frauenmusik‹ mit der Gewalt des Urtümlichen widersetzen und eine Form der Petersburger Avantgarde zur Darstellung bringt, die sich nicht zuletzt infolge ihrer unerbittlichen Konsequenz von den Arbeiten ihrer männlichen Berufskollegen unterscheidet.« (Walter Labhart in der Bündner Zeitung vom 25. Juni 1992 über ein Konzert des Heidelberger Musik-Festivals 1992)
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»Bei allem klanglichen und motivisch schlichten Raffinement ist diese Musik von starker gestischer Präsenz, von konzis gehaltener rhetorischer Wirkung. Die beklemmende Ausweglosigkeit insistierend um sich selbst kreisender Septparallelen der 2. Sonate ist in ein erbittertes Aufbegehren gewandelt in der kantigen Motorik der der sechsten, während die 5. Sonate das Hin- und Herschwanken zwischen verklärter Erinnerung und Bedrängnis nahezu programmatisch behandelt.« (Rainer Köhl in der Rhein-Neckar-Zeitung vom 26. Juni 1992 über ein Konzert des Heidelberger Musik-Festivals 1992) »Bedenkt man, dass etwa in der sechsten Klaviersonate der Pianist das ›Expressivissimo‹ – das zum Superlativ gesteigerte, besser: übersteigerte Expressivo – das Anschlagen einzelner Töne mit mehreren Fingern, das vier- und fünffache Forte über 12 Spielminuten ununterbrochen durchhalten muss (es gibt nur eine einzige Zeile im Pianissimo im ganzen Werk), dann kann man ahnen, welch äußerste Kraftanstrengung in dieser Musik gebannt ist. – Ein möglicher Zugang, eine mögliche Assoziation wäre die mittelalterliche Kasteiung, die selbst auferlegten Entbehrungen und Schmerzen zur Bußübung und Gotteserkenntnis. Wenn man Äußerungen der Komponistin – wie ›ich lege alle meine Kraft in meine Werke‹ oder man müsse ihre Werke ›durchleiden, so wie ich leide‹ – nicht als leeres Gerede abtut, sondern beim Wort nimmt, dann weisen sie zumindest in eine solche Richtung.« (Redepenning 1997, S. 218) »Diese Musik attackiert den Hörer und peinigt ihn. Es gibt Stellen, an denen möchte man fliehen oder unter einer Kirchenbank Schutz suchen. Da scheinen die Klänge den armen Sünder in den Staub zwingen zu wollen.« (Claus Spahn in einem Artikel mit dem Titel Schreie aus einem schwarzen Loch. Annäherungen an die russische Komponistin Galina Ustvol’skaja und ihre rätselhafte Musik, in: Die Zeit vom 3. Dezember 1998) »Aber vielleicht ist es gerade diese Spannung zwischen Mimesis ans nackte Grauen und Antizipation einer utopischen Versöhnung, welche die Faszination ihrer Werke ausmacht. Diese Musik, wirkt, als flössen Tränen aus einem harten, archaischen Fels.« (Reinhard Kager im CD-Booklet zur Einspielung der 6 Klaviersonaten von Markus Hinterhäuser, 1998 col legno, WWE 1CD 20019) »Asketisch hart klingt diese Musik, sie streckt sich in der Zeit und fordert ihre Dauer. Das alles erinnert an ein archaisches Ritual – freilich ohne jede Zur Rezeption im »Westen«
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theatralische Zutat. Ustvol’skaja ruft ein Mit-Leiden, ein Mit-Beten, ein MitProtestieren hervor; man fühlt sich in die Ausführung der Musik mit eingebunden und wird im Hören zum Mit-Ausführenden.« (Rexroth 1998, S. 80) »Diese Musik entzieht sich den Sprachkategorien, in der simplen Form, der Machart, der Aussage. So dass man wieder einmal Wittgenstein zitieren müsste: ›Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.‹ Jede Aussage über diese Musik droht entsetzlich banal zu werden, sie reduziert diese Musik aufs Erträgliche, sie ver-mittelt, was nicht in die Mitte gehört. Denn diese Musik steht am Rande.« (Meyer 1998, S. 214) »She has been dubbed the high priestess of sado-minimalism, the lady with the hammer and the bearer of the pure gospel message.« (Nachruf in Times Online vom 15. Januar 2007, http://www.timesonline. co.uk/tol/comment/obituaries/article1292924.ece; 16. Februar 2011) »To my ears, there is more desolation than redemption in this music […] It is as if a mind disorientated by the imminent collapse of Marxism had turned to primitive religion, with a fanaticism more menacing than purifying […] If Cage’s most radical achievement was to aestheticise non-music, Ustvol’skaja, seven years his junior, manages the more difficult task of de-aestheticising music itself. In many ways, hers may be the music of a victim. And so, the crucial question remains: is it art?« (Arnold Whittall in einem Nachruf in der Musical Times, Spring 2007, http://www.musicaltimes.co.uk/archive/ obits/200701ustvolskaja.html; 16. Februar 2011)
Entsprechend den extremen musikalischen Mitteln, welche die Partituren Ustvol’skajas durchziehen, sind, wie man sieht, auch die Reaktionen durch eine Tendenz zu verbalen Superlativen gekennzeichnet. Durchwegs wird darauf verwiesen, dass Interpreten wie auch Hörende vor außergewöhnliche Herausforderungen gestellt werden. Häufig sind Einschätzungen, die auf rituelle, religiöse Praktiken verweisen – bis zur mittelalterlichen Kasteiung. Wie immer man zu diesen Bewertungen, die sicherlich sehr stark durch die Koordinatensysteme der Beobachter bestimmt sind, im einzelnen auch stehen mag – vieles ist doch mit gutem Grund aus den Stücken ableitbar, manches auch mit verbalen Äußerungen der Komponistin selbst in Einklang zu bringen. Was den letzteren Aspekt betrifft, so wäre aber doch einiges zu hinterfragen, so etwa Meyers Anknüpfung an den Wunsch Ustvol’skajas, ihre Werke nicht zu analysieren. Analyse, die Versprachlichung musikalischer 132
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Phänomene, kann letztlich niemals Musik in seinem ganzen Wesen erfassen, kann niemals das wiedergeben, was ein bestimmtes Stück für ein Individuum an Bedeutungsspektren verkörpern mag. Das ist aber noch lange kein Grund, sich nicht den rational nachvollziehbaren sinnstiftenden Ebenen zu widmen. Tatsächlich hat es aber bis 2009 gedauert, bis mit dem Band 143 der Musik-Konzepte diesem Anspruch Rechnung getragen wurde; erst in dieser Publikation trifft man auf die ersten substanziellen analytischen Auseinandersetzungen. Weiters hinterfragt werden muss der recht häufige Verweis auf den »männlichen« Charakter ihrer Musik. Damit werden heutzutage wohl schon unerträgliche Klischeebilder befördert, so, als ob eine besondere männliche Körperkraft vonnöten wäre, ein fünffaches Fortissimo zu notieren. Und dass auch Pianistinnen den tatsächlich hohen physischen Anforderungen mancher Sonaten gewachsen sind, ist zur Genüge unter Beweis gestellt worden. Interessant wäre in diesem Kontext allenfalls die Frage, ob die Rezeptionshaltungen gleich oder ähnlich ausgefallen wären, wenn es sich um Stücke eines Mannes handeln würde; und womöglich noch eines Mannes, der sehr wortreich und wortgewandt über die strukturelle Ebene seiner Stücke gesprochen hätte, also eine ganz andere Bezugsebene vorliegen würde. Auch wenn es sich nur um Spekulation handelt, so bin ich doch überzeugt davon, dass die scheue Persönlichkeit, die spezifischen Momente der Selbstinszenierung, die ja jeder Mensch bis zu einem gewissen Grad betreibt, sehr wohl mitbestimmend für diese spezielle Form der Rezeption waren. Dazu ist noch der oben im Groben gezeichnete Erwartungshorizont mitzubedenken, auf den ihre Werke gestoßen sind.
Zur Rezeption im »Westen«
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Marginalia zu Alltäglichem Ein resümierender Blick auf die biographischen Informationen vermittelt den Eindruck, dass die gesamte Lebensenergie Galina Ustvol’skajas ausschließlich auf das Komponieren gerichtet war. Allenfalls literarische Interessen werden daneben sichtbar – deutsche Literatur und Nikolaj Vasil’evič Gogol’. Dieser Name ist offenbar im Unterricht immer wieder gefallen, ohne dass sich Ustvol’skaja näher darüber ausgelassen hätte. Man ist also wieder nur auf Mutmaßungen angewiesen, worauf sich diese Vorliebe – die sie im Übrigen mit Dmitrij Šostakovič, der Gogol’s Erzählung Die Nase (Nos) bereits 1927/28 vertont hatte, geteilt hat – gegründet haben könnte. Zu allererst wäre vielleicht an die 1835 erschienene Novelle Nevskij prospekt zu denken, in der Gogol’ nicht nur die Atmosphäre der Leningrader Prachtstraße schildert, sondern auch den hinter der oberflächlichen Fassade verborgenen Schein gnadenlos, mit allen Mitteln der Groteske, entzaubert. Wenn es am Schluss der Novelle heißt »Er lügt zu jeder Zeit, dieser Nevskij prospekt, doch am meisten dann, wenn die Nacht sich wie eine dichte Masse auf ihn legt und die weißen und gelben Hausmauern hervortreten lässt, wenn die ganze Stadt sich in Donner und Glanz wandelt, Myriaden von Kaleschen sich von den Brücken daherwälzen, die Vorreiter brüllen und sich auf den Pferden hochrecken und wenn der Dämon selbst die Lampen anzündet, nur zu dem Zweck, alles nicht so erscheinen zu lassen, wie es in Wahrheit ist«, dann hat Gogol’ Ustvol’skaja wohl aus der Seele gesprochen; kaum etwas dürfte ihr so widerwärtig erschienen sein wie aufgeblasener Schein. In der Erzählung Portret (Das Portrait) verfällt in diesen Zustand auch der zunächst arme, aber talentierte Maler Čartkov, der, unverhofft zu Geld gekommen, nur mehr die modischen Interessen seiner reichen Auftraggeber im Auge hat, und mit zunehmender Oberflächlichkeit immer anmaßender wird. Aber auch in der parodierten Bürokratie und der Zeichnung einer verkommenen Moral im Revisor, oder in den sozialkritischen Anklagen im Mantel, könnte Ustvol’skaja persönliche Sichtweisen auf (aktuelle) gesellschaftspolitische Zustände widergespiegelt gesehen haben. Für die aktuellen politischen Vorgänge hat sie sich allerdings überhaupt nicht interessiert, zumindest in späteren Jahren. Das dürfte aber nicht immer so gewesen sein: Konstantin Bagrenin berichtet davon, dass sie, schon als ältere Frau, einmal aus einem Text der Zeitschrift Rote Fahne, (dem von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gegründeten Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands von 1919-1945) auswendig rezitierte! Es ist aber bezeichnend, dass mit diesem Hinweis die biographische Quellenlage in Hinblick auf politische Interessen bereits ausgeschöpft ist… 134
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Bis zur Heirat mit Bagrenin (1963) ist auch über ihr Privatleben kaum etwas in Erfahrung zu bringen, abgesehen von den paar Brocken aus dem Interview mit Ol’ga Gladkova. Bagrenin lernte Ustvol’skaja ebenfalls als Schüler kennen, beendete aber seine Kompositionskarriere, als er die besondere Begabung seiner Frau erkannte. Ähnliches ist im Übrigen einem Brief des belgischen Komponisten Patrick de Clerck (geb. 1958) zu entnehmen: De Clerck, der sich als Student am Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique (IRCAM) in Paris mit Elektronik und algorithmischen Kompositionstechniken auseinandergesetzt hatte, geriet um 1980 offenbar in eine künstlerische Krisensituation. 1980 war er in Leningrad und kaufte Noten mit Stücken Ustvol’skajas. In einem Brief an die Komponistin teilte er dieser mit, dass er nach einem Blick in diese Noten beschlossen habe, das Komponieren zu beenden. Nachdem de Clerck danach als Bassgitarrist in diversen Rockgruppen fungierte, begann er allerdings in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre einen Neustart. Ustvol’skajas Energien waren dermaßen an ihr Komponieren gebunden, dass ihr Mann sämtliche Bereiche des Alltäglichen übernahm bzw. übernehmen musste (1967 waren sie in eine gemeinsame Wohnung in einer Siedlungsanlage etwas außerhalb des Zentrums von Sankt Petersburg gezogen, die bis an ihr Lebensende das Domizil blieb). Die Beziehung verlief offenbar genau umgekehrt, als das traditionelle Rollenbilder erwarten lassen würden. Durch ihn, der gewissermaßen als Draht zur Außenwelt fungierte, konnte sie ihren Schutzwall gegenüber dieser aufrechterhalten. Hausarbeit, Einkäufe, Gänge zur Post – all das wurde ausschließlich von Bagrenin erledigt; sie habe nicht einmal gewusst, wo sich etwa die Post befinde. Selbst die Bedienung des Kassettenrecorders, der noch lange nach der Erfindung der Compact Disc in Verwendung blieb, musste ihr Mann übernehmen. Auf diese Audiokassetten wurde viel Musik aufgenommen, und Ustvol’skaja hörte sich auch immer wieder Stücke an – allerdings oftmals nur den Beginn, da sie zumeist schnell enttäuscht war. Ihre Vorlieben waren offenbar zeitlebens auf ein sehr kleines Repertoire beschränkt: Neben der besonderen Beziehung zu Mahler wäre noch Webern (insbesondere die 5 Stücke für Orchester op. 10), einiges von Stravinskij (etwa die Psalmensinfonie) und Musorgskij zu nennen; von Čajkovskij mochte sie die 6. Sinfonie, aber sonst nichts. Konzertbesuche waren rar; sie hat zwar die Mitgliedsgebühr für den Komponistenverband regelmäßig bezahlt, aber bis auf wenige Anlässe, als ihre eigenen Werke auf dem Programm standen, nie dessen Veranstaltungen besucht (wohl aber ihr Mann). Immerhin las sie regelmäßig die Kritiken über ihre Werke (die natürlich ihr Mann besorgen musste). Marginalia zu Alltäglichem
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Eine Abscheu vor technischen Geräten bestand offenbar ihr ganzes Leben lang, ausgenommen vielleicht das Telefon – immerhin lassen sich damit die Gesprächspartner auf Distanz halten. Auch photographieren lassen wollte sie sich nur widerwillig; dem von ihr hochgeschätzten Interpreten ihrer Werke, Reinbert de Leeuw, sagte sie im Zuge einer Vorbereitung zu einer filmischen Dokumentation (Toonmeesters #5. Galina Oestvolskaja; Regisseur Cherry Duyns, VPRO Holland, 1994) einmal, dass Zähne ziehen lassen für sie einfacher wäre. Insofern ist es sehr bemerkenswert, dass innerhalb ihres letzten Lebensjahrzehtns doch sieben filmische Beiträge entstehen konnten, wo sie teilweise sogar kurze Interviews und Einblicke in ihre Wohnung zugelassen hat (s. Anhang). Gerade durch die holländischen Kontakte hätten sich laut Bagrenin überdies Möglichkeiten eröffnet, den Wohnsitz dorthin zu verlagern. Ihr Mann hätte dem einiges abgewinnen können, für Galina Ustvol’skaja kam aber nur Sankt Petersburg als Lebensmittelpunkt in Frage. Ustvol’skaja hat sich aus dieser Stadt nur selten entfernt. Die einzige längere Absenz ergab sich durch die Evakuierung nach Taschkent während der 900 Tage dauernden Blockade im Zweiten Weltkrieg, zusammen mit anderen Mitgliedern des Konservatoriums. Ansonsten gab es einige kürzere Urlaubsaufenthalte in Litauen, und ab 1995 einige Reisen nach Westeuropa, zu Aufführungen ihrer Werke in Amsterdam, Bern und Wien. Ihre Lieblingsziele waren aber durchwegs in Sankt Petersburg oder der näheren Umgebung zu finden. Schon als Schulkind hatte sie die beschauliche Natur der Inseln dem Unterrichtsraum oftmals vorgezogen, und auch später waren es bevorzugt naturnahe Parkanlagen, die sie in besonderer Weise schätzte. Dazu gehörte der Alexanderpark am Stadtrand, oder mehr noch Pavlovsk, die weitläufigen Parkanagen der ehemaligen Sommerresidenz der Zaren etwa 30 Kilometer südlich der Stadt. In ganz besonderer Weise liebte sie dort einen Platz unter einer Birke (s. Tafel 7 und 8), dessen Atmosphäre sie sehr anregend empfand. Gelegentlich hat sie in der Natur auch musikalische Gedanken notiert und zu Hause weiter bearbeitet. Abgesehen von einem kleineren Küchentisch befand sich dort nicht einmal ein Tisch, auf dem man in größerem Umfang Notenblätter bzw. Skizzen hätte entfalten können. Die bevorzugte Position des Komponierens war somit eine am Boden kniende Haltung vor dem Bett. Aber auch in der Stadt hatte sie bevorzugte Plätze: die Kanäle im Bereich der Kasaner Kathedrale, Neu-Holland, die Gegend um die Nikolaus-MarineKathedrale, in deren Nähe sich auch das Konservatorium befindet. Offenbar ist sie an solchen Orten auch länger verweilt, hat Notizen gemacht. Gelegentlich hätten sich Menschen genähert, und sie angesprochen, ob sie Künstlerin sei; dann habe sie sofort das Weite gesucht. 136
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I Galina Ustvol’skaja Ende der 1940er Jahre
II Galina Ustvol’skaja 1952
III Auf Urlaub in Litauen 1970
IV Mit Viktor Suslin 1995 in Amsterdam
V Mit Reinbert de Leeuw 1995 in Amsterdam
VI Oktober 2004 in Pavlovsk. Diese Parkanlage 30 km südlich von Sankt Petersburg war einer ihrer Lieblingsplätze
VII Mit ihrem Ehemann Konstantin Bagrenin 2004 in Pavlovsk
VIII Vor ihrer Lieblingsbirke in Pavlovsk (2004); links von ihr die Filmregisseurin Josée Voormans
IX Bei einer Ehrung 2004 im Eremitage-Theater (Sankt Petersburg)
X Im Eremitage-Theater 2004
XI Mit Erik Zuyderhoff in Amsterdam im Mai 2005
XII Mit Konstantin Bagrenin 2005 in Amsterdam
XIII Das erste Präludium und der Beginn des zweiten
XIV Beginn der 1. Sinfonie – noch ohne die in den Erstdruck hineinerzwungenen Taktstriche
XV Beginn der Komposition Nr. 1
XVI 2. Sinfonie; Takt 129–133 (im Sikorski-Druck auf S. 37)
Auch wenn es längere Phasen gab, in denen sie keine Komposition an die Öffentlichkeit entlassen hat, so war sie doch beständig mit dem Komponieren beschäftigt, auch in den 1960ern, oder nach ihrem letzten publizierten Stück, der 5. Sinfonie »Amen« (1989/90). Selbst in den letzten Lebensjahren, mit stark angegriffener Gesundheit, ließ dieser Wille zu Komponieren nicht nach: »Galina Ivanovna was constantly composing something. It’s also true that not everything she composed was something she found necessary to include in her Сatalogue. I would say: Ustvolskaya composed a great deal in the 1960s. But the only work she considered worthy to be included in a list of her primary works was Duet. I tore up many scores in 1965 on her insistence. Some of them could have been written in the 1960s. Many scores are now in the Archive of Cinematography. Some of these could also have been written in the 60s. In addition, when she learned that the Leningrad archive of music and film scores had many of her manuscripts, she asked me to buy them and to destroy them. Maybe the last few years of the 60s were spent on contemplating and rethinking the powerful triad of Compositions. I should also add that Galina Ivanovna was destroying many of her works herself. Maybe some of them were composed in the 60s as well. She was going to college 2-3 times a week and all the rest of the time she worked at home. I sometimes saw the results of her work, torn into many pieces in a trash bin. I did not ask her what that was because I was doing the same thing as a student. In those years she told me once that some scores were hidden under the cover of the piano in her mother’s house. She demanded that I should go to her mother and destroy them. I refused categorically and some time later I asked her about these works. She answered that the scores had been destroyed. Which scores, and how many, she refused to tell, pointing to her heart and saying: THEY ARE HERE. Ustvolskaya was still composing even when seriously ill during the last years of her life, despite the absence of actual manuscripts. To the outside world, it seemed she had gone silent in the 60s and after 1990 – but it was a simple ignorance of the facts that gave rise to this wrong impression.« (Konstantin Bagrenin, http://ustvolskaya.org/ eng/precision.php; 11. April 2012)
Am 22. Dezember verstarb Galina Ustvol’skaja in Sankt Petersburg. Dass sie auf einem evangelischen Friedhof begraben ist, hat ausschließlich pragmatische Gründe: Erstens fand sich dort ein Platz, und zweitens befindet sich der Friedhof in der Nähe der Wohnung des Witwers.
Marginalia zu Alltäglichem
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Betrachtung des Werks Galina Ustvol’skajas kompositorisches Profil Einleitung
»The music of Ustvol’skaja is unique: it does not conform to the usual patterns. Usually it is not difficult to discern points of contact with the music of other composers, both predecessors and contemporaries, in the work of influentual masters. But sometimes we meet precious stones which possess such a strength of internal construction that it is difficult to recognize the reflection of the light which falls on them in their sparkle. These are artists who break sharply away from the established norms and build a musical world of their own laws. Ustvol’skaya is one such artist.« (Boris Tiščenko, zit. nach Suslin 2002, S. 100) »Die Ursache des ungeheuren Interesses am Schaffen von Ustvol’skaja besteht in der mächtigen Ausdruckskraft ihrer Werke, im völlig individuellen Stil, der kein Analogon in der Weltmusik hat.« (Alexander Makarov, Rundfunkkommentar im Petersburger Sender Radio-Klassika, April 1995, zit. nach Gladkova 2001, S. 70) »Ustvol’skaja lebt und komponiert in völliger – frei gewählter – Isolation, ohne jegliche Kenntnis von den Entwicklungen irgendeiner Avantgarde. Sie praktiziert einen beispielslosen künstlerischen Solipsismus, ganz und gar absichtslos gegenüber kompositionstechnischen Kategorien und solchen der Hörorientierung.« (Reich 2005, S. 122) »Galina Ustvol’skajas Musik hat sich stets als resistent gegen die Tradition wie gegen die Avantgarde erwiesen.« (Blois 2000, S. 43) »Nach dem kurzen Stadium, in dem Šostakovičs Einfluss noch spürbar war, gelangte sie zu einer völlig unabhängigen Manier.« (Lobanova 1999, S. 53) »Wenn ich Vergleichbares finden möchte, müsste ich sehr, sehr weit in der Musikgeschichte zurückgehen, zu einer Musik, die an der Schnittstelle von der Einstimmigkeit zur Mehrstimmigkeit liegt und dann meinetwegen noch
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Betrachtung des Werkes
zu Bach, der für ihre zweite und dritte Sonate ja wichtig war. Hier findet sich eine Form der Quasi-Polyphonie, der Quasi-Mehrstimmigkeit, die sie dann auch wieder verlässt.« (Markus Hinterhäuser, zit. nach Nauck 2007, S. 37) »Es ist besonders wichtig, hier zu betonen, dass in der Instrumentalmusik von Ustvol’skaja die Traditionen der altrussischen Gesangskunst spezifisch verwirklicht wurden. Gerade hier ist der Ursprung der eigenartigen Ausdrucksweise der Autorin zu suchen […] Können wir vielleicht in dieser energischen, geraden Tonführung sogar die Klarheit und Einfachheit in der Art eines Prokof‘ev erkennen? […] Im Ausdruck von Ustvol’skaja herrscht eine willensstarke Intonation, die wegen ihrer Instinktivität stets makellos wirkt […] In dieser Hinsicht hat Ustvol’skaja als Komponistin ihren Ursprung bei Čajkovskij.« (Anatolij Andreev, zit. nach Gladkova 2001, S. 71f.) »Die Namen von Bach und Musorgskij stehen hier nicht zufällig. Zusammen mit dem bereits erwähnten Namen von Šostakovič bilden sie eine Trias von Komponisten, deren Einfluss im Schaffen Ustvol’skajas am meisten spürbar ist, obwohl deren Musik ihre genealogischen Wurzeln nicht offen zeigt. Diese Musik ist ähnlich einem Menschen, der nicht geneigt ist, sich mit seiner Herkunft zu schmücken, sie aber auch nicht vergisst.« (Kac 2009, S. 78) »Ein westlicher Hörer, der sich in ihrer Musik zurechtfinden will, erinnert sich vielleicht zunächst an Bartók, aber dann auch an John Cage und vielleicht an den New Yorker Glockenspieler und ›Minimalisten‹ Charlemagne Palestine. Mit ›Minimal Music‹ hat der westliche Zuhörer ein schönes Stichwort, um es mit der Musik von Galina Ustvol’skaja aufzunehmen. Dehnung der Zeit ins Endlose. Textile Struktur der Musik, wie sie György Ligeti aufbrachte. Ausbrechen aus allen herkömmlichen Formkategorien. Aber – und das ist nun das Irritierende – mit der Musik der amerikanischen Westküste hat Galina Ustvol’skajas Musik nun bestimmt nicht das mindeste zu tun. Sie entstand, bewusst und unbeirrt, zum Teil in den schwärzesten Jahren, als in Russland der Stalinismus tobte, als ein Stück innerer Emigration.« (Gojowy 1992, S. 126f.)
Dieses Potpourri an Einschätzungen bietet einen repräsentativen Querschnitt über die Bandbreite an Bewertungen, die man in der Literatur über Galina Ustvol’skajas Musik antrifft. Während das besondere, außergewöhnliche Wesen ihres musikalischen Stils generell betont wird, schreiben einige AutorInnen ihrer Musik gar Einzigartigkeit zu, die keinerlei Ansatzpunkte oder Bezüge, Einleitung
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weder zur Vergangenheit noch zur Gegenwart, erkennen lassen würde. Darin ist zweifellos eine Übertreibung zu sehen, die im Falle Wieland Reichs, der ihr überhaupt ein »ganz und gar absichtsloses« Komponieren unterstellt, zur Mystifikation gerät. Und damit ist er nicht der einzige. Genährt hat diese Mystifikation die Komponistin selbst, die etwa in einem Brief an ihren Verleger Hans Sikorski (vom 4. Februar 1990) verlautbarte, dass sich ihr Arbeitsprozess von dem anderer Komponisten unterscheiden würde; dass sie nur dann komponieren könne, wenn ein gottgewollter »heiliger Zustand« eintrete. Damit rückte sie ihre künstlerische Arbeit völlig in den Bereich des Irrationalen, abseits jeglicher bewusster kompositionstechnischer Dispositionen. Dem kann noch ihr Gesuch, ihre Musik nicht zu analysieren, passend an die Seite gestellt werden – ein Gesuch, dem bis vor kurzem durchgehend entsprochen worden ist. Die jüngeren »Verstöße« dagegen (Weiss/Halser/Zink 2009; Meyer 2012) haben allerdings überzeugend herauskristallisiert, dass die Genese ihrer Stücke ohne ein bewusstes und planvolles Vorgehen undenkbar erscheint. Vielfach wurde in den eingangs vorgestellten Einschätzungen aber doch versucht, Bezüge herzustellen. Wenn Markus Hinterhäuser Bach ins Spiel bringt, so zielt das eher auf abstrakte Analogien in Hinblick auf lineare Abläufe; und auch Detlef Gojowy wird eher abstrakte Relationen im Auge gehabt haben, und nicht meinen, dass Ustvol’skajas Musik nach Cage, den amerikanischen Minimalisten oder Ligeti klingen würde. Andere Autoren wurden konkreter, wobei insbesondere den sowjetischen Vertretern daran gelegen war, ihr Werk in russische Traditionen einzubetten. Wenn diesbezüglich selbst Čajkovskij ins Spiel gebracht wird, ist das schon einigermaßen absurd. Dahinter steht wohl die in der Sowjetunion oft zu beobachtende Absicht, die russische Tradition, in der Čajkovskij nun einmal eine wichtige Position einnimmt, als die eigentliche, wahre Fortsetzung der musikalischen Klassik herauszustreichen. Und eine Wertschätzung einer zeitgenössischen Komponistin konnte in Sowjetzeiten nur dann Gewicht haben, wenn die Verbundenheit mit dieser Tradition außer Frage war. In fast allen Einschätzungen dagegen wird auf einen Einfluss Dmitrij Šostakovičs verwiesen, was durch das Lehrer-Schüler-Verhältnis auch auf der Hand zu liegen scheint. Immerhin wird durchwegs konzidiert, dass Ustvol’skaja – und manche meinen, nur sie – diesen Einfluss bald überwunden hätte. In diesem Kontext wird zumeist auf einen Brief Šostakovičs an seine Schülerin verwiesen: »Nicht Du befindest Dich unter meinem Einfluss, sondern ich mich unter Deinem.« (Zit. nach Gladkova 2001, S. 32) Galina Ustvol’skaja hat sich gegen jegliche Zuordnungen immer wieder zur Wehr gesetzt, so etwa in ihrem Text Meine Gedanken über das Schöpferische (17. Januar 1994): 140
Betrachtung des Werkes
»Die ›Minimal Music‹, Schönberg, Webern – all das muss man mir aus irgendwelchen Gründen nachsagen. Und warum nicht Werstowski? Man schreibt, dass ich von Webern herkomme, dass meine Musik altrussische Wurzeln hat. Man schreibt über Komponisten, deren Namen ich überhaupt nicht kenne […] Vieles, das Musikwissenschaftler über meine Musik geschrieben haben, entspricht nicht der Wahrheit. Ich denke, dass Musikwissenschaftler, wenn sie schöpferische Menschen sind, genauso tief suchen, genauso ihre Arbeit durchleiden müssen, wie ich leide. Es ist besser, nichts über meine Musik zu schreiben, als sich mit den ersten Eindrücken zufriedenzugeben. Man muss viel denken. Welchen altrussischen Wurzeln spürt man, sagen wir, in meinen Kompositionen nach? In welchen meiner Werke ist ein altindisches Epos zu hören? Leere Hirngespinste von Musikwissenschaftlern. Ich lebe im zwanzigsten Jahrhundert, in dem es um einen herum tausende von Strömungen gibt. Ich gebe alle Kräfte, zu Gott flehend, für mein Schaffen; ich habe mein Schaffen, meine Musik, nur Meine!« (abgedruckt in: MusikTexte 83, 2000, S. 23)
Besonders scharf fiel die Distanzierung gegenüber ihrem Lehrer aus – nochmals sei auf eine kurze Notiz aus dem gleichen Jahr verwiesen: »Niemals, zu keiner Zeit, nicht einmal während meiner Studienjahre in der Kompositionsklasse von Dmitrij Šostakovič, standen mir seine Musik und Persönlichkeit nahe.« (1. Januar 1994)
Der Versuch, das individuelle Profil einer künstlerischen Persönlichkeit in ihrem jeweiligen soziokulturellen Kontext zu durchleuchten, verlangt nach einer Reflexion über die theoretischen Perspektiven, die diesem Versuch zu Grunde liegen. Wenn die folgenden Überlegungen vor allem dem Gedankengebäude Bourdieus verbunden sind, so liegt das nicht zuletzt daran, dass dessen Theorien niemals im Raum abstrakter Konstruktionen verbleiben, sondern immer in Verbindung zum Empirischen, zur konkreten Forschungsarbeit konzipiert worden sind. In Hinblick auf die oben mehrfach erwähnte Anknüpfung an Šostakovič gilt es zunächst, den Begriff des »Einflusses« zu überdenken. Zumeist wird dieser so verwendet, dass der Eindruck eines passiven Vorgangs insinuiert wird, der einfach irgendwie »passiert«: Šostakovič als übermächtige Persönlichkeit, die auf ihre Umgebung ausstrahlt, wirkt. Letztlich muss aber die Perspektive umgekehrt werden: Nicht Šostakovičs Musik »wirkte« auf Ustvol’skaja, vielmehr setzte sich diese mit der Musik ihres Lehrers auseinander und zog bestimmte Konsequenzen (die auch in Einleitung
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einer Distanzierung bestehen können). Des Weiteren möchte ich in Pierre Bourdieus Kritik an Jean-Paul Sartres Theorie vom »ursprünglichen Entwurf«, welche die Stoßrichtung zahlreicher Biographien bestimmen würde, einstimmen. Sartres Theorie sei durch die Sichtweise geprägt, dass ein Leben aus einer zielgerichteten Gesamtheit bestehe, als »einheitlicher Ausdruck einer subjektiven und objektiven Intention […], die sich in allen Erfahrungen abzeichnet, vor allem in den frühesten.« (Bourdieu 1999, S. 300) In unserem Fall könnte das heißen, die Šostakovič-Erfahrung als Ausgangspunkt zu nehmen, von dem aus weitere Vorgänge zu begründen wären. In der Absicht, von einer Lebensvorstellung als zielgerichtetem Ganzen abzusehen, kann überdies auch ein Impuls für Bourdieu gesehen werden, den von Erwin Panofsky entlehnten Begriff des »Habitus« neu zu durchdenken und zu profilieren. Diese Neuprofilierung war auch dem Versuch geschuldet, die radikal strukturalistischen Paradigmen, geprägt nicht zuletzt von Claude Lévi-Strauss, zu durchbrechen, ohne in allzu subjektivistische Konzepte zurückzufallen. Mit anderen Worten: Es geht weder an, die handelnden Personen auf Träger von Strukturen, auf das Produkt von Milieus, zu reduzieren, noch die schöpferische Potenz als bloßen Erguss aus dem Subjekt heraus zu verstehen. Der Habitus-Begriff im Sprachgebrauch Bourdieus zielt darauf ab, dem Auseinanderdividieren von Individualität und Kollektivität entgegenzuwirken, vielmehr »im Zentrum des Individuellen selbst Kollektives zu entdecken« (Bourdieu 1974, S. 132). Der Habitus ist eine Instanz, »etwas Erworbenes und zugleich ein ›Haben‹« (Bourdieu 1999, S. 286), die »den Künstler mit der Kollektivität und seinem Zeitalter verbindet und, ohne dass dieser es merkte, seinen anscheinend noch so einzigartigen Projekten Richtung und Ziel weist« (Bourdieu 1974, S. 132). Es geht also um die Gesamtheit von Denkweisen, Wahrnehmungsformen, Wertvorstellungen in einer Gesellschaft, die im Individuum als »einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte« (ebd., S. 105) wirksam sind. Diese Denkweisen, Wahrnehmungsformen oder Wertvorstellungen werden aber nicht nur ausgebildet, allenfalls verfestigt, sie unterliegen auch einer ständigen Modifikation oder Veränderung. Man kann im Habitus schließlich einen Generator der individuellen Praxis, oder auch eine Art »Koordinatensystem« sehen, das im Kopf, aber nicht unbedingt im Bewusstsein, sein muss (vgl. Bourdieu 1998, S. 55). Das heißt, dass bestimmte Haltungen, Sicht- oder Funktionsweisen in einer Art und Weise verinnerlicht sind, dass Herkunft und Ursache gar nicht mehr realisiert werden. Wie soll man diese dann aber beschreiben? Darin besteht wohl die Hauptschwierigkeit, die letzten Endes nicht gänzlich überwunden werden kann. 142
Betrachtung des Werkes
Einer ähnlichen Problematik begegnet man im Kontext der geschichtsphilosophischen Konzeptionen Theodor W. Adornos: Auch diesem wurde nicht zu Unrecht des Öfteren vorgeworfen, die Theoriefähigkeit seiner Denkmodelle nicht genügend geprüft zu haben. In Hinblick auf einen seiner meistzitierten Sätze, dass musikalisches »›Material‹ selber sedimentierter Geist, ein gesellschaftlich, durchs Bewusstsein von Menschen hindurch Präformiertes ist« (Adorno 1978, S. 39), wurde beispielsweise von Rüdiger Bubner (Bubner 1979, S. 108ff.) oder Peter Bürger (Bürger 1979, S. 169-186) nachgefragt, wie denn Gesellschaft auf Kunst bzw. »in sie hinein« wirken könnte. Fragen dieser Art entziehen sich zweifellos einer klaren Beantwortung. Hüten kann man sich aber zumindest vor den Extremen: einerseits vor allzu geradlinig-kausalen Ableitungen, andererseits vor der Annahme nebulöser »Wirkungen«. Wenn der Habitus der Mediator zwischen Individuellem und Kollektivem in Hinblick auf das Individuum darstellt, so ist das »Feld« im Sinne Bourdieus ein Netzwerk von Relationen, der Raum an Möglichkeiten innerhalb der Gesellschaft: »Der Feldbegriff ermöglicht es, über den Gegensatz zwischen externer und interner Analyse hinauszugelangen, ohne irgend etwas von den Erkenntnissen und Anforderungen dieser traditionell als unvereinbar geltenden Methoden aufzugeben. Wenn man aufgreift, was der Begriff Intertextualität impliziert, die Tatsache nämlich, dass der Raum der Werke sich jederzeit als ein Feld der Positionierungen darstellt, die nur relational, und zwar als System differentieller Abstände, verstanden werden können, dann lässt sich die (durch empirische Untersuchungen belegte) Hypothese einer Homologie zwischen dem Raum der durch ihren symbolischen Gehalt und insbesondere durch ihre Form definierten Werke und dem Raum der Positionen innerhalb des Produktionsfelds aufstellen.« (Bourdieu 1999, S. 328)
Entsprechend der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften und entsprechend den unterschiedlichen Funktionsweisen gibt es das Feld der Macht, der Religion, der Kunst usw. als historisch und regional sich ständig wandelnde Konfigurationen, die sich weiter unterteilen lassen – so etwa das Kunstfeld in ein literarisches Feld, ein Feld der Bildenden Kunst oder eines der Musik. Innerhalb des Kunstfeldes sind Künstler sowohl positioniert, als sie sich auch durch ihre Arbeit permanent positionieren. Es ist das Kardinalproblem jeglicher Biographik, die drei sie konstituierenden »Säulen« Leben, Werk und Umfeld in einer möglichst adäquaten Einleitung
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Form zu verknüpfen. Aus der kurz skizzierten theoretischen Perspektive Bourdieus lässt sich der künstlerische Standpunkt Galina Ustvol’skajas demnach nur beschreiben, wenn man das Feld skizziert, aus dem heraus sie ihre künstlerischen Entscheidungen getroffen hat. Der einzigartige Charakter ihres Weges wird eigentlich erst so überhaupt greifbar. Es hilft wenig, einige äußerliche Merkmale ihres Stils (etwa die Häufung extremer Ausdrucksmittel), die schnell an der Hand wären, aneinanderzureihen. Zu fragen ist einerseits nach den dahinterstehenden Ambitionen, aber auch nach dem kulturellen Raum, nach dem »Möglichkeitsraum« (vgl. Bourdieu 1999, S. 371ff.), in dem sie positioniert war und innerhalb dessen sie sich durch ihre Arbeit positioniert hat, auch wenn sie selbst sich immer als desinteressiert an ihrer Umgebung ausgegeben hat. Die Skizzierung des Feldes degradiert ihr Werk nicht zu einem bloßen Produkt davon, vielmehr wird ihr Ringen um Unterscheidung, um Besonderheit, ihre Distanzierung von eingefahrenen Bahnen – kurz, ihre Innovation – erst dadurch erkennbar: »Künstlerische Kühnheiten, Neues oder Revolutionäres sind überhaupt nur denkbar, wenn sie innerhalb des bestehenden Systems des Möglichen in Form struktureller Lücken virtuell bereits existieren, die darauf zu warten scheinen, als potentielle Entwicklungslinien, als Wege möglicher Neuerungen entdeckt zu werden.« (Bourdieu 1999, S. 372)
Trotz aller Zurückgezogenheit hat Ustvol’skaja nur jene künstlerischen Entscheidungen treffen können, die unter den entsprechenden historischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen innerhalb der maßgebenden Felder denkbar waren. Der Weg, Ustvol’skajas Position in ihrer kulturellen Umgebung zu beschreiben, ist mit erheblichen Schwierigkeiten gepflastert. Zum einen muss konstatiert werden, dass auch heute noch große Probleme in Hinblick auf die »Lesbarkeit« sowjetischer Musik bestehen. Zunächst einmal ist vieles im »Westen« nach wie vor kaum bekannt, oftmals auch schwer greifbar. Das gilt ganz besonders für die Zeitspanne zwischen den 1930er und den 1960er Jahren, also genau für jene Phase, in der Ustvol’skaja ihr kompositorisches Profil entwickelt hat. Besser steht es um Kenntnisse über die pluralistische Szene in den 1920er Jahren, und vor allem dann um die verschiedenen Ausprägungen der sowjetischen Avantgarde, die ab den 1960ern nach und nach in Erscheinung getreten sind (Edison Denisov, Alfred Šnittke, Arvo Pärt, Sofija Gubajdulina u. a.). Aber was kennt man aus der Zeit dazwischen – ausgenommen Šostakovič? Zwar hat sich der Informationsstand im Westen in den letzten 144
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zehn Jahren, durch einige Bände der studia slavica musicologica (Bd. 25, 30, 31) und vor allem durch Dorothea Redepennings grandiose Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik (2008) einigermaßen erhöht, trotzdem überwiegen die Lücken. Dazu kommt noch, dass allzu einfache SchwarzWeiß-Bilder (Regimekritisches versus Regimefreundliches) schwer auszumerzen sind; vieles wird unter der Rubrik Sozialistischer Realismus abgehakt und nicht weiter ernst genommen. Wer kann schon mit Namen wie Šebalin, Mjaskovskij, Šaporin, Popov, Levitin, Sviridov, Bucko, Petrov oder Ščedrin – allesamt vieldiskutierte Persönlichkeiten im sowjetischen Musikleben – Näheres verbinden? Dabei zeigt Redepennings Abhandlung, dass selbst in Zeiten des düstersten Stalinismus nicht alles in einen Topf geworfen werden kann. Und die Perspektive, dass im Vergleich zur zeitgleichen Darmstädter oder New Yorker Kompositionsszene alles hoffnungslos rückständig sei, ist wohl etwas zu einfach gestrickt. Man müsste schon versuchen, die Kompositionen aus ihrem historischen und geographischen Ort heraus zu verstehen. Die lückenhaften Kenntnisse über die sowjetische Musik des zweiten Jahrhundertdrittels einerseits, und die mittlerweile kaum mehr überschaubaren Studien zu Šostakovičs andererseits rücken diesen in eine überdimensionale Stellung, die kaum angemessen erscheint. Zum anderen ist an die nun schon oftmals erwähnte Zurückgezogenheit und verbale Zurückhaltung Galina Ustvol’skajas zu denken. Über weite Teile ihres biographischen Weges gibt es über die Notentexte hinaus so gut wie keine, oder allenfalls wenige punktuelle Zeugnisse, die genauere Einblicke in ihr Denken und Handeln geben könnten. Schon die familiären Verhältnisse müssen weitgehend im Dunkeln verbleiben. Von Interesse wäre beispielsweise, ob die Tatsache, dass ihr Vater aus einer Priesterfamilie stammte, noch irgendwelche Konsequenzen für das Familienleben hatte. Man weiß ja, dass trotz aller staatlichen Restriktionen religiöse Praktiken im privaten Bereich weiterhin gepflegt worden sind. Es gibt aber keine Indizien, dass Galina Ustvol’skaja auf diese Art etwa mit orthodoxen Kirchengesängen in Berührung gekommen wäre. Besuche von Konzerten oder Musiktheateraufführungen gab es sowohl auf familiärer Ebene als auch während des Studiums, allerdings lässt sich schwer sagen, in welchem Umfang, und welche Musik sie dadurch kennengelernt haben könnte. Durch das Studium bei Šostakovič ist sie auf jeden Fall mit weiten Teilen der Kompositionsgeschichte konfrontiert worden; ein erheblicher Teil des Unterrichts bestand aus der Auseinandersetzung mit Komponisten bzw. Werken, die ihr Lehrer für maßgeblich hielt. Und dieses Spektrum war durchaus weitgestreut. Die kärglichen Hinweise über das Studium von ihrer Seite, in Verbindung mit den Mitteilungen einiEinleitung
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ger ihrer Schüler über Ustvol’skaja als Lehrerin, lassen insgesamt immerhin einen kleinen Überblick über ihre Vorlieben und Abneigungen erkennen: Gemeinsam mit Šostakovič hatte sie eine große Vorliebe für die Sinfonik Mahlers, gemeinsam war auch die Ablehnung alles Pathetisch-Überladenen (Wagner, Skrjabin). Von ihren Schülern erfährt man, dass sie an Stravinskij und an Webern die Fähigkeit zu Kürze und Beschränkung hoch schätzte; empfohlen habe sie überdies den Besuch des Boris Godunov von Modest Musorgskij. Wie weit Ustvol’skaja mit der jeweiligen zeitgenössischen Kompositionslandschaft, der sowjetischen wie auch der westlichen, vertraut war, lässt sich desgleichen schwer sagen. Einiges aus der sowjetischen Kompositionslandschaft hat sie sicherlich kennengelernt, da Šostakovič mit seinen Schülern und Schülerinnen immer wieder auch Konzerte besucht hat. Wie stark hat die spezifische Situation in Leningrad ihren Weg mitbestimmt? Viele Beobachter verbinden mit den beiden großen urbanen Zentren in der Sowjetunion, Moskau und Leningrad, sehr unterschiedliche kompositorische Verhältnisse. Detlef Gojowy etwa sieht im Moskau der ersten Jahrhunderthälfte des 20. Jahrhunderts stärker eine »spätromantische Moderne« verankert, gekennzeichnet u. a. durch die vertikale Kontinuität der Harmonik und organische Formstrukturen, während in Leningrad eine »lineare Moderne« vorgeherrscht habe, deren Linearität auf harmonische Diskontinuität ziele, und die formal stärker durch architektonische Dispositionen bestimmt gewesen sei (Gojowy 1980, S. 81f.). Bei stark mit Leningrad verbundenen Komponisten wie Lev Knipper (1898-1974), Vladimir Ščerbačëv (1889-1952), Vissarion Šebalin (1902-1963), Gavriil Popov (1904-1972) oder Dmitrij Šostakovič (1906-1975) seien diese Tendenzen deutlich zu beobachten. Dabei handelt es sich zweifellos um grobe Charakterisierungen, die der genaueren Differenzierung bedürften (s. Gojowy 1980, S. 215-296). Aber auch der zeitgenössische Beobachter und Mitgestalter des Leningrader Musiklebens, Boris Asaf ’ev, sprach von einer Leningrader Schule mit Vladimir Ščerbačëv als Kopf, die durch folgende Aspekte zu charakterisieren wäre (vgl. Haas 1998, S. 40ff.): – Der Emotionalität verschrieben (optimistisch, mutig), aber dennoch mit ausgeprägten konstruktiven Konzepten verbunden; – geprägt durch eine energetische musikalische Weltanschauung (Musik als dynamischer Prozess); – Form ergebe sich aus der musikalischen Bewegung, nicht durch vorgegebene Schemen;
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– bestimmend sei die Linearität, Harmonik würde weitgehend ignoriert (ebenso die Rhythmik).
Diese Einschätzung entspricht allerdings in hohem Maß Asaf ’evs eigenen ästhetischen Positionen. Mit etlichen der oben genannten Persönlichkeiten ist Ustvol’skaja im Zuge ihres Studiums, möglicherweise auch danach als Lehrerin oder als Mitglied des Komponistenverbandes, zumindest in Berührung gekommen. Ob deren Musik in ihrer Ausbildungsphase ein Bezugspunkt war, bzw. ob das auch bei ihr klar dominierende lineare Denken aus dem beschriebenen Milieu heraus entstanden ist, lässt sich allerdings nicht ermessen – sie selbst hätte es zweifellos verneint. Aus dem Westen war in den 1940er und 1950er Jahren im öffentlichen Musikleben wie auch im Musikalienhandel natürlich kaum etwas präsent, schon gar nichts von der avancierteren Seite. Von Margarita Mazo, die in den 1960ern und 1970ern in Leningrad studierte, erfahren wir, dass es noch zu dieser Zeit einer besonderen Erlaubnis bedurfte, Musik von Schönberg oder Stravinskij in der Bibliothek des Konservatoriums zu studieren oder anzuhören (Mazo 1996, S. 377). Wohl aber gab es vom sowjetischen Komponistenverband, dem Ustvol’skaja ja angehörte, Hörveranstaltungen, wo durchaus auch »formalistische Verfehlungen« der westlichen Avantgardeszene angehört und diskutiert worden sind. Zwar gibt es keine Hinweise, dass sie je daran teilgenommen hätte, aber auszuschließen ist es auch nicht. Zumindest für die Zeit ihrer Aspirantur (1947-1950) oder in den Jahren danach wäre es durchaus denkbar. Außerdem hat sie auch als Lehrerin mit ihren Schülern offenbar des Öfteren das Haus des Komponistenverbandes aufgesucht. Leider erfahren wir von ihrem Schüler Semën Bokman, von dem dieser Hinweise stammt, nicht, was dort passierte (Bokman 2007, S. 23). Spätestens ab ihrer Pensionierung habe sie Konzertveranstaltungen des Komponistenverbandes nur mehr in den seltenen Fällen aufgesucht, als ihre eigenen Werke am Programm standen (Bagrenin, Juli 2012). Die letztlich entscheidende Frage besteht aber darin, was für die Ausprägung ihrer musikalischen Denkweisen maßgebend war, und der lässt sich nur durch eine Auseinandersetzung mit den Notentexten näherkommen. Im Folgenden soll zunächst einmal versucht werden, die wesentlichsten Grundlagen ihres musikalischen Stils zu umreißen.
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Spezifische Charakteristika Gibt es ein Kompositionssystem? In der Literatur über Galina Ustvol’skaja begegnet man einigen Indizien, die auf die Entwicklung eines spezifischen Kompositionssystems, womöglich auf verschlüsselter Basis, verweisen könnten. Einen Hinweis liefert ihr Schüler Semën Bokman: Im Unterricht hätten sich Schüler gelegentlich nach Serieller Musik erkundigt; bzw. ob es möglich wäre, diese zu studieren, und ob sie dabei behilflich sein könnte. Bokman erinnert sich an folgende Antwort Ustvol’skajas: »I can, of course, but why do you need to tie yourselves to any particular system now? Why do you need somebody else’s system? Invent your own. I am, you know, inventing my own system.« In diese Aussage sollte nicht allzu viel hineininterpretiert werden. Zum einen handelt es sich um ein Zitat aus der Erinnerung, dessen Wortlaut auch etwas anders gelautet haben könnte; und zum anderen könnte Ustvol’skaja mit dem Begriff »System« in dieser Situation auch einfach ihre Kompositionsweise in unspezifischer Hinsicht gemeint haben. Ein weiteres Indiz stammt vom Musikpublizisten Ronald Weitzman, der in einer Besprechung verschiedener CD-Aufnahmen Folgendes kundtut: »In London I have met a Catholic nun who can read the ciphers that lie within the interval relations (and presumably the countless chord clusters) of Ustvol’skaja’s compositions, and who has corresponded with and received phone calls from the composer. I hope this sister will publish what, through diligence and through grace, has been given her to know, so that we might begin to discern whether this information is of objective value in helping us further to understand Ustvol’skaja’s music.« (Weitzman 1996, S. 44)
Der Hinweis, dass geheime Zahlenproportionen die intervallischen Verhältnisse im Tonsatz der Musik Ustvol’skajas regeln würden, passt natürlich genau in die Aura des Geheimnisvollen, die bis zu einem gewissen Grad von der Komponistin selbst etabliert worden ist. Bezeichnend ist, dass dieses Zitat, das seither natürlich in verschiedenen Texten aufgegriffen und damit verbreitet worden ist, völlig isoliert im Raum steht. Auch von Ol’ga Gladkova, die als Kompositionsschülerin und Biographin womöglich den besten Draht zu ihrer Lehrerin hatte, erfahren wir nichts, was diese Aussage in irgendeiner Weise untermauern würde. Trotzdem ist damit offenbar eine bohrende Frage in die Welt gesetzt worden, die so manche WissenschaftlerInnen 148
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umtreibt. Auch Ulrich Tadday, der Herausgeber des hervorragenden Bandes der Musik-Konzepte über Galina Ustvol’skaja, spricht davon, wie schwierig es für uns sei, den »verschlüsselten Code der Kompositionen Ustvol’skajas zu dechiffrieren«. (Tadday 2009, S. 4) Allerdings dürfte auch Taddays Aussage nicht wörtlich aufzufassen sein. In der einzigen umfassenderen analytischen Auseinandersetzung bislang, in der die Frage nach Zahlenverhältnissen eine Rolle spielte, stellte Stefan Weiss immerhin eine Bedeutung proportionaler Dimensionen für die formale Ebene in den Raum: Für das Verhältnis der Abschnitte der 4. Klaviersonate zueinander erachtete er ein mehrfach zu beobachtendes Verhältnis von (n+1):n als charakteristisch (Weiss 2009, S. 32). Ähnliche Proportionen lassen sich auch in anderen Stücken Ustvol’skajas aufspüren, so etwa im ersten Teil der 5. Klaviersonate. Auch der Bedeutung der Zahl 3, die Marian Y. Lee für den Verbund der drei Kompositionen in den Raum stellt, mag man einiges abgewinnen; aber auch hier geht es nicht um Zahlenproportionen, die das gesamte intervallische Gefüge durchziehen würden, sondern um eher äußerliche Charakteristika (Lee 2002, S. 45ff.): Drei Kompositionen, drei Instrumente in der Komposition Nr. 1, Dreiergruppen in den anderen Kompositionen, jeweils drei grundlegende Motive (darüber ließe sich schon streiten). In einem telefonischen Interview, das Lee bemerkenswerter Weise mit Ustvol’skaja führen konnte, habe die Komponistin allerdings jegliche symbolische Bedeutung von Zahlen in ihren Stücken von sich gewiesen (ebd., S. 45). Auch in Hinblick auf die Zahl 6 wären einige Auffälligkeiten zu entdecken: So sind etwa die Clusterabschnitte in der 6. Klaviersonate durch Formationen von Vierteln bestimmt, die sich immer in Sechsergruppen zusammenfassen lassen. Und: Die Besetzung der 2. Sinfonie besteht aus 6 Flöten, 6 Oboen, 6 Trompeten und 6 restlichen Instrumenten (wenn man den Canto dazuzählt). Ob und inwiefern Zahlenproportionen über die Dimension der angeführten Beispiele hinausgehend eine Rolle spielen, bedarf noch weiterer analytischer Untersuchungen. Dass sie für die intervallischen Proportionen generell eine besondere Rolle spielen könnten, würde ich eher bezweifeln: Wie sollten diese etwa im Falle des ersten Satzes der Komposition Nr. 1 aussehen, der fast zur Gänze aus Sekunden besteht? Aber selbst wenn sich dahingehende Befunde ergeben würden, würde ich deren Relevanz nicht allzu hoch veranschlagen, etwa in der Weise, dass dann ein kompositorischer Code geknackt, oder gar »der« Schlüssel für alle Stücke gefunden wäre. Allenfalls wäre damit ein Teilbereich kompositorischen, oder konzeptionellen Denkens beleuchtet, der wenig oder gar keine Relevanz für die Wahrnehmung der Stücke nach sich zöge. Was noch gegen die Einbeziehung von allzu ausgeGibt es ein Kompositionssystem?
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feilten Zahlenproportionen spricht, ist die Tatsache, dass Ustvol’skaja offensichtlich keine Skizzen gemacht hat, sondern die Stücke immer unmittelbar zu Papier brachte, wenn auch sehr langsam. Nach einhelligen Bezeugungen der Schüler hat sie dabei nicht am Klavier gearbeitet, sondern sich gänzlich auf ihre musikalische Vorstellungsgabe verlassen. Gelegentlich wird auch darauf verwiesen, dass Ustvol’skaja bestimmte Skalen bevorzugt herangezogen hätte. Kiralina Južak nennt neben der phrygischen die »alexandrinische« Skala (auch als »Skrjabins Modus« bezeichnet – er verweist auf eine Folge von Ganz- und Halbtönen: 1 – 1/2 – 1/2 – 1/2 – 1 – 1/2 – 1/2; oder in Tönen: c – d – dis – e – f – g – as – a), die auch bei Šostakovič eine wichtige Rolle spielen würde ( Južak 1979, S. 90). Zu beobachten wäre das etwa am Ende des 8. Präludiums, im Grand Duet für Violoncello und Klavier, oder der Sonate für Violine und Klavier. Das mag im Einzelnen zutreffen. Wenn jedoch eine Musik zu einem großen Teil aus Sekundschritten besteht, so wird es sich kaum vermeiden lassen, punktuell auf Analogien oder Ähnlichkeiten mit diversen Skalen zu treffen. Jedenfalls kann ich nicht sehen, dass Ustvol’skaja die genannten Skalen in systematischer Art und Weise verwendet hätte. Unbestreitbar ist dagegen, dass Galina Ustvol’skaja in einer ganz besonderen Weise auf Eigenständigkeit und Unabhängigkeit bedacht war: »Alle meine Werke sind geistig selbständig, mein Schaffen ist mit keinem anderen Autor in irgendeiner Weise verbunden. Leider denken Musikwissenschaftler normalerweise schablonenartig und beginnen vor allem, nach Verwandtschaften zu suchen. Schaffen beginnt aber wesentlich bei der Eigenständigkeit. Jedes Talent, auch das winzigste, ist nur dort interessant, wo es sich selbst findet. Es beginnt sofort uninteressant zu werden, wo es nichts Eigenes vorweisen kann.« (Brief an den Sikorski-Verlag vom 17. Mai 1988)
Auch in ihrem Text Meine Gedanken über das Schöpferische kommt das immer wieder zum Ausdruck: Ihre Musik sei »gedanklich und inhaltlich neu«, und deshalb müsse sie, anders als die vorliegenden Urteile, die »zu althergebracht« seien, auch neu gehört werden. Um diesem selbstgestellten Anspruch zu genügen, hat sie an einem Werk offenbar sehr lange gearbeitet und gefeilt. Einiges hat sie wohl während des Kompositionsprozesses verworfen, einiges erst nachträglich. Vehement wendet sie sich gegen Vielschreiber: »Ich glaube nicht an jene, die hundert, zweihundert, dreihundert Werke schreiben. Eingeschlossen Dmitrij Dmitrijevič Šostakovič. Man kann in so einem Meer von Werken nichts Neues mehr sagen. In jedem dieser Werke! Das
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ist unaufrichtig! Dafür gibt es in der Geschichte viele Beispiele.« (Ustvol’skaja 2000, S. 23)
Natürlich könnte man ihr bezüglich dieser Argumentation vorhalten, dass etwa ein Komponist wie Igor’ Stravinskij, den sie sehr geschätzt hat, auch nicht weniger komponiert hat als Šostakovič. Wenn im Folgenden versucht wird, die Eigenständigkeit der Kompositionen Galina Ustvol’skajas in ihren wesentlichen Grundlagen zu erfassen, so will sich dieser Versuch nicht darin erschöpfen, bloß die sinnliche Oberfläche zu beschreiben. Vielmehr muss es auch darum gehen, die dahinterstehenden Haltungen aufzuspüren und diese in ihren Entstehungsgrundlagen im künstlerischen »Feld« zu verorten. Die Reihenfolge der Darstellung ist zumindest bis zu einem gewissen Grad durch die Signifikanz der Charakteristika bestimmt. Die überblickende Betrachtung der Werke ist aus Gründen der Darstellung zunächst durch eine sezierende Perspektive gekennzeichnet. Damit soll allerdings keineswegs der Eindruck erweckt werden, dass es sich um isolierte musikalische Mittel handeln würde. Vielmehr lässt sich daraus ein Netzwerk von kompositorischen Strategien ableiten, das einer außergewöhnlichen künstlerischen Ästhetik Ausdruck verleiht. So haben etwa die reduktiven Techniken, die Fokussierung auf elementare Ebenen des Musikalischen, wie auch die Vermeidung von Hierarchien viel zu tun mit der Abkehr von einem narrativen Gestus. Diesem Zusammenwirken soll dann in der speziellen Betrachtung einzelner Werke oder Werkgruppen Rechnung getragen werden (Kap. Spezifische Werkbetrachtungen). Kumulation extremer Ausdrucksmittel Das augen- und »ohren«scheinlichste Merkmal der Musik Galina Ustvol’skajas ist sicherlich die außergewöhnliche Häufung extremer Ausdrucksmittel. Nicht zuletzt dadurch wird ihre Musik unverkennbar. Das gilt insbesondere für die späteren Werke, aber auch für einige der frühen, wenn man etwa an das Oktett oder an die eine oder andere Klaviersonate denkt. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass es kaum eine andere Komponistin oder einen anderen Komponisten im 20. Jahrhundert gibt, der eine ähnlich unverkennbare musikalische Sprache entwickelt hätte. Zumindest ab den Kompositionen sind alle ihre Werke schon nach wenigen Klängen eindeutig zuzuordnen, und das hat nicht zuletzt mit der geradezu obsessiven Ausreizung bestimmter Stilmittel zu tun. Kumulation extremer Ausdrucksmittel
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Die extreme Ausreizung erstreckt sich auf zahlreiche kompositorische Mittel, wobei die Dynamik wohl der auffälligste Bereich sein dürfte. Bereits im frühen Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauken (1946) reicht die Spannweite vom dreifachen Piano (Ziffer 12) bis zum vierfachen Fortissimo, mit dem das Werk schließt; im vierten Satz des Oktetts (1949/50) begegnet man einem fünffachen Piano (Ziffer 35), das unmittelbar von einem dreifachen Fortissimo umrahmt wird. Schon im Vergleich der beiden genannten Stücke ist eine generelle Tendenz im Umgang mit der Lautstärke zu beobachten: Im Klavierkonzert ist die Dynamik fast durchwegs großflächiger eingesetzt, des Weiteren oftmals im Rahmen von konventionellen Steigerungsprozessen. Das Andante cantabile (ab T. 44) etwa beginnt sehr verhalten und wird nach und nach zu einem Fortissimo geführt (T. 63), das zum wuchtigen Pesante-Abschnitt (T. 70) überleitet. Derartige Steigerungsprozesse werden bereits im Oktett seltener und sind in den späteren Stücken kaum mehr zu finden. Auch die im Oktett (im Unterschied zu den späten Werken) immer noch häufigen Crescendi sind nicht mehr in großräumige Prozesse eingebunden, haben nur mehr lokale Funktion. Das heißt: Der Einsatz der Dynamik entfernt sich schon in den frühen Stücken von der anfänglich noch zu beobachtenden Unterstützung eines konventionellen narrativen Gestus hin zu blockhaften, abrupten Reihungen, verbunden mit einem deutlichen Anwachsen der extremen Bereiche, die immer wieder in scharfen Kontrasten gegenübergestellt werden. Ebenso begegnen bereits im Oktett geradezu als obsessiv zu bezeichnende Passagen, wo über weite Strecken eine extreme Lautstärke durchgehalten wird: Im zweiten Satz muss der Pianist ab T. 123 zuerst solistisch und ab T. 139 im Verbund mit dem ganzen Ensemble bis zum Schluss des Satzes ein hämmerndes ffff insistierend beibehalten. Die große Lautstärke ist somit nicht länger Kulminationspunkt einer Entwicklung, sondern etwas Zuständliches. Am Beginn dieses Abschnitts taucht auch jene Ausführungsanweisung – offenbar zum ersten mal – auf, die zu einem der Markenzeichen von Galina Ustvol’skajas Musik wird: expressivissimo. Ausgedehnte Klangkaskaden im extremen dynamischen Bereich, oftmals unter Aussparung des mittleren Bereichs, werden insbesondere in den späten Werken in außergewöhnlicher Weise ausgereizt; als Beispiel sei auf den fünften Abschnitt der 5. Klaviersonate verwiesen, wo die InterpretInnen mit den Knöcheln der linken Hand nicht weniger als 141mal einen viertönigen Cluster anschlagen müssen, mit einem Lautstärke-Pegel von fff bis zu ffffff. Bezeichnenderweise wird diese Klangorgie mit wenigen sehr leisen Klängen konfrontiert (s. Notenbeispiel 9, im Anhang). Für derart ausgedehnte Abschnitte mit exzessiver Lautstärke ließen sich noch etliche 152
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weitere Beispiele finden, besonders ausgeprägt etwa in der Komposition Nr. 2 mit dem bezeichnenden Untertitel »Dies irae«. Nachdem sich fast das ganze Stück im dynamischen Extrembereich abgespielt hat, wird dieser Pegel zum Schluss hin nochmals überboten: Durch anhaltende fffffsf-Klänge werden sowohl die InterpretInnen (8 Kontrabässe, Holzwürfel, Klavier) als auch das Publikum auf das Äußerste gefordert. Viele Stücke Galina Ustvol’skajas erfordern von den Ausführenden zweifellos außergewöhnliche körperliche und auch mentale Qualitäten; die Ausführung des oben gezeigten fünften Abschnitts aus der 5. Klaviersonate geht wohl an die Schmerzgrenze – oder darüber hinaus, wenn man sich vorstellt, solche Passagen mehrmals zu üben. Kein Wunder, wenn etwa der Pianist Markus Hinterhäuser meint, dass dieser Teil »etwas von einer Kreuzigung« an sich habe (vgl. Nauck 2007, S. 38). Andere Beobachter haben im Kontext derartiger Passagen das Bild einer mittelalterlichen Selbstkasteiung ins Spiel gebracht; Marina Lobanova sieht hinter derartigen Stücken gar den »strafenden Gott« des alten Testaments oder »zornige Gottheiten des vorchristlichen heidnischen Altertums« (Lobanova 1999, S. 54). Die Tendenz zu dynamischen Extremen lässt sich in verschiedenen Bereichen der Kompositionsgeschichte seit der Mitte des 20. Jahrhunderts beobachten. In einem Sammelband mit dem bezeichnenden Titel Hörstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert beschreibt Dörte Schmidt eine ganze Reihe von akustischen Überschreitungen im Bereich der Neuen Musik. Für diese Überschreitungen stellt Schmidt zwei Konsequenzen in den Raum, die auch für die Musik Ustvol’skajas ins Treffen geführt werden können: »Nicht nur setzt extreme Lautstärke den Klang selbst auf eine spezifische Weise frei – ein Klang, der an der oberen Grenze der vom Instrument leistbaren Lautstärke gebildet wird, ist im Grunde in ähnlicher Weise durch den Ausführenden unbeherrschbar, wie ein Klang in extremer Lage. Das hat zwei bemerkenswerte Effekte: Zum einen setzen extrem laute Klänge die Bedeutung des Handwerks für die Erzeugung von Klang außer Kraft. […] Zum zweiten und vor allem verändert extreme Lautstärke das Verhältnis zum Hörer massiv – von kaum etwas kann man sich so schwer distanzieren wie von sehr lauten Klangereignissen, sie packen einen geradezu physisch. Sie erzeugen eine Übermacht, die wie ein Versuch anmutet, die philosophisch verlorengegangene Metaphysik auf anderem Wege wiederzugewinnen […] Solcher Übermacht kann man letztlich nur mit eben jener Haltung begegnen, die in der Philosophie im Begriff des Erhabenen aufgehoben ist.« (Schmidt 2005, S. 176f.) Kumulation extremer Ausdrucksmittel
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Für Jean-Francois Lyotard zählt die Kategorie des Erhabenen zu den Grundzügen avantgardistischer Kunst (Lyotard 1984, S. 151-164). Wenn er im Versuch des Künstlers, das »Nicht-Darstellbare« darzustellen, den Ausdruck des Erhabenen verortet, so lässt sich diese zunächst aus der Bildenden Kunst gewonnene Perspektive auch auf die Musik übertragen: Hier könnte es um das »Hier und Jetzt« des Klanglichen gehen, das die Hörenden überwältigt und das auch nachträglich nicht entschlüsselt werden könne – bzw. dessen Entschlüsselung nichts mehr mit der Kategorie des Erhabenen zu tun hätte (vgl. Holzer 2011, S. 105f.). Viele kompositorische Strategien Ustvol’skajas sind darauf ausgerichtet, dieses »Hier und Jetzt« des Klanglichen zu gewährleisten – oder umgekehrt: die Ablenkung davon zu vermeiden. Zu denken ist an die Akzentuierung jedes einzelnen Tones/Klanges sowie die Vermeidung traditioneller melodischer Bögen, in denen das einzelne Ereignis einem übergeordneten Vorgang unterzuordnen wäre. Zu denken ist nicht zuletzt an die Abkehr von (funktionsharmonischer) Tonalität, deren Spannungsmomente von der momentanen elementaren Äußerung ebenfalls ablenken würden. Ustvol’skajas Wunsch, ihre Musik nicht zu analysieren, wird wohl auch mit diesem Aspekt zu tun haben. In den oben gezeigten Beispielen wurde neben den außergewöhnlichen dynamischen Dispositionen und den exorbitanten physischen Anforderungen natürlich noch ein weiteres Extrem greifbar: die extrem hohe Anzahl an Wiederholungen. Repetitionen begegnen im Werk Ustvol’skajas in allen Varianten, es gibt sowohl wörtliche als auch solche in abgewandelter Form. Über die spezifischen musikalischen Funktionen kann nur durch Analyse der jeweiligen Einzelfälle etwas gesagt werden; dennoch sind es, neben dem reduktionistischen Charakter ihrer Musik, insbesondere die Wiederholungen, die eine Deutung in Richtung Ritual nahelegen. Ein weiteres typisches Extrem ist in der Konfrontation unterschiedlicher klanglicher Register zu sehen, die wahrscheinlich in der Komposition Nr. 1 ihre stärkste Ausprägung findet. Schon am Beginn folgt dem Bassregister der Tuba die ganz hohe Region in der Piccoloflöte, in die an dieser Stelle auch das Klavier, das vermitteln könnte, einstimmt (s. Notenbeispiel 16, im Anhang). Eine vermittelnde Rolle des Klaviers sucht man im gesamten Stück vergebens, zumal die drei Instrumente fast ausschließlich in Duokombinationen eingesetzt werden. Zwar werden sämtliche Register des großen Umfangs ins Spiel gebracht, niemals aber innerhalb eines Abschnitts in Form typischer pianistischer Gesten, wie Läufe oder vollgriffige Passagen. Der Ambitus wird demnach weder auf akkordischer Ebene noch im Hinblick auf die linearen Abläufe, die sich zumeist auf Ein- bis Zweistimmigkeit beschränken, ausge154
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nützt; zumeist verbleibt die Lage innerhalb eines Abschnitts in einem relativ engen Klangraum. Und wenn dieser Klangraum verlassen wird, dann oftmals abrupt, und nicht etwa durch Skalen verbunden. Daraus resultiert ein für Ustvol’skajas Komponieren so wichtiges Denken in Klangschichten, die den Raum unterteilen. Gerade in der Komposition Nr. 1 zeigt sich deutlich auch die formstiftende Funktion dieser Schichtungstechnik. In diesem Stück ergibt sich die Konfrontation exponierter Register natürlich schon durch die Besetzung: Klavier, Piccoloflöte, Tuba. Diese Tendenz zu ungewöhnlichen Klangkonstellationen ist auch schon in frühen Stücken zu finden, erstmals im Oktett (1949/50), wo zwei Oboen, vier Violinen, Klavier und Pauken miteinander kombiniert werden. Zunächst überwiegen allerdings noch konventionellere Besetzungen: Neben den solistischen Klavierstücken trifft man auf ein Trio für Klarinette, Violine und Klavier, auf verschiedene Duokombinationen und auf Orchesterwerke, deren Besetzungen durchaus im üblichen Rahmen anzusetzen sind. Auch in Hinblick auf die Instrumentierung überwiegen zunächst eher traditionelle Vorgehensweisen, etwa dahingehend, dass der Streicherapparat als homogener Korpus eingesetzt wird. Das letzte konventionell besetzte Stück ist das 1964 komponierte Duet für Violine und Klavier, übrigens die einzige vollendete und akzeptierte Komposition in einem Jahrzehnt des Schweigens. Nach dieser Phase des Schweigens komponierte sie, abgesehen von den Klaviersonaten, nur noch ungewöhnlich besetzte Stücke. Das gilt auch für die späten Sinfonien, deren Besetzungen so gar nichts mit dem konventionellen Sinfonieorchester zu tun haben. Den Extremfall bildet hier die 4. Sinfonie »Gebet« (1985-87), die sich auf bloß vier Mitwirkende beschränkt: Trompete, Tam-Tam, Klavier und Altstimme. Nach dieser kurzen Skizzierung der Anwendung extremer musikalischer Ausdrucksmittel stellt sich die Frage, ob Galina Ustvol’skaja damit im Rahmen ihres kompositorischen Umfeldes tatsächlich eine so singuläre Position eingenommen hat. Als Ausgangspunkt für die Beantwortung beziehe ich mich auf einen Vergleich, den Dorothea Redepenning angestellt hat: Zwischen 1974 und 1979 hat Alfred Šnittke vier Hymnen komponiert, deren Besetzung in ähnlicher Weise wie Ustvol’skajas Kompositionen durch ungewöhnliche Kombinationen gekennzeichnet ist (I: Cello, Harfe, Pauke; II: Cello, Kontrabass; III: Cello, Fagott, Cembalo, Glocken oder Pauken; IV: alle genannten Instrumente zusammen). Des Weiteren bevorzugt auch Šnittke in diesen Stücken die extremen Register, unter weitgehender Aussparung der Mittellage. Sicherlich ließen sich diesem Beispiel noch ähnlich geartete hinzufügen. Wenn Redepenning daraus folgert, dass derartige VerKumulation extremer Ausdrucksmittel
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fahren »ins Vokabular sowjetischer Komponisten gefunden« hätten (Redepenning 2009, S. 14), so ist dem zwar grundsätzlich zuzustimmen, muss aber doch relativiert werden. Gerade bei Šnittke, aber auch bei etlichen anderen Komponisten dieser Generation, ist festzustellen, dass nach einer Phase des Experimentierens Ende der 1960er und in den 1970er Jahren eine deutliche Rückkehr zu konventionelleren Besetzungen zu beobachten ist, während Ustvol’skaja diesen eingeschlagenen Weg weiter beschreitet. Darüber hinaus hat sie auch schon viel früher derart ungewöhnliche Klangvorstellungen verfolgt, etwa im Oktett (1949/50). Ähnliches kann mit Blick auf die anderen Parameter gesagt werden: Natürlich findet man auch anderswo starke dynamische Kontraste, besonders ausgeprägt etwa in Sinfonien von Gija Kančeli, aber niemand ging so weit, und für niemanden wurde daraus ein derart zentrales Charakteristikum der musikalischen Sprache, schon gar nicht in den 1950er Jahren. Dazu muss bedacht werden, dass in den außergewöhnlichen dynamischen Dimensionen nicht bloß ein äußerliches Mittel gesehen werden darf, vielmehr verändert sich damit die Substanz der Sache selbst. Dazu ein Beispiel: Natürlich ist der Beginn des sechsten Teiles der 5. Klaviersonate ein zweistimmiger Kontrapunkt. Durch den extrem lauten Anschlag dürfte die Wahrnehmung aber stärker auf die klangliche Ebene gelenkt werden als auf den Verlauf zweier melodischer Linien:
Notenbeispiel 17: 5. Klaviersonate, S. 17, Beginn Teil 6 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Insgesamt kann also resümiert werden, dass Ustvol’skaja in der Wahl extremer Ausdrucksmittel zwar nicht isoliert dasteht, letzten Endes aber derart spezifische Ausdrucksebenen erreicht hat, dass ihre Stücke dennoch mit Recht als einzigartig zu bezeichnen sind.
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Reduktion als kritischer Aspekt Die Reduktion musikalischer Mittel kann als ästhetische Strategie bezeichnet werden, die Galina Ustvol’skaja in weiten Bereichen ihrer kompositionstechnischen Instrumentarien angewendet hat. Sie betrifft die oftmals auf Sekundschritte reduzierte Melodiebildung ebenso wie den rhythmischen Gestus, der sich vor allem in den späteren Werken immer mehr auf einen unerbittlich dahinschreitenden Viertelpuls beschränkt, jenseits eines metrischen Rasters. Eine Tendenz zur Reduktion zeigt sich des Weiteren in den Besetzungen: Während die früheren Orchesterwerke noch am traditionellen Umfang orchestraler Besetzungen orientiert sind, begegnen in allen Stücken ab jener Phase des künstlerischen Schweigens, nach der sie die »sowjetische« Schiene endgültig stillgelegt hat, nur noch Ensemblebesetzungen, die selbst in den Sinfonien auf kleinste Formationen beschränkt sein können (im Extremfall der 4. Sinfonie sind es bloß vier Personen). Dazu kommt noch auf satztechnischer Ebene, dass die Zweistimmigkeit überwiegend nicht überschritten wird. Das gilt selbst für das fast in allen Werken beteiligte Klavier, dessen polyphones und akkordisches Potential kaum je zur Entfaltung kommt, nicht einmal im frühen Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauken. In den Triobesetzungen (Trio für Klarinette, Violine und Klavier; Komposition Nr. 1) fällt auf, dass fast ausschließlich nur zwei Instrumente zusammen spielen. Was hat Ustvol’skaja zu dieser Zurücknahme bewegt? Bevor versucht wird, den persönlichen Entscheidungen nachzuspüren, ist es angebracht, sich mit den Hintergründen reduktiver Tendenzen generell zu befassen. Peter Niklas Wilson hat diese in Hinblick auf die Musik (oder allgemein: die Kunst) der letzten hundert Jahre wunderbar zusammengefasst: »Reduktion ist eine ästhetische Strategie. Ihre Mittel lassen sich benennen: Fokussierung auf bestimmte Materialien und Texturen durch rigide Selektion, Veränderung des akustischen Maßstabs, Inszenierung homogener Klangräume durch permanente Klangpräsenz. Doch hinter der ästhetischen Strategie werden oft genug Intentionen erkennbar, die das Reich des Künstlerischen transzendieren, die Ethisches, ja Metaphysisches tangieren. Reduktion ist zunächst eine selegierende, eliminierende, ausgrenzende, umwertende Strategie: Jenes aussperren, was zuvor als wesentlich galt, das Wesentliche anderswo lokalisieren. […] Der negierende Impetus hat persönliche Dialekte, persönliche Feindbilder, doch Hauptgegner sind – in reduktiver Bildender Kunst wie Musik – Narration und Psychologie, Drama, überbordende Subjektivität und Zelebrieren des eigenen Künstlertums.« (Wilson 2003, S. 95) Reduktion als kritischer Aspekt
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Damit sind alle wesentlichen Merkmale reduktiver Strategien angesprochen, die in unterschiedlicher Gewichtung bei allen einschlägigen Tendenzen des letzten Jahrhunderts auszumachen sind. Zu denken wäre hier etwa an Erik Satie, an La Monte Young und die amerikanischen Minimalisten, an Giacinto Scelsi, oder an Morton Feldman. Aber auch in der russisch-sowjetischen Kompositionsgeschichte kann man fündig werden: Wenngleich im Falle Stravinskijs darin nur ein Teilaspekt seiner ästhetischen Gesinnung gesehen werden kann, so war es doch gerade diese Kunst der Beschränkung, vor allem wohl auch die Abkehr vom erzählenden Gestus der romantischen Tradition, die Ustvol’skaja an ihm geschätzt hat. Stravinskijs folgende Äußerung hätte sie wohl in vollem Umfang bestätigt: »Meine Freiheit besteht also darin, mich in jenem engen Rahmen zu bewegen, den ich mir selbst für jedes meiner Vorhaben gezogen habe. Ich gehe noch weiter: meine Freiheit wird umso größer und umfassender sein, je enger ich mein Aktionsfeld abstecke und je mehr Hindernisse ich ringsum aufrichte.« (Burde 1983, S. 212) Im Unterschied zu Stravinskij freilich hat Ustvol’skaja den engen Rahmen, den sie sich schon in frühen Stücken wie dem Oktett oder den Klaviersonaten erarbeitet hat, zumindest in seinen grundlegenden Dimensionen nicht mehr verändert. Man könnte des Weiteren an karge Klavierstücke von Georgij Ivanovič Gjurdžiev und dessen Schüler Thomas de Hartmann denken, deren Musik von ihrer Entstehungszeit am Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute nur kleinen Kreisen vertraut war. Wenngleich Gjurdžiev vor der Revolution einige Jahre in Sankt Petersburg unterrichtet hatte, dürfte das im Musikleben der Stadt kaum Spuren hinterlassen haben, zumal diese Musik in jedem Fall zu jener Spezies gehörte, welche die sowjetische Kulturpolitik möglichst eliminieren wollte. Und das führt wiederum zur Frage, was Ustvol’skaja von all dem Genannten gekannt hat, bzw. überhaupt gekannt haben konnte. Zu hinterfragen ist es, wenn Detlef Gojowy in Hinblick auf die Stücke der beiden soeben erwähnten Komponisten in den Raum stellt, dass ungeachtet der sowjetischen Kulturpolitik deren »untergründige Traditionen unausgelöscht« geblieben wären, »wie eben das Werk von Galina Ustvol’skaja« belegen würde (Gojowy 1997, S. 210). Zwar sehe auch ich mich dem Habitus-Begriff Pierre Bourdieus verbunden, der darin die »zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte« sieht, bzw. die »wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat« (Bourdieu 1987, S. 105). Gerade in dieser Formulierung Bourdieus steckt aber auch die Gefahr einer gewissen Mystifizierung. Wenn man davon ausgeht, dass alles, was in einem bestimmten Kulturraum irgendwann passiert ist, in nicht mehr greifbarer Art und Weise eine irgendwie »wirkende Präsenz« ausübt, so wird der Begriff des Habitus allzu 158
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beliebig und überdies in alle möglichen Richtungen benützbar. Zweifellos ist zuzugestehen, dass nicht alle Denk- und Wahrnehmungsweisen, die in einer Gesellschaft wirksam sind, präzise bis aufs Einzelne auf ihre Ursachen hin analysiert werden können. Aber es wäre vermessen, künstlerische Individuen nur als Aufbewahrungsort für »bereitgehaltene Gedanken« (Bourdieu 1987, S. 127) oder als Medium für die »zur Natur gewordene Geschichte« zu sehen: »Der Habitus funktioniert nicht mechanistisch […] Auf Lernprozesse bezogen bedeutet dies, dass Gelerntes verarbeitet wird. Danach hat man sich den Vorgang der Aneignung des Sozialen – wie überhaupt Lernprozesse – nicht so vorzustellen, als sei das Individuum eine Art Schrank, in dessen Fächer und Schubladen nun soziale Ordnungen, Vorstellungen, Klassifikationsschema, Wissensbestände und so weiter einsortiert würden, gerade so, wie sie in der sozialen Wirklichkeit außerhalb des Individuums vorkommen. Vielmehr wird die Fülle der einzelnen Erfahrungen, die Menschen auf Grund ihrer Tätigkeit in der Welt machen, zu einem komplexen Erfahrungswissen zusammengearbeitet und immer wieder transformiert.« (Krais/Gebauer 2008, S. 63)
Zu denken wäre zunächst demnach an die Erfahrungen Ustvol’skajas im Kontext der verfügbaren Möglichkeiten in Leningrad, das sie ja bis zum Krieg nie verlassen hat. Diesbezüglich gilt es zu bedenken, dass in der Zeit, als sich ihr Interesse an Komposition herausgebildet haben dürfte, die Dogmen des Sozialistischen Realismus bereits ziemlich flächendeckend verankert waren. Dazu gehörte als wesentliches Gebot die Distanzierung von der elitären Komplexität der bürgerlichen, formalistischen, westlichen Musik. Neben den einschlägigen kompositorischen Ausprägungen, welche die Grundsätze sowjetischer Ästhetik ideal verkörperten – wie etwa die zahllosen Massenlieder, aber auch entsprechend komponierte Sinfonien, Oratorien oder Kantaten – gab es aber immer auch Segmente der Kompositionslandschaft, die sich nicht so ohne weiteres in diese Vorgaben einfügten. Das heißt: Es gab immer einen gewissen Spielraum, in dem unterschiedliche Positionierungen möglich waren. Eine Möglichkeit der Abkehr von der sowjetischen Ästhetik, ohne diese zu verletzen, bestand darin, deren Forderungen gewissermaßen zu übertreiben oder zu unterlaufen. Das Postulat der Einfachheit war in typisch »sowjetischen« Stücken in der Regel mit einer Melodiebildung auf tonaler oder modaler Basis verbunden, im Idealfall möglichst nah an volksmusikalischen Vorbildern. Ein Unterlaufen dieser Tendenz könnte darin bestehen, die Melodiebildung auf noch elementarere Aspekte, also etwa auf einen geringeren Reduktion als kritischer Aspekt
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Tonvorrat, oder auf wenige Intervalle, zu beschränken. Zumindest in größerem Umfang lassen sich derartige Vorhaben erst in den 1960er und 1970er Jahren ausmachen, beispielsweise bei Alfred Šnittke, Rodion Ščedrin, Georgij Sviridov oder bei Arvo Pärt. Galina Ustvol’skaja hat dagegen bereits in der Stalin-Ära Stücke komponiert, die auf diese Weise die Postulate des Sozialistischen Realismus konterkariert haben. Betrachtet man die Melodiebildung im Oktett, so verblüffen die in hohem Ausmaß vorherrschenden Sekundschritte, deren Abfolgen sich aber weder auf tonale noch auf modale Skalen zurückführen lassen (s. Notenbeispiel 18, im Anhang). Der elementare Charakter der Sekundfortschreitungen wird noch dadurch verstärkt, dass oft über weite Strecken jede Note durch Akzente hervorgehoben wird (in späteren Werken sind dann tatsächlich oft alle Noten mit Akzenten versehen). In der 2. Klaviersonate kommt zu dieser melodischen Komponente noch die rhythmische Reduktion auf fast ununterbrochen durchlaufende Viertelnotenfolgen hinzu, welcher die Komponistin auch durch die Vorzeichnung eines ¼-Taktes eine besondere Pointierung verleiht. Dazu bedarf es auch keiner Taktstriche mehr (in Zukunft werden diese – abgesehen von den Werken der anderen, der »sowjetischen« Schiene – nur mehr als Orientierungsmarken zum Einsatz kommen). Ein weiteres Mittel der Reduktion schließlich ist die weitgehende Beschränkung auf Zweistimmigkeit:
Notenbeispiel 19: Beginn 2. Klaviersonate © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
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Mit Werken dieser Art gelingt es Galina Ustvol’skaja, die eingefahrenen Bahnen der »sowjetischen« Ästhetik zu verlassen, ohne dezidiert dagegen zu verstoßen, und ohne auf verpönte »westliche« Techniken zuzugreifen. Und in dieser Zeit, um 1950, sind diese Kompositionen durchaus als singulär, und damit als unverkennbar, zu bezeichnen. Auch bei Šostakovič findet man nichts Vergleichbares. Allenfalls wäre es denkbar, die oben beschriebene Melodiebildung mit der alten orthodoxen Gesangskunst in Verbindung zu bringen. Auch diesbezüglich ist darauf zu verweisen, dass der Rekurs auf diese Melodien in größerem Umfang erst ab Ende der 1960er Jahre zu beobachten ist. 1968 erschien die von Nikolaj Uspenskij herausgegebene Sammlung Beispiele altrussischer Gesangskunst, auf die in weiterer Folge zahlreiche KomponistInnen zugegriffen haben. Natürlich gilt es einzuräumen, dass diese Gesänge nie ganz verlorengegangen sind, sondern im privaten Bereich immer weitergepflegt worden sind. Es gibt allerdings keine Hinweise, dass dies im Umfeld Ustvol’skajas der Fall gewesen wäre, und sie hat eine bewusste Bezugnahme auf dieses Repertoire auch verneint. Sowjetische Beobachter allerdings haben darin durchaus den »Ursprung der eigenartigen Ausdrucksweise der Autorin« gesehen (Andreev 1982, zit. nach Gladkova 2001, S. 71). Damit ist hier, wie schon oben angesprochen, eine Problemebene erreicht, die nicht weiter klärbar erscheint. Um 1970 jedenfalls, als Komponisten wie Alfred Šnittke oder Jurij Bucko auf die Weisen der Uspenskij-Sammlung zugriffen, waren die dahinter stehenden Prinzipien der Melodiebildung schon seit zwei Jahrzehnten Teil des substanziellen Vokabulars Ustvol’skajas. Im Unterschied zu vielen anderen Komponisten hat Ustvol’skaja diese Melodien auch kaum zitathaft, und niemals in folkloristischer Manier verwendet. Wenngleich um 1970 in der Sowjetunion reduktive kompositorische Techniken in größerem Umfang zu beobachten sind, so unterscheiden sich diese aber überwiegend von Ustvol’skajas Verfahren. In Šostakovičs 14. Sinfonie op. 135 beispielsweise ist sowohl die Besetzung reduziert (Streicher, Schlagzeuggruppe, 2 Gesangssolisten) als auch das Satzbild, das in manchen Abschnitten auf Ein- oder Zweistimmigkeit zurückgenommen ist. Während Ustvol’skajas reduktive Verfahren zu einem Satz führen, der keinerlei Bezüge zu traditionellen harmonischen Modellen aufweist, spielen diese bei Šostakovič nach wie vor eine zentrale Rolle, auch wenn gerade in dieser Sinfonie harmonisch disparate Passagen einen besonders großen Raum einnehmen. Diesen stehen klar der Dur-Moll-Tonalität verpflichtete, sowie freitonale Abschnitte gegenüber, die zusammen mit auf der Verarbeitung von Zwölftonreihen beruhenden Teilen einen geradezu collageartigen GeReduktion als kritischer Aspekt
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samteindruck ergeben (vgl. Klemm 2001, S. 69ff.). Zweifellos sind sämtliche Techniken im Kontext der Auseinandersetzung mit den Texten zu sehen, die den elf Sätzen zugrunde liegen (sie sind allesamt der Todesthematik verpflichtet). Reduktion ist bei Šostakovič also nur ein Mittel zum Zweck, bei Ustvol’skaja ist sie ein durchgehendes und substanzielles Charakteristikum ihrer musikalischen Sprache. Ähnliches ergibt sich aus Vergleichen mit anderen Komponisten. So entdeckte Dorothea Redepenning etwa bei Georgij Sviridov eine »Simplizität der handwerklichen Grundlagen«, die zu einem »Unterlaufen« oder einer »Übertreibung der offiziellen Stilideale« geführt hätten (Redepenning 2008, S. 584). Dennoch ist auch bei Sviridov eine Nähe zu tonalen, modalen oder auch pentatonischen Modellen durchwegs festzustellen; und auch die vorherrschende Gestaltung weiter melodischer Bögen lässt erst gar keine Gedanken an eine Ähnlichkeit zu Ustvol’skaja aufkeimen. Insgesamt kann gesagt werden, dass Ustvol’skajas Reduktionismus durchaus aus dem Kontext der sowjetischen Kompositionslandschaft heraus zu verstehen ist. Man könnte sich schwer vorstellen, dass diese Musik anderswo hätte entstehen können. Andererseits ist ihr Weg aber doch so spezifisch, dass ihre Werke nicht so ohne weiteres in eine bestimmte Richtung subsumiert werden können. Das gilt in besonderem Ausmaß für Vergleiche mit westlichen Strömungen, die gelegentlich angestellt worden sind, wie jene mit dem amerikanischen Minimalismus. Auch wenn Analogien auf abstrakter Ebene (Wiederholung, Reduktion) nicht in Abrede gestellt werden können, so unterscheiden sich die konkreten Ausprägungen, die einem spezifischen Ausdrucksbedürfnis geschuldet sind, dermaßen, dass die Heraufbeschwörung einer künstlerischen Nähe geradezu absurd wäre. Antihierarchik Das Aufbrechen von Hierarchien könnte im Rahmen der Untersuchung von Galina Ustvol’skajas kompositorischen Strategien auch unter dem vorangegangenen Kapitel über die Reduktion abgehandelt werden, nämlich im Sinne einer Reduktion auf das Wesentliche. In ihren Werken – gemeint sind hier vorrangig die von ihr autorisierten Stücke – gibt es nur »Hauptsachen«: – frei von vorgegebenen metrischen Betonungen hat zumindest tendenziell jede Note gleiches Gewicht;
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– im Verbund des musikalischen Satzes gibt es keine Haupt- und Nebenstimmen, sondern nur gleichrangige musikalische Linien, die allenfalls, aber sehr selten, dynamisch differenziert sind; – es gibt weder Einleitungen, die zum Wesentlichen hinführen würden, noch Überleitungen oder Ausklingendes; – es gibt keine Ornamentik; – wenngleich syntaktische Einheiten beschrieben werden können, wären Bezeichnungen wie »Motiv« oder »Thema insofern« fragwürdig, als diese auf hervorgehobene musikalische Figuren verweisen würden – von Hervorhebungen kann aber nicht gesprochen werden.
Die Geschichte der neuen Musik des 20. Jahrhunderts hat viel zu tun mit der Dekonstruktion musikalischer Hierarchien, die dem tonalen Komponieren auf allen Ebenen inhärent waren. Melodie und Begleitung, harmonische Haupt- und Nebenstufen, betonte und unbetonte Taktteile, Thema und Fortspinnung, Hauptsatz, Seitensatz und Überleitung – all das sind Bezeichnungen für hierarchische Verhältnisses im Verlauf eines Musikstückes. Es waren nicht zuletzt die vielfältigen Wege der Abkehr von diesen Grundbedingungen tonalen Komponierens, welche die Ideologen des Sozialistischen Realismus als formalistisch, bürgerlich-dekadent oder antirealistisch abqualifizierten. Die einschlägigen Texte dieser Ideologen sind daher voll von Formulierungen wie der Folgenden: »Die sozialistische Ästhetik fordert […] von den sowjetischen Komponisten die unbedingte Umkehr zu den fruchtbaren Traditionen der klassischen Musik und des Volksschaffens. Ein erfolgreiches Gedeihen der realistischen sowjetischen Musik ist ohne die schöpferische Entwicklung und Fortsetzung dieser Tradition unmöglich.« (Nestjev 1952, S. 146) Oder: »Die Partei hat von den sowjetischen Komponisten neben einer hohen Meisterschaft der Form die Verständlichkeit der Musik für die Massen gefordert; sie hat melodische Klarheit, harmonische Einfachheit und Folgerichtigkeit, Schönheit und Ausgeglichenheit der Klangfarbe und gemeinsame Übereinstimmung aller Komponenten unter dem Primat der Melodie gefordert. Alle diese Merkmale sind auch bestimmende Hauptmerkmale des Begriffs des sozialistischen Realismus in der Musik.« (Ders., S. 180f.)
Angesichts der obigen Charakterisierung von Ustvol’skajas antihierarchischen Strategien wird greifbar, dass vielleicht gerade diese ihren besonderen Weg auszeichnen. Vereinzelte vergleichbare Merkmale lassen sich auch in ihrer Antihierarchik
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kompositorischen Umgebung aufspüren, so etwa der Verzicht auf Taktstriche und damit auf feste Metren (etwa bei Sergej Slonimskij, Jurij Bucko oder Andrej Petrov; vgl. Redepenning 2008, S. 594ff.). Niemand sonst im Umfeld der sowjetischen Kompositionslandschaft hat kompositionstechnische Hierarchien aber derart konsequent aufgebrochen. Man könnte allenfalls an verschiedene »westliche« Tendenzen am Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte denken, wo die Dekonstruktion hierarchischer Strukturen eine ähnlich große Rolle gespielt hat, wenngleich auf völlig andere Art und Weise. Zu denken wäre etwa an die serielle Musik, wo es unter anderem um die Aufhebung von Hierarchien zwischen den einzelnen musikalischen Parametern geht, weiters auch an verschiedene Ausprägungen der amerikanischen Kompositionslandschaft (New York School, Minimal Music). Als Folge der Enthierarchisierung werden bis zu einem gewissen Grad sogar ähnliche kompositorische Konsequenzen beobachtbar: die Eigenwertigkeit des Klanglichen, das Denken in Schichten und Klangräumen, oder die Bedeutung unterschiedlicher Register für die Differenzierung musikalischer Verläufe. Die Frage ist natürlich, wie mit solchen Analogien umzugehen, bzw. was daraus abzuleiten ist. Von irgendwelchen »Einflüssen« zu sprechen wäre fehl am Platz. Die Wege Ustvol’skajas, Stockhausens oder Feldmans basierten auf völlig anderen Voraussetzungen und führten zu völlig anderen Resultaten. Gemeinsamkeiten sind auf eher abstrakter Ebene zu suchen, und diesbezüglich scheint mir eine künstlerische Intention, die eine Dekonstruktion hierarchischer Strukturen im Auge hatte, ein wesentlicher Aspekt zu sein. Die genauere Erörterung der antihierarchischen kompositorischen Strategien Galina Ustvol’skajas seien an Hand des Beginns der Komposition Nr. 1 »Dona nobis pacem« aufgezeigt (vgl. Notenbeispiel 16, im Anhang und Holzer 2011, S. 381-391). Angesichts der Absenz eines metrischen Rasters hat jede einzelne Note gleiches Gewicht. Die elementare Bedeutung des einzelnen Tones bzw. Klanges wird in diesem Stück durch die Trennung mittels Pausen und durch die durchgehende Akzentuierung noch betont. Mit der eröffnenden Phrase der Tuba wird zweifellos ein Modell exponiert, das für den gesamten weiteren Verlauf des Stücks die Basis bildet: Das Stück beginnt mit einem einzelnen Ton (F) im Wert einer Achtelnote; nach einer Achtelpause folgt ein weiterer Ton derselben Dauer eine große Sekund höher (G). In größerem Abstand schließt sich eine Sequenz einen Halbton höher an (Gis – Fis), der schließlich eine Sechzehntelfigur folgt, die abermals einen Halbton höher ansetzt und einen großen Sekundschritt nach unten führt (A – G). Nach einer längeren Pause wiederholt sich der Vorgang, allerdings ohne die Pause zwischen der Sequenz (wohl aber mit Absetzungszeichen). 164
Betrachtung des Werkes
Danach führt die Tubastimme in durchgehenden Sekundschritten und in durch Pausen abgetrennte, diesmal durch Sforzati akzentuierte, Sechzehntel aufwärts zu zwei ins Unbestimmte abwärts führenden Glissandofiguren, die einen ersten Abschnitt beschließen. Der Eindruck einer musikalischen Einheit wird aber nicht durch einen eröffnenden und schließenden Gestus der beschriebenen Phrase erzeugt, sondern erst nachträglich durch den durch eine längere Pause (Fermate) unterbrochenen Einsatz der Tuba, die wieder den Beginn aufgreift. Das beschriebene exponierte Material liegt dem gesamten weiteren Satz zu Grunde – aber kann von einem »Thema« gesprochen werden, das aus Sekund-»Motiven« besteht? Motiv und Thema sind im herkömmlichen Sinne hervorgehobene musikalische Einheiten. Da in diesem Fall aber nahezu der gesamte Satz aus Sekunden besteht, ist eher von einer gleichwertigen Folge elementarer Ereignisse zu sprechen als von einem hierarchisch hervorgehobenen Motiv. Ebensowenig scheinen die Begriffe Thema, und in weiterer Folge »thematische Arbeit«, zu passen: Abgesehen vom fehlenden syntaktischen Gestus müsste ein Thema als »Hauptsache« hervorgehoben sein, aus der sich durch verschiedene Verfahren (Variation, Abspaltung usw.) Abgeleitetes ergeben würde. Das Stück entfernt sich aber nie von der Hauptsache; es gibt allenfalls Transformationen, die aber niemals durch Überleitendes, Ausklingendes oder Ornamentales unterbrochen werden (die Triolen der Piccoloflöte dürfen keinesfalls als ornamentale Umspielung eines Tones missverstanden werden). Demgemäß ist auch niemals eine Stimme hervorgehoben. Dieses eine Beispiel hat gezeigt, dass auf melodischer, rhythmischer und auch satztechnischer Ebene jegliche Form von hierarchischer Abstufung vermieden worden ist. Niemals ist ein Ton, ein Klang, eine Stimme oder ein Abschnitt hervorgehoben, niemals begegnet man etwas Untergeordnetem. Antinarrativität? Die Hypothese, die diesem Kapitel zu Grunde liegt, sei gleich vorangestellt: Dass Musik einen erzählenden Charakter haben, bzw. gesellschaftliche Bedingungen widerspiegeln sollte, gehört zu den zentralen Forderungen des Sozialistischen Realismus. Mit ihren Kantaten, Poemen, Suiten und der 1. Sinfonie hat Galina Ustvol’skaja – nach ihrer Aussage aus finanzieller Not (Gladkova 2001, S. 18) – Stücke vorgelegt, die diesen Ansprüchen zumindest bis zu einem gewissen Grad genügen sollten. Einige davon hat sie später nicht mehr zu ihren »eigentlichen« Werke zählen und vernichten wollen, Antinarrativität?
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einige hat sie ohne die programmatischen Titel nachträglich ihrem Werkkatalog beigefügt, und zwei davon – Der Traum des Stepan Razin und die 1. Sinfonie – hielten sogar mit Text dem späteren kritischen Blick stand. Daraus lässt sich ablesen, dass sie zwar mit bestimmten Inhalten nichts mehr zu tun haben wollte, nicht aber grundsätzlich gegen textgebundene oder programmatische Musik eingestellt war. Schließlich hat sie ja in ihren späteren Sinfonien auch Texte eingebaut. Allerdings zeigt gerade ein näherer Blick auf diesen Werkkorpus, dass Ustvol’skaja keineswegs versucht hat, den Text musikalisch nachzuerzählen, oder am Text entlang zu komponieren. Michael Zink hat sehr deutlich herausgearbeitet, dass beide Ebenen »zwei eigenständige und unabhängige Größen bleiben, die einander überlagern« (Zink 2009, S. 72). Die Sinfonien lassen sich in ihrer kompositorischen Machart im Übrigen auch nicht grundsätzlich von den vorangegangenen, textlosen Kompositionen unterscheiden; die Einbeziehung von Texten hat keine kompositionstechnischen Konsequenzen. Damit, so die Hypothese, kommt eine kompositorische Haltung zum Ausdruck, die von Anfang an die Schiene von Ustvol’skajas »eigentlichen« Werken bestimmt hat – der Versuch, sich von einem erzählerischen Gestus von Musik, und damit von einer wesentlichen Forderung der sowjetischen Ideologie, zu entfernen. Natürlich stellt sich die Frage, was unter einem »erzählerischen Gestus« von Musik überhaupt zu verstehen ist. Dass sich der Diskurs über Narrativität im gesamten geisteswissenschaftlichen Bereich in den letzten beiden Jahrzehnten derart ausgeweitet hat, liegt zunächst einmal daran, dass das Beobachtungsfeld weit über die Orientierung an bestimmten Genres (in der Linguistik etwa am Roman) hinaus gewachsen ist. Bereits in den 1960er Jahren hat Roland Barthes postuliert, dass Narrativität nicht nur aller geschriebenen und gesprochenen Sprache, sondern auch festen und bewegten Bildern, Gesten und Mischformen davon inhärent sei. Narrativität sei, wie das Leben, einfach da (vgl. Abbott 2002, S. 1f.). Angesichts dieser Ausweitung existieren heute unterschiedliche begriffliche Vorstellungen nebeneinander, die teilweise stark voneinander abweichen. Während einerseits die Forderung im Raum steht, dass zumindest zwei Ereignisse, womöglich noch kausal verbunden, als notwendige Voraussetzung für die Entstehung narrativer Qualität vorhanden sein müssten, wird diese andernorts allen in der Zeit ablaufenden Phänomenen zugeschrieben: »But if we had to choose one answer above all others, the likeliest is that narrative is the principal way in which our species organizes its understanding in time.« Und selbst statische Phänomene würden reflexartig, auf der Basis von im Gedächtnis gespeicherten Mustern, mit narrativer Qualität aufgeladen (Abbott 2002, S. 3 bzw. 6). 166
Betrachtung des Werkes
Entsprechend dieser Bandbreite von Definitionen ist es auch im Bereich der Musik umstritten, was als musikalisches Narrativ angesehen werden kann. Während angesichts der erstgenannten Definition zu fragen wäre, ob Musik überhaupt ein narrativer Charakter zugesprochen werden kann, könnte unter Voraussetzung der weitergefassten Position Musik – als ein in der Zeit ablaufendes Phänomen – einer »Narrativisierung« gar nicht entkommen. Um ein Abgleiten in völlige Beliebigkeit zu vermeiden, lassen sich allerdings durchaus einige grundlegende Aspekte klären. Zuallererst ist zu unterscheiden zwischen der Produktionsebene und der Rezeptionsebene. In Hinblick auf die Produktionsebene kann gar kein Zweifel bestehen, dass es je nach Person unterschiedlich gelagerte Interessen gibt, Narrativität zu erzeugen. Zweifellos lassen sich auch etliche Mittel beschreiben, die zumindest als Impulse, als Stimuli für die Erzeugung einer erzählenden Qualität von Musik herangezogen werden können. Dazu gehören Verweistechniken (Zitate), das Spiel mit Erwartungshaltungen, Syntaxbildungen, sowie verschiedene Techniken der Verlaufsgestaltung, die eine bestimmte Dramaturgie gewährleisten (z. B. die Gestaltung einer Steigerung). Natürlich verbleibt bei Musik, die auf außermusikalische Beigaben verzichtet, der narrative Charakter weitgehend im Unbestimmten. Ebenso ist zu bedenken, dass die narrative Qualität nicht der Kontrolle der AutorInnen unterliegt. Das heißt, dass die Konstruktion von Narration auf der Rezeptionsseite nicht mit deren Intentionen übereinstimmen muss. Angesichts der Berücksichtigung des spezifischen kulturellen Kontextes und der individuellen Erfahrungswelt (die unterschiedliche »narrative Kompetenzen« nach sich zieht) erscheint es letztlich undenkbar, die Interaktionen zwischen der Ebene der Produzierenden, der Objektebene, der Interpretations- und der Rezeptionsebene in eindeutigen Bahnen zu beschreiben. Sich dieser Problematik anzunähern hieße, weit in Zeichen- und Wahrnehmungstheorien vorzustoßen, wofür hier nicht der Raum ist. Es erscheint daher am sinnvollsten, sich im Kontext der aktuellen Problemstellung auf jene im Produktionsprozess beschreibbaren Impulse bzw. Stimuli zur Erzeugung narrativer Qualitäten zu beschränken, die bei Ustvol’skaja entweder zu beobachten sind, oder die sie gemieden hat. Wie bereits angedeutet, ist gerade in diesem Kontext die Unterscheidung zwischen den beiden kompositorischen Schienen der Komponistin notwendig. In den Werken der »sowjetischen« Schiene fällt es zumeist nicht schwer, Argumente für einen narrativen Charakter anzuführen. Schon der Titel Kinder-Suite beispielsweise lässt vermuten, dass es nicht um die abstrakte Darstellung der Vorstellung »Kind« gehen wird, sondern um Kinder als handelnde Personen in bestimmten Situationen. Die Überschriften der Antinarrativität?
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neun Sätze bestätigen diese Vermutung, wobei durch den ersten und letzten Satz (Morgen – Abend) ein zeitlicher Rahmen vorgegeben ist, der durch unterschiedliche Ereignisse ausgefüllt wird. Auch innerhalb der einzelnen Sätze gibt es immer wieder die Gelegenheit, musikalische Verläufe mit Vorgängen, etwa einem Tanz, in Verbindung zu bringen. Angelehnt an Werner Wolf könnte zusammengefasst werden, dass in diesem Stück sowohl »allgemeine«, als auch »inhaltliche« und »syntaktische Narreme« vorliegen (Wolf 2008, S. 22f.). Allgemeines Narrem wäre der inhaltliche Rahmen (der Tagesablauf von Kindern), inhaltliches ein spezifischer Vorgang (etwa der Bärentanz), syntaktisches Narrem schließlich die spezifisch Gestaltung des musikalischen Verlaufs, die etwa den Ablauf eines Tanzes schildert. Schwieriger wird die Problematik im Zusammenhang mit den »eigentlichen« Werken. Augenscheinlich scheint mir das Bemühen Ustvol’skajas vorzuliegen, ihr musikalisches Denken von unmittelbaren inhaltlichen Konnotationen möglichst freizuhalten. Das hat zunächst einmal zur Folge, dass sie, entgegen der Praxis der meisten Zeitgenossen, auf Zitattechniken zumindest weitgehend verzichtet (ob es sich in der Komposition Nr. 1 tatsächlich um ein Zitat handelt, ist an anderer Stelle erörtert worden; vgl. dazu Kap. Religiös? Geistig? Spirituell?). Noch entscheidender ist allerdings ihr Versuch, sich von allen aus der tonalen Tradition gewonnenen Mitteln zur Evozierung eines erzählenden Gestus von Musik zu distanzieren. Das beginnt schon bei der Melodiebildung: Durch die tendenzielle Reduktion des linearen Verlaufs auf die Koppelung elementarer Klangereignisse werden konventionell aufgeladene melodische Gesten, die als inhaltliche Narreme fungieren könnten, konsequent vermieden. Ebenso fehlen die üblichen Gestaltungsmittel von zielgerichteten Entwicklungen; sie verzichtet auf Anfangs- und Schlussgesten, auf sukzessive Beschleunigungen oder Verlangsamungen, auf sukzessive Verdichtungen und Ausdünnungen – und somit insgesamt auf das Erwecken von Erwartungshaltungen. Die Ursache für all diese Merkmale sind in ihrem Bemühen zu einer Distanzierung von den Dogmen des Sozialistischen Realismus zu sehen, möglicherweise auch angestachelt oder zumindest verstärkt durch die Distanzierung von ihrem Lehrer, Dmitrij Šostakovič. Es erscheint daher angebracht, genauere analytische Erörterungen in das einschlägige Kapitel, das einem Vergleich der beiden künstlerischen Persönlichkeiten gewidmet ist, auszulagern (Kap. Ansatzpunkt Šostakovič). Aber wenngleich es offensichtlich ist, dass Ustvol’skaja sich von einem traditionellen erzählenden Gestus distanzieren möchte, so lassen sich doch Merkmale ablesen, die als Strukturierungsmittel von Erzählungen oder als syntaktische Narreme aufgefasst werden könnten. In erster Linie ist dies168
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bezüglich an die Wiederholung zu denken. So sehr in der Melodiebildung jedem einzelnen Ton auch gleiches Gewicht verliehen wird, so sind doch Motive, gelegentlich auch themenähnliche Gebilde, auszumachen, die in unterschiedlichen Transformationen auch oftmals wiederholt werden können. Überdies gibt es in den meisten Stücken klar dechiffrierbare Reprisenereignisse, wenngleich deren Funktion keineswegs mit der emphatischen Funktion von Reprisen im Kontext der Sonatensatzform verglichen werden kann. Der Grund liegt darin, dass die Reprisen, wie die Wiederholungen generell, keinem zielgerichteten Entwicklungskonzept eingelagert sind. Wie an anderer Stelle bereits näher erläutert, sind diese Mittel vor allem mit der Etablierung eines Ritualcharakters in Verbindung gebracht worden. Ob einem Musikstück, das auf der fortwährenden Wiederholung oder Transformation sparsamster musikalischer Mittel beruht, eine narrative Qualität zugesprochen werden sollte, hängt letztlich von der Definition von Narrativität ab. Sieht man darin bloß die »quasi-mimetische Evokation lebensweltlicher Erfahrung« (Fludernik 1996, S. 12), wäre die Antwort ja; einer engeren Auffassung von Narrativität würden die Werke nicht entsprechen. Galina Ustvol’skaja will mit ihren »eigentlichen« Werken keine Geschichten erzählen und auf nichts verweisen, was womöglich durch die Dechiffrierung verdeckter Mittel entschlüsselt werden müsste. Gattungs- und Formkonzeptionen Überblickt man Galina Ustvol’skajas Œuvre in Hinblick auf die Wahl der Gattungen, so lässt sich auch diesbezüglich ein deutlicher Schnitt ausmachen, der mit der Phase des Schweigens in den 1960er Jahren in Verbindung gebracht werden kann. Zwischen dem Loblied (1961) und der Komposition Nr. 1 (1970/71) hat sie nur ein einziges Werk an die Öffentlichkeit entlassen, das Duet für Violine und Klavier (1964). Zweifellos war dieses Jahrzehnt eine besondere Phase ihres künstlerischen Schaffens, in der sie besonders selbstkritisch war und in der sie ihr kompositorisches Denken auf jenen Bereich beschränkte, den sie später als ihren »eigentlichen« bezeichnen wird. Bis dahin hatte sie einen zweigleisigen Weg verfolgt: Neben jenen Stücken, die ihr wohl ein persönliches kompositorisches Anliegen waren, also etwa den Klaviersonaten und den kammermusikalisch besetzten Stücken, bediente sie auch eine »sowjetische« Schiene mit einschlägigen Gattungen, beispielsweise Kantaten oder programmatischen Suiten. Diese Schiene hat sie nach dem 1961 komponierten Loblied nicht mehr weiter geführt. Die andere Schiene Gattungs- und Formkonzeptionen
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ist bis dahin dadurch gekennzeichnet, dass es sich, ausgenommen das Oktett, durchwegs um Werke mit traditionellen Besetzungen handelt. Nach dem Neustart um 1970 begegnen uns nur mehr drei Werkbezeichnungen (Kompositionen, Sinfonien und Klaviersonaten), wobei noch zu klären sein wird, inwiefern die Sinfonien und die Sonaten überhaupt mit den traditionellen Gattungskonzepten noch zu tun haben, oder wodurch sich die Kompositionen und Sinfonien voneinander unterscheiden. Auf alle Fälle weist keine der späteren Sinfonien eine für die Gattung übliche Besetzung auf. Um Ustvol’skajas Gattungsdispositionen angemessen beurteilen zu können, ist es unerlässlich, die besondere Bedeutung der Gattungsfrage im Kontext der kulturellen sowjetischen Ideologie hervorzukehren. Diesbezüglich sind deutlich unterschiedliche Phasen auszumachen. Nachdem die pluralistische kompositorische Vielfalt der 1920er Jahre durch anhaltende Repressalien zurückgedrängt worden war, ist, parallel zur Etablierung der Dogmen des Sozialistischen Realismus, ein deutlich anwachsender Rekurs auf die traditionellen Gattungen zu beobachten. In der Sowjetunion sollte die im Westen »verratene« klassische Tradition weitergeführt werden. Auf vokaler Ebene waren das (neben den Massenliedern) Oper, Oratorium und Kantate, auf instrumentaler Ebene Sinfonie, Konzert oder Sonate. Innerhalb der Instrumentalmusik hatte die Sinfonie auch in der Sowjetunion immer eine herausragende Stellung inne, und zwar jener Strang in der Tradition Beethovens und Mahlers, der durch eine Auffassung von Sinfonie als Ideenkunstwerk umschrieben werden kann. In der Sowjetunion spiegelt sich diese Auffassung auch in der Etablierung des Begriffs »Sinfonismus«, der offenbar von Boris Asaf ’ev in seinem Aufsatz Wege in die Zukunft (1918) kurz nach der Revolution geprägt worden war (Redepenning 2008, S. 408), und dem noch 1981 in einer Musikenzyklopädie ein vierseitiger Artikel gewidmet worden ist: »In einem sehr breit gefassten Sinn bedeutet ›simfonizm‹ das künstlerische Prinzip der philosophisch verallgemeinernden, dialektischen Darstellung des Lebens in der musikalischen Kunst. Als ästhetisches Prinzip bestimmt sich der Symphonismus als Reflexion über die grundlegenden Probleme des menschlichen Seins […] In diesem Sinne ist der Symphonismus verbunden mit der Seite des ideellen Gehalts der Musik. Zugleich enthält der Terminus Symphonismus eine bestimmte Qualität der inneren Organisation eines Musikwerks, seiner Dramaturgie und Formbildung. In diesem Fall bedeutet Symphonismus an erster Stelle die Methode, die es ermöglicht, besonders tief und wirksam Prozesse des Entstehens und Wachsens darzustellen, den Kampf widersprüchlicher Prinzipien durch intonatorisch-thematische Kontraste und
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Verbindungen, ebenso die Dynamik und das Organische der musikalischen Entwicklung herauszuarbeiten und zu einem qualitätsvollen Resultat zu führen.« (Zit. nach Redepenning 2008, S. 408)
»Sinfonismus« zielt demnach auf eine Widerspiegelung des gesellschaftlichen Lebens durch die Musik ab, die zwar insbesondere in der Sinfonie als wichtigster instrumentaler Gattung einen vorrangigen Platz haben, aber keineswegs darauf beschränkt sein sollte. Letztendlich sollte die dahinterstehende Haltung auf alle Gattungen ausstrahlen. Während des Zweiten Weltkriegs und danach standen insbesondere jene Gattungen hoch im Kurs, die für eine Darstellung der Überhöhung des sowjetischen Volkes und der nationalen Einheit des Landes geeignet waren. Das gilt etwa für Kantaten oder programmatische Suiten, die in großer Zahl entstanden, wobei Ustvol’skaja zu diesem Repertoire einiges beigetragen hat. Schon die Titel ihrer diesbezüglichen Stücke – Pionier-Suite, Kinder-Suite, Sport-Suite, Der Traum des Stepan Razin, Der Mensch vom hohen Berg, Feuer in der Steppe, Heldentat, Loblied – verweisen deutlich auf die üblichen Inhalte derartiger Arbeiten im Sinne einer Überhöhung nationaler Ideen. Sie hat sich später zwar von diesen Werken weitgehend distanziert; immerhin haben aber eines davon (Der Traum des Stepan Razin) unmittelbar, und zwei weitere (Feuer in der Steppe, Heldentat) ohne Titel, in ihren gültigen Werkkatalog Eingang gefunden. Im Zuge der Ždanovščina – also den Folgen jener 1948 vom Zentralkomittee der Partei unter dem Vorsitz Andrej Ždanovs abgehaltenenen Konferenz, welche die »Musikschaffenden« ins Visier genommen hat – erschienen nach dem Beschluss des Zentralkomitees Über die Oper »Die große Freundschaft« von V. Muradeli zahlreiche weitere Publikationen aus dem Kreis des Sowjetischen Komponistenverbandes, die eine Durchleuchtung des sowjetischen Musiklebens im Geiste des Beschlusses vor Augen hatten. Teile dieser Texte sind in einem umfangreichen Sammelband mit dem Titel Musik und Zeit. Die sowjetische Musik im Aufstieg einige Jahre später in Ostdeutschland erschienen (Halle 1952). Zuallererst ging es darin natürlich um eine neuerliche Formulierung und Propagierung der Intentionen des Sozialistischen Realismus: »Welchem Genre und welchem Thema sich der sowjetische Künstler auch zuwenden mag – immer muss er das Bewusstsein seines Volkes ausdrücken, dessen Leben, Aufbau und Kampf von leuchtenden und großen Idealen erhellt sind. Darin besteht die Grundlage der Kunst des Sozialistischen Realismus, Gattungs- und Formkonzeptionen
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der seinem Wesen nach optimistisch ist und in sich den unerschütterlichen Glauben an die schöpferischen Kräfte, an den menschlichen Verstand und den Sieg des Kommunismus trägt.« (Šaverdjan 1952, S. 62)
Die Durchleuchtung der Musiklandschaft wurde in sämtlichen Beiträgen mit dem Blick auf die musikalischen Gattungen vorgenommen, deren Rangordnung dadurch gut greifbar erscheint. So wurde die Vokalmusik als die »ihrem Inhalt nach demokratischste und konkreteste Musik« angesehen, mit der Oper als dem »wichtigsten und entscheidendsten Genre der sowjetischen Musik« (Herausgeberkomitee des Sowjetischen Komponistenverbandes 1952, S. 20 und S. 23). Es ist ja kein Zufall, dass die Attacke auf Šostakovič 1936 und jene auf Muradeli im ZK-Beschluss 1948 (wenngleich diese nur ein Vorwand für die Etablierung eines Bedrohungsszenarios war) auf der Ebene der Oper stattgefunden hat. Dem gesamten Sektor der Instrumentalmusik stand man mit gewissem Argwohn gegenüber, da in dieser »am häufigsten Überreste der alten subjektivistisch-individualistischen Weltanschauung« auftreten würden (Šaverdjan 1952, S. 65f.). Dem wäre durch eine »Demokratisierung« entgegenzutreten, die durch eine Einbeziehung von Volksliedthematik und programmatische Ideen begründet sein müsste (Nestjev 1952, S. 153). Gerade die Kammermusik bedürfte derartiger »Bereicherungen«: »Die Programmmusik, die die Gestalten und Sujets unserer sowjetischen Wirklichkeit verkörpert, ist eine der verantwortungsvollsten und unaufschiebbarsten Aufgaben; ihre Lösung wird die gesamte zeitgenössische Musik unermesslich bereichern und auf eine neue Stufe erheben, sie wird die echte ideelle Umgestaltung und die organische Entwicklung der Meisterschaft der sowjetischen Komponisten kennzeichnen.« (Herausgeberkomitee des Sowjetischen Komponistenverbandes 1952, S. 25)
Instrumentalmusik, in der weder volksmusikalische Quellen noch programmatische Ideen bestimmend waren, wurde mit großem Argwohn begegnet. Dazu ein bekanntes Beispiel: 1950/51 schrieb Šostakovič im Gefolge der Bach-Feierlichkeiten zur 200. Wiederkehr von dessen Todestag die 24 Präludien und Fugen op. 87. Prompt musste er sich in einer Versammlung des Komponistenverbandes im Mai 1951 und der Zeitschrift Sovetskaja muzyka eine harsche Kritik gefallen lassen: Die »Schatten der Vergangenheit« hätten ihn wieder eingeholt, es handle sich um Versuche, die »traurig-subjektivistischen Seiten der Musik Bachs wiedererstehen zu lassen«, die Stücke spiegelten eine »gramvolle Abkapselung« (vgl. Jelagin 1951, S. 206) wider. Ustvol’skajas bald 172
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darauf komponierten 12 Präludien für Klavier (1953) blieb eine öffentliche Rüge erspart; allerdings bestand keine Chance auf eine Drucklegung, und die Uraufführung konnte erst 1968 stattfinden. Ähnliches gilt für ihre anderen Instrumentalkompositionen, während sie mit den Vokalwerken und den programmatischen Suiten durchaus Anerkennung gefunden hat. Das bislang geschilderte Szenario muss mitbedacht werden in Hinblick auf die Frage, warum Ustvol’skaja nach der längeren Schweigephase in den 1960er Jahren die lapidare Bezeichnung »Komposition« für die nächsten drei Werke aufgegriffen hat. Entscheidend war wohl die Intention, einen möglichst neutralen, nicht besetzten Terminus zu verwenden. Dazu kommt natürlich die Tatsache, dass für sämtliche Besetzungen der drei Kompositionen keine traditionellen Bezeichnungen gepasst hätten. Die nunmehr radikale Distanzierung von der sowjetischen Ästhetik musste schon bei der Wahl des Klangkörpers ansetzen. So war der große sinfonische Orchesterapparat für sie in keinem Fall mehr tragbar, auch nicht in den ab Ende der 1970er Jahre im Vordergrund stehenden Sinfonien selbst. Zu sehr war jener verbunden mit den Ausdrucksgesten der einschlägig sowjetischen Werke, die ja in erster Linie Werke mit Beteiligung des großen Orchesters komponiert waren. Natürlich stellt sich dann die Frage, warum sie, nach 24-jähriger Pause (!), überhaupt auf die Gattungsbezeichnung Sinfonie zurückgegriffen hat. Michael Zink hat in einer Auseinandersetzung mit den vier späten Sinfonien überzeugend herausgearbeitet, dass weder der Klangkörper, weder satztechnische Verfahrensweisen, noch die formalen Dispositionen Anknüpfungspunkte zur sinfonischen Tradition erkennen lassen (Zink 2009, S. 52-73). Auch die Aufführungsdauer bewegt sich nur zwischen zehn und zwanzig Minuten. Übrig bleibt nur noch der ideelle Gehalt, der besondere Anspruch, der mit dem Begriff mitschwingt. Das wird Galina Ustvol’skaja wohl auch gemeint haben wenn sie sagt: »Es gibt bei mir keine symphonische Musik – im üblichen Sinne des Wortes. Aber es gibt Symphonien.« (Zit. nach Gladkova 2001, S. 107)
Sinfonien zu komponieren bedeutete auch für sie, im viel zitierten Mahlerschen Sinne, »mit allen modernen Ausdrucksmitteln eine neue Welt zu schaffen«. Alle Mittel – dazu gehört auch die Einbeziehung der Sprache, die in den Kompositionen noch auf Untertitel beschränkt war (in der ersten Drucklegung, die jetzt immerhin nur mehr mit vier bis sieben Jahren Verspätung erfolgte, mussten diese religiösen Untertitel noch wegbleiben).
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Die Abkehr von den Gattungsnormen um 1970 war allerdings keineswegs ein auf Ustvol’skaja beschränktes Phänomen. Gerade auf dem Boden der Sinfonie war in der Sowjetunion eine regelrechte Experimentierfreudigkeit zu beobachten, die sich auf KomponistInnen unterschiedlichster Couleur erstreckt: Šostakovičs letzten drei Sinfonien weichen in vieler Hinsicht sowohl von den Gattungsnormen als auch von der Sonatensatzästhetik ab; Gija Kančelis sieben archaisch anmutende Sinfonien in extrem langsamen Tempo haben ebenso wie die Avet Terterjans stark meditativen Charakter; Alfred Šnittke durchkämmt mit seinen polystilistischen Werken große Teile der europäischen Musikgeschichte, und Valentin Sil’vestrovs Untertitelung seiner 5. Sinfonie als »Postsinfonie« lässt den Kommentarcharakter schon erahnen. Jurij Bucko schließlich verweist bereits in seinen Titeln – Sinfonie in vier Fragmenten, Sinfonie-Dithyrambe, Sinfonie-Rezitativ und SinfonieIntermezzo – auf eine Erweiterung der traditionellen Vorgaben, ebenso wie Rodion Ščedrin, dessen 2. Sinfonie auch die Bezeichnung 25 Präludien trägt. Dazu kommt noch, dass die meisten der Avantgardisten (Andrej Volkonskij, Edison Denisov, Sofija Gubajdulina, Aleksandr Knajfel) überhaupt keine Sinfonien mehr schrieben. Bei diesen ist, wie bei Ustvol’skaja, eine deutliche Hinwendung zu kleineren Ensemblebesetzungen unterschiedlichster Art zu beobachten. Eigenartigerweise hegte Ustvol’skaja eine tiefgreifende Abneigung gegen die Bezeichnung »Kammermusik«, die in dieser Form bei keinen anderen KomponistInnen anzutreffen ist: »Das nicht Kammermusikalische meiner Musik ist das Neue, ist die Frucht meines qualvollen Lebens in der schöpferischen Arbeit! Und es geht nicht um die Anzahl der Ausführenden, sondern um den Kern der Musik selbst. Es fällt mir sehr schwer, immer wieder zu lesen: ›Kammermusik, Kammersinfonie‹. Selbst meine Sonaten, das Große Duett, das Duet für Violine und Klavier, die Kompositionen und so weiter sind keine Kammermusik!« (17. Januar 1994; zit. nach Ustvol’skaja 2000, S. 23)
Es reicht nicht aus, den relativ geringen Stellenwert kammermusikalischer Werke im Rahmen der sowjetischen Ästhetik als Begründung für ihre Abneigung heranzuziehen, daran hat sich sonst niemand gestoßen. Anscheinend ist in dieser Aversion doch eher eine persönliche Marotte zu sehen. Liegt es möglicherweise auch an dieser Abneigung alles Kammermusikalischen, dass sie die genannten »Duos« nicht als solche, sondern als »Duette« bezeichnet hat? Ich glaube jedenfalls nicht, dass auf Grund der Wahl eines 174
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Begriffs aus der Vokalmusik dahinter verborgene Texte oder Botschaften zu vermuten wären. Aufschlussreich könnte ein Vergleich zwischen der Sonate für Violine und Klavier (1952) und dem späteren Duet für Violine und Klavier (1964) sein. Aber wenngleich die Stücke äußerst unterschiedlich klingen, so lässt zumindest ein erster Blick kaum Triftiges erkennen, das die differenten Bezeichnungen rechtfertigen würde: Beide Stücke sind einsätzig, in beiden spielen Wiederholungen eine wichtige Rolle, lassen sich Reprisenereignisse herauskristallisieren. Der Umgang mit Motiven weist durchaus Ähnlichkeiten auf. Eine Nähe oder Distanz zu Sonatentraditionen wäre da wie dort auszumachen. Zwar steht im Duet gelegentlich die Ausführungsanweisung »bedeutungsvoll« – allerdings an Stellen, die kaum mit einem sprechenden Gestus zu assoziieren wären. Von einem vokaleren Gestus kann generell nicht gesprochen werden, eher im Gegenteil: Der oftmalige extreme Lagenwechsel wie auch die langandauernden Repetitionen auf einem Ton lassen an keiner Stelle vokale Assoziationen zu (vgl. Notenbeispiel 20, im Anhang). Insgesamt lässt sich sagen, dass hinter manchen Bezeichnungen durchaus eine ästhetische Haltung greifbar wird. Das gilt, wie gezeigt, für die Termini »Komposition« und »Sinfonie«. Andererseits ist aber nicht zu erkennen, dass die Wahl der Titel immer mit einer ganz bestimmten Gattungstypologie, oder auch mit spezifischen Formkonzeptionen zu tun hätte. Der Aspekt der Bezeichnung eines Stücks sollte daher auch nicht überbewertet werden. So dürfte auch der Begriff »Sonate«, den sie ja während ihres gesamten Schaffens beibehalten hat (das zweite und vorletzte Stück in ihren Liste der gültigen Werke ist eine Sonate), eher im allgemeinsten Sinne, als Instrumentalstück, zu verstehen sein, und weniger mit der Tradition des Sonatenzyklus oder der Sonatenform korrelieren. Zur Klärung dieser Frage bedarf es aber genauerer Werkbetrachtungen.
Spezifische Werkbetrachtungen Die »sowjetischen« Stücke Die Bezeichnung »sowjetisch« bezieht sich auf jene Stücke Galina Ustvol’skajas, die zumindest weitgehend der vom Staat bzw. der Partei geforderten Ideologie im Sinne des Sozialistischen Realismus entsprechen. Vom Beginn der 1950er Jahre bis 1961 hat sie etwa ein Dutzend Werke dieser Art komponiert; es handelt sich um Kantaten, programmatische Suiten, »Sinfonische Poeme«, Die »sowjetischen« Stücke
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eine Sinfonie sowie um Musik für vier Dokumentarfime und einen Spielfilm. Nur ein kleiner Teil davon hat (zum Teil nachträglich) Eingang in das am Beginn der 1990er Jahre von ihr autorisierte und dem Hamburger SikorskiVerlag vermittelte Verzeichnis gefunden: die Byline Der Traum des Stepan Razin, die 1. Sinfonie, die beiden Sinfonischen Poems und eine Suite. Die programmatischen Titel der drei letztgenannten (Feuer in der Steppe, Heldentat, Sport-Suite) hat sie – und ihr folgend der Verlag – allerdings verschwiegen. Warum? Möglicherweise erschien ihr die aus dem 17. Jahrhundert stammende Heldengestalt des Stepan Razin weniger bedenklich als die Titel der Poeme und der Suite, die unmittelbar auf die Sowjet-Zeit verweisen. Zu der Zeit, als sie im Westen bekannt wurde, wollte sie ja ihre »sowjetische Vergangenheit« vollkommen unter den Teppich kehren. Etliche der bei Sikorski gedruckten Stücke tragen den Vermerk: »for the entire world exept C. I. S.«, wobei C. I. S. für »Commonwealth of Independent States« steht. Mit Recht kritisierte Dorothea Redepenning sowohl die Komponistin als auch den Hamburger Verlag, die ursprünglichen Titel vorzuenthalten: »Dass sie so entschieden hat, ist schade, zumal die Komponistin sich hier nicht anders verhält als die Mitarbeiter des sowjetischen Musikverlages, die seinerzeit die Kompositionen und die zweite Symphonie ohne die religiösen Untertitel druckten.« (Redepenning 2007, S. 40) »Hier vollzieht sich in der Publikationsstrategie eine Umkehrung, die die Musik eigentlich nicht nötig hat: Unterdrückten sowjetische Herausgeber seinerzeit liturgische und religiöse Titel, so verschweigt der westliche Verlag nun die sowjetischen Titel.« (Redepenning 2000, S. 33)
Manche der sowjetischen Arbeiten wollte sie insgesamt vernichten. Die meisten dieser Stücke sind allerdings in russischen Bibliotheken auffindbar. In Zeiten der Ždanovščina wäre eine künstlerische Existenz ohne ein Verfassen derartiger Arbeiten kaum denkbar gewesen, zu groß war der politische Druck. Dass zugleich die Werke der anderen Schiene, wie die Klaviersonaten oder das Oktett, keine Chance auf eine öffentliche Aufführung oder eine Drucklegung hatten, war Ustvol’skaja sicherlich klar. Vor allem bestand damit aber auch keine Möglichkeit, ein Honorar zu erhalten. Abgesehen von Gehältern, die KünstlerInnen für Anstellungen an Institutionen, etwa den Konservatorien, erhielten, wurde deren materielle Ebene seit Ende der 1930er Jahre durch zwei der Komponistenvereinigung übertragenen Sektionen geregelt: Der Muzfond war für die Unterstützung der Mitglieder im Allgemeinen zuständig, bis hin zur Betreibung von kreativen Domizilen, 176
Betrachtung des Werkes
wo Künstler und Künstlerinnen mehrere Monate im Jahr arbeiten konnten. Der zweiten Sektion oblag die Abgeltung der Autorenrechte im öffentlichen Raum. Zu diesem Zweck gab es ein Bezahlungssystem, das bezeichnenderweise auf Gattungen aufgebaut war. Bezeichnenderweise deshalb, weil damit gleichzeitig garantiert war, dass nur dem Gattungskanon entsprechende Werke überhaupt eine Chance auf ein Honorar hatten. Bemerkenswert ist es, dass zumindest dem Papier nach (vgl. Redepenning 2008, S. 322) Instrumentalmusik nicht in dem Ausmaß benachteiligt erscheint, wie auf Grund der ideologischen Voraussetzungen zu erwarten wäre. Andererseits ist mittlerweile aber auch erwiesen, dass die Handhabung der Honorierung wohl äußerst willkürlich von statten gegangen sein dürfte. So erhielten etwa 93 % der Mitglieder weniger als 1.000 Rubel pro Monat, während einige wenige mehr als 25.000 einstrichen, darunter etwa ein Verfasser von populären Massenliedern. Der Sekretär des Komponistenverbandes, Tihon Hrennikov, hat Popularität von Werken auch als wichtiges Kriterium für deren pekuniäre Bewertung propagiert (Tomoff 2006, S. 232). Nach dem Tod Stalins, bzw. dem Einsetzen der »Tauwetter«-Phase, waren es wohl finanzielle Gründe, die Ustvol’skaja veranlassten, die sowjetische Schiene weiter zu betreiben: »Das sind Arbeiten, die ich aus äußerster finanzieller Not komponieren musste, um meiner Familie zu helfen, die es damals nicht leicht hatte. Diese Stücke kann man auf den ersten Blick von meinen eigentlichen Werken unterscheiden; darum gehören sie nicht in mein Werkverzeichnis.« (Gladkova 2001, S. 18)
Wenngleich der massive politische Druck für die Kunstschaffenden nach Stalins Tod etwas nachgelassen hat, so wäre eine künstlerische Karriere ohne die Komposition repräsentativer Werke nach wie vor schwer vorstellbar gewesen. Zumindest als Einstandswerk hielten es auch in weiterer Folge fast alle KomponistInnen für angebracht, eine einschlägige Kantate, ein Oratorium oder ein programmatisches Orchesterwerk vorzulegen, möglichst vielleicht noch im Auftrag einer staatlichen Organisation. Diese Praxis, die bis zur Zeit der Perestroika zu beobachten ist, erstreckte sich auch auf Vertreter der Avantgarde wie etwa Edison Denisov, Arvo Pärt oder Alfred Šnittke; Ausnahmen – wie Sofija Gubajdulina – gab es nur wenige (Redepenning 2009, S. 12). Mit ihren »sowjetischen« Werken fand Galina Ustvol’skaja durchaus auch Anerkennung in der zeitgenössischen Musiklandschaft. In mehreren Artikeln Die »sowjetischen« Stücke
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der Zeitschrift Sovetskaja muzyka wie auch in musikgeschichtlichen Darstellungen sind diese Arbeiten gewürdigt worden. Stellvertretend sei hier eine Passage aus Lidija Rappoports Biographie abgedruckt, wo mit typischem Vokabular die Vorzüge gepriesen werden, die im Sinne des Sozialistischen Realismus von einer sowjetischen Komponistin erwartet wurden (Volkstümlichkeit; Verständlichkeit; Optimismus; Befreiung aus jenen Umständen, die in der Gegenwart noch nicht ideal sind). Der erste Teil bezieht sich auf die Byline Der Traum des Stepan Razin, der zweite auf eine Sinfonietta, die Ustvol’skaja nicht in ihr autorisiertes Werkverzeichnis aufgenommen hat: »Am Schluss der Byline wird er [der Charakter der Musik, Anm. des Autors] immer erhebender und aussöhnender. So spiegelt sich hier die Idee eines volkstümlichen Optimismus wider, der Glaube an die Befreiung, die Verkörperung der zahlreichen Legenden über Stepan Rasin. In derselben frühen Periode des Schaffens hat sie die Sinfonietta für Orchester (1950) geschrieben, benachbart zur Byline, aber von eigenem Wesen und im Charakter eine Bearbeitung volkstümlicher Lieder. Sie hat sich hier die Ausarbeitung zweier volkstümlicher Melodien und anderer Themen zunutze gemacht. Die Werke unterwerfen sich der Aufrichtigkeit der Emotionen. Das Hauptthema des ersten Teils offenbart die hellsten, bezauberndsten, lyrischen Seiten Ustvol’skajas. Entstanden aus einem gedämpften, schwankenden, trügerischen Wohlklang, kontrastierend mit ihm, gleichsam wie ein Fünkchen in einem Strom sonnigen Lichts, befreit es sich aus den Wellen. Im zweiten Teil gleiten übermütige, lebendige Wendungen durchs wunderliche Spiel, in lustigem Rhythmus. Das lustige feierliche Finale besteht aus dem Geist russischer spielerischer Lieder und Reigentänze. Er wird auch gekrönt durch vertraut klingende Themen aus dem ersten Teil.« (Rappoport 1959, S. 6, übersetzt von Andreas Holzer)
Andernorts wurde sie aber auch kritisiert. Ende November/Anfang Dezember 1950 fand im Rahmen des Komponistenverbandes eine dreitägige Veranstaltung statt, die dem Aspekt der Volkstümlichkeit in der sowjetischen Musik gewidmet war. Ein Bericht über die Eröffnungsrede zeigt, dass in dieser zum einen die einschlägigen ideologischen Anforderungen ausgebreitet wurden, andererseits aber auch Kritik an konkreten Werken – wohl nicht zufällig an zwei SchülerInnen Šostakovičs – zu hören war: »Um die Volkstümlichkeit in der sowjetischen Musik ringen – das heißt Werke schaffen, die für breite Zuhörerkreise aus dem Volke berechnet sind. Dazu muss man unbedingt das Volk sowie seine musikalischen Neigungen
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Betrachtung des Werkes
und Ansprüche kennen. Um die Volkstümlichkeit ringen – das heißt in seinem Schaffen gesellschaftlich bedeutsame Themen aufgreifen und zu den aktuellen Lebensfragen des sowjetischen Volkes Stellung nehmen. Die Volkstümlichkeit unserer Musik fordert die organische Einheit von sozialistischem Inhalt und konkreter nationaler Form. Die Kraft der besten Werke in der sowjetischen Musik liegt in ihrer Volkstümlichkeit, in der Tiefe ihrer Ideen und der engen Verbindung mit dem Volksschaffen. Gleichzeitig führt Genosse Tschulaki eine Reihe von Misserfolgen im Schaffen sowjetischer Komponisten an, die darauf zurückzuführen sind, dass sie die Prinzipien der Volkstümlichkeit nicht richtig verstanden haben. Nach seinen Worten gehören dazu das neue Werk von G. Ustvol’skaja Ein Mensch vom hohen Berge, in dem das Thema von der Arbeit unserer Bergleute in abstrakt-erkünstelten Tonarten ausgedrückt ist, und auch das Oratorium von Ju. Lewitin Gori, dessen entscheidendstes Thema in einer stilisierten, bedingt ›orientalischen‹ Musik seine Verkörperung fand. Genosse Tschulaki sagt, die Mehrheit der sowjetrussischen Komponisten kenne das Volksliedschaffen nur wenig.« (Probleme der sowjetischen Musik 1953, S. 17f.)
Wie soll man aus heutiger Sicht an diese »sowjetischen« Werke herangehen? Die vorherrschende Haltung westlicher Wissenschaftler ist dadurch geprägt, all das als »Huldigungsmist« abzustempeln und damit einer näheren Betrachtung nicht wert zu erachten. Das mag vielfach auch zutreffen; trotzdem ist es angebracht, die Perspektive der Betrachtung zu überdenken, da sich bei näherem Hinschauen doch Unterschiede hinsichtlich der kompositorischen Substanz, und gegebenenfalls in der Herangehensweise an Texte oder programmatische Inhalte, erkennen lassen. Zweifellos ist im Umgang mit Texten bei allzu vielen Stücken ein plakativer Hurra-Patriotismus zu beobachten, dem dann eine ebenso platte kompositorische Umsetzung entsprechen mag. Daneben gibt es aber doch auch einige Beispiele, die sich durch eine gewisse kompositorische Substanz auszeichnen und eine allzu penetrante Huldigungshaltung vermeiden. Wenn Dorothea Redepenning etwa Galina Ustvol’skajas Kinder-Suite als »Gebrauchsmusik im besten Sinne« bezeichnet, so halte ich diese Einschätzung für durchaus erwägenswert (Redepenning 2009, S. 10). Wie sind ihre »sowjetischen« Stücke im Vergleich zum entsprechenden kompositorischen Umfeld zu bewerten? In weiterer Folge stellt sich dann auch die Frage, wie das Verhältnis zwischen der »sowjetischen« Schiene zum Korpus ihrer »eigentlichen« Kompositionen aussieht. Handelt es sich wirklich, wie sie selbst im obigen Zitat sagt, um zwei völlig verschiedene musiDie »sowjetischen« Stücke
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kalische Welten? Zum einen muss in Hinblick auf die erste Frage vorausgeschickt werden, dass auf Grund der äußerst geringen Auseinandersetzung mit der Materie von westlicher Seite die zugängliche Vergleichsbasis sehr dünn ist. Dennoch lassen sich in Ustvol’skajas Arbeiten einige Spezifika beobachten. Wenig spezifisch erscheint zunächst die Themenwahl. Ustvol’skajas Sujets entsprechen den vorliegenden Schwerpunkten: Glorifizierung von Helden oder Heldentaten (Der Traum des Stepan Razin, Heldentat), Anpreisung der Heimat (Morgenröte über der Heimat), Würdigung der Leistungen des sowjetischen Volkes (Pionier-Suite, Sport-Suite, Feuer in der Steppe), Gemeinschaft (Kinder-Suite). Stepan Razin, der Anführer eines Bauernaufstandes aus den Jahren 1670/71, ist in den Nachkriegsjahren besonders oft Gegenstand verschiedenster Vertonungen gewesen; auch Šostakovič hat mit seiner Kantate Die Hinrichtung Stepan Razins (1964) einen späten Beitrag dazu geliefert. Die besondere Popularität des Stoffes gründete sich wohl darauf, dass Razin den Kampf gegen die Verschärfung der Leibeigenschaft mit einer Abspaltung von der orthodoxen Kirche verbunden hat. In einer Ausgabe der aus dem 17. Jahrhundert stammenden Erzählung Stepan Razin aus dem Jahr 1948 sind übrigens alle Grausamkeiten, wie etwa die genaue Beschreibung von Folter, bzw. alles, was auf ein unzivilisiertes Russland verweisen könnte, herausgestrichen worden (Woll 2008, S. 607). Das entspricht der (nicht nur in der Sowjetunion!) verbreiteten Tendenz in den Nachkriegsjahren, alles Ambivalente, Kontroversielle zu vermeiden oder glattzubügeln. Ustvol’skajas Vertonung des Stoffes ist von niemand Geringerem als Tihon Hrennikov, seit 1948 Generalsekretär des Sowjetischen Komponistenverbandes, als Musterbeispiel eines »lebensverbundenen« Werkes gelobt worden (Hrennikov 1949, S. 51). Aus heutiger Sicht – Hrennikov gilt als Inbegriff eines den Ideologien der Partei verpflichteten Kulturfunktionärs – erscheint dieses Lob natürlich wenig schmeichelhaft; allerdings zeigt es, dass Ustvol’skaja damals keineswegs so unbekannt war, wie sie das später vielleicht gerne gewollt hätte. Die Sinfonischen Poeme Feuer in der Steppe und Heldentat verweisen auf Heldenhaftes aus der Sowjetzeit: Mit letzterem, das sich auf die Ereignisse der Oktoberrevolution bezieht, hat sie im Übrigen den zweiten Preis im Rahmen eines gesamtsowjetischen Wettbewerbs für Sinfonische Kompositionen gewonnen. Ein erster Preis ist damals gar nicht vergeben worden (Rappoport 1959, S. 7). Den thematischen Hintergrund für Feuer in der Steppe bilden Brandrodungen zur Landgewinnung; es gehört somit in die Kategorie jener Werke, welche die Leistungen des sowjetischen Volkes preisen sollten. 180
Betrachtung des Werkes
In dieselbe Kategorie fällt beispielsweise auch Šostakovičs Das Lied von den Wäldern (1949), das auf die Aufforstungsprojekte der Zeit anspielt. Das Sinfonische Poem Feuer in der Steppe hat Ustvol’skaja im Übrigen zum 40-jährigen Jubiläum der Gründung von Komsomol (s. u.) komponiert. In der nachstalinistischen Ära sind generell gewisse Verschiebungen bezüglich der Themenstellungen auszumachen. Während patriotische Stoffe und Preisungen der sowjetischen Ideologie weiter hoch im Kurs bleiben, werden unmittelbar kriegsbezogene Inhalte und heroische Sujets ersetzt durch pazifistische Stoffe und durch eine Vielzahl von Lenin-Huldigungen. Mit der pazifistischen Botschaft des Loblieds (1961) hat sich Ustvol’skaja auch in diese Tendenz eingegliedert. Kompositorisch unterscheidet sich dieses Stück aber doch einigermaßen von ihren frühen sowjetischen Kompositionen. Redepenning sieht darin ein Bindeglied zur anderen Schiene und zu Verfahren, die in ihren späteren religiösen Stücken auftauchen: »Der Knabenchor singt unisono; der Satz ist quadratisch, gleichsam monolithisch gebaut aus Repetitionen, Ostinati und Clustern, im Klavier. Es gibt keine Übergänge, kein Crescendo und Decrescendo, keine mittleren Stufen in der Dynamik mehr. Der Text ist ebenfalls repetitiv, indem er kommunistische Friedenslosungen wiederholt und in kurzen Formeln gipfelt: ›Allen! Frieden! Allen! Licht! Frieden wird gebraucht! Steh auf, Frieden!‹ Aus solchen, im Russischen ein- zwei- und dreisilbigen Losungen ergeben sich gleichsam in sich kreisende Repetitionsformeln. In ähnlicher Weise setzt Ustvol’skaja später Hermannus-Contractus-Texte in ihren Sinfonien ein.« (Redepenning 2009, S. 11f.)
Trotzdem hat Ustvol’skaja das Loblied nicht in ihren Werkkatalog aufgenommen. Bezüglich der Frage, wie das Verhältnis zwischen den zwei Schienen, welche die Komponistin bis 1961 nebeneinander verfolgt hat, beschrieben werden kann, ist zu sagen, dass es keineswegs statisch war. Die von Redepenning beschriebenen stilistischen Merkmale des Loblieds sind, zumindest in größerem Ausmaß, erst für die späteren sowjetischen Stücke charakteristisch. Das zeigt auch ein Vergleich der drei Suiten. Mit den Themen der Suiten (Pioniere, Kinder, Sport) bediente Ustvol’skaja wichtige Bereiche des sowjetischen Gesellschaftsmodells, die auch zahlreichen anderen ähnlich gearteten Kompositionen der Zeit zu Grunde lagen. Kinder und Jugendliche waren vom Anbeginn der Sowjetunion eine wichtige Zielgruppe, wobei der Faktor der sozialen Kontrolle sukzessive zugenommen hat. Bereits 1918 wurde auf Initiative Lenins Die »sowjetischen« Stücke
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Komsomol, der Kommunistische Jugendverband der Partei, gegründet. Diesem waren Pionier-Organisationen angeschlossen, die mit ihren quasi militärischen Ritualen zunächst noch eher Eliteverbände waren (Attwood/ Kelly 1998, S. 258). In den 1930er Jahren versuchte die Partei, die soziale Kontrolle über den schulischen Bereich hinaus auszudehnen und sämtliche Bereiche der Freizeitgestaltung zu erfassen. Ähnliche Vorgänge waren ja durchaus auch in anderen autoritären Staaten der Zeit zu beobachten. Ein wichtiger Sektor in diesem Kontext war – neben Tanz, Theater und Musik – der Sport bzw. die körperliche Ertüchtigung und Abhärtung in der Natur. Die Vielzahl an Musikstücken, die in der Nachkriegszeit diesen Sphären gewidmet war, zeugt von dessen nach wie vor hoher Bedeutung. Auch wenn die Relevanz der Kinder- und Jugend-Organisationen im Zuge der Tauwetter-Phase etwas abgenommen zu haben scheint, so bestanden doch die meisten einschlägigen Institutionen weiter, Komsomol etwa wurde erst 1991 aufgelöst. Die Kinderthematik spielt auch in der dreisätzigen 1. Sinfonie (1955) eine wichtige Rolle: Der achtteilige mittlere Satz ist eine Vertonung von Texten des in der Sowjetunion sehr beliebten italienischen Dichters Gianni Rodari (1920-1980), der hauptsächlich Literatur für Kinder und Jugendliche verfasst hat. Demgemäß gesellen sich zur Orchesterbesetzung zwei solistische Knabenstimmen, die alternierend oder im Duett (und unterstützt durch ein Mikrofon) die Texte vortragen. Rodari, der 1944 in die Kommunistische Partei Italiens (PCI) eingetreten war und 1950 beispielsweise die Kinderzeitschrift Pioniere gründete, ist oftmals in die Sowjetunion gereist und war dort sehr beliebt; einige seiner Figuren sind sogar auf sowjetischen Briefmarken zu finden. Dass er nach der Publikation des pädagogischen Buches Das Handbuch des Pioniers aus der katholischen Kirche exkommuniziert worden ist, dürfte seine Popularität nochmals gesteigert haben. Die von Ustvol’skaja herangezogenen Texte ergeben keine geschlossene Geschichte, sondern vielmehr ein buntes Kaleidoskop über soziale Milieus in der Nachkriegszeit: Da gibt es den Jungen Ciccio, der im Keller zwischen den Müllbergen haust und von einem anderen Leben träumt; einen dunkelhäutigen Jungen, der am Jahrmarkt im Gerangel um die letzten Brotkrümel nichts abbekommt; es geht um die triste Welt der Arbeitslosen und jener Arbeiter, deren Wochenlohn kaum zum Überleben reicht. Dazwischen tauchen allerlei skurrile Gestalten auf (so etwa ein Minister ohne Amt, der zum Krieg aufruft), die satirische Blitzlichter auf die politischen Verhältnisse in Italien werfen. Laut eines Textes, den der sowjetische Musikwissenschaftler Aleksandr Sanin dem Sikorski-Verlag zur 182
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Verfügung gestellt hat (datiert mit 1. August 1989), war Ustvol’skaja die kritische Ausrichtung der Verse noch zu wenig radikal (es ist allerdings unklar, wann sie die im Folgenden zitierte, durch die Erinnerung Sanins wohl etwas entstellte, Aussage gemacht haben soll): »Eigentlich bedarf es ganz eines anderen Textes. Eines stärkeren! Der Westen, Amerika, kommt hierbei nicht vor. Der Sinn des Textes ist nur in übertragener Bedeutung gemeint – wie der Daseinsdrang. Die zwei Knaben sind wie das Timbre, wie der Klang eines lebendigen Wesens.«
Auf musikalischer Ebene begegnen in dieser Partitur einige Merkmale, die von der Konvention wegführen. Auffallend ist beispielsweise die Tendenz zu einer Reduktion des orchestralen Verbands auf kleinere Instrumentengruppen, oftmals auch in ungewöhnlichen Kombinationen. Das gilt nicht nur für den zweiten Satz, wo es auf Grund der Beteiligung der Knabenstimmen ohnehin naheliegend wäre, sondern auch für die Außensätze. Noch interessanter aber ist der Verzicht auf Taktstriche, bzw. die Vorzeichnung eines »¼-Taktes«, mit gestrichelten Orientierungslinien nach jeweils zehn Vierteln! (s. Tafel 14) Diese Abkehr von konventioneller Metrik war zwar für Ustvol’skaja nicht neu, sehr wohl aber deren Anwendung im Kontext der sowjetischen Kompositionen. Dieses Vorgehen mag wohl mit ein Grund dafür sein, dass dieses Werk länger als die anderen einschlägigen Stücke auf die Uraufführung (1966) und auf die Drucklegung (1972) warten musste. Und bei der Drucklegung hielten es die Redakteure des sowjetischen Staatsverlags für notwendig, zahlreiche Eingriffe vorzunehmen: der gravierendste bestand darin, das Stück in einen 4/4-Takt zu zwängen! Die Komposition von Suiten war wohl aus mehreren Gründen sehr beliebt: Zum einen bot sich zumeist die Möglichkeit, in umfassender Weise volksmusikalische Zitate einzubauen; eine Möglichkeit, die Ustvol’skaja, so hat es zumindest den Anschein, kaum in Anspruch genommen hat. Zum anderen war mit der Abfolge kurzer Sätze sehr leicht dem Postulat der Verständlichkeit, Eingängigkeit, nachzukommen. Die zumeist beigefügten programmatischen Satztitel suggerierten überdies eine der Ideologie des Sozialistischen Realismus entsprechende Wiederspiegelung der Wirklichkeit. »Die Musik ist […] nicht nur in der Lage, subjektive Stimmungen wiederzugeben, sondern auch verallgemeinerte Bilder zu schaffen, die mit den großen Ideen unserer Zeit erfüllt sind. Eine solche der Form nach schöne Musik, die ergreifend und wirksam ist sowie tiefe und nachhaltige Die »sowjetischen« Stücke
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Bilder und Stimmungen besitzt, muss bei Millionen von Hörern lebhaften Anklang finden« (Nestjev 1952, S. 102), so heißt es in einem jener Texte von Musikwissenschaftlern, die im Gefolge des berüchtigten Erlasses von Ždanov im Jahr 1948 geschrieben worden sind. Die Satzfolge der beiden früheren Suiten Ustvol’skajas sieht folgendermaßen aus: Pionier-Suite:
1. Trompetenruf 2. Im Wald (Märchen) 3. Erholung 4. Spiel 5. Fest 6. Trompetenruf
Kinder-Suite:
1. Morgen 2. Heiterer Spaziergang 3. Puppen-Ballerina 4. Bärentanz 5. »Abfangen« (Spiel) 6. Auf der Lichtung 7. Streit 8. Tanz und Weinen 9. Abend
Die neun Sätze der Sport-Suite tragen keine programmatischen Titel, sondern nur unterschiedliche Tempo- und Charakterbezeichnungen. Natürlich nützt auch Ustvol’skaja die Möglichkeit, unterschiedlichst gestaltete Satztypen nebeneinanderzustellen, die vor allem durch sehr abwechslungsreiche Instrumentierungen gekennzeichnet sind. Formal ist allen drei Suiten gemeinsam, dass der letzte Satz den Beginn wieder aufgreift (in der Sport-Suite sind die Sätze acht und neun variierte Wiederholungen der ersten beiden Sätze). Ein Großteil der einzelnen Sätze ist architektonisch äußerst einfach, zumeist in A-B-A-Form, aufgebaut. Es handelt sich demnach zweifellos um eine gefällige, eingängige Musik, die allerdings sowohl ein plattes, folkloristisches Aneinanderreihen von volksmusikalischen Zitaten vermeidet, als auch durch ein Bemühen um eine substanzielle Verarbeitung gekennzeichnet ist. Den einzelnen Teilen liegen immer sehr sparsame motivische Bausteine zu Grunde, wobei oft auch unterschiedliche Sätze durch motivische Verwandtschaften gekennzeichnet sind. Der Satzbau ist 184
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dadurch gekennzeichnet, dass der/den melodieführenden Stimme/n zumeist noch eine kontrapunktische Linie hinzugefügt ist. Zweistimmigkeit wird selten überschritten: Im ersten Satz der Pionier-Suite wird das Hauptmotiv in den Violinen mit einer zweistimmigen kontrapunktischen Linie in den Oboen, Klarinetten und Violen kombiniert. Typisch ist auch die aufgelockerte Instrumentierung, die zumeist erst am Satzende in das Orchestertutti übergeführt wird. Für die beiden früheren Suiten typisch ist überdies die äußerst einfache tonale Faktur, die kaum je durch Chromatik getrübt wird (s. Notenbeispiel 21, im Anhang). Auch wenn für die Entstehungszeit der Suiten unterschiedliche Daten kursieren (vgl. Werklisten), so sind doch die Pionier- und die Kinder-Suite die beiden früheren Werke; die Sport-Suite ist etliche Jahre später (1959) entstanden. Die kompositorische Faktur der Sport-Suite unterscheidet sich einigermaßen von ihren Vorgängern, wobei diese Unterschiede nicht, zumindest nicht allein, durch die Programmatik begründet werden können. In weiten Bereichen des Stücks weicht die vormals nahezu ungetrübte Diatonik einer wesentlich stärkeren Chromatisierung. Ebenso wird die terzgeschichtete tonale Akkordbildung über weite Strecken sistiert; so begegnet man immer wieder Sekund- und Quartparallelen (s. Notenbeispiel 22, im Anhang). Besonders auffallend ist der 5. Satz, der – bis auf den Schluss – zur Gänze auf Cluster-Klängen beruht, die eine Abfolge von kurzen ostinaten Modellen grundieren. Herkömmliche Tonalität oder Modalität ist hier völlig außer Kraft gesetzt (s. Notenbeispiel 23, im Anhang). Das ist eine musikalische Textur, die eher auf die andere Schiene, auf die »eigentlichen« Werke Ustvol’skajas, verweist, und die in ähnlicher Form in den früheren Suiten überhaupt nicht vorkommt – wohl aber im Loblied, der letzten »sowjetischen« Komposition (1961). Ähnliches lässt sich für die Dynamik sagen: Dieser Satz beruht, wieder abgesehen vom Schluss, auf durchgehenden ff bzw. fff-Klängen, ohne irgendwelche Übergänge. Typisch ist der abrupte Wechsel vom dreifachen Forte zum Piano am Ende des Satzes, wo überdies die Cluster in Quartklänge transformiert werden, die typischerweise auch durch Sekundreibungen gekennzeichnet sind (s. Notenbeispiel 24, im Anhang). Es muss allerdings hinzugefügt werden, dass einige Sätze auf wesentlich konventionelleren Mitteln beruhen; insgesamt ist diese Suite demnach kompositionstechnisch äußerst heterogen gestaltet.
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• • • • •• • • • • ••• • • •• • • • •• • Schon mehrfach wurde auf die Schwierigkeiten verwiesen, Bezugspunkte für die Entwicklung des kompositorischen Denkens Galina Ustvol’skajas zu bestimmen. Wir wissen von einigen Vorlieben (Mahler, Stravinskij) und Abneigungen (Skrjabin), aber wenig darüber, mit welcher Musik sie sich wirklich näher auseinandergesetzt hat. Sogar über das, was sie an zeitgenössischen Stücken überhaupt gekannt hat bzw. gekannt haben konnte, lässt sich weitgehend nur spekulieren (zumindest, was die Zeitspanne zwischen den 1930er und 1960er Jahren betrifft). Zweifellos aber war sie mit dem Œuvre ihres Lehrers Dmitrij Šostakovič konfrontiert, auch wenn sie sich in späteren Jahren völlig von ihm distanzierte und verlautbarte, dass dessen Musik für sie niemals ein Anknüpfungspunkt gewesen sei. In der bislang vorliegenden Literatur über die Komponistin wird dieses Verhältnis ziemlich einhellig eingeschätzt: Die Beschäftigung mit der Musik Šostakovičs habe anfangs zwar eine Rolle gespielt, allerdings sei es ihr bald gelungen, sich von diesem Vorbild zu lösen. In Hinblick auf eine genauere Betrachtung dieses Aspekts bietet es sich an, folgende durch das Klavier geprägte Werke bzw. Werkgruppen gegenüberzustellen (verwiesen sei an dieser Stelle aber auch auf das 5. Streichquartett von Šostakovič, in dem ein Thema aus Ustvol’skajas Klarinettentrio eine bemerkenswerte Rolle spielt; vgl. Kap. Schülerin von Dmitrij Šostakovič): Šostakovič
Ustvol’skaja
Konzert für Klavier, Streichorchester – Konzert für Klavier, Streichorchesund Trompete op. 35 (1933) ter und Pauken (1946) 1., 2. Klaviersonate (1926, 1943) – 1., 2. Klaviersonate (1947, 1949) 24 Präludien & Fugen (1933, 1951) – 12 Präludien (1953)
Eine unmittelbare Bezugnahme Ustvol’skajas auf ein Werk Šostakovičs dürfte, wenn überhaupt, am ehesten im Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauken, der frühesten der von ihr als gültig erachteten Kompositionen, zu finden sein. Schon ein oberflächlicher Blick lässt gewisse Ähnlichkeiten erkennen, die geradezu auf eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Stück ihres Lehrers – bei dem sie 1946 ja noch studierte – verweisen könnten: In beiden Fällen ist das Orchester auf den Streicherapparat reduziert; bei Šostakovič kommt noch die Trompete, bei Ustvol’skaja die Pauken, hinzu. Beide Stücke beginnen in c-Moll und enden in C-Dur. Schließlich ist die 186
Betrachtung des Werkes
Eröffnung beider Konzerte entsprechend der Gattungstradition durch einen ähnlichen brillanten Gestus geprägt, und auch die ersten Themen, die sich herausschälen, tragen verwandte Züge:
Notenbeispiel 25: Šostakovič, 1. Klavierkonzert, S. 3 © Mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition A. G. Wien
Notenbeispiel 26: Ustvol’skaja, Klavierkonzert, S. 6 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Auch auf satztechnischer Ebene oder in Hinblick auf den dramaturgischen Charakter von Steigerungsprozessen ließen sich Parallelen aufspüren. Dennoch möchte ich behaupten, dass die Unterschiede überwiegen, dass Galina Ustvol’skaja bereits in diesem Stück deutlich daran gelegen war, sich von ihrem Lehrer zu emanzipieren. Das lässt sich zunächst schon durch einen Blick auf die formale Gestaltung und auf den Umgang mit der Tonalität erkennen: Bei Šostakovič ist der Rekurs auf die traditionelle Satztypologie mit den entsprechenden formalen Implikationen deutlich, manchmal geradezu plakativ. Auch die tonalen Dispositionen sind über weite Strecken den Erwartungen entsprechend: So folgt dem ersten Thema in der Tonika (s. o.) in den beiden Ansatzpunkt Šostakovič?
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folgenden Themen (bei den Ziffern 6 und 10) die Parallele Es-Dur, die Reprise steht wieder in der Tonika. Natürlich muss hinzugefügt werden, dass gerade dieses traditionelle Gerüst den Rahmen gibt für allerlei Verfremdungen, Verballhornungen und komisch-grotesken Einschübe: »Während Šostakovič dem Kopfsatz seines ersten Klavierkonzerts durch den Rahmen der Sonatenhauptsatzform einen deutlich überschaubaren äußeren Zusammenhang verleiht, der durch die eingefügten Späße nur für Augenblicke durchbrochen wird, scheint das Finale dieses Konzerts völlig ›aus den Fugen geraten‹ zu sein: Gleich kaleidoskopartig sich verändernden Bildern wechseln die Ausdruckscharaktere der zumeist kurzen, aneinandergereihten Abschnitte des Schlusssatzes, der mit musikalischen Zitaten, Reminiszenzen, Stilkopien und parodistischen Verfremdungen sowie abruptem Wechsel zwischen tonalen und atonalen Partien, Marsch- und Jazzrhythmen an das Gestaltungsprinzip der Collage erinnert.« (Stille 1990, S. 403)
Ustvol’skajas einsätziges Konzert lässt nur mehr ansatzweise Anknüpfungen an die traditionelle Architektonik erkennen. Der Satz ist in folgende Abschnitte unterteilt:
Der Beginn – mit einer langsamen Einleitung, einem durchaus sonatenhaften Allegro und einem anschließenden lyrischen Andante cantabile – kann durchaus noch im Sinne der Gattungstradition verstanden werden, wenngleich die konventionelle tonale Verankerung spätestens ab dem Andante völlig außer acht gelassen und erst am Ende (beim Pesante ab Ziffer 21) wieder angepeilt wird. Dazwischen ist der harmonische Verlauf sehr heterogen, über weite Strecken ist eine tonale Orientierung kaum mehr auszumachen. Gelegentlich werden aber auch klare tonale Dispositionen gesetzt, 188
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so etwa bei der variierten Wiederkehr des Allegro moderato-Abschnitts bei Ziffer 17 (As-Dur). Es korrespondieren aber nicht nur die beiden Allegro-Teile miteinander, sondern auch das Andante und das Largo, sowie das Lento und das Grave/Pesante, so dass insgesamt eine klare Bogenform entsteht. Gravierend werden die Unterschiede zwischen beiden Künstlern, wenn man nach den jeweiligen ästhetischen Intentionen sucht, die hinter den spezifischen kompositorischen Ausprägungen der beiden Werke vermutet werden können. Bei Šostakovič fungiert der formale wie auch der tonale Rahmen als Gerüst für bedeutungstragende musikalische Inhalte. Gerade das Festhalten an konventionellen Modellen ermöglicht ihm ein Spiel mit Erwartungshaltungen, die im Fall des melodisch weit ausschwingenden, elegischen zweiten Satzes weitgehend erfüllt, im ersten und insbesondere im letzten Satz aber lustvoll durchkreuzt werden. So werden die Hörenden verblüfft durch Anklänge an jazzige Rhythmen, an Gassenhauer oder militärmusikalische Idiome, gelegentlich auch durch schalkhaft-ironische Bezugnahmen auf Themen von Haydn, Beethoven oder ihm selbst. Während einer Tagung von Moskauer und Leningrader Komponisten und Musikwissenschaftlern im Februar 1935 in Moskau sah sich Šostakovič offensichtlich veranlasst, dieses Vorgehen gegen kritische Einwände zu verteidigen: »Ich habe eingangs dem beigestimmt, dass ich durch Leichtfertigkeit gesündigt habe, als ich ordinäre Motive, besser gesagt, Gassenmotive, verwendete. Vielleicht habe ich in dieser Beziehung nicht ganz richtig gehandelt, aber es war von mir gut gemeint, ich wollte eine gute Unterhaltungsmusik schreiben, die Vergnügen bereitet oder wenigstens – vielleicht sogar einen qualifizierten Hörer – zum Lachen bringt. Und wenn das Publikum bei der Aufführung meiner Musik lacht oder einfach lächelt, bereitet mir das Vergnügen.« (Zit. nach Hellmundt/Meyer 1983, S. 45)
Dieses Spiel mit Erwartungshaltungen, das lustvolle Collagieren unterschiedlichster musikalischer Stilschichten, das Verweisen, das Verfremden – all das ist Ustvol’skaja völlig fremd. Ganz im Gegenteil: Von Anfang an scheint es der Künstlerin darum zu gehen, sich von jeglicher konventioneller Gestik möglichst zu befreien. Das ist im Klavierkonzert nur in Ansätzen erkennbar, am deutlichsten vielleicht gerade dort, wo ein traditioneller Zug vorzuliegen scheint: Wie Šostakovič beendet auch Ustvol’skaja ihr Konzert mit wuchtigen Schlägen, die nach C-Dur führen. Nach dem modifizierten ReprisenerAnsatzpunkt Šostakovič?
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eignis im Grave (Ziffer 18, T. 177ff.) beschränkt sich zum Schluss hin der Satz – und vor allem der Klavierpart – immer mehr auf die das Werk eröffnende rhythmische Figur, verbunden mit schlagwerkartigen Akkorden des Streicherapparats:
Notenbeispiel 27: Beginn © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
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Notenbeispiel 28: Grave, S. 35 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Ansatzpunkt Šostakovič?
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Notenbeispiel 29: Schluss, S. 45 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Wenn bei Šostakovič die überspitzt-banalen C-Dur-Repetitionen im Geschwindmarschtempo erst beim dritten Anlauf zum angepeilten Schluss finden, und die störungsfreie Tonalität somit eher im Dienst einer ironischen 192
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Konzeption zu verstehen ist denn als Ausdruck einer emphatischen tonalen Schlussfindung, so gilt letzteres auch für die vielfachen Repetitionen am Schluss von Ustvol’skajas Konzert: Auch der Schülerin ist nicht an der Hervorkehrung einer strahlenden Wendung nach Dur im Sinne des OptimismusDogmas des Sozialistischen Realismus gelegen. Ihr geht es aber auch nicht um Ironie oder Überzeichnung, sondern um neuartige klangliche Qualitäten. Konventionell ist hier allerdings noch der weit ausholende crescendierende Gestus, der schließlich in das vierfache Forte des Schlussakkords mündet. In den späteren Werken sind ausschließlich Klangkaskaden zu finden, die abrupt auftreten und keinen konventionellen dramaturgischen Bögen unterliegen. Im Rahmen von Ustvol’skajas Frühwerk spielen die Klaviersonaten eine wichtige Rolle. Wie das Klavierkonzert entstand die erste Sonate noch in der Studienzeit, die zweite in der Zeit der Aspirantur (1947-50). Somit dürfte sich auch hier die Fragestellung lohnen, ob in diesen Stücken eine Auseinandersetzung mit den beiden Klaviersonaten Šostakovičs (1926, 1943) aufzuspüren ist. Siegfried Mauser sieht die Gattungstradition der Klaviersonate ab dem frühen 20. Jahrhundert durch zwei ästhetisch klar unterscheidbare Tendenzen geprägt: Eine davon könne als klassizistisch bezeichnet werden, wobei innerhalb dieser noch zwischen einer »affirmativ-klassizistischen« Haltung, die rekonstruktive, revitalisierende Absichten verfolge, und einer »verfremdend-klassizistischen« Haltung, die durch einen kritischen, distanzierenden, brechenden Charakter zu kennzeichnen wäre, unterschieden werden müsste (Mauser 2004, S. 333ff.). Davon zu differenzieren seien experimentelle Tendenzen, bei denen der Terminus Sonate letztlich auf seine Wurzel als ein von einem Instrument erzeugtes Klangstück reduziert wäre. Die affirmativ-klassizistische und die verfremdendklassizistische Tendenz, die natürlich auch in Formen der Überlagerung zu beobachten ist, sieht Mauser idealtypisch in Hanns Eislers 1. Klaviersonate (1923) und Igor’ Stravinskijs Sonate pour Piano (1924) verkörpert. Als Beispiele für eine weitgehende oder völlige Abkehr von der Gattungstradition nennt Mauser die drei Sonaten von Pierre Boulez (1946, 1948, 1957), die sich allerdings erst sukzessive von den Gattungsnormen entfernen würden, und die sechs Klaviersonaten von Galina Ustvol’skaja, die abgesehen davon, dass in ihnen laute und leise, bzw. schnelle und langsame Teile kombiniert würden, überhaupt keine gattungsspezifischen Merkmale aufweisen würden. Šostakovičs Klaviersonaten sind, ungeachtet ihres völlig unterschiedlichen Wesens, deutlich der ersten Tendenz zuzuordnen. Im Unterschied zum 1. Klavierkonzert fehlen die verfremdenden Zugriffe weitgehend, so dass insbesondere die viel avanciertere erste Sonate als Versuch verstanden werden kann, die ehrwürdige Gattungstradition mit unterschiedlichen zeitgemäßen kompositiAnsatzpunkt Šostakovič?
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onstechnischen Verfahren zu revitalisieren. Motorik und üppige Klanglichkeit, die Verschränkung von Sonatenzyklus und Sonatenform, weiträumige motivische Verquickungen, äußerst heterogene harmonische Dispositionen inklusive atonaler kontrapunktischer Linien, und diverse Anspielungen – all das lässt den jungen Šostakovič zu dieser Zeit als aufgeschlossenen Künstler mit internationaler Perspektive erkennen. In dieser vielfältigen Partitur mag die junge Galina Ustvol’skaja einiges entdeckt haben, das sie interessiert haben könnte (die viel konservativere, weitgehend den stilistischen Dogmen des Sozialistischen Realismus verpflichtete 2. Klaviersonate kann als Interessensobjekt für die Schülerin außer Acht gelassen werden). Wie bei Šostakovič ist auch in Ustvol’skajas erster Sonate eine zweistimmige kontrapunktische Linienführung maßgebend, oftmals mit Oktavverdoppelungen in der linken Hand. Es wurde bereits erwähnt, dass das Primat der Linearität des Öfteren als Leningrader Spezifikum herausgestellt worden ist (vgl. z. B. Gojowy 1980, S. 122ff.).
Notenbeispiel 30: Šostakovič, 1. Klaviersonate, S. 9 © Mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition A. G. Wien
Notenbeispiel 31: Ustvol’skaja, 1. Klaviersonate, Schluss 1. Satz © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
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Betrachtung des Werkes
Ihr besonderes Augenmerk könnte dem Schluss des ersten Allegro-Abschnitts aus Šostakovičs erster Sonate gegolten haben, der sich in seinem reduktiven klanglichen Gestus blockhaft aus der Umgebung herausschält:
Notenbeispiel 32: Šostakovič, 1. Klaviersonate, S. 14 © Mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition A. G. Wien
Auffallend ist hier neben der drastischen, weitgehend unvermittelten Gegenüberstellung dynamischer Gegensätze (fff - ppp) der reduzierte melodische Gestus mit kontinuierlichen Akzentuierungen im dynamisch lauten Bereich. Bemerkenswert sind des Weiteren die viertönigen Sekundcluster, die geradezu als Grundbaustein von Ustvol’skajas Vokabular bezeichnet werden können und noch in den beiden späten Klaviersonaten, insbesondere der fünften, einen hervorgehobenen Stellenwert einnehmen. Ustvol’skajas 1. Klaviersonate hat noch einen recht heterogenen Charakter. Zumindest ansatzweise könnte man die vier Sätze mit der herkömmlichen Satztypologie einer Sonate in Verbindung bringen: Vom Gestus her knüpft der erste Satz an einen typischen Kopfsatz an, der zweite erinnert angesichts Ansatzpunkt Šostakovič?
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des raschen Tempos, des Dreiertakts und der Punktierungen an ein Scherzo, und der dritte erfüllt die Funktion eines langsamen Satzes. Wenngleich dem Schlusssatz keine traditionelle Ausklangfunktion zugewiesen werden kann, so ergibt sich durch die Bezugnahmen auf die vorangegangenen Sätze zumindest ein resümierender Charakter. Ein weiteres traditionelles Moment zeigt sich gleich am Beginn des vierten Satzes, dessen elegisch schwingender Rhythmus noch klar einer metrischen Grundierung verpflichtet ist:
Notenbeispiel 33: Ustvol’skaja, 1. Klaviersonate, Beginn 4. Satz © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Diese metrische Bindung wird schon in der wenig später komponierten 2. Klaviersonate verlassen und in weiterer Folge nie mehr aufgegriffen (dort, wo in späteren Werken Taktstriche angebracht sind, dienen diese nur der Koordination). Andererseits findet man aber auch schon in der ersten Sonate alle Facetten von Ustvol’skajas charakteristischen Ausdrucksmitteln, die auch in den späteren Werken zum substanziellen Vokabular gehören: Gemeint ist etwa die Akzentuierung sämtlicher Noten in den ersten beiden Sätzen, der Zugriff auf extreme dynamische Mittel (bis zum fffff), oder die Verwendung von Clustern (die auch hier schon als klangliche Ausgestaltung einer melodischen Linie zu verstehen sind). Neben den für sie auch in den späteren Werken typischen abrupten dynamischen Kontrasten gibt es hier allerdings noch graduelle Prozesse. Schließlich zeichnet sich deutlich ein weiterer fundamentaler Wesenszug ab – die Tendenz zur Reduktion. Das gilt sowohl für den rhythmischen Verlauf, der über weite Strecken auf starre Bewegungstypen beschränkt ist, als auch für den Klangaufbau: Wenn die vorherrschende karge Zweistimmigkeit in der Vertikale überboten wird, dann zumeist durch Cluster (Ausnahmen sind im dritten Teil zu beobachten). Noch deutlicher zeigen sich die für Ustvol’skajas Werk auch weiterhin so markanten kompositionstechnischen Eigenheiten in der wenig später entstandenen 2. Klaviersonate. Vieles davon lässt sich schon durch einen Blick auf den Beginn erkennen: 196
Betrachtung des Werkes
Notenbeispiel 34: Ustvol’skaja, 2. Klaviersonate, Beginn © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Bis auf wenige kurze Passagen ist die gesamte Sonate durch einen durchgehenden Viertelpuls, der mittels der pointierten Ausweisung als ¼-Takt noch betont wird, gekennzeichnet. Taktstriche werden somit überflüssig, und das gilt auch für nachfolgende Werke, wo kein ¼-Takt vorgezeichnet ist. Der entscheidende Grund für den Verzicht auf Taktstriche liegt in Ustvol’skajas Absicht, nur »Hauptsachen« zu schreiben: Jeder Note soll gleiches Gewicht zugemessen werden. Es gibt keine Einleitungen, die zum Wesentlichen erst hinführen würden, keine bloß ausklingenden Passagen und keine Ornamentik. Wenn in weiterer Folge hierarchische Verhältnisse überhaupt auftauchen, dann am ehesten durch die Hervorhebung von bestimmten Tonqualitäten. Ein Vergleich mit der sowjetischen Kompositionslandschaft der Zeit bringt zu Tage, dass der Verzicht auf Taktstriche auch bei anderen Künstlern begegnet, etwa bei Jurij Bucko, Alfred Šnittke oder Rodion Ščedrin (vgl. Redepenning 2009, S. 14ff.). Zum einen ist das allerdings deutlich später zu beobachten – nämlich als Reaktion auf Nikolaj Uspenskijs Sammlung Beispiele altrussischer Gesangskunst aus dem Jahr 1968 – und zum anderen niemals in dieser Konsequenz wie bei Galina Ustvol’skaja. Das gilt im Übrigen auch für einige andere kompositionstechnische Mittel: Auch die Verwendung von Clustern, das Aufeinanderprallen von dynamischen Extremen, die Tendenz zum Reduktionistischen oder die Aussparung der Mittellage findet sich bei Ansatzpunkt Šostakovič?
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verschiedenen Zeitgenossen, aber eben nicht in dieser Konsequenz und zumeist nicht so früh. Der Beginn der zweiten Sonate lässt schließlich noch weitere bezeichnende Charakteristika erkennen, so etwa die über weite Strecken vorherrschende zweistimmige kontrapunktische Stimmführung (die ja bereits die erste Sonate geprägt hat). Deutlich ist außerdem die Bevorzugung von Sekundschritten in der Melodieführung, aber auch in der Vertikale (in späteren Werken begegnet man diesbezüglich noch radikaleren Konzeptionen – in der Komposition Nr. 1 etwa sind nahezu alle horizontalen und vertikalen Tonfolgen auf Sekundschritte beschränkt). Auch die akkordischen Erweiterungen offenbaren eine typische Vorgangsweise: Wenn es sich nicht ohnehin um Clusterklänge handelt, so begegnen die Sekunden, wie im obigen Notenbeispiel, in oktavversetzter Form (große Septimen, kleine Nonen, verminderte Oktaven). Die Dominanz von Sekunden und der Versuch, jedem Ton gleiches Gewicht zu verleihen, ziehen aber noch andere Konsequenzen nach sich: Kann in dieser Musik dann überhaupt von »Motiv« oder »Thema« die Rede sein? Ein Motiv oder Thema müsste sich ja aus dem Kontext hervorheben, gerade das wird aber konsequent vermieden. Des Weiteren entstehen durch die intervallische Reduktion natürlich Ähnlichkeiten auf Schritt und Tritt, so dass die Suche nach motivischen Verwandtschaften wenig Sinn machen würde. Ebenso könnte man da und dort Skalenausschnitte, etwa aus modalen Skalen, herausfiltern, aber auch daraus ließe sich kein Bezugssystem, schon gar nicht auf systematischer Basis, ableiten. So wie es aussieht, spielen derartige Skalen für das kompositorische Denken Ustvol’skajas überhaupt keine Rolle, niemals sind größere Abschnitte darauf bezogen. Als letztes Charakteristikum sei noch darauf verwiesen, dass in dieser Sonate der letzte Rest von typisch pianistischer Gestik, geschweige denn Virtuosität, eliminiert ist. Das gilt auch für ihre 1953 komponierten 12 Präludien, in welchen alle der aus dem Anfang der zweiten Sonate abgeleiteten Stilmerkmale weitergeführt werden. Wie überhaupt im 20. Jahrhundert spielte die Komposition von Präludiensammlungen, zum Teil mit Fugen, auch in der sowjetischen Kompositionsgeschichte eine nicht unerhebliche Rolle. Šostakovič schrieb, neben mehreren Stücken aus der Studienzeit, gleich zwei derartige Sammlungen zu je 24 Präludien und Fugen, eine erste 1932/33 (op. 34), und eine weitere 1950/51 (op. 87). Der Bezug auf Bach steht bei letzterer schon durch den Kontext der Entstehung außer Frage: Šostakovič war im Sommer 1950 Mitglied einer sowjetischen Delegation, die anlässlich der 200-Jahr-Feier von Johann Sebastian Bachs Todestag an entsprechenden Feierlichkeiten in Ost-Berlin und Leipzig teilnahm. Im Gefolge dar198
Betrachtung des Werkes
auf entstand der Zyklus, der immerhin noch in der Ära Stalin gedruckt und zur Aufführung gebracht werden konnte (am 23. und 28. Dezember 1952 in Leningrad). Im Zwist, ob es sich dabei um das Werk eines Dissidenten oder doch eher um angepasste Stücke handeln würde, neige ich, wie Mark Mazullo, eher dem letzteren zu, wenngleich hinzuzufügen ist, dass eine allzu platte dichotomische Auffassung von regimekritisch versus regimetreu abzulehnen ist: »Šostakovičs reputation did not suffer in any serious way as a result of this composition. Which was, after all, officially published and given a public premiere before Stalin’s death. While elements of parody and caricature are certainly present in the Preludes and Fugues, and while other aspects – the occasional reference to Jewish music in particular – might draw our attention as potentially ›critical‹ in spirit, the cycle simoultaneously, and perhaps more pervasivly, speaks in an accessible and ultimately apolitical voice. This makes a view of the Preludes and Fugues as an act of dissidence difficult to sustain in the end. Such a view is appealing to those who wish to emphasize the suffering that Šostakovič endured as an artist.« (Mazullo 2010, S. 25)
Der Zyklus op. 87 ist von seiner Entstehungszeit her zwischen zwei »sowjetischen« Stücken (Das Lied von den Wäldern, 1949; und Über unserer Heimat strahlt die Sonne, 1952) eingebettet, in denen Šostakovič in besonderer Weise der staatlich verordneten Ideologie entsprochen hat. Ersteres hat ihm auch den Stalinpreis der ersten Stufe eingebracht. Als prominentester sowjetischer Komponist hätte er es sich wohl nicht erlauben können, die ideologischen Forderungen zu negieren. Bemerkenswert ist allerdings, dass er mit dem ersten Fugenthema aus op. 87 die Eröffnung des Vokalparts aus Das Lied von den Wäldern zitiert, der folgender Text zugeordnet ist: »Der schwere Kampf, er ist vollbracht, nun atmets wohlig sich und gut. Ein neuer Lenz dem Lande lacht.« (übersetzt von Erwin J. Bach; Edition Peters Nr. 4607) Wie immer man das auch deuten will – es ist doch eigenartig, dass Šostakovič auch in einer Komposition, die gewissermaßen als gesichertes Rückzugsgebiet in Hinblick auf seine Rolle als Staatskomponist betrachtet werden könnte, Bedeutungshaftes in dieser Ausprägung hineinverpackt. Nachdem Bach 1950 groß als »einer der Eigenen« gefeiert worden war, war das als Akt der Rechtfertigung wohl kaum notwendig. Dennoch waren vielen Mitgliedern des Komponistenverbandes diese programmatischen Anspielungen offenbar noch zu wenig: In einer Versammlung des Verbandes im April/Mai 1951, also noch deutlich vor der ersten Ansatzpunkt Šostakovič?
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Aufführung, wurden die Präludien nach zweimaliger Anhörung eingehend besprochen. Zumindest einem publizierten Bericht nach überwogen deutlich die negativen Reaktionen. Ein Blick darauf lohnt sich schon insofern, als dadurch die Erwartungen im Sinne des Sozialistischen Realismus in besonderer Weise greifbar werden. Stein des Anstoßes war beispielsweise, dass Šostakovič russische nationale Melodien »durch komplizierte konstruktive Schliche verschleiert«, und »traurig-subjektivistische Seiten der Bach’schen Musik« wiedergegeben hätte (Probleme der sowjetischen Musik 1953, S. 155). Insbesondere die »unerträglich kakophone Fuge in Des-Dur« erinnere an die »längst vergessenen Beispiele nervös verkrampfter Musik« (ebd., S. 156). Solche allzu subjektiven Stücke könnten nicht als »typisch für die innere Welt des sowjetischen Menschen« (ebd., S. 157) anerkannt werden; »dazu bedürfte es eines genauen und zielgerichteten Inhalts« (ebd., S. 158). Was auch immer damit gemeint ist – diese Reaktionen zeigen deutlich, dass reine Instrumentalmusik aus sowjetischer Perspektive grundsätzlich als gefährdet angesehen wurde, ins abstrakt-konstruktive abzugleiten und damit einer positiven Verkörperung des Sowjetmenschen nicht zu genügen. Šostakovičs Präludien und Fugen mögen zwar für Galina Ustvol’skaja eine Anregung geboten haben, auch eine Sammlung von 12 Präludien (1953) zu verfassen; in ihrem Fall dürfte aber weder eine explizite Auseinandersetzung mit Bach noch mit anderen einschlägigen Vorbildern eine Rolle gespielt haben. Ebensowenig ist eine Zyklusbildung zu erkennen, schon gar nicht auf tonaler Basis wie bei Šostakovič, der beide Sammlungen nach dem Quintenzirkel angeordnet hat. Vielmehr könnten diese kurzen Stücke als Spielwiese für die Entfaltung der in der 2. Klaviersonate entworfenen Stilmittel verstanden werden. Die auf Reduktion ausgerichteten Grundprinzipien, die am Beispiel des Beginns der zweiten Sonate erörtert worden sind, gelten allesamt auch hier, wenngleich jedes Präludium sein eigenes, spezifisches Gepräge aufweist. Dieses spezifische Gepräge ergibt sich vor allem durch unterschiedliche Tempi und Dynamik, den Bewegungsgestus (weitgehend durchgehende Viertelbewegung: I, II, III, V, VI, XI, XII; Wechsel Viertel-Achtel: IV, VII, X; weitgehend durchgehende Achtelbewegung: VIII, IX), und den sparsamen Einsatz von Akkorden, die den überwiegend linearen Gestus ergänzen. Insgesamt geht es eher um Nuancierungen derselben Ausdrucksmittel als um eine kontrastreiche Entfaltung. Ein genauerer Blick auf das erste Präludium (s. Notenbeispiel 35, im Anhang; bzw. Tafel 13) lässt schließlich, über die genannten allgemeinen Stilmerkmale hinaus, Strategien der Formbildung erkennen, die ebenfalls für das gesamte weitere kompositorische Schaffen Galina Ustvol’skajas re200
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levant sind. Gleich zu Beginn wird ein melodisches Modell vorgestellt, das die Grundlage für das gesamte Stück darstellt. Dieses Modell besteht aus zwei Bausteinen: Baustein A ist ein Pendelmotiv (zunächst mit kleiner Sext, in weiterer Folge zumeist durch den übermäßigen Oktavsprung erweitert), das mit einer Fermate auf dem c‘‘ endet. Dieses c‘‘ wird sich als einer von zwei Zentraltönen erweisen. Baustein B ist ein aufsteigender Quartgang, der zunächst ebenfalls vom C ausgeht. Der darauffolgende Quartgang startet vom as, das im zweiten Teil des Präludiums, der am Ende der vierten Zeile beginnt, zum Zentralton wird. Das Stück endet schließlich mit einem Zusammenklang der beiden Zentraltöne c und as. Damit sind bereits zwei wichtige kompositionstechnische Aspekte angesprochen, die beide mit der Relevanz von Hierarchien zu tun haben. Im Kapitel über das grundlegende kompositorische Profil ist die tendenzielle Haltung Ustvol’skajas herausgearbeitet worden, Hierarchien zu vermeiden. Eine Ausnahme davon, die auch in späteren Werken immer wieder zu beobachten ist, betrifft die Hervorhebung bestimmter Tonqualitäten (hier: c‘‘, as‘‘), zumeist sogar in einer ganz spezifischen Oktavlage. Der zweite Aspekt betrifft die Wortwahl für die das Präludium eröffnende melodische Phrase: Die Entscheidung, »Modell« und »Baustein« statt »Thema« und »Motiv« zu verwenden, ist der Einschätzung geschuldet, dass es sich um keine hierarchisch hervorgehobenen musikalischen Einheiten handelt. Zumindest der Terminus Thema würde aber gemäß der traditionell ihm zugesprochenen Bedeutung genau das insinuieren. Ein Thema sticht in der Regel aus dem Satzgefüge hervor und würde auch im weiteren Verlauf des Satzes als Hauptsache erscheinen, der untergeordnetere Ereignisse gegenüberstehen würden. Davon kann aber hier, wie in allen ihren »eigentlichen« Werken, keine Rede sein. Vielmehr geht es um additive Transformationen eines Modells. Der zunächst möglicherweise etwas beliebig erscheinende Begriff der Transformation zielt auf eine Veränderung ohne Substanzverlust; in der Linguistik wäre das etwa die Umformung einer Satzstruktur unter Wahrung der Bedeutung. Insofern ist hier der Begriff der Transformation dem der Variation vorzuziehen (vgl. Holzer 2001, S. 531ff.). Die fortlaufende Transformation eines Modells hat auch Konsequenzen für Wiederkehrendes: Wenn am Beginn der fünften Zeile der aufsteigende Quartgang des eröffnenden Modells wieder aufgegriffen wird und auch die nachfolgenden Quartgänge entsprechend der Reihenfolge des ersten Teils erklingen, so resultiert daraus dennoch kein emphatisches Reprisen-Erlebnis. Ein solches kann sich deshalb nicht einstellen, weil ja niemals eine Entfernung von der grundlegenden Substanz stattgefunden hat. Ähnliches gilt auch für die meisAnsatzpunkt Šostakovič?
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ten späteren Werke: Fast immer gibt es derartige Reprisenereignisse, allerdings immer ohne traditionelle dramaturgische Inszenierungen im Sinne einer emphatischen Rückkehr. Die nächste Fragestellung beschäftigt sich damit, ob die Folge der Transformationen durch irgendwelche Prinzipien, eventuell systematischer Natur, gesteuert ist. Klar ersichtlich ist die Einteilung des Stücks in zwei Teile, die durch identische Abfolgen der Modell-Transformationen bestimmt sind. In Teil 1 bildet das Modell die Oberstimme, der sich ab Ende der ersten Zeile eine Unterstimme hinzugesellt, die ebenfalls aus dem Modell abgeleitet ist. Teil 2, der Ende der vierten Zeile beginnt, ist dadurch bestimmt, dass die in Teil 1 in der Oberstimme liegenden Transformationen nunmehr in die Unterstimme wandern, während in der Oberstimme ein neues, absteigendes, melodisches Modell hinzukommt, das immer in ein lang ausgehaltenes as‘‘ – den zweiten Zentralton – mündet (vor diesem steht immer, als Viertelnote, ein a‘‘). Ein weiteres neues Element bilden längere Töne (b, des, d), die sich zwischen die beiden Stimmen schieben und damit eine klangliche Verdichtung ergeben. Warum gerade diese Töne? Ich glaube nicht, dass irgendein übergeordneter Plan dahintersteht; vielmehr dürften lokale Entscheidungen dafür verantwortlich sein: Die genannten Töne stehen bei ihrem Auftreten immer im Abstand einer großen Septime oder einer übermäßigen Oktave zur Oberstimme. Wie für Anton Webern sind auch für Ustvol’skaja oktavversetzte Sekundabstände generell von besonderer Signifikanz (damit soll aber keine direkte Bezugnahme in den Raum gestellt werden). In jedem Teil erklingt der aufsteigende Quartgang acht mal, in folgenden Ton- und Intervallfolgen: c – des – es – fes as – b – ces – des c–d–e–f g–a–b–c c – des – es – fes as – b – ces – des b – c – d – es f – g – as – b
(1/2 – 1 – 1/2) (1 – 1/2 – 1) (1 – 1 – 1/2) (1 – 1/2 – 1) (1/2 – 1 – 1/2) (1 – 1/2 – 1) (1 – 1 – 1/2) (1 – 1/2 – 1)
Diese Abfolge verdeutlicht, dass sich beide Teile nochmals in zwei Abschnitte gliedern lassen: Bereits ab Ende der zweiten Zeile werden die auf den Zentraltönen c und as einsetzenden Quartgänge des Beginns wiederholt, die Fortsetzung erfolgt allerdings gegenüber dem ersten Durchlauf um ei202
Betrachtung des Werkes
nen Ganzton tiefer. Den Abschluss des ersten Teils bildet schließlich das erweiterte Pendelmotiv mit Fermate; der zweite Teil, bzw. der Schluss, ist eine Überlagerung des erweiterten Pendelmotivs mit den neuen Elementen des zweiten Teils. Das Stück ist demnach recht deutlich durch Wiederkehrendes und auch durch die Ruhepunkte der Fermaten (die allerdings auf Anweisung durch die Komponistin nicht zu ausladend ausfallen sollten) gegliedert. Aber unterliegt diese Gliederung einer bestimmten Systematik? Oder: Ist eine zielgerichtete Entwicklung erkennbar bzw. hörbar? Trotz einiger Regelmäßigkeiten ist nichts zu entdecken, was auf die Erfüllung eines vorab erdachten Systems verweisen würde (zu erinnern ist diesbezüglich an die durch die Ustvol’skaja-Literatur geisternde Nachricht über eine englische, katholische Nonne, die einen verborgenen Schlüssel hinter den Intervallbeziehungen in den Stücken der Komponistin entdeckt habe). Das gilt für die Transpositionen und die Intervallfolge der Quartgänge ebenso wie für den Aspekt der Proportion: Weder das Verhältnis der beiden Teile zueinander (der zweite Teil ist etwas länger als der erste, aber in keinem irgendwie auffälligen Verhältnis) noch die Gliederungsmarken durch die Fermaten ergeben signifikante Proportionen. Noch ein weiterer Aspekt spricht gegen die Annahme eines präkompositorischen Systems, bzw. gegen einen intervallischen Schlüssel: Ustvol’skaja hat nach eigener Aussage lange über ein Stück nachgedacht, bevor sie es entweder akzeptiert oder vernichtet hat. Das wäre wohl kaum notwendig, ginge es nur um die Ausfüllung eines bestimmten Codes. Aber auch wenn es nicht um die Erfüllung eines bestimmten Systems geht, so besteht doch kein Zweifel an einer wohldurchdachten Konzeption. Ein bloß intuitives Vorgehen, wie es die Komponistin selbst (Stichwort: Komponieren als Gnadenakt) oder einige BeobachterInnen nahelegen, schließen wir aus. Kein Ton erscheint zufällig; vielmehr ist er immer durch das Kompendium der besprochenen kompositorischen Mittel begründbar. Übrig bleibt noch die Frage, ob dieses Stück auch durch Entwicklungsstrategien geprägt, oder doch eher statischer Natur ist. Zweifellos liegt kein konventionelles Entwicklungskonzept vor, das mit der Anknüpfung an ein traditionelles Formprinzip begründbar wäre oder herkömmliche Steigerungsdramaturgien verfolgen würde. Von Entwicklungslosigkeit zu sprechen, wäre aber auch unangemessen, kommt es im zweiten Teil doch im Bereich der Fermaten zu deutlichen Verdichtungsprozessen. Diese etwas ausführlichere Besprechung des ersten Präludiums aus Galina Ustvol’skajas Sammlung sollte zeigen, dass sich die Komponistin, wie auch schon in der 2. Klaviersonate, eine eigene kompositorische Welt erarbeitet hat, die kaum mehr etwas mit der ihres Lehrers Dmitrij Šostakovič Ansatzpunkt Šostakovič?
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zu tun hat. Der konkrete Bezug auf traditionelle Formmodelle oder auch deren Verfremdung, das Spiel mit der Tonalität, das lustvolle Verweisen – all das spielt in ihrem kompositorischen Denken keine Rolle. Eher im Gegenteil: Man könnte geradezu den Eindruck gewinnen, dass sie das Œuvre ihres Lehrers allenfalls als Bezugspunkt benutzt hat, um sich radikal davon zu entfernen. Performative Extreme: Die späten Klaviersonaten Die sechs Klaviersonaten Galina Ustvol’skajas sind ein gutes Beobachtungsfeld für die Beschreibung kompositionstechnischer Veränderungen im Verlaufe ihres Schaffens, da sich die Komponistin mehr als vier Jahrzehnte lang mit dieser Gattung beschäftigt hat (die erste Klaviersonate entstand 1947, die letzte 1988). Allerdings besteht ein auffallendes Loch von 29 Jahren zwischen der vierten (1957) und fünften (1986) Sonate, so dass letztlich von zwei zeitlich weit auseinanderliegenden Gruppen gesprochen werden kann. Wodurch sich diese lang anhaltende Absenz begründen lässt, ist schwer zu sagen. Ein Aspekt ist auf jeden Fall in Erwägung zu ziehen: Nachdem sie bis zum Anfang der 1960er Jahre kontinuierlich Werke (beider »Schienen«) vorgelegt hatte, ist im darauffolgenden Jahrzehnt fast nichts entstanden, das sie an die Öffentlichkeit entlassen hat. Die nach dieser Pause entstandenen Kompositionen sind Ensemblestücke mit sehr eigenwilligen Besetzungen, in denen man unter anderem Instrumentenverbänden von acht Kontrabässen (Komposition Nr. 2) oder je vier Flöten und Fagotten (Komposition Nr. 3) begegnet. Möglicherweise waren es die zu flächigen Texturen tendierenden klanglichen Erfahrungen mit diesen Instrumentengruppen, die auch eine Erweiterung der Klangvorstellungen für das Klavier nach sich gezogen haben. Denn in den beiden letzten Klaviersonaten spielen (vor allem einen breiten Ambitus umfassende) Clusterklänge eine ungleich größere Rolle als in den Werken der ersten Gruppe. In der Literatur über die Komponistin wird mit Recht ihr außergewöhnlicher, völlig unverwechselbarer Kompositionsstil hervorgehoben, den sie schon früh entwickelt und bis zur letzten Komposition beibehalten habe. Dem ist bis zu einem gewissen Grad zweifellos zuzustimmen, da jedes Hörerlebnis, sei es das eines frühen oder späten Stücks, sofort als »typisch Ustvol’skaja« empfunden werden dürfte, selbst wenn die Bekanntschaft mit ihrem Œuvre eine begrenzte ist. Verantwortlich dafür sind jene spezifischen Charakteristika, die bereits beschrieben wurden: Kumulation extre204
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mer Ausdrucksmittel, Reduktion, Antihierarchik. Dennoch wäre es falsch, von Entwicklungslosigkeit zu sprechen. Neben der veränderten Gewichtung der Cluster ist in den letzten beiden Sonaten nochmals ein deutlich verstärkter Hang zu musikalischen Extremen zu beobachten. Das betrifft die Ausdehnung von Wiederholungen ebenso wie die Ausreizung dynamischer Extreme, wobei der Anteil des oberen Pegels weitaus im Vordergrund steht. Trifft alles zusammen – Cluster, oftmalige Wiederholungen und außergewöhnliche Lautstärke – so hat das auch außergewöhnliche physische Belastungen für die Ausführenden zur Folge, die unter Umständen sogar in Schmerzempfindungen münden dürften. Die ersten vier Sonaten waren in Hinblick auf die Dynamik durchwegs wesentlich ausgewogener, außerdem schließen sie allesamt im Pianobereich (die beiden letzten dagegen im vierbzw. fünffachen Forte). Der zunehmende Kontrastcharakter wird im Übrigen noch dadurch verstärkt, dass dynamische Übergänge von Sonate zu Sonate sukzessive nachlassen (die fünfte Sonate fällt etwas aus der Reihe); in der sechsten Sonate gibt es überhaupt kein Crescendo oder Decrescendo mehr. Schließlich muss auch noch hinzugefügt werden, dass der Verband der ersten vier Sonaten ebenfalls keineswegs als homogene Gruppe zu bezeichnen ist. Besonders stark unterscheiden sich die ersten beiden Sonaten. Ähnlich wie in Hinblick auf das gesamte kompositorische Œuvre ist der Entwicklungsaspekt auch intern, in Bezug auf die Dramaturgie einzelner Werke, schwierig zu umreißen. Gehen wir vor einer Erörterung dieser Frage anhand der späten Sonaten von der ersten vorliegenden Analyse einer Klaviersonate Galina Ustvol’skajas aus: Stefan Weiss versucht in seiner eingehenden analytischen Durchdringung des ersten Satzes der vierten Sonate (s. Notenbeispiel 36a, b, im Anhang) dem vorherrschenden Bild einer durchweg statischen Konzeption von Ustvol’skajas Musik entgegenzuwirken. Des Weiteren steht er in krassem Gegensatz zur Einschätzung Siegfried Mausers, der in deren Sonaten ein extremes Beispiel für die Entfernung von jeglicher traditioneller Sonatenkonzeption sieht (Mauser 2004, S. 333ff.). Das Ergebnis seiner analytischen Betrachtungen fasst Weiss folgendermaßen zusammen: »Richtet man den Blick auf die zuletzt genannten Erkenntnisse, wird vor allem offenbar, dass dieses Stück zurecht den Kopfsatz eines Werkes bildet, das ›Sonate‹ heißt. Mit seiner dialektisch geprägten dreiteiligen Form schreibt es sich nahtlos in die einschlägigen Gattungs- und Formtraditionen ein, die es gleichzeitig, dem Impetus der Moderne folgend, individuell erneuert. Von Exposition und Durchführung zu sprechen, wäre sicher irreführend, und Die späten Klaviersonaten
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auch bei der ›Reprise‹ sind doppelte Anführungszeichen angebracht. Trotzdem bleiben als sonatentypische Elemente der Dualismus und die veränderte Wiederkehr beider Grundgestalten offensichtlich, ferner der Beziehungszauber zwischen Elementen, die zwar gegensätzlich gestaltet, aber doch innerlich zusammengehörig sind, und schließlich vor allem der prozessuale Charakter des Ganzen.« (Weiss 2009, S. 34)
Für Weiss schreibt sich dieser Satz nahtlos in die einschlägigen Gattungs- und Formtraditionen ein. Mauser sieht, abgesehen von der Kombination langsamer und schneller, sowie lauter und leiser Teile, überhaupt keine gattungsspezifischen Merkmale. Wie kann es zu derart unterschiedlichen Einschätzungen kommen? Dafür sind wohl zwei Komponenten verantwortlich: Zum einen ist die Intention der Analysierenden zu bedenken, wobei hinzugefügt werden muss, dass Mausers Einschätzung einem Handbuch entstammt und deshalb natürlich nicht mit vergleichbar umfangreichen analytischen Ausführungen verbunden ist. Weiss geht es in seiner Analyse begrüßenswerterweise um eine Abkehr von den bislang überwiegenden Mystifizierungstendenzen, die einer allzu großen Ergebenheit in Aussagen Ustvol’skajas geschuldet waren. Die Komponistin hatte ja gefordert, ihre Werke, die einem göttlichen Gnadenakt entsprungen wären, nicht zu analysieren. Dem ist weitgehend Folge geleistet worden, etwa mit der Begründung, dass es ohnehin fast unmöglich sei, »ein verbales Äquivalent für diese Musik zu finden« (Gladkova 2001, S. XIII). Dem hält Weiss sehr überzeugend dagegen, dass es sich beim Kopfsatz der vierten Sonate um ein wohl durchdachtes Stück handelt, dem nichts »Schamanenhaftes« (Weiss 2009, S. 35) innewohnen würde. Auch dem Argument, dass Ustvol’skaja sich mit Gattungs- und Formtraditionen auseinandergesetzt hat, und nicht bloß abseits ihrer Umwelt auf Geistesblitze gewartet hat, ist noch zuzustimmen. Zu relativieren ist allerdings die im obigen Zitat ausgeführte Konsequenz der analytischen Ausführungen – und das führt zur zweiten Komponente. Diese betrifft die Frage der Dehnbarkeit von Begriffen: Während Mauser in den Sonaten Ustvol’skajas nur noch ein von einem Instrument erzeugtes Klangstück sieht, erscheint für Weiss deren Verwurzelung in der Sonatenform trotz aller Einschränkungen evident. Maßgebend dafür sei der »Dualismus«, die »dialektisch geprägte dreiteilige Form« und »vor allem der prozessuale Charakter des Ganzen« (Weiss 2009, S. 34). Worin der Dualismus bestehen sollte, ist schwer nachvollziehbar; jedenfalls denkt man in Hinblick auf die Sonatentradition an ein Spannungsfeld zwischen zwei Komponenten: Auch wenn man einräumt, dass sich im Laufe der Kompositionsgeschichte diese Komponenten immer wieder geändert haben, zumindest in der Gewichtung, so ist nicht zu erkennen, 206
Betrachtung des Werkes
welche Komponenten die traditionellen, um die es sich hier wohl kaum handeln kann, ersetzt hätten. Auch unter »dialektisch geprägter dreiteiliger Form«, gar verbunden mit dem dialektischen Dreischritt (These – Antithese – Synthese), würde man sich eine andere Dramaturgie erwarten. Und was ist beim zeitlichen Erklingen von Musik nicht »Prozess«? Würde man an Prozessualität im Spiegel der Sonatensatztradition denken, so müsste eine gewisse Teleologie und Funktionalität damit verbunden sein. Beides würde ich in diesem Satz eher als aufgelöst erachten. Vielmehr ist von Transformationen spezifischer musikalischer Konstellationen zu sprechen, die weniger einer zielgerichteten Entwicklung unterzogen werden, sondern bei Bewahrung ihrer Substanz unterschiedliche Erscheinungsformen durchlaufen. Angesichts der zehnteiligen Anlage wird man im Kontext der Klaviersonate Nr. 5 erst gar nicht versucht sein, über Analogien zur Sonatensatzform nachzudenken. Hier handelt es sich wohl um das heterogenste Stück im Rahmen der Gruppe der sechs Sonaten (den homogensten Gesamtcharakter haben die zweite und dritte Sonate). Jedem der einzelnen Teile liegt ein spezifisches musikalisches Modell zu Grunde, das immer den gesamten Verlauf bestimmt, und auf wenige Bausteine zurückführbar ist. So lässt ein Überblick über den Beginn sämtlicher Teile die jeweilige Charakteristik gut erkennen:
Notenbeispiel 37: 5. Klaviersonate, Beginn Teil 1 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Notenbeispiel 38: 5. Klaviersonate, Beginn Teil 2 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
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Notenbeispiel 39: 5. Klaviersonate, Beginn Teil 3 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Notenbeispiel 40: 5. Klaviersonate, Beginn Teil 4 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Notenbeispiel 41: 5. Klaviersonate, Beginn Teil 5 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Notenbeispiel 42: 5. Klaviersonate, Beginn Teil 6 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
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Betrachtung des Werkes
Notenbeispiel 43: 5. Klaviersonate, Beginn Teil 7 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Notenbeispiel 44: 5. Klaviersonate, Beginn Teil 8 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Notenbeispiel 45: 5. Klaviersonate, Beginn Teil 9 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Notenbeispiel 46: 5. Klaviersonate, Beginn Teil 10 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
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Schon diese Übersicht lässt erkennen, dass es einige mehr oder weniger deutliche Bezüge im formalen Gefüge gibt: Wie in fast allen Werken Ustvol’skajas ist auch hier ein »Reprisenereignis« zu erkennen; der letzte Teil ist eine erweiterte Wiederkehr des ersten. Verwandt sind weiters die Teile fünf und acht (durch die lauten Clusterfolgen), sowie in geringerem Ausmaß die Teile zwei und neun (durch den ähnlichen diastematischen Verlauf ). Das entscheidende formal vereinheitlichende Element allerdings ist die auch in den obigen Notenbeispielen beobachtbare Fokussierung auf den Ton des‘, der in allen zehn Teilen als Gravitationspunkt fungiert, und zwar immer in der gleichen Oktavlage. Einer der bevorzugten Interpreten Ustvol’skajas, Reinbert de Leeuw, beschreibt im Rahmen einer filmischen Produktion die außergewöhnliche Wirkung dieser Note auf ihn: »Enorm heftig, diese Note. Dann der Weg, den sie in diesem Stück zurücklegt. An irgendeiner Stelle wird sie zu einer einsam schlagenden Glocke. Dann die heftige Rückkehr. Um die Note wird eine große Ausdrucksskala hochgezogen. Ein Bauwerk. Immer diese Note. Man kann sie nicht überhören. Damit fängt es an, damit hört es auf. Und dazwischen erlebt man die Entwicklung dieser Note. Ihr Ausdruck ändert sich ständig. Es kommt etwas Neues hinzu, eine andere Seite. Es wird auf das absolute Minimum reduziert. Die Ausdrucksmöglichkeiten einer Note in einem Stück von 18 Minuten. Es landet immer wieder bei dieser Note. Sie ändert ihren Charakter. Was eine Note, eine einfache Note, ein Des an Welten aufrufen kann.« (Toonmeesters # 5, 1994; s. Anhang: Filme über Galina Ustvol’skaja)
Die beherrschende Funktion dieses des‘ kommt in jedem der zehn Sätze in anderer Art und Weise zur Geltung. Dazu einige Beispiele: Der erste Teil ist von dreiteilig symmetrischer Anlage, wobei in den beiden Außenteilen der Gravitationston die Registergrenze nach oben bildet und darüber hinaus als oberer und unterer Begrenzungston für die dreitönigen Cluster in der linken Hand fungiert. Im Mittelteil, der in seinem diastematisch absteigenden Gestus eine gewisse Ähnlichkeit mit den Rahmenteilen aufweist, wird das des‘ konsequent ausgespart. Wie des Öfteren bei Ustvol’skaja zu beobachten, stehen die Dimensionen der beiden Außenteile in einem ganzzahligen Verhältnis zueinander (2 : 3). Als Mittelachse fungiert das des‘ in den Teilen drei, fünf und acht, wobei diese in der Clusterorgie des fünften Teils, der durch außergewöhnlich viele Wiederholungen und eine extrem hohe Lautstärke (bis ffffff) gekennzeichnet ist, nur an zwei Stellen durch kontrastierende Piano-Cluster überschritten 210
Betrachtung des Werkes
wird. Diese beiden Stellen entfalten nicht zuletzt dadurch eine phänomenale Wirkung:
Notenbeispiel 47: 5. Klaviersonate, Teil 5, S. 15 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Wenn dieser Cluster im sechsfachen Forte erklingt, sind diesem schon 67 viertönige Cluster im drei- bis fünffachen Forte vorangegangen. Das vermeintlich noch mitklingende des‘ ist allerdings bereits 41 Viertel zuvor angeschlagen worden und somit längst verklungen. Umso überwältigender klingt es, nach einem kurzen Absetzen, in der nachfolgenden Piano-Version. Und gerade hier wird diese Mittelachse durch einen zarten Cluster überschritten. Benjamin Meyer beschreibt die Wirkung dieser Passage auf ihn mit eindringlichen Worten: »Der Ton des’ wurde vor dieser Stelle auf dieser Seite der Partitur erst einmal angeschlagen […] Der Ton ist bis hierher nicht nur verklungen, er ist zerstört und vernichtet worden. Und dennoch taucht er nur eine Viertel später wieder auf, im piano, und begleitet durch einen Cluster in der rechten Hand, einer Art Korona, die ihm zusätzlichen Glanz verleiht. Das faszinierende an dieser Stelle ist der ungeheure Widerstand, welchen das des’ den Clustern entgegensetzt, und gegen die es sich letztlich […] durchsetzt. Die Gesamtheit dieser Stelle, der fünfte Teil, ist rein klanglich eigentlich eine schreckliche Stelle. Erst durch die Idee mit dem des’ ist es dem Hörer möglich, jenes Gefühl des Erhabenen zu verspüren, welches entsteht, wenn etwas entgegen seiner ästhetischen Eigenschaft gefällt.« (Meyer 2012, S. 51)
In den Abschnitten zwei, sechs, sieben und neun schließlich ist der Gravitationston Zielpunkt von melodischen Linien bzw. Akkordfolgen. Im zweiten Teil sieht das etwa so aus, dass zwei verwandte zwei- bis dreistimmige Modelle abwechselnd in den Zielton des’ münden, wobei dieser immer durch den »Leitton« d angepeilt wird. Das Verhältnis der Umfänge beider Modelle zueinander ist im Übrigen wieder ganzzahlig, nämlich abermals 2 : 3: Die späten Klaviersonaten
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Modell 1 – des‘ – Modell 2 – des‘ – Modell 1 – des‘ – Modell 2 – des‘ – Modell 2 (Oktav tiefer) – des‘
Sehr typisch ist überdies, dass vor dem Teil fünf, dem lautesten Teil, der ruhigste und leiseste Abschnitt platziert ist. Derartigen »Piano-Inseln«, umgeben von einem Meer lauter Klangkaskaden, kann man des Öfteren in den Werken Ustvol’skajas begegnen; so etwa im dritten Satz der Komposition Nr. 1, in der Komposition Nr. 2 (bei Ziffer 57), oder auch in der 6. Klaviersonate. In letzterer ist der Akkordaufbau im Übrigen durchaus mit dem Pendant in der 5. Klaviersonate vergleichbar:
Notenbeispiel 48: 5. Klaviersonate, Teil 4 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Notenbeispiel 49: 6. Klaviersonate, S. 35 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
In beiden Fällen handelt es sich um fünftönige Klänge (in der fünften Sonate kommt noch der Gravitationston des‘ dazu) in einem Klangraum von etwa zwei Oktaven, die auch ähnliche Intervallverhältnisse aufweisen – immer sind zumindest zwei Sekundreibungen, zum Teil oktavversetzt, vertreten. Die Führung der linken Hand in parallelen Nonen im vierten Teil der fünften Sonate gehört zum häufig verwendeten Vokabular der Komponistin. 212
Betrachtung des Werkes
Wenngleich die 5. Klaviersonate, gemessen am gesamten Œuvre, eine relativ heterogene Konsistenz aufweist, so wird diese nicht durch die Tempoverhältnisse unterstrichen: 1: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8: 9: 10:
69 72 72 60 76 69 72 40 60 69
Alle Teile bewegen sich ohne größere Unterschiede im oberen Bereich des durchschnittlichen Pulsschlags, der achte Teil etwas darunter. Das Tempo verwendet Ustvol’skaja generell eher selten als Mittel zum Kontrast; im Rahmen der Klaviersonaten begegnet man dem eigentlich nur in der vierten, in geringerem Ausmaß auch in der ersten. Die 6. Klaviersonate ist vom Tempo her noch homogener (Viertel = 92), bloß der Schluss ist etwas verbreitert (Viertel = 80, mit zum Schluss hin noch zunehmendem allargando). Die Homogenität des Klangeindrucks wird aber noch durch weitere Komponenten verstärkt. Neben dem für Ustvol’skaja üblichen Viertelpuls, der nur phasenweise durch eine Achtelbewegung aufgelockert wird, und der gewohnten Akzentuierung jedes Klangs, dominiert ein durchwegs außergewöhnlich hoher dynamischer Pegel. Dieser wird bloß von einer kurzen »Piano-Insel« unterbrochen (s. Notenbeispiel 49), die mit ihren sechs Akkorden in Ganzen und der sie einleitenden langen Pause – der einzigen im ganzen Stück! – so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm der abschließenden Coda darstellt. Schließlich wird der Großteil der Sonate durch Clusterklänge bestimmt, die in vier Typen vorliegen: A) Dreitönige Cluster, die zusammen mit dem Daumen angeschlagen werden (jeder Ton ist notiert). B) Kleinere Cluster, die mit der Handkante oder zusammengedrückten Fingern angeschlagen werden, wobei nur der oberste Ton notiert ist, und die Anzahl der klingenden Töne sich zufällig ergibt. Die späten Klaviersonaten
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C) Doldenförmig notierte Cluster, die aus bis zu sieben genau bezeichneten Tönen bestehen. D) Cluster mit einer größtmöglichen Zahl von Tönen innerhalb eines notierten Intervalls, der je nach Umfang mit der Handfläche oder dem Unterarm erzeugt werden muss.
Die zwei häufigsten Typen (B und D) werden bereits im ersten System vorgestellt:
Notenbeispiel 50: 6. Klaviersonate, Beginn © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Die mit den Sternchen markierten Clustertypen werden in der Partitur folgendermaßen erläutert (wichtig ist noch die Ergänzung, dass der Typus D der wuchtigere ist): Typus B (*):
Typus D (**):
»Notiert ist der oberste Ton eines Komplexes von mehreren, zufälligen Tönen (chromatisch oder diatonisch), mit der Handkante oder mit drei halbgekrümmten, zusammengedrückten Fingern angeschlagen. Der oberste Ton ist thematisch und entsprechend hervorzuheben.« »Cluster einer größtmöglichen Anzahl von Tönen innerhalb des notierten Intervalls.«
Die Dramaturgie des Stücks ist zum einen bestimmt durch die unterschiedlichen Kombinationen der beiden dominierenden Clustertypen, und zum anderen durch den Wechsel der Clusterfolgen mit choralartigen Passagen. Auffallend sind dabei zwei Faktoren: Bis zum vierten Clusterblock (s. u.) ist eine graduelle Steigerung der Intensität zu beobachten, danach ein Innehalten durch eine der für Ustvol’skaja typischen stillen und leisen »Inseln«, bevor am Schluss nochmals die dynamischen Extreme ins 214
Betrachtung des Werkes
Spiel kommen. Der zweite bemerkenswerte Aspekt ist die Gruppierung der Viertel zu Sechsergruppen in den Clusterblöcken, wodurch sich fast so etwas wie ein metrisches Gefüge konstituiert (auch die »Insel« besteht aus sechs Akkorden). Schließlich ergibt sich durch die Disposition der Abschnitte im Groben auch eine spiegelungsförmige formale Anlage, wobei die Spiegelungsachse zwischen dem dritten und vierten Clusterblock in der folgenden Übersicht verläuft: – 1. Clusterblock: 6 x 6 Viertel (Clustertypus B dominant, Typus D hat Markierungsfunktion) – Choral: 27 Viertel – 2. Clusterblock: 12 x 6 Viertel (abwechselnde Kombinationen von Typus B und D) – Choral, Choral + Cluster: 66 Viertel – 3. Clusterblock: 24 x 6 Viertel, mit leichten Unregelmäßigkeiten im Schlussteil, die aber durch die entsprechende Ausdehnung der etwas verändert platzierten Absetzungszeichen ausgeglichen werden können (Kombination von Typus B mit D, teilweise aber auch schon von D mit D) – 4. Clusterblock: 2 x 6 Viertel. Höhepunkt an Intensität (neuerlich mit »Expressivissimo« überschrieben, wechselnde Kombination von Typus D mit D und Typus D mit B) – Choral + Cluster: 102 Viertel – Leise, ruhige Insel: 6 Akkorde in ganzen Noten – Coda: zunächst 6 x 6 Viertel. Sie entspricht dem ersten Clusterblock; das einleitende erste System ist hier, wohl aus symmetrischen Gründen, nachgestellt. Dem folgt allerdings ein Appendix, der in die tiefen Abgründe des Klavierregisters mündet und überdies die mittlerweile längst schon als regelmäßig empfundene Pulsierung in Sechsergruppen ausdehnt: 2 x 6 +1! Dadurch wirkt der Schluss merkwürdig offen, so als ob die letzte Botschaft vorenthalten würde – genau genommen schließt das Stück mit einer fermatierten Pause:
Die späten Klaviersonaten
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Notenbeispiel 51: 6. Klaviersonate, Schluss © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Mit diesen Klängen verstummt das Klavier im Werk Galina Ustvol’skajas. Nach der 6. Klaviersonate hat sie nur noch ein Stück, die 5. Sinfonie (1989/90), an die Öffentlichkeit entlassen – eine der wenigen Kompositionen aus ihrem Œuvre, in dem das Klavier fehlt. Trotz der Behauptung, dass das Klavier nicht ihr Hauptinstrument sei (vgl. Gladkova 2001, S. 99), steht die außergewöhnliche Bedeutung dieses Instruments für ihr Schaffen außer Frage. Bei aller gebotener Skepsis gegenüber einer allzu pathetischen Auffassung von einem »Spätwerk« sowie gegenüber »letzten Botschaften«, die einer Künstlerin vorgeschwebt haben mögen, kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass hier ein Abschluss vorliegt, selbst – oder vielleicht gerade? – eingedenk der offenen Schlusswirkung. In dieser letzten Sonate sind die Grenzen an realisierbarer Intensität ebenso erreicht worden wie die Belastbarkeit der Interpretierenden, und letztlich auch des Instruments (wenn man von Flügelzertrümmerungen in manchen experimentellen Zirkeln absieht). Ein längeres Üben führt unweigerlich zu groben Verstimmungen. Dass die Interpretation der 6. Klaviersonate Schmerzen verursacht, wird von allen Ausführenden hervorgehoben. Maria Cizmic versucht in sehr eindringlicher Weise, diese spezifische Facette der letzten Klaviersonate Ustvol’skajas (komponiert 1988) mit der historischen Situation der Sowjetunion in diesem Zeitraum in Verbindung zu bringen: 216
Betrachtung des Werkes
»Examining the physical acts of playing Ustvol’skaja’s piano sonata demonstrates the ways in which the embodied nature of musical performance registers, reacts to, and interacts with social discourse. Musical performance draws upon real-world activities and debates in order to create a meaningful aesthetic experience. In this case, Ustvol’skaja‘s final piano sonata creates a space in which pain becomes knowable to the performer through enactment, an ethical act during a time when the often traumatic history of the Soviet Union was opened for exploration. In light of this historical conversation, the sonata emphazises embodied pain as a form of truth, raises issues regarding complicity and responsibiltity, and highlights the attention to trauma and pain as a part of a moral, spiritual response to crisis. Ustvol’skaja creates a performance space in which a pianist will experience pain, making physical sensations knowable to another person through the visceral act of playing music. This draws attention to one powerful way in which music can access and convey pain.« (Cizmic 2012, S. 96)
Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass in der Zeit von Perestrojka und Glasnost, also etwa ab Mitte der 1980er Jahre, der öffentliche Diskurs über schmerzliche oder gar traumatische Erfahrungen im Kontext der sowjetischen Geschichte der jüngeren Vergangenheit stark angewachsen ist. Greifbar wird dieser Diskurs etwa durch einen Blick in diverse progressive Zeitschriften, die ein Forum der Auseinandersetzung boten, oder auch durch die Publikation vorher verbotener Kunstwerke, die sich dieser Thematik widmen. Bekanntes Beispiel dafür ist die 1987 genehmigte Publikation von Anna Ahmatovas Gedichtzyklus Requiem (1936-38), der sich mit den traumatischen Erfahrungen in der Stalin-Ära auseinandersetzt. Im Vorhaben Ustvol’skajas, Schmerz nicht nur mit musikalischen Mitteln darstellen zu wollen, sondern darüber hinaus eine reale Schmerzerfahrung geradezu zu erzwingen, sieht Cizmic einen unmittelbaren Beitrag zu diesem Diskurs. Im Übrigen sei die Betonung der physischen Komponente schon seit den Zeiten von Anton Rubinstein ein Spezifikum der russischen Klavierkunst gewesen, besonders betont etwa durch Heinrich Neuhaus, dem Lehrer zahlreicher bekannter Pianisten (Svjatoslav Rihter, Emil Gilels u. a.; Cizmic 2012, S. 79). Es waren nicht zuletzt Stücke wie die beiden späten Klaviersonaten, die bei den Rezipierenden Zuschreibungen wie »The Lady with the Hammer«, »The high priestess of sado-minimalism« oder den Vergleich mit einer mittelalterlichen Kasteiung im Sinne selbstauferlegter Schmerzen zur Bußübung hervorgerufen haben. Auch die Assoziation mit dem Rituellen scheint naheDie späten Klaviersonaten
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zuliegen. Dazu gilt es zu bedenken, dass, wie erwähnt, außer diesen beiden Sonaten alle Stücke, die Ustvol’skaja ab 1970 komponiert hat, mit religiösen Konnotationen verknüpft sind. Damit soll keineswegs eine religiöse Rezeption der späten Klaviersonaten als selbstverständlich erachtet, oder auch nur nahegelegt werden. Aber es steht wohl außer Zweifel, dass die künstlerischen Intentionen der Komponistin stark von religiösen/spirituellen/geistigen Vorstellungen durchdrungen waren. Die Kompositionen Nach der schon mehrfach erwähnten Phase des künstlerischen Schweigens in den 1960er Jahren entstanden ab 1970 wieder Stücke, die Galina Ustvol’skaja auch an die Öffentlichkeit entließ. Abgesehen von den beiden späten Klaviersonaten sind nunmehr alle vorgelegten Werke religiös konnotiert und tragen entweder den Titel »Komposition« oder »Sinfonie«. Zu unterscheiden sind diese grundsätzlich offenbar bloß dadurch, dass die drei »Kompositionen« nur mit religiösen Untertiteln versehen sind, die vier späten »Sinfonien« dagegen tatsächlich religiöse Texte miteinbeziehen. Bei beiden Werkgruppen handelt es sich um durchwegs sehr ungewöhnlich besetzte Ensemblestücke, die in keinem Fall mit traditionellen Formationen vergleichbar sind (in Hinblick auf die ungewöhnliche Besetzung von Ensemblestücken kann das Oktett aus dem Jahr 1949/50 als Vorstufe dazu gesehen werden; alle anderen Werke aus dem Frühwerk entsprechen konventionellen Besetzungen). In den Kompositionen sehen diese Besetzungen folgendermaßen aus: Komposition Nr. 1 »Dona nobis pacem«: Piccoloflöte, Tuba, Klavier Komposition Nr. 2 »Dies irae«: 8 Kontrabässe, Holzwürfel, Klavier Komposition Nr. 3 »Benedictus, qui venit«: 4 Flöten, 4 Fagotte, Klavier
Warum verwendete Ustvol’skaja überhaupt die lapidare Bezeichnung »Komposition«, und – im Falle des ersten Stücks – nicht etwa »Trio«? Neben den ungewöhnlichen Besetzungen, die keine konventionellen Gattungsbezeichnungen nahelegen, dürfte ein weiterer Grund darin liegen, dass sie den Begriff »Kammermusik«, und damit wohl auch alle der kammermusikalischen Tradition zuzurechnenden Bezeichnungen, zunehmend hasste. Wenn sie das Kammermusikalische als Herabwürdigung ihrer Musik verstand, so hat das auch mit der problematischen Stellung von Kammermusik in der Sowjetunion generell zu tun. Kammermusik war zum einen immer besonders ge218
Betrachtung des Werkes
fährdet, als formalistisch verurteilt zu werden, und zum anderen waren derartige Stücke im ästhetischen Rang weit unter Vokalwerken, aber auch der Sinfonie (der Sinfonie im Sinne von Bedeutungskunstwerk) angesetzt. Einen weiteren Vorteil der Bezeichnung »Komposition« könnte Ustvol’skaja darin gesehen haben, dass diesem eine neutrale Qualität innewohnt. Damit werden unliebsame Assoziationen mit den in der Sowjetunion hochgehaltenen traditionellen Gattungen, die allesamt Bedeutungen transportieren sollten, vermieden. Auch darin könnte eine Art der Ent-Hierarchisierung gesehen werden. Die Entstehung der Kompositionen fiel in eine Zeit, als sowjetische Komponisten und Komponistinnen zunehmend den Blick auf die religiöse Sphäre lenkten, angeregt oftmals durch die Publikationen über altrussische Kirchengesänge von Nikolaj Uspenskij. Dass so ein Vorhaben in dieser Phase der sowjetischen Geschichte aber immer noch ein problematisches Unterfangen war, musste Ustvol’skaja bei der Drucklegung der Werke im sowjetischen Staatsverlag zur Kenntnis nehmen: Der Druck musste ohne die religiösen Untertitel erfolgen. Andererseits ist es bemerkenswert, dass die Drucklegung in weit geringerem Abstand erfolgte als im Fall der früheren instrumentalen Werke. War der Abstand damals noch durchwegs in Jahrzehnten zu rechnen – den Rekord hält die 1. Klaviersonate mit einem Abstand von 42 Jahren! – so erfolgte diese nunmehr immerhin schon nach drei bis sieben Jahren. Ähnliches gilt für die Uraufführungen, die zwei bis vier Jahre nach der Fertigstellungen der Werke in Leningrad erfolgten. Wodurch ist dieser kompositorische Neuansatz in den 1970er Jahren nun gekennzeichnet? Es ist ja auffallend, dass bei zahlreichen osteuropäischen KünstlerInnen mehr oder weniger massive Umorientierungen in zeitlicher Nachbarschaft zu verorten sind. Das hat vielfach zu tun mit den im Zuge der »Tauwetter«-Phase angewachsenen Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit »westlichen« Kompositionstechniken, die viele zunächst wohl als befreiend empfanden. Oftmals waren diese Auseinandersetzungen aber eher Durchgangsstationen, die in ganz andere Richtungen verlassen wurden. Ein bekanntes Beispiel ist Arvo Pärt, der nach Versuchen auf dem Feld der Serialität, der Aleatorik oder der Collagetechnik ebenfalls eine Zeit lang verstummte und danach mit seinem »Tintinnabuli«-Stil eine gänzlich andere Kompositionsweise etablierte. Der Fall Ustvol’skaja liegt dem gegenüber ganz anders. Weder hat sie sich jemals irgendwelchen »westlichen« Techniken verschrieben, noch wollte sie sich davon distanzieren, und auch von einer radikalen Wende kann keinesfalls gesprochen werden. Dennoch sind neue Akzente bemerkDie Kompositionen
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bar: Unüberseh- und unüberhörbar ist eine nochmalige Verstärkung jener Ausdrucksmittel, die schon ihre frühen »eigentlichen« Werke gekennzeichnet hatten; so etwa die Ausreizung dynamischer Extreme, aber auch die Tendenz zur Reduktion. Ein ganz wesentlicher Aspekt ist die Erkundung neuer Klangwelten, die nicht nur aus den ungewöhnlich zusammengefügten Besetzungen resultiert, sondern auch auf einer klanglichen Erweiterung der Linearität beruht, die besonders in den Kompositionen Nr. 2 und Nr. 3 zu einem aus geschichteten Texturen bestehenden Satztypus geführt hat. Damit ist gemeint, dass die 8 Kontrabässe in der Komposition Nr. 2 und die je 4 Flöten und Fagotte in der Komposition Nr. 3 durchwegs als homorhythmische Klangblöcke geführt werden, abseits der für die kammermusikalische Tradition charakteristischen Eigenständigkeit der Stimmen. Da die Kontrabässe immer wieder in zwei Schichten aufgeteilt werden, sind beide Kompositionen letztlich durch ein ähnliches Satzbild gekennzeichnet. Das Operieren mit Klangblöcken verweist auf einen weiteren zentralen Aspekt von Ustvol’skajas kompositorischen Vorstellungen, der in den jüngeren Werken eine pointierte Bedeutung erlangt hat, nämlich den des Raumes. Die Kategorie des Raumes erweist sich in mehrfacher Hinsicht als relevant: Zum einen geht es um den »Tonhöhenraum«, also um das Spiel mit Registern innerhalb einer Komposition, zum anderen um die Hervorhebung des Tones bzw. Klanges als elementares Ereignis, das dadurch gewissermaßen eine körperhafte Qualität erlangt, und schließlich (damit verbunden) um die besondere Signifikanz des »Aufführungsraumes«. Dass die Positionierung der MusikerInnen und die daraus entspringenden raumklanglichen Konsequenzen für die Komponistin von zentraler Bedeutung waren, zeigt schon die Anfertigung von Aufstellungsskizzen für die Kompositionen, die auch den Druckfassungen beigegeben worden sind (wobei die Aufstellungsformation für die lediglich drei Instrumente umfassende Komposition Nr. 1 natürlich wenig spektakulär ist):
220
Betrachtung des Werkes
Komposition Nr. 1:
Komposition Nr. 2:
Komposition Nr. 3:
Abbildung 3: Auftstellungsskizzen der 3 Kompositionen
Die Kompositionen
221
Die Sensibilität für die Kategorie des Raumes ist in verschiedenen Bereichen der neuen westlichen Musik seit den späteren 1950er Jahren ebenso von fundamentaler Bedeutung: Karlheinz Stockhausen oder György Ligeti haben sich umfassend dazu geäußert, 1960 war ein ganzer Band der reihe dem Thema »Form – Raum« gewidmet. Dennoch ist nicht damit zu rechnen, dass Ustvol’skaja irgendwelche Impulse von dieser Seite übernommen hat; sie hat wohl kaum etwas von diesem Diskurs verfolgt bzw. verfolgen können. In ihrem Fall ist der Ausgangspunkt die elementare Qualität des einzelnen Klanges, die im Spätwerk vielfach zu Clusterklängen führte, und die der nach wie vor durch Linearität dominierten Setzweise eine körperhafte – oder eben räumliche – Tiefendimension hinzufügte. Viktor Suslin hat von der Komponistin erfahren, dass die drei Kompositionen schon als eine Triade konzipiert waren, die möglichst auch zusammen in der gegebenen Reihenfolge aufgeführt werden sollten (aber auch einzeln aufführbar sind). Dadurch stellt sich natürlich die Frage, worauf dieser Zusammenhang beruhen könnte. Blickt man auf ihr gesamtes Werk, so lässt sich einer Antwort auf kompositionstechnischer Ebene schwerlich näher kommen. Wenngleich sich im kompositorischen Neuansatz ab 1970, wie bereits erwähnt, durchaus neue Aspekte ausmachen lassen, so sind diese aber in den späteren Sinfonien gleichermaßen präsent: Die Kompositionen und die Sinfonien sind auf kompositionstechnischer Ebene nicht grundsätzlich zu unterscheiden. Der übliche Vorgang, eine musikalische Einheit oder eine Zyklusbildung durch übergreifende kompositionstechnische Mittel herauszuarbeiten, erweist sich insofern als wenig zielführend. Das Bild einer Einheit könnte einfach darauf beruhen, dass Ustvol’skaja nach einer längeren Pause drei relativ knapp nacheinander entstandene Werke an die Öffentlichkeit entließ, die religiöse Untertitel aufwiesen und neue klangliche Dimensionen erkennen ließen. Ustvol’skajas Wunsch, die drei Kompositionen in der gegebenen Reihenfolge aufzuführen, kann aber wohl kaum durch die entsprechende Folge der Untertitel (»Dona nobis pacem«, »Dies irae«, »Benedictus, qui venit«) begründet werden, zumindest nicht in Hinblick auf deren Position in der katholischen Liturgie (die Wahl der Titel darf keinesfalls als Hinwendung zur katholischen Konfession verstanden werden – vgl. Kap. Religiös? Spirituell? Geistig?). Falls man diese Reihenfolge überhaupt mit einer dramaturgischen Bedeutung in Verbindung bringen will, dann kann es nur eine sehr persönliche sein. Sicherlich wären auch aus theologischer Sicht einleuchtende Deutungen denkbar, auf die ich mich hier allerdings nicht einlassen möchte (vgl. Anglet 2008, S. 39ff.). Des Weiteren könnten diese Deutungen, wie immer 222
Betrachtung des Werkes
sie auch ausfallen mögen, wohl mit einiger Phantasie mit der musikalischen Architektur der Triade verknüpft werden: Die extreme Fortissimo-Kaskade des Mittelteils wird von zwei unterschiedlich gestalteten Teilen eingerahmt, die aber beide im ganz leisen dynamischen Bereich verklingen. Auch diesen Aspekt werde ich nicht weiter verfolgen, da ich die Verbindung der drei Kompositionen als eher lose betrachte. Neben der ungewöhnlichen Besetzung ist es vor allem die ins Extrem getriebene reduktionistische Technik, welche die Komposition Nr. 1 kennzeichnet. Der gesamte erste Satz besteht aus kleinen und großen Sekunden, in der Horizontale durchgehend, der Vertikale fast durchgehend. Da die gesamte musikalische Substanz des Satzes sich an der eröffnenden Phrase der Tuba ablesen lässt, sei diese zunächst einer minutiösen Betrachtung unterzogen (s. Notenbeispiel 16, im Anhang; vgl. auch Holzer 2011, S. 381ff.): Die Tuba eröffnet das Stück mit einem einzelnen Ton (f ) im Wert einer Achtelnote; getrennt durch eine Achtelpause folgt ein weiterer Ton derselben Dauer eine große Sekund höher (g). Nach einer längeren Pause (sechs Achtel) schließt sich eine Sequenz dieses Sekundmotivs (einen Halbton höher: fis – gis) an, der, wiederum nach einer Achtelpause und eine kleine Sekund höher, eine absteigende Figur aus zwei Sechzehntel folgt (abermals in einem großen Sekundabstand: a – g). Nach einer deutlich abgetrennten Wiederholung desselben Vorgangs (allerdings ohne Pause – wohl aber mit Absetzungszeichen! – nach den ersten beiden Tönen) führt die Tubastimme in durchgehenden Sekundschritten und in durch Pausen abgetrennte, diesmal durch Sforzati akzentuierte Sechzehntel, aufwärts zu zwei ins Unbestimmte abwärts führenden Glissandofiguren, die eine erste größere musikalische Einheit abschließen. Der Eindruck einer musikalischen Einheit wird aber nicht durch einen schließenden Gestus erzeugt, sondern bloß auf Grund der darauffolgenden (durch eine Fermate ausgedehnte) Pause und den daran anschließenden Einsatz der Tuba, die wieder den Anfang aufgreift, nunmehr allerdings in Kombination mit der Piccoloflöte und dem Klavier. Einerseits blicken wir auf eine Folge von elementaren Ereignissen, andererseits erweist sich die Folge der ersten sechs Töne, weniger durch den Gestus als durch die nachfolgende Wiederholung, doch als gestalthafte Einheit. Natürlich erlangen auch die beiden Sechzehntel (fünfter und sechster Ton) durch die zahlreichen Wiederholungen nach und nach eine diese Figur beschließende Funktion. Wie bei der 2. Klaviersonate stellt sich aber auch hier die Frage nach einer adäquaten Benennung: Wäre die Bezeichnung »Thema« für diese sechstönige melodische Gestalt zutreffend? Immerhin ist diese Grundlage der gesamten weiteren Folge des ersten Satzes. Ein »Thema« hebt Die Kompositionen
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sich allerdings üblicherweise von seiner Umgebung ab, tritt hierarchisch in den Vordergrund. Da diese melodische Gestalt aber in allen Stimmen nahezu omnipräsent ist, kann von Vordergrund und Hintergrund, von thematisch Geprägtem und Begleitendem, nicht die Rede sein. Auch hier gibt es demnach nur »Hauptsachen«, nichts Ornamentales, nichts bloß Einleitendes oder Ausklingendes. Vielmehr erscheint permanent die selbe Grundsubstanz in anderen »Aggregatzuständen«. Ab Ziffer 9 kommt nach und nach eine absteigende Variante dieser eröffnenden Gestalt ins Spiel, die dieser in weiterer Folge immer wieder gegenübergestellt wird:
Notenbeispiel 52: Komposition Nr. 1, S. 5 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Der sowjetische Musikwissenschaftler Boris Kac, der 1980 eine sehr bemerkenswerte Werkbesprechung in der Zeitschrift Sovetskaja muzyka verfasst hat, spricht in diesem Kontext von einem zweiten Thema, und bringt damit einen konturenhaften Bezug zur Sonatensatzform aufs Tablett (Kac 2009, S. 81). Ob man darin ein zweites Thema, das als »Parodiedoppelgänger« (ebd.) des ersten erscheint, sehen will, oder bloß eine Variante davon, ist Ermes224
Betrachtung des Werkes
senssache. Ich tendiere zum letzteren, zumal auch die Strapazierung des Begriffs Sonatensatzform wenig angebracht erscheint. Weder kann von einem dialektischen Charakter gesprochen werden, noch von einem Entwicklungsgestus, der in diese Richtung weisen würde. Der formale Ablauf ist bestimmt durch eine zumeist klar abgrenzbare Folge von Abschnitten, die somit eine Art Variationensatz ergeben. Noch zutreffender als »Variation« wäre allerdings der Terminus »Transformation«, verbindet man damit doch, etwa auch in der Linguistik, eine Veränderung ohne Substanzverlust. Es hat wohl auch etwas für sich, wenn Kac den formalen Ablauf mit der strophischen Gestaltung altrussischer Kirchengesänge in Verbindung bringt: »Schließlich erinnert gerade die strophische Variationsstruktur aller Sätze der Komposition, der freie Umgang mit dem Umfang der Strophe, der Bau der melodischen Linie auf der Grundlage einer begrenzten Zahl kurzer Motive erneut so sehr an die Werke russischer Vokalkomponisten der vorpetrinischen Epoche, dass die Versuchung groß ist, die Abschnitte aus jedem Teil Verszeilen [stroki] zu nennen und die Themen kirchliche Melodien [poglasicy], deren Entwicklung gemäß den gewöhnlichen Hymnen [podobny] voranschreitet.« (Kac 2009, S. 84, übersetzt von Sonia Shurupova)
Die Abgrenzung der einzelnen »Variationen«/»Transformationen«/»Strophen« zueinander erfolgt einerseits durch Pausen (zum Teil mit Fermaten), vor allem aber durch die Besetzung, und damit durch die Klangfarbe und das Register. Insgesamt ergibt sich folgende Übersicht: Strophe
Ziffer
Besetzung
Tonraum
Dynamik
1
bis 1
Tuba
tief
ff – ffff (kurz p)
2
1-4
Trio
hoch – tief
ff – ffff (kurz p)
3
5-8
Klavier
mittel (tief )
ff – fff
4
9-17
Picc. – Klavier Tuba – Klavier
hoch – mittel tief
ff – ffff
5
18
Picc. – Tuba
hoch – tief
fff – ffff
6
19-20
Klavier
mittel
f
Die Kompositionen
225
Strophe
Ziffer
Besetzung
Tonraum
Dynamik
7
21-22
Picc. – Klavier
mittel
ff – fff
8
23-24
Tuba – Klavier
tief
fff – ffff
9
25-29
Klavier Picc. – Klavier
mittel – tief hoch – tief
p (Cluster) p (Cluster) + ffff
10
30-36
Tuba – Klavier
mittel – tief
ff – ffff
11
37-39
Picc. – Klavier
hoch – tief
fff (kurz p)
12
40-43
Tuba – Klavier Klavier Piccolo
mittel – tief tief hoch
ffff (kurz p)
Die folgenden kurzen Notenbeispiele sollen einige Beispiele für Beschaffenheit dieser Transformationen bieten:
Notenbeispiel 53: Komposition Nr. 1, Ziffer 5, S. 4 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
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Betrachtung des Werkes
Notenbeispiel 54: Komposition Nr. 1, Ziffer 12, S. 7 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Notenbeispiel 55: Komposition Nr. 1, Ziffer 22, S. 9 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Die in der obigen Übersicht fett gedruckten Abschnitte sind jene, wo das »Thema« in der Grundgestalt auf F erklingt (in Ermangelung eines Begriffs, der dem oben beschriebenen musikalischen Sachverhalt völlig gerecht würde, bleibe ich bei »Thema«). Dadurch ergeben sich bei den Ziffern 23 und 37 zweifellos Reprisenereignisse, die in fast allen Werken Ustvol’skajas in irgendeiner Form anzutreffen sind. Zumindest der Wiederkehr bei Ziffer 37 könnte sogar eine vage sonatensatzhafte Dramaturgie insofern zugesprochen werden, als in den beiden Strophen davor (9, 10) die Umkehrungsvariante, die Kac als Parodiedoppelgänger bezeichnet hatte, verarbeitet wird, wodurch die Wiederkehr der Grundgestalt eine für Ustvol’skajas Verhältnisse deutliche Reprisenwirkung erlangt. Die Kompositionen
227
Kann dem F im ersten Satz schon eine Zentraltonfunktion zugesprochen werden, so kommt dem C im zweiten Satz diese Funktion noch deutlicher zu (vgl. Notenbeispiel 56, im Anhang). Wiederum kann die Anlage als strophisch betrachtet werden, wobei die drei Strophen sukzessive ausgeweitet werden (1. Strophe: Ziffer 44; 2. Strophe: 45-48; 3. Strophe: 4954). Das Gerüst dieser Strophen bildet jene in der Tiefenregion der Tuba vorgetragene Melodie, in der Boris Kac ein Zitat einer altrussischen Melodie sieht, die auch in der erwähnten Sammlung Uspenskijs abgedruckt ist. Dazu kommen Clusterklänge des Klaviers, während die Flöte auf einige kurze, dreitönige Einschübe beschränkt ist. Ob es sich tatsächlich um ein Zitat handelt, wage ich, aus den oben dargelegten Gründen, trotz der verblüffenden Ähnlichkeit (vgl. Notenbeispiel 7, S. 87) zu bezweifeln. Ein weiteres Indiz, das meine Skepsis unterstützt, ist der dieser Melodie ursprünglich unterlegte Text (»Adam wurde aus Erde von Gott geschaffen und ins Paradies geführt«; vgl. Kac 2009, S. 85), der im Kontext dieser Komposition wenig Sinn machen würde. In ihrem Text Meine Gedanken über das Schöpferische hat Galina Ustvol’skaja im Übrigen die Zuordnung ihrer Kompositionen zu altrussischen Wurzeln scharf von sich gewiesen (Ustvol’skaja 2000, S. 23). Angesichts des Ausdruckscharakters der ersten beiden Sätze mag man sich fragen, wie denn dieser zum Untertitel der Komposition (»Dona nobis pacem«) passe. Erst der letzte Satz löst in seinem extrem ruhigen und leisen Gestus eine Erwartungshaltung in diese Richtung ein. Kern dieses Satzes ist eine Folge von drei Zweiklängen im Klavier, wobei sich dem letzten Klang immer ein Kontra-Fis der Tuba hinzugesellt:
Notenbeispiel 57: Komposition Nr. 1, 3. Satz, Beginn © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
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Betrachtung des Werkes
Dieses Modell wird mit geringen Modifikationen bezüglich der Dauer sieben mal wiederholt, man könnte demnach wiederum von einer strophischen Anlage sprechen. In diesen Ablauf wird jeweils ein charakteristischer Baustein aus den ersten beiden Sätzen integriert: Aus dem zweiten kommen ab der dritten Strophe die dreitönigen Einschübe der Flöte hinzu, während eine besonders charakteristische Ausprägung des Themas/Modells aus dem ersten Satz als extrem kontrastierender Einschub nach der fünften Strophe empfindlich die Ruhe stört (s. Notenbeispiel 58, im Anhang). Die für die Komposition Nr. 1 herausgearbeiteten grundlegenden kompositionstechnischen Elemente, sowohl im Detail als auch auf formaler Ebene, kennzeichnen auch die beiden nachfolgenden Werke. Neu sind allerdings die sich aus der größeren Besetzung ergebenden Klangwirkungen: In der in zehn Abschnitte unterteilten Komposition Nr. 2 »Dies irae« werden den hämmernden Clustern des Klaviers die Klangballungen von acht Kontrabässen gegenübergestellt, die gelegentlich auch in zwei Hälfte aufgeteilt werden. Die Anweisung »sehr kurz, trocken, mit starkem Bogendruck« verweist schon darauf, dass über weite Strecken kein satter Streicherklang, sondern ein eher fahler, perkussiver Ausdruck gefragt ist, der angesichts des durchwegs hohen dynamischen Pegels (bis zum fffffsf) der Assoziation mit apokalyptischen Vorstellungen mehr als gerecht wird (s. Notenbeispiel 59, im Anhang). Der reduktionistische Charakter ist vielleicht noch ausgeprägter als in der Komposition Nr. 1: »Die fortwährende Wiederholung von immer nur einem Element, dem Urelement, das da ist. Eine Beschwörungsformel, beschwörende Musik. Auch mit rituellen Seiten. Man erfährt das stark beim Spielen, es ist fast hypnotisierend. Es lässt absolut keinen Raum für Phantasie. Man braucht gnadenlosen Einsatz, zügellose Kraft. Denn das verlangt sie ständig. Es sind die Beschwörungen. Dieses Wiederholen, dem kann man sich unmöglich entziehen. Während man beim Spielen kühl sein muss, um die richtige Note zur richtigen Zeit mit der richtigen Intensität zu spielen. Und die Kiste, die 8 Kontrabässe. Es muss zusammen etwas werden. Die nötige Konzentration ist natürlich groß, um gemeinsam im richtigen Tempo genau den Schritt zu finden, den man braucht. Diese innewohnende unerbittliche Bewegung. Einmal in Gang gesetzt, darf diese Bewegung auch nicht mehr stoppen. Es muss eine Einheit werden, das will man zusammen erreichen. All diese Momente der Konzentration mit den Noten, den Anderen und der Art des Spielens. Und die beschwörenden Formeln, die man dabei erzeugt.« (Reinbert de Leeuw im Film Toonmeesters #5, 1994) Die Kompositionen
229
Bei der von de Leeuw erwähnten »Kiste« handelt es sich um einen Holzkubus, der mehreren Abschnitten das Klangbild ergänzt. Dieser Holzkubus kommt sonst nur noch im allerletzten Werk Galina Ustvol’skajas, der 5. Sinfonie, zum Einsatz. Er sollte aus Sperrholz, mit den Maßen 43 x 43 cm, hergestellt und mit zwei Holzhämmern geschlagen werden. Wie kam Ustvol’skaja überhaupt auf die Idee, ein derartiges Instrument zu konzipieren? Über den Pianisten Oleg Malov kam eine etwas merkwürdige Begründung ins Spiel: Die Komponistin hätte ursprünglich einen Sarg vorgesehen, wäre aber mit dem klanglichen Ergebnis nicht zufrieden gewesen und habe sich deshalb für einen quadratischen Holzwürfel entschieden! (Vgl. Lee 2002, S. 50) Ihr Gatte Konstantin Bagrenin hält diese Begründung allerdings für Unsinn (Bagrenin, Juli 2012). Wieland Reich erinnert dieser Kubus an das Semanterion, das hölzerne Schallbrett der orthodoxen Kirchen (Reich 2005, S. 351). Dieses Brett (in Russland auch Bilo genannt), das oft statt oder auch zusammen mit Glocken zum Einsatz kam, wurde im Übrigen auch mit ein bis zwei Hämmern bedient. Ein wesentliches formal differenzierendes Mittel in den Kompositionen Nr. 2 und 3 ist die Gegenüberstellung unterschiedlicher Satztypologien. Den Tenuto-Texturen des ersten Teiles der Komposition Nr. 2 folgen im zweiten Abschnitt Schwellklänge, die mit unterschiedlichen Clusterklängen des Klaviers kombiniert werden, unterbrochen durch die trockenen Schläge des Holzkubus. Nach einem Wechsel von pizzicato- und arco-Passagen im dritten Teil werden im darauffolgenden Abschnitt tremolierende Klangflächen der einen Hälfte der Kontrabässe mit punktuellen Sforzati-Stößen (fffffsf, expressivissimo) der zweiten Hälfte konfrontiert. In den beiden letzten Abschnitten, insbesondere im zehnten, dem längsten, treten ausgedehnte Klaviersoli in den Vordergrund. Zwar ist es durchaus typisch für Galina Ustvol’skaja, dass den in diesem Stück dominierenden Fortissimo-Exzessen im letzten Satz auch wieder einige kurze Piano-Inseln eingeflochten sind (immer handelt es sich um vier viertönige Akkorde); verblüffend ist allerdings, dass der »Tag des Zorns« im Pianissimo endet (s. Notenbeispiel 60, im Anhang).
230
Betrachtung des Werkes
Epilog Die Musik von Galina Ustvol’skaja ist: abgründig absolut anrufend archaisch asketisch bedrohlich bohrend brisant brutal drastisch eigenständig eindringlich einsam ekstatisch entbehrend erschütternd existenziell explosiv expressiv extrem gepresst gerastert glühend gnadenlos grossartig grotesk heidnisch hypnotisch inbrünstig intensiv karg klagend kompromisslos kosmisch Eine Wortsäule von Edu Haubensak
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laut leidenschaftlich leise magisch monolithisch obsessiv peitschend physisch pulsierend radikal repetierend rituell schmerzhaft schneidend schrill schroff seufzend spirituell unbeugsam unkonventionell verborgen wuchtig und zart
Edu Haubensak
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Epilog
Anhang Zeittafel 1917: Der Beginn der Oktoberrevolution wird mit dem Sturm auf das Winterpalais in Sankt Petersburg (Sitz der Übergangsregierung Kerenski) am 25. Oktober 1917 datiert. Einen Tag danach wurde mit der Gründung eines Volkskommissariats für Aufklärung, unter der Leitung von Anatolij Lunačarskij, bereits eine kulturelle Institution ins Leben gerufen. Lunačarskij plädierte für die Autonomie künstlerischer Entscheidungen sowie für Pluralismus und geriet damit zumindest teilweise in Opposition zur Parteilinie. 1918: Verstaatlichung vieler Institutionen des öffentlichen Musiklebens (Verlage, Zeitschriften, Theater, Musikschulen und Konservatorien). Bis Ende der 1920er Jahre, vereinzelt sogar darüber hinaus, ist allerdings eine Vielfalt von Institutionen, Vereinen und Publikationsorganen zu beobachten, die unterschiedliche Interessen verfolgten, und zumindest bis zu einem gewissen Grad einen öffentlichen Diskurs (auch abseits der Parteilinie) ermöglichten. 1919: Am 17. Juni 1919 wird Galina Ivanovna Ustvol’skaja in Petrograd (vormals Sankt Petersburg, ab 1924 Leningrad, und seit 1991 wieder Sankt Petersburg) geboren. Ihr Vater, Ivan Mihailovič Ustvol’skij, war Jurist und stammte aus einer Priesterfamilie. Die Mutter, Ksenjia Kornileva Potapova, war Lehrerin und stammte aus einer verarmten Adelsfamilie. Galina Ivanovna hatte eine Schwester namens Tat’jana-Tanja. 1919: Die 1919 im Zentralkomitee geschaffene Frauensektion ( Jenotdel) sollte die Frauenfrage vorantreiben, und zwar in allen Lebensbereichen. In den 1920er Jahren prallten noch die unterschiedlichsten Vorstellungen über die Rolle der Frau in der Gesellschaft, bzw. über das Verhältnis von Mann und Frau, aufeinander. Im Stalinismus wurde das Frauenbild wieder zunehmend auf die traditionellen Vorstellungen reduziert. 1921: Gründung der Staatlichen Philharmonie in Petrograd. 1922: Gründung der Gesellschaft für Kammermusik in Petrograd, die sich in besonderer Weise zeitgenössischer Musik widmete (1937 aufgelöst). 1923: Gründung der Assoziation für Zeitgenössische Musik (ASM) und der Russischen Assoziation proletarischer Musiker (RAPM). Die ASM, die auch mit der IGNM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik) kooperierte, stand für Pluralismus und einer Offenheit gegenüber neuen Tendenzen, auch »westlicher« Provenienz. Diesen Zielen stand die proletarische Zeittafel
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Organisation, die sich den Kreisen der Arbeiterschaft, vor allem aber einer antibürgerlichen Ideologie, verpflichtet sah, zunehmend feindlich gegenüber. Bis etwa 1928/1929 ist zumindest in den urbanen Metropolen wie Moskau oder Leningrad ein sehr vielfältiges Musikleben zu beobachten. 1924: Petrograd, das vormalige Sankt Petersburg, wurde in Leningrad umgetauft. Diese Stadt war, abgesehen von der Zeit der Evakuierung während des Zweiten Weltkrieges (nach Taschkent), ständiger Lebensmittelpunkt Ustvol’skajas. 1925: Boris Asaf ’ev gründete am Leningrader Konservatorium die erste musikwissenschaftliche Abteilung in Russland bzw. der Sowjetunion überhaupt. 1926: Besuch der Leningrader Chorschule, wo Galina Ustvol’skaja neben dem Instrumentalunterricht (Klavier, Violoncello) bereits auch in alle grundlegenden musiktheoretischen Fächer eingeführt wurde. 1929: In der Ersten Allrussischen Musikkonferenz in Leningrad am 14./15. Juni 1929 wurde die Vorherrschaft der proletarischen Institution (RAPM) gefestigt. Mit der Proklamation einer »Kulturrevolution« beschloss man die »Verschärfung des Klassenkampfes an der Musikfront«. Die ASM wurde aufgelöst, Künstler wie Nikolaj Roslavec, Aleksandr Mosolov, oder auch bereits Dmitrij Šostakovič (mit der Oper Die Nase, 1930), kamen zunehmend unter politischen Druck. Ebenso kam es zu einer Verschärfung im Kampf gegen religiös konnotierte Kunst. Die Ausübung religiöser Praktiken musste weitgehend in den Untergrund abwandern. 1932: In diesem Jahr begann eine umfassende Umgestaltung des gesamten Kulturlebens, das nunmehr zur Gänze dem Einfluss der kommunistischen Partei unterworfen werden sollte. Ein Erlass des Zentralkomitees vom 23. April forderte die Auflösung sämtlicher bestehender kultureller Vereinigungen (auch der RAPM). Der kulturpolitischen Ideologie wurde mit der Proklamation des Sozialistischen Realismus Ausdruck verliehen. Dessen Zielvorgaben sollte der neugegründete zentralistisch organisierte Verband sowjetischer Komponisten (ab 1957 Komponistenverband der UdSSR) und dessen publizistisches Organ, die Zeitschrift Sovetskaja muzyka, überwachen. 1933: In seinem Text Über den Sozialistischen Realismus formulierte der Dichter Maksim Gor’kij dessen ästhetische Ausprägungen. Gefordert war neben der »wahrhaften, historisch konkreten Darstellung der Wirklichkeit« Klassenbewusstsein, Volksnähe, Einfachheit, Verständlichkeit. Schlagwörter für Feindbilder waren: westlich, formalistisch, bürgerlich/dekadent, antivölkisch, individualistisch, psychologisierend. 234
Anhang
1934: In einem Erlass vom 28. September wurde die Honorierung von KomponistInnen, geordnet nach Gattungen, geregelt. Die Honorierung nach den traditionellen Gattungen sollte auch die kompositorische Beschränkung auf diese befördern. Besondere Förderungen fielen auf die Produktion von Massenliedern, sowie die Sammlung und Verbreitung von Volksmusik. 1934: Der populäre Vorsitzende der Leningrader Parteisektion, Sergej Kirov, der immer wieder durch Eigenmächtigkeiten gegenüber Stalin aufgefallen war, fiel am 1. Dezember einem nie gänzlich geklärten Attentat zum Opfer. 1936: Am 28. Januar erschien in der Pravda ein Artikel mit dem Titel Chaos statt Musik, in dem Šostakovičs Oper Lady Macbeth des Mzensker Kreises scharf attackiert wird. Die Autorenschaft des Artikels ist nicht geklärt. 1937-1939: Studium Ustvol’skajas an der Musikfachschule in Leningrad. 1937: Dmitrij Šostakovič wurde Lehrer am Leningrader Konservatorium, zunächst für Instrumentation, ab dem nächsten Jahr auch für Komposition. Am 23. Mai 1939 erfolgte die Ernennung zum Professor. 1939-1947: Kompositionsstudium Ustvol’skajas bei Dmitrij Šostakovič am Rimskij-Korsakov-Konservatorium in Leningrad. Darauf folgte (bis 1950) die Aspirantur, eine Art Postgraduiertenstudium. 1939: Am 20. Dezember wurde der Stalinpreis gestiftet, lange Zeit die wichtigste staatliche Auszeichnung (als Nachfolgepreis fungierte ab 1966 der Staatspreis der UdSSR). 1941-1945: Mit dem deutschen Einmarsch am 22. Juni 1941 begann für die Sowjetunion der »Große Vaterländische Krieg« (bis 8. Mai 1945). 1941: Während der Belagerung Leningrads durch die deutsche Armee (900 Tage) wurde Ustvol’skaja mit anderen Mitgliedern des Konservatoriums nach Taschkent evakuiert. 1942: Am 9. August fand im belagerten Leningrad die legendäre Aufführung von Šostakovičs 7. Sinfonie statt. 1943: Šostakovič bekam eine Stelle als Professor für Komposition am Moskauer Konservatorium, betreute allerdings nach der Blockade einige Studierende, darunter Galina Ustvol’skaja, in Leningrad weiter. 1946-1948: Mit vier kulturpolitischen Erlässen versuchte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, die gesamte Kulturlandschaft noch stärker unter ihre Kontrolle zu bringen. Die maßgebende Persönlichkeit in diesem Kontext ist Andrej Ždanov (dementsprechend spricht man in Hinblick auf die Folgen für das Kulturleben der nächsten Jahre von Ždanovščina). 1947: Am 6. Februar wurde Šostakovič Vorsitzender der Leningrader Sektion des Sowjetischen Komponistenverbandes. Zeittafel
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1947: Galina Ustvol’skaja trat dem Sowjetischen Komponistenverband bei. Im selben Jahr bekam sie eine Stelle als Dozentin für Komposition an der Musikfachschule in Leningrad (bis 1977). 1948: Am 10. Februar des Jahres erschien im Zuge der Ždanovščina ein Erlass mit dem Titel Über die Oper »Die große Freundschaft« von Vano Muradeli. Der Angriff auf Muradelis Oper war nur ein Vorwand für die massive Einschüchterung der gesamten Kompositionsszene. Insbesondere den namhaften Komponisten (Šostakovič, Prokof ’ev, Hačaturjan, Šebalin, Popov, Mjaskovskij) warf man eine »formalistische, volksfremde« Haltung vor. Folgen waren Aufführungs- und Publikationsverbote, sowie in einigen Fällen Berufsverbot. 1948: Eine Folge des Ždanov-Erlasses war die Einberufung des »Ersten Allunionskongresses der sowjetischen Komponisten« von 19. bis 25. April in Moskau. Tihon Hrennikov wurde Generalsekretär des Komponistenverbandes (und blieb in dieser Funktion bis 1992). 1948-1953: In dieser Zeit sahen sich viele KomponistInnen gezwungen, propagandistische Werke zu verfassen. So auch Šostakovič (Das Lied von den Wäldern, Über unserer Heimat strahlt die Sonne) oder Ustvol’skaja (Der Mensch vom hohen Berg, Pionier-Suite). 1953: Iosif Stalin starb, sein Nachfolger wurde Nikita Hruščëv. Dessen Amtszeit war durch zahlreiche kulturpolitische Änderungen gekennzeichnet, die gewisse Erleichterungen nach sich zogen und einen begrenzten Pluralismus ermöglichten. Nach Ilja Ehrenburgs Roman aus dem Jahr 1954 bezeichnete man diese Phase mit dem Begriff »Tauwetter«. Es kam zu partiellen Distanzierungen vom Stalinismus; 1958 wurden sogar Teile des Erlasses von 1948 zurückgenommen. Die politische Linie blieb dennoch hart, wie die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 zeigt. Anfang der 1960er Jahre verstärkten sich auch wieder die kulturpolitischen Restriktionen. 1954-1957: Boris Tiščenko studierte bei Ustvol’skaja (er wurde später auch Schüler von Šostakovič). Weitere SchülerInnen sind die späteren Biographen Ol’ga Gladkova und Semën Bokman. 1956: Gründung des Festivals Warschauer Herbst. Das erste, Neuer Musik gewidmete Festival Osteuropas trug auch ganz wesentlich zu einer Anregung des ästhetischen Diskurses in der Sowjetunion bei. Viele Werke sowjetischer Komponisten wurden über diesen Weg im »Westen« bekannt. 1957: Ustvol’skaja verließ die Wohnung ihrer Eltern und bezog eine eigene Unterkunft in der Blagodatnajastrasse in Leningrad. 1958: Als im Herbst eine amerikanische Delegation, der u. a. die Komponisten Roger Sessions und Roy Harris angehörten, mehrere sowjetische 236
Anhang
Städte besuchte, bekam diese in einem Konzert in Leningrad die Violinsonate Ustvol’skajas zu hören. 1959: Mit dem Sinfonischen Poem Heldentat erhielt Ustvol’skaja den zweiten Preis in einem Wettbewerb für sinfonische Kompositionen. 1960: Tod von Ustvol’skajas erstem Ehemann (oder Freund?), des Leningrader Komponisten Jurij Anatol’evič Balkašin (1923-1960); er starb in der Folge eines epileptischen Anfalls. Mit ihrem späteren Ehemann, Konstantin Bagrenin, zog die Komponistin 1967 in eine gemeinsame Wohnung (etwas außerhalb des Zentrums von Sankt Petersburg), die bis zum Lebensende ihr Domizil blieb. 1960: Am 22. Parteitag der KPdSU wurde die Überwindung von Religiosität abermals als dezidiertes Ziel festgeschrieben. 1962: Am 18. März wurde Šostakovič Deputierter des Obersten Sowjet. 1964: Der Nachfolger Hruščëvs, Leonid Brežnev verschärfte die restriktive Kulturpolitik; allerdings verstärkten sich oppositionelle Bestrebungen sowie Versuche, der staatlichen Kontrolle zu entkommen (etwa durch Publikation von Werken im Eigenverlag oder im Ausland). 1968: Das Erscheinen von Nikolaj Uspenskijs Sammlung Beispiele altrussischer Gesangskunst gab wesentliche Impulse für die Zuwendung zu religiösen Themen im sowjetischen Musikschaffen. Die Hinwendung zum Religiösen war in dieser Zeit generell oftmals mit einer oppositionellen Haltung verbunden. Mit der »Perestrojka« kam es zu einem weiteren enormen Anwachsen religiös konnotierter Werke; besonders augenscheinlich anlässlich der 1.000-Jahrfeier der Christianisierung Russlands 1988. 1970/71: Nach einer längeren Pause entließ Galina Ustvol’skaja mit der Komposition Nr. 1 »Dona nobis pacem« wieder ein Werk an die Öffentlichkeit. Ab nun sind, abgesehen von den beiden letzten Klaviersonaten, alle Stücke religiös konnotiert. 1975: Am 9. August starb Dmitrij Šostakovič. 1975: An der Cornell University in New York kamen wahrscheinlich erstmals Werke Ustvol’skajas im »Westen« zur Aufführung. 1979: In den 1970er Jahren verstärkte sich die Bekanntschaft mit sowjetischer Musik im »Westen«. Indikator dafür ist ein Kölner Festival mit dem Titel Begegnung mit der Sowjetunion, wo u. a. Werke von Edison Denisov, Elena Firsova, Sofija Gubajdulina, Aleksandr Knajfel’, Alfred Šnittke, Vjačeslav Artëmov und Viktor Suslin zur Aufführung kamen. Diese in Köln als »sowjetische Avantgarde« bezeichneten Künstler erhielten nach einer heftigen Kritik Hrennikovs an dieser Veranstaltung in der Sowjetunion auch den Beinamen die »Hrennikov’schen Sieben«. Galina Zeittafel
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Ustvol’skaja war zu diesem Zeitpunkt außerhalb der Sowjetunion noch nahezu unbekannt. 1985: Nach Brežnevs Tod (1982) und den kurzfristig fungierenden Staatsoberhäuptern Andropov und Černenko folgte Mihail Gorbačëv als Generalsekretär (1985), und ab 1988 als Staatsoberhaupt. Im Zuge von »Glasnost’« (Offenheit) und »Perestrojka« (Umgestaltung) kam es zu einer Liberalisierung des Kulturlebens; allerdings blieben auch alte Strukturen, nicht zuletzt durch personelle Kontinuitäten, wirksam. So agierte etwa Tihon Hrennikov bis 1992 als Generalsekretär des Komponistenverbandes. 1988: Das 1.000-jährige Jubiläum der Christianisierung Russlands zog eine Unmenge an religiösen Kompositionen nach sich. Religiös motiviertes Komponieren wurde in der Folge geradezu zu einer Modeerscheinung. 1988: Das 4. Internationale Festival KOMPONISTINNEN gestern – heute in Heidelberg stand in diesem Jahr unter dem Motto »Begegnungen von Komponistinnen aus Ost und West«. Dieses Festival spielte eine wichtige Rolle für die Einführung der Werke Ustvol’skajas im westlichen Europa. 1992 erhielt die Komponistin in Abwesenheit den »Heidelberger Künstlerinnenpreis«. 1989/90: Mit der 5. Sinfonie »Amen« legte Galina Ustvol’skaja ihr letztes Werk vor. 1990: Neugründung der 1929 aufgelösten ASM in Moskau. In Festivals wie diesem, oder dem Leningrader/St. Petersburger Frühling, kamen auch wieder verstärkt westliche Vertreter der neuen Musik zur Aufführung. 1990/1991: Im Frühjahr des Jahres 1990 erfolgte die Unabhängigkeitserklärung der baltischen Staaten. Am 8. Dezember 1991 formierten sich die Russische Republik, Weißrussland und die Ukraine zu einer Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der sich bald weitere Sowjetrepubliken anschlossen. Ende des Jahres zerfiel die Sowjetunion endgültig. Der Liberalisierung in den Künsten stand der weitgehende Verlust der staatlichen Finanzierungen gegenüber. 1995: Ustvol’skaja besuchte einige Aufführungen ihrer Werke in Amsterdam durch das Schönberg-Ensemble, geleitet von Reinbert de Leeuw – ihr erster Auslandaufenthalt! 2006: Am 22. Dezember starb Galina Ivanovna Ustvol’skaja in Sankt Petersburg.
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Anhang
Werkliste(n) Das musikalische Werk Galina Ustvol’skajas wird im Folgenden in zwei Listen erfasst. Die erste enthält die von ihr als gültig erachteten Werke, die zweite die von ihr verworfenen. Am 1. Januar 1994 sandte die Künstlerin an Viktor Suslin, einem mit ihr befreundeten Komponisten und Mitarbeiter des Sikorski-Verlages in Hamburg, einen Katalog der gültigen Werke, zusammen mit folgendem Brief: »Lieber Viktor! Ich unterschreibe diese Liste meiner Werke nur für den Fall, dass Sie das Werk, das ich durchgestrichen habe, vernichten. Sollten sich bei ihnen noch irgendwelche Werke von mir befinden, die nicht im Katalog stehen, so bitte ich diese unverzüglich zu vernichten, wie in diesem Fall den ›Lobgesang‹, den ich nicht im Katalog haben möchte. Ich bitte sie sehr, mir hierzu zu antworten (Anruf ). Herzlich bittend Ihre Galina Ustvol’skaja«
Auf dem Brief befindet sich noch eine Anmerkung Viktor Suslins: »Wir haben schon mit ihr telefoniert. Die eine Partitur (sowjet. Druckausgabe) des Lobgesangs, die wir im Archiv haben, schicken wir ihr zurück. Andere Werke zur ›Vernichtung‹ haben wir nicht von ihr. Bitte der GEMA melden.«
In einem späteren Interview mit Gladkova hat sie den Ausschluss einiger früher Werke begründet: »Das sind Arbeiten, die ich aus äußerster materieller Not heraus komponieren musste, um meiner Familie zu helfen, die es damals nicht leicht hatte. Diese Stücke kann man auf den ersten Blick von meinen eigentlichen Werken unterscheiden; darum gehören sie nicht in mein Werkverzeichnis.« (Gladkova 2001, S. 18)
Der dem obigen Brief beigelegte Katalog umfasst 21 Werke, vier weitere hat sie einige Jahre später (Bagrenin, http://ustvolskaja.org/engcatalog. php; 21. Februar 2011) noch hinzugefügt: Der Traum des Stepan Razin, die Suite für Orchester und die beiden Sinfonischen Poeme (die Suite und die Werkliste(n)
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Poeme nahm sie ohne die ursprünglichen Titel auf – s. u.). Die Noten der von Ustvol’skaja abgelehnten Werke sind allerdings nicht gänzlich vernichtet; die meisten davon sind in russischen Bibliotheken noch aufzufinden. Nicht mehr greifbar sind offenbar die von ihr bereits in den 1960er Jahren vernichtete Sonate für Violoncello und Klavier, die Sinfonietta und das Streichquartett (http://ustvolskaja.org/eng/catalog.php; 21. Februar 2011). Die Daten der folgenden beiden Listen beziehen sich auf die bislang publizierten Vorgaben (Gladkova 2001, Redepenning 2009), auf die Sammlung Ustvol’skaja in der Paul Sacher Stiftung (in der große Teile der Drucke und Handschriften, nebst einigen Briefen, verwahrt sind; in der Liste: PSS), die Biographie von Lidija Rappoport (1958), auf die Angaben der Website http://ustvolskaja.org (die Andrej Bahmin in Zusammenarbeit mit dem Witwer, Konstantin Bagrenin, eingerichtet hat), und auf persönliche Auskünfte des Witwers (der auch im Besitz etlicher Handschriften ist). Bei den Suiten ergaben sich widersprüchliche Angaben in Hinblick auf die Entstehungszeit, die nicht gänzlich ausgeräumt werden konnten. Die Jahreszahlen in der nachfolgenden Liste entsprechen den Angaben in den Partituren, bzw. der oben genannten Website. Die Drucklegung ihrer Werke erfolgte in den meisten Fällen zunächst durch den sowjetischen Staatsverlag (Sovetskij kompozitor; in der Liste: SK), später durch den Sikorski-Verlag in Hamburg. I) Ustvol’skajas Katalog • Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauken (1946) Einsätzig Gewidmet Alexej Ljubimov UA: 1967, Moskau Pianist: Pavel Serebrjakov Drucke: SK (1967; mit handschriftlichen Eintragungen), SIKORSKI 8522 (1993; mit dem Vermerk: »worldwide exept C. I. S.«; = Commonwealth of Independent States) Fragmentarische Reinschrift in der PSS (1 S.) Dauer: 20‘
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Anhang
• 1. Klaviersonate (1947) 4 Sätze (ohne Satzbezeichnungen) UA: 20. 2. 1974, Leningrad Pianist: Oleg Malov Drucke: SK (1973), SIKORSKI 1943 (1996) Dauer: 10‘ • Der Traum des Stepan Razin. Byline für Bariton und großes Orchester (1949) Text: Russische Volkspoesie Orchesterbesetzung: Piccoloflöten (3), Englischhörner (3), Bassklarinetten (3), Fagotte (2), Hörner (4), Trompeten (3), Posaunen (3), Tuba, Schlagwerk (Pauke, Becken, Große Trommel), Harfe, Celesta, Streicher UA: 1950, Leningrad Philharmonisches Orchester Leningrad, Dirigent: Evgenij Mravinskij Drucke: SK (1963), SIKORSKI (1996; Partitur und Klavierauszug; mit Überklebungen, handschriftlichen Eintragungen und dem Vermerk: »for the entire world exept C. I. S.«) Dauer: 20‘ • Trio für Klarinette, Violine und Klavier (1949) 3 Sätze (Espressivo; Dolce; Energico) UA: 11. 1. 1968, Leningrad Klarinette: Vladimir Krassavin; Violine: Viktor Liberman; Klavier: Marija Karandašova Drucke: SK (1970), SIKORSKI 8533 (1993; mit dem Vermerk: »for the entire world exept C. I. S.«) Abschrift von fremder Hand mit handschriftlichen Korrekturen sowie 2 Titelseiten von G. Ustvol’skaja in der PSS (32 S. + 2 Titelseiten) Dauer: 16‘ • Oktett für 2 Oboen, 4 Violinen, Pauken und Klavier (1949/50) 5 Sätze (ohne Satzbezeichnungen) UA: 17. 11. 1970, Leningrad Oboen: N. Pevsner, A. Kossoyan; Violinen: A. Arkanov, J. Savikovski, S. Sakurin, N. Karandašova; Pauken: A. Antoshkin; Klavier: Marija Karandašova Werkliste(n)
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Drucke: SK (1972; mit handschriftlichen Eintragungen), SIKORSKI 1975 (1998; mit Spielanweisungen der Komponistin und dem Vermerk: »for the entire world exept C. I. S.«) Dauer: 18‘ • 2. Klaviersonate (1949) 2 Sätze Gewidmet Anatolij Vedernikov UA: 26. 1. 1967, Moskau Pianist: Anatolij Vedernikov Drucke: SK (1969; mit handschriftlichen Eintragungen), SIKORSKI 1943 (1996) Reinschrift in der PSS (10 S. + Titelseite) Dauer: 12‘ • 3. Klaviersonate (1952) Einsätzig UA: 16. 2. 1972, Leningrad Pianist: Oleg Malov Drucke: SK (1974), SIKORSKI 1943 (1996) Reinschrift in der PSS (26 S. + Titelseite) Dauer: 17‘ • Sonate für Violine und Klavier (1952) Einsätzig UA: 5. 3. 1961, Leningrad Violine: Mihail Vajman; Klavier: Marija Karandašova Drucke: SK (1966; Partitur und Violinstimme; mit handschriftlichen Eintragungen), SIKORSKI 1991 (2001; mit dem Vermerk: »for the entire world exept C. I. S.«) Reinschrift in der PSS (41 S. + Titelseite) Dauer: 20‘ • Zwölf Präludien für Klavier (1953) UA: 20. 3. 1968, Leningrad Pianist: Anatolij Ugorskij 242
Anhang
Drucke: SK (1968; mit handschriftlichen Eintragungen), SIKORSKI 1945 (1996) Unvollständige Reinschrift in der PSS (23 S. + Titelseite) Dauer: 18‘ • 1. Sinfonie für großes Orchester und 2 Knabenstimmen (1955) 10 Sätze (ohne Satzbezeichnungen) Orchesterbesetzung: Flöten (3), Piccoloflöte, Oboen (2), Englischhorn, Klarinetten (4), Fagotte (3), Hörner (4), Trompeten (4), Posaune, Tuba, Schlagwerk (Pauken, Tamburin, Becken, Tam-Tam, Xylophon), Harfe, Celesta, Klavier Text: Gianni Rodari (russische Übersetzung: S. Marschall) UA: Frühjahr 1966, Leningrad Philharmonisches Orchester Leningrad; Dirigent: Arvid Jansons Druck: SK (1972; mit handschriftlichen Eintragungen) Reinschrift in der PSS (Partitur: 80 S. + Titelseite; Klavierauszug: 44 S.) Dauer: 30‘ • Suite für Orchester (1952? 1955?) In einer von Galina Ustvol’skaja unterschriebenen Werkliste im Bestand der Paul Sacher Stiftung ist das Jahr 1952 als Kompositionsdatum angegeben, im Vorwort des sowjetischen Erstdrucks das Jahr 1955. Ursprünglich war das Werk mit dem Titel Sport-Suite versehen; in den 1990ern wurde es von der Komponistin ohne Titel in den offiziellen Katalog aufgenommen. Orchesterbesetzung: Piccoloflöten (2), Flöte (1), Oboen (2), Klarinetten (2), Fagotte (2), Trompeten (3), Hörner (4), Posaunen (3), Tuba, Schlagwerk (Pauken, Tamburin, Becken, Große Trommel, Tam-Tam, Xylophon),Celesta, Harfe, Klavier, Streicher UA: 1957, Leningrad Philharmonisches Orchester Leningrad; Dirigent: Arvid Jansons Druck: SK (1962), Sikorski (1996) Reinschrift in der PSS (91 S.) Dauer: 21‘
Werkliste(n)
243
• 4. Klaviersonate (1957) 4 Sätze (ohne Satzbezeichnungen) UA: 4. 4. 1973, Leningrad Pianist: Oleg Malov Drucke: SK (1971), SIKORSKI 1944 (1996) Dauer: 12‘ • Sinfonisches Poem Nr. 1 (1958) Ursprünglich mit dem Titel Feuer in der Steppe versehen; in den 1990ern in den offiziellen Katalog aufgenommen. Orchesterbesetzung: Piccoloflöten (3), Englischhörner (3), Bassklarinetten (3), Kontrafagotte (3), Hörner (6), Trompeten (3), Posaunen (4), Tuba, Schlagwerk (Pauken, Triangel, Tamburin, Becken, Große Trommel, Tam-Tam, Glockenspiel, Xylophon), Harfe, Celesta, Klavier, Streicher UA: 1958, Leningrad Philharmonisches Orchester Leningrad; Dirigent: Arvid Jansons Drucke: SK (1961), Sikorski (1996; mit Überklebungen und dem Vermerk: »for the entire world exept C. I. S.«) Reinschrift (mit Überklebungen und handschriftlichen Eintragungen) in der PSS (83 S.) Dauer: 25‘ • Sinfonisches Poem Nr. 2 (1959) Ursprünglich mit dem Titel Heldentat versehen; in den 1990ern in den offiziellen Katalog aufgenommen. Orchesterbesetzung: Piccoloflöten (3), Oboen (2), Bassklarinetten (3), Kontrafagotte (3), Hörner (4), Trompeten, (3), Posaunen (3), Tuba, Schlagwerk (Pauken, Kleine Trommel, Große Trommel, Cymbeln, Xylophon), Harfe, Celesta/ Klavier, Streicher UA: Daten nicht bekannt Druck: SK (1965), Sikorski (1996; mit Überklebungen und dem Vermerk: »for the entire world exept C. I. S.«) Dauer: 12‘ 244
Anhang
• Grand Duet für Violoncello und Klavier (1959) 5 Sätze (ohne Satzbezeichnungen) Gewidmet Mstislav Rostropovič UA: 14. 12. 1977, Leningrad Violoncello: Oleg Stolpner; Klavier: Oleg Malov Drucke: SK (1973; Partitur und Violoncellostimme mit handschriftlichen Korrekturen), SIKORSKI 1805 (2001; mit dem Vermerk: »for the entire world exept C. I. S.«) Dauer: 26‘ • Duet für Violine und Klavier (1964) Einsätzig UA: 23. 5. 1968, Leningrad Violine: Philipp Hirschhorn; Klavier: Marija Karandašova Drucke: SK (1977; Partitur und Violinstimme mit handschriftlichen Korrekturen), SIKORSKI 1992 (2001; mit dem Vermerk: »for the entire world exept C. I. S.«) Reinschrift in der PSS (43 S. + Titelseite) Dauer: 25‘ • Komposition Nr. 1 »Dona nobis pacem« (1970/71) 3 Sätze Für Piccoloflöte, Klavier, Tuba UA: 19. 2. 1975, Leningrad Piccoloflöte: L. Suchov, Klavier: Marija Karandašova; Tuba: L. Klevzov Drucke: SK (1976; mit handschriftlichen Eintragungen und Aufstellungsskizze), SIKORSKI 1911 (1986, 1993; mit dem Vermerk: »for the entire world exept C. I. S.«) Reinschrift in der PSS (34 S. + Titelseite) Dauer: 17‘ • Komposition Nr. 2 »Dies Irae« (1972/73) Einsätzig, 10 Abschnitte Für 8 Kontrabässe, Schlagwerk (Holzkubus mit 2 Holzhämmern) und Klavier. Werkliste(n)
245
Gewidmet Reinbert de Leeuw UA: 14. 12. 1977, Leningrad Drucke: SK (1980; mit handschriftlichen Eintragungen), SIKORSKI 1912 (1982, 1993; mit dem Vermerk: »for the entire world exept C. I. S.«) Reinschrift in der PSS (69 S. + Titelseite) Dauer: 18‘ • Komposition Nr. 3 »Benedictus, qui venit« (1974/75) Einsätzig Für 4 Flöten, 4 Fagotte und Klavier UA: 14. 12. 1977, Leningrad Drucke: SK (1978; mit handschriftlichen Eintragungen und Aufstellungsskizze), SIKORSKI 1913 (1986, 1993; mit einer Aufstellungsskizze und dem Vermerk: »for the entire world exept C. I. S.«) Reinschrift in der PSS (36 S. + Titelseite) Dauer: 7‘ (Angabe in der Partitur von Sikorski: 12‘) • 2. Sinfonie »Wahre, ewige Seligkeit« (1979) Einsätzig Für Orchester und Solostimme Orchesterbesetzung: Flöten (6), Oboen (6), Trompeten (6), Posaune, Tuba, Schlagwerk (Große Trommel, mittlere Große Trommel), Klavier, Singstimme Text: Hermannus Contractus (aus: Monumente der mittelalterlichen lateinischen Literatur aus der Zeit vom 10. Bis zum 12. Jahrhundert, Moskau 1972) UA: 8. 10. 1980, Leningrad Philharmonisches Orchester Leningrad; Dirigent: V. Altschuler Drucke: SK (1982; mit handschriftlichen Eintragungen von G. Ustvol’skaja und ihrem Mann Konstantin Bagrenin), SIKORSKI 1983 (1999; mit Spielanweisungen der Komponistin und dem Vermerk: »for the entire world exept C. I. S.«) Reinschrift in der PSS (70 S. + Titelseite) Dauer: 20‘
246
Anhang
• 3. Sinfonie »Jesus, Messias, errette uns« (1983) Einsätzig Für Orchester und Sprecher Orchesterbesetzung: Oboen (5), Trompeten (5), Posaune, Tuben (3), Schlagwerk (2 Große Trommeln, mittlere Große Trommel), Kontrabässe (5), Klavier, Sprecher (junger Mann) Text: Hermannus Contractus (aus: Monumente der mittelalterlichen lateinischen Literatur aus der Zeit vom 10. bis zum 12. Jahrhundert, Moskau 1972) UA: 1. 10. 1987, Leningrad Philharmonisches Orchester; Dirigent: V. Altschuler, Sprecher: Oleg Popkov. In einem Interview, das die holländische Musikjournalistin Thea Derks mit Viktor Suslin, in Anwesenheit Galina Ustvol’skajas, geführt hat, verweist Suslin darauf, dass diese vermeintliche Uraufführung auf einer Fehlinformation des Sowjetischen Komponistenverbandes beruhe. Tatsächlich habe die Uraufführung erst am 18. 1. 1995 in Amsterdam stattgefunden (Derks 1995, 32). Drucke: SK (1990; mit handschriftlichen Eintragungen und Aufstellungsskizze), SIKORSKI 1863 (1983) Reinschrift in der PSS (39 S.) Dauer: 16‘ • 4. Sinfonie »Gebet« (1985/87) Einsätzig Für Trompete, Tam-Tam, Klavier und Altstimme Text: Hermannus Contractus (aus: Monumente der mittelalterlichen lateinischen Literatur aus der Zeit vom 10. bis zum 12. Jahrhundert, Moskau 1972) UA: 24. 6. 1988, Heidelberg Trompete: Dale Marrs; Tam-Tam: Thomas Keemss; Klavier: Ulrich Eisenlohr; Altstimme: Roswitha Sperber Drucke: SK (1991; mit handschriftlichen Eintragungen von G. Ustvol’skaja und ihrem Mann Konstantin Bagrenin), SIKORSKI 1972 (1999; mit Spielanweisungen und einer Aufstellungsskizze, sowie dem Vermerk: »for the entire world exept C. I. S.«) Dauer: 10‘
Werkliste(n)
247
• 5. Klaviersonate (1986) 10 Sätze UA: Leningrad (Datum nicht bekannt) Pianist: Oleg Malov Drucke: SK (1989), SIKORSKI 1944 (1996) Reinschrift in der PSS (15 S. + Titelseite) Dauer: 16‘ • 6. Klaviersonate (1988) Einsätzig UA: Herbst 1988 Pianist: Oleg Malov Drucke: SK (1989), SIKORSKI 1944 (1996) Reinschrift in der PSS (12 S. + Titelseite) Dauer: 7‘ • 5. Sinfonie »Amen« (1989/90) Einsätzig Für Violine, Oboe, Trompete, Tuba, Schlagzeug (Holzkubus mit 2 Holzhämmern) und Sprecher Text: Vaterunser UA: 19. 1. 1991, New York Ensemble Continuum; Dirigent: Joel Sachs Drucke: SIKORSKI 1899 (1993; mit dem Vermerk: »for the entire world exept C. I. S.«) Reinschrift in der PSS (21 S.) Dauer: 13‘ II) Von Ustvol’skaja abgelehnte Werke Vorbemerkung: Wo nicht anders vermerkt, sind die Stücke entweder unveröffentlicht, die Drucklegung unbekannt, oder von der Urheberin vernichtet.
248
Anhang
• Variationen für zwei Klaviere (1941) Dieses aus der Studienzeit bei Šostakovič stammende Werk ist nur in folgendem Buch erwähnt: Dmitry Shostakovich. About Himself and His Times, zusammengestellt von L. Grigoryev und Ya. Platek, übersetzt ins Englische von A. und N. Roxburgh, Moskau 1981, S. 85 • Streichquartett (1945) • Sonate für Violoncello und Klavier (1946) • Sonatine für Violine und Klavier (1947) • Heil Jugend! (1950) Lied für Chor und Orchester Text: Vassili Ivanovich Lebedev-Kumach • Sinfonietta (1950 oder 1951) 3 Sätze Für Sinfonisches Orchester • Der Mensch vom hohen Berg (1952) Poem-Kantate für Bass, Männerchor und Orchester Text: N. Glejzarov • Pionier-Suite (1950? 1954?) Die meisten Verzeichnisse führen das Jahr 1954 als Entstehungsjahr an; in einer von Ustvol’skaja unterschriebenen Liste, die sich in der Sammlung in der Paul Sacher Stiftung befindet, ist allerdings das Jahr 1950 angegeben. 6 Sätze mit programmatischen Titeln: 1. Trompetenruf 2. Im Wald (Märchen) 3. Erholung 4. Spiel 5. Fest 6. Trompetenruf Orchesterbesetzung: Piccoloflöte, Flöten (2), Oboen (2), Klarinetten (2), Fagotte (2), Hörner (4), Trompeten (3), Posaunen (3), Tuba, Schlagwerk (PauWerkliste(n)
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ken, Kleine Trommel, Becken, Tam-Tam, Glöckchen, Xylophon), Harfe, Klavier, Streicher Druck: SK (1960) • Kinder-Suite (1952? 1955?) 9 Sätze mit programmatischen Titeln: 1. Morgen 2. Heiterer Spaziergang 3. Puppen-Ballerina 4. Bärentanz 5. »Abfangen« (Spiel) 6. Auf der Lichtung 7. Streit 8. Tanz und Weinen 9. Abend Orchesterbesetzung: Flöten (2) Oboen (2), Klarinetten (2), Fagotte (2), Hörner (4), Schlagwerk (Pauken, Becken, GroßeTrommel, Kleine Trommel, Triangel, Xylophon), Celesta, Harfe, Streicher UA: 1957 Druck: SK (1958) • Sonatine für Klavier (?) Keine Daten bekannt • Poem Blumen und Guten Tag, Jugend (?) Für Chor und Orchester (erwähnt in der Biographie Rappoports, S. 4) • Sport-Suite (1958/1959) 9 Sätze (ohne programmatische Satztitel) Orchesterbesetzung: Piccoloflöten (2), Flöte, Oboen (2), Klarinetten (2), Fagotte (2), Trompeten (3), Hörner (4), Posaunen (3), Tuba, Schlagwerk (Pauken,Tamburin, Becken, Große Trommel, Tam-Tam, Xylophon), Celesta, Harfe, Klavier, Streicher Druck: SK (1962) • Loblied (1961) Für Knabenchor, 4 Trompeten, Schlagzeug und Klavier Text: Sergej Davydov Druck: SK (1974) 250
Anhang
• Lidija Rappoport erwähnt in ihrer Biographie, dass Ustvol’skaja zur Zeit an einem Konzert für Violoncello und Orchester arbeite (Rappoport 1959, S. 10). Dieses Werk hat die Komponistin offenbar nicht vollendet. Fragliche Werke • Morgenröte über der Heimat (1952) Kantate Text: N. Glejzarov Dieses Werk wird in verschiedenen Verzeichnissen erwähnt. Konstantin Bagrenin meint allerdings, dass es sich hierbei um kein Werk Galina Ustvol’skajas handeln würde (Bagrenin 2012). • 2. Sinfonie (1967?) »Diese Zweite Sinfonie, die nur im Werkverzeichnis der sowjetischen Musikenzyklopädie (Bd. 4, Sp. 742) erwähnt wird, ist mit der bekannten Zweiten Sinfonie nicht identisch.« (Redepenning 2009, S. 8) Konstantin Bagrenin meint, dass keine Sinfonie aus dieser Zeit existiere, und dass es sich demnach um eine fehlerhafte Angabe in dieser Enzyklopädie handeln müsse (Bagrenin 2012). Lidija Rappoport erwähnt in ihrer Biographie (Rappoport 1958, S. 4) eine »nichtprogrammatische Sinfonie«, die demnach, mit der 1. Sinfonie, die Rappoport ausführlich bespricht, nicht identisch sein kann. Möglicherweise bezieht sich die Angabe in der oben erwähnten Enzyklopädie auf dieses Werk (das Ustvol’skaja offenbar nicht vollendet oder vernichtet hat) – dann würde aber die dortige Datierung (1967) nicht passen. Filmmusik Die folgenden Angaben beziehen sich auf die Biographie von Lidija Rappoport und die Website: http://home.wanadoo.nl/eli.ichie/ustvolskaja.html (22. August 2011), bzw. auf persönliche Auskünfte von Konstantin Bagrenin (Bagrenin, Juli 2012) a) Dokumentarfilme • Boldino’scher Herbst (1951) (Bezieht sich auf Puschkin und den Ort Boldino) • Die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik Mordvin (1952) (Bezieht sich auf die finnisch-ugrische Volksgruppe der Mordvin) Werkliste(n)
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• Russisches Museum (1954) • Gogol’ (1954) b) Spielfilm • Das kleine Mädchen und das Krokodil (Mitte der 1950er Jahre)
Aufnahmen der Werke Galina Ustvol’skajas Die nachfolgende Zusammenstellung basiert auf einer Ergänzung der vorliegenden Verzeichnissen des Sikorski-Verlages, der Biographie von Ol’ga Gladkova, und den Internetseiten http://home.wanadoo.nl/ovar/ustvol.htm und http://ustvolskaya.org/eng/performers.php (auf dieser existiert überdies ein Link zu einer auf MS Excel zusammengestellten Liste von J. J. Boer, Stand März 2012). Abkürzungen: D = Dirigent K = Klavier S = Stimme Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauken (1946) • Analekta AN 9898 (D: Turovsky, K: Salov, I Musici de Montreal; 2005) • Art Classics (D: Brabbins, K: Ljubimov, BBC Symphony Orchestra; 1999) • BMG 74321 49 956-2 (D: Malov, K: Serebrjakov, Kammerorchester der Leningrader Philharmonie; 1970) • Dutton Labs CDSA 4804 (D: Mackeras, K: Jakoby, Royal Philharmonic Orchestra; 2002) • Erato 0630 12 709-2 (D: Schiff, K: Ljubimov, Deutsche Kammerphilharmonie; 1995) • Megadisc MDC 7876 (D: Malov, K. Liss, Ural Philharmonieorchester Jekaterinenburg; 1994) 1. Klaviersonate (1947) • col legno 20019 (Hinterhäuser; 1998) • Conifer 75605 51 262-2 (Denyer; 1995) 252
Anhang
• Hat Art CD 6170 (Schroeder; 1994) • MCA Classics, AED-68010 (Petrushansky; 1989) • Megadisc MDC 7876 (Malov; 1993) • Melodia C 10 23 283 007; LP (Malov; 1985) • NEOS Fundación BBVA (Liebner; 2008) • Triton RDCD 17 014 (Sokolov; 1995) Trio für Klarinette, Violine und Klavier (1949) • ECM New Series 1959 (Rybakov, Trostianskij, Ljubimov; 2006) • Etcetera KTC 1170 (Keser, Anderson, Denyer; 1993) • Etcetra KTC 9000-CD 16 (de Boer, Beths, de Leeuw; 2003) • Hat Art CD 6115 (Beths, de Boer, de Leeuw; 1991) • Mazur Media Unlimited Classics BEAUX 2023 (St. Peters Trio: Milkis, Ioff, Uryash; 2000) • Megadisc MDC 7858, 7865 (Shustin, Feodorov, Malov; 1994) • Yarlung records 78874 (Lee, Howard, Ray; 2007) 2. Klaviersonate (1949) • Black Box BBM 1039 (Genia; 2000) • col legno 20019 (Hinterhäuser; 1998) • Conifer 75605 51 262-2 (Denyer; 1995) • Hat Art CD 6170 (Schroeder; 1994) • Megadisc MDC 7876 (Malov; 1993) • Megadisc MDC 7858 (Malov; 1993) • NEOS Fundación BBVA (Liebner; 2008) • Triton RDCD 17 014 (Sokolov; 1995) • Teichiku Tecc – 28710 (Vedernikov; 1992) Oktett für 2 Oboen, 4 Violinen, Pauken und Klavier (1949/50) • BMG 74321 49 956-2/Melodiya (Kosoyan, Chinakov, Stang, Liskovich, Dukor, Saakov, Znamenskij, Karandašova; LP: 1977; CD: 1997) • Conifer 75605 51 194-2 (Bohling, Tindale, Fletcher, Muszaros, Tombling, Iwabuchi, Cole, Stephenson; 1993) • Etcetera KTC 9000 (D: de Leeuw, Schönberg-Ensemble; 2003) • Megadisc MDC 7865 (Neretin, Tosenko, Stang, Ritalchenko, Lukin, Tkachenko, Znamenskij, Malov; 1994) Aufnahmen der Werke Galina Ustvol’skajas
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• RCA Red Seal Catalyst (D: Leiferkus, K: Stephenson, London Musici; 2005) 3. Klaviersonate (1952) • BMG 74321 49 956-2 (Malov; LP: 1977; CD: 1997) • col legno 20019 (Hinterhäuser; 1998) • Conifer 75605 51 262-2 (Denyer; 1995) • ECM 449936-2 (Karlen; 1996) • Hat Art CD 6170 (Schroeder; 1994) • Megadisc MDC 7876 (Malov; 1993) • NEOS Fundación BBVA (Liebner; 2008) • Triton RDCD 17 014 (Sokolov; 1995) Sonate für Violine und Klavier (1952) • ECM new series 1959 (Trostansky, Ljubimov; 2006) • Erasmus WVH 170 (de Groot, Grout; 1995) • Etcetera KTC 9000-CD 16 (Beths, de Leeuw; 2003) • Megadisc MDC 7875 (Shustin, Malov; 1994) • Sound Star Top Productions SST 30211 (Rissin, Rissin-Morenova; 1989) Zwölf Präludien für Klavier (1953) • Hat Art CD 6130 (Schroeder; 1992) • Koch International Classics 37 301-2 H1 (Arden; 1994) • Megadisc MDC 7867 (Malov; 1994) • NEOS Fundación BBVA (Liebner; 2008) • Triton RDCD 17 014 (Sokolov; 1995) 1. Sinfonie (1955) • Megadisc MDC 7876 (D: Liss, Ural Philharmonisches Orchester Jekaterinenburg; 2000) 4. Klaviersonate (1957) • col legno 20019 (Hinterhäuser; 1998) • Conifer 75605 51 262-2 (Denyer; 1995) 254
Anhang
• ein-klang records (Winter; 2006) • Hat Art CD 6170 (Schroeder; 1994) • Mediaphon 72 158 (Varsi; 1993) • Megadisc MDC 7876 (Malov; 1993) • Melodia C10 23283 007, LP (Malov; 1985) • NEOS Fundación BBVA (Liebner; 2008) • Triton RDCD 17 014 (Sokolov; 1995) Grand Duet für Violoncello und Klavier (1959) • BMG 74321 49 956-2 (Stolpner, Malov; 1985) • EMI 572016-2 (Rostropovič, Ljubimov; 1996) • Etcetera KTC 1170 (Kooistra, Denyer; 1993) • Hat Art CD 6130 (de Saram, Schroeder, 1992) • Koch International Classics37 301-2 H1 (Beiser, Oldfather; 1994) • Megadisc MDC 7863 (Vassiliev, Malov; 1994) • Melodia C10 23283 007, (Stolpner, Malov; LP: 1985; CD: 1997) • RN = Radio Netherlands (Uitti, Malov; 1989) • Wergo 6739 2 (de Saram, Formenti; 2010) Duet für Violine und Klavier (1964) • Hat Art CD 6115 (Beths, de Leeuw; 1991) • Megadisc MDC 7863 (Shustin, Malov; 1994) • Sound Star Productions SST 30211 (Rissin, Rissin-Morenova; 1989) Komposition Nr. 1 »Dona nobis pacem« (1970/71) • Hat Art CD 6130 (Renggli, Le Clair, Schroeder; 1993) • Koch 31 170-2 H1 (Ritter, Hilgers, Hagen; 1993) • Kulturamt der Stadt Witten WD 04 (Pameijer, van Dijk, de Leeuw; 1993) • Megadisc MDC 7867 (Tokarev, Arbusov, Malov; 1994) • Philips 442 532-2 (Mitglieder des Schönberg-Ensembles, K: de Leeuw; 1993) • RN = Radio Netherlands (Zoon, Oostendorp, Malov; 1987)
Aufnahmen der Werke Galina Ustvol’skajas
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Komposition Nr. 2 »Dies Irae« (1972/73) • Megadisc MDC 7867 und 7858 (Propischin, Kolosov, Gorjachev, Vulik, Kovulenko, Peresypkin, Sokolov, Nefedov, Javmertchik, Sandovskaja, K: Malov; 1994) • Neos Music 10949; Vol. 3 der Box 10947-50 (D: Kalitzke, Mozarteumorchester Salzburg; 2009) • Philips 442 532-2 (K, D: de Leeuw, Mitglieder des Schönberg-Ensembles; 1993) • Wergo 6739 2 (Kontrabass-Ensemble Ludus Gravis, Mancini, K: Ottaviucci, D: Scodanibbio; 2010) Komposition Nr. 3 »Benedictus, qui venit« (1974/75) • Conifer 75605 51 194-2 ( Jones, Coffin, Keen, Stevenson, O’Neill, Antcliffe, Newman, McNaughton, Stephenson, Stephenson; 1993) • GLOBE 6903 (D: Friesen, Amsterdam Wind Ensemble; 1989) • Megadisc MDC 7867 und 7858 (Danilina, Osipova, Rodina, Tokarev, Makarov, Shevchuk, Sokolov, Krasnik, Sandovskaja, Malov; 1994) • Philips 442 532-2 (D, K: de Leeuw, Schönberg-Ensemble; 1993) • RCA Red Seal Catalyst (D: Leiferkus, London Musici; 1993) • RN = Radio Netherlans (D: Friesen, Amsterdam Wind Ensemble; 1989) 2. Sinfonie »Wahre, ewige Seligkeit« (1979) • Megadisc MDC 7854 (D: Liss, K: Malov, S: Nemitov, Ural Philharmonisches Orchester; 1999) • VPRO, DVD (Dutch Philharmonic Orchestra, D: de Leeuw; 2004) 3. Sinfonie »Jesus Messias, errette uns« (1983) • Megadisc MDC 7854 (D: Liss, K. Malov, S: Nemitov, Ural Philharmonisches Orchester; 1999) • WWE 20083 (Sinfonieorchester des Bayrischen Rundfunks, D: Stenz; 1998); auch auf: col legno
256
Anhang
4. Sinfonie »Gebet« (1985-87) • Etcetera KTC 1170 (van Vliet, Konink, Denyer, Meeuwsen; 1993) • Mediaphon MED 72 115 (Marrs, Keemss, Miller, Sperber; 1988) • Megadisc MDC 8000 (van Vliet, Konink, Denyer, Meeuwsen; 1993) • Megadisc MDC 7858 (St. Petersburger Solisten, K: Malov; 1994) • Megadisc MDC 7854 (Kann, Javnerchik, Malov, Popova; 1994) 5. Klaviersonate (1986) • col legno 20019 (Hinterhäuser; 1998) • Conifer 75605 51 262-2 (Denyer; 1995) • ECM 449936-2 (Karlen; 1996) • Ein-Klang Records 020 (Winter; 2006) • EMS VI001 (Iltchenko; 2007) • Etcetera KTC 1170 (Denyer; 1995) • Hat Art CD 6115 (de Leeuw; 1991) • Hat Art CD 6170 (Schroeder; 1994) • Kulturamt der Stadt Witten WD 02 (de Leeuw; 1991) • Megadisc MDC 7876 (Malov; 1993) • Megadisc MDC 7858 (Malov; 1993) • MT records N 08/1042 (Melikan; 2007) • NEOS Fundación BBVA (Liebner; 2008) • NRW 128 (Muhlen; 1997) • Triton RDCD 17 014 (Sokolov; 1995) 6. Klaviersonate (1988) • Black Box BBM 1039 (Genia; 2000) • BVHAAST CD 9406 (Mukaiyama; 1994) • col legno 20019 (Hinterhäuser; 1998) • Conifer 75605 51 262-2 (Denyer; 1995) • Hat Art CD 6170 (Schroeder; 1994) • Koch International Classics 37 301-2 H1 (Arden; 1994) • Koch International Classics 37 603-2 H1 (Arden; 1994) • Megadisc MDC 7876 (Malov; 1993) • Megadisc MDC 8000 (Malov; 1993) • NEOS Fundación BBVA (Liebner; 2008) • NRW 128 (Muhlen; 1997) Aufnahmen der Werke Galina Ustvol’skajas
257
• Triton RDCD 17 014 (Sokolov; 1995) • Wergo 6739 2 (Formenti; 2010) 5. Sinfonie »Amen« (1989/90) • Conifer 75605 51 194-2 (D: Leiferkus, Fletcher, Bohling, Hultmark, Powell, Cole, Stephenson; 1993) • Megadisc MDC 7854 (D: Tosenko, Kann, Abbakumov, Schustin, Jawnertschik, Popkov, Malov; 1994) • RCA Red Seal Catalyst (D: Leiferkus, London Musici; 2004)
Filme über Galina Ustvol’skaja Diese Übersicht ist der Internetseite http://ustvolskaya.org/eng/films_books. php; 19. August 2012 (gestaltet von Andrej Bahmin und Konstantin Bagrenin) entnommen. Die Nummern 6, 7 und 9 sind auch auf DVD erhältlich. 1) Toonmeesters #5. Galina Oestvolskaja. Regie: Cherry Duyns (R. de Leeuw, B. Tiščenko, A.Salin), VPRO Holland1994 2) Galina Oestvolskaja. R. de Leeuw spielt die 5. Klaviersonate; Regie: Cherry Duyns, VPRO Holland 1994 (21‘23) 3) Galina Ustvolskaya. Musik aus dem Unterbewusstsein, Tsarskaya LozhaProgramm, Kultura-Kanal (mit Interviews der Komponistin), Russland 2004 (30‘00) 4) Galina Oestvolskaya. Ein Interview mit der Komponistin auf Russisch. Regie: Joseé Voormans, VPRO Holland 2004 (10‘00) 5) Violin-Sonate. Gespielt von V. Beths und R. de Leeuw. Regie: Odette Toeset, VPRO Holland 2004 (21‘30) 6) Schreeuw in het heelal (Schrei ins All). Mit der 2. Sinfonie unter der Leitung von R. de Leeuw in Amsterdam und Einblicken in die Lebenswelt der Komponistin (mit Interviews). Regie: Joseé Voormans, VPRO Holland 2005 (33‘30) 7) 2. Sinfonie. Unter der Leitung von R. de Leeuw. Regie: Odette Toeset, VPRO Holland 2005 (23‘30) 8) Galina Ustvolskaya. Musik aus dem Unterbewusstsein; kurze Version. Kultura-Kanal, Russland 2009 (12‘00) 9) Sinfonisches Poem Nr. 1 und Klavierkonzert. Pianist: R. de Leeuw; Dirigent: Rob van der Berg, Holland 2010 (41‘30) 10) Trio. Klarinette: Pierre Woudenberg; Violine: Pauline Post; Klavier: Joe Puglia, VPRO Holland 2011 (15‘21) 258
Anhang
Notenbeispiele aus den Kapiteln Lebenslinien und Betrachtung des Werks
Notenbeispiel 6: Šostakovič, 5. Streichquartett, S. 40 © Mit freundlicher Genehmigung der Universal Edition A. G. Wien
Notenbeispiele
259
Notenbeispiel 8: Ustvol’skaja, 2. Sinfonie, Schluss © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
260
Anhang
Notenbeispiel 9: Ustvol’skaja, 5. Klaviersonate, Teil 5, S. 15 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Notenbeispiele
261
Notenbeispiel 16: Ustvol’skaja, Komposition Nr. 1, Beginn © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
262
Anhang
Notenbeispiel 18: Ustvol’skaja, Oktett, Beginn 3. Satz, S. 35 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Notenbeispiele
263
Notenbeispiel 20: Ustvol’skaja, Duet für Violine und Klavier, S. 5 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
264
Anhang
Notenbeispiel 21: Ustvol’skaja, Pionier-Suite, 1. Satz, S. 9
Notenbeispiele
265
Notenbeispiel 22: Ustvol’skaja, Sport-Suite, 2. Satz, S. 11
266
Anhang
Notenbeispiel 23: Ustvol’skaja, Sport-Suite, 5. Satz, S. 30
Notenbeispiele
267
Notenbeispiel 24: Ustvol’skaja, Sport-Suite, 5. Satz, S. 38
268
Anhang
Notenbeispiel 35: Ustvol’skaja, Präludium I © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Notenbeispiele
269
Notenbeispiel 36a: Ustvol’skaja, 4. Klaviersonate, 1. Satz (Teil 1) © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
270
Anhang
Notenbeispiel 36b: Ustvol’skaja, 4. Klaviersonate, 1. Satz (Teil 2) © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Notenbeispiele
271
Notenbeispiel 56: Ustvol’skaja, Komposition Nr. 1, Beginn 2. Satz, S. 19 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
272
Anhang
Notenbeispiel 58: Ustvol’skaja, Komposition Nr. 1, Schluss 3. Satz, S. 27 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Notenbeispiele
273
Notenbeispiel 59: Ustvol’skaja, Komposition Nr. 2, VIII. Abschnitt, S. 59 © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
274
Anhang
Notenbeispiel 60: Ustvol’skaja, Komposition Nr. 2, Schluss © Mit freundlicher Genehmigung Musikverlag Hans Sikorski Gmbh & Co. KG
Notenbeispiele
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Erläuterungen zur CD Wie der Diskographie zu entnehmen ist, existiert mittlerweile eine recht stattliche Anzahl an Tonträgern mit Werken Galina Ustvol’skajas. Allerdings sind viele davon schwer erhältlich, und das führte uns zum Entschluss, diesem Buch eine CD beizufügen. Die getroffene Auswahl an dargebotenen Werken soll einen möglichst repräsentativen Überblick bieten. Aus dem Korpus der sechs Klaviersonaten wurden daher die erste (1947) und die letzte (1988) ausgewählt; zwei Ensemblestücke (die Komposition Nr. 1 und die 5. Sinfonie (ihr letztes veröffentlichtes Stück überhaupt) bieten Eindrücke aus der eigenwilligen Klangwelt ihrer religiös konnotierten Werke. Die CD entstand im Rahmen eines Projekts an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien und in Zusammenarbeit mit der Schweizer Pianistin Simone Keller. Die Auswahl der auf der CD eingespielten Stücke entspricht dem Wunsch, einen möglichst repräsentativen Querschnitt aus dem Schaffen Galina Ustvol’skajas darzubieten. Zu hören sind demnach sowohl frühe wie auch spät komponierte Stücke, Solostücke und Werke für Ensembles:
276
1 2 3 4
1. Klaviersonate (1947): 1. Satz 2. Satz 3. Satz 4. Satz
Simone Keller
5 6 7
Komposition Nr. 1 »Dona nobis pacem« (1970/71) Piccoloflöte: Zi Wan Breidler Tuba: Andreas Guggenberger Klavier: Baiba Osina 1. Satz 2. Satz 3. Satz
8
6. Klaviersonate (1988):
9
5. Sinfonie »Amen« (1989/90)
Simone Keller
Violine: Mukaševa Botakoz Oboe: Yoko Kuriyama Trompete: Tobias Karall Anhang
Tuba: Andreas Guggenberger Holzkubus: David Kieweg Sprecher: Konstantin Shklyar Dirigent: Konstantin Ilievskij Aufnahme: 26./27. Juni 2011 (Ensemblestücke), 28. Oktober 2011 (Klavierstücke); in Sälen der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien Aufnahmeleitung: Simeon Pironkoff (Ensemblestücke), David Meroe, Andreas Holzer (Klavierstücke) Tonregie: David Meroe
Die Einspielung der beiden Klaviersonaten erfolgte durch die mehrfach preisgekrönte Schweizer Pianistin Simone Keller, die sich sowohl als Solistin als auch in kammermusikalischen Ensembles vor allem der neuen Musik widmet und international auf zahlreichen Festivals vertreten ist. Ihr gilt unser besonderer Dank. Die Einstudierung und Aufnahme der beiden Ensemblestücke erfolgte im Rahmen eines Projekts an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien, an dem mehrere Institute beteiligt waren. Neben den der Besetzung zu entnehmenden Instituten für Instrumentalstudien sind zu nennen: – Institut für Musikleitung (Simeon Pironkoff ) – Joseph Haydn Institut für Kammermusik und Spezialensembles ( JeanBernard Matter, David Meroe) – Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik (Andreas Holzer) Allen an diesem Projekt beteiligten Musikerinnen und Musikern sei herzlich gedankt! Unser Dank gilt des Weiteren Simeon Pironkoff und Jean-Bernard Matter, die viel Zeit für die Einstudierung und Aufnahme der Ensemblestücke investiert haben, sowie David Meroe, der in uneigennütziger Weise die Tonregie übernommen hat. Der Dank gilt aber auch dem Rektor für zentrale Ressourcen, Rudolf Hofstötter, der die Nutzung der Infrastrukturen der Universität ermöglicht hat, und der Leitung des Instituts für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik, Cornelia Szabo-Knotik und Markus Grassl, die Mittel aus dem Institutsbudget dem Projekt zur Verfügung gestellt haben.
Bemerkungen zur beigelegten CD
277
Literatur- und Quellenverzeichnisverzeichnis Quellen • Bestand Galina Ustvol’skaja in der Paul Sacher Stiftung in Basel (Autographe der Noten, Briefe ab den späten 1980er Jahren) • Interview mit Konstantin Bagrenin am 13. Juli 2012 (der Witwer stellte überdies zahlreiche Photographien als Abbildungsmaterial zur Verfügung – s. Abbildungsnachweis)
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278
Literatur- und Quellenverzeichnis
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Internetseiten Alle Internetseiten wurden zuletzt eingesehen am 11. April 2012. • ustvolskaya.org; gestaltet von Andrej Bahmin und Konstantin Bagrenin • mugi.hfmt-hamburg.de; Internetprotal für Musikvermittlung und Genderforschung: Musikerinnenlexikon und multimediale Präsentation; Hg.: Beatrix Borchard; Artikel Galina Ustvol’skaja: Amrei Flechsig • http://home.wanadoo.nl/ovar/ustvol.htm; zusammengestellt von Onno van Rijen
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Literatur- und Quellenverzeichnis
Abbildungsnachweis Tafel 1-12: Photographien aus dem Privatbesitz von Konstantin Bagrenin Tafel 13-16: Reproduktionen aus dem Besitz der Paul Sacher-Stiftung in Basel
Abbildungsnachweis
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Personen- und Werkregister Abbott, Porter H. 166, 278 Ahmatova, Anna 83, 105, 217 Adler, Guido 32 Adorno, Theodor W. 143, 278 Andreev, Anatolij 139, 161, 278 Anglet, Kurt 90, 122ff., 222, 278 Aranovskij, Mark 278 Artëmov, Vjačeslav Petrovič 115, 237 Arutjunan, Grigor’evič 70 Asaf ’ev, Boris 31f., 37, 146f., 170, 234 Attwood, Lynne 182, 278, 282 Austin, John L. 92, 278 Babadžanjan, Arno Arutënovič 70 Bach, Johann Sebastian 139f., 172, 199f. Bahmin, Andrej 66, 129, 240, 290 Bahtin, Michail 88 Bagrenin, Konstantin 9, 11, 25f., 34f., 43ff., 61f., 68, 78, 84f., 101, 112, 129, 135ff., 147, 230, 237, 239f., 246f., 278, 290f. Baier, Karl 124 Balkašin, Jurij Anatol’evič 45, 237 Banevič, Sergej Petrovič 60 Barthes, Roland 24, 88, 166, 278 Bauckholt, Carola 125 Berendt, Joachim Ernst 119 Berg, Rob van der 258 Berger, Karlhanns 278 Bljum, Arlen 278 Blois, Louis 49, 51f., 54ff., 138, 278 Bödeker, Hans Erich 13, 23, 279 Bokman, Semën 12, 25, 39, 44, 46, 59ff., 79, 88, 147f., 236, 279 Bonfel’d, Moris S. 60 Borchard, Beatrix 279, 290
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Borisova, Elena Vasil’evna 68, 74, 76, 279 Botakoz, Mukaševa 276 Boulez, Pierre 193 Bourdieu, Pierre14, 24, 88, 129, 142ff., 158f., 279 Boym, Svetlana 30, 279 Bradshaw, Susan 279 Breidler, Zi Wan 276 Brežnev, Leonid 59f., 115, 237f. Brjusova, Nadežda 71, 279 Brown, Malcolm Hamrick 279 Bubner, Rüdiger 143, 279 Bunin, Revol’ S. 75 Burde, Wolfgang 158, 279 Bürger, Peter 143, 279 Bucko, Jurij Markovič 71, 75, 86, 145, 161, 164, 174, 197 Polyphones Konzert 86 Sinfonie in vier Fragmenten 174 Sinfonie-Dithyrambe 174 Sinfonie-Intermezzo 174 Sinfonie-Rezitativ 174 Cage, John 113, 139f. Čajkovskij, Boris A. 71, 115 Čajkovskij, Pëtr I. 18, 26, 37, 72, 136, 139f. Evgenij Onegin 18, 26 6. Sinfonie 136 Čemberdži, Ekaterina 108 Čeredničenko, Tat’jana 76, 279 Cincadze, Sulhan F. 71 Cizmic, Maria (Čizmić, Marija) 111, 216f., 280 Clerck, Patrick de 128, 135 Dausien, Bettina 280 Personen- und Werkregister
Danuser, Hermann 280 Davydov, Sergej 45, 81, 250 Denhoff, Michael 280 Denisov, Edison 11, 15, 42, 71, 81, 112f., 115, 117f., 144, 174, 177, 237 Denyer, Frank 252ff., 280 Derks, Thea 39, 90, 126f., 247, 280 Deševov, Vladimir M. 69 Dieckmann, Kai 104, 280 Dinescu, Violeta 116, 125 Djagilev, Sergej 33 Dolmatovskij, Evegenij Aronovič 69 Dolžanskij, Aleksandr Naumovič 76 Druskin, Mihail Semënovič 112 Duffek, Hans-Ulrich 102, 127 Duyns, Cherry 136, 258 Ehrenburg, Ilja 236 Edmunds, Neil 280 Eisenlohr, Ulrich 247 Eisler, Hanns 193 1. Klaviersonate 193 Emigholz, Marita 129 Fairclough, Pauline 280 Fanning, David 51, 55, 280 Fay, Laurel 113, 280 Feldman, Morton 21, 119, 121, 158, 164 Feofanov, Dmitrij 282 Firsova, Elena 115f., 237 Flaker, Aleksandar 280 Flechsig, Amrei 280, 290 Fludernik, Monika 169, 280 Formenti, Marino 255 Franz, Norbert 80, 280 Frumkis, Tatjana 117, 280 Furceva, Ekaterina Alekseevna 105 Galynin, German G. 71 Geertz, Clifford 91 Geiger, Friedrich 281 Geigerova, Varvara 113 Personen- und Werkregister
Gergiev, Valerij 126 Gerlach, Hannelore 113, 281 Gilels, Emil 217 Gjurdžiev, Georgij Ivanovič 158 Gladkova, Ol’ga 12, 13, 21, 23ff., 36, 41, 46, 59f., 66, 68, 78, 80f., 89, 138ff., 148, 161, 165, 173, 177, 206, 216, 236, 239f., 252, 281 Glikman, Isaak Davidovič 45, 94, 281 Gnatenko, Anna 74, 281 Gnessin, Mihail Fabjanovič 43, 107 Gogol’, Nikolaj 39, 46, 134 Gojowy, Detlef 112ff., 117f., 129, 139f., 146, 158, 281 Golovinskij, Grigorij 282 Gorbačëv, Mihail 238 Gor’kij, Maksim 32, 234 Greenblatt, Stephen 16 Grigor’ev, Lev G. 281 Grönke, Kadja 50, 56f., 282 Gubajdulina, Sofija 11, 71, 82, 112, 115ff., 121, 125, 144, 174, 177, 237 Introitus 82 Offertorium 82 Guggenberger, Andreas 276f. Guljanickaja, Natal’ja 83, 282 Haas, Davis 30, 146, 282 Hačaturjan, Aram 58, 236 Hakobian, Levon 282 Halser, Veronika 140, 282 Hamel, Peter Michael 119 Hannick, Christian 282 Harris, Roy 58, 236 Hartmann, Thomas de 158 Heilbrun, Carolyn 111 Hellmundt, Christoph 42, 189, 282 Hentova, Sof ’ja 34, 43f., 282 Hermannus Contractus 82, 92, 94, 246f. Hiekel, Jörn Peter 282
293
Hillier, Paul 122, 282 Hinterhäuser, Markus 131, 139f., 153, 252ff., 285 Ho, Allan 282 Hölszky, Adriana 116, 125 Honegger, Arthur 69 Pacific 231 69 Hrennikov, Tihon 38, 60, 70f., 108, 115, 177, 180, 236ff., 282 Hruščëv, Nikita 60, 68, 105, 115, 236f. Huber, Klaus 118 Ibragimova, Tamara 108 Ikramova, Anna 108f. Ilič, Melanie 282 Ilievskij, Konstantin 277 Ivanov, Janis Andreevič 69 Izkova, Svetlana 108 Jagolim, Boris S. 27, 282 Jakubiak, Jarema 80, 283 Jansen, Mechthild 283 Jauß, Hans Robert 120 Jelagin, Juri 283 Jeremiah-Foulds, Rachel 47, 283 John, Michael 81, 83, 283 Jusfin, Abraham 114 Južak, Kiralina 75f., 150, 283 Kabalevskij, Dmitrij 83 Requiem 83 Kac, Boris 87f., 224ff., 283 Kafka, Franz 123f. Kagel, Maurizio 113 Kager, Reinhard 131 Kajnova, Margarita Andreevna 44 Kančeli, Gija 115, 156, 174 Karaev, Kara A. 71, 115 Karall, Tobias 276 Karamanov, Alemdar S. 71 Karandašova, Marija 112, 241f., 245, 253
294
Katonova, Svetlana 72, 76, 283 Kautny, Oliver 84, 122, 283 Kažlaev, Murad M. 69 Keller, Simone 276f. Kelly, Catriona 182, 278, 283 Kieweg, David 277 Kirov, Sergej 33, 235 Kläy, Walter 89 Klein, Christian 283 Klemm, Sebastian 162, 283 Knajfel, Aleksandr 82, 116, 174, 237 Agnus Die 82 Knipper, Lev 31, 146 Köchel, Jürgen 127, 283 Köhl, Rainer 131 Köhler, Siegfried 103, 283 Kolarz, Walter 283 Kollontaj, Aleksandra 104 Korganov, Tomas I. 75 Korovina, Ol’ga 108 Korte, Oliver 91, 283 Kostomolockij, Aleksandr 39 Kovnatskaja, Ludmila (Kovnackaja, Ljudmila) 283 Kozzin, Allan 284 Kravčenko, Boris 60 Krenek, Ernst 31 Jonny spielt auf 31 Kučera, Václav 113 Kuhn, Judith 53, 284 Kuriyama, Yoko 276 Kurth, Ernst 32 Labhart, Walter 130 Lagidze, Revaz 70 Laß, Karen 284 Laux, Karl 113, 284 Ledenëv, Roman S. 71 Lee, Marian Y. 9, 85, 113, 149, 230, 284 Personen- und Werkregister
Leeuw, Reinbert de 20, 46, 125ff., 136, 210, 238, 246, 253ff. Leikert, Sebastian 284 Lemaire, Frans 284 Lenin, Vladimir I. 103 Lesle, Lutz 121, 284 Levaja, Tamara 67f., 72, 74, 76f., 83, 284 Lévi-Strauss, Claude 142 Levina, Sara 107 Levitin, Jurij 37ff., 42, 145, 179 Ligeti, György 139f., 222 Ljubimov, Aleksej 46, 66, 128, 240, 252ff. Lobanova, Marina 31f., 93, 138, 153, 284 Lobovskij, Abram 36 Lourié, Arthur 114 Lunačarskij, Anatolij 233 Lyotard, Jean-Francois 154, 284 Maes, Francis 285 Magidenko, Ol’ga 108f. Mahler, Gustav 18, 37, 39f., 44, 61, 186 Lied von der Erde 44, 61 Makarova, Nina 107, 113 Malevič, Kazimir 106 Malov, Oleg 127f., 230, 241f., 244f., 248, 252ff. Marbe, Myriam 116 Marsh, Rosalind 105f., 285 Matter, Jean-Bernard 277 Mauser, Siegfried 193, 205f., 285 Mazo, Margarita 147, 285 Mazullo, Mark 199, 285 Mc Burney, Gerard 285 Mc Donald, Ian 130, 285 Meroe, David 277 Mersch, Dieter 93, 285 Messiaen, Olivier 118 Meyer, Benjamin 9, 140, 211, 285 Personen- und Werkregister
Meyer, Krzysztof 112, 282, 285 Meyer, Thomas 36, 39, 132, 189, 285 Mishra, Michael 285 Mitterbauer-Wiesinger, Brigitta 285 Mjaskovskij, Nikolaj J. 58, 115, 145, 236 Moisenko, Rena 107, 285 Moninghetti, Ivan 112 Moshevich, Sofia (Moševič, Sofija) 35, 285 Mosolov, Aleksandr 31, 69, 234 Stahl 69 Mravinskij, Evgenij A. 36, 41, 241 Mühlbach, Marc 285 Mundry, Isabel 125 Muradeli, Vano 38, 171f., 236 Die große Freundschaft 38, 171, 236 Musorgskij, Modest 64, 72, 135, 139, 146 Boris Godunov 64, 146 Nancarrow, Conlon 21 Nauck, Gisela 139, 153, 285 Navailh, Francoise 103f., 285 Nestjev, Israel 163, 172, 184, 286 Nies, Christel 124, 286 Nikitina, Ljudmila 69, 71, 75, 286 Nikolaeva, Tat’jana Petrovna 107, 113 Nonnenmann, Rainer 94, 286 Nono, Luigi 113, 119ff. Fragmente – Stille. An Diotima 119 Osina, Baiba 276 Ovčinnikov, Ilja 60, 66, 68, 77, 286 Pärt, Arvo 82, 84, 118, 121f., 144, 160, 177, 219 Credo 82, 84 Pagh-Paan, Younghi 125 Panofsky, Erwin 142 Partch, Harry 21 Patov, Ulrike 286 Penderecki, Krzysztof 112f., 118f.
295
Anaklasis 119 Lukas-Passion 119 Petrov, Andrej 145, 164 Pironkoff, Simeon 277 Pol’djaeva, Elena 286 Popadenko, Tamara 113 Popov, Gavriil 31, 33, 58, 145f., 236 1. Sinfonie 33 Post, Pauline 258 Potapova, Ksenja Kornilevna 233 Preobraženskij, Antonij 79 Prieberg, Fred 286 Prokof ’ev, Sergej 37, 58, 64, 69, 72, 115, 236 Le Pas d’acier 69 Protopopov, Valerij 286 Puglia, Joe 258 Raaben, Lev Nikolaevič 67f., 286 Rahmaninov, Sergej 37 Radwilowitsch, Alexander 83, 286 Rappoport, Lidija 12, 13, 66, 72, 107, 111, 178, 180, 240, 286 Redepenning, Dorothea 12, 15, 30, 33, 35, 58f., 83, 85f., 108f., 115, 121, 125, 131, 145, 155f., 162, 164, 170f., 176f., 179, 181, 240, 286f. Reich, Wieland 95, 138, 140, 230, 287 Reid, Susan 282 Rexroth, Tatjana 18, 26, 65, 78, 132, 287 Rihter, Svjatoslav 217 Rimskij-Korsakov, Nikolaj 64 Der Goldene Hahn 64 Rissin, Josef 116, 254f. Rissin, Ol’ga 116, 254f. Rjazanov, Pëtr 33 Rodari, Gianni 73, 182, 243 Roslavec, Nikolaj 31f., 37, 234 Rostropovič, Mstislav 20, 46, 128, 245, 255
296
Roždestvenskij, Robert 83 Saariaho, Kaija 125 Salmanov, Vadim N. 71 Sanin, Aleksandr 74, 77, 182f., 287 Satie, Erik 158 Scelsi, Giacinto 21, 118ff., 158 Šahnazarova, Nina 281 Šaporin, Jurij 31, 33, 145 Šaverdjan, Aleksandr 172, 287 Ščedrin, Rodion 71, 115, 145, 160, 174, 197 2. Sinfonie 174 Ščerbačëv, Vladimir 31, 33, 146 Šebalin, Vissarion J. 36, 58, 145f., 236 Scheuer, Helmut 16, 287 Schillinger, Joseph 114f. Schlünz, Annette 125 Schmidt, Dörte 153, 287 Schmidt-Linsenhoff, Viktoria 106, 287 Schnebel, Dieter 118 Šnittke, Alfred 11, 71, 83, 85, 112f., 117f., 144, 155f., 160f., 174, 177, 197, 237 Hymnen 86, 155 Requiem 83f. Schönberg, Arnold 18, 37, 141, 147 Pierrot Lunaire 18 2. Streichquartett 37 Schönberger, Elmar 130, 288 Šostakovič, Dmitrij D. 12ff., 18, 23, 29, 31, 33-56, 58, 60, 64, 67f., 74, 76, 94, 102, 110, 113f., 126, 138ff., 144ff., 150f., 161f., 168, 172, 174, 178, 180, 186-204, 234ff., 288 Aus jiddischer Volkspoesie 46 Die Hinrichtung Stepan Razins 180 Die Nase 234 1. Klaviersonate 186, 193ff. 2. Klaviersonate 186 Personen- und Werkregister
Konzert für Klavier, Streichorchester und Trompete 186-193 Lady Macbeth des Mzensker Kreises 33, 35, 38, 105, 235 Lied von den Wäldern 43, 48, 69, 81, 181, 199, 236 24 Präludien und Fugen für Klavier 46, 172, 186, 198f. 3. Sinfonie 126 4. Sinfonie 35, 126 5. Sinfonie 37, 49, 54 7. Sinfonie 34, 235 9. Sinfonie 47 10. Sinfonie 50 14. Sinfonie 64, 161 5. Streichquartett 46, 48-56 Suite auf Verse von Michelangelo Buonarotti 55ff. Über unserer Heimat strahlt die Sonne 69, 81, 199, 236 1. Violinkonzert 43, 50 Šostakovič, Maksim 44 Schubert, Franz 18 Schwarz, Boris 30, 38, 45, 58, 83, 85, 288 Štejnberg, Maksimilian 31, 35, 37, 43 Seither, Charlotte 125 Serebrjakov, Pavel 59, 128, 240, 252 Sergeeva, Tat’jana 116 Sessions, Roger 58, 236 Sheperd, David 282 Shklyar, Konstantin 277 Sil’vestrov, Valentin 113, 174 Skrebkov, Sergej 288 Skrjabin, Aleksandr 37, 39, 146, 186 Slonimskij, Sergej 164 Smirnov, Dmitrij 115 Smith, Sidonie 288 Sohor, Arnol’d 71, 76f., 288 Sollertinskij, Ivan I. 36 Personen- und Werkregister
Spahn, Claus 131 Sperber, Roswitha 89, 116f., 247 Stalin, Iosif 60, 104f., 177, 235f. Stiebler, Ernstalbrecht 288 Stille, Michael 188, 288 Stockhausen, Karlheinz 118, 123, 164, 222 Strauss, Richard 37 Stravinskij, Igor’ 18, 37f., 61, 64, 73, 135, 146f., 150, 158, 186, 193 Petruška 64 Psalmensinfonie 38, 65, 73, 135 Sonate pour piano 193 Streicher, Ljubov 107 Suslin, Viktor 39ff., 84, 90, 112, 115, 125f., 128, 138, 222, 237, 239, 247, 288 Svetlanov, Fedorovič 70 Sviridov, Georgij 37, 42, 64, 71, 145, 160, 162 Tadday, Ulrich 149, 288 Tarakanov, Mihail 73, 75, 288 Taruskin, Richard 289 Terterjan, Avet 174 Tiščenko, Boris 46, 60f., 63ff., 83, 138, 236, 258, 289 Requiem 83 Toeset, Odette 258 Tomčin, Arkadij B. 60 Tomoff, Kirill 177, 289 Tormis, Vel’o 69 Ugorskij, Anatolij 242 Uspenskij, Nikolaj 85f., 88, 161, 197, 219, 228, 237 Ustvol’skaja, Galina Boldino’scher Herbst (Filmmusik) 251 Das Mädchen und das Krokodil (Filmmusik) 61
297
Der Mensch vom hohen Berg 45, 72, 81, 171, 179, 236, 249 Der Traum des Stepan Razin 13, 58, 70ff., 76f., 81, 166, 171, 176, 178, 180, 239, 241 Die autonome Sozialistische Sovietrepublik Mordvin (Filmmusik) 251 Duet für Violine und Klavier 45, 67, 82, 130, 155, 169, 174f., 245, 255 Feuer in der Steppe 45, 69, 72, 171, 176, 180f., 244 Gogol’ (Filmmusik) 252 Grand Duet 20, 67, 88, 112, 127f., 150, 174, 245, 255 Heldentat 45, 171, 176, 180, 237, 244 Kinder-Suite 71f., 167f., 171, 179f., 182f., 185, 250 Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauken 37, 58f., 67, 128, 152, 157, 186-193, 240, 252 1. Klaviersonate 20, 58, 186, 194f., 198, 219, 241, 252, 276 2. Klaviersonate 87, 131f., 160, 186, 196, 223, 242, 253 3. Klaviersonate 242, 254 4. Klaviersonate 149, 205ff., 244, 254 5. Klaviersonate 20, 94, 131, 149, 152f., 156, 207-213, 248, 257 6. Klaviersonate 20, 111, 131, 149, 212-217, 248, 257, 276 Komposition Nr. 1 »Dona nobis pacem« 21, 45, 57, 82, 86, 91, 116, 149, 154f., 164f., 168f., 198, 218, 220, 223-229, 237, 245, 255, 276 Komposition Nr. 2 »Dies irae« 21, 57, 75f., 82, 95, 153, 155, 218, 220f., 229f., 245, 256 Komposition Nr. 3 »Benedictus qui venit« 21, 82, 155, 218, 220f., 246, 256
298
Loblied 45, 81, 169, 171, 181, 185, 250 Oktett 46, 67, 70, 73, 75f., 88, 111, 128, 152, 155f., 158, 160, 170, 176, 218, 241, 253 Pionier-Suite 71f., 171, 185, 236, 249 12 Präludien 67, 173, 186, 198-204, 242, 254 Russisches Museum (Filmmusik) 252 1. Sinfonie 18f., 68, 72ff., 77, 166, 176, 243, 254 2. Sinfonie »Wahre, ewige Seligkeit« 19, 82, 84, 92ff., 246, 256 3. Sinfonie »Jesus, Maria, errette uns« 82, 126, 247, 256 4. Sinfonie »Gebet« 19, 82, 84, 89, 91, 95, 116, 155, 157, 247, 257 5. Sinfonie »Amen« 11, 19, 21, 78, 82, 91ff., 95-101, 116, 137, 216, 238, 248, 258, 276 Sinfonietta 240, 249 Sinfonisches Poem Nr. 1 244 Sinfonisches Poem Nr. 2 244 Sonate für Cello und Klavier 240, 249 Sonate für Violine und Klavier 67, 112, 116, 130, 150, 175, 242, 254 Sonatine für Violine und Klavier 249 Sport-Suite 45, 171, 176, 180, 184f., 243, 250 Streichquartett 240, 249 Trio für Klarinette, Violine und Klavier 35, 46-56, 70, 155, 157, 186, 241, 253 Variationen für 2 Klaviere 36, 249 Ustvol’skaja, Tat’jana 233 Ustvol’skij, Ivan Mihailovič 25, 233 Vajman, Mihail 112, 242 Varzar, Nina 43 Vasil’eva, Natal’ja Viktorovna 76, 289 Personen- und Werkregister
Vedernikov, Anatolij 242, 253 Vejsberg, Julija Lazarevna 107 Veselov, Vadim 60 Volkonskij, Andrej 115, 117, 174 Vogt, Harry 102, 289 Voormans, Joseé 258 Walch, Regine 283 Walter, Bruno 31 Watson, Giulia 288 Webern, Anton 135, 141, 146, 202 5 Stücke für Orchester 135 Weiss, Stefan 140, 149, 205ff., 289 Weitzman, Ronald 148, 289 Wellesz, Egon 32 Wettstein, Shannon L. 289
Personen- und Werkregister
Whitall, Arnold 132 William, Nigel 125 Williamson, Nigel 289 Wilson, Elizabeth 43, 289 Wilson, Peter Niklas 119f., 157, 289 Wolf, Werner168, 289 Woll, Josephine 180, 289 Woudenberg, Pierre 258 Xenakis, Iannis 113 Zink, Michael 93, 96f., 140, 166, 173, 290 Zuckkerman, Valerij 290 Ždanov, Andrej 34ff., 38, 58, 171, 184, 235f.
299
EUROPÄ ISCHE KOMPONISTINNEN HERAUSGEGEBEN VON ANNET TE KREUTZIGER-HERR UND MELANIE UNSELD
EINE AUSWAHL
BD. 5 | DETLEF GOJOWY MYRIAM MARBE
BD. 1 | STEFAN JOHANNES MORENT,
NEUE MUSIK AUS RUMÄNIEN
MARIANNE RICHERT PFAU
2007. XII, 292 S. 10 S/W-ABB AUF 8 TAF.
HILDEGARD VON BINGEN
GB. MIT SU. | ISBN 978-3-412-04706-1
DER KLANG DES HIMMELS 2005. 401 S. 12 S/W-ABB. AUF 12 TAF. MIT MUSIK-CD. GB. MIT SU. ISBN 978-3-412-11504-3 BD. 2 | RUTH MÜLLER-LINDENBERG WILHELMINE VON BAYREUTH DIE HOFOPER ALS BÜHNE DES LEBENS 2005. XI, 225 S. 15 S/W-ABB. AUF 15 TAF. GB. MIT SU. | ISBN 978-3-412-11604-0
BD. 6 | PETER SCHLEUNING FANNY HENSEL GEB. MENDELSSOHN MUSIKERIN DER ROMANTIK 2007. X, 349 S. 22 S/W-ABB. AUF 16 TAF. GB. MIT SU. | ISBN 978-3-412-04806-8 BD. 7 | MONICA KLAUS JOHANNA KINKEL ROMANTIK UND REVOLUTION 2008. XIV, 364 S. 18 S/W-ABB. AUF 16 TAF.
BD. 3 | JANINA KLASSEN
GB. MIT SU. | ISBN 978-3-412-20175-3
CLARA SCHUMANN MUSIK UND ÖFFENTLICHKEIT
BD. 8 | ANDREAS HOLZER,
2009. XIV, 536 S. 21 S/W-ABB. AUF 16 TAF.
TATJANA MARKOVIĆ
GB. MIT SU. | ISBN 978-3-412-19405-5
GALINA IVANOVNA USTVOL’SKAJA KOMPONIEREN ALS OBSESSION
BD. 4 | MARION FÜRST
MIT EINEM ESSAY UND EINER
MARIA THERESIA PARADIS
WORTSÄULE VON EDU HAUBENSAK
MOZARTS BERÜHMTE ZEITGENOSSIN
2013. 299 S. 16 S/W-ABB. U. AUDIO-CD-
2005. XII, 405 S. 21 S/W-ABB. UND 8
BEILAGE. GB. MIT SU.
NOTEN BEISPIELE. GB. MIT SU.
ISBN 978-3-412-21031-1
TT169
ISBN 978-3-412-19505-2
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