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German Pages 368 Year 2007
H. L. W. NELSON I U. MANTHE
Gai Institutiones III 182 -225
Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen Herausgegeben vom Institut für Rechtsgeschichte und geschichtliche Rechtsvergleichung der Albert-Ludwigs-Universität. Freiburg i. Br.
Neue Folge . Band 55
Studia Gaiana IX
Gai Institutiones 111 182 -225 Die Deliktsobligationen TEXT UND KOMMENTAR
Von
Hein L. W. Nelson und Ulrich Manthe
Duncker & Humblot . Berlin
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Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6704 ISBN 978-3-428-12508-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@ Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Es freut uns, daß wir mit dem Erscheinen dieses Bandes ein schon vor geraumer Zeit geplantes gemeinsames Vorhaben zum Abschluß bringen können: die Kommentierung und Edierung des dritten Buches der Gaiusinstitutionen. Es ist der letzte Abschnitt: III 188-225. Dem Inhalte nach nimmt dieser Abschnitt in den Gaiusinstitutionen eine gewisse Sonderstellung ein. Er befaßt sich mit Straftaten (Delikten), während in den vorherigen Abschnitten der Gaiusinstitutionen nur personen- und sachenrechtliche Themen zur Erörterung standen (etwa Rechte der Bürger und Peregrinen, Ehe, Kaufund Verkauf, Verpflichtungen usw.). Die Zahl der hier behandelten Delikte ist übrigens eine geringe: es sind deren nur zwei: furtum (,Diebstahl, Entwendung, Raub') und iniuria (, Verletzung, Beleidigung und Beschädigung'). Nur in einer Hinsicht stellt Gaius die prozessuale Behandlung der in diesem Abschnitt besprochenen Delikte auf dieselbe Stufe wie die Behandlung sonstiger personen- und sachenrechtlicher Verfahren; mittels eines zivilrechtlichen (d. h. privaten) Verfahrens, und nicht auf dem Wege eines strafrechtlichen Verfahrens. Anhand geschichtlicher und sonstiger literarischer Quellen (Frühgeschichte des Livius und Komödien des Plautus) läßt sich feststellen, daß die Anwendung eines zivilrechtlichen (privaten) Verfahrens zwecks Verurteilung einer Straftat in früheren republikanischen Zeiten ziemlich allgemein war. Gemäß der bekannten - gewiß ansprechenden - These von KUNKEL sei in der Zwölftafelzeit (ca. 450 v. Chr.) ausschließlich mittels zivilrechtlichen Verfahrens gegen Straftäter vorgegangen worden, sogar wenn es sich um Mordsachen handelte. In den Augen der damaligen Gesetzgeber hätten Privatrecht und Strafrecht eine Einheit gebildet. Die zwei in unserem Gaiusabschnitt genannten Delikte sind demnach nur ein restlicher Bestandteil einer ehedem sehr viel größeren Gruppe. Ein separates eigenständiges Strafrecht hat es demnach in Rom nicht gegeben. Es zeigte sich aber schon verhältnismäßig früh, daß Senatoren und sonstige Magistrate das Führen von Strafprozessen im Rahmen eines Privatprozesses rur beschwerlich gehalten haben. Der Verlauf des Verfahrens war oft mühselig und schleppend. Etwa in der Wendezeit vom 3. zum 2. Jahrh. v. Chr. kam es denn auch vor, besonders wenn es sich um ernsthafte Straftaten, etwa um Erpressung, handelte, daß man in Ermangelung eines Besseren den Entschluß faßte, eine
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Vorwort
neuartige gesonderte Richterbank zu bilden, die man mit speziellen Zuständigkeiten ausstattete. Es waren die sog. recuperatores (,Zurückholer'). In der Folgezeit, etwa seit der Mitte des 2. Jahrhs. v. ehr., wurde die Bildung von separaten Richterbänken in zunehmendem Maße fortgesetzt und systematisiert. Es wurden Richterlisten aufgestellt. Erweiterung der Zuständigkeiten ermöglichte die Bildung spezieller Richterbänke. So entstanden gesonderte Richterbänke rur Mord, Hochverrat, Fälschung von Testamenten, GewaItverbrechen usw., quaestiones genannt (,befragende und untersuchende Richterbänke'). Die neugebildeten spezialisierten Quästionen fungierten bis zu einem gewissen Grade als Ersatz fur das fehlende Strafrecht. Der letzte und in kurzer Zeit einflußreichste Zusatz zu den oben genannten sondergerichtlichen Institutionen ist die von Kaiser Augustus eingeruhrte cognitio extraordinaria (,außergewöhnliches Rechtsverfahren'). Die Jurisdiktion des Kaisers und seiner Vertreter arbeitete schneller und durchgreifender als alle übrigen Verfahren, sowohl wenn es sich um privatrechtliche wie strafrechtliche Streitverfahren handelte; es wurde schon bald bevorzugt und verdrängte allmählich die übrigen Verfahrensarten. Näheres Studium der Gaiusinstitutionen ruhrt zur auffallenden Feststellung, daß Gaius im EinfUhrungsbuch in die römische Rechtspflege (von den Rekuperatores abgesehen) keine der oben genannten richterlichen Sonderinstitutionen auch nur mit einem Wort erwähnt; die Termini quaestiones und cognitio extraordinaria fehlen gänzlich. Das bedeutet gleichzeitig, daß konkrete Hinweise auf das Strafrecht und auf die Strafprozesse so gut wie völlig fehlen. Gaius orientiert sich ausschließlich auf das zivile (private) Formularverfahren. Als Quellen benutzte er anscheinend die Bücher des von ihm besonders häufig zitierten Rechtslehrers Massurius Sabinus (tätig in der ersten Hälfte des ersten Jahrhs. n. ehr. und weiterhin noch unter Nero; er war somit 2 bis 3 Generationen älter als Gaius; 161 n. ehr. verfaßte Gaius als Rechtslehrer die institutiones), möglicherweise benutzte er noch ein sonstiges Lehrbuch der sabinianischen Schule. Kurz: es zeigt sich, daß Gaius seinem Lehrbuch eine einseitige Orientierung gegeben hat; alles, was mit strafrechtlichen Prozessen zusammenhängt, bleibt unbesprochen. Was unseren Abschnitt anbelangt (III 188-225), unterläßt Gaius es z. B. darauf hinzuweisen, daß, wenn zu seiner Zeit Prozesse wegen furtum oder iniuria geruhrt wurden, die Prozeßfuhrung meist auf dem Wege einer cognitio extraordinaria stattfand, nicht auf dem eines Formularverfahrens. Letzteres dürfte inzwischen altmodisch geworden sein. Um die infolge der von Gaius beibehaltenen einseitigen Orientierung entstandenen Lücken einigermaßen zu ergänzen, haben wir diesem Bande eine Einleitung beigegeben. Bei Beginn der Arbeit haben wir, die beiden Verfasser, eine Arbeitsteilung vereinbart. Der zweitgenannte Verfasser übernahm die Herstellung der Kommentare zu III 182-209 (Diebstahl, Entwendung, Raub). Außerdem unternahm er die Einschaltung einer Textausgabe und fUgte einen ausruhrlichen kritischen
Vorwort
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Apparat hinzu. Auch in diesem Falle beruht der Text, wie üblich, in erster Instanz auf der bekannten von STUDEMUND hergestellten Entzifferung des Veronenser Palimpsestes. Da es rur das Vornehmen von Korrekturen nicht unwichtig ist, von der Beschaffenheit des Textes sowie des Apographums eine Vorstellung zu haben, haben wir auf Seiten 320 und 321 Abbildungen von je einer Seite Palimpsest und Entzifferung in das Buch eingeschaltet. Der an erster Stelle genannte Verfasser übernahm die Aufgabe, den Kommentaren des Buches eine Einleitung vorauszuschicken. Sie dient dem Zweck, dem Leser einen allgemeinen Überblick über die rechtshistorische Umwelt der in diesem Buche erörterten Obligationen aus Delikten zu verschaffen. Fernerhin wurde verabredet, daß der erstgenannte Verfasser die Kommentare zu III 110225 (Lex Aquilia; Iniuria) verfaßte. Stilistische Merkmale wurden besonders beachtet. Es gab, was Gaius anbelangt, stilistische Unterschiede zwischen einerseits einer Abhandlung (einem Studienbuch) und andererseits einem Kurzlehrbuch, d. h. zwischen einer dissertatio und einem fiber regularum. Es gab somit Gai institution um iuris eivi/is /ibri IV (kurz: Gai institutiones, eine dissertatio) und außerdem (s. LENEL, Palingenesia I S. 251, Nm. 483 u. 484 sowie 485) 2 KurzlehrbUcher: Gai regularum /ibri HI und Gai regularum fiber singularis. Je nach Bedarf schrieb derselbe Autor bald das eine, bald das andere Werk. Denjenigen, die uns bei der Herstellung des Buches Hilfe geleistet haben, gebührt unser besonderer Dank. Wir danken denn auch Frau Waltraud Riesinger rur die Herstellung des Manuskripts, Herrn Christian Fröde rur technischen Beistand, Herrn Ben Ackerman rur die Herstellung der Abbildung auf S. 321, Frau stud. jur. Evelyn-Maria Wiggert rur das Lesen von Korrekturen, Frau stud. jur. Katharina Hendrikx rur Korrekturlesen und Erstellung des Stellenverzeichnisses. Als das Manuskript fertig vorlag, wurde vom zweitgenannten Verfasser noch ein Sachregister hinzugerugt. Zwecks Entlastung der Kommentare hat derselbe Verfasser einige Exkurse in den Anhang aufnehmen lassen. Den Herausgebern der Freiburger Rechtsgeschichtlichen Abhandlungen sowie dem Verlagshaus danken wir fur die freundliche Aufnahme in ihre Reihe.
Bilthoven (Utrecht)/Passau, im Januar 2007
Hein L. W. Nelson und Ulrieh Manthe
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung: Bürgerliches Recht und Strafrecht ......................... .......... ............... 1 Einleitung: Die zivilrechtlichen Delikte .................... ................................................... 2 1. Das Zwölftafelrecht bei Gaius ......................................... ................ ......... ............. 2 2. Strafprozesse der archaischen Zeit in der Darstellung des Gaius ........................... 7 3. Die Lex Aquilia, Klage auf Schadensersatz, Ergänzung der XII Tafeln .............. 22 4. Die Rekuperation .................... .......................... .................................................. 28 5. Unzulänglichkeiten des zivilrechtlichen Strafverfahrens. Aufkommen der Quästionengerichte ................................. ............................ .......................... ....... 41 6. Zivilprozesse und Verfahren extra ordinem unter dem Prinzipat ................ .. ...... 60 7. Das zivilrechtliche Lehrbuch des Gaius .............. ...... .. ........................................ 75 Text: Gai institution es 111182-225 mit Conspectus siglorum et notarum, Verzeichnis der Parallelüberlieferung und kritischem Apparat .................................................. ..................... .................. 103 Kommentar ........................................................ ........ ............................................... 119 III 182-209: Entwendung und Raub ................................................. ..................... 121 III 210-219: Die Lex Aquilia ................................. .. ............ ....... ....................... .... 205 III 220-225: Die Actiones iniuriarum ...................... .................................... .......... 234 a) III 220-222: Bedeutung des Terminus iniuria: Einleitung ............................ 236 b) III 223-225: ProzeßfUhrung, Auferlegung von Bußen .................................. 240 Exkurse I. Ciceros Vorschläge für ein neuesjuristisches Lehrbuch ........................... ....... 270 II. Etymologien bei Gaius ...... .. ...... ..... ... .... ........................................................ ... 277 III. Lance et licio .... ......... ..................................... .............. ............. ...................... 284 IV. Natürlicher Begriff ... .... ........... ........................................................................ 296 V. Contrectatio ........ ......... ... ............................... ....... .................... ..... ..... ............ 301 VI. In causa mancipi ....................... ... .............................. ... ................................. 306 VII. Custodia ......................................................................................................... 309
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Inhaltsverzeichnis
Abbildungen ................................................. ...................................................... .... ... 319 1. W. Studemund, Apographum, pag. 187 ........... .......... ... ........... .......... ............... 320 2. Codex Veronensis, [01. 39 r................................. .... .... .................... .................. 321 3. U. Manthe, Gaius, Institutiones (Dannstadt 2004) S. 317 ................................. 322 4. U. Manthe, Gaius, Institutiones (Darmstadt 2004) S. 316 ............. ...... .............. 323 Literatur- und Abkürzungsverzeichnis ........ ..... .......................... ............................ 325 Wort- und Sachregister ........... ........ ................... .... ............................ ........... ........... 335
Stellen register .. ......................................................................................................... 344 Corrigenda zu NelsonlManthe, Gai Institutiones III, 88-181 ................................ 357
Vorbemerkung: Bürgerliches Recht und Strafrecht Es ist rur heutiges Rechtsempfinden eine aufThlIige Tatsache, daß Gaius strafrechtliche Themen im Rahmen des ,bürgerlichen Rechts' (,Zivilrechts') behandelt (inst. III 182-225); das heißt, im Rahmen jener Rechtskategorie behandelt, die wir heute gemeinhin als ,Privatrecht' bezeichnen. Die Erklärung dieses Vorganges macht eine etwas eingehendere Erörterung erforderlich. Es zeigt sich, daß wir dabei ziemlich weit in die archaische Zeit zurückgehen müssen, d. h. bis in die Zeit der Zwölftafelgesetzgebung (ca. 450 v. Chr.). Allem Anscheine nach hat diese Gesetzgebung, von den außergewöhnlichen Komitialprozessen abgesehen (wegen Hochverrat und Ähnlichem) keine eigenständigen strafrechtlichen Verfahren gekannt. Für sämtliche Delikte, gemeine Mordsachen inbegriffen, standen lediglich zivilrechtliehe Prozeduren zu Gebote (allerdings ist die exakte Deutung der alten rechtlichen Prozeduren in betreff Straftaten bis heute ein strittiges Thema geblieben, s. u. S. 7 ff., bes. 15 ff.). Erst im Laufe des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts wurden spezielle justizielle Organe geschaffen, deren Aufgabe es war, gewisse namentlich in besonderen Gesetzen erwähnte Straftaten separat abzuurteilen: es waren die sog. quaestiones (buchst. "Vernehmungen, Befragungen"; hier "Richterkollegien, die den Kläger, den Angeklagten und die Zeugen befragen"). Von einem alles Dazugehörige zusammenfassenden römischen Strafrecht konnte aber auch in den Jahren der Spätrepublik noch keine Rede sein. Unter Kaiser Augustus und den weiteren Kaisern der Prinzipatszeit bahnte sich schließlich zwecks Aburteilung von Straftaten durch die Schaffung der sogenannten Kognitionsprozesse eine neue Entwicklung. an. Auch die Quästionen wurden allmählich von den cognitiones extra ordinem ("außergewöhnliche Untersuchungsgerichte") verdrängt; die Zahl der strafbaren Tatbestände, die der Judikation der neuen Kognitionsrichter unterstellt wurden, wurde eine immer größere. Folglich ist der Kreis der Delikte, die noch zivilrechtIich zu erledigen waren, zu Gaius' Zeit ein recht bescheidener geworden (inst. 182 - 225: Entwendung und Schädigung). In nachfolgender Einleitung geben wir unter anderem eine Übersicht der rechtlichen Kollegien, die seit etwa dem 2. Jahrh. v. Chr. rur die Behandlung von besonderen Straftaten in Rom nach und nach gegründet wurden: Rekuperationen, Quästionen und Kognitionen. Man hielt sie offenbar rur wirksamer als die althergebrachten zivilrechtlichen Kollegien. Vgl. dazu auch W. KUNKEL, Prinzipien des römischen Strafverfahrens, Kl. Schriften (Weimar 1974) S. 11-31.
Einleitung: Die zivilrechtlichen Delikte 1. Das Zwölftafelrecht bei Gaius Selbstverständlich ist es hier der Ort nicht, im Detail auf die Probleme einzugehen, die mit der Erforschung des Zwölftafelrechts und der weiteren Gerichtsbarkeit der Archaik zusammenhängen. Wie bekannt, ist infolge des sehr lückenhaften, zum Teil sogar recht unverläßlichen Quellenmaterials vieles unsicher und ist der Forschungsertrag, der Glauben verdient, trotz reichlich aufgewendeten Scharfsinns bisher ein bescheidener geblieben. Wir beschränken uns hier auf die Frage, welche Rolle das Zwölftafelgesetz sowohl im Gajanischen Lehrbuch im allgemeinen als auch insbesondere im Abschnitt über das Deliktsrecht spielte. Für das Zitieren von Zwölftafelfragmenten schließen wir uns der von RUDOLF SCHOELL vorgeschlagenen Zählung an (Legis XII tabularum reliquiae [Leipzig 1866]). Damit soll nicht gesagt sein, daß sich unseres Erachtens gegen jene Zählung keine Einwände erheben ließen (letzten Endes gibt es nur ein Fragment mit exaktem Hinweis auf die zugehörige Zwölftafelstelle: Festus pag. 336,15 f L. = XII Tab. 2,2); die auf der SCHOELLschen Ordnung basierende Zitierweise ist aber bis heute die gängige geblieben. In einer unlängst erschienenen kommentierten Neuausgabe der Zwölftafeln, die das Teilstück einer unter Leitung von M. H. CRAWFORD hergestellten Sammelausgabe altrömischer Gesetzestexte ist, findet sich indessen der Vorschlag für eine Neuordnung (Roman Statutes, 2 Bde. [London 1996]; darin II S. 555 ff. XII Tabulae, S. 576 f. Konkordanz zur SCHOELLschen Ordnung); da jedoch der neue Vorschlag, wie kaum anders möglich, ebenfalls nur hypothetischen Charakter hat, bleiben wir bei der SCHOELLschen Zählung (die Londoner Neuausgabe enthält weiterhin ausführliche Literaturangaben; die Präsentation der Texte ist leider etwas unübersichtlich). Als kritische Edition benutzen wir S. RICCOBONO, FIRA. I (Florenz 21968) S. 21 ff. (Text mit sehr detailliertem Apparat). Es ist eine etwas auffallige Tatsache, daß Gaius der einzige nach augusteische Jurist ist, der es unternommen hat, zu den XII Tafeln einen Kommentar zu schreiben, sogar einen recht umfangreichen Kommentar in 6 Büchern (vgl. Index Florentinus XX f'u"Lou 5: ouooelCuoEA:tOU ßtßAi.u E~; s. Fragm. 418-445 bei LENEL, Pa!. I S. 242 ff.). Er hielt es überdies für nötig, die Herstellung eines derartigen Kommentars in einer speziellen Präfatio zu begründen (LENEL, Gaius
1. Das Zwölftafelrecht bei Gaius
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Nr. 418 = Dig. 1,2,1): Facturus legum uetustarum interpretationem necessario prius ab urbis initiis repetendum existimaui, non quia uelim uerbosos commentarios facere, sed quod in omnibus rebus animaduerto id perfectum esse, quod ex omnibus suis partibus constaret; et certe cuiusque rei potissima pars principium est. Deinde si in foro causas dicentibus nefas ut ita dixerim uidetur esse nulla praefatione facta iudici rem exponere: quanta magis interpretationem promittentibus inconueniens erit omissis initiis atque origine non repetita atque illotis ut ita dixerim manibus protinus materiam interpretationis tractare? Namque nisi fallor istae praefationes et libentius nos ad lectionem propositae materiae producunt et cum ibi uenerimus, euidentiorem praestant intellectum: "Da ich die Absicht habe, eine Erläuterung zu altüberlieferten Gesetzen zu schreiben, halte ich es fUr angebracht, zunächst einmal auf den Ursprung unserer Stadt zurückzugreifen, nicht weil ich umständliche Kommentare herstellen möchte, sondern da ich bei all meinen Beschäftigungen die Erfahrung mache, daß nur dasjenige perfekt ist, was aus allen dazugehörigen Bestandteilen hergestellt wurde; und auf alle Fälle ist der Anfang der wichtigste Bestandteil einer jeglichen Sache. Wenn es weiterhin fUr Prozeßredner auf dem Forum sozusagen schon ein unverzeihlicher Fehler ist, dem Richter die eigene Sache ohne Einleitung vorzubringen: um wieviel mehr ist es nicht fUr diejenigen, die eine Interpretation versprechen, unpassend, unter Auslassung der Anfange und ohne Rückverweisung auf die Ursprünge, sozusagen mit ungewaschenen Händen die Aufgabe der Interpretation in die Hand zu nehmen? Denn, wenn ich mich nicht irre, fUhren jene Einleitungen uns schneller zur Lektüre des in Aussicht gestellten Gegenstandes und, sobald wir uns damit beschäftigen, verschaffen sie ein besseres Verständnis." Aus der oben zitierten Präfatio geht deutlich hervor, daß Gaius es fUr wichtig hält, auf historische Vorläufer (initia), namentlich auf die betreffenden Satzungen der lex XII tabularum, zurückzugreifen. Außerdem benachdruckt er seine Vorliebe fUr das Zergliedern der Materie in ihre Bestandteile (partes). Dabei muß besonders an das Zergliedern in Gattungen und Unterarten gedacht werden (genera et species, vgl. Komm. ad III 88 S. 72 f.) . Auch in unserm Kapitel, das sich mit dem Deliktsrecht befaßt (I1I 182-225), finden sich zwei Abschnitte mit Hinweisen auf Zwölftafelsatzungen: der Abschnitt über Entwendung (III 193209) und der über Injurien (Persönlichkeitsverletzungen: III 220-225). Der Abschnitt über die Lex Aquilia hingegen (III 210-219) greift auf einen jüngeren Ursprung zurück: Verabschiedung der Lex Aquilia, 287 v. ehr. Im Abschnitt über die Entwendung (den Diebstahl) bespricht Gaius zunächst die unterschiedlichen Definierungen, welche spätere Juristen den vier in den XII Tafeln erwähnten Abarten des Diebstahls gegeben haben (Tab. 8,14; 15a u. b; 16; an den zitierten Stellen hat furtum bald eine abstrakte, bald eine konkrete Bedeutung: "Diebstahl" und "Diebesgut"). Es sind folgende Abarten: furtum manifestum, nec manifestum, conceptum, oblatum ("offenkundiger" und "nicht-
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Einleitung
offenkundiger Diebstahl"; "aufgefundenes [d. h. verstecktes] Diebesgut" und "weitergereichtes" [d. h. "einem Hehler überreichtes] Diebesgut"). Es läßt sich öfters beobachten, daß Juristen der klassischen Zeit darauf bedacht waren, die begrifflichen Umschreibungen filr rechtliche Tatbestände, welche sie in den XII Tafeln vorfanden, kritisch zu mustern. Sie machten einen Unterschied zwischen über- und untergeordneten Begriffen. So ist es nicht verwunderlich, daß Antistius Labeo auch die unterschiedlichen Umschreibungen filr Arten des Diebstahls unter die Lupe nahm: aus der Vierteilung, die aus den XII Tafeln stammte, stellte er eine Zweiteilung her. Seiner Meinung nach seien das furtum conceptum und das furtum oblatum nichts anderes als Abarten des furtum nec manifestum. Letzteres machte er somit zu einem Sammelbegriff, der mehrere Abarten des nicht-offenkundigen Diebstahls umfaßte. Gaius war in diesem Punkte mit ihm einverstanden (vgl. III 183 und 18617). Anschließend an die Besprechung der Arten des Diestahls zitiert Gaius aus dem Zwölftafelgesetz die Strafen, welche die Zehnmänner filr die unterschiedlichen Tatbestände festgesetzt hatten. Wer als "offenkundiger" Dieb ergriffen worden war, wurde ausgepeitscht und dem Bestohlenen überliefert. Letzterer konnte ihn töten, wenn er wollte (III 189 poena ... capitalis erat = Tab. 8,14: die Überlieferung sagt darüber nichts aus, ob Zeugen oder gar ein Richter hinzugezogen werden mußten, s. Komm. zu III 189 S. 147). Ein auf frischer Tat ertappter Sklave wurde ebenfalls ausgepeitscht und anschließend getötet (gemäß Gellius 11,18,8 durch Sturz vom Tarpeischen Felsen). Im nachfolgenden Satz jedoch schaltet Gaius die Bemerkung ein, daß die "Härte" (asperitas) des Zwölftafelsatzes eines Tages Anstoß erregt habe und daß deswegen "hernach" (postea) mittels eines prätorischen Edikts eine Änderung herbeigefilhrt worden sei: anstelle der Todesstrafe sei eine Geldstrafe festgesetzt worden, u. zw. eine Strafe auf den vierfachen Wert des gestohlenen Gegenstandes. Über den Zeitpunkt des prätorischen Erlasses und über sonstige Einzelheiten wird aber vom Autor nichts ausgesagt (s. Komm. z. St.). Es muß ohnehin ganz allgemein festgestellt werden, daß Gaius wenig Neigung zeigt, auf rechtliche Entwicklungsstufen, die zwischen den XII Tafeln und der eigenen Zeit liegen, näher einzugehen. Was die nicht-manifesten Arten des Diebstahls betrifft, so berichtet Gaius unter Hinweis auf die XII Tafeln folgendes (III 190-192): Für furtum nec manifestum sei ganz allgemein eine Strafe auf das Doppelte festgesetzt worden (Tab. 8,16). Wenn es sich aber um einfurtum conceptum oder einfurtum obfatum handele ("verstecktes" oder "einem Hehler übergebenes Diebesgut"), so gelte dafilr eine Strafe auf den dreifachen Wert (Tab. 8, 15a). Außerdem sei vom Prätor im nachhinein den actionesfurti concepti undfurti ob/ati noch eine dritte Klagemöglichkeit wegen Diebstahls hinzugefilgt worden: die actio furti prohibiti, "Klage wegen blockierten Diebesgutes". Dabei handelte es sich um eine Klagemöglichkeit im Falle, daß eine Haussuchung verhindert wurde. Die im
1. Das Zwölftafelrecht bei Gaius
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Edikt angeordnete Strafe lautete, wie beim furtum manifestum, auf das Vierfache des Wertes (III 192). Die Erwähnung der nachträglich vom Prätor eingefuhrten actio furti prohibiti veranlaßt Gaius dazu, der Frage nachzugehen, welche Möglichkeit einem zur Zwölftafelzeit lebenden Bestohlenen zu Gebote stand, bei demjenigen, der des Diebstahls verdächtigt wurde, eine gesetzlich erlaubte Haussuchung vorzunehmen (III 192 f.). Zwecks Beantwortung der Frage zitiert er aus den XII Tafeln eine Satzung, in der genau dargelegt wurde, unter welchen Voraussetzungen es dem Kläger erlaubt sei, ohne Widerspruch hinnehmen zu müssen, beim Tatverdächtigen eine Haussuchung auszuführen. Die Satzung schreibt vor (Gaius III 192 = Tab. 8,15b): der Kläger müsse im Falle einer vorgenommenen Durchsuchung nudus ... linteo cinctus, lancem habens, "unbekleidet, mit einem LeiIltenschurz gegürtet, nur eine Schale in der Hand habend" in das Haus des Beschuldigten eintreten und dort in der gleichen spärlichen Bekleidung seine Fahndung vornehmen. Für den Zwölftafelsatz, der fur die gesetzmäßige Haussuchung Anweisungen erteilt, gibt es in der Überlieferung noch einen zweiten, im Wortlaut etwas abweichenden Beleg, u. zw. bei Paulus ex Festo pag. 104,5 L: ,Iance et licio' dicebatur apud antiquos, "bei den Vorfahren gab es den Ausdruck ,mit einer Schale und einem Faden"'. Da die über Festus aus dem Lexikon des Verrius Flaccus (d. h. aus augusteischer Zeit) stammenden Formulierungen dem Verständnis noch größere Schwierigkeiten bereiten als die, die bei Gaius überliefert wird, dürfte sie die ältere - somit die ursprünglichere - sein. Angesichts der Tatsache jedoch, daß man sich unter dem Ausdruck "mit einem Faden gegürtet" nichts Rechtes vorstellen konnte, hat Gaius - eventuell schon der Autor seiner Quelle - den Entschluß gefaßt, den Zwöftafelsatz (8,15b) durch eine kleine Textänderung zu verdeutlichen: Iinteo cinctus, "mit einem Leinenschurz gegürtet". Wie man weiß, sind Versuche, einen archaischen Zwölftafelsatz mittels Textänderung zu verdeutlichen, öfters unternommen worden. Als bekanntes Beispiel sei Tab. 5,3 zitiert: uti legassit suae rei, ita ius esto, "wie er über sein Besitztum verfügt hat, so soll es Rechtens sein". Dem Leser der klassischen Zeit war jener Satz aus mehreren Gründen schwerverständlich: wegen der Konjunktivform legassit, wegen des Genetivs des Sachverhalts rei (abhängig von legassit) und wegen der unklaren Bedeutung von res. Der Rhetor ad Herennium verdeutlichte ihn deshalb mittels folgenden Textänderungen (1,13,23): paterfamilias uti super familia pecuniaue sua legauerit, ita ius esto, "wie der Familienvater über seine Hausgemeinschaft oder über sein Geld verfugt hat, so soll es Rechtens sein" (fur weitere nachträgliche Verdeutlichungen von Tab. 8,5b vgl. den krit. Apparat bei RICCOBONO, FIRA. I S. 37 f.). Gaius selbst zitiert den archaischen Satz zwar ganz wortgetreu (11 224), versieht ihn aber mit einer Übersetzung ins klassische Latein: qua (lege) cauetur, ut quod quisque de re sua testatus esset, ita ratum haberetur, "durch welches Gesetz festgelegt wird,
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Einleitung
daß, was jemand testamentarisch über sein Vermögen verfugt hat, als gültig zu betrachten sei" (s. Komm. zu II 224 S. 417 ff. und D. SCHANBACHER, Ratio legis FaIcidiae [Berlin 1995] S. 15-24). Die Deutung des Wortes lieium in lieio einetus (so Paulus ex Festo, s.o.) hat zu ausfuhr lichen Diskussionen Anlaß gegeben; ein Konsensus wurde nicht erreicht. Möglicherweise wurde in archaischer Zeit lieium in gewissen Fällen als Pars pro toto verwendet, etwa in der Bedeutung "Lendenschurz mit einem (roten?) Faden" (vgl. dazu Komm. ad III 192 S. 154 ff., bes. 288 ff.). Was ferner die Bedeutung von linteum in der Gajanischen Variante linteo einetus anbelangt, so gibt der Autor selbst dazu folgende Erläuterung (III 193): quid sit
autem linteum, quaesitum est; sed uerius est eonsuti genus esse, quo neeessariae partes tegerentur, "was jedoch (in diesem Ausdruck) linteum bedeutet, ist
strittig; es ist aber wahrscheinlich, daß es eine Art Flicken ist, mit dem die Schamteile zugedeckt wurden" (in der alltäglichen Sprache der gajanischen Zeit ist linteum = 1. ,Leinwand', 2. ,Segel'). Gaius fugt mit einer ironischen Bemerkung hinzu: quae res tota ridieula est, "die Sache ist völlig lächerlich". Einem Vorschlag von A. VAN DER HOEVEN Folge leistend (ZRG. 7 [1868] S. 258) haben mehrere Gaiuseditoren an den beiden oben genannten Stellen das im Veronensis überlieferte Fachwort linteum durch das aus dem Lexikon des Paulus ex Festo stammende Fachwort lieium ersetzt: III 192 lieio cinetus und 193 quid sit autem lieium (so z. B. KRUEGERISTUDEMUND, HUSCHKE, KUEBLER, DE ZULUETA und DAVID). Jene Textänderungen sind jedoch kaum akzeptabel: es ist nämlich sehr unwahrscheinlich, daß der Veroneser Scriba zweimal genau denselben Abschreibefehler gemacht hätte. Das im Codex V überlieferte linteum, fur das es doch eine sehr plausible Erklärung gibt, ist somit beizubehalten. Im Abschnitt, der sich mit Injuriendelikten befaßt (III 220-225), wird abermals auf Zwölftafelsatzungen als Ausgangspunkte der späteren Rechtsentwicklungen hingewiesen. Zunächst wird der Begriff iniuria näher definiert. Es zeigt sich, daß iniuria in der gajanischen Zeit ein erheblich weiteres Bedeutungsfeld als zur Zeit der Zehnmänner umschlossen hat (III 220-222). Anschließend berichtet Gaius (III 223) über die von den Zehnmännern festgesetzten Strafen (bzw. Bußen): fur membrum ruptum (Tab. 8,2: "Zerschlagung eines Gliedes") Vergeltung von Gleichem mit Gleichem (Talion), fur os fraetum (Tab. 8,3: "Brechen eines Knochens") 300 Asses, wenn es sich um einen Freien handelt, 150 Asses, wenn um einen Sklaven. Die textliche Formulierung läßt deutlich erkennen, daß Gaius iniuria als Sammelbegriff betrachtet; membrum ruptum und os fractum sind fur ihn Unterarten (Spezies) von iniuria. Überhaupt ist die Zahl der Unterarten, die er der iniuria zuschreibt, ziemlich groß; außer körperlicher Verletzung auch Ehrverletzung, Beschimpfung, Schmähung, Belästigung eines Angehörigen usw.
2. Strafprozesse der archaischen Zeit in der Darstellung des Gaius
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Im Obigen haben wir uns im wesentlichen auf den Abschnitt über Deliktsobligationen beschränkt. Bezugnahmen auf die XII Tafeln finden sich aber im ganzen Institutionenwerk: insgesamt an 37 Stellen.
2. Strafprozesse der archaischen Zeit in der Darstellung des Gaius Wie bekannt, bietet die von Gaius IV 11-31 eingeschaltete Beschreibung der Prozeßführung in der dezemviralen Zeit demjenigen, der sich rur rechtsgeschichtliche Vorgänge interessiert, nur fragmentarische Information. Vieles bleibt ungeklärt und strittig. Gaius beschränkt sich auf eine Aufzählung von 5 alten Legisaktionenverfahren und auf die Wiedergabe der damit verknüpften Spruchformeln. Es sind folgende legisactiones: sacramento ("mittels einer Wettsumme"), per iudicis postulationem ("unter Anforderung eines Gerichtstermins"), per condictionem ("mittels Ansage einer Gerichtsverhandlung"), per manus iniectionem ("mittels Handanlegung") und per pignoris capionem ("mittels Pfandnahrne"). Für Prozesse wegen Delikten kommen, soweit wir sehen, lediglich die legisactio sacramento und die legisactio per manus iniectionem in Betracht. Im Nachfolgenden soll dargelegt werden, welcher Art das Quellenmaterial ist, aufgrund dessen wir annehmen, daß die beiden genannten Legisaktionen (sacramento; per manus iniectionem) die Vorstufen des klassischen prätorischen Deliktsrechts gewesen sind. Es muß jedoch vorausgeschickt werden, daß angesichts der Dürftigkeit der Quellen vieles hypothetisch bleiben muß. Ein Großteil der Rechtsgeschichte der Archaik ist eben ungewiß und umstritten. Zunächst geben wir eine kurze Beschreibung der legisactio sacramento und der legisactio per manus iniectionem. Gaius ist trotz allem unsere wichtigste Quelle. Was das Sakramentsverfahren betrifft, so wurde es, offenbar schon früh, in zwei Unterarten zergliedert: legisactio sacramento in personam (bei Gaius in der Lücke 14/15) und legisactio sacr. in rem (IV 16 u. 17). Die persönliche Legisaktio kam unter anderem dann zur Anwendung, wenn gegen einen nicht-manifesten Dieb Klage erhoben werden sollte. Infolge des Ausfalls des Abschnitts über das Personalverfahren (IV 14/15) ist auch der Text der dazugehörigen Spruchformel verlorengegangen. Lediglich das in nachdezemviraler Zeit geschaffene Formular für die prätorische actio furti ("Klage wegen Diebstahls") ist im Gaiuswerk erhalten geblieben (IV 37). Der dortige Wortlaut weicht nur insofern von dem des allgemein üblichen Formulars ab, als er eine kleine Einschaltung enthält: aus prozeduralen Gründen soll fingiert werden, daß der Beklagte, ein Peregrine, das römische Bürgerrecht besitze. Es handelt sich um folgendes Formular: ,Iudex esto. Si
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paret consilioue Dionis Hermaei Titio furtum factum esse paterae aureae, quam ob rem eum, si ciuis Romanus esset, pro fure damnum decidere oportere' et reliqua: ,,,X soll Richter sein. Wenn sich herausstellt, daß oder auf Anstiftung des Hermesjüngers Dio eine Entwendung einer goldenen Schale geschehen ist, aufgrund dessen er (Dio), wenn er römischer Bürger wäre, anstelle eines Entwenders den Schaden abgelten müßte' und so weiter" (zu ergänzen: ,so verurteile ihn zum doppelten Wert der Schale; wo nicht, so sprich ihn frei'; Dionis Hermaei filii LACHMANN, dihoniser.mei filio V; stark abweichende, aber kaum überzeugende Verbesserungs- und Ergänzungsvorschläge bei K. HACKL, Gaius 4, 37 und die Formeln der actio furti, FS. Waldstein, Ars boni et aequi [1993] S. 127 ff.; in betreff ope consilioue s. u. ad Cic., nat. deor. 3,30,74). Man erhält den Wortlaut des allgemein üblichen Formulars, indem man aus obigem Zitat die Fiktion si ciuis Romanus esset streicht. Eine zweite Quelle, die uns eine Vorstellung von der Struktur der Spruchformel in personam gewährt, findet sich in einer Ciceroschrift: nat. deor. 3,30,74. Es ist dort von Klagen wegen Veruntreuung, Testamentsflilschung, Diebstahls und Ähnlichem die Rede. Der Kläger benutzt die alte aio-Formel: ope consi/ioque tuo furtum aio factum esse: "ich behaupte, daß durch deine Handlung und Planung der Diebstahl bewerkstelligt wurde" (MOMMSEN, Strafr. S.745 N. 1 U. 2 weist mit Recht darauf hin, daß ope consi/ioque sich in der alten Formel auf die "Tat und Absicht" des Täters bezieht, nicht etwa auf die "Hilfe" eines Komplizen; ähnlich A. S. PEASE, Komm. Z. St. (1958) II S. 1164; vgl. ebenfalls HEUMANN/SECKEL S. 395, ,ops, 2a'). Anhand beider oben zitierter Stellen (Gaius IV 37; Cicero, nat. deor. 3,30,74) läßt sich der Wortlaut der in der Gaiuslücke (IV 14/15) verlorengegangenen /egisactio sacramento in personam nahezu wörtlich rekonstruieren: ope consilioque tuo mihi furtum paterae aureae factum esse aio, "ich behaupte, daß durch deine Handlung und Planung mir eine goldene Schale entwendet wurde" (von KASERIHACKL S. 87 f. wird eine Rekonstruktion mit aktiver Verbalform vorgeschlagen: te mihifurtum ... fecisse). Da Gaius IV 13 berichtet, daß die Sakramentsklage generalis, "allgemein", gewesen sei, ist man geneigt anzunehmen, daß sie in dezemviraler Zeit fur eine ganze Serie von Deliktsklagen Anwendung gefunden hat: nicht nur fur Klagen wegen Diebstahls, sondern auch rur solche wegen körperlicher Verletzung, persönlicher Kränkung usw. (vgl. KASERlHAcKL S. 86 ff.). Es sei jedoch wiederholt, daß wir bezüglich derartiger Fragen von den Quellen völlig im Stich gelassen werden; auch bei Gaius findet sich darüber keine einzige Aussage. Für Weiteres über die /egisactio sacramento in personam vgl. KAsERlHACKL S. 86 ff.; vgl. außerdem rur gewisse Einzelheiten in betreff jener Legisaktio das unten in der Einleitung zum Komm. ad inst. III 220-225 S. 243 ff. Gesagte. Die Gajanischen Darlegungen über die /egisactiones sacramento in re m sind größtenteils erhalten geblieben: IV 16-17 (nur der Schluß fehlt, Lücke
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IV 17117a). Es handelt sich dabei um Eigentumsklagen in betreff Sachen (uindicationes): Eigentum an GrundstOcken, Sklaven, Viehherden, Schiffen, Erbschaften usw. Exempli gratia zitiert Gaius IV 16 die Spruchformel tUr die Klage auf Eigentumsrecht an einem Sklaven: ,hunc ego hominem ex iure Quiritium meum esse aio; secundum suam causam, sicut dixi, ecce tibi, uindictam imposui', "ich behaupte, daß dieser Mann nach Quiritischem Recht mein Eigentum ist; aus gOltigem Grunde, wie schon dargelegt, lege ich, siehe her, den Stab auf ihn" (die Deutung der Worte secundum suam causam und sicut dixi ist strittig, s. dazu KASERlHACKL S. 95 N. 38; Probus, de notis 4,6 [FIRA. 11 S. 456] Oberliefert dieselbe Spruchformel). In nachdezemviraler Zeit wurde auch diese Legisaktio durch prätorische Formularverfahren verdrängt (KASERlHACKL S. 89 ff.). Im Gegensatz zu den persönlichen haben die sachlichen Sakramentsverfahren, so zeigt sich, zur späteren Entwicklung der Prozesse, die mit dem Deliktsrecht zusammenhängen, kaum einen Beitrag geliefert. Der legisactio per manus inieclionem widmet Gaius, wie gesagt, ebenfalls eine Darstellung: IV 21 u. 22. Er gibt eine kurze Übersicht über die Fälle, in denen sie Anwendung fand. Im allgemeinen diente jene Legisaktio dem Zweck, einem Gläubiger das Recht zu verschaffen, durch Handauflegung und persönliche Inhaftierung einen Schuldner zu zwingen, seiner geldlichen Verpflichtung nachzukommen. Voraussetzung war, daß letzterer in einem vorher getUhrten Prozeß (meist 30 Tage vorher) zur Begleichung der Schuld verurteilt worden war, trotzdem aber noch nicht gezahlt hatte. Gaius zitiert IV 21 filr diesen Fall folgende Spruchformel: ,quod tu miM iudicatus' (siue . damnatus ') ,es sestertium xmi/ia quandoque non soluisti, ob eam rem ego tibi sestertium x milium iudicati manum inicio: "da du mir 10.000 Sesterze zu entrichten filr schuldig befunden (oder ,zu entrichten verurteilt') ,worden bist und du nicht gezahlt hast, so lege ich deswegen aufgrund des Urteilsspruchs auf 10.000 Sesterze dir die Hand an"'. Das Vorhandensein einer ludikatsschuld war somit eine unabdingliche Voraussetzung filr das Recht auf "Handanlegung". In nachdezemviraler Zeit geriet die legisactio per manus iniectionem allmählich in Unbrauch. An ihrer Stelle entwickelten sich im Zusammenhang mit dem Aufkommen der prätorischen ediktalen Rechtspflege zwei neue Verfahren, die der Schuldforderung dienlich waren: die actio iudicati und die actio bonorum uenditionis. Mit der actio iudicati ("Klage aufUrteilsertUllung") beantragte ein Gläubiger das Recht, einen trotz vorhergehender Verurteilung zahlungsunwillig gebliebenen Schuldner in Geiselung abzutUhren (sogen. Personalexekution). Mit der actio bonorum uenditionis ("Klage auf Verkauf der Habe") beantragte ein Gläubiger den Konkurs eines Schuldners, der nicht gezahlt hatte (sogen. Vermögensexekution). Beide prätorische Verfahren werden von Gaius im Abschnitt, den er dem Deliktsrecht widmet, nicht behandelt (das Konkursverfahren erhält aber im Abschnitt Ober die Gesamtnachfolge eine angemessene Darstellung: III 77-81 s. Komm. z. St. S. 188 ff.). FOr Näheres Ober die actiones
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Einleitung
iudicati und bonorum uenditionis vgl. KASERIHACKL S. 383 ff. (Personalexekution S. 387 ff.; Vermögensexekution S. 388 ff.). Anschließend sei weiterhin bemerkt, daß die legisactio per manus iniectionem gelegentlich auch in Fällen des manifesten Diebstahls eine Rolle spielen konnte. Es muß jedoch hinzugefügt werden, daß Gaius in seinem Institutionenbuch sich in dieser Angelegenheit mit einigen recht pauschalen, teils sogar irreführenden Aussagen begnügt. Vgl. III 189 (dazu XII Tab. 8,14): poena manifesti furti ex lege XII tabularum capitalis erat; nam liber uerberatus addicebatur ei, cui furtum fecerat; utrum autem seruus efficeretur ex addictione an adiudicati loco constitueretur, ueteres quaerebant: "die Strafe für offenkundigen Diebstahl war nach dem Zwölftafelgesetz Kapitalstrafe; wenn es einen Freien betraf, wurde er ausgepeitscht und demjenigen zugesprochen, den er bestohlen hatte; ob er aber aufgrund der Zusprechung zum Sklaven gemacht oder in die Stellung eines addizierten Schuldners versetzt wurde, war bei den alten Juristen eine offene Frage". Wie aus anderen Quellen hervorgeht, hing die rechtliche Beurteilung eines Diebstahls in starkem Maße von der Frage ab, unter welchen Begleitumständen er begangen wurde (s. Komm. zu III 189 ,poena manifesti furti eqs.', S. 148). An erster Stelle wurden bei Nacht und bei Tag begangene Diebstähle unterschiedlich beurteilt. Sodann wurde der Frage nachgegangen, ob der Dieb sich widerstandslos hatte festnehmen lassen oder ob er sich mit Waffengewalt zur Wehr gesetzt hatte. Nur wenn der Dieb bei Nacht in das Haus eingedrungen war oder bei Tage von Waffen Gebrauch machte, war es dem Bestohlenen erlaubt, ihn ohne weiteres, somit ohne die Dazwischenkunft eines Richters, zu töten. Wenn es tagsüber ohne Waffen zu einer Schlägerei kam, mußte der Bestohlene, ehe er dem Dieb tödliche Schläge versetzte, erst aus der Nachbarschaft Leute, gewissermaßen als Zeugen, herbeirufen. Sobald der Dieb festgenommen worden war, mußte der Bestohlene ihn einem Richter vorführen. Dieser ließ ihn auspeitschen und gestattete dem Bestohlenen manus iniectio, d. h. Abführung in Privathaft bzw. in Sklaverei. Vgl. III 189: uerberatus addicebatur ei, cui furtum fecerat: ziemlich summarische Darstellung, die Einschaltung eines Richters bleibt unerwähnt; vgl. SELB, Zur Aufgabe des iudex in der legis actio, GS. Kunkel, S. 391 ff., bes. 443 f. (der sogen. "kurze Prozeß"); KASERlHACKL S. 143 f. Die Information, die Gaius uns über das dezemvirale Gerichtswesen verscham, ist, wie gesagt, recht fragmentarisch. Was die Behandlung von Strafsachen anbelangt, so begnügt er sich, wie im Vorherigen dargestellt, mit der Anführung zweier Beispiele. Im ersteren Beispiel handelt es sich um die Formulierung einer legisactio sacramento in personam im Falle eines nicht-manifesten Diebstahls (eine gestohlene Goldschale: IV 14/15, Rekonstruktion einer Lücke). Im zweiten Beispiel ist von der legisactio per manus iniectionem im Falle eines manifesten Diebstahls die Rede (III 189). Fürs übrige sind wir auf die globale
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Bemerkung des Autors angewiesen, daß die legisactio sacramento eine "allgemeine" gewesen sei (generalis: IV 13) - eine Bemerkung, die viele Fragen offen läßt. Insbesondere bleibt die Frage unbeantwortet, was, vom Diebstahl abgesehen, sonst noch, wenn von der Anwendung von legisactiones sacramento die Rede ist, unter der Bezeichnung "allgemein" zu verstehen ist. Waren jene Legisaktionen auch rur Klagen wegen Beleidigung, ernsthafter Mißhandlung oder gar Tötung zuständig? Eine weitere Frage, auf die Gaius' Institutionen keine Antwort geben, ist die, ob es im archaischen Rom außer den Richtern, die rur Legisaktionen zuständig waren, noch sonstige staatliche Institutionen gegeben hat, die sich, wenn auch nur in besonderen Fällen, mit gerichtlichen Verhandlungen befaßt haben. Es gibt leider kaum Quellen, die uns in dieser Hinsicht weiterhelfen könnten. Lediglich in Ciceros Staats schriften de republica und de legibus (53 und 52 v. Chr.) finden sich vereinzelte Hinweise auf eine althergebrachte staatliche Institution, zu deren Aktivitäten außer politischen auch rechtliche Verhandlungen gehörten: die Zenturiatkomitien. Cicero bekundete, wie wir wissen, gern ein besonderes Interesse rur Institutionen und Gesetze der altrömischen Republik. Er hatte sogar die Neigung, die alten Institutionen und alten Gesetze zu idealisieren; seiner Meinung nach seien sie noch immer beispielhaft rur die Schaffung künftiger staatlicher Institutionen und künftiger Gesetze. Die lex Valeria de prouocatione war eines der Gesetze, die Cicero rühmend hervorgehoben hat. Die lex habe schon im Zwölftafelgesetz gestanden (Tab. 9,1 u. 2); sie habe jedem Bürger gestattet, gegen eine in Rom von einem Magistrat verhängte Kapitalstrafe an das Volk zu appellieren. In einem besonderen Verfahren vor den Zenturiatkomitien sei dann entschieden worden, ob der bedrohte Bürger mit Recht das ius prouocationis in Anspruch genommen hatte oder nicht. Vgl. Cic. de leg. 3,4,11: de capite ciuis nisi per maximum comitiatum ... ne Jerunto, "über eine gegen einen Bürger beantragte Kapitalstrafe soll man lediglich in der Großversammlung ... eine Entscheidung herbeiruhren" (maximus comitiatus ist offenbar eine untechnische Bezeichnung rur comitia centuriata; für eine abweichende Interpretation s. B. ALBANESE, Estudios Iglesias 1 [1988] S. 13 ff.: es sei ebenfalls ein archaischer Terminus). De leg. 3,19,44: tum leges praec/arissimae de duodecim tabulis tralatae duae, quarum a/tera priuilegia tollit, altera de capite ciuis rogari nisi maximo comitiatu uetat, und ferner: Jerri de singu/is nisi centuriatis comitiis noluerunt: "so dann sind aus den Zwölftafeln (9,1 u. 2) noch zwei besonders vorzügliche Gesetze überliefert worden, von denen das eine die Ausnahmebestimmungen aufhebt, das andere es verbietet, daß über eine Kapitalstrafe, die über einen Bürger verhängt wurde, anderswo als in der Großversammlung Anträge eingebracht werden". Ferner: "Sie (die Vorfahren) wollten nicht, daß gegen einzelne Personen anderswo als in den Zenturiatkomitien Strafanträge eingebracht würden". Und Cic. de rep. 2,31,53: idemque (sc. P. Valerius), in quo Juit ,Publicola' maxime,
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legem ad populum tulit eam, quae centuriatis comitiis prima lata est, ne quis magistratus ciuem Romanum aduersus prouocationem necaret neue uerberaret: "und ebenfalls brachte er (P. Valerius) - wodurch er sich ganz besonders
den Beinamen ,Publicola' (Volksfreund) erwerben sol1te - ein Gesetz ein, jenes erste Gesetz, das in den Zenturiatkomitien eingebracht wurde, des Inhalts, daß kein Magistrat dem Berufungsrecht zuwider einen römischen Bürger töten oder auspeitschen lassen dürfe". Jedoch, der Name des von Cicero gelobten Gesetzgebers und die Datierung der nach ihm benannten Lex (P. Valerius Publicola; Lex Valeria de provocatione, in Zwölftafelzeit) stellen uns vor Probleme. Es stellt sich nämlich heraus, daß Livius nicht weniger als 3 leges Valeriae de prouocatione gekannt hat. In chronologischer Abfolge sind es die folgenden: 1. 509 v. Chr., eingebracht von P. Valerius Publicola (Liv. 2,8,2; Val. Publicola war in dem Jahre Konsul suffectus); 2. 449 v. Chr., von L. Valerius Potitus (Liv. 3,20,7; Val. Potitus war in dem Jahre Konsul und bewirkte zusammen mit seinem Kol1egen M. Horatius Barbatus den Sturz der Dezemviri); 3. 300 v. Chr., von M. Valerius Maximus Corvus bzw. Corvinus (Liv. 10,9,3-6; M. Valerius Corv. war Konsul). Mit einer gewissen Verwunderung stellt Livius fest, daß dreimal jeweils ein Angehöriger der gens Valeria ein Provokationsgesetz habe annehmen lassen: (10,9,3, zum Jahre 300 v. Chr.) tertio ea (lex de prouocatione) tum post reges exactos lata
est, semper a familia eadem.
Die heutige Forschung beurteilt, wie sich versteht, die Berichte der dreimaligen Verabschiedung desselben Gesetzes äußerst skeptisch. Vgl. etwa J. BLEICKEN, ,provocatio', RE. XXIII (1959) S. 2444 ff., bes. 2445,31 ff. u. 2447, 48 ff.: "was Cicero rep. 2,31,53 f. angeht, so hat es die Provocation in der Totalität, wie er will, zu keiner Zeit gegeben; und es scheint, daß Cicero sein Wissen aus der Annalistik geschöpft hat, wie auch die weiteren, zum Teil sehr phantastischen Angaben". Es zeigt sich denn auch, daß die Schriften des Annalisten Val er i usA n ti a s, eines ungefähren Zeitgenossen Ciceros (viel1eicht etwas älter), für Livius bei der Abfassung der Frühgeschichte Roms eine der wichtigsten Quel1en gewesen sind. Es läßt sich außerdem feststeHen, daß Valerius Antias in auffälligem Maße bestrebt gewesen ist, die historischen Taten - dazu die vermeintlichen historischen Taten - der gens Valeria zu glorifizieren. Die dreimalige Zuschreibung des Provokationsgesetzes an jeweils einen Angehörigen der Gens dürfte als eins der Beispiele jenes Glorifizierungsbestrebens zu betrachten sein. Vgl. zu Valerius Antias: R. M. OGILVIE, Comm. on Livy Books 1-5 (Oxford 1970) S. 12 ff. u. Komm. ad 2,8,1 f. S. 252 f. In Gai Institutiones läßt sich der Terminus com itia nur ein einziges Mal belegen, u. zw. II 101. Es ist dort von der ältesten Art der Testamentserrichtung die Rede: testamentum calatis comitiis, "Testamentserrichtung vor einberufenen Komitien". Zweimal im Jahre wurden die Kuriatkomitien speziell für die Begutachtung von Testamenten durch die Pontifices einberufen; sie hießen
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in solchen Fällen comitia calata. Weil die Einberufung des gesamten Volkes in Kuriengliederung schon seit mehreren Jahrhunderten fUr recht beschwerlich gehalten wurde, pflegte man die 30 Kurien durch 30 Liktoren zu ersetzen. Gaius vermerkt denn auch, daß die testamenta comitiis calatis längst außer Gebrauch gekommen seien (Il 103; das gleiche gelte fUr die testamenta in procinctu, tur den Ersatz der Kurien durch Liktoren vgl. KUNKELlWIITMANN S. 96). An anderen Stellen, an denen die comitia calata mit Namen hätten genannt werden müssen, ersetzt Gaius jenen Terminus durch die untechnische Bezeichnung populus. Dies geschieht besonders da, wo von der Adrogation die Rede ist, I 97-107 u. II 138. Vgl. etwa I 99:populi auctoritate adoptamus eos, qui sui iuris sunt, "mit Ermächtigung des Volkes adoptieren wir solche Personen, die rechtlich selbständig sind". Die Adrogation per comitia calata beschränkte sich seit jeher auf Rom (unsicher, ob zu Gaius' Zeit dort noch gebräuchlich); im übrigen Italien und in den Provinzen geschah der Akt durch kaiserliches Reskript (vgl. KAsER, Priv. I S. 66 f. u. 347 f., II 208 ff.). Es sei schließlich noch eine richterliche Instanz erwähnt, die zwar ebenfalls fUr archaisch gehalten wurde, doch bei Gaius unberücksichtigt blieb: die quaestores paricidii, "Morduntersucher". Es findet sich nur ein Autor, der sie den XII Tafeln zuschreibt (Tab. 9,4), u. zw. Pomponius ench., Dig. 1,2,2,23. Von Festus pag. 247,19.ff. L. hingegen werden sie, statt den XII Tafeln, dem König Numa Pompilius zugeschrieben (er bemerkt dazu, daß paricidas zu jener Zeit nicht speziell "Vatermörder", sondern allgemein "Mörder eines freien Menschen" bedeutet habe). Die Erläuterung, die Pomponius (Mitte 2. Jahrh. n. Chr.) dem Terminus quaestores paricidii beigibt, ist kurzgefaßt: et quia ... de capite ciuis Romani iniussu populi non era! lege permissum consulibus ius dicere, prop!erea quaestores constituebantur a populo, qui capitalibus rebus praeessent: hi appellabantur ,quaestores paricidii', quorum etiam meminit lex duodecim tabularum: "und weil den Konsuln vom Gesetz nicht erlaubt war, ohne Zustimmung des Volkes über Leben und Tod eines römischen Bürgers ein Urteil zu flillen, wurden vom Volke deswegen Quästoren eingesetzt, die bei Kapitalprozessen den Vorsitz fUhren sollten: sie wurden ,Quästores paricidii' genannt; auch die XII Tafeln berichten über sie". Wegen der Widersprüchlichkeit und Vagheit der Quellen ist die Historizität der quaestores paricidii umstritten. Strittig ist ebenfalls die alte Annahme, daß die Quästoren der XII Tafeln die Vorläufer der Quästoren aus der späteren Republik gewesen seien; man bezweifelt nämlich, daß die "Mordquästoren" dieselben gewesen sein könnten wie die Ärarquästoren aus nachdezemviraler Zeit (gemäß Tacitus anno 11,22,4 seien sie zum ersten Male im Jahre 447 V. Chr. vom Volk gewählt worden). Soweit die Angaben des Gaius über die archaische Rechtspflege; zwecks Verdeutlichung haben wir hier und da kurze Erläuterungen eingeschaltet, die von anderen Autoren stammen (Cicero, Pomponius, Festus). Dasjenige, worüber die Gajanischen Angaben uns unterrichten, beschränkt sich in der Haupt-
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sache auf Äußerlichkeiten der Rechtspflege: Gesetze und Prozeßformeln (Legisaktionen). Über die alltägliche Praxis, d. h. über Einzelheiten im Hergang der Prozeßfuhrung, erfahren wir recht wenig. Unbeantwortet bleiben Fragen über die Zuständigkeiten der Richter, die in Sakramentsverfahren den Vorsitz fuhrten. Ebensowenig erfahren wir Genaueres über etwaige Zuständigkeiten der Zenturiatkomitien für Strafprozesse. Im Bestreben auf solche Fragen Antworten zu finden hat die Forschung, wie bekannt, zahlreiche Hypothesen aufgestellt. Im Nachfolgenden geben wir eine kurze Übersicht über die Hypothesen, die sich speziell mit der Praxis des archaischen Strafrechts befaßt haben, und fangen an mit den von TH. MOMMSEN entwickelten Thesen. Gemäß MOMMSEN seien die Zenturiatkomitien in Fällen, in denen sie als gerichtliche Instanz auftraten, fur die Aburteilung von zwei unterschiedlichen Strafsachen zuständig gewesen: 1. rur Hochverratsprozesse (perdue/lio, "feindselige Handlung"), 2. fur Berufungsverfahren, die infolge einer prouocatio stattfanden. Vgl. vor allem MOMMSEN, Staatsrecht III 1 (1886) S. 300 ff. ,Competenz der Volksversammlung', insbes. S. 321 ff. ,Centuriatcomitien' etc. u. S. 351 ff. ,Gerichtscomitien, Provocation' etc.; vgl. auch dens., Strafrecht (1899) S. 167 f. ,Provocatio, Abstimmung der Bürgerschaft' u. S. 473 ff. ,Begriff der Comitialen Provocation'. In betreff der an zweiter Stelle genannten Zuständigkeit weist MOMMSEN mit Nachdruck auf ein seiner Ansicht nach jedem römischen Bürger zustehendes Berufungsrecht hin: der Bürger habe, von einigen näher umschriebenen Ausnahmen abgesehen, das unveräußerliche Recht gehabt, gegen ein Todesurteil, das von einem Magistrat gegen ihn verhängt worden war, prouocatio einzulegen; daraufhin habe man zwecks erneuter Überprüfung seinen Fall an die Komitien weiterreichen müssen. Schon zur Zwölftafelzeit habe ein derartiges Provokationsrecht existiert. Bezüglich der Funktion der quaestores paricidii (auch parricidii geschrieben; Tab. 9,4) entwickelte MOMMSEN ebenfalls eine ziemlich prägnant formulierte Theorie (vgl. Staatsrecht II 1 S. 523 ff. ,Die Quästur', insbes. S. 536 ff. ,Quästor Hilfsbeamter schlechthin' etc.; Strafrecht S. 142 ff. ,Der rein magistratische öffentliche Strafprozeß', insbes. S. 147 f. ,Die quaestio', u. S. 151 ff. ,Der magistratisch-comitiale Strafprozess', insbes. S. 155 f. ,Quästoren'). MOMMSENS Ausgangspunkt war die These, daß in der Frühzeit der Republik der Quästor schlechthin als "Gehilfe bzw. Vertreter des Konsuls" tätig gewesen sei. Die Rolle des Quästors der Archaik, so wird dargelegt, sei mit der des Provinzialquästors der späteren Republik und Prinzipatszeit vergleichbar gewesen: wie in den Provinzen ein Statthalter seinem Quästor Mandate erteilen konnte, so habe in der Frühzeit ein Konsul seinen Quästor mit der Ausfuhrung gewisser stellvertretender Funktionen beauftragen können . Eins der Mandate sei die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit in Mordsachen gewesen (quaestor paricidii), ein weiteres Mandat die Verwaltung der Staatskasse (quaestor aerarii): der Kriminalquästor sei mit dem Finanzquästor identisch gewesen (Staatsrecht II 1
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S. 538 N. 2). Aus der Tatsache, daß die Strafgerichtsbarkeit auf dem Mandat eines Konsuls, somit eines Magistrats cum imperio, beruht habe, sei zu folgern, daß sie öffentlichen magistratischen Charakter hatte. Die MOMMsENschen Theorien über die archaische Strafgerichtsbarkeit haben lange Zeit allgemeine Akzeptanz gefunden. Einer der Frühesten, die Widerspruch leisteten, war KURT LATTE: The Origin of the Roman Quaestorship, Trans. and Proceed. of the Americ. Philol. Association 67 (1935) S. 24 ff. (= Kleine Schr. [1968] S. 359 ff.). LATTE bestritt an erster Stelle die These, daß die Ahndung von Bluttaten in archaischer Zeit fiir gewöhnlich Sache eines öffentlichen Magistrats gewesen sei. Wer des Kapitaldelikts beschuldigt wurde, habe sich nur in besonderen Fällen der Aburteilung durch Komitien oder Magistrate unterwerfen müssen. Im Regelfall sei er gezwungen gewesen, sich persönlich mit der geschädigten Partei, etwa den Verwandten des Getöteten, zu arrangieren. Die Intervention eines quaestor paricidii sei lediglich dann erforderlich gewesen, wenn es sich nicht um unvorsätzliche Tötung, sondern im Gegenteil um einen regelrechten Mord handelte. Als Beweis zitiert er den Zwölftafelsatz 8,24a: die Darbietung des Widders als Sühneopfer an die Agnaten des Toten. Anschließend lehnte LATTE die von MOMMSEN vertretene These von der Identität der quaestores paricidii und aerarii ab. Der quaestor paricidii sei jemand gewesen, der mit einer kurzfristigen Einzelaufgabe beauftragt worden sei: sie bestand lediglich darin, daß er in einem zur Aburteilung eines Mordfalls einberufenen Geschworenengericht den Vorsitz fiihrte. Das Amt eines quaestor aerarii hingegen, d. h. das Amt eines Schatzmeisters, sei ein ständiges gewesen: zwischen einem Jahresamt und einem Gelegenheitsamt lasse sich keine Verbindung herstellen. LATTE dürfte mit den kritischen Bemerkungen recht haben: seine Schilderung der Rechtspflege in der Zwölftafelzeit paßt besser zu den Lebensumständen einer archaischen Gesellschaft als die MOMMSENsche. Auf die Bezeichnung quaestores kommen wir weiter unten noch zurück; einige Argumente unterstützen die These, daß eher von quaesitores paricidii, statt quaestores paricidii, gesprochen werden müsse (s. S. 18). LATTEs kritische Äußerungen über die MOMMSENsche Lehre fanden in Fachkreisen nur wenig Beachtung: offenbar wurde die Zeitschrift, in der der Artikel veröffentlicht war, von Historikern und Romanisten kaum gelesen. Erheblich mehr Aufsehen erregte eine ausfiihrliche von WOLFGANG KUNKEL verfaßte Abhandlung, die 28 Jahre später erschien: Untersuchungen zur Entwicklung des römischen Kriminalverfahrens in vorsullanischer Zeit, Abh. Bayer. Ak. der Wiss., Philos.-histor. Kl., N. F. 16 (München 1962) (vgl. dazu auch die ergänzenden Bemerkungen, die KUNKEL in einen ein Jahr später erschienenen RE-Artikel eingearbeitet hat: ,Quaestio' , RE. XXIV S. 720 ff. [= Kl. Schriften (1974) S. 33 ff.]). KUNKEL unterwarf zunächst die MOMMSENsche Lehre von der prouocatio einer kritischen Betrachtung. Er konnte dabei an die Ausfiihrun-
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gen zweier Vorgänger anknüpfen, die die Richtigkeit der MOMMsENschen Theorie über die Rolle der Provokation bereits in Abrede gestellt hatten: A. HEUSS, Zur Entwicklung des Imperiums der römischen Oberbeamten, Zs. Sav. Rom. 64 (1944) S. 57 ff., insbes. S. 106 ff.; 1. BLEICKEN, Ursprung und Bedeutung der Provocation, Zs. Sav. Rom. 76 (1959) S. 324 ff.; ders., Art. ,provocatio', RE. XXIII (1959) S. 2444 ff. Nach Ansicht der genannten Autoren gebe es keine zuverlässige Quelle, die uns rur die Frühzeit (Königszeit, Zwölftafelzeit) die Existenz eines Provokationsrechts verbürgt. Erst der Liviusbericht (10,9,3-5) über die Verabschiedung der Lex Valeria, 300 v. ehr., könne als frühester, mehr oder weniger akzeptabler Beleg filr die Einfilhrung dieses Rechts bewertet werden. Die Lex bezeichnete das Geißeln und Töten eines Bürgers, der sich auf das Provokationsrecht berufen hatte, als improbe factum, somit als ernsthaften Rechtsbruch. KUNKEL schloß sich der von HEUSS und BLEICKEN dargebotenen Skizzierung des Anwendungsbereichs der prouocatio an. In keinerlei Weise, so filgt er hinzu, könne die Provokation als Berufungsrecht gegen ein gerichtliches magistratisches Urteil, gewissermaßen als gegen ein erstinstanzliches Urteil, gedeutet werden; von einer zwangsläufigen Weiterleitung des Rechtsfalls an das Volksgericht, sozusagen an eine zweite Instanz, könne ebenfalls keine Rede sein. Der einzige Zweck der prouocatio sei Einschränkung der disziplinarischen Befugnisse der Magistrate gewesen und Anerkennung des Anspruchs auf ein ordentliches gerichtliches Verfahren. Dafilr sei an erster Stelle ein Verfahren vor einem ordentlich bestellten Geschworenengericht in Frage gekommen. Nur in AusnahmefiUlen, etwa in Sachen Hochverrat, habe man die Volksversammlung (comitiatus maximus bzw. comitia centuriata) einberufen; allein schon wegen des schwerfälligen Verlaufs der Einberufung sei häufiges Abhalten von Volksversammlungen nicht möglich gewesen. In betreff der Deutung der Amtsbezeichnung quaestores paricidii bestritt KUNKEL, im Anschluß an LATIE (s. o. S. 15), ebenfalls die MOMMsENsche These von der Identität der quaestores paricidii und aerarii. Der Quästor der altrepublikanischen Zeit, so fuhrt er aus, sei auf keinen Fall ein "Gehilfe des Konsuls" gewesen; fur einen Vergleich mit dem späteren Provinzialquästor gebe es keine einzige zuverlässige Stütze. Im Gegensatz zu MOMMSEN hält KUNKEL den quaestor paricidii schlichtweg filr jemanden, der - etwa auf Geheiß des Prätors - zum Vorsitzenden eines Geschworenengerichts in Sachen Mordklage bestellt worden ist (nicht auszuschließen sei die Möglichkeit, daß der Plural quaestores sämtliche am Verfahren beteiligte Geschworenen bezeichnet habe). Man müsse dabei von der Annahme ausgehen, daß in der Zwölftafelzeit - und noch sehr lange nachher - alle Verbrechen, auch ein Mord, durch Privatklagen verfolgt worden seien. Es sei deshalb stets eine private Anklage von Seiten des Verletzten oder von dessen Angehörigen gewesen, die ein rechtliches Verfahren (etwa eine legis actio sacramento) in Gang setzte. Der Vorsit-
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zende (praetor, quaestor) des eigens zu diesem Zweck einberufenen Geschworenengerichts (bzw. des Beisitzerrats, des consilium) habe nach Abschluß der Verhandlung die Laienrichter nach ihrem Urteil befragt (daher quaestor, "Befrager"); wurde auf schuldig erkannt, so sei es die Pflicht des Vorsitzenden gewesen, den Angeklagten an den Kläger auszuliefern. Im Falle eines Kapitaldelikts habe dies Auslieferung (addictio) an die private Blutrache des Klägers bedeutet. Da die Strafen tUr die jeweiligen Vergehen gesetzlich festgelegt waren, über die Art der Bestrafung somit nicht mehr verhandelt werden brauchte, habe der Geschworenenspruch gleichzeitig den Abschluß des Verfahrens beinhaltet. KUNKEL ist ferner der Ansicht, daß das System der Privatrache und der Auslieferung an den Ankläger im Falle eines Schuldspruchs bis Ende des dritten vorchristlichen Jahrhunderts, möglicherweise noch länger, fortgedauert habe. In diesem Zusammenhang zitiert er (Unters. S. 104 f.) eine Stelle aus Livius, an der letzterer von einer bemerkenswerten Begebenheit berichtet, die sich in einem der Anfangsjahre des Zweiten Punischen Krieges zugetragen hatte (23,14,1-4). Es handelt sich um das Jahr 216 v. Chr., das Jahr der katastrophalen Niederlage bei Cannae. Der nach der Schlacht das Regiment tUhrende Diktator M. Junius Pera, so berichtet Livius, wollte nichts unversucht lassen, was zum Wiederaufbau neuer Streitkräfte beitragen könnte. Er ersann sogar einen recht unorthodoxen Plan der Truppenwerbung (Liv. 23,14,3-4): edixitque qui capi!alem fraudem ausi quique pecuniae iudicati in uinculis essen!, qui eorum apud se milites fierent, eos noxa pecuniaque sese exsolui iussurum: "und er (der Diktator) ließ verlautbaren, daß er (von denen, die darüber die Verfügungsgewalt hatten) verlangen wolle, daß sie alle in (privatem) Gewahrsam genommenen Kapitalverbrecher und Geldschuldner, sofern letztere bei ihm (dem Diktator) Kriegsdienst leisten wollten, aus der Strafhaft und Schuldhaft entließen". G. PUGLIESE hat in einer Rezension die KUNKELsche Interpretation der Liviusstelle abgelehnt (BIDR. 61 [1963] S. 153 ff., zur Liviusstelle S. 172): der Stelle fehle die Beweiskraft für die These, daß gegen Ende des 3. Jahrhs. v. ehr. die verurteilten Kapitalverbrecher noch immer an die Privatrache der Kläger ausgeliefert worden seien: in uinculis könne außer "in Privathaft" auch "im Staatsgefängnis" bedeuten (ersteres für die Geldschuldner, letzteres für die Kapitalverbrecher). Die Begründung der Ablehnung dürfte aber kaum zutreffen: es ist recht unwahrscheinlich, daß ein und dasselbe Wort (uincula) in ein und demselben gedanklichen Zusammenhang (qui .. , in uinculis essent) gleichzeitig zwei unterschiedliche Bedeutungen gehabt hatte: 1. Staatsgefängnis, 2. Privathaft; man müßte schon vom Vorhandensein einer auffälligen Bedeutungskontamination ausgehen (vgl. z, St. auch KUNKEL, Unters. S. 104 f.). Es sei im Zusammenhang mit dem Liviusbericht noch erwähnt, daß die Maßnahme des Diktators ihm die Aufstellung einer ganzen zusätzlichen Legion ermöglichte: 6.000 Mann wurden aus Deliktshaft und Schuldhaft entlassen (Liv.
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23,14,3-4). Der Diktator ließ sie mit den im Jahre 223 v. Chr. erbeuteten gallischen Waffen ausrüsten. Aus der Liviusstelle geht ferner hervor, daß derjenige, der einen Kapitaldelinquenten in privatem Gewahrsam hatte, nicht immer wenigstens nicht sofort - von seinem Tötungsrecht Gebrauch machte: offenbar hoffte er auf ein Angebot über Lösegeld von Seiten der Angehörigen des Übeltäters. Zum Schluß sei noch bemerkt, daß die These, der quaestor paricidii sei eine Art von Vorsteher eines Mordverfahrens gewesen, sich sehr gut mit gewissen Fakten der späteren Rechtsentwicklung in Verbindung bringen läßt. Dabei muß in erster Instanz an die quaesitores gedacht werden, die im Rahmen des sich seit dem 2. Jahrh. v. Chr. entwickelnden besonderen Kriminalverfahrens als Vorsitzende von sogenannten quaestiones fungierten. Die Kriminalverfahren der Archaik, in denen die quaestores paricidii auftraten, seien gewissermaßen eine Vorstufe der spätrepublikanischen quaestiones (Geschworenengerichte) gewesen. Wenn jene Verbindung mit Recht hergestellt wurde (vgl. KUNKEL, Unters. S. 44 f.), müssen wir möglicherweise ebenfalls annehmen, daß der im Zwölftafelgesetz IX 4 genannte Vorsitzende in Mordsachen quaesitor paricidii, nicht quaestor paricidii, geheißen hat (s. oben S. 15): es läge dann ein Überlieferungsfehler vor, der sich leicht erklären läßt. Das von KUNKEL gezeichnete neue Bild der Entwicklung des altrömischen Strafrechts, das so stark von der MOMMSENschen Rekonstruktion der Strafrechtsgeschichte abweicht, hat viele Diskussionen ausgelöst. BRUNT bezeichnete KUNKELs neue Erkenntnisse als "eine kopernikanische Umwälzung" (,a Copernican revolution': Besprechung in Tijdschr. 32 [1964] S. 440 ff.). Es gab aber, wie sich bald zeigte, auch Gegenstimmen. In einer ausführlichen Besprechung hebt G. CRIFO mit einem gewissen Nachdruck hervor, daß ein nicht geringer Teil der KUNKELschen Ergebnisse auf hypothetischer Basis beruhe: es sei kaum anzunehmen, daß die römische Gesellschaft zur Zwölftafelzeit keine Institutionen gekannt habe, die damit beauftragt waren, über die Instandhaltung der gesellschaftlichen Normen zu wachen. Ferner sei keineswegs auszuschließen, daß die quaestores paricidii, die für die Kriminalrechtspflege zuständig waren, ständige staatliche Organe gewesen seien (Labeo 10 [1964] S. 90-116, insbes. S. 100 ff.). Reichliche kritische Bemerkungen finden sich auch in der von G. PUGLIESE publizierten Besprechung: BIDR. 66 (1963) S. 153-181. Für viele Interpretationen, die KUNKEL den oft nur recht fragmentarisch überlieferten Texten abgewonnen hat, ließen sich gemäß PUGLIESE ohne weiteres auch alternative Deutungen vorschlagen. Allerdings gäbe es einige Hypothesen, die Anspruch auf Wahrscheinlichkeit erheben könnten: zu letzteren gehöre die Hypothese, daß die Ursprünge der spätrepublikanischen quaestiones (Geschworenengerichte) in den Beratungsgremien (consilia) der archaischen Magistrate zu suchen seien.
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Einen eher zustimmenden Charakter haben die Besprechungen von A. N. SHERWIN-WHITE, JRS. 54 (1964) S. 208-210 und von J. BLEICKEN, Gnomon 36 (I964) S. 696-710. SHERWIN-WHITE bezeichnet KUNKELS Rekonstruktion der republikanischen Strafrechtsgeschichte zwar als "gewagt" (,hasardous'), aber doch als "weitgehend überzeugend" (,Iargely convincing'). Was seine kritischen Bemerkungen betrifft, so beziehen sie sich namentlich auf Teile der KUNKELschen Darstellung, in denen die richterlichen Organe in der Spätrepublik behandelt werden. BLEICKEN betont noch einmal den Umstand, daß uns nur wenige und in ihrer Aussagekraft oft kaum durchschlagende Belege zu Gebote stehen: trotzdem sei es KUNKEL gelungen, tur die Erforschung des kapitalen Privatanklageverfahrens der Frühzeit eine gute "Arbeitshypothese" hinzustellen. Was die kritischen Bemerkungen betrifft, sei noch besonders auf BLEICKENs Einwände gegen die consilium-Theorie hingewiesen: die Behauptung, daß der richtende Magistrat immer an den Spruch der Geschworenen gebunden gewesen sei, lasse sich leicht durch Ober lieferte Belege widerlegen. Eingehende Kritik übt BLEICKEN ebenfalls an der KUNKELSchen Darstellung der Zuständigkeit der tresuiri capitales. Recht austuhrlich schließlich ist auch die Besprechung, die M. FUHRMANN der KUNKELschen Abhandlung gewidmet hat: Gött. Gelehrte Anz. 219 (I 967) S. 81-98. Der Rezensent gibt zunächst einen Überblick Ober die Vorgeschichte (MOMMSEN und seine früheren Kritiker: HEUSS, BLEICKEN, LATIE ua.); sodann eine sehr übersichtliche Beschreibung der KUNKELschen Theorien. Der Umstand, daß die Rezension später als die vorher genannten zustande kam, bot dem Autor die Gelegenheit, gleichzeitig auf bereits publizierte Urteile (etwa von BRUNT, CRIFO, PUGLIESE, BLEICKEN ua.) näher einzugehen. Er neigt dazu, den Rezensenten beizupflichten, die sich von Kunkels Ansichten distanziert haben, besonders CRlFO und PUGLIESE. Sollten die vorgebrachten Bedenken zu Recht bestehen, so FUHRMANN (S. 98), so sei die Folgerung kaum zu umgehen, "daß KUNKELS Versuch, das MOMMSENsche Bild vom Strafrecht der römischen Republik durch ein neues zu ersetzen, in einigen wesentlichen Punkten nicht gelungen ist." Wir möchten, ähnlich wie BRUNT, SHERWIN-WHITE und BLEICKEN, den Ertrag der KUNKELschen Untersuchungen erheblich positiver bewerten. Es seien ein paar von ihm vorgetragene Theorien genannt, denen unseres Erachtens ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad zukommt. Zunächst die These, daß in der Zwälftafelzeit alle Delikte, auch Kapitaldelikte, auf dem Wege des Privatverfahrens geahndet wurden. Das System der privaten Gerichtsbarkeit in Kapitalsachen habe, so KUNKEL, sogar bis in die erste Hälfte des 2. Jahrhs. fortgedauert, d. h. bis in die Zeit, da der Staat die Verfolgung krimineller Delikte selbst in die Hand nahm (Aufkommen der Quästionengerichte) - auch dies tur die geschichtliche Forschung ein wichtiger Ausgangspunkt. Sodann darf - trotz der DOrftigkeit der Belege - als sehr ansprechend die These bezeichnet werden, daß
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es einen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen den frührepublikanischen (unter Vorsitz der quaestores fungierenden) Geschworenengremien und den späteren Quästionengerichten gegeben habe. Was das Komitialgericht betrifft, so dürfte KUNKEL mit Recht die Ansicht vertreten haben, daß dieses schwerfallig funktionierende Institut nur in Ausnahmetallen tätig wurde, u. zw. lediglich fiir die Aburteilung politischer Delikte. Sehr beachtlich sind schließlich die Einschränkungen, die KUNKEL (im Anschluß an HEUSS und BLEICKEN) dem Wirkungskreis des Provokationsrechts hat zuteil werden lassen: MOMMSENS Ideen über die allumfassende Anwendbarkeit der prouoeatio dürften in der Tat unhaltbar sein. MOMMSEN beruft sich in diesem Zusammenhang besonders gern auf Äußerungen, die sich bei Cicero finden, vor allem in den Schriften de re publiea und de legibus. Vgl. z. B. Staatsrecht III S.1 S. 352 N. 1 das Cicerozitat rep. 2,31,54: prouoeationem autem etiam a regibus fuisse declarant pontifieii !ibri ... itemque ab omni iudieio poenaque prouoeari lieere iudieant XII tabulae compluribus legibus, "daß es aber schon gegen die Könige ein Berufungsrecht gab, berichten die Priesterbücher ... und ebenfalls zeigt das Zwölftafelgesetz in mehreren Satzungen, daß gegen jedes Urteil und jede Strafe Berufung eingelegt werden kann"; und ebd. N. 2 leg. 3,4,11: de eapite ciuis nisi per maximum comitiatum ... ne ferunto, "über Leben und Tod eines Bürgers soll man nur durch die große Volksversammlung .. . ein Urteil tallen lassen". MOMMSEN zieht daraus folgende Schlüsse: es habe "die Verpflichtung des Oberbeamten" gegeben, "der Provocation Folge zu leisten" (d. h. die Strafsache an die große Volksversammlung weiterzureichen); und: "geschichtlich" stehe "sicher, daß das Provocationsrecht in den Zwölftafeln in seinem ganzen Umfang vorausgesetzt und anerkannt war". Die Beweiskraft der beiden Zitate dürfte aber sehr fraglich sein. MOMMSEN übersieht die bereits oben S. 11 erwähnte Tatsache, daß den Schriften de re publica und de legibus eine gewisse Tendenz innewohnt: es geht dem Autor darin nicht um eine Darlegung des Faktischen, sondern um eine solche des Erwünschten. Er behandelt somit die Frage, welche Staatsform und welche Gesetze die anstrebenswerteren seien. Vgl. z, B. leg. 3,16,37, wo Cicero seinen Bruder Quintus sagen läßt: non reeognoseimus nunc leges populi Romani, sed aut repetimus ereptas aut nouas scribim us, "wir untersuchen jetzt nicht die (heutigen) Gesetze des römischen Volkes, sondern wir holen entweder die verlorenen Gesetze zurück oder schreiben neue". Das heißt: die Gesetze der "guten" alten Zeit sollen die Beispiele fiir unsere neuen Gesetze hergeben. Eine Verherrlichung der exempla maiorum ist in den beiden Schriften unverkennbar: von dem, was da steht, ist denn auch vieles keineswegs "historisch sicher". Die Behauptung, das Provokationsrecht habe schon in der Königszeit existiert, kann auf keinen Fall ernst genommen werden; die Bemerkung, dieses Recht finde sich auch "in mehreren Satzungen der XII Tafeln", ist wegen ihrer Vagheit ebenfalls unglaubwürdig.
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Die von KUNKEL und anderen an Ciceros glorifizierender Darstellung der Zwölftafelzeit und an seiner Lobpreisung des allumfassenden Provokationsgesetzes geübte Kritik hat auch Gegenstimmen ausgelöst. Vgl. etwa A. W. LINTOIT, Provocatio, ANRW. 12 (1972) S. 266 ff., bes. 235 f. Der Autor räumt zwar ein, daß Cicero sich gewisser Übertreibungen schuldig gemacht habe, die Essenz seiner Darstellung sei aber nicht anzuzweifeln. Wegen der Vagheit der Argumente dürfte LINTOITs Urteil kaum neue Gesichtspunkte bieten. Vgl. ferner B. ALBANESE, Privilegia, maximus comitiatus, iussum populi (XII Tab. 9.12; 12.5), Labeo 36 (1990) S. 19 ff., bes. 20 ff. Der Autor vertritt die Ansicht, daß Cicero es sich nicht hätte leisten können, vor einem Publikum, unter dem sich auch Pontifices befanden, "sachkundige Hörer" (,uditori qualificati') als "verwegener Fälscher" (,incanto falsario') willkürliche Gesetze zu "erfinden" (,una deliberata invenzione'). Offenbar wird von ALBANESE die Tatsache übersehen, daß die Pontifices vom Tun und Treiben der alten Vorfahren aller Wahrscheinlichkeit nach die gleichen glorifizierenden Vorstellungen gehabt haben wie Valerius Antias, Cicero und sonstige Zeitgenossen. Eine aus neuerer Zeit stammende ablehnende Beurteilung der KUNKELschen Thesen findet man bei: B. SANTALUCIA, Diritto e processo penale nell'antica Roma (Mai land 2 1998). Die Darstellung des Autors stützt sich, von Ausnahmen in Einzelheiten abgesehen, größtenteils auf die MOMMSENschen Lehren in betreff der Frühgeschichte Roms. Vg!. besonders SANTALUCIAS Behandlung der folgenden Themen: S. 1 ff. Königszeit; 29 ff. Provokation; 40 ff. Strafrechtliche Zuständigkeit der Kuriatkomitien; 44 ff. Übergang der strafrechtlichen Kompetenzen von den Kuriatkomitien auf die Zenturiatkomitien; 47 ff. Zwölftafelgesetz und die quaestores paricidii (alles mit reich!. Lit.). SANTALUCIA gibt zwar zu (S. 43), daß die in den Quellen Oberlieferten Darstellungen der FrOhzeit bisweilen Anlaß zu Zweifeln bieten, sie seien aber seiner Meinung nach im Grunde genommen glaubwilrdig (,Ie linee fondamentali dei racconto tradizionale appaiono dei tutto plausibili') - eine Aussage, die bekanntlich auf häufigen Widerspruch stößt. Es sei daran erinnert, daß die ältesten römischen Historiker, von denen wir Kunde haben, u. zw. die Annalisten Q. Fabius Pictor und L. Cincius Alimentus, erst in den letzten Dezennien des 3. Jahrhs. v. Chr. (Zeit des Hannibalkrieges) tätig wurden. Aus der Frühgeschichte Roms (5 . Jahrh. und Großteil des 4. Jahrhs. v. Chr.) dürfte Cicero und Zeitgenossen außer den Zwölftafelsätzen und sonstigen alten Gesetzen, sowie außer den Fasten (darunter die Triumphalfasten, seit dem Pyrrhoskriege) kaum weiteres authentisches altes Material zu Gebote gestanden haben. Die Tatsache, daß Gaius und Zeitgenossen Ober Einzelheiten des alten Legisaktionenverfahrens noch immer recht gut informiert waren, ist wohl dem Umstand zuzuschreiben, daß dieses Verfahren bis in die historische Zeit hinein funktioniert hat. Erst im 2. Jahrh. v. Chr. wurde den Legisaktionen infolge der Annahme der Lex Aebutia von seiten des prätorischen Schriftformelverfahrens ernsthafte Konkurrenz gemacht. Es währte
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aber, wie bekannt, bis zur Verabschiedung der Leges Iuliae iudiciorum publicorum et privatorum (17 v. Chr.), daß die Legisaktionen bis auf zwei Ausnahmen (iudicia centumuiralia, actio damni in/ecti) gänzlich beseitigt wurden (Gaius IV 30 u. 31). Auf die für die Beurteilung der Fakten so wichtige Quellenfrage wird aber von SANIALUCIA kaum näher eingegangen. Für eine neue Übersicht über die anläßlich der KUNKELschen Thesen geführten Diskussionen vgl.: J. ERMANN, Strafprozeß, öffentliches Interesse und private Strafverfolgung; Untersuchungen zum Strafrecht der röm. Republik (Köln, Böhlau 2000 = Forsch. zum röm. Recht 46). Für Ergänzungen zur Lit. vgl. die Besprechung von EVELYN HÖBENREICH, Zs. Sav. Rom. 125 (2003) S.166ff. Eine kritische Darstellung der mit der Lex Valeria de provocatione verknüpften Probleme findet sich bei: KUNKELlWITIMANN, Die Magistratur S. 166 ff. (Handb. der Altertumswiss. X 3,2,2; 1995). Die der römischen Frühzeit gewidmete Literatur läßt sich kaum überblicken. Für eine reichliche Auswahl s. F. WIEACKER, Röm. Rechtsgeschichte, 1. Abschnitt: Einleitung, Quellen, Frühzeit u. Republik (Handb. der Altertumswiss. X 3,1,1; 1988), insbes. S. 236-267: ,Die Anfange des ius civile'.
3. Die Lex Aquilia, Klage auf Schadensersatz, Ergänzung der XII Tafeln Das Zwölftafelgesetz hat bekanntlich lange Zeit, etwa bis ins dritte vorchristliche Jahrhundert hinein, in der römischen Gerichtsbarkeit eine zentrale Steilung eingenommen. Gemäß Pomponius ench., Dig. 1,2,2,6 lag in jener Frühzeit die Zuständigkeit für die Auslegung der einzelnen Gesetze der Zwölftafelsammlung vor allem bei den Pontifices. Mitunter dürften die Deutungen sich schon damals ziemlich weit vom ursprünglichen Sinn und Zweck des betreffenden Gesetzes entfernt haben: so z. B. der Hinweis, daß Tafel 4,2, die den dreimaligen Verkauf des Haussohnes unterbindet, sich auch für die Emanzipation des Haussohnes verwenden lasse. Auf der Basis der einzelnen Gesetze schufen die Pontifices ebenfalls unterschiedliche Klageformeln (legis actiones, s. dazu auch oben S. 7 ff.), mit deren Hilfe die Bürger ihre gegenseitigen Streitigkeiten im Wege eines gerichtlichen Verfahrens zum Austrag bringen konnten. Erst im ersten Quartal des 3. Jahrhs. v. Chr. enstand, wohl infolge der Vermehrung von Handel und Verkehr, das Bedürfnis, das rigide Bußsystem der XII Tafeln durch ein flexibleres zu ersetzen: an die Stelle der festen Bußsätze sollten richterliche Schätzungen des angerichteten Schadens treten. Diesem Zweck diente die Verabschiedung der Lex Aquilia de damno iniuria dato (wegen widerrechtlich zugefügten Schadens). Gemäß Ulpian 18 ad ed., Dig. 9,2,1,1
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wurde das Gesetz vom Volkstribun Aquilius beantragt, es handelt sich somit genau genommen um ein Plebiszit: quae lex plebiscitum est, cum eam Aquilius tribunus plebis a plebe rogauit. Ähnlich Justinian inst. 4,3,15 plebem Romanam, quae Aquilio tribuno rogante hanc legem tulit. Näheres über die Datierung findet sich bei Theophilos Par. 4,3,15 (pag. 404,19 ff. FERRINI): die Beantragung des Plebiszits sei eine Folge der Sezession der Plebs gewesen (287 v. Chr.: Ka'tCx 'tov Kalpov 'tTj~ Ola(nacrEco~ 'tou xuoaiou orulOu Kat 'tTj~ cruylCÄ.i]'tou, "zur Zeit des Zwiespalts zwischen dem gewöhnlichen Volk und dem Senat"). Wie bekannt, wurde im Hinblick auf die Beendung der Sezession zunächst die Lex Hortensia angenommen, welche die Bestimmung enthielt, daß hinfort die Beschlüsse der Plebs für das ganze Volk Gültigkeit hätten. Offenbar stand in der von Theophilos benutzten Quelle der Bericht, daß Aquilius kurz nach Verabschiedung der Lex Hortensia zum Volkstribun gewählt worden sei: d. h. etwa 286 v. Chr. (vgl. dazu BROUGHTON, Magistrates I S. 186; der Name Aquilius fehlt sowohl in der RE. wie in DNP.). Über den Inhalt der Lex Aquilia bietet Gaius inst. 111 210-219 einen zusammenhängenden Bericht. Ferner werden zahlreiche sonstige Fragmente überliefert; die ausführlichsten stammen von Gaius 7 ad edictum prouinciale Nr. 183-187 LENEL, Palingenesia (sämtliche Fragmente in Dig. 9,2 sub tit. Ad legem Aquiliam) und - vor allem - von Ulpian 18 ad edictum Nr.612-629 LENEL (ebenfalls in Dig. 9,2). Für weitere Fragmente siehe H. HAUSMANINGER, Das Schadenersatzrecht der lex Aquilia (Wien 51996) S. 45 ff. (s. auch dortselbst S. 7 ff.: Einleitung und Lit.); vgl. außerdem J. A. CROOK, Lex Aquilia, in: M. R. CRAWFORD (Hrsg.), Roman Statutes 11 (1996) S. 723 ff. An weitaus den meisten der oben zitierten Stellen handelt es sich aber um aus späterer Zeit stammende Kommentare zur Aquilia (die sogenannte Interpretation); für eine kurze Inhaltsangabe der aus 3 Kapiteln zusammengesetzten Lex selbst s. folgende Gaiusstellen: inst. III 210 (primo capite), 215 (capite secundo), 217 (capite tertio); vgl. außerdem Gaius 7 ad ed. prov., Dig. 9,2,2 pr. (lege Aquilia capite primo) ; Ulpian 18 ad ed., Dig. 9,2,27,4 (huius legis secundum .. . capitulum); ders. 18 ad ed., Dig. 9,2,27,5 (tertio ... capite). Das erste Kapitel regelt den Schadensersatz für widerrechtliches Töten eines fremden Sklaven oder einer fremden Sklavin, ferner für das Töten fremder vierfilßiger Herdentiere. Im zweiten Kapitel handelt es sich um einen ganz besonderen Fall des Schadensersatzes: gegen einen adstipulator (Nebengläubiger, Vertrauensmann des Hauptgläubigers), der zum Nachteil des Hauptgläubigers mittels formaler Quittierung (accepti/atio) die Geldschuld eines Dritten erlassen hatte, wird dem Hauptgläubiger (evtl. seinem Erben) eine Klage auf die volle Geldsumme gewährt. Das dritte Kapitel bietet eine Art Ergänzung zum ersten: wenn jemand durch widerrechtliches Handeln (iniuria) einen sonstigen, im ersten Kapitel nicht erwähnten, Schaden verursacht, so soll er verpflichtet sein, dem Geschädigten auch dafür Schadensersatz zu zahlen. Der Terminus
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"widerrechtlich schädigen" wird umfassend interpretiert: außer "widerrechtlich töten" bedeutet er gleichfalls "widerrechtlich brennen, brechen, verletzen" usw. (Ulpian 18 ad ed., Dig. 9,2,27,5 si quis alteri damnum faxi!, quod usserit, fregerit, ruperit iniuria). Bei Leugnung der Tat lautet die Verurteilung auf das Doppelte. Die Anordnung der drei Kapitel hat etwas Auffälliges: die dem Inhalte nach zusammengehörigen Kapitell und 3 werden durch ein andersartig orientiertes Kapitel 2 voneinander getrennt. Womöglich läßt sich der Mangel an Folgerichtigkeit durch die Annahme erklären, daß die Kapitell und 2 aus einem (nicht überlieferten) Vorläufer der Lex Aquilia stammen. Jener Vorläufer wurde daraufhin, so die Vermutung, im Jahre 286 v. Chr. auf Geheiß des Volktribuns Aquilius um einen Zusatz, Kapitel 3, ergänzt. Und anschließend wurde das Ganze in dreiteiliger Aufmachung als Lex Aquilia dem Volke zur Verabschiedung vorgelegt. Wie Ulpian 18 ad ed., Dig. 9,2,1 pr. darlegt, hat die Veröffentlichung der Schadensersatzbestimmungen der Lex Aquilia den Zweck verfolgt, sämtliche vorhergehenden gesetzlichen Schadensersatzregelungen, sei es die aus den XII Tafeln, sei es die aus anderen Gesetzen, aufzuheben: omnibus legibus, quae
ante se de damno iniuria locutae sunt, derogauit, siue XII tabulis, siue alia quae fuit. Inwiefern es noch andere Gesetze gegeben hat, läßt sich wegen Man-
gels an Quellen nicht mehr genau feststellen; man ist aber geneigt, an den soeben genannten Vorläufer der Lex Aquilia (Kapitell und 2) zu denken. Was ferner die Überlieferung der XII Tafeln anbelangt, so ist sie, wie bekannt, zwar ausführlich, doch keineswegs lückenlos. Der Umfang der Lückenhaftigkeit dürfte obendrein dadurch noch verschlimmert sein, daß mehrere Schadensersatzregelungen der XII Tafeln infolge ihrer Außerkraftsetzung schon bald der Vergessenheit anheimgefallen sind. Anhand der Fragmente, die erhalten sind, möchte man annehmen, daß insbesondere folgende Zwölftafelsätze filr Ungültigerklärung in Frage gekommen sind: 8,2-5 (Körperverletzung), 8,6-7 (Schäden, die durch Tiere verursacht wurden) und 8,11 (Fällen fremder Bäume, Rebstöcke, Sträucher usw.). Das zweite Kapitel der Lex Aquilia hat nur kurzlebige Wirkung gehabt. Es wurde schon früh durch das Aufkommen der actio mandati verdrängt; vgl. Gaius inst. III 216 sed id caueri non fuit necessarium, cum actio mandati ad eam rem sufficeret (vgl. auch Ulp. 18 ad ed., Dig. 9,2,27,4). Der früheste Beleg filr die Existenz der ac/io mandati findet sich beim Rhetor ad Herennium 2,13,19: anläßlich der Frage, ob jene actio auch gegen den Erben eines Beauftragten angestrengt werden könne, berichtet der Autor, daß Sextus lulius (Caesar), Prätor urbanus im Jahre 123 v. Chr. (BROUGHTON, Magistrates I S. 513), die Frage verneint, M. (Livius) Drusus hingegen, Prätor urbanus im Jahre 115 v. Chr. (BROUGHTON I S. 532), sie bejaht habe (vgl. dazu auch W ATSON, Contract ofMandate S. 22 f. und 132 f.). Die Verdrängung des zweiten Kapitels der
3. Die Lex Aquilia, Klage auf Schadensersatz, Ergänzung der XII Tafeln
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Lex Aquilia durch die actio mandati dürfte sich somit im Laufe des 2. Jahrhs. v. Chr. vollzogen haben. Die Kapitel 1 und 3 der Lex hingegen sind, anders als Kapitel 2, jahrhundertelang von den Juristen und Prätoren in ausgiebigem Maße kommentiert worden. Die rechtskundige Beschäftigung mit den aquilischen Schadensersatzregelungen hat sich sogar bis in die justinianische Zeit fortgesetzt: vgl. Inst. lust. 4,3 (de lege Aquilia), Theophilos 4,3 (7tep\. v61l0'\) ("wenn er den Eid geschworen hat, daß er die Anklage nicht aus Schikane vorbringe"), kann der Prätor den Rechtsweg rur zulässig erklären.
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Auch in der Kaiserzeit wurden häufig außergewöhnliche Maßnahmen getroffen, die den Zweck hatten, das Hochkommen der schikanösen und das Gericht belastenden Anklagen zu verhindern. In der gajanischen Zeit etwa wurden Kalumniatoren mit strengen Strafen bedroht, vg!. Gaius, 3 regu!., Dig. 47,10,43: qui iniuriarum actionem per calumniam instituit, extra ordinem damnatur; id est exilium aut relegationem aut ordinis amotionem patiatur, "wer aus Schikane eine Klage auf Persönlichkeitsverletzung anstellt, soll in einem Verfahren extra ordinem verurteilt werden; das heißt: er soll Verbannung, Ausweisung oder Standesverlust erleiden". Eng verbunden mit der calumnia war die tergiuersatio: der ungerechtfertigte Rücktritt von der Anklage (tergiuersari, "den Rücken zukehren"). Es kam offenbar häufig vor, daß Ankläger, besonders die schikanösen Ankläger, im entscheidenden Augenblick auf die Fortsetzung des Prozesses verzichteten. Sie ließen die vom Gerichtsmagistrat für die Ermittlung gesetzte Frist ungenützt verstreichen und erschienen nicht auf amtliche Ladung. Der Ärger über dieses Fehlverhalten, der anscheinend allgemein war, fand unter anderem seinen Niederschlag in der bereits zitierten Senatsrede des Kaisers Claudius (s. oben S. 60, vg!. FIRA. I Nr. 44, Oratio Claudii II Zeilen 13-15: qui (accusatores), cum apud curiosum consilium inimicos suos reos jecerunt, relincunt eos in albo pendentes et ipsi, tamquam nihil egerint, peregrinantur, "nachdem jene Ankläger ihre Feinde beim Untersuchungsrat angeklagt haben, lassen sie letztere einfach im Eintragungsverzeichnis baumeln und gehen selber, wie wenn sie nichts unternommen hätten, auf Reisen". Der Kaiser ermächtigt daraufhin den Prätor, den säumigen Ankläger fiir kalumniös zu erklären; vg!. ebd. III Zeilen 8 ff.: ~ ..pron~untiet (seil. praetor) c caussa negotium jisse uideri " "der Prätor verkünde das Urteil, daß der Ankläger nach richterlichem Ermessen aus reiner Schikane den Prozeß gefiihrt hat". Die von Claudius verkündeten Maßnahmen wurden im Jahre 61 n. Chr., unter Kaiser Nero, noch einmal in detaillierterer Form durch Verabschiedung des SC. Turpillianum bekräftigt. In späterer Zeit ist dieser Senatsbeschluß häufig kommentiert worden, vg!. Dig. 48,12 sub tit. ,ad Sc. Turpillianum'; außerdem wurden ergänzende kaiserliche Konstitutionen erlassen, vg!. Cod. lust. 9,45 ,de calumniatoribus'. Ein weiterer öfters eintretender Fall, der Verschleppung des Prozesses zur Folge hatte, war die ampliatio, der Aufschub. Dies ereignete sich besonders dann, wenn bei der Abstimmung eine allzu große Zahl von auf non liquet lautenden Urteilen zu keinem klaren Ergebnis führte. In solchen Fällen mußte der Magistrat einen Termin fiir ein neues Verfahren bestimmen. Ein hinzukommendes Manko der Geschworenengerichte war das geringe geistige Niveau der durchschnittlichen iudices. Quintilian inst. 10,53 macht seine Leser, d. h. die künftigen Gerichtsredner, noch einmal nachdrilcklich auf die Tatsache aufmerksam, daß die Geschworenen, welche die Plädoyers anzu-
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hören hatten, "meist ungebildete, mitunter sogar bäuerische Leute" seien (indocti saepius atque interim rustici). Offenbar hatte die intelligentere Oberschicht der Stadt Rom andere Ambitionen als Mitglied eines Geschworenenkollegiums (iudicum decuria) zu sein; eine solche Mitgliedschaft war eher das Karriereziel eines ehrgeizigen Provinzlers. Illustrativ in diesem Zusammenhang ist folgende Stelle aus Petrons Cena Trimalchionis, sat. 71,12: Petron legt dort dem protzenhaften, in einer Provinzstadt lebenden Emporkömmling Trimalchio die Behauptung in den Mund, er habe "sämtlichen Richterkollegien in Rom angehören können" (posset in omnibus decuriis Romae esse) - eine Behauptung, die Trimalchio auch in seine zukünftige Grabinschrift aufgenommen wissen wollte. Vielsagend filr das Niveau der Geschworenen ist ferner eine beiläufige Notiz, die sich in Suetons Claudiusvita findet (16,2): der Kaiser habe einen Einwohner einer griechischen Provinzstadt trotz glänzenden Ansehens aus der Richterliste gestrichen, weil er der lateinischen Sprache nicht mächtig war. Kurz: zu Beginn der Kaiserzeit war bei den Quästionengerichten ein Rückgang an Effektivität und Utilität nicht zu übersehen. Die Mängel blieben, wie sich versteht, den Zeitgenossen nicht im verborgenen. Augustus war denn auch, bald nachdem er Alleinherrscher geworden war, eifrig bestrebt, dem Übel der ineffizienten Rechtsprechung zu steuern. Sueton hebt in der Augustvita (33,1) sogar besonders hervor, daß der Kaiser "fleißig Recht gesprochen" habe (ius dixit assidue), u. zw. öfters bis in die Nacht hinein. Wenn er sich nicht wohl filhlte, habe er sich in der Sänfte vor das Tribunal tragen lassen, bisweilen hätten die Verhandlungen sogar im eigenen Hause stattgefunden. An einer weiteren Stelle (33,2) erwähnt Sueton anläßlich der Wiedergabe eines zu der Zeit gefilhrten Prozesses noch eine vom Kaiser getroffene auffällige Maßnahme. Es handelte sich um ein Strafverfahren wegen Testamentsfälschung - ein Strafverfahren, das offenbar unter dem Vorsitz des Augustus stattfand (eine quaestio e lege Cornelia de falsis). Als schließlich abgestimmt werden sollte, habe der Kaiser den Beisitzern (simul cognoscentibus) außer den beiden üblichen Stimmtäfelchen, "schuldig" und "unschuldig", noch ein drittes Täfelchen überreichen lassen, "verzeihlich" - d. h. die Angeklagten der letzteren Gruppe seien nur insofern schuldig, als sie sich lediglich infolge falscher Information zur Unterschrift hatten verleiten lassen. Der Suetonstelle ist zwar einerseits zu entnehmen, daß Augustus die übliche Arbeitsweise einer quaestio e lege Cornelia de falsis im großen und ganzen beibehalten hat. Es muß aber andererseits auch festgestellt werden, daß der Kaiser aufgrund eigener Machtbefugnis Neuerungen vornahm. Eine der Neuerungen wird schon von Sueton selbst erwähnt: die abweichende Abstimmungsprozedur. Viel einschneidender jedoch ist die Handhabung eines ganz anders orientierten Auswahlsystems für die Zusammenstellung des Beisitzerrates, des consilium principis. Sueton sagt hierüber nichts und auch in sonstigen Quellen finden sich nur summarische Andeutungen. Doch trotz aller Ungewißheiten läßt
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sich ein Faktum deutlich erkennen: Augustus fing an, sich seine Beisitzer selber auszusuchen; er suchte sie unter Leuten, die sein Vertrauen genossen; er entnahm sie somit nicht den "Dekurien" der Quästionengerichte (zu den iudicum decuriae s. oben S. 63). Augustus' Nachfolger, so zeigt sich, folgten dem Beispiel: es entwickelte sich auf diese Weise ein außerordentliches Gerichtsverfahren: ein Kaisergericht, d. h. eine cognitio extra ordinem. Was die Quellen betrifft, die Auskunft geben über die normale Zusammensetzung eines kaiserlichen Konsiliums, insbesondere eines unter dem Vorsitz von Kaiser Augustus fungierenden Konsiliums, seien zwei AutorensteIlen zitiert. Zunächst Seneca, clem. 1,9,2 f.: es handelt sich dort um die von Cn. Cornelius Cinna gegen das Leben des Augustus angestiftete Verschwörung, etwa 16 - 13 v. Chr. (Aufenthalt des Kaisers in Gallien; das von Seneca a. a. o. verzeichnete Pränomen L. = Lucius statt Cn. = Cnaeus, Gnaeus ist irrig, vgl. GROAG, ,Cornelius Nr. 108', RE. IV S. 1288 f., bes. 1288,38). Als dem Kaiser die geplante Verschwörung gemeldet wurde, consilium amicorum aduocari iussit, "ließ er eine Ratsversammlung von Freunden einberufen". Unter den amici müssen offenbar Gefolgsleute und Ratgeber verstanden werden, in die der Kaiser persönliches Vertrauen gesetzt hatte; auf keinen Fall waren es Mitglieder einer richterlichen decuria. Als zweite Auskunftsstelle über das kaiserliche Konsilium sei Philo von Alexandreia genannt, Legatio ad Gaium 350, eine Stelle, an der Philo mit starker Entrüstung über die ungerechte Behandlung berichtet, die seine Gesandtschaft von seiten des Kaisers Gaius Caligula erdulden mußte, Winter 39/40 n. Chr. Der Autor stellt dem tyrannischen Auftritt des Caligula das Verhalten eines wahren kaiserlichen Richters gegenüber. Allem Anscheine nach steht ihm dabei das Verhalten der beiden Vorgänger von Caligula, Augustus und Tiberius, vor Augen - wohl ganz besonders das Verhalten des Kaisers Augustus. Er beschreibt es folgendermaßen: ÖtKua'tou f.lEV yup epyu 'tuu'tu ilv· KuSlaat ).lE'tU auvEöprov Upta'tlVÖTjv EmA.EA.E'Yf.lEvrov, ... EKU'tEproSEv a'tTjvut 'toue; UV'ttÖlKoUe; f.lE'tU 'trov auvuyopEua6v'trov, i:v f.lEpEt ).lEV uKoUaUt 'tTje; KU'tT]'YOplUe;, i:v f.lEPEt ÖE 'tTje; Cl7tOA.OylUe; npoe; ).lEf.lE'tpTjf.lEvOV iJörop, uvua'tav'tu ßOUA.EUauaSUt f.lE'tU 'trov auvEöprov, 'tl xpi) epUVEproe; unoepi]vuaSut yvWf.lTI 'tTI ÖtKuw'ta'tTI: "denn das Verhalten eines (wahren) Richters wäre wie folgt gewesen: er hätte zusammen mit Assessoren, die aufgrund ihrer Verdienste ausgewählt wurden, eine Sitzung abgehalten, ... zu beiden Seiten hätten die sich bekämpfenden Parteien mit ihren Advokaten gestanden, er (der Richter) hätte abwechselnd bald der Anklage bald der Verteidigung zugehört, während die Wasseruhr ihnen die Zeit zumaß; daraufhin wäre er aufgestanden und hätte mit den Assessoren darüber beraten, welches Urteil nach bestem rechtlichem Ermessen zu verkünden sei". Philos Ansicht ist klar: ein anständiger Kaiser, der einer gerechten Prozeßfiihrung vorsitzen will, macht es so wie ehemals Kaiser August: er umringt sich mit Beisitzern, die er
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sich aufgrund ihrer Verdienste selber ausgewählt hat, an erster Stelle mit Senatoren. Eines der bekanntesten Strafverfahren, die unter dem Vorsitz des Augustus gefuhrt wurden, war das gegen den Dichter P. Ovidius Naso, 8 n. Chr. In der Exildichtung widmet Ovid, wie bekannt, dem Verlauf des Verfahrens und der anschließenden Urteilsfällung nur karge, an verstreuten Stellen sich findende Verse; was die Zurlastlegung betrifft (möglicherweise Unmoral: frivole Lebensart, sittenwidrige Versdichtung, verderblich ftir die Bürgerschaft, s. auch unten S. 74), beschränken seine Mitteilungen sich auf nur ganz kurze Andeutungen. Das Ausfuhrlichste, was Ovid über das gerichtliche Verfahren mitteilt, findet sich in Tristia 2,131-134 (Tristia 11 enthält eine Art Rechtfertigung, die sich an Augustus richtet, 9 n. Chr.): nee mea deereto damnasti faeta senatus. nee mea seleeto iudiee iussafuga est tristibus inueetus uerbis - ita prineipe dignum ultus es ojJensas. ut deeet. ipse tuas.
"Weder durch Senatsbeschluß hast du meine Taten verurteilen lassen, noch durch eine gewählte Geschworenenbank wurde meine Verbannung verordnet; nein, selber durch Worte der harten Anklage - einem Herrscher gemäßhast du auf angemessene Weise dein Ärgernis gerächt". Drei unterschiedliche gerichtliche Verfahrensweisen kommen in den Versen zur Sprache: Senatsgericht, QUästionenverfahren und Kaisergericht. Die Tatsache, daß Ovid sich vor keinem der drei genannten Urteilsgerichte hat verantworten müssen, läßt sich am stichhaltigsten durch die Annahme begründen, daß er bereits bei der Verhandlung in iure geständig gewesen war. Gemäß dem Satz confessus pro iudicato ("wer geständig ist, steht einem Verurteilten gleich") konnte die Recht sprechende Instanz (in diesem Fall offenbar das Kaisergericht) ohne weitere Prozedur zur Urteilsverkündung übergehen. Der Kaiser, als Vorsitzender des Gerichts, verkündete das Urteil, u. zw. in barschem Tone. Zur Annahme, Ovid sei in iure geständig gewesen, vgl. KUNKEL, Über die Entstehung des Senatsgerichts, Kl. Schriften S. 297 ff., insbes. S. 298 N. 51. Zur vielbesprochenen Frage, wie Ovids vage Umschreibung der gegen ihn vorgebrachten Anschuldigung zu deuten sei (zwei Punkte, trist. 2,207: carmen et error, "ein Gedicht und ein Irrtum"), vgl. R. SYME, History in Ovid (Oxford 1978) S. 216 ff.: Das Urteil war Verbannung, allerdings in etwas milderer Form als befurchtet: relegatio. Dies bedeutet, daß das Vermögen des Dichters nicht konfisziert wurde; sein Bürgerrecht ging ebenfalls nicht verloren. Der Verbannungsort war, wie man weiß, ein recht ferner: Tomi am Schwarzen Meer. Wie bekannt, beschränkten die Verfahren extra ordinem sich keineswegs auf das Kaisergericht. Schon in der augusteischen Zeit häufte sich die Zahl sonstiger Rechtsfälle, fur deren Lösung das ius ordinarium (das Formularverfahren) keinen brauchbaren Prozeßweg bot. Augustus war der erste Kaiser, der damit
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anfing, die Untersuchung ungelöster Rechtsfälle und die damit verknüpfte Verkündung angemessener Urteile, extra ordinem, einigen speziell dazu erkorenen Magistraten zu übertragen: die Beauftragten waren Konsuln und Prätoren, mitunter auch vom Kaiser selbst ernannte Beamte. Einer der frühesten rechtlichen Bereiche, rur die Augustus wegen der Häufigkeit und der Komplexität der Probleme cognitiones extra ordinem einsetzen ließ, war der der Fideikommisse. Aus dem, was vordem lediglich eine moralische Verpflichtung des Erben gewesen war, wurde nunmehr durch die Maßnahme des Kaisers eine klagbare Forderung gemacht. In Gai Institutiones findet sich darüber, was den wichtigsten Punkt betrifft, folgende Mitteilung: 11 278 Praeterea legata formulam
petimus; jideicommissa uero Romae quidem apud consulem uel apud eum praetorem, qui praecipue de jideicommissis ius dicit, persequimur, in prouinciis uero apud praesidem prouinciae: "Außerdem fordern wir Vermächtnisse
mittels eines Formularprozesses ein; Fideikommisse jedoch klagen wir in Rom bei einem Konsul ein oder bei dem Prätor, der speziell in Sachen Fideikommisse Recht spricht; in den Provinzen aber bei dem Provinzialstatthalter." Aus dem Gegensatz per formulam einerseits und apud consulem uel praetorem andererseits geht hervor, daß es sich im Falle der Rechtsprechung durch Konsul oder Prätor um ein Kognitionsverfahren extra ordinem handelt. Ulpian drückt sich reg. 25,12 in dieser Materie etwas genauer aus: jideicommissa non per
formulam petuntur, ut legata, sed cognitio est Romae quidem consulum aut praetoris, qui jideicommissarius uocatur, in prouinciis uero praesidum prouinciarum: "Fideikommisse werden nicht, wie die Vermächtnisse, mittels Formularprozeß eingeklagt, sondern es gibt darur in Rom ein Kognitionsverfahren der Konsuln und des sogenannten fideikommissarischen Prätors, in den Provinzen aber ein solches Gericht der Provinzialstatthalter." Die bei Gaius und Ulpian fehlenden Hinweise auf die Urheberschaft von Kaiser Augustus finden sich in den Inst. lust.: 2,23,1 in betreff der Fideikommisse: primus diuus Augustus ... iussit consulibus auctoritatem suam interponere, "als erster hat der vergöttlichte Augustus ... den Konsuln befohlen, ihre Amtsgewalt einzusetzen"; 2,25 pr. betreffs der Kodizille: dicitur Augustus conuocasse prudentes, inter quos Trebatium quoque, ... et quaesisse, an possit hoc recipi, "laut Quellenbericht hat Augustus Rechtsgelehrte zusammengerufen, darunter auch den Trebatius ... , und er hat sie gefragt, ob dies (die Klagestellung der Kodizille) anerkannt werden könne". Vgl. auch Theoph. par. ebd. pag. 238,16 und 252,4 FERRINI. Es war aber weder der Konsul noch der Prätor, sondern der Inhaber eines neugeschaffenen Amtes, der praefectus urbi, der in der Frtihzeit des Prinzipats, u. zw. angefangen bei Kaiser Tiberius, mit tiberraschender Schnelligkeit im Bereich der Rechtsprechung zur höchsten Stelle, neben dem Kaiser, aufstieg. Der eigentliche Errichter der Stadtpräfektur war Augustus gewesen. Er hatte die Gewohnheit, rur seine Abwesenheit von Rom einen Stellvertreter zu bestellen. Der erste, der dieses Amt übernahm, war Maecenas; vgl. Tacitus, anno 6,11,2:
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ceterum Augustus bellis ciuilibus Cilnium Maecenatem equestris ordinis cunctis apud Romam atque ltaliam praeposuit, "Augustus aber Ubertrug während der BUrgerkriege dem ritterbUrtigen Cilnius Maecenas die Leitung sämtlicher Regierungsangelegenheiten in Rom und in Italien" (im Vorherigen erörtert Tacitus die Frage, inwiefern es schon in frUheren Zeiten, etwa in der archaischen Königszeit, praefecti urbis gegeben habe). Maecenas war Stadtpräfekt in den Jahren 36 v. Chr., während des Seekrieges gegen Sextus Pompeius, und 31 v. Chr., während der Schlacht bei Actium. Tacitus anno 6,11,3 erwähnt noch drei weitere praefeeti urbi aus der FrUhzeit des Prinzipats, zwei aus der Regierungszeit des Augustus, einen dritten aus der des Tiberius. Es sind die Folgenden: M. Valerius Messala Corvinus, Januar 26 v. Chr. (er dankte nach wenigen Tagen wieder ab, vgl. HANSLlK, ,Valerius Nr. 261', RE. VIII A S. 131 ff., bes. 153,15 f!); T. Statilius Taurus, 16 v. Chr. - 10 n. Chr. (vgl. NAGL, ,Statilius Nr. 34', RE. III A S. 2199 ff., bes. 220,22 ff); L. Calpurnius Frugi Piso pontifex, 14 (?) - 32 n. Chr. (vgl. GROAG, ,Calpurnius Nr. 99', RE. III S. 1396 ff., bes. 1397,44 ff.; gemäß Tacitus a. a. O. habe er uigin ti per annos das Amt innegehabt; uiginti dUrfte als runde Zahl aufzufassen sein, statt etwa 18). Die lange Abwesenheit des Tiberius von Rom (seit 26 n. Chr. dauernd auf Capri) hat in starkem Maße zur Erhöhung der Bedeutung von Pisos Stadtpräfektur beigetragen. Seit Piso gilt das Gericht des Stadtpräfekten als ein wesentlicher Konkurrent der Quästionen. Anhand zerstreut Uberlieferter Berichte läßt sich denn auch nachweisen, daß ein extra ordinem vor dem Stadtpräfekten geruhrter Prozeß von der frUhen Kaiserzeit an rur strenger und riskanter als ein QUästionenverfahren gehalten wurde. Ein deutliches Beispiel bietet ein aus dem Jahre 61 n. Chr. stammender Tacitusbericht, anno 14,41. Beschrieben wird dort der merkwürdige Verlauf einer Klage wegen Testamentsfälschung: es wurde festgestellt, daß diejenigen, die wegen der Fälschung angeklagt waren, durch Anbietung von Bestechungsgeldern den Advokaten der Gegenpartei, einen gewissen Valerius Ponticus, dazu hatten überreden können, eine für seinen eigenen Klienten ungUnstige gerichtliche Prozedur zu wählen, u. zw. ein von einem Prätor geleitetes Quästionenverfahren statt eines extra ordinem vor dem Gericht des Stadtpräfekten geführten Prozesses. An der zitierten Stelle, an der auch sonstige Testamentsfälschungen besprochen werden, sagt Tacitus darUber folgendes: pari ignominia Valerius Pontieus afficitur, quod reos, ne apud praefectum urbis arguerentur, ad praetorem detulisset, interim specie legum, mox praeuaricando ultionem elusurus: "durch die gleiche entehrende Strafe wurde Valerius Ponticus getroffen, weil er, damit die Angeklagten nicht vor das Gericht des Stadtpräfekten gebracht würden, sie stattdessen beim Prätor (dem Vorsitzenden des Quästionengerichts) angezeigt hatte, in der Absicht, anfangs unter dem Scheine der Gesetzmäßigkeit, späterhin aber durch Rechtsverdrehung die Bestrafung zu hintertreiben". Offenbar erhielt Valerius Ponticus, als der Betrug entdeckt wurde, die
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gleiche entehrende Strafe wie die übrigen von Tacitus Genannten: Konfiskation und Verbannung e lege Cornelia defalsis. Die Gesetze, auf die der Stadtpräfekt sich berufen konnte, waren im großen und ganzen dieselben wie die, nach denen die Geschworenen einer quaestio ihr Urteil zu fällen hatten. Die Unterschiede lagen denn auch auf anderem Terrain, u. zw. auf dem der Prozeßführung: der Verfahrensablauf vor einem Präfektengericht war erheblich zügiger als der vor den Quästionen. Der Stadtpräfekt war freier in der Gestaltung des Verfahrens, von den gesetzlich vorgeschriebenen Umständlichkeiten des Quästionenverfahrens konnte er sich unbekümmert fernhalten. Die Folge war, daß die Ankläger, die einen schleunigen Ablauf ihres Prozesses anstrebten, eine Verhandlung vor dem Gericht des Stadtpräfekten bevorzugten. So erklärt es sich, daß das Präfektengericht in ständig wachsendem Maße ein Verdränger der Quästionen wurde. Wie aus Paulus Ib. sing. de iudic. pub!., Dig. 48,1,8 deutlich hervorgeht, hat das Quästionengericht Anfang des 3. Jahrhs. zu funktionieren aufgehört: ordo exercendorum pub/icorum capitalium in usu esse desiit, durante tamen poena legum, cum extra ordinem crimina probantur: "die gesetzlich geordneten öffentlichen Kriminalprozesse (der Quästionen) sind außer Gebrauch gekommen, während aber das Strafgesetz immer noch fortbesteht, da heutzutage in außerordentlichem Verfahren über Straftaten geurteilt wird." Es wurden aber in der Prinzipatszeit auch einige gerichtliche Verfahren extra ordinem eingeführt, fur die es im Quästionenbereich kein Pendant gegeben hatte. Dabei handelte es sich meist um die Ahndung von Verbrechen, gegen die detaillierte neue kaiserliche Erlasse herausgegeben worden waren. Als Beispiel sei die neueingefuhrte Ahndung unterschiedlicher Arten von Diebstahl zitiert, etwa die Ahndung von Diebstahl in Bädern, von mit Einbruch gepaartem Diebstahl usw. Vg!. Ulpian, 8 de off. proc., Dig. 47,17,1 (= 7,4,I):fures nocturni extra ordinem audiendi sunt et causa cognita puniendi, dummodo sciamus in poena eorum operis publici temporarii modum non egrediendum; idem et in balneariis furibus; sed si telo se fures defendunt uel effractores uel ceteri his similes nec quemquam percusserunt, metalli poena uel honestiores relegationis adficiendi erunt: "nächtliche Diebe müssen in außerordentlichem Verfahren verhört und nach durchgeführter Ermittlung bestraft werden, vorausgesetzt daß fur uns feststeht, daß bei der Bestrafung das Maß einer zeitlich befristeten Zwangsarbeit nicht überschritten werden darf; das gleiche gilt für Badediebe; aber wenn Diebe oder Einbrecher oder auch andere derartige Leute sich mit der Waffe verteidigen, ohne allerdings jemanden zu erschlagen, so muß ihnen Bergwerksstrafe auferlegt werden, den Höherrangigen Verbannung." Als Vorsitzende einer cognitio extra ordinem fungierten nicht nur die Stadtpräfekten. Im Gegenteil, die Aburteilung von weniger gewichtigen Verbrechen wurde für gewöhnlich zweitrangigen Magistraten überlassen, vorzugsweise den praefecti uigilum, den Vorstehern der Nachtwächter. Vgl. etwa Pau-
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lus, Ib. sing. de off. praef. vigil., Dig. 1,15,3,1: cognoscit praefectus uigilum de incendiariis effractoribus furibus raptoribus receptatoribus, nisi si qua tam atrox tamque famosa persona sit, ut praefecto urbi remittatur: "der Vorsteher der Nachtwächter ermittelt gegen Brandstifter, Einbrecher, Diebe, Räuber und Hehler, es sei denn, daß es sich um eine so gefiihrliche und so berüchtigte Person handelt, daß sie dem Stadtpräfekten übergeben werden muß". Es wäre aber falsch, aus dem bisher Gesagten den Schluß zu ziehen, daß es in der früheren Kaiserzeit, etwa zu Gaius' Zeit, keine zivilrechtlichen actiones furti mehr gegeben hätte. In den Digesten findet sich ein vom Juristen Aelius Marcianus, somit aus dem Anfang des 3. Jahrhs. stammendes Fragment, in dem dargelegt wird, daß ein bei Tage beim Stehlen ertappter Dieb im Wege eines ordentlichen privatrecht lichen Formularverfahrens gerichtlich zu belangen sei. Vgl. Marcian, 2 iudic. publ., Dig. 47,17,2 sed si interdiufurtumfecerunt, ad ius ordinarium remittendi sunt, "wenn sie aber bei Tage einen Diebstahl begangen haben, müssen sie einem ordentlichen rechtlichen Verfahren unterworfen werden". Die Konsuln, Prätoren, Stadtpräfekten, Nachtwachepräfekten usw., die in den oben erörterten außergewönlichen Verfahrensarten als Gerichtsvorsitzende auftraten, leiteten ihre Zuständigkeit aus der Tatsache her, daß sie im Auftrage des Kaisers ihres Amtes walteten. Der Kaiser selbst trat, wie sich versteht, meist nur im Kaisergericht als vorsitzender Richter auf(s. oben S. 64 ff.). Zum Schluß sei noch auf einen weiteren außergewöhnlichen Gerichtshof hingewiesen, in dem der Kaiser ebenfalls eine ruhrende Stellung innehatte: das Senatsgericht Schon unter Kaiser Augustus wurden dem Senat, sei es vorerst in Ausnahmefällen, richterliche Befugnisse zuerkannt. Wie zu erwarten, wurde den Recht sprechenden Senatssitzungen von Anfang an große Bedeutung beigelegt. Da über dieses Thema bereits einige eingehende Monographien vorliegen (s. u.), beschränken wir uns auf ein paar besondere Merkmale. In der Anfangszeit handelte es sich, wie gesagt, um Sonderfälle. Eins der frühesten aufsehenerregenden Strafgerichte, rur die der Senat eingeschaltet wurde, war das Verfahren gegen C. Cornelius Gallus, 26 v. Chr. Der bekannte Präfekt von Ägypten, einst ein Schützling des Kaisers, hatte sich durch überhebliches Benehmen den Zorn seiner Gefolgsleute zugezogen: die Folge war, daß er des Majestätsverbrechens beschuldigt wurde. Wegen der Aufregung, die der Fall verursacht hatte, beschloß Augustus, ehe er beim Vorsitzenden einer quaestio de maiestate Anzeige erstattete, den Fall zur einstweiligen Beurteilung dem Senat vorzulegen. Für den weiteren Verlauf des Verfahrens s. Cass. Dio 53,23,7: Kat'" "yEpouota ä1taoa aÄ.rovat 'tE a'lnov EV 'tOt ist von HUSCHKE 1861) vorgeschlagen worden und hat die Zustimmung der späteren Herausgeber erfahren. Mit der Lex Poetelia (ao. 326 v. ehr.) begann eine lange Rechtsentwicklung, in deren Verlauf die Personalvollstreckung der privatrechtlichen Klagen in eine Vermögensvollstreckung umgewandelt wurde. In diese Entwicklung fällt die Aufnahme der actio furti manifesti in das prätorische Edikt; diese gewährte dem Geschädigten einen Anspruch auf den vierfachen Wert der entwendeten Sache. Tatbestandliche Voraussetzung war, daß der Täter bei der Entwendung ergriffen war (hierzu III 184), vgl. Paul. 9 ad Sab., Dig. 47,2,34 is autem, qui deprehensus est, ob eandem rem manifesti teneatur, "derjenige aber, der ergriffen worden ist, haftet wegen derselben Angelegenheit [Paulus behandelt die Haftung des Gehilfen, siehe unten III 202] rur offenkundige Entwendung". Eine genauere Rekonstruktion der Formel ist nur ungefähr möglich, vgl. LENEL, Edicturn S. 332; oben Einl. S. 7 f. Zur Umgestaltung der personalen Vollstreckung in Vermögensvollstreckung vgl. KASERiHACKL, Proz. S. 388 ff.; MANTHE, Geschichte S. 72. Zur Höhe der Verurteilungssumme siehe Komm. ad III 192,9/10. Zur Lex Poetelia: ROTONDI, Leges publicae S. 230 f. § 190: 6/7 Nec rnanifesti poena per legern tabularum dupli inrogatur, earnque etiarn praetor conseruat: "Die Buße rur nicht-offenkundige Entwendung wurde nach dem Zwölftafelgesetz in Höhe des Doppelten verhängt; und auch diese Höhe behält der Prätor bei." Vgl. Inst. lust. 4,1,5. Das Recht der frUhen Republik sah bei nicht-offenkundiger Entwendung (III 185) keinen sofortigen Zugriff des Bestohlenen vor. Das Zwölftafelgesetz erlaubte dem Täter, die Verurteilung aus der legisactio sacramento in personem durch den Abschluß eines Vergleichs mit dem Geschädigten abzuwenden, Ulp. 4 ad ed., Dig. 2,14,7,14 nam et defurto pacisci lex permittit. Nur dann, wenn der SUhnevergleich scheiterte, wurde der Täter auf das Doppelte verurteilt. Meist wird angenommen, auch die Vergleichssumme sei durch ein gesetzliches Maximum begrenzt gewesen, nämlich auf das duplum; dies geben die Quellen allerdings nicht her: Ulp. 11 ad ed., Dig. 4,4,9,2 unterscheidet deutlich zwischen der Zahlung aufgrund des Vergleichs (pro fure damnum decidere) und der Verurteilung auf das Doppelte (bzw. das Vierfache aus der actio furti manifesti): ... ergo si potuit pro fure damnum decidere magis quam actionem dupli uel quadrupli pati, ei subuenietur, "wenn er [seil. der Minderjährige unter 25
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Jahren] eher als Entwender eine Sühnezahlung hätte vornehmen können, als die Klage auf das Doppelte oder Vierfache auf sich zu nehmen, wird man ihm zu Hilfe kommen" (nämlich der Prätor mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand); Cod. lust. 6,2,13 (a. o 293) Post decisionemfurti leges agi prohibent ... , "nach der Sühnezahlung darf man nach den Gesetzen nicht mehr klagen". Was hier für das klassische Recht ausgesprochen wurde, dürfte auch im Zwölftafelrecht gegolten haben. Die legisactio sacramento in personam, die erst nach erfolglosen Vergleichsverhandlungen erlaubt war, richtete sich dann auf das Doppelte. Die prätorische actio furti nec manifesti lautete demgemäß: Si paret Aulo Agerio a Numerio Negidio ... furtumfactum esse ... , quam ob rem Numerium Negidium pro fure damnum decidere oportet, quanti ea res fuit ... , tantae pecuniae duplum condemnato eqs., "wenn es sich erweist, daß dem Aulus Agerius durch Numerius Negidius ... eine Entwendung geschehen ist ... , weswegen Numerius Negidius als Entwender eine Sühnezahlung leisten muß, so verurteile auf das Doppelte ... des Sachwertes usw."; vgl. LENEL, Ed. S. 328. Der hierauf bezügliche Zwölftafelsatz 8,16 lautete: Si adorat furto, quod nec manifestum erit ... , "wenn er wegen nicht-offenkundiger Entwendung klagt ... " (Festus pag. 158,32/ L.). Die Zwölftafelausgaben (SCHOELL, BRUNS, RlCCOBONO, FLACH) erwägen, ob auch die Worte duplione damnum decidito, "er soll den doppelten Schaden ersetzen" diesem Zwölftafelsatz VIII 16 angehörten, eher zu Unrecht: duplione damnum decidito ist nur rur XII Tab. 12,3 erwiesen (wo es um die legisactio sacramento in rem geht, Festus pag. 518,3ff. L.), und Paulus ex Festo pag. 58,14 L. ,duplionem' antiqui dicebant, quod nos ,duplum', "duplio sagten die Alten rur unser duplum" gibt die Herkunft des Wortes nicht an. Das prätorische Edikt ersetzte die legisactio sacramento in personam durch die actio furti nec manifesti und behielt die Anspruchshöhe (duplum) bei. Der Gang der Verfahren wird im Komm. ad IV 15 (legisactio) und 30 (actio) erläutert werden. Zu damnum decidere, "den Schaden durch Sühnezahlung ersetzen" vgl. HITZIG, ,Furtum', RE. VII (1910) S. 384 ff., 392 (wo die hier dargestellte Meinung, daß der Vergleich nicht auf das Doppelte beschränkt war, geäußert wurde). Die neueren Autoren nehmen seit SCHOELL duplione damnum decidito auch rur XII Tab. 8,16 in Anspruch: R. SCHOELL, Legis duodecim tabularum reliquiae (Leipzig 1866) S. 147; BRUNS, Fontes S. 33; RlCCOBONO, FlRA. I S. 60 (LENEL, Ed. S. 328, von RlCCOBONO angeruhrt, gibt dies aber nicht her); KASER!HA.CKL, Proz. S. 125 zu N.39, 42; D. FLACH, Das Zwölftafelgesetz (Darmstadt 2004) S. 66 (XII Tab. 1,21). Neben den actionesfurti manifesti undfurti nec manifesti stand dem Bestohlenen auch die condictio furtiua (oder condictio ex causa furtiua) zu. Sie richtete sich auf den einfachen Sachwert und machte dann Sinn, wenn der Entwender (der dem Eigentümer aus der uindicatio haftete) die Sache verloren hatte und deshalb der uindicatio nicht mehr ausgesetzt war. Gaius hat die condictio furtiua nicht behandelt, und im folgenden Kommentar wird sie daher auch nur
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hier und dort erwähnt. Näheres bei KASER; Priv. I S. 618; ferner: HITZIG, ,Furturn', RE. VII (1910) S. 397 ff.; HUVELIN II S. 580 ff.; ausfiihrlich: A. BRINz, Lehrbuch der Pandekten II (Erlangen 21879) S. 522 ff.; W. PIKA, Ex causa furtiva condicere im klassichen römischen Recht (Berlin 1988). § 191: 7/8 Concepti et oblati poena ex lege XII tabularum tripli est, eaque similiter a praetore seruatur: "Die Buße im Falle der Entdeckung und Unterschiebung ist nach dem Zwölftafelgesetz das Dreifache, und diese Buße wird in vergleichbarer Weise vom Prätor beibehalten." Aus dem Bericht des Gaius geht mit genilgender Klarheit hervor, daß bereits die Zwölftafeln die Buße im Falle der Entdeckung und Unterschiebung einer entwendeten Sache auf das Dreifache festgesetzt hatten (XII Tab. 8,15a); dies wird bestätigt durch Gell. 11,18,12 Furti concepti, item ob/ati tripli poena est, "die Buße im Falle der Entdeckung, ferner im Falle der Unterschiebung einer entwendeten Sache ist der dreifache Wert"; ferner Gai. IV 173. Das prätorische Edikt behielt die Bußhöhe bei. Der Bestohlene konnte also, wenn die Voraussetzungen einer nicht-offenkundigen Entwendung vorlagen und außerdem die Sache vor Zeugen bei jemandem aufgefunden worden war, gegen den, bei dem die Sache entdeckt worden war, die actio furti concepti auf den dreifachen Wert anstrengen; war dem Beklagten die Sache von einem Dritten untergeschoben worden, so konnte der Beklagte mit der actio furti ob/ati gegen diesen Dritten Rückgriff nehmen. Vgl. Komm. ad III 186-187 S. 137 ff., wo der Gang des Verfahrens geschildert wird. Außer bei Gaius und GeIIius werden die beiden Klagen noch in Pauli sententiae genannt: 2,31,3.5.14 Concepti actione is tenetur, apud quem furtum quaesitum et inuentum est. Ob/ati actione is tenetur, qui rem furtiuam a/ii obtulit, ne apud se inueniretur. (5) Concepti is agere potest, qui rem concepit et inuenit. Ob/ati is agere po test, penes quem res concepta et inuenta est. (14) Furti concepti actio [aduersus eum, qui obtulitJ tripli est poena et ipsius rei repetitio. Aus § 14 ergibt sich, daß der Bestohlene neben der dreifachen Buße natilrlich auch die entwendete Sache herausverlangen konnte (mittels der uindicatio); demjenigen, dem die Sache untergeschoben war, stand nur die Bußklage auf das Dreifache zu Gebote. (Emendation nach D. LIEBS, Die pseudopaulinischen Sentenzen II, Zs. Sav. Rom. 113 [1996] S. 132 ff., 169 f.; ähnlich schon D. GOTHOFREDUS, Corpus Iuris Civilis cum D. Gothofredi et aliorum notis [Amsterdam 1663] ad Paul. sent. 2,31,13 S. 84; Zählung bei LIEBS: 2,34,3.5.14.) § 192: 9/10 Prohibiti actio quadrupli est ex edicto praetoris introducta; lex autem eo nomine nullam poenam constituit: "Die Klage auf das Vierfache wegen Verhinderung einer Suche nach einer entwendeten Sache ist durch das Edikt des Prätors eingeführt worden; und zwar hat das Gesetz deswegen keine Buße festgesetzt." Filr den Fall, daß der Verdächtigte sich weigerte, eine rituelle Haussuchung (III 193) zuzulassen, sah das Zwölftafelgesetz keinen
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Anspruch vor; vielmehr konnte die Haussuchung erzwungen werden. Als die sogleich zu besprechende rituelle Haussuchung obsolet wurde, reagierte der Prätor mit der Einruhrung der actio prohibiti (III 188) auf das Vierfache. Die Lex Romana Burgundionum, ein Gesetz der germanischen Burgunder aus der Völkerwanderungszeit, wird gewöhnlich dem König Gundobad (reg. 474-516 n. Chr.) zugeschrieben; das Gesetz dürfte aber frühestens dem Jahre 517 entstammen. Diese Sammlung älterer Gesetze enthält 3 Gaiuszitate, nämlich Lex Rom. Burg. 5,1 (dessen Vorlage Gai. III 225 war); 10,1 (nach Gai. III 7) und 12,2. Lex Rom. Burgund. 12,2 lautet: Quod si aut c%nus aut seruus taliter querentem prohibuerit, fustuario supphcio a iudicibus eius praesumptio uindicetur, et ab his res perdite simplo soluantur, secundum speciem Gai, qui hoc de prohibitis statuit, "wenn aber ein höriger Bauer oder Sklave jemanden, der auf diese Weise eine Haussuchung durchfuhrt, daran gehindert hat, so wird von seinen Richtern mittels der Prügelstrafe die Vermutung (daß nämlich die Sache im Hause des Hörigen oder Sklaven sei) verfolgt, und sie zahlen die verlorenen Sachen mit dem einfachen Wert gemäß dem Fall des Gaius, der dies über die Verhinderungen bestimmt hat". Der Redaktor des Gesetzes hat wohl im Gaius nachgeschlagen, die Prügelstrafe in III 189 gefunden und diese mit der actio prohibiti verbunden, ohne den Zusammenhang zu verstehen. Näheres zur Lex Romana Burgundionum: NELSON, Über!. S. 165 ff., zum Datum S. 172, 176; F. BAUER-GERLAND, Das Erbrecht der Lex Romana Burgundionum (Berlin 1995) S.23; M. MEIERIM. STROTHMANN, ,Gundobad', DNP. 5 (1998) S. 11; G. SCHIEMANN, ,Volksrecht, IV', DNP. 12/2 (2002) S. 307; Text nach FIRA. II S.726. 10-13 hoe solum praeeepit, ut qui quaerere uelit, nudus quaerat, linteo einctus, laneem habens; qui si quid inuenerit, iubet id lex furtum manifestum esse. § 193: Quid sit autem linteum, quaesitum est; sed uerius est eonsuti genus esse, quo necessariae partes tegerentur: "es schrieb nur dies vor, daß, wer suchen sollte, unbekleidet suchen sollte, mit einem Leinenschurz gegürtet, eine Schale in der Hand habend; wenn er etwas gefunden habe, so solle dies nach dem Gesetzesbefehl eine Sache aus offenkundiger Entwendung sein. (§ 193) Was aber der Leinenschurz ist, ist fraglich; am ehesten handelt es sich um etwas Zusammengenähtes, womit die Schamteile bedeckt werden sollen." Warum wir dem Text des Codex Ver. folgend linteo bzw. linteum und nicht licio bzw. licium schreiben, wird im Exkurs III S. 284 ff., 287 f. besprochen, wo auch das Verfahren genauer dargestellt ist. In V pag. 178,8 STUD. steht UEIHU~EAm, wobei das ~ hinter UEIHUS durchgestrichen ist. Seit KRUEGER sieht man ~EAm als Verschreibung für ES't an (das durchgestrichene ~ ist nur im 4. Buch Sigle rur sed, vg!. STUDEMUND S. 300). Im archaischen Recht existierte, wie schon erwähnt (oben S. 140), ein rituelles Verfahren der Haussuchung, die quaestio lance et hcio. Wer vermutete, daß
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sich eine entwendete Sache im Hause eines Beschuldigten befand, durfte das Haus des Beschuldigten auch gegen dessen Willen betreten und nur mit einem Leinenschurz bekleidet und mit einer Opferschale in der Hand eine Haussuchung vornehmen. Fand sich die Sache, so galt die Entwendung als offenkundig, obwohl die in III 184 besprochenen Voraussetzungen des furtum manifestum nicht vorlagen. Das Verfahren starb spätestens im 3. Jhdt. v. Chr. aus; zu Plautus' Zeit scheint es nicht mehr existiert zu haben - im Poenulus hätte Plautus sich die Komik einer archaischen Haussuchung nicht entgehen lassen, wenn es sie noch gegeben hätte (siehe oben ad § 186 S. 140 f.). Genaueres zur Suche lance et licio nach einer entwendeten Sache siehe Exkurs III S. 284 ff. Die meisten Autoren meinen, daß die quaestio lance et licio nur während nicht unterbrochener Spurfolge möglich gewesen sei; sie stellen sich das Verfahren folgendermaßen vor: Hatte der Geschädigte den Täter ununterbrochen verfolgt, so konnte er die rituelle Haussuchung lance et licio erzwingen, die Entwendung war und blieb manifest (so HONSELLIMAYER-MALY/SELB); hatte der Geschädigte aber die Spurfolge unterbrochen, so blieb ihm die einfache Haussuchung, die nur ein conceptum furtum, "entdeckte Entwendung" mit Haftung auf den dreifachen Betrag herbeifilhrte (§ 186). Gegen diese Einschränkung der quaestio lance et licio auf den Fall der noch nicht unterbrochenen Spurfolge spricht, daß die einfache Haussuchung verweigert werden konnte (§ 188), nicht aber die rituelle. Die actio furti prohibiti (§ 192,9//0) war nämlich nur sinnvoll, wenn die Haussuchung verweigert werden konnte. Die Einfiihrung dieser actio durch das Edikt (frühestens im 3. Jahrh. v. Chr.) erklärt sich also dadurch, daß erst jetzt ein Bedürfnis dazu auftrat, die einfache Haussuchung wenigstens indirekt (über die Bußdrohung des Vierfachen) erzwingbar zu machen; in vorediktaler Zeit hatte kein Bedürfnis bestanden, weil die rituelle Haussuchung immer erzwingbar war. Wäre im Falle der unterbrochenen Spurfolge nur die nicht erzwingbare einfache Haussuchung zulässig gewesen, so wäre der Bestohlene vor Einfiihrung der actio prohibiti furti, also in der ganzen frühen und mittleren Republik, schutzlos gewesen, sobald die Spurfolge unterbrochen war. Auch die Unterscheidung der sunt, qui scribunt (§ 194: ein lance et licio aufgeklärtes furtum sei lege, nicht natura manifestum) wäre sinnlos, wenn eine quaestio lance et licio nur dann möglich gewesen wäre, solange das manifestum furtum in natürlichem Sinne noch andauerte; es ist aber kaum anzunehmen, daß mehrere Juristen sich so geirrt hätten. Zum Verhältnis der einfachen zur rituellen Haussuchung siehe oben Komm. ad § 186,8/9 ,conceptum furtum eqs.' S. 141; zur Unterscheidung der sunt, qui scribunt unten ad III 194 S. 157 ff. Auf den Fall der noch nicht unterbrochenen Spurfolge beschränken die quaestio lance et licio KARLOWA II S. 778; KASER, Das altröm. Jus S. 340; ders., Priv. I S. 158; WIEACKER, Röm. Rechtsgesch. I S. 245; HONSELLlMAYER-MALY/SELB, Röm. Recht S. 360 N. 13. Daß die alte Haussuchung lance et licio nicht verweigert werden durfte und Gaius dies nicht mehr verstanden hat,
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zeigte B. W. LEIST, Gräko-italische Rechtsgeschichte (Jena 1884, Ndr. Aalen 1964) S. 249; ders., Alt-arisches Jus Civile (Jena 1892) S. 408 f. 13-1 quae res tota ridicula est; nam qui uestitum quaerere prohibet, is et nudum quaerere prohibiturus est, eo magis quod ita quaesita re inuenta maiori poenae subiciatur: "diese Sache ist vollkommen lächerlich; wer nämlich einen Bekleideten an der Suche hindert, der wird auch einen Nackten an der Suche hindern, und das gilt um so mehr, weil er schärfer bestraft wird, wenn die Sache auf diese Weise gesucht und gefunden ist." In V pag. 178,9 steht am Ende der Ziele: quae r(es) lex; GOESCHEN emendierte zu quare lex, "daher ist das Gesetz"; SECKELlKuEBLER schlugen die Tilgung von res, MOMMSEN und DAVID die von lex vor, was dem Sinn nach besser paßt. Zwischen quaesita re und inuenta (V pag. 178,11/12) haben die neueren Editoren nach dem Vorschlag HUSCHKEs ein et eingefügt, um die ,Uberladene' Partizipalkonstruktion quaesita re inuenta, "nachdem die gesuchte Sache gefunden ist" zu entlasten. In der Tat läßt sich bei den römischen Autoren eine gewisse Abneigung gegen diese Konstruktion bemerken und sie ist nur selten zu beobachten (oben ad § 188,15/16 S. 1460; wir tragen daher Bedenken, sie auch Gaius zuzuschreiben. Das Zwölftafelgesetz hatte dem Geschädigten ein wohl unverweigerbares Recht gegeben, die Haussuchung lanee et lieio zu erzwingen; die aetio prohibiti (§ 192) gegen denjenigen, der die quaestio verweigerte, kann es daher im Zwölftafelrecht noch nicht gegeben haben. Nach dem Verschwinden der quaestio lanee et lieio (oben ad § 192/3,10-13 S. 155) war es möglich, die einfache Haussuchung (quaestio, §§ 186, 191) zu verweigern; in diesem Fall haftete der Verweigernde auf das Vierfache. Gaius hat diese historische Entwicklung nicht bedacht. Er projizierte die erst später mögliche Verweigerung in die archaische Zeit und hielt daher die Regelung des Zwölftafelgesetzes für lächerlich. Daß die Strafe nach durchgeführter quaestio lanee et lieio höher ausfiel als ohne dieselbe, ist richtig beobachtet: Gelang es dem Geschädigten nicht, den Entwender auf frischer Tat oder in der Spurfolge (§ 184 donee perferretur eo, quo perferre fur destinasset) zu ergreifen, so war es ein furtum nee manifestum, weIches nach Zwölftafelrecht nur doppelt gebUßt wurde (§ 190); wenn der Entwender danach aber lanee et lieio Uberführt wurde, so traf ihn die Strafe des furtum manifestum (§ 189). Allerdings konnte die rituelle Haussuchung erzwungen werden (oben S. 155), so daß die Überlegung Gaius' für die Zwölftafelzeit nicht zutraf. In klassischer Zeit war die Buße für furtum manifestum das Vierfache (§ 189); verlor der Verfolgende die Spur, so reduzierte sich die Buße auf das Doppelte (furtum nee manifestum); wenn jetzt der Bestohlene die einfache quaestio (§ 186) durchführte, so drohte dem Entwender die dreifache Buße wegenfurtum eoneeptum (§ 191), verweigerte er aber die quaestio, so drohte ihm wegenfurtum prohibitum wiederum die vierfache Buße (§§ 188, 192).
Kommentar zu III 193-194
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Ridicula erinnert an das (ungerechte) Urteil Crassus' über die Gesetze der Griechen bei Cic. de orat. 1,44,197 Percipietis etiam i/lam ex cognitione iuris laetitiam et uoluptatem, quod, quantum praestiterint nostri maiores prudentia ceteris gentibus, tum faci/lime intellegetis, si cum i/lorum Lycurgo et Dracone et Solone nostras leges conferre uolueritis. incredibile est enim, quam sit omne ius ciuile praeter hoc nostrum inconditum ac paene ridiculum ... , "auch insofern werdet ihr aus der Erkenntnis des Rechtes Freude und Vergnügen schöpfen, als ihr die großen VorzUge unserer Vorfahren in der Staatsklugheit vor anderen Völkern dann am leichtesten einsehen werdet, wenn ihr unsere Gesetze mit denen eines Lykurgos, Drakon und Solon vergleichen wollt. Denn es ist unglaublich, wie das bürgerliche Recht überall außer bei uns ungeordnet und, ich möchte fast sagen, lächerlich ist ... " (Übers. nach R. KÜHNER, Vom Redner [MUnchen o. J.] S. 104, vgl. dort N. 182; freundlicher Hinweis von D. LIEBS). 1-5 deinde quod lancem siue ideo haberi iubeat, ut manibus occupatis nihil subiciat, siue ideo, ut quod inuenerit, ibi imponat, neutrum eorum procedit, si id quod ratur, eius magnitudinis aut naturae sit, ut neque subici neque ibi inponi possit. certe non dubitatur, cuiuscumque materiae sit ea lanx, satis legi fieri: "weiterhin, daß der Befehl, eine Schale zu halten, entweder zu dem Zweck besteht, daß er die Hände nicht frei hat und dadurch nichts unterschieben kann, oder zu dem Zweck, daß er das, was er gefunden hat, in die Schale hineinlegt, das ist tur beide Zwecke sinnlos, wenn das, was er sucht, so groß und beschaffen ist, daß es weder untergeschoben noch in die Schale gelegt werden kann. Es ist jedenfalls nicht zweifelhaft, daß dem Gesetz Genüge geschieht, ganz gleich, aus welchem Stoff die Schale besteht." Damit hatte Gaius natürlich Recht: die Schale war kein taugliches Mittel, einen Haussuchenden am Einschmuggeln einer angeblich entwendeten Sache zu hindern. Dem Einschmuggeln wehrte aber die Vorschrift, daß der Haussuchende nur leicht bekleidet sein durfte ((Exkurs III S. 286 f.). Die Turiner Institutionenglosse NT. 466 ad Inst. lust. 4,1,4 hat eine alte Erinnerung bewahrt, wonach die lanx, "Opferschale" ein discus fictile, "tönerne Scheibe" gewesen sei. Certe non dubitabitur zeigt an, daß jedenfalls fruher darüber diskutiert worden war; Gaius wußte nicht mehr, daß die lanx ein Sakralgefaß war, bei dem der Stoff, aus dem es bestand, nicht gleichgültig war (vgl. Exkurs III S. 295 f.). § 194: 5-13 Propter hoc tarnen, quod lex ex ea causa manifestum furtum esse iubet, sunt, qui scribunt furtum manifestum aut lege aut natura; lege id ipsum, de quo loquimur, natura illud, de quo superius exposuimus. sed uerius est natura tantum manifestum furtum intellegi; neque enim lex facere potest, ut, qui manifestus fur non sit, manifestus sit, non magis quam, qui omnino fur non sit, fur sit, et, qui adulter aut homicida non sit, adulter uel homicida sit; at illud sane lex facere po test, ut proinde aliquis poena teneatur, atque si furtum ueI adulterium uel homicidium ad-
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misisset, quamuis nihil eorum admiserit: "Deswegen freilich, weil das Gesetz befiehlt, daß die Entwendung bei diesem Sachverhalt eine offenkundige Entwendung sei, schreiben manche, den Begriff der offenkundigen Entwendung verstehe man entweder in gesetzlichem oder in natürlichem Sinne; in gesetzlichem genau in dem Fall, den wir gerade besprochen haben, in natürlichem in jenem Fall, den wir davor dargelegt haben. Es ist aber richtiger, den Begriff der offenkundigen Entwendung nur in natürlichem Sinne zu verstehen; denn das Gesetz kann nicht bewirken, daß der, der kein offenkundiger Entwender ist, ein offenkundiger ist, ebensowenig wie es bewirken kann, daß der, der überhaupt kein Entwender ist, ein Entwender ist und der, der kein Ehebrecher oder Mörder ist, ein Ehebrecher oder Mörder ist; das allerdings kann das Gesetz in der Tat bewirken, daß jemand auf eine Buße ebenso haftet, wie wenn er eine Entwendung, einen Ehebruch oder einen Mord begangen hätte, auch wenn er nichts davon begangen hat." Im Codex Veronensis hat der Ace. c. Inf. nach scribunt kein Prädikat. An mehreren Stellen ist zu beobachten, daß Gaius ein gedanklich zu ergänzendes Verbum wegließ, z. B. III 140 cuius opinionem Cassius probat. Ojilius et eam emptionem et uenditionem, wo ein esse putauit mitzudenken ist, ferner I 78; III 118, 181, 217; vgl. Komm. ad III 140 S. 258. Freilich ist hier intellegi nicht einfach mitzudenken (wie in den eben angefiihrten Beispielen), und das Homoioteleuton lege - intellegi macht ein Schreiberversehen wahrscheinlicher, zum al intellegi im nächsten Satz wieder aufgenommen wird. Die Editoren pflegen daher nach lege ein intellegi einzufiigen (die Ergänzung rüht von GOESCHEN her, der intellegi hinter natura einsetzte; HUSCHKE [21867] stellte es, wohl wegen des Homoioteleutons, hinter lege). Das Gesetz hatte also vorgeschrieben, daß in diesem Fall, nämlich nach erfolgreicher quaestio lance et lido, die Entwendung eine offenkundige sei. Einige Juristen glaubten, begrifflich unterscheiden zu können: es gebe einen gesetzlichen und einen natürlichen Begriff. Der gesetzliche Begriff des manifestum furtum liege dann vor, wenn das Gesetz eine Entwendung, die nicht mehr offenkundig sei, wieder zu einer solchen gemacht habe, nämlich in dem zuletzt besprochenen Fall (de quo loquimur), daß der Entwender weder auf frischer Tat noch während der Spurfolge (§ 184) ergriffen war, so daß die Offenkundigkeit erloschen sei (§ 185) - in diesem Fall befahl ja das Gesetz, daß es eine offenkundige Entwendung sei (§ 194 lex ex ea causa manifestum furtum esse iubet). Der natürliche Begriff sei hingegen dann gegeben, wenn der Entwender auf frischer Tat oder während der Spurfolge ergriffen worden sei (§ 194 de quo superius [= § 184] exposuimus). Zu superius im Sinne von supra vgl. Komm. ad I 39,3 S. 54, ad 175,1 1/12 S. 95. Die Distinktion macht deutlich, daß die quaestio lance et lido auch dann zulässig war, wenn die Spurfolge bereits unterbrochen worden war. Die in der neueren Literatur vertretene Ansicht, die quaestio I. e. l. sei nur während der
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Spurfolge erlaubt gewesen, steht damit in Widerspruch. Natürlich war eine Haussuchung auch während einer nicht unterbrochenen Spurfolge möglich und wohl die einzige Möglichkeit, in das Haus des Verdächtigten einzudringen, nur: die Entwendung war und blieb offenkundig (in natürlichem Sinne), und der Gesetzesbefehl, die Entwendung wieder als offenkundige zu behandeln (in gesetzlichem Sinne), war gegenstandslos. Die durch das Gesetz angeordnete Offenkundigkeit machte nur dann Sinn, wenn die natürliche Offenkundigkeit entfallen war - dann nämlich, wenn die Spurfolge unterbrochen war. Siehe oben ad § 192,10-13 S. 155. Gaius trat der, wie er meinte, künstlichen Unterscheidung des gesetzlichen und natürlichen Begriffes entgegen. Manifestum furtum gebe es nur in natürlichem Sinne; das Gesetz könne nicht die Begriffe, sondern nur die Rechtsfolgen festsetzen. Mit anderen Worten: wenn eine Entwendung nicht mehr offenkundig sei (was nur bedeuten kann, daß die Spurfolge unterbrochen ist), so falle sie unter den Tatbestand der nicht-offenkundigen Entwendung, das Zwölftafelgesetz könne aber die Rechtsfolgen der offenkundigen Entwendung auch an den Tatbestand der nicht-offenkundigen und durch rituelle Haussuchung aufgeklärten Entwendung knüpfen. Die offenkundige Entwendung ist ein von der natürlichen Vernunft vorgegebener Begriff, den die staatliche Rechtsetzung nicht ändern kann; die Rechtsordnung kann nicht im Wege der Fiktion Lebenstatbestände ihrer natürlichen Bedeutung entkleiden. Das Argument hat seinen Ursprung in der bekannten stoischen Lehre, wonach die Begriffe ihre Bezeichnung aus der Natur (q)'6(n~) haben, während Aristoteles der Ansicht gewesen war, die menschliche Gemeinschaft könne durch willkürlichen Akt (SE(n~) den Begriffen neue Bezeichnungen geben, d. h. den vorhandenen Bezeichnungen neue Begriffe unterlegen. Vgl. hierzu Chrysipp. Frgm. log. 146 SVF. 11 ARNIM pag. 44 = Frgm. 643 pag. 75 I HÜLSER 11. Näheres siehe Exkurs IV S. 296 ff.; ferner HUVELIN 11 S. 780 f. Gaius verwandte als Fachschriftsteller besondere Aufmerksamkeit auf präzise Sprache; auf Redeschmuck legte er keinen Wert. Vielmehr erforderte die perspicuitas (Quint. 8,2,22 nobis prima si! uirtus perspicuitas, propria uerba, "unsere erste Tugend sei die Deutlichkeit und der Gebrauch technischer Ausdrücke") eine technische Ausdrucksweise (uerba propria). In III 132 tadelte Gaius einen untechnischen (,gesetzlichen') Gebrauch: unde proprie dicitur. Vor diesem Hintergrund erklärt sich seine Polemik gegen den untechnischen Gebrauch des Wortes manifestus. Zum Bemühen des Gaius um genauen Wortgebrauch vgl. NELSON, Der Stil eines Kurzlehrbuches. Ulpiani Iiber singularis regularum, in: K. ZIMMERMANN (Hrsg.), Der Stilbegriff in den Altertumswissenschaften (Rostock 1993) S. 81 ff. (S. 85 f.: in Gai. Inst. werden die Fachausdrücke auch erklärt, während Ulp. sing. reg. sich eher auf reine BegriffIichkeit beschränkt); zur Fachprosa: K. SALLMANN, ,Fachsprache', DNP. 4 (1998) S. 389 f. ("schlichte, nüchterne, nicht schmucklose Prägnanz'); zu den
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Gai institutiones III 182-209
propria uerba der Fachsprache: MARTIN, Antike Rhetorik (1974) S. 250 f.; zu III 132 vgl. Komm. z. St. S. 213; Exkurs II S. 283. § 195: 14/15 Furtum autem fit non sol um, cum quis intercipiendi causa rem alienam amouet, sed generaliter, cum qui rem alienam inuito domino contrectat: "Und zwar wird eine Entwendung nicht nur dann begangen, wenn jemand in Wegnahmeabsicht eine fremde Sache fortbewegt, sondern ganz allgemein, wenn jemand eine fremde Sache ohne den Willen des Eigentümers anfaßt." Ähnlich Inst. lust. 4,1,6; nur dem Sinn nach vergleichbar: Gai. Epit. 18,3. Seit GOESCHEN wird das qui in cum qui rem nach Inst. lust. 4,1,6 zu quis emendiert. Bei Gaius findet sich indes si qui (statt si quis) an 4 Stellen: II 45, III 127, 222 (2mal). Es gibt genügend Belege auch bei anderen Schriftstellern filr das Durchbrechen der umgangssprachlichen Form qui statt quis nach Konjunktionen, so daß hier kein Anlaß zu einer Emendation besteht; Nachweise im Komm. ad III 127 S. 191 f. Im übrigen haben die Justinianischen Institutionen (4,1,6) diesen Satz des Gaius fast unverändert übernommen; in den Handschriften steht aber contraetat. Die Abschwächung des a in unbetonter Mittelsilbe vor doppelter Konsonanz wurde ganz allgemein durchgefilhrt (*c6nfactus > *c6nfectus > confectus), bevor die altlateinische Anfangsbetonung etwa im 4. Jahrh. v. ehr. durch das Dreisilbengesetz abgelöst wurde; auch in den Komposita von tractare wurde der Lautwandel vollzogen: adtrectare, obtrectare, detrectare. Zuweilen aber ist, wohl aufgrund des analogischen Einflusses des Simplex tractare, der Lautwandel rückgängig gemacht worden, bei retractare fast immer. Daher erweckt contractat Inst. lust. keinen Verdacht, zumal contractare auch andernorts belegt ist (Lucr. rer. nat. 2,853 contractans, vgl. Prisc. inst. 6,17,91 Gramm. Lat. II pag. 275,7 KEIL; Sen. rhet. contr. 1,2,3 contractatae; 7,1,21 contractauit; Suet. Dom. 1,3 contractatis; Fronto pag. 223,3 VAN DEN HOUT = pag. 219,15 NABER contractantes). Zum Lautwandel vgl. LEUMANN, Lat. Laut- und Formenlehre S. 81, 84; zur Analogie gerade bei Komposita von tractare: F. SOMMERIR. PFISTER, Handb. der lat. Laut- und Formenlehre I eI977) S. 90; M. NIEDERMANN, Histor. Formenlehre des Lateinischen (Heidelberg 31953) S. 31; SZANTYR, Synt., Allg. Teil S. 70* (,Rekomposition': commendo > commando). Der Entwendungstatbestand ist nicht nur dann verwirklicht, wenn der Entwender in Zueignungsabsicht eine fremde (= ihm nicht gehörende) Sache fortschafft, sondern bereits dann, wenn er eine fremde Sache gegen den Willen des Eigentümers in Besitz nimmt, ohne daß er sie an einen andern Ort bringt. In objektiver Hinsicht muß es eine fremde bewegliche Sache sein, und der Entwender muß eine contrectatio verwirklichen. Fremd muß die Sache sein, d. h. in eines anderen Eigentum stehen; dies hatte Sabinus verdeutlicht: Ulp. 41 ad Sab., Dig. 47,2,43,4 Qui alienum quid iacens lucri faciendi causa sustulit, furti obstringitur, siue seit, cuius sit, siue
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ignorauit, "wer etwas Fremdes, das da liegt, in gewinnsüchtiger Absicht aufgehoben hat, wird wegen Entwendung haftbar gemacht, ganz gleich, ob er weiß, wem es gehört, oder es nicht weiß". Der Satz ist von Sabinus, vgl. Gell. 11,18,20 Verba sunt Sabini ex libro iuris ciuilis secundo ... (21) Item alio capite: "Qui alienum [tJ acens lucri faeiendi causa sustulit, furti obstringitur, siue seit, cuius sit, siue neseit. " Iacens (Ulp.) gibt wohl den richtigen Wortlaut wieder, tacens, "schweigend" ist unsinnig. Hat aber der Eigentümer das Eigentum aufgegeben, so kann schon begrifflich keine Entwendung vorliegen, weil die Sache niemandem gehört und daher niemand geschädigt wird, Vip. 41 ad Sab., Dig. 47,2,43,5 Quod si dominus id dereliquit, furtum nonfit eius, etiamsi ego furandi animum habuero: nec enim furtum fit, nisi sit cui fiat. Es schadet hierbei nicht, wenn der Entwender glaubt, es sei eine fremde Sache (etiamsi ego furandi animum habuero); im modernen deutschen Recht fuhrt ein solcher Fall zur Strafbarkeit des Diebes, der einen sog. untauglichen Versuch begangen hat, untauglich deshalb, weil eine herrenlose Sache nicht Objekt einer Entwendung sein kann. Zuweilen ist die Wegnahme einer eigenen Sache Entwendung, Gai. III 200, 204, siehe dort; in manchen Fällen ist die Wegnahme einer fremden Sache keine Entwendung, wenn nämlich dem Wegnehmenden ein Besitzrecht zusteht: Vip. 3 disp., Dig. 47,2,56 Cum creditor rem sibi pigneratam aufert, non uidetur contrectare, sed pignori suo incumbere, "wenn der Gläubiger die ihm verpfändete Sache wegträgt, faßt er ersichtlich nicht an, sondern hält sich an sein Pfandrecht"; natUrlieh darf der Pfandgläubiger die ihm verpflindete Sache nur verwahren, nicht aber in Gebrauch nehmen, sonst begeht er eine Entwendung, Gai. 13 ad ed. prov., Dig. 47,2,55 pr. Der früheste Beleg von contrectatio als juristischer Fachausdruck des Entwendungsrechts dürfte Cels. 12 dig., Dig. 13,1,15 sein; vieleicht hat bereits Varro das Wort in diesem Sinne verwendet, wenn Isid. etym. 5,26,18 Furtum est rei alienae clandestina contrectatio auf Varro zurückgeht, vg. VEGH, ,Contrectare, contrectatio', RE. Suppl. XII S. 170 f. m. Lit. Nur bewegliche Sachen waren taugliche Entwendungsobjekte, nicht aber Grundstücke, Gai. 11 51 inprobata sit eorum sententia, qui putauerint fundi furtum fieri posse, "denn die Ansicht derer, die meinten, bei einem Grundstück sei eine Entwendung möglich, wurde mißbilligt"; Ulp. 41 ad Sab., Dig. 47,2,25 pr. Verum est, quod plerique probant, fundi furti agi non posse, "es ist wahr, was die meisten billigen, daß man wegen der Entwendung eines Grundstücks nicht klagen kann". Die mißbilligte Ansicht hatte Sabinus vertreten: Gell. 11,18,13 In quo [seil. libro De furtis] id quoque scriptum est, quod uolgo inopinatum est, non hominum tantum neque rerum mouentium, quae auferri occulte et subripi possunt, sed fundi quoque et aedium fieri furtum ... , "in diesem Buch steht auch ganz überraschenderweise, daß eine Entwendung nicht nur an Menschen und beweglichen Sachen, die weggetragen und wegge-
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nommen werden können, geschehe, sondern auch an einem Grundstück oder an einem Haus ... ". Das contrectare ist begriffsnotwendiges Merkmal der Entwendung: Ulp. 37 ad ed., Dig. 47,2,52,19 Neque uerbo neque scriptura quisfurtumfacit: hoc enim iure utimur, ut furtum sine contrectatione non fiat: quare et opem ferre uel consilium dare tune nocet, cum secuta contrectatio est, "weder durch Wort noch durch Schrift begeht jemand eine Entwendung, denn nach dem von uns angewandten Recht wird eine Entwendung nur dann verwirklicht, wenn eine contrectatio, "Anfassung" vorliegt; daher fuhren Beihilfe und Anstiftung nur dann zur Bestrafung, wenn eine contrectatio folgt", vgl. Paul. 39 ad ed., Dig. 47,2,1,1 sowie Komm. ad III 202 S. 184. Es muß an dieser Stelle daran erinnert werden, daß im römischen Recht contrectare und damitfurtum nicht nur dann verwirklicht war, wenn der Täter dem Berechtigten den Besitz der Sache entzog (die , Wegnahme' des deutschen Rechts), sondern auch dann, wenn der Täter die Sache bereits im Besitz hatte und sie sich jetzt nur noch zueignete (die, Unterschlagung' des deutschen Rechts); siehe oben S. 122 und unten Komm. ad § 196 S. 164 ff. Näheres im Exkurs V S. 301 ff. Schließlich war die Entwendung in objektiver Hinsicht nur dann verwirklicht, wenn die Wegnahme ohne Willen des Eigentümers geschah: inuito domino, Sab. bei Gell. 11,18,20 Qui a/ienam rem adtrectauit, cum id se inuito domino facere iudicare deberet, furti tenetur, "wer eine fremde Sache angefaßt hat, haftet wegen Entwendung, wenn er hätte erkennen müssen, daß er dies gegen den Willen des Eigentümers tat" und Ulp. 42 ad Sab., Dig. 47,2,46,7 is ergo solus fur est, qui adtrectauit, quod inuito domino se facere sciuit, "nur derjenige ist also ein Entwender, der angefaßt hat, was er, wie er wußte, ohne den Willen des Eigentümers tat". Wollte aber der Eigentümer, daß der Entwender die Sache wegnahm (und sei es auch nur, um ihn zu überfuhren), so lag keine Entwendung vor, Gai. III 198, vgl. Inst. lust. 4,1,8; eod. lust. 6,2,20 pr. (lust. 530); hierzu siehe Komm. ad III 198 S. 171 f. Wenn der Eigentümer die Wegnahme nicht verhindert, liegt grundsätzlich keine Entwendung vor, es sei denn, er hätte die Wegnahme ohnehin nicht verhindern können: Lab. 2 pith. a Paul. epit., Dig. 47,2,92 Si quis, cum sciret quid sibi subripi, non prohibuit, non potest furti agere. Paulus: immo contra: nam si quis seit sibi rapi et, quia non potest prohibere, quieuit, furti agere potest, "wenn jemand wußte, daß ihm etwas entwendet wurde, und es nicht verhinderte, kann er nicht wegen Entwendung klagen; Paulus: Es verhält sich sogar umgekehrt, denn wenn jemand weiß, daß ihm geraubt wird, und geschwiegen hat, weil er es nicht verhindern kann, kann er die Entwendungsklage erheben" (natürlich auch die Raubklage; Gai. III 209 = Inst. lust. 4,2 pr.). Mangelnder Wille des Eigentümers liegt schon dann vor, wenn der Eigentümer gar nichts von der Wegnahme weiß und daher gar keinen Willen gebildet hat, Ulp. 42 ad Sab., Dig. 47,2,48,3 uetare autem dominum accipimus etiam eum, qui ignorat, hoc est eum, qui non consensit, "und
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zwar nehmen wir auch von einem solchen Eigentümer, der nichts davon weiß, an, daß er (die Wegnahme) verbietet, also von einem solchen, der nicht zugestimmt hat" (ähnlich U1p. 8 ad ed., Dig. 3,3,8,1); im Regelfall geschieht die Entwendung ja heimlich. Auch die Täuschung des Eigentümers darilber, daß es seine Sache ist, über die er verfUgt, ist Entwendung, Pomp. 19 ad Sab., Dig. 47,2,44,1 Si rem meam quasi tuam tibi tradidero seienti meam esse, magis est furtum tefacere, si lucrandi animo idfaceris, "wenn ich dir meine Sache, als ob sie dir gehören würde, übergeben habe und du gewußt hast, daß sie mir gehört, so muß man eher annehmen, daß du eine Entwendung begehst, wenn du dies in gewinnsüchtiger Absicht getan hast". Auch der abredewidrige Gebrauch einer gemieteten oder geliehenen Sache geschah ohne Willen des Eigentümers, III 196-197 = Inst. lust. 4,1,6-7. Zum subjektiven Tatbestand der Entwendung gehören zwei Elemente: der Täter muß wissen, daß er eine fremde Sache ohne Willen des Eigentümers an sich nimmt, und er muß die Absicht haben, Gewinn zu erzielen; Paul. sent. 2,31,1 (= Coll. 7,5,2) Fur est, qui dolo malo rem alienam contrectat. Es kommt nicht darauf an, ob er weiß, wem die Sache gehört; das Wissen um die Fremdheit genügt, Sabinus bei Gell. 11,18,21 siue seit, cuius sit, siue nescit = Dig. 47,2,43,4 (oben S. 160 f.). Der Entwender muß erkennen können, daß er gegen den Willen des Eigentümers handelt, Sab. bei Gell. 11,18,20 cum id se inuito domino facere iudicare deberet); U1p. 42 ad Sab., Dig. 47,2,46,7 (oben S. 162); Pomp. 38 ad Qu. Muc., Dig. 47,2,77 pr. si existimauit se non inuito domino id facere, furti non tenetur, "wenn er glaubte, nicht gegen den Willen des Eigentümers zu handeln, haftet er nicht wegen Entwendung". Vgl. III 197. Zur Entwendung gehört schließlich die gewinnsüchtige Absicht: Paul. 39 ad ed., Dig. 47,2,1,3 (= Inst. lust. 4,1,1) Furtum est contrectatio reifraudulosa lucri faciendi gratia, "Entwendung ist das betrügerische Anfassen einer Sache in gewinnsüchtiger Absicht", so schon Sab. bei Gell. 11,18,21 lucrifaciendi causa, vgl. Paul. 39 ad ed., Dig. 47,2,13; U1p. 1 ad ed. cur. aed., Dig. 47,2,66; Pomp. 19 ad Sab., Dig. 47,2,44,1 lucrandi animo. Gai. III 195 sprach von intercipiendi causa (ebenso Paul. 39 ad ed., Dig. 47,2,1,2); bei Gai. 13 ad ed. prov., Dig. 47,2,55,1 heißt es lucri gratia - in dieser Stelle machte Gaius darauf aufmerksam, daß es genüge, wenn der Entwender beabsichtige, jemandem anderen den Gewinn zukommen zu lassen (unde et is furti tenetur, qui ideo rem amouet, ut eam alii donet). Cels. 12 dig., Dig. 47,2,68 pr. wählte die Formulierung interuertendi causa, "in Unterschlagungsabsicht". Fehlt die Entwendungsabsicht, so kommt die actio furti nicht in Frage: Paul. 9 ad Sab., Dig. 47,2,22 pr. Si quid fur fregerit aut ruperit, quod non etiam furandi causa contrectauerit, eius nomine cum eo furti agere non potest, "wenn der Entwender etwas zerbrochen oder beschädigt hat, was er nicht zum Zwecke der Entwendung angefaßt hat, so kann (der Geschädigte) nicht aus diesem Grunde gegen
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ihn wegen Entwendung klagen." Man kann sich hier den Fall vorstellen, daß bei der Entwendung durch Einbruch etwas beschädigt wurde; natürlich haftet der Einbrecher aufgrund der Lex Aquilia. Weitere Ausdrücke rur den Vorsatz der Wegnahme (ohne Betonung der gewinnsüchtigen Absicht) unten im Komm. ad III 197 S. 168. Zu den Tatbestandsmerkmalen desfurtum vgl. HITZIG, ,Furtum', RE. VII (1910) S. 384-388; HUVELIN II S. 780 ff. § 196: 16 Itaque si quis re, quae apud eum deposita sit, utatur, furtum committit: "Wenn daher jemand eine Sache, die bei ihm in Verwahrung gegeben worden ist, gebraucht, so begeht er eine Entwendung." Ähnlich Inst. lust. 4,1,6. Daß der Verwahrer eine Entwendung begehe, wenn er ohne Erlaubnis des Hinterlegers Gebrauch von der Sache mache, ist schon als Ansicht des Q. Mucius Scaevola pontifex (cos. 95 v. Chr.) bezeugt: Gell. 6(7),15,2 1taque Q.
Scaeuola in librorum, quos de iure ciuili composuit, XVI. uerba haec posuit: ,Quod cui seruandum datum est, si id usus est siue quod utendum accepit, ad aliam rem atque accepit, usus est, furti se obligauit', "Deshalb formulierte Q.
Scaevola im 16. der Bücher über das Zivilrecht folgendermaßen : ,Wenn jemand das, was ihm zur Aufbewahrung gegeben worden ist, gebraucht hat oder wenn er das, was er zum Gebrauch empfangen hat und fUr einen anderen Zweck als rür den, zu dem er empfangen hat, gebraucht hat, hat er sich wegen Entwendung verbindlich gemacht. '" Diese Ansicht des Q. Mucius wurde von Pomp. 38 ad Q. Muc., Dig. 13,1,16; 47,2,77 pr. referiert und von Cels. 12 dig., Dig. 47,2,68 pr. sowie von Paul. 54 ad ed., Dig. 41,2,3,18 bestätigt; natürlich lag keine Entwendung vor, wenn der Hinterleger den Gebrauch gestattet hatte, Ulp. 26 ad ed., Dig. 12,1,9,9 (hierzu Exkurs V S. 303 f.). In der älteren Sprache regierte uti regelmäßig den Akkusativ, wenn das Objekt ein neutrales Pronomen war (id usus), vgl. SZANTYR, Synt. S. 123. 16-19 et si quis utendam rem acceperit, earnque in aHum usurn transtulerit, furti obligatur, ueluti si quis argentum utendum acceperit, quasi amicos ad cenarn inuitaturus rogauerit, et id peregre secum tulerit: "und wenn jemand eine Sache zum Gebrauch empfangen und diese Sache in einen anderen (nicht verabredeten) Gebrauch überfUhrt hat, haftet er wegen Entwendung, beispielsweise wenn jemand Silbergeschirr zum Gebrauch empfangen und unter dem Vorwand erbeten hat, als ob er Freunde zum Essen einladen wollte, aber dieses Silber auf eine Überlandreise mitgenommen hat". Ähnlich Inst. lust. 4,1,6; verkürzt Gai. Epit. 18,4. Rogauerit wird seit KRUEGER (1867; zuletzt MANTHE 2004) als Glosse angesehen, welche vom Abschreiber unrichtig in den Text eingesetzt worden ist; die Parallelstelle Gai. 2 aur. (= rer. cott.), Dig. 44,7,1,4 hat (wie auch Inst. lust. 4,1,6) kein rogauerit: sed et in maioribus casibus, si cu/pa eius interueniat,
tenetur, ueluti si quasi amicos ad cenam inuitaturus argentum, quod in eam rem utendum acceperit, peregre proficiseens secum portare uoluerit et id aut
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naufragio aut praedonum hostiumue ineursu amiserit, "aber er haftet auch in Fällen höherer Gewalt, wenn sie aufgrund seines Verschuldens eingetreten ist, beispielsweise, wenn er, als ob er Freunde zum Essen einladen wollte, das Silbergeschirr, das er gewissermaßen zu diesem Gebrauchszweck empfangen hat, beim Aufbruch zu einer Überlandreise mit sich nehmen wollte und es durch einen Schiffbruch oder durch einen Überfall von Räubern oder Feinden verloren hat". Rogauerit, "es zum unentgeltlichen Gebrauch erbeten hat" macht hier zwar Sinn, erklärt aber eigentlich nichts. Daher ist es weniger vorstellbar, daß ein Glossator dieses Wort eingefUgt haben sollte, währendes dem Gajanischen Text nichts schadet. Wir möchten rogauerit daher im Text stehen lassen. Quasi c. Part. Fut. wurde als Gräzismus bezeichnet; in der Tat könnte man quasi amicos ad eenam inuitaturus mit roc; cp1.AOUC; E1t\. OEl1tVOV lC filii) verlangt und Hermaeus als Vatersnamen sehr ungewöhnlich wäre (da Gaius fur den Gehilfen/Anstifter den Namen Dio verwendet, wäre doch Theo als Vatersnamen zu erwarten), hingegen als ironische Bezeichnung gerade eines Diebes guten Sinn macht.
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Ganz anders geht HACKL vor. Die von ihm vorgenommene Autopsie des Codex Veronensis ergab, daß an Stelle von STUDEMUNDS d'lhoNl.SER"mE'l auch d'lhoNl.SCRomE'l (oder d'lhoNUcRomE 'l) gelesen werden kann; GOESCHEN hatte CR" gelesen, BLUHME und STUDEMUND ER"; beides ist möglich, und der Punkt hinter Cl~ (CR, EIl) könnte das Abkürzungszeichen rur ciuis Romanus bzw. ciue Romano sein. Die Buchstaben mE 'l (zwischen E und 'l ist nach HACKL ein Zwischenraum) deutet HACKL als Me(ui}i, "des Meuius". HACKL gewinnt daher als Klagformel Si paret consilioue Dionis ciue Romano Meuii filio furtum factum esse eqs., "wenn es sich erweist, daß aufgrund Anstiftung des Dion durch einen römischen Bürger dem Sohn des Meuius eine Entwendung geschehen ist". Die Deutung ist paläographisch nachvollziehbar, zumal HACKL den Punkt hinter cR (cR?) einleuchtend als Abkürzungszeichen erklärt. Daß der Geschädigte (und Kläger) als Sohn eines Meuius bezeichnet wird, könnte seinen Grund darin haben, daß in einem solchen Falle auch ein gewaltunterworfener Haussohn ein eigenes Klagerecht ohne Mitwirkung seines paterfamilias hatte, vgl. VIp. 23 ad ed., Dig. 5,1,18,1. NIEBUHR (bei HEFFTER) hatte übrigens erwogen, in sERomu Fdw einen Servius filius zu erkennen, wobei er an den Sohn des Sero Sulpicius Rufus bei Festus sv. ,municeps' pag. 126,19 L. dachte, der über das eigene Bürgerrecht der Einwohner von Cumae, Acerrae und Atella berichtet hatte; dieser wird in den Briefen Ciceros häufig erwähnt, er scheint keine eigenen juristischen Schriften hinterlassen zu haben. NIEBUHRS Vermutung wurde von LACHMANN (1842) wohl zu Recht zurückgewiesen. Zu Servius filius vgl. B. G. NIEBUHR, Römische Geschichte, Hrsg. M. NIEBUHR (Berlin 1853) S. 385 N. 112 (= 11 e1830] S. 66 N. 112); J. FüNDLING, sv. ,Servius Nr. I 22', DNP. 11 (2001) S. 1102. MOMMSEN, Staatsrecht III e1886) S. 235 N. 1 hatte in der Festusstelle nach der ihm vorliegenden Ausgabe C. O. MUELLERs (pag. 142b12, 1839), wo Mueller Serui/ius emendierte, Seruius (ohne filius) emendiert (ihm folgten BREMER, lur. Ant. I [1896] S.240, Servius Frgm.4; SECKELIKUEBLER, Iur. Ant. I [1908] S.36, Servo Frgm. 18), was aber durch die Ausgabe LINDSAYS (1913) überholt ist: pag. 126,19 Ser(uius) filius. Doch löst die Konjektur HACKLs das Problem nicht vollständig. In Gai. IV 37 geht es darum, daß eine Klagformel des Zivilrechts nur dann gegen einen Nichtrömer (Dion) verwendet werden konnte, wenn in der Formel das römische Bürgerrecht fingiert wurde. Zu erwarten ist also eine Formel der Art "wenn es sich erweist, daß dem Kläger durch Beihilfe oder aufgrund Anstiftung eines Nichtbürgers eine Entwendung einer goldenen Schale geschehen ist, aufgrund deren der Nichtbürger, wenn er römischer Bürger wäre, haften wUrde". Daß der Haupttäter römischer Bürger war (HACKL: ciue Romano) und daß ein Haussohn (HACKL: Meuii filio) bestohlen worden war, ist rur das, was Gaius in IV 37 mitteilen will, überflüssig. HACKLs Textherstellung findet sich bei K. HACKL, Rez. zu R. LA ROSA, La repressione deI furtum in eta arcaica, in: ZS. Sav. rom. 110 (1993) S. 754 ff., 759 f. N. 12; ausführlicher bei dems., Gaius 4,37 und die
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Formeln der aetio furti, in: M. J. SCHERMAIERIZ. VEGH (Hrsg.), Ars boni et aequi, Festschrift filr Wolfgang Waldstein zum 65. Geburtstag (Stuttgart 1993) S. 127 ff., 134, vgl. auch KASERIHACKL, Proz. 331 N. 31. Die einfachste Emendation ist die von BOECKING; er blieb bei LACHMANNS Hermaei und emendierte Fl.h,o zu In'tl.O Titio, ohne weitere Ergänzungen (wie KRUEGER: vor eonsilioue; fi!i[oJ ÖE 'tO\) avatpOUf.lEVOU ÖOUAOU öEcmo't'!1 E~oucsia öiöo'tat Kat 'to priuaton KtVEtV ÖtKaCS'tTJPWv, CPllf.lt 'tOV Aquilion, Kat 'tTJV 1tpoCS"(EVOf.lEVllV au 'te!> {tEpa1tEUEW Sllf.liav, KWTJCSet ÖE 1tPOC; 'tOU'tOtC; 'to publicon €"(KAllf.la, 'tTJV Cor-
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nelion de sicariis, OUOE 'Yap TJ priuata KtyT]Seioa Cx'Yro'YTJ 'tT]V publican OßEV-
VUOt v: "dem Herrn des getöteten Sklaven wird die Möglichkeit gegeben, auch ein Privatverfahren, ich meine das Verfahren nach dem Aquilischen Gesetze, anzustrengen und sich den ihm zugerugten Schaden ersetzen zu lassen; er kann aber außerdem einen öffentlichen Prozeß (iudicium publicum) in Gang setzen, das ,Cornelische Verfahren wegen Meuchelmörder'; denn die Tatsache, daß ein Privatverfahren eingeleitet wurde, schließt die Anhängigmachung eines öffentlichen Verfahrens (Strafverfahrens) nicht aus". Im Gajanischen Text ist, wie erwähnt, nicht von einer Koppelung, sondern von einer Wahl die Rede: Iiberum arbitrium im Vordersatz weist auf ein "entweder - oder" hin. Der von HAUSMANINGER (a. a. O. S. 42 N. 164) gemachte Vorschlag, hier uel - uel als et - et zu deuten, muß denn auch abgelehnt werden. Wie bekannt, finden sich bei Autoren des 1. Jahrhs. v. Chr. und denen der beiden ersten Jahrhunderten n. Chr. in der Tat in gewissen Kontexten Stellen, an denen die disjunktive Bedeutung von uel (gegebenenfalls uel - uel) infolge starker Abblassung sich der einer kopulativen Konjunktion nähert. Es handelt sich aber in solchen Fällen um Belege, in denen ausschließlich von kurzen Aneinanderreihungen die Rede ist. Beispielshalber sei eine Liviusstelle zitiert (vgl. dazu auch KÜHNERISTEGMANN II S. 107 f.): 1,1,6 ff. tradunt ... Latinum ...
(§ 8) et nobilitatem admiratum gentis uirique et animum uel bello uel paci paratum ... fidem futurae amicitiae sanxisse: "die Autoren berichten, Latinus habe .,. (§ 8) aus Bewunderung rur die edle Gesinnung des (trojanischen) Volkes und des Anruhrers (Aeneas) und rur ihren zu Krieg oder Frieden entschlossenen Mut ... von da an Freundschaft versprochen". Anstelle von bello uel paci hätte der Autor auch bello et paci schreiben können: "zu Krieg und Frieden entschlossener Mut". Erst in der Spätantike, als uel in der Alltagssprache außer
Gebrauch gekommen war, wurde die Konjunktion häufig, vor allem von vulgären Autoren, unterschiedslos für et verwendet. Vgl. dazu LÖFSTEDT, Kommentar S. 495 ff.; SVENNUNG, Unters. S. 495 ff.; SZANTYR, Synt. S. 500 ff. Zu Gaius III 213 vgl. außer HAUSMANINGER, Lex Aquilia S. 41 f. u. 126 f. auch D. LIEBS, Die Klagenkonkurrenz (1972) S. 269 (der Autor vermutet aber, die Justinianer hätten rur Inst. lust. 4,3,11 nicht Gaius inst. III 213 als Vorlage benutzt, sondern Res cott.; letztere hätten et - et enthalten, nicht uel - uel: wohlbemerkt, eine tentative Vermutung). § 214: 3 ,quanti in eo anno plurimi ea res fuerit'. Der Satz enthält eine Wiederholung der oben III 210 bereits zitierten Regelung rur die Berechnung des Schadenersatzes. Es findet lediglich eine kleine Wortumstellung statt (in eo anno plurimi ea res statt ea res in eo anno plurimi); zu beachten ist ferner die richtige Verwendung des Futurum exactumfuerit (s. dazu ad III 210). 3-5 ilIud efficit, si clodum puta aut luscum seruum occiderit, qui in eo anno integer fuerit, aestimatio fiat: "dies bedeutet, daß, wenn er (der Be-
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klagte) zum Beispiel einen lahmen oder einäugigen Sklaven getötet hat, der im betreffenden Jahre noch unversehrt gewesen ist, sich die Schätzung des Schadens nicht auf den Wert gründet, den der Sklave etwa zum Zeitpunkt des Todes hat, sondern auf den Höchstwert, den er sonst in jenem Jahre gehabt hat". Die Lücke in obigem Satz ist anscheinend durch Homoeoteleuton verursacht worden, d. h. durch zweimaligesfuerit. Zwar liest V integer fuit, es dürfte hier aber derselbe Fehler vorliegen wie oben III 210 (plurimifuerit, s. dazu S. 209). Das vorhergehende occiderit legt die Vermutung nahe, daß auch an dieser Stelle ein Futurum exactum verwendet worden war. Die Ergänzung der Lücke beruht teils auf der Parallele in Inst. lust. 4,3,9, teils auf einem von GOESCHEN gemachten Vorschlag. Die justinianische Parallele hat den folgenden Wortlaut: illa sententia exprimitur, ut si quis hominem tuum, qui hodie claudus aut luscus aut mancus erit, occiderit, qui in eo anno integer aut pretiosus fuerit, non tanti teneatur, quanti is hodie erit, sed quanti in eo anno plurimi fuerit: "durch diesen Satz wird zum Ausdruck gebracht, daß, wenn jemand deinen Sklaven getötet hat, der zur Zeit des Mordes etwa lahm oder einäugig oder verkrOppelt ist, vorher aber in jenem Jahre unversehrt und wertvoll war, der Täter dann nicht fUr den Wert haftet, den der Sklave möglicherweise zur Zeit des Mordes hat, sondern fUr den Höchstwert, den er sonst in jenem Jahre gehabt hat". Der Vorschlag, in die Ergänzung mortis tempore aufzunehmen, stammt von GOESCHEN. Der Ausdruck mortis tempore begegnet bei Gaius auch I 146; 11 196 u. 211; tempus bedeutet hier "Zeitpunkt", nicht etwa "Zeitraum" oder gar "Periode". Wie sich versteht, läßt sich das justinianische hodie (das mit dem vorhergehenden hodie korrespondiert) fUr die Gaiusstelle kaum verwenden. Das justinianische erit (quanti is hodie erit) hingegen eignet sich schon eher fUr Einschaltung in die LOcke: wenn richtig, handelt es sich um ein sogen. potentiales Futurum: erit etwa = "ist möglicherweise", "dürfte sein". Vgl. dazu SZANTYR, Synt. S. 311, wo u. a. aus Rhet. Her. 1,8,11 folgendes Beispiel zitiert wird: de exordio satis erit dictum, "Ober die Einleitung dürfte genug gesagt sein". 6 quo fit, ut quis plus interdum sequatur, quam ei damnum datum est: "was dazu fUhrt, daß jemand bisweilen mehr erhält, als ihm an Schaden zuge fUgt wurde". Die Koppelung der Schadensberechnung an den Höchstwert des betreffenden Jahres dürfte dadurch eingegeben sein, daß es fUr den Eigentümer oft schwierig war, den genauen Wert des Sklaven oder des Tieres zum Zeitpunkt der Tötung unumstößlich nachzuweisen. Vgl. dazu ZIMMERMANN, Law ofObligations S. 962. § 215: 7/8 Capite secundo adstipulatorem, qui pecuniam in fraudem stipulatoris acceptam fecerit, quanti ea res est, tanti actio constituitur: "Im zweiten Kapitel (der Lex Aquilia) ist gegen einen Adstipulator (Nebengläubiger), der zum Nachteil des Hauptgläubigers eine Forderung mittels
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Akzeptilatio erlassen hat, eine Klage auf die volle Summe vorgesehen, um die es sich handelt". Die Überschlagung der Präposition aduersus, Sigel Adli (STUDEM UND, Apogr. S. 256), wurde durch das Homoiokatarkton des nachfolgenden Wortes adstipulatorem verursacht. Zum adstipulator (Nebengläubiger: Person, die sich die vom Hauptgläubiger stipulierte Forderung ebenfalls vom Schuldner versprechen läßt) vg!. Komm. zu III 110-114 S. 147 ff.; zur acceptilatio (förmliche Quittierung einer Stipulationsforderung) Komm. zu III 169-172 S. 389 ff. Zu Gaius' Zeit, und wohl schon lange vorher, wurde die adstipulatio in der Praxis nur noch in Fällen verwendet, in denen der Stipulator (Hauptgläubiger) mittels Stipulation eine Forderung begründen wollte, die auch nach seinem Tode, etwa zugunsten der Erben, noch eingetrieben werden konnte; der Adstipulator nahm dann die Eintreibung der Forderung auf sich. Der Ausdruck acceptilatio (dazu die Wendungen alicui acceptum ferre, acceptumfacere) bezeichnete, wenn in allgemeinem Sinne gebraucht, die ,förmliche Bestätigung des Empfangs einer durch Stipulation geschuldeten Leistung' . Häufig jedoch, so auch an dieser Stelle, wurde der Ausdruck filr scheinbare Zahlungen verwendet, d. h. fur Fälle, in denen der Gläubiger (bzw. sein Vertreter) auf die Leistung verzichtete. Wenn der Adstipulator gegen die Absichten des Stipulators dem Schuldner eine Forderung erließ, machte er sich, wie sich versteht, des Betrugs schuldig. Aus dem Text geht ferner hervor, daß das Institut der acceptilatio bereits zur Zeit der Verabschiedung der Lex Aquilia (287 v. Chr.) existiert hatte. Die acceptilatio, die förmlichen Charakter hatte, diente offenbar schon damals zur Bestätigung einer Schuldtilgung, bei der keine effektive Zahlung stattgefunden hatte. Die gängige Art der Schuldtilgung dürfte seit alters die einfache solutio, formlose Zahlung des Geschuldeten, gewesen sein (s. Komm. zu III 168 S. 386 ff.). Der Terminus acceptilatio läßt sich trotz seines Alters erst spät zum ersten Male belegen, u. zw. bei lavolenus Priscus (Ende des 1. Jahrhs. n. Chr., 90 n. Chr. Statthalter von Germania Superior): lavo!., 1 ex Plautio, Dig. 12,4,10 und 3 ex Plautio, Dig. 45,2,2 (s. Komm. z. III 169 S. 392; Prä- und Co gnomen des von lavolen zitierten Plautius sind unbekannt, als Jurist war er um die Mitte des 1. Jahrhs. n. Chr. tätig). Zu lavolenus und Plautius vgl. T. GIARO, ,Iavolenus Nr. 2', DNP. 5 (1998) S. 876; dens., ,Plautus Nr. II 1', DNP. 9 (2000) S. 1115 f. § 216: 9 Qua et ipsa parte legis damni no mine actionem introduci manifestum est: "Es steht fest, daß in diesem Abschnitt (Kapitel II) des Gesetzes ebenfalls eine Klage wegen Zufilgung von Schaden bewilligt wird". Die filr manifestum est in V verwendete Abkürzung ist inkorrekt: m' FE statt iiiFE (vg!. STUDEMUND, Apogr. S. 278). Für et ipsa = "ebenfalls" s. Komm. zu III 173 S.405.
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Durch Verwendung der Worte manifestum est will Gaius, so scheint es, zum Ausdruck bringen, daß er selber den authentischen Text von Kapitel 11 der Lex Aquilia nie zu Gesicht bekommen hat. Sein Wissen um die Tatsache, daß in jenem Kapitel dem Geschädigten die Einleitung einer actio e lege Aquilia bewilligt worden war, verdankte er lediglich einer indirekten Quelle, etwa einem juristischen Kommentar. Es war aber seiner Ansicht nach eine zuverlässige Quelle: die Bewilligung der actio "stehe fest". 9110 sed id eaueri non fuit neeessarium, eum actio mandati ad eam rem suffieeret: "es wäre aber nicht nötig gewesen, jene Klagemöglichkeit (in das zweite Kapitel) einzuschalten, da die Klage wegen Auftrags rur diesen Zweck genügt hätte". Da der Adstipulator die Nebenstipulation rur gewöhnlich nur auf Bitten des Hauptstipulators vornahm, kann vom juristischen Standpunkt aus betrachtet seine Handlung auch als Folgeleistung eines Auftrags (mandatum) gedeutet werden. Bei unkorrekter oder gar widerrechtlicher Erfilllung des Auftrages stand dem Auftraggeber eine actio mandati zu Gebote. Letztere trat somit in dem hier zur Diskussion stehenden Falle in Konkurrenz mit der actio damni e lege Aquilia und gewann eines Tages sogar die Oberhand. Die actio mandati war offenbar flexibler als die actio damni e lege Aquilia und bot deshalb mehr Anwendungsmöglichkeiten. Die Bemerkung des Gaius, der Gesetzgeber (der Volkstribun Aquilius) hätte sich beim Redigieren des Textes rur Kapitel 11 die Einschaltung der actio damni ersparen können, dürfte implizite eine Aussage über das Alter der obligatio mandati und der damit verknüpften actio mandati enthalten. Gaius war offenbar der Ansicht, daß schon zur Zeit der Verabschiedung der Lex Aquilia (287 v. Chr.) dem mandatum eine rechtliche Verpflichtung innegewohnt habe und daß Nichterrullung jener Verpflichtung schon damals klagbar gewesen sei. An der Richtigkeit der Gajanischen Vorstellung vom Alter des Mandats als rechtliches Institut dürfte kaum zu zweifeln sein. 10111 nisi quod ea lege aduersus infitiantem in duplum agitur: "es sei denn, daß nach jenem (Aquilischen) Gesetz gegen denjenigen, der leugnet, eine Klage auf das Doppelte angestrengt wird". Wenn der Kläger gegen jemanden, der die Tat leugnete, energisch vorgehen und seiner Klage in nachdrücklicher Weise pönalen Charakter verleihen wollte, konnte er die actio mandati weniger gut gebrauchen, da letztere keine Litiskreszenz kannte. In solchen Fällen war es vorteilhafter, zur actio damni e lege Aquilia seine Zuflucht zu nehmen: er konnte dann auf den doppelten Wert des Schadens klagen. Die Verdoppelung der Klagesumme im Falle des Leugnens war übrigens rur sämtliche actiones e lege Aquilia möglich, auch rur solche, die in den Kapiteln I und III bewilligt wurden. Vgl. z. B. Gaius IV 9 rem ... et poenam persequimur uelut ex his causis. ex quibus aduersus infitiantem in duplum agimus; quod accidit per actionem iudicati. depensi. damni iniuriae legis Aquiliae eqs.: "wir fordern den Sachwert und eine Strafsumme etwa in solchen Prozessen, in denen
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wir gegen jemanden, der leugnet, auf das Doppelte klagen; dies geschieht bei Klagen wegen einer Judikatsschuld, wegen Aufwandsentschädigung, wegen schuldhafter Schadenszurugung nach dem Aquilischen Gesetz usw."; ähnlich IV 171. Die Frage, ob Gaius sich im Falle einer actio e lege Aquilia in duplum die Sache so vorgestellt hat, daß etwa die erste Hälfte der Doppelforderung "sachverfolgend", die zweite hingegen "p5nal" gewesen sei, hat in der neueren Forschung zu allerhand Diskussionen Anlaß gegeben. Obige rur IV 9 vermutete Interpretation läßt sich nämlich schwer mit der Darstellung in Einklang bringen, die IV 112 gegeben wird. Denn an letzterer Stelle wird anläßlich eines Hinweises auf die aktive Unvererblichkeit gewisser actiones (der Prozeß geht nicht auf den Erben des Beklagten über) die Bemerkung hinzugesetzt, daß dies besonders rur gewisse actiones poenales gelte, etwa rur Klagen wegen damni iniuria. Daraus läßt sich folgern, daß Gaius nicht nur der actio in duplum, sondern ebenfalls der actio in simplum e lege Aquilia de damno pönalen Charakter zuerkannt hat. Es offenbart sich somit eine gewisse Unstimmigkeit zwischen IV 9 und 112: an ersterer Stelle wird der actio e lege Aquilia ein Doppelcharakter, ein sachfordernder und ein pönaler, zugesprochen; an der zweiten Stelle ist lediglich von einem einzelnen Merkmal, einem pönalen, die Rede. Mehrere Forscher haben versucht, rur die Unstimmigkeit eine Erklärung zu finden; SCHULZ, Class. Roman Law (Oxford 1951) S. 589 hielt inst. IV 9 sogar für eine Interpolation; vgl. dazu die Lit. bei ZIMMERMANN, Law of Obligations S. 918 ff. und 969 ff. Die Lösung des Problems ist möglicherweise die, daß Gaius die actio in simplum, ebenso wie die actio in duplum, rur eine doppelspurige ("gemischte") Klage, sowohl sachverfolgende wie pönale Klage, gehalten hat; daß er aber inst. IV 112, weil der Kontext dazu keinen Anlaß bot, es schlechthin unterlassen hat, den hinzukommenden sachverfolgenden Charakter noch besonders zu erwähnen. Es sei aber festgestellt, daß die in IV 9 sich findende Textfassung dem Mißverständnis Vorschub leistet: sie erweckt den Eindruck, als ob lediglich bei actiones in duplum von einem hinzugerugten pönalen Element gesprochen werden könne. Die Bestimmung der Lex Aquilia, die Klagesumme könne im Falle des Leugnens verdoppelt werden, hat bis in die justinianische Zeit ihre Gültigkeit behalten: vgl. Cod. lust. 3,35,5 (Konstitution des Jahres 293 n. Chr.). § 217: 12 Capite tertio de omni cetero damno cauetur: "Im dritten Kapitel (der Lex Aquilia) stehen Bestimmungen über sämtliche sonstige Schädigung". Ulpian 18 ad ed., Dig. 9,2,27,5 gibt ebenfalls eine Übersicht über das 3. Kapitel der Lex Aquilia; der Ulpianische Wortlaut ist streckenweise archaischer als der Gajanische: anscheinend benutzte Ulpian eine ziemlich alte Quelle - eine Quelle übrigens, die einige Passagen aus dem Aquilischen Gesetz noch in authentischer Textform zitierte. Es ist gewiß nicht auszuschließen, daß Gaius rur die Inhaltsbeschreibung des 3. Kapitels dieselbe alte Quelle wie Ulpian
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benutzt hat; wenn dem so ist, hat er den Wortlaut an mehreren Stellen modernisiert. Für einen Vergleich des Gaiustextes mit dem des Ulpian s. oben S. 208 f. Die Bestimmungen des 3. Kapitels stellen gewissermaßen eine Ergänzung derjenigen des ersten Kapitels dar; anschließend an die Schäden, die durch Tötung von Sklaven und Herdentieren entstehen, befassen sie sich mit "sämtlicher sonstigen Schädigung". Die Tatsache, daß Kapitel I und III durch ein völlig anders orientiertes Kapitel (11) voneinander getrennt werden, ist ohne Zweifel auffällig. Die einfachste Erklärung dürfte die sein, daß Kapitel I und 11 die ursprünglichen sind, III hingegen einen späteren Nachtrag darstellt; vgl. dazu ZIMMERMANN, Law ofObligations S. 958 f. 12-16 itaque si quis seruum uel eam quadrupedem, quae pecudum numero non est, uelut canem, aut feram bestiam, uelut ursum, leonem, uulnerauerit uel occiderit, hoc capite actio constituitur: "wenn somit jemand einen Sklaven oder einen Vierrußler, der zur Kategorie der Herdentiere gehört, etwa einen Hund, oder ein wildes Tier, etwa einen Bären oder Löwen, verwundet oder getötet hat, so wird in diesem (dritten) Kapitel darur eine Klage zur Verrugung gestellt". Die Ergänzung der durch Homoioteleuton (numero) entstandenen Lücke verdanken wir der Parallele in Inst. lust. 4,3,13 . In Kapitel I war lediglich vom Töten (oeeidere) von Sklaven und Herdentiere die Rede gewesen, das Verwunden (uulnerare) wurde nicht erwähnt. Daher die diesbezügliche Ergänzung in Kapitel III. Außerdem befaßt der Gesetzgeber sich in diesem Kapitel mit Tieren, die zwar nicht zu den Herdentieren zählen, aber doch in jemandes Eigentum stehen können (Hunde, Bären, Löwen usw.). Auch das Verwunden oder gar Töten dieser Tiere wird klagbar gemacht. 16-17 in ceteris quoque animalibus, item in omnibus rebus, quae anima carent, damnum iniuria datum hac parte uindicatur: "auch bezüglich sonstiger Tiere und ebenfalls in betreff aller Objekte, die unbelebt sind, wird jedwede widerrechtlich zugerugte Schädigung in diesem (dritten) Abschnitt geahndet". Für die Schädigung unbelebter Objekte gibt Ulpian 18 ad ed., Dig, 9,2,27,7 zwei Beispiele: item si arbustum meum uel uillam meam incenderis, Aquiliae actionem habebo: "ebenfalls steht mir eine Klage nach dem Aquilischen Gesetz zur Verrugung, wenn du meine Baumpflanzung oder mein Landhaus in Brand gesteckt hast". Durch die Verwendung des Wortes iniuria hebt Gaius noch einmal deutlich hervor, daß es sich hier lediglich um widerrechtlich, somit absichtlich zugerugte Schädigung handelt, nicht etwa um einen unvorhergesehenen Unglilcksfall. Ulpian befaßt sich im Anschluß an obiges Zitat noch mit Fragen, die kasuistischen Charakter haben: z. B. mit der Frage, inwiefern ein Pächter auch rur
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Schäden, die durch seine Gehilfen verursacht sind, haften muß (s. 18 ad ed., Dig. 9,2,27,9 f.). 17/1 si quid enim ustum aut ruptum aut fractum, actio hoc capite constituitur: "denn wenn etwas verbrannt oder zerrissen oder zerbrochen ist, wird in diesem Kapitel dafilr eine Klage zur Verfilgung gestellt". Die hinter dem Part. Perf. fractum sich befindende Ellipse der Kopula wurde von den Justinianern ausgefilHt: Inst. lust. 4,3,13 fractum fuerit. Die meisten Editoren (GoEsCHEN, LACHMANN, BOECKING, KRUEGERISTUDEMUND, SECKELIKUEBLER, DE ZULUETA ua.) schalten das aus denjustinianischen Institutionen stammendefueritauch in den Gaiustext ein; sie halten offenbar das Fehlen der Kopula filr ein Versehen des veronensichen Kopisten. Es muß aber festgestellt werden, daß Gaius auch sonstwo die Kopula ausgelassen hat: vgl. z. B. I 78 sed hoc maxime casu necessaria lex Minicia (statt necessaria est); III 118 sponsoris uero et jideiussoris similis eondieio, jideiussoris ualde dissimilis (statt similis est und dissimilis est); III 181 quae autem legitima iudieia (statt legitima iudieia sunt). Die Redaktoren der Inst. lust., die auf stilistische Korrektheit bedacht waren, haben es hier und da denn auch filr nötig gehalten, eine Gajanische Ellipse auszumerzen. Ein deutliches Beispiel findet sich bei einem Vergleich von Gaius III 187/88 (oben S. 146) mit Inst. lust. 4,1,4: (Gaius) eonstituta es! aetio, appellatur ob/ati. (188) est etiam prohibiti furti aduersus eum, qui furtum quaerere uo/entem prohibuerit - (Inst. lust.) constituta est aetio, quae appellatur oblati. est etiam prohibiti furti a e ti 0 aduersus eum, qui furtum quaerere ... uolentem prohibuerit: Einschaltung von aetio hinter prohibiti furti. Zu den Ellipsen bei Gaius vgl. auch Komm. zu I 150 S. 186 ff. und NELSON, Überl. S. 403 ff. 1-5 quamquam potuerit sola ,rupti' appeJlatio in omnes istas causas sufficere; ,ruptum' est; unde non solum usta aut rupta aut fracta, sed etiam scissa et collisa et effusa et quoquo modo uitiata aut perempta atque deteriora facta hoc uerbo continentur: "übrigens hätte allein schon die Bezeichnung ,zerrissen' filr all diese Fälle genügen können; denn nach allgemeiner Auffassung ist ,zerrissen' alles, was irgendwie beschädigt worden ist; somit sind nicht nur verbrannte, zerrissene oder zerbrochene Sachen, sondern ist auch alles, was zerfetzt, zerschlagen, verschüttet und in irgendwelcher sonstigen Weise verdorben oder zerstört und entwertet worden ist, in diesem Worte einbegriffen". Ähnlich U1pian 18 ad ed. Dig. 9, 2, 27,13 inquit lex ,ruperit'; ,rupisse 'uerbumfere omnes ueteres sie intellexerunt: ,eorruperit': "das Gesetz sagt ,hat zerrissen'; fast alle alten Juristen haben den Ausdruck ,hat zerrissen' folgendermaßen ausgelegt: ,hat beschädigt'." Dem Worte rumpere wird hier von den Juristen eine recht weite Auslegung beigegeben. Vergleichbar ist, wie bekannt, die weitherzige Interpretation, die dem im Zwölftafelgesetz (8,11) begegnenden Worte arbores gegeben wurde; wie Gaius IV 11 darlegt, konnte es, wenn filr Klageformeln
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verwendet, außer "Bäume" auch "Weinstöcke" (uites) bedeuten. In der alten Zeit, als man auf Legisaktionen angewiesen war, sah man sich häufig genötigt, fiir Klageformeln lediglich Sachbezeichnungen, die auch in den Gesetzen vorkommen, zu verwenden. Im Satzteil unde non so/um usta aut rupta aut fracta eqs. zerstört die Einschiebung des Wortes rupta den logischen Zusammenhang. Gaius versucht nämlich klarzulegen, daß das im Vorherigen erwähnte Wort ruptum (rupti appellatio) im juristischen Verkehr mehrere Bedeutungen haben kann: ustum, fractum, scissum, collisum, effusum, uitiatum, peremptum, deterius factum. In dieser Reihe, welche die im Rechtsleben akzeptierten Nebenbedeutungen von ruptum auffiihrt, ist das Wort ruptum selbst fehl am Platze. Die Redaktoren der Inst. lust. (4,3,13) haben durch Streichung von ruptum (aut rupta) versucht, die textuelle Unstimmigkeit zu beheben (unde non so/um usta aut fracta eqs.). Die meisten heutigen Gaiuseditoren haben sich den Vorgang anders vorgestellt: ihrer Ansicht nach biete die justinianische Parallele den authentischen Gaiustext; die im Codex V sich findenden Worte aut rupta hingegen seien das Einschiebsel eines Interpolators und seien somit auszuklammern. Es dürfte aber verfehlt sein, textuelle Unstimmigkeiten, besonders wenn es sich um geringfilgige Widersprüche handelt, immer dem nachherigen Eingreifen eines Interpo- . lators zur Last zu legen; die nachlässige Formulierung kann auch vom Autor selbst, in diesem Falle von Gaius, stammen. Die unlogische Einschaltung von aut rupta dürfte sich denn auch unschwer erklären lassen. Offenbar hatte Gaius, als er die drei Verbalformen aneinanderreihte, usta aut rupta aut jracta, die Parallelstelle der Lex Aquilia vor Augen: quod usserit jregerit ruperit iniuria (vgl. Ulp. 18 ad ed., Dig. 9,2,27,5, dazu oben S. 208). Als er demzufolge unter dem Einfluß der Gesetzesstelle die drei Verbalformen hinschrieb, übersah er, daß er das eine der drei Verben, rumpere (ruperit), kurz vorher bereits als Stichwort fiir die geplante Aufzählung von Synonymen herausgenommen hatte. Die Annahme liegt auf der Hand, daß Vorgänger von Gaius bereits eine ähnliche These in betreff rumpere vertreten haben: wo urere und frangere nicht brauchbar waren, lasse rumpere sich fiir sämtliche sonstige Arten der Schädigung verwenden. § 218: 5-7 Hoc tamen capite non quanti in eo anno, sed quanti in diebus XXX proximis ea res fuerit, damnatur is, qui damnum dederit: "In diesem Kapitel jedoch wird derjenige, der den Schaden verursacht hat, nicht zu der Summe verurteilt, die die Sache in jenem Jahre, sondern zu der, die sie in den letzten 30 Tage wert gewesen ist". Im Gegensatz zu der Bestimmung des ersten Kapitels (III 210), in dem vom Höchstwert des ganzen vergangenen Jahres die Rede gewesen war, spricht der Gesetzgeber des dritten Kapitels vom Preis der letzten 30 Tage. Anscheinend war er der Meinung, daß Preise im Laufe eines Jahres des öfteren allzu großen Schwankungen unterworfen seien; die Gefahr, daß derartige Fluktuationen die Feststellung einer Klagesumme erschweren
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könnten, werde kleiner, wenn lediglich das durchschnittliche Preisniveau des gerade vorhergehenden Monats zur Richtschnur gemacht würde. Der Umstand, daß nicht die durch Beschädigung entstandene Wertminderung, sondern der volle Preis des Objekts eingeklagt werden konnte, ist offenbar der Tatsache zuzuschreiben, daß die actio in simplum e lege Aquilia de damno iniuria dato nach juristischer Auffassung abgesehen von ,sachverfolgend' (Ersatz heischend) auch ,pönal' war: es handelte sich um mit böser Absicht (iniuria) zugerugten Schaden (s. auch Komm. zu III 216,10/11 nisi quod ea lege eqs.). Neben der Gaiusstelle gibt es noch zwei Ulpianstellen, an denen, statt eines Jahres, dreißig vorhergehende Tage zur Berechnungsbasis rur die Klagesumme gemäß Kapitel III gemacht werden. Vgl. Ulp. 18 ad ed., Dig. 9,2,27,5 quanti ea res erit in diebus triginta proximis, tantum aes domino dare damnas esto: "er sei verpflichtet, dem Eigentilmer die Summe Kupfergeld zu zahlen, die das Objekt in den vorhergehenden dreißig Tagen wert war" (ein fast buchstäbliches Zitat aus der Lex Aquilia, s. oben S. 208; zu der Ergänzungju- vor eri! gleich unten); eod. Ib., Dig. 9,2,29,8 haec uerba (seil. legis Aquiliae): ,quanti in trigin ta diebus proxim is fuit ': "diese Worte (der Lex Aquilia): ,die Summe, die es in den vorhergehenden dreißig Tagen wert war'." Und schließlich haben wir noch die Parallele in den Inst. lust. 4,3,14: non quanti in eo anno, sed quanti in diebus triginta proximis res fuerit, obligatur qui damnum dederit: "derjenige, der den Schaden verursacht hat, wird nicht zu der Summe verpflichtet, die das Objekt in jenem Jahre, sondern in den vorhergehenden dreißig Tagen wert gewesen ist". Die an drei der oben zitierten Stellen überlieferte Darstellung des AquiliaVerfahrens, nämlich daß der volle Preis des geschädigten Objekts, nicht etwa nur die Wertminderung, eingeklagt werden könne (Gaius III 218; Ulpian, Dig. 9,2,29,8; Inst. lust. 4,3,14), hat bei mehreren Forschern Widerspruch hervorgerufen. In der daraus hervorgegangene Diskussion hat die Beurteilung des an einer zweiten Ulpianstelle ilberlieferten Futurs erit (Dig. 9,2,27,5 quanti ea res eri!, Codex F) eine dominierende Rolle gespielt. Erit gibt, wie sich versteht, einen Hinweis auf die der Tat nachfolgende Zeit, nicht wie fuerit (oder fuit) auf die vorhergehende. Allein: eine Akzeptanz des Futurs bereitet der Erklärung der Tatsache, daß an den drei anderen Stellenfuit bzw.juerit überliefert wird, große Schwierigkeiten - um so ernsthaftere Schwierigkeiten, als in dem Falle in ein und demselben Ulpianwerk ein häßlicher Widerspruch auftritt: 18 ad ed., Dig. 9,2,27,5 erit gegenilber 18 ad ed., Dig. 9,2,29,8fuit. Trotz dieser Schwierigkeiten haben mehrere Forscher sich rur die Echtheit von erit ausgesprochen: eri! sei ihrer Meinung nach sogar die authentische Lesart der Lex Aquilia gewesen. Die nachfolgenden dreißig Tage sollten, so die Forscher, rur die Berechnung der Wertminderung benutzt werden; eine Forderung des vollen Preises sei bei einer partiellen Schädigung unrealistisch, komme somit nicht in Frage. Filr das übrigbleibende Problem, wie denn die Vergangen-
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heitsform an der zweiten Ulpianstelle und den beiden weiteren JuristensteIlen (Gaius und Inst. Iustiniani) zu erklären sei, mußten die Forscher notgedrungen eine etwas komplizierte Lösung vorschlagen: sie meinten diese in der Annahme gefunden zu haben, daß die Vergangenheitsform infolge juristischer Interpretation als spätes Einschiebsel in die Überlieferung der Lex hinein geraten sei. Das den Juristen der Kaiserzeit vorliegende Kapitel III sei sowieso kein Text aus einem Guß gewesen; im Laufe der Entwicklung hätten sich nachträgliche Zutaten eingeschlichen - bisweilen Zutaten, die im Widerspruch zum ursprünglichen Gesetzestext gestanden hätten. Die These, erit sei die authentische Lesart gewesen, ist am ausfUhrlichsten von D. DAUBE verfochten worden: On the third Chapter of the Lex Aquilia, Law Quart. Rev. 52 (1936) S. 253 ff. = ders., Collected Studies in Roman Law I (Frankfurt 1991) S. 3 ff. Gemäß DAUBE habe das ursprüngliche dritte Kapitel sich ausschließlich mit der Verwundung von Sklaven und Herdentieren befaßt. Die Bestimmungen ober die Beschädigung lebloser Objekte seien eine Ergänzung aus späterer Zeit gewesen, etwa aus der zweiten Hälfte des 1. Jahrhs. v. Chr. Da es sich anfangs nur um die Verwundung handelte, nicht wie in Kapitel I um die Tötung, könne die Geldstrafe lediglich von der erfolgten Wertminderung abhängig gemacht worden sein, d. h. von der Differenz zwischen dem Werte vor und dem nach der Verwundung. Folglich sei in § 218 (Kapitel III der Lex) die Bedeutung der Worte ea res eine andere als in § 210 (Kapitel I) gewesen: an letzterer Stelle = ,jenes Objekt (des Eigentilmers)", an ersterer Stelle = "das Interesse (des EigentOmers) an der Sache" (S. 262 ,the owner's interest in the case': quanti ... ea res erit, "die Summe, auf die das Interesse [d. h. die Differenz] sich belaufen wird"). Zum Schluß sei gemäß DAUBE noch anzunehmen, daß zu Beginn des 1. Jahrhs. n. Chr. (S. 264 ,at the time of Sabinus') der ursprüngliche Text des dritten Kapitels "völlig der Vergessenheit anheimgefalJen" sei (,utterly forgotten'). Es sei denn auch "ganz natürlich" gewesen (,quite natural'), daß die damaligen Juristen nach dem Vorbild des ersten Kapitels schlechthin aus dem erit einfuit gemacht hätten. DAUBES Thesen haben bei mehreren Forschern Zustimmung gefunden: vgl. z. B. DE ZULUETA, Inst. of Gaius 11 (1963) S. 211 f.; WATSON, Law of Obligations (1965) S. 234 ff.; HONSELLIMAYER-MALY/SELB, Röm. Recht (41987) S. 365 f. (mit N. 21 u. 22); HAUSMANINGER, Lex Aquilia (5. Aufl. 1996) S. 8 (N. 8) und 32 (N. 113). Weitgehende Zustimmung auch bei ZIMMERMANN, Law of Obligations (21992) S. 962 ff., bes. 967 f.; der Autor hält ebenfalJs erit fUr die authentische Lesart der Lex, schlägt aber fUr das an der zweiten Ulpianstelle stehende fuit (Dig. 9,2,29,8) eine abweichende Deutung vor: das Perfektum beziehe sich dort nicht auf den Standpunkt des Gesetzgebers, sondern auf den des Richters, der erst hinterher das Urteil fällt (S. 967: ,from the point ofview ofthe iudex'). Gegen DAUBES Thesen lassen sich gewichtige Einwände anfUhren. So läßt sich kein einziger brauchbarer Beleg fUr die Behauptung beibringen, daß der
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Urtext des 3. Kapitels sich ausschließlich mit der Verwundung von Sklaven und Herdentieren befaßt habe, die leblosen Objekte hingegen erst "in der zweiten Häfte des 1. Jahrhs. v. Chr." als Ergänzung hinzugefügt worden seien. Recht unwahrscheinlich ist weiterhin die Behauptung, daß der authentische Text des dritten Kapitels zur Zeit des Sabinus schon "ganz und gar der Vergessenheit anheimgefallen" sei (Sabinus und Zeitgenossen zitierten sogar Sätze aus der Lex XII tabularum). Sehr unglaubhaft ist schließlich die Annahme, Ulpian habe sich in ein und demselben Liber 18 ad edictum einen so augenfälligen Widerspruch zuschulden kommen lassen: für das gleiche Verfahren an der einen Stelle erit, an der anderen fuit zu schreiben. Wenig akzeptabel ist auch ZIMMERMANNS Vermutung (S. 967), Ulpian habe an der Stelle, an der er das Perfektum fuit hinschrieb, den Hergang nicht vom Standpunkt des Gesetzgebers, sondern von dem des Richters aus betrachtet. Eine in dem Maße Verwirrung stiftende Beschreibung eines ordentlichen gesetzlichen Verfahrens dürfte beispiellos sein. Die am meisten auf der Hand liegende Erklärung des Fehlers dürfte noch immer die sein, daß der Kopist des Codex Florentinus die beiden Buchstaben fu, die zu erit gehören, versehentlich überschlagen hat. Möglicherweise standfu etwas unauffiillig in kleinen Lettern am Ende der vorhergehenden Zeile. Wie dem aber auch sei, der Codex Florentinus bietet in Hülle und Fülle Beispiele für das Überschlagen von Buchstaben. Alles spricht für die Annahme, daß in der Vorlage des Kopisten fuerit gestanden hat. Und was die eventuelle Unverhältnismäßigkeit einer Bußesumme e lege Aquilia betrifft (Klage auf Zahlung des vollen Preises des geschädigten Objekts), sei darauf hingewiesen, daß der Prätor in Fällen, in denen übermäßige Härte drohte, zu einer actio utitis ad exemplum legis Aquiliae seine Zuflucht nehmen konnte (s. dazu unten § 219). 7-9 ac ne ,plurimi' quidem uerbum adicitur; et ideo quidam putauerunt Iiberum esse iudici ad id tempus ex diebus XXX aestimationem redigere, quo plurimi res fuit, uel ad id, quo minoris fuit: "aber nicht einmal das Wort ,Höchstpreis' wird hinzugesetzt; und deshalb sind einige Juristen der Ansicht, es stehe dem Richter frei, die Schätzung auf dem Zeitpunkt innerhalb der dreißig Tage zu fixieren, an dem die Sache den Höchstwert, oder auch auf einen Zeitpunkt, an dem sie einen geringeren Wert hatte". Dem Herabsetzen der Schätzungsperiode von einem vollen Jahr (Kapitel I der Lex) auf 30 Tage (Kapitel III) hat anscheinend der Gedanke zugrunde gelegen, daß weniger Preisschwankungen zu befürchten seien, wenn es sich um einen kürzeren Zeitabschnitt handelt. Aber auch innerhalb von 30 Tagen konnte es Fluktuationen geben. Die Folge war, daß der Richter erneut mit einem Problem konfrontiert wurde: sollte er rur die Berechnung der Strafsumme den Tag mit dem Höchstpreis wählen oder könnte auch ein anderer Tag zulässig sein? 9-11 sed Sabino placuit proinde habendum ac si etiam hac parte ,plurimi' uerbum adiectum esset; nam legis latorem contentum fuisse,
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: "doch Sabinus war der Ansicht, daß es so auszulegen sei, als ob auch in diesem Abschnitt das Wort ,Höchstwert' hinzugesetzt worden sei; denn dem Gesetzgeber habe es genügt, dieses Wort im ersten Abschnitt gebraucht zu haben". Die Ergänzung ab quod stammt aus der ParaHeIsteHe in den Inst. lust. 4,3,15: nam plebem Romanam ... contentam fuisse, quod prima parte eo usa est. Die meisten Editoren sind dem Erstherausgeber GOESCHEN gefolgt und änderten den Indikativ est in die Konjunktivform esset ab. Möglicherweise ließen sie sich durch den Umstand leiten, daß Gaius in einer vergleichbaren Satzkonstruktion ebenfaHs den Konjunktiv verwendet hatte: III 36 contentus eo, quod iure ciuili heres sit. Es zeigt sich aber, daß der Indikativ nach der Verbindung contentus quod seit klassischer Zeit regelmäßige Verwendung fand, besonders dann, wenn ein feststehender Grund (quod = "weil") zum Ausdruck gebracht werden soHte. Vgl. etwa Cicero in Clodium et Curionem, Schol. Bob. (HILDEBRANDT) pag. 27,22/ (Frgm. XXVII = Orat. frgm. [SCHOELL] pag. 449,3/ Nr.27) quasi ego non contentus sim, quod mihi xxv iudices crediderunt; Bell. Alex. 5,2 contenta est necessario, quod fons urbe tota nullus est; Lucanus 2,232 contentus quod Sulla fuit; Vopiscus quattuor tyr. 1,1 (Scr. hist. Aug. 11 [HOHL] pag. 222,8f) contentus eo, quod eos cursim perstrinxerat uÖ. Es besteht somit kein Grund, das in den Inst. lust. überlieferte est in esset abzuändern. Für Näheres über Masurius Sabinus (tätig unter den Kaisern Tiberius bis Nero) vgl. etwa STEINWENTER, ,Sabinus Nr. 29', RE. lAS. 1600 f. Welcher Schrift des Sabinus die zitierte Aussage entnommen ist, daß man in Kapitel III der Lex Aquilia das Wort plurimi hinzudenken müssse, läßt sich nicht mehr feststeHen (vgl. LENEL, Pal. 11 S. 195 f. Nr. 55). Offenbar war Sabinus der Meinung, daß auch innerhalb von 30 Tagen größere Preisschwankungen möglich seien. § 219: 11-13 placuit ita demum ex ista lege actionem esse, si quis corpore suo damnum dederit: "Im übrigen ist es herrschende Meinung geworden, daß es nur dann eine Klage gemäß jenem (Aquilischen) Gesetz geben könne, wenn jemand mit eigener Körpergewalt den Schaden verursacht hat". Die Ergänzung ceterum ist ebenso wie die Hinzusetzung der letzten Worte von § 218 der Parallele in Inst. lust. 4,3,15-16 entnommen worden. Die Anwendungsmöglichkeiten der Lex Aquilia beruhten offenbar auf enger Auslegung des Gesetzes: ein Schaden, der durch Verletzung oder gar Tötung entstanden war, konnte gemäß der Lex nur dann klagbar werden, wenn der Täter ihn corpore suo verursacht hatte. Der Ausdruck corpore suo, der allem Anscheine nach "mit eigener Körpergewalt", "durch handgreifliches Auftreten" bedeutet, findet sich außer an unserer Stelle (2mal, S. auch infra) nur noch an der Parallelstelle Inst. lust. 4,3,16. Andere Juristen verwenden sonstige Umschreibungen. Vgl. etwa lulian (Konsul 148 n. Chr.) 86 dig., Dig. 9,2,51 pr. (Haftbarsein fur Tötung): sed lege Aquilia is dem um teneri uisus est, qui adhibita ui et quasi manu causam mortis praebuisset, "aber nach juristischer Auf-
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fassung ist nur derjenige gemäß dem Aquilischen Gesetz haftbar, der unter Anwendung von Gewalt und sozusagen eigenhändig die Ursache des Todes herbeigefilhrt hat". Bei Ulpian 18 ad ed., Dig. 9,2,7,1 findet sich eine etwas ausfilhrlichere Umschreibung der Haftbarkeit e lege Aquilia, u. zw. ebenfalls filr das Erschlagen eines Menschen (insbesondere eines Sklaven): ,occisum' autem accipere debemus, siue gladio siue etiam fuste uel alio telo uel manibus (si forte strangulauerit eum) uel calce petiit uel lapide [? capite F, sed cf. Dig. 29,5,1,17] uel qualiter qualiter: "die Klage ,er wurde erschlagen' (occisum) müssen wir (nach dem Aquilischen Gesetz) gewähren, wenn jemand einen anderen mit einem Schwert oder auch mit einem Knüppel oder einer sonstigen Waffe, mit den Händen (wenn er ihn etwa erwürgt hat), mit der Ferse, mit einem Stein oder wie auch immer angegriffen hat". Der Ausdruck suo corpore occidere erhält hier eine ausfilhrliche Präzisierung: jemanden mit dem Schwert, dem Knüppel oder einer sonstigen Waffe, mit Fußtritten, den Händen oder gar mittels eines mit der Hand geschleuderten Steins erschlagen. Für den Bedeutungsunterschied zwischen occidere ("töten", "erschlagen") und causam mortis praestare ("die Ursache des Todes bewirken") vgl. HAUSMANINGER, Lex Aquilia S. 14 ff.; ZIMMERMANN, Law ofObligations S. 976 ff. (mit Lit.). 13-4 ideoque alio modo damno dato utiles actiones dantur, ueluti si quis alienum hominem aut pecudem incluserit et farne necauerit, aut iumentum tarn uehementer egerit, ut rumperetur, item si quis alieno seruo persuaserit, ut in arborem ascenderet uel in puteum descenderet, et is ascendendo aut descendendo ceciderit, aut mortuus fuerit aut aliqua parte corporis laesus sit: "und deshalb werden, wenn auf andere Weise Schaden zugefilgt wurde, umgestaltete Klageformeln gewährt; zum Beispiel wenn jemand einen fremden Sklaven oder ein fremdes Herdentier eingesperrt und vor Hunger hat umkommen lassen; oder wenn er ein Lasttier so heftig vorwärtsgetrieben hat, daß es verletzt wurde; weiterhin wenn jemand einen fremden Sklaven dazu überredet hat, in einen Baum zu klettern oder in einen Brunnen hinabzusteigen und letzterer beim Hinaufklettern oder Hinabsteigen zu Fall gekommen, tödlich verunglUckt oder an irgend einem Körperteil verwundet worden ist". In Fällen, in denen es angemessen erschien, konnte der Prätor Sachschäden, die auf andere Weise als in der Lex Aquilia vorgesehen entstanden waren, durch Gewährung einer der Situation angepaßten Formel (actio utilis) klagbar machen. In den oben zitierten Beispielen (Ein sperrung eines Sklaven, eine Tat, die Hungertod zur Folge hatte; Fortjagen eines Lasttieres, wodurch Verletzung verursacht wurde; gefährlicher Auftrag, der den Beauftragten zu Schaden kommen ließ) fehlt das typische Merkmal, das die Gewährung einer actio e lege Aquilia ermöglicht: der Anstifter hatte den Schaden nicht corpore suo herbeigefUhrt. Um trotz fehlender gesetzlicher Basis die Prozeßfilhrung zu ermöglichen, konzipierte der Prätor anhand der als Muster dienenden actio e lege Aquilia
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eine neue umgestaltete Formel, d. h. eine ad exemplum legis Aquiliae danda actio (rur den Ausdruck vgl. etwa Ulpian 18 ad ed., Coll. 12,7,7). Der Terminus actio utilis (wörtlich: "zweckdienliche Klageformel") fungierte offenbar als Sammelbezeichnung rur alle jüngeren Klageformeln, die nach dem Muster einer älteren, im prätorischen Edikt enthaltenen actio neu entworfen worden waren. In Gai Institutiones ist an mehreren Stellen von einer actio utilis die Rede. Vgl. II 78: der Maler, der auf fremder Tafel gemalt hat, kann, gewissermaßen als berechtigter Besitzer des Gemäldes, mittels einer actio utilis gegen den Eigentümer der Tafel auf Erstattung des Malerhonorars klagen; wollte er aber selber das Gemälde behalten, so mußte er den Preis der Tafel vergüten (dominium picturae cedit, dies im Gegensatz zu sonstigen Regelungen bezüglich der sogen. ,natürlichen Erwerbsarten'); Il 253: mit Hilfe einer actio utilis kann der mit einem Fideikommiß Bedachte, als wäre er ein zivilrechtlicher Erbe (heredis loco), selber klagen bzw. beklagt werden; III 81 (teilweise ergänzter Text): die Klagen, die einem zivilrechtlichen Erben zustehen bzw. gegen ihn erteilt werden, können vom Prätor auch einem nichtzivilrechtlichen Besitzer, bonorum possessor, gewährt bzw. gegen ihn erteilt werden; der Prätor benutzt zu dem Zweck eine formula ficticia, d. h. eine Formulierung, als ob der bonorum possessor zivilrechtlicher Erbe wäre; die an dieser Stelle stehende kurze Darstellung wird weiter unten, IV 34 f., näher ausgearbeitet; III 84: mit Hilfe von actiones utiles gewährt der Prätor Gläubigern Klagen auf Zahlung von Schulden, die aus der Zeit vor einer Arrogation oder Manusehe stammen, als ob keine capitis deminutio stattgefunden hätte (s. dazu auch IV 38); III 202 gegen den Gehilfen eines Diebstahls kann ebenso wie gegen denjenigen geklagt werden, der nach gesetzlichem Maßstab ein handfester Dieb ist; zu diesem Zweck verwendet der Prätor eine actio utilis. Schließlich folgt IV 34 f., wie III 81 bereits angekündigt, eine nähere Beschreibung von actiones utiles, die der Prätor einem bonorum possessor gewährt bzw. gegen ihn erteilt. Gaius zitiert in diesem Zusammenhang die in Frage kommenden formulae Seruiana und Rutiliana. Anschließend behandelt er IV 34-38 weitere Fälle von fiktizischen Formeln; § 36 die Fiktion, daß eine usucapio stattgefunden habe (formula Publiciana); § 37 die Fiktion, daß ein Peregriner römischer Bürger sei; § 38 die Fiktion, daß keine capitis deminutio stattgefunden habe; die diesbezügliche fiktizisc he Formel wird expressis verbis als actio utilis bezeichnet (s. dazu auch oben ad III 84). Aus den zitierten Gaiusstellen geht deutlich hervor, daß es sich jedesmal, wenn von einer actio utilis die Rede ist, um eine actio handelt, die eine neugestaltete Formulierung bekommen hat: der neue Formulartext kam teils durch Anlehnung an einen existierenden Ediktstext teils durch Einschaltung einer Fiktion zustande (jormula ad exemplum und formula ficticia). Ganz generell kann festgestellt werden, daß die actiones utiles keine festumrissene selbständige Kategorie bilden: sie lassen sich denn auch gegen sonstige actiones mit
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umgestalteter Formel, die anders benannt werden, etwa actiones in factum, nur schwer abgrenzen. Wegen Mangels an exakten Daten sind Einzelheiten der actiones utiles oft unstritten; vgl. dazu die Lit. bei KASERIHACKL, Prozessrecht S. 329 ff. (mit N. 19-31); ferner P. GRÖSCHLER, Actiones in factum (Berlin 2002) S. 28 ff. 5-7 item contra si quis alienum seruum de ponte aut ripa in flumen proiecerit et is suffocatus fuerit, hic quoque corpore suo damnum dedisse eo, quod proiecerit, non difficiliter intellegi potest: "andererseits hingegen, wenn jemand einen fremden Sklaven von der Brücke oder vom Ufer aus in den Fluß gestoßen hat und letzterer ertrank, so ist unschwer einzusehen, daß er ebenfalls dadurch, daß er ihn hinabstieß, den Schaden mittels eigener Körpergewalt herbeigefLlhrt hat". Am Satzanfang liest V 1.'tEmpo Für p, den letzten Buchstaben, läßt sich kaum eine befriedigende Deutung finden, U. zw. auch dann nicht, wenn man die Möglichkeit ins Auge faßt, daß eine mit p beginnende Abkürzung vorliegt. Der von KUEBLER gemachte Vorschlag, an unserer Stelle item contra zu lesen (vgl. auch I 81 item contra), dürfte noch der akzeptabelste sein. Dabei ist von der Annahme auszugehen, daß p eine mißratene Wiedergabe des Siglums '1 = contra ist (vgl. für das Siglum '1 STUDEMUND, Apogr. S. 260). Wie bekannt, begegnet item öfters in Zusammenhängen, in denen es eine adversative Färbung erhält, etwa = "andererseits", "hinwiederum". Bisweilen bekommt die adversative Bedeutungsnuance durch Hinzusetzung des Adverbs contra noch einen gewissen Nachdruck. Exempli gratia zitieren wir einige Autorenstellen, die adversatives item aufweisen (teils mit hinzugefLlgtem contra, teils ohne). Vgl. Bell. Hisp. 20,2 eisque ita imperauisse, ut diligentia ad-
hibita perquirerent, qui essent suarum partium itemque aduersariorum uictoriae fautores, "und er habe ihnen aufgetragen, genau nachzuforschen, wer auf
seiner Seite stehe und wer andererseits den Sieg der Feinde begünstige"; Cicero de orat. 3,61,227 deinde est quiddam contentionis extremum ... ; est item contra quiddam in remissione grauissimum, "sodann gibt es ein Äußerstes an hoher Stimmkraft ... ; andererseits hingegen gibt es in der Senkung einen sehr tiefen Ton"; Quint. inst. or. 3,8,33 quid sit optimum, quaeritur, itemque contra, "es steht zur Frage, was das Beste sei, und andererseits das Gegenteil"; Gaius 3 ad ed. prov., Dig. 3,3,46,4 f. itaque quod ex lite consecutus erit (seil. procurator)
... , debet mandati iudicio restituere ... ; (5) item contra quod ob rem iudicatam procurator soluerit, contrario mandati iudicio reciperare debet, "daher muß
der Prokurator den Gewinn, den er aus dem Prozeß erzielt hat ... , aufgrund des Verfahrens wegen Auftrag herausgeben ... ; andererseits hingegen muß der Prokurator, was er um der Prozedur willen ausgegeben hat, aufgrund des Gegenverfahrens wegen Auftrag zurückerhalten"; ders. inst. I 81 senatus consultum ...
significauit, ut ex Latino et peregrina, item contra ex peregrino et Latina nascitur, is matris condicionem sequatur, "der Senatsbeschluß ... legte fest,
daß das Kind eines Latiners und einer Nichtbürgerin, andererseits umgekehrt
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das Kind eines Nichtbürgers und einer Latinerin in die Rechtsstellung der Mutter eintritt". Vgl. fiir weitere Beispiele THES. VII 2 S. 537,9 ff. (item ,colore adversativ'), ebd. 75 ff. (item contra). Die Vermutung, daß an unserer Stelle das abschließende p in 1-'tEmp (V) als mißratene Wiedergabe des Siglums fiir contra zu deuten sei, hat, wie sich versteht, tentativen Charakter. Die meisten Editoren halten es fur ein bedeutungsloses Einschiebsel und drucken lediglich item ab (item si quis eqs., z. B. GOESCHEN, BOECKING, LACHMANN, DE ZULUETA ua.). Die Redaktoren der Inst. lust. haben item bzw. item contra an der Parallelstelle (4,3,6) durch sed ersetzt: möglicherweise waren sie der Meinung, daß die kürzere Formulierung die deutlichere sei. KRUEGER und DAVID haben das justinianische sed auch in den Gaiustext eingeschaltet - wohl mit Unrecht: p kann keinesfalls als mißverstandene Wiedergabe von ursprünglichem sed gedeutet werden. Für Magistrate und Juristen war es allem Anscheine nach nicht leicht zu entscheiden, ob der Beklagte den Schaden corpore suo verursacht hatte oder nicht: es gab viele Grenzfalle. Vgl. dazu ZIMMERMANN, Law ofObligations S. 979 f.
III 220-225: Die Actiones iniuriarum 1. Überlieferung Der Codex Veronensis ist wiederum der einzige direkte Textzeuge. Die Darstellung der Verfahren wegen iniuria findet sich auf den Seiten 185 (ab Zeile 16) bis 187. Die untere Hälfte der Seite 185 läßt sich wegen der Blässe der Schrift nur schwer lesen, die Seiten 186 und 187 sind erheblich besser lesbar (s. STUDEMUND z. St.). Der Anfang des neuen Abschnitts wird pag. 185,16 durch einen hervortretenden Buchstaben gekennzeichnet: J[niuria. Die untere Hälfte der Seite 187 enthält ein Explicit des dritten Buches: LIB. 111. EXPLIC. Die Kapitalbuchstaben werden von keilförmigen Zeichen umrahmt. Es ist der einzige Explicitvermerk, der sich im Codex V hat wiederfinden lassen; der Name des Autors (Gaius) wird jedoch nicht erwähnt (vg\. NELSON, Über\. S. 29 f.). Infolge der unsorgtaltigen Arbeitsweise des Kopisten weist der Abschnitt mehrere Fehler auf. An einer Stelle (pag. 186,24 = III 224,6) hat der Kopist selbst eine Verbesserung vorgenommen: aus 'tl:tSUm machte er Ul.Sum. Von sonstigen nachträglichen Verbesserungen fehlt jegliche Spur. Mehrere Fehler lassen sich mit Hilfe der Parallelstellen in den Institutiones Iustiniani verbessern (4,4 pr.-ll). Der Anfang des Abschnitts über die Strafen wird wiederum durch einen hervorspringenden Anfangsbuchstaben gekennzeichnet (pag. 186,14 = III 223): P[oena.
2. Inhalt III 220-222: Bedeutungen und Tatbestände des Terminus iniuria. (§ 220) Nicht nur derjenige macht sich der iniuria schuldig, der einen anderen körperlich verletzt, sondern auch wer den anderen beleidigt bzw. in seiner Ehre kränkt (durch Schimpfwörter, Spottverse, böswillige Verdächtigungen usw.); iniuria (buchst. ,Unrechtmäßigkeit', ,unrechte Tat') bekommt somit häufig eine spezielle Bedeutung: etwa ,Persönlichkeitsverletzung' , ,Beschimpfung'. (§ 221) Ferner erleidet nach juristischer Auffassung nicht nur derjenige iniuria, der in
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der eigenen Person beleidigt wird, sondern auch derjenige, der in der Person eines Familienangehörigen eine Kränkung erfährt (etwa infolge Belästigung der Ehefrau in manu oder eines Kindes in potestate, mitunter sogar infolge Belästigung einer bereits verheirateten Tochter). (§ 222) In bestimmten Fällen macht ferner derjenige sich der iniuria schuldig, der einen fremden Sklaven verletzt. Allerdings ist er dann nicht wegen der Verletzung des Sklaven strafbar, sondern wegen der Beleidigung, die er dem Herrn zugefügt hat. Je nach den Umständen gelten unterschiedliche Bußmaße: wer etwa einen fremden Sklaven auspeitscht, tut dem Herrn ernsthafte iniuria an; der Prätor hat rur diesen Fall sogar ein spezielles Edikt erlassen. Wer aber dem fremden Sklaven nur ein Schimpfwort zufügt oder ihm einen Faustschlag versetzt, kann deswegen nicht gerichtlich belangt werden. III 223-225: Bußprozesse wegen Injuriendelikten. (§ 223) Bereits die XII Tafeln haben Bußen rur Injuriendelikte festgesetzt. Es sind teils Vergeltungen von Gleichem mit Gleichem (taliones), teils Geldbußen. Gleiches mit Gleichem für zerschlagene Körperglieder (Tab. 8,2), Geldbußen für gebrochene oder geschädigte Knochen (Tab. 8,3 u. 4): 300 Asses wegen eines Knochenbruchs bei einem Freien, 150 bei einem Sklaven. Für geringere Verletzungen wurden Bußen von 25 Asses festgesetzt - für damalige Verhältnisse gehörige Summen. (§ 224) Heutzutage jedoch gilt anderes Recht. Jetzt gestattet der Prätor dem Ankläger, selber eine Schätzung der erlittenen iniuria vorzunehmen. Freilich steht es dem Richter frei, davon abzuweichen und zu einer niedrigeren Summe zu verurteilen. Sollte es sich aber um eine ,ernsthafte Untat' handeln (atrox iniuria), so erlegt der Prätor dem Beklagten zunächst einmal eine Stellungskaution (uadimonium) auf, sodann nimmt er selber eine Schätzung der Bußsumme vor. Der Kläger trägt die geschätzte Summe in die Klageformel ein und aus Respekt vor der prätor ischen Autorität wagt der Richter es meist nicht, in seinem Urteil von der Schätzung abzuweichen - dies trotz der Tatsache, daß er auch hier das Recht hat, die Summe herabzusetzen. (§ 225) Eine Injurie wird als ernsthaft (atrox) bezeichnet, wenn gewisse üble Begleitumstände hinzukommen, etwa folgende: widerliches Toben des Täters (ex facto) , Begehen der Untat an unziemlichem Ort (ex loco), Respektlosigkeit des Auftritts (ex persona). Vom Toben ist die Rede, wenn der Täter seinem Opfer ernste Verwundungen beigebracht, ihm mit der Peitsche oder mit der Faust Hiebe versetzt hat; der Tatort gilt als unziemlich, wenn das Vergehen mitten im Theater oder auf dem Forum verübt wurde; Respektlosigkeit wurde gezeigt, wenn der Täter eine höhergestellte Person, etwa einen Magistrat oder einen Senator, beleidigt hat niederer Stand des Täters wird ohnehin als aggravierender Umstand betrachtet.
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3. Kommentar zu III 220-225 a) III 220-222: Bedeutung des Terminus iniuria: Einleitung Der begriffliche Inhalt, den der Terminus iniuria im römischen rechtlichen Verkehr hatte, ist, so läßt sich feststellen, im Laufe der Zeit Schwankungen unterworfen gewesen. Die Quellen, die uns über den Gebrauch des Terminus und über den seiner Synonyme unterrichten könnten, sind äußerst spärlich; vieles ist deshab unsicher und umstritten. Da die Literatur, die sich mit dem Begriff iniuria und mit sonstigen Bezeichnungen ftir Persönlichkeitsverletzung beschäftigt hat, recht umfangreich ist, begnügen wir uns mit einer Auswahl. An den zitierten Stellen findet man reichlich weitere Angaben: PH. E. HUSCHKE, Gaius, Beiträge zur Kritik und zum Verständnis seiner Institutionen (1855) S. 118 ff. (,Exkurs über die ältere Geschichte der Injurien'); Th. MOMMSEN, Strafr. (1890) S. 784 ff. (,Personalverletzung, iniuria'); D. V. SIMON, Begriff und Tatbestand der ,Iniuria' im altröm. Recht, Zs. Sav. Rom. 82 (1965) S. 132 ff.; KASER, Priv. I (1971) S. 156 f. u. 623 ff.; WITIMANN, Die Körperverletzung an Freien im klass. röm. Recht (1972: München. Beitr. z. Papyrusforschung u. antiken Rechtsgesch., 63; s. dazu auch WIEACKER, Zs. Sav. Rom. 92 [1975] S. 552 ff.); A. MANFREDINI, Contributi allo studio deli' iniuria in eta repubblicana (1977: Pubbl. della Fac. Giurid. Univ. Ferrara, 11 11; s. dazu auch WITIMANN, Zs. Sav. Rom. 100 [1983] S. 676 ff.); HONSELLI MAYER-MALY/ SELB, Röm. Recht e1987) S. 368 ff.; R. ZIMMERMANN, Law of Obligations (1992) S. 1050 ff. (,Actio iniuriarum'). Die älteste Belegstelle für iniuria findet sich, allerdings nur indirekt überliefert, im Zwölftafelgesetz, u. zw. Tab. 8,4. Die zwei nachstehend zitierten indirekten Belegstellen dürften noch am ehesten den Wortlaut des Zwölftafelsatzes wiedergeben. Gell. 20,1,12 ita de iniuria poenienda scriptum est: si iniuria alteri faxsit, uiginti quinque aeris poenae sunto; Paulus, lib. sg. de iniur., Coll. 2,5,5: legitima (actio) ex lege duodecim tabularum: qui iniuriam alteri facit, quinque et uiginti sestertiorum poenam subito. Folgender Zwölftafelsatz ließe sich anhand jener Zitate rekonstruieren (8,4): si iniuriam alteri faxsit, xxv aeris poenae sunto, "wenn jemand einem anderen eine Injurie zuftigt, sollen 25 Asses seine Strafe sein" (ftir abweichende Rekonstruktionen und sonstige indirekte Belege s. RICCOBONO, FlRA. I S. 54 f.; CRAWFORD, Roman Statutes 11 S. 604 ff. sub Tab. I 15). Gellius fUgt seinem Zitat noch eine Anekdote bei (20,1,13), die er dem Zwölftafelkommentar des Labeo entnommen hatte (vgl. LENEL, Pa!. I S. 501, Labeo Nr. 3). Darin berichtet Labeo, daß in nachdezemviraler Zeit, als die Kaufkraft des Asses durch Geldentwertung lächerlich gering geworden war, ein
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gewisser Lucius Veratius sich einen Spaß daraus gemacht habe, beliebigen Passanten unversehens eine Maulschelle zu verabreichen. Wenn der Getroffene sich beschwerte, habe Veratius dem ihm mit einem Geldbeutel begleitenden Sklaven schlichtweg den Auftrag gegeben, dem Kläger 25 Asses auszuzahlen. Seiner Meinung nach habe er damit der gesetzlich vorgeschriebenen Sühnepflicht Genüge getan. Aus Labeos Anekdote geht hervor, daß im rechtlichen Verkehr der Frühzeit unter iniuria eine ,Körperverletzung' verstanden wurde, u. zw. eine verhältnismäßig leichte. Auffälligerweise werden nicht sämtliche Fälle der Körperverletzung in den XII Tafeln der iniuria-Kategorie zugerechnet. Gewisse Fälle der Gewalttätigkeit erhielten dort eine eigenständige Bezeichnung; sie wurden an separaten Stellen als selbständige Tatbestände aufgefilhrt. Es handelt sich aber immer um schwerere Fälle der Körperverletzung; so z. B. Tab. 8,2 das membrum ruptum. Vgl. dazu das Zitat bei Festus pag. 496,16 f L. si membrum rupit, ni cum eo pacit, talio esto, "wenn er ein Körperglied zerschlagen hat und mit ihm (dem Kläger) keine Vereinbarung triffi:, soll Talion (Vergeltung mit Gleichem) stattfinden"; vgl. auch den Hinweis bei Gaius III 223. Eine ähnliche separate Behandlung erfährt das os fractum, vgl. Tab 8,3. Paulus, lib. sg. de iniur., Coll. 2,5,5 zitiert die Straftat wie folgt: si os jregit libero, CCC, si seruo, CL poenam subito, "wenn er einem Freien einen Knochen erschlagen hat, soll er eine Strafe von 300 Sesterzen (hier statt: von 300 Asses) verbüßen, wenn einem Sklaven, eine Strafe von 150 Sesterzen (Asses)"; s. ebenfalls Gaius III 223. Wie der juridische Sprachgebrauch der klassischen Zeit zeigt, hat man eines Tages begonnen, den begrifflichen Inhalt des Terminus iniuria zu erweitern: iniuria wurde eine Sammelbezeichnung, deren Aufgabe es war, alle möglichen Formen der Verletzung einer Person unter einem Nenner zusammenzufassen, einbegriffen die schwereren, wie etwa membrum ruptum und os fractum. Die Begriffserweiterung wurde sogar so umfangreich durchgefilhrt, daß iniuria eines Tages nicht nur zur Bezeichnung einer körperlichen, sondern auch zu der einer ehrenrührigen Verletzung verwendet wurde. Einer Stelle bei Paulus, liber singularis de iniuriis, Coll. 2,5,2 ist zu entnehmen, daß bereits Labeo (Zeit des Augustus) eine ausfilhrliche Übersicht der unterschiedlichen Bedeutungen von iniuria hergestellt hat. Paulus bezieht sich in dieser Angelegenheit allem Anscheine nach auf einen Abschnitt aus Labeos libri ad edictum praetoris (s. LENEL, Pal. I S. 517, Labeo Nr. 126 u. 127; s. auch U1pian, 56 ad ed., Dig. 47,10,1 pr. ff.). An jener Stelle referiert Paulus folgendes (Coll. 2,5,1): generaliter dicitur ,iniuria' omne, quod non iure fit; specialiter alia est contumelia, quam Graeci aÖtKtuv uocant: "gemeinhin (in der Alltagssprache) wird mit iniuria (Unrecht) alles bezeichnet, was nicht Rechtens geschieht; im besonderen
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(rechtlichen) Sprachgebrauch ist es bald gleich ,Schimpf', dasjenige was die Griechen hybris (Schmähung) nennen, bald gleich ,Fehlverhalten', wofür die Griechen adikema (Rechtswidrigkeit) sagen, wie z. B. im Aquilischen Gesetz davon die Rede ist, daß ,durch Fehlverhalten Schaden erlitten wird', bald gleich ,Unbilligkeit' und ,Ungerechtigkeit', wofür die Griechen das Wort adikia (Ungerechtigkeit) verwenden" (die Ergänzung der Lücke hinter Graeci stammt aus der Parallele in Inst. lust. 4,4 pr.). Wie Labeos Übersicht hervorhebt, mußte man den juristisch-technischen Gebrauch des Wortes iniuria von dem der Alltagssprache trennen (in letzterer findet sich iniuria = "Unrecht" schon frUh in allen möglichen Bedeutungsnuancen). Wenn in juristischer Sphäre gebraucht, hatte iniuria in klassischer Zeit ebenfalls schon mehrere Bedeutungen: "Schimpf", "Schmähung", "Fehlverhalten", "Rechtswidrigkeit", "Schädigung", "Unbilligkeit", "Ungerechtigkeit". Anschließend weist Paulus, wiederum auf Labeo bezugnehmend, noch darauf hin, daß im prätorischen Edikt, das die iniuria behandelt, in allererster Instanz besonders von "Schmähung" die Rede gewesen sei; gemäß Labeo sei im Edikt sogar ausschließlich von Schmähung die Rede gewesen - was aber Paulus bestreitet (vg!. Col!. 2,5,1 f.). Paulus sieht sich denn auch, um den Eindruck der Einseitigkeit wegzunehmen, veranlaßt, folgenden Satz hinzuzufllgen (CoI!. 2,5,4): fit autem iniuria ue/ in corpore, dum caedimur, ue/ in uerbis, dum conuicium patimur, ue/ cum dignitas laeditur, "eine Injurie wird jedoch sowohl am Körper begangen, wenn wir geprUgelt werden, als auch durch Worte, wenn wir einem Schimpfwort ausgesetzt werden oder wenn unsere Ehre verletzt wird". Gaius führt III 220 für iniuria ähnliche Umschreibungen an. Es sei aber hervorgehoben, daß trotz der Erweiterung der Gebrauchsmöglichkeiten die Bedeutungsskala von iniuria im juristischen Bereich noch immer eine umgrenzte war; hinsichtlich der Alltagssprache blieb die Trennung fortbestehen. Die Annahme liegt übrigens auf der Hand, daß infolge der Tatsache, daß in der Alltagssprache die Bedeutungsskala von iniuria eine umfangreiche war, so auch im juristischen Bereich von einem gewissen Zeitpunkt an die Anwendungsmöglichkeit des Wortes vergrößert wurde. Die Frage, zu welcher Zeit die juristisch bedingte Gebrauchserweiterung des Wortes einen Anfang genommen hat, läßt sich nur annähernd beantworten. Die Vermutung liegt indessen nahe, daß ein direkter Zusammenhang mit dem Aufkommen prätorischer Edikte bestanden hat, die sich mit Verletzungsklagen befaßten. Es gibt für die Datierung immerhin einen ungefahren Hinweis. Aus einem der der Frühzeit entstammenden prätorischen Edikte ist nämlich der Wortlaut eines informativen Teilabschnitts erhalten geblieben, u. zw. ein Satz aus dem edictum praetorum de aestimandis iniuriis ("Edikt der Prätoren für die Abschätzung von Injurienschäden"; für die Benennung des Edikts s. Gellius 20,1,13 u. 37). Es handelt sich um den Konzepttext für die Formulierung der demonstratio (d. h. des Prozeßgegenstandes); der Text findet sich bei Paulus,
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liber sing. de iniur., Coll. 2,6,4: quod Auli Ageri mala pugno percussa est, "betreffs des Rechtsfalles, daß mit der Faust auf die Wange des Aulus Agerius geschlagen wurde". Der Umstand nun, daß sich in einer Plautuskomödie, Asinaria, eine Anspielung auf das betreffende Edikt findet, bietet den gewünschten Anhaltspunkt rur die Zeitbestimmung; vgl. Asin. 371: pugno malam si tibi percussero. Das prätor ische Edikt de aestimandis iniuriis, so zeigt sich, existierte bereits um das Jahr 200 v. Chr.; der Erlaß des Edikts muß vermutlich früher angesetzt werden, irgend wann ins 3. Jahrh. v. Chr. (vgl. zur Datierung auch unten S. 240, 243). Das oben zitierte Edikt de aestimandis iniuriis nimmt eindeutig Bezug auf Körperverletzung. Paulus lib. sing. de iniur. erwähnt aber außerdem noch ein Konzept rur die demonstratio einer Prozeßformel, die sich mit einer Klage wegen Ehrverletzung befaßt. Vgl. Coll. 2,6,5 quod Numerius Negidius i/li fibellum misit Aufi Agerii infamandi causa, "betreffs des Rechtsfalles, daß Numerius Negidius dem und dem eine Schmähschrift übersendet hat, um Aulus Agerius in einen üblen Ruf zu bringen" (Hss.: quod Ns. Ns. i/lum immisit Ao. Ao. inf. causa; Emendationsvorschlag von LENEL, Ed. S. 401 N. 6; abw. Vorschlag bei DAUBE, Atti Congr. Verona 1948, III S. 431 ff.: quod Ns. Ns. capillum inmisit Ao. Ao. inf causa). Gemeint ist offenbar das prätorische Edikt ne quid infamandi causa fiat, "Verbot, daß etwas unternommen wird, die Ehre eines anderen zu verletzen". Zu dem sich gegen contumelia, "Beschimpfung" richtenden Edikt vgl. Ulpian 77 ad ed., Dig. 47,10,15,25. Für den Erlaß des Edikts gegen contumelia läßt sich wiederum nur eine ungefiihre Zeitangabe finden. Es zeigt sich nämlich, daß zur Zeit des Rhetors ad Herennium (etwa 86-82 v. Chr.) das conuicium (die "Schmähung") für ein Vergehen gehalten wurde, das unter die Gesamtbezeichnung iniuria einzureihen sei. Aus folgendem Zitat geht dies deutlich hervor: Rhet. Her. 2,26,41 falsae (definitiones) sunt huiusmodi: ut si quis dicat iniuriam esse nullam, nisi quae ex pulsatione aut conuicio constet, "eine falsche Definition ist folgenderart: wenn jemand etwa behaupten würde, es gebe keine Injurien außer denen, die aus Schlägerei oder Schmähung hervorgehen". Nach Ansicht des Rhetors gehört aber mehr dazu; an anderer Stelle umschreibt er den Begriff iniuria denn auch ausführlicher: 4,25,35 iniuriae sunt quae aut pulsatione corpus aut conuicio auris aut aliqua turpitudine uitam cuiuspiam uiolant, "mit dem Worte ,Injurie' bezeichnet man Vergehen, begangen von jemandem, der durch Schlagen den Körper, durch Schmähen die Ohren oder durch irgendwelchen Klatsch den Persönlichkeitswert eines anderen verletzt". Anhand der aus der Rhetorica ad Herennium zitierten Stellen wird man kaum mit der Annahme fehlgehen, daß schon längst vorher - sagen wir: zumindest schon um die Mitte des 2. Jahrhs. v. Chr. - der Termius iniuria nicht mehr nur rur Körperverletzung, sondern auch rur Ehrverletzung verwendet wurde. Vor der Zeit des Erlasses des prätorischen Edikts ne quid infamandi causafiat stand
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dem Geschädigten als Klagemöglichkeit somit lediglich eine Legisaktio zu Gebote, die auf einem der Zwölftafelsätze basierte, vermutlich auf dem Tafelsatz 8,1 qui malum carmen incantassit, "wer ein Zaubergedicht angestimmt hat" (vgl. Cicero, Tusc. 4,2,4; Festus pag. 190,32jJ. L.; Plinius, nat. 24,4,18; dazu CRAWFORD, Roman Statutes 11 S. 677 ff.). Andererseits muß angenommen werden, daß seit der Zeit, daß die sich mit Injuriensachen befassenden prätorischen Edikte erlassen wurden, sämtliche darauf basierende Verfahren in Form von Formularprozessen geführt wurden. Dies muß, so die zutreffende Bemerkung von WITTMANN (Die Körperverletzung S. 26 f.), sogar schon fiir Verfahren gegolten haben, die mit dem Edikt de aestimandis iniuriis verknüpft waren, d. h. mit einem aus dem 3. Jahrh. v. Chr. stammenden prätorischen Edikt. Es hat demnach bereits vor der Verabschiedung der Lex Aebutia (etwa Mitte 2. Jahr. v. Chr.) Formularverfahren gegeben (zur Frühgeschichte des Formularverfahrens vgl. auch KASERIHACKL, Proz. S. 153 ff. u. 159 f.). Gaius gibt im Abschnitt III 220-222 lediglich eine Übersicht über die Bedeutungen, die der Terminus iniuria in der klassischen Rechtssprache hatte. Ähnlich wie andere Klassiker verwendet auch er das Wort als Sammelbezeichnung fiir mehrere Formen der Verletzung, sowohl körperliche wie immaterielle. Was letztere Kategorie betrifft, macht er darauf aufinerksam, daß nicht nur Beleidigungen der eigenen Person, sondern ebenfalls solche, die Kindern und Ehefrauen angetan werden, hierher gehören und demzufolge klagbar sind (auffälIigerweise spricht er allein von uxores in manu, nicht auch von uxores sui iuris, vg. Komm. ad III 221) Wie gesagt, bespricht Gaius hier ausschließlich die Bedeutungen von iniuria, die im Rechtswesen der klassischen Zeit gängig waren; auf die vorklassische Periode, etwa die Zwöftafelzeit, wird erst im nachfolgenden Abschnitt III 223-225 näher eingegangen (s. besonders III 223).
b) III 223-225: Prozeßführung, Auferlegung von Bußen Der Passus, mit dem Gaius einen Rückblick auf die Rechtsprechung der Frühzeit einschaltet (III 223), ist äußerst kurzgefaßt. Der Autor begnügt sich mit einigen wenigen Verweisen auf Zwölftafelsätze, die sich mit Strafen wegen Körperverletzung befassen. Im nachfolgenden Satz (III 224) geht er ohne irgendwelche Überleitung zur Behandlung der zeitgenössischen (klassischen) Rechtspflege über. Wer Genaueres über Gaius' Vorstellungen von den Prozeßordnungen der Zwölftafelzeit erfahren will, muß, wie bekannt, den Exkurs über Legisaktionen zur Hand nehmen, den der Autor dem vierten Buche der Institutionen einverleibt hat: IV 11-31. Leider bereitet der Exkurs dem heutigen Leser in mehrerer Hinsicht eine Enttäuschung: die Interessen des Autors waren, wie SELB, Ge-
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dächtnisschrift W. Kunkel S. 396 f. mit Recht bemerkt, eher die eines Antiquars als die eines Rechtshistorikers. Man findet im Exkurs reichliche Aufzählungen von Einzelfakten, darunter wörtliche Zitate von alten Spruchformeln; auf Entwicklungsgeschichtliches jedoch wird so gut wie gar nicht eingegangen. Demzufolge haben die Rekonstruktionen der antiken Rechtsordnungen, welche die heutigen Forscher vorgenommen haben, in mehrfacher Weise einen hypothetischen Charakter: Vieles ist denn auch umstritten. Die Literatur ist ziemlich umfangreich; wir beschränken uns auf folgende Titel (dortselbst weitere Angaben), zunächst bezüglich der Legisaktionen und der Zwölftafelzeit: o. BEHRENOS, Der Zwölftafelprozeß (Göttingen 1974); W. SELB, Vom geschichtlichen Wandel der Aufgabe des iudex in der legis actio, Gedächtnisschrift W. Kunkel (Frankfurt a. M. 1984) S. 391 ff.; ders. in: HONSELLIMAYER-MALY/SELB, Röm. Recht (1987) S. 506 ff. (,Die legis actiones'); D. FLACH, Die Gesetze der frühen röm. Republik (Darmstadt 1994) S. 109 ff. (,Lex XII tabularum'); KASERI HACKL, Proz. (1996) S. 34 ff. (,Die legis actiones'); A. BÜRGE, Röm. Privatrecht: Eine Einleitung (Darmstadt 1999) S. 63 ff. (,Die Zwölf Tafeln als Grundgesetz'). Für die Entstehung des prätorischen Formularverfahrens und die dadurch bedingte Verdrängung der Legisaktionen: A. WATSON, The Development of the Praetor's Edict, JRS. 60 (1970) S. 105 ff.; M. KASER, Ius honorarium und ius civile, Zs. Sav. Rom. 101 (1984) S.1 ff.; SELB in HONSELLIMAYER-MALY/ SELB (1987) S. 524 ff. (,Der Übergang zum neuen Verfahren'); KAsERlHACKL (1996) S. 151 ff. (,Wesen und Herkunft des Formularverfahrens'); A. BÜRGE (1999) S. 72 ff. (,Charakteristische Züge des Formularverfahrens'). Die Fakten, über die Gaius in seinem Legisaktionenexkurs berichtet (IV 129), lassen sich in mehrerer Hinsicht noch durch anderweitige Quellen ergänzen. Es handelt sich dabei meist um Quellen von zerstreuter Herkunft und um Werke, in die, öfters in mehr oder weniger beiläufiger Weise, ein Zwölftafelzitat eingeschaltet wurde. Für das Gewinnen eines Einblicks in die dezemvirale Prozeßordnung kommen besonders zwei Autorenstellen mit Zwölftafelzitaten in Betracht: die eine findet sich beim Rhetor ad Herennium, die andere bei Gellius, Noctes Atticae. Vgl. Rhet. Her. 2,13,20 rem ubi pacunt fpagunt Hss.], , in comitio aut in foro ante meridiem causam coicito, "wenn sie (die Parteien) den Streit beilegen, soll er (der Gerichtsherr) dies verkünden; wenn sie ihn nicht beilegen, sollen sie (die Parteien) ihre Sache auf dem Comitium oder auf dem Forum vor der Mittagszeit kurz formuliert vorbringen". Und Gellius 17,2,10: ante meridiem causam coniciunt, cum perorant ambo praesentes; post meridiem praesenti litem addicito; si ambo praesentes, sol occasus suprema tempestas est, "sie (die Parteien) sollen vor der Mittagszeit ihre Sache kurz formuliert vorbringen, indem sie beide persönlich das Wort fUhren; nach der Mittagszeit soll er (der Gerichtsherr) dem Anwesenden (dem, der nicht aufgegeben hat und deshalb erschienen ist) die
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Sache zusprechen; wenn beide erschienen sind (und den Streit fortsetzen), ist Sonnenuntergang die Schlußstunde" (SCHÖLL ordnete beide Sätze als XII Tab. 1,6-9 in die Fragmentesammlung ein; fUr Interpretationsprobleme vgl. FLACH [1994] S. 118 ff.; CRAWFORD 11 [1996] S. 594 ff.; KASERlHACKL [1996] S. 115 ff.). Trotz der Deutungsprobleme, die den Zwölftafelfragmenten anhaften, dürften sie fUr gewisse Konstatierungen genügend hergeben. Eine nicht unwichtige Konstatierung ist die, daß es in der Zwölftafelzeit auch ungeteilte Rechtsverfahren gegeben hat. Allerdings muß, wie sich unten zeigen wird, gleichfalls festgestellt werden, daß die wichtigeren Verfahren schon damals zweiteilig oder wenigstens annähernd zweiteilig waren. Für ungeteiltes Verfahren lassen sich folgende Beispiele anfUhren. Zunächst der Fall, in dem die Parteien bereit waren, eine friedliche Lösung des Streites anzustreben. Es war dann die Aufgabe des Gerichtsherrn, eine Einigung über die Wiedergutmachungssumme zu vermitteln (und das Ergebnis zu proklamieren). Ungeteilt war der Prozeß ebenfalls in den Fällen, in denen ein auf frischer Tat ertappter Dieb vom Bestohlenen aufgrund der legisactio per manus iniectionem ("gesetzliches Verfahren mittels Handauflegung") festgenommen und vor den Gerichtsherrn gebracht worden war. Letzterer konnte nun den Dieb, wenn er die Tat nicht bestritt, wegen Offenkundigkeit ohne weiteres, d. h. ohne Einsetzung eines weiteren Verfahrens, dem Bestohlenen addizieren (vgl. Komm. ad III 189 S. 149). Wurde aber der Streit fortgesetzt, so beauftragte der Gerichtsherr die Parteien, ihre Streitpunkte in aller Öffentlichkeit kurzgefaßt vorzutragen. Wenn sich dann herausstellte, daß immer noch keine der Parteien bereit war, die Unbegründetheit ihrer Klage einzugestehen, so verschaffte er ihnen die Möglichkeit, längere Plädoyers zu halten. Es ist aber anzunehmen, daß er in solchen Fällen zwecks näherer Beratung einige Beisitzer, iudices genannt, hinzuzuziehen pflegte - der Ansatz zur Entwicklung einer Zweiteilung des Verfahrens. Konnte der Prozeß an ein und demselben Tag nicht beendet werden, so regelte der Gerichtsherr die Vertagung und ließ den Beklagten Bürgen (uades) stellen (zu den uades der Zwölftafelzeit s. Gell. 16,10,8). Ob Gaius selber sich der Tatsache bewußt gewesen ist, daß in der Frühzeit ein Teil der rechtlichen Verfahren einen ungeteilten Ablauf haben konnte, läßt sich nicht mehr feststellen. Weder im Exkurs (IV 11-31) noch sonstwo erwähnt er diese Möglichkeit. Was den Exkurs betrifft, verdienen besonders zwei darin beschriebene Legisaktionen unsere Aufmerksamkeit: die legisactio sacramento ("gesetzliches Verfahren mittels einer Wettsumme": IV 13-17; in IV 14/15 große Textlücke) und die legisactio per iudicis postulationem ("gesetzliches Verfahren unter Anforderung eines Richters": IV 17a). In beiden Fällen handelt es sich um eine vom Gerichtsherrn vorgenommene Einschaltung eines richterlichen Konsiliums.
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Zunächst die legisactio sacramento (von SCHÖLL als XII Tab. 2,1 eingeordnet, von späteren Editoren als ebd. 2,la). Zu Beginn dieses Verfahrens pflegte der Gerichtsherr von den Parteien die Hinterlegung einer Wettsumme (sacramentum) zu fordern. Sodann installierte er ein richterliches Kollegium, das entscheiden sollte, welche der beiden Parteien es grundlos auf einen Prozeß hatte ankommen lassen. Für den als falschen Kläger Bezeichneten beinhaltete dies Verlust der Wettsumme. Über den Schlußakt des Sakramentsverfahrens wird im Gaiusbericht, sofern erhalten, nichts ausgesagt; die Vermutung liegt aber auf der Hand, daß nunmehr unter Hinweis auf den Bescheid des Sakramentskollegiums der Gerichtsherr selber das endgültige Urteil verkündete und erwartungsgemäß dem Sieger die Streitsache addizierte (vgl. SELB [1984] S. 391 ff.; dens. in HONSELLIMAYER-MALY/SELB [1987] S. 516 f.; KASERI HACKL [1996] S. 104 f.). Die Verfahrensweise der legisactio per iudicis postulationem ist erst durch die Auffindung des Gaiuspapyrus F (1933) genauer bekannt geworden (Gaius IV 17a, von den Editoren als XII Tab. 2,1 b eingeordnet). Der Kläger bittet den Gerichtsherrn um die Bestellung eines Richters (evtl. eines Richterkollegiums), dem die Prüfung der Beweise und das Fällen eines Urteils zu delegieren sei. In diesem Falle handelt es sich somit um die Herstellung einer vollständigen Zweiteilung des Verfahrens. Im Gegensatz zu der legisactio sacramento, die allgemeinen Charakter hatte, besaß die legisactio per iudicis postulationem nur eine engumgrenzte Zuständigkeit: ausschließlich rur Klagen auf Stipulationsforderungen und auf Teilung eines gemeinsamen Besitzes. Folglich war derjenige, der wegen Körperverletzung oder sonstiger Injurie klagen wollte, sofern sich kein gütiger Vergleich schließen ließ, ohne weiteres auf das Einleiten einer legisactio sacramento angewiesen. Wie Gaius III 223 anhand einiger Beispiele darlegt, standen die Strafsummen, die ein wegen Körperverletzung Verurteilter zu zahlen hatte, zur Zwölftafelzeit von vornherein fest. Wer bei einem Freien ein Körperglied zerschlagen hatte, zahlte 300 Asses, wer bei einem Sklaven, 150 Asses. Für geringere Injurien wurden 25 Asses gezahlt (s. dazu oben S. 236 f) . Die starre Fixierung der Multsätze wurde, wie bekannt, eines Tages als unhandlich erfahren. Oben S. 238 f. wurde bereits die Bemerkung gemacht, daß es die Prätoren waren, die irgendwann im Laufe des 3. Jahrhs. v. Chr. angefangen haben, Abhilfe zu schaffen: mittels Erlassung von Edikten haben sie die Feststellung von Strafsummen flexibler gemacht. Der früheste geschichtlich überlieferte Erlaß ist das edictum praetorum de aestimandis iniuriis (Gellius 20,1,13 u. 37; Paulus, liber sing. de iniuriis, Coll. 2,6,4; das Edikt war zur Zeit des Plautus bereits bekannt, s. oben S. 239). Aus der Tatsache, daß schon im 3. Jahrh. v. Chr. ein prätorisches Edikt betreffs Abschätzung von Injurienschäden erlassen wurde, muß gefolgert werden, daß es auf alle Fälle seit der Zeit auch Formularverfahren gegeben hat. Der
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Prätor sah sich nämlich genötigt, einen Richter bzw. ein Richterkollegium einzusetzen, den bzw. das er mit der Abschätzung des Injurienschadens beauftragen könnte. Den Richtern mußte er genaue Anweisungen geben und zu dem Zweck ein Prozeßprogramm, eine formula, für sie herstellen (s. S. 239). Der S.243 zitierte Gelliusbericht (20,1,13) enthält lediglich einen kurzen Hinweis auf die Existenz eines prätorischen Edikts, in dem zwecks Abschätzung von Injurienschäden die Installierung von Rekuperatorenkollegien geregelt wurde. Der Gelliusbericht verschafft jedoch keine näheren Angaben über die Datierung des Edikts; er lautet ganz einfach: praetores ... recuperatores se daturos edixerunt, "die Prätoren erließen ein Edikt, daß sie Rekuperatoren ernennen würden". Die Frage, seit wann es in Rom Rekuperatoren für die Rechtsprechung gegeben hat, läßt sich somit nicht ohne weiteres mit Gewißheit beantworten (meist 3 Richter für je ein Kollegium). Das früheste rekuperatorische Verfahren, von dem wir genauere Kunde erhalten, stammt nämlich erst aus dem Jahre 171 v. ehr. Inmitten der von Livius beschriebene Jahresereignisse findet sich auch ein Bericht über einen Repetundenprozeß, der damals gegen drei ehemalige Statthalter der beiden Spanien geführt wurde (s. dazu auch oben S.29, in der Einleitung). Gemäß Livius 43,2,3 seien damals zwecks näherer Untersuchung und Urteilsfällung Rekuperatorenrichter ernannt worden (3 Kollegien zu je 5 Richtern, aus den Mitgliedern des Senats). Es läßt sich jedoch nachweisen, daß es schon erheblich früher Rekuperatorenprozesse gegeben hat. Hinweise auf ein Rekuperatorenkollegium finden sich schon bei Plautus, und zwar an zwei Stellen. Es sind unsere frühesten Belege. Und zwar zunächst Bacchides 270: postquam quidem praetor recuperatores dedit, "nachdem der Prätor dennoch Rekuperatoren bestellt hatte" (weil der Ephesier Archidemides eine geliehene Geldsumme nicht zurückerstatten wollte, war er beim Gericht verklagt worden). Sodann Rudens 1282: quem ad recuperatores modo damnauit Plesidippus, ,,(ich, Labrax,) den Plesidippus heute vor dem Rekuperatorengericht hat verurteilen lassen" (Labrax, der Kuppler, hatte den Freiheitsprozeß verloren und hatte die Hetäre Palaestra herausgeben müssen). Man könnte einwenden, daß Plautus, dessen Stücke im Osten spielen, für dortige Obrigkeitspersonen schlechthin Phantasiebezeichnungen verwendet hat; trotzdem muß zugegeben werden, daß er nicht von praetor und recuperatores hätte sprechen können, wenn diese Wörter für sein römisches Publikum keine gängigen Begriffe gewesen wären. Folglich müssen wir annehmen, daß es in Rom schon im 3. Jahrh. v. ehr., und nicht erst seit 171 v. ehr., recuperatores gegeben hat, die nach den Anweisungen der prätorischen Edikte Recht zu sprechen pflegten (vgl. auch WITIMANN [1972] S. 26 f.). Aller Wahrscheinlichkeit nach hat es ebenfalls schon früh Einzelrichter gegeben, die mit der Rechtsprechung in Injuriensachen beauftragt waren. In welchen Fällen das Formularverfahren vor Rekuperatoren dem vor dem Einzelrichter Konkurrenz machte, läßt sich nicht mehr genau feststellen. Das Rekupe-
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ratorenverfahren dürfte vor allem dann bevorzugt worden sein, wenn im öffentlichen Interesse eine straffere Gestaltung des Verfahrens angestrebt wurde (vgl. dazu KASERIHACKL, Proz. S. 199 ff.). Das oben kurz erörterte Aufkommen der prätorischen Rechtspflege, d. h. die Rechtspflege der zwischen der Zwölftafel- und der klassischen Zeit liegenden Periode, wird, wie gesagt, in der Gajanischen Darstellung gänzlich übergangen. Der Autor beschäftigt sich III 224/25 ausschließlich mit der Rechtsprechung der klassischen Zeit. Zu Beginn hebt er ausdrücklich hervor, daß das klassische Injurienverfahren ein ganz anderes sei als das der Zwölftafelzeit (III 224 sed nunc alio iure utimur). Es zeigt sich, daß der hier von Gaius beschriebene Injurienprozeß im großen und ganzen dieselben Kennzeichen hat wie sonstige private, auf dem prätorischen Edikt beruhende Prozesse wegen Verbindlichkeiten (ob/igationes); das Verfahren hat somit einen völlig honorarrechtlichen Charakter. Dies beinhaltet, daß der als Kläger auftretende Verletzte selber eine Schätzung des erlittenen Schadens vornehmen und beim Gericht einreichen mußte. Der Richter konnte aber nach eigenem Ermessen handeln: er konnte der dargebotenen Schätzung Folge leisten, hatte andererseits auch die Freiheit, davon abzuweichen und den Beklagten zu einer niedrigeren Summe zu verurteilen. Nur wenn es sich um eine ernsthaftere Persönlichkeitsverletzung (atrox iniuria) handelte, pflegte der zuständige Prätor selber einzugreifen und eine persönliche Schätzung vorzuschlagen. Jedoch, auch in solchen Fällen stand es dem Richter frei, davon abzuweichen - aIlerdings fiel die Schätzung des Prätors beim Richter in der Praxis schwerer ins Gewicht als die eines beliebigen Privatmannes. Die Frage, rur welche Arten von Persönlichkeitsverletzung die actio iniuriarum in der klassischen Zeit zuständig war, läßt sich nur ungefähr beantworten. Wie Gaius selbst III 220-222 darlegt, liegen außer Klagen wegen Körperverletzung auch solche wegen Beschimpfung und Schmähung, überdies auch wegen Beleidigung von Angehörigen, im rechtlichen Bereich der actio iniuriarum. Man gewinnt sogar den Eindruck, daß Klagen wegen Schmähung und ähnlicher Vergehen (contumelia) den Hauptanteil der klassischen Injurienprozesse ausgemacht haben. Wie oben S. 238 bereits vermerkt, hat Labeo im Einklang hiermit die Aussage gemacht, daß im prätorischen Injurienedikt fortwährend nur von contumelia die Rede sei (vgl. Paulus, Coll. 2,5,1 Labeo putabat apud praetorem ,iniuriam ' üßpw dumtaxat signijicare, "Labeo war der Ansicht, daß ,iniuria' beim Prätor lediglich ,Schmähung' [üßpu;] bedeute"). Wegen der Dürftigkeit der QueIlen aber sind Einzelkeiten durchweg unklar (vgl. die Zusammenfassung bei ZIMMERMANN, Law of Obligations S. 1052 f., mit Lit.). Soviel dürfte indessen feststehen, daß, wer wegen arger körperlicher Mißhandlung und nicht nur wegen ordinärer Beleidigung - Klage erheben wollte, seine Ansprüche auf keinen FaIl in einer ediktalen actio iniuriarum, vielmehr in einer strafrechtlichen actio ex lege Cornelia de iniuriis (seit SuIla, 81 v. Chr.), somit
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in einem Quästionenverfahren, geltend zu machen hatte (zur Konkurrenz der beiden Verfahrensweisen s. LIEBS, Klagenkonkurrenz S. 270 ff.; zur Lex Cornelia de iniuriis s. KUNKEL, ,Quaestio', RE. XXIV S. 720 ff., bes. 742 ff. [= K!. Schr. S. 59 f.]; B. SANTALUClA, Diritto e processo penale 2 S. 151 ff. u. 212 0. Es ist aufflillig, daß Gaius in diesem Zusammenhang das auch fUr Injuriensachen zuständige außergewöhnliche Kognitionsverfahren, d. h. die besonders zu seiner Zeit sich stark im Aufwind befindende Prozeßform cognitio extra ordinem, völlig unerwähnt läßt. Man ist geneigt anzunehmen, daß unser Autor bei der Herstellung des Lehrbuches sich vorzugsweise auf Quellen stützte, die aus der klassischen Zeit stammten, und demzufolge den Neuentwicklungen der eigenen Zeit, sofern sie auf prozessualem Gebiet lagen, kaum Beachtung geschenkt hat.
§ 220: 8/9 Iniuria autem committitur non solum, cum quis pugno puta aut fuste percussus uel etiam uerberatus erit, sed etiam, si cui conuicium factum fuerit: "Eine Unrechtmäßigkeit (Injurie) hingegen wird nicht nur dann begangen, wenn jemand etwa mit der Faust oder mit dem Knüppel geschlagen oder gar verprügelt wird, sondern auch wenn jemandem eine Schmähung angetan wird". Durch Einschaltung der Partikel autem ("andererseits, hinwiederum") hebt Gaius hervor, daß im Nachfolgenden Deliktsklagen erörtert werden sollen, die andere Tatbestände erfassen als die, welche im vorherigen Abschnitt, dem über die actio legis Aquiliae (III 210-219), besprochen wurden. Wie oben S. 205 ff. bereits dargelegt, bietet die Lex Aquilia in der Hauptsache Regelungen fUr Klagen auf Schadenersatz. Es handelt sich dabei um einen ziemlich eng umgrenzten Kreis von Tatbeständen: Tötung eines fremden Sklaven oder eines fremden Herdentieres; ferner Tötung oder Verwundung von sonstigen Tieren, die Eigentum eines Fremden sind, etwa Hunde, Bären, Löwen usw.; und schließlich wiederrechtliche Beschädigung fremder Güter, etwa Gebäude, Schiffe, Wagen, Gebrauchsgegenstände usw. Wiedergutmachung von Vermögensschäden steht im Vordergrund. Die actio iniuriarum dagegen hat vornehmlich pönalen Charakter, d. h. sie zielt auf Bestrafung von Beleidigungen. Eine deutliche Umschreibung des Unterschiedes zwischen den actiones legis Aquiliae und iniuriarum findet sich bei U1pian 77 ad ed. pr., Dig. 47,10,15,46, u. zw. an einer Stelle, wo er Labeo zitiert (/ibri ad edictum, LENEL, Pa!., Labeo Nr. 137): Labeo scribit eandem rem non esse, quia altera actio ad damnum pertineret culpa datum, altera ad contumeliam, "Labeo schreibt, es sei nicht dasselbe, da die eine Klage (legis Aquiliae) sich gegen einen widerrechtlich zugefUgten Schaden richte, die andere (iniuriarum) gegen eine Beleidigung". Gemäß Labeo schloß somit die eine Klage die andere nicht aus; es war seiner Meinung nach sogar erlaubt, beide Klagen zu häufen. Als Beispiel fUhrt er folgenden Fall an (Labeo bei U1pian a. a. 0.): si quis seruo uerberato iniuriarum egerit, deinde postea damni iniu-
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riae agat; das heißt, "wenn jemand wegen Verprügelung seines Sklaven eine Injurienklage erhoben hat und nachher anschließend wegen zugerugten Schadens (aufgrund der Lex Aquilia) Klage erhebt". Zur Konkurrenz der beiden actiones vgl. LIEBS, Die Klagenkonkurrenz S.229; WITIMANN, Die Körperverletzung S. 61 f., dazu N. 52; HAUSMANINGER, Lex Aquilia S. 41 f.; Labeo zum Trotz blieb die Frage, ob die eine actio die andere konsumiere oder nicht, eine strittige, vgl. Paulus, lb. sing. de concurr. actionibus, Dig. 44,7,34 pr. Der älteste Beleg rur iniuria stammt aus der Gesetzessprache, u. zw. den XII Tafeln (8,4 s. u.). Im nichtjuristischen Sprachgebrauch aber dürfte das Wort, obwohl erst später belegt, nicht weniger früh vorgekommen sein: der THES. (VII 1 S. 1670,17 ff.; vgl. auch ebd. 1668,23/) bietet rur iniuria in gemeinsprachlichem Sinne seit Naevius und Plautus zahlreiche Belege. Es sind jeweils Stellen, wo es sich nicht um gerichtliche Klagemöglichkeiten handelt. Vgl. z. B. Plaut. Aul. 643 facisne iniuriam mihi annon?, "tust du mir Unrecht oder nicht?" (Frage des Sklaven Strobulus an Euclio, der ihn lediglich des Verdachts auf Diebstahl wegen ohrfeigt). Ferner kann der Ablativ iniuria in adverbialem Sinne gebraucht werden, vgl. etwa Plaut. Aul. 330 f.: herc/e, iniuria dispertisti: pigniorem agnum isti habent, "bei Hercules, du hast ungerecht verteilt: deine Leute haben das fettere Lamm" (der Koch Congrio beklagt sich, weil seine Helfer das magerere Lamm bekommen haben; vgl. ferner zum AbI. THES. VII 1 S. 1679,30 ff.). Bei Gaius findet sich ebenfalls der Gebrauch von iniuria in gemeinsprachlichem Sinne, vgl. etwa inst. III 43: in bonis libertinarum nu/lam iniuriam antiquo iure patiebantur patroni; cum enim hae in patronorum legitima tutela essent, non aliter scilicet testamentum facere poterant quam patrono auctore, "nach altem Recht brauchten die Patrone in betreff des Vermögens ihrer weiblichen Freigelassenen keine Unbill zu erleiden; da letztere nämlich der gesetzlichen Vormundschaft der Patrone unterstanden, konnten sie selbstverständlich auf keine andere Weise ein Testament errichten denn mit Zustimmung des Patrons". Der Terminus iniuria hat, wie gesagt, schon an einer Stelle des Zwölftafelgesetzes prozeßrechtlichen Charakter gehabt, u. zw. 8,4: si iniuriam alteri faxsit, xrv aeris poenae sunto. Unter iniuria wurde hier, so stellt sich heraus, ,Körperverletzung' verstanden, die durch Fausthiebe oder Stockschläge herbeigeruhrt wurde (s. auch S. 236, 246). Der Verletzte konnte daraufhin unter Hinweis auf die betreffende Zwölftafelstelle gegen den Täter eine legisactio sacramento in personam anstrengen. Wenn der Gerichtsherr der Klage stattgab, mußte der verurteilte Täter 25 Asses Buße zahlen. In der Folgezeit fand eine erhebliche Ausweitung der prozessualen Anwendbarkeit des Terminus iniuria statt. Es war eine Ausweitung, die mehr oder weniger parallel zur ständigen Weiterentwicklung der ediktalen Jurisdiktion des Prätors einherging. Nicht nur der Begriff ,Körperverletzung' wurde prozeßrechtlich ausgedehnt, es kamen noch die Begriffe ,Persönlichkeitsverletzung' und ,Schmähung' hinzu. Für eine ausruhrliche
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Übersicht des Gebrauchs von iniuria in prozeßrechtlichem Sinne vgl. THES. VIII 1 S. 1668,26-1670,1 1. Es zeigt sich, daß die Frage, in welchen Fällen die aetio iniuriarum sich anwenden ließ oder nicht, auch die Autoren der rhetorischen Lehrbücher beschäftigt hat, u. zw. insbesondere im Zusammenhang mit der Behandlung der Statuslehre. Vgl. z. B. Quintilian, inst. or. 3,6,49 (Status definitionis: der Angeklagte gibt dem Vorfall eine abweichende Beschhreibung): pereussi, sed non iniuriam feei, "ich habe dich angestoßen, habe aber keine Injurie begangen" (Aristoteles, rhet. 1,13,9 pag. 1374a2 gibt ein ähnliches Beispiel). Ferner Quint. inst. or. 7,4,32 (Status qualitatis: das Geschehene steht fest, die Beschaffenheit des Geschehenen jedoch steht in Frage): sed alia quoque multa eontrouersiarum genera in qua/itatem eadunt. iniuriarum: quamquam enim reus aliquando feeisse negat, plerumque tamen haec actia facta atque animo eontinetur, "aber auch viele andere Prozeßthemen können ein Beschaffenheitsproblem mit sich bringen: nimm den Injurienprozeß (Prozeß wegen einer ,Unrechtmäßigkeit'): denn wie sehr auch ein Angeklagter mitunter in Abrede stellen will, eine ,Injurie' begangen zu haben, so stützt ein solches Verfahren sich dennoch fur gewöhnlich auf die (konkrete) Tat und den (eigentlichen) Vorsatz". Nach Quintilians Ansicht war ,iniuria' anscheinend ein ziemlich schwammiger Begriff: es mußte erst einmal festgestellt werden, worum es sich genaugenommen handelte. Für Allgemeines über das Verhältnis der Gerichtsrhetorik zur Jurisprudenz vgl. WIEACKER, Röm. Rechtsgesch. I S. 662 ff., bes. über die Status lehre S. 669 ff. (mit reichl. Lit.). In betreff der Einrede des Angeklagten, die vom Kläger beantragte actio sei nicht gültig, vgl. KASERIHACKL, Proz. S. 256 ff. 10/11 siue quis bona alicuius quasi debitoris sciens eum nihil sibi debere proscripserit, siue quis ad infamiam alicuius Iibellum aut carmen scripserit: "sei es, daß jemand die Güter eines anderen, als sei er sein Schuldner, wohl wissend, daß er ihm nichts schuldet, durch Aushang zur Versteigerung ausgeboten hat, sei es, daß er zu jemandes Verunglimpfung ein Pamphlet oder Schmähgedicht geschrieben hat". Eine ähnliche Übersicht der Tatbestände, die mit der aetio iniuriarum verfolgt werden können, findet sich bei Inst. lust. 4,4,1; besonders ausfiihrIich ist der Umfang des Abschnitts de iniuriis et famosis /ibellis in Dig. 47,10. Für eine gute Auswahl von Tatbeständen auf dem Gebiet der Rufbeschädigung, die in klassischer Zeit Anlaß zur Anwendung der aetio iniuriarum gaben, vgl. M. HAGEMANN, Iniuria (1998) S. 75 ff. Bei dem von Gaius an dieser Stelle angefiihrten Einzelfall siue quis bona alieuius quasi debitoris ... proscripserit handelt es sich um eine fiilschlich erhobene Klage auf Schuldzahlung. Die vom Übeltäter ausgedachte listige Arbeitsweise muß man sich offenbar wie folgt vorstellen. Zunächst wartete er, der Täter, einen günstigen Augenblick des Zuschlagens ab; vor allem Perioden längerer Abwesenheit des Opfers boten Möglichkeiten. Er konnte dann, zumal wenn kein Vertreter des Opfers zurückgeblieben war, in aller Ruhe Klage auf
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Zahlung einer fingierten Schuld erheben. Wenn der Abwesende sich nicht stellte, meldete der Täter sich mit einem Zeugen beim Prätor und ließ das Vorliegen einer Indefension amtlich bestätigen. Daraufhin erwirkte er vom Prätor Einweisung in die Habe des Opfers (missio in bona) und machte die Einweisung und die beabsichtigte Versteigerung außerdem durch öffentlichen Aushang publik (proscriptio). Die Folge war Konkurs des Opfers und in Zusammenhang damit Verhängung der Infamie. Für den Geschädigten Anlaß genug, eine actio iniuriarum anzustrengen. Ein kurzer Hinweis auf die Anwendungsmöglichkeit der Injurienklage im Falle des unrechtmäßigen Prozessierens wegen einer nichtexistierenden Schuld findet sich auch bei Ulpian 77 ad ed., Dig. 47,10,15,33: si quis non debitorem quasi debitorem appellauerit iniuriae faciendae causa, iniuriarum tenetur, "wenn jemand in ehrenrühriger Absicht einen Nichtschuldner als Schuldner bezeichnet, so läßt sich ein Injurienverfahren gegen ihn anhängig machen". Zu den Themen ,Nichtschuldner als Schuldner bezeichnen' und ,fiilschliche Einweisung in fremden Besitz' lassen sich aus der forensischen Literatur ebenfalls Beispiele anfuhren; ein bekannter Fall ist etwa Ciceros Rede pro Publio Quinctio (81 v. Chr.). Cicero berichtet dortselbst (6,22-27), wie der heimtückische Prozeßgegner Naevius vor etwa zwei Jahren die Abwesenheit des P. Quinctius, d. h. des eigenen Geschäftspartners, dazu benutzt hatte, letzteren wegen angeblicher Schuld gerichtlich zu belangen und ihn danach wegen NichtsteIlung beim Prätor anzuzeigen (Prätor Burrienus, 83 v. Chr.). Naevius hatte mehrere Zeugen mitgebracht, damit sie die Indefension des Quinctius bestätigen konnten (6,25 testificatur iste ,Po Quinctium non stetisse et stetisse se'.). Sodann hatte Naevius beim Prätor beantragt, daß ihm Einweisung in den Besitz des Quinctius gewährt werde (ebd. postulat... ut ex edicto bona possidere liceat). Dies wurde bewilligt, und daraufhin ließ Naevius durch öffentlichen Aushang die Versteigerung der Habe des Quinctius bekannt machen (ebd. iussit bona proscribi). Für Weiteres über den Inhalt der Rede pro Quinctio vgl. A. H. J. GREENIDGE, The Legal Procedure of Cicero's Time (London 1901, Ndr. New York 1971) S. 571 ff. (Appendix 11: ,pro Quinctio'). Anläßlich der Rede pro Quinctio sei nebenbei bemerkt, daß allem Anscheine nach zu Ciceros Zeit der römische Prätor auch außerhalb Italiens eine gewisse Gerichtsgewalt innehatte: der Prätor Burrienus konnte die missio in bona auf ein in der Provinz Gallia Narbonensis liegendes Grundstück anordnen (vgl. dazu GREENIDGE S. 96; KASERIHACKL, Proz. S. 243 f.). Anschließend an das Thema ,falsche Verdächtigung der Zahlungsfahigkeit' behandelt Gaius als weitere Injurienthemen ,Verunglimpfung durch Pamphlete' und ähnliches ,boshaftes Benehmen': siue quis ... /ibellum aut carmen scripserit. Eine ausfiihrlichere Aufzählung derartiger Böswilligkeiten findet sich bei Ulpian 77 ad ed., Dig. 47,10,15,27: generaliter uetuit praetor quid ad infamiam alicuius fieri; proinde quodcumque quis fecerit uel dixerit, ut alium infamet,
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erit actio iniuriarum. haec autem fere sunt, quae ad infamiam alicuius fiunt: ut puta ad inuidiam alicuius ueste lugubri utitur aut squalida, aut si barbam demittat uel capi/los submittat aut si carmen conscribat uel proponat uel cantet aliquod, quod pudorem alicuius laedat: "Der Prätor hat ganz allgemein verboten, daß gegen einen anderen etwas in rufschädigender Absicht unternommen wird. Deshalb kann alles mögliche, was jemand getan oder gesagt hat, um den anderen zu infamieren, Sache einer Injurienklage sein. In verleumderischer Absicht begangene Handlungen sind beispielshalber die folgenden: etwa wenn jemand, damit er einen anderen in Verruf bringt, Trauerkleidung trägt oder schmutzige Lumpen; oder wenn er den Bart wachsen und die Haare herabhängen läßt; oder wenn er ein Gedicht schreibt, aushängt und vorträgt, das die Ehre eines anderen antastet". Es zeigt sich, daß sich eine vollständige und festumgrenzte Aufzählung der Tatbestände, die für Injurienklagen in Betracht kommen, nicht geben läßt. Häufig kann der Gerichtsherr erst nach genauerer und längerer Prüfung der Anzeige die Entscheidung treffen, ob er die beantragte actio iniuriarum erteilen soll oder nicht. Der Umstand, daß es viele Zweifelsfalle gab und daß man sich darüber streiten konnte, ob im vorliegenden Falle die actio iniuriarum sich anwenden ließ, hat sogar den Rhetorenschulen Stoff zum Deklamieren geliefert. Ein bekanntes Beispiel findet sich bei Seneca Rhetor, contr. 10,1(30). Es handelt sich um folgendes Thema: Iniuriarum sit actio. Quidam cum haberet filium et diuitem inimicum, occisus inspoliatus inuentus est. adulescens sordidatus diuitem sequebatur; diues eduxit in ius eum et postulauit, ut si quid suspicaretur, accusaret se. pauper ait: ,accusabo cum potero', et nihilominus sordidatus diuitem sequebatur. cum peteret honores diues repulsus accusat iniuriarum pauperem: "Anwendung einer Injurienklage. Ein Mann, der zu der Zeit einen Sohn, aber auch einen reichen Feind hatte, wurde ermordet aufgefunden; er war nicht beraubt worden. Der junge Sohn hüllte sich in Trauerkleidung und unablässig folgte er dem Reichen. Letzterer brachte ihn vor Gericht und forderte ihn auf, ihn zu verklagen, wenn er irgendeinen Verdacht hegte. Der Arme antwortete: ,ich werde eine Klage einreichen, sobald ich es kann'; dessenungeachtet fuhr er fort, dem Reichen in Trauerkleidung zu folgen. Als aber der Reiche bei der Bewerbung um ein Amt abgelehnt wurde, brachte er gegen den Armen eine Injurienklage ein." Anschließend berichtet Seneca Rhetor über die Ausarbeitung des Injurienthemas durch mehrere Rhetoren. 11-1 siue quis matrem familias aut praetextatum adsectatus fuerit; et denique aliis pluribus modis: "sei es, daß jemand einer verheirateten Frau oder einem mit der Prätexta gekleideten Knaben nachgelaufen ist; und schließlich infolge vieler sonstigen Tatbestände". Gaius beschränkt sich hier auf die Erwähnung zweier Sondertatbestände, die mit der actio iniuriarum verfolgt
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werden können: Belästigung einer ehrbaren Frau oder eines ordentlich gekleideten Knaben. Eine ausführlichere Aufzählung der klagbaren Tatbestände findet sich bei Paulus sent. 5,4,14 (= Dig. 47,11,1,2): qui puero praetextato stuprum aliudue jlagitium abducto ab eo uel corrupto comite persuaserit, mulierem puellamue interpel/auerit, quidue pudicitiae corrumpendae gratia fecerit, donum praebuerit pretiumue, quo id persuadeat, dederit; perfecto jlagitio capite punitur, imperfecto in insulam deportatur; corrupti comites summa supplicio adficiuntur: "falls jemand einen mit der Prätexta gekleideten Knaben nach Wegführung oder Bestechung seines Begleiters zur Unzucht oder zu sonstiger Schandtat verführt hat; einer Frau oder einem Mädchen unzüchtige Anträge gemacht oder sonst etwas zur Beeinträchtigung ihrer Sittsamkeit unternommen hat; ein Geschenk dargereicht oder, um zu verfUhren, Geld gezahlt hat; so wird ebendieser, wenn er die Schandtat vollfUhrte, mit dem Tode bestraft, wenn er sie nicht vollfUhrte, auf eine Insel verbannt; die Begleiter, die sich haben bestechen lassen, werden auf das schärfste gestraft." Selbstverständlich ist es fraglich, ob die Rechtsnormen der Paulussentenzen, die fUr die Severerzeit galten, auch schon in der Antoninenzeit, 40 Jahre früher, Anwendung fanden. Vor allem die Androhungen der Todesstrafe fallen auf. Vieles weist darauf hin, daß in der Severerzeit sich eine Tendenz zur Strafverschärfung breitrnachte. Die früheren Quellen lassen eher darauf schließen, daß man in den vorhergehenden Jahrhunderten im Durchschnitt weniger rigoros vorging, insbesondere weniger unwiderruflich, wenn es sich um Sittenwidrigkeiten, Ehebruch und Päderastie handelte. Wir beschränken uns, was die früheren Quellen betrifft, auf einige wenige Beispiele: drei Stellen aus den Annalen des Tacitus, eine aus der Korrespondenz des jüngeren Plinius. An den 3 Stellen, an denen Tacitus über aufsehenerregende Ehebruchprozesse berichtet, lauteten die Urteile auf Relegation oder Verbannung, nicht auf Todesstrafe. Es sind die folgenden: anno 2,50,1 ff. (17 n. Chr.: Appuleia Varilla wird aus Rom relegiert); 2,85,1 ff. (19 n. Chr.: Vistilia wird auf die Insel Seriphos verbannt); 4,42,3 (25 n. Chr.: Aquilia wird verbannt). Die Pliniusstelle findet sich epist. 6,31,4 ff. (107 n. Chr.). Es ist dort von einem in Ephesos (Provinz Asia) geführten Ehebruchprozeß die Rede. Es wurde ein ehebrecherischer Zenturio verurteilt: Enthebung aus der Stellung und Verbannung. Die Fälle, über die Tacitus berichtet, waren Senatsverfahren; das von Plinius erwähnte Verfahren fand vor dem Statthalter statt. In betreff der Bestrafung der Päderastie findet sich bei Quintilian eine Aussage: inst. or. 4,2,69 (ebenfalls 7,4,42) berichtet er, für einen Knabenschänder (stuprator) seien 10.000 Sesterze als Strafe festgesetzt worden. Es sei indessen darauf hingewiesen, daß es sich in obigen aus Tacitus, Plinius und Quintilian zitierten Fällen um Ehebruch- und Päderastieprozesse handelt, fUr die das augusteische Sittengesetz, die lex lulia de adulteriis coercendis, die Grundlage hergab. Bei der im Lemma zitierten Gaiusstelle hingegen und bei der
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Paulusstelle sent. 5,4,14 ist von andersartigen Sittenwidrigkeiten die Rede, u. zw. von solchen, die mit Persönlichkeitsverletzungen verknUpft sind: Verfilhrung eines Knaben aus gutem Hause, Bestechung eines Begleiters des Knaben, Belästigung einer ehrbaren Matrone, Nötigung eines sittsamen Mädchens usw. Das Gesetz bietet dem Familienvater, dessen Ehefrau, Sohn oder Tochter derartige Unbill hat erleiden mUssen, die Möglichkeit, gegen den Täter eine actio iniuriarum anzustrengen (s. dazu auch unten § 221). Aus dem Zusammenhang geht ferner hervor, daß gemäß Gaius derjenige, der wegen einer iniuria, evtl. einer iniuria atrox, eine Klage einreichen wollte, sich an den Prätor wenden mußte. In der Praxis bedeutete dies die Anstrengung eines Formular- oder Quästionenverfahrens. Die Verurteilung lautete auf eine Geldstrafe, deren Höhe mehr oder weniger von der vorhergehenden aestimatio des Verletzten oder des Prätors abhängig war. Gaius unterläßt es, hier darauf hinzuweisen, daß der Verletzte auch die Möglichkeit hatte, gegen den Täter ein außerordentliches Verfahren anhängig zu machen (etwa beim Stadtpräfekten oder beim Senat, s. oben S. 66 tT.). Viele Kläger haben, so scheint es, ein solches Verfahren damals schon deshalb bevorzugt, weil es strenger und zügiger war als das ordentliche. Leider fehlen die Quellen, die uns darUber genauer unterrichten könnten. Man wird trotzdem kaum fehlgehen, wenn man annimmt, daß die Strafen, die in außerordentlichen Verfahren wegen der hier zur Diskussion stehenden Injuriendelikte verhängt wurden, denen ähnlich gewesen sind, die ganz allgemein in den ersten Jahrhunderten des Prinzipats von außerordentlichen Richtern wegen Sittlichkeitsvergehen ausgesprochen wurden: Konfiskation eines Teils oder gar des ganzen Vermögens, Relegation, schlimmstenfalls Verbannung auf eine Insel. Eins der Kriterien, die bei der Feststellung des Strafmaßes eine Rolle spielten, war die Beantwortung der Frage, ob der Verletzte (bzw. die Verletzte) sich am Tage der Untat in schicklicher Kleidung in die Öffentlichkeit begeben hatte, so daß deutlich erkennbar war, daß es sich um eine Person aus ehrbarem Hause handelte: die Frau in matronali habitu, der Knabe in toga praetexta. Bei Bejahung der Frage galt es als aggravierender Faktor. Vgl. dazu KASER, Priv. I S. 624; ZIMMERMANN, Obligations S. 1056. FUr die Beurteilung von Pauli sententiae vgl. auch unten Komm. zu III 224 sed cum atrocem eqs. S. 263 ff., bes. S. 265 f. § 221: 1-3 Pati autem iniuriam uidemur non solum per nosmet ipsos, sed etiam per liberos nostros, quos in potestate habemus; item per uxores nostras, eum in manu nostra sint: "Wir erleiden aber nach rechtlicher Auffassung nicht nur eine Kränkung in eigener Person, sondern auch in der Person unserer Kinder, die der väterlichen Gewalt unterstellt sind; und ebenfalls in der unserer Ehefrauen, wenn sie der Manusgewalt unterstehen". Die Injurienklage des Mannes aus der Beleidigung seiner Frau wird hier der Klage aus der Beleidigung eines seiner der väterlichen potestas unterstellten Kinder gleichgestellt.
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Das heißt: der Mann kann, wenn seine Frau beleidigt wurde, nur dann einen Injurienprozeß anstrengen, wenn letztere der Manusgewalt untersteht. Das bedeutet somit, wenn wir den Gaiustext richtig interpretieren, daß nach Ansicht des Autors eine Ehefrau, die sui iuris (evtl. alieni iuris) ist, eine ihr angetane Injurie nicht mittels gerichtlichen Vorgehens ihres Mannes ahnden lassen kann; sie muß in eigener Person (evtl. in der ihres Vaters) eine actio iniuriarum gegen den Täter in Gang setzen. Aus einem Fragment, das Ulpian den Schriften des Neratius Priscus entnommen hat, geht indessen hervor, daß letzterer (er war Konsular unter Trajan und Hadrian) eine abweichende Meinung vertreten hat. Er behauptete nämlich, daß dem Manne, dessen Ehefrau beleidigt wurde, ganz generell eine Injurienklage zustehe. Demnach war es einerlei, ob die Frau sui iuris (evtl. noch in potestate patris) war oder ob sie eine Manusehe eingegangen war. Vgl. Neratius bei Ulpian 57 ad ed., Dig. 47,10,1,8 f. (= LENEL, Pal., Neratius, membr. Nr. 41): siue autem sciat quis fllium meum esse uel uxorem meam, siue ignorauerit, habere me meo nomine actionem Neratius scripsit: (9) idem ait Neratius ex una iniuria interdum tribus oriri iniurarum actionem neque ullius actionem per alium consumi. ut puta uxori meae flliae familias iniuria facta est: et mihi et patri eius et ipsi iniuriarum actio incipiet competere: "Neratius schreibt, daß eine Injurienklage mir persönlich zustehe, einerlei, ob der andere weiß, daß es mein Sohn oder meine Ehefrau ist, oder ob er es nicht gewußt hat. (9) Weiterhin legt Neratius dar, daß aus einer Injurie mitunter rur drei Personen je eine Injurienklage hervorgehen könne und daß die Klage des einen durch die des anderen nicht konsumiert werde. Nimm etwa den Fall, daß meiner Ehefrau, zugleich Haustochter eines Dritten, eine Beleidigung angetan wurde: dann wird sowohl mir wie ihrem Vater wie ihr selbst eine Injurienklage zustehen." Allem Anscheine nach ist die Frage, ob ein Mann wegen Beleidigung der Ehefrau auch dann in eigener Person eine Injurienklage erheben könne, wenn letztere sui iuris (bzw. in potestate patris) war, im 2. Jahrh. n. Chr. noch immer eine strittige gewesen. Neraz bejahte die Möglichkeit, Gaius hingegen verneinte sie. An der Parallelstelle, welche die Justinianer unserem Gaiustext entnommen haben, findet sich noch ein Nachhall dieses Juristenstreites, vgl. Inst. lust. 4,4,2: patitur autem quis iniuriam non solum per semet ipsum, sed etiam per liberos suos, quos in potestate habet; item per uxorem suam, id enim magis praeualuit: ,jemand erleidet aber nicht nur eine Kränkung in eigener Person, sondern auch in der Person seiner Kinder, die seiner väterlichen Gewalt unterstehen; und ebenfalls in der Person seiner Ehefrau, denn diese Meinung hat die Oberhand gewonnen". Übrigens geht aus einer kaiserlichen Verordnung des Jahres 230 (unter Alexander Severus) hervor, daß die Ansicht des Neratius schon damals die herrschende geworden war, vgl. Cod. 9,35,2: iniuriarum actio tibi duplici ex causa competit, cum et maritus in uxoris pudore et pater in existimatione flliorum propriam iniuriam pati intelleguntur, "aus doppeltem Grunde steht dir eine
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Injurienklage zu, da der Ehemann hinsichtlich der Ehrbarkeit seiner Frau und der Vater hinsichtlich des guten Rufes seiner Kinder persönlich Schmach erleiden kann". Der Gaiuseditor LACHMANN (1842) war der Ansicht, es sei kaum anzunehmen, daß Gaius an unserer Stelle eine von der "herrschenden" (d. h. von der der Inst. lust. 4,4,2) abweichende Lehre vorgetragen habe (Beschränkung der Klagemöglichkeit auf uxores in manu). Er schlug deshalb eine Textänderung vor, für die er eine alte Abschrift des Codex Veronensis als Grundlage benutzte, u. zw. V pag. 186,/ (s. dazu die LACHMANNsehe Ausgabe S. 306, N. 12 ad inst. III 221, nach item per uxores nostras): q. (?) l.NmANUNOS1:RASl.N't (die alte Abschrift stammte aus dem von GOESCHEN und HUSCHKE nachgelassenen Material; es wurde letztlich von BOECKING für sein Apographum [I866] benutzt). Anhand jener Abschrift stellte LACHMANN folgenden Text her: quamuis in manu non sint, "obwohl sie der Manusgewalt nicht unterstehen". Dabei sei davon auszugehen, daß q. auf einer Fehllesung rur qu. = quamuis beruhe, und nostra auf mißverstandenem N = non. Die von LACHMANN benutzte Abschrift enthielt jedoch, wie STUDEMUNDs Nachprüfung des Codex V zeigen sollte, einen Fehler. STUDEMUND las (Apographum [1873] V pag. 186,/): c.l.NmANuNos'tRASl.N't, d. h. cum in manu nostra sint (c. anstelle von q.). Trotz der von STUDEMUND getätigten Berichtigung haben in der Folgezeit viele Gaiuseditoren an der LACHMANNsehen Textgestaltung festgehalten (mitunter mit geringrugiger Änderung: quamuis in manu nostra sint). So etwa KRUEGERISTUDEMUND (mit Hinweis auf MOMMSEN); HUSCHKE; SECKELIKUEBLER; POSTE/WHITTUCK; BAVIERA (FlRA); REINACH; GORDON/ROBINSON; DAVID ua. Von zwei Editoren wurden die Worte cum in manu nostra sint als Glossem ausgeklammert: GlRARD (Textes ['I967] S. 171) und DE ZULUETA. Der einzige, der die Lesart des Codex V rur echt Gajanisch ansah und sie deshalb hat beibehalten wollen, war POLENAAR (Leiden 1876). Er rügte mit Recht die von den Editoren vorgenommene "willkürliche" Änderung der Überlieferung ("Editores temere Gaium ex Inst. corrigere studentes") und nahm an, daß im Laufe der Zeit "die Rechtsauffassungen in diesem Punkte sich geändert hätten" ("videtur hic locus testimonium nobis praebere iuris in hac re mutati"). POLENAAR dürfte hier recht gehabt haben. An anderen Stellen ist bereits darauf hingewiesen, daß Gaius in seinem Lehrbuch ziemlich häufig auf die besondere rechtliche Position der uxor in manu aufinerksam macht (vgl. etwa Komm. zu III 3 S. 60 f. und zu III 163 S. 364). Dies ist deshalb etwas auffällig, weil im Laufe des 2. Jahrhs. n. Chr. Manusehen stark im Rückgang begriffen waren. Anscheinend ist Gaius in gewissen Sachen noch ziemlich stark von älteren Quellen abhängig gewesen. 3-5 itaque si uel filiae meae, quae Titio nupta est, iniuriam feceris, non solum filiae nomine tecum agi iniuriarum potest, uerum etiam meo quoque et Titii nomine: "also, sogar wenn du meiner Tochter, die mit Titius verheiratet
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ist, eine Schmach zufilgst, so kann nicht nur im Namen der Tochter ein Injurienprozeß gegen dich gefilhrt werden, sondern auch in meinem Namen und in dem des Titius". Das Beispiel, das Gaius hier anfilhrt, ähndelt dem des Neratius Priscus (bei Upian, 57 ad ed., Dig. 47,10,1,9), das oben ad § 221 pati autem eqs. zitiert wurde. Es sei indes die Bemerkung hinzugefilgt, daß der Schwiegersohn Titius nach Gajanischer Auffassung nur dann eine Injurienklage in eigener Person anstrengen konnte, wenn er die Tochter in Manusehe geheiratet hatte. Die Abundanz etiam ... quoque (etiam meo quoque et Tit;; nomine) findet sich auch sonstwo in Gai inst.: I 140 quin etiam inuito quoque eo; 11 151 quin etiam si deleuerit quoque; II 271 quin etiam ab eo quoque. Wie bekannt, dient die Häufung der Ausdrucksverstärkung ("auch dazu noch"). Die Zitate im THES. V 2 S. 945,9 ff. zeigen, daß etiam ... quoque sich in der gesamten lateinischen Literatur belegen läßt, von Plautus bis Boethius. Vgl. dazu HOFMANN, Umgangsspr. S. 97, SZANTYR, Synt. S. 523. § 222: 5-9 Seruo autem ipsi quidem nulla iniuria intellegitur fieri, sed domino per eum fieri uidetur; non tamen isdem modis, quibus etiam per liberos nostros uel uxores iniuriam pati uidemur, sed ita, eum quid atroeius eommissum fuerit, quod aperte in tumeliam domini fieri uidetur, ueluti si quis alienum seruum uerberauerit: "Ein Sklave kann aber nicht in eigener Person Opfer einer Personenverletzung sein; man ist aber der Meinung, daß der Herr wegen des Sklaven schon eine Schmach erleiden kann; allerdings ertragen wir in dem Falle, rechtlich gesehen, nicht in demselben Maße wie wegen unserer Kinder und unserer Ehefrauen eine Schmach, sondern es ist nur dann eine Schmach, wenn eine grausige Untat verübt wurde, die offensichtlich auf die Beleidigung des Herrn gerichtet war, etwa wenn jemand einen ihm nicht gehörenden Slaven ausgepeitscht hat." Für Näheres über die Bedeutung von atrox iniuria siehe unten Komm. zu III 225. Die Verbalform intellegitur hat häufig phraseologischen Charakter, vgl. Komm. zu III 166 S. 371. 9-11 et in hune easum formula proponitur; at si qui seruo eonuicium feeerit uel pugno eum pereusserit, non proponitur ulla formula nee temere petenti datur: "filr diesen Fall ist im prätor ischen Edikt eine Klageformel publiziert worden; falls jedoch jemand einem Sklaven nur ein Schimpfwort zufilgt oder ihm mit der Faust einen Schlag versetzt, so ist dafilr keine einzige Klageformel publiziert worden und demjenigen, der darum ersucht, wird sie nicht leicht bewilligt". Aus der Tatsache, daß die Veröffentlichung einer speziell auf obigen Fall zugeschnittenen Klageformel (etwa: ,beleidigter Herr klagt wegen schimpflicher Behandlung seines Sklaven') expressis verbis hier erwähnt wird, darf gefolgert werden, daß es filr viele sonstige Fälle der Schmähung keine ediktalen Klageformeln gegeben hat. Der Prätor mußte dann von Fall zu Fall entscheiden, ob die Bewilligung einer Klageformel am Platze sei oder nicht. Aus U1pian 77 ad ed., Dig. 47,10,15,35 geht hervor, daß damals dem Herrn wegen arger Mißhandlung des Sklaven auch dann eine Klage bewilligt werden
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konnte, wenn keine gegen ihn persönlich gerichtete Absicht der Schmähung vonseiten des Täters nachgewiesen werden konnte. Vgl. dortselbst: si quis sie feeit iniuriam seruo, ut domino faeeret, uideo dominum iniuriarum agere posse suo nomine; si uero non ad suggillationem domini id fedt, ipsi seruo facta iniuria inulta a praetore relinqui non debuit, maxime si uerberibus uel quaestione fieret; hane enim et seruum sentire palam est: "wenn jemand in der Weise einem Sklaven eine Injurie antut, daß er damit den Herrn beleidigt, so kann der Herr, wie bekannt, im eigenen Namen eine Injurienklage anstrengen; wenn der Betreffende es aber nicht auf die Verhöhnung des Herrn angelegt hat, so sollte die dem Sklaven persönlich angetane Injurie dennoch vom Prätor nicht ungestraft hingenommen werden; insbesondere dann nicht, wenn es mit Peitschenhieben oder mit körperlicher Tortur getan wurde; ist es doch klar, daß auch der Sklave die Injurie empfindet". In obigem Ulpianzitat ist ab si uero eqs. eher von einer Verletzung des herrschaftlichen Verfügungsrechts über den Sklaven die Rede, als von einer persönlichen Kränkung des Herrn. Es dürfte indessen kaum wahrscheinlich sein, daß jene Bewilligung auf einem speziellen prätorischen Edikt beruhte; im U1pianzitat wird es mit keinem Wort erwähnt. Einige Autoren haben aus dem zitierten U1piantext herauslesen wollen, daß nicht der Herr, sondern der Sklave als Injurienopfer im rechtlichen Sinne betrachtet worden sei: vgl. dazu J. H. VAN MEURS, Iniuria ipsi servo facta, Tijdschr. 4 (1923) S. 278 ff.; F. RABER, Grundlagen klassischer InjurienansprUche (1969) S. 83 ff. Nach Ansicht jener Autoren habe zur Zeit des Kaisers Alexander Severus (222-235) eine gewisse Aufwertung der rechtlichen Position eines Sklaven stattgefunden - eine Annahme, die kaum zutreffen dUrfte . Gibt es doch keine einzige Quelle, aus der hervorgeht, daß in der Spätzeit den Sklaven je irgendwelche Rechtsfähigkeit zuerkannt worden ist. Jene Annahme ist denn auch von HAGEMANN, Injuria (1998) S. 84 ff. mit Recht zurückgewiesen worden (an jener Stelle werden vom Autor ebenfalls einige Interpolationsannahmen in betreffUlpian, Dig. 47,10,15,35 zurückgewiesen, die von frUheren Forschern vorgeschlagen wurden). Für Näheres über die rechtliche Stellung der Sklaven in der späten Kaiserzeit, inklusive der christlichen Zeit, vgl. KASER, Priv. 11 S. 124 ff. In betreff der Frage, unter welchen Umständen nach klassischem Recht ein Herr eine aetio iniuriarum beanspruchen konnte, wenn sein Sklave vonseiten eines Fremden eine Mißhandlung erlitten hatte, vgl. auch ZIMMERMANN, Law of Obligations S. 1058. § 223: 12/13 Poena autem iniuriarum ex lege XII tabularum propter membrum quidem ruptum talio erat: "Die Injurienstrafe für Zerschlagung eines Gliedes war nach dem Zwölftafelgesetz Vergeltung von Gleichem mit Gleichem (Talion)." Von Festus pag. 496,/5jJ. L. und Gellius 20,1,14 wird derselbe Zwölftafelsatz (8,2) zitiert, allerdings, wie die altertümliche Sprache zeigt, in authentischerer Form: si membrum rupit, ni eum eo paeit/ talio esto, "wenn jemand das Glied (eines anderen) zerschlägt, soll, wenn er mit dem ande-
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ren keinen Vergleich schließt, Vergeltung von Gleichem mit Gleichem die Strafe sein". Gaius hat anscheinend in der Absicht, die Grausigkeit des alten Gesetzes besonders kraß hervorzuheben, die Worte ni cum eo pacit, die besänftigend klingen, ausgelassen. Daß die Talion verwerflich sei, dürfte bei Gaius' Zeitgenossen herrschende Meinung gewesen sein. Bei Gellius 20,1,15 wird die "Härte" (acerbitas) des Zwölftafelgesetzes denn auch gerügt und außerdem die Bemerkung hinzugerugt, daß Talion in der Praxis kaum auf gerechte Weise durchruhrbar sei. Übrigens dürfte die Tatsache, daß der Zwischensatz ni cum eo pacit von der Sprache her betrachtet alt ist, darauf hinweisen, daß schon zu dezemviraler Zeit der Abschluß eines Vergleichs vor der Anwendung der Talion bevorzugt wurde. Die Beibehaltung der - anscheinend aus uralter Zeit stammenden Talion dUrfte, was das Zwölftafelgesetz betrifft, lediglich der Überlegung der Zehnmänner zuzuschreiben sein, daß es nützlich sei, ein Druckmittel rur den Fall zur Hand zu haben, daß der angeklagte Täter während der Verhandlung über die Abfindungssumme widerspenstiges Verhalten an den Tag legte. Gellius 20,1,34 findet rur die Beibehaltung der Talion im Zwölftafelgesetz eine ähnliche Erklärung: sed decemuiri minuere atque extinguere uolentes huiuscemodi uiolentiam pulsandi atque laedendi talione, eo quoque metu coercendos esse homines putauerunt; neque eius, qui membrum alteri rupisset et pacisci tamen de talione redimenda nollet, tantam esse habendam rationem arbitrati sunt, ut, an prudens inprudensue rupisset, spectandum putarent, aut talionem in eo uel ad amussim aequiperarent uel in librili perpenderent: "als nun die Zehnmänner mit dem Talionsgesetz diesen brutalen Schlägereien und Prügeleien entgegentreten und ein Ende bereiten wollten, waren sie der Meinung, daß sie die Leute auch durch Angst vor dem Gesetz im Zaum halten könnten; und somit glaubten sie, daß auf denjenigen, der einem anderen ein Glied zerbrochen und trotzdem rur die Talion keine Abfindung hatte zahlen wollen, nicht soviel Rücksicht genommen werden brauche, daß man verpflichtet sei zu untersuchen, ob der Täter das Glied wissentlich oder unwissentlich zerbrochen habe, oder gar zu untersuchen, ob man die Wiedervergeltung am Täter des Ausgleichs halber an der Meßlatte abmessen oder auf der Waage abwägen sollte". Von den Juristen der klassischen Zeit, die sich mit der Auslegung der Zwölftafeln beschäftigten (darunter Gaius) wurde membrum ruptum als eine Spezies des allgemeineren Begriffes iniuria klassifiziert. Iniuria fungierte somit als Sammelbegriff, der mehrere Arten von Unrechtmäßigkeiten umfaßte: Körperverletzungen in unterschiedlicher Härte, Ehrenverletzungen, sonstige Beleidigungen. Zur Zwölftafelzeit jedoch hatte iniuria allem Anscheine nach im rechtlichen Verkehr eine erheblich engere Bedeutung, etwa "kleinere Unrechtmäßigkeit", für deren Ahndung eine verhältnismäßig geringe Buße genügte (25 Asses, s. Komm. unten zu ,propter ceteras eqs. '). Für weitere Lit. zur Interpretation der Tafeln 1-4 der XII Tafeln s. HAGEMANN, Iniuria S. 1-47.
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13/1 propter os uero fractum aut conlisum trecentorum assium poena erat, ueluti si libero os fractum erat; at si seruo, CL: "rur das Brechen oder Prellen eines Knochens jedoch galt eine Strafe von 300 Asses, und zwar fiir den Fall, daß einem Freien ein Knochen gebrochen worden war; falls jedoch einem Sklaven, 150 Asses" (XII Tab. 8,3). Die Partikel uelut(i), im Codex V uu, hat den bisherigen Gaiuseditoren Schwierigkeiten bereitet. Man ging von der Annahme aus, daß uelut lediglich mit "wie zum Beispiel" zu übersetzen sei, und stellte dann fest, daß diese Bedeutung nicht in den Kontext hineinpasse: es gäbe nämlich, was die XII Tafeln anbelangt, keine weiteren Beispiele fiir Injurienstrafen, die sich auf 300 Asses beliefen. BOECKING machte in seiner ersten Gaiusausgabe (1841) deshalb Emendationsvorschläge: statt uelut müsse entweder scilicet ("nämlich") oder utique (,jedenfalls") gelesen werden. Noch radikaler war BOECKINGS Vorschlag in der 4. Auflage (1855): uu sei einfach ganz zu streichen. Ähnlich wie BOECKING verfuhren so gut wie alle späteren Editoren: KRUEGERISTuDEMUND, SECKEL!KuEBLER, DE ZULUETA, DAVID ua. Es muß aber darauf hingewiesen werden, daß uelut(i) außer einer exemplifizierenden ("zum Beispiel, etwa") auch eine präzisierende Bedeutung haben kann: "und zwar, besonders, zumal" (vgl. SZANTYR, Synt. 5010. Man findet dafiir schon bei Cicero Belege. Vgl. etwa Att. 13,50,3 miror te nihildum cum Tigel/io, uelut hoc ipsum, quantum acceperit, "mich wundert, daß Du mit Tigellius noch nichts besprochen hast, und zwar vor allem dies nicht, wieviel er hat akzeptieren wollen (von meiner Rechtfertigung)". Und ad Q. fratrem 3, 1,7,23: quod mullos dies epistulam in manibus habui propter commorationem tabel/ariorum, ideo multa conlecta sunt aliud alio tempore, uelut hoc: T. Ani-
cius mihi saepe iam dixil sese tibi suburbanum ... non dubitalurum esse emere,
"weil ich wegen des Ausbleibens der Boten den Briefviele Tage in Händen hatte, wurde demzufolge zu verschiedenen Zeitpunkten vieles nachgetragen, insbesondere wird jetzt dies nachgetragen: Titus Anicius hat mir schon wiederholt gesagt, daß er ein stadtnah gelegens Gut ... unverzüglich fiir Dich kaufen würde". Bei Gaius begegnet ebenfalls an einigen Stellen präzisierendes uelut(i). Vgl. etwa II 218: nam ex uerbis etiam hoc casu accidere, ut iure ciuili inutile sit legatum (seil. per praeceptionem), inde manifestum esse, quod eidem aliis
uerbis recte /egatur, uelut per uindicationem, per damnationem, sinendi modo, "denn daß es auch in diesem Falle nur die Folge einer (unrichtigen) For-
mulierung ist, daß das (Präzeptions-)Legat nach Zivilrecht ungültig ist, gehe (nach Ansicht von Julian und Sextus) schon hieraus hervor, daß derselben Person mittels einer anderen Formulierung durchaus rechtsgültig vermacht werden kann, und zwar mittels den Formulierungen der Vindikations-, Damnations-, und Sinendimodolegate" (es gibt außer den 4 genannten [Präz., Vind., Damnat., Sinen.] keine weiteren Formulierungen fiir Legate: uelut in der Bedeutung "zum Beispiel" wäre somit fehl am Platze, vgl. Komm. ad II 218 S. 408 ff.). Biswei-
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len begegnet in ein und demselben Satze bald exemplifizierendes bald präzisierendes uelut, vgl. z. B. IV 76: constitutae sunt autem noxales actiones aut legibus aut edicto praetoris: legibus, uelut furti lege XII tabularum, damni iniuriae uelut lege Aquilia; edicto praetoris, uelut iniuriarum et ui bonorum raptorum, "Klageverfahren wegen Noxalschäden wurden teils durch Gesetze teils durch prätorisches Edikt geschaffen: wenn durch Gesetze, zum Beispiel wegen Diebstahls durch das Zwölftafelgesetz [12,2] und wegen Schadenersatzes besonders durch die Lex Aquilia; wenn durch prätorisches Edikt, besonders durch die Edikte über Injurienvergehen und über gewaltsamen Raub" (tUr Klagen auf Schadenersatz ist besonders die Lex Aquilia zuständig). Schließlich IV 157: simplicia (interdicta) sunt, uelut in quibus alter actor, alter reus est, "einseitige Interdikte sind besonders diejenigen, bei denen der eine der Kläger, der andere der Beklagte ist". Es liegt somit kein Grund vor, an unserer Stelle das überlieferte uu = uelut(i) zu streichen. Es sei noch zusätzlich darauf aufmerksam gemacht, daß auch die einfache Partikel uel, ähnlich wie uelut, sowohl in exemplifizierender wie präzisierender Bedeutung Verwendung fand: s. Komm. ad 198 S. 119 ff.; SZANTYR, Synt. S. 501 f. Die Zerschlagung eines ganzen Gliedes wurde, so zeigt sich, als ein ärgeres Vergehen als das Brechen eines Knochen betrachtet. Es wäre aber mUßig, sich mit der Frage zu beschäftigen, anhand welcher Kriterien in der Dezemviralzeit ein Unterschied zwischen den beiden Arten der Verletzung gemacht wurde. Vieles wird vom Ermessen des Gerichtsherrn abgehangen haben; sobald er die Verletzung als membrum ruptum einstufte, sah der Beklagte sich genötigt, mit dem Gegner über eine Abfindung zu verhandeln. 1/2 propter ceteras uero iniurias XXV assium poena erat constituta: "für sonstige Unrechtmäßigkeiten (Injurien) war eine Buße von 25 Asses festgesetzt worden". Gellius 20,1,12 überliefert den Zwölftafelsatz (8,4) in folgender Form: si iniuria alteri faxsit, uiginti quinque aeris poenae sunto, "wenn jemand einem anderen eine Injurie zufügt, sollen darauf 25 KupfermUnzen (d. h. Asses) Buße stehen". Paulus, lb. sing. de iniur., Coll. 2,5,5 zitiert denselben Satz in modernisierter Form: qui iniuriam alteri facit, quinque et uiginti sestertiorum poenam subito (für Wertangaben in aeris, "in Kupfer" und sestertiorum, "in Sesterzen" vgl. Komm. ad 11 225 S. 421 ff.; für die geschichtliche Entwicklung der As-MUnze vgl. Komm. ad III 174 S. 409). Es zeigt sich, daß Gaius beim Zitieren aus dem Zwölftafelgesetz ziemlich frei mit den Texten umgehen konnte. Aus der Tatsache, daß er von "sonstigen Injurien" spricht, geht hervor, daß er die vorher genannten Tatbestände, membrum ruptum und os fractum, in den Bereich der iniuria einbeziehen will: es sind seiner Meinung nach - und nach der Meinung seiner Zeitgenossen - 3 Abarten eines und desselben Sammelbegriffs. Die Dezemviri hingegen haben, wie oben S.237 dargelegt, membrum
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ruptum, os Jractum und iniuria aller Wahrscheinlichkeit nach als drei voneinander unabhängige Tatbestände betrachtet. Gaius versäumt darzulegen, welcher Art die Injurien sind, auf die hingewiesen wird. Die bereits zitierte Veratius-Anekdote (Gellius 20,1,13, s. oben S. 236 f.) läßt erkennen, daß es sich hier filr gewöhnlich um geringere Handgreiflichkeiten handelte: Fausthiebe, Backenstreiche, Maulschellen usw. 2/3 et uidebantur ilIis temporibus in magna paupertate satis idoneae istae pecuniariae poenae: "und in jenen Zeiten hielt man angesichts der großen Armut derartige (niedrige) Geldbußen fur völlig angemessen". An anderer Stelle (I 122) berichtet Gaius, man habe zur Zwölftafelzeit mit Asses gezahlt, die ein Pfund schwer gewesen seien, asses librales (326 g Kupfer). Zu Lebzeiten des Autors jedoch war das Gewicht des As längst auf 11,2 g herabgesunken; der As war eine Scheidemünze geworden (vgl. Komm. ad III 174 S. 409 ff.). Für derzeitige Begriffe waren 25 Asses denn auch eine sehr geringfilgige Summe. Gaius hebt indessen hervor daß filr die in ärmlichen Verhältnissen lebenden Vorfahren 25 Asses schon einen beträchtlichen Geldbetrag darstellten: filr sie war es somit eine "angemessene" Buße. Der Autor dürfte dabei an die Tatsache gedacht haben, daß es sich um asses librales, das heißt teurere Asses, handelte; er erwähnt sie hier aber nicht. In diesem Punkte drückt sein Zeitgenosse Gellius sich in betreff der Satzung 8,4 der XII Tafeln deutlicher aus, vgl. noct. Att. 20,1,31: iniurias Jactas quinque et uiginti assibus sanxerunt. Non omnino omnes, mi Fauorine, iniurias aere isto pauco diluerunt, tametsi ipsa paucitas assium graue pondus aeris Juit; nam librariis assibus in ea tempestate populus usus est, "sie (die Vorfahren) bestraften das Begehen von Injurien mit 25 Asses; aber sie ließen, mein lieber Favorinus, keineswegs sämtliche Injurien mit einer solch geringen Summe Kupfergeld ablösen, obgleich doch eben diese geringe Anzahl von Asses schon aus pfundschweren Kupfermünzen hergestellt worden war; denn zu der Zeit zahlte das Volk mit Pfundasses". Wie wir sehen, weist Gellius zwar darauf hin, daß 25 Asses fur seine Zeitgenossen eine paucitas waren, er unterläßt es jedoch, expressis verbis darauf aufmerksam zu machen, daß die Vorfahren, die mit asses librales zahlen mußten, besonders wegen ihrer Armut Grund hatten, die Sache anders zu beurteilen. Die Vorstelllung, die klassische Autoren sich von den Lebensumständen der Altvordern machten, war die, daß die Alten eine erheblich einfachere und ärmlichere Existenz hatten als sie selbst. Zugleich aber erkannten sie den ueteres recht lobenswerte Eigenschaften zu: sie seien sittsamer, standhafter, ja sogar heroischer als die Zeitgenossen gewesen. Vor allem M. Furius Camillus (mehrmals Dictator, eroberte Veii, 396 v. Chr.) und M.' Curius Dentatus (unterwarf die Sabiner, 291 v. Chr.) wurden von den klassischen Schriftstellern regelmäßig mit großem Lobe bedacht. Als beispielhafte Typen altrömischer Einfachkeit galten weiterhin Männer wie C. Mucius Cordus Scaevola (heldhaftes Auftreten im feindlichen Etruskerlager, 507 v. Chr. [?]), P. Decius Mus (Devotion in der
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Schlacht bei Sentinum, 295 v. Chr.), C. Fabricius Luscinus (Sieger über die Samniten, 282 v. Chr., und über König Pyrrhus, 278 v. Chr.) und Atilius Regulus (widerriet trotz Todesdrohung die Annahme des karthagischen Friedensangebots, 251 v. Chr.). Vg!. in diesem Kontext auch die Aufzählung rühmlicher Vorfahren bei Quintilian, inst. or. 12,2,30:fortitudinem, iustitiam, fidem, continentiam, frugalitatem, contemptum doloris ac mortis me/ius a/ii docebunt quam Fabricii, Curii, Reguli, Decii, Mucii a/iique innumerabi/es, "können andere Männer in betreff Tapferkeit, Gerechtigkeit, Treue, Enthaltsamkeit, Mäßigkeit, Schmerz- und Todesverachtung eine bessere Lehre erteilen als etwa Fabricius, Curius, Regulus, Decius, Mucius und unzählige andere?" Zum Teil hatten jene Namen sogar sprichwörtlichen Charakter angenommen, gewissermaßen Synonyme rur "grimmige Armut" und "altväterliche Tugend". Vg!. dazu A. Orro, Die Sprichwörter der Römer (1890, Ndr. 1971; mit reich!. Angaben von BelegstelIen) S. 68 § 311 ,CamilIus' (und HÄUSSLER, Nachträge zu Orro, Sprichw. [1968] S. 145), ebd. S. 102 § 485 ,Curius Dentatus' (Nachtr. S. 151 u. 235), ebd. S. 129 § 625 ,Fabricius' (Nachtr. S. 102 u. 270). Wenn Gaius von der magna paupertas spricht, die i//is temporibus geherrscht habe, dürften ihm ähliche altzeitliche Zustände vor Augen gestanden haben. § 224: 3-6 Sed nune aHo iure utimur: permittitur enim no bis a praetore ipsis iniuriam aestimare, et iudex uel tanti eondemnat, quanti nos aestimauerimus, uel minoris, prout iIIi uisum fuerit: "Aber heutzutage haben wir eine andere Rechtsordnung: der Prätor überläßt es uns nämlich, selbst das Bußgeld rur die Injurie einzuschätzen; und der Richter kann den Täter entweder zu derselben Summe verurteilen, die wir eingeschätzt haben, oder zu einer niedrigeren, ganz nach eigenem Ermessen". Obwohl es sich um Geldbußen rur Delikte handelte, verlief der hier beschriebene Prozeß völIig nach dem Muster eines honorarrechtlichen Formularverfahrens, nicht nach dem strafrechtlichen Verfahren eines Quästionengerichts. Wie bekannt, war der Prozeßgang eines Formularverfahrens kurz folgender: Ladung des Gegners vor den Prätor (in ius uocatio), Forderung einer actio (hier einer actio iniuriarum) und Bitte an den Prätor um Zulassung; sodann Abfassung einer Prozeßformel (formula) , Streiteinsetzung (litis contestatio), Bestellung eines Richters (gegebenenfalls eines Kollegiums von Richtern, etwa von Rekuperatoren); zum Schluß Urteilsspruch. Die Worte unseres Lemmas beziehen sich auf die Abfassung der formula und auf den Urteilsspruch. Bei Paulus, Ib. sg. iniur., Coll. 2,6,1 findet sich eine etwas detailliertere Beschreibung des Injurienformulars: qui autem iniuriam, inquit, agit, certum dicat, quid iniuriae factum sit et taxationem ponat non minorem quam quanti uadimonium fuerit, "er (Paulus) sagt: ,wer einen Injurienprozeß ruhren will, muß genau angeben, was rur eine Unrechtmäßigkeit begangen wurde, und er muß eine Schätzung (der Abfindungssumme) vorlegen, die nicht niedriger als die Gestellungssumme ist'''. Das uadimonium, von dem hier die Rede ist, ist
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bekanntlich ein mit einer Geldstrafe verknüpftes feierliches Versprechen des Beklagten, durch das er sich verpflichtet, sich an einem bestimmten Tage der In-iure-Verhandlung wegen angezeigter iniuria zu stellen. Der Prätor hat die Bestimmung betreffs der Höhe der Vadimoniumsumme offenbar zu dem Zweck in das Edikt eingeschaltet, daß der Verletzte bei NichtsteIlung des Beklagten die Möglichkeit hatte, den von ihm selbst geschätzten Schadenbetrag ohne weiteres einzufordern. Für gewöhnlich läßt der Prätor denn auch das Gestellungsversprechen durch eine Stipulation in Höhe der Strafsumme bekräftigen. Der Umstand, daß es Sache des Prätors war, die Höhe der Gestellungssumme zu bestimmen und die richtige Abfassung der Prozeßformel zu überwachen, hat aller Wahrscheinlichkeit nach zur Folge gehabt, daß der Schätzungsfreiheit des Klägers gewisse Grenzen gesteckt waren. Die in den Damnationsteil der Prozeßformel eingetragene Bußsumme ist, wie aus Obigem hervorgeht, dieselbe wie die vom Kläger geforderte Abfindungssumme; sie beruhte auf seiner taxatio. Weiterhin ist die Höhe der Gestellungssumme ebenfalls die gleiche wie die der taxatio des Klägers. Und schließlich ist sie die Höchstgrenze rur den Urteilsspruch; der Richter kann aber, wie gesagt, sie unterschreiten. Gaius IV 51 zitiert den Blanketttext rur die Damnation, die mit einer taxatio verbunden ist: iudex, Numerium Negidium Aulo Agerio dumtaxat sestertium x milia condemna, si non paret, absolue, "Richter, verurteile Numerius Negidius zugunsten von Aulus Agerius zu einer Buße von nicht mehr als 10.000 Sesterzen; wenn nicht erwiesen, sprich ihn frei". Für Näheres über das Vadimonium vgl. KASERIHACKL, Proz. S. 226 ff. (mit reichl. Lit.). Wegen der Dürftigkeit der Quellen sind viele Vorgänge, die mit der Schätzung des Schadens zusammenhängen, unklar und umstritten. Vgl. dazu NÖRR, Zur condemnatio cum taxatione im röm. Zivilprozeß, Zs. Sav. Rom. 125 (1995) S. 51 ff.; dens., Zur Taxatio bei der actio iniuriarum, Collatio H. Ankum 11 (1995) S. 389 ff. Für weitere Lit. zur Taxatio s. KASERIHACKL, Proz. S. 316 f.; PH. GRZIMEK, Studien zur Taxatio (München 2001 = Milnchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte 88) S. 86 ff., 105 ff. 6-10 sed eum atroeem iniuriam praetor aestimare soleat, si simul eonstituerit, quantae peeuniae eo nomine fieri debeat uadimonium, hae ipsa quantitate taxamus formulam; et iudex, qui possit uel minoris damnare, plerumque tarnen propter ipsius praetoris auetoritatem non audet minuere eondemnationem: "da aber der Prätor eine schwere Injurie selber einzuschätzen pflegt, während er gleichzeitig festlegt, wie hoch die Gestellungssumme sein soll, tragen wir in der gleichen Höhe unsere Forderung in die Prozeßformel ein; und obwohl der Richter ein Urteil auf eine niedrigere Summe fiillen könnte, wagt er wegen des hohen Ansehen des Prätors doch meist nicht, ein Urteil auf eine niedrigere Buße zu verkünden".
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Ein ähnlicher Hinweis auf die unterschiedlichen Verfahrensweisen hinsichtlich der "schweren" und der "leichten" Injurien findet sich bei Ulpian, Ib. sg. regul. iniur., Coll. 2,2,1: iniuria, si quidem atrox, id est grauis, non est, sine
iudicis arbitrio aestimatur; atrocem autem aestimare solere praetorem idque colligi ex facto, ut puta si uerberatus uel uulneratus quis fuerit; et reliqua,
"wenn die Injurie keine schwere ist, das heißt keine arge, kann sie ohne Gutachten des Richters taxiert werden; eine schwere Injurie hingegen pflegt der Prätor selbst zu taxieren und dabei wird von ihm vom Tatbestand ausgegangen, etwa wenn jemand geprilgelt oder verletzt worden ist; uSW." (rur die La. id est grauis, non est eqs. S. MOMMSEN, Collectio III pag. 143,14 mit krit. Anm.; WIEACKERS Annahme, Textst. S. 435, der Satz sei "ein Konglomerat aus mehreren klassischen Autoren", ist unbegrilndet). Auffiillig in obigem Ulpianzitat ist die Formulierung sine iudicis arbitrio. Weil es sich um ein prätorisches Formularverfahren der klassischen Zeit handelt, erwartet man sine praetoris arbitrio (vgl. die Parallele Gaius III 224 permittitur ... nobis a praetore ipsis ... aestimare). Für die Verwendung des Terminus iudex anstelle von praetor finden sich erst in spätkassischer Zeit weitere Belege. In der nachklassischen Zeit aber, d. h. in der Dominatszeit, werden die Funktionäre, die mit der Rechtspflege beauftragt sind, ganz allgemein als iudices bezeichnet. Wie bekannt, war durch den Übergang vom Formularverfahren zum Kognitionsprozeß - ein Übergang, der schon unter Kaiser August anfing die Bedeutung der Prätur in ständigem Rilckgang begriffen; unter Constantin schließlich (306-337) war die Prätur zur völligen Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Da Ulpians Tätigkeit in die Übergangsperiode vom Prinzipat zum Dominat fällt (Todesjahr 228 [?]), dürfte bei ihm die Verwendung des Terminus iudex anstelle von praetor nicht allzu verwunderlich sein: es war eine unwillkilrliche Anpassung an spätklassische Terminologie. Die gleiche spätklassische Verwendung von iudex anstelle von praetor findet sich an folgender Ulpianstelle, 30 ad Sab., Dig. 10,2,43: nam prouocare apud iudicem uel unum heredem posse palam est, "denn daß auch nur ein einziger Miterbe beim Iudex einen Antrag stellen kann, ist klar" (d. h. sogar nur ein einziger Miterbe kann beim Prätor einen Antrag auf Erbteilung stellen). Zu den Funktionen des Prätors und des Iudex in spätklassischer Zeit vgl. KOCH, ,Praetor', RE. XXII S. 1581 ff., bes. 1599 ff.; STEINWENTER, ,ludex', RE. IX S. 2464 ff., bes. 2470 ff.; zum Todesjahr U1pians (vielleicht auch 223) vgl. T. HONORE, Ulpian (Oxford 22002) S. 32. Bereits an anderer Stelle (S. 246, vgl. auch 252) ist auf die auffällige Tatsache hingewiesen, daß Gaius das zu seiner Zeit im Gerichtswesen schon häufig angewandte Kognitionsverfahren so gut wie völlig unerwähnt läßt. An genannter Stelle zeigte sich, daß der Stadtpräfekt, dessen Amt unter Kaiser Tiberius einen ständigen Charakter angenommen hatte, frilh mit der Rechtsprechung beauftragt wurde. Die vor ihm gefiihrten Prozesse hatten den Status einer co-
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gnitio extra ordinem ("außerordentliche Untersuchung", u. zw. mit abschließender richterlicher Entscheidung). Übrigens fungierten in Rom nicht nur Stadtpräfekten als Richter in "außerordentlichen" Prozessen, auch Magistrate niederen Ranges, etwa die praefecti uigilum ("Vorsteher der Nachwächter", s. S. 68 f.) konnten mit der Rechtsprechung beauftragt werden. Und schließlich gab es noch Senatsverfahren. In der Praxis stellte sich bald heraus, daß viele Kläger, die gerichtliche Anzeige erstatten wollten, ein "außerordentliches" Verfahren vor einem "ordentlichen" (unter Leitung eines Prätors) bevorzugten. Das "außerordentliche" Verfahren war zügiger und strenger: man beachte etwa die oben S.67 anhand einer Tacitusstelle (ann. 14,41) gegebene Darstellung eines Prozesses wegen Testamentsfälschung aus dem Jahre 61 n. Chr. Ebenso wie sonstige Kognitionsprozesse werden auch die außerordentlichen Injurienprozesse von Gaius mit Stillschweigen übergangen. Wenn wir einen ersten Beleg fur die Erwähnung der cognitio extraordinaria de inuriis finden wollen, müssen wir bis in die Zeit der Severer, etwa 30 bis 40 Jahre nach Gaius, vorrücken, ehe wir fündig werden, und zwar beim Juristen Iulius Paulus (als juristischer Schriftsteller war er etwa seit Septimius Severus [I 93-211] tätig). Es handelt sich um einen Passus aus dem bekannten Paulusbuch Sententiae. Von den Sentenzen sind bekanntlich nur Exzerpte überliefert worden. Die meisten stammen aus einem Anhang der Lex Romana Visigothorum (506 n. Chr., hrsg. von HAENEL, 1848), weitere Exzerpte finden sich in den Digesten, in der Collatio und sonstwo in späteren Quellen. Der uns hier interessierende Passus findet sich Pauli sent. 5,4,19-21 (KRUEGER): Maledictum itemque conuicium publice factum ad iniuriae uindictam reuocatur. quo facta condemnatus infamis efficitur. (20) Non tantum is, qui maledictum aut conuicium ingesserit, iniuriarum conuictus famosus efficitur, sed et is, cuius ope consilioue factum esse dicitur. (21) Conuicium contra bonos mores fieri uidetur, si obscaeno nomine aut inferiore parte corporis nudatus aliquis insectatus sit. Quod factum contemplatione morum et causa publicae honestatis uindictam extraordinariae ultionis exspectat, "Schmährede sowie öffentlich nachgerufenes Schimpfwort haben einen Strafprozeß wegen anstößigen Verhaltens zur Folge. Wer deswegen verurteilt wurde, verfallt der Ehrlosigkeit. (20) Nicht nur derjenige, der einem anderen eine Schmährede oder ein Schimpfwort zugefiigt hat, verfallt, wenn die Injurie bewiesen wurde, der Infamie, sondern auch derjenige, mit dessen Hilfe oder Einverständnis dies getan wurde. (21) Ein sittenwidriger Schimpf wird einem Menschen dann angetan, wenn ein anderer ihn mit unzüchtiger Schelte oder mit entblößtem Unterleib nachläuft. Aus Rücksicht auf gute Sitte und angesichts öffentlichen Anstandes droht jener Freveltat Vergeltung in einem außerordentlichen Verfahren." Die Frage, inwiefern die im westgothischen Gesetzbuch überlieferten Paulussentenzen auf den bekannten Juristen Iulius Paulus selbst zurückzufiihren seien, ist, wie man weiß, umstritten. Die Forscher, welche die Sentenzensammlung fiir
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paulinisch halten, befilrworten durchweg eine Datierung in den Anfang des 3. Jahrhs; vgl. z. B. A. BERGER, ,Iulius Nr. 382 (Paulus)', RE. X (1918) S. 690 ff. (bes. 731 ff.: die Sentenzen, dazu 735 f. die Datierung): kurz nach 206 (Regierungszeit des Septimius Severus, 193-211). Diejenigen hingegen, die die Sentenzensammlung dem Juristen Paulus absprechen wollen, bevorzugen meist eine spätere Datierung, etwa die 2. Hälfte oder gar das Ende des 3. Jahrhs. In neuester Zeit hat besonders D. LIEBS die These der Spätdatierung verfochten; vgl. dens. in mehreren Veröffentlichungen: bei HERZOG/SCHMIDT, Handb. Lat. Lit. V (1989) S. 65 ff. ,Sentenzenverfasser'; Römische Jurisprudenz in Africa, mit Studien zu den pseudopaulinischen Sentenzen (1993) (im Anhang [So 121 ff.] eine Neuedition der Paulussentenzen; wegen nachgekommener Ergänzungen der Sammlung wurde vom Autor eine verbesserte Textnumerierung vorgeschlagen: obiges Zitat 5,4,19-21 KRUEGER wurde 5,7,19-21 LIEBS usw.); Die pseudopaulinische Sentenzen, Zs. Sav. Rom. 112 (1995) S. 151 ff. (kritischer Rückblick auf frühere Ausgaben); Die pseudopaulinischen Sentenzen II, Zs. Sav. Rom. (1996) S. 132 ff. (verbesserter Text der Erstausgabe in ,Röm. Jurisprudenz in Africa' [1993]). Gemäß LIEBS handle es sich um eine absichtliche Fälschung. Ein nachklassischer Anonymus, der Sprache nach wahrscheinlich in Afrika beheimatet, habe sein Machwerk, die Sentenzensammlung, weil auf Erfolg erpicht, schlichtweg unter dem Titel Pauli sententiae herausgegeben. Es ist hier der Ort nicht, auf sämtliche filr und wider die paulinische Autorschaft vorgebrachte Argumente näher einzugehen; wir beschränken uns auf die wichtigste Frage: muß die Sprache der Sentenzen als "unklassisch" qualifiziert werden? LIEBS möchte die Frage bejahen und zitiert Röm. Jurisprudenz in Africa S. 95 ff. aus den Sentenzen mehrere Ausdrücke, die "regelwidrig" seien. Etwa folgende: 5,3,1 -que statt -ue, "oder" (uitae membrisque); 2,7,3 vorangestelltes quoque (quoque eius statt eius quoque); 5,20,5 per statt Ablativ (per dolum statt dolo); 2,31,4 und 5,10,2 cui interest (Dativ cui statt Gen. cuius). Bei näherem Zusehen zeigt sich aber, daß sämtliche sogenannte "Regelwidrigkeiten" sich auch bei klassischen Autoren belegen lassen. Für -que statt -ue vgl. z. B. Lukrez 5,984 f.fugiebant ... spumigeri suis aduentu ualidique leonis, "sie flohen vor dem Herannahen eines schäumigen Wildschweins oder eines mächtigen Löwen" (LACHMANNS Emendation ualidiue ist unnötig; s. ferner Komm. zu Gaius I 13 qui ... quibusue ... quique S. 28). Vorangestelltes quoque findet sich etwa bei Varro, Iing. 5,36,182 quoque stipem dicebant, "nannten sie auch stips (Spende)", vgl. KÜHNERISTEGMANN II S.54. Für per mit Akk. anstelle des Ablativs vgl. die Doppelüberlieferung bei Gaius III 168: Cod F per exceptionem, Cod. V exceptione (dazu Komm. S. 388 f.). Was schließlich die Verbindung von interest mit Dativ statt des Genetivs anbelangt, vgl. Tertullian (ungefahrer Zeitgenosse des Paulus), apol. 33,3 interest homini, "dem Menschen liegt daran" (vgl. WASZINK zu De anima 25,2 interest professoribus: S. 320).
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Ferner vertritt LIEBS die These, daß die Paulussentenzen Ausdrücke enthalten, die als "afrikanisches Latein" zu bezeichnen seien (vgl. Röm. Jurispr. in Africa [1993] S. 97 f.; [2 2005] S. 115 f.) . Als Beispiel wird der Gebrauch von quamdiu im Sinne von donec, "so lange bis" zitiert (mit Hinweis auf KALB, Roms Juristen S. 52, dazu s. u.): 5,6,8b (= Dig. 7,1,60,1) non sit prohibiturus frui eum, cui ususfructus relictus est, quamdiu de iure suo probet, ,,(der in einen Eigentumsprozeß verwickelte Besitzer) darf denjenigen, dem der Nießbrauch vermacht wurde, so lange nicht an der Nutzung (des Nießbrauchs) hindern, bis er sein Eigentumsrecht selbst nachweisen kann". Aufgrund dieses sogenannten "Africanismus" vermutet LIEBS, daß die Provinz Africa die Heimat des Sentenzen verfassers gewesen sei. Gegen obige Schlußfolgerung lassen sich gewichtige Einwände erheben. Die 1882 von SITIL vorgebrachte These, es sei einst in der Provinz Africa ein besonderer "Dialekt", "africanisches Latein", gesprochen und geschrieben worden, hat nur kurze Zeit Beifall gefunden (K. SITIL, Die lokalen Verschiedenheiten der latein. Sprache, mit besonderer Berücksichtigung des afrik. Lateins [1882]). Im Gegenteil: die Africitas-These wurde von den Philologen der Nachfolgezeit - mit Recht - energisch zurUckgewiesen. Man vergleiche nur die scharfen Kritiken bei E. NORDEN, Antike Kunstprosa II (1898) S. 588 ff. ("Das ,afrikanische' Latein ist unter den argen Phantomgebilden, die in der Stil- und Literaturgeschichte ihr Wesen treiben, eins der ärgsten") und E. LÖFSTEDT, Komm. zur Peregrinatio (1911) S. 18 ("Diese ,Africitas' ... ist, um es gleich zu sagen, in allem Wesentlichen ein Phantasiegebilde"). Was die neuere Zeit betrifft, vgl. noch HOFMANN/SZANTYR, Synt. (1965) S. 766, § 28 c ("von einem afrikanischen Latein ... redet man heute nicht mehr"). Leider taucht die Kennzeichnung "afrikanisches Latein" auch in KALBS Darstellung der Juristensprache, ,Roms Juristen' (1890), häufig auf. Als Beispiel sei die sprachliche Deutung zitiert, die KALB in jener Darstellung dem schon erwähnten Gebrauch von quamdiu = donec gibt. S. 52 behauptet er, dieser Gebrauch "erinnere entschieden an Africitas"; und S. 57 f. rugt er hinzu, es sei "eine erweisbare Spezialität Afrikas". Beides ist, so zeigt sich, nichts als freie Erfindung. KALB muß denn auch S. 52 selbst eingestehen, daß quamdiu = donec sich ebenfalls bei Ulpian, d. h. bei einem aus Tyrus (Phönizien) stammenden Juristen, belegen läßt. Vgl. etwa Ulpian 41 ad ed., Dig. 37,9,1,27 tamdiu
autem uenter in possessionem esse debet, quamdiu aut pariat aut abortum faciat aut certum sit eam non esse praegnatem, "eine Leibesfrucht muß so lange im Besitz (der Erbschaft) bleiben, bis die Frau entweder gebiert oder abortiert oder bis feststeht, daß sie nicht schwanger ist". Die These, daß die Sprache von Pauli sententiae "afrikanisches Latein" sei, muß somit völlig ausscheiden. Von einem "Dialekt" sollte man Uberhaupt nicht reden; darur käme nur irgendein regionales Vulgärlatein in Frage.
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Von großer Wichtigkeit fur das Gewinnen einer Vorstellung von dem Umfange des ungekürzten Sentenzentextes ist der Fund des Leidener Paulusfragments, Codex Leid. BPL. 2589 (Erstausgabe DAVro/NELSON, Tijdschr. 23 [1955] S. 75 ff.). Es handelt sich um ein beiderseitig beschriebenes Pergamentblatt mit je 22 Zeilen (Unzialschrift). Unter den 12 Sentenzen, die das Leidener Fragment enthält, finden sich drei, die von den Westgothen exzerpiert wurden: 5,28; 5,29,1 und 2 (5,28 auch in Dig. 48,19,38,10). In diesem Falle haben die Exzerptoren somit ungefähr ein Viertel des Ganzen in ihre neue Lex übernommen. An den Texten selbst haben sie so gut wie nichts geändert. Was die Datierung der Schrift des Pergamentblattes anbelangt, so schlägt R. MARICHAL in ARCHI et al., Pauli Sent. Fragm. Leid. (1956) S. 57, Ende des 3., evtl. Anfang des 4. Jahrhs. vor; SEIDER, Paläogr. lat. Pap. II 2 (1981) S. 48, in approximativer Schätzung, das 4. Jahrh. Wie man sieht, reicht der Leidener Text recht nah an das Original (Anfang des 3. Jahrhs) heran. Der Sprachstil der Paulussentenzen weist, wie schon von BERGER, RE. X S. 690 ff., bes. 732 f. dargelegt, einige besondere Kennzeichen auf. Die Sätze sind meist kurzgefaßt; auf ausfuhrliche Begründungen und sonstige längere Erörterungen wird so gut wie völlig verzichtet; Diskussionen werden nicht gefuhrt. Die Ausdrucksweise ist denn auch ziemlich einförmig. Der Autor ist sichtlich bestrebt, seine textlichen Aussagen auf die konzise Herausstellung der grundlegenden Prinzipien des geltenden Rechts zu beschränken. Dem Ergebnis seiner Bestrebungen kann man keineswegs, wie LIEBS a. a. O. S. 95 es getan hat, die Prädikate "sorglos" und "unbeholfen" beimessen. Im Gegenteil, der Sentenzenautor war, so zeigt sich, ein besonders sachkundiger Mann, der die Materie, die er behandelte, völlig beherrschte. Ihm gelang es, unter Anwendung eines leicht faßlichen Kompendienstils ein übersichtliches und zugleich aufschlußreiches Lehrbuch herzustellen. Es ist derselbe Kompendienstil, der sich auch in von anderen Juristen geschriebenen Kurzlehrbüchern beobachten läßt, etwa in Ulpians liber singularis regularum (dazu NELSON, Der Stil eines Kurzlehrbuches, in: K. ZIMMERMANN, Hrsg., Der Stilbegriff in den Altertumswissenschaften [1993] S. 81 ff.). Es liegt somit kein Grund vor, den einstimmig überlieferten Berichten über die Autorschaft des Sentenzenbuches zu mißtrauen: Iulius Paulus war der Verfasser, die Abfassungszeit liegt kurz nach 206 n. Chr. Demnach ist von der Annahme auszugehen, daß Pauli Sententiae, wenn auch in fragmentarischer Form überliefert, einen Einblick in den Charakter der Rechtsprechung der Severerzeit gewähren. Dies trifft ebenfalls fur den Abschnitt zu, der den Titel De iniuriis trägt: 5,4. Selbstverständlich muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß in Pauli sententiae rechtliche Bestimmungen vorkommen, die in der Rechtsprechung der Antoninenzeit noch keine Geltung hatten - dies im Gegensatz zu der 30 bis 40 Jahre jüngeren Severerzeit. Auf dieses Problem ist oben im Komm. ad III 220 (si quis matremfamilias eqs., S. 251) schon näher eingegangen. Was ferner den in diesem Abschnitt bespro-
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Gai institutiones III 220-225
chenen Passus aus Pauli sent. 5,4,19-21 betrifft, so enthält er keine Bestimmungen, die dem Rechtsgeruhl der Antoninengeneration widersprochen hätten. Die Behauptung dürfte somit gerechtfertigt sein, daß er auch einen guten Einblick in die zu Gaius' Zeit gängige cognitio extra ordinem in betreff Injuriensachen gewährt. Im Abschnitt ,De iniuriis' von Pauli sententiae findet sich 5,4,8 noch ein Hinweis auf ein weiteres Injuriengesetz, das von Gaius an dieser Stelle nicht erwähnt wird: die lex Cornelia de iniuriis - ein Gesetz, das offenbar von Sulla erlassen wurde (81 v. Chr.). In etwas ausruhrlicherer Fassung wird dieses Gesetz auch von U1pian, 56 ad ed., Dig. 47,10,5 pr. zitiert: lex Cornelia de iniuriis competi! ei, qui iniuriarum agere uo/et ob eam rem, quod se pulsatum uerberatumue domumue suam ui introitam esse dicat, "das Cornelische Gesetz wegen Injurien steht demjenigen zu, der deshalb auf Injurien klagen will, weil er behauptet, er sei geschlagen oder geprügelt worden oder jemand sei gewaltsam in sein Haus eingedrungen". Gaius hat die Erwähnung der Lex Cornelia de iniuriis wohl deshalb unterlassen, weil er bereits III 220 auf si quis pugno puta aut furte percussus uel etiam uerberatus erit als Klagegrund hingewiesen hatte. Hinzu kommt der Umstand, daß er, weil mit einem Lehrbuch rur Anflinger beschäftigt, keine Vollständigkeit der Materie anstrebte. Welches Verfahren in Betracht kam, wenn eine Klage e lege Cornelia de iniuriis erhoben worden war, ist unsicher. Möglicherweise war es ein Quästionenverfahren. Zu Gaius' Zeit waren zweifelsohne außergewöhnliche Cognitionsverfahren ebenfalIs schon längst üblich. Vgl., was das Quästionenverfahren de iniuriis betrifft, auch HAGEMANN, Iniuria S. 62 ff. In betreff der Frage, inwiefern Gaius in seinem Lehrbuch VolIständigkeit angestrebt hat, vgl. Komm. zu III 88-181 S. 59. § 225: 10-13 Atrox iniuria autern iniuria aestirnatur uel ex facto, ueluti si quis ab aliquo uulneratus aut uerberatus fustibusue caesus fuerit; uel ex loco, ueluti si cui in theatro aut in foro iniuria facta sit; uel ex persona, ueluti si magistratus iniuriarn passus fuerit; uel senatoribus ab humili persona facta sit iniuria: "Und zwar gilt eine Injurie als eine schwere entweder wegen der Tat, zum Beispiel wenn jemand von einem anderen verwundet, verprügelt oder mit Knüppeln geschlagen wurde; oder wegen des Tatorts, etwa wenn jemandem im Theater oder auf dem Forum eine Injurie angetan wurde; oder wegen der Person, etwa wenn ein Magistrat eine Injurie erlitt oder wenn Senatoren von einer Person niederen Standes eine Injurie angetan wurde." Die von Gaius gegebene Definierung des Begriffes iniuria atrox stammt anscheinend aus Labeos Kommentar ad ed. praetoris, vgl. U1pian 57 ad ed., Dig. 47,10,7,8 (= LENEL, Pal. I S. 518: Labeo Nr. 129 [Antistius Labeo starb vor 22 n. Chr.] : Atrocem autem iniuriam aut persona aut tempore aut re ipsa fieri Labeo ait. persona atrocior iniuria fit, ut cum magistratui, cum parenti patrono fiat; tempore, si ludis et in conspectu: nam praetoris in conspectu an in solitu-
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dine iniuria facta sit, multum interesse ait, quia atrocior est, quae in conspectu jiat; re atrocem iniuriam haberi Labeo ait, ut puta si uulnus illatum uel os alicui percussum: "Eine schwere Injurie, sagt Labeo, ereigne sich entweder im Hinblick auf die Person oder auf den Zeitpunkt oder auf die Tat; angesichts der Person wird die Injurie zu einer schwereren, wenn sie etwa einem Magistrat, einem Vater oder Patron angetan wird; angesichts des Zeitpunkts, wenn während der Spiele und in der Öffentlichkeit; denn es mache einen großen Unterschied, sagt er, ob sie vor Augen des Prätors oder in der Abgeschiedenheit sich ereigne, weil, was in der Öffentlichkeit geschieht, schwerer wiegt; im Hinblick auf die Tat werde eine Injurie rur eine schwere gehalten, sagt Labeo, wenn zum Beispiel eine Wunde geschlagen oder jemandem das Gesicht verletzt wurde." Es finden sich kleine Varianten in der Gajanischen Wiedergabe: Gaius verwendet ex loco statt tempore (,Zeitpunkt': Labeo-Ulpian) und ex facto statt re (Labeo-Ulpian). Für Weiteres zur iniuria atrox s. HAGEMANN, Iniuria S. 91 ff. Die lustinianer haben eine kleine stilistische Korrektur vorgenommen (lnst. 4,5,9): statt des generalisierenden Plurals senatoribus bevorzugten sie, offenbar des Gleichklanges mit den übrigen Sätzen zuliebe (si quis, si cui, si magistratus), den Singular si senatori.
Exkurs I zur Einleitung: Ciceros Vorschläge für ein neues juristisches Lehrbuch Betrachtungen über De oratore 1185-192 1 Im Dialog De oratore legt CICERO dem wichtigsten Teilnehmer am Gespräch, L. Licinius Crassus, eine lange Rede über den Nutzen des Rechtsstudiums in den Mund (1,166-203). Er läßt Crassus sein Bedauern darüber aussprechen, daß die Rechtskenntnisse bei vielen Rednern auf einem recht niedrigen Niveau stünden; es sei häufig vorgekommen, daß letztere bei Verhandlungen vor dem Prätortribunal große Unwissenheit an den Tag gelegt und sich dadurch in ärgerlicher Weise lächerlich gemacht hätten (1,166-169). Man müsse dabei bedenken, so läßt Cicero den Crassus hinzufügen, daß die Erlernung des Rechts nicht einmal so schwierig sei (I, 185; 191-192). Allerdings seien die zur Zeit vorhandenen juristischen Lehrbücher sehr verbesserungs bedürftig. Trotzdem habe sich bisher noch kein rechtsgelehrter Autor bereit gefunden, mit Hilfe einer - wie er 1,188 sagt - "philosophischen" Methode - gemeint ist die Methode der Dialektik - ein neuartiges Lehrbuch zu schreiben, in dem die gesamte Rechtsmaterie nach systematischen Gesichtspunkten geordnet worden sei. Erst wenn diese Aufgabe erflillt worden sei, könne das Rechtsstudium als eine wissenschaftliche Disziplin betrachtet werden (1,186-190). Jene Darlegungen geben Anlaß zu folgender Frage: hat Cicero hier eine Sachlage geschildert, welche für die Zeit zutraf, in die er den Dialog versetzt hat, 91 v . Chr. ; oder aber stand ihm, als er jenen Passus schrieb, in erster Linie die eigene Zeit vor Augen (Abfassung von De oratore : 55 v. Chr.)? Es handelt sich in Crassus' Rede besonders um zwei Aussagen, die wir in ihren historischen Kontext hineinstellen müssen: zunächst die Behauptung, daß das Rechtsstudium verhältnismäßig "leicht" sei (1,185 I Dieser Aufsatz ist der Nachdruck eines von H. L. W. NELSON im Jahre 1985 veröffentlichten Artikels (Wissensch. Zs. der W.-Pieck-Universität Rostock, Reihe G 34, Heft 1 S. 37 ff.). Das Thema ist aus einem von ihm hergestellten Kommentar zu De oratore, 1,166-203 hervorgegangen. Letzterer erschien im Rahmen einer umfassenden Arbeit, und zwar als Beitrag rur: A. D. LEEMANIH. PINKSTERIH. L. W. NELSON, Kommentar zu Cicero, De oratore, Bd. 11 (Verlag C. Winter, Heidelberg 1985). Für eine detailliertere Interpretation der im Aufsatz angeführten Stellen sei auf den Kommentar verwiesen.
Betrachtungen über De oratore I 185-192
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nullius artis ... faciliorem cognitionem videri, seil. quam cognitionem iuris); sodann die Äußerung des Bedauerns darüber, daß es bisher noch keine Autoren gegeben habe, welche rur die Ordnung der zivilrechtlichen Materie ein System geschaffen hätten (1,186 nulli fuerunt, qui illa artificiose digesta generatim componerent: "es gab keine Leute, die jenes Material nach Gattungen eingeteilt und systematisch geordnet hätten"). Was die "Leichtigkeit" der Erlernung anbelangt, so läßt sich jene Behauptung hinlänglich mit den rechtlichen Verhältnissen in Einklang bringen, die rur die Gesprächszeit Geltung hatten. Es muß zwar zugegeben werden, daß Cicero den Crassus in unserm Abschnitt - wohl mit Absicht - dann und wann eine etwas dick aufgetragene Behauptung machen läßt; es ist aber andererseits zu bedenken, daß das römische Zivilrecht zu Anfang des 1. vorchristlichen Jahrhunderts noch einen ziemlich einheitlichen Charakter hatte; das ius civile ("bürgerliches Recht"; der Terminus sei hier in seiner engeren Bedeutung verwendet2) machte noch immer den weitaus wichtigsten Bestandteil desselben aus. Das heißt, daß, wenn damals von diesem Recht die Rede war, in erster Instanz an folgende Dreiteilung gedacht wurde: das Zwölftafelgesetz, sodann die an jenes Gesetz anschließende interpretatio der Juristen und, an dritter Stelle, die auf jenem Gesetz sowie auf sonstigen leges basierenden prozessualen S pruchformeln (legis actiones). Das zu jener Zeit am meisten benutzte juristische Nachschlagewerk waren, wie u. a. aus einigen Stellen in De oratore hervorgeht, die Tripertita des SEX. AELIUS PAETUS CATUS (Konsul 198 v. Chr. 3); vgl. vor allem 1,240 in Sex. Aelii commentariis scriptum, ferner 1,198; 212; 3,133). Einer Mitteilung im Enchiri2 CICERO verwendet den Terminus ius civile sowohl in obigem engerem wie in umfassenderem Sinne. Im letzteren Falle schließt er auch das ius honorarium mit ein, vgl. z.B. Topica 28: ius civile ... id esse, quod in /egibus, senatus consu/tis, rebus iudicatis, iuris peritorum auctoritate, edictis magistratuum, more, aequitate consistat ("das bürgerliche Recht sei dasjenige Recht, das in Gesetzen, Senatsbeschlüssen, richterlichen Entscheidungen, Gutachten von Rechtsgelehrten, Edikten von Magistraten, in Herkommen und Billigkeit besteht"). Das früheste Beispiel tur eine strengere terminologische Unterscheidung zwischen ius civile und ius honorarium (bzw. praetorium) lässt sich erst tur die severische Zeit belegen, und zwar bei P APINIAN 2 defin., Dig. 1,1,7 pr. - 1. Siehe dazu WEISS, in: Realenzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft (= RE) X (Stuttgart 1918) Sp. 1206-1210 s. v. Ius civile; M. KASER, Römisches Privatrecht, Bd. I (München 21971 = RP t2) S. 201 f.
3 Für Näheres über SEX. AELIUS PAETUS CATUS und die Tripertita s. KLEBS, RE I (1893) Sp. 527, s. v. Ae/ius, (105); DANNENBERG, RE X (1918) Sp. 1202-1204, s. v. Ius Ae/ianum; M. SCHANzlC. HOSIUS, Geschichte der römischen Literatur I (München 41927) S. 236 f.; A. WATSON, Law Making in the Later Roman Republic (Oxford 1974) S. 112 f. u. 134-136; tur Hinweise auf weitere Literatur s. auch KASER, RP 12 S. 199, Anm. 12.
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Exkurs I: Ciceros Vorschläge für ein neues juristisches Lehrbuch
dion des POMPONIUS (Dig. 1,2,2,38) ist weiterhin zu entnehmen, daß der Titel Tripertita deshalb gewählt worden sei, weil das Buch sämtliche soeben erwähnte "drei Teile" des ius civile enthielt. Der Umfang jenes Nachschlagewerks scheint trotz der Dreiteiligkeit ein ziemlich bescheidener gewesen zu sein: Cicero macht De or. 1,192 die Bemerkung, daß das ius civile - allem Anscheine nach hat er hier die aelianischen Tripertita im Auge - "gar nicht viel Geschriebenes oder dicke Buchrollen" umfasse (neque ita multis litteris aut voluminibus magnis continentur). Dies weist darauf hin, daß das Zivilrecht zur Zeit der Wende vom 2. zum 1. Jahrh. v. Chr. immer noch einigermaßen übersichtlich war. Wer das Zwölftafelgesetz gut kannte (es wurde damals in der Schule noch auswendig gelernt, s. Cic. De legibus 2,59), hatte, so müssen wir annehmen, keine allzu große Mühe, sich auch in der interpretatio zurechtzufinden. Da letztere kaum etwas anderes als eine kommentarartige Fortbildung der XII Tafeln gewesen sein kann, liegt die Annahme auf der Hand, daß die Reihenfolge der Erläuterungen mit der der einzelnen leges des Zwölftafelgesetzes weitgehend übereingestimmt hat. Inwiefern SEX. AELIUS neben den XII Tafeln auch sonstige leges berücksichtigt hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Im Vergleich zu der interpretatio des Zwölftafelgesetzes dürften aber die übrigen Gesetze, was das Zivilrecht betrifft, eine recht bescheidene Rolle gespielt haben. Völlig andersartig wurde die Sachlage, als im Laufe der nächsten Jahrzehnte die Entwicklung des prätorischen Rechts (ius praetorium bzw. honorarium) einen mächtigen Aufschwung nahm 4 • Wie schnell sich die Situation damals geändert hat, geht aus De legibus 1,17 hervor: anläßlich der Frage, wie Rechtswissenschaft und Philosophie sich zueinander verhalten, läßt Cicero seinen Freund und Gesprächspartner Atticus die Bemerkung machen, daß die Rechtswissenschaft "nicht aus dem Edikt des Prätors, wie die meisten es heute tun, und auch nicht aus den XII Tafeln, wie die Früheren es taten" (non ergo a praetoris edicto, ut p/erique nunc. neque a XII tabu/iso ut superiores), sondern "aus der Tiefe der Philosophie" (ex intima pilosophia) geschöpft werden müsse. Mit anderen Worten: zu der Zeit, als Cicero De /egibus verfaßte (etwa 52 v. Chr.), war das prätorische Recht der wichtigste Bestandteil des Zivilrechts geworden; es hatte das auf dem Zwölftafelgesetz basierende Zivilrecht, das noch bei der vorigen Generation (superiores) eine herrschende Stellung eingenommen hatte, überflügelt. Wie groß die Rolle gewesen ist, die das prätorische Recht und in Zusammenhang damit das prätorische Formularverfahren bereits bei der früheren Generation - d. h. zu Crassus' Lebzeiten - spielte, läßt sich wegen Mangels an faktischen Hinweisen höchstens annähernd feststellen. Unter den juristischen In betreff der Entwicklung des jus praetorjum und der Konkurrenz gegenüber dem S. 205-208; WATSON, Law Making S. 31-53 (,The Development ofthe Praetor's Edict'). 4
jus civile vgl. KASER, RP
e
Betrachtungen über De oratore I 185-192
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Beispielen, die Cicero in die Rede des Crassus einflicht, findet sich eins, das sich ganz eindeutig auf einen Formularprozeß bezieht: 1,168. Crassus spricht dort von einer "alten und allgemein gebräuchlichen Klausel" (vetus atque usitata exceptio), "die im Interesse des Gläubigers geschaffen worden" sei (petitoris causa comparatum esse). Dies bedeutet, daß auch Crassus das Anfangsstadium der Konkurrenz zwischen dem zivilen und dem prätorischen Recht miterlebt hat; es muß aber andererseits aus der oben zitierten De legibus-Stelle gefolgert werden, daß die Rolle des ius praetorium zur Zeit der crassischen Generation noch eine bescheidene gewesen ist. Im Jahre 51 v. Chr. hingegen hatte, wie bereits gesagt, das prätorische Recht eine dominierende Stellung eingenommen. Diese Entwicklung hat, so müssen wir annehmen, zur Folge gehabt, daß das Zivilrecht sehr unübersichtlich geworden war. Das ius praetorium hatte während der ersten Hälfte des 1. Jahrhs. v. Chr. für zahlreiche Bestimmungen des Zivilrechts "Präzisierungen, Ergänzungen und Verbesserungen" geschaffen (vgl. PAPINIAN 2 Definitionum, Dig., 1,1,7,1: quod praetores introduxerunt adiuvandi vel supplendi vel corrigendi iuris civilis gratia). Die Tatsache, daß der Aufbau des prätorischen Edikts von dem des Zivilrechts - d. h. von dem der interpretatio der XII Tafeln - völlig verschieden war, erschwerte den Einblick in die gegenseitigen Verzahnungen. Das prätorische Recht ist somit in erster Linie dafür verantwortlich zu machen, daß um die Mitte des 1. vorchristlichen Jahrhunderts eine übersichtliche Ordnung des zivilrechtlichen Materials als ein ernsthaftes Desideratum empfunden wurde. Zwar lassen sich aus der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts auch einige neuerlassene leges nachweisen, die zivil rechtlichen Zwecken dienten (aus sullanischer Zeit z. B. die Lex Cornelia de sponsu und die Lex Cornelia de captivis), wir haben jedoch allen Grund fUr die Annahme, daß sie gegenüber der großen Masse des prätorischen Rechts kaum ins Gewicht fielen 5 . Wenn nun Cicero an der oben zitierten De oratore-Stelle (l, 186 ff.; besonders 1,190) Crassus sagen läßt, er wolle - sofern ihm nicht "ein anderer zuvorkäme" (aut aNus quispiam ... occuparit) - demnächst einen lang gehegten Plan ausfUhren und ein nach einem neuartigen System aufgebautes Lehrbuch über das Zivilrecht schreiben, so macht diese Aussage, wenn wir sie auf das Jahr 91 v. Chr. beziehen wollen, einen anachronistischen Eindruck. Sie paßt viel besser in die Abfassungszeit des Dialogs (55 v. Chr.) hinein. Crassus hat denn auch niemals ein derartiges Lehrbuch geschrieben; von Cicero hingegen ist uns - durch GELLIUS 1,22,7 - in der Tat der Titel der Einführung in 5 In betreff der Frage, inwiefern neben dem Zwölftafelgesetz auch andere leges zur Entwicklung des Privatrechts beigetragen haben, s. WATSON, Law Making S. 8 fund 59-62 (WATSON dürfte die Rolle, die jene übrigen leges gespielt haben, etwas überschätzen; er betont aber S. 62 mit Recht, daß die prätorischen edicta den bei weitem wichtigsten Beitrag geliefert haben).
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Exkurs I: Ciceros Vorschläge fiir ein neuesjuristisches Lehrbuch
das Zivilrecht überliefert: De iure civili in artem redigendo ("Über die wissenschaftliche Gestaltung des Zivilrechts"). Unser Autor hat somit De or. 1,190 dem Crassus ein eigenes Arbeitsvorhaben in den Mund gelegt. Wir wissen ferner, daß es noch "einen anderen" Zeitgenossen Ciceros gegeben hat, der sich ebenfalls mit dem Problem der systematischen Ordnung der zivilrechtlichen Materie beschäftigt hat: der Jurist SERVIUS SULPICIUS RUFUS (ca. 105-43 v. Chrf Cicero sagt von ihm im Brutus 152 (verfaßt Anfang 46 v. Chr.), daß er bisher der einzige unter den Juristen gewesen sei, dem es gelungen sei, aus dem Rechtsstudium eine wissenschaftliche Disziplin zu machen. Servius hätte dies niemals zustande bringen können, wenn er sich nicht außer den Rechtskenntnissen noch eine andere Wissenschaft - die Dia lek ti k - angeeignet hätte; erst durch letztere habe er gelernt, die gesamte Materie auf übersichtliche Weise in Teile zu zergliedern. Leider erwähnt Cicero an der zitierten Stelle keinen Buchtitel. POMPONIUS' Enchiridion (Dig. 1,2,2,43) berichtet, daß der rechtswissenschaftliche Nachlaß des Servius etwa 180 Bücher umfaßt habe. Die Möglichkeit ist somit nicht auszuschließen, daß Servius seine neue Behandlungsweise in mehr als einer Schrift dargelegt hat. Für die Beantwortung der Frage, wer von beiden zuerst ein Buch über die Gliederung des Zivilrechts geschrieben hat, Sero Sulpicius oder Cicero, fehlen uns ebenfalls die Anhaltspunkte. Aufgrund der besonders lobenden Worte, mit denen Cicero an der zitierten Brutusstelle die ars des Servius hervorhebt, ist man geneigt, letzterem die Priorität zuzusprechen. Andererseits jedoch macht die Tatsache, daß Cicero und Servius sehr freundschaftliche Beziehungen zueinander hatten, es wahrscheinlich, daß letzterer bei der Anwendung der dialektischen Methode unter Ciceros Einfluß gestanden hat. Es muß indessen, wenn wir uns mit der Frage befassen, wer zum ersten Male ein nach dialektischen Kriterien geordnetes juristisches Lehrbuch geschrieben hat, noch ein weiterer Punkt geklärt werden. POMPONIUS Ench. (Dig. 1,2,2,41) berichtet, daß Q. MUCIUS SCAEVOLA PONTIFEX7, der eine Generation älter als Servius war (Lebenszeit: ca. 140-82 V. Chr.), sich bereits mit dem Problem der Zergliederung des Zivilrechts in genera befaßt habe: Q. Mucius P. f pontifex maximus ius civile primus constituit generatim in libros decem et octo redigendo ("Q. Mucius ... hat dem Zivilrecht dadurch als erster eine feste Grundlage gegeben, daß er es, nach Gattungen geordnet, in 18 Büchern zusammenfaßte"). Die Vagheit der von Pomponius gewählten Formulierung erlaubt es nicht, uns von der vom Pontifex angewandten Arbeitsmethode eine genaue Für Näheres über SER. SULPICIUS RUFUS S. MÜNZER, RE IV A (1931) Sp. 851-862 Sulpicius, (95); über seine juristischen Arbeiten KÜBLER, ebd. Sp. 857 f.; ferner WATSON, Law Making S. 159-162 (WATSON neigt zu der Ansicht, daß Ciceros Aussagen über Sero Sulpicius unzuverlässig, und zwar allzu lobend, seien - wohl zu Unrecht). 6
S. V.
7 Zu
Scaevola Pontifex vgl. KÜBLER, RE XVI (1935) Sp. 442-446
S. V.
Mucius, (22).
Betrachtungen über De oratore I 185-192
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Vorstellung zu machen. Daß jedoch die Methode des Scaevola von jener merklich abgewichen ist, die Sero Sulpicius eine Generation später anwenden sollte, geht ganz unzweideutig aus einer Bemerkung hervor, die Cicero Brutus 152 macht. An jener Stelle läßt er sich selber zu Worte kommen und stellt fest, daß Scaevola sowie viele andere Juristen umfassende Kenntnisse auf dem Gebiete des Zivilrechts gehabt hätten, daß es aber nur einem, Sero Sulpicius, gelungen sei, daraus eine den Regeln der Dialektik entsprechende, wissenschaftliche Disziplin (ars) zu machen. Wir können Ciceros Aussage nur dann in befriedigender Weise erklären, wenn wir annehmen, daß Servius in der Tat der erste war, der die dialektische Methode in der Weise angewandt hat, wie Cicero es rur wünschenswert hielt. Das heißt: Servius war der erste, der eine durchgreifende Gliederung des Gesamtmaterials vorgenommen hat. Dies fUhrt zu der Schlußfolgerung, daß Scaevola keine Gesamtgliederung, sondern lediglich eine Reihe von Einzelgliederungen zustande gebracht hat. Scaevolas Leistung dürfte somit hierin bestanden haben, daß er bei der Abfassung der !ibri XVIII de iuri civili nicht mehr, wie die früheren Juristen (Sex. Aelius Paetus Z. B.) die Reihenfolge der 12 Tafeln beibehalten, sondern eine Gruppierung nach gewissen Themen vorgenommen hats. In De oratore 1,188-189 läßt Cicero den Crassus etwas genauer darlegen, welche Anforderungen an das neuartige Lehrbuch gestellt werden müssen. Zunächst sei, in der Einleitung des Buches, der Begriff ius civile zu umschreiben und der Zweck desselben zu bestimmen (Crassus macht § 188 sogar einen kurzgefaßten Vorschlag: das Ziel des Zivilrechts sei die Sicherung einer in Gesetz und Herkommen verankerten Gleichberechtigung aller Bürger). Sodann (§ 189) müßten die Gattungen (genera) bezeichnet werden; die Zahl der Gattungen sollte jedoch eine möglichst geringe sein. Daraufhin müßten die Gattungen wiederum in Arten zerlegt werden (fUr Arten verwendet Cicero an dieser Stelle eine Umschreibung: "Abteilungen, die wegen einer gewissen Gemeinsamkeit einander gleich, aufgrund ihrer Abart jedoch verschieden sind"). Und schließlich sei es notwendig, sämtliche fUr die Gattungen und Arten gewählten Bezeichnungen sowie die übrigen Termini technici mit Hilfe von Definitionen näher zu erklären. Wie man weiß, sind die Institutiones des Rechtslehrers GAIUS (161 n. Chr.) das früheste vollständige Lehrbuch des Zivilrechts, das wir heutzutage besitzen. Es sind mehrere Versuche gemacht worden, den Aufbau der /ibri XVIII de iure ciZ. B. WATSON, Law Making S. 143-157; D. LIEBS, Rechtsschulen und Rechtsunterricht im Prinzipal, Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (hrsg. von HILDEGARD TEMPORINI U. W. HAASE) 11 15 (Berlin 1976) S. 223. Über die Bedeutung der von POMPONIUS (D. 1,2,2,41) verwendeten Worte generatim in /ibras decem et acta redigenda S. M. FUHRMANN, Das systematische Lehrbuch (Göttingen 8
viii zu rekonstruieren, vgl.
1960) S. 187.
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Exkurs I: Ciceros Vorschläge für ein neues juristisches Lehrbuch
Wenn wir die Gajanische Schrift vom Gesichtspunkte der soeben zitierten Ciceronischen §§ 188/89 aus näher betrachten, so stellt sich heraus, daß ihre Aufmachung den Anforderungen, die Cicero durch den Mund des Crassus gestellt hat, in weitgehendem Maße entspricht. Am Anfang der Institutiones (1,1-7) werden zunächst die beiden Rechtsbegriffe ius civile und ius gentium, sodann die Termini filr die Rechtsquellen (lex, plebiscitum, senatus consultum, constitutio principis, edictum, responsum prudentis) näher definiert. In Inst. 1,8 folgt die berühmte Dreiteilung des gesamten zivilrechtlichen Materials: personae, res, actiones. Sie bildet die Grundlage rur das ganze übrige Lehrbuch; gleichzeitig ist der Ciceronischen Anforderung, daß die Zahl der Gattungen eine möglichst geringe sein sollte, Genüge geleistet worden (1,189 sunt ... genera .. . ad certum numerum paucitatemque revocanda). An zahlreichen Stellen begegnet eine weiterhin durchgeruhrte Zerlegung in Unterabteilungen (in der Anwendung der Gliederungsterminologie zeigt Gaius allerdings mangelhafte Konsequenz; er verwendet die Bezeichnung genus an Stellen, wo man species erwarten wUrde; s. z. B. inst. 1,12 libertinorum genera sunt tria); die Frage nach der Zahl der Abteilungen und Unterabteilungen bereitet ihm freilich gewisse Schwierigkeiten (vgl. Inst. 1,188 anläßlich der Einteilung der tutela in genera und species: Mucius Scaevola hatte die ziemlich zahlreichen species in 5, Sero Sulpicius in 3, Labeo und andere hatten sie in 2 genera zusammengefaßt). Und was schließlich die Definitionen der einzelnen juristischen Termini anbelangt, so muß konstatiert werden, daß sie im Gaiuswerk Legion sind (einige Beispiele aus dem Anfang von Buch I: 14 peregrini dediticii; 19 iusta manumissio; 22 Latini Iuniani; 39 iustae causae manumissionis; usw.) . Ich will selbstverständlich nicht behaupten, daß das gajanische Institutionensystem auf einem direkten Wege auf unsere Crassusrede in De oratore oder auf die Schrift De iure civi/i in artem redigendo oder gar auf die oben ebenfalls erwähnte ars (bzw. artes) des Servius Sulpicius zurückzuruhren ist9. Denn es ist nicht unwahrscheinlich, daß das Unterrichtssystem der römischen Rechtsschulen im Laufe der 2 Jahrhunderte, weIche Gaius von der ciceronischen Zeit trennen, allerhand nachträgliche Modifikationen erfahren hat. Es kann aber meines Erachtens trotzdem nicht abgestritten werden, daß das gajanische Lehrbuch rur die Verwirklichung der von Cicero hinsichtlich einer derartigen Schrift gemachten Vorschläge ein überraschend gutes Beispiel liefert; es weist, wie wir gesehen haben, so gut wie alle von Cicero vorgeschriebenen Merkmale auf. Wir müssen denn auch ernsthaft mit der Möglichkeit rechnen, daß Cicero und, neben ihm, sein Freund Servius Sulpicius die eigentlichen Urheber des juristischen Institutionensystems gewesen sind. 9 V gl. zu dem Institutionensystem und seinen Varianten bei Gaius, Ulpian und anderen Autoren NELSON: Überlieferung, Aufbau und Stil in Gai institutiones (Leiden 1981) S. 335-394 (besonders 335-360; 371 f. u. 376-394).
1. Furtum
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Exkurs 11 zu 111 183: Etymologien bei Gaius 1. Furtum Die zahlreichen Etymologien im Gajanischen Institutionenwerk dienen offensichtlich didaktischen Zwecken, z. B. I 99 ,adrogatio', quia et is, qui adoptat, ,rogatur' (u. S. 282); es scheint, dass Gaius der stoischen Lehre folgte, wie sie bei Varro Frgm. 265,125-127 FUNAlOLI, GRF. S. 281 f. mitgeteilt wird: Stoici autumant nul/um esse uerbum, cuius non certa exp/icari origo possit, "die Stoiker meinen, es gebe kein Wort, dessen Ursprung nicht mit Gewißheit erklärt werden könne". In III 183, 195 hat Gaius indes auf eine Definition desfurtum verzichtet und sich auf die offenkundige Entwendung beschränkt. Andere Juristen pflegten mit einer etymologischen Ableitung des furtum zu beginnen; vier verschiedene Ansichten faßte Paul. 39 ad ed., Dig. 47,2,1 pr. (- Inst. lust. 4,1,2) zusammen: ,Furtum' a ,furuo', id est "nigro", dictum Labeo ait, quod c/am et obscuro flat et plerumque nocte: uel a ,Jraude', ut Sabinus ait: uel a ,ferendo' et ,auferendo ': uel a Graeco sermone, qui cp&pa~ appel/ant fures: immo et Graeci axo 'toü ,cpepEt v' cp&pa~ dixerunt, "Labeo sagte, furtum, "Entwendung" sei nach furuus, "finster" genannt, weil eine Entwendung heimlich und im Dunkeln und meist nachts geschehe; oder nachJraus, "Gesetzesverletzung", wie Sabinus sagte; oder von ferre, "tragen" und auferre, "wegtragen"; oder aus dem Griechischen, da die Griechen die Diebe cp&pE~ nennen; die Griechen haben ja sogar cp&pE~, "Diebe" nach cpepEtV, "tragen" genannt." Die erste Ansicht,furtum a furuo, geht auf Varro zurück: Gellius 1,18,4 sed in posteriore eiusdem /ibri parte ,furem' dicit ex eo dictum, quod ueteres Romani "furuum" ,atrum' appe//auerint et fures per noetem, quae atra sit, facilius furentur, "aber im späteren Teil desselben Buches [14 rer. div.] sagt er,fur sei deshalb so genannt worden, weil die Römer früher das Schwarze auch furuum, "finster" genannt hätten und Diebe nachts, wenn es schwarz sei, leichter stehlen könnten". Aus Gellius hat Nonius Marcellus geschöpft, der Varros Etymologie mit leicht verändertem Wortlaut wiedergab und hierzu auch Homer (Il. 3,11) zitierte: pag. 50,12-15 M. Uarro rerum diuinarum XIV: ,furem' ex eo dictum, quod "furuum" ,atrum' appel/auerint et fures per obseuras noctes atque atras facilius furentur. Homerus: KAex'tTI oe 'tE VUK'tO~ ajlEtVOV, "Varro im 14. Buch der Göttlichen Dinge: Jur sei deshalb so genannt worden, weil sie das Schwarze furuum, "finster" genannt hätten und Diebe in dunklen und schwarzen Nächten leichter stehlen könnten.' Bei Homer heißt es: ,und der [seil. Nebel] aber für den Dieb besser ist als die Nacht'" (ajlEtvov: ajlEi.vro codd. Iliae, ed. VAN THIEL). Wenn der Mond im zweiten Viertel schon heller er-
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Exkurs 11: Etymologien bei Gaius
strahlt, können Sklaven bekanntlich besser fliehen, während es die Diebe schwerer haben: Verg. georg. 1,286 nona fugae melior, contraria furtis, "der neunte Tag [nach dem Neulicht] ist günstig fiir die Flucht, ungünstig fiir Entwendungen". Die Etymologiefurtum afuruuo ist später noch mehrfach verwendet worden, z. B. Servius auctus ad Verg. Aen. 2,18 nam et ,furtum' ideo dici-
tur, quod magis per tenebras admittatur; unde ,fures', qui quasi per ,furuum' tempus, hoc est "nigrum ", aliquid subripiunt, "denn auch das furtum heißt deshalb so, weil es eher in der Finsternis begangen wird; daher fures, "Entwen-
der", die gleichsam während der dunklen, d. h. der schwarzen Zeit etwas wegnehmen"; ferner Servo ad Verg. Aen. 9,348; ad Verg. Georg. 3,407 (an letzterer Stelle entschied Servius sich aber fiir die Ableitung von griech. eprop); Plac., Gloss. lat. IV pag. 22 F 9 PIRlEILINDSAY; Isidor etym. 10,106 ,jur' a ,furuo' dictus est, id est a ,,fusco"; etym. 5,26,18; 12,2,39. Wie Paulus und später Servius verwarf auch Gellius 1,18,5-6 die Etymologie Varros und stellte den Zusammenhang mit griech. eprop her, während Labeo beifurtum afuruo geblieben war. Das Varrofragment (Frgm. 100 AGAHD) findet sich auch bei FUNAlOLI, GRF. S. 235 Frgm. 131 (mit Parallelstellen) und CARDAUNS I S. 84 Frgm. 194; daß Nonius pag. 50,12 ff. nur tiber Gellius auf Varro zurtickgeht, ergibt sich aus der Analyse der Anlage des Nonius-Lexikons: mit dem Lemma Non. pag. 50,9 ,fures' beginnt eine Gellius-Reihe, vgl. LINDSAY, Nonius Marcellus' Dictionary of Republican Latin (Oxford 1901; Ndr. Hildesheim 1985) S. 15. Zu Varros Definition vgl. P. HUVELIN, Etudes sur le furtum dans le tres ancien droit romain (Paris 1915, Ndr. Rom 1968) 11 S. 426 ff. Die zweite Etymologie,furtum afraude, von Paulus dem Masurius Sabinus zugeschrieben, könnte aus dem durch Gellius bezeugten Liber singularis de furtis des Sabinus kommen, so BREMER, lur. Ant. 11 I S. 382 Frgm. I (unentschieden LENEL, Pal. 11 S. 212, wo Paul. 39 ad ed., Dig. 47,2,1 pr. als Sab. Frgm. 215 eingestellt ist, während [Pal. 11 S. 187] Gell. 11,18,11-14 als Sab. Frgm. 2 gezählt wird); sie wurde auch von Servius auctus ad Verg. Aen. 8,205 verwendet: sed hic quidam ab Euandro tamquam in degeneri fraude ,furem' appellatum uolunl, "aber hier wollen manche, daß er [nämlich Cacus] von Euander gleichsam zur Bezeichnung eines feigen Gesetzesverstoßes ,Dieb' genannt worden sei"; Euander zeichnete sich durch höchstes Gerechtigkeitsempfinden aus (Origo gent. Rom. 6,4 Euander, excellentissimae iustitiae uir; Liv. 1,7,8) und nannte den Cacus zutreffend einen Dieb (bei Verg. Aen. 8,205 at furis Caci mens ejJera, "aber der rohe Geist des Diebes Cacus"). Näheres HUVELIN I S. 303 ff., zu Sabinus 11 S. 706. Mit der Ableitung vonferre und der Verbindung mit griech. eprop, "Dieb" haben Gellius, Paulus und Servius nach moderner Auffassung die richtige Etymologie getroffen. Das von Paul., Dig. 47,2,1 pr. verwendete "toü wurde spätestens seit Plin. ep. 2,14,5 (,!:Oep01CAEt