Funktionselemente der Koalitionsfreiheit nach Art. 11 EMRK: Vorgaben von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK für die Gestaltung kollektiver Beziehungen [1 ed.] 9783428583393, 9783428183395

Häufig werden im deutschen Schrifttum aus Entscheidungen des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK vermeintliche Strukturvor

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German Pages 210 [211] Year 2021

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Funktionselemente der Koalitionsfreiheit nach Art. 11 EMRK: Vorgaben von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK für die Gestaltung kollektiver Beziehungen [1 ed.]
 9783428583393, 9783428183395

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Abhandlungen zum deutschen und internationalen Arbeits- und Sozialrecht Band 3

Funktionselemente der Koalitionsfreiheit nach Art. 11 EMRK Vorgaben von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK für die Gestaltung kollektiver Beziehungen

Von

Florian Lettmeier

Duncker & Humblot · Berlin

FLORIAN LETTMEIER

Funktionselemente der Koalitionsfreiheit nach Art. 11 EMRK

Abhandlungen zum deutschen und internationalen Arbeits- und Sozialrecht Band 3

Funktionselemente der Koalitionsfreiheit nach Art. 11 EMRK Vorgaben von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK für die Gestaltung kollektiver Beziehungen

Von

Florian Lettmeier

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Jahre 2021 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 2747-9021 ISBN 978-3-428-18339-5 (Print) ISBN 978-3-428-58 339-3(E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2020/2021 von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur sind bis einschließlich Februar 2021 berücksichtigt. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Richard Giesen. Er hat diese Arbeit angeregt und betreut und mich in jeder Phase uneingeschränkt unterstützt. Die Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl für Sozialrecht, Arbeitsrecht und Bürgerliches Recht der LudwigMaximilians-Universität München hat es mir einerseits ermöglicht, mich voll und ganz auf diese Arbeit zu konzentrieren und andererseits meine persönliche und fachliche Entwicklung außerordentlich gefördert. Ebenso danke ich Herrn Professor Dr. Abbo Junker für die Erstellung des Zweitgutachtens. Großen Dank schulde ich auch all meinen Kollegen am Zentrum für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht für ihre vielfältige und außergewöhnliche Unterstützung. Insbesondere danke ich Herrn Dr. Lucas Lichtenberg, der einen großen Beitrag bei der Fertigstellung des Buches geleistet hat. Der größte Dank gilt meinen Eltern, Josef und Andrea Lettmeier, sowie Laura Zainer für ihren Rückhalt – während der Anfertigung dieser Arbeit, aber auch weit darüber hinaus. Freising, im Februar 2021

Florian Lettmeier

Inhaltsverzeichnis 1. Teil Gestaltung von kollektiven Beziehungen im Arbeitsrecht

19

A. Selektive Wahrnehmung von Art. 11 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Untersuchungsgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 I. Kollektive Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 II. Akteure kollektiver Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1. Wortlaut erfasst allein Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2. Kein Schutz von rein betrieblichen Interessenvertretungen durch Art. 11 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 III. Begriffe: Kollektivvertrag, Kollektivverhandlungen und Kollektivvertragssystem 24 C. Gestaltungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I. Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. Vergleich der nationalen Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. Vergleich anhand wirtschaftlicher Parameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 a) Verwendete Parameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 b) Klassifikationsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 c) Beispiel 1: OECD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 d) Beispiel 2: Rebhahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 e) Probleme dieser Klassifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2. Anhand rechtlicher Parameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Zahlreiche mögliche Vergleichspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 b) Schwierigkeiten der Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 aa) Keine Merkmale in Reinform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 bb) Große Bedeutung außerrechtlicher Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 c) Gemeinsame(r) Nenner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

2. Teil Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

34

A. Übersicht der Spruchpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 I. Bedeutung des Gerichtshofs für die Vorgabenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

8

Inhaltsverzeichnis II. Kriterien zur Filterung der Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. Verwendete Suchkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Urteile an der Grenze von Koalitionsfreiheit und Versammlungsfreiheit . . . 36 III. Zusammenstellung in einem Aussagenkatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 IV. Erste Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 V. Weitere Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

B. Grenzen der Spruchpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 I. Begrenzte Aussagekraft von Urteilen des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Keine rechtliche Bindung über den konkreten Fall hinaus . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Unklare Orientierungswirkung und Berücksichtigungspflicht . . . . . . . . . . . . 46 a) Orientierungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 aa) Versuch der Herleitung aus Art. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 bb) Stare decisis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 cc) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 b) Berücksichtigungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 aa) Brighton Declaration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 bb) Position des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3. Einzelfallcharakter der Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 a) Strukturell bedingte Zurückhaltung mit abstrakten Aussagen . . . . . . . . . . 51 aa) Subsidiarität der Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 bb) Anlehnung an das common law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 b) Durch Art. 11 EMRK bedingte Zurückhaltung mit übertragbaren Ausführungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 II. De-Kontextualisierung als weitere Abschwächung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1. Statistischer Befund: Große Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 a) Geringe und ungleich verteilte Beschwerdefrequenz . . . . . . . . . . . . . . . . 54 b) Sehr unterschiedliche Erfolgsquote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 c) Mögliche Konsequenz: Two-track Europe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2. Lösung: Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 a) Ansatz und Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 b) Entwicklung eines Kontextualisierungsauftrages auf der nationalen Ebene 58 c) Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 d) Kritik und Entkräftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3. Vorgabenbildung erfordert De-Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 a) Notwendigkeit der Abstrahierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 b) Gefahr der Verfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Inhaltsverzeichnis

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c) Grundwertungen als Anknüpfungspunkt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 aa) Die Beamtenstreikverbot-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 bb) Konzentration auf die Grundwertungen als Missachtung der Konvention? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 cc) Abgrenzung durch nationale Gerichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 (1) Keine zusätzliche Rechtsunsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 (2) Untauglichkeit der diskutierten Abgrenzungsmerkmale . . . . . . . . 64 (3) Gerichtshof gibt Grundwertungen vor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

3. Teil Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

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A. Explizite Bestimmung über den Kernbereich oder den Wesensgehalt . . . . . . . . . . . . . 68 I. Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 II. Rolle in der Spruchpraxis des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. Bei der EMRK im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Bei Art. 11 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 a) Definition des Schutzbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 b) Grenzen der Einschränkbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 aa) Wesensgehalt als Mindestschutz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 bb) Wesentliche Elemente als Ausformung des Wesensgehalts? . . . . . . . 73 cc) Kein unantastbarer Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 I. Ansatz in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 II. Rolle in der Spruchpraxis des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2. Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3. Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 4. Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 5. Neuere Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 a) Betonung der Subsidiarität durch die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . 80 b) Betonung der Subsidiarität durch den Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 c) Statistische Messbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

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Inhaltsverzeichnis III. Anwendung bei Art. 11 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 1. Allgemeine Anwendungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 a) Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 b) Kein Ausschluss bei Eingriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2. Reichweite der margin of appreciation im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . 85 a) Einflussfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 b) Bestrebungen, die Faktoren zu reduzieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 c) Praxis des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3. Besonderheiten der Bestimmung bei Art. 11 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 a) Die Betroffenheit eines besonderen Sachgebiets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 aa) Koalitionsfreiheit als soziales Menschenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 (1) Soziale Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 (2) EMRK und soziale Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 (3) Koalitionsfreiheit als soziales Menschenrecht . . . . . . . . . . . . . . . 92 bb) Weiter Spielraum als Folge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 b) Das Bestehen eines gemeinsamen europäischen Konsenses . . . . . . . . . . . 94 aa) Ermittlung eines Konsenses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 bb) Europäischer Konsens bei den kollektiven Systemen? . . . . . . . . . . . . 95 cc) Grundsätzlich weiter Spielraum als Folge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 c) Die Art der Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 aa) Entwicklung der positiven Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 bb) Mittelbare Drittwirkung durch positive Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . 98 cc) Positive Pflichten und margin of appreciation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (1) Gleichstellung positiver und negativer Pflichten durch den Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (2) Mittelwahlspielraum als zusätzliche Größe . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (3) Multipolare Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 dd) Positive Pflichten unter Art. 11 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (1) Schwerpunkt auf den positiven Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 (2) Freie Mittelwahl zur Gewährleistung der effektiven Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 (3) Explizite Anerkennung eines weiten Spielraums? . . . . . . . . . . . . 104 ee) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 d) Die Betroffenheit des Kernbereichs des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 aa) Einengung der margin of appreciation bei Betroffenheit des Kernbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 bb) Bestimmung des Kernbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 aa) Keine Vereinfachung möglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

Inhaltsverzeichnis

11

bb) Wechselwirkung der Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 cc) Grundsätzlich weiter Spielraum bei der Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . 109 IV. Kritik an den Ansätzen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1. Am Ansatz von Mahoney . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2. Am Ansatz von Hutchinson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 a) Funktion der margin of appreciation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 b) Bestätigung der Annahme durch die Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . 110 aa) Manole und ,Romanian Farmers Direct‘ ./. Rumänien . . . . . . . . . . . . bb) Tek Gıda I˙s¸ Sendikası ./. Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110 111 112 112

c) Fälle, in denen keine margin of appreciation gewährt wird . . . . . . . . . . . 113 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 C. Absage an Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 I. Grundsatz: Allgemeiner Mindestschutz durch die Konvention . . . . . . . . . . . . . . . 114 II. Keine Matrixstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 III. Keine Harmonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

4. Teil Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

117

A. Wesentliche Elemente als Anknüpfungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 I. Vorüberlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 II. Die Figur der wesentlichen Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Auflistung der wesentlichen Elemente in Demir und Baykara ./. Türkei . . . 118 2. Keine Aufwertung der Intensität des Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 III. Entwicklung einer Funktionselementenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1. Funktionale Grundrechtskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 a) Ausdruck der Verantwortung in einer demokratisch sozialen Einheit . . . 120 b) Auswirkung dieser Konzeption auf die Koalitionsfreiheit . . . . . . . . . . . . 121 2. Der Koalitionszweck als Anknüpfungspunkt für die Funktionswesentlichkeit 122 a) Eine Ansicht: Redundanz des Koalitionszwecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 aa) Unzulässige Erweiterung des Schutzbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 bb) Gefahr der einschränkenden Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 b) Andere Ansicht: Funktionale Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 aa) Weite Auslegung in Bezug auf den Koalitionszweck . . . . . . . . . . . . . 123 bb) Unverzichtbarkeitskriterium als Einschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

12

Inhaltsverzeichnis c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 aa) Relevanz des Koalitionszwecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 bb) Weitgehende Fortführung der Argumentationslinie . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Die Praxis der Mitgliedstaaten als Anknüpfungspunkt für die Funktionswesentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 a) Rechtsvergleich als Indikator für funktionswesentliche Elemente . . . . . . 125 b) Ausbrechender Rechtsakt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 aa) Zurückhaltung des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 bb) Weiterentwicklung der Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 cc) Kein Durchschlagen im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 4. Zwischenergebnis: Funktionselementenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 IV. Auswirkung einer Funktionselementenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Keine Funktionsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 a) Verzicht auf die Unverzichtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 b) Anknüpfung an die Praxis der Mitgliedstaaten und den Koalitionszweck 130 2. Keine Zweckerreichungsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 a) Faktische Möglichkeit genügt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Weiterführende Beispiele aus der Spruchpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 aa) The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 (1) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 (2) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 bb) Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 (1) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 (2) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 cc) Association of Academics ./. Island . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 (1) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 (2) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 dd) Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (1) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (2) Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3. Anerkennung einer relativen Koalitionsmittelgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 a) Keine Koalitionsmittelgarantie zu Beginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Relative Koalitionsmittelgarantie in Bezug auf das Recht, Tarifverhandlungen zu führen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 4. Notwendigkeit der Gesamtbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Zweckverfolgung muss insgesamt möglich sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 b) Weiterführende Beispiele aus der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 aa) The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

Inhaltsverzeichnis

13

bb) Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . 140 cc) S¸is¸man et al. ./. Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 1. Koalitionsfreiheit erfordert funktionale Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2. Vorgaben können allein am konkreten Fall entwickelt werden . . . . . . . . . . . 143 B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 I. Das Recht, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten . . . . . . . . . . . . . . . 144 1. Die Gewerkschaftsgründung und der Gewerkschaftsbeitritt . . . . . . . . . . . . . 144 a) Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 b) Gewerkschaften als Träger des Koalitionsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 c) Arbeitgeberverbände als Träger des Koalitionsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. Die Selbstverwaltung der Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3. Keine Benachteiligung aufgrund der Gewerkschaftsmitgliedschaft . . . . . . . 149 a) Die Rolle von Art. 14 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 b) Die Spruchpraxis des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 aa) Statistische Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 bb) Kein schematisches Vorgehen des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 cc) Sanktionierungen wegen unerlaubten Fernbleibens von der Arbeit

151

II. Das Verbot von Absperrklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1. Closed shop-Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2. Weitere Zwangsmitgliedschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 a) Closed shop pars pro toto für Zwangsmitgliedschaften besonderer Art 153 b) Vorgaben des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 III. Das Recht einer Gewerkschaft, gehört zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 1. Oberbegriff für alle gewerkschaftlichen Betätigungsformen zu Beginn . . . . 155 2. Entwicklung zu einer Kompensationsmöglichkeit seit Demir und Baykara ./. Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 IV. Das Recht, Kollektivverhandlungen zu führen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2. Kein Recht auf Abschluss eines Tarifvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 3. Begrenzung von Verhandlungspartnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 4. Wirkung von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 5. Beamte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 a) Keine Grundrechtsträger „light“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 b) Loyalitätspflichten können Besonderheiten rechtfertigen . . . . . . . . . . . . . 162 c) Funktionale Bestimmung der Beamteneigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 6. Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 a) Keine Anerkennung einer umfassenden Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . 163 b) Möglichkeit weitgehenden staatlichen Zugriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 7. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

14

Inhaltsverzeichnis V. Das Streikrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 a) Entwicklung in der Spruchpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 b) Einstufung als wesentliches Element . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 c) Einschränkungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 2. Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 a) Weitere Arbeitskampfformen der Gewerkschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 b) Aussperrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3. Streikziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 a) Bezug auf berufliche Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 aa) Kein Schutz von allgemeinen Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 bb) Schutz des nicht-tarifbezogenen Streiks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 b) Kein politisches Streikrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 aa) Teilnahme von Gewerkschaftsmitgliedern an Aktionen ohne Bezug zu beruflichen Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 bb) Versammlungsfreiheit als vorrangiger Prüfgegenstand . . . . . . . . . . . . 175 cc) Beamte als Beschwerdeführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 dd) Ergebnis: Kein politisches Streikrecht im engeren Sinn . . . . . . . . . . . 177 4. Träger des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 a) Keine Aussage des Gerichtshofs zum wilden Streikrecht . . . . . . . . . . . . . 178 b) Bei Anerkennung jedenfalls großer Gestaltungsspielraum . . . . . . . . . . . . 179 5. Verfahrensvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 a) Streikabstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 b) Schlichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 C. Konkrete Vorgaben nur unter Berücksichtigung der Funktionsfähigkeit der nationalen Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

5. Teil Zusammenfassung und Ergebnisse

184

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Internetquellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Rechtsprechungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Abkürzungsverzeichnis a. A. Abs. AcP AEMR Alt. AöR Art. AT AuR BAG BDA BE Begr. BetrVG BGBl.

andere Ansicht Absatz Archiv für die civilistische Praxis Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Alternative Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Österreich Arbeit und Recht Bundesarbeitsgericht Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Belgien Begründer Betriebsverfassungsgesetz Bundesgesetzblatt (dann Aufgliederung in mit röm. Ziffern bezeichnete Teile) BPersVG Bundespersonalvertretungsgesetz BR Bundesrat BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGG Bundesverfassungsrechtsgesetz BVerwG Bundesverwaltungsgericht bzw. beziehungsweise CY Zypern CZ Tschechien DE Deutschland DGB Deutscher Gewerkschaftsbund d. h. das heißt DK Dänemark DÖV Die Öffentliche Verwaltung DRdA Das Recht der Arbeit ECHR (ECtHR) European Court of Human Rights EE Estland EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EL Griechenland EMRK Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ES Spanien ESC Europäische Sozialcharta et al. et alii, et aliae, et alia etc. et cetera EuGH Europäischer Gerichtshof EuGRZ Europäische Grundrechte-Zeitschrift

16 EuR EuZW EuZA EWR f. ff. FI Fn. FR FS GG GmbH GRCh HELP Hrsg. Hs. HSI HU IAO (ILO) ICCPR ICESCR IE insb. IT i. V. m. JuS JZ Kap. KritV lit. LT Ltd. LV MA MittAB NJOZ NJW NL Nr. NVwZ NZA OECD PLC PO PT RabelsZ Rn.

Abkürzungsverzeichnis Europarecht – Zeitschrift Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht Europäischer Wirtschaftsraum folgende folgende Finnland Fußnote Frankreich Festschrift Grundgesetz Gesellschaft mit beschränkter Haftung Charta der Grundrechte der Europäischen Union Human Rights Education for Legal Professionals Herausgeber Halbsatz Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht Ungarn Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization) UN-Zivilpakt (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte) UN-Sozialpakt (Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) Irland insbesondere Italien in Verbindung mit Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung littera Litauen Limited Company Lettland Malta Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Neue juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Niederlande Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Public Limited Company Polen Portugal Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Randnummer

Abkürzungsverzeichnis Rspr. RW S. SE SI SK sog. SR St. Rspr. TVG u. u. a. UK Urt. v. VerfO VG vgl. Vorb. ZaöRV z. B. ZBR ZfA ZIAS ZP

17

Rechtsprechung Rechtswissenschaft – Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung Seite Schweden Slowenien Slowakei sogenannte(n) Soziales Recht ständige Rechtsprechung Tarifvertragsgesetz und unter anderem Vereinigtes Königreich Urteil von, vom Verfahrensordnung (des Gerichthofs) Verwaltungsgericht vergleiche Vorbemerkung Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht Zusatzprotokoll

Im Übrigen wird verwiesen auf: Kirchner, Hildebert (Begr.), Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 9. Auflage 2018.

1. Teil

Gestaltung von kollektiven Beziehungen im Arbeitsrecht A. Selektive Wahrnehmung von Art. 11 EMRK Art. 11 EMRK wurde in der deutschen Literatur und Rechtsprechung lange Zeit kaum Bedeutung für das nationale kollektive Arbeitsrecht beigemessen.1 Dies hat sich spätestens mit dem als „epochal“2 bezeichneten Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in der Sache Demir und Baykara ./. Türkei3 geändert: Die zahlreichen Veröffentlichungen in der jüngeren Zeit zeigen, dass das Augenmerk nun auch auf diese Norm gerichtet wird. Der Großteil der Beiträge beschränkt sich allerdings auf spezifisch deutsche Einzelprobleme unter dem Einfluss von Art. 11 EMRK. Mitunter werden aus Aussagen des EGMR in einzelnen Entscheidungen allgemeingültige Strukturvorgaben für die Gestaltung kollektiver Beziehungen abgeleitet.4 Die deutsche Rechtslage wird dann an diesen vermeintlichen Vorgaben gemessen. Das deutsche Beamtenstreikverbot nimmt hierbei einen großen Stellenwert ein.5 Aber auch zur Frage der Tarifeinheit6 oder der Kirchenautonomie7 finden 1

Marauhn, RabelsZ 63 (1999), 537 (538 f.); kritisch Frowein, DÖV 1998, 806 (808 f.). Ewing/Hendy, Industrial Law Journal, 2 (47). 3 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), deutsche Übersetzung von Meyer-Ladewig/Petzold in NZA 2010, 1425 ff. Alle in dieser Arbeit zitierten Urteile und Entscheidungen des EGMR sind im Volltext in einer der offiziellen Sprachen (Englisch und Französisch, Rule 34 Nr. 1 der Rules of Court) in der Online-Datenbank HUDOC veröffentlicht, abrufbar unter: https://www.hudoc.echr.coe.int/ (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). Die Urteile des EGMR werden nach dem Grundsatz Beschwerdeführer ./. Beschwerdegegner bezeichnet. Die englischsprachige Bezeichnung in HUDOC wird für diese Arbeit beibehalten, allein die Bezeichnung der Staaten, gegen welche die Urteile ergangen sind, werden ins Deutsche übersetzt. 4 So z. B. bei Lörcher, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 10 Rn. 42; Absenger/J. Schubert, SR 2019, 211 (224): „Konventionskonformität setzt weitgehende Harmonisierung voraus.“ 5 Vgl. allein zu den Monographien unter vielen anderen Ernst, Das Streikverbot für Beamte, S. 163 ff.; Ickenroth, Beamtenstreikverbot, S. 37 ff.; Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 387 ff.; Lange-Korf, Unions- und völkerrechtliche Einflüsse, S. 137 ff.; Lauer, Das Recht des Beamten zum Streik, S. 169 ff.; Pollin, Das Streikverbot für verbeamtete Lehrer, S. 92 ff.; Schulz, Zum Streikrecht von Beamten, S. 95 ff. 6 Vgl. u. a. Bialluch, Tarifeinheitsgesetz, S. 347 ff.; Schlachter, AuR 2015, 217; Scholz/ Lingemann/Ruttloff, NZA-Beilage 2015, 3 (43 ff.); Waas, Regelungsentwurf von DGB und BDA, S. 62 ff. 7 Vgl. u. a. Fremuth, EuZW 2018, 723 (725 ff.); Junker, EuZA 2018, 304; Lörcher, in: FS Barwig, S. 78 ff.; Weller, Kirche und Streikrecht, S. 347 ff. 2

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1. Teil: Gestaltung von kollektiven Beziehungen im Arbeitsrecht

sich eine Reihe neuerer Untersuchungen im Zusammenhang mit Art. 11 EMRK. Diese selektive Wahrnehmung ist verständlich: Urteile des EGMR gegen andere Mitgliedstaaten des Europarats geben Anlass für „Aufreger“ auf der nationalen Ebene. So wurde die Diskussion zum deutschen Beamtenstreikverbot durch die Urteile Demir und Baykara ./. Türkei sowie Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei8 (wieder-) entfacht.9 Das BVerfG hat mittlerweile ebenjenes Beamtenstreikverbot10 und auch das deutsche Tarifeinheitsgesetz11 – unter Berücksichtigung von Art. 11 EMRK – weitestgehend bestätigt. In beiden Fällen sind allerdings mehrere Individualbeschwerden aus dem Jahr 2018 beim EGMR anhängig.12 Abseits von den für das nationale Recht als relevant eingestuften Urteilen fehlt es hingegen an vertieften Auseinandersetzungen mit Art. 11 EMRK. Pauschal wird festgestellt, dass sich aus den völkerrechtlichen Vorgaben keine über die Gewährleistungsinhalte von Art. 9 Abs. 3 GG hinausgehende Bindungen ergäben,13 obwohl der Wortlaut von Art. 11 Abs. 1 EMRK tatsächlich weiter als der seines deutschen Pendants ist.14 Während einzelne Aussagen des EGMR bis ins letzte Detail gedeutet werden, wird das systematische Denken erschwert und das Gesamtbild verschwimmt. Dieses wieder zu schärfen, ist Ziel der vorliegenden Arbeit. Hierfür soll der Blick nicht durch die deutsche Brille, sondern aus der konventionsrechtlichen Perspektive erfolgen.15 Eine Untersuchung von einzelnen deutschen Regelungen wird nicht vorgenommen. Der Vorteil einer solchen Herangehensweise ist, dass die gefundenen Ergebnisse auf zukünftige Problemstellungen eine Antwort geben können, die ihre Schlüssigkeit losgelöst vom Einzelfall in einer national nicht vorgeprägten Betrachtungsweise finden. Es wird der Frage nachgegangen, ob Art. 11 8

EGMR, Urt. v. 21. 04. 2009 – 68959/01 (Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei), deutsche Übersetzung von Meyer-Ladewig/Petzold in NZA 2010, 1423 ff. 9 Zur Vereinbarkeit des deutschen Beamtenstreikverbots mit Art. 11 EMRK siehe bereits zu Beginn der 1970er-Jahre Däubler, Streik im öffentlichen Dienst, S. 172 ff. 10 BVerfG, Urt. v. 12. 06. 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a., NJW 2018, 2695 ff. 11 BVerfG, Urt. v. 11. 07. 2017 – 1 BvR 1571/15 u. a., NZA 2017, 915 ff. Das Tarifeinheitsgesetz ist nur insoweit verfassungswidrig, als die angegriffenen Regelungen keine Schutzvorkehrungen gegen eine einseitige Vernachlässigung der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen durch die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft vorsehen. 12 Zum Tarifeinheitsgesetz sind die Beschwerden 815/18 (dbb beamtenbund und tarifunion ./. Deutschland); 3278/18 (Marburger Bund Verband der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte Deutschlands ./. Deutschland); 12380/18 (Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) ./. Deutschland); 12693/18 (Angert et al. ./. Deutschland); 14883/18 (Ratih ./. Deutschland) und zum Beamtenstreikverbot die Beschwerden 59433/18 (Humpert ./. Deutschland); 59477/18 (Wienrank ./. Deutschland); 59481/18 (Grabs ./. Deutschland); 59494/ 18 (Dahl ./. Deutschland) anhängig. 13 Greiner, Rechtsfragen, S. 178. 14 Rieble, Verfassungsfragen der Tarifeinheit, S. 160 u. 162. 15 Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit vermehrt auf wörtliche Zitate des Gerichtshofs zurückgegriffen. Dadurch soll vermieden werden, dass eine Übersetzung oder Paraphrasierung zur Verfälschung der eigentlichen Aussage des EGMR führt.

B. Untersuchungsgegenstände

21

EMRK konkrete Vorgaben für die Gestaltung kollektiver Beziehungen aufstellt und welche Grenzen der Vorgabenbildung gesetzt sind. Dadurch kann aufgezeigt werden, ob ein kollektives System unter Art. 11 EMRK auf eine bestimmte Weise strukturiert sein muss, welche Elemente zu beachten sind und wo dem Mitgliedstaat ein Gestaltungsspielraum verbleibt. Möglicherweise wird so auch die Auffassung in der Literatur in Frage gestellt, dass Art. 11 EMRK starre Strukturvorgaben vermittelt.

B. Untersuchungsgegenstände Die EMRK ist ein multilateraler völkerrechtlicher Vertrag, der von den 47 Mitgliedstaaten des Europarats ratifiziert worden ist.16 Diese Mitglieder zeichnen sich nicht nur durch unterschiedliche Rechtsordnungen aus. Auch die einzelnen Gestaltungen werden nicht einheitlich bezeichnet, weil es keine rechtliche Universalsprache gibt. Einige Schlagwörter, die im Laufe der Arbeit verwendet werden, sind daher vorab zu klären.

I. Kollektive Beziehungen In Deutschland schließen sich Arbeitnehmer zu Gewerkschaften zusammen, um ihrem Arbeitgeber kollektiv gegenübertreten zu können. Dieser kann seinerseits einem Arbeitgeberverband beitreten. Aber auch durch die Wahl eines Betriebsrates können sich Arbeitnehmer vereinigen, um ihre Interessen gebündelt zu verfolgen. Das deutsche System ist somit zweispurig: Die Arbeitnehmerinteressen werden vom (Gesamt-/Konzern-)Betriebsrat oder dem (Gesamt-/Bezirks-/Haupt-)Personalrat und der Gewerkschaft vertreten, wobei sich deren konkreten Aufgaben unterscheiden, vgl. § 2 Abs. 3 BetrVG und § 2 Abs. 3 BPersVG.17 Weiter grenzen sich diese beiden Formen der Interessenvertretung durch ihre Begründung, die Austrittsmöglichkeit, das zur Verfügung gestellte Regelungsinstrument sowie das Konfliktlösungsmittel voneinander ab.18 Es existieren demnach zwei unterschiedliche Konzepte, denen allein die Zusammenfassung mehrerer Arbeitnehmer und deren Interessenvertretung gegenüber der Arbeitgeberseite gemein ist.19 Kollektive Beziehungen im Arbeitsrecht wiederum sind die Folge dieser Bündelung von Interessen. International hat sich hierfür 16 Vgl. die Übersicht auf der Seite des Europarats unter: https://www.coe.int/de/web/portal/4 7-members-states (letzter Zugriff am 23. 02. 2021); zur Entstehung und Entwicklung der EMRK siehe statt aller HK-EMRK/Meyer-Ladewig/Nettesheim, Einleitung Rn. 6 ff. 17 Junker, GK Arbeitsrecht, Rn. 642. Hinzu kommt die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf der Unternehmensebene, siehe dazu Junker, GK Arbeitsrecht, Rn. 803 f. 18 Junker, GK Arbeitsrecht, Rn. 643 f. 19 MHdB ArbR/Fischinger, Band 3, § 215 Rn. 1.

22

1. Teil: Gestaltung von kollektiven Beziehungen im Arbeitsrecht

der englische Begriff industrial relations durchgesetzt.20 Sie finden statt zwischen den Verbänden, zwischen den Mitgliedern und ihrem Verband oder zwischen den jeweiligen Mitgliedern selbst, wenn ein Zusammenhang zu der kollektiven Wahrnehmung von Interessen besteht. Die Arbeit ist daher nicht auf die kollektive Koalitionsfreiheit begrenzt.

II. Akteure kollektiver Beziehungen 1. Wortlaut erfasst allein Gewerkschaften Die Akteure kollektiver Beziehungen wurden bereits angesprochen. In Deutschland sind es unter anderem die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände, die Arbeitnehmervertretungen des Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrechts sowie der einzelne Arbeitgeber. Art. 11 Abs. 1 EMRK lautet in seiner deutschen – nichtamtlichen – Übersetzung21: „Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen; dazu gehört auch das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten.“

Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK erfasst ausdrücklich nur Gewerkschaften. Der Gerichtshof spricht mitunter von der Gewerkschaftsfreiheit, betont aber zugleich, dass diese nur eine Form der allgemeinen Vereinigungsfreiheit sei.22 Den Begriff der Koalition oder der Koalitionsfreiheit verwenden weder die EMRK noch der EGMR.23 Es läge daher nahe, im weiteren Verlauf von der Gewerkschaftsfreiheit oder aber der Vereinigungsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 EMRK zu sprechen.24 Hier wird nichtsdestotrotz der Begriff der Koalitionsfreiheit gewählt: Zuerst ist eine Koalition dem eigentlichen Wortsinn nach nicht enger zu verstehen als eine Vereinigung. Des Weiteren könnte eine sprachliche Gleichsetzung von Art. 11 Abs. 1 Hs. 1 Alt. 2 und Hs. 2 EMRK bereits zu Beginn Ergebnisse vorwegnehmen,

20

Der aber nicht nur die rechtlichen, sondern auch politische, wirtschaftliche oder psychologische Beziehungen umfasst: Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 1. 21 Bekanntmachung der Neufassung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 22. Oktober 2010, BGBl. II 2010, S. 1198. 22 EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5614/72 (Swedish Engine Drivers’ Union ./. Schweden), Rn. 39; EGMR, Urt. v. 25. 12. 2012 – 11828/08 (Trade Union of the Police in the Slovak Republic et al. ./. Slowakei), Rn. 54; EGMR, Urt. v. 16. 06. 2015 – 46551/06 (Manole und ,Romanian Farmers Direct‘ ./. Rumänien), Rn. 57; EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland), Rn. 54. 23 Ulber, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 6 Rn. 414. 24 So konsequent Ulber, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 6 Rn. 414 ff.

B. Untersuchungsgegenstände

23

die sich im Laufe der Arbeit nicht bestätigen.25 Zuletzt ist in der deutschsprachigen Literatur zu Art. 11 EMRK nahezu ausschließlich von der Koalitionsfreiheit die Rede.26 Diesem allgemeinen Gebrauch wird auch hier im weiteren Verlauf gefolgt. Unbedingt vermieden werden muss aber die gedankliche Assimilation der konventionsrechtlichen und der deutschen Koalitionsfreiheit in Bezug auf deren Gewährleistungsinhalte. Wird im Folgenden die Koalitionsfreiheit angesprochen, so ist damit allein die in Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK verbürgte Freiheit gemeint. 2. Kein Schutz von rein betrieblichen Interessenvertretungen durch Art. 11 EMRK Das Nebeneinander von Gewerkschaft und Betriebsrat ist im europäischen Raum nicht alleingültig. In den skandinavischen Ländern werden die Arbeitnehmerinteressen fast ausschließlich von der Gewerkschaft wahrgenommen.27 In Schweden beispielsweise sind die Arbeitnehmervertretungen im Betrieb (fackklubb) eine Art lokale Zweigstelle der Gewerkschaft.28 Und auch im Vereinigten Königreich entwickeln sich erst allmählich innerbetriebliche Interessenvertretungen (work councils) als Konkurrenz zu den Gewerkschaften.29 Die Bandbreite an kollektiven Beziehungen ist somit in manchen Staaten verkürzt, weil kein von der Gewerkschaft unabhängiger Betriebsrat existiert. Solche Gestaltungen werfen jedoch keine Probleme unter Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK auf. In Karakurt ./. Österreich30 erklärte der EGMR die Beschwerde des türkischen Staatsangehörigen Mümtaz Karakurt für unzulässig. Dieser wurde zusammen mit einem österreichischen Arbeitskollegen in den Betriebsrat eines österreichischen Betriebs gewählt, aber nicht in den Betriebsrat aufgenommen. Nach § 53 Abs. 1 Nr. 1 b) Arbeitsverfassungsgesetz alter Fassung stand das passive Wahlrecht nur Angehörigen von Staaten zu, die Vertragsparteien des EWR-Abkommens waren. Dies traf auf die Türkei nicht zu. Der EGMR begründete die 25

Siehe zur Koalitionsfreiheit als Spezialform der Vereinigungsfreiheit ausführlich unter S. 146 f. 26 So unter anderem Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 255; EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 1; Fornasier, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rn. 113; Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 11 Rn. 13; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 88; Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rn. 2; Sagan, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Art. 11 EMRK Rn. 1. 27 Weiss, NZA 2003, 177. Allerdings haben EU-Richtlinien wie z. B. die Richtlinie 94/45/ EG über Europäische Betriebsräte mittlerweile dafür gesorgt, dass die Mitwirkung auf Unternehmensebene gestärkt wurde, vgl. Kurz, in: Henssler/Braun, Arbeitsrecht in Europa, Schweden Rn. 175. 28 Kurz, in: Henssler/Braun, Arbeitsrecht in Europa, Schweden Rn. 170. 29 Krieger/Schmidt-Klie, EuZA 2014, 161 (188). Zu der großen Bedeutung der gewerkschaftlichen Vertreter im Betrieb (shop stewards), die mitunter ein Eigenleben von der Gewerkschaft führen: Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 167 ff. und 237. 30 EGMR, Entscheidung v. 14. 09. 1999 – 32441/96 (Karakurt ./. Österreich).

24

1. Teil: Gestaltung von kollektiven Beziehungen im Arbeitsrecht

Abweisung damit, dass Betriebsräte nicht aufgrund eines freiwilligen Zusammenschlusses gebildet würden, sondern sowohl in ihrer Existenz als auch ihrer konkreten Zusammensetzung von den nationalen Bestimmungen abhängig seien.31 Damit würden sie nicht unter den Schutzbereich von Art. 11 Abs. 1 EMRK fallen. Ist demnach fortan von kollektiven Beziehungen die Rede, so sind damit allein die Beziehungen von und zwischen Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemeint. Außer Betracht bleiben die Beziehungen zu innerbetrieblichen Interessenvertretungen wie etwa Betriebsräten. Auch vergleichbare innerbetriebliche Interessenvertretungen scheiden somit aus.

III. Begriffe: Kollektivvertrag, Kollektivverhandlungen und Kollektivvertragssystem Das (Zwischen-)Ergebnis ausgeübter kollektiver Beziehungen wird in vielen Fällen eine Vereinbarung zwischen den Akteuren sein. Rechtsübergreifend spricht man von einem Kollektivvertrag.32 Dieser Ausdruck wird dabei als Sammelbegriff für die Vereinbarungen des Arbeitgebers mit einer Gewerkschaft oder aber auch mit dem Betriebsrat verwendet.33 Letzterer kann sich nicht auf den Schutz der Koalitionsfreiheit berufen, weswegen der Begriff des Kollektivvertrags nachfolgend allein für Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften oder deren Verbänden und dem Arbeitgeber oder dessen Verband verwendet wird. Alternativ dazu wird von dem allein im Deutschen34 üblichen Terminus Tarifvertrag Gebrauch gemacht. Generell wird im internationalen Kontext vorrangig auf das Bestimmungswort „Kollektiv(-)“ zurückgegriffen.35 Im Weiteren werden daher die Bezeichnungen Kollektivverhandlungen, Kollektivvertragssystem oder kollektive Maßnahmen gewählt. Als Sammelbegriff für die Gesamtheit kollektiver Beziehungen kann dabei der Begriff des kollektiven Systems dienen. Aber auch auf die im deutschen Diskurs fest verankerten Begriffe Tarifverhandlungen, Tarifvertragssystem oder Arbeitskampfmaßnahmen wird nicht verzichtet. Die Ausdrücke umschreiben in der vorliegenden Arbeit das Ergebnis von Gestaltungen, welche die Beziehungen der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite zum Gegenstand haben. Entscheidend ist dabei allerdings, dass die den deutschen Begriffen anhaftenden Assoziationen nicht auf die Gewährleistungsinhalte von Art. 11 EMRK übertragen werden.

31

EGMR, Entscheidung v. 14. 09. 1999 – 32441/96 (Karakurt ./. Österreich). Vgl. Däubler, in: Hekimler/Ring, Tarifrecht in Europa, S. 9 (13); Rebhahn, NZA 2001, 763 (764); Krause, EuZA 2010, 19 (20). 33 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 482. 34 Dazu Birk, RdA 1995, 71 (72). 35 Auch in Deutschland, siehe z. B. das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen des Art. 28 GRCh. 32

C. Gestaltungsmöglichkeiten

25

C. Gestaltungsmöglichkeiten I. Vorüberlegung Ziel dieser Arbeit ist es, Vorgaben für die Gestaltung von kollektiven Beziehungen herauszuarbeiten. Dies ist nur dann sinnvoll, wenn man sich der Breite an möglichen Gestaltungen kollektiver Beziehungen bewusst ist. Günstigstenfalls lassen sich die kollektiven Systeme verschiedenen Oberbegriffen zuordnen, sodass bereits an die Wahl des Systems Vorgaben geknüpft werden können. Unmögliches kann von den Mitgliedstaaten hingegen nicht verlangt werden. Zugleich spricht die EMRK in ihrer Präambel vom „gleichen Geist“ europäischer Staaten und einem „gemeinsame[n] Erbe“ an politischen Überlieferungen und Idealen. Gestaltungen, die einem solchen Erbe vollkommen fremd sind, können daher zu keiner Vorgabe der Konvention an die Mitgliedstaaten erwachsen. Für einen ersten Überblick bietet es sich an, die bestehenden Systeme vor allem im europäischen Raum vergleichend zu betrachten. Auf das ,ob‘ kollektiver Systeme muss sich die folgende Auswertung dabei nicht mehr beziehen. Der Grundgedanke eines collective bargaining ist den europäischen Rechtsordnungen jedenfalls bekannt.36 Sie alle erkennen Vereinbarungen über Arbeitsbedingungen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretungen an.37 Zumindest ein gemeinsamer Nenner ist demnach als Ausgangspunkt bereits gegeben. Im Weiteren werden darauf aufbauend die bestehenden Systeme auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht. Geeignete Vergleichsparameter zu finden, stellt ein schwieriges Unterfangen dar, werden doch immer wieder die beträchtlichen Unterschiede der Systeme auf internationaler Ebene herausgestellt.38 Im wissenschaftlichen Diskurs zeigt sich allerdings eine Klassifizierung anhand von wirtschaftlichen oder sozialwissenschaftlichen und rein rechtlichen Kriterien.

36

So bereits Birk, RdA 1995, 71 (73). Rebhahn, EuZA 2010, 62; Goos, in: FS Birk, S. 135; Krause, EuZA 2010, 19 (20); zu den Versuchen, ein europäisches System transnationaler Kollektivverhandlungen zu entwickeln, siehe Rieble/Kolbe, EuZA 2008, 453 ff., und Zimmer, EuZA 2013, 247 ff. 38 Däubler, in: Hekimler/Ring, Tarifrecht in Europa, S. 9; Krause, EuZA 2010, 19 (20); Seiwerth, EuZA 2014, 450 (456); Weiss, in: FS Birk, S. 957; Zimmer, EuZA 2013, 247; Rieble/ Kolbe, EuZA 2008, 453 (457 f.): „gravierende[…] Unterschiede[…] zwischen den einzelstaatlichen Tarifvertragssystemen, die einen gemeinsamen Nenner als Grundlage der Harmonisierung nicht erkennen lassen“. 37

26

1. Teil: Gestaltung von kollektiven Beziehungen im Arbeitsrecht

II. Vergleich der nationalen Systeme 1. Vergleich anhand wirtschaftlicher Parameter Mit wirtschaftlichen Kriterien im Sinne dieses Abschnitts sind solche Parameter gemeint, die versuchen, die Eigenschaften einzelner Systeme in Beziehung zu den Folgen auf den Arbeitsmarkt in dem betreffenden Staat zu setzen. So kann der Vergleichsgegenstand zum Beispiel die Auswirkung unterschiedlich gestalteter Tarifvertragssysteme auf einzelne Aspekte wie Beschäftigung, Löhne oder sonstige Arbeitsbedingungen sein.39 Auffällig ist in sprachlicher Hinsicht, dass häufig nur von Lohnverhandlungen gesprochen wird, obwohl der Kollektivvertrag auch andere Fragen außerhalb des Lohns regeln kann.40 a) Verwendete Parameter Die charakteristischen Merkmale eines kollektiven Systems sind aus ökonomischer Perspektive der Geltungsbereich des Kollektivvertrags (collective bargaining coverage), der Grad der Zentralisierung (level of bargaining) sowie der Grad der Koordinierung der Lohnverhandlungen (wage co-ordination).41 Der Geltungsbereich von Kollektivverträgen wird durch den Anteil der Beschäftigten innerhalb eines Landes, die von einem solchen Vertrag erfasst sind, bestimmt.42 Der Begriff ist streng vom gewerkschaftlichen Organisationsgrad (union density) zu unterscheiden, da zum Beispiel durch Bezugnahmeklauseln oder eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung auch Nicht-Gewerkschaftsmitglieder von einem Tarifvertrag erfasst werden können.43 Zudem unterscheidet ein Kollektivvertrag in einigen Ländern auch nicht zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und nicht organisierten Arbeitnehmern.44 Der Zentralisierungsgrad von Lohnverhandlungen gibt Aufschluss darüber, auf welcher Stufe die Verhandlungen geführt werden: Bei einem dezentralen System werden die Tarifverträge auf der Unternehmensebene geschlossen, bei einem sektoralen System geschieht dies auf der Branchenebene und bei einem zentralen System branchenübergreifend auf nationaler Ebene.45 Neben dieser vertikalen Abgrenzung existiert noch eine horizontale Dimension. Sie beschreibt, inwiefern Ta39

So Denk/Garnero/Hijzen/Martin, in: Bassanini, OECD Employment Outlook 2018, S. 73 ff., abrufbar unter: https://read.oecd-ilibrary.org/employment/oecd-employment-outlook-2 018_empl_outlook-2018-en# (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). 40 So z. B. Ochel, in: Rieble, Reformdruck, § 1 Rn. 39 ff. 41 Ochel, in: Rieble, Reformdruck, § 1 Rn. 39. 42 Cahuc/Carcillo/Zylberberg, Labor Economics, S. 403. 43 Schettkat, MittAB 4/2003, 634 (639). 44 Cahuc/Carcillo/Zylberberg, Labor Economics, S. 404 f., nach denen der Geltungsbereich somit „surely a more reliable indicator of the power of unions than union density“ ist. 45 Traxler/Blaschke/Kittel, Labour Relations, S. 112.

C. Gestaltungsmöglichkeiten

27

rifabschlüsse nur eine bestimmte Berufsgruppe erfassen oder aber die gesamte Arbeitnehmerschaft betroffen ist.46 Der Koordinierungsgrad von Lohnverhandlungen schließlich misst, inwiefern die geschlossenen Vereinbarungen zwischen den einzelnen Verhandlungsebenen (vertikale Koordination) sowie auf der selben Stufe aufeinander abgestimmt werden (horizontale Koordination).47 Eine derartige Abstimmung von Tarifabschlüssen kann durch Absprachen der Spitzenverbände von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, durch Mechanismen innerhalb eines Verbands, durch die Lohnführerschaft eines Sektors oder aber auch durch staatliche Einflussnahme erfolgen.48 b) Klassifikationsversuche Die einzelnen Punkte werden dabei unterschiedlich gewichtet und auch untereinander in Abhängigkeit gesetzt. So sehen manche im Flexibilitätsgrad von Lohnverhandlungen (degree of flexibility) einen vierten Parameter.49 Andere verstehen diesen Punkt hingegen nur als eine Möglichkeit zur Verringerung der Tarifbindung und somit wohl als Unterpunkt des Geltungsbereichs von Tarifverträgen.50 Weitere wiederum schätzen den Geltungsbereich von Tarifverträgen als den wichtigsten Faktor für die Bewertung kollektiver Systeme ein – er sei die „power dimension of the bargaining system“.51 c) Beispiel 1: OECD Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD) nimmt bei der schematischen Einteilung der Kollektivsysteme dagegen eine Klassifizierung ganz ohne Berücksichtigung des Geltungsbereichs allein anhand des Grads der Zentralisierung und der Koordinierung vor. Ein solches Schema sieht dann wie folgt aus (Stand 2015):52 - predominantly centralised and weakly co-ordinated collective bargaining systems: Frankreich, Island, Italien, Portugal, Slowenien, Spanien, Schweiz 46

Ochel, in: Rieble, Reformdruck, § 1 Rn. 41. EU-Kommission, Industrial Relations, S. 43. 48 Traxler/Blaschke/Kittel, Labour Relations, S. 146. 49 Denk/Garnero/Hijzen/Martin, in: Bassanini, OECD Employment Outlook 2018, S. 79, https://read.oecd-ilibrary.org/employment/oecd-employment-outlook-2018_empl_outlook-201 8-en# (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). 50 In diese Richtung Ochel, in: Rieble, Reformdruck, § 1 Rn. 40. 51 Traxler/Blaschke/Kittel, Labour Relations, S. 194 f. 52 Denk/Garnero/Hijzen/Martin, in: Bassanini, OECD Employment Outlook 2018, S. 81, https://read.oecd-ilibrary.org/employment/oecd-employment-outlook-2018_empl_outlook-201 8-en# (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). 47

28

1. Teil: Gestaltung von kollektiven Beziehungen im Arbeitsrecht

- predominantly centralised and co-ordinated collective bargaining systems: Belgien, Finnland - organised decentralised and co-ordinated collective bargaining systems: Österreich, Dänemark, Deutschland, Niederlande, Norwegen, Schweden - largely decentralised collective bargaining systems: Australien, Griechenland, Irland, Japan, Luxemburg, Slowakei - fully decentralised collective bargaining systems: Chile, Estland, Kanada, Korea, Lettland, Litauen, Mexiko, Neuseeland, Polen, Tschechien, Türkei, Ungarn, USA, Vereinigtes Königreich Nach dieser Einteilung überwiegen in Europa Verhandlungen auf vorwiegend zentraler (nationaler) Ebene oder die dezentralen Verhandlungen sind zumindest aufeinander abgestimmt. Außerhalb Europas scheint dagegen ein Hang zu dezentralen Verhandlungen auf der Unternehmensebene zu bestehen. d) Beispiel 2: Rebhahn Eine Einteilung, die sich an der tatsächlichen Lage orientieren soll, wendet Robert Rebhahn53 an: Neben den bereits angesprochenen wirtschaftlichen Differenzierungskriterien wie der Ebene von Tarifverträgen (level of bargaining) und des gewerkschaftlichen Organisationsgrades, werden unter anderem die Streikhäufigkeit, die Rolle der Kollektivpartner in der Politik und der Stellenwert von Tarifverträgen als Indikatoren berücksichtigt. Er kommt dabei zu fünf unterschiedlichen Modellen der Typen von Arbeitsbeziehungen:

53

Rebhahn, EuZA 2010, 62 (64 f.).

C. Gestaltungsmöglichkeiten

29

Nördlicher Korporatismus

Kontinentale Mediterrane Sozialpartner- Konfliktorientierung schaft

(Post-) PluralisTransition tisch – Marktorientierung

Produktmärkte

Koordiniert

Koordiniert

Etatismus

Liberal

Liberal oder etatistisch

Rolle d. Staats in Arbeitsbeziehungen

Begrenzt (Mittler)

Mittel (Schatten der Hierarchie)

Groß – häufig Interventionen

Sehr gering – keine Interventionen

Relativ groß (Transition)

Rolle der Kollektivpartner in Politik

Institutiona- Meist: lisiert institutionell

Unstet – politisiert

Selten

Unstet – politisiert

Stellenwert v. Tarifverträgen

Sehr hoch

Hoch

Hoch

Mittel

Gering bis sehr gering

Dominierende Ebene der Tarifverträge

Branchen, zus. Unternehmen

Branchen

Variabel – Branchen, Unternehmen

Betrieb

v. a. Betrieb, wenig Branchen

Grad an gewerkschaftl. Organisation

Hoch

Mittel

Gering

Gering

Sehr gering

Streikhäufigkeit

Gering

Gering

Hoch

Mittel

Sehr gering

BeschäftigungsSicherheit

Mittel

Hoch

Hoch

Gering

Sehr gering

Welfare

Universalistisch

Segmentiert

Stark segmentiert

Residual; universal

Schwach

Länder

SE, FI, DK

AT, DE, BE, NL, SI (FR, HU, SK, CZ)

IT, PT, EL, ES UK, IE (CY, PO, EE, LT, (FR) MA) LV (HU, SK, CZ)

Typen der Arbeitsbeziehungen in Europa (Rebhahn, EuZA 2010, 62 (65))

Hier zeigt sich ein Übergewicht der Kontinentalen Sozialpartnerschaft, während die von Rebhahn verwendete fünfte Kategorie vor allem durch die neuen EU-Mitgliedstaaten besetzt wird. e) Probleme dieser Klassifikationen Es zeigt sich, dass die Hinzunahme weiterer Indikatoren bei der Einteilung von Rebhahn dazu führt, dass die einzelnen Länder nicht mehr eindeutig zugeordnet werden können. Es kommt zu Dopplungen. Die Zuordnung einzelner Länder im

30

1. Teil: Gestaltung von kollektiven Beziehungen im Arbeitsrecht

Rahmen der dominierenden Ebene von Tarifverträgen deckt sich zudem nicht eindeutig mit der level of bargaining-Einteilung der OECD. Weitere Probleme wirtschaftlicher oder sozialwissenschaftlicher Parameter liegen auf der Hand: Zum einen erfolgt die Einteilung einzelner Systeme in die erarbeiteten Klassifikationsschemata anhand einer Vielzahl an (nicht eindeutig feststellbaren) Indikatoren. Deren Standardisierung und Gewichtung – womöglich durch unterschiedliche Personen – können zu Validitätsproblemen führen.54 Vereinfacht man die Gewichtung wiederum, so ist der Gesamtindikator womöglich nicht aussagekräftig.55 Die Schwierigkeit, mehrdimensionale Systeme durch einheitliche Indikatoren abzubilden sowie die Verwendung teils widersprüchlicher Parameter in der Literatur, führten dazu, dass die einzelnen kollektiven Systeme der Länder in unterschiedlichen Untersuchungen in unterschiedliche Cluster eingruppiert werden.56 Insgesamt entsteht damit ein Bild, das eine scharfe Trennung der Systeme verhindert. Sie weisen zwar erhebliche Unterschiede auf, eine Aufteilung und Einstufung in übergeordnete Klassen anhand wirtschaftlicher Parameter ist jedoch kaum zu bewerkstelligen und verspricht für die vorliegende Arbeit keinen Erkenntnisgewinn. 2. Anhand rechtlicher Parameter Juristisch womöglich greifbarer ist dagegen der Vergleich anhand rechtlicher Kriterien. Wenn von rechtlichen Parametern gesprochen wird, sind diejenigen Merkmale eines kollektiven Systems gemeint, die durch ein formelles Gesetz oder, falls ein solches nicht existiert, durch Richterrecht bestimmt werden. a) Zahlreiche mögliche Vergleichspunkte Die Kriterien einer rechtsvergleichenden Untersuchung von Tarifvertragssystemen können – wenn man alle rechtlichen Gegebenheiten beachtet – eine beträchtliche Anzahl erreichen. Rüdiger Krause57 nennt die Tariffähigkeit, die rechtliche Wirkung des Tarifvertrags, die Instrumente zur Durchsetzung, die Tarifbindung und die Auflösung von Tarifkollisionen als besonders bedeutsame Parameter. Rolf Birk58 sieht darin lediglich Eckpfeiler des Tarifvertragsrechts im engeren Sinn und berücksichtigt überdies den Verhandlungsprozess, das Verhältnis zwischen Tarifvertrag und staatlicher Normsetzung sowie zwischen Tarifvertrag und Arbeitskampf. Manfred Weiss59 bezieht die Ausgestaltung der Koalitionen und deren Verbands54 55 56 57 58 59

Ochel, in: Rieble, Reformdruck, § 1 Rn. 22. Ochel, in: Rieble, Reformdruck, § 1 Rn. 22. Schettkat, MittAB 4/2003, 634 (640). Krause, EuZA 2010, 19 (20). Birk, RdA 1995, 71 (73). Weiss, in: FS Birk, S. 957 (957 f.).

C. Gestaltungsmöglichkeiten

31

zugehörigkeit, den zulässigen Inhalt von Tarifverträgen, die zulässigen Streikziele sowie die Gewerkschaftsgetragenheit von Arbeitskämpfen ein. Dieser kurze Überblick zeigt schon: Die rechtlichen Merkmale, die von der Gründung einer Gewerkschaft bis zur Anwendung eines Tarifvertrags im Betrieb reichen, sind äußerst umfangreich. Hinzu könnte man wahlweise noch das Bestehen eines Verhandlungszwangs, das Bestehen einer Friedenspflicht, die Zulässigkeit von Beamtenstreiks, die Tarifbindung von Außenseitern sowie die Rolle des Staats im Allgemeinen zählen. Damit wäre eine Auflistung aber immer noch nicht vollständig. b) Schwierigkeiten der Rechtsvergleichung aa) Keine Merkmale in Reinform Erschwerend kommt hinzu, dass selbst, wenn man ein System auf diese kleinen Merkmale herunterbricht, die konkrete rechtliche Gestaltung nie in Reinform vorläge. Zu allen Punkten gibt es Ausgestaltungen, die sich in Nuancen von anderen, die im Prinzip das gleiche Phänomen regeln, unterscheiden. Die Auflösung von Tarifkollisionen kann beispielsweise nicht einfach mit Tarifeinheit oder Tarifpluralität beschrieben werden. Vielmehr gibt es in den 47 Mitgliedstaaten des Europarats 47 Gestaltungen, von denen keine zwei miteinander übereinstimmen.60 bb) Große Bedeutung außerrechtlicher Faktoren Eine Untersuchung aller Konventionsstaaten im Hinblick auf die genannten rechtlichen Vergleichsparameter würde den Rahmen dieser Arbeit mit Gewissheit sprengen. Der wissenschaftliche Mehrwert, alle Rechtsordnungen im Hinblick auf eine Vielzahl von Punkten zu untersuchen, ist zudem fraglich. Daher wird auf die Ergebnisse bereits bestehender Rechtsvergleichungen verwiesen. Eine Systembildung anhand rechtlicher Kriterien, unter welche die einzelnen Länder subsumiert werden können, scheint auf dem Gebiet des kollektiven Arbeitsrechts nicht möglich zu sein: Solche Vorhaben sind „vom systematischen Ergebnis her unbefriedigend“61, „scheitern unweigerlich an ihrem eigenen Anspruch“62, stellen eine „naive Harmonisierungsidee“63 dar oder enden mit der ernüchternden Erkenntnis, dass „in keinem Bereich die Rechtsvergleichung schwieriger und die Erfolgswahrschein-

60

Für einen Überblick hierzu siehe die Länderskizzen zu 26 europäischen Staaten bei Waas, Regelungsentwurf von DGB und BDA, S. 66 ff., der zugleich die Limitation eines solchen Vergleichs betont. 61 Birk, RdA 1995, 71 (76). 62 Krieger/Schmidt-Klie, EuZA 2014, 161 (186). 63 Weiss, NZA 2003, 177 (184).

32

1. Teil: Gestaltung von kollektiven Beziehungen im Arbeitsrecht

lichkeit für legal transplants […] geringer ausgeprägt ist als bei den kollektiven Arbeitsbeziehungen“64. Dies liegt daran, dass das Recht lediglich den Rahmen des Möglichen und Erlaubten vorgibt, ein Gesamtbild kollektiver Beziehungen aber nicht allein aus Rechtsnormen gewonnen werden kann.65 Ein solches System ist von einer Vielzahl außerrechtlicher Faktoren abhängig. Dazu gehören zum Beispiel politische und volkswirtschaftliche Faktoren,66 historische Erfahrungen, soziale Kräfteverhältnisse und gemeinsame Wertvorstellungen einer Gesellschaft.67 Aber auch der tatsächliche Umgang von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite in Form einer seit Jahrzehnten gelebten Sozialpartnerschaft spielt eine Rolle.68 Zuletzt stellt auch die Effektivität der tatsächlichen Rechtsdurchsetzung in verschiedenen Staaten einen gewichtigen Faktor dar, dessen Erfassung weitere Probleme bereitet.69 Eine Rechtsvergleichung scheitert auf dem Gebiet des kollektiven Arbeitsrechts somit auch an der Komplexität und Multipolarität der Materie. c) Gemeinsame(r) Nenner Das bisherige Ergebnis hilft aber insoweit, als dass der anzulegende Maßstab klarer wird. Ein kleines Raster ist untauglich. Die Aussage, ob kollidierende Tarifverträge nebeneinander gelten oder nur ein Tarifvertrag im Betrieb zur Anwendung kommt, kann keine Aussage über die Gesamtstruktur des Tarifvertragssystems treffen, sondern ist ihrerseits eine konkrete Ausgestaltung desselben. Ein gemeinsamer Nenner lässt sich auf dieser Ebene nicht finden. Die Wechselwirkung der einzelnen Elemente untereinander macht die Besonderheit eines nationalen kollektiven Systems aus. Es verhindert aber auch eine Vergleichbarkeit der Staaten, denn in keinem Land ähneln sich eine Vielzahl der Elemente so sehr, dass man diese unter einen Systembegriff fassen könnte. Hinzu kommt die große Bedeutung außerrechtlicher Faktoren auf diesem Gebiet. Tritt man einen Schritt zurück und legt ein gröberes Raster an, so lässt sich indes ein gemeinsamer Nenner finden. Damit ist man jedoch wieder am Anfang des Kapitels angelangt: Der Grundgedanke des collective bargaining im Sinne von Vereinbarungen über Arbeitsbedingungen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen ist in allen europäischen Rechtsordnungen anerkannt. Für diese Arbeit bedeutet das, dass der Kanon potenzieller Gestaltungen zumindest über einen 64 Schlachter, EuZA 2019, 81 (82) unter Verweis auf Kahn-Freund, The Modern Law Review 37 (1974), 1 (22 ff.). 65 Rebhahn, EuZA 2010, 62 (63 u. 65). 66 Krieger/Schmidt-Klie, EuZA 2014, 161 (186); zu den wirtschaftlichen Faktoren siehe bereits oben unter S. 25. 67 Schlachter, EuZA 2019, 81 (82). 68 Krause, EuZA 2010, 19 (20 f.). 69 Junker, in: Rieble, Reformdruck, Diskussionbeitrag zu § 2 Rn. 49.

C. Gestaltungsmöglichkeiten

33

Vergleich der kollektiven Systeme nicht eingegrenzt werden kann. Zu unterschiedlich sind die konkreten Ausgestaltungen und zu abstrakt und unspezifisch die Gemeinsamkeiten. Ein gemeinsames Erbe der 47 Mitgliedstaaten ist auf dem Gebiet des kollektiven Arbeitsrechts nicht auszumachen. Eine Systembildung setzt aber grundsätzlich eine innere und äußere Ordnung voraus.70 Vorgaben für die Wahl des „einen“ Systems können daher nicht erwartet werden. Auf diese Divergenz der nationalen Systeme wird im weiteren Verlauf der Untersuchung noch zurückgegriffen werden.

70

Riesenhuber, in: Giesen u. a., Systembildung, S. 15 (18 f.).

2. Teil

Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK A. Übersicht der Spruchpraxis I. Bedeutung des Gerichtshofs für die Vorgabenbildung Vorgaben für die Gestaltung kollektiver Beziehungen lassen sich dem Wortlaut von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK nicht ohne Weiteres entnehmen. Dort wird lediglich das Recht auf die Gewerkschaftsgründung und den Gewerkschaftsbeitritt genannt. Auch die Entstehungsmaterialien geben keinen Hinweis auf detaillierte Vorgaben, die der Konvention stillschweigend zugrunde gelegt worden wären: Ein Verhandlungsführer äußerte im Juni 1950 den Gedanken, dass die zur Diskussion stehenden Rechte den europäischen Staaten hinlänglich bekannt seien und eine präzise Definition daher nicht mehr notwendig sei.71 Die Konvention zielte von Beginn an nicht auf einen umfangreichen Vorgabenkatalog ab, sondern war vielmehr als ein Schutzschild gegen den Totalitarismus konzipiert.72 Zu Beginn wurde damit ein zurückhaltender Ansatz verfolgt. Zudem spielt die historische Auslegung bei (multilateralen) völkerrechtlichen Verträgen nicht die entscheidende Rolle.73 Art. 32 der Wiener Vertragsrechtskonvention74 zählt die historische Auslegung lediglich zu den ergänzenden Auslegungsmitteln. Vorrangig ist nach Art. 31 Abs. 1 der Wiener Vertragsrechtskonvention auf den – hier nicht ergiebigen – Wortlaut sowie das Ziel und den Zweck des Vertrages abzustellen. Der historischen Auslegung erteilte der EGMR 1978 in Tyrer ./. Vereinigtes Königreich dann auch eine Absage, indem er die Konvention als ein lebendiges Instrument beschrieb, das im Lichte der heutigen Verhältnisse interpretiert werden 71 Vgl. Bates, The Evolution of the ECHR, S. 89. Die Unterzeichnung der Konvention war aufgrund der fehlenden Kompromissbereitschaft der verschiedenen Lager in diesem Punkt dann auch von einer gewissen Resignation begleitet. So soll der Präsident der Beratenden Versammlung Paul-Henri Spaak bei der Unterzeichung des Vertrags im Palazzo Barberini in Rom gesagt haben: „[I]t is not a very good convention, but it is a lovely Palace!“, siehe Bates, The Evolution of the ECHR, S. 99. 72 Vgl. Bates, The Evolution of the ECHR, S. 44 ff. 73 Nußberger, JZ 2019, 421 (424); Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 193. So auch der EGMR bei der Auslegung der EMRK, vgl. Matscher, in: Macdonald/Matscher/ Petzold, S. 63 (66). 74 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. 5. 1969, BGBl. 1985 II, S. 926.

A. Übersicht der Spruchpraxis

35

müsse.75 Diese sogenannte dynamisch-evolutive Auslegung erlaubt – anders als eine historische Auslegung – eine Fortentwicklung der Konvention unter der Abbildung des aktuellen Willens der Vertragsparteien.76 Eine solche Vorgehensweise ergibt sich unter anderem auch daraus, dass nur ein Bruchteil der heutigen Staaten die Konvention mit ausgearbeitet hat.77 Inhalt und Reichweite des durch die EMRK vermittelten Menschenrechtschutzes können somit nicht losgelöst von der Rechtsprechung des EGMR erfasst werden.78 Der Gerichtshof ist als autoritativer79 Interpret der Konvention in der Lage, die Konventionsrechte zu interpretieren und zu konkretisieren. Die Vorgaben der Konvention müssen daher im Ergebnis in der Spruchpraxis des EGMR gesucht werden. Es bedarf einer Bestandsaufnahme.

II. Kriterien zur Filterung der Aussagen 1. Verwendete Suchkriterien Im Ausgangspunkt einer Untersuchung der Vorgaben der Koalitionsfreiheit stehen daher die Aussagen des Gerichtshofs zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK. Diese sollen in einem ersten Schritt gebündelt dargestellt werden. Dazu werden im Folgenden die Urteile, die der Gerichtshof zur Koalitionsfreiheit gefällt hat, in einer Tabelle aufgeführt. Die Online-Datenbank HUDOC (https://hudoc.echr.coe.int/) des EGMR liefert im Februar 2021 127 Urteile in den Amtssprachen Englisch oder Französisch zu Art. 11 EMRK, wenn das Urteil eines der Schlagwörter „trade union“, „syndicat“, „employers’ association“ oder „organisation patronale“ enthalten soll.80 Sortiert man manuell die thematisch nicht einschlägigen Urteile sowie die doppelten Urteile, die sowohl in englischer als auch in französischer Sprache 75

EGMR, Urt. v. 25. 04. 1978 – 5856/72 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 31. Klocke, EuR 2015, 148 (149). Ein Beispiel hierfür ist das Verbot des sog. „closed shop“: Während ein solches Verbot ausdrücklich nicht in die Konvention aufgenommen wurde, entschied der EGMR 30 Jahre später, dass Art. 11 EMRK verletzt ist, wenn die Beschäftigung im Unternehmen von der Mitgliedschaft in einer bestimmten Gewerkschaft abhängig gemacht wird, vgl. EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich), NJW 1982, 2717. Ebenfalls ablehnend zum anfänglichen „closed shop“: EGMR, Urt. v. 11. 01. 2006 – 52562/99, 52620/99 (Sørensen und Rasmussen ./. Dänemark). Siehe dazu unter S. 152. 77 Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Einl. Rn. 46. 78 Siehe aber einschränkend dazu unter S. 46. Besonders radikal dagegen das Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque in EGMR, Urt. v. 28. 06. 2018 – 1828/06 u. a. (G.I. E.M. S.R.L. et al. ./. Italien), Rn. 40: „The Convention means what the Court considers the Convention to mean, with no further qualifications.“ 79 Dazu noch unter S. 46. 80 Vgl. die Suchmaske unter: https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22fulltext%22:[%22(\%22 trade%20union\%22%20OR%20\%22syndicat\%22%20OR%20\%22employers%20associa tion\%22%20OR%20\%22organisation%20patronale\%22)%22],%22languageisocode%22 :[%22ENG%22,%22FRE%22],%22article%22:[%2211%22],%22documentcollectionid2%22 :[%22JUDGMENTS%22]} (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). 76

36

2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

veröffentlicht wurden, aus, bleiben 48 Urteile übrig, die tatsächlich kollektive Beziehungen betreffen. Diese Methode ist aufwendig, aber die einzige, die ein hinreichendes Maß an Vollständigkeit gewährleistet. Zwar bietet die HUDOC-Datenbank auch die voreingestellte und auf Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK abgestimmte Filtervariante „form and join trade unions“ an, allerdings werden die Urteile bei der Einstellung in die Datenbank nicht immer mit diesem Keyword versehen, sodass sich bei dieser Suchanfrage nur 22 Treffer ergeben und einige einschlägigen Urteile nicht angezeigt werden.81 Unzulässigkeitsentscheidungen werden hier aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht aufgelistet, obwohl sich auch dort materielle Aussagen zu Art. 11 EMRK finden lassen. Nach Art. 35 Abs. 3 lit. a Var. 2 EMRK kann der EGMR Beschwerden auch dann für unzulässig erklären, wenn er sie für offensichtlich unbegründet hält. Auf einzelne relevante Entscheidungen wird im weiteren Verlauf dennoch gesondert eingegangen. Ausgangsurteile, die nach Art. 43 EMRK an die große Kammer verwiesen und dort neu entschieden wurden, werden ebenfalls nicht untersucht, weil hier das Urteil der großen Kammer maßgeblich ist.82 2. Urteile an der Grenze von Koalitionsfreiheit und Versammlungsfreiheit Schwierigkeiten bereitet die Einordnung von Urteilen an der Grenze zwischen Versammlungsfreiheit und Koalitionsfreiheit: Oft organisieren Gewerkschaften Demonstrationen und die Sanktionen treffen die Teilnehmer sowohl als Demonstranten als auch in ihrer Stellung als Gewerkschaftsmitglieder. Solche Urteile werden hier nur aufgezählt, wenn die Prüfung durch den EGMR schwerpunktmäßig anhand der Koalitionsfreiheit erfolgte.83 Auf dieses grundlegende Problem wird später noch vertieft einzugehen sein.84 Zuletzt werden Urteile, die nach Art. 28 Abs. 1 lit. b EMRK von einem Ausschuss bestehend aus drei Richtern gefällt werden, außenvorgelassen. Diese Ausschüsse werden tätig, sofern die der Rechtssache zugrundeliegende Frage bereits Gegenstand

81 Vgl. die Suchmaske unter: https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22languageisocode%22 :[%22ENG%22],%22kpthesaurus%22:[%22141%22,%22198%22,%22287%22],%22docu mentcollectionid2%22:[%22JUDGMENTS%22]} (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). So zum Beispiel das Urteil EGMR, Urt. v. 27. 11. 2014 – 36701/09 (Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien), das lediglich mit dem Keyword „freedom of association“ versehen wurde. 82 So z. B. EGMR, Urt. v. 21. 11. 2006 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei I). 83 So z. B. EGMR, Urt. 27. 03. 2007 – 6615/03 (Karaçay ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 17. 07. 2007 – 74611/01 u. a. (Dı¯lek et al. ./. Türkei); nicht dagegen EGMR, Urt. v. 18. 12. 2007 – 32124/02 u. a. (Nurettin Aldemir et al. ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 09. 06. 2015 – 56395/08, 58241/08 (Özbent et al. ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 24. 03. 2015 – 29764/09, 36297/09 (Küçükbalaban und Kutlu ./. Türkei) oder EGMR, Urt. v. 21. 07. 2015 – 70396/11 (Akarsubasi ./. Türkei). 84 Siehe dazu unter S. 151 und S. 175.

A. Übersicht der Spruchpraxis

37

einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs ist.85 Dies könnte zwar gewinnbringend sein, wenn man von einer konsolidierten Rechtsprechung auf Vorgaben schließen würde. Allerdings zeigt sich, dass von dieser Möglichkeit ausschließlich bei den Urteilen an der Grenze zur Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht wird. So verweist der zuständige Ausschuss des Gerichtshofs in den Urteilen Kaya und Gül ./. Türkei86, Özdemir Gürcan ./. Türkei87, Durmus¸ ./. Türkei88 und Bektas¸og˘ lu ./. Türkei89 jeweils auf den vergleichbaren Sachverhalt in Karaçay ./. Türkei90 und stellt fest, dass die Regierung keine Argumente vorgebracht hätte, die den Gerichtshof zu einem von diesem Urteil abweichenden Ergebnis kommen ließen. Mithin sind in diesen Entscheidungen keine neuen inhaltlichen Aussagen mehr zu erwarten.

III. Zusammenstellung in einem Aussagenkatalog Ziel der folgenden Zusammenstellung ist es allein, einen Überblick über die Aussagen des EGMR zur Koalitionsfreiheit zu schaffen. Wenn im weiteren Verlauf ein Urteil zitiert wird, kann zur Einordnung auf die folgende Liste zurückgegriffen werden. Eine Unterscheidung zwischen verallgemeinerungsfähigen und kontextbasierten Aussagen erfolgt hier aber noch nicht. Die dargestellten Ergebnissätze dürfen daher nicht als allgemeingültige Vorgaben verstanden werden. Sie sollen allein einen ersten Eindruck von den Themen, mit denen sich der Gerichtshof bei der Koalitionsfreiheit beschäftigt hat, vermitteln.

85 Art. 28 Abs. 1 lit. b EMRK wurde durch das Protokoll Nr. 14 v. 13. 05. 2004 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention beschlossen und ist nach der Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten am 01. Juni 2010 in Kraft getreten. Hauptziel des Protokolls ist die Verbesserung des Kontrollsystems, um dem Gericht die verfahrensrechtlichen Mittel und die Flexibilität zu geben, die es benötigt, um alle Anträge rechtzeitig zu bearbeiten, während es sich auf die wichtigsten Fälle konzentrieren kann, die eine eingehende Prüfung erfordern, vgl. Punkt 35 des Erläuternden Berichts zu Protokoll Nr. 14, CETS 194. 86 EGMR, Urt. v. 24. 10. 2017 – 47988/09, 47989/09 (Kaya und Gül ./. Türkei). 87 EGMR, Urt. v. 24. 10. 2017 – 2722/10 (Özdemir Gürcan ./. Türkei). 88 EGMR, Urt. v. 24. 10. 2017 – 5159/10 (Durmus¸ ./. Türkei). 89 EGMR, Urt. v. 16. 01. 2018 – 27810/09 (Bektas¸og˘ lu ./. Türkei). 90 EGMR, Urt. v. 27. 03. 2007 – 6615/03 (Karaçay ./. Türkei).

38

2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

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Entscheidungsname, Datum (Aktenzeichen)

1

National Union of Belgian Police ./. Belgien, 27. 10. 1975 (4464/70)

Die Weigerung des Staats als Arbeitgeber, eine nicht repräsentative Gewerkschaft als Konsultationspartner anzuerkennen, stellt bereits keinen Eingriff in Art. 11 EMRK dar

2

Schmidt und Dahlström ./. Schweden, 06. 02. 1976 (5589/72)

Eine Maßnahme (Ausschluss einer rückwirkenden Lohnerhöhung gegenüber Mitgliedern von Gewerkschaften, die zum Streik aufriefen), die Gewerkschaftsmitglieder daran hindert, von ihrem Streikrecht Gebrauch zu machen, stellt keinen Eingriff in Art. 11 EMRK dar

3

Swedish Engine Drivers’ Union ./. Schweden, 06. 02. 1976 (5614/72)

Die grundsätzliche Weigerung des Staats als Arbeitgeber, mit einer Gewerkschaft Tarifverträge zu schließen, um die Zahl an Verhandlungspartnern gering zu halten, stellt keinen Eingriff in Art. 11 EMRK dar

4

Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich, 13. 08. 1981 (7601/76, 7806/77)

Die Kündigung von Arbeitnehmern, die sich weigern, einer bestimmten Gewerkschaft beizutreten, ist mit Art. 11 EMRK nicht vereinbar (aber: noch kein generelles Verbot von closed shop-Regelungen)

5

Sibson ./. Vereinigtes Königreich, 20. 04. 1993 (14327/88)

Die Androhung einer (arbeitsvertraglich zulässigen) Versetzung bei ausbleibendem Wiedereintritt in eine bestimmte Gewerkschaft verstößt nicht gegen Art. 11 EMRK

6

Sigurður und Sigurjónsson ./. Island, 30. 06. 1993 (16130/90)

Wird eine für die Ausübung des Berufs notwendige Lizenz (Taxilizenz) von der Mitgliedschaft in einem privatrechtlichen Berufsverband abhängig gemacht, verstößt dies gegen Art. 11 EMRK

7

Gustafsson ./. Schweden, 25. 04. 1996 (15573/89)

Gewerkschaftliche Tätigkeiten (u. a. gewerkschaftlich organisierte Lieferboykotts), die den Arbeitgeber dazu bringen sollen, einen Tarifvertrag abzuschließen oder einem Arbeitgeberverband beizutreten, verstoßen nicht gegen Art. 11 EMRK

8

Wilson, National Union of Journalists et Die Praxis, Arbeitnehmern Anreize (z. B. al. ./. Vereinigtes Königreich, 02. 07. 2002 Lohnerhöhungen, Übernahme einer (30668/96 u. a.) privaten Krankenversicherung) zu gewähren, damit diese auf ihre Gewerkschaftsrechte verzichten, ist mit Art. 11 EMRK nicht vereinbar

Ergebnissatz für den jeweiligen Kontext

A. Übersicht der Spruchpraxis 9

Ertas¸ Aydın et al. ./. Türkei, 20. 09. 2005 (43672/98)

39

Die Versetzung von Staatsbediensteten, die Gewerkschaftsmitglieder sind, verstößt nicht gegen Art. 11 EMRK; diese haben kein Recht auf eine besondere Behandlung durch den Staat

10 Bulg˘ a et al. ./. Türkei, 20. 09. 2005 (43974/98)

-”-

11 Akat et al. ./. Türkei, 20. 09. 2005 (45050/98)

-”-

12 Ademyılmaz et al. ./. Türkei, 21. 03. 2006 (41496/98 u. a.)

-”-

13 Sørensen und Rasmussen ./. Dänemark, 11. 01. 2006 (52562/99, 52620/99)

Wird die Einstellung oder die Weiterbeschäftigung von der Gewerkschaftsmitgliedschaft abhängig gemacht, verstößt dies gegen Art. 11 EMRK (generelles Verbot von closed shop-Regelungen)

14 Tüm Haber Sen und C¸inar ./. Türkei, 21. 02. 2006 (28602/95)

Die Auflösung einer Gewerkschaft mit dem Argument, dass diese von Staatsbediensteten gegründet wurde, verstößt gegen Art. 11 EMRK

15 Metin Turan ./. Türkei, 14. 11. 2006 (20868/02)

Die Versetzung eines Staatsbediensteten, der Gewerkschaftsmitglied ist, verstößt gegen Art. 11 EMRK, wenn der Antragsteller ausreichend und überzeugend vorbringen kann, dass die Versetzung aufgrund der Gewerkschaftsmitgliedschaft erfolgte

16 Associated Society of Locomotive Engineers & Firemen (ASLEF) ./. Vereinigtes Königreich, 27. 02. 2007 (11002/05)

Eine gesetzliche Regelung, die verbietet, dass Gewerkschaften Mitglieder wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei aus der Gewerkschaft ausschließen können, verstößt gegen Art. 11 EMRK

17 Kazım Ünlü ./. Türkei, 06. 03. 2007 (31918/02)

Die Versetzung eines Staatsbediensteten, der Gewerkschaftsmitglied ist, verstößt nicht gegen Art. 11 EMRK, wenn dieser nicht überzeugend vorbringen kann, dass die Versetzung auf der Gewerkschaftsmitgliedschaft beruhte

18 Karaçay ./. Türkei, 27. 03. 2007 (6615/03)

Die Disziplinarmaßnahme gegen ein Gewerkschaftsmitglied (Angehöriger des öffentlichen Dienstes) wegen der Abwesenheit vom Arbeitsplatz infolge der Teilnahme an einem nationalen Aktionstag verletzt diesen in Art. 11 EMRK

40

2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

19 Dı¯lek et al. ./. Türkei, 17. 07. 2007 (74611/01 u. a.)

Die Verpflichtung von Streikteilnehmern, ihrem Arbeitgeber Schadensersatz für die infolge des Streiks entgangenen Einnahmen zu leisten, ist mit Art. 11 EMRK nicht vereinbar

20 Urcan et al. ./. Türkei, 17. 07. 2008 (23018/ Die strafrechtliche Verurteilung von 04 u. a.) Gewerkschaftsmitgliedern (Angehörige des öffentlichen Dienstes) wegen der Abwesenheit vom Arbeitsplatz infolge der Teilnahme an einem nationalen Aktionstag verstößt gegen Art. 11 EMRK 21 Demir und Baykara ./. Türkei, 12. 11. 2008 Die Weigerung, eine Gewerkschaft von (34503/97) Angehörigen des öffentlichen Dienstes anzuerkennen, verstößt gegen Art. 11 EMRK Die rückwirkende Aufhebung einer kollektiven Vereinbarung zwischen einer Gewerkschaft von Angehörigen des öffentlichen Dienstes und der Stadt Gaziantep ist nicht mit Art. 11 EMRK vereinbar, weil Art. 11 EMRK (auch für Angehörige des öffentlichen Dienstes) das Recht, Tarifverhandlungen zu führen, beinhaltet 22 Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei, 21. 04. 2009 Ein Rundschreiben, das es allen Angehö(68959/01) rigen des öffentlichen Dienstes91 verbietet, an einem nationalen Streiktag teilzunehmen, ist nicht mit Art. 11 EMRK vereinbar 23 Danilenkov et al. ./. Russland, 30. 07. 2009 Besteht kein wirksamer Rechtsschutz (67336/01) gegen Diskriminierungen aufgrund der Gewerkschaftsmitgliedschaft, so verstößt der Staat gegen Art. 11 EMRK (i. V. m. Art. 14 EMRK) 24 Saime Özcan ./. Türkei, 15. 09. 2009 (22943/04)

91

Die strafrechtliche Verurteilung von Gewerkschaftsmitgliedern (Angehörige des öffentlichen Dienstes) wegen der Abwesenheit vom Arbeitsplatz infolge der Teilnahme an einem nationalen Aktionstag verstößt gegen Art. 11 EMRK

Die korrekte Übersetzung der in der amtlichen Fassung verwendeten Bezeichnung „fonctionnaires“ mit „Beamte“ (AuR 2009, 274) oder „Angehörige des öffentlichen Dienstes“ (NZA 2010, 1423) und die daraus resultierenden Auswirkungen führten im deutschen Schrifttum und der Rechtsprechung zu Diskussionen, vgl. instruktiv zu dem Problem OVG Münster, Urt. v. 07. 03. 2012 @ 3 d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890 (897).

A. Übersicht der Spruchpraxis

41

25 Kaya und Seyhan ./. Türkei, 15. 09. 2009 (30946/04)

Die Disziplinarmaßnahmen gegen Gewerkschaftsmitglieder (Angehörige des öffentlichen Dienstes) wegen der Abwesenheit vom Arbeitsplatz infolge der Teilnahme an einem nationalen Aktionstag verletzt diese in Art. 11 EMRK

26 Müslüm C¸iftçi ./. Türkei, 02. 02. 2010 (30307/03)

Die Versetzung eines Staatsbediensteten, der Gewerkschaftsmitglied ist, verstößt gegen Art. 11 EMRK, wenn der Antragsteller überzeugend vorbringen kann, dass die Versetzung aufgrund der Gewerkschaftsmitgliedschaft erfolgte

27 C¸erikçi ./. Türkei, 13. 07. 2010 (33322/07) Die Disziplinarmaßnahme gegen ein Gewerkschaftsmitglied (Angehöriger des öffentlichen Dienstes) wegen der Abwesenheit vom Arbeitsplatz infolge der Teilnahme an einem nationalen Aktionstag verletzt diesen in Art. 11 EMRK 28 Vörður Ólafsson ./. Island, 27. 04. 2010 (20161/06)

Die Verpflichtung, eine Industrieabgabe an einen Verband zu leisten, dem man nicht angehört, ist nicht mit Art. 11 EMRK vereinbar

29 Trofimchuk ./. Ukraine, 28. 10. 2010 (4241/03)

Eine Kündigung wegen eines Verstoßes gegen die gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrensvorschriften bei einer Streikteilnahme (z. B. Ankündigung der Streikteilnahme) als Streikposten verstößt nicht gegen Art. 11 EMRK

30 S¸is¸man et al. ./. Türkei, 27. 09. 2011 (1305/05)

Eine Disziplinarmaßnahme, die das Aufhängen von Gewerkschaftsplakaten im eigenen Büro sanktioniert, verstößt gegen Art. 11 EMRK, wenn sie die Einschüchterung von Gewerkschaftsmitgliedern bezweckt

31 Sindicatul Pa˘ storul cel Bun ./. Rumänien, 09. 07. 2013 (2330/09)

Eine (kirchliche) Regelung, nach der eine Gewerkschaft von orthodoxen Priestern ohne Zustimmung des Erzbischofs nicht registriert werden darf, verstößt nicht gegen Art. 11 EMRK

32 Trade Union of the Police in the Slovak Republic et al. ./. Slowakei, 25. 12. 2012 (11828/08)

Droht der Innenminister Verhandlungen mit einer Gewerkschaft dauerhaft abzubrechen, nachdem es auf einer von dieser organisierten Versammlung zu Rücktrittsforderungen gegen die Regierung gekommen ist, verstößt dies nicht gegen Art. 11 EMRK

42

2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

33 Fatma Akaltun Fırat ./. Türkei, 10. 09. 2013 Wird ein Gewerkschaftsmitglied, das (34010/06) Flugblätter der Gewerkschaft verteilt, ohne gesetzliche Grundlage für einen Zeitraum von ca. einer Stunde festgehalten, verstößt dies (auch) gegen Art. 11 EMRK 34 Tüm Bel-Sen ./. Türkei, 18. 02. 2014 (38927/10 u. a.)

Werden tarifliche Zulagen an Beamte vom Rechnungshof zurückverlangt, weil ein Tarifvertrag mit Beamten nicht anerkannt werden könnte, ist dies mit Art. 11 EMRK nicht vereinbar

35 National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich, 08. 04. 2014 (31045/10)

Ein generelles Verbot von Sympathiestreiks ist mit Art. 11 EMRK vereinbar

36 ADEFDROMIL ./. Frankreich, 02. 10. 2014 (32191/09)

Eine Regelung, die es Angehörigen des Militärs generell verbietet, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten, verstößt gegen Art. 11 EMRK

37 Matelly ./. Frankreich, 02. 10. 2014 (10609/10)

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38 Veniamin Tymoshenko et al. ./. Ukraine, 02. 10. 2014 (48408/12)

Gesetzliche Regelungen, die an die Zulässigkeit eines Streiks in bestimmten Bereichen (Transportsektor, insbesondere Personenbeförderungsunternehmen) unterschiedliche Anforderungen stellen, verstoßen gegen Art. 11 EMRK, wenn sie widersprüchlich und für die Streikenden nicht vorhersehbar sind

39 Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien, 27. 11. 2014 (36701/09)

Ein Streikverbot über einen Zeitraum von 3 Jahren und 8 Monaten gegenüber einer Spartengewerkschaft, die sich im tariflosen Zustand befindet, weil ihre Zusatzvereinbarung nichtig war, ist nicht mit Art. 11 EMRK vereinbar

40 I˙smail Sezer ./. Türkei, 24. 03. 2015 (36807/07)

Eine Disziplinarmaßnahme gegen einen Angehörigen des öffentlichen Dienstes, der außerhalb seiner Dienstzeit als Gewerkschafter an einer Veranstaltung teilgenommen hat, verstößt gegen Art. 11 EMRK

41 Junta Rectora Del Ertzainen Nazional Elkartasuna (ER.N.E.) ./. Spanien, 21. 04. 2015 (45892/09)

Ein generelles Streikverbot für polizeiliche Sicherheitskräfte verstößt nicht gegen Art. 11 EMRK

A. Übersicht der Spruchpraxis

43

42 Dog˘ an Altun ./. Türkei, 26. 05. 2015 (7152/08)

Eine Disziplinarmaßnahme gegen einen Gewerkschafter, der in einer Pause eine gewerkschaftsinterne Abstimmung ohne Genehmigung des Arbeitgebers organisierte, verstößt gegen Art. 11 EMRK

43 Manole und ,Romanian Farmers‘ ./. Rumänien, 16. 06. 2015 (46551/06)

Eine gerichtliche Entscheidung, nach der eine Vereinigung von selbständigen Landwirten nicht als Gewerkschaft registriert werden kann, verstößt nicht gegen Art. 11 EMRK

44 Dedecan und Ok ./. Türkei, 22. 09. 2015 (22685/09, 39472/09)

Die Versetzung von Staatsbediensteten, die an einer von der Gewerkschaft mitorganisierten Demonstration teilnahmen, verstößt gegen Art. 11 EMRK, wenn die Versetzung auf der Teilnahme an der Demonstration und nicht auf der Abwesenheit vom Arbeitsplatz beruhte

45 Geotech Kancev GmbH ./. Deutschland, 02. 06. 2016 (23646/09)

Die Verpflichtung, Beiträge an eine Sozialkasse zu zahlen, obwohl keine Mitgliedschaft in dem Verband besteht, verstößt nicht gegen Art. 11 EMRK

46 Tek Gıda I˙s¸ Sendikası ./. Türkei, 04. 04. 2017 (35009/05)

Die konkrete Zählweise, die der Ermittlung der Repräsentativität (> 50 % Organisationsgrad innerhalb des Unternehmens) einer Gewerkschaft innerhalb eines Unternehmens zugrunde gelegt wird, verstößt nicht gegen Art. 11 EMRK Enthält das nationale Recht keine abschreckenden Maßnahmen gegen ungerechtfertigte Massenentlassungen von Gewerkschaftsmitgliedern, so liegt ein Verstoß gegen Art. 11 EMRK vor

47 Sadrettin Güler ./. Türkei, 24. 04. 2018 (56237/08)

Eine Disziplinarmaßnahme gegen ein Gewerkschaftsmitglied wegen der Teilnahme an einer Demonstration der Gewerkschaft an einem gewöhnlichen Arbeitstag verstößt gegen Art. 11 EMRK, wenn das Gericht die Vereinigungsfreiheit nicht berücksichtigt

48 Ognevenko ./. Russland, 20. 11. 2018 (44873/09)

Die Entlassung eines Lokomotivführers, der trotz eines generellen Streikverbots für Lokomotivführer die Arbeit niedergelegt hat, ist nicht mit Art. 11 EMRK vereinbar

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2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

IV. Erste Erkenntnisse Diese einfache Zusammenstellung macht bereits auf den ersten Blick drei Punkte deutlich: Zum einen zeigt sich, dass Beschwerden gegen die Türkei einen Großteil der Fälle ausmachen. 23 der 48 aufgelisteten Rechtssachen richten sich gegen die Türkei als Beschwerdegegner. Des Weiteren entsteht der Eindruck, dass die Beschwerden in thematische Fallgruppen unterteilt werden können. Die Sanktionierung oder Versetzung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes im Zusammenhang mit gewerkschaftlichen Aktivitäten betrifft beispielsweise allein 18 Fälle. Neben der individuellen Gründungs- und Beitrittsfreiheit (z. B. Tüm Haber Sen und C¸inar ./. Türkei und ADEFDROMIL ./. Frankreich) und der negativen individuellen Koalitionsfreiheit (z. B. Sigurður und Sigurjónsson ./. Island und Vörður Ólafsson ./. Island) scheint folglich auch die kollektive Betätigungsfreiheit, insbesondere das Aushandeln von Tarifverträgen (z. B. Demir und Baykara ./. Türkei und Tüm BelSen ./. Türkei) und das Streikrecht (z. B. Veniamin Tymoshenko et al. ./. Ukraine und Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien), geschützt. Zum anderen fällt auf, dass sich die Aussagen des Gerichtshofs auf den ersten Blick teilweise zu widersprechen scheinen. Während in Vörður Ólafsson ./. Island die Verpflichtung, eine Abgabe an einen Verband zu zahlen, dem man nicht angehört, als Verstoß gegen Art. 11 EMRK gewertet wurde, sah der Gerichtshof eine ähnliche Pflichtabgabe in Geotech Kancev GmbH ./. Deutschland schon gar nicht als Eingriff an. Einerseits scheint der EGMR aus deutscher Sicht in National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich relativ großzügig zugunsten des Staats zu urteilen, indem er ein absolutes Verbot von Unterstützungsstreiks billigt. Auf der anderen Seite sieht er in Sadrettin Güler ./. Türkei bereits eine leichte Disziplinarmaßnahme wegen unerlaubten Fernbleibens von der Arbeit als konventionswidrig an, wenn sie eine einschüchternde Wirkung auf Gewerkschaftsmitglieder zur Folge hat.

V. Weitere Vorgehensweise Auf eine detaillierte Analyse der einzelnen Urteile zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK wird an dieser Stelle verzichtet, weil ansonsten bereits zu Beginn ein falsches Verständnis von allgemeingültigen Vorgaben entstehen könnte.92 Der Aussagenkatalog im vorigen Abschnitt schafft zwar einen Überblick über die bisher vom EGMR entschiedenen Fallkonstellationen. Eine über den jeweiligen Fall hinausgehende Vorgabenstruktur für die Gestaltung kollektiver Beziehungen kann er jedoch nicht abbilden. Will man aus den Aussagen des Gerichtshofs in den aufgelisteten Entscheidungen Vorgaben entwickeln, muss in einem ersten Schritt geklärt werden, wie die Aussagen zustande gekommen sind. 92 Ausführlich zu den Gewährleistungsgehalten der Koalitionsfreiheit des Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK, Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 56 ff.

B. Grenzen der Spruchpraxis

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Im nächsten Abschnitt wird daher der Frage nachgegangen, an welche Grenzen die Spruchpraxis des EGMR stößt und inwiefern dies Auswirkungen auf die Rezeption der Urteile des Gerichtshofs und damit auch auf die Vorgabenbildung aus Art. 11 EMRK hat. Auf diesen Erkenntnissen aufbauend soll im darauffolgenden Kapitel geklärt werden, ob die in der Literatur vertretene Auffassung einer Strukturvorgabenlehre von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK weiter haltbar ist. Selbst ein generelles Verbot der Gewerkschaftsgründung in Manole und ,Romanian Farmers‘ ./. Rumänien und ein absolutes Streikverbot in National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich oder Junta Rectora Del Ertzainen Nazional Elkartasuna (ER.N.E.) ./. Spanien hat der EGMR für bestimmte Gruppen für zulässig erachtet. Der Schluss liegt nahe, dass hier sowohl der Einfluss von (unterschiedlichen) Spielräumen als auch Besonderheiten des Kontextes eine Rolle spielten. Möglicherweise muss das kollektive System eines Mitgliedstaats keiner bestimmten Struktur entsprechen, um als mit Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK konform angesehen zu werden. Vielmehr könnten die Vorgaben funktional unter besonderer Berücksichtigung der nationalen Besonderheiten zu bestimmen sein.

B. Grenzen der Spruchpraxis Der Umgang mit Aussagen des Gerichtshofs unterliegt besonderen Grenzen, welche sich bei nationalen Gerichten so nicht zeigen würden. Das hat nicht nur rechtliche Gründe, sondern liegt auch an der Praxis des Gerichtshofs und den unterschiedlichen Rechtsordnungen der Vertragsparteien.

I. Begrenzte Aussagekraft von Urteilen des Gerichtshofs 1. Keine rechtliche Bindung über den konkreten Fall hinaus Die rechtliche Grenze von Urteilen des EGMR ist in der EMRK klar vorgezeichnet: Nach Art. 46 Abs. 1 EMRK verpflichten sich die Vertragsparteien, Urteile des Gerichtshofs in Rechtssachen, in denen sie Partei sind, zu befolgen. Die Urteile wirken damit nur zwischen den Parteien, also inter partes.93 Sie können mangels kassatorischer Wirkung auch keine unmittelbare Änderung der Rechtslage herbeiführen, sondern beschränken sich auf Feststellung der Konventionsmäßigkeit oder der Konventionswidrigkeit.94 Die Bindungswirkung eines Urteils ist aber nicht nur in personeller, sondern auch in sachlicher und zeitlicher Hinsicht auf den Streitge-

93 94

Grabenwerter/Pabel, § 16 Rn. 2. Dazu statt vieler HK-EMRK/Meyer-Ladewig/Brunozzi, Art. 46 EMRK Rn. 21.

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2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

genstand begrenzt.95 Wie sich die Urteile auf nicht betroffene Konventionsstaaten auswirken, regelt die EMRK dagegen nicht.96 2. Unklare Orientierungswirkung und Berücksichtigungspflicht Weil dieses Ergebnis als unbefriedigend angesehen wird, gibt es Versuche, über die Figuren einer Orientierungswirkung und der Berücksichtigungspflicht Ausführungen in einem Urteil auf ähnlich gelagerte Parallelfälle zu erstrecken.97 a) Orientierungswirkung aa) Versuch der Herleitung aus Art. 1 EMRK Art. 1 EMRK verpflichtet die Vertragsparteien zur Achtung der in der Konvention verbürgten Rechte und Freiheiten. Daraus wird gefolgert, dass auch unbeteiligte Mitgliedstaaten die mit den Konventionsrechten untrennbar verbundene Rechtsprechung des Gerichtshofs zu beachten haben.98 Die Staaten seien nicht an die Urteile gebunden, sondern an die Konvention, welche durch die Urteile ausgelegt werde.99 Eine rechtliche Bindung von unbeteiligten Staaten kann aber auch hierüber nicht begründet werden. Zum einen gibt es sehr wohl einen – wenn auch graduellen – Unterschied zwischen den Konventionsrechten einerseits und der Interpretation durch den Gerichtshof auf der anderen Seite. Im Gegensatz zu den Vertragsstaaten ist der Gerichtshof kein authentischer, sondern lediglich autoritativer Interpret der Konvention.100 Dies spielt zwar faktisch keine große Rolle, da die Vertragsstaaten als originär authentische Interpreten – bis auf die Zusatzprotokolle – keine substanziellen Änderungen an der EMRK vorgenommen haben.101 Die Weiterentwicklung der 95

HK-EMRK/Meyer-Ladewig/Brunozzi, Art. 46 EMRK Rn. 13. Dazu schon Bernhardt, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 25 (39). 97 Ausführlich zu dem Sonderfall des Piloturteils-Verfahrens nach Art. 61 VerfO des Gerichtshofs, vgl. Cremer, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 32 Rn. 119 ff. und insb. die berechtigte Kritik in Rn. 123 ff. 98 Grabenwerter/Pabel, § 16 Rn. 8; EUArbRK/C. Schubert, Art. 1 EMRK Rn. 84; Ress, ZaöRV 2004, 621 (630); Absenger/J. Schubert, SR 2019, 211 (224); HK-EMRK/MeyerLadewig/Brunozzi, Art. 46 EMRK Rn. 16: „Es ist weder wünschenswert noch rechtlich möglich, zwischen der Konvention selbst und der dazu ergangenen Rechtsprechung zu differenzieren.“ 99 Cremer, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 32 Rn. 118. 100 Die Einstufung des Gerichtshofs als autoritativen Interpreten befürworten Schmahl, JuS 2018, 737 mit Fn. 2; Grabenwarter, EuGRZ 2011, 229; Cremer, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 32 Rn. 111; so auch ausdrücklich die Brighton Declaration unter Punkt 10, siehe Ministerkomitee, Brighton Declaration v. 20. 04. 2012, abrufbar unter: https://www. echr.coe.int/Documents/2012_Brighton_FinalDeclaration_ENG.pdf (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). Andere Ansicht dagegen bei BVerwG 27. 02. 2014 – 2 C 1/13, NZA 2014, 616 (619); Walter, ZaöRV 2015, 753 (756), die den EGMR als authentischen Interpreten ansehen. 101 Vgl. dazu Nußberger, JZ 2019, 421 (425). 96

B. Grenzen der Spruchpraxis

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Konvention erfolgt im Wege der dynamischen Auslegung und damit vorwiegend durch den Gerichtshof.102 Seine Urteile stehen im Normrang dennoch unter den eigentlichen Garantien der EMRK.103 Zum anderen ist die rechtliche Bindung an Urteile des Gerichtshofs in Art. 46 Abs. 1 EMRK klar geregelt. Die Vertragsstaaten haben bewusst auf eine dem § 31 Abs. 1 BVerfGG („Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.“) vergleichbare Regelung verzichtet.104 Es fehlt somit an einer Regelungslücke, um die Bindung unbeteiligter Staaten über Art. 1 EMRK herzuleiten. bb) Stare decisis? Wie oben105 bereits festgestellt, vollzieht sich die Entwicklung der Konvention hauptsächlich über die Spruchpraxis des EGMR. Dementsprechend betont der Gerichtshof, dass es aus Gründen der Rechtssicherheit, der Vorhersehbarkeit und der Gleichheit vor dem Gesetz angezeigt sei, nicht ohne guten Grund von früheren Präzedenzfällen abzuweichen.106 Im englischen common law, an das die Rechtsprechung des EGMR teilweise erinnert,107 gilt daher die Regel des stare decisis, quieta non movere: Man soll beim Entschiedenen stehen und das Ruhende nicht bewegen.108 Befolgte man diese Regel auch auf der Konventionsebene, könnte von den Entscheidungen des Gerichtshofs eine Orientierungswirkung ausgehen. Der Gerichtshof selbst steht diesem Gedanken jedoch kritisch gegenüber: Im Vordergrund seiner Vorgehensweise stehe eine dynamische und evolutive Auslegung, anhand derer er auf die sich ändernden Bedingungen innerhalb des beklagten Staats und innerhalb der Vertragsstaaten im Allgemeinen reagieren könne.109 Aufgrund dieses Bestrebens, die Konvention stets weiterzuentwickeln, hat die Regel des stare decisis für die EMRK auch keine größere Bedeutung.110 Auch sie kann eine Orientierungswirkung von Urteilen gegenüber unbeteiligten Staaten nicht begründen. 102 Vgl. auch Art. 32 Abs. 1 EMRK: Die Zuständigkeit des Gerichtshofs umfaßt alle die Auslegung und Anwendung dieser Konvention und der Protokolle dazu betreffenden Angelegenheiten, mit denen er nach den Artikeln 33, 34, 46 und 47 befaßt wird. 103 Siehe zur parallelen Diskussion auf nationaler Ebene Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 372 ff. 104 BVerfG, Beschluss v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407 (3409). 105 Siehe unter S. 34 f. 106 Vgl. nur EGMR, Urt. v. 11. 07. 2002 – 28957/95 (Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 74. 107 Siehe dazu noch unter S. 51. 108 Dazu Martens, JZ 2011, 348. 109 EGMR, Urt. v. 11. 07. 2002 – 28957/95 (Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 74. Näher bereits unter S. 34. 110 Instruktiv das Sondervotum von Richter Paulo Pinto de Albuquerque zu EGMR, Urt. v. 26. 06. 2012 – 9300/07 (Herrmann ./. Deutschland).

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2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

cc) Stellungnahme Die Regel des stare decisis wird auf der Konventionsebene nicht angewendet. Die Bindung nicht am Verfahren beteiligter Mitgliedstaaten an die Urteile des EGMR kann im Ergebnis auch über Art. 1 EMRK nicht überzeugend hergeleitet werden.111 Die Konvention normiert damit grundsätzlich keine rechtliche Aussagekraft von Urteilen über den konkreten Fall hinaus.112 Grabenwarter bringt die Kritik an der Orientierungswirkung auf den Punkt und schlägt vor, auf diesen Begriff gänzlich zu verzichten: „Aussagen des EGMR in anderen Urteilen müssen schon deshalb relativiert werden, weil sie häufig vor dem Hintergrund einer ganz konkreten Rechtsordnung ergangen sind. Angesichts dessen erweist sich der Begriff der ,Orientierungswirkung‘ eher als ,Nebelbegriff‘, als dass er tatsächlich eine normative Wirkung explizieren könnte. […] Die Aussage, dass die Orientierungswirkung die rechtliche Bindung an die Konvention ,in der durch den EGMR konkretisierten Wirkung‘ zum Ausdruck bringe, verschleiert gerade die – notwendige – Unterscheidung zwischen Konventionsgarantie und Urteil des EGMR.“113

Die Forderung nach einem Verzicht auf den Begriff der Orientierungswirkung geht allerdings zu weit. Urteile des EGMR können auch anderen Staaten Anhaltspunkte für die Gestaltung ihrer Rechtsordnung geben. Man muss diese Urteile aber anders rezipieren, wenn die Orientierungswirkung nicht weiter als „Nebelbegriff“ gelten soll.114 Dabei muss insbesondere Rücksicht auf die unterschiedlichen Kontexte und die verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten genommen werden. Anders als das Unionsrecht zielt die EMRK nicht auf eine Rechtsvereinheitlichung oder -angleichung ab.115 b) Berücksichtigungspflicht aa) Brighton Declaration In der Brighton Declaration116 aus dem Jahr 2012 versichern die 47 Mitgliedstaaten, die Rechtsprechung des Gerichtshofs schon im Voraus zu berücksichtigen.117

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Mellech, Rezeption der EMRK, S. 76 ff.; Grabenwarter, EuGRZ 2011, 229 (230). Ausführlich zu dem Sonderfall des Piloturteils-Verfahrens nach Art. 61 VerfO des Gerichtshofs, vgl. Cremer, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 32 Rn. 119 ff. und insb. die berechtigte Kritik in Rn. 123 ff. 113 Grabenwarter, EuGRZ 2011, 229 (230). 114 Dazu sogleich unter S. 59. 115 Siehe dazu Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Einleitung Rn. 110 und 117 f. sowie explizit zu den Gerichtssystemen unter Art. 6 EMRK Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK Rn. 8. 116 Ministerkomitee, Brighton Declaration v. 20. 04. 2012, abrufbar unter: https://www.echr. coe.int/Documents/2012_Brighton_FinalDeclaration_ENG.pdf (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). Siehe dazu auch unter S. 81. 112

B. Grenzen der Spruchpraxis

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Die Berücksichtigungspflicht korreliert mit der Orientierungswirkung der Konvention, betrachtet diese aber aus der Perspektive der Mitgliedstaaten. Die Betonung auf der politischen Ebene streitet für die fehlende Durchschlagskraft der rechtlichen Argumente. Mit dem Zugeständnis des Ministerkomitees ist zudem nicht entschieden, wie diese Berücksichtigung konkret zu erfolgen hat. Der Gerichtshof weist weiter auf den Feststellungscharakter seiner Urteile gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK hin und überlässt dem verurteilten Staat bei der Umsetzung die Wahl der Mittel.118 Strengeres kann im Umkehrschluss auch für unbeteiligte Staaten nicht gelten. Mangels einer Feststellung der Konventionswidrigkeit ihrer nationalen Gestaltung haben sie eine solche selbst zu untersuchen. Die Staaten sind damit nicht nur frei in der Beurteilung, inwiefern, sondern ob sie das Urteil überhaupt umzusetzen haben.119 Auch aus der Brighton Declaration folgen keine höheren Anforderungen: Die Vertragsstaaten verpflichten sich dort allein, die nationalen Gerichte zur Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR zu „befähigen und ermutigen“.120 Damit führt auch das politische Einwirken weder zu einer erheblichen Aufwertung geschweige denn einer rechtlichen Einordnung der Orientierungswirkung. Die von der Brighton Declaration aufgegriffene Berücksichtigungspflicht läuft im Ergebnis auf eine nicht justiziable Pflicht zur Kenntnisnahme und rein internen Bewertung der Rechtsprechung des EGMR hinaus. Statt von einer Berücksichtigungspflicht muss man einschränkend von einer Obliegenheit sprechen. Die Nichtberücksichtigung eines Urteils gegen einen anderen Konventionsstaat zieht allenfalls eine Verurteilung in einem späteren Verfahren nach sich, wenn es sich um einen vergleichbaren Kontext handelt. bb) Position des BVerfG Adressat der Berücksichtigungspflicht sind die Mitgliedstaaten. Beispielhaft ist in diesem Zusammenhang der Umgang deutscher Gerichte mit der Berücksichtigungspflicht: Das BVerfG ging schon vor der Brighton Declaration davon aus, dass 117 Punkt 9. c) iv) der Brighton Declaration v. 19. 04. 2012: The Conference therefore: In particular, expresses the determination of the States Parties to ensure effective implementation of the Convention at national level by taking the following specific measures, so far as relevant: Enabling and encouraging national courts and tribunals to take into account the relevant principles of the Convention, having regard to the case law of the Court, in conducting proceedings and formulating judgments; and in particular enabling litigants, within the appropriate parameters of national judicial procedure but without unnecessary impediments, to draw to the attention of national courts and tribunals any relevant provisions of the Convention and jurisprudence of the Court; abrufbar unter: https://www.echr.coe.int/Documents/2012_Brighton_ FinalDeclaration_ENG.pdf (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). 118 St. Rspr. siehe nur EGMR, Urt. v. 13. 06. 1979 – 6833/74 (Marckx ./. Belgien), Rn. 59. 119 Das Recht, eine Entscheidung zu der eigenen Gestaltung abzuwarten, wollen auch HKEMRK/Meyer-Ladewig/Brunozzi, Art. 46 EMRK Rn. 17 dem unbeteiligten Konventionsstaat nicht absprechen. 120 Siehe Fn. 117.

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2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

Urteile des Gerichtshofs dem unbeteiligten Staat lediglich Anlass gäben, ihre nationale Rechtsordnung zu überprüfen und sich gegebenenfalls an der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu orientieren.121 Aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes folge, dass Konflikte aus völkerrechtlichen Verpflichtungen möglichst schon im Voraus vermieden werden sollen.122 Unter der daraus resultierenden Berücksichtigungspflicht versteht das BVerfG, dass die Konventionsbestimmung in der Auslegung des Gerichtshofs zur Kenntnis genommen und auf den Fall angewendet wird, soweit die Anwendung nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen Verfassungsrecht verstößt.123 Gegenläufige Rechtsprechung des Gerichtshofs müsse dabei schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem eingepasst werden.124 Das BVerfG spricht insoweit von einer „wertenden Berücksichtigung“, bei der darauf geachtet werden müsse, dass die beteiligten Rechtspositionen und Interessen möglicherweise nicht vollständig vom EGMR abgebildet werden.125 In neueren Entscheidungen betont das BVerfG zudem, dass Ähnlichkeiten im Normtext von GG und EMRK nicht über Unterschiede, die sich aus dem Kontext der Rechtsordnungen ergeben, hinwegtäuschen dürften.126 c) Zwischenergebnis Urteile des EGMR wirken nach Art. 46 Abs. 1 EMRK lediglich gegen den betroffenen Staat. Die Versuche, auch unbeteiligte Staaten an die Rechtsprechung zu binden, sind rechtlich nicht überzeugend. Sowohl eine Orientierungswirkung als auch eine Berücksichtigungspflicht versprechen nur dann Erfolg, wenn auf den entschiedenen Fall und dessen Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit dem nationalen Kontext des nicht beteiligten Staats eingegangen wird. Auf die Notwendigkeit der Kontextualisierung wird sogleich ausführlich eingegangen. 3. Einzelfallcharakter der Entscheidungen Der Gerichtshof trägt selbst nicht dazu bei, die Übertragbarkeit seiner Aussagen zu erleichtern. Die Rechtsprechung ist vielmehr durch eine strikte Fallorientierung und den weitgehenden Verzicht auf abstrakte Ausführungen gekennzeichnet. 121 BVerfG, Beschluss v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407 (3409); BVerfG, Urt. v. 04. 05. 2011 – 2 BvR 2365/09 u. a., NJW 2011, 1931 (1935); vgl. dazu statt aller Breuer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 46 EMRK Rn. 45. 122 BVerfG, Urt. v. 04. 05. 2011 – 2 BvR 2365/09 u. a., NJW 2011, 1931 (1935). 123 BVerfG, Beschluss v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407 (3411). 124 BVerfG, Urt. v. 04. 05. 2011 – 2 BvR 2365/09 u. a., NJW 2011, 1931 (1935 f.). 125 BVerfG, Beschluss v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407 (3411). 126 BVerfG, Urt. v. 12. 06. 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a., NJW 2018, 2695 (2700); BVerfG, Beschluss v. 18. 09. 2018 – 2 BvR 745/18, NJW 2019, 41 (43).

B. Grenzen der Spruchpraxis

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a) Strukturell bedingte Zurückhaltung mit abstrakten Aussagen aa) Subsidiarität der Konvention Der über den konkreten Fall hinausgehende Aussagewert wird vor allem dadurch geschmälert, dass sich der Gerichtshof mit abstrakten Erwägungen, die für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen gelten, zurückhält. Er definiert den Inhalt einer Konventionsnorm beim praktischen Zugriff auf den Fall auf einer niedrigeren Abstraktionsstufe, das heißt, er bezieht die Norm konkret auf den Fall.127 Diese Herangehensweise ist strukturell bedingt und auf den Charakter der EMRK zurückzuführen. Die Konvention ist ein subsidiäres Rechtsinstrument, das vor allem eine Auffangfunktion hat: Wenn ein Konventionsstaat die menschenrechtlichen Anforderungen nicht erfüllt, wird dies vom Gerichtshof auf eine Beschwerde hin festgestellt.128 Entsprechend dem Gedanken der Subsidiarität, wird der Menschenrechtsschutz auf der unteren Ebene, also in den Mitgliedstaaten durchgesetzt.129 Die höhere Ebene hat lediglich die Verletzung eines oder mehrerer Konventionsrechte festzustellen. Die Entwicklung allgemeingültiger Prinzipien, die für alle Akteure der unteren Ebene unabhängig von ihrer Notwendigkeit zu gelten haben, kann dagegen keine Aufgabe des Gerichtshofs sein. bb) Anlehnung an das common law Zugleich ist die fallorientierte Rechtsprechung des Gerichtshofs der Vielzahl an potenziellen Beschwerdegegnern geschuldet. Der EGMR ist Ansprechpartner für Beschwerdeführer aus 47 Staaten mit 47 unterschiedlichen Systemen. Franz Matscher, der 21 Jahre lang Richter am EGMR war, erklärt den weitgehenden Verzicht auf dogmatische Ausführungen vor allem mit den unterschiedlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten: „On the other hand, it should be noted that the Court’s case-law is largely casuistic and only occasionally contains statements capable of general application, a consequence of both the method of ,judicial self-restraint‘ followed by the Court and the fact that considerations of legal doctrine play a much smaller part in Strasbourg case-law than they do in domestic law. […] [I]t can be explained by the fact that the Convention institutions have to apply the Convention rules to a potentially limitless variety of particular cases from the legal systems of all the Member States of the Convention, each with its own structure, and that the members of the Commission and the judges at the Court come from all the different ,legal schools‘ of Europe. The Convention institutions therefore make use primarily of the empirical method, familiar to the ,common law‘, of finding answers to specific questions in the

127 128 129

Cremer, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 4 Rn. 121. Wildhaber, EuGRZ 2005, 689 (689). Petzold, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 41 (59 f.).

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2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK light of the Convention provisions with their often undefined legal concepts, taking into account the previous decisions which are relevant to a greater or lesser extent.“130

Die verschiedenen Rechtsordnungen zeichnen sich durch eine eigene Struktur aus. Auch die Richter – nach Art. 22 EMRK hat jeder Vertragsstaat drei Kandidaten für eines der 47 Richterämter vorzuschlagen – sind in ihrem Rechtsverständnis durch die nationale Rechtsordnung geprägt. Dies verhindert letztlich die Entwicklung einer europäischen Grundrechtsdogmatik.131 Anstatt dessen kommt die sehr auf den Einzelfall bedachte Vorgehensweise des im englischsprachigen Raum bekannten common law zum Tragen: „We’ll cross the river when we come to it.“132 Der Fokus der case-law-Methode des EGMR liegt nicht auf der Entwicklung eines stringenten, allübergreifenden Systems.133 Selbst dann, wenn von einer gefestigten Rechtsprechung die Rede ist, muss beachtet werden, dass sich diese nur auf bestimmte Fälle bezieht.134 Es kann sich dagegen keine Dogmatik ableiten lassen, mit der andere Fälle rechtssicher gelöst werden könnten. b) Durch Art. 11 EMRK bedingte Zurückhaltung mit übertragbaren Ausführungen Diese allgemein die Konvention betreffenden Überlegungen finden auch für die Koalitionsfreiheit Anwendung. In Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich beschäftigte sich der Gerichtshof mit der Praxis im Vereinigten Königreich, nach der Arbeitnehmern, die sich weigerten, einer bestimmten Gewerkschaft beizutreten, gekündigt werden konnte. Der Gerichtshof führte zu diesen sog. Absperrklauseln aus: „The Court emphasises once again that, in proceedings originating in an individual application, it has, without losing sight of the general context, to confine its attention as far as possible to the issues raised by the concrete case before it. Accordingly, in the present case, it is not called upon to review the closed shop system as such in relation to the Convention or to express an opinion on every consequence or form of compulsion which it may engender; it will limit its examination to the effects of that system on the applicants.“135

Nicht nur hält sich der Gerichtshof also mit allgemeinen Erwägungen zurück, auch konkrete Äußerungen überträgt er nicht unverändert auf andere Fälle.

130 Matscher, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 63 (63 f.) (Hervorhebung durch den Verfasser). 131 Zu dieser Konsequenz Lepsius, in: Jestaedt u. a., Das entgrenzte Gericht, S. 159 (245 f.). 132 Zitiert nach Karpen, JuS 2016, 577 (579). Ausführlich zu dieser Methode Hodge, RabelsZ 84 (2020), 211 ff. 133 Rebhahn, AcP 210 (2010), 489 (551 f.): „Prägend scheinen dazu der Primat der Einzelfallabwägung und das damit verbundene Fehlen einer ausdifferenzierten Dogmatik.“ 134 Matscher, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 63 (64). 135 EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 53 (Hervorhebung durch den Verfasser).

B. Grenzen der Spruchpraxis

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Art. 11 Abs. 2 EMRK zeichnet diese richterliche Zurückhaltung gewissermaßen vor. Die Einschränkungsklausel besagt unter anderem, dass Einschränkungen nur dann zulässig sind, wenn sie zum Schutz bestimmter Güter in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind. Auf der einen Seite hat der Gerichtshof diese Formulierung als Einfallstor für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung begriffen.136 Dort bezieht er sich allein auf den konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung des sozialen Kontextes.137 Zugleich zeigt sich auch, dass bei bestimmten Rechten wie Art. 11 EMRK, wo diametral verlaufende Interessen aufeinandertreffen, besonderer Wert auf die Einschätzung der demokratisch legitimierten nationalen Entscheidungsträger gelegt wird.138 Die Einschränkungen müssen damit nicht in irgendeiner oder in jeder demokratischen Gesellschaft notwendig sein, sondern allein in der konkret betroffenen.139 Dies heißt, dass die durch einen Staat begangene Konventionsverletzung keineswegs bedeuten muss, dass die Einschränkung in einem anderen Staat nicht doch notwendig sein könnte – so ähnlich die Regelungen auch sein mögen. Diese Erkenntnis über die Zurückhaltung des Gerichtshofs sowie der Einzelfallcharakter seiner Entscheidungen erschwert die Übertragbarkeit seiner Aussagen auf vermeintliche Parallelfälle. 4. Zwischenergebnis Die Aussagekraft von Urteilen des Gerichtshofs ist in zweierlei Hinsicht auf den konkreten Fall begrenzt: Zum einen durch ihre rechtliche Bindungswirkung nach Art. 46 Abs. 1 EMRK, die allein den beteiligten Staat trifft. Zum anderen hält sich der EGMR – wohl auch wegen Art. 46 Abs. 1 EMRK – bewusst mit abstrakten Aussagen zurück, sodass nur sehr vorsichtig Schlüsse für Parallelfälle gezogen werden können. Für die Übertragbarkeit von Aussagen im Einzelfall macht dieses Ergebnis eine Kontextualisierung, für die generelle Vorgabenbildung dagegen eine De-Kontextualisierung notwendig. Beides wird im nächsten Abschnitt näher ausgeführt.

II. De-Kontextualisierung als weitere Abschwächung Die rechtlich und tatsächlich ohnehin schon begrenzte Aussagekraft von einzelnen Urteilen wird weiter abgeschwächt, wenn allgemeingültige Vorgaben aus dieser Rechtsprechung abgeleitet werden sollen.

136 137 138 139

Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rn. 14. Hauer, Arbeitskampf im nationalen und europäischen Recht, S. 150. Spano, Human Rights Law Review 2018, 473 (491). Spano, Human Rights Law Review 2018, 473 (491).

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2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

1. Statistischer Befund: Große Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten Im vorigen Abschnitt wurden bereits die Gründe genannt, die gegen eine schematische Übertragung von Aussagen auf Parallelfälle sprechen. Die Notwendigkeit, unterschiedliche Sachverhalte vor unterschiedlichen Rechtsordnungen auch unterschiedlich zu behandeln, kann durch eine statistische Auswertung der Beschwerdefrequenz und der Erfolgsquote in den verschiedenen Mitgliedstaaten verdeutlicht werden. a) Geringe und ungleich verteilte Beschwerdefrequenz In der Spruchpraxis des EGMR lassen sich in Bezug auf die einzelnen Mitgliedstaaten erhebliche Unterschiede hinsichtlich Beschwerdefrequenz und Erfolgsquote der Beschwerden ausmachen. Im Jahr 2020140 betrafen 34 der 45 Urteile (76 Prozent), in denen Verletzungen von Art. 11 EMRK festgestellt wurden, nur zwei Staaten: Russland und die Türkei. Deutschland war nicht betroffen. Zudem unterscheidet die Auflistung noch nicht einmal zwischen Urteilen zu der Versammlungsfreiheit, der allgemeinen Vereinigungsfreiheit und der Koalitionsfreiheit, sondern erfasst alle Fälle, die unter Art. 11 EMRK fallen. Nach Durchsicht der Urteile durch den Verfasser ist im Jahr 2020 kein Urteil zur Koalitionsfreiheit im Speziellen ergangen.141 Für das Jahr 2019 ergibt sich ein ähnliches Bild: Gegen alle 47 Konventionsstaaten ergingen gerade einmal 20 Urteile, in denen eine Verletzung von Art. 11 EMRK festgestellt wurde.142 Dabei fällt auf, dass mit zehn Verletzungen genau die Hälfte der zulässigen und begründeten Beschwerden Russland betrafen. Gegen 42 der restlichen 47 Mitgliedstaaten – darunter auch Deutschland – wurde keine Verletzung von Art. 11 EMRK festgestellt. Zur Koalitionsfreiheit im Speziellen erging auch im Jahr 2019 soweit ersichtlich kein Urteil.143

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Alle der folgenden Zahlen aus dem Jahr 2020 beziehen sich auf den Statistical Report des EGMR, Violations by Article and by State 2020, abrufbar unter: https://www.echr.coe.int/ Documents/Stats_violation_2020_ENG.pdf (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). Hier werden – anders als unter S. 37 – auch die Urteile gezählt, die aufgrund der gefestigten Rechtsprechung des EGMR lediglich von einem Komitee gefällt wurden. 141 Vgl. die Suchmaske unter: https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22kpthesaurus%22 :[%22141%22,%22198%22,%22287%22],%22documentcollectionid2%22:[%22JUDG MENTS%22],%22kpdate%22:[%222020-01-01T00:00:00.0Z%22,%222020-12-31T00:00:00. 0Z%22]} (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). 142 Alle der folgenden Zahlen aus dem Jahr 2019 beziehen sich auf den Statistical Report des EGMR, Violations by Article and by State 2019, abrufbar unter: https://www.echr.coe.int/ Documents/Stats_violation_2019_ENG.pdf (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). 143 Vgl. die Suchmaske unter: https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22kpthesaurus%22 :[%22141%22,%22198%22,%22287%22],%22documentcollectionid2%22:[%22JUDG

B. Grenzen der Spruchpraxis

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Im Jahr 2018 lag die Zahl dieser Urteile zu Art. 11 EMRK mit 31 auf einem vergleichbar niedrigen Niveau.144 Über zwei Drittel (21 von 31) dieser Urteile ergingen gegen Russland und die Türkei. Für 39 von 47 Mitgliedstaaten wurde kein Verstoß gegen Art. 11 EMRK festgestellt. Immerhin zwei Urteile betrafen im Jahr 2018 – neben einer Reihe von Unzulässigkeitsentscheidungen – die Koalitionsfreiheit: Der Fall Ognevenko ./. Russland145 und der Fall Sadrettin Güler ./. Türkei146, in denen eine Verletzung der Koalitionsfreiheit festgestellt wurde. b) Sehr unterschiedliche Erfolgsquote Aussagen des EGMR zur Koalitionsfreiheit sind folglich überschaubar. Manche Staaten werden vom Gerichtshof überhaupt nicht adressiert. In den Jahren 2018 bis 2020 wurden Verletzungen von Art. 11 EMRK in folgenden Staaten festgestellt: Armenien, Aserbaidschan, Bulgarien, Kroatien, Moldawien, Nordmazedonien, Russland, Spanien, Türkei, Ukraine und Ungarn. Gegen Deutschland erging in der Geschichte des Gerichtshofs mit Geotech Kancev GmbH ./. Deutschland147 erst ein Urteil zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK.148 In diesem Fall konnte schon kein Eingriff festgestellt werden. Losgelöst von der Koalitionsfreiheit richteten sich im Jahr 2018 knapp 43 Prozent (378 von 880) der Urteile, in denen mindestens die Verletzung eines Konventionsrechts festgestellt wurde, gegen Russland oder die Türkei, im Jahr 2019 immerhin noch knapp 36 Prozent (282 von 790). Deutsche Fälle machten 2018 beispielsweise nur einen Anteil von 0,23 Prozent (2 von 880) aus, 2019 hatte Deutschland keinen Verstoß gegen die EMRK zu verantworten. Besonders der prozentuale Anteil von erfolgreichen Beschwerden spricht Bände: Während 2018 in 96 Prozent der ergangenen Urteile gegen Russland und die Türkei (238 von 248 bzw. 140 von 146) die Verletzung von mindestens einem Konventionsrecht festgestellt wurde, lag die Quote MENTS%22],%22kpdate%22:[%222019-01-01T00:00:00.0Z%22,%222019-12-31T00:00:00. 0Z%22]} (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). 144 Alle der folgenden Zahlen aus dem Jahr 2018 beziehen sich auf den Statistical Report des EGMR, Violations by Article and by State 2018, abrufbar unter: https://www.echr.coe.int/ Documents/Stats_violation_2018_ENG.pdf (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). 145 EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland). 146 EGMR, Urt. v. 24. 04. 2018 – 56237/08 (Sadrettin Güler ./. Türkei). Für diesen Fall ist allerdings anzumerken, dass der Gerichtshof den Fall vordergründig an der Versammlungsfreiheit geprüft hat, vgl. Rn. 23. Der Sachverhalt legt es jedoch nahe, die Entscheidung vorerst unter die Urteile, welche die Koalitionsfreiheit betreffen, zu fassen, siehe auch die Einordnung des Urteils in AuR 2018, 439. Ausführlich dazu unter S. 151. 147 EGMR, Urt. v. 02. 06. 2016 – 23646/09 (Geotech Kancev GmbH ./. Deutschland). 148 Vgl. die Suchmaske unter: https://www.hudoc.echr.coe.int/eng#{%22respondent%22 :[%22DEU%22],%22kpthesaurus%22:[%22141%22,%22198%22,%22287%22],%22docu mentcollectionid2%22:[%22JUDGMENTS%22,%22COMMUNICATEDCASES%22,%22 CLIN%22,%22ADVISORYOPINIONS%22,%22REPORTS%22,%22RESOLUTIONS%22]} (letzter Zugriff am 23. 02. 2021).

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2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

bei deutschen Fällen lediglich bei 10,5 Prozent (2 von 19). 2019 lag die Quote für Russland bei 94 Prozent (186 von 198), für die Türkei bei 85 Prozent (96 von 113), für die Ukraine sogar bei 100 Prozent (109 von 109) und in Deutschland bei 0 Prozent (0 von 8). 2020 betrug die Quote für Russland wieder 94 Prozent (173 von 185), für die Türkei 88 Prozent (85 von 97) und für Deutschland – allerdings bei einer niedrigen absoluten Zahl von Urteilen – 50 Prozent (4 von 8). c) Mögliche Konsequenz: Two-track Europe Die Statistiken lassen zwei Rückschlüsse zu. Zum einen bestätigen sie, dass sich in Anbetracht der geringen Anzahl an Urteilen keine ausdifferenzierte Rechtsprechung zur Koalitionsfreiheit im Sinne einer Dogmatik bilden konnte. Die Rechtsprechung ist in diesem Bereich recht träge. Vordergründig verdeutlicht die hohe Erfolgsquote von Beschwerdeführern gegen manche Staaten zudem, dass nicht alle Mitgliedstaaten die Rechte der Konvention auf die gleiche Weise beachten. Die Aufteilung lässt sich grob in alte und neue Mitgliedstaaten oder West und Ost vollziehen. Dies deckt sich mit der Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und den Berichten von Menschenrechtsorganisationen. Gerade die Türkei und Russland als Hauptadressaten von Urteilen des EGMR verzeichnen besorgniserregende Entwicklungen hinsichtlich der Erosion von Demokratie und Menschenrechten.149 Aus diesem Grund wird in der Literatur eine „doppelspurige“ Gerichtspraxis (sog. two-track Europe) vorgeschlagen:150 Bestimmte Reformen des Beschwerdeverfahrens und insbesondere der Beschwerdevoraussetzungen, welche eine effizientere Gerichtspraxis zum Ziel haben, sollen allein auf die Staaten Anwendung finden, die auch für die Überlastung des Gerichtshofs verantwortlich sind.151

149 Im „Freedom in the World“-Länderbericht 2020 von Freedom House, in dem die Politischen Rechte und Bürgerlichen Freiheiten in 210 Ländern bewertet werden, befinden sich Russland und die Türkei mit einem Score von 20 und 32 von 100 Punkten in der niedrigsten Kategorie „not free“, abrufbar unter: https://freedomhouse.org/countries/freedom-world/scores (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). Der „Rule of Law Index“ 2020 des World Justice Project listet Russland auf Rang 94 und die Türkei auf Rang 107 von 128 beobachteten Staaten, abrufbar unter: https://worldjusticeproject.org/rule-of-law-index/country/2020/ (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). In der Rangliste der Pressefreiheit 2019 von Reporter ohne Grenzen belegen Russland und die Türkei 149 und 157 von 180 untersuchten Staaten, abrufbar unter: https://www.reporterohne-grenzen.de/fileadmin/Redaktion/Downloads/Ranglisten/Rangliste_2019/Rangliste_der_ Pressefreiheit_2019.pdf (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). Vgl. auch die Länderberichte 2020 von Human Rights Watch zu Russland und der Türkei, abrufbar unter: https://www.hrw.org/ world-report/2020/country-chapters/russia und https://www.hrw.org/world-report/2020/countrychapters/turkey (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). Vgl. auch die Ausführungen von Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 493 ff. 150 Keller/Kühne, ZaöRV 2016, 245 (304 f.). 151 Näher zu den Reformvorschlägen und der Abgrenzung von Staaten mit funktionierenden Systemen und den sog. „high-case countries“, vgl. Keller/Fischer/Kühne, The European Journal of International Law 21 (2010), 1025 (1044 f.).

B. Grenzen der Spruchpraxis

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Dies ist sowohl rechtlich152 als auch politisch problematisch, weil man keinen Austritt bestimmter Staaten provozieren und so den Bürgern in diesem Staat eine effektive Möglichkeit zur unabhängigen Prüfung ihrer Rechte aus der Hand nehmen will.153 Zugleich darf nicht der Fehler eines Zirkelschlusses gemacht werden: Der EGMR ist nicht besonders streng mit Russland oder der Türkei, indem er unterschiedliche Maßstäbe ansetzt. Die höhere Beschwerdefrequenz und die höhere Erfolgsquote gegen diese Staaten spiegelt vielmehr die systemischen Mängel in deren Rechtsordnungen wider. 2. Lösung: Kontextualisierung a) Ansatz und Begriff Ein schonenderes Vorgehen als die Anpassung der Beschwerdevoraussetzungen ist die differenzierte Rezeption von Urteilen des Gerichtshofs. Diese Alternative greift nicht auf der Ebene des Gerichtshofs, sondern auf der nationalen Ebene, die auch mit der Umsetzung des Menschenrechtsschutzes betraut ist. Die hohen Erfolgsquoten einiger Staaten bekräftigen den Schluss, dass die dortigen Probleme systemische Mängel widerspiegeln. Diese Erkenntnis muss sich auch bei den Mitgliedstaaten niederschlagen, wenn sie die Urteile des Gerichtshofs berücksichtigen. Wenn man die Aussagen des Gerichtshofs zu defizitären Systemen (sprich: Mitgliedsstaaten mit hohen Erfolgsquoten) eins zu eins auf Staaten mit funktionierenden Demokratien überträgt, würde man diesen Verpflichtungen auferlegen, welche der EGMR von diesen möglicherweise nicht verlangt hätte, wenn sie selbst Verfahrensbeteiligte gewesen wären. Mit anderen Worten: Weil der EGMR zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen unterscheidet, müssen auch die Staaten dies tun, weil sie ansonsten proaktiv eine Rechtsprechung des EGMR umsetzen, die vor dem Hintergrund der eigenen Rechtsordnung nicht getroffen worden wäre. Diese Rezeption kann als Kontextualisierung bezeichnet werden. 152

Keller/Kühne, ZaöRV 2016, 245 (305) führen den rechtsgleichen Zugang zu Gericht an. Exemplarisch hierzu ist die aktuelle Diskussion zur Wiedereinräumung des Stimmrechts von Russland in der parlamentarischen Versammlung des Europarats, nachdem dieses nach der Annexion der Halbinsel Krim im Jahr 2014 entzogen worden war, vgl. Ackeret, EuroparatsParlamentarier heben Sanktionen gegen Russland auf, 25. 06. 2019, abrufbar unter: https:// www.nzz.ch/international/der-europarat-streitet-ueber-russland-ld.1491311 (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). Russland hatte als Reaktion darauf seine Zahlungen an den Europarat eingestellt, eine Maßnahme, die auch von der Türkei bereits so vollzogen wurde, vgl. Kornmeier, Ein Gerichtshof mit Spendenkonto, 25. 01. 2019, abrufbar unter: https://www.lto.de/recht/justiz/j/eu roparat-egmr-finanznot-spendenkonto-russland-tuerkei/ (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). Außenminister Heiko Maas äußerte sich folgendermaßen zur Rückkehr russischer Vertreter in die parlamentarische Versammlung: „Das ist auch eine gute Nachricht für die russische Zivilgesellschaft. Die russischen Bürgerinnen und Bürger müssen weiter die Möglichkeit haben, sich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Recht zu verschaffen.“, abrufbar unter: https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/internationale-organisationen/-russland-euro parat/2229374 (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). 153

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2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

b) Entwicklung eines Kontextualisierungsauftrages auf der nationalen Ebene Die Urteile des Gerichtshofs haben keine gestaltende Wirkung.154 Ihre Umsetzung erfolgt auf der nationalen Ebene. Das Argument, dass Feststellungen in der einen Rechtssache nicht unverändert auf eine andere übertragen werden können, fand in der deutschen Diskussion zur Rezeption von Urteilen des Gerichtshofs lange Zeit kaum Beachtung.155 Erst in der Nachbetrachtung der EGMR-Urteile Demir und Baykara ./. Türkei156 sowie Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei157 lässt sich dieses Begründungsmuster erstmals finden. Das Bundesverwaltungsgericht hatte unter Verweis auf die Urteile gegen die Türkei entschieden, dass das umfassende Streikverbot für deutsche Beamte, die wegen ihrer Teilnahme an einem Streik sanktioniert worden waren, nicht mit Art. 11 EMRK vereinbar sei.158 In ihrem Habilitationsvortrag weist Anna-Bettina Kaiser demgegenüber darauf hin, dass die spezifische Fall- und Rechtskonstellation – also der Kontext – der konkreten Entscheidungen zu beachten sei.159 Die Ausführungen des Gerichtshofs beträfen ein anderes Rechtssystem, sodass über die daraus folgenden Unterschiede nachgedacht werden müsse.160 Das Bundesverfassungsgericht griff den Gedanken der Kontextualisierung161 in der Entscheidung zum Beamtenstreikverbot auf: „Während sich die Vertragsparteien durch Art. 46 EMRK verpflichtet haben, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen, sind bei der Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR jenseits des Anwendungsbereiches des Art. 46 EMRK die konkreten Umstände des Falls im Sinne einer Kontextualisierung in besonderem Maße in den Blick zu nehmen. […] Die Anerkennung einer Orientierungs- und Leitfunktion setzt damit ein Moment der Vergleichbarkeit voraus. Bei der Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR sind der konkrete Sachverhalt des entschiedenen Falls und sein (rechtskultureller) Hintergrund ebenso mit einzustellen wie mögliche spezifische Besonderheiten der deutschen Rechtsordnung, die einer undifferenzierten Übertragung im Sinne einer bloßen ,Begriffsparallelisierung‘ entgegenstehen.“162

154

Dazu statt vieler HK-EMRK/Meyer-Ladewig/Brunozzi, Art. 46 EMRK Rn. 21. Dazu Lepsius, JZ 2019, 793 (794), der dies vor allem auf die deutsche Rechtskultur zurückführt, in welcher der Fokus auf abstrakt-generellen Rechtsnormen und der Systematisierung von Kodifikationen liegt. 156 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei). 157 EGMR, Urt. v. 21. 4. 2009 – 68959/01 (Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei). 158 BVerwG, Urt. v. 27. 02. 2014 – 2 C 1/13, NZA 2014, 616 (620). 159 Kaiser, AöR 142 (2017), 417 (433). 160 Kaiser, AöR 142 (2017), 417 (433 f.), die auch betont, dass man die Aussagen zur Sache von den obiter dicta unterscheiden muss und sog. Escape-Klauseln des Gerichtshofs zu beachten sind. 161 Instruktiv zum Begriff vgl. Junker, EuZA 2020, 1 (2). 162 BVerfG, Urt. v. 12. 06. 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a., NJW 2018, 2695 (2700) (Hervorhebung durch den Verfasser). 155

B. Grenzen der Spruchpraxis

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Zum ersten Mal erteilte das Bundesverfassungsgericht einen Kontextualisierungsauftrag.163 Der EGMR hat diesen Begriff noch nicht verwendet. Er hält sich jedoch seit jeher mit abstrakten Äußerungen zurück164 und verweist auf den spezifischen Kontext seiner Entscheidungen.165 Eine Kontextualisierung setzt er gewissermaßen als selbstverständlich voraus. Insoweit muss man in diesem Punkt die deutsche Rechtswissenschaft als zögerlich bezeichnen.166 c) Vorgehensweise Überträgt man die Ausführungen des Gerichthofs auf einen anderen Fall, müssen sie in den jeweiligen Kontext gesetzt werden.167 Unbeteiligte Staaten haben folglich die Aufgabe, den vom EGMR entschiedenen Sachverhalt und das tatsächlich betroffene Rechtssystem in ihren Rezeptionsprozess miteinzubeziehen.168 Ein solcher Prozess umfasst zugleich die Berücksichtigung institutioneller (zum Beispiel die politischen Rahmenbedingungen im jeweiligen Staat), prozessualer (zum Beispiel die Verfahrensart) und auch zeitlicher (abnehmende Bindungswirkung) Kontexte.169 Um dann tatsächlich über den Fall hinaus eine Aussage treffen zu können, müssen nicht nur das zugrundeliegende Problem verallgemeinerungsfähig, sondern auch die Kontexte vergleichbar sein.170 Spezifische Besonderheiten in einer der Rechtsordnungen können einer Vergleichbarkeit und damit der Übertragbarkeit der Aussage im Weg stehen.171 Daher ist das sogenannte distinguishing umso wichtiger: Darunter versteht man das Abweichen von einem früheren Präzedenzfall, indem man die Unterschiede im Sachverhalt herausstellt.172 Eine solche Möglichkeit der Abweichung ist gerade aufgrund der verschiedenen Systeme innerhalb des Europarats oft notwendig. Eine Kontextuali163

Dies begrüßend Lepsius, JZ 2019, 793 (794); Voßkuhle, ZaöRV 2019, 481 (487 f.); Sura, NJOZ 2019, 1 (7); Battis, ZBR 2018, 289; differenzierend EUArbRK/C. Schubert, Art. 1 EMRK Rn. 102; kritisch M. Jacobs/Payandeh, JZ 2019, 19 (23); Absenger/J. Schubert, SR 2019, 211 (224). 164 Siehe bereits oben unter S. 51. 165 Auch in der Rechtssache Demir und Baykara ./. Türkei erwähnte der Gerichtshof übrigens den „specific context of the present case“, vgl. EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 110. 166 Vgl. Lepsius, JZ 2019, 793 (796). 167 So plastisch bereits zuvor Wissmann, ZJS 2011, 395 (399 f.). 168 Kaiser, AöR 142 (2017), 417 (433). Zur selektiven Rezeption europäischer Rechtsprechung vgl. Michl, EuR 2018, 456. 169 Lepsius, Relationen, S. 36 ff. u. 59. 170 Lepsius, JZ 2019, 793 (796), der insofern von einem „doppelt relationale[m] Vorgehen“ spricht (799). 171 BVerfG, Urt. v. 12. 06. 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a., NJW 2018, 2695 (2700). 172 Grant, in: Zalta, Stanford Encyclopedia, 2.1.2, abrufbar unter: https://plato.stanford.edu/ archives/sum2020/entries/legal-reas-prec/ (letzter Zugriff am 23. 02. 2021).

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2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

sierung erfordert somit in Ansätzen eine Rechtsvergleichung des mit der Kontextualisierung beauftragten Akteurs.173 d) Kritik und Entkräftung Die Kritik an der Kontextualisierung richtet sich vor allem gegen die Folgen einer solchen Vorgehensweise. Es wird befürchtet, dass die Kontextualisierung zu einer Abschwächung der Orientierungsfunktion der Rechtsprechung des Gerichtshofs führe.174 Mitgliedstaaten könnten selbst entscheiden, ob und welche Wertungen sie für übertragbar hielten.175 Dem ist jedoch entgegenzutreten. Eine überzeugende Herleitung der Figur der Orientierungswirkung gelang bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht.176 Eine Aufwertung wäre daher bereits aus rechtlicher Sicht nicht notwendig. Doch auch in tatsächlicher Hinsicht ist eine Abschwächung nicht zu befürchten: Durch die Verknüpfung von Kontextualisierung und Orientierungswirkung wird die Urteilsrezeption für die einzelnen Mitgliedstaaten klarer und handhabbarer. Dies führt mittelbar nicht zu einer Abschwächung, sondern einer Aufwertung der Orientierungswirkung der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Im Ergebnis ist eine Kontextualisierung damit die logische Konsequenz der Orientierungswirkung, die den Urteilen des EGMR außerhalb von Art. 46 Abs. 1 EMRK zugeschrieben wird.177 Durch eine Kontextualisierung wird ein Urteil erst zugänglich gemacht und so das konkrete Ausmaß der Orientierungswirkung bestimmt. Auch die Berücksichtigung durch einen unbeteiligten Staat kann erst dann gelingen, wenn dieser das entsprechende Urteil kontextualisiert. Eine Orientierung oder eine Berücksichtigung von Urteilen zu anderen Rechtsordnungen ohne Kontextualisierung würde auf eine blinde Harmonisierung der nationalen Systeme hinauslaufen. 3. Vorgabenbildung erfordert De-Kontextualisierung a) Notwendigkeit der Abstrahierung Ziel dieser Arbeit ist es aber nicht, die Ausführungen des Gerichtshofs in einem Urteil auf die Rechtsordnung eines unbeteiligten Staats zu übertragen. Vielmehr sollen allgemeingültige Vorgaben von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs herausgearbeitet werden. 173

Kaiser, AöR 142 (2017), 417 (432). So Hering, ZaöRV 2019, 241 (258); M. Jacobs/Payandeh, JZ 2019, 19 (23); Absenger/ J. Schubert, SR 2019, 211 (224). 175 Hering, ZaöRV 2019, 241 (258 f.). 176 Siehe dazu oben unter S. 46. 177 Ebenfalls eine Abschwächung der Orientierungswirkung verneinend Lepsius, JZ 2019, 793 (802). 174

B. Grenzen der Spruchpraxis

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Damit Feststellungen aus Urteilen über den Fall hinaus auf eine Vielzahl von Sachverhalten anwendbar sind, müssen sie abstrahiert werden. Eine Kontextualisierung kann in Bezug auf das Ergebnis beliebig wirken.178 Eine Abstrahierung erlaubt es dagegen, bis zu einem gewissen Grad Sicherheit für die Entscheidung von einzelnen Fällen mit Blick auf die Lösung aller potentiell möglichen Fälle zu erlangen und ermöglicht zudem ein abstraktes Normverständnis.179 Die Vorgehensweise kann als De- oder Entkontextualisierung verstanden werden.180 b) Gefahr der Verfremdung Entkoppelt man ein Urteil vom zugrundeliegenden Kontext, werden die Aussagen generalisiert, zugleich aber auch weiterinterpretiert und möglicherweise dadurch entgrenzt oder sogar verfremdet.181 Wenn man allgemeingültige Vorgaben aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zieht, konterkariert man den oben beschriebenen Prozess der Kontextualisierung. Der Normbefehl eines Urteils erstreckt sich auf einen ganz bestimmten Sachverhalt, für bestimmte Parteien und zu einer bestimmten Zeit.182 Der EGMR entscheidet konkrete Fälle – wird die Normaussage vom Fall abstrahiert, werden dem Gerichtshof vermeintlich verallgemeinerungsfähige Aussagen in den Mund gelegt.183 Wie eine solche Abstraktion zu einer sprachlichen Umgestaltung und im Ergebnis zu einer Verfremdung der ursprünglichen Aussage führen kann, zeigt sich besonders anschaulich, wenn in der deutschen Zeitschriftenliteratur Leitsätze zu Urteilen des EGMR erstellt werden.184 So wurde das Urteil Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei185 unter der Überschrift „Streikrecht für Beamte“ mit – im Original nicht vorhandenen Leitsätzen – in NZA 2010, S. 1423 ff. abgedruckt. Gerade die korrekte Übersetzung der in der amtlichen Fassung verwendeten Bezeichnung „fonctionnaires“ mit „Beamte“186 oder „Angehörige des öffentlichen Dienstes“187 führte im deutschen Schrifttum und der Rechtsprechung zu Diskussionen.188 Eine Vorgabenbildung läuft somit Gefahr, Aussagen des Gerichtshofs ungenau wiederzugeben und nicht eben178

So die Kritik von Rieble, rescriptum 2013, 163 (166). Kersten, rescriptum 2012, 67 spricht insoweit von dogmatischem Denken. 180 Begriff bei Lepsius, JZ 2019, 793 (794). 181 Lepsius, JZ 2019, 793 (797 f.). 182 Lepsius, JZ 2019, 793 (794). 183 Lepsius, Relationen, S. 54 f. 184 Kritisch dazu Lepsius, Relationen, S. 53 f.; zum sog. framing instruktiv Michl, EuR 2018, 456 (465 f.). 185 EGMR, Urt. v. 21. 4. 2009 – 68959/01 (Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei), Rn. 6. 186 So die Übersetzung in AuR 2009, 274 ff. 187 So im Übrigen auch die weitere Verwendung in NZA 2010, 1423 ff. Die Bezeichnung der Mitglieder der Beschwerdeführerin als Beamte findet sich nur in der Überschrift. 188 Vgl. instruktiv zu dem Problem OVG Münster, Urt. v. 07. 03. 2012 @ 3 d A 317/11.O, NVwZ 2012, 890 (897). 179

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2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

jenes zu bewerkstelligen, was sie sich zum Ziel gesetzt hat: Verallgemeinerungsfähige Aussagen des Gerichtshofs abzubilden. c) Grundwertungen als Anknüpfungspunkt? aa) Die Beamtenstreikverbot-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Wie können nun aber die abstraktionsfähigen Aussagen von denen unterschieden werden, die in einem gewissen Kontext getroffen wurden und nur auf diesen anwendbar sind? Mit anderen Worten: Wie können Kontextualisierung und Vorgabenbildung in Einklang gebracht werden? In seiner Entscheidung zum Beamtenstreikverbot stellt das Bundesverfassungsgericht darauf ab, „Aussagen zu Grundwertungen der Konvention zu identifizieren und sich hiermit auseinanderzusetzen“.189 Diese Grundwertungen versteht das BVerfG im Sinne von „verallgemeinerungsfähigen allgemeinen Grundlinien“.190 Die Auffassung des BVerfG deckt sich insoweit mit der hier vertretenen Auffassung: Entscheidend für die Beurteilung eines konkreten Problems können allein die Aussagen des Gerichtshofs zu anderen Fällen sein, die losgelöst vom Fall auch unter Berücksichtigung des unterschiedlichen Kontextes so getroffen worden wären. Damit ist aber noch nicht gesagt, wie eine solche Unterscheidung zu erfolgen hat. Das BVerfG benennt in der Beamtenstreikverbot-Entscheidung explizit die Aussagen, die es als verallgemeinerungsfähig ansieht. In den Urteilen Demir und Baykara ./. Türkei sowie Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei sei von Relevanz, dass - auch Angehörige der Staatsverwaltung nicht generell aus dem Anwendungsbereich des Art. 11 EMRK herausfallen, sondern ihnen allenfalls Einschränkungen auferlegt werden können; - der Wesensgehalt der Vereinigungsfreiheit nicht angetastet werden darf; - der Streik eine Möglichkeit der Gewerkschaften darstellt, sich Gehör zu verschaffen und dadurch ihre Interessen zu schützen.191 Diese Grundwertungen sind sehr abstrakt und weisen keinen spezifischen Fallbezug mehr auf. Sie können als allgemeingültige Vorgaben grundsätzlich auf alle Mitgliedstaaten bezogen werden. bb) Konzentration auf die Grundwertungen als Missachtung der Konvention? Die zentrale Kritik an der Entscheidung des BVerfG ist, dass die Beschränkung auf die Grundwertungen eine Abwertung der Rechtsprechung des EGMR und somit 189 190 191

BVerfG, Urt. v. 12. 06. 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a., NJW 2018, 2695 (2700). BVerfG, Urt. v. 12. 06. 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a., NJW 2018, 2695 (2707). BVerfG, Urt. v. 12. 06. 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a., NJW 2018, 2695 (2707).

B. Grenzen der Spruchpraxis

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auch der EMRK zur Folge habe.192 Eine Unterscheidung von Grundwertungen und sonstigen Wertungen verstoße gegen die Völkerrechtsfreundlichkeit der nationalen Verfassungen.193 Die Mitgliedstaaten könnten nicht nur allein die Grundwertungen der EMRK beachten, seien Verstöße gegen die EMRK doch in Gänze zu vermeiden.194 Der Ansatz des BVerfG würde jedenfalls dazu führen, dass die Wertungen der EMRK leer liefen.195 Diese Kritik geht jedoch am Thema vorbei: Das BVerfG versteht die Grundwertungen gerade nicht als Abgrenzungsmerkmal von wichtigen und weniger wichtigen Aussagen,196 sondern als Ausführungen, die einer Verallgemeinerung zugänglich sind.197 Der Begriff der Grundwertungen mag unglücklich gewählt sein, im Ergebnis meint das BVerfG damit aber diejenigen Wertungen, die unabhängig vom entschiedenen Fall relevant sind. Eine Aussage, die in einem ganz bestimmten Kontext getroffen wurde und darüber hinaus keine Bedeutung hat, muss aber von einem Mitgliedstaat nicht beachtet werden und kann daher auch keinen Verstoß gegen das Völkerrecht nach sich ziehen. Im Ergebnis ist daher die Unterscheidung von Grundwertungen und anderen Wertungen weitaus unspektakulärer als von der Kritik angenommen: Sie umschreibt einfach die Aussagen, die auch ohne den ursprünglichen Kontext ihren Sinn nicht verlieren.198 Das BVerfG betreibt somit nicht nur eine Kontextualisierung, sondern auch eine De-Kontextualisierung. An dem weiteren Vorgehen des BVerfG in der Beamtenstreikverbot-Entscheidung und dem Ergebnis ist zwar durchaus Kritik zu üben,199 die Herausarbeitung von Grundwertungen ist allerdings ein längst überfälliger Schritt bei der Rezeption von Urteilen des EGMR. cc) Abgrenzung durch nationale Gerichte? (1) Keine zusätzliche Rechtsunsicherheit Weiter wird beanstandet, dass die Einstufung von Grundwertungen den nationalen Gerichten obliege.200 Diesen stünden erhebliche Gestaltungsspielräume zu, die 192 M. Jacobs/Payandeh, JZ 2019, 19 (23); Hering, ZaöRV 2019, 241 (263); Absenger/ J. Schubert, SR 2019, 211 (224). 193 So Hering, ZaöRV 2019, 241 (263). 194 Hering, ZaöRV 2019, 241 (261 ff.). 195 Absenger/J. Schubert, SR 2019, 211 (224). 196 So aber missverstanden von Hering, ZaöRV 2019, 241 (261): „Diese Aussagen erwecken den Eindruck, dass das BVerfG zwischen ,wichtiger‘ und ,weniger wichtiger‘ EGMRRechtsprechung differenzieren und nur ersterer Beachtung schenken möchte.“ 197 BVerfG, Urt. v. 12. 06. 2018 – 2 BvR 1738/12 u. a., NJW 2018, 2695 (2707). 198 Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 289. 199 Vgl. hierzu die – teilweise polemischen – Ausführungen von Absenger/J. Schubert, SR 2019, 211 ff. Treffender M. Jacobs/Payandeh, JZ 2019, 19 ff., insb. 24 f. und Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 288 ff. 200 Hering, ZaöRV 2019, 241 (264).

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2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

zu Rechtsunsicherheit führten.201 Auch diese Einschätzung geht in zweierlei Hinsicht fehl. Zum einen trifft der EGMR Feststellungsurteile. Wie soeben gezeigt, liegt es in der Natur der Sache, dass nicht alle Feststellungen eines Urteils auf eine andere Problemstellung in einer anderen Rechtsordnung übertragen werden können. Wenn schon der betroffene Staat bei der Umsetzung eines Urteils die freie Wahl der Mittel hat,202 so gilt dies erst recht für einen unbeteiligten Staat. Dass dieser – solange er nicht selbst Beteiligter eines Verfahrens ist – selbst bestimmen muss, ob er von dem Urteil mittelbar betroffen ist, ist die Folge der begrenzten Rechtskraft von Art. 46 Abs. 1 EMRK.203 Die von Hering angesprochene Rechtsunsicherheit ist daher nicht neu, sondern besteht auf Seiten der unbeteiligten Staaten immer, wenn ein Urteil gegen einen anderen Staat ergeht. (2) Untauglichkeit der diskutierten Abgrenzungsmerkmale Entscheidend ist aber zweitens, dass die Abgrenzung nicht allein den nationalen Gerichten zusteht, sie wird vom Gerichtshof determiniert. Die von Hering angesprochenen Abgrenzungsmerkmale204 von Grundwertungen und anderen Wertungen sind hingegen nicht praxistauglich: Weder die Unterscheidung von konsolidierter und nicht konsolidierter Rechtsprechung noch die Frage, ob es sich um ein Urteil der Großen Kammer oder um ein einfaches Kammerurteil handelt, ist überzeugend. Dies entspricht auch nicht der Vorgehensweise des BVerfG.205 Wieso soll eine einstimmige Kammerentscheidung generell weniger Aussagekraft vermitteln als ein umstrittenes Urteil der großen Kammer? Wenn Einigkeit über ein Thema besteht, wird dieses nicht erst zur Großen Kammer gelangen.206 Auch die Abgrenzung von konsolidierter und nicht konsolidierter Rechtsprechung überzeugt gerade bei der Koalitionsfreiheit nicht. Bei der Frequenz von Urteilen (zwei Urteile in den Jahren 2018 und 2019) wird es lange dauern bis von einer konsolidierten Rechtsprechung die 201

Hering, ZaöRV 2019, 241 (264). Vgl. statt aller Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 16 Rn. 3. 203 Siehe dazu bereits oben unter S. 45. 204 Siehe hierzu Hering, ZaöRV 2019, 241 (262 ff.). 205 Hering befürwortet diese Abgrenzungsmerkmale auch nicht, lehnt sie doch eine Unterscheidung gänzlich ab. Jedoch unterstellt sie dem BVerfG, dass in seiner Entscheidung eine Sympathie für eine Abgrenzung von Kammerurteilen und Urteilen der Großen Kammer anklänge und das BVerfG nur letztere befolgen werde. Dies begründet sie damit, dass das BVerfG die Große Kammer als Urheber des Urteils Demir und Baykara ./. Türkei erwähnt, vgl. Hering, ZaöRV 2019, 241 (264). Dies kann aber nur mit viel Fantasie als „versteckter Hinweis“ gedeutet werden. Die Hinweise des BVerfG sind rein deskriptiver Natur und der Zitiertechnik geschuldet, eine Wertung findet gerade nicht statt. 206 Über Individual- oder Staatenbeschwerden entscheidet die Große Kammer gemäß Art. 31 lit. a. EMRK, wenn eine Kammer die Rechtssache nach Art. 30 EMRK (schwerwiegende Frage der Auslegung der EMRK oder der Protokolle dazu oder Möglichkeit der Abweichung von einem früheren Urteil des Gerichtshofs) an sie abgegeben hat oder wenn die Sache nach Art. 43 EMRK (Antrag einer Partei in Ausnahmefällen innerhalb von drei Monaten nach dem Datum des Urteils) an sie verwiesen worden ist. 202

B. Grenzen der Spruchpraxis

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Rede sein kann. Außerdem bestimmt nicht allein die Häufigkeit der Wiederholung, sondern vorwiegend die Begründungstiefe die Geltungskraft einer Aussage. Bei den Urteilen Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei und Demir und Baykara ./. Türkei, aus denen das BVerfG seine Grundwertungen hergeleitet hat, handelt es sich im Übrigen um ein Kammerurteil und ein Urteil der Großen Kammer und bei beiden kann – angesichts der Rechtsprechungswende, die sie markierten207 – mitnichten von einer konsolidierten Rechtsprechung gesprochen werden. (3) Gerichtshof gibt Grundwertungen vor Die Unterscheidung von verallgemeinerungsfähigen und kontextbasierten Äußerungen des Gerichtshofs ist um einiges einfacher und durch den Gerichtshof gewissermaßen vorgezeichnet. Der EGMR nimmt diese bereits selbst vor, weswegen die oben geäußerte Kritik einer weiteren Grundlage beraubt ist: Die Urteile des EGMR sind streng schematisch aufgebaut.208 Nach der Darstellung des Verfahrensgangs (Procedure) sowie des Sachverhalts und der einschlägigen nationalen und internationalen gesetzlichen Regelungen (The Facts) kommt es zur konventionsrechtlichen Beurteilung (The Law). Hier wird zuerst das Vorbringen von Beschwerdeführer und -gegner nachgezeichnet (Submissions of the parties). Dann kommt es zur Einschätzung des Gerichtshofs (The Court’s assessment). Dort unterscheidet der Gerichtshof zwischen seinen allgemeinen Aussagen (General principles) und den kontextbasierten (Application of these principles to the present case). Diese Unterscheidung bietet einen guten Anknüpfungspunkt für die Bestimmung von allgemeingültigen Vorgaben. Das BVerfG hat dem folgend seine Grundwertungen auch aus dem Abschnitt General principles im Urteil Demir und Baykara ./. Türkei entnommen.209 Die Einstufung von Grundwertungen obliegt folglich nicht allein den nationalen Gerichten.

III. Zwischenergebnis In diesem Kapitel wurde gezeigt, welche Grenzen bei der Rezeption von Urteilen des Gerichtshofs zu beachten sind. Die schematische Übertragung von Aussagen zu einem Streitgegenstand auf eine ähnliche Konstellation in einer anderen Rechtsordnung ist nicht möglich. Die Aussagen des EGMR sind nicht zuletzt wegen Art. 46 Abs. 1 EMRK strikt fallbezogen, müssen aber aus ihrem Kontext gelöst werden, 207

Dazu ausführlich Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 84 ff. Vgl. zum Aufbau der Urteile mustergültig aus der neueren Rechtsprechung EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland). 209 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 109 ff. und 140 ff. In EGMR, Urt. v. 21. 4. 2009 – 68959/01 (Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei) findet sich dagegen kein Abschnitt zu den General principles. Dies ist atypisch und wohl der außerordentlichen Kürze des Urteils geschuldet, das sich vor allem auf Demir und Baykara ./. Türkei bezieht. 208

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2. Teil: Spruchpraxis des EGMR zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK

wenn man Vorgaben über den Einzelfall hinaus entwickeln will. Eine solche DeKontextualisierung birgt die Gefahr, dass „zum Eyecatcher aufgemotzte Urteile“210 entstehen, die wiederum eine Entgrenzung der Vorgaben nach sich ziehen. Am Ende eines De-Kontextualisierungsprozesses stehen abstrakte und damit auch potenziell allgemeingültige Aussagen, die an jeden Mitgliedstaat gerichtet sind. Die konkrete Umsetzung dieser abstrakten Vorgaben obliegt den Mitgliedstaaten. Auch wenn dadurch der Verfremdung von Aussagen vorgebeugt wird, so schmälert dies zwangsläufig den konkreten Aussagewert der Ausführungen des EGMR. Im Ergebnis sind der Vorgabenbildung jedenfalls Grenzen gesetzt, deren abstrakte Bestimmung kaum möglich ist. Ein flexibles Verständnis von Vorgaben ist daher unbedingt notwendig. Die Vorstellung von Strukturelementen als Gestaltungsvorgaben ist aufgrund dieses Befunds angreifbar.

210

Lepsius, JZ 2019, 793.

3. Teil

Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben Vorgaben zur Gestaltung begrenzen die Konventionsstaaten in ihrer Gestaltungsfreiheit. Wo weitreichende Gestaltungsvorgaben vorhanden sind, reduziert sich der nationale Spielraum. Die Vorstellung von Strukturmerkmalen als Gestaltungsvorgaben beruht auf der Überlegung, dass es trotz aller Gestaltungsmöglichkeiten noch Merkmale geben muss, die jedes nationale kollektive System unter Art. 11 EMRK aufweisen muss. Damit sind feste Bausteine gemeint, die von Art. 11 EMRK in dem Sinne als konstitutiv angesehen werden, dass eine Gestaltung ohne sie nicht mehr den Anforderungen der EMRK genügen würde. Die Gestaltungsvorgaben wären dann als Strukturmerkmale zu verstehen, die Mindestbedingungen der Koalitionsfreiheit widerspiegeln. Auf diese Weise könnte eine von Art. 11 EMRK vorgezeichnete Matrixstruktur entwickelt werden. Auch in der Literatur klingt diese Vorstellung in manchen Ausführungen durch. Paul Mahoney beispielsweise äußert den Gedanken der Konvention als einen „universal minimum standard“.211 Zwischen den Minimalanforderungen, die alle Vertragsstaaten unabhängig von ihren Eigenheiten zu erfüllen haben und der Freiheit, darüber Hinausgehendes auf nationaler Ebene für sich selbst zu entscheiden, liege eine bestimmbare Grenze.212 Strukturmerkmale von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK wären vor diesem Hintergrund zu bejahen, wenn die Grenze unterschritten ist, also die Minimalbedingungen betroffen sind. In diese Richtung scheint auch die Äußerung von Angelika Nußberger zu gehen, die davon spricht, dass sich trotz der Diversität der Systeme im kollektiven Arbeitsrecht „in einem langsam fortschreitenden Prozess eine Reihe von Mindeststandards herausgebildet [hat], bei denen es kein ,Zurück‘ mehr gibt.“213 Voraussetzung für ein solches Verständnis von Gestaltungsvorgaben ist, dass sich die konkreten Mindeststandards, Mindestbedingungen oder die Grenze, welche diese von den Gestaltungsfreiräumen abgrenzt, entweder positiv oder negativ bestimmen lassen. Der Anknüpfungspunkt hierfür ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs.

211 212 213

Mahoney, European Human Rights Law Review 1997, 364 (369). Mahoney, in: FS Jaeger, S. 147 (156). Nußberger, DRdA 2015, 408 (413).

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

A. Explizite Bestimmung über den Kernbereich oder den Wesensgehalt Eine Möglichkeit ist es, die Mindeststandards explizit bzw. positiv über den Kernbereich oder den Wesensgehalt von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK zu bestimmen.

I. Ansatz Die besondere Bedeutung eines Kern- oder Wesensgehalts von Grundrechten ist in vielen europäischen Verfassungen normiert.214 Über Entscheidungen, welche die Grenzen der Einschränkbarkeit von Menschenrechten ausloten, lässt sich ein solcher Kern- oder Wesensgehalt bestimmen, aus dem wiederum Mindestgewährleistungen konkretisiert werden können.215 Diese stehen für den Rest eines Rechts, der nach allen Einschränkungen noch übrig bleiben muss.216 In Deutschland fungiert Art. 19 Abs. 2 GG beispielsweise als eine Schranken-Schranke, bestimmt also die Grenze der Einschränkbarkeit.217 Gleichwohl ist die praktische Bedeutung der deutschen Wesensgehaltsgarantie aufgrund ihrer Unbestimmtheit insgesamt als gering einzustufen.218 Demgegenüber steht der Kernbereich von Grundrechten. Im deutschen Recht wird der Kernbereich in verschiedenen Funktionen herangezogen: Für die kollektive Betätigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG begründete er lange Zeit eine Verkürzung des Schutzbereichs und ist daher streng von der Wesensgehaltsgarantie zu unterscheiden.219 Bei anderen Grundrechten markiert der Kernbereich hingegen auch einen Bereich, der nicht weiter angetastet werden darf.220 Eine klare Abgrenzung zur 214

Vgl. die Beispiele bei v. Bernstorff, Der Staat 50 (2011), 165 (171 mit Fn. 24). v. Bernstorff, Der Staat 50 (2011), 165 (168). 216 v. Bernstorff, Der Staat 50 (2011), 165 (172), spricht von „einschränkungsfeste[n] Freiheitsbereiche[n]“. 217 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 19 Rn. 111. 218 Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 19 Rn. 107. Vgl insbesondere auch die von Huber zitierte Kritik aus der Literatur unter Rn. 109. 219 Siehe ausführlich Höfling, in: Sachs, Art. 9 Rn. 74 ff., insb. 85; Huber, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 19 Rn. 176. 220 Zu Art. 14 GG vgl. zum Beispiel BVerfG, Urt. v. Beschluss v. 22. 11. 1994 – 1 BvR 351/ 91, NJW 1995, 511 (512): „Die konkrete Reichweite des Schutzes der Eigentumsgarantie ergibt sich allerdings erst aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums, die nach Art. 14 I 2 GG Sache des Gesetzgebers ist. Das bedeutet aber nicht, daß er bei der Inhalts- und Schrankenbestimmung freie Hand hätte. Er muß die schutzwürdigen Interessen des Eigentümers und die Belange des Gemeinwohls zu einem gerechten Ausgleich und in ein ausgewogenes Verhältnis bringen. Der Kernbereich der Eigentumsgarantie darf dabei nicht ausgehöhlt werden.“; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 02. 03. 1999 – 1 BvL 7 – 91, NJW 1999, 2877 (2878); BVerfG, Beschluss v. 18. 01. 2001 – 1 BvR 1700/00, NJW 2001, 2960 (2961). Siehe 215

A. Explizite Bestimmung über den Kernbereich oder den Wesensgehalt

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Figur des Wesensgehalts ist hier nicht festzustellen. Die Bedeutung beider Figuren soll daher gesondert für die EMRK untersucht werden. Wenn der Gerichtshof die äußeren Grenzen der Koalitionsfreiheit in einer solchen Weise bestimmen und dazu bestimmte Elemente nennen würde, die zum Wesensgehalt oder dem Kernbereich der Koalitionsfreiheit gehörten, so würden diese Elemente als Mindestvorgaben eine Struktur kollektiver Systeme vorzeichnen.

II. Rolle in der Spruchpraxis des Gerichtshofs 1. Bei der EMRK im Allgemeinen Der Gerichtshof verwendet sowohl den Begriff des Wesensgehalts („essence“/ vereinzelt auch „substance“) als auch den des Kernbereichs („core“) von Rechten.221 Er folgt hier allerdings keinem klaren Muster. Die Begriffe werden teilweise als Synonyme verwendet. So heißt es beispielsweise in einem Sondervotum von Richter Georgios Serghides zu einem Urteil zu Art. 6 Abs. 1 EMRK: „An overarching disagreement I have with the majority is, lastly, what we consider to be the ,very essence‘, or very substance or core of the right to a fair trial, which of course needs protection.“222

Während der Wesensgehalt in einigen Urteilen die äußerste Grenze der Einschränkbarkeit auf der Rechtfertigungsebene markiert,223 wird er in anderen Fällen als Begründungsmuster für die Definition des Schutzbereichs einzelner Konventionsrechte herangezogen.224 Der Kernbereich wiederum wird mitunter als Faktor für die Bestimmung der Reichweite staatlicher Spielräume charakterisiert.225 Nicht nur die konkrete Funktion, sondern auch die Frage, welche Konventionsrechte einen schutzwürdigen Kernbereich oder Wesensgehalt aufweisen, wird unterschiedlich beantwortet. Manche Stimmen in der Literatur stellen einen Wesensauch BVerwG, Urt. v. 25. 10. 2018 – 4 C 9/17, NVwZ 2019, 882 (884): „[Der Kernbereich] markiert zudem eine absolute Grenze zumutbarer Nutzungseinschränkungen im Einzelfall.“ 221 Vgl. statt vieler EGMR, Urt. v. 17. 02. 2004 – 44158/98 (Gorzelik et al. ./. Polen), Rn. 105. 222 EGMR, Urt. v. 19. 09. 2007 – 35289/11 (Regner ./. Tschechien), Sondervotum Rn. 75 (Hervorhebung durch den Verfasser). So auch in EGMR, Urt. v. 17. 02. 2004 – 44158/98 (Gorzelik et al. ./. Polen), Rn. 105. Ebenso die Beobachtung bei van Drooghenbroeck/Rizcallah, German Law Journal 2019, 904 (922). 223 Siehe die Nachweise bei Marauhn/Merhof, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 7 Rn. 56; Brems, ZaöRV 1996, 240 (289 f.) und v. Bernstorff, Der Staat 50 (2011), 165 (171). 224 Nachweise wieder bei van Drooghenbroeck/Rizcallah, German Law Journal 2019, 904 (913 ff.). 225 Siehe hierzu die Nachweise bei van Drooghenbroeck/Rizcallah, German Law Journal 2019, 904 (920 f.). Ausführlich dazu sogleich unter S. 106.

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

gehaltsschutz nur bei absoluten Rechten fest,226 andere hingegen besonders bei schrankenlosen, aber nicht absoluten Menschenrechten wie dem Recht auf Eheschließung (Art. 12 EMRK), dem Recht auf Bildung (Art. 2 ZP-EMRK) und dem Recht auf freie Wahlen (Art. 3 ZP-EMRK).227 Eine einheitliche Handhabung der Begriffe Wesensgehalt und Kernbereich für die gesamte Konvention durch den Gerichtshof lässt sich im Ergebnis jedenfalls nicht feststellen.228 Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich daher auf die Rechtsprechung zur Koalitionsfreiheit. 2. Bei Art. 11 EMRK Van Drooghenbroeck und Rizcallah zeigen auf, dass die Begriffe auch bei Art. 11 EMRK sowohl für die Definition des Schutzbereichs als auch zur Bestimmung staatlicher Spielräume sowie der Grenzen der Einschränkbarkeit des Rechts verwendet werden.229 Während der Gerichtshof für die staatlichen Spielräume allerdings allein auf den Kernbereich („core“) abstellt,230 verwendet er für die Definition des Schutzbereichs („very substance“) und die Grenzen der Einschränkbarkeit („essence“) die Figur des Wesensgehalts.231 Die Rechtsprechung zu Art. 11 EMRK ist damit in Bezug auf den Kernbereich und den Wesensgehalt etwas ausdifferenzierter als bei anderen Konventionsrechten.

226

v. Bernstorff, Der Staat 50 (2011), 165 (175 f.). Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation, S. 172; Marauhn/Merhof, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 7 Rn. 56; Brems, ZaöRV 1996, 240 (289 f.). 228 van Drooghenbroeck/Rizcallah, German Law Journal 2019, 904 (922) kommen nach eingehender Beschäftigung mit dem Thema zu dem Schluss: „There is no doubt that this dispersion and versatility do not make the understanding of the concept clearer and its credibility is, as a result, heavily undermined. The notion of the ,essence/substance/core‘ of fundamental rights seems to be subject to an ,overwork‘ and some parsimony in the use of this concept by the ECHtR would be more than welcomed.“ v. Bernstorff, Der Staat 50 (2011), 165 (171) relativiert die Bedeutung des Wesensgehalts für das Beurteilung eines Falls: „Insgesamt wird in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte das Kerngehaltsargument in diesen Konstellationen häufig der streitentscheidenden Abwägung untergeordnet, so dass von einer eigenständigen entscheidungserheblichen Funktion des Kerngehaltsarguments nur in Ausnahmefällen gesprochen werden kann.“ Keine besondere Relevanz von Kernbereich und Wesensgehalt sehen auch Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation, S. 174 f.; Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 80 und Marauhn/ Merhof, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 7 Rn. 56. 229 van Drooghenbroeck/Rizcallah, German Law Journal 2019, 904 (922). 230 Siehe ausführlich sogleich unter S. 105. 231 Vgl. die zitierten Urteile bei van Drooghenbroeck/Rizcallah, German Law Journal 2019, 904 (909 ff. u. 913 ff.) sowie sogleich im folgenden Abschnitt. 227

A. Explizite Bestimmung über den Kernbereich oder den Wesensgehalt

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a) Definition des Schutzbereichs Anders als sein Vorbild – Art. 20 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte232 – nennt Art. 11 EMRK die negative individuelle Koalitionsfreiheit nicht ausdrücklich. Mit dem Recht auf Gewerkschaftsgründung und dem Recht auf den Gewerkschaftsbeitritt spricht die Norm lediglich die positive individuelle Koalitionsfreiheit an. Das erste Mal erwähnte der Gerichtshof die negative Seite von Art. 11 EMRK in Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich.233 Dort wurde drei Beschäftigten der Britischen Eisenbahn gekündigt, weil sie sich trotz einer Absperrklausel weigerten, einer der dort genannten Gewerkschaft beizutreten. Die beschwerte Regierung argumentierte unter Verweis auf Art. 20 Abs. 2 AEMR, dass das Recht, einer Vereinigung fernzubleiben, von Art. 11 EMRK nicht gewährleistet sei. Der Gerichtshof stellte in seiner Begründung auf den Wesensgehalt der Koalitionsfreiheit ab: „The situation facing the applicants clearly runs counter to the concept of freedom of association in its negative sense. Assuming that Article 11 does not guarantee the negative aspect of that freedom on the same footing as the positive aspect, compulsion to join a particular trade union may not always be contrary to the Convention. […] In the Court’s opinion, such a form of compulsion, in the circumstances of the case, strikes at the very substance of the freedom guaranteed by Article 11. For this reason alone, there has been an interference with that freedom as regards each of the three applicants.“234

Der EGMR sieht das Recht, einer Gewerkschaft fernzubleiben, nur dann als geschützt an, wenn der Zwang zum Beitritt ein bestimmtes Maß an Intensität erreicht.235 Der Randbereich der negativen Koalitionsfreiheit ist demnach nicht ge232

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. 12. 1948 verabschiedet. Art. 20 Abs. 2 AEMR lautet: „No one may be compelled to belong to an association.“ Zu der Orientierung an Art. 20 AEMR bei der Ausarbeitung von Art. 11 EMRK, vgl. die Travaux Préparatoires Art. 11 EMRK, S. 2 u. S. 11 zu den Gründen für die Abweichung von Art. 20 Abs. 2 AEMR, abrufbar unter: https://www.echr. coe.int/LibraryDocs/Travaux/ECHRTravaux-ART11-DH(56)16-EN1693924.PDF (letzter Zugriff am 23. 02. 2021), 233 EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich). 234 EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 55 (Hervorhebung durch den Verfasser). 235 Kritisch daher das (im Ergebnis übereinstimmende) Sondervotum der Richter Ganshof van der Meersch, Bindschedler-Robert, Liesch, Gölcüklü, Matscher, Pinheiro Farinha und Pettiti, siehe EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich), Sondervotum Nr. 1: „By confining itself strictly to what it calls the ,substance‘ of the right, the Court’s judgment leaves outside the protection of the Convention numerous situations entailed by legislation permitting the closed shop. In fact, as we understand Article 11 (Art. 11), the negative aspect of freedom of association is necessarily complementary to, a correlative of and inseparable from its positive aspect. Protection of freedom of association would be incomplete if it extended to no more than the positive aspect. It is one and the same right that is involved.“

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

schützt oder der Gerichtshof will dies nicht entscheiden, da jedenfalls im maßgeblichen Fall der Wesensgehalt betroffen war. Im Ergebnis führt dies dazu, dass bei der negativen Koalitionsfreiheit Wesensgehalt und Schutzbereich gleichzustellen sind. Dann hätte es aber der Begründung über die Figur des Wesensgehalts nicht bedurft, weil diese keinen besonders schützenswerten Bereich, sondern den gesamten geschützten Bereich ausmacht. Eine solche partielle Einengung des Schutzbereichs über den Wesensgehalt wirkte in der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch zum damaligen Zeitpunkt bereits wie ein Fremdkörper, wurde der Wesensgehalt doch ansonsten in einem anderen Zusammenhang angeführt.236 Diesen Ansatz für die negative individuelle Koalitionsfreiheit hat der Gerichtshof in weiteren Urteilen jedoch bestätigt: Auch dort wurde festgestellt, dass die negative individuelle Koalitionsfreiheit nur in Bezug auf den Wesensgehalt geschützt sei.237 Dieses Begründungsmuster wird in der Literatur allerdings als ein Sonderfall angesehen: Für andere Konventionsrechte oder auch für andere Sachverhalte habe der Gerichtshof bei der Bestimmung des materiellen Schutzbereichs nicht mehr auf den Wesensgehalt abgestellt.238 Auch für die Bestimmung der positiven individuellen Koalitionsfreiheit stellt er nicht auf das Argument mit dem Wesensgehalt ab. b) Grenzen der Einschränkbarkeit aa) Wesensgehalt als Mindestschutz? Entscheidend für den hier untersuchten Ansatz ist allerdings, ob der Wesensgehalt auch zur Bestimmung von Mindestanforderungen tauglich ist. Die Figur wird bei Art. 11 EMRK ebenfalls verwendet, um die Grenze der Einschränkbarkeit eines Rechts zu markieren (sog. limit on the limits).239 Den Kernbereich verwendet der Gerichtshof in diesem Zusammenhang nicht. Ein Beispiel hierfür ist in Matelly ./. 236 Vgl. hierzu das Sondervotum der Richter Sørensen, Vilhjálmsson und Lagergren zu EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich), Sondervotum Nr. 3 Rn. 5: „Reference to the ,substance‘ of freedom of association is not relevant in the present context. Although the Court has often relied on the notion of the substance of the rights guaranteed by the Convention, it has done so only when the question was what regulation or limitation of a right was justified. It has held that even in cases where regulation or limitations were allowed explicitly or by necessary implication, they could not go so far as to affect the very substance of the right concerned.“ 237 EGMR, Urt. v. 30. 06. 1993 – 16130/90 (Sigurður und Sigurjónsson ./. Island), Rn. 36; EGMR, Urt. v. 11. 01. 2006 – 52562/99, 52620/99 (Sørensen und Rasmussen ./. Dänemark), Rn. 59; EGMR, Urt. v. 02. 06. 2016 – 23646/09 (Geotech Kancev GmbH ./. Deutschland), Rn. 57. Ausführlich zur Entwicklung der negativen Koalitionsfreiheit Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 58 ff. 238 Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation, S. 173; van Drooghenbroeck/Rizcallah, German Law Journal 2019, 904 (914 f.), die lediglich in Bezug auf den Schutz des Eigentums (Art. 1 ZP-EMRK) ein ähnliches Vorgehen erkennen. 239 van Drooghenbroeck/Rizcallah, German Law Journal 2019, 904 (922).

A. Explizite Bestimmung über den Kernbereich oder den Wesensgehalt

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Frankreich zu finden. Dort wendete sich der Beschwerdeführer gegen eine französische Regelung, die es Angehörigen des Militärs generell verbietet, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten. Der Gerichtshof äußerte sich unter Verweis auf den Wesensgehalt wie folgt: „Si la liberté d’association des militaires peut faire l’objet de restrictions légitimes, l’interdiction pure et simple de constituer un syndicat ou d’y adhérer porte à l’essence même de cette liberté, une atteinte prohibée par la Convention.“240

Der Gerichtshof führt aus, dass rechtmäßige Einschränkungen der Vereinigungsfreiheit von Angehörigen des Militärs zwar grundsätzlich erlaubt seien, das in Frage stehende allgemeine Verbot der Gewerkschaftsgründung allerdings den Wesensgehalt von Art. 11 EMRK betreffe. Solche Beschränkungen seien durch die Konvention verboten. Der Wesensgehalt wird hier auf den ersten Blick als Bereich verstanden, der überhaupt nicht angetastet werden darf.241 Eingriffe sind demnach nicht zu rechtfertigen. Damit würde der Wesensgehalt einen konkreten Mindestschutz der Konvention festlegen. bb) Wesentliche Elemente als Ausformung des Wesensgehalts? Dies wirft die Frage auf, worin der Wesensgehalt von Art. 11 EMRK konkret zu sehen ist. Der EGMR verweist in Matelly ./. Frankreich zur Bestimmung des Wesensgehalts auf die wesentlichen Elemente, die in Demir und Baykara ./. Türkei genannt werden.242 Die zitierte Stelle aus Demir und Baykara ./. Türkei lautet: „As a result of the foregoing, the evolution of case-law as to the substance of the right of association enshrined in Article 11 is marked by two guiding principles: […] secondly, the Court does not accept restrictions that affect the essential elements of trade-union freedom, without which that freedom would become devoid of substance.“243

Anders als in Demir und Baykara ./. Türkei stellt der Gerichtshof in Matelly ./. Frankreich eine Verbindung her zwischen dem Wesensgehalt und den wesentlichen Elementen. In Demir und Baykara ./. Türkei stehen diese Begriffe nebeneinander und in vollkommen unterschiedlichen und voneinander getrennten Abschnitten des Urteils. Während der Wesensgehalt bei der Frage erwähnt wird, inwiefern Einschränkungen der Koalitionsfreiheit der in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK genannten Personengruppen erlaubt sind, werden die wesentlichen Elemente zur Bestimmung des

240

EGMR, Urt. v. 02. 10. 2014 – 10609/10 (Matelly ./. Frankreich), Rn. 75 (Hervorhebung durch den Verfasser). 241 So auch in EGMR, Urt. v. 02. 10. 2014 – 32191/09 (ADEFDROMIL ./. Frankreich), Rn. 60. 242 EGMR, Urt. v. 02. 10. 2014 – 10609/10 (Matelly ./. Frankreich), Rn. 58. 243 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 144 f.

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

sachlichen Schutzbereichs herangezogen.244 Eine Gleichstellung von wesentlichen Elementen und Wesensgehalt ist daher abzulehnen. Zwar betont der Gerichtshof in dem zitierten Ausschnitt aus Demir und Baykara ./. Türkei auch, dass er Beschränkungen dieser wesentlichen Elemente nicht akzeptieren werde. Das erweckt den Eindruck, als wären Eingriffe in die wesentlichen Elemente per se nicht rechtfertigbar.245 Die weitere Vorgehensweise des EGMR zeigt allerdings, dass diese Annahme nicht richtig ist. cc) Kein unantastbarer Bereich Sowohl in Matelly ./. Frankreich als auch in Demir und Baykara ./. Türkei nimmt der Gerichtshof eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bezüglich des jeweiligen Eingriffs vor.246 Eine solche würde sich erübrigen, verstünde der EGMR den Wesensgehalt oder die wesentlichen Elemente in der Weise, dass ein Eingriff von vorneherein nicht zu rechtfertigen ist. Auch in Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien ging es um das Verbot einer Gewerkschaftsgründung und somit nach den bisherigen Ausführungen einen Eingriff in den Wesensgehalt von Art. 11 EMRK.247 Dort wurde eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung angestellt und das Verbot sogar für rechtmäßig befunden.248 Wenn aber auch Eingriffe, die ein wie auch immer geartetes Wesen der Koalitionsfreiheit betreffen, auf ihre Verhältnismäßigkeit geprüft werden und unter Umständen auch gerechtfertigt sein können, dann ist der Begriff des Wesensgehalts als äußerste Grenze der Einschränkbarkeit unbrauchbar.249 Das Verbot, eine Gewerkschaft zu gründen, ist der wohl weitestgehende Eingriff in den Schutzbereich von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK, als hiermit der Bestand der Koalition betroffen ist. Schon der Wortlaut suggeriert, dass dieses Recht besonders geschützt ist. 244 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 97 und Rn. 144 f. In Rn. 119, auf die in Matelly ./. France ebenfalls verwiesen wird, findet sich keiner der beiden Begriffe. Zu den wesentlichen Elementen sogleich ausführlich unter S. 117. 245 In diese Richtung wohl Nußberger, die anmerkt, dass – würde man auch das Streikrecht als wesentliches Element anerkennen – wohl jede Form des Ausschlusses desselben unzulässig wäre, vgl. DRdA 2015, 408 (409). 246 EGMR, Urt. v. 02. 10. 2014 – 10609/10 (Matelly ./. Frankreich), Rn. 63 ff.; EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 159 ff. 247 EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013 – 2330/09 (Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien), Rn. 149. Genauer gesagt ging es um die Weigerung des Erzbischofs, die Gewerkschaft anzuerkennen. Dessen Erlaubnis war nach den Statuten der Rumänischen Orthodoxen Kirche allerdings Voraussetzung für eine Gewerkschaftsgründung von Priestern. Im Kern geht es dennoch um das Verbot einer Gewerkschaftsgründung, auch wenn graduelle Unterschiede zu Matelly ./. Frankreich bestehen. So auch die Formulierung bei Felten, Koalitionsfreiheit und Arbeitsverfassungsgesetz, S. 344. Ausführlich dazu Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 166 ff. 248 EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013 – 2330/09 (Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien), Rn. 159 – 173. 249 Diese Inhaltslosigkeit kritisieren auch van Drooghenbroeck/Rizcallah, German Law Journal 2019, 904 (911 ff.) unter anderem mit Verweis auf Matelly ./. Frankreich.

B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation

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dd) Zwischenergebnis Die Argumentation mit dem Wesensgehalt von Art. 11 EMRK steht im Ergebnis vor demselben Problem, das bereits für die Wesensgehaltsgarantie des Grundgesetzes250 ausgemacht wurde: Sie ist nicht praktikabel, um konkrete Grenzen von Rechten auszumachen. Der Gerichtshof nimmt selbst dann eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor, wenn er eine Betroffenheit des Wesensgehalts feststellt. Eine absolute Grenze bestimmt der Wesensgehalt damit nicht. Generell darf die Rechtsprechung des EGMR zum Wesensgehalt damit nicht dahingehend missverstanden werden, dass von ihr konkrete Ergebnisse im Sinne von Mindestanforderungen zu erwarten seien: Vielmehr ist sie ein rhetorisches Mittel, um einzelnen Kriterien in der Abwägung mehr Gewicht zu verschaffen.251 Der Wesensgehalt ist insofern ein Kryptoargument, als er lediglich ein Platzhalter für andere Argumente ist, die nicht ausdrücklich genannt werden.252

III. Zwischenergebnis Die Rechtsprechung zum Kernbereich und zum Wesensgehalt von Art. 11 EMRK eröffnet keinen absolut unantastbaren Bereich im Sinne von Mindestanforderungen. Der Kernbereich ist bei Art. 11 EMRK ausschließlich für die Bestimmung staatlicher Spielräume von Belang. In Bezug auf den Wesensgehalt spricht der Gerichtshof zwar davon, dass dieser nicht angetastet werden dürfe. Gleichwohl nimmt er eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor, wenn der Wesensgehalt betroffen ist. Die Argumentation mit dem Wesensgehalt ist damit inhaltsleer und nicht praktikabel. Weder der Kernbereich noch der Wesensgehalt eröffnen demnach in der Rechtsprechung des EGMR einen positiv bestimmbaren Mindestschutz von Art. 11 EMRK. Eine Entwicklung von Strukturmerkmalen über den Wesensgehalt ist im Ergebnis nicht möglich.

B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation I. Ansatz in der Literatur Eine explizite Bestimmung von Strukturmerkmalen über den Wesensgehalt kann aus den soeben angeführten Gründen nicht gelingen. In der Literatur wird allerdings vor allem die implizite Bestimmung von Vorgaben des Gerichtshofs diskutiert. 250

Dazu oben unter S. 68. v. Bernstorff, Der Staat 50 (2011), 165 (171). 252 Ausführlich zur beliebigen Anwendbarkeit des Wesensarguments siehe Scheuerle, AcP 163 (1963), 429 (469 f.). 251

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

Dahinter steht der Gedanke, Mindestanforderungen invers oder negativ über die sogenannte margin of appreciation zu bestimmen. Paul Mahoney stellt dem nationalen Freiraum, den jeder Staat für unterschiedliche Gestaltungen nutzen kann, die Anforderungen gegenüber, die alle Konventionsstaaten auf die gleiche Weise zu erfüllen haben.253 Die margin of appreciation grenze diese Bereiche voneinander ab.254 Vorgaben der Konvention liegen als absolute Mindestanforderungen unter dieser Grenze. Michael R. Hutchinson modifiziert diesen Ansatz: Er begreift die margin of appreciation nicht als eine starre Trennlinie zu den Mindestanforderungen, sondern als einen Bereich der Konventionskonformität, der von vielen Faktoren abhängig und damit flexibel ist.255 Der von der margin of appreciation eröffnete Bereich umfasst die zulässigen Gestaltungen, während die Mindestanforderungen der EMRK außerhalb dieses Bereichs liegen.256 Auch die Mindestanforderungen sind von Staat zu Staat unterschiedlich und hängen vom Umfang der margin of appreciation ab.257 Wie Mahoney greift Hutchinson damit für die Bestimmung der Vorgaben auf die margin of appreciation zurück. Beide Ansichten führen im Ergebnis dazu, dass erst der Spielraum bestimmt werden muss, bevor anhand dessen konkrete Vorgaben entwickelt werden können. Im Folgenden wird daher Rolle der margin of appreciation in der Spruchpraxis des Gerichtshofs ausführlich untersucht. Der Fokus liegt dabei auf der Bestimmung der Reichweite der margin of appreciation bei der Koalitionsfreiheit nach Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK.

II. Rolle in der Spruchpraxis des Gerichtshofs 1. Begriff Der Gerichtshof eröffnet den Vertragsstaaten Spielräume hauptsächlich über die Figur der margin of appreciation.258 Der Begriff wird in der deutschen Literatur

253 Mahoney, in: FS Jaeger, 147 (156); Mahoney, Human Rights Law Journal 1998, 1 (3); Mahoney, Human Rights Law Review 1997, 364 (369). 254 Mahoney, in: FS Jaeger, 147 (156). 255 Hutchinson, International and Comparative Law Quarterly 48 (1999), 638 (644): „area of compliance“. 256 Hutchinson, International and Comparative Law Quarterly 48 (1999), 638 (644). 257 Hutchinson, International and Comparative Law Quarterly 48 (1999), 638 (644). 258 Grundlegend zur margin of appreciation siehe Arai-Takahashi, The margin of appreciation doctrine, S. 1 ff.; Legg, Margin of Appreciation, S. 15 ff.; Letsas, Oxford Journal of Legal Studies, Vol. 26, No. 4 (2006), 705 ff.; Macdonald, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 83 ff.; Mahoney, Human Rights Law Journal 1998, 1 ff. Siehe auch die deutschen Beiträge in jüngerer Zeit: Asche, Margin of Appreciation, S. 13 ff.; Gorzoni, Margin of Appreciation, S. 25 ff.

B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation

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unterschiedlich übersetzt: Überwiegend ist von einem Beurteilungsspielraum259 die Rede, es finden sich jedoch auch die Übersetzungen Ermessensspielraum260, Einschätzungsspielraum261, Gestaltungsspielraum262 oder auch generell Entscheidungsfreiraum263. In dieser Arbeit wird der englische Begriff verwendet, um nicht falsche Assoziationen zu den im deutschen Recht gebräuchlichen Termini herzustellen.264 2. Entstehung Erstmals erwähnt wird die margin of appreciation von der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR)265. In der Staatenbeschwerde Griechenland ./. Vereinigtes Königreich266 gestand sie dem Vereinigten Königreich bezüglich der Frage, ob bestimmte Maßnahmen im Notstandsfall notwendig seien, einen solchen Spielraum zu. Der EGMR gewährte dem beschwerten Staat in De Wilde, Ooms und Versyp ./. Belgien267 zum ersten Mal eine gewisse Entscheidungsfreiheit („power of appreciation“): Diese sei hinsichtlich der Frage, ob eine Kontrolle der Korrespondenz von in einer Wohlfahrtseinrichtung untergebrachten Landstreichern notwendig sei, vom Staat nicht überschritten worden. Zu der Koalitionsfreiheit führte der Gerichtshof in National Union of Belgian Police ./. Belgien268 aus, dass jeder Staat die freie Wahl („free choice of the means“) habe, wie er das Recht einer Gewerkschaft, gehört zu werden, schützt. In der Folge weitete der Gerichtshof seine Rechtsprechung zur margin of appreciation auf weitere Konventionsnormen aus.269

259 So z. B. bei Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Einleitung Rn. 60; EUArbRK/C. Schubert, Art. 1 Rn. 19; Marauhn/Merhof, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 7 Rn. 58; Grabenwarter, EuGRZ 2011, 229 (230); Pellonpää, EuGRZ 2006, 483 (483). 260 HK-EMRK/Meyer-Ladewig/Nettesheim, Einleitung Rn. 27; Nußberger, DRdA 2015, 408 (411). 261 Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, Kap. 3 Rn. 18. 262 Bernhardt, in: FS Mosler, S. 75 (82). 263 Rubel, Entscheidungsfreiräume, S. 26. 264 Diese Gefahr erkennt auch Asche, Margin of Appreciation, S. 2 (Fn. 3). 265 Die EKMR war bis zum 01. 11. 1998 bei Individualbeschwerden dem EGMR vorgeschaltet, sodass viele Fälle gar nicht erst zum EGMR gelangten, siehe Mayer, in: Karpenstein/ Mayer, Einleitung Rn. 22 f. 266 EKMR, Bericht v. 26. 09. 1958 – 176/56 (Griechenland ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 318. 267 EGMR, Urt. v. 18. 06. 1971 – 2832/66 u. a. (De Wilde, Ooms und Versyp ./. Belgien), Rn. 45. 268 EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Rn. 39. 269 Ausführlich zu dieser Entwicklung Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation, S. 28 ff.; Arai-Takahashi, The margin of appreciation doctrine, S. 5 ff. und Asche, Margin of Appreciation, S. 23 ff.

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

3. Funktion Der ehemalige Richter des EGMR, Ronald St. John Macdonald, bezeichnete die margin of appreciation bildhaft, aber wenig aussagekräftig als „Schmiermittel“, das es dem Gerichtshof ermöglicht, flexibel auf Streitigkeiten mit den Staaten über die Reichweite ihrer Autorität zu reagieren.270 Versuche, die Funktion der Figur näher zu umschreiben, führen dazu, dass die tatsächliche Anwendung durch den Gerichtshof nicht mehr zutreffend abgebildet wird.271 Einigkeit besteht nur hinsichtlich des groben Umrisses: Danach dient die margin of appreciation im Wesentlichen dazu, im konkreten Fall eine Grenze zwischen der Entscheidungskompetenz des Vertragsstaats und der des Gerichtshofs zu ziehen.272 Sie ist Ausdruck einer judicial deference, die als richterliche Zurückhaltung oder Beschränkung gegenüber den nationalen Akteuren verstanden werden kann.273 Dadurch entstehen Entscheidungsfreiräume für die Mitgliedstaaten, die von diesen für unterschiedliche gesetzgeberische Gestaltungen, Verwaltungs- und Rechtsprechungspraktiken genutzt werden können.274 Mithin schafft die margin of appreciation im Rahmen des Menschenrechtsschutzes einen Bereich, in dem die 270

Macdonald, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 83 (122 f.). Es soll hierbei nicht verschwiegen werden, dass tiefergehende Untersuchungen in der Literatur spezifische Erscheinungsformen und unterschiedliche Elemente der margin of appreciation erkennen. Klatt, ZaöRV 2011, 691 (715) und Gorzoni, Margin of Appreciation, S. 234 ff., beobachten auf der Prinzipientheorie von Alexy, VVDStRL 61 (2002), S. 7 (16), aufbauend auch in der Rechtsprechung des EGMR strukturelle und epistemische Spielräume. Im Wege einer induktiven Vorgehensweise gelangen Letsas, Oxford Journal of Legal Studies, Vol. 26, No. 4 (2006), 705 (706) und Arnardóttir, European Constitutional Law Review 12 (2016), 27 (37) zu der Erkenntnis, dass der Gerichtshof systemische („structural“ bzw. „systemic“) und materielle („substantive“ bzw. „normative“) Spielräume eröffnet. Eine umfassende Auseinandersetzung mit diesen Modellen wird in dieser Arbeit jedoch unterbleiben. Zum einen kann sie nicht an die Ausführlichkeit der zitierten Quellen heranreichen, zum anderen ist der Erkenntnismehrwert für das hier behandelte Thema gering. Die vorgestellten Modelle sind theoretische Begründungsansätze, die in der Spruchpraxis des EGMR nur selten in Reinform auftreten. Vielmehr kommt es häufig zu Überschneidungen und Verschränkungen, vgl. Arnardóttir, European Constitutional Law Review 12 (2016), 27 (53); Gorzoni, Margin of Appreciation, S. 237. Die verschiedenen Herangehensweisen, mit denen die margin of appreciation näher durchleuchtet wird, sorgen für ein umfassenderes Verständnis der Figur, ändern aber nichts an ihrer generellen Rolle in der Rechtsprechung des Gerichtshofs und den Auswirkungen auf die Vorgaben der EMRK. Auf diese Punkte wird daher im Folgenden der Fokus der Arbeit gelegt. 272 Petzold, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 41 (59); Arai-Takahashi, The margin of appreciation doctrine, S. 2; Asche, Margin of Appreciation, S. 2; Brems, ZaöRV 1996, 240; Gorzoni, Margin of Appreciation, S. 27 f.; Greer, Margin of Appreciation, S. 5; Hutchinson, International and Comparative Law Quarterly 48 (1999), 638 (640); Legg, Margin of Appreciation, S. 1; Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation, S. 237. 273 Asche, Margin of Appreciation, S. 2. Zum Grundsatz des judicial self-restraint durch das Bundesverfassungsgericht vgl. BVerfG, Urt. v. 31. 07. 1973 – 2 BvF 1/73, NJW 1973, 1539 (1540). Kritisch dazu Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 93 GG Rn. 36. 274 Rubel, Entscheidungsfreiräume, S. 26. 271

B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation

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kulturellen, sozialen, politischen und auch rechtlichen Besonderheiten der Staaten berücksichtigt werden und zieht zugleich eine Linie zu den wesentlichen menschenrechtlichen Überzeugungen, die für alle Mitgliedstaaten gelten müssen.275 Rechtlich umgesetzt wird das, indem der Gerichtshof seine Kontrolldichte bei eröffneten Spielräumen zurücknimmt und insbesondere darauf verzichtet, seine gesellschaftspolitische Wertung an die Stelle der demokratisch legitimierten Wertungen der nationalen Gesetzgeber zu setzen.276 Grosso modo bewältigt die margin of appreciation demzufolge Spannungen im europäischen Menschenrechtsschutz von EMRK oder Gerichtshof auf der einen und Mitgliedstaaten oder nationalen Akteuren auf der anderen Seite. 4. Begründung Die EMRK nennt die Figur der margin of appreciation nicht ausdrücklich. Zur Begründung verfolgt die Literatur viele Ansätze, wobei teilweise nicht genau zwischen der abstrakten Herleitung und den Gründen für eine Gewährung im konkreten Fall unterschieden wird.277 Mitunter wurde die margin of appreciation pragmatisch damit gerechtfertigt, dass sie ein nützliches Werkzeug sei, den Gehorsam der Vertragsstaaten gegenüber der Konvention aufrechtzuerhalten.278 Bereits in Handyside ./. Vereinigtes Königreich stellte der Gerichtshof indes auf den subsidiären Charakter der EMRK ab: „The Court points out that the machinery of protection established by the Convention is subsidiary to the national systems safeguarding human rights. The Convention leaves to each Contracting State, in the first place, the task of securing the rights and liberties it enshrines. […] Consequently, Article 10 para. 2 leaves to the Contracting States a margin of appreciation.“279

Mittlerweile gilt es auch in der Literatur als gefestigt, dass die margin of appreciation ihren Ursprung und ihre Berechtigung in dem der Konvention innewohnenden Subsidiaritätsprinzip hat.280 Dieses Prinzip kommt beispielsweise in den 275

Mahoney, in: FS Jaeger, S. 147 (156). Marauhn/Merhof, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 7 Rn. 58, sprechen insoweit von einer vertikalen Gewaltenteilung. Bei der Frage nach den konkreten Auswirkungen der Gewährung einer margin of appreciation auf die Prüfung durch den Gerichtshof findet der Konsens bereits wieder sein Ende, vgl. hierzu exemplarisch Legg, Margin of Appreciation, S. 192 ff.; Asche, Margin of Appreciation, S. 64 ff., insb. S. 68; Kühling, in: v. Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 657 (695 ff.). 277 So z. B. Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation, S. 220 u. a. 278 Macdonald, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 83 (123 f.), der diese Herangehensweise jedoch gleichermaßen kritisiert. 279 EGMR, Urt. v. 07. 12. 1976 – 5493/72 (Handyside ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 48. 280 Wildhaber, EuGRZ 2005, 689; EUArbRK/C. Schubert, Art. 1 EMRK Rn. 22; Spano, Human Rights Law Review 2018, 473 (476); Gerards, European Law Journal 2011, 80 (104); Petzold, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 41 (59): „stems directly from the principle of subsidiarity as it applies within the Convention system.“ 276

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

Art. 1, Art. 13 und vor allem Art. 35 EMRK („nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe“) zum Vorschein.281 Der Gerichtshof begründet auch in seiner neueren Rechtsprechung die margin of appreciation weiter mit der Subsidiarität der Konvention: „The Court next draws attention to the fundamentally subsidiary role of the Convention system. The Contracting Parties, in accordance with the principle of subsidiarity, have the primary responsibility to secure the rights and freedoms defined in the Convention and the Protocols thereto, and in doing so they enjoy a margin of appreciation, subject to the supervisory jurisdiction of the Court.“282

Mit dem 15. Zusatzprotokoll zur EMRK vom 24. Juni 2013283 soll diese gefestigte Rechtsprechung auch endgültig in der Konvention festgeschrieben werden. Gemäß Art. 1 des Protokolls wird am Ende der Präambel ein neuer Beweggrund mit folgendem Wortlaut angefügt werden: „Affirming that the High Contracting Parties, in accordance with the principle of subsidiarity, have the primary responsibility to secure the rights and freedoms defined in this Convention and the Protocols thereto, and that in doing so they enjoy a margin of appreciation, subject to the supervisory jurisdiction of the European Court of Human Rights established by this Convention“.284

Das Protokoll wurde bisher von allen 47 Mitgliedstaaten unterzeichnet, zur endgültigen Umsetzung bedarf es allein noch der Ratifikation durch Italien.285 5. Neuere Entwicklung a) Betonung der Subsidiarität durch die Mitgliedstaaten Dass das Subsidiaritätsprinzip und die margin of appreciation als dessen funktionales Instrument durch das 15. Zusatzprotokoll zur EMRK aufgewertet werden, steht exemplarisch für eine allgemein zu beobachtende Entwicklung. Bereits in der Interlaken Declaration vom 19. Februar 2010 forderte das Ministerkomitee – gemäß 281 Mowbray, Human Rights Law Review 2015, 313 (319 f.); HK-EMRK/Meyer-Ladewig/ Nettesheim, Einleitung Rn. 28; Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Einleitung Rn. 54. 282 EGMR, Urt. v. 04. 04. 2018 – 56402/12 (Correia de Matos ./. Portugal), Rn. 116 (Hervorhebung durch den Verfasser). 283 Protokoll Nr. 15 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 24. 06. 2013, CETS No. 213. 284 In der Begründung zu Art. 1 heißt es: „This reflects that the Convention system is subsidiary to the safeguarding of human rights at national level and that national authorities are in principle better placed than an international court to evaluate local needs and conditions“, siehe Council of Europe, Explanatory Report to Protocol No. 15 amending the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, S. 2. 285 Vgl. Council of Europe, Chart of signatures and ratifications of Treaty 213, abrufbar unter: https://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/213/signatures?p_ auth=OZMDle3O (letzter Zugriff am 23. 02. 2021).

B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation

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Art. 13 der Satzung des Europarats dessen Handlungsorgan – eine stärkere Betonung des Subsidiaritätsprinzips.286 In der Brighton Declaration vom 20. April 2012 wurde die Forderung wiederholt und mit der Aufforderung verbunden, dies schriftlich in der Präambel zu fixieren.287 Der Versuch der Mitgliedstaaten, den EGMR auf der politischen Ebene zu beeinflussen, ihnen größeren Freiraum zu belassen, ist offensichtlich. Es darf aber nicht verkannt werden, dass die Konvention ein Vertrag ist, der jederzeit von den Parteien geändert werden kann. Die Regeln, nach denen der Gerichtshof zu spielen hat, legen die Vertragsstaaten fest. b) Betonung der Subsidiarität durch den Gerichtshof Der Bedeutungszuwachs von Subsidiarität und margin of appreciation ist allerdings nicht allein die Folge nationaler Bestrebungen. Auch der Gerichtshof hat ein Interesse daran, die Mitgliedstaaten stärker einzubinden. Dies ist gewissermaßen dem Erfolg der Konvention geschuldet: Zu Beginn fristeten sowohl die Konvention als auch der Gerichtshof noch ein Schattendasein.288 Gegen Ende der 1970er-Jahre entwickelte der EGMR dann Interpretationsmethoden und Prinzipien der EMRK, die auch heute noch von grundsätzlicher Bedeutung sind.289 In der Folge kam es zu einer inhaltlichen Konkretisierung der einzelnen Rechte und Freiheiten der Konvention durch den Gerichtshof und die damals noch vorgeschaltete Kommission, die so den Vertragsstaaten zugänglich gemacht wurden.290 Während der Gerichtshof zu Beginn noch vor der Aufgabe stand, die Konvention mit Leben zu füllen, hat sich dies mit der Etablierung der EMRK geändert. Unter der Last von 64.100 anhängigen Beschwerden (Stand 31. Januar 2021)291 spielt nicht mehr die inhaltliche Einbettung der Konvention eine tragende Rolle, sondern ist vielmehr ein effektives Prüfverfahren gefordert, ob ein konkreter Sachverhalt von

286 Ministerkomitee, Interlaken Declaration v. 19. 02. 2010, Zielsetzung (2), abrufbar unter: https://www.echr.coe.int/Documents/2010_Interlaken_FinalDeclaration_ENG.pdf (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). 287 Ministerkomitee, Brighton Declaration v. 20. 04. 2012, Punkt 12, abrufbar unter: https:// www.echr.coe.int/Documents/2012_Brighton_FinalDeclaration_ENG.pdf (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). Punkt 11 der Declaration wurde dann auch wortgleich im 15. Zusatzprotokoll übernommen. 288 Vgl. Bates, The Evolution of the ECHR, S. 256 ff. Jochen Frowein prägte hierfür das Bild der Konvention als „sleeping beauty“, siehe Frowein, Michigan Journal of Law Reform 1984, 5 (8). 289 Bates, The Evolution of the ECHR, S. 356 ff.; Nußberger, JZ 2019, 421 (423 f.) nennt die „living-instrument-Doktrin“, den Zugriff auf die Gesetzgebung im Zivilrecht, aber auch die „margin-of-appreciation-Doktrin“ selbst. 290 Spano, Human Rights Law Review 2018, 473 (475 ff.): „substantive embedding phase“. 291 EGMR, Pending applications allocated to a judicial formation, abrufbar unter: https:// www.echr.coe.int/Documents/Stats_pending_month_2021_BIL.PDF (letzter Zugriff am 23. 02. 2021).

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

den nationalen Akteuren in Einklang mit der Konvention bewertet wurde.292 Róbert Ragnar Spanó, der aktuelle Präsident des EGMR, bezeichnet die heutige Phase daher als „age of subsidiarity“293 oder als „procedural embedding phase“294. In der Praxis hat dies zur Folge, dass der Gerichtshof seine Prüfung zunehmend darauf beschränkt, ob der jeweilige beschwerdegegnerische Staat die einschlägige Rechtsprechung des EGMR hinreichend berücksichtigt hat und infolgedessen auf eine eigene inhaltliche Prüfung des Falls verzichtet.295 Dabei verwendet der Gerichtshof die folgende oder ähnliche Formulierungen: „In exercising its supervisory function it is not the Court’s task to take the place of the national authorities, but rather to review under Article 10, in the light of the case as a whole, the decisions they have taken pursuant to their power of appreciation, particularly whether they based their decisions on an acceptable assessment of the relevant facts and whether the interference corresponded to a ,pressing social need‘ and was ,proportionate to the legitimate aim pursued‘. […] Where the balancing exercise has been undertaken by the national authorities in conformity with the criteria laid down in the Court’s case-law, the Court would require strong reasons to substitute its view for that of the domestic courts.“296

In einer Reihe von Fällen bedeutet dies, dass der Gerichtshof lediglich eine Willkürkontrolle hinsichtlich der nationalen Maßnahmen vornimmt.297 Selbst Richter des EGMR stellen in Anbetracht dieser Vorgehensweise fest, dass bereits die Anerkennung eines weiten Spielraums in aller Regel dazu führen wird, dass der Gerichtshof keine Verletzung des in Frage stehenden Konventionsrechts erkennen wird.298

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Dazu ausführlich Spano, Human Rights Law Review 2018, 473 (480 f.): „procedural embedding phase“; v. Bogdandy/Hering, JZ 2020, 53 (61); Rui, Nordic Journal of Human Rights 2013, 28 (50 f.); Arnardóttir, ESIL Conference Paper No. 4/2015, 1 (12); Fornasier, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rn. 36. Ähnlich bereits Petzold, in: Macdonald/ Matscher/Petzold, S. 41 (49). Nußberger, DRdA 2015, 408 (412) beobachtet generell eine Prozeduralisierung der Konventionsrechte in der Rechtsprechung des EGMR. 293 Spano, Human Rights Law Review 2014, 487 (491). 294 Spano, Human Rights Law Review 2018, 473 (475). 295 Arnardóttir, ESIL Conference Paper No. 4/2015, 1 (12); v. Bogdandy/Hering, JZ 2020, 53 (61). 296 EGMR, Urt. v. 25. 10. 2018 – 38450/12 (E.S. ./. Österreich), Rn. 49 (Hervorhebung durch den Verfasser). 297 „The margin of appreciation available to the legislature in implementing social and economic policies should be a wide one: the Court has on many occasions declared that it will respect the legislature’s judgment as to what is in the ,public‘ or ,general‘ interest unless that judgment is manifestly without reasonable foundation“, vgl. EGMR, Urt. v. 06. 11. 2017 – 43494/09 (Garib ./. Niederlande), Rn. 137 mit weiteren Fundstellen. 298 So die abweichende Meinung von Richter Giorgio Malinverni im Urteil der Großen Kammer, EGMR, Urt. v. 18. 03. 2011 – 30814/06 (Lautsi et al. ./. Italien), Rn. 1, der auch Richterin Zdravka Kalaydjieva gefolgt ist: „Where the Court decrees that the margin of appreciation is a narrow one, it will generally find a violation of the Convention; where it considers that the margin of appreciation is wide, the respondent State will usually be acquitted.“

B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation

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c) Statistische Messbarkeit Diese Entwicklung lässt sich auch in Zahlen ausdrücken. Die absolute Zahl an (Kammer-)Urteilen, in denen das Subsidiaritätsprinzip angesprochen wurde, stieg nach der Interlaken Declaration von sieben Urteilen mit Erwähnung pro Jahr im Zeitraum von 1999 bis 2009 auf 19,8 Urteilen mit Erwähnung pro Jahr im Zeitraum von 2010 bis Juni 2014 an.299 Aufgrund der unterschiedlichen Anzahl an Urteilen pro Jahr ist ein Wert pro Jahr anstatt zum Beispiel pro 100 Urteile möglicherweise der falsche Indikator. Jedenfalls im Jahr 2009 (1625 Urteile) war die Zahl der Gesamturteile jedoch noch höher als 2010 (1499 Urteile) oder 2013 (916 Urteile).300 Die Zahl der Erwähnungen des Subsidiaritätsprinzips pro Jahr ist also ansteigend, wohingegen die Zahl an Urteilen pro Jahr – zumindest nach 2010 – rückläufig ist. Eine Tendenz ist also erkennbar. Die Zahl der Erwähnungen der margin of appreciation und insbesondere einer weiten margin of appreciation stieg in den Jahren nach der Interlaken Declaration um das Vierfache an.301 Interessant sind die praktischen Auswirkungen dieser Entwicklung. Die Statistiken lassen den Schluss zu, dass die Erfolgsrate der Staaten in Verfahren, in denen das Subsidiaritätsprinzip oder eine margin of appreciation verwendet wird, signifikant steigt, wenn der betroffene Staat über ein starkes rechtsstaatliches und demokratisches System verfügt.302 Dies ist nachvollziehbar, entspricht es doch gerade dem Subsidiaritätsgedanken, dass die untergeordnete Einheit das Problem nur dann lösen soll, wenn es auch dazu in der Lage ist. Ist dies der Fall, so hält sich der Gerichtshof offenbar mit Verurteilungen der Mitgliedstaaten zurück. Staaten, deren Systeme einen defizitären Schutz vor Menschenrechtsverletzungen bieten, hilft dagegen auch die Berufung auf das Prinzip der Subsidiarität nicht. Das ursprüngliche Ziel der Konvention, einen kollektiven Pakt gegen den Totalitarismus zu bilden,303 gewinnt hier wieder an Bedeutung.

299

Mowbray, Human Rights Law Review 2015, 313 (337 f.). Vgl. EGMR, Analysis of statistics 2009, S. 5, abrufbar unter: https://www.echr.coe.int/ Documents/Stats_analysis_2009_ENG.pdf; EGMR, Analysis of statistics 2010, S. 4, abrufbar unter: https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_analysis_2010_ENG.pdf; EGMR, Analysis of statistics 2013, S. 4, abrufbar unter: https://www.echr.coe.int/Documents/Stats_analysis_2013_ ENG.pdf (letzter Zugriff jeweils am 23. 02. 2021). 301 Madsen, Journal of International Dispute Settlement 2018, 199 (210 ff.): Von 25 margin of appreciation-Erwähnungen pro einer Million Wörter im Jahr 2009 auf 100 Erwähnungen im Jahr 2015. Die Zahl von Urteilen mit Erwähnungen des Subsidiaritätsprinzips ist nach dieser Auswertung dagegen prozentual recht beständig auf niedrigem Niveau. 302 Madsen, Journal of International Dispute Settlement 2018, 199 (219), der eine plakative, aber nachvollziehbare Aufteilung in alte und neue Mitgliedstaaten oder Westen und Osten vornimmt. 303 Bates, The Evolution of the ECHR, 75. 300

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

d) Zwischenergebnis Die margin of appreciation ist eine Figur des EGMR, um seine Kontrolldichte zurückzunehmen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Bedeutung sowohl auf politischen Druck der Mitgliedstaaten hin als auch durch die Arbeitslast des Gerichtshofs bedingt zunimmt. Vor allem Staaten, die keine systemischen Defizite im Menschenrechtsschutz aufweisen, können sich erfolgreich auf das Bestehen staatlicher Spielräume berufen. Der Gerichtshof benötigt dann gewichtige Gründe, um sich über das Ergebnis des Mitgliedstaats hinwegzusetzen.

III. Anwendung bei Art. 11 EMRK 1. Allgemeine Anwendungsfelder a) Verhältnismäßigkeitsprüfung Die Einschränkungsklauseln in den Art. 8–11 EMRK bilden den Hauptanwendungsfall der margin of appreciation.304 Art. 11 Abs. 2 EMRK lautet: „Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Dieser Artikel steht rechtmäßigen Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte für Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung nicht entgegen.“

Die Formulierung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“, die sich in allen Einschränkungsklauseln findet, sieht der Gerichtshof als Anknüpfungspunkt für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung.305 Er erkennt Spielräume dabei auf den Ebenen der Zwecksetzung, der Mittelauswahl und der Abwägung an.306 Nichtsdestotrotz erfolgt die Prüfung der Verhältnismäßigkeit meist nicht konsequent unter Ausformulierung dieser einzelnen Schritte, vielmehr fasst der EGMR in einem Großteil der Fälle alle relevanten Punkte unter einer Einzelfallabwägung, dem sog. fair-balancing zusammen.307 Die margin of appreciation gibt ihm hierbei die Möglichkeit, seine Kontrolldichte bezüglich der Einzelfallabwägung im konkreten Fall zu variieren.308 Der Gerichtshof wendet die Figur damit überall dort an, wo das 304

(243). 305

Arai-Takahashi, The margin of appreciation doctrine, S. 9; Brems, ZaöRV 1996, 240

Nußberger, NVwZ-Beilage 2013, 36 (41); Marauhn/Merhof, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 7 Rn. 43; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rn. 14 ff. 306 Vgl. Klatt, ZaöRV 2011, 691 (715 ff.). 307 Ausführlich dazu Asche, Margin of Appreciation, S. 60 f. mit weiteren Nachweisen. Nußberger, NVwZ-Beilage 2013, 36 (41) spricht von einem „holistischen Ansatz“. 308 Siehe bereits oben unter S. 78.

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Konventionsrecht eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorsieht oder generell Abwägungen vorgenommen werden.309 b) Kein Ausschluss bei Eingriffen Des Weiteren gesteht der Gerichtshof den Staaten einen Spielraum bei der Subsumtion eines Sachverhalts unter unbestimmte Rechtsbegriffe oder aber bei der Prüfung, ob der Staat seinen Gewährleistungspflichten nachgekommen ist, zu.310 Diese Anwendungsfelder werden sich in der Regel überschneiden. Für die Gewährung einer margin of appreciation macht es daher keinen Unterschied, ob es sich um einen Eingriff oder eine Ausgestaltung handelt. Zum einen findet diese Unterscheidung in der Spruchpraxis des Gerichtshofs keine Anwendung: So erkennt der Gerichtshof in einer Vielzahl von Urteilen, dass ein Eingriff (in Abgrenzung zur Verletzung einer Gewährleistungspflicht) vorliege, gesteht dem beschwerten Staat aber auf der Ebene der Rechtfertigung einen besonderen (Ausgestaltungs-)Spielraum zu.311 Außerdem verspricht eine solche Differenzierung keinen Mehrwert, müssen doch sowohl Eingriff als auch Ausgestaltung im Ergebnis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten.312 Gerade für die EMRK ergeben sich aufgrund der weitgehenden Gleichsetzung von positiven und negativen Pflichten durch den EGMR313 keine strukturellen Unterschiede von Eingriff und Ausgestaltung.314 2. Reichweite der margin of appreciation im Allgemeinen a) Einflussfaktoren Die Liste der Faktoren, mit denen der Gerichtshof die Reichweite der konkreten margin of appreciation bestimmt aber auch beschränkt, ist lang. Die Literatur beobachtet folgende:

309 Vgl. ausführlich zu den einzelnen Konventionsrechten Arai-Takahashi, The margin of appreciation doctrine, S. 19 ff. sowie Brems, ZaöRV 1996, 240 (243 ff.). 310 Schokkenbroek, Human Rights Law Journal 1998, 30 (32). Zu den sog. „positive obligations“ siehe sogleich unter S. 97. 311 Siehe statt vieler EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 78 („constitutes an interference“) und Rn. 86 („It is not to be understood as narrowing decisively and definitively the domestic authorities’ margin of appreciation in relation to regulating, through normal democratic processes, the exercise of trade-union freedom within the social and economic framework of the country concerned.“). 312 Prägnant zum deutschen Recht Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 145, welche die Differenzierung daher als „akademisch“ bezeichnen. 313 Siehe zu den graduellen Unterschieden noch ausführlich unter S. 99. 314 Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 558 u. S. 664 mit Fn. 33 in Bezug auf die EMRK.

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- den Wortlaut des jeweiligen Konventionsrechts,315 - die Bedeutung des jeweiligen Konventionsrechts,316 - das mit dem Eingriff verfolgte legitime Ziel,317 - die Schwere des Eingriffs,318 - die Betroffenheit des Wesensgehalts des Rechts,319 - die Art der Verpflichtung des Staats (Schutzpflicht oder abwehrrechtliche Dimension),320 - das Bestehen eines gemeinsamen europäischen Konsenses,321 - die besondere Expertise der Mitgliedstaaten,322 - die Betroffenheit besonderer Sachgebiete,323 - die Regelung in anderen internationalen Konventionen,324 - die Dringlichkeit der Maßnahme,325 - das Bestehen von Ausnahmesituationen,326

315 Rubel, Entscheidungsfreiräume, S. 41; Asche, Margin of Appreciation, S. 71; Mahoney, Human Rights Law Journal 1998, 1 (5). 316 Mahoney, Human Rights Law Journal 1998, 1 (5); Brems, ZaöRV 1996, 240 (264); Gerards, European Law Journal 2011, 80 (112); Gorzoni, Margin of Appreciation, S. 67; Rubel, Entscheidungsfreiräume, S. 68; Asche, Margin of Appreciation, S. 73; Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation, S. 137. 317 Brems, ZaöRV 1996, 240 (257); Gorzoni, Margin of Appreciation, S. 68; Mahoney, Human Rights Law Journal 1998, 1 (5); Rubel, Entscheidungsfreiräume, S. 60; Asche, Margin of Appreciation, S. 72; Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation, S. 148. 318 Gorzoni, Margin of Appreciation, S. 67; Asche, Margin of Appreciation, S. 78; RuppSwienty, Die Doktrin von der margin of appreciation, S. 168. 319 Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation, S. 171; Brems, ZaöRV 1996, 240 (289). 320 Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation, S. 193; Mahoney, Human Rights Law Journal 1998, 1 (5) stellt dies fragend in den Raum. 321 Mahoney, Human Rights Law Journal 1998, 1 (5); Gerards, European Law Journal 2011, 80 (108); Brems, ZaöRV 1996, 240 (276); Gorzoni, Margin of Appreciation, S. 69; Rubel, Entscheidungsfreiräume, S. 90; Asche, Margin of Appreciation, S. 79; Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation, S. 153. 322 Gerards, European Law Journal 2011, 80 (110); Asche, Margin of Appreciation, S. 80; Brems, ZaöRV 1996, 240 (272): sog. „better-placed“-Argument. 323 Mahoney, Human Rights Law Journal 1998, 1 (5); Brems, ZaöRV 1996, 240 (269); Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation, S. 184. 324 Brems, ZaöRV 1996, 240 (286). 325 Mahoney, Human Rights Law Journal 1998, 1 (5); Gorzoni, Margin of Appreciation, S. 72. 326 Brems, ZaöRV 1996, 240 (292).

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- die Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsfeststellung,327 - das Bestehen besonderer Gewaltverhältnisse (z. B. bei Gefangenen oder dem Militär),328 - die Effektivität des Schutzes auf nationaler Ebene,329 - die Umstrittenheit einer Maßnahme auf nationaler Ebene,330 - das Bestehen lokaler Besonderheiten.331 Die Menge an Faktoren führt zwangsläufig dazu, dass die Reichweite im konkreten Fall kaum vorhersehbar ist. Die Gewährung durch den Gerichtshof erscheint so bisweilen beliebig und mit Hinblick auf das gewünschte Ergebnis zu erfolgen.332 b) Bestrebungen, die Faktoren zu reduzieren Diese unbefriedigende Erkenntnis führt zu Bestrebungen, die Fülle an Faktoren zu reduzieren. Es wird nach einem größeren Nenner gesucht, auf den mehrere Punkte zurückführen sind. Janneke Gerards erkennt drei übergeordnete Hauptfaktoren, denen sich die weiteren Elemente zuordnen lassen: das Bestehen eines gemeinsamen europäischen Konsenses, die besondere Expertise der Mitgliedstaaten und die Bedeutung des jeweilig betroffenen Konventionsrechts.333 Nichtsdestotrotz lässt sie auch die anderen Faktoren weiter gelten. Wenn beispielsweise ein wichtiges Recht betroffen sei, in der Frage aber kein gemeinsamer europäischer Konsens bestehe, könne der nationale Spielraum nicht zufriedenstellend mit nur drei Elementen abgebildet werden.334 Weiter gehen Andrew Legg und Josephine Asche. Legg unterscheidet zwischen externen („second-order reasons“) und internen („first-order reasons“) Faktoren: Externe Faktoren seien Gründe, die den Rechtsanwender davon abhielten, interne 327

Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation, S. 181; Gorzoni, Margin of Appreciation, S. 72. 328 Brems, ZaöRV 1996, 240 (270); Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation, S. 175. 329 Gorzoni, Margin of Appreciation, S. 70. 330 Brems, ZaöRV 1996, 240 (288). 331 Brems, ZaöRV 1996, 240 (290). 332 Vgl. hierzu die Kritik von Richter Giorgio Malinverni in seinem Sondervotum zu EGMR, Urt. v. 16. 04. 2009 – 34438/04 (Egeland und Hanseid ./. Norwegen), Rn. 4: „It is therefore essential that the case-law establish clear, objective and specific criteria that make it possible to identify in which cases it is appropriate to accord States a wide margin of appreciation or, on the contrary, to limit it. In other words, we need criteria that make it possible to determine in which scenarios the Court must show judicial self-restraint and in which it may exercise more extensive European supervision, typical of the ,judicial activism‘ approach.“ 333 Gerards, European Law Journal 2011, 80 (108 ff.). 334 Vgl. Gerards, European Law Journal 2011, 80 (114 f.).

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

Faktoren zu bewerten.335 Während die externen Faktoren den Gerichtshof dazu bewegen würden, keine eigenen Erwägungen anzustellen, würden die internen Faktoren die inhaltliche Abwägungsentscheidung beeinflussen.336 Zu den externen Faktoren, die den Spielraum abbilden würden, zählt Legg dabei den gemeinsamen europäischen Konsens, die besondere Expertise der Mitgliedstaaten und die demokratische Legitimität der Mitgliedstaaten.337 Die restlichen Faktoren würden nicht das Ausmaß der margin of appreciation beeinflussen, sondern lediglich die finale Sachentscheidung, die der Gerichtshof zu treffen hat.338 Asche treibt diesen Ansatz auf die Spitze. Sie reduziert die drei Faktoren von Legg weiter: Die demokratische Legitimität der Mitgliedstaaten sei der einzige schlüssige Faktor zur Bestimmung der Reichweite der margin of appreciation.339 Der Gerichtshof könne seine Wertsetzungen nur dann an die Stelle der demokratisch legitimierten Abwägungen der Mitgliedstaaten setzen, wenn letztere auf undemokratischen Erwägungen beruhen würden oder aber der konkrete demokratische Prozess nicht funktioniert habe.340 c) Praxis des Gerichtshofs So schlüssig und dogmatisch präzise die Ausführungen insbesondere von Legg und Asche auch sind, so muss doch einschränkend festgestellt werden: Die Praxis des EGMR ist eine andere.341 Weder zeugt das Vorgehen des Gerichtshofs von einer Reduzierung der margin of appreciation-Faktoren, noch unterscheidet er deutlich zwischen Gründen für die Kontrolldichte und Gründen, welche die Sachentscheidung selbst betreffen. Stattdessen spricht der Gerichtshof weiter einen Großteil der oben aufgelisteten Elemente explizit an. Besonders ausführlich ist dies zum Beispiel in Connors ./. Vereinigtes Königreich aus dem Jahr 2004 zu beobachten: 335 Legg, Margin of Appreciation, S. 18. Zurück geht diese Unterscheidung von first-order reasons und second-order reasons auf Raz, Practical reasons and norms, S. 15 ff. 336 Legg, Margin of Appreciation, S. 18. 337 Legg, Margin of Appreciation, S. 69 ff., 103 ff., 145 ff. 338 Vgl. Legg, Margin of Appreciation, S. 175 u. 219 u. a. Der Ansatz wird hier nur stark vereinfacht dargestellt. Legg ist der Ansicht, die second-order reasons würden den first-order reasons wie beispielsweise dem mit dem Eingriff verfolgten Ziel ein bestimmtes Gewicht beimessen. In der Verhältnismäßigkeitsprüfung werden dann alle durch die second-order reasons gewichteten first-order reasons miteinander abgewogen. Vgl. hierzu das anschauliche mathematische Zahlenbeispiel von Legg, Margin of Appreciation, S. 195. 339 Asche, Margin of Appreciation, S. 215. 340 Asche, Margin of Appreciation, S. 217. Gleichwohl ist sie sich jedoch auch bewusst, dass dieses Konzept im Moment nicht der gängigen Vorgehensweise des EGMR entspricht, vgl. Asche, Margin of Appreciation, S. 94. 341 So überzeugend mit weiteren Nachweisen Arnardóttir, European Constitutional Law Review 12 (2016), 27 (35 f.); Asche, Margin of Appreciation, S. 94: „theoretische Konzepte“. Aufschlussreich auch Letsas, Oxford Journal of Legal Studies, Vol. 26, No. 4 (2006), 705 (706): „It follows that the best theory of the margin of appreciation may not be one that the ECtHR judges, one by one, share or have fully developed in their judgments.“

B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation

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„This margin will vary according to the nature of the Convention right in issue, its importance for the individual and the nature of the activities restricted, as well as the nature of the aim pursued by the restrictions. The margin will tend to be narrower where the right at stake is crucial to the individual’s effective enjoyment of intimate or key rights. On the other hand, in spheres involving the application of social or economic policies, there is authority that the margin of appreciation is wide, as in the planning context where the Court has found that ,[i]n so far as the exercise of discretion involving a multitude of local factors is inherent in the choice and implementation of planning policies, the national authorities in principle enjoy a wide margin of appreciation‘. The Court has also stated that in spheres such as housing, which play a central role in the welfare and economic policies of modern societies, it will respect the legislature’s judgment as to what is in the general interest unless that judgment is manifestly without reasonable foundation.“342

Allein in diesem Abschnitt führt der Gerichtshof acht Faktoren an, die er im konkreten Fall für relevant hält. Diese Praxis hat sich im Laufe der Jahre nicht geändert, wie neuere Urteile belegen.343 Die von Asche angesprochene demokratische Legitimität einzelner Entscheidungen sieht der Gerichtshof dagegen nicht als Faktor an, der die Reichweite des nationalen Spielraums determiniert. Vielmehr ist die Einhaltung eines fairen demokratischen Prozesses ein Indikator dafür, ob sich der Mitgliedstaat innerhalb seines zugestandenen Spielraums bewegt hat: „Whenever discretion capable of interfering with the enjoyment of a Convention right is conferred on national authorities, the procedural safeguards available to the individual will be especially material in determining whether the respondent State has remained within its margin of appreciation. Whilst Article 8 of the Convention contains no explicit procedural requirements, the decision-making process leading to measures of interference must be fair and such as to afford due respect to the interests safeguarded to the individual by Article 8 of the Convention.“344

Dies steht in Einklang mit dem oben gefundenen Ergebnis, dass sich der Gerichtshof bei der Prüfung vermehrt auf die Einhaltung eines fairen nationalen Verfahrens durch die nationalen Akteure unter Berücksichtigung seiner Rechtsprechung 342 EGMR, Urt. v. 27. 05. 2004 – 66746/01 (Connors ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 82 (Hervorhebung durch den Verfasser). 343 Vgl. statt vieler EGMR, Urt. v. 13. 02. 2020 – 45245/15 (Gaughran ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 77: „A margin of appreciation must be left to the competent national authorities in this assessment. The breadth of this margin varies and depends on a number of factors, including the nature of the Convention right in issue, its importance for the individual, the nature of the interference and the object pursued by the interference. The margin will tend to be narrower where the right at stake is crucial to the individual’s effective enjoyment of intimate or key rights. Where a particularly important facet of an individual’s existence or identity is at stake, the margin allowed to the State will be restricted. Where, however, there is no consensus within the member States of the Council of Europe, either as to the relative importance of the interest at stake or as to how best to protect it, the margin will be wider.“ 344 EGMR, Urt. v. 25. 10. 2016 – 1056/15 (Dzhurayev und Shalkova ./. Russland), Rn. 36 (Hervorhebung durch den Verfasser).

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konzentriert.345 Zudem erklärt es die hohe Erfolgsquote von Staaten, die nicht im Verdacht stehen, demokratische Prozesse zu untergraben, im Falle der Gewährung einer margin of appreciation.346 Staaten, die ein funktionierendes System haben, in dem es zu einer Berücksichtigung und Abwägung gegenläufiger Interessen kommt und deren nationale Akteure die Spruchpraxis des EGMR einbeziehen, werden im Zweifel innerhalb der zugestandenen margin of appreciation agieren. Nichtsdestotrotz führt die unverändert bestehende Vielzahl an Faktoren weiter zu Rechtsunsicherheiten. 3. Besonderheiten der Bestimmung bei Art. 11 EMRK Die Gewährung einer margin of appreciation bei Art. 11 EMRK unterscheidet sich grundsätzlich nicht von der Vorgehensweise bei anderen Konventionsrechten. Einzig bei absoluten Konventionsrechten wie Art. 2 (Verbot der Folter), Art. 3 (Recht auf Leben) oder Art. 4 (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit) EMRK ist ein Abstellen auf nationale Spielräume nicht möglich, da hier eine einheitliche Umsetzung vonnöten ist.347 Dennoch existieren Besonderheiten gradueller Art. Manche Faktoren sind im Umfeld der Koalitionsfreiheit von größerer Bedeutung, während andere vom Gerichtshof kaum genannt werden. Im Folgenden werden die Parameter hervorgehoben, die der EGMR bei Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK besonders häufig verwendet. a) Die Betroffenheit eines besonderen Sachgebiets Der Aspekt, der im Zusammenhang mit nationalen Spielräumen bei der Koalitionsfreiheit am häufigsten erwähnt wird, ist die Betroffenheit eines besonderen Sachgebiets. Der Gerichtshof – meist mit wortlautidentischen Versatzstücken arbeitend – betont in einer Vielzahl von Fällen die sensible Materie der Koalitionsfreiheit: „In view of the sensitive character of the social and political issues involved in achieving a proper balance between the respective interests of labour and management […] the Contracting States enjoy a wide margin of appreciation as to how trade-union freedom and protection of the occupational interests of union members may be secured.“348 345

Vgl. oben unter S. 82: „procedural embedding phase“. Siehe oben unter S. 83. 347 Vgl. Spano, Human Rights Law Review 2018, 473 (483 f.); Schokkenbroek, Human Rights Law Journal 1998, 30 (33). 348 EGMR, Urt. v. 11. 01. 2006 – 52562/99, 52620/99 (Sørensen und Rasmussen ./. Dänemark), Rn. 58; EGMR, Urt. v. 27. 04. 2010 – 20161/06 (Vörður Ólafsson ./. Island), Rn. 75; EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013 – 2330/09 (Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien), Rn. 133; EGMR, Urt. v. 16. 06. 2015 – 46551/06 (Manole und ,Romanian Farmers Direct‘ ./. Rumänien), Rn. 56; EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda I˙s¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 34. So zuvor bereits mit leicht anderem Wortlaut EGMR, Urt. v. 25. 04. 1996 – 15573/89 (Gustafsson ./. 346

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Dass der EGMR für die Koalitionsfreiheit unabhängig vom konkreten Fall ein besonderes Sachgebiet annimmt, stützt er auf die sozialen und politischen Fragen bei der Abwägung der arbeitgeber- und arbeitnehmerseitigen Interessen. aa) Koalitionsfreiheit als soziales Menschenrecht (1) Soziale Menschenrechte Der Bezug auf soziale Angelegenheiten bei der Koalitionsfreiheit in der Überschrift mag verwundern, versteht man soziale Grundrechte aus deutscher Sicht klassisch als Leistungsrechte im engeren Sinne, also als Rechte des Einzelnen gegen den Staat.349 Sie werden nach der Statuslehre in Abgrenzung zum status negativus und zum status activus dem status positivus von Grundrechten zugeordnet.350 Auf völkerrechtlicher Ebene wird hingegen eine andere Einteilung von Grundbzw. Menschenrechten vorgenommen. Dort unterscheidet man zwischen den bürgerlichen und politischen sowie den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten.351 Der Kreis sozialer Grundrechte wird dadurch erweitert: Erfasst werden zusätzlich zu den originären Leistungsrechten im engeren Sinne alle Rechte, die den Einzelnen vor Freiheitsbeschränkungen schützen sollen, die gerade aus seiner Stellung in der Gesellschaft resultieren.352 Die Unterscheidung erfolgt mehr funktional denn statusbezogen. Soziale Grundrechte weisen nach dieser weiten Auffassung damit einerseits eine freiheitsschützende Funktion auf und verpflichten zugleich den Staat, diese Freiheit auch im Verhältnis zu anderen Privaten zu gewährleisten.353 Sie haben eine abwehrrechtliche Dimension, legen den größeren Akzent Schweden), Rn. 45; EGMR, Urt. v. 02. 07. 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 44 und danach EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 86. 349 Statt vieler Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 454 ff. 350 Vgl. Jellinek, Subjektive öffentliche Rechte, S. 115: „Fasst man die formell anerkannten individualisirten rechtlichen Ansprüche, welche aus dem positiven Status entspringen, in eine gemeinsame Formel zusammen, so ergiebt sie für den Einzelnen die rechtlich geschützte Fähigkeit, positive Leistungen vom Staate zu verlangen, für den Staat die rechtliche Verpflichtung, im Einzelinteresse thätig zu werden.“ 351 Iliopoulos-Strangas, in: Iliopoulos-Strangas, Soziale Grundrechte in Europa, S. 699 (723); Pellonpää, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 855; Zimmer, in: v. Alemann u. a., Soziales Europa, S. 135 (137); siehe auch die von Deutschland am 17. 12. 1973 ratifizierten Internationalen Pakte, einerseits den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt – ICCPR), BGBl. II 1973, S. 1534 und andererseits den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt – ICESCR), BGBl. II 1973, S. 1570; gegen diese Zweiteilung Eichenhofer, Soziale Menschenrechte, S. 139. 352 Seifert, EuZA 2013, 299 (301 f.); Krieger, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 6 Rn. 92; Iliopoulos-Strangas, in: Iliopoulos-Strangas, Soziale Grundrechte in Europa, S. 699 (724). 353 Seifert, EuZA 2013, 299 (302).

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jedoch auf den Schutz- und Verwirklichungsauftrag und sind daher in ganz besonderer Weise ausgestaltungsbedürftig.354 (2) EMRK und soziale Dimension Die Differenzierung von bürgerlichen und politischen Menschenrechten einerseits und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte andererseits liegt auch der EMRK zugrunde: Anders als ihr Vorbild – die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) der Vereinten Nationen – sollte die Konvention nur bürgerliche und politische Rechte garantieren.355 Mit der Europäischen Sozialcharta (ESC)356 wurde vom Europarat ausdrücklich ein Gegenstück zur EMRK geschaffen, die der Aufnahme wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte dienen sollte.357 In Airey ./. Irland löste sich der Gerichtshof von der strikten Trennung von bürgerlichen und sozialen Rechten: „On the other hand, the Convention must be interpreted in the light of present-day conditions and it is designed to safeguard the individual in a real and practical way as regards those areas with which it deals. Whilst the Convention sets forth what are essentially civil and political rights, many of them have implications of a social or economic nature. The Court therefore considers, like the Commission, that the mere fact that an interpretation of the Convention may extend into the sphere of social and economic rights should not be a decisive factor against such an interpretation; there is no water-tight division separating that sphere from the field covered by the Convention.“358

Im Wege der dynamischen Auslegung359 stellte er klar, dass die Konvention einer Interpretation nicht entgegenstehe, die zu einer sozialen Einfärbung der Konventionsrechte führt. (3) Koalitionsfreiheit als soziales Menschenrecht Die soziale Dimension der EMRK kommt in Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK besonders zum Tragen.360 Die Koalitionsfreiheit wird als die Bestimmung der Kon354

Eichenhofer, Soziale Menschenrechte, S. 140 u. 142. Pellonpää, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 855; Fornasier, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rn. 3. 356 BGBl. II 1964, S. 1262. Die Bundesregierung hat nach über 25 Jahren nun auch die revidierte Fassung der Europäischen Sozialcharta ratifiziert, siehe Gesetz zur Revision der Europäischen Sozialcharta vom 3. Mai 1996, BGBl. II 2020, S. 900. 357 Pellonpää, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 855 (855 ff.); Eichenhofer, Soziale Menschenrechte, S. 149; MHdBArbR/Oetker, Band 1, § 12 Rn. 6. Dies betont neuerdings auch wieder der Gerichtshof, siehe EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65387/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 61. 358 EGMR, Urt. v. 09. 10. 1979 – 6289/73 (Airey ./. Irland), Rn. 26. 359 Dazu unter S. 34. 360 Buchholtz, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 10 Rn. 37: „Grenzgänger“; Lörcher, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 3 (38); Marauhn, RabelsZ 63 (1999), 537 (551). 355

B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation

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vention bezeichnet, die sich am meisten an den sozialen Rechten orientiere.361 Das zeigt sich schon daran, dass die Koalitionsfreiheit außerhalb der EMRK vor allem in internationalen Übereinkommen zu finden ist, die vorwiegend soziale Rechte beinhalten. Art. 8 Abs. 1 lit. a des UN-Sozialpakts (ICESCR) enthält das Recht eines jeden, zur Förderung und zum Schutz seiner wirtschaftlichen und sozialen Interessen, Gewerkschaften zu bilden oder einer Gewerkschaft eigener Wahl allein nach Maßgabe ihrer Vorschriften beizutreten. Nach Art. 5 ESC verpflichten sich die Vertragsparteien, die Freiheit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, örtliche, nationale oder internationale Organisationen zum Schutze ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu bilden und diesen Organisationen beizutreten, nicht zu beeinträchtigen. Auch die Übereinkommen Nr. 87362 und Nr. 98363 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO bzw. ILO), deren Aufgabe die Definition und Durchsetzung sozialer Mindeststandards für die Arbeitswelt ist,364 betreffen die Koalitionsfreiheit. Die weite Definition sozialer Menschenrechte lässt sich auch auf die Koalitionsfreiheit anwenden. Aus der meist unterlegenen Stellung des einzelnen Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber folgt die Freiheit, Koalitionen als Interessenvertretungen („for the protection of his interests“) zu gründen oder ihnen beizutreten.365 Diese schwache Verhandlungsposition des individuellen Arbeitnehmers kann durch den Zusammenschluss auf kollektiver Ebene egalisiert werden.366 Die Koalitionen sorgen dafür, dass die sozialen Belange der Arbeitnehmer autonom geregelt werden.367 Die soziale Funktion von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK erkennt auch der Gerichtshof, wenn er die Koalitionsfreiheit als wesentlichen Bestandteil des sozialen Dialogs zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sieht, um Gerechtigkeit und sozialen Frieden zu erreichen.368 Art. 11 EMRK betrifft das soziale Leben, weil er integrativ dafür sorgt, dass die Interessen des Einzelnen kristallisiert und durch verschiedene Gruppen in der Gesellschaft vertreten werden.369

361

(38). 362

Lörcher, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 3

Übereinkommen Nr. 87 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 09. 07. 1948 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes, BGBl. 1956 II, S. 2072. 363 Übereinkommen Nr. 98 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 01. 07. 1949 über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kollektivverhandlungen, BGBl. 1955 II, S. 1122. 364 Zimmer, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 5 Rn. 1. 365 Eichenhofer, Soziale Menschenrechte, S. 104. 366 Sagan, in: Ales u. a., International and European Labour Law, Art. 11 EMRK Rn. 3. 367 EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 2. 368 EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013 – 2330/09 (Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien), Rn. 130. 369 Tomuschat, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 493 (493). Marauhn, RabelsZ 63 (1999), 537 (538) spricht von „gesellschaftlicher Selbstregulierung“.

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

bb) Weiter Spielraum als Folge Die Bezeichnung eines Rechts als sozial oder politisch zieht noch keine konkreten Folgen nach sich. Indes hat der Gerichtshof schon in Airey ./. Irland betont, dass gerade soziale Rechte durch eine besondere Abhängigkeit von nationalen Begebenheiten gekennzeichnet sind.370 Inwiefern soziale Rechte verwirklicht werden, hängt von den nationalen gesellschaftspolitischen Erwägungen ab. Weil der EGMR bei der Koalitionsfreiheit auf die Sensibilität dieser sozialen und politischen Angelegenheiten verweist, wird er sich gegenüber den angestellten Erwägungen des Mitgliedstaats zurückhalten. In jeder Entscheidung, in der der Gerichtshof sich auf die sozialen Angelegenheiten bezogen hat, wurde dem Konventionsstaat in der Folge ein weiter Spielraum zugestanden. Allein in Sørensen und Rasmussen ./. Dänemark war die margin of appreciation reduziert, weil es im konkreten Fall um den Sonderfall einer closed shop-Regelung ging.371 In fünf der sechs einschlägigen Urteile mit weitem Spielraum erkannte der Gerichtshof keine Verletzung von Art. 11 EMRK. In Vörður Ólafsson ./. Island wurde zwar eine Verletzung festgestellt, allerdings beruhte diese darauf, dass das isländische Recht keine Transparenz bezüglich der Verwendung der an einen Verband zu leistenden Industrieabgabe sicherstellte.372 Mithin handelte es sich eher um einen formalen Fehler, der auch bei anderen Konventionsrechten hätte auftreten können. Die Beurteilung der sozialpolitischen Fragen im oben beschriebenen Sinn war daraufhin nicht mehr notwendig. Generell kann bei dem Sachgebiet rund um die Koalitionsfreiheit im Ergebnis von einem weiten Spielraum der Staaten ausgegangen werden.373 b) Das Bestehen eines gemeinsamen europäischen Konsenses aa) Ermittlung eines Konsenses Die Existenz gemeinsamer europäischer Standards hat sich nach Ansicht mehrerer Stimmen zum wichtigsten Faktor für die Bestimmung der margin of appreciation entwickelt.374 Der Begriff des europäischen Konsenses bezeichnet das Ergebnis einer rechtsvergleichenden Analyse des Gerichtshofs, ob hinsichtlich einer bestimmten Gestaltung Gemeinsamkeiten in den Mitgliedstaaten bestehen oder

370

EGMR, Urt. v. 09. 10. 1979 – 6289/73 (Airey ./. Irland), Rn. 26. EGMR, Urt. v. 11. 01. 2006 – 52562/99, 52620/99 (Sørensen und Rasmussen ./. Dänemark), Rn. 58. Siehe zu den closed shop-Regelungen ausführlich unter S. 152. 372 EGMR, Urt. v. 27. 04. 2010 – 20161/06 (Vörður Ólafsson ./. Island), Rn. 82. 373 Nußberger, DRdA 2015, 408 (411). 374 Vgl. z. B. ausdrücklich Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 132 f.; Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 80. 371

B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation

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nicht.375 Wenn kein Konsens festgestellt werden kann, dem der streitgegenständliche Aspekt zuwiderläuft, spricht das aus Sicht des EGMR für einen weiten Spielraum der Mitgliedstaaten.376 Er nimmt hierzu nicht nur die konkreten Gestaltungen der Vertragsstaaten in den Blick, sondern auch die relative Bedeutung, welche diese dem in Frage stehenden Interesse einräumen.377 Der Gerichtshof zieht aber nicht nur die nationalen Regelungen in den Mitgliedstaaten, sondern auch einschlägige internationale Abkommen sowie die dazu ergangene Spruchpraxis heran.378 Was indes relevant ist, das heißt, welche Rechtsquellen er verwendet, obliegt dem EGMR.379 Der genaue Hergang dieser Rechtsvergleichung wird vom Gerichtshof nicht näher erläutert.380 Für das Bestehen eines gemeinsamen Konsenses lässt er teilweise eine kontinuierliche Entwicklung der relevanten völkerrechtlichen Normen oder aber eine Übereinstimmung in einer Mehrheit der Mitgliedstaaten ausreichen.381 Eine allgemeingültige Formel, von der Rechtslage in der Mehrheit der Mitgliedstaaten oder den einschlägigen Übereinkommen auf einen europäischen Konsens zu schließen, gibt es hingegen nicht.382 bb) Europäischer Konsens bei den kollektiven Systemen? Eine solche allgemeine Formel gibt es auch für die Koalitionsfreiheit nicht. Im ersten Kapitel wurde bereits ausgeführt, dass in wenigen Rechtsgebieten größere Varianz herrscht als im kollektiven Arbeitsrecht.383 Ebenso wenig gibt es einen europäischen Standard hinsichtlich der Wahl des einen kollektiven Systems. Die vorherrschenden Systeme werden besonders von politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und historischen Bedingungen geprägt.384 Sie sind gewissermaßen in

375 Siehe den Leitfaden des vom Ministerkomitee initiierten Programms Human Rights Education for Legal Professionals (HELP), Interpretative mechanisms of ECHR case-law: the concept of European consensus, abrufbar unter: https://www.coe.int/en/web/help/article-echrcase-law (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). Zu der Bedeutung der Rechtsvergleichung für die EMRK und der wachsenden Rolle bei Art. 11 EMRK, vgl. Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 199 f. 376 EGMR, Urt. v. 10. 04. 2007 – 6339/05 (Evans ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 77. 377 EGMR, Urt. v. 10. 04. 2007 – 6339/05 (Evans ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 77. 378 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 85. 379 Vgl. EGMR, Urt. v. 07. 11. 2013 – 29381/09, 32684/09 (Vallianatos et al. ./. Griechenland), Rn. 91. So auch der Leitfaden von HELP, Interpretative mechanisms of ECHR caselaw: the concept of European consensus, abrufbar unter: https://www.coe.int/en/web/help/arti cle-echr-case-law (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). 380 Vgl. z. B. EGMR, Urt. v. 11. 01. 2006 – 52562/99, 52620/99 (Sørensen und Rasmussen ./. Dänemark), Rn. 34. 381 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 86. 382 Nußberger, DRdA 2015, 408 (411); Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 329. 383 Dazu ausführlich unter S. 25 ff. 384 Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, Law of the EHCR, S. 733 f.

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

ihre jetzige Form gewachsen.385 Das weiß auch der Gerichtshof. Die Passage, die bereits bei der Betroffenheit besonderer Sachgebiete zitiert wurde, lautet vollständig: „In view of the sensitive character of the social and political issues involved in achieving a proper balance between the respective interests of labour and management, and given the high degree of divergence between the domestic systems in this field, the Contracting States enjoy a wide margin of appreciation as to how trade-union freedom and protection of the occupational interests of union members may be secured.“386

Der EGMR weist in dieser beachtlichen Anzahl von Urteilen pauschal darauf hin, dass die nationalen Systeme derart unterschiedlich seien, dass den Staaten ein großer Spielraum zugebilligt werden müsste. Er geht bei Art. 11 EMRK in einem RegelAusnahme-Verhältnis von der Diversität der Rechtsordnungen aus.387 cc) Grundsätzlich weiter Spielraum als Folge Daher ist der Spielraum bei Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK grundsätzlich weit.388 In wenigen Urteilen wird gesondert auf einen bestehenden gemeinsamen europäischen Konsens hingewiesen und so der weite Spielraum eingeengt.389 Aber auch eine weitgehende europäische Übereinstimmung in einer bestimmten Frage führt nicht automatisch zu einer engen margin of appreciation: In einem Fall, der zwar nicht Art. 11 EMRK, sondern das Recht auf freie Wahlen betraf, führte der Gerichtshofs aus, dass historische und politische Besonderheiten eine Regelung, die im Vergleich zur Mehrheit der Staaten als besonders restriktiv erscheint, rechtfertigen können.390 Im entsprechenden Fall gestand er dem Vertragsstaat trotz fehlenden europäischen Konsenses einen weiten Spielraum zu.391 Der Faktor des europäischen Konsenses spielt damit eine wichtige, aber nicht die allein entscheidende Rolle bei der Bestimmung der margin of appreciation. Nichtsdestotrotz kann man davon ausgehen, 385 Zur Berücksichtigung historischer Traditionen, vgl. Spano, Human Rights Law Review 2018, 473 (491). 386 Siehe die aufgeführten Urteile unter Fn. 348 (Hervorhebung durch den Verfasser). 387 Nußberger, DRdA 2015, 408 (411). 388 So im Ergebnis auch Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 230 f. u. 237. 389 Vgl. z. B. EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland), Rn. 72: Hier stellte der Gerichtshof fest, dass in Bezug auf Beschränkungen des Streikrechts für Arbeitnehmer in der Daseinsvorsorge ein internationaler Konsens bestehe. Dem Staat war diese Erkenntnis im konkreten Fall dennoch nicht von Nutzen, da der Gerichtshof für die Zuordnung des Eisenbahnverkehrs zu der Daseinsvorsorge jedenfalls keinen internationalen Konsens erkennen konnte. Vgl. auch EGMR, Urt. v. 30. 06. 1993 – 16130/90 (Sigurður und Sigurjónsson ./. Island), Rn. 35: Hier stellte der Gerichtshof darauf ab, dass es keinen internationalen Konsens dahingehend gebe, dass das Erlangen einer Lizenz, die für die Ausübung eines Berufs notwendig ist, davon abhängig gemacht wird, ob der Antragsteller Mitglied in einem bestimmten Berufsverband ist. 390 EGMR, Urt. v. 27. 04. 2010 – 7/08 (Ta˘ nase ./. Moldawien), Rn. 172. Vgl. zur Berücksichtigung lokaler Besonderheiten durch den EGMR auch Brems, ZaöRV 1996, 240 (290 f.). 391 EGMR, Urt. v. 27. 04. 2010 – 7/08 (Ta˘ nase ./. Moldawien), Rn. 173.

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dass in einem Großteil der Fälle ein europäischer Standard zu einer Verengung des weiten Spielraums führt. Es muss einem Mitgliedstaat aber auch möglich sein, Gestaltungen abseits des Mehrheitsmodells aufrechtzuerhalten.392 c) Die Art der Verpflichtung aa) Entwicklung der positiven Pflichten Der EGMR kennt zwei Arten von Verpflichtungen der Mitgliedstaaten: Negative und positive Pflichten.393 Während erstere die staatlichen Akteure anhalten, Eingriffe in die Rechte Einzelner zu unterlassen, erlegen zweitere dem Staat Maßnahmen auf, um den Schutz ebenjener Rechte zu gewährleisten.394 Der Gerichtshof spricht insoweit von „positive obligations“.395 Eine genaue Definition oder eine allgemeine Theorie legt er den positiven Pflichten nicht zugrunde – dies entspricht auch dem allgemeinen Ansatz des EGMR, dogmatische Ausführungen zu vermeiden.396 Es lassen sich allerdings zwei Begründungsansätze beobachten: Zum einen wird auf Art. 1 EMRK abgestellt, nach dem die Vertragstaaten allen Personen in ihrer Hoheitsgewalt die Konventionsrechte zusichern.397 Daneben entnimmt der EGMR aber auch implizit den einzelnen Konventionsrechten positive Verpflichtungen.398 Das Argument ist dabei von praktischer Natur: Nur so könne sichergestellt werden, dass die Konventionsrechte nicht theoretisch und illusorisch blieben, sondern

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Nußberger, RW 2012, 197 (211). Vgl. hierzu die zitierte Rechtsprechung und Literatur bei Szczekalla, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 712. Davon zu unterscheiden sind die verschiedenen Funktionen der Konventionsrechte, vgl. Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 25 ff. 394 Vgl. hier allein die Entwicklung von EGMR, Urt. v. 13. 06. 1979 – 6833/74 (Marckx ./. Belgien), Rn. 31, wo die „positive obligations“ zum zweiten Mal explizit angesprochen wurden, zur Weiterentwicklung in EGMR, Urt. v. 04. 12. 2007 – 44362/04 (Dickson ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 70. 395 Zuerst erwähnt von EGMR, Urt. v. 23. 07. 1968 – 1474/62 u. a. (Relating to certain aspects of the laws on the use of languages in education in Belgium ./. Belgien), Interpretation adopted by the Court, Rn. 3. 396 Szczekalla, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 712 f. mit Fn. 1390. Dazu ausführlich unter S. 51. 397 EGMR, Urt. v. 23. 07. 1968 – 1474/62 u. a. (Relating to certain aspects of the laws on the use of languages in education in Belgium ./. Belgien), Interpretation adopted by the Court, Rn. 3; vgl. hierzu auch mit weiteren Nachweisen Florczak-Wa˛tor, International and Comparative Law Review 2017, 39 (41 f.). 398 Vgl. Florczak-Wa˛tor, International and Comparative Law Review 2017, 39 (42); Szczekalla, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 727 f.: Im Ergebnis verwendet der Gerichtshof beide Begründungsansätze. 393

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

praktisch und effektiv seien.399 Diese Begründung kann man als Allzweckwaffe des Gerichtshofs bezeichnen. Neben den positiven Pflichten rechtfertigt er damit unter anderem auch seine autonome Definition des Schutzbereichs400 und die generelle Auslegung der Konventionsrechte401. bb) Mittelbare Drittwirkung durch positive Pflichten Positive Pflichten betreffen indes nicht nur das Verhältnis zwischen Staat und Bürger, sie erstrecken sich auch auf die Beziehungen von Privaten untereinander: Der Staat hat dafür Sorge zu tragen, dass der Einzelne nicht durch andere Private in seinen Rechten verletzt wird.402 Diese Anerkennung einer horizontalen Ebene wird auch im Englischen als „Drittwirkung“ der Konventionsrechte umschrieben.403 Falsch wäre indes die Annahme, dass die Konvention auch Geltung gegenüber nicht staatlichen Akteuren entfaltet: Individualbeschwerden können gemäß Art. 34 EMRK nur bei einer Verletzung der Konvention durch die Vertragsstaaten erhoben werden.404 Ihnen können allenfalls durch Private begangene Verletzungen zugerechnet werden, wenn im konkreten Fall eine positive Pflicht eines staatlichen Akteurs bestanden hat, das Recht zu schützen.405 Man kann daher lediglich von einer mittelbaren Drittwirkung sprechen.406 Der Begriff der Drittwirkung ist insoweit auch irreführend, als tatsächlich nur Staaten verpflichtet werden.407

399 So z. B. in EGMR, Urt. v. 27. 06. 2000 – 22277/93 (I˙lhan ./. Türkei), Rn. 91; EGMR, Urt. v. 01. 06. 2010 – 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland), Rn. 123; EGMR, Urt. v. 26. 04. 2016 – 10511/10 (Murray ./. Niederlande), Rn. 104. 400 EGMR, Urt. v. 29. 04. 1999 – 25088/94 u. a. (Chassagnou et al. ./. Frankreich), Rn. 100. 401 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 66. 402 St. Rspr. vgl. nur EGMR, Urt. v. 04. 12. 2007 – 44362/04 (Dickson ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 70. 403 Lemmens, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, Theory and practice, S. 26 ff.; Clapham, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 163 ff. Zur Drittwirkung der Grundrechte, siehe BVerfG, Urt. v. 15. 01. 1958 – 1 BvR 400/51, JZ 1958, 119 (120). 404 Florczak-Wa˛tor, International and Comparative Law Review 2017, 39 (43 f.). 405 Instruktiv Akandji-Kombe, Positive Obligations, S. 14 f. Eine solche Zurechnung ergibt sich indes nicht zwingend aus dem Konventionstext, vgl. Lemmens, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, Theory and practice, S. 28 f. Nichtsdestrotz entspricht sie der ständigen Rechtsprechung des EGMR. Florczak-Wa˛tor, International and Comparative Law Review 2017, 39 (45) führt die soeben angesprochene Notwendigkeit der Praktibilität und Effektivität von Konventionsrechten als eine von vielen möglichen Begründungen an. 406 Junker, GK Arbeitsrecht, Rn. 31: Marauhn, RabelsZ 63 (1999), 537 (541); Ellger, RabelsZ 63 (1999), 625 (636). 407 So überzeugend Szczekalla, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 906 f.

B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation

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cc) Positive Pflichten und margin of appreciation (1) Gleichstellung positiver und negativer Pflichten durch den Gerichtshof Die Unterscheidung von positiven und negativen Pflichten spielt in der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine weitaus unbedeutendere Rolle als in der Literatur.408 Der EGMR wiederholt in ständiger Rechtsprechung, dass die bei positiven und negativen Pflichten anzulegenden Maßstäbe weitgehend ähnlich seien – es müsse ein fairer Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen gefunden werden.409 In beiden Fällen stehe den Staaten außerdem eine margin of appreciation zu.410 Besonders anschaulich äußert der Gerichtshof diesen Gedanken in Dickson ./. Vereinigtes Königreich. Dort sah die große Kammer keine Notwendigkeit, zu entscheiden, ob sie den Fall unter dem Gesichtspunkt einer negativen oder einer positiven Pflicht beurteilt: „The boundaries between the State’s positive and negative obligations under Article 8 do not lend themselves to precise definition. The applicable principles are nonetheless similar. In particular, in both instances regard must be had to the fair balance to be struck between the competing interests. The Court does not consider it necessary to decide whether it would be more appropriate to analyse the case as one concerning a positive or a negative obligation since it is of the view that the core issue in the present case is precisely whether a fair balance was struck between the competing public and private interests involved.“411

In der Literatur wird überwiegend angenommen, dass diese Gleichstellung von positiven und negativen Pflichten auch hinsichtlich der Reichweite der margin of appreciation gelte.412 Dem ist grundsätzlich auch zuzustimmen. Die üblichen Faktoren, welche den Spielraum eines Staats bestimmen, sind auch bei den positiven Pflichten anzuwenden. (2) Mittelwahlspielraum als zusätzliche Größe Nichtsdestotrotz ergeben sich aus den Besonderheiten dieser Verpflichtungen graduelle Unterschiede. So tritt allein bei positiven Pflichten der Mittelwahlspiel408 Vgl. Szczekalla, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 712. Zu der Schwierigkeit diese beiden Pflichten in der Praxis zu unterscheiden, vgl. luzide Akandji-Kombe, Positive Obligations, S. 14 f. 409 EGMR, Urt. v. 09. 12. 1994 – 16798/90 (López Ostra ./. Spanien), Rn. 51; EGMR, Urt. v. 08. 07. 2003 – 36022/97 (Hatton et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 98; EGMR, Urt. v. 10. 01. 2012 – 30765/08 (Di Sarno et al. ./. Italien), Rn. 105.2. 410 EGMR, Urt. v. 08. 07. 2003 – 36022/97 (Hatton et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 98. 411 EGMR, Urt. v. 04. 12. 2007 – 44362/04 (Dickson ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 70 f. (Hervorgebung durch den Verfasser). 412 Brems, ZaöRV 1996, 240 (247); Dröge, Positive Verpflichtungen, S. 390; Marauhn/ Merhof, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 7 Rn. 15; Rubel, Entscheidungsfreiräume, S. 38 mit Fn. 229; Szczekalla, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 869 f.; so wohl auch Arai-Takahashi, The margin of appreciation doctrine, S. 222, der aber dennoch anmerkt, dass der Gerichtshof positive Pflichten meist mit einer weiten margin of appreciation verbindet.

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raum als eine besondere Ausprägung der margin of appreciation auf.413 Das liegt an der unterschiedlichen Struktur positiver und negativer Pflichten: Nicht jede Maßnahme, die auf den Schutz eines Rechts gerichtet ist, ist geboten, aber jede Handlung, die ein Recht verletzt, ist verboten.414 Stehen dem Gesetzgeber mehrere Mittel zur Verfügung, die ähnlich gut geeignet sind, um das verfolgte Ziel zu erreichen, ist er bezüglich der Auswahl der Mittel frei.415 Im sog. Belgischen Sprachenfall stellte sich dem Gerichtshof die Frage, ob das Recht auf Bildung aus Art. 2 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK den Belgischen Staat verpflichtet, den Bürgern Unterricht in der Sprache ihrer Wahl zu ermöglichen. Dort umschrieb der EGMR den Freiraum bei der Mittelwahl wie folgt: „The national authorities remain free to choose the measures which they consider appropriate in those matters which are governed by the Convention. Review by the Court concerns only the conformity of these measures with the requirements of the Convention.“416

Die margin of appreciation eröffnet so bei positiven Pflichten eine weitere Ebene an nationalen Spielräumen. Jeroen Schokkenbroek sieht hierin demgegenüber keine Frage der margin of appreciation, sondern die allgemeine Freiheit bei der Implementierung völkerrechtlicher Verpflichtungen in das nationale Recht.417 Diese Freiheit könne aber ohnehin nur Angelegenheiten betreffen, die außerhalb des Schutzbereichs der Konvention lägen: Daher müsse sie auch klar von der margin of appreciation unterschieden werden, die nur für Angelegenheiten innerhalb des Konventionsschutzes greife.418 Dem widerspricht mit überzeugenden Argumenten Jonas Christoffersen: Wenn eine Angelegenheit nicht vom Schutzbereich der Konventionsrechte umfasst ist, werde sie von der EMRK schlicht nicht geregelt, so dass auch überhaupt keine völkerrechtlichen Verpflichtungen von den Mitgliedstaaten implementiert werden müssen.419 Mithin setzt die Gewährung einer „implementation freedom“, die er im Übrigen lediglich als anderen Begriff für die margin of appreciation bezeichnet („a pet child has many names“) die Eröffnung des Schutzbereichs eines Konventionsrechts denknotwendig voraus.420 Dass der Ansatz von Schokkenbroek zu kurz greift, zeigt sich auch darin, dass er dort, wo seiner Meinung nach positive Pflichten und die „implementation freedom“ aufeinander treffen, die Abgrenzung zur margin of ap413

Klatt, ZaöRV 2011, 691 (716 f.). Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 420. 415 Alexy, VVDStRL 61 (2002), S. 7 (17). 416 EGMR, Urt. v. 23. 07. 1968 – 1474/62 u. a. (Relating to certain aspects of the laws on the use of languages in education in Belgium ./. Belgien), Rn. 10. In dem Urteil erwähnte der Gerichtshof zudem zum ersten Mal den Begriff der „positive obligations“. 417 Schoekkenbroek, Human Rights Law Journal 1998, 30 (32). 418 Schoekkenbroek, Human Rights Law Journal 1998, 30 (32). 419 Christoffersen, Fair Balance, S. 304 f. 420 Christoffersen, Fair Balance, S. 297 und 304 f. 414

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preciation nicht mehr erklären kann.421 Wie soeben gezeigt, existiert die besondere Form des Mittelwahlspielraums aber nur bei positiven Pflichten. (3) Multipolare Beziehungen Der zweite Grund unterscheidet sich nicht so sehr von dem ersten, er verdeutlicht aber noch einmal den Unterschied. Wie bereits gezeigt, ist nicht jede Maßnahme, die ein Konventionsrecht schützt, geboten. Wenn der Staat ein bestimmtes Mittel für den Schutz eines Rechts einsetzt, so greift er dadurch möglicherweise in ein anderes Recht des zu Schützenden oder aber in Rechte Unbeteiligter ein, denen der Schutz des ersten Rechts nicht zugutekäme.422 Diese multipolaren Beziehungen erfordern eine Vielzahl an gesetzgeberischen Abwägungsentscheidungen. Die EMRK kann den Staaten – anders als bei Eingriffen (dort: den Eingriff zu unterlassen) – nicht bis ins letzte Detail vorschreiben, welche Maßnahme sie zu ergreifen haben, um die effektive Ausübung eines Rechts zu gewährleisten.423 Dies liegt unter anderem schon daran, dass der Begriff der „effektiven“ Wahrnehmung für sich genommen schon definitorische Spielräume offen lässt. Im Ergebnis ist daher auch die Art der Verpflichtung ein Faktor, der die Reichweite der margin of appreciation beeinflusst, indem er weite Spielräume nach sich zieht.424 dd) Positive Pflichten unter Art. 11 EMRK (1) Schwerpunkt auf den positiven Pflichten Grundsätzlich können alle Konventionsbestimmungen auch Gewährleistungspflichten vermitteln.425 Die Koalitionsfreiheit ist jedoch ein Recht, bei welchem der 421

Schoekkenbroek, Human Rights Law Journal 1998, 30 (32). Legg, Margin of Appreciation, S. 204 spricht insofern von „polycentric considerations“. Vgl. auch das Zahlenbeispiel bei Klatt, ZaöRV 2011, 691 (716). 423 Pellonpää, EuGRZ 2006, 483 (485 f.). 424 So Pellonpää, EuGRZ 2006, 483 (485 f.); Ellger, RabelsZ 63 (1999), 625 (636); AraiTakahashi, The margin of appreciation doctrine, S. 142; Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 120. Sagan, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Vorb. Art. 8 bis 11 EMRK Rn. 7; Legg, Margin of Appreciation, S. 203 f. Diese Erkenntnis liegt auch – unausgesprochen – der Beobachtung von Felten zugrunde. Er stellt fest, dass der Beurteilungsspielraum in zwei vergleichbaren Fällen unterschiedlich gewesen sei, weil es sich im ersten Fall um einen Eingriff des Staats und im zweiten Fall um eine Beeinträchtigung durch einen anderen Privaten und somit um eine Gewährleistungspflicht des Staats gehandelt habe, vgl. Felten, Koalitionsfreiheit und Arbeitsverfassungsgesetz, S. 344. Vgl. auch EGMR, Urt. v. 11. 07. 2002 – 28957/95 (Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 72: „The Court recalls that the notion of ,respect‘ as understood in Article 8 is not clear cut, especially as far as the positive obligations inherent in that concept are concerned: having regard to the diversity of practices followed and the situations obtaining in the Contracting States, the notion’s requirements will vary considerably from case to case and the margin of appreciation to be accorded to the authorities may be wider than that applied in other areas under the Convention.“ 425 Szczekalla, Grundrechtliche Schutzpflichten, S. 718; vgl. auch Klatt, ZaöRV 2011, 691 (692), der eine wachsende Bedeutung der Gewährleistungspflichten in der Rechtsprechung des 422

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

Schutz der effektiven Ausübung in der Praxis womöglich ein höheres Gewicht als die klassische Abwehr von staatlichen Eingriffen einnimmt. Manche Konventionsrechte können nur vom Staat gefährdet werden (Art. 6 EMRK: Recht auf ein faires Verfahren und Art. 7 EMRK: Keine Strafe ohne Gesetz), bei den meisten anderen jedoch sind Beeinträchtigungen sowohl durch den Staat als auch durch Private möglich.426 Häufig werden die negativen die positiven Pflichten dabei überwiegen. So muss beispielsweise bei der Versammlungsfreiheit aus Art. 11 EMRK gewährleistet werden, dass Versammlungsteilnehmer nicht durch Gegendemonstranten körperlich angegriffen und beleidigt werden.427 Nichtsdestotrotz betrifft die Mehrheit der Fälle vor dem Gerichtshof staatliche Beeinträchtigungen durch Verbote, Auflösungen, Beschränkungen bezüglich Ort und Durchführung, Festnahmen oder Ähnliches.428 Dies ist im Kontext der Koalitionsfreiheit anders. Hier stehen sich zumeist Private gegenüber, welche die Rechte des jeweiligen Gegenspielers beeinträchtigen und gegenüber denen die Rechte ausgeübt werden müssen.429 Die Nicht-Anerkennung einer Gewerkschaft als Verhandlungspartner, das Abschließen von Absperrklauseln, die Kündigung wegen einer Streikteilnahme, Disziplinarmaßnahmen aufgrund der Gewerkschaftszugehörigkeit oder finanzielle Anreize für den Verzicht auf Gewerkschaftsrechte sind nur einige Beispiele aus der Spruchpraxis des EGMR, wie allein der Arbeitgeber die Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft und ihrer Mitglieder beeinträchtigen kann.430 Der Staat ist gefordert, Maßnahmen zu ergreifen, um die effektive Ausübung der Koalitionsfreiheit auch auf der horizontalen Ebene zu schützen. Er soll in Beziehungen zwischen Akteuren eingreifen, die beiderseits Träger von Menschenrechten sind. Die anzustellenden Erwägungen erhalten dadurch mehrere Anknüpfungspunkte und Problemzentren.431 Der Staat hat nicht nur öffentliche und private Interessen miteinander abzuwägen, sondern auch private mit anderen privaten Interessen. Er muss die Rahmenbedingungen setzen, in denen die verschiedenen Akteure (Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände) ihre kollektiven Beziehungen untereinander ausüben können.432 Diese Gerichtshofs beobachtet, zugleich aber die Anzahl sich damit beschäftigender Literatur als ungenügend bezeichnet. 426 Siehe Guradze, in: FS Nipperdey, S. 759 (760) mit weiteren Beispielen. Hier geht es nur um die faktische Beeinträchtigung. Dass auch Beeinträchtigungen durch Private nur dann als Eingriffe in die Rechte des Einzelnen gelten, wenn sie dem Staat zurechenbar sind, wurde oben unter S. 98 erörtert. 427 EGMR, Urt. v. 12. 05. 2015 – 73235/12 (Identoba et al. ./. Georgien), Rn. 95 ff. 428 Vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 71 ff. mit weiteren Nachweisen, 81. 429 Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 318; Lemmens, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/ Zwaak, Theory and practice, S. 27. 430 Vgl. ausführlich mit weiteren Beispielen EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 39 ff.; Arndt/Engels, in: Karpenstein/Mayer, Art. 11 EMRK Rn. 59. 431 Legg, Margin of Appreciation, S. 203 f. 432 Krieger, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 6 Rn. 125 spricht davon, dass manche positiven Handlungspflichten der EMRK an die Einrichtungsgarantien des Grundgesetzes erinnern.

B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation

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multipolaren Beziehungen können nicht nach einem Entweder-Oder-Prinzip austariert werden.433 Es muss den Staaten ein großer Spielraum zugestanden werden, welche Maßnahmen oder welche Mittel sie ergreifen, um die Koalitionsfreiheit zu schützen und wie sie diese gewichten. (2) Freie Mittelwahl zur Gewährleistung der effektiven Wahrnehmung Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass die ersten Fälle des EGMR zu Gewährleistungspflichten hauptsächlich die Koalitionsfreiheit betrafen.434 Der Gerichtshof erwähnt den Mittelwahlspielraum bei positiven Pflichten im Rahmen von Art. 11 EMRK auch besonders häufig. In elf der 48 im hiesigen Aussagekatalog aufgelisteten Urteilen zur Koalitionsfreiheit435 spricht der Gerichtshof von den „free choice of the means“,436 „free choice as to the means“437 oder einfach nur von den „choice as to the means“438 bzw. „choix des moyens“439. Der Textbaustein, den er in diesem Zusammenhang stets verwendet, lautet: „[Article 11] safeguards freedom to protect the occupational interests of trade union members by trade union action, the conduct and development of which the Contracting States must both permit and make possible. […] Article 11 does not, however, require any particular treatment of trade unions or their members and leaves each State a free choice of the means to be used to secure their right to be heard.“440

Lehrbuchartig nennt der Gerichtshof im ersten Schritt die Freiheit, die es zu schützen gilt („safeguards freedom […] which the Contracting States must both permit and make possible“). Im zweiten Schritt umschreibt er diese näher, während 433 Vgl. ausführlich zur Kontrolldichte bei mehrpoligen Rechtsverhältnissen HoffmannRiehm, EuGRZ 2006, 492 (496 ff.). 434 EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien); EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5589/72 (Schmidt und Dahlström ./. Schweden); EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5614/72 (Swedish Engine Drivers’ Union ./. Schweden), auch wenn diese Urteile nicht das Verhältnis von Privaten untereinander betrafen, weil in allen drei Urteilen der Staat der Arbeitgeber war. 435 Siehe dazu bereits unter S. 37. 436 EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Rn. 39; EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5589/72 (Schmidt und Dahlström ./. Schweden), Rn. 36; EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5614/72 (Swedish Engine Drivers’ Union ./. Schweden), Rn. 40; EGMR, Urt. v. 02. 07. 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 42; EGMR, Urt. v. 21. 02. 2006 – 28602/95 (Tüm Haber Sen und C¸inar ./. Türkei), Rn. 28; EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 141; EGMR, Urt. v. 25. 12. 2012 – 11828/08 (Trade Union of the Police in the Slovak Republic et al. ./. Slowakei), Rn. 54; EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland), Rn. 56. 437 EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda ˙Is¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 32. 438 EGMR, Urt. v. 25. 04. 1996 – 15573/89 (Gustafsson ./. Schweden), Rn. 45 439 EGMR, Urt. v. 17. 07. 2007 – 74611/01 u. a. (Dı¯lek et al. ./. Türkei), Rn. 65. 440 EGMR, Urt. v. 25. 12. 2012 – 11828/08 (Trade Union of the Police in the Slovak Republic et al. ./. Slowakei), Rn. 54.

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

er im letzten Schritt deutlich macht, dass Art. 11 EMRK kein exaktes Vorgehen festlegt, sondern den Staaten die freie Auswahl der Mittel überlässt. Der Gerichtshof bestimmt das Ziel, den Weg dahin schreibt er den Mitgliedstaaten allerdings nicht vor. Von einer komplett freien Wahl der Mittel kann dennoch nicht die Rede sein, nimmt der Gerichtshof doch immer noch eine Prüfung der Mittel vor. Vielmehr handelt es sich um die Umschreibung eines besonders weiten Spielraums der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung positiver Pflichten.441 Die Häufung dieser Fälle unter Art. 11 EMRK ist kein Zufall, sondern Konsequenz des Aufeinandertreffens Privater bei der Koalitionsfreiheit.442 Daher ist bei Art. 11 EMRK grundsätzlich von einem weiten Spielraum auszugehen, sofern es um die Gestaltung mehrpoliger Verhältnisse geht, wie dies bei positiven Pflichten meist der Fall ist.443 (3) Explizite Anerkennung eines weiten Spielraums? In einer neueren Entscheidung scheint der Gerichtshof diese Argumentationslinie erstmals explizit aufzunehmen. In Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich beschäftigte sich der EGMR mit der Abschaffung des Agricultural Wages Board of England and Wales („AWB“).444 Zwischen 1917 und 2013 setzte diese Stelle – bestehend aus acht Arbeitgebervertretern, acht Arbeitnehmervertretern und fünf Personen, die vom zuständigen Minister bestimmt wurden – Mindestlöhne und Arbeitsbedingungen im Landwirtschaftssektor fest. Im Jahr 2013 wurde diese Stelle abgeschafft, weil es mittlerweile nationale gesetzliche Regelungen für einen Mindestlohn und Urlaubsansprüche gab. Die Beschwerdeführer behaupteten, dies sei ein Eingriff in ihr Recht, Tarifverhandlungen zu führen.445 Die margin of appreciation sei in diesem Zusammenhang eng.446 Der Gerichtshof stellte jedoch fest, dass der Sachverhalt unter dem Aspekt einer Gewährleistungspflicht zu beurteilen sei.447 Weiter führte er aus:

441

Vgl. Christoffersen, Fair Balance, S. 305 f. In diese Richtung auch Arai-Takahashi, The margin of appreciation doctrine, S. 142. 443 So Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 170, der ebenso zu dem Schluss kommt, dass die Herangehensweise bei positiven und negativen Pflichten – entgegen der Betonung durch den Gerichtshof – bezüglich der Gewährung von Spielräumen wohl doch unterschiedlich ist. Im Ergebnis auch Hauer, Arbeitskampf im nationalen und europäischen Recht, S. 153. 444 Zum Sachverhalt vgl. EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65387/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 1 – 18. 445 EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65387/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 59. 446 EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65387/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 60. 447 EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65387/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 60. 442

B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation

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„In the present case, by contrast, the question concerns the extent of the State’s positive obligation in the area of collective bargaining. As the Court has already noted, the social and political issues involved in achieving a proper balance between the interests of labour and management are of a sensitive nature. The starting point is, therefore, that the United Kingdom enjoys a wide margin of appreciation in determining whether a fair balance has been struck between the protection of the public interest in the abolition of the AWB and the applicant’s competing rights under Article 11 of the Convention.“448

Diese Aussage kann man auch einschränkend dahingehend verstehen, dass sie lediglich Relevanz für den Einzelfall hat oder dass der EGMR vor allem die Betroffenheit eines besonderen Sachgebiets betont hat. Bereits die Unterscheidung von positiven und negativen Pflichten ist allerdings bemerkenswert. Auch die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen einer weiten margin of appreciation und den positiven Pflichten ist evident.449 Es liegt nahe, dass auch der Gerichtshof die Gleichstellung von negativen und positiven Pflichten – jedenfalls für die Bestimmung der Reichweite der margin of appreciation – aufgeben wird. ee) Zwischenergebnis Anders als von einem Großteil der Literatur angenommen, ist auch die Art der Verpflichtung ein Faktor für die Reichweite der margin of appreciation. Mit dem Mittelwahlspielraum steht dem betroffenen Staat eine weitere Ebene offen, innerhalb dessen er seinen Gewährleistungspflichten nachkommen kann. Gerade bei der Koalitionsfreiheit betreffen viele Fälle das Gegenüber von Privaten und somit multipolare Beziehungen. Der Staat muss gewährleisten, dass die privaten Akteure ihre Koalitionsfreiheit effektiv verwirklichen können. Dabei steht ihm grundsätzlich eine weite margin of appreciation zu. d) Die Betroffenheit des Kernbereichs des Rechts In der Literatur wird dem Kernbereich eine übergeordnete Bedeutung für die Bestimmung der Reichweite der margin of appreciation bei Art. 11 EMRK zugesprochen.450 Die Figur des Wesensgehalts spielt hier dagegen keine Rolle.451

448 EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65387/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 60. 449 Vgl. auch noch die Aussage von EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65387/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 66. 450 Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 163 ff. spricht von Konsens- und Kernbereichsrechtsprechung als den maßgeblichen Prinzipien. 451 Ausführlich dazu bereits unter S. 70.

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

aa) Einengung der margin of appreciation bei Betroffenheit des Kernbereichs Die Frage, wie sich die Anerkennung eines Kernbereichs auf die Reichweite der margin of appreciation auswirkt, hat der EGMR in zwei jüngeren Urteilen beantwortet. So führt der Gerichtshof in The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich aus: „If a legislative restriction strikes at the core of trade-union activity, a lesser margin of appreciation is to be recognised to the national legislature and more is required to justify the proportionality of the resultant interference, in the general interest, with the exercise of trade-union freedom. Conversely, if it is not the core but a secondary or accessory aspect of trade-union activity that is affected, the margin is wider and the interference is, by its nature, more likely to be proportionate as far as its consequences for the exercise of trade-union freedom are concerned.“452

Im Fall ging es um das gesetzliche Verbot von Sympathiearbeitskämpfen im Vereinigten Königreich. Der Sympathiestreik wurde dem Randbereich von Art. 11 EMRK (genauer gesagt: dem Randbereich gewerkschaftlicher Aktivitäten) zugeordnet und infolgedessen ein weiter Spielraum eingeräumt – eine Verletzung von Art. 11 EMRK konnte nicht festgestellt werden.453 In Tek Gıda ˙Is¸ Sendikası ./. Türkei behauptete die beschwerdeführende Gewerkschaft zwei Verletzungen von Art. 11 EMRK: Zum einen durch die konkrete Zählweise, die der Ermittlung der Repräsentativität einer Gewerkschaft innerhalb eines Unternehmens zugrunde gelegt wurde, und zum anderen durch die ungerechtfertigte Massenentlassung von Gewerkschaftsmitgliedern.454 Unter Verweis auf The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich ordnete der Gerichtshof ersteren Punkt dem Randbereich, zweiteren dem Kernbereich der Gewerkschaftsaktivitäten zu.455 Dies führte in der ersten Angelegenheit zu einem weiten Spielraum und keiner Verletzung von Art. 11 EMRK, bei der zweiten Frage war der Spielraum dagegen eng und der Gerichtshof stellte eine Verletzung der Koalitionsfreiheit fest.456 bb) Bestimmung des Kernbereichs Die Bestimmung eines Kernbereichs von Art. 11 EMRK ist hingegen kaum zu bewerkstelligen.457 Zu unausgereift ist die Spruchpraxis des Gerichtshofs. Aus452 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 87 (Hervorhebung durch den Verfasser). 453 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 88, 104 f. 454 EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda ˙Is¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 29 ff. und 48 ff. 455 EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda I˙s¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 46 und 55. 456 EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda I˙s¸ Sendikası ./. Türkei), 46 f. und 55 f. 457 Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 233.

B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation

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drücklich angesprochen hat er – soweit ersichtlich – den Zusammenhang von Kernbereich und margin of appreciation erst in den zwei angesprochenen Urteilen. Dort wurden Unterstützungsstreiks sowie die Zählweise zur Ermittlung der Repräsentativität als Randaspekte gewerkschaftlicher Aktivität eingestuft. Ausdrücklich zum Kernbereich gezählt wurde lediglich die Entwertung der Gewerkschaftsmitgliedschaft als Folge der Massenentlassungen von Gewerkschaftsmitgliedern.458 In The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich brachte die beschwerdeführende Gewerkschaft vor, dass dem Staat lediglich ein begrenzter Spielraum bei der Frage der Zulässigkeit von Sympathiestreiks zustünde, weil auch in Demir und Baykara ./. Türkei der Spielraum eng gewesen sei.459 Der EGMR ließ sich auf dieses Argument nicht ein: In Demir und Baykara ./. Türkei sei ein sehr weitreichender Eingriff zur Debatte gestanden, der den inneren Kern von Art. 11 EMRK, nämlich die Auflösung einer Gewerkschaft, betroffen hätte.460 Neben dem Verlust der Gewerkschaftsmitgliedschaft kann folglich bislang einzig die Auflösung der Gewerkschaft zum Kernbereich gezählt werden. Diese beiden Elemente lassen den Schluss zu, dass der Kernbereich eng zu fassen ist. Schon der Wortlaut von Art. 11 EMRK stellt die Gewerkschaftsgründung und die Gewerkschaftsmitgliedschaft heraus. Allein solche Eingriffe, welche den Koalitionszweck unmöglich machen, sollten daher zum Kernbereich gezählt werden. cc) Zwischenergebnis Im Ergebnis führt die Betroffenheit des Kernbereichs von Art. 11 EMRK somit zu einer Reduzierung der margin of appreciation. Bislang hält sich der Gerichtshof allerdings mit abstrakten Zuordnungen zurück, sodass nach der bisherigen Rechtsprechung allein Beeinträchtigungen, welche die faktische Entwertung einer Gewerkschaft bewirken können, Eingriffe in den Kernbereich darstellen.461 Bei der kollektiven Betätigungsfreiheit wird daher der Kernbereich eher selten betroffen sein.

EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda ˙Is¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 55. EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 86. 460 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 86. 461 Vgl. EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda ˙Is¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 55, wo die Massenentlassung von Gewerkschaftsmitgliedern dazu führte, dass die Attraktivität für Arbeitnehmer zum Beitritt der Gewerkschaft und damit einhergehend deren Position gegenüber dem Arbeitgeber entwertet wurde. Andere Aspekte, die dem Kernbereich zugeordnet wurden, betrafen nicht die Bestimmung der Reichweite der margin of appreciation, sondern die Frage der Grenze der Einschränkbarkeit (siehe dazu bereits unter S. 72). Ungenau daher Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 231 ff. 458

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

e) Zwischenergebnis aa) Keine Vereinfachung möglich Christoph Katerndahl spricht in Bezug auf die Faktoren der margin of appreciation bei Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK lediglich von einer Konsensrechtsprechung (europäischer Konsens als Einflussfaktor) und einer Kernbereichsrechtsprechung (Zuordnung zum Kernbereich als Einflussfaktor) des Gerichtshofs.462 In diesem Abschnitt wurde allerdings herausgearbeitet, dass darüber hinaus auch die Betroffenheit eines besonderen Sachgebiets durch die sozialen und politischen Fragen der Koalitionsfreiheit und die Art der Verpflichtung eine übergeordnete Rolle spielen. Diese vier Faktoren sind nicht die einzigen, aber diejenigen, denen der Gerichtshof im Zusammenhang mit Art. 11 EMRK die größte Bedeutung beimisst. Nichtsdestotrotz können auch die anderen Faktoren, die zu Beginn des Kapitels463 aufgelistet wurden, die Bestimmung der margin of appreciation beeinflussen. Die von Katerndahl beobachtete „Doppelbindung des Beurteilungsspielraums an Konsens und Kernbereich“ führt in manchen Konstellation zu widersprüchlichen Ergebnissen, weshalb auch er wiederum auf die Art der Verpflichtung zurückgreifen muss: Eine positive Pflicht würde im Einzelfall den Ausschlag für einen weiten Spielraum geben.464 Die Betroffenheit einer positiven Pflicht ist allerdings nach dem Vorstehenden nicht das Zünglein an der Waage, sondern ein eigenständiger Faktor für die Bestimmung der Reichweite. Es ist dementsprechend nicht möglich, die Faktoren zu reduzieren. bb) Wechselwirkung der Faktoren Die einzelnen Faktoren zur Bestimmung der margin of appreciation sind recht weit formuliert und können auf verschiedenste Weisen miteinander interagieren.465 Der Schutz privater Interessen berührt bei der Koalitionsfreiheit zwangsläufig soziale und politische Fragen und betrifft somit ein besonderes Sachgebiet, zu dem möglicherweise kein europäischer Konsens besteht. Zugleich kann eine Gestaltung, zu der ein Konsens vorliegt, den Randbereich der Koalitionsfreiheit betreffen. Dann spricht ein Faktor für einen begrenzten, der andere für einen weiten Spielraum. Solche Verschränkungen der einzelnen Faktoren machen die konkrete margin of appreciation nicht immer nachvollziehbar. Mit den Worten von George Letsas: „It follows that the best theory of the margin of appreciation may not be one that the ECtHR judges, one by one, share or have fully developed in their judgments.“466 462

Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 166. Siehe oben unter S. 85. 464 Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 166 ff., wenngleich die Schlussfolgerung, dass positive Pflichten einen Einfluss auf die margin of appreciation haben, richtig ist. 465 Brems, ZaöRV 1996, 240 (256); Gerards, European Law Journal 2011, 80 (107). 466 Letsas, Oxford Journal of Legal Studies, Vol. 26, No. 4 (2006), 705 (706). 463

B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation

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cc) Grundsätzlich weiter Spielraum bei der Koalitionsfreiheit Festgehalten werden kann aber, dass der Gerichtshof den Staaten bei der Gestaltung der kollektiven Beziehungen grundsätzlich einen großen Spielraum zugesteht. Dies ist kein Zufall, sondern liegt an den Faktoren, die er bei Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK am häufigsten verwendet. Für alle vier untersuchten Faktoren konnte festgestellt werden, dass sie in der Regel einen weiten Spielraum bei der Koalitionsfreiheit nach sich ziehen. Man kann insofern von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten eines weiten Gestaltungsspielraums sprechen.467 Ein Beschwerdeführer muss eine Einengung des Spielraums besonders begründen. Weite Spielräume haben wiederum Auswirkungen auf die Bildung von Vorgaben aus Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK: Dort, wo der EGMR Spielräume gewährt und seine richterliche Zurückhaltung ausübt, kann er keine inhaltlichen Vorgaben aufstellen. Weite Vorgaben sind nicht zu erwarten. Nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis der Vorgaben, können diese nicht grundsätzlich weit sein, sondern sind in ihrer Weite von der konkret gewährten margin of appreciation abhängig. Wenn schon die Bestimmung der margin of appreciation nicht immer exakt nachzuvollziehen ist, so muss dies erst recht für die Vorgaben der Koalitionsfreiheit gelten. Dort, wo die Grenzen verschwimmen und flexibel sind, kann eine starre Gestalt von Vorgaben im Sinne von Strukturmerkmalen kaum begründet werden.

IV. Kritik an den Ansätzen in der Literatur 1. Am Ansatz von Mahoney Gegen die erste Ansicht spricht nach alledem schlicht und einfach die Praxis des Gerichtshofs: Die Spielräume, die den Staaten zugestanden werden, sind variabel und hängen von einer Vielzahl von Faktoren ab.468 Sie lassen sich auch nicht vereinfachen. Würde es ein absolutes Minimum geben, das durch die margin of appreciation vom Freiraum der Staaten abgegrenzt werden kann, müsste aber auch die margin of appreciation unveränderlich sein.469 Die Auffassung von einem absoluten Minimum ist reizvoll, weil so tatsächlich Strukturmerkmale definiert werden könnten. Sie ist aber nicht mit einer variablen margin of appreciation vereinbar, wenn die Mindestanforderungen über sie bestimmt werden sollen. Wenn man die Vorgaben über die margin of appreciation bestimmt, muss man diese auch richtig abbilden. Ein Ansatz, der von unveränderlichen Spielräumen ausgeht, kann die Minimalanforderungen nur unzutreffend wiedergeben. Die flexiblen Spielräume werden vom

467 Povedano Peramato, Streikrecht und Arbeitsvölkerrecht, S. 367 f., allerdings allein in Bezug auf das Streikrecht unter Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK. 468 Siehe dazu oben unter S. 85. 469 Hutchinson, International and Comparative Law Quarterly 48 (1999), 638 (643).

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

Ansatz Hutchinsons hingegen berücksichtigt. Hier sind auch die Mindestanforderungen variabel. 2. Am Ansatz von Hutchinson a) Funktion der margin of appreciation Der Ansatz von Hutchinson ist allerdings nicht mit der Funktion der margin of appreciation in Einklang zu bringen. Diese ist in erster Linie ein Instrument richterlicher Zurückhaltung:470 Der Gerichtshof setzt seine Erwägungen nicht an die Stelle des Staats, wenn dieser sich innerhalb seines Spielraums bewegt. Er trifft dann keine eigene Abwägung, sondern vollzieht nur diejenige des Staats nach. Wo der Gerichtshof sich allerdings nicht inhaltlich zu Art. 11 EMRK äußert, können seinen Ausführungen – auch im Wege einer negativen Bestimmung – keine Vorgaben im Sinne von Minimalanforderungen entnommen werden. Sowohl der Ansatz Mahoneys als auch der von Hutchinson beruhen letzten Endes darauf, dass sich Strukturmerkmale und die margin of appreciation als Gegensätze gegenüberstehen. Demnach ist alles, was den Staaten nicht zur freien Gestaltung überlassen wird, ein Strukturmerkmal im Sinne einer Mindestanforderung. Es kann aber nicht erklärt werden, inwiefern eine Figur der richterlichen Zurückhaltung bei der Abwägung zur Bestimmung von Mindestanforderungen führen soll. Strukturmerkmale sind materielle Vorgaben, während die margin of appreciation eine richterliche Zurücknahme der Kontrolldichte im Verfahren bewirkt. Dass dadurch im Ergebnis Spielräume entstehen, bedeutet nicht, dass dort, wo keine Spielräume gewährt werden, immer Strukturmerkmale sein müssen. b) Bestätigung der Annahme durch die Rechtsprechung Diese Argumentation beruht auf der Annahme, dass keine Rückschlüsse auf materielle Vorgaben gezogen werden können, wenn der beschwerte Staat sich innerhalb der zugestandenen margin of appreciation bewegt. Diese Annahme muss deshalb anhand der Spruchpraxis des Gerichtshofs verifiziert werden. aa) Manole und ,Romanian Farmers Direct‘ ./. Rumänien In Manole und ,Romanian Farmers Direct‘ ./. Rumänien ging es um eine Entscheidung, eine Vereinigung von selbständigen Landwirten nicht als Gewerkschaft zu registrieren. Nach Aufzählung der Argumente beider Seiten traf der Gerichtshof keine eigene inhaltliche Bewertung und verwies auf den nationalen Spielraum, der im zu entscheidenden Fall jedenfalls nicht überschritten worden sei:

470

Siehe oben unter S. 78.

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„In conclusion, the Court considers that the County Court’s refusal to register the applicant trade union did not exceed the margin of appreciation available to the national authorities in this sphere, and that it was therefore not disproportionate. Consequently, the Court holds that the Government’s preliminary objection should be rejected and finds that there has been no violation of Article 11 of the Convention.“471

Der EGMR begründete die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme im konkreten Fall ausdrücklich damit, dass der beschwerte Staat seinen Spielraum nicht überschritten habe. Eine eigene inhaltliche Bewertung des Falls nahm er dagegen nicht vor. Die Urteilspassage ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass aus Art. 11 EMRK keine Vorgabe entspränge, eine Gewerkschaft von selbständigen Landwirten zu registrieren. Es kann auch nicht gefolgert werden, dass es unter Art. 11 EMRK grundsätzlich konventionskonform sei, wenn selbständige Landwirte keine Gewerkschaften gründen können. Die Aussage des Gerichtshofs beschränkt sich einzig und allein darauf, dass der rumänische Staat im konkreten Fall seinen Spielraum nicht überschritten habe.472 bb) Tek Gıda I˙s¸ Sendikası ./. Türkei In Tek Gıda I˙s¸ Sendikası ./. Türkei wehrte sich die beschwerdeführende Gewerkschaft gegen die konkrete Zählweise, welche der Ermittlung der Repräsentativität innerhalb eines Unternehmens zugrunde gelegt wurde. Auch hier bewegte sich der türkische Staat innerhalb seines Spielraums: „It considers that the impugned judicial decisions sought to strike a fair balance between the competing interests of the community and the applicant union, and that accordingly, they fell within the State’s margin of appreciation as to how trade-union freedom in general and the applicant union’s ability to protect its members’ occupational interests could be secured. There has therefore been no violation of Article 11 of the Convention in this respect.“473

Der EGMR stellte hier darauf ab, dass die Türkei sich bemüht habe, die widerstreitenden Interessen in Ausgleich zu bringen. Dies genügte dem Gerichtshof, um von einer eigenen inhaltlichen Auseinandersetzung abzusehen. Die Aussage des Gerichtshofs lautet streng genommen wiederum nicht, dass Art. 11 EMRK keine Vorgaben für die Zählweise aufstelle, die der Ermittlung der Repräsentativität einer Gewerkschaft innerhalb eines Unternehmens zugrunde gelegt wird. Vielmehr hat der

471 EGMR, Urt. v. 16. 06. 2015 – 46551/06 (Manole und ,Romanian Farmers Direct‘ ./. Rumänien), Rn. 74 f. (Hervorhebung durch den Verfasser). 472 Es kann zu Fehlrezeptionen führen, wenn die Urteile mit ihren vermeintlichen Vorgaben als Leit- oder Orientierungssätze, die es in den originären EGMR-Urteilen überhaupt nicht gibt, in Zeitschriften wiedergegeben werden. Das Urteil Manole und ,Romanian Farmers Direct‘ ./. Rumänien wurde mit Leitsätzen in NLMR 2015, 239 aufbereitet. Zu dieser selektiven Rezeption europäischer Rechtsprechung, Michl, EuR 2018, 456 (461). 473 EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda I˙s¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 46 f. (Hervorhebung durch den Verfasser).

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

Gerichtshof festgestellt, dass die Türkei bei der konkreten Ausgestaltung ihres Systems den gewährten Spielraum nicht überschritten habe. cc) The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich Der Fall The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich betraf das britische Verbot von Sympathiestreiks. Dort übertrug der Gerichtshof eine Vorgehensweise, die er vor allem in Bezug auf den Schutz des Eigentums (Art. 1 ZP-EMRK) verwendet, auf die Koalitionsfreiheit: „In the sphere of social and economic policy, which must be taken to include a country’s industrial-relations policy, the Court will generally respect the legislature’s policy choice unless it is ,manifestly without reasonable foundation‘. […] These considerations lead the Court to conclude that in their assessment of how the broader public interest is best served in their country in the often charged political, social and economic context of industrial relations, the domestic legislative authorities relied on reasons that were both relevant and sufficient for the purposes of Article 11.“474

Die Aufgabe des Gerichtshofs beschränkte sich in diesem Fall darauf, festzustellen, ob die nationale Maßnahme offensichtlich ohne vernünftige Grundlage getroffen worden ist. Zwar müssen hier die Gegebenheiten des konkreten Falls berücksichtigt werden,475 allerdings lässt die Wortwahl des Gerichtshof („generally“) darauf schließen, dass es sich keineswegs um eine Methode handelt, die nur für den entschiedenen Fall Geltung beanspruchen kann. Der Gerichtshof hat sich hier inhaltlich in größtmöglicher Weise zurückgehalten, weil er die Abwägung einzig auf ihre Willkür hin überprüft hat. dd) Zwischenergebnis Die theoretische Konzeption der margin of appreciation als Instrument richterlicher Zurückhaltung wird auch in der praktischen Anwendung umgesetzt. Bei Anerkennung eines Spielraums äußert sich der Gerichtshof nicht materiell zur streitentscheidenden Abwägung, solange der Staat innerhalb des zugestandenen Spielraums agiert. Dabei beschränkt er sich darauf, die nationalen Entscheidungen nachzuvollziehen. Vorgaben im Sinne von Strukturelementen können solchen Urteilen hingegen nicht entnommen werden. 474 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 99 (Hervorhebung durch den Verfasser). 475 Klaus Lörcher spricht dem Urteil insofern die Relevanz ab, als er es als Folge des extremen Drucks von Seiten der britischen Regierung auf das System der EMRK und der Rechtsprechung des Gerichtshofs auffasst, vgl. HSI-Newsletter 2/2014, unter III. 3.2 (3), abrufbar unter: https://www.boeckler.de/pdf/hsi_newsletter_02_2014.pdf (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). Dass der Gerichtshof jedoch ständig Einflüssen ausgesetzt ist und diese auch in seiner Rechtsprechung aufnimmt, wurde oben (unter S. 81) bereits beschrieben.

B. Implizite Bestimmung über die margin of appreciation

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c) Fälle, in denen keine margin of appreciation gewährt wird Problematisch, und das kann an dem Modell impliziter Bestimmung ebenfalls kritisiert werden, wird es, wenn der Gerichtshof den Staaten keine margin of appreciation eröffnet. Dies müsste nach obigem Verständnis entweder bedeuten, dass dem Staat kein Spielraum zugestanden wird und hier umfangreiche Vorgaben aufgestellt werden. Ebenso könnte ein Fall aus Sicht des Gerichtshofs so eindeutig sein, dass er von einer margin of appreciation absieht. In diesen Fällen spricht der Gerichtshof dem Staat entweder keinen Spielraum zu, stellt zugleich aber auch keine Minimalbedingungen auf. Oder aber er gewährt keinen Spielraum und gibt umfangreiche Anweisungen. Hier kann eine implizite Bestimmung von Vorgaben nicht gelingen. Die Anzahl an Urteilen, in denen keine margin of appreciation zugesprochen wird, ist groß: Seit 2012 – dem Jahr, als in der Brighton Declaration die margin of appreciation in den Mittelpunkt gerückt wurde – erwähnte der Gerichtshof in sieben von 18 gelisteten Urteilen staatliche Spielräume.476 Diese Zahl übersteigt die Quote der Erwähnung in Urteilen bezogen auf alle Konventionsrechte zwar um mehr als das Zwölffache.477 Auch wenn der prozentuale Anteil von margin of appreciation-Urteilen bei der Koalitionsfreiheit besonders hoch ist, machen diese Fälle im Ergebnis nicht einmal die Hälfte der Urteile aus. Eine negative Bestimmung von Vorgaben ist hier nicht möglich. 476 EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013 – 2330/09 (Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien), Rn. 172; EGMR, Urt. v. 25. 12. 2012 – 11828/08 (Trade Union of the Police in the Slovak Republic et al. ./. Slowakei), Rn. 54; EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 104; EGMR, Urt. v. 21. 04. 2015 – 45892/09 (Junta Rectora Del Ertzainen Nazional Elkartasuna (ER.N.E.) ./. Spanien), Rn. 39; EGMR, Urt. v. 16. 06. 2015 – 46551/06 (Manole und ,Romanian Farmers Direct‘ ./. Rumänien), Rn. 74; EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda ˙Is¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 46; EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland), Rn. 67. 477 Der hier errechnete prozentuale Anteil (38,9 Prozent „margin-Urteile“) kann nicht mit der Zahl von Madsen unter S. 83 mit Fn. 301 verglichen werden, da dieser die Erwähnungen der margin of appreciation pro einer Million Wörter und nicht wie hier daran gemessen hat, ob ein Urteil die margin of appreciation erwähnt. Eine Suche in der HUDOC-Datenbank, die alle englischsprachigen Urteile der Großen Kammer und der sonstigen Kammern umfasst (also im Grunde die gleichen Suchparameter wie diejenigen, die zur Erstellung der Liste der Urteile zur Koalitionsfreiheit verwendet wurden, benutzt) seit der Brighton-Declaration ergibt einen prozentualen Anteil der „margin-Urteile“ in Bezug auf alle Konventionsrechte von 3,0 Prozent (600 von 19.690 Urteilen), vgl. https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22documentcollectionid2%22 :[%22GRANDCHAMBER%22,%22CHAMBER%22],%22kpdate%22:[%222012-04-21 T00:00:00.0Z%22,%222021-02-23T00:00:00.0Z%22],%22bodylaw%22:[%22\%22margin%2 0of%20appreciation\%22%22]} (letzter Zugriff am 23. 02. 2021) und https://hudoc.echr.coe.int/ eng#{%22documentcollectionid2%22:[%22GRANDCHAMBER%22,%22CHAMBER%22 ],%22kpdate%22:[%222012-04-21T00:00:00.0Z%22,%222021-02-23T00:00:00.0Z%22]} (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). Hierbei wurde der Suchbegriff nur unter der Dokumentensektion „The Law“ gesucht, weil dies der Bereich ist, in dem sich der Gerichtshof zum Fall äußert. Diese Suche – so grob sie auch ist – gibt einen Hinweis darauf, wie hoch der prozentuale Ansatz von margin-Urteilen bei der Koalitionsfreiheit ist.

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

3. Zwischenergebnis Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass es nicht möglich ist, von der margin of appreciation auf konkrete Mindestanforderungen eines Konventionsrechts zu schließen. Dies liegt vor allem an der Funktion der margin of appreciation und ihrer praktischen Handhabung. Es kann nicht erklärt werden, inwiefern eine Figur der richterlichen Zurückhaltung bei der Abwägung konkrete Mindestanforderungen nach sich ziehen soll. Zudem gibt es zu viele Urteile, in denen sie keine Rolle spielt. Letztlich waren beide Ansätze zum Scheitern verurteilt: Der erste, weil er die margin of appreciation nicht als variabel angesehen hat und der zweite, gerade weil er dies berücksichtigt hat. Die Ansicht variabler Spielräume spiegelt zwar die Praxis des Gerichtshofs wider. Sind aber infolgedessen auch die Anforderungen flexibel, handelt es sich von vorneherein nicht um Vorgaben, die für alle Staaten gleichermaßen gelten und mithin nicht um Strukturmerkmale im hier verstandenen Sinn.

C. Absage an Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben I. Grundsatz: Allgemeiner Mindestschutz durch die Konvention Die Untersuchung hat gezeigt, dass Mindestanforderungen – jedenfalls für die Koalitionsfreiheit – sowohl explizit als auch implizit nicht zu bestimmen sind. Der Gerichtshof nennt keine Strukturmerkmale, die alle Systeme zu erfüllen haben. Auch über die margin of appreciation oder den Wesensgehalt lassen sich solche Merkmale nicht herausfiltern. Dies lässt sich mit der Subsidiarität der Konvention erklären. Dass die Konvention aufgrund ihres subsidiären Charakters lediglich einen Mindestschutz gewährleistet, ist im Grunde allgemein anerkannt.478 Art. 53 EMRK besagt, dass die Konvention nicht so auszulegen sei, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen einer Hohen Vertragspartei oder in einer anderen Übereinkunft, deren Vertragspartei sie ist, anerkannt werden. Das darin enthaltene Günstigkeitsprinzip stellt klar, dass die Konvention lediglich eine Untergrenze darstellt, menschenrechtsfreundlichere Gestaltungen aber zugleich zulässt.479

478 Vgl. statt aller Wildhaber, EuGRZ 2005, 689. Siehe instruktiv das Sondervotum von Richter Krzysztof Wojityczek zu EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 3: „It has to be stressed that the mandate of the European Court of Human Rights has been defined in a restrictive way by Article 19 of the Convention. The role of the Court is to ensure the observance of the engagements undertaken by the High Contracting Parties to the Convention and the Protocols thereto. Therefore the Court remains the guardian of a limited catalogue of rights as protected under the minimum standard set forth in the Convention and the additional Protocols.“ 479 Allgemeine Meinung, vgl. nur Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 2 Rn. 14; HK-EMRK/ Meyer-Ladewig/Renger, Art. 53 Rn. 1.

C. Absage an Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

115

II. Keine Matrixstruktur Die Gewährleistung eines allgemeinen Mindestschutzes führt allerdings nicht zwingend dazu, dass der Gerichtshof für jedes Konventionsrecht auch konkrete Mindestbedingungen im Sinne von einzelnen Strukturmerkmalen formuliert. Die Konvention ist ein Auffangnetz, das erst dann greift, wenn der nationale Schutz versagen sollte.480 Wenn die Konvention bei der Koalitionsfreiheit konkrete Mindestanforderungen für die Gestaltung der Systeme unter Art. 11 EMRK vorgäbe, schaffte sie eine Matrixstruktur. Dies widerspräche allerdings der Konzeption der Konvention: „[T]he European Convention on Human Rights is not considered to be a superstructure imposed on the contracting states from above, but a system of rules which are part of the common European heritage.“481

Die Konvention war von Anfang an nicht darauf ausgelegt, den kleinsten gemeinsamen Nenner der Systeme der Mitgliedstaaten ausfindig zu machen und diesen zum allgemeinen Maßstab des europäischen Grundrechtsschutzes zu erheben.482 Das schließt die Formulierung von verallgemeinerungsfähigen Standards zwar nicht aus.483 Eine solche darf aber nicht dazu führen, dass losgelöst von einer Gesamtbetrachtung bestimmte Einzelmerkmale als unabdingbar für die Gestaltung einer bestimmten Rechtsordnung angesehen werden. Diese Erkenntnis, führt letztlich auch dazu, dass den Staaten Spielräume für unterschiedlichen Herangehensweisen eingeräumt werden.484 Eine Matrixstruktur scheitert also letztlich bereits daran, dass die Konvention in Bereichen, wo es um die Gestaltung multipolarer Beziehungen geht, keine konkreten Mindestbedingungen formulieren kann und will. Dies ist in einem subsidiären System generell Aufgabe der untergeordneten Einheit.

III. Keine Harmonisierung Der EGMR beschränkt seine Prüfung zunehmend darauf, ob die konkret beanstandete Maßnahme mit der Koalitionsfreiheit vereinbar ist.485 Indes benennt er keine konkreten Strukturmerkmale, die für alle Staaten gleichermaßen gelten müssen. Harris, O’Boyle, Bates und Buckley formulieren treffend: 480

Wildhaber, EuGRZ 2005, 689. Brems, ZaöRV 1996, 240 (276), 482 Dörr/Grote/Marauhn, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Einleitung Rn. 2. 483 So auch Dörr/Grote/Marauhn, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Einleitung Rn. 2, die allerdings darauf aufbauend zu dem Schluss kommen, dass der EGMR seine „an den Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls ausgerichtete, kasuistische Spruchpraxis zu überdenken“ haben. Siehe dazu aber bereits unter S. 50. 484 Vgl. Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 228. 485 Zu diesem Vorgehen des Gerichtshofs, siehe Spano, Human Rights Law Review 2018, 473 (480 ff.). 481

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3. Teil: Strukturmerkmale als Gestaltungsvorgaben

„The European Court cannot write a comprehensive trade union law on the narrow basis of Article 11.“486

Der in diesem Zusammenhang geäußerten Kritik von Absenger und Schubert – „Konventionskonformität setzt weitgehende Harmonisierung voraus.“487 – ist entgegenzutreten: Die konventionskonforme Gestaltung kollektiver Beziehungen ist auch durch unterschiedliche Herangehensweise möglich und sogar erwünscht.488 Der Gestaltungsfreiheit sind Grenzen gesetzt, diese zeigen sich aber nicht in einer einheitlichen Matrixstruktur, die von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK vorgegeben wird. Im Ergebnis sind Strukturmerkmale damit sowohl praktisch nicht zu bestimmen als auch theoretisch nicht zu begründen.

486

Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, Law of the EHCR, S. 734. Absenger/J. Schubert, SR 2019, 211 (224). 488 Vgl. den Wortlaut der Begründung zu Art. 1 des 15. EMRK-ZP: „The jurisprudence of the Court makes clear that the States Parties enjoy a margin of appreciation in how they apply and implement the Convention, depending on the circumstances of the case and the rights and freedoms engaged.“, siehe Council of Europe, Explanatory Report to Protocol No. 15 amending the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, S. 2. 487

4. Teil

Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben Gestaltungsvorgaben müssen nach der bisherigen Untersuchung dreierlei leisten können: Zum einen müssen sie für alle Staaten gleichermaßen gelten, sonst wären sie keine allgemeingültigen Vorgaben. Zweitens müssen sie im Sinne der Subsidiarität den Staaten Gestaltungsmöglichkeiten offenlassen und nicht schon eine Matrixstruktur vorwegnehmen. Eine Strukturvorgabenlehre scheidet damit aus. Zuletzt müssen sie ungeachtet der staatlichen Spielräume sicherstellen, dass ein bestimmter europäischer (Mindest-)Konsens eingehalten wird.

A. Wesentliche Elemente als Anknüpfungspunkt I. Vorüberlegung Der Gerichtshof hält sich generell mit abstrakten Aussagen zurück.489 Das Urteil Demir und Baykara ./. Türkei ist daher hervorzuheben, weil der EGMR hier explizit zwei „guiding principles“ benennt, die seine Rechtsprechung zum Inhalt der Koalitionsfreiheit kennzeichnen.490 Dem Urteil wird dementsprechend in der Literatur eine überragende Bedeutung beigemessen.491 Vor allem die Aussagen zu den Leitlinien sind herauszustellen, weil sie sich wie eine Zusammenfassung der maßgeblichen und verallgemeinerungsfähigen Rechtsprechung zur Koalitionsfreiheit lesen. Erstens betont der EGMR, dass er die Gesamtheit aller Maßnahmen, die der betreffende Staat zum Schutz der Koalitionsfreiheit ergriffen hat, vorbehaltlich seiner margin of appreciation berücksichtige.492 Die staatlichen Spielräume wurden im Laufe der Arbeit bereits eingehend betrachtet.493 Zweitens akzeptiert der EGMR keine Einschränkungen, welche die wesentlichen Elemente der Gewerkschaftsfrei-

489

Siehe dazu oben unter S. 51. EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 144. 491 Ewing/Hendy, Industrial Law Journal, 2 (47): „epoch-making“; Harris/O’Boyle/Bates/ Buckley, Law of the EHCR, S. 729: „breakthrough case“; Nußberger, DRdA 2015, 408 (409): „grundlegenden Entscheidung“; Sagan, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Art. 11 Rn. 13: „Grundsatzurteil“. 492 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 144. 493 Siehe oben unter S. 76. 490

118

4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

heit beeinträchtigen, ohne die diese Freiheit inhaltsleer würde.494 Diese Formulierung erinnert an das Wesensgehaltsargument. Oben wurde bereits geklärt, dass sich hieraus keine konkreten Grenzen im Sinne von Mindestanforderungen ergeben können.495 Eine tiefergehende Bedeutung muss ihnen dennoch zugeschrieben werden, wenn die Koalitionsfreiheit ohne sie inhaltsleer wäre. Man muss das sich dahinter verbergende Kryptoargument herausarbeiten. Im Folgenden wird daher untersucht, wie die wesentlichen Elemente vom Gerichtshof verwendet werden und ob sie als Anknüpfungspunkt für Vorgaben zur Gestaltung kollektiver Beziehungen tauglich sind.

II. Die Figur der wesentlichen Elemente 1. Auflistung der wesentlichen Elemente in Demir und Baykara ./. Türkei Die Figur der wesentlichen Elemente hat der Gerichtshof in Demir und Baykara ./. Türkei nicht neu entwickelt. Vielmehr hat sie schon über 30 Jahre zuvor im ersten Urteil des Gerichtshofs zur Koalitionsfreiheit Eingang gefunden: Dort wurde diskutiert, ob ein Konsultationsrecht der Gewerkschaften für die effektive Ausübung der Koalitionsfreiheit unverzichtbar und somit ein wesentliches Element von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK sei.496 In Demir und Baykara ./. Türkei listete der Gerichtshof die wesentlichen Elemente, die sich aus seiner Rechtsprechung ergeben, aber erstmals auf: „From the Court’s case-law as it stands, the following essential elements of the right of association can be established: the right to form and join a trade union, the prohibition of closed-shop agreements and the right for a trade union to seek to persuade the employer to hear what it has to say on behalf of its members.“497

Der Gerichtshof benennt hier die Gewerkschaftsgründung und den Gewerkschaftsbeitritt (1.), das Verbot von Absperrklauseln (2.) und das Recht einer Gewerkschaft, vom Arbeitgeber gehört zu werden (3.), als die bisher entwickelten wesentlichen Elemente der Koalitionsfreiheit. Anschließend kommt er zu dem Ergebnis, dass auch das Recht, Tarifverhandlungen zu führen (4.), ein wesentliches Element sei.498 Der Gerichtshof begründet das hauptsächlich mit den Entwicklungen im internationalen Arbeitsrecht und der Praxis in den kollektiven Systemen der Mitgliedstaaten.499 Weiter betont er, dass diese Liste nicht abschließend sei, sondern 494

EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 144. Siehe oben unter S. 74. 496 EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Rn. 38. Ausführlich sogleich unter S. 122. 497 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 144 f. 498 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 154. 499 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 154. 495

A. Wesentliche Elemente als Anknüpfungspunkt

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neue Entwicklungen bei der Gestaltung von Arbeitsbeziehungen auch zu neuen wesentlichen Elementen führen könnten.500 2. Keine Aufwertung der Intensität des Schutzes Im wissenschaftlichen Diskurs findet die konkrete Funktion der wesentlichen Elemente wenig Beachtung. Größtenteils werden sie lediglich als vom Schutzbereich der Koalitionsfreiheit erfasst angesehen, ohne dass sie näher eingeordnet werden.501 Die Einstufung als wesentliches Element würde danach allein für die Zuordnung zum Schutzbereich eine Rolle spielen. So erklärt Christoph Katerndahl die Auswirkungen der Vorgehensweise in Demir und Baykara ./. Türkei zutreffend wie folgt: „Der Terminus ,wesentliches Element‘ hat mit anderen Worten bei der Entscheidung, dass das Recht auf Tarifverhandlung überhaupt vom Schutzbereich der Koalitionsfreiheit erfasst ist, Verwendung gefunden. Zur Intensität des grundrechtlichen Schutzes hat er demgegenüber keine Aussage getroffen.“502

Ein solches Verständnis der wesentlichen Elemente ist auf den ersten Blick kontraintuitiv. Wenn die wesentlichen Elemente allein den Schutzbereich bestimmen, stellt sich die Frage, ob auch andere Elemente von der Koalitionsfreiheit erfasst sind. Zudem ist zu untersuchen, was dann die wichtigen von den wesentlichen Elementen unterscheidet. Der Gerichtshof sieht beispielsweise das Streikrecht als „offensichtlich von Art. 11 EMRK geschützt“503 an. Gleichwohl hat er dieses Element noch nicht als wesentlich bezeichnet, sondern die Frage bewusst offengelassen.504 In der Literatur wird dennoch die Auffassung vertreten, dass der Gewährleistungsbereich der Koalitionsfreiheit neben den vier wesentlichen Elementen allein noch das Streikrecht als fünften und letzten Aspekt umfasse.505 Dies führt zu dem wenig überzeugenden Ergebnis, dass vier von fünf der von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 500

EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 146. So z. B. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 88; Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZABeilage 2015, 3 (45); Grzeszick, NZA 2013, 1377 (1382); Velyvyte, Human Rights Law Review 2015, 73 (74 u. 77). Besonders unspezifisch ist die Formulierung bei Mantouvalou, Human Rights Law Review 2013, 529 (536): „Applied to the ECHR, it means that certain social and labour components are essential elements of the Convention, and should therefore be protected as such.“ 502 Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 234. 503 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 84. 504 Vgl. EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 84: „The Court does not therefore discern any need in the present case to determine whether the taking of industrial action should now be accorded the status of an essential element of the Article 11 guarantee.“ Dies stellt auch Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 234 f. fest. 505 Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 234 f. 501

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

EMRK geschützten Elemente wesentlich sind, dies aber keine Auswirkungen haben soll. Der Begriff der wesentlichen Elemente wäre dann überflüssig.

III. Entwicklung einer Funktionselementenlehre Die Funktion der wesentlichen Elemente kann womöglich besser beschrieben werden, wenn man sie als funktionswesentliche Elemente versteht. Sie könnten flexible Funktionselemente von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK sein, anhand derer der EGMR beurteilen kann, ob in einem Mitgliedstaat die Koalitionsfreiheit effektiv wahrgenommen werden kann. Anders als Strukturvorgaben nähmen sie keine Matrixstruktur vorweg, sondern gäben die Funktionen wieder, die in einem kollektiven System wahrgenommen werden können müssen. Dazu müsste der Koalitionsfreiheit ein funktionales Grundrechtsverständnis zugrunde liegen und auch die wesentlichen Elemente müssten funktional zu bestimmen sein. 1. Funktionale Grundrechtskonzeption a) Ausdruck der Verantwortung in einer demokratisch sozialen Einheit Menschenrechte werden allgemein als universal verstanden, das heißt sie gelten für alle Menschen auf der Welt in der gleichen Weise und im gleichen Umfang.506 Begründet wird der umfassende Geltungsanspruch mit der Würde des Menschen507 oder dem Menschsein als solchem508. Das BVerfG führt beispielsweise aus, dass „sämtliche Grundrechte Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde“509 seien. Während sich bei manchen Rechten der EMRK der Gedanke der Menschenwürde sofort aufdrängt, verdanken andere Rechte ihre Existenz nicht einem moralischen, sondern in erster Linie einem funktionalen oder politischen Verständnis: Sie sind nicht bloß Ausdruck der Rechte des Einzelnen als isoliertem Wesen, sondern entspringen der Position und Verantwortung des Individuums innerhalb einer demokratischen und gemeinschaftlichen Einheit.510 506

Näher dazu di Fabio, in: Nooke/Lohmann/Wahlers, Gelten Menschenrechte universal?, S. 63; siehe auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Universal Declaration of Human Rights) vom 10. 10. 1948; kritisch zum universellen Geltungsanspruch Sedley, in: Liber Amicorum Wildhaber, S. 793 (802). 507 Statt vieler Bielefeldt, in: Nooke/Lohmann/Wahlers, Gelten Menschenrechte universal?, S. 98 (105). 508 Vgl. di Fabio, in: Nooke/Lohmann/Wahlers, Gelten Menschenrechte universal?, S. 63; Griffin, Proceedings of the Aristotelian Society 101 (2001), 1 (2). 509 BVerfG, Beschluss v. 10. 10. 1995 – 1 BvR 1476/91 u. a., NJW 1995, 3303 (3304). So auch BVerfG, Beschluss v. 11. 03. 2003 – 1 BvR 426/02, NJW 2003, 1303 (1304). Kritisch dazu Herdegen, in: Maunz/Dürig, Art. 1 GG Rn. 22 f. 510 Spano, Human Rights Law Review 2018, 473 (483 f.).

A. Wesentliche Elemente als Anknüpfungspunkt

121

Der EGMR verbindet in seiner Rechtsprechung autonome und funktionale Grundrechtskonzeptionen.511 Für die Koalitionsfreiheit greift dabei der Gedanke, dass der Zusammenschluss von Einzelpersonen zu Koalitionen vom EGMR als Mittel zum Zweck verstanden wird, soziale Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu schaffen.512 Im Zentrum steht folglich eine konkrete Funktion, die der Koalitionsfreiheit zugeordnet ist. Sämtliche Elemente der konventionsrechtlichen Koalitionsfreiheit können damit funktional ausgelegt werden.513 b) Auswirkung dieser Konzeption auf die Koalitionsfreiheit Die funktionale Grundrechtskonzeption von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK hat zum einen Auswirkungen auf das grundrechtliche Schutzniveau, bestimmt aber bereits auf einer höheren Ebene die zulässigen Argumente für die Auslegung.514 Dies erklärt beispielsweise die Zurückweisung einer Argumentation mit dem Kerngehalt als Ausdruck der Menschenwürde im vorigen Abschnitt. Insofern ergeben sich durch ein funktionales Verständnis Auswirkungen für das Konventionsrecht auf der Definitions- und der Abwägungsebene.515 Generell führt eine funktionale Grundrechtskonzeption dabei ähnlich einer teleologischen Auslegung dazu, dass an den mit der Bestimmung verfolgten Zweck angeknüpft wird.516 So eröffnet sie den Mitgliedstaaten größere Spielräume bei der Frage, welche Mittel zur Erreichung des Zwecks gewählt werden, als dies bei einer autonomen Konzeption der Fall wäre.517 Der Vorteil des funktionalen Ansatzes ist es damit, dass er dem Gerichtshof eine flexible Prüfung nationaler Ausgestaltungen unter Berücksichtigung ihrer Spielräume ermöglicht. Auch die Rolle der wesentlichen Elemente lässt sich so modifizieren und zugleich verdeutlichen: Sie sind funktionswesentliche Elemente. Indem sie die Aspekte aufzeigen, die unter Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK als wesentlich für die effektive Gewährleistung der Koalitionsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft sind, bieten sie den Mitgliedstaaten Vorgaben für die Gestaltung ihrer Systeme. Während die Wahrnehmung der Funktionselemente möglich sein muss, 511

(83).

v. Ungern-Sternberg, in: Matz-Lück/Hong, Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 69

512 Vgl. EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013 – 2330/09 (Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien), Rn. 130. 513 So im Übrigen auch bei Art. 9 Abs. 3 GG, siehe dazu Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG Rn. 163 u. 298; vgl. auch Rn. 316 zur funktionalen Bewertung bei Art. 11 EMRK. 514 v. Ungern-Sternberg, in: Matz-Lück/Hong, Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 69 (86 f.). 515 v. Ungern-Sternberg, in: Matz-Lück/Hong, Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 69 (89 f.). 516 v. Ungern-Sternberg, in: Matz-Lück/Hong, Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 69 (95). 517 v. Ungern-Sternberg, in: Matz-Lück/Hong, Grundrechte und Grundfreiheiten, S. 69 (95).

122

4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

wird die konkrete Struktur, wie diese zueinander in Beziehung gesetzt werden, von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK nicht vorgegeben. 2. Der Koalitionszweck als Anknüpfungspunkt für die Funktionswesentlichkeit Eine funktionale Auslegung ergibt aber nur Sinn, wenn die zu erfüllende Funktion des Rechts bestimmbar ist. Der EGMR versteht die Koalitionsfreiheit als wichtiges Instrument, um soziale Gerechtigkeit und einen Ausgleich zwischen Arbeitgeberund Arbeitnehmerseite zu schaffen.518 Art. 11 EMRK gewährt das Recht einer jeden Person, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten. Legt man nun der Norm – wie hier vorgeschlagen – ein funktionales Verständnis zugrunde, so müsste über die individuelle Gründungs- und Beitrittsfreiheit auch die (kollektive) Interessenwahrnehmung von Art. 11 EMRK geschützt sein. Welche Bedeutung dieser Koalitionszweck indes für die wesentlichen Elemente hat und ob sich daraus überhaupt eine Auswirkung auf das Schutzniveau ergibt, war in den frühen Jahren der EMRK noch umstritten. a) Eine Ansicht: Redundanz des Koalitionszwecks aa) Unzulässige Erweiterung des Schutzbereichs Die Auslegung des Bestandteils „zum Schutz seiner Interessen“ war die entscheidende Frage im ersten Fall, in dem sich der EGMR mit der Koalitionsfreiheit beschäftigt hat. Der Gerichtshof und die damals noch vorgeschaltete Kommission hatten in National Union of Belgian Police ./. Belgien519 unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie sich die Passage auf den Schutzbereich von Art. 11 EMRK auswirke. Im Kern ging es um die Weigerung des Innenministeriums, die beschwerdeführende Gewerkschaft als Konsultationspartner anzuerkennen. Der Bericht der Kommission erging zu der Frage, ob ein Konsultationsrecht von Art. 11 EMRK geschützt sei, mit einer bejahenden Mehrheit von acht zu fünf Stimmen. Die Kommissionsminderheit vertrat die Auffassung, dass lediglich das Recht auf die Gründung und den Beitritt zu Gewerkschaften geschützt sei.520 Die Anerkennung von Gewerkschaftsrechten sei der Vereinigungsfreiheit nicht inhärent, sondern vielmehr eine (unzulässige) Erweiterung derselben.521 Der Ausdruck „zum Schutz seiner Interessen“ sei daher redundant, weil es schwer vorstellbar sei, dass eine Gewerkschaft 518 EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013 – 2330/09 (Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien), Rn. 130. 519 Zum Sachverhalt siehe EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Rn. 11 ff. 520 EKMR, Bericht v. 27. 05. 1974 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien, abweichende Meinung § 3. 521 EKMR, Bericht v. 27. 05. 1974 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien, abweichende Meinung § 4.

A. Wesentliche Elemente als Anknüpfungspunkt

123

oder eine Vereinigung zu einem anderen Zweck als zur Verteidigung der Interessen ihrer Mitglieder gegründet werde.522 bb) Gefahr der einschränkenden Wirkung Sir Gerald Fitzmaurice, der dem später ergangenen Urteil des Gerichtshofs im Ergebnis zustimmte, sah die Wendung „for the protection of his interests“ wie die Kommissionsminderheit als redundant an: Sie füge nichts Substanzielles hinzu, das nicht bereits vorhanden wäre.523 Anstatt dessen bestehe die Gefahr einer einschränkenden Wirkung, wenn der Anschein erweckt werde, dass nur gewerkschaftliche Aktivitäten von der Koalitionsfreiheit erfasst seien, die dem Koalitionszweck dienten.524 Der Baustein impliziere nichtsdestotrotz ein gewisses Mindestmaß an gewerkschaftlicher Aktivität, denn wenn den Mitgliedern nur Einzelaktionen offen stünden, ginge der ganze Sinn der Bildung einer Vereinigung in einem gewerkschaftlichen Kontext verloren.525 Die Verweigerung eines Konsultationsrechts im konkreten Fall verletze Art. 11 EMRK aber nicht.526 b) Andere Ansicht: Funktionale Auslegung aa) Weite Auslegung in Bezug auf den Koalitionszweck Die Kommission vertrat in ihrem Bericht an den Gerichtshof mehrheitlich die Auffassung, dass die Freiheit, Tarifverhandlungen zu führen und – a fortiori – das Konsultationsrecht wichtige und sogar wesentliche Elemente der gewerkschaftlichen Betätigung seien.527 Diese wesentlichen Elemente seien wiederum von Art. 11 EMRK geschützt, weil anderenfalls die Arbeit der Gewerkschaften zum Schutz der beruflichen Interessen ihrer Mitglieder nutzlos wäre.528 Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK müsse mehr enthalten als lediglich das Recht auf eine Gewerkschaftsgründung und

522 EKMR, Bericht v. 27. 05. 1974 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien, abweichende Meinung § 3. 523 EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Sondervotum Fitzmaurice Rn. 13. 524 EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Sondervotum Fitzmaurice Rn. 12. 525 EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Sondervotum Fitzmaurice Rn. 14. 526 EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Sondervotum Fitzmaurice Rn. 17. 527 EKMR, Bericht v. 27. 05. 1974 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), § 76. 528 EKMR, Bericht v. 27. 05. 1974 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), § 76 spricht von der „stérilité de l’activite syndicale“.

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

den Beitritt, und sei daher in Bezug auf seinen Zweck – die Interessen der Mitglieder zu schützen – weit auszulegen.529 bb) Unverzichtbarkeitskriterium als Einschränkung Der Gerichtshof beschritt in seinem Urteil einen Mittelweg. Zum einen sprach er sich in der Sache gegen ein Konsultationsrecht aus: Weder sei ein solches Recht ausdrücklich in Art. 11 EMRK erwähnt, noch sei es unverzichtbar für die effektive Ausübung der Gewerkschaftsfreiheit.530 Mithin werde es auch nicht notwendigerweise von Art. 11 EMRK geschützt.531 Die beschwerdeführende Gewerkschaft könne sich durch eine Vielzahl anderer Aktivitäten für die Rechte ihrer Mitglieder einsetzen.532 Zwar könne der praktische Nutzen, Mitglied in einer nicht konsultationsberechtigten Gewerkschaft zu sein, abnehmen; dies sei aber nicht mit der Koalitionsfreiheit unvereinbar.533 Zugleich erteilte der Gerichtshof allerdings auch der Auffassung der Kommissionsminderheit eine deutliche Absage. Der Ausdruck „zum Schutz seiner Interessen“ sei nicht überflüssig, sondern zeige deutlich, dass die Gewerkschaften das Recht haben müssten, die beruflichen Interessen ihrer Mitglieder durch gewerkschaftliche Tätigkeiten zu schützen.534 Welche Mittel der Staat den Gewerkschaften dafür zur Verfügung stelle, bliebe ihm aber grundsätzlich überlassen.535 Zwingend ergebe sich aus diesem Zweck jedenfalls allein ein Recht der Gewerkschaft, gehört zu werden.536 c) Stellungnahme aa) Relevanz des Koalitionszwecks Der Gerichtshof betonte zu Recht, dass die Benennung des Koalitionszwecks nicht redundant sei. Während die Kommissionsminderheit in National Union of 529

§ 71.

EKMR, Bericht v. 27. 05. 1974 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien),

530 EGMR, Rn. 38. 531 EGMR, Rn. 38. 532 EGMR, Rn. 40. 533 EGMR, Rn. 41. 534 EGMR, Rn. 39. 535 EGMR, Rn. 39. 536 EGMR, Rn. 39.

Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien),

A. Wesentliche Elemente als Anknüpfungspunkt

125

Belgian Police ./. Belgien eine Erweiterung des Schutzbereichs befürchtete, sah Fitzmaurice die Gefahr einer einschränkenden Wirkung. Beide Argumente können jedoch nicht überzeugen: Eine erweiternde Auslegung ist aufgrund des knappen Wortlautes und der sich ändernden gesellschaftlichen Umstände notwendig und entspricht der dynamischen Interpretation des Gerichtshofs.537 Damit diese nicht ausufert, kann der Koalitionszweck als Korrektiv herangezogen werden. Die Bindung des Gewährleistungsinhalts der Koalitionsfreiheit an den Koalitionszweck sorgt damit dafür, dass weder eine ausufernde Erweiterung noch eine restriktive Einschränkung der geschützten Elemente droht. bb) Weitgehende Fortführung der Argumentationslinie Im Nachgang von National Union of Belgian Police ./. Belgien wurde die dort ausgearbeitete Argumentationslinie dann auch bis heute weitgehend unverändert beibehalten: Der Gerichtshof führt in ständiger Rechtsprechung aus, dass der Koalitionszweck in Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK nicht redundant sei.538 Allein die Ergebnisse, zu welchen er infolgedessen kam, änderten sich im Laufe der Zeit. Es wurden weitere wesentliche Elemente anerkannt, die der Gerichtshof schließlich in Demir und Baykara ./. Türkei aufgezählt hat. Nicht geändert hat sich dagegen die Betonung des Koalitionszwecks als Anknüpfungspunkt für eine funktionale Interpretation. Der Koalitionszweck ist die Daseinsberechtigung der Koalition und bestimmt ihre Aufgaben und Rechte. Diese funktionale Interpretation erschöpft sich allerdings nicht allein – wie ursprünglich in National Union of Belgian Police ./. Belgien – auf die kollektive Koalitionsfreiheit. Auch das Recht, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten, sowie das Verbot von Absperrklauseln sind beispielsweise wesentliche Elemente, die allerdings der individuellen Koalitionsfreiheit zuzuschreiben sind. Sie bezeichnen die Gewährleistungsinhalte, die zur Verfolgung des Koalitionszwecks funktionswesentlich und daher von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK geschützt sind. 3. Die Praxis der Mitgliedstaaten als Anknüpfungspunkt für die Funktionswesentlichkeit a) Rechtsvergleich als Indikator für funktionswesentliche Elemente Was funktionswesentlich ist, kann der Gerichtshof zwar über den Koalitionszweck begründen. Allerdings benötigt er hierzu praktische Erfahrungswerte. Eine Beurteilung der Funktionswesentlichkeit von bestimmten Aspekten kann nicht rein abstrakt erfolgen. Infolgedessen untersucht der EGMR die nationalen Systeme und 537

Siehe dazu bereits oben unter S. 34. St. Rspr., vgl. z. B. EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5614/72 (Swedish Engine Drivers’ Union ./. Schweden), Rn. 40; EGMR, Urt. v. 30. 07. 2009 – 67336/01 (Danilenkov et al. ./. Russland), Rn. 121; EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland), Rn. 55. 538

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

die maßgeblichen völkerrechtlichen Abkommen wie beispielsweise die ESC sowie die Spruchpraxis dazu auf ihre Gemeinsamkeiten, wenn er den Gewährleistungsinhalt einer Konventionsnorm näher bestimmt.539 Kommt er zu dem Schluss, dass sich hinsichtlich bestimmter Elemente ein Konsens zwischen den Staaten gebildet hat, sieht er einen Aspekt als funktionswesentlich an. Ein europäischer Konsens ist somit nicht nur entscheidend für die Bestimmung der Reichweite der margin of appreciation,540 sondern bereits eine Stufe zuvor für die Bestimmung wesentlicher Elemente. Dieses Vorgehen zeigt sich deutlich in Demir und Baykara ./. Türkei, wo der Gerichtshof das Recht, Tarifverhandlungen zu führen, als wesentliches Element anerkannt hat: „Consequently, the Court considers that, having regard to the developments in labour law, both international and national, and to the practice of Contracting States in such matters, the right to bargain collectively with the employer has, in principle, become one of the essential elements of the ‘right to form and to join trade unions for the protection of [one’s] interests’ set forth in Article 11 of the Convention […].“541

Ein gemeinsamer Konsens setze dabei nicht voraus, dass die Gesamtheit aller Abkommen, die in Bezug auf den genauen Gegenstand des Falls anwendbar sind, vom betroffenen Staat ratifiziert wurden.542 Ein solches Erfordernis würde aufgrund der Unterschiedlichkeit der verschiedenen Systeme zwangsläufig zu einem Stillstand der Konvention führen. Auch hier gilt, dass es im Ergebnis dem Gerichtshof obliegt, welche Quellen er für die Bestimmung eines Konsenses heranzieht.543 b) Ausbrechender Rechtsakt? aa) Zurückhaltung des Gerichtshofs Die Vorgehensweise des Gerichtshofs wurde in der Literatur unter anderem als „ausbrechender Rechtsakt“544 bezeichnet. Gerade die inhaltlich weitergehende und nicht von allen Europaratsstaaten ratifizierte ESC dürfe nicht über Umwege in die EMRK eingespielt werden.545 Auch die Berücksichtigung nicht verbindlicher Sprüche von Sachverständigenausschüssen sei problematisch.546 Ein von der Lite-

539

EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 76 f. Dazu oben unter S. 94. 541 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 154 (Hervorhebung durch den Verfasser). 542 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 86. 543 Vgl. dazu bereits oben unter S. 94. 544 So Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 329. Weitere Kritik u. a. bei Weiß, EuZA 2010, 457 (467 f.); Seifert, KritV 2009, 357 (362 ff.); EUArbRK/C. Schubert, Art. 1 EMRK Rn. 12 f. 545 Seifert, KritV 2009, 357 (366). 546 Seifert, KritV 2009, 357 (364 f.). 540

A. Wesentliche Elemente als Anknüpfungspunkt

127

ratur befürchteter ungezügelter „interpretative[r] Import [der] ESC-Regeln“547 oder anderer internationaler Konventionen muss allerdings nicht befürchtet werden. Die angekündigten „dramatischen Auswirkungen von Demir und Baykara“548 sind ausgeblieben. Das zeigt eine Untersuchung zur Anwendung der rechtsvergleichenden Methode aus Demir und Baykara ./. Türkei in weiteren Urteilen des EGMR: In den Jahren 2008 bis 2010 erwähnten nur 16 von 4.658 untersuchten Urteilen Demir und Baykara ./. Türkei, gerade einmal sechs davon in Bezug auf die dort angelegte Vorgehensweise und wiederum nur drei in Bezug auf Konventionsrechte mit sozialer Dimension.549 Der EGMR griff also auch nach Demir und Baykara ./. Türkei nur äußerst zurückhaltend auf internationale Standards zurück, um Gewährleistungsinhalte von Konventionsnormen zu bestimmen.550 Diese Erkenntnis deckt sich mit der jüngeren Untersuchung Katerndahls, der zu dem Ergebnis kommt, dass der Gerichtshof auf die Kritik an seinem Vorgehen in Demir und Baykara ./. Türkei reagiert habe und die Spruchpraxis zu internationalen Abkommen an Bedeutung verliere.551 Gleichzeitig hat in diesem Zeitraum die Relevanz des Subsidiaritätsgedanken und vor allem der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Gerichtshofs deutlich zugenommen.552 Der Schluss liegt also nahe, dass eine ungebremste Ausdehnung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit, bei der die mitgliedschaftlichen Belange vernachlässigt werden, auch in Zukunft nicht droht. bb) Weiterentwicklung der Konvention Die rechtsvergleichende Vorgehensweise des Gerichtshofs ist vielmehr notwendig, um die Konvention vor dem Hintergrund gesellschaftlicher, politischer und auch rechtlicher Veränderungen weiterzuentwickeln. Die kollektiven Systeme in Europa haben sich seit der Unterzeichnung der Konvention am 4. November 1950 verändert. Wie soll die EMRK die sich ändernden tatsächlichen Funktionselemente der nationalen Systeme abbilden, wenn nicht durch einen Blick auf diese Systeme?553 Ein Indiz hierfür können die internationalen Pakte sein, die zumindest auf einen euro547

Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 327. Ewing/Hendy, Industrial Law Journal 2010, 2. 549 Lörcher, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 3 (22 mit Fn. 91 u. 44). 550 Lörcher, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 3 (45 f.) fragt: „Here the more fundamental question is: why does the Court not apply its own methodology?“. 551 Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 160 f. Eine Relativierung anderer Übereinkommen und der Spruchpraxis zu diesen durch den Gerichtshof erkennt zutreffend auch Sagan, in: Ales u. a., International and European Labour Law, Art. 11 EMRK Rn. 25. 552 Vgl. dazu bereits ausführlich unter S. 80. 553 Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 281 bezeichnet diese Methode unter Verweis auf Konrad Zweigert als wertende Rechtsvergleichung. 548

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

päischen Grundkonsens hindeuten. Würde man hingegen nur Instrumente berücksichtigen, die von allen 47 Mitgliedsstaaten vollständig ratifiziert wurden, so könnte ein Vertragsstaat eine gesamteuropäische Entwicklung im Alleingang blockieren. cc) Kein Durchschlagen im konkreten Fall Die Kritik an der rechtsvergleichenden Methode ist zudem auch im konkreten Fall nicht angebracht. In Demir und Baykara ./. Türkei wurde als Ergebnis der wertenden Rechtsvergleichung das Recht auf Kollektivverhandlungen als Gewährleistung der Koalitionsfreiheit anerkannt. Auch in der Türkei ist das Recht auf Tarifverträge und Tarifverhandlungen in Art. 53 der Türkischen Verfassung ausdrücklich anerkannt.554 Es werden zwei Ebenen vermischt: Ob das türkische Verbot für Beamte zulässig ist, ist keine Frage des Schutzbereichs, der nach Art. 11 EMRK für „jede Person“ eröffnet ist, sondern der Einschränkungsmöglichkeiten. Die Diskussion des „ausbrechenden Rechtsakts“ ist daher ein Stellvertreterargument. Hätte der Gerichtshof allein auf den gemeinsamen Konsens der Mitgliedstaaten und nicht auf die ESC abgestellt, wäre diesem Argument die Grundlage entzogen worden.555 Das Ergebnis in Demir und Baykara ./. Türkei fußt nicht ausschließlich auf internationalen Konventionen wie der ESC, sondern ist Ausdruck einer teleologischen Auslegung unter Berücksichtigung der gemeinsamen Praxis der Mitgliedstaaten.556 Der erhöhte Begründungsaufwand wird dem EGMR also nachteilig ausgelegt. Im Ergebnis liest der Gerichtshof jedenfalls das, was die Mitgliedstaaten als wesentlich für die Funktionsfähigkeit ihrer Systeme ansehen, auch in Art. 11 EMRK hinein. 4. Zwischenergebnis: Funktionselementenlehre In diesem Abschnitt wurde eine funktionale Auslegung der Koalitionsfreiheit vorgeschlagen: Ausgehend von der funktionalen Grundrechtskonzeption, die Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK zugrunde liegt, ergeben sich dadurch Auswirkungen für den Schutzbereich und die Abwägung. Die funktionale Auslegung stellt den Zweck der Norm in den Vordergrund. Der in Art. 11 EMRK verankerte Koalitionszweck ist kein Selbstzweck, sondern Daseinsberechtigung der Koalitionen. Ihre Funktion ist es, auf einen sozialen Ausgleich von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite hinzuwirken. Der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit spiegelt deshalb diejenigen Elemente wider, welche für die effektive Verfolgung des Koalitionszwecks als funktionswesentlich angesehen werden. Dazu kann auf die Praxis der Mitgliedstaaten sowie auf die einschlägigen internationalen Abkommen abgestellt werden. Die Elemente hat der Gerichtshof in Demir und Baykara ./. Türkei aufgezählt. Beeinträchtigt werden die 554

Vgl. Alp, in: Henssler/Braun, Arbeitsrecht in Europa, Türkei Rn. 102. In diese Richtung wohl auch EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 25. Tatsächlich kritisiert Seifert, KritV 2009, 357 (367) vor allem den seiner Ansicht nach fehlenden Fokus auf einem ausführlichen Rechtsvergleich. 556 Sagan, in: Ales u. a., International and European Labour Law, Art. 11 EMRK Rn. 25. 555

A. Wesentliche Elemente als Anknüpfungspunkt

129

wesentlichen Elemente, wenn die Zweckverfolgung nicht mehr möglich ist. Auch hier spielt die funktionale Auslegung eine Rolle. Die hier entwickelte Funktionselementenlehre kann die tatsächliche Spruchpraxis besser wiedergeben als eine Strukturvorgabenlehre. Die konkreten Auswirkungen der Funktionselemente werden im nächsten Abschnitt untersucht.

IV. Auswirkung einer Funktionselementenlehre Ein funktionales Verständnis der Koalitionsfreiheit stellt die bisher ergangene Rechtsprechung des EGMR nicht grundsätzlich in Frage. Vielmehr bietet es die Möglichkeit, diese durch einen veränderten Blickwinkel besser zu verstehen und im Hinblick auf potenzielle Vorgaben erstmals zu durchdringen. Vor allem führt es aber zu einer anderen Erwartungshaltung: Konkrete Vorgaben von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK sind nur in ganz bestimmten Konstellationen zu erwarten. Insbesondere muss sich von der Vorstellung gelöst werden, dass Art. 11 EMRK starre Strukturvorgaben vermittle. 1. Keine Funktionsbedingungen a) Verzicht auf die Unverzichtbarkeit Der Gerichtshof lehnte das Recht auf Kollektivverhandlungen lange ab, weil er es nicht als unverzichtbar für die effektive Ausübung der Gewerkschaftsfreiheit erachtete.557 Diese generelle Herangehensweise änderte sich in Demir und Baykara ./. Türkei: Die Unverzichtbarkeit wurde vom EGMR von diesem Zeitpunkt an nicht mehr als Voraussetzung für die Anerkennung eines wesentlichen Elements angesehen.558 Der Schutzbereich ist damit nicht mehr auf unverzichtbare Elemente beschränkt. Es hatte sich bereits zuvor angedeutet, dass der Gerichtshof nicht mehr auf dieses Kriterium zurückgreifen würde. So hatte er in einer Entscheidung Anfang des Jahrtausends das Streikrecht bereits als von Art. 11 EMRK geschützt angesehen, ohne es als unverzichtbar einzustufen.559 Für die wesentlichen Elemente bedeutet dies, dass sie nicht als Funktionsbedingungen gesehen werden können, weil sie nicht unabdingbar für die Funktionsfähigkeit eines Systems kollektiver Beziehungen sein müssen. 557 Vgl. z. B. EGMR, Urt. v. 02. 07. 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 44. 558 Vgl. die Suchmaske unter: https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22fulltext%22:[%22\%22 indispensable%20for%20the%20effective%20enjoyment\%22%22],%22documentcollectio nid2%22:[%22GRANDCHAMBER%22,%22CHAMBER%22]} (letzter Zugriff am 23. 02. 2021). Zu diesem Ergebnis kommt auch Sagan, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Art. 11 Rn. 12 f. 559 So in EGMR, Entscheidung v. 10. 01. 2002 – 53574/99 (Unison ./. Vereinigtes Königreich).

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

b) Anknüpfung an die Praxis der Mitgliedstaaten und den Koalitionszweck Tatsächlich werden vor allem argumentatorische Verrenkungen vermieden, die zu einer undurchschaubaren Rechtsprechung geführt haben. So sah der EGMR noch in Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich ein Recht auf Kollektivverhandlungen nicht als unverzichtbar und somit nicht als von Art. 11 EMRK geschützt an.560 Eine nationale Praxis, deren Ziel es war, durch finanzielle Anreize Arbeitnehmer zum Verzicht auf ihre Gewerkschaftsrechte zu bewegen, um sich im Ergebnis einer Tarifbindung zu entziehen, wollte der EGMR jedoch auch nicht akzeptieren.561 Er tätigte folglich die (substanzarme562) Aussage, es gehöre zu Art. 11 EMRK, „dass es den Beschäftigten freistehen sollte, die Gewerkschaft anzuweisen oder ihr zu gestatten, bei ihrem Arbeitgeber vorstellig zu werden oder Maßnahmen zur Unterstützung ihrer Interessen in ihrem Namen zu ergreifen“563. Im Ergebnis sei es jedenfalls nicht zulässig, dass der Arbeitgeber finanzielle Anreize zum Verzicht auf wichtige Rechte schaffen könne.564 Damit war im Ergebnis das Recht auf Tarifverhandlungen gemeint, unter das der Gerichtshof allerdings nicht subsumieren konnte, weil er es zu diesem Zeitpunkt nicht als unverzichtbar und damit nicht von der Koalitionsfreiheit geschützt angesehen hatte. Das Argument, dass ein bestimmtes Merkmal erst dann geschützt ist, wenn es unverzichtbar ist, ist auch aus Gesichtspunkten der Subsidiarität nicht zwingend. Es ist willkürlich und kann im Ergebnis jede Fortentwicklung der Konvention behindern. Durch den Verzicht senkt der Gerichtshof zwar die Hürde für die Anerkennung neuer Elemente, koppelt diese aber stärker an die Praxis der Mitgliedstaaten und an den Koalitionszweck.565 Diese Methode berücksichtigt die Systeme der Vertragsstaaten und ist daher nachvollziehbarer.

560 EGMR, Urt. v. 02. 07. 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 44. 561 EGMR, Urt. v. 02. 07. 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 47. 562 So Sagan, in: Ales u. a., International and European Labour Law, Art. 11 EMRK Rn. 20. 563 EGMR, Urt. v. 02. 07. 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 46. 564 EGMR, Urt. v. 02. 07. 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 48. 565 In diese Richtung auch das Sondervotum von Richter Vladimiro Zagrebelsky zu EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 2: „I have the feeling that the Court’s departure from precedent represents a correction of its previous case-law rather than an adaptation of case-law to a real change, at European or domestic level, in the legislative framework or in the relevant social and cultural ethos.“ Vgl. auch oben unter S. 125.

A. Wesentliche Elemente als Anknüpfungspunkt

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2. Keine Zweckerreichungsgarantie a) Faktische Möglichkeit genügt Die Anknüpfung an den Koalitionszweck beinhaltet keine Zweckerreichungsgarantie. Die Gewerkschaft muss sich für die Interessen der Mitglieder einsetzen können, aber auch die einzelnen Mitglieder haben ein Recht, dass ihre Interessen von der Gewerkschaft verfolgt werden können.566 Die Vertragsstaaten haben die Erreichung dieses Koalitionszwecks zu ermöglichen, indem sie geeignete Mittel zur Verfügung stellen.567 Die Gewerkschaft muss dabei aber lediglich abstrakt in die Lage versetzt werden, sich für die Interessen ihrer Mitglieder einsetzen zu können.568 Die tatsächliche Zweckerreichung ist dagegen nicht gewährleistet.569 Jedes Individuum muss – zum Schutz seiner Interessen – die Rechte unter Art. 11 EMRK effektiv wahrnehmen können. Der Gerichtshof verwendet die Begriffe „exercise of the rights“ und „enjoyment of such rights“.570 Der einzelne Staat hat das durch die Gestaltung seines kollektiven Systems zu gewährleisten.571 Effektive Wahrnehmung heißt, dass die Ausübung der Rechte, nicht aber das Erreichen eines bestimmten Ziels, möglich sein muss. Das ist eine zentrale Erkenntnis, die sich durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zieht. b) Weiterführende Beispiele aus der Spruchpraxis aa) The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich (1) Sachverhalt Besonders deutlich wird dieser Ansatz in The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich:572 Das Unternehmen Hydrex Equipment (UK) Ltd („Hydrex“) übernahm 20 Beschäftigte eines Unternehmens der Jarvis plc („Jarvis“). Zwei Jahre nach der Übernahme sollten die Arbeitsbedingungen 566

EGMR, Urt. v. 21. 02. 2006 – 28602/95 (Tüm Haber Sen und C¸inar ./. Türkei), Rn. 28; EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland), Rn. 55. 567 Vgl. aus der neueren Rechtsprechung EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda ˙Is¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 32; EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland), Rn. 55. 568 Sagan, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Art. 11 Rn. 11. 569 EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 19; Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 11 Rn. 9. 570 EGMR, Urt. v. 02. 07. 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 41; EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 110. 571 Vgl. nur EGMR, Urt. v. 02. 07. 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 41. 572 Zum Sachverhalt vgl. EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 14 – 16.

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

der übernommenen Arbeitnehmer an diejenigen der anderen Hydrex-Beschäftigten angepasst werden, was eine Gehaltskürzung von 36 – 40 Prozent zur Folge gehabt hätte. Nach mehrmonatigen erfolglosen Verhandlungen und einem viertägigen Streik der Gewerkschaftsmitglieder bei Hydrex, kam es zu erneuten Gesprächen und einem verbesserten Angebot. Die Gewerkschaft empfahl ihren Mitgliedern, dieses Angebot anzunehmen, was jedoch nicht geschah. Die antragstellende Gewerkschaft argumentierte, dass ihre Stellung bei Hydrex aufgrund der geringen Mitgliederzahl in diesem Betrieb äußerst schwach wäre. Eine Mobilisierung der Beschäftigten bei Jarvis – dort waren von ca. 1.200 Beschäftigten 569 Mitglieder der Gewerkschaft – hätte eine größere Auswirkung gehabt. Dies sei ihr aber aufgrund des allgemeinen Verbots von Sympathiestreiks nicht möglich. Zwischen Hydrex und Jarvis bestanden keine Verbindungen.573 (2) Entscheidung Die Gewerkschaft machte eine Verletzung ihrer Rechte unter Art. 11 EMRK geltend, weil ihr aufgrund des gesetzlichen Verbots von Sympathiearbeitskämpfen ein wirksamer Schutz der Hydrex-Beschäftigten erschwert werde.574 Die Ausführungen des EGMR sind hingegen eindeutig: „Yet the fact that the process of collective bargaining and industrial action, including strike action against the employer of the union members who were the subject of the dispute, did not lead to the outcome desired by the applicant union and its members does not mean that the exercise of their Article 11 rights was illusory. The right to collective bargaining has not been interpreted as including a ,right‘ to a collective agreement. Nor does the right to strike imply a right to prevail. As the Court has often stated, what the Convention requires is that under national law trade unions should be enabled, in conditions not at variance with Article 11, to strive for the protection of their members’ interests. This the applicant union and its members involved in the dispute were largely able to do in the present case.“575

Er sieht das gewünschte Ergebnis, insbesondere ein Recht „auf“ einen Tarifvertrag oder das Recht, sich im Arbeitskampf durchzusetzen, nicht als von Art. 11 EMRK geschützt an. Die Gewerkschaft war in der Lage, sich für ihre Mitglieder einzusetzen. Dass sie aufgrund ihrer schwachen Position im Betrieb keine Durchsetzungskraft hatte, heißt nicht, dass der Staat diese schwache Position künstlich aufzuwerten gehabt hätte. Bemerkenswert ist außerdem, dass es der Gerichtshof offenbar genügen lässt, wenn sowohl die Gewerkschaft als auch die Mitglieder „weitgehend in der Lage“ seien, den Koalitionszweck zu verfolgen. Selbst die Zweckverfolgung muss folglich allein bis zu einem gewissen Grad möglich sein. 573 EGMR, EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 59. 574 EGMR, EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 53. 575 EGMR, EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 85 (Hervorhebung durch den Verfasser).

A. Wesentliche Elemente als Anknüpfungspunkt

133

bb) Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich (1) Sachverhalt In Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich ging es um die Abschaffung des Agricultural Wages Board of England and Wales („AWB“).576 Der Arbeitgeberverband National Farmers‘ Union machte im Laufe der Beratungen deutlich, dass er in Zukunft nicht bereit sei, Tarifverhandlungen zu führen oder einen Nachfolgemechanismus in Gang zu setzen. Die beschwerdeführende Gewerkschaft argumentierte, nach der Abschaffung des AWB sei ihr Recht, Tarifverhandlungen zu führen, daher inhaltslos geworden.577 Bei der Zahl von kleinen Arbeitgebern (nur ein Prozent der Arbeitgeber beschäftigte mehr als zehn Arbeitnehmer578) sei es der Gewerkschaft nicht möglich, diese zu freiwilligen Tarifverhandlungen zu bewegen.579 (2) Entscheidung Der Gerichtshof sah die Beschwerde nach Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK als unzulässig, weil offensichtlich unbegründet an. Entgegen der Auffassung der Regierung stufte der Gerichtshof das AWB zwar als eine Plattform von Tarifverhandlungen ein.580 Die Abschaffung des AWB komme daher einer Abschaffung von verpflichtenden Tarifverhandlungen gleich und falle unter den Schutz von Art. 11 EMRK.581 Die Gewerkschaft werde allerdings nicht grundsätzlich davon abgehalten, sich in Tarifverhandlungen für die Interessen ihrer Mitglieder einzusetzen: „Finally, even accepting the applicant’s submission that voluntary collective bargaining in the agricultural sector is virtually non-existent and impractical, this is not sufficient to lead to the conclusion that a mandatory mechanism should be recognised as a positive obligation. The applicant remains free to take steps to protect the operational interests of its members by collective action, including collective bargaining, by engaging in negotiations to seek to persuade employers and employees to reach collective agreements and it has the right to be heard.“582 576 Zum Sachverhalt vgl. EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65387/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 1 – 18. 577 EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65387/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 49. 578 EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65387/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 29. 579 EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65387/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 29. 580 EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65387/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 58. 581 EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65387/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 58. 582 EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65387/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 65 (Hervorhebung durch den Verfasser).

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

Der Gewerkschaft verbleibe somit auch nach der Beseitigung des AWB die Möglichkeit, den Koalitionszweck zu verfolgen. Richtigerweise betont der Gerichtshof, dass die Beschwerde vielmehr die Auswirkungen der Abschaffung des AWB auf die konkreten Verhandlungsposition der Gewerkschaft beträfe.583 Diese schwache Position, die mit den Eigenarten des landwirtschaftlichen Sektors einhergeht, muss der Staat jedoch nicht verbessern. Das Abschließen eines Tarifvertrags muss abstrakt möglich sein, einen Anspruch auf eine besonders effektive Erreichung dieses Ziels hat die Gewerkschaft jedoch nicht. cc) Association of Academics ./. Island (1) Sachverhalt Der Entscheidung Association of Academics ./. Island lag folgender Sachverhalt zugrunde:584 Die Association of Academics ist eine Spitzenorganisation einzelner Gewerkschaften und verhandelte in deren Namen mit dem isländischen Staat über einen neuen Tarifvertrag im öffentlichen Dienst. Nachdem in den Tarifverhandlungen keine Einigung erzielt werden konnte, brachte der Staat den Fall vor die staatliche Schlichtungsstelle, dem sog. State Conciliation and Mediation Officer. 24 weitere Verhandlungstermine führten nicht zum Erfolg, sodass die Gewerkschaften zu – teilweise unbegrenzten – Streiks aufriefen. Das isländische Parlament verabschiedete daraufhin am 13. Juni 2015 ein Gesetz, das es den 18 Gewerkschaften untersagte, ihren Forderungen unter anderem durch Streiks Nachdruck zu verleihen. Des Weiteren sah das Gesetz die Einrichtung eines Schiedsgerichts vor, welches verbindlich die Arbeitsbedingungen und Löhne der betreffenden Arbeitnehmer festlegen sollte, falls sich die Parteien nicht bis zum 1. Juli 2015 über einen neuen Tarifvertrag einigen könnten. Da weiter keine Vereinbarung geschlossen werden konnte, bestimmte schließlich das gebildete Schiedsgericht die Bedingungen des Tarifvertrags. (2) Entscheidung Der EGMR hielt die Beschwerde der Association of Academics für offensichtlich unbegründet und daher nach Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK für unzulässig. Er erkannte zwar einen Eingriff in Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK, sah diesen allerdings als gerechtfertigt an. Zur Begründung verwies er dabei hauptsächlich auf den isländischen Obersten Gerichtshof, dessen Erwägungen der EGMR teilte: Es seien zwar zwei wesentliche Elemente der Koalitionsfreiheit – das Recht der Gewerkschaft, gehört zu werden und das Recht auf Tarifverhandlungen – betroffen, allerdings hätten die

583

EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65387/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 57. 584 Vgl. EGMR, Entscheidung v. 15. 05. 2018 – 2451/16 (Association of Academics ./. Island), Rn. 2 – 9.

A. Wesentliche Elemente als Anknüpfungspunkt

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Beteiligten hier ausreichend Gelegenheit gehabt, diese Rechte wahrzunehmen.585 Zum Zeitpunkt des staatlichen Eingreifens seien alle Versuche erschöpft gewesen, die Verhandlung zu einem Ende zu bringen: „The Court sees no reason to call into question the finding made by the Supreme Court that all attempts to bring the dispute to an end by negotiations could be regarded as exhausted at the time when the disputed Act was enacted. Furthermore, although the process of collective bargaining and strike action did not lead to the outcome desired by the applicant’s member unions and their members, this does not mean that their Article 11 rights were illusory.“586

Diese Entscheidung zeigt besonders deutlich, dass der Gerichtshof nicht ein bestimmtes Ergebnis schützt, sondern allein die effektive Wahrnehmung der Interessen, auch wenn diese nicht (aus Sicht eines der Verhandlungspartner) erfolgreich verläuft. War die Ausübung der Rechte unter Art. 11 EMRK faktisch möglich, so kann ein Mitgliedstaat eine Pattsituation relativ problemlos durch eine staatliche Zwangsschlichtung aufheben. Zwar lag dem konkreten Fall die Besonderheit zugrunde, dass die Mitglieder einiger der Einzelgewerkschaften im Bereich des Gesundheitswesens tätig waren, und somit eine Funktion in der Daseinsvorsorge erfüllten.587 Allerdings störte sich der Gerichtshof auch nicht daran, dass das Streikverbot und die Zwangsschlichtung alle 18 Gewerkschaften und somit auch solche betraf, die keine Bedeutung für die Daseinsvorsorge hatten, wie beispielsweise die Icelandic Musicians’ Union oder die Icelandic Actors‘ Association.588 dd) Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien (1) Sachverhalt Ein Fall, der die Grenzen dieser Rechtsprechung aufzeigt, ist Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien. Der komplexe Sachverhalt589 hat auch bei einigen Rezipienten für Verwirrung gesorgt: Die kroatische Regierung und eine Reihe von Gewerkschaften – darunter auch die beschwerdeführende Gewerkschaft („HLS“) – schlossen einen Tarifvertrag für das Gesundheitswesen ab. Zusätzlich handelte die HLS einen Anhang zu diesem Tarifvertrag aus, der spezifische Fragen der organisierten Ärzte und Zahnärzte regeln sollte. Dagegen klagten zwei Gewerkschaften, die den (Haupt-) 585

EGMR, Entscheidung v. 15. 05. 2018 – 2451/16 (Association of Academics ./. Island), Rn. 31. 586 EGMR, Entscheidung v. 15. 05. 2018 – 2451/16 (Association of Academics ./. Island), Rn. 32. 587 EGMR, Entscheidung v. 15. 05. 2018 – 2451/16 (Association of Academics ./. Island), Rn. 11 f. 588 EGMR, Entscheidung v. 15. 05. 2018 – 2451/16 (Association of Academics ./. Island), Rn. 33, 20. 589 Dazu EGMR, Urt. v. 27. 11. 2014 – 36701/09 (Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien), Rn. 6 – 30.

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

Tarifvertrag mitausgehandelt hatten, vor einem Zivilgericht. Eine Abstimmung der Ärzte über die Annahme des Anhangs erzielte in der Zwischenzeit ein positives Ergebnis, wurde aber aufgrund der anhängigen Zivilklage nicht anerkannt. Die HLS kündigte daraufhin einen Streik an mit den Forderungen an die Regierung, (1.) den Verpflichtungen aus dem Anhang nachzukommen, (2.) das Ergebnis der Abstimmung anerkennen zu lassen und (3.) hilfsweise einen Tarifvertrag für den medizinischen und zahnmedizinischen Sektor zu schließen. Nach erfolglosen Verhandlungen erhöhte die kroatische Regierung die Gehälter von Ärzten und Zahnärzten einseitig um 10 Prozent und beantragte zugleich, den Streik für rechtswidrig zu erklären. Die Gerichte entsprachen dem, weil die ersten beiden Forderungen keine zulässigen Streikgründe im Sinne des nationalen Gesetzes seien. Der subsidiäre Streikgrund wurde nicht berücksichtigt, weil er allein unter der Bedingung vorgebracht wurde, dass der Anhang für nichtig erklärt wird. Diesbezüglich gab es jedoch noch kein rechtskräftiges Urteil, weil von Seiten der HLS Berufung eingelegt wurde. Gegen das Streikverbot legte die HLS Berufung ein und führte ihren Streik fort, bis dieser wiederum durch einstweilige Maßnahmen untersagt wurde. Ein rechtskräftiges Urteil zu der Nichtigkeit des Anhangs stand am Ende erst drei Jahre und acht Monate nach den hier geschilderten Ereignissen. (2) Entscheidung In der deutschen Literatur wurde daraufhin angenommen, die Rührei-Theorie590 oder sogar das Tarifeinheitsgesetz591 seien nach der Rechtsprechung des EGMR wohl nicht mit Art. 11 EMRK vereinbar. Richtigerweise hat sich der Gerichtshof in der Entscheidung nicht explizit zur Tarifeinheit im Betrieb592 und auch nur in einem obiter dictum zur Auswirkung einer rechtswidrigen Forderung auf die Rechtmäßigkeit des Arbeitskampfes593 geäußert. Der Schwerpunkt der Entscheidung lag auf der Tatsache, dass der Gewerkschaft es über dreieinhalb Jahre lang faktisch verwehrt war, ihr Streikrecht auszuüben, obwohl ihre Interessen nicht durch einen Tarifvertrag berücksichtigt waren.594 Dies hängt aber nur hintergründig damit zusammen, dass die kroatischen Gerichte die dritte Streikforderung nicht berücksichtigt haben. 590 M. Jacobs/Schmidt, EuZA 2016, 82 (94 f.); Lörcher, AuR 2015, 126 (129); J. Schubert/ Jerchel, EuZW 2017, 551 (561). 591 J. Schubert/Jerchel, EuZW 2017, 551 (561); M. Jacobs/Schmidt, EuZA 2016, 82 (93 f.). 592 BVerfG, Urt. v. 11. 07. 2017 – 1 BvR 1571/15 u. a., NZA 2017, 915 (926); Löwisch/ Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 326; so müssen auch M. Jacobs/Schmidt, EuZA 2016, 82 (93 f.) zugeben: „Der Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb im eigentlichen Sinne ist nicht Gegenstand der Rechtssache HLS.“ 593 Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 516; ebenfalls ablehnend, ob der Aussagekraft dieses Sachverhalts für die deutsche Rechtslage BAG, Urt. v. 26. 7. 2016 – 1 AZR 160/14, NZA 2016, 1543 (1552); MHdB ArbR/Ricken, Band 3, § 272 Rn. 33. 594 EGMR, Urt. v. 27. 11. 2014 – 36701/09 (Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien), Rn. 59; so wohl auch Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 516; EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 74; Vogt u. a., The Right to Strike, S. 98: „injunction on grounds of technical irregularities“.

A. Wesentliche Elemente als Anknüpfungspunkt

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Vielmehr machen die Ausführungen der Gewerkschaft ihr Dilemma deutlich: In den Konstellationen, in denen eine Gewerkschaft für die Durchsetzung eines Tarifvertrags streiken will, die andere Partei den Vertrag aber in Frage stellt, würde ihr Streikrecht leerlaufen: „In particular, the reasons adduced by the domestic courts for their decisions to prohibit the strike seemed to suggest that in such circumstances trade unions could not strike because either (a) the collective agreement was valid and section 210(1) of the Labour Act prohibited strikes in respect of matters already governed by a collective agreement, or (b) the collective agreement was invalid and for precisely that reason it could not be enforced by resorting to a strike. In the applicant union’s view, such an interpretation by the domestic courts could not be sustained as it completely excluded the right to strike in such circumstances.“595

Im Ergebnis hat der Gerichtshof festgestellt, dass aufgrund der besonderen Konstellation und des Streikverbots die beschwerdeführende Gewerkschaft auch faktisch keine Möglichkeit hatte, zum Schutz der Interessen ihrer Mitglieder tätig zu werden.596 Hier war folglich bereits die Zweckverfolgung für einen derart langen Zeitraum ausgeschlossen, dass eine Verletzung von Art. 11 EMRK vorlag. c) Zwischenergebnis Die Rechtsprechung des EGMR zeigt, dass einzig die faktische Möglichkeit der Interessensverfolgung geschützt ist. Der Mitgliedstaat muss sein kollektives System nicht so gestalten, dass diese den Zweck auch tatsächlich erreichen. Er muss schwache Verhandlungspositionen, die aus den Umständen resultieren, nicht aufwerten. Des Weiteren kann er auf Tarifverhandlungen und auch Streiks zugreifen, wenn diese über einen längeren Zeitraum ergebnislos bleiben. Geschützt ist allein die effektive Wahrnehmung der von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK gewährleisteten Rechte. Es genügt dabei, wenn diese den Gewerkschaften und ihren Mitgliedern weitgehend offensteht. Auch Einschränkungen der Interessenwahrnehmung sind demnach zulässig. Erst wenn die Zweckverfolgung über einen längeren Zeitraum aus systemischen Gründen nicht möglich ist, ist die Koalitionsfreiheit verletzt.

595

EGMR, Urt. v. 27. 11. 2014 – 36701/09 (Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien), Rn. 55. Dies spricht auch Richter Paulo Pinto de Albuquerque in seinem übereinstimmenden Sondervotum an, der sich eine andere Fokussierung gewünscht hätte, vgl. EGMR, Urt. v. 27. 11. 2014 – 36701/09 (Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien), Rn 1: „The Chamber’s criticism of the respondent State is based on the excessive length of the domestic proceedings relating to the prohibition of the strike and the legality of the Annex (,Collective Agreement for the Medical and Dentistry Sector‘), which lasted from 5 April 2005 until 16 December 2008.“ 596

138

4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

3. Anerkennung einer relativen Koalitionsmittelgarantie a) Keine Koalitionsmittelgarantie zu Beginn Gleich in seinen ersten Urteilen zur Koalitionsfreiheit stellte der Gerichtshof klar, dass die Mitgliedstaaten frei entscheiden könnten, welche Mittel sie den Koalitionen an die Hand geben, damit diese ihren Zweck verfolgen können.597 Während ein Konsultationsrecht,598 der Abschluss von Tarifverträgen599 oder das Streikrecht600 mögliche Instrumente seien, gebe es auch andere. Solange die Koalition sich jedoch anderweitig Gehör für die Interessen ihrer Mitglieder verschaffen könne, habe sie keinen Anspruch auf ein spezielles Mittel.601 Ein oder mehrere bestimmte Koalitionsmittel wollte der Gerichtshof noch nicht garantieren.602 b) Relative Koalitionsmittelgarantie in Bezug auf das Recht, Tarifverhandlungen zu führen In Demir und Baykara ./. Türkei wurde der Rechtsprechung eine zweite Ebene hinzugefügt: Jedenfalls das Recht, Kollektivverhandlungen zu führen, wurde als funktionswesentliches Element anerkannt.603 Die Mitgliedstaaten – obwohl grundsätzlich weiter frei in der Wahl ihrer Mittel – müssen dieses wesentliche Element berücksichtigen.604 Das Recht, Tarifverhandlungen zu führen, sei dabei zwar im Prinzip ein wesentliches Element, dürfe aber von den Staaten noch weiter ausgestaltet werden, um zum Beispiel repräsentativen Gewerkschaften einen Sonderstatus einzuräumen.605 Das heißt: Beeinträchtigungen dieses Rechts können gerechtfertigt sein, solange es im Prinzip erhalten und zur Verfolgung des Koalitionszwecks grundsätzlich geeignet bleibt.606 597

EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Rn. 39; EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5614/72 (Swedish Engine Drivers’ Union ./. Schweden), Rn. 40; EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5589/72 (Schmidt und Dahlström ./. Schweden), Rn. 36. 598 EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Rn. 39. 599 EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5614/72 (Swedish Engine Drivers’ Union ./. Schweden), Rn. 40. 600 EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5589/72 (Schmidt und Dahlström ./. Schweden), Rn. 36. 601 EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Rn. 39; EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5614/72 (Swedish Engine Drivers’ Union ./. Schweden), Rn. 40; EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5589/72 (Schmidt und Dahlström ./. Schweden), Rn. 36. 602 Sagan, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Art. 11 EMRK Rn. 11. 603 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 154. 604 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 144. 605 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 154. 606 Vgl. zur parallelen Erkenntnis für Art. 9 Abs. 3 GG Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 9 GG Rn. 298 und zur Tarifautonomie im Besonderen BVerfG, Urt. v. 01. 03. 1979 – 1 BvR 532/77 u. a., NJW 1979, 699 (710): „Einen solchen [Ausgleich] herzustellen ist der Gesetzgeber auf

A. Wesentliche Elemente als Anknüpfungspunkt

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Man kann bei dem Recht, Tarifverhandlungen zu führen, von einer relativen Koalitionsmittelgarantie sprechen.607 Die wesentlichen Elemente von Art. 11 EMRK dürfen nicht in einer Weise beschränkt werden, in der die Koalitionsfreiheit sich als inhaltsleer herausstellt.608 Nicht jedem muss der Zugang zu Tarifverhandlungen uneingeschränkt offenstehen, jedem müssen aber Mittel zur Verfügung stehen, um den Koalitionszweck effektiv zu verfolgen. Ist wiederum das Recht, Tarifverhandlungen zu führen, vollständig ausgeschlossen, dütfte das in vielen Fällen ein Indikator sein, dass dies nicht möglich ist. Davon und vom Streikrecht609 abgesehen schützt Art. 11 EMRK allerdings weiter allein die allgemeine Betätigungsmöglichkeit der Koalitionen.610 Eine umfassende Kampfmittelfreiheit muss der Staat nicht erlauben. Auch in den jüngsten Entscheidungen betont der Gerichtshof, dass es den Staaten weiter freistehe, welche Mittel sie den Koalitionen zur Verfolgung des Koalitionszwecks bereitstellten.611 4. Notwendigkeit der Gesamtbetrachtung a) Zweckverfolgung muss insgesamt möglich sein Der Gerichtshof betrachtet die wesentlichen Elemente nicht isoliert voneinander. Die Notwendigkeit einer Gesamtbetrachtung wird in Demir und Baykara ./. Türkei als eine Leitlinie der Rechtsprechung zur Koalitionsfreiheit aufgeführt: „As a result of the foregoing, the evolution of case-law as to the substance of the right of association enshrined in Article 11 is marked by two guiding principles: firstly, the Court takes into consideration the totality of the measures taken by the State concerned in order to secure trade-union freedom, subject to its margin of appreciation […].“612

Die Mitgliedstaaten haben den Gewerkschaften und ihren Mitgliedern ein System zur Verfügung zu stellen, in welchem diese in der Gesamtheit betrachtet ihre In-

Grund seiner Regelungskompetenz befugt. Das schließt die Zulässigkeit von Beschränkungen der Tarifautonomie ein, wenn diese im Prinzip erhalten und funktionsfähig bleibt.“ 607 Vgl. Dorssemont, European Labour Law Journal 2010, 185 (211) zu den wesentlichen Elementen von Art. 11 EMRK: „These essential aspects of trade union freedom are not absolute.“ 608 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 144. 609 Dazu sogleich unter S. 166. 610 Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 11 Rn. 19. 611 EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda ˙Is¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 32; EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland), Rn. 54. Kritisch dazu Sagan, in: Ales u. a., International and European Labour Law, Art. 11 EMRK Rn. 23 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung, der befürchtet, dass die Beibehaltung der Formulierung einen Großteil der erzielten Fortschritte zunichtemachen könnte. 612 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 144 (Hervorhebung durch den Verfasser).

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

teressen verfolgen können.613 Die Reichweite der einzelnen Funktionsmerkmale ist nicht isoliert zu bestimmen, sondern abhängig von ihrem Beitrag zum Gesamtkonstrukt aller Maßnahmen in einem Mitgliedstaat. Welchen Beschränkungen ein wesentliches Element unterworfen werden kann und wie weit die Gewährleistungspflichten im Einzelfall reichen, richtet sich nach den bestehenden Schutzstandards in dem jeweiligen Mitgliedstaat.614 Der konkrete Umfang eines wesentlichen Elements kann damit immer nur im Einzelfall bestimmt werden.615 b) Weiterführende Beispiele aus der Rechtsprechung aa) The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich In The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich sah der EGMR im generellen Verbot von Sympathiearbeitskämpfen keine Verletzung der Koalitionsfreiheit, weil die beschwerdeführende Gewerkschaft jedenfalls zwei wesentliche Elemente – das Recht, vom Arbeitgeber gehört zu werden und das Recht, mit dem Arbeitgeber in Tarifverhandlungen zu treten – ausüben konnte.616 Das Vorhandensein zweier wesentliche Elemente konnte in diesem Fall das Fehlen eines anderen Elements – dem Streikrecht in Form des Sympathiestreiks – ausgleichen. bb) Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich In Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich ging es – lange vor der Rechtsprechungskorrektur des EGMR – um die Frage, ob ein sog. closed shopSystem mit Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK vereinbar sei. Im Jahr 1975 schloss die Britische Eisenbahnbehörde mit drei Gewerkschaften die Vereinbarung, dass die Mitgliedschaft in einer der Gewerkschaften Voraussetzung für die Beschäftigung bei 613

Ähnlich Sagan, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Art. 11 EMRK Rn. 11, der aber allein auf eine Gesamtbetrachtung der Koalitionsmittel abstellt, obwohl der EGMR ausdrücklich von einer Gesamtbetrachtung der Vereinigungsfreiheit bzw. der Gewerkschaftsfreiheit in ihrer Gänze spricht. Anschaulich Spano, Human Rights Law Review 2014, 487 (495), der seine Aussage zwar für ein Strafrechtssystem unter Art. 6 EMRK trifft, dessen Ausführungen gleichwohl aber auf ein System kollektiver Beziehungen unter Art. 11 EMRK übertragbar sind: „[T]he Member States are, in principle, free to fashion their criminal justice systems in accordance with their traditions and policy choices, so long as the execution of domestic rules in individual cases are, in general, applied in a manner that respects, as a whole, the right of the accused to a fair trial […]“. Siehe auch Hauer, Arbeitskampf im nationalen und europäischen Recht, S. 152 f., am Beispiel des Tarifvorbehalts. 614 Felten, Koalitionsfreiheit und Arbeitsverfassungsgesetz, S. 196 f. am Beispiel des Streikrechts, das er als wesentliches Element ansieht. 615 Vgl. Felten, Koalitionsfreiheit und Arbeitsverfassungsgesetz, S. 197. 616 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 85 und 104.

A. Wesentliche Elemente als Anknüpfungspunkt

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dem Arbeitgeber sei; die drei Beschwerdeführer erfüllten diese Anforderungen nicht und wurden daraufhin entlassen.617 Der Gerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass die Eisenbahnergewerkschaften in keiner Weise daran gehindert worden wären, sich anderweitig um den Schutz der Interessen ihrer Mitglieder zu bemühen, selbst wenn die geltende Gesetzgebung die konkrete closed shop-Regelung nicht erlaubt hätte.618 Der Eingriff war demnach nicht gerechtfertigt.619 Ein generelles Verbot eines closed shop-Systems ging damit allerdings noch nicht einher: Der Gerichtshof beschränkte sich ausdrücklich auf den konkreten closed shop.620 Das (generelle) Verbot von Absperrklauseln wurde in Demir und Baykara ./. Türkei schließlich als wesentliches Element anerkannt.621 cc) S¸is¸man et al. ./. Türkei In S¸is¸man et al. ./. Türkei wird die Vorgehensweise des Gerichtshofs besonders deutlich: Die Antragsteller waren Angehörige des öffentlichen Dienstes in verschiedenen Steuerdirektionen und Vorstandsmitglieder der Ortsgruppe einer Gewerkschaft.622 Sie platzierten in ihren Büros Plakate dieser Gewerkschaft, die auf die Arbeiterdemonstrationen am ersten Mai aufmerksam machen sollten. Daraufhin wurden Disziplinarmaßnahmen gegen die Beschwerdeführer verhängt, weil sie nicht die für derartige Plakate vorgesehene Anschlagtafel benutzt hatten. Der Gerichtshof bejahte eine Verletzung von Art. 11 EMRK: Angesichts der herausragenden Stellung der Vereinigungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft könne der Einzelne diese Freiheit nicht genießen, wenn sich die verbleibenden Wahl- oder Handlungsmöglichkeiten als nicht vorhanden oder so eingeschränkt erweisen würden, dass sie keinen Nutzen brächten.623 Die Disziplinarmaßnahmen seien geeignet gewesen, Gewerkschaftsmitglieder von der Ausübung ihrer Tätigkeit

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Vgl. EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 12. 618 EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 64. Zu diesem Zeitpunkt waren laut Gerichtshof bereits 95 Prozent der Beschäftigten bei der Britischen Eisenbahn Mitglieder der drei vom closed shop-System bevorzugten Gewerkschaften. 619 EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 65. 620 EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 53 u. 61. 621 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 145. Zuvor wurde in EGMR, Urt. v. 11. 01. 2006 – 52562/99, 52620/99 (Sørensen und Rasmussen ./. Dänemark), Rn. 75, bereits ausgeführt, dass ein closed shop kein unverzichtbares Instrument für die effektive Wahrnehmung der Gewerkschaftsfreiheit sei. 622 Zum Sachverhalt vgl. EGMR, Urt. v. 27. 09. 2011 – 1305/05 (S¸is¸man et al. ./. Türkei), Rn. 6 – 12. 623 EGMR, Urt. v. 27. 09. 2011 – 1305/05 (S¸is¸man et al. ./. Türkei), Rn. 34.

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

abzuhalten.624 Wenn man auch das Ergebnis kritisieren kann,625 so macht der Fall deutlich, dass der EGMR auch außerhalb der kollektiven Koalitionsfreiheit eine Gesamtbetrachtung der vorhandenen Möglichkeiten, den Zweck von Art. 11 EMRK wahrzunehmen, vornimmt. Steht der Gewerkschaft oder dem einzelnen Mitglied die Möglichkeit der effektiven Verfolgung ihrer bzw. seiner Interessen nicht mehr offen, ist die konkrete Gestaltung des nationalen Systems nicht mit Art. 11 EMRK vereinbar.

V. Zwischenergebnis 1. Koalitionsfreiheit erfordert funktionale Auslegung Die Koalitionsfreiheit ist ein Menschenrecht, das von funktionalen Erwägungen geleitet ist. Schon die Anknüpfung der Einschränkungsklausel an die Formulierung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ spricht für eine demokratischfunktionale Auslegung.626 Der Wortlaut und dessen Interpretation durch den Gerichtshof machen deutlich, dass der Gewährleistungsinhalt von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK im Hinblick auf den Koalitionszweck funktional auszulegen ist. Dem wird der EGMR gerecht, indem er seinen Fokus auf den Schutz der funktionswesentlichen Elemente legt. Im Grunde bedeutet die Anerkennung eines wesentlichen Elements lediglich den Schutz eines eigenständigen Teilbereichs der Gewerkschaftsfreiheit.627 Diese abstrakten Garantien werden von der EMRK sichergestellt, können aber von den Vertragsstaaten weitgehend nach ihrem Ermessen ausgestaltet werden.628 Die wesentlichen Elemente repräsentieren dabei die Funktionen, die als wesentlich für die Verfolgung des in Art. 11 EMRK zugrunde gelegten Zwecks angesehen werden und daher geschützt sind. Nichtsdestotrotz können diese Elemente an Voraussetzungen geknüpft oder für bestimmte Gruppen besonders eingeschränkt und somit durch den Staat ausgestaltet werden.

624

EGMR, Urt. v. 27. 09. 2011 – 1305/05 (S¸is¸man et al. ./. Türkei), Rn. 34. Der Gerichtshof hat sich letztlich wohl davon leiten lassen, dass auch andere Plakate in den Büros hingen, die unbeanstandet gelassen wurden sowie von der von den Beschwerdeführern behaupteten generellen Praxis der Einschüchterung gegenüber Gewerkschaftsmitgliedern, vgl. EGMR, Urt. v. 27. 09. 2011 – 1305/05 (S¸is¸man et al. ./. Türkei), Rn. 11 und 30. 626 So zu Art. 10 EMRK, dessen Einschränkungsklausel im Wesentlichen identisch mit der in Art. 11 EMRK ist, Prepeluh, ZaöRV 2001, 771 (796). 627 Siehe Sagan, in: Ales u. a., International and European Labour Law, Art. 11 EMRK Rn. 23. 628 Felten, Koalitionsfreiheit und Arbeitsverfassungsgesetz, S. 335. 625

A. Wesentliche Elemente als Anknüpfungspunkt

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2. Vorgaben können allein am konkreten Fall entwickelt werden Entwickelt man nun konkrete Vorgaben für einen bestimmten Mitgliedstaat aus den wesentlichen Elementen, so muss eine Gesamtbetrachtung der in dem Staat angestrengten Maßnahmen angestellt werden.629 Welche Beschränkungen konkret zulässig sind, kann allein anhand dieser Gesamtbetrachtung im Einzelfall festgestellt werden. Erst wenn in einem System der Koalitionszweck nicht mehr wirksam verfolgt werden kann – das System also in einem bestimmten Bereich insgesamt oder teilweise nicht mehr funktioniert – konkretisieren sich die wesentlichen Elemente. Gerade bei Fragen bezüglich der Funktionsfähigkeit eines Systems muss aber den Staaten, die mit dem System arbeiten und es in seiner vollen Bandbreite durchdringen, ein erheblicher Spielraum zugestanden werden. Die Ausgestaltung der wesentlichen Elemente ist weitgehend dem Ermessen der Vertragsstaaten überlassen.630 Hier kann ein Gedanke fruchtbar gemacht werden, den Armin von Bogdandy im Zusammenhang mit der Verteidigung des europäischen Rechtsraums631 vor systemischen Defiziten entwickelt hat: Es gehe darum, durch Abstraktion und De-Kontextualisierung Indikatoren zu entwickeln, welche die Vermutung erschüttern, dass ein Mitgliedstaat den europäischen Werten genüge.632 Diese Vorgehensweise unterscheide sich insofern von der herkömmlichen Prinzipiendogmatik, als sie weder auf einen „großen Strukturplan“ noch eine „übergreifend-sinnhafte Konzeption“ abstelle.633 Das, was im Laufe dieser Arbeit herausgearbeitet wurde, entspricht dabei ziemlich genau den Ausführungen von Bogdandys: Eine Matrixstruktur oder eine Aufstellung von dogmatischen Prinzipen über den konkreten Fall ist vom Gerichtshof nicht zu erwarten. Er nimmt nur dort Korrekturen vor, wo die Systeme der Mitgliedstaaten funktionale Defizite aufweisen.634 Eine übergreifend-sinnhafte Konzeption im Sinne einer Harmonisierung verbietet sich allein schon wegen des Subsidiaritätsgedankens. Die Missachtung der wesentlichen Elemente dient als Indikator für eine Unvereinbarkeit einer konkreten nationalen Regelung mit Art. 11 EMRK. So kann eine bestimmte Ausgestaltung, die zwar grundsätzlich nicht geboten, aber doch von Art. 11 EMRK geschützt ist, bei einem Funktionsversagen zu einer konkreten Vorgabe für den betroffenen Staat führen. Ein Beispiel hierfür ist der verbandsfreie Arbeitskampf635 : Falls man diesen als von Art. 11 EMRK geschützt ansieht, heißt das nicht, dass dieser für alle Mitgliedstaaten geboten ist; er kann dann aber erforderlich 629 Zum Gedanken einer wertenden Gesamtbetrachtung zur Feststellung systemischer Defizite im europäischen Rechtsraum, vgl. v. Bogdandy, AöR 144 (2019), 321 (354 ff.). 630 Felten, Koalitionsfreiheit und Arbeitsverfassungsgesetz, S. 335. 631 Zu diesem vgl. v. Bogdandy, JZ 2017, 589 ff. 632 v. Bogdandy, AöR 144 (2019), 321 (354). 633 v. Bogdandy, AöR 144 (2019), 321 (354). 634 Ähnlich wohl auch Spano, Human Rights Law Review 2018, 473 (493). 635 Dazu sogleich unter S. 178.

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

sein, wenn anderenfalls aufgrund fehlender gewerkschaftlicher Vertretung – systemisch bedingt – für den Einzelnen ein rechtmäßiger Streik unmöglich ist.636

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK Die vorigen Ausführungen betrafen die funktionale Auslegung des Gerichtshofs und deren generelle Auswirkung auf die Entwicklung von Vorgaben. Es wurden abstrakte Prinzipien wie beispielsweise das Fehlen einer Zweckerreichungsgarantie und die Notwendigkeit der Gesamtbetrachtung herausgestellt. Konkrete Vorgaben können demnach allein anhand eines konkreten Falls entwickelt werden. Nichtsdestotrotz sind die wesentlichen Elemente der Anknüpfungspunkt für die Gestaltungsvorgaben von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK. Im Folgenden wird daher die Spruchpraxis des Gerichtshofs zu den einzelnen wesentlichen Elementen systematisiert. Es wird aufgezeigt, wie er mit bestimmten Fällen umgegangen ist und welche Erkenntnisse sich dadurch für die Vorgaben ableiten lassen. Dabei muss stets in Erinnerung behalten werden, welche Grenzen637 den Aussagen des Gerichtshofs gesetzt sind. Insbesondere darf keine Rezeption ohne Berücksichtigung des Kontextes erfolgen. Die wesentlichen Elemente der Koalitionsfreiheit sind in der Rechtsprechung des EGMR das Recht auf die Gewerkschaftsgründung und den Gewerkschaftsbeitritt (1.), das Verbot von Absperrklauseln (2.), das Recht einer Gewerkschaft, vom Arbeitgeber gehört zu werden (3.) und das Recht, Tarifverhandlungen zu führen (4.). Auf die Einstufung des Streikrechts (5.) als wesentliches Element wird ebenfalls eingegangen.

I. Das Recht, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten Die wesentlichen Elemente können als eigenständige Teilbereiche des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit angesehen werden. Dementsprechend lassen sich auch dem Recht, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten, mehrere Fallgruppen unterordnen. 1. Die Gewerkschaftsgründung und der Gewerkschaftsbeitritt a) Persönlicher Schutzbereich Nicht nur aufgrund der ausdrücklichen Erwähnung in Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK bildet das Recht, Gewerkschaften zu gründen und ihnen beizutreten, ein funkti636 Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 276 ff. Dazu sogleich ausführlich unter S. 179. 637 Siehe dazu ausführlich oben unter S. 45 ff.

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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onswesentliches Element der Koalitionsfreiheit. Das Recht steht wie auch die anderen wesentlichen Elemente allen Berufsgruppen offen.638 Auch Staatsbedienstete639 oder kirchliche Angestellte640 werden erfasst. In Demir und Baykara ./. Türkei kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass eine allgemeine europäische Praxis bestehe, dass Angehörige des öffentlichen Dienstes unabhängig von ihrer arbeitsrechtlichen Einordnung Gewerkschaften gründen können.641 Die strengsten Einschränkungen bis hin zum Verbot von Gewerkschaftsgründungen sind bei Angehörigen der Streitkräfte zu beobachten.642 Auch bei diesen müssen Einschränkungen jedoch in Einklang mit Art. 11 Abs. 2 EMRK stehen.643 Ob bestimmte Berufsgruppen wirksam auf ihr Recht, Gewerkschaften zu gründen, verzichten können, hat der Gerichtshof offengelassen.644 b) Gewerkschaften als Träger des Koalitionsrechts? Fraglich ist des Weiteren, ob sich auch Gewerkschaften selbst auf die Koalitionsfreiheit berufen können. In der Literatur wird dies einhellig befürwortet.645 Der Gerichtshof lässt Beschwerden von Gewerkschaften auch grundsätzlich zu.646 Die Ausführungen dazu, ob ein Eingriff in die Rechte der Gewerkschaft oder in die Rechte der Gewerkschaftsmitglieder, welche durch die Gewerkschaft repräsentiert werden, vorliege, sind jedoch nicht eindeutig. In Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien stellte der Gerichtshof im Rahmen der Beschwerde einer Gewerkschaft, 638 EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013 – 2330/09 (Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien), Rn. 145; EGMR, Urt. v. 16. 06. 2015 – 46551/06 (Manole und ,Romanian Farmers Direct‘ ./. Rumänien), Rn. 62. 639 EGMR, Urt. v. 21. 02. 2006 – 28602/95 (Tüm Haber Sen und C¸inar ./. Türkei), Rn. 29; EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 107. 640 EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013 – 2330/09 (Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien), Rn. 148. 641 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 106. Der Gerichtshof begründet dies unter anderem auch damit, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad im öffentlichen Sektor höher als im privaten Sektor sei, was für rechtliche und administrative Rahmenbedingungen in Mitgliedsstaaten zugunsten der Gewerkschaftsgründung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes spreche. 642 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 106. 643 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 107. Ausführlich zu diesen Anforderungen siehe S. 161. 644 EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013 – 2330/09 (Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien), Rn. 146. Differenzierend Marauhn/Merhof, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 7 Rn. 68. 645 Fornasier, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rn. 115; Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 23 Rn. 88; Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 67; Mair, ZIAS 2006, 158 (160); Marauhn, RabelsZ 63 (1999), 537 (540 f.); Sagan, in: Boecken/Düwell/Diller/ Hanau, Art. 11 Rn. 1. 646 Vgl. die Ausführungen zur Opfereigenschaft der Gewerkschaft ADEFDROMIL in EGMR, Urt. v. 02. 10. 2014 – 32191/09 (ADEFDROMIL ./. Frankreich), 24 – 26.

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

der die Registrierung verweigert wurde, ausdrücklich auf die Rechte der Mitglieder ab: „However, a mere allegation by a religious community that there is an actual or potential threat to its autonomy is not sufficient to render any interfereence with its members’ tradeunion rights compatible with the requirements of Article 11 of the Convention.“647

Diese Spruchpraxis kann anhand funktionaler Erwägungen erklärt werden: Der Schutzbereich von Art. 11 EMRK ist seinem Wortlaut nach zwar auf Einzelpersonen beschränkt. Eine dem Art. 19 Abs. 3 GG vergleichbare Regelung, welche die Rechte gegebenenfalls auf juristische Personen anwendbar erklärt, ist der EMRK fremd. Nichtsdestotrotz legt der Zweck der konventionsrechtlichen Koalitionsfreiheit eine kollektive Dimension nahe. Einzelpersonen sollen sich zusammenschließen können, um ihre Interessen effektiv wahrnehmen zu können. Die Koalitionsfreiheit steht daher auch dann den Gewerkschaften offen, wenn sie Rechte wahrnehmen, die der Einzelne nicht effektiv wahrnehmen kann.648 Spezielle Gewerkschaftsrechte losgelöst von der Freiheit des Einzelnen existieren dagegen nicht: Die Gewerkschaft ist allein dann neben den Einzelpersonen berechtigt, wenn sie die Rechte, die den Einzelnen zugesprochen werden, kollektiv wahrnimmt.649 c) Arbeitgeberverbände als Träger des Koalitionsrechts? Umstritten ist, ob auch Zusammenschlüsse von Arbeitgebern sich auf die Koalitionsfreiheit aus Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK berufen können. Damit einher geht die Frage, ob die Koalitionsfreiheit ein Spezialfall der Vereinigungsfreiheit oder ein eigenständiges Recht bildet. Ein großer Teil der Literatur beantwortet die Frage nach dem Schutz von Arbeitgeberverbänden nicht, weil diese jedenfalls von der allgemeinen Vereinigungsfreiheit geschützt seien.650 Sie beruft sich dabei auf ein Urteil, das lange vor Demir und Baykara ./. Türkei erging: Dort ließ der Gerichtshof die Frage, ob ein Berufsverband als eine Gewerkschaft im Sinne von Art. 11 EMRK zu beurteilen sei, offen, da die Koalitionsfreiheit lediglich einen Aspekt der Vereinigungsfreiheit darstelle.651 An diesem Ergebnis kann so nicht mehr festgehalten werden. Nachdem der Gerichtshof den Gewerkschaften (über ihre Mitglieder) in Demir und Baykara ./. Türkei erstmals konkrete Rechte zugesprochen hatte, die er sonstigen Vereinigungen 647 EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013 – 2330/09 (Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien), Rn. 159 (Hervorhebung durch den Verfasser). 648 Marauhn, RabelsZ 63 (1999), 537 (547). Den Grundsatz der Effektivität betont in diesem Zusammenhang auch Gitter, ZfA 1971, 127 (134). 649 Röben, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 5 Rn. 42. 650 So z. B. Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 11 Rn. 1; EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 10; Marauhn, RabelsZ 63 (1999), 537 (542); so wohl auch Tomuschat, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 493 (494 f.). 651 EGMR, Urt. v. 30. 06. 1993 – 16130/90 (Sigurður und Sigurjónsson ./. Island), Rn. 32.

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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nicht gewährt, ist Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK nicht mehr nur als klarstellendes Anhängsel der allgemeinen Vereinigungsfreiheit, sondern als eigenständiges Recht zu begreifen.652 Die Tendenz des Gerichtshofs geht dahin, Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK über den Wortlaut hinaus als generelles „right to organise“ zu verstehen.653 Er betont zwar, dass es sich bei der Mehrzahl der von ihm unter der Koalitionsfreiheit geprüften Fälle um Personen handle, die in einem Arbeitsverhältnis stünden.654 Zugleich wertete er einen rumänischen Sachverhalt, in dem ein Zusammenschluss von selbständigen Landwirten nicht als Gewerkschaft anerkannt wurde, als einen Eingriff in die Koalitionsfreiheit aus Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK.655 Bezüglich der rechtlichen Unterscheidung von Gewerkschaften und sonstigen Vereinigungen stehe dem Staat allerdings eine weite margin of appreciation zu, weshalb die konkrete Regelung mit Art. 11 EMRK vereinbar sei.656 In Vörður Ólafsson ./. Island stellte der EGMR fest, dass die gesetzliche Verpflichtung eines Arbeitgebers zur Zahlung einer Abgabe an den Verband der isländischen Industrie diesen als Gewerkschaftsmitglied beeinträchtigte.657 Wenn aber Arbeitgeberverbände vom EGMR unter Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK subsumiert werden, so ist der Rückgriff auf die allgemeine Vereinigungsfreiheit nicht mehr notwendig. Daher sind nach hier vertretener Auffassung auch Arbeitgeberverbände von der speziellen Koalitionsfreiheit geschützt,658 wenngleich rechtliche Unterscheidungen auf der Einschränkungsebene unter Beachtung der margin of appreciation weiter möglich sind. Für eine Aufnahme von Arbeitgeberverbänden in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit spricht außerdem das Diskriminierungs-

652 Dorssemont, European Labour Law Journal 2010, 185 (233); a. A. wohl EUArbRK/ C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 10. 653 Vgl. z. B. EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 107; EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013 – 2330/09 (Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien), Rn. 135; EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda ˙Is¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 33; EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland), Rn. 59. Dazu Fornasier, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rn. 113; Rothballer, NZA 2016, 1119 (1121). 654 EGMR, Urt. v. 16. 06. 2015 – 46551/06 (Manole und ,Romanian Farmers Direct‘ ./. Rumänien), Rn. 59. 655 EGMR, Urt. v. 16. 06. 2015 – 46551/06 (Manole und ,Romanian Farmers Direct‘ ./. Rumänien), Rn. 62; a. A. Fornasier, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rn. 114, der trotz der eindeutigen Ausführungen des Gerichtshofs davon ausgeht, dass dieser die Frage offengelassen hätte. 656 EGMR, Urt. v. 16. 06. 2015 – 46551/06 (Manole und ,Romanian Farmers Direct‘ ./. Rumänien), Rn. 65, 70 u. 74. 657 EGMR, Urt. v. 27. 04. 2010 – 20161/06 (Vörður Ólafsson ./. Island), Rn. 54. 658 Vogt u. a., Right to Strike, S. 94 f., explizit auf das Streikrecht bezogen. So im Ergebnis auch Bröhmer, in: EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 19 Rn. 106; Dorssemont, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 333 (347 ff., insb. 349); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 88; Sagan, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, 11 EMRK Rn. 3.

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

verbot des Art. 14 EMRK sowie das Prinzip der Waffengleichheit.659 Auch der Ansatz des Gerichtshofs, den Schutzbereich sehr weit zu halten und dafür den Mitgliedstaaten weite Spielräume bei der Gestaltung einzuräumen, bestätigt dieses Ergebnis. 2. Die Selbstverwaltung der Gewerkschaft Das Recht, eine Gewerkschaft zu gründen im engeren Sinne, umfasst auch ihr Recht zur Selbstverwaltung der eigenen Angelegenheiten, worunter beispielsweise das Festlegen von Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft fällt.660 Das Recht, Gewerkschaften zu gründen, wäre eine bedeutungslose Formalität, wenn es nicht auch das Recht des Einzelnen einschließen würde, die gegründete Vereinigung nach den eigenen Vorstellungen zu organisieren.661 Wie der Einzelne frei ist, in eine Gewerkschaft einzutreten, ohne dafür sanktioniert zu werden, so soll auch die Gewerkschaft frei sein, ihre Mitglieder zu wählen.662 Der Gerichtshof begründet dies einmal mehr mit einer funktionalen Herangehensweise: „Where associations are formed by people, who, espousing particular values or ideals, intend to pursue common goals, it would run counter to the very effectiveness of the freedom at stake if they had no control over their membership.“663

Den Gewerkschaften müsse ein Freiraum gelassen werden, wie sie sich aufstellen, um den Schutz der Mitgliederinteressen zu verfolgen.664 Zugleich muss allerdings auch der Einzelne die Möglichkeit haben, sich für seine Interessen einer Gewerkschaft anzuschließen, und dementsprechend vor willkürlichen Aufnahme- oder Ausschlussbedingungen geschützt werden.665 Das Ziel einer Gewerkschaft, die (homogenen) Interessen ihrer Mitglieder so effektiv wie möglich zu verfolgen, wird damit hinsichtlich der willkürlichen Mitgliederwahl begrenzt. Wenn das Zweckverfolgungsinteresse der Gewerkschaft und eines Mitglieds sich gegenüberstehen, so scheinen die Mehrheitsinteressen sich durchzusetzen. Der Einzelne kann eine eigene Gewerkschaft gründen. Bei dem

659 Dorssemont, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 333 (348 f.). 660 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 88; HK-EMRK/Daiber, Art. 11 Rn. 9. 661 Tomuschat, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 493 (499). 662 EGMR, Urt. v. 27. 02. 2007 – 11002/05 (Associated Society of Locomotive Engineers & Firemen (ASLEF) ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 39. 663 EGMR, Urt. v. 27. 02. 2007 – 11002/05 (Associated Society of Locomotive Engineers & Firemen (ASLEF) ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 39. 664 EGMR, Urt. v. 27. 02. 2007 – 11002/05 (Associated Society of Locomotive Engineers & Firemen (ASLEF) ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 39. 665 EKMR, Entscheidung v. 13. 05. 1985 – 10550/83 (Cheall ./. Vereinigtes Königreich).

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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Austarieren dieser gegenläufigen Interessen genießt der Mitgliedstaat allerdings eine margin of appreciation.666 3. Keine Benachteiligung aufgrund der Gewerkschaftsmitgliedschaft a) Die Rolle von Art. 14 EMRK Das Recht, eine Gewerkschaft zu gründen oder ihr beizutreten, muss effektiv wahrgenommen werden können. Es darf nicht dadurch entwertet werden, dass Gewerkschaftsmitglieder mit Sanktionen oder anderen Abschreckungsmaßnahmen rechnen müssen. Hierbei spielt auch das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK eine Rolle. In den ersten Urteilen zur Koalitionsfreiheit hat der Gerichtshof neben Art. 11 EMRK stets noch gesondert Art. 11 EMRK in Verbindung mit Art. 14 EMRK geprüft.667 Später wurde eine isolierte Prüfung von Art. 14 EMRK nicht mehr für notwendig erachtet,668 oder aber Art. 11 EMRK gleich zusammen mit Art. 14 EMRK geprüft, ohne dass dabei der Prüfungsmaßstab an Art. 14 EMRK angepasst worden wäre.669 Der Gerichtshof hat dies damit begründet, dass bereits der Wortlaut von Art. 11 EMRK „jede Person“ umfasse und somit ein Recht beinhalte, nicht aufgrund der Gewerkschaftszugehörigkeit diskriminiert zu werden.670 Art. 14 EMRK biete als integraler Bestandteil eines jeden Konventionsrechts per se einen gewissen Diskriminierungsschutz.671 Daher müssten die Maßnahmen, die ein Staat zum Schutz von Art. 11 EMRK bereitstellt, in ihrer Gesamtheit auch einen Schutz vor Benachteiligungen aufgrund der Gewerkschaftsmitgliedschaft gewährleisten.672 Der Gerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auf das Freedom of Association Committee der ILO, nach der die Diskriminierung wegen der Gewerkschaftszugehörigkeit eine der schwersten Verletzungen der Vereinigungsfreiheit darstelle, weil sie die Existenz einer Gewerkschaft gefährden könne.673

666 EGMR, Urt. V. 27. 02. 2007 – 11002/05 (Associated Society of Locomotive Engineers & Firemen (ASLEF) ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 46. 667 EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Rn. 43 ff.; EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5614/72 (Swedish Engine Drivers’ Union ./. Schweden), Rn. 44 ff.; EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5589/72 (Schmidt und Dahlström ./. Schweden), Rn. 38 ff.. 668 EGMR, Urt. v. 02. 07. 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 52. 669 EGMR, Urt. v. 30. 07. 2009 – 67336/01 (Danilenkov et al. ./. Russland), Rn. 123. 670 EGMR, Urt. v. 30. 07. 2009 – 67336/01 (Danilenkov et al. ./. Russland), Rn. 123. 671 So bereits schon EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Rn. 44. Zu den Konkurrenzen und der unterschiedlichen Prüfpraxis von Art. 14 EMRK vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 26 Rn. 2 f. 672 Vgl. EGMR, Urt. v. 30. 07. 2009 – 67336/01 (Danilenkov et al. ./. Russland), Rn. 123. 673 EGMR, Urt. v. 30. 07. 2009 – 67336/01 (Danilenkov et al. ./. Russland), Rn. 123.

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

b) Die Spruchpraxis des Gerichtshofs aa) Statistische Beobachtungen In der Spruchpraxis des EGMR kann eine Vielzahl an Fällen beobachtet werden, welche dieser Fallgruppe zugeordnet werden können. Filip Dorssemont zählt allein über 20 Versetzungen von Gewerkschaftsvertretern, die auf ein systematisches Vorgehen gegen zwei bestimmte Gewerkschaften schließen ließen.674 Dies stimmt auch mit der in dieser Arbeit angestellten Untersuchung überein. Von den 48 Urteilen des Katalogs675 betreffen acht Urteile Versetzungen von Gewerkschaftsmitgliedern.676 Zehn Urteile haben Sanktionen durch den Arbeitgeber oder den Staat als Reaktion auf eine gewerkschaftliche Betätigung zum Gegenstand.677 In Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich wurden finanzielle Anreize geschaffen, damit Gewerkschaftsmitglieder auf ihre Rechte verzichten.678 In Danilenkov et al. ./. Russland ergingen zahlreiche Maßnahmen gegen Streikteilnehmer, darunter Versetzungen, Arbeitszeitverringerungen und Entlassungen.679 Es zeigt sich, dass fast die Hälfte aller untersuchten Urteile zur Koalitionsfreiheit schwerpunktmäßig eine Benachteiligung von Gewerkschaftsmitgliedern betraf. bb) Kein schematisches Vorgehen des Gerichtshofs Die Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dabei sehr fallorientiert. In fünf der acht Versetzungsfälle stellte der Gerichtshof keine Verletzung von Art. 11 EMRK fest.680 Er führt aus, dass Art. 11 EMRK Gewerkschaftsmitgliedern keine besondere Be674

Dorssemont, European Labour Law Journal 2010, 185 (207). Siehe dazu unter S. 37. 676 EGMR, Urt. v. 20. 09. 2005 – 43672/98 (Ertas¸ Aydın et al. ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 20. 09. 2005 – 43974/98 (Bulg˘ a et al. ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 20. 09. 2005 – 45050/98 (Akat et al. ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 21. 03. 2006 – 41496/98 u. a. (Ademyılmaz et al. ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 14. 11. 2006 – 20868/02 (Metin Turan ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 06. 03. 2007 – 31918/02 (Kazım Ünlü ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 02. 02. 2010 – 30307/03 (Müslüm C¸iftçi ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 22. 09. 2015 – 22685/09, 39472/09 (Dedecan und Ok ./. Türkei). 677 EGMR, Urt. v. 27. 03. 2007 – 6615/03 (Karaçay ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 17. 07. 2008 – 23018/04 u. a. (Urcan et al. ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 15. 09. 2009 – 22943/04 (Saime Özcan ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 15. 09. 2009 – 30946/04 (Kaya und Seyhan ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 13. 07. 2010 – 33322/07 (C ¸ erikçi ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 27. 09. 2011 – 1305/05 (S¸is¸man et al. ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 10. 09. 2013 – 34010/06 (Fatma Akaltun Fırat ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 24. 03. 2015 – 36807/07 (I˙smail Sezer ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 26. 05. 2015 – 7152/08 (Dog˘ an Altun ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 24. 04. 2018 – 56237/08 (Sadrettin Güler ./. Türkei). 678 Vgl. EGMR, Urt. v. 02. 07. 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 48. 679 Vgl. EGMR, Urt. v. 30. 07. 2009 – 67336/01 (Danilenkov et al. ./. Russland), Rn. 130. 680 EGMR, Urt. v. 20. 09. 2005 – 43672/98 (Ertas¸ Aydın et al. ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 20. 09. 2005 – 43974/98 (Bulg˘ a et al. ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 20. 09. 2005 – 45050/98 (Akat et al. ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 21. 03. 2006 – 41496/98 u. a. (Ademyılmaz et al. ./. Türkei); EGMR, Urt. v. 06. 03. 2007 – 31918/02 (Kazım Ünlü ./. Türkei). 675

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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handlung durch den Staat garantiere.681 Ein Beamter müsse mit Versetzungen rechnen und diese nähmen ihm auch nicht die Möglichkeit, sich an einem anderen Ort gewerkschaftlich zu betätigen.682 Wieder einmal kommt der Ansatz des Gerichtshofs zum Tragen, die Möglichkeit der faktischen Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit ausreichen zu lassen.683 Allgemeine Schlüsse dürfen aus einzelnen Urteilen allerdings nur vorsichtig gezogen werden. Dass nahezu alle Fälle der Benachteiligung von Gewerkschaftsmitgliedern die Türkei und somit ein besonderes systemisches Versagen betreffen, spielt für die Übertragbarkeit der Aussagen eine große Rolle: Dort wurden allein im August 2017 682 Lehrer, die Mitglieder der Gewerkschaft KESK waren, wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen gegen die türkische Regierung zwangsversetzt.684 Allgemeine Vorgaben, wann eine Maßnahme gegen ein Gewerkschaftsmitglied eine Diskriminierung darstellt, existieren nicht. cc) Sanktionierungen wegen unerlaubten Fernbleibens von der Arbeit Beispielhaft für diese Erkenntnis sind die Sanktionierungen von Gewerkschaftsmitgliedern wegen unerlaubten Fernbleibens von der Arbeit. Auf den ersten Blick kann eine solche Maßnahme kaum als Diskriminierung gewertet werden, weil hier unabhängig von der Gewerkschaftsmitgliedschaft eine Verletzung der arbeitsvertraglichen Pflicht vorliegt. In Sadrettin Güler ./. Türkei wurde gegen ein Gewerkschaftsmitglied eine leichte Disziplinarmaßnahme in Form einer Verwarnung verhängt, weil es an einer gewerkschaftlich organisierten Demonstration teilgenommen hatte.685 Das Besondere: Die Demonstration fand am 1. Mai statt, der zu diesem Zeitpunkt noch kein Feiertag war; die Verwarnung beruhte also darauf, dass der Beschwerdeführer unerlaubt der Arbeit ferngeblieben ist.686 Der Gerichtshof nahm trotzdem eine Verletzung von Art. 11 EMRK an, weil die beanstandete Disziplinarmaßnahme, trotz ihrer Geringfügigkeit, geeignet gewesen sei, Gewerkschaftsmitglieder von der Teilnahme an Gewerkschaftsaktivitäten abzuhalten.687 Die Disziplinarbehörde habe nicht berücksichtigt, dass der 1. Mai einen hohen symbolischen Wert für die Gewerkschaften hat, die ihre Demonstrationen im Voraus angekündigt haben.688

681

Vgl. nur EGMR, Urt. v. 20. 09. 2005 – 43672/98 (Ertas¸ Aydın et al. ./. Türkei), Rn. 47. EGMR, Urt. v. 20. 09. 2005 – 43672/98 (Ertas¸ Aydın et al. ./. Türkei), Rn. 50 f. 683 Kritisch Dorssemont, European Labour Law Journal 2010, 185 (206): „very formalistic approach“. 684 Vgl. Birelma, Gewerkschaften in der Türkei, S. 21. 685 EGMR, Urt. v. 24. 04. 2018 – 56237/08 (Sadrettin Güler ./. Türkei), Rn. 7 f. Dazu außerdem sogleich unter S. 174. 686 So das Vorbringen der Regierung, vgl. EGMR, Urt. v. 24. 04. 2018 – 56237/08 (Sadrettin Güler ./. Türkei), Rn. 21. 687 EGMR, Urt. v. 24. 04. 2018 – 56237/08 (Sadrettin Güler ./. Türkei), Rn. 23. 688 EGMR, Urt. v. 24. 04. 2018 – 56237/08 (Sadrettin Güler ./. Türkei), Rn. 22. 682

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

Nun kann zur Einordnung dieses Urteils darauf abgestellt werden, dass in vielen europäischen Ländern politische Streiks erlaubt sind und daher eine klare Trennung von Streiks und Demonstrationen nicht immer möglich ist. Allerdings sind politische Streiks in der Türkei nicht zulässig.689 Auch kann nicht behauptet werden, dass der Gerichtshof über die Zeit einfach strengere Maßstäbe angelegt habe: Das Urteil Sadrettin Güler ./. Türkei verweist an den entscheiden Stellen auf das Urteil Karaçay ./. Türkei.690 Dieses wurde aber im gleichen Monat und von der gleichen Sektion gefällt wie das Urteil Kazım Ünlü ./. Türkei, welches sich wiederum im Wesentlichen ausdrücklich auf die Grundsätze im zuvor besprochenen Urteil Ertas¸ Aydın et al. ./. Türkei stützte, wonach das Mitglied auch nach seiner Versetzung die Koalitionsfreiheit an einem anderen Ort wahrnehmen könne.691 Vielmehr muss aus diesen Urteilen – wie im Übrigen für die gesamte Spruchpraxis des Gerichtshofs – gefolgert werden, dass auch vermeintliche Gemeinsamkeiten oder die Zusammenfassung von Urteilen in Fallgruppen nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, dass der Gerichtshof bei seiner Gesamtschau dem konkreten Sachverhalt das größte Gewicht beimisst. Verallgemeinerungen sind daher fehl am Platz.

II. Das Verbot von Absperrklauseln 1. Closed shop-Regelungen Das zweite wesentliche Element der Koalitionsfreiheit aus der Spruchpraxis des EGMR ist das Verbot des sogenannten closed shop (im Deutschen gebräuchlicher ist der Begriff der Absperrklauseln692). In einem closed shop-System wird der Zugang oder die Fortführung des Arbeitsverhältnisses von der Mitgliedschaft in einer bestimmten Gewerkschaft abhängig gemacht.693 Dies ist eine Gestaltung, die vor allem im Vereinigten Königreich und in den skandinavischen Staaten weit verbreitet war.694 Der Gerichtshof hat nachträgliche695 wie auch anfängliche696 Absperrklauseln als Verletzung der Koalitionsfreiheit gewertet. Eine Gewerkschaft habe auch ohne solche Absperrklauseln die Möglichkeit, sich um den Schutz der Interessen ihrer

689

Vgl. Hekimler, in: Hekimler/Ring, Tarifrecht in Europa, S. 367 (392). Vgl. EGMR, Urt. v. 24. 04. 2018 – 56237/08 (Sadrettin Güler ./. Türkei), Rn. 22 f. 691 Vgl. EGMR, Urt. v. 06. 03. 2007 – 31918/02 (Kazım Ünlü ./. Türkei), Rn. 29. 692 MHdB ArbR/Klumpp, Band 3, § 237 Rn. 21. 693 Dorssemont, European Labour Law Journal 2010, 185 (198). 694 van Hiel, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 287 (289 f.). 695 EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 65. 696 EGMR, Urt. v. 11. 01. 2006 – 52562/99, 52620/99 (Sørensen und Rasmussen ./. Dänemark), Rn. 58. 690

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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Mitglieder zu bemühen.697 In Demir und Baykara ./. Türkei stufte er das Verbot des closed shop als wesentliches Element der Koalitionsfreiheit ein.698 2. Weitere Zwangsmitgliedschaften a) Closed shop pars pro toto für Zwangsmitgliedschaften besonderer Art Das Recht, einer Gewerkschaft oder einer Vereinigung fernzubleiben, wird nicht ausdrücklich in Art. 11 Abs. 1 EMRK genannt.699 In den meisten Fällen hatte sich der Gerichtshof mit der negativen Koalitionsfreiheit allein anhand des closed shop zu beschäftigen.700 Trotz der Formulierung in Demir und Baykara ./. Türkei kann dem Gerichtshof nicht unterstellt werden, dass er allein das Verbot von closed shopRegelungen als funktionswesentlich für die Koalitionsfreiheit erachtet. Er versteht die wesentlichen Elemente als selbständige Teilbereiche, die mehrere Fallgruppen umfassen und daher weiter ausgestaltet werden können.701 Das closed shop-System ist aber bereits eine weitgehend konkretisierte Gestaltung. Von daher unterscheidet es sich rein systematisch von den anderen wesentlichen Elementen, die eher weit gefasst sind. Vielmehr ist anzunehmen, dass der closed shop für eine generelle Rechtsprechung zur negativen Koalitionsfreiheit steht: Das Verbot von Zwangsmitgliedschaften besonderer Art. Zu dem Zeitpunkt der Anerkennung der wesentlichen Elemente hatte der Gerichtshof lediglich noch keine Fälle außerhalb des closed shop entschieden, in denen eine vergleichbare Drucksituation vorlag. Erst im darauffolgenden Jahr stellte er erstmals einen Eingriff in die negative Koalitionsfreiheit fest, der keinen closed shop betraf.702 In allen sieben Urteilen zur negativen Koalitionsfreiheit traf der EGMR die Aussage, dass die Verpflichtung, einer Gewerkschaft oder einer Vereinigung beizutreten, erst dann einen Eingriff in Art. 11 EMRK darstelle, wenn sie den konkreten Umständen nach den Wesensgehalt („strikes at the very substance“) der Koalitionsfreiheit betreffe.703 Mit anderen Worten: Der Zwang, der 697

EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 64. 698 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 145. 699 Anders Art. 20 Abs. 2 AEMR, vgl. dazu bereits unter S. 71. 700 van Hiel, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 287 (289 f.). 701 Siehe dazu bereits unter S. 142. 702 EGMR, Urt. v. 27. 04. 2010 – 20161/06 (Vörður Ólafsson ./. Island), Rn. 54: Dort wurde die Verpflichtung, eine Industrieabgabe an einen Verband zu leisten, dem man nicht angehört, als Eingriff in Art. 11 EMRK gewertet. Der Gerichtshof stieß sich vor allem an der fehlenden Transparenz und Kontrolle durch die Behörden an, was die unterschiedliche Behandlung im Vergleich zu Geotech Kancev GmbH ./. Deutschland erklären könnte. 703 EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 55; EGMR, Urt. v. 20. 04. 1993 – 14327/88 (Sibson ./. Vereinigtes Königreich); Rn. 29; EGMR, Urt. v. 30. 06. 1993 – 16130/90 (Sigurður und Sigurjónsson ./.

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

auf den Einzelnen ausgeübt wird, einer Gewerkschaft beizutreten, muss ein gewisses Maß erreichen, um Eingriffsqualität aufzuweisen. b) Vorgaben des Gerichtshofs Die Drohung mit einer Kündigung hat der Gerichtshof für ausreichend erachtet,704 genauso wie die Abhängigkeit der Einstellung oder der Weiterbeschäftigung von dem Gewerkschaftsbeitritt.705 Gleiches gilt für den Eintritt in einen Berufsverband als Voraussetzung für den Erwerb der für die Ausübung des Berufs notwendigen Lizenz.706 Die Androhung der Versetzung,707 oder aber die Verpflichtung, Beiträge an eine Sozialkasse zu zahlen, obwohl keine Mitgliedschaft in dem Verband besteht,708 überschreiten die Druckschwelle dagegen nicht. Selbst die Frage, ob ein Recht besteht, nicht an einen Tarifvertrag gebunden zu sein (sog. negative Tarifvertragsfreiheit709), knüpfte der EGMR allein daran, ob durch die Arbeitskampfmaßnahmen ein Zwang ausgeübt werde, einem Arbeitgeberverband beizutreten, um so die Druckausübung durch die Gewerkschaft zu beenden.710 Der Gerichtshof verneinte einen Eingriff in Art. 11 EMRK, weil zum einen auch der Abschluss eines Haustarifvertrags möglich gewesen wäre und zum anderen die Vorbehalte des Beschwerdeführers rein politischer Natur waren und sich nicht auf eine etwaige Zwangsmitgliedschaft bezogen hätten.711 Vorgaben bezüglich der negativen Koalitionsfreiheit erwachsen demnach erst bei besonders starken Beeinträchtigungen. Sie wird nicht in gleichem Maße als funktionswesentlich für die effektive Verfolgung des Koalitionszwecks angesehen als die Island), Rn. 36; EGMR, Urt. v. 25. 04. 1996 – 15573/89 (Gustafsson ./. Schweden), Rn. 45; EGMR, Urt. v. 11. 01. 2006 – 52562/99, 52620/99 (Sørensen und Rasmussen ./. Dänemark), Rn. 54; EGMR, Urt. v. 27. 04. 2010 – 20161/06 (Vörður Ólafsson ./. Island), Rn. 45; EGMR, Urt. v. 02. 06. 2016 – 23646/09 (Geotech Kancev GmbH ./. Deutschland), Rn. 51. Zur Bedeutung des Wesensgehalt für die Bestimmung der negativen Koalitionsfreiheit siehe bereit unter S. 71. 704 EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 55: „a threat of dismissal involving loss of livelihood is a most serious form of compulsion“. 705 EGMR, Urt. v. 11. 01. 2006 – 52562/99, 52620/99 (Sørensen und Rasmussen ./. Dänemark), Rn. 61: „such a consequence can be considered serious and capable of striking at the very substance“. 706 EGMR, Urt. v. 30. 06. 1993 – 16130/90 (Sigurður und Sigurjónsson ./. Island), Rn. 36. 707 EGMR, Urt. v. 20. 04. 1993 – 14327/88 (Sibson ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 29. 708 EGMR, Urt. v. 02. 06. 2016 – 23646/09 (Geotech Kancev GmbH ./. Deutschland), Rn. 57: „the Court finds that this de facto incentive was too remote to strike at the very substance“. 709 Vgl. zum Begriff statt aller Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 2 ff. 710 EGMR, Urt. v. 25. 04. 1996 – 15573/89 (Gustafsson ./. Schweden), Rn. 52. 711 EGMR, Urt. v. 25. 04. 1996 – 15573/89 (Gustafsson ./. Schweden), Rn. 52. Nach Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit, S. 254 ist der Ertrag der bisherigen Rechtsprechung zur negativen Tarifvertragsfreiheit dementsprechend als gering einzustufen.

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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positive individuelle Koalitionsfreiheit. Die restriktive Schutzbereichsbestimmung führt auch nicht dazu, dass der EGMR keine margin of appreciation gewährt: In fünf der sieben Urteilen eröffnete er dem Staat Spielräume.712

III. Das Recht einer Gewerkschaft, gehört zu werden 1. Oberbegriff für alle gewerkschaftlichen Betätigungsformen zu Beginn Vor der Anerkennung des Rechts, Kollektivverhandlungen zu führen, als wesentliches Element, beschränkte der EGMR die kollektive Dimension der Koalitionsfreiheit auf das Recht der Gewerkschaft, gehört zu werden.713 Welche Mittel der Staat hierzu zur Verfügung stellte, war ihm frei überlassen.714 Eine verpflichtende Konsultation der Gewerkschaft, den Abschluss von Tarifverträgen oder ein Streikrecht müsse der Staat jedenfalls nicht ermöglichen.715 So blieb der Gewährleistungsinhalt des Rechts, gehört zu werden, diffus.716 Konkrete Rechte benannte der Gerichtshof nicht.717 Alle inhaltlich weitergehenden Ableitungen wurden letztendlich auf dieses „zentrale Schutzgut“ zurückgeführt, ohne dass dabei im Ergebnis eine bestimmte gewerkschaftliche Betätigungsform als von Art. 11 EMRK geschützt angesehen worden wäre.718 Nach dieser Rechtsprechung musste den Gewerkschaften de facto allein ermöglicht werden, in der Öffentlichkeit in irgendeiner Weise in Richtung des Arbeitgebers zu wirken.719

712 EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 65; EGMR, Urt. v. 30. 06. 1993 – 16130/90 (Sigurður und Sigurjónsson ./. Island), Rn. 41; EGMR, Urt. v. 25. 04. 1996 – 15573/89 (Gustafsson ./. Schweden), Rn. 54; EGMR, Urt. v. 11. 01. 2006 – 52562/99, 52620/99 (Sørensen und Rasmussen ./. Dänemark), Rn. 58; EGMR, Urt. v. 27. 04. 2010 – 20161/06 (Vörður Ólafsson ./. Island), Rn. 83. 713 Vgl. nur EGMR, Urt. v. 02. 07. 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 42. 714 EGMR, Urt. v. 02. 07. 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 42. 715 EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Rn. 39; EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5614/72 (Swedish Engine Drivers’ Union ./. Schweden), Rn. 40; EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5589/72 (Schmidt und Dahlström ./. Schweden), Rn. 36. 716 Felten, Koalitionsfreiheit und Arbeitsverfassungsgesetz, S. 164; Dorssemont, European Labour Law Journal 2010, 185 (216); Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 11 Rn. 16. 717 Tomuschat, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 493 (501). 718 Mair, ZIAS 2006, 158 (165 f.). 719 So Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 11 Rn. 16.

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

2. Entwicklung zu einer Kompensationsmöglichkeit seit Demir und Baykara ./. Türkei In Demir und Baykara ./. Türkei wurde schließlich „das Recht einer Gewerkschaft, sich darum zu bemühen, den Arbeitgeber davon zu überzeugen, im Namen ihrer Mitglieder zu hören, was sie zu sagen hat“ als wesentliches Element anerkannt.720 Dies ist eine ausführlichere Formulierung des Rechts, gehört zu werden, ohne dieses aber inhaltlich zu erweitern.721 In den Entscheidungen nach Demir und Baykara ./. Türkei verwendete der Gerichtshof fast ausschließlich die neue Umschreibung.722 Auch wenn Tarifverhandlungen ein Mittel sind, wie eine Gewerkschaft sich Gehör verschaffen kann, heißt das nicht, dass mit deren Anerkennung das Recht, gehört zu werden, bedeutungslos geworden wäre. Im Gegenteil: Der Gerichtshof zieht es weiter für seine Gesamtbetrachtung heran, um festzustellen, ob die Gewerkschaft in der Lage ist, die Interessen ihrer Mitglieder zu verfolgen. In The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich stellte der EGMR heraus, dass die Gewerkschaft zwar keine Sympathiearbeitskämpfe führen dürfe, dafür aber den Arbeitgeber auf andere Weise überzeugen könne, gehört zu werden.723 In Tek Gıda ˙Is¸ Sendikası ./. Türkei machte die Gewerkschaft geltend, in Art. 11 EMRK verletzt zu sein, weil sie aufgrund der angewandten Zählweise nicht repräsentativ war und so keine Tarifverhandlungen führen könne. Der Gerichtshof ließ dieses Argument mit dem Hinweis auf das weiter bestehende Recht, gehört zu werden, nicht gelten: „Furthermore, the Court notes that the impugned judicial decisions do not, in principle, hinder the applicant union’s right to seek to persuade the employer, by means other than collective bargaining, to hear what it has to say on behalf of its members, while at the same time attempting to increase its membership across the company as a whole.“724

Das Recht, gehört zu werden, und das Recht, Kollektivverhandlungen zu führen, stehen folglich nebeneinander: Gewerkschaften, die zwar faktisch die Möglichkeit haben, mit denen der Arbeitgeber aber im konkreten Fall keine Kollektivverhandlungen führt, müssen sich anderweitig (Rest-)Gehör verschaffen können.725

720

EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 145. Anschaulich Dorssemont, European Labour Law Journal 2010, 185 (216 f.); Harris/ O’Boyle/Bates/Buckley, Law of the EHCR, S. 729 mit Fn. 310. 722 EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013 – 2330/09 (Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien), Rn. 135; EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 85; EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda I˙s¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 43. 723 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 85. 724 EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda I˙s¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 43 (Hervorhebung durch den Verfasser). 725 Dorssemont, European Labour Law Journal 2010, 185 (218). 721

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine Gestaltung, die bestimmte Gewerkschaften von Tarifverhandlungen ausschließt, diesen Eingriff durch Mittel, die es diesen Gewerkschaften ermöglicht, sich auf andere Weise zu äußern, kompensieren kann.726 Es muss in einer Gesamtbetrachtung allein möglich sein, die Interessen der Mitglieder effektiv zu verfolgen.

IV. Das Recht, Kollektivverhandlungen zu führen 1. Grundsätzliches Kollektivverhandlungen und der Abschluss von Kollektivverträgen sind die wohl wichtigsten, weil effektivsten Mittel, um den Koalitionszweck zu erreichen.727 Das Recht, Kollektivverhandlungen zu führen, hat der Gerichtshof in Demir und Baykara ./. Türkei als wesentliches Element und damit als von Art. 11 EMRK geschützt angesehen.728 Zugleich sei dieses Recht lediglich „im Prinzip“ gewährleistet, weshalb die Staaten ihr System frei gestalten können, um zum Beispiel repräsentativen Gewerkschaften Sonderrechte einzuräumen.729 Gerade bei der Frage, wie Verhandlungen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite organisiert werden, bestehen in den Staaten große Unterschiede, sodass generell von einer weiten margin of appreciation auszugehen ist.730 Wie Tarifverhandlungen effektiv zur Verwirklichung der beiderseitigen Interessen führen, wird also unterschiedlich beurteilt. Aufgrund der mitgliedstaatsfreundlichen Vorgehensweise des EGMR sind weiter viele Fragen bezüglich der Ausgestaltung des Rechts, Tarifverhandlungen zu führen, offen.731 Ob der Gerichtshof diese Fragen überhaupt beantworten will und so den Vertragsstaaten konkrete Vorgaben an die Hand gibt, ist zweifelhaft.732 Vielmehr ist anzunehmen, dass der Gerichtshof auch hier erst dann einschreiten wird, wenn im 726

Vgl. z. B. für das deutsche Recht § 4a Abs. 5 Satz 2 TVG: Hier wird einer tarifzuständigen Gewerkschaft ein Anhörungsanspruch eingeräumt, obwohl sie gar nicht von den Tarifverhandlungen ausgeschlossen ist, sondern nur ggf. ihr Tarifvertrag verdrängt werden würde. Ausführlich dazu Giesen, in: BeckOK ArbR, § 4a TVG Rn. 31 ff. 727 Dorssemont, European Labour Law Journal 2010, 185 (218); Hamacher/van Laak, in: MAH Arbeitsrecht, § 71 Rn. 29. 728 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 154. 729 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 154. Dazu Ulber, in: Schlachter/Heuschmid/Ulber, Arbeitsvölkerrecht, § 6 Rn. 444. 730 Sagan, in: Ales u. a., International and European Labour Law, Art. 11 EMRK Rn. 26. 731 Ausführlich zu diesen möglichen Fragen A. Jacobs, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 314 ff.; vgl. auch Sagan, in: Boecken/Düwell/Diller/ Hanau, Art. 11 EMRK Rn. 13. 732 In diese Richtung auch Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 11 Rn. 19, der die Zurückhaltung des EGMR mit der Vielzahl anderer völkerrechtlicher Verträge erklärt, in denen die Rechte konkretisiert sind. In Bezug auf Tarifverträge heiße dies, dass allein der Abschluss möglich sein müsse.

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

konkreten Fall die Verfolgung des Koalitionszwecks den konkreten Beschwerdeführern nicht mehr möglich ist. Wenn dabei einzelne Gestaltungen gebilligt werden, heißt das nicht, dass dies auch für andere Staaten maßgeblich ist. Nur weil eine konkrete Ausgestaltung geschützt ist, ist sie nicht durch die EMRK für alle Staaten geboten. Allein ein genereller Ausschluss von Tarifverhandlungen für eine bestimmte Gruppe von Beschäftigten wird in den meisten Fällen nicht durch andere Mittel zur Zweckverfolgung zu kompensieren sein.733 2. Kein Recht auf Abschluss eines Tarifvertrags Die allgemeinen Prinzipien der funktionalen Auslegung734 gelten auch für die Kollektivverhandlungen. So enthält das Recht, Kollektivverhandlungen zu führen, ausdrücklich kein Recht auf einen Tarifvertrag.735 Innerstaatliche Rechtsbehelfe gegen die Diskriminierung von Gewerkschaften können daher andere Wirkungen als einen Kontraktionszwang des Arbeitgebers vorsehen, ohne dass das Recht, Tarifverhandlungen zu führen, beeinträchtigt ist.736 Wie auch bei den anderen wesentlichen Elementen ist also alleine die grundsätzliche Zweckverfolgung und keine Zweckerreichung gewährleistet. Eine nationale Regelung, nach der nur die Tarifvertragsparteien und nicht auch die Gewerkschaftsmitglieder einen Tarifvertrag anfechten können, macht diese Zweckverfolgung nicht bedeutungslos und ist daher mit Art. 11 EMRK vereinbar.737 Von Tarifverhandlungen spricht der Gerichtshof auch, wenn in einem Verhandlungskomitee zusätzliche unabhängige (hier: vom Minister vorgeschlagene) Vertreter sitzen, solange Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite paritätisch vertreten sind.738 Die Abschaffung eines solchen Gremiums ist laut EGMR mit Art. 11 EMRK vereinbar, weil es keine Verpflichtung gebe, einen zwingenden Verhandlungsmechanismus bereitzustellen.739 Die frühere Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach auch kein Recht darauf bestehe, dass der Arbeitgeber Verhandlungen mit der Gewerkschaft aufnimmt, ist damit weiterhin gültig.740 Sie hat keinen Anspruch auf eine

733

Vgl. dazu oben unter S. 139. Siehe dazu unter S. 131. 735 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 85; vgl. auch EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 158. 736 Z. B. Schadensersatzzahlungen, siehe EGMR, Entscheidung v. 28. 05. 2013 – 5044/04 (Svoboden Zheleznicharski Sindikat ,Promyana‘ ./. Bulgarien), Rn. 58. 737 EGMR, Entscheidung v. 03. 12. 2013 – 41547/08 (Costut ./. Rumänien), Rn. 18 f. 738 EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65397/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 58. 739 EGMR, Entscheidung v. 03. 05. 2016 – 65397/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 65. 740 So bereits Dorssemont, European Labour Law Journal 2010, 185 (221 f.). 734

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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Aufwertung oder eine Förderung ihrer Position im konkreten Fall. Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK stellt keine Vorgaben diesbezüglich auf.741 3. Begrenzung von Verhandlungspartnern Der Gerichtshof akzeptiert seit jeher nationale Gestaltungen, welche die Zahl an potenziellen Verhandlungspartnern begrenzen.742 Eine Diskriminierung konnte der EGMR insbesondere in dem Ausschluss nicht repräsentativer Gewerkschaften nicht feststellen.743 Als Rechtfertigungsgründe für die Beschränkungen ließ er ordnungspolitische Ziele wie die Vermeidung einer „Gewerkschaftsanarchie“744 und einer „übermäßigen Anzahl von Verhandlungspartnern“745 gelten, in einer neueren Entscheidung aber auch den „Grundsatz der Parität bei Tarifverhandlungen“746. Das sind Argumente, die auch von der politischen Ansicht abhängen. Während liberale, vor allem aber auch eher linke Parteien und Gruppierungen das Nebeneinander von mehreren Gewerkschaften in einem Betrieb als wünschenswert ansehen, strebt die Gegenansicht möglicherweise eine stärkere Ordnung der Gewerkschaftslandschaft an.747 Der Gerichtshof erkennt diese Erwägungen ausdrücklich an und hält sich bei ordnungspolitischen Zielen der Mitgliedstaaten zurück. In Demir und Baykara ./. Türkei stellte er die Repräsentativität als Anknüpfungspunkt für unterschiedliche Ausgestaltungen von Tarifverhandlungen besonders hervor und eröffnete somit eine Art Bereichsausnahme.748 Das greift auch die rechtliche Lage in vielen europäischen Staaten auf, in denen die Fähigkeit, Tarifverträge zu schließen, an die (unter-

741 Anders z. B. der Wortlaut von Art. 6 ESC (Recht auf Kollektivverhandlungen): Nr. 1 enthält die Verpflichtung der Vertragsparteien, gemeinsame Beratungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu fördern und Nr. 2 enthält die Verpflichtung, Verfahren für freiwillige Verhandlungen zwischen Arbeitgebern oder Arbeitgeberorganisationen einerseits und Arbeitnehmerorganisationen andererseits zu fördern. 742 Vgl. hierzu Dorssemont, European Labour Law Journal 2010, 185 (222 f.); Sagan, in: Ales u. a., International and European Labour Law, Art. 11 EMRK Rn. 26 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung. 743 Dorssemont, European Labour Law Journal 2010, 185 (221 f.). 744 EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Rn. 48. 745 EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5614/72 (Swedish Engine Drivers’ Union ./. Schweden), Rn. 46. 746 EGMR, Urt. v. 27. 11. 2014 – 36701/09 (Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien), Rn. 57. 747 Vgl. in diesem Zusammenhang beispielsweise die Entwicklung der Tarifeinheit in Deutschland, dazu Giesen, ZfA 2019, 40 (41 ff.). 748 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 154: „it being understood that States remain free to organise their system so as, if appropriate, to grant special status to representative trade unions.“

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

schiedlich definierte) Repräsentativität angeknüpft wird.749 Bernd Waas kommt in einer rechtsvergleichenden Untersuchung zu dem Schluss, dass ein ausgeprägtes Interesse der nationalen Gesetzgeber bestehe, eine einheitliche tarifliche Ordnung herzustellen.750 Die Zählweise, mit welcher die Repräsentativität von Gewerkschaften ermittelt wird, betrifft – wie oben bereits ausgeführt – einen Randaspekt, weswegen den Staaten ein (besonders) weiter Spielraum eröffnet wird.751 4. Wirkung von Tarifverträgen Zur Wirkung von Tarifverträgen und der Stellung der Tarifnormen in der Normenpyramide des Arbeitsrechts hat sich der Gerichtshof – soweit ersichtlich – noch nicht ausdrücklich geäußert. In Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien hat er lediglich festgestellt, dass es nicht seine Aufgabe sei, die Gültigkeit und die Stellung kirchlicher untergesetzlicher Normen in der Normenhierarchie zu bewerten.752 Eine Vorgabe, dass tariflich geregelte Arbeitsbedingungen normativ zu wirken haben, lässt sich daher aus Art. 11 EMRK nicht ableiten.753 Zur Kollision von staatlicher und verbandlicher Rechtsetzung sagt der EGMR nichts, weil die EMRK keine spezielle Wirkung von Tarifverträgen vorgibt.754 Die restriktive Auslegung der negativen Koalitionsfreiheit755 lässt aber den Schluss zu, dass der EGMR auch eine ErgaOmnes-Wirkung von Tarifverträgen nicht beanstanden würde.756 Die Zurückhaltung des Gerichtshofs bei Fragen, welche die Wirkung und das Verhältnis von Tarifverträgen zu anderen Rechtsquellen betreffen, verhindert, dass die historisch gewachsenen Gestaltungen in den verschiedenen Ländern aus dem Gleichgewicht gebracht werden.757 Allgemeine Vorgaben an die Mitgliedstaaten können in diesem Bereich nicht entwickelt werden.

749 Vgl. hierzu instruktiv die Länderskizzen zu 26 europäischen Staaten bei Waas, Regelungsentwurf von DGB und BDA, S. 67 ff. 750 Waas, Regelungsentwurf von DGB und BDA, S. 116 f. 751 EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda I˙s¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 46. 752 EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013 – 2330/09 (Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien), Rn. 156. 753 Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 255; Henssler, ZfA 1998, 1 (29); C. Schubert, AöR 137 (2012), 92 (107 f.). 754 Henssler, ZfA 1998, 1 (29). 755 Dazu oben unter S. 153 f. 756 Wietfeld, in: Kamanabrou, Erga-Omnes-Wirkung, S. 121 (128). 757 A. Jacobs, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 322.

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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5. Beamte a) Keine Grundrechtsträger „light“ In Demir und Baykara ./. Türkei wurde für das Recht, Tarifverhandlungen zu führen, gleich der Ernstfall erprobt: Dieses stehe grundsätzlich auch Beamten zu.758 Der EGMR nannte sogleich zwei Ausnahmen: Zum einen gebe es sehr spezifische Fälle, in denen Beamten die Wahrnehmung dieser Rechte entzogen werden könnte, zum anderen seien rechtmäßige Beschränkungen für Angehörige der Staatsverwaltung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 (wohl S. 2) EMRK jederzeit möglich.759 Das bedeutet jedoch nicht, dass an eine Einschränkung für die in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK angesprochenen Fallgruppen niedrigere Anforderungen als nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK zu stellen sind.760 Der Gerichtshof weist insbesondere eine frühere Kommissionsentscheidung zurück: „On this point the Court does not share the view of the Commission that the term ,lawful‘ in the second sentence of Article 11 § 2 requires no more than that the restriction in question should have a basis in national law, and not be arbitrary and that it does not entail any requirement of proportionality.“761

Auch bei Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK muss ein Eingriff demnach einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK genügen.762 Beamte sind keine Grundrechtsträger „light“. Die vom EGMR in Demir und Baykara ./. Türkei genannte erste Ausnahme legt einzig nahe, dass der vollständige Ausschluss eines wesentlichen Elements aufgrund der Loyalitätspflichten im Gegensatz zu anderen Gewerkschaftsmitgliedern unter strengen Voraussetzungen möglich ist. Besondere Loyalitätspflichten gegenüber ihrem Arbeitgeber spricht die EMRK Angehörigen der Streitkräfte, der Polizei und der Staatsverwaltung zu. Im konkreten Fall war es der türkischen Regierung jedoch nicht gelungen, auf besondere Umstände hinzuweisen, die eine ex-tunc Annulierung des ausgehandelten Tarifvertrags gerechtfertigt hätten.763 Die Erklärung, dass Beamte generell eine privilegierte Stellung im Verhältnis zu anderen Arbeitnehmern hätten, genügte dem Gerichtshof nicht.764

758

EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 154. EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 154. 760 EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 77; andere Ansicht dagegen wohl Vogt. u. a., Right to Strike, S. 95, die davon ausgehen, dass an eine Einschränkung nach Satz 1 geringere Anforderungen als an eine Einschränkung nach Satz 2 zu stellen sind. 761 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 97. 762 EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 77. 763 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 168. 764 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 168. 759

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

b) Loyalitätspflichten können Besonderheiten rechtfertigen Wie eine solche Erklärung aussehen kann, zeigt der Fall Trade Union of the Police in the Slovak Republic et al. ./. Slowakei: Dort protestierten Polizisten auf einer Versammlung für eine bessere Bezahlung; dies wurde mit Rücktrittsforderungen gegenüber der Regierung verbunden.765 Der Innenminister erklärte in einem Zeitungsinterview, dass er nicht mehr verpflichtet sei, mit den Gewerkschaftsvertretern zu verhandeln, weil diese ihre Glaubwürdigkeit verloren hätten.766 Der Gerichtshof stellte keine Verletzung von Art. 11 EMRK fest. Da die Rolle der Beamten in einer demokratischen Gesellschaft darin bestehe, die Regierung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu unterstützen, komme der Pflicht zur Loyalität und Zurückhaltung für sie eine besondere Bedeutung zu.767 Der Innenminister hätte zwar erklärt, nicht mit den Vertretern verhandeln zu wollen, die Beschwerdeführer hätten jedoch nicht nachgewiesen, dass das Recht der Gewerkschaft nachträglich beeinträchtigt worden wäre.768 Insbesondere sei auch nicht vorgetragen worden, dass der Gewerkschaft die Möglichkeit genommen wurde, Gewerkschaftsaktivitäten auszuüben, andere öffentliche Versammlungen zu organisieren oder die Rechte ihrer Mitglieder durch eine Vielzahl von Mitteln zu verteidigen, die das innerstaatliche Recht ausdrücklich vorsehe.769 c) Funktionale Bestimmung der Beamteneigenschaft Es stellt sich jedoch weiter die Frage, für welche Berufsgruppen der Mitgliedstaat konkret auf eine besondere Loyalitätsstellung verweisen und so eine Einschränkung begründen kann. In Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK werden Angehörige der Streitkräfte, der Polizei und der Staatsverwaltung genannt. In einer Entscheidung zum Streikrecht führte der Gerichtshof aus, dass sich eine Einschränkung zwar an bestimmte Gruppen von Beamten richten könnte, nicht jedoch gegen Beamte im Allgemeinen.770 Dabei verwies er auf die Entscheidung Pellegrin ./. Frankreich, nach der die konventionsrechtliche Unterscheidung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes – unabhängig davon, ob in einem Beamtenverhältnis stehend oder arbeitsvertraglich gebunden – rein funktional nach der Ausübung hoheitlicher Be765 EGMR, Urt. v. 25. 12. 2012 – 11828/08 (Trade Union of the Police in the Slovak Republic et al. ./. Slowakei), Rn. 6. Der Stein des Anstoßes war dabei ein Plakat mit dem Slogan: „Wenn der Staat einen Polizisten nicht bezahlt, wird die Mafia dies gerne tun.“ 766 EGMR, Urt. v. 25. 12. 2012 – 11828/08 (Trade Union of the Police in the Slovak Republic et al. ./. Slowakei), Rn. 11. 767 EGMR, Urt. v. 25. 12. 2012 – 11828/08 (Trade Union of the Police in the Slovak Republic et al. ./. Slowakei), Rn. 57. 768 EGMR, Urt. v. 25. 12. 2012 – 11828/08 (Trade Union of the Police in the Slovak Republic et al. ./. Slowakei), Rn. 73. 769 EGMR, Urt. v. 25. 12. 2012 – 11828/08 (Trade Union of the Police in the Slovak Republic et al. ./. Slowakei), Rn. 73. 770 EGMR, Urt. v. 21. 4. 2009 – 68959/01 (Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei), Rn. 32.

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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fugnisse zu erfolgen habe.771 Eine Bestimmung aufgrund des Status lässt der EGMR nicht zu: „The Court further considers that municipal civil servants, who are not engaged in the administration of the State as such, cannot in principle be treated as ,members of the administration of the State‘ and, accordingly, be subjected on that basis to a limitation of their right to organise and to form trade unions.“772

Hier zeigt sich zum wiederholten Mal die funktionale Auslegung des Gerichtshofs. Im Ergebnis müsste somit auch das Recht, Tarifverhandlungen zu führen, Beamten, die keine genuin hoheitlichen Befugnisse ausüben, wie sonstigen Arbeitnehmern offenstehen. Die Rechte von beispielsweise Lehrern, Professoren und Angestellten in der Gemeindeverwaltung, die keine hoheitlichen Aufgaben ausführen, können damit nicht mit Verweis auf die besondere Loyalitätsstellung eingeschränkt werden. Aber auch Beamte, die unter Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK fallen, sind nicht von der Koalitionsfreiheit generell und vom Recht, Tarifverhandlungen zu führen, im Besonderen ausgeschlossen. Die Anknüpfung an die besondere Loyalitätspflicht ist an hohe Anforderungen gebunden. Dass dabei aber auch paritätisch besetzte Verhandlungskomitees mit unabhängigen Vertretern diesen Vorgaben grundsätzlich genügen, wurde oben bereits aufgezeigt.773 6. Tarifautonomie a) Keine Anerkennung einer umfassenden Tarifautonomie Elementar für die aufgrund von Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Tarifautonomie ist, dass den Parteien ein Freiraum überlassen wird, in dem sie ihre Angelegenheiten ohne staatliche Einflussnahme regeln können.774 Auf der konventionsrechtlichen Ebene spielt die Autonomie der Koalitionen in Bezug auf die Aushandlung von Tarifverträgen dagegen nur eine untergeordnete Rolle. In einer Entscheidung, die vor Demir und Baykara ./. Türkei erging, sah es der Gerichtshof als mit Art. 11 EMRK

771 EGMR, Urt. v. 08. 12. 1999 – 28541/95 (Pellegrin ./. Frankreich), Rn. 64 f. Das deutsche Beamtenstreikverbot dürfte vor diesem Hintergrund auch nicht vor dem EGMR standhalten, siehe ausführlich Seifert, KritV 2009, 357 (370 ff.); differenzierend C. Schubert, AöR (2012), 92 (106 ff.). 772 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 97. 773 Siehe oben unter S. 158. 774 St. Rspr. vgl. nur BVerfG, Urt. v. 18. 11. 1954 – 1 BvR 629/52, NJW 1954, 1881 (1882); BVerfG, Beschluss v. 24. 04. 1996 – 1 BvR 712/86, NJW 1997, 513; BVerfG, Beschluss v. 27. 04. 1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, NJW 1999, 3033 (3034); BVerfG, Urt. v. 11. 07. 2017 – 1 BvR 1571/15 u. a., NZA 2017, 915 (918).

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

vereinbar an, dass die schwedische Wettbewerbsbehörde die Klausel eines Tarifvertrags aufhob, weil sie gegen das nationale Wettbewerbsgesetz verstieß.775 Die Begründung verwundert aus deutscher Sicht aufgrund ihrer Pragmatik: Art. 11 EMRK garantiere kein Recht, dass der Tarifvertrag auf unbestimmte Zeit gelte.776 Besonders auf die lange Geltungsdauer der Klausel schien der Gerichtshof besonderen Wert zu legen: „It is significant that the clause remained effective for over twenty years, until 19 February 1999, when the Competition Authority ordered member companies to discontinue its application, finding that it hampered competition in a manner contrary to section 6 of the Competition Act.“777

Die Einflussnahme des Staats auf den ausgehandelten Tarifvertrag wurde also weniger zum Thema gemacht, als die Geltung der betroffenen Klausel für über 20 Jahre. Auch in Demir und Baykara ./. Türkei wurde allein das Recht, Kollektivverhandlungen zu führen, anerkannt.778 Anders als das BVerfG hat der Gerichtshof somit keine umfassende Tarifautonomie in die Koalitionsfreiheit hineingelesen.779 b) Möglichkeit weitgehenden staatlichen Zugriffs Eine staatliche Einflussnahme auf laufende Tarifverhandlungen ist unter Art. 11 EMRK zu einem weitaus höheren Grad als unter Art. 9 Abs. 3 GG möglich: Das zeigt auch eine Entscheidung aus dem Jahr 2018, die bereits thematisiert wurde.780 Nach erfolglosen Tarifverhandlungen zwischen einer Spitzenorganisation von Gewerkschaften und dem isländischen Staat verabschiedete das isländische Parlament am 13. Juni 2015 ein Gesetz.781 Dieses sah für den Fall, dass bis zum 1. Juli 2015 kein Tarifvertrag zwischen den Parteien unterzeichnet werde, vor, dass ein Schiedsgericht 775 EGMR, Entscheidung v. 30. 11. 2004 – 53507/99 (Swedish Transport Workers’ Union ./. Schweden). Die Klausel bestimmte, dass Unternehmen, die an den Tarifvertrag gebunden waren, bestimmte Aufträge nicht an Auftragnehmer delegieren durften, die keiner Tarifbindung unterlagen. 776 EGMR, Entscheidung v. 30. 11. 2004 – 53507/99 (Swedish Transport Workers’ Union ./. Schweden). 777 EGMR, Entscheidung v. 30. 11. 2004 – 53507/99 (Swedish Transport Workers’ Union ./. Schweden). 778 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 154. 779 Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 255; Greiner, Rechtsfragen, S. 176 f.; Henssler, ZfA 1998, 1 (29); C. Schubert, AöR (2012), 92 (107 f.); a. A. Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 298 f., der aber richtigerweise zugesteht, dass der Gerichtshof es bislang versäumt hat, „das Recht auf Tarifverhandlung zur ,Tarifautonomie‘ im Sinne einer umfassenden Befugnis der Koalitionen zur eigenverantwortlichen Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auszubauen.“ Vgl. außerdem die weiterführenden Forderungen von A. Jacobs, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 327 ff. 780 Siehe oben unter S. 134. 781 EGMR, Entscheidung v. 15. 05. 2018 – 2451/16 (Association of Academics ./. Island), Rn. 8.

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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ernannt wird, das bis zum 15. August 2015 die Löhne und Beschäftigungsbedingungen der Gewerkschaftsmitglieder festlegen sollte. Die Festsetzungen waren für die Parteien als Tarifvertrag bindend.782 Der Gerichtshof konnte keine Verletzung von Art. 11 EMRK feststellen, da sowohl in der Zeit vor als auch in der Zeit nach dem Inkrafttreten des Gesetzes noch ausreichend Gelegenheit bestanden hätte, Tarifverhandlungen zu führen.783 Nur weil die Verhandlungen nicht zum gewünschten Ergebnis geführt hätten, seien die Rechte aus Art. 11 EMRK nicht illusorisch gewesen.784 Infolgedessen wies der Gerichtshof die Beschwerde als offensichtlich unbegründet ab. Auch das Recht, Tarifverhandlungen zu führen, wird also funktional ausgelegt. Staatliche Regelungen, welche Tarifverhandlungen sogar beenden, sind mit Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK vereinbar, solange den Gewerkschaften und ihren Mitgliedern die Möglichkeit der Zweckverfolgung zumindest für eine gewisse Zeit offensteht. Wann der Staat eingreifen darf, ist dagegen unklar. 7. Zwischenergebnis Das Recht, Tarifverhandlungen zu führen, ist ein wesentliches Element der Koalitionsfreiheit. Aufgrund der unterschiedlichen Gestaltungen in den Mitgliedstaaten besteht hier ein besonders weiter Spielraum. Der Staat muss gewährleisten, dass die Gewerkschaften die Interessen ihrer Mitglieder effektiv verfolgen können. Mechanismen, die den Arbeitgeber dazu bringen, in Tarifverhandlungen zu treten, muss er dagegen nicht bereitstellen. Die schwache Position einer Gewerkschaft muss er nicht aufwerten, eine Schutzpflicht besteht erst dann, wenn systemisch allen Gewerkschaften eine effektive Zweckverfolgung nicht mehr möglich ist. Generell können aber auch weitgehende staatliche Zugriffe des Staats auf Tarifverhandlungen gerechtfertigt werden. Wie aktiv der Staat ist, das heißt, wie ausführlich er in den Verhandlungsprozess eingreift und wie ausführlich er flankierende staatliche Regelungen setzt, ist ihm weitgehend überlassen. Das ist im Ergebnis eine konkrete Auswirkung der unterschiedlichen kollektiven Systeme der Mitgliedstaaten und der daraus folgenden margin of appreciation.

782

Rn. 8. 783

EGMR, Entscheidung v. 15. 05. 2018 – 2451/16 (Association of Academics ./. Island,

EGMR, Entscheidung v. 15. 05. 2018 – 2451/16 (Association of Academics ./. Island), Rn. 31. 784 EGMR, Entscheidung v. 15. 05. 2018 – 2451/16 (Association of Academics ./. Island), Rn. 32.

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

V. Das Streikrecht 1. Grundsätzliches a) Entwicklung in der Spruchpraxis Die genaue Ausgestaltung des Streikrechts und dessen Voraussetzungen unterscheiden sich von Staat zu Staat.785 Ein Streik wird aber auch im internationalen Vergleich durch zwei gemeinsame Merkmale gekennzeichnet: Die Einstellung der Arbeit durch die Arbeitnehmer (1.), die koordiniert und in der Regel gleichzeitig stattfindet (2.).786 Wie das Recht, Tarifverhandlungen zu führen, wird auch das Streikrecht nicht von Art. 11 EMRK erwähnt. Während der Gerichtshof zu Beginn seiner Judikatur das Streikrecht nicht dem Schutzbereich der Koalitionsfreiheit zuordnete,787 prüfte er über 25 Jahre später erstmals, ob ein Streikverbot nach Art. 11 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sein könnte.788 In Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei verwies der Gerichtshof auf die Spruchpraxis zum ILO-Übereinkommen Nr. 87, die das Streikrecht als „untrennbare Folge“ der gewerkschaftlichen Koalitionsfreiheit einstufte.789 Daher wies er den Einspruch der türkischen Regierung zurück, die bereits keinen Eingriff erkennen konnte und gewährte damit erstmals einen Schutz des Streikrechts.790 Dieses Recht gilt in der Rechtsprechung zur Koalitionsfreiheit mittlerweile als „eindeutig geschützt“791. Der Schutz beschränkt sich dabei nicht nur auf den Kernbereich des Streikrechts, sondern erfasst auch Randaspekte wie beispielsweise den Unterstützungsstreik.792 Nichtsdestotrotz hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass seine Aussage in Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei allein die Position der ILO betreffe.793 Dementsprechend hat er die Frage, ob das Streikrecht ein wesentliches Element von Art. 11 EMRK ist, bis zum jetzigen Zeitpunkt offengelassen.794 785

Vogt u. a., Right to Strike, S. VII f. Vogt u. a., Right to Strike, S. VII. 787 EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5589/72 (Schmidt und Dahlström ./. Schweden), Rn. 37. 788 EGMR, Entscheidung v. 10. 01. 2002 – 53574/99 (Unison ./. Vereinigtes Königreich). Zur Historie des Streikrechts in der Spruchpraxis des EGMR, vgl. ausführlich Dorssemont, European Labour Law Journal 2010, 185 (223 ff.). 789 EGMR, Urt. v. 21. 4. 2009 – 68959/01 (Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei), Rn. 24. 790 EGMR, Urt. v. 21. 4. 2009 – 68959/01 (Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei), Rn. 24. 791 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 84. 792 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 77. 793 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 84. 794 Vgl. EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 84: „The Court does not therefore discern any need in the present case to determine whether the taking of industrial action should now be 786

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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b) Einstufung als wesentliches Element Vieles spricht jedoch dafür, das Streikrecht auch als wesentliches Element der Koalitionsfreiheit anzuerkennen. Der EGMR sieht das Streikrecht zwar mittlerweile in ständiger Rechtsprechung als von Art. 11 Abs. 1 EMRK geschützt an.795 Allerdings spricht er ausdrücklich von einem wichtigen und keinem wesentlichen Element.796 Wie oben bereits angesprochen,797 spielt die Einstufung als wesentliches Element jedoch lediglich eine Rolle für die Erfassung des Schutzbereichs von Art. 11 EMRK, nicht dagegen für die Intensität des Schutzes. Der EGMR bezeichnet das Streikrecht sogar als das „schlagkräftigste Instrument zum Schutz der beruflichen Interessen der Mitglieder“798 – noch vor den Kollektivverhandlungen. Auch die Untersuchung von Filip Dorssemont hat keinen strengeren Prüfungsmaßstab bei den ausdrücklich so bezeichneten wesentlichen Elementen im Vergleich zum Streikrecht hervorbringen können.799 Vielmehr hat der Gerichtshof seine Prüfintensität in jüngeren Entscheidungen davon abhängig gemacht, ob ein Kern- oder ein Randaspekt des Elements betroffen sei.800 Dies galt dabei unterschiedslos sowohl für das wesentliche Element, Tarifverhandlungen zu führen, in Tek Gıda ˙Is¸ Sendikası ./. Türkei, als auch für das bislang lediglich wichtige Element, zu streiken, in The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich. In einem Sondervotum zu Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien stellt Richter Paulo Pinto de Albuquerque die Bedeutung des Streikrechts heraus: „In a democratic society, the ultimate practical ‘means to persuade the employer to hear’ the demands of the workers is obviously strike action. If collective action represents the core of the workers’ freedom of association, strike action is the core of the core. Indeed, striking predated both unions and collective bargaining. Thus, the taking of strike action should be accorded the status of an essential element of the Article 11 guarantee.“801

Auch in der Literatur wird überwiegend vertreten, das Streikrecht als wesentliches Element anzusehen.802 Tarifverhandlungen wären ansonsten nicht mehr als ein accorded the status of an essential element of the Article 11 guarantee.“ Vgl. auch EGMR, Entscheidung v. 15. 05. 2018 – 2451/16 (Association of Academics ./. Island), Rn. 24. 795 Ausführlich zu der Entwicklung des Streikrechts in der Spruchpraxis des EGMR siehe Vogt u. a., Right to Strike, S. 87 ff. 796 EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland), Rn. 56, 70. 797 Vgl. dazu unter S. 119. 798 EGMR, Urt. v. 27. 11. 2014 – 36701/09 (Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien), Rn. 59. 799 Dorssemont, King’s Law Journal 2016, 67 (70). 800 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 87; EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda I˙s¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 36. 801 Sondervotum von Richter Paulo Pinto de Albuquerque zu EGMR, Urt. v. 27. 11. 2014 – 36701/09 (Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien), Rn. 8 (Hervorhebung durch den Verfasser). 802 Povedano Peramato, Streikrecht und Arbeitsvölkerrecht, S. 357; Sagan, in: Ales u. a., International and European Labour Law, Art. 11 EMRK Rn. 28. Die implizite Anerkennung des

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

kollektives Betteln.803 Wenn demzufolge das Recht, Tarifverhandlungen zu führen als wesentliches Element eingestuft werde, müsse dies auch für das Streikrecht gelten.804 Diese Verknüpfung von Tarifverhandlungen und Streikrecht ist jedoch nicht zwingend, weil noch nicht geklärt wurde, ob ein Streik auch außerhalb von Tarifverhandlungen zulässig sein kann.805 Die besseren Gründe sprechen im Ergebnis dennoch für die Einstufung des Streikrechts als wesentliches Element. So ließe sich auch die überflüssige Unterscheidung bezüglich wesentlicher und wichtiger Elemente in der Spruchpraxis des EGMR auflösen. Solange der Gerichtshof sein Prüfprogramm jedoch bei wesentlichen und wichtigen Elementen unterschiedslos anwendet, ist diese Debatte rein theoretischer Natur.806 c) Einschränkungsmöglichkeiten Der weite Schutzbereich im Rahmen des Streikrechts geht einher mit weiten Einschränkungsmöglichkeiten und einer weiten margin of appreciation.807 Das ist konsequent, weil gerade im Arbeitskampfrecht auf europäischer Ebene erhebliche Unterschiede in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht existieren, die auf die unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklungen des Arbeitskampfes im jeweiligen Staat zurückzuführen sind.808 Auch hier ist eine Gesamtbetrachtung des nationalen Systems notwendig: Das Streikrecht ist das schlagkräftigste,809 damit aber auch das weitestgehende Instrument gegen den Arbeitgeber. Daher kann ein Streikrecht im Einzelfall entbehrlich sein, wenn die effektive Geltendmachung der Beschäftigteninteressen auch ohne einen Streik möglich ist.810 Streikrechts als wesentliches Element von Art. 11 EMRK durch den EGMR wollen Ewing/ Hendy, Industrial Law Journal 2010, 2 (14 f.); Vogt u. a., Right to Strike, S. 87; Scholz/Lingemann/Ruttloff, NZA-Beilage 2015, 3 (45); Sädevirta, EuZA 2016, 445 (457); Mantouvalou, Human Rights Law Review 2013, 529 (554); Felten, Koalitionsfreiheit und Arbeitsverfassungsgesetz, S. 196 und Dorssemont, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 333 (339) beobachtet haben. 803 Ewing/Hendy, Industrial Law Journal 2010, 2 (13). Zurück geht dieses geflügelte Wort auf BAG, Urt. v. 10. 06. 1980 – 1 AZR 822/79, NJW 1980, 1642 (1643) unter Verweis auf Roger Blanpain, vgl. z. B. Blanpain, European Labour Law, Rn. 2076. 804 Sagan, in: Ales u. a., International and European Labour Law, Art. 11 EMRK Rn. 28. 805 Siehe dazu sogleich unter S. 173. 806 A. A. Povedano Peramato, Streikrecht und Arbeitsvölkerrecht, S. 358, der bei einer Einstufung des Streikrechts als wesentliches Element eine Einengung der margin of appreciation als Folge ansieht. Dagegen jedoch bereits oben unter S. 119. 807 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 86. Povedano Peramato, Streikrecht und Arbeitsvölkerrecht, S. 367 f., spricht von einem „Regel-Ausnahme-Verhältnis“. 808 Vgl. Sagan, Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen, S. 25 f. mit einigen Beispielen. 809 EGMR, Urt. v. 27. 11. 2014 – 36701/09 (Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien), Rn. 59. 810 So zutreffend C. Schubert, AöR 137 (2012), 92 (107); J. Schubert, Arbeitsvölkerrecht, S. 168; Peters/Altwicker, EMRK, § 16 Rn. 5.

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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Das Streikrecht ist – wie im Übrigen jedes Element von Art. 11 EMRK – nicht absolut geschützt.811 Nach Art. 11 Abs. 2 EMRK kann die Ausübung der in Abs. 1 geschützten Rechte zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer eingeschränkt werden. Hierunter zählt der Gerichtshof auch die Rechte des bestreikten Arbeitgebers: So sei das wirtschaftliche Interesse des Arbeitgebers, seine Verträge mit Dritten einzuhalten, ein legitimer Zweck für einschränkende Maßnahmen bezüglich des Streikrechts.812 Auch eine ernsthafte Störung der Arbeitsabläufe am Arbeitsplatz durch eine Streikteilnahme kann eine Disziplinarmaßnahme des Arbeitgebers gegen den Arbeitnehmer rechtfertigen.813 Einen strengen Maßstab legt der Gerichtshof an, wenn das Streikrecht für bestimmte Beschäftigungsgruppen vollkommen ausgeschlossen wird.814 Die Einschränkungen müssen immer einzelfallbezogen sein. Art. 11 EMRK schließe keine Berufsgruppe per se aus, weshalb ein Streikverbot allein bestimmte Kategorien von Beamten, nicht jedoch Beamte im Allgemeinen oder öffentlich Bedienstete in Handels- oder Industrieunternehmen des Staats betreffen könne.815 Ein generelles Streikverbot wird demnach nur in absoluten Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein.816 Ein absolutes Streikverbot für eine spezielle Einheit von Polizisten hat der Gerichtshof gleichwohl für rechtmäßig erachtet.817 Die Notwendigkeit eines ununterbrochenen Dienstes und das bewaffnete Mandat unterscheide sie nach Ansicht des Gerichtshofs von anderen öffentlichen Bediensteten.818 2. Formen a) Weitere Arbeitskampfformen der Gewerkschaft Die Mitgliedstaaten haben unter Art. 11 EMRK zu gewährleisten, dass Gewerkschaftsmitglieder ihre beruflichen Interessen durch kollektive Maßnahmen

811

EGMR, Urt. v. 21. 4. 2009 – 68959/01 (Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei), Rn. 32. EGMR, Entscheidung v. 10. 01. 2002 – 53574/99 (Unison ./. Vereinigtes Königreich). 813 EGMR, Urt. v. 28. 10. 2010 – 4241/03 (Trofimchuk ./. Ukraine), Rn. 46. Kritisch dazu und zu der vorstehenden Entscheidung Dorssemont, King’s Law Journal 2016, 67 (84). 814 Vgl. z. B. EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland), Rn. 73. 815 EGMR, Urt. v. 21. 04. 2015 – 45892/09 (Junta Rectora Del Ertzainen Nazional Elkartasuna (ER.N.E.) ./. Spanien), Rn. 33. Siehe zur funktionalen Bestimmung der Beamteneigenschaft bereits oben unter S. 162. 816 Vgl. J. Schubert, Arbeitsvölkerrecht, S. 168; Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rn. 89; Peters/Altwicker, EMRK, § 16 Rn. 5. Zuvor bereits Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 11 Rn. 18. 817 EGMR, Urt. v. 21. 04. 2015 – 45892/09 (Junta Rectora Del Ertzainen Nazional Elkartasuna (ER.N.E.) ./. Spanien), Rn. 41. 818 EGMR, Urt. v. 21. 04. 2015 – 45892/09 (Junta Rectora Del Ertzainen Nazional Elkartasuna (ER.N.E.) ./. Spanien), Rn. 38. 812

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

ihrer Gewerkschaft verfolgen können.819 Eine dieser Maßnahmen ist der Streik. Ob daneben auch andere Arbeitskampfformen vom Schutzbereich erfasst sind, kann mangels einschlägiger Rechtsprechung nicht abschließend beurteilt werden. Der Gerichtshof scheint den Schutzbereich nicht von vorneherein auf den Streik als spezielles Mittel des Arbeitskampfes zu beschränken.820 In Dilek et al. ./. Türkei verließen türkische Mauteintreiber ihren Arbeitsplatz für drei Stunden, um für bessere Arbeitsbedingungen zu protestieren.821 Infolgedessen konnten Autofahrer die Bosporusbrücke in Istanbul passieren, ohne zu bezahlen.822 Im Verfahren vor dem EGMR gab es Diskussionen zwischen den Beschwerdeführern und der Regierung, ob das gewerkschaftlich organisierte Verhalten als Streik einzustufen sei.823 Der Gerichtshof – offensichtlich der Meinung, dass es sich um eine Verlangsamung der Arbeit handelte – stellte fest, dass es sich um eine Kollektivmaßnahme allgemeiner Art im Zusammenhang mit der Ausübung der Gewerkschaftsrechte und damit um einen ein Eingriff in Art. 11 EMRK handle.824 Es scheint, als ob der EGMR Arbeitskampfmaßnahmen – darunter auch das Verlangsamen der Arbeit – als generell von der EMRK geschützt ansehen will.825 Damit läge er auf einer Linie mit dem Wortlaut von Art. 6 Nr. 4 ESC.826 Die Schlussfolgerung einer allgemeinen Kampfmittelfreiheit ist aber bedenklich. Zum einen erging das betreffende Urteil im Jahr 2007 und somit vor der Anerkennung des Streikrechts und vor der Rechtsprechungskorrektur des EGMR. Des Weiteren ist der Fall Dilek et al. ./. Türkei kein gutes Beispiel, weil nicht klar ist, warum der Gerichtshof das Verlassen des Arbeitsplatzes als Verlangsamen der Arbeit bewertet hat.827 Zudem scheint der Gerichtshof hier zusätzlich die Versammlungsfreiheit als betroffen zu sehen.828 Nach alledem besteht weiter keine Gewissheit darüber, welche Arbeitskampfformen von Art. 11 EMRK über den Streik hinaus 819 EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei), Rn. 140; EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda I˙s¸ Sendikası ./. Türkei), Rn. 32. 820 Vgl. z. B. die Formulierung bei EGMR, Entscheidung v. 15. 05. 2018 – 2451/16 (Association of Academics ./. Island), Rn. 24. 821 EGMR, Urt. v. 17. 07. 2007 – 74611/01 u. a. (Dı¯lek et al. ./. Türkei), Rn. 7. 822 EGMR, Urt. v. 17. 07. 2007 – 74611/01 u. a. (Dı¯lek et al. ./. Türkei), Rn. 7. 823 EGMR, Urt. v. 17. 07. 2007 – 74611/01 u. a. (Dı¯lek et al. ./. Türkei), Rn. 55 f. 824 EGMR, Urt. v. 17. 07. 2007 – 74611/01 u. a. (Dı¯lek et al. ./. Türkei), Rn. 57. 825 In diese Richtung wohl HK-EMRK/Daiber, Art. 11 Rn. 10; Sagan, in: Ales u. a., International and European Labour Law, Art. 11 EMRK Rn. 28. Zweifelnd Deinert, in: Rehder/ Deinert/Callsen, Arbeitskampfmittelfreiheit und atypische Arbeitskampfformen, S. 45 (80). 826 Art. 6 Nr. 4 ESC beinhaltet „das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts im Falle von Interessenkonflikten, vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen.“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 827 Dorssemont, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 333 (340). 828 EGMR, Urt. v. 17. 07. 2007 – 74611/01 u. a. (Dı¯lek et al. ./. Türkei), Rn. 71. Dazu sogleich unter S. 175.

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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geschützt sind.829 Jedenfalls müsste aber auch hier eine Einbeziehung in den Schutzbereich mit großzügigen Einschränkungsmöglichkeiten einhergehen. b) Aussperrung Außerdem stellt sich die Frage, ob auch Arbeitskampfmaßnahmen des Arbeitgebers von der Koalitionsfreiheit geschützt sind. In einem Sondervotum noch lange vor der Anerkennung des Streikrechts führte Richter Sir Gerald Fitzmaurice das Prinzip der Waffengleichheit an: „If there is on the one side a right to engage in strike action and its possible accompaniments, such as picketing etc., (as to which I make no pronouncement), then this must be balanced on the other by a right of lock-out, prevention of ,sit-ins‘, withdrawal of certain financial benefits, etc. The one not only implies, but entails, the other. This is the principle of ,equality of arms‘ which is but another facet of the right of self-defence within the limits of the law […]“.830

Auch zu diesem Recht hat sich der Gerichtshof noch nicht ausdrücklich geäußert. Die Gewährleistung des Streikrechts und die Interpretation von Art. 11 EMRK als ein allgemeines Koalitionsrecht831 sprechen auch für ein Recht des Arbeitgebers auf Aussperrung.832 Bezieht man den Arbeitgeber und die Arbeitgeberverbände in den Schutz von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK ein, ist es konsequent, auch ihnen die Möglichkeit der Betätigung zu gewährleisten. Dass dem Streikrecht für die Zweckverfolgung der Gewerkschaften eine größere Bedeutung zukommt als der Aussperrung auf Arbeitgeberseite, ändert daran nichts.833 Der EGMR greift auf das Unverzichtbarkeitskriterium zur Bestimmung des Schutzbereichs nicht mehr zurück.834 Gegen die Anerkennung der Aussperrung kann allerdings der Blick auf die Gegebenheiten im europäischen Raum sprechen: Zwar legt Art. 6 Abs. 4 ESC ein Aussperrungsrecht nahe,835 doch ist in vielen Staaten eine Aussperrung nicht oder nur begrenzt zulässig – eine große praktische Bedeutung hat sie im europäischen Rechtsvergleich zudem nicht.836 Auch für die Arbeitgeberseite kann damit nicht abschließend geklärt werden, ob und welche Mittel von Art. 11 EMRK geschützt 829

EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 30; Seifert, KritV 2009, 357 (369); Dorssemont, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 333 (340). 830 Sondervotum zu EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Rn. 16. 831 Dazu oben unter S. 146. 832 Sagan, in: Ales u. a., International and European Labour Law, Art. 11 EMRK Rn. 28; EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 31. 833 EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 31. 834 Siehe oben unter S. 129. 835 Dazu Rödl, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 21 Rn. 93. 836 Rebhahn, NZA 2001, 763 (769 f.).

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

werden. Spezifische Vorgaben hinsichtlich einer Unterscheidung von Angriff- und Abwehraussperrung oder der Gewährleistung weiterer Mittel wie beispielsweise einer Streikbruchprämie oder einem Leiharbeitereinsatz stellt die EMRK nicht auf. Hier besteht ein Freiraum der Mitgliedstaaten, solange die Koalitionsfreiheit effektiv verfolgt werden kann. 3. Streikziele a) Bezug auf berufliche Interessen aa) Kein Schutz von allgemeinen Interessen Eine Begrenzung der Streikziele auf die Durchsetzung eines Tarifvertrags folgt aus Art. 11 EMRK nicht. Dem Wortlaut nach ist die Koalitionsbetätigung zum Schutz der Interessen der Gewerkschaftsmitglieder zulässig. Der Gerichtshof schränkt dies in ständiger Rechtsprechung dahingehend ein, dass er die Verfolgung beruflicher Interessen verlangt.837 Danach wären jedenfalls rein politische,838 aber auch allgemeine soziale und wirtschaftliche Interessen ausgeschlossen.839 In Unison ./. Vereinigtes Königreich sollten Teile eines staatlichen Krankenhauses privatisiert werden.840 Die Gewerkschaft forderte einen Tarifvertrag, nach dem das Krankenhaus potenzielle Erwerber verpflichten müsse, die Arbeitsbedingungen dort bereits oder in Zukunft beschäftigter Arbeitnehmer für 30 Jahre beizubehalten oder nicht zu verschlechtern. Die Regierung argumentierte vor dem EGMR, dass Art. 11 EMRK nicht betroffen sei, weil der Streik sich auf die beruflichen Interessen hypothetischer Beschäftigter von hypothetischen Erwerbern stütze und damit keine „trade disputes“ betraf.841 Dies lies der Gerichtshof nicht gelten: Der geplante Streik könne auch den bereits beschäftigten Mitgliedern einen zusätzlichen Schutz vor den Maßnahmen potenzieller Erwerber verleihen, so geringfügig oder schwer durchsetzbar dieser auch sein möge, und sei daher von Art. 11 EMRK geschützt.842 Dies spricht aber dafür, Streiks, die Gegenstände außerhalb eines Tarifvertrags betreffen, auch als von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK erfasst anzusehen. Die Einschränkung im britischen Recht sah er nichtsdestotrotz als gerechtfertigt an, weil die Arbeitnehmer sowohl gegen ihren 837 St. Rspr. siehe EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien), Rn. 39; EGMR, Urt. v. 02. 07. 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 42; EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland), Rn. 56. Kritisch dazu Dorssemont, King’s Law Journal 2016, 67 (80). 838 Dorssemont, King’s Law Journal 2016, 67 (80). 839 Novitz, Right to Strike, S. 232. 840 EGMR, Entscheidung v. 10. 01. 2002 – 53574/99 (Unison ./. Vereinigtes Königreich). 841 EGMR, Entscheidung v. 10. 01. 2002 – 53574/99 (Unison ./. Vereinigtes Königreich). 842 EGMR, Entscheidung v. 10. 01. 2002 – 53574/99 (Unison ./. Vereinigtes Königreich).

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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alten als auch den zukünftigen neuen Arbeitgeber streiken, und somit ihre Interessen effektiv schützen könnten.843 Die funktionale Auslegung des EGMR führte letztlich dazu, dass die Beschwerde nach Ansicht des Gerichtshofs offensichtlich unbegründet war. bb) Schutz des nicht-tarifbezogenen Streiks In einer rechtsvergleichenden Analyse kommt Katerndahl zu dem Ergebnis, dass von 36 untersuchten Mitgliedstaaten des Europarats elf die Rechtmäßigkeit eines Streiks an einen Tarifbezug anknüpfen, 25 dagegen auch allgemeine Arbeitnehmerinteressen genügen lassen.844 Ein Konsens kann demnach allein für die Anerkennung des Streiks mit Tarifbezug, der in den anderen 25 Mitgliedstaaten auch geschützt ist, mit Sicherheit festgestellt werden. Die referierte Rechtsprechung und das weite Verständnis in vielen Mitgliedstaaten lassen aber den Schluss zu, dass auch Streiks, die allgemeine berufliche Interessen verfolgen, vom Schutzbereich von Art. 11 EMRK erfasst sind. Dafür spricht auch, dass das Streikrecht und das Recht, Tarifverhandlungen zu führen, in der Spruchpraxis des Gerichtshofs zwei eigenständige und nicht voneinander abhängige Elemente sind. Nicht haltbar ist dagegen die Aussage, dass die Beschränkung von Streiks auf tariflich regelbare Ziele mit Art. 11 EMRK unvereinbar sei.845 Das weite Verständnis der Streikziele geht zwingend mit weiten Einschränkungsmöglichkeiten und einer weiten margin of appreciation einher.846 Solange es den Gewerkschaftsmitgliedern insgesamt möglich ist, ihre beruflichen Interessen effektiv zu schützen, ist auch die notwendige Tarifakzessorietät von Streiks zu rechtfertigen.847 Mit dieser Begründung hat der Gerichtshof bereits ein generelles Verbot von Unterstützungsstreiks als gerechtfertigt angesehen.848 Dabei ist in die Gesamtbetrachtung einzustellen, dass in manchen Mitgliedstaaten alternative Konfliktlösungsmechanismen für Fragen existieren, die über die Regelung der materiellen Arbeitsbedingungen hinausgehen und mit denen die Interessen der Arbeitnehmer verfolgt werden können (in

843

EGMR, Entscheidung v. 10. 01. 2002 – 53574/99 (Unison ./. Vereinigtes Königreich). Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 317 f. Zu einem anderen Ergebnis kommen dagegen die Analysen von Gooren, Tarifbezug des Arbeitskampfes, S. 218 ff., und Hauer, Arbeitskampf im nationalen und europäischen Recht, S. 142 f., nach denen der Tarifbezug des Streiks lediglich in zwei weiteren (neben Deutschland) Konventionsstaaten Entsprechung finde. Deshalb liege nach Gooren ein Eingriff und damit auch automatisch keine Möglichkeit der Rechtfertigung vor (S. 222 u. 227). Dagegen jedoch luzide Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 329. 845 So aber Gooren, Tarifbezug des Arbeitskampfes, S. 227. 846 Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 329 f. 847 Hauer, Arbeitskampf im nationalen und europäischen Recht, S. 152 f. 848 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 104. 844

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

Deutschland: das BetrVG).849 Im Ergebnis ist damit auch der nicht tarifbezogene Streik grundsätzlich von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK geschützt.850 Gleichwohl bestehen weite Gestaltungsspielräume für Staaten, welche die Streikziele begrenzen wollen.851 b) Kein politisches Streikrecht aa) Teilnahme von Gewerkschaftsmitgliedern an Aktionen ohne Bezug zu beruflichen Interessen Die Bewertung zulässiger Streikziele wird vor allem dadurch erschwert, dass der Gerichtshof Streiks und gewerkschaftlich organisierte Versammlungen nicht klar voneinander trennt. So wird in Anlehnung an mehrere Urteile gegen die Türkei die Auffassung vertreten, dass auch politische Streiks von der Koalitionsfreiheit erfasst seien.852 Dort wurden Disziplinarmaßnahmen gegen Gewerkschaftsmitglieder, die an Aktionen ihrer Gewerkschaft teilnahmen, als Verstoß gegen Art. 11 EMRK angesehen. Diese Aktionen hatten indes nicht immer einen eindeutigen Bezug zu den beruflichen Interessen der Arbeitnehmer: In Kaya und Seyhan ./. Türkei blieben die Beschäftigten dem Arbeitsplatz fern, um gegen den im nationalen Parlament diskutierten Gesetzesentwurf über die Organisation des öffentlichen Dienstes zu protestieren,853 in C¸erikçi ./. Türkei war der Anlass die Teilnahme an einem nationalen Aktionstag zum Tag der Arbeit am 1. Mai854 und in Dedecan und Ok ./. Türkei lautete das Motto der Aktion „weltweiter Frieden gegen weltweiten Krieg“855. Während erstere Arbeitsniederlegung die beruflichen Interessen noch berührte, kann dies bei den anderen beiden Aktionen kaum mehr behauptet werden.856

849

So Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 329 mit dem Beispiel der Mitbestimmungsrechte nach dem BetrVG für das deutsche Recht. 850 Sagan, in: Ales u. a., International and European Labour Law, Art. 11 EMRK Rn. 29; Hauer, Arbeitskampf im nationalen und europäischen Recht, S. 152; Fütterer, EuZA 2011, 505 (512). Lange-Korf, Unions- und völkerrechtliche Einflüsse, S. 153; Jedenfalls für den Beamtenstreik Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 298. 851 EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 29; Hauer, Arbeitskampf im nationalen und europäischen Recht, S. 153. 852 Gooren, Tarifbezug des Arbeitskampfes, S. 300 f.; Lörcher, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 10 Rn. 93; Ewing/Hendy, Industrial Law Journal 2010, 2 (16); Seifert, EuZA 2013, 205 (216); wohl auch Fütterer, Solidaritätsstreikrecht, S. 237; Vogt u. a., Right to Strike, S. 89. 853 EGMR, Urt. v. 15. 09. 2009 – 30946/04 (Kaya und Seyhan ./. Türkei), Rn. 7. 854 EGMR, Urt. v. 13. 07. 2010 – 33322/07 (C ¸ erikçi ./. Türkei), Rn. 7. 855 EGMR, Urt. v. 22. 09. 2015 – 22685/09, 39472/09 (Dedecan und Ok ./. Türkei), Rn. 5. 856 Ausführlich dazu Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 302 f.

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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bb) Versammlungsfreiheit als vorrangiger Prüfgegenstand Der Schluss, dass daher politische Streiks von der Koalitionsfreiheit erfasst werden, ist dennoch verfehlt. Zum einen wurden diese Fälle alle vorrangig unter dem Gesichtspunkt der in Art. 11 Abs. 1 Hs. 1 Alt. 1 EMRK normierten Versammlungsfreiheit geprüft.857 Zudem waren Disziplinarmaßnahmen der Gegenstand dieser Beschwerden. Der EGMR betonte dabei ausdrücklich, dass aus den Sanktions- und Versetzungsentscheidungen sowie aus den Entscheidungen der nationalen Verwaltungsgerichte hervorgehe, dass die Antragsteller nicht wegen ihrer Abwesenheit vom Arbeitsplatz versetzt wurden, sondern wegen ihrer Teilnahme an der Demonstration.858 Explizit erwähnte der Gerichtshof auch nie das politische Streikrecht, sondern stellte allein die Unverhältnismäßigkeit der konkreten Disziplinarmaßnahme in Zusammenhang mit der Versammlungsfreiheit fest.859 Wenn also das Fernbleiben vom Arbeitsplatz als Vorwand genommen wird, um Gewerkschafter aus dem öffentlichen Dienst zu drängen, ist eine Verletzung der EMRK offensichtlich. An dieser Stelle sei nochmals auf die Lage in der Türkei verwiesen.860 Hinzu kommt, dass auch von der Gewerkschaft organisierte Versammlungen von der Koalitionsfreiheit geschützt sein können.861 Die Unterscheidung von reinen Demonstrationen und Demonstrationsstreiks ist nicht immer eindeutig und weist eine breite Auffächerung unterschiedlicher Formen auf.862 Wenn der Gerichtshof folglich bei der Teilnahme an einer Versammlung die Koalitionsfreiheit nach Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK betroffen sieht, so muss dies nicht bedeuten, dass Demonstrationsstreiks zulässig sind, sondern allein, dass auch Versammlungen ein Mittel der kollektiven Betätigung von Gewerkschaften sein können. Dafür spricht auch das offizielle „Factsheet – Trade union rights“ des EGMR, in dem er die Gewerkschaftsrechte folgendermaßen auflistet: Right to join or not join a trade union, Trade unions’ right to draw up their own rules and choose their members, Trade union

857 Vgl. hierzu vor allem die weiterführenden Hinweise auf die dazu ergangene Rechtsprechung in EGMR, Urt. v. 22. 09. 2015 – 22685/09, 39472/09 (Dedecan und Ok ./. Türkei), Rn. 40; dies stellen auch Povedano Peramato, Streikrecht und Arbeitsvölkerrecht, S. 309 f. u. 314; EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 28 und Sagan, in: Ales u. a., International and European Labour Law, Art. 11 EMRK Rn. 29 einschränkend fest. 858 EGMR, Urt. v. 22. 09. 2015 – 22685/09, 39472/09 (Dedecan und Ok ./. Türkei), Rn. 28. 859 Vgl. EGMR, Urt. v. 15. 09. 2009 – 30946/04 (Kaya und Seyhan ./. Türkei), Rn. 31; EGMR, Urt. v. 22. 09. 2015 – 22685/09, 39472/09 (Dedecan und Ok ./. Türkei), Rn. 40. 860 Vgl. dazu oben unter S. 151. Siehe aber auch mit EGMR, Urt. v. 28. 10. 2010 – 4241/03 (Trofimchuk ./. Ukraine), Rn. 46 einen Fall, der nicht die Türkei betraf. 861 Deinert, in: Rehder/Deinert/Callsen, Arbeitskampfmittelfreiheit und atypische Arbeitskampfformen, S. 45 (80). 862 Ausführlich dazu Wroblewski, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, § 17 Rn. 135 ff.

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

registration, Trade unions’ rights in the public sector, Right to bargain collectively sowie Right to strike and freedom of peaceful assembly.863 cc) Beamte als Beschwerdeführer Zweitens spricht gegen die Anerkennung des politischen Streiks, dass die Beschwerdeführer in den vorliegenden Fällen ausschließlich Beamte waren.864 Wenn man diesen jedoch ein Streikrecht zuspricht,865 muss dieser sich gegen den Staat als Arbeitgeber richten und ist somit zwangsläufig auch politisch.866 Gleichwohl betrifft er die beruflichen Interessen der Gewerkschaftsmitglieder. Robert Rebhahn bringt dies auf den Punkt: Wenn der Staat die Arbeitsbedingungen seiner Arbeitnehmer im Wesentlichen durch Gesetz regelt und dementsprechend Kollektivverhandlungen nicht möglich sind, müssen die vom Staat beschäftigten Arbeitnehmer ihre Interessen auf andere Weise verfolgen können.867 Dann folgt aus Art. 11 EMRK im Wege einer Gesamtbetrachtung die Notwendigkeit von Streiks.868 Dieser richtet sich zwar gegen den Staat, zielt aber auf die konkreten Arbeitsbedingungen der vom Staat Beschäftigten und kann daher nicht als politisch im eigentlichen Wortsinn bezeichnet werden.869 Zuvor wurde im Laufe der Arbeit bereits festgestellt, dass der staatliche Zugriff auf die Arbeitsbedingungen bei der konventionsrechtlichen Koalitionsfreiheit zu einem hohen Grad möglich ist.870 Dort, wo der Staat aber die Regelung von Arbeitsbedingungen tarifverdrängend an sich zieht, ist ein politisches Streikrecht gegen die vom Staat festgelegten Arbeitsbedingungen in der Konsequenz auch notwendig.871

863 EGMR, Factsheet – Trade union rights, abrufbar unter: https://www.echr.coe.int/Docu ments/FS_Trade_union_ENG.pdf (letzter Zugriff am 23. 02. 2021) (Hervorhebung durch den Verfasser). 864 EGMR, Urt. v. 15. 09. 2009 – 30946/04 (Kaya und Seyhan ./. Türkei), Rn. 19; EGMR, Urt. v. 13. 07. 2010 – 33322/07 (C ¸ erikçi ./. Türkei), Rn. 5; EGMR, Urt. v. 22. 09. 2015 – 22685/ 09, 39472/09 (Dedecan und Ok ./. Türkei), Rn. 4. 865 Zum persönlichen Schutzbereich bereits oben unter S. 144. 866 Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 299; VG Kassel, Urt. v. 27. 07. 2011 – 28 K 1208/10.KS.D, juris Rn. 38. 867 Rebhahn, DRdA 2004, 399 (408). 868 Rebhahn, DRdA 2004, 399 (408). 869 Rebhahn, DRdA 2004, 399 (400) vermeidet daher den Begriff des politischen Streiks. 870 Siehe dazu oben unter S. 164. 871 Löwisch/Rieble, TVG, Grundlagen Rn. 493.

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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dd) Ergebnis: Kein politisches Streikrecht im engeren Sinn Im Ergebnis schützt Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK entgegen der Stimmen in der Literatur872 kein politisches Streikrecht.873 Vielmehr legt die Spruchpraxis nahe, dass sich der Gerichtshof bewusst ist, welche Auswirkungen eine Anerkennung hätte, und sich daher mitunter der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 11 Abs. 1 Hs. 1 Alt. 1 EMRK bedient.874 Dafür spricht auch ein aktuelles Urteil des Ausschusses des EGMR aus dem Jahr 2020: Dem Fall Süzen ./. Türkei liegt ein schon bekannter Sachverhalt zugrunde: Ein gewerkschaftlich organisierter Beamter nahm an der Versammlung „weltweiter Frieden gegen weltweiten Krieg“ teil.875 Daraufhin wurde die Beförderung in eine höhere Besoldungsgruppe für ein Jahr gesperrt.876 Wie in Dedecan und Ok ./. Türkei prüfte der EGMR allein die Versammlungsfreiheit und verwies dabei unter anderem auf die vorher angesprochenen Entscheidungen.877 Anders als im Parallelfall wird aber das Fernbleiben von der Arbeit mit keinem Wort mehr erwähnt. Auch die Regierung bringt dies im Gegensatz zur Vorgehensweise in Dedecan und Ok ./. Türkei878 nicht mehr vor. Das spricht dafür, dass es sich tatsächlich um Sanktionen allein aufgrund der Versammlungsteilnahme handelte. Der Schutz eines politischen Streikrechts im engeren Sinn kann demnach aus den Aussagen des Gerichtshofs nicht abgeleitet werden. Ein solches ist nicht von Art. 11 EMRK geschützt. Das höhere Schutzniveau in Mitgliedstaaten, die ein solches gewährleisten, bleibt davon gemäß Art. 53 EMRK freilich unberührt.

872 Unklar Povedano Peramato, Streikrecht und Arbeitsvölkerrecht, S. 309 ff., der das politische Streikrecht als von Art. 11 Abs. 1 EMRK geschützt ansieht, gleichzeitig aber anmerkt, dass der EGMR nicht konsistent zwischen Versammlungs-, Vereinigungs-, Koalitionsund Meinungsfreiheit trennt und an späterer Stelle sagt, dass „der sachliche Schutzbereich der Koalitionsfreiheit gemäß Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK für Maßnahmen eröffnet [sei], die arbeitsbzw. beschäftigungsbezogene Interessen zum Gegenstand haben.“ Im Ergebnis hält er aber ein Verbot von politischen Streiks jedenfalls nach Art. 11 Abs. 2 EMRK für gerechtfertigt, vgl. Povedano Peramato, Streikrecht und Arbeitsvölkerrecht, S. 374 ff. 873 Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 300; EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 29. Noch deutlicher Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 332 f. 874 Kritisch dazu Dorssemont, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 333 (343 f.). So auch in EGMR, Urt. v. 24. 04. 2018 – 56237/08 (Sadrettin Güler ./. Türkei), Rn. 23. 875 EGMR, Urt. v. 09. 06. 2020 – 58418/10 (Süzen ./. Türkei), Rn. 6. Dabei handelt es sich um dieselbe Versammlung wie soeben schon in Dedecan und Ok ./. Türkei am 15. 05. 2005. 876 EGMR, Urt. v. 09. 06. 2020 – 58418/10 (Süzen ./. Türkei), Rn. 6 Rn. 7. 877 EGMR, Urt. v. 09. 06. 2020 – 58418/10 (Süzen ./. Türkei), Rn. 6 Rn. 17, 18 u. 22. 878 EGMR, Urt. v. 22. 09. 2015 – 22685/09, 39472/09 (Dedecan und Ok ./. Türkei), Rn. 34.

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

4. Träger des Rechts a) Keine Aussage des Gerichtshofs zum wilden Streikrecht Ähnlich wie bei den Streikzielen, hat sich der Gerichtshof noch nicht ausdrücklich dazu geäußert, wer der Träger des Streikrechts ist.879 In den einschlägigen Entscheidungen zum Streikrecht traten entweder Gewerkschaften als Beschwerdeführer auf,880 oder aber die Beschwerden der Individualpersonen betrafen jedenfalls gewerkschaftlich geführte Streiks.881 Die Äußerungen des EGMR könnten dahin gedeutet werden, dass es sich bei dem Recht auf Streik um ein Recht der Gewerkschaft handelt: „The right to strike, which falls under the protection of Article 11 of the Convention, is an important aspect of the freedom of association and the right to form a trade union and for that trade union to be heard and to bargain collectively.“882

Allerdings betont der Gerichtshof in seinen Aussagen auch immer wieder die Bedeutung des Streikrechts für die einzelnen Mitglieder: „La Cour rappelle enfin que le droit de faire grève, qui permet à un syndicat de faire entendre sa voix, constitue un aspect important pour les membres d’un syndicat dans la protection de leurs intérêts.“883

In Veniamin Tymoshenko et al. ./. Ukraine argumentierte die Regierung, dass die Beschwerde von Herrn Pushnyak unzulässig sei, weil er nicht Mitglied des Streikkomitees und somit nicht unmittelbar von dem Streikverbot betroffen sei.884 Der Gerichtshof stellte demgegenüber fest, dass das gerichtliche Verbot auch den Beschwerdeführer in seinem Streikrecht berühre.885 Auch hier kann allerdings angeführt werden, dass es sich im Ergebnis um einen von der Gewerkschaft geführten Streik handelte – die Zulässigkeit der Beschwerde eines Mitglieds der Gewerkschaft muss nicht bedeuten, dass der Beschwerdeführer den Streik auch ohne die Ge879

So ausdrücklich Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, S. 300; Odenthal, Sonderformen des Arbeitskampfs, S. 88. 880 EGMR, Urt. v. 21. 4. 2009 – 68959/01 (Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei), 6 f.; EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 15; EGMR, Urt. v. 27. 11. 2014 – 36701/09 (Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien), Rn. 14; EGMR, Urt. v. 21. 04. 2015 – 45892/09 (Junta Rectora Del Ertzainen Nazional Elkartasuna (ER.N.E.) ./. Spanien), Rn. 5. 881 EGMR, Urt. v. 02. 10. 2014 – 48408/12 (Veniamin Tymoshenko et al. ./. Ukraine), Rn. 7 u. 12; EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland), Rn. 7. 882 EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland), Rn. 70 (Hervorhebung durch den Verfasser). 883 EGMR, Urt. v. 21. 04. 2015 – 45892/09 (Junta Rectora Del Ertzainen Nazional Elkartasuna (ER.N.E.) ./. Spanien), Rn. 32 (Hervorhebung durch den Verfasser). 884 EGMR, Urt. v. 02. 10. 2014 – 48408/12 (Veniamin Tymoshenko et al. ./. Ukraine), Rn. 51 f. 885 EGMR, Urt. v. 02. 10. 2014 – 48408/12 (Veniamin Tymoshenko et al. ./. Ukraine), Rn. 57.

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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werkschaft hätte führen dürfen.886 Die Aussagen sind Gerichtshofs sind daher weder in die eine noch in die andere Richtung zu deuten. b) Bei Anerkennung jedenfalls großer Gestaltungsspielraum Die rechtsvergleichende Analyse von Katerndahl ergibt, dass in 15 von 36 untersuchten Staaten das Streikrecht ein originäres Gewerkschaftsrecht ist und es in 14 Staaten dem Einzelnen unter dem Vorbehalt kollektiver Ausübung zusteht.887 Ein Konsens besteht damit weder zugunsten eines verbandsgetragenen noch zugunsten eines sog. „wilden“ Streiks.888 Ein Streik vollkommen losgelöst von der Gewerkschaft könnte dem Sinn und Zweck von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK widersprechen. Der Zusammenschluss von Arbeitnehmern zur effektiven Wahrnehmung der Interessen ist der Koalitionsfreiheit immanent.889 Den einzelnen Arbeitnehmern stünde nach dieser Ansicht lediglich ein Recht auf Mitwirkung an einer gewerkschaftlichen Arbeitskampfmaßnahme zu.890 Mitgliedstaaten, in denen das Streikrecht (auch) ein Recht des Einzelnen ist, können sich freilich auf Art. 53 EMRK berufen, der klarstellt, dass ein höheres Schutzniveau auf der mitgliedstaatlichen Ebene beibehalten werden kann. Der fehlende Konsens im Hinblick auf den gewerkschaftsgetragenen sowie den nicht-gewerkschaftsgetragenen Streik ist jedoch ein Indiz dafür, dass das Streikrecht unabhängig von dieser Frage geschützt ist. Dafür spricht auch die oben erlangte Erkenntnis, dass die Rechte der Gewerkschaft stets von der Freiheit des Einzelnen abhängen.891 Geht man demnach von einer „friedliche[n] Koexistenz“892 von kollektivem und individuellem Streikrecht in der Spruchpraxis des Gerichtshofs aus,893 so bedeutet dies keinesfalls, dass eine Gestaltung geboten ist, die beides ermöglicht.894 Den Staaten würde aufgrund des nicht vorhandenen Konsenses eine weite

886

In diese Richtung wohl auch Reinbach, Gewerkschaftliches Streikmonopol, S. 100 f. Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 263. 888 Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 274. 889 Vgl. EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 14; Odenthal, Sonderformen des Arbeitskampfs, S. 89. 890 EUArbRK/C. Schubert, Art. 11 EMRK Rn. 14. So im Ergebnis auch Sagan, in: Ales u. a., International and European Labour Law, Art. 11 EMRK Rn. 29; Dorssemont, King’s Law Journal 2016, 67 (76); Odenthal, Sonderformen des Arbeitskampfs, S. 89. 891 Siehe oben unter S. 145. 892 Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 276 f. 893 So noch Dorssemont, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, 333 (344 f.); Felten, Koalitionsfreiheit und Arbeitsverfassungsgesetz, S. 440; Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 273; Seifert, EuZA 2013, 205 (214 f.); Reinbach, Gewerkschaftliches Streikmonopol, S. 107 ff., der auf den weiten Gewerkschaftsbegriff unter Art. 11 EMRK hinweist. 894 Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 276 f. 887

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

margin of appreciation verbleiben.895 Diese wäre erst dann ausgeschöpft, wenn die gewählte Ausgestaltung dazu führt, dass keine effektive Verfolgung der beruflichen Interessen mehr möglich ist.896 Solange ein System gewerkschaftlicher Streiks aber zur Folge hat, dass die Mitglieder im konkreten Fall ihre Interessen verfolgen können, bedarf es keines individuellen Streikrechts als sekundärer Kampfmaßnahme.897 Versagt das System jedoch im konkreten Fall, so kommt dem Streik des Einzelnen eine eigenständige Bedeutung zu.898 Ein Ausschluss wäre nicht mit der Konvention vereinbar. Im Ergebnis bedeutet das, dass auch im Falle der Gewährleistung eines individuellen Streikrechts durch Art. 11 Abs. 1 EMRK eine Beschränkung oder ein Ausschluss eines solchen nach Art. 11 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt werden kann.899 5. Verfahrensvorgaben a) Streikabstimmung Die Zulässigkeit eines Streiks kann davon abhängig gemacht werden, ob ein bestimmtes nationales Verfahren eingehalten wird: In The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich war eine Streikabstimmung Gegenstand der ersten Beschwerde: Zum Zweck der Durchführung informierte die Gewerkschaft das Unternehmen und kündigte die Gruppe (Ingenieure/ Techniker) von Arbeitnehmern an, die über den Streik abstimmen sollten.900 Das Unternehmen erwirkte eine einstweilige Verfügung, weil die Klassifizierungen der Arbeitsplätze nicht mit denjenigen, die vom Unternehmen verwendet wurden,

895 Reinbach, Gewerkschaftliches Streikmonopol, S. 112; Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 275. 896 Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 277. 897 Reinbach, Gewerkschaftliches Streikmonopol, S. 112 f. 898 Reinbach, Gewerkschaftliches Streikmonopol, S. 112 f. Waltermann nennt als Beispiel den Niedriglohnsektor, in dem keine Gewerkschaft existiert, vgl. EuZA 2015, 15 (27). Der Gerichtshof fordert indes keine künstliche Aufwertung schwacher Verhandlungspositionen, siehe oben unter S. 131. Besser ist daher das Beispiel nach Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 277, der anführt, dass in Litauen aufgrund fehlender gewerkschaftlicher Vertretungen in 90 % der Unternehmen und Betriebe derzeit kein rechtmäßiger Streik möglich ist. Es geht folglich um systemisches Versagen, nicht um schwache Verhandlungspositionen. 899 Einen vollständigen Ausschluss wollen dagegen Reinbach, Gewerkschaftliches Streikmonopol, S. 113 und Katerndahl, Tarifverhandlung und Streik, S. 279 nicht für zulässig erachten, wobei ersterer eine Notwendigkeit nur in Ausnahmefällen sieht. Der Schluss von der Notwendigkeit in Ausnahmefällen auf die Unvereinbarkeit eines generellen Ausschlusses ist meines Erachtens gerade vor dem Hintergrund der anzustellenden Gesamtbetrachtung nicht nachvollziehbar. 900 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 9.

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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übereinstimmten und daher nicht den gesetzlichen Bestimmungen entsprächen.901 Der EGMR wies die Beschwerde der Gewerkschaft als offensichtlich unbegründet zurück: Zwar musste die Gewerkschaft eine gewisse Verzögerung bei der Ergreifung von Maßnahmen zum Schutz der Interessen ihrer Mitglieder hinnehmen, war aber in der Lage, nach Erfüllung der Verfahrensvorschriften eine Abstimmung durchzuführen – was dann auch tatsächlich passierte.902 b) Schlichtung Eine Verpflichtung, vor dem Streik ein Schlichtungsverfahren zu durchlaufen, hat der Gerichtshof ebenfalls als mit der Konvention vereinbar angesehen. In der Unzulässigkeitsentscheidung Trade Union in the Factory ,4th November‘ ./. ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien wurde der Streik der beschwerdeführenden Gewerkschaft für unrechtmäßig erklärt, weil das damals nach mazedonischem Recht erforderliche vorherige außergerichtliche Schlichtungsverfahren vor einem Streik nicht erschöpft wurde.903 Der EGMR betonte die Bedeutung eines solchen Verfahrens: „Such a system of prior compulsory conciliation aims to ensure friendly settlement of labour disputes before resorting to a strike, which is the most powerful, but at the same time the most radical, instrument available to trade unions to protect the occupational interests of its members.“904

Die in Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen im Firmentarifvertrag geregelte 15-tägige obligatorische Schlichtung sei daher nicht unverhältnismäßig.905 Zudem – und dies ist ganz typisch für die funktionale Auslegung des Gerichtshofs – habe die Gewerkschaft sechs Monate lang streiken können, bevor der Streik für unrechtmäßig erklärt wurde.906 Diese Entscheidung liegt auf einer Linie mit der Unzulässigkeitsentscheidung Federation of Offshore Workers’ Trade Unions et al. ./. Norwegen, in welcher der Gerichtshof eine nachträgliche obligatorische Schlichtung durch einen staatlichen

901 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 9 f. 902 EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich), Rn. 45. 903 EGMR, Entscheidung v. 08. 09. 2015 – 15557/10 (Trade Union November‘ ./. ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien), Rn. 16. 904 EGMR, Entscheidung v. 08. 09. 2015 – 15557/10 (Trade Union November‘ ./. ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien), Rn. 47. 905 EGMR, Entscheidung v. 08. 09. 2015 – 15557/10 (Trade Union November‘ ./. ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien), Rn. 47. 906 EGMR, Entscheidung v. 08. 09. 2015 – 15557/10 (Trade Union November‘ ./. ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien), Rn. 48.

Rail, Maritime and Rail, Maritime and in the Factory ,4th in the Factory ,4th in the Factory ,4th in the Factory ,4th

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4. Teil: Funktionselemente als Gestaltungsvorgaben

Mediator billigte.907 Dort wurde eine vorherige Zwangsmediation sogar als ein Mittel der Gewerkschaft gesehen, um sich Gehör zu verschaffen.908 Ein System der nachträglichen Zwangsschlichtung sei demgegenüber zwar nicht in allen Fällen verhältnismäßig, im vorliegenden Fall lägen jedoch besondere und außergewöhnliche Umstände vor.909 Die Tatsache, dass es sich um keinen Bereich der Daseinsvorsorge im engeren Sinn handelte (hier: Arbeitnehmer aller Kategorien in der Ölund Gasindustrie der Nordsee), lässt den Schluss zu, dass die Anforderungen des Gerichtshofs dennoch nicht besonders hoch sind.910 Dies bestätigt auch eine neuere Entscheidung, in welcher der Gerichtshof eine Zwangsschlichtung als unproblematisch und die Beschwerde der Gewerkschaft damit als offensichtlich unbegründet angesehen hat, obwohl mit der Icelandic Musicians’ Union oder der Icelandic Actors‘ Association auch Gewerkschaften betroffen waren, deren Mitglieder ebenfalls nicht dem Bereich der Daseinsvorsorge zugehörig sind.911 Auch weitreichende Zwangsschlichtungen sind demnach mit Art. 11 EMRK vereinbar. Der Gerichtshof scheint Beschränkungen der Koalitionsfreiheit durch Verfahrensvorschriften als nicht schwerwiegend einzustufen, da die Ausübung der Rechte – sofern man sich an die nationalen Vorschriften hält – weiterhin möglich ist. Zudem unterscheidet er inhaltliche und verfahrensrechtliche Beschränkungen.912 Vorgaben des Gerichtshofs an die Mitgliedstaaten, die das konkrete Verfahren im Vorfeld oder im Nachgang eines Streiks betreffen, sind daher noch weniger anzunehmen als Anforderungen an die inhaltliche Gestaltung.

C. Konkrete Vorgaben nur unter Berücksichtigung der Funktionsfähigkeit der nationalen Systeme Vorgaben von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK für die Gestaltung kollektiver Beziehungen entwickelt der Gerichtshof aus den funktionswesentlichen Elementen. Diese sind Funktionselemente, das heißt sie geben wieder, was in den Mitgliedstaaten als wesentlich für die Funktionsfähigkeit eines kollektiven Systems angesehen wird und daher von Art. 11 EMRK geschützt ist. Diese wesentlichen Elemente sind weit formuliert und verlangen eine Ausgestaltung durch die Mitgliedstaaten. 907

EGMR, Entscheidung v. 27. 06. 2002 – 38190/97 (Federation of Offshore Workers’ Trade Unions et al. ./. Norwegen). 908 EGMR, Entscheidung v. 27. 06. 2002 – 38190/97 (Federation of Offshore Workers’ Trade Unions et al. ./. Norwegen). 909 EGMR, Entscheidung v. 27. 06. 2002 – 38190/97 (Federation of Offshore Workers’ Trade Unions et al. ./. Norwegen). 910 Dorssemont, King’s Law Journal 2016, 67 (84). 911 EGMR, Entscheidung v. 15. 05. 2018 – 2451/16 (Association of Academics ./. Island), Rn. 35. Dazu bereits oben unter S. 134. 912 Dorssemont, in: Dorssemont/Lörcher/Schömann, ECHR and Employment Relation, S. 333 (356).

B. Die einzelnen Funktionselemente von Art. 11 EMRK

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Viele Einzelfragen hat der Gerichtshof mangels einschlägiger Beschwerden noch nicht abschließend beantwortet. Es ist wahrscheinlich, dass er diese Fragen auch nicht beantworten wird und den Staaten einen Gestaltungsfreiraum lässt. Der Schluss von Aussagen in einzelnen Entscheidungen des EGMR auf Strukturvorgaben der EMRK für alle Mitgliedstaaten ist unzulässig. Die EMRK ist ein subsidiäres Auffangnetz. Sie sorgt dafür, dass Staaten nicht nach unten abweichen, erlegt ihnen im Vorhinein aber keine Strukturvorgaben von oben auf. Konkrete Vorgaben an den einzelnen Mitgliedstaat lassen sich demnach auch aus den funktionswesentlichen Elementen nicht ohne Weiteres ablesen. Es ist stets eine Gesamtbetrachtung aller Mittel vorzunehmen, die im betroffenen Staat den Gewerkschaften und ihren Mitgliedern aber auch den Arbeitgebern und ihren Verbänden zur Verfügung stehen, um ihre Interessen zu verfolgen. Das Recht, Kollektivverhandlungen zu führen, ist beispielsweise nur „im Prinzip“ von der Koalitionsfreiheit geschützt. Sonderrechte für nicht repräsentative Gewerkschaften sind möglich. Eine konkrete Vorgabe erwächst erst dann aus Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK, wenn die effektive Verfolgung dieser Interessen nicht mehr möglich ist. Der Gerichtshof belässt den Staaten weite Spielräume, wie sie die funktionswesentlichen Elemente ausgestalten. Der Schutz einer bestimmten Gestaltung heißt im Ergebnis nicht, dass diese auch in einem anderen Mitgliedstaat geboten wäre. Die referierte Spruchpraxis zu den wesentlichen Elementen im vorigen Abschnitt zeigt auf, welche Gestaltungen geschützt sind, und inwiefern hier auch Abweichungen in den Mitgliedstaaten möglich sind. Ob sich daraus eine konkrete Vorgabe für einen bestimmten Mitgliedstaat ergibt, erfordert aber eine eingehende Auseinandersetzung mit den dort bestehenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen. Dazu kann an das hier entwickelte funktionale Verständnis von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK, die Auswirkungen auf die Auslegung und die Grenzen der Vorgabenbildung angeknüpft werden.

5. Teil

Zusammenfassung und Ergebnisse Vorüberlegung: Zu den Gestaltungsmöglichkeiten:

1. Die verschiedenen europäischen Systeme zur Gestaltung kollektiver Beziehungen sind sowohl in ihrer Gesamtheit als auch bezüglich der einzelnen Ausgestaltungen kaum miteinander vergleichbar. 1.1. Die Einteilung in Cluster nach wirtschaftlichen Parametern läuft Gefahr, tatsächlich bestehende Unterschiede zu verwischen. 1.2. Eine schematische Aufteilung nach rechtlichen Kriterien scheitert an der Wechselwirkung der einzelnen unterschiedlichen Vergleichspunkte sowie an der großen Bedeutung außerrechtlicher Faktoren. Keine zwei Systeme weisen in ihrer Gesamtheit derart viele Berührungspunkte auf, dass man sie unter einen Systembegriff fassen könnte. 1.3. Die Divergenz auf der Ebene kollektiver Beziehungen hat zur Folge, dass allein hinsichtlich des Grundgedankens des collective bargaining von einem gemeinsamen Nenner in den europäischen Systemen gesprochen werden kann. 2. Eine Vorgabe an die Mitgliedstaaten bezüglich der Wahl eines bestimmten kollektiven Systems kann nicht entwickelt werden. Vorüberlegung: Zu der Spruchpraxis zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK:

1. Eine Übersicht der Spruchpraxis zu Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK zeigt die Ungleichverteilung der Entscheidungen auf die einzelnen Länder. Die Türkei ist für einen Großteil der Fälle verantwortlich (23 von 48 Urteilen). 2. Die Urteile können in thematische Fallgruppen unterteilt werden. Die Sanktionierung oder Versetzung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes im Zusammenhang mit gewerkschaftlichen Aktivitäten betrifft allein 18 Fälle. Nichtsdestotrotz ergeben sich selbst innerhalb der einzelnen Fallgruppen und auch innerhalb derselben Rechtsordnung unterschiedliche – auf den ersten Blick widersprüchliche – Ergebnisse. 3. Bei der Rezeption von Urteilen des EGMR ist deren begrenzte Aussagekraft zu berücksichtigen. Die Urteile sind nach Art. 46 Abs. 1 EMRK allein für den beteiligten Mitgliedstaat bindend.

5. Teil: Zusammenfassung und Ergebnisse

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3.1 Über eine Orientierungswirkung in Verbindung mit Art. 1 EMRK oder eine Berücksichtigungspflicht kann keine rechtliche Bindung für unbeteiligte Staaten begründet werden. Die Orientierungswirkung ist im Ergebnis eine nicht justiziable Obliegenheit zur Kenntnisnahme und rein internen Bewertung der Rechtsprechung des EGMR in den unbeteiligten Mitgliedstaaten. 3.2 Der Gerichtshof hält sich mit allgemeinen Ausführungen zurück und betont stets seine fallorientierte Herangehensweise, die der im englischsprachigen Raum verbreiteten case-law-Methode ähnelt. Die Regel des stare decisis findet keine Anwendung. 3.3 Die Aussagen aus einem Urteil können nicht ohne Weiteres auf eine Gestaltung in einem anderen Mitgliedstaat übertragen werden. Sie müssen kontextualisiert, das heißt in den jeweiligen Entscheidungskontext gesetzt werden. Aussagen des EGMR in einzelnen Entscheidungen dürfen nicht als Strukturvorgaben für alle Mitgliedstaaten missverstanden werden. 3.4 Der in dieser Arbeit verfolgte Ansatz, allgemeingültige Vorgaben zu bilden, kehrt diesen Prozess zwangsläufig um: Die Aussagen des Gerichtshofs werden aus dem konkreten Kontext gelöst, also de-kontextualisiert. Eine solche Abstrahierung hat zur Folge, dass auch der konkrete Erkenntnisgewinn aus den Aussagen abnimmt. Zu den Strukturmerkmalen als Gestaltungsvorgaben:

1. Es wurden zwei mögliche Anknüpfungspunkte zur Bestimmung von Vorgaben untersucht. Dem ersten Anknüpfungspunkt lag ein Verständnis der Vorgaben als Strukturelemente zugrunde. 2. Dieses Konzept wurde verworfen. Die Bestimmung von Strukturelementen kann weder explizit über die Figur des Wesensgehalts noch implizit über die margin of appreciation erfolgen. 2.1 Gegen den ersten Ansatz spricht, dass der Gerichtshof den Begriff des Wesensgehalts nicht einheitlich verwendet. Einen unantastbaren Bereich im Sinne von Mindestanforderungen versteht der Gerichtshof darunter nicht. Auch Eingriffe, die den Wesensgehalt betreffen, sind einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zugänglich. 2.2 Die Bestimmung von Vorgaben kann auch nicht über die margin of appreciation erfolgen. Zum einen hat die Anknüpfung an eine Figur, deren Reichweite sich von Fall zu Fall unterscheidet, zur Folge, dass auch die Vorgaben flexibel sein müssen und es sich dann aber nicht mehr um starre Strukturmerkmale handelt. 2.3 Die Reichweite der margin of appreciation bei der Koalitionsfreiheit ist von einer Vielzahl von Einflussfaktoren abhängig. Versuche in der Literatur,

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diese zu reduzieren, geben nicht die tatsächliche Herangehensweise des EGMR wieder. 2.4 Aufgrund der Eigenarten der Koalitionsfreiheit ist grundsätzlich von weiten Spielräumen der Mitgliedstaaten im Bereich der Gestaltung von kollektiven Beziehungen auszugehen. 2.5 Zum anderem können konkrete Merkmale nicht anhand der margin of appreciation entwickelt werden, weil sie eine Zurücknahme der Kontrolldichte bewirkt. Wo der Gerichtshof sich aber nicht inhaltlich zu einer Gestaltung äußert, können seinen Ausführungen auch keine Vorgaben an die Mitgliedstaaten entnommen werden. 3. Eine von der EMRK aufoktroyierte Matrixstruktur gibt es nicht. Dies entspricht der Funktion der Konvention als subsidiärem Rechtsinstrument. Die Konvention ist ein Auffangnetz, das erst dann greift, wenn der nationale Schutz versagen sollte. Strukturvorgaben, welche die Gestalt der kollektiven Systeme der Mitglieder des Europarats vorzeichnen und zu harmonisieren versuchen, sind damit nicht vereinbar. Zu den Funktionselementen als Gestaltungsvorgaben:

1. Vorgaben von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK können der Spruchpraxis des Gerichtshofs entsprechend abgebildet und nachvollzogen werden, wenn man sie als Funktionselemente der Koalitionsfreiheit und nicht als Strukturelemente versteht. 2. Der konventionsrechtlichen Koalitionsfreiheit liegt ein funktionales Grundrechtskonzept zugrunde. Einzelpersonen sollen sich zusammenschließen können, um ihre beruflichen Interessen effektiv zu verfolgen. Der Zusammenschluss wird als Mittel zum Zweck verstanden, um soziale Gerechtigkeit und einen sozialen Ausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu schaffen. 2.1 Die funktionale Grundrechtskonzeption spiegelt sich in den (funktions-) wesentlichen Elementen der Koalitionsfreiheit wider. Der EGMR zählt hierzu die Gewerkschaftsgründung und den Gewerkschaftsbeitritt (1.), das Verbot von Absperrklauseln (2.), das Recht einer Gewerkschaft, vom Arbeitgeber gehört zu werden (3.) und das Recht, Tarifverhandlungen zu führen (4.). 2.2 Nach hier vertretener Auffassung zählt auch das Streikrecht (5.) zu den wesentlichen Elementen der Koalitionsfreiheit. 2.3 Die wesentlichen Elemente bewirken keine Zunahme der grundrechtlichen Schutzintensität. Sie geben allein die Elemente wieder, die vom Gerichtshof als funktionswesentlich für die effektive Ausübung der Koalitionsfreiheit angesehen werden und daher von dieser geschützt sind. Sie können als Vorgaben an die Mitgliedstaaten für die Gestaltung ihrer Systeme verstanden werden, weil sie anzeigen, welche Funktionen in einem kollektiven System unter Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK wahrgenommen werden können müssen.

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2.4 Die Elemente, welche der EGMR als funktionswesentlich für ein kollektives System erachtet, sind nicht beliebig. Art. 11 EMRK schützt die Funktionselemente, die im europäischen Rechtsvergleich den dort bestehenden Systemen gemein sind. Zur Bestimmung greift der EGMR auf die Praxis in den Mitgliedstaaten und die völkerrechtlich relevanten Abkommen zurück. 2.5 Die wesentlichen Elemente sind Teilbereiche der Koalitionsfreiheit, denen der EGMR wiederum zusätzliche Fallgruppen unterordnet. Diese Teilbereiche sind abstrakt gefasst und bedürfen ihrerseits einer Ausgestaltung durch die Mitgliedstaaten. 3. Das funktionale Verständnis der Koalitionsfreiheit mit der entwickelten Funktionselementenlehre begegnet den Bedenken, die gegenüber der Bestimmung von Strukturvorgaben geäußert wurden. Erstens sind sie abstrakt gefasst, sodass eine Übertragung auf andere Fälle möglich ist. Zweitens sind die wesentlichen Elemente noch ausgestaltungsfähig und -bedürftig, sodass den Mitgliedstaaten Raum für eigene Gestaltungen innerhalb ihrer margin of appreciation zukommt. Drittens geben sie einen Mindestkonsens an gemeinsamen Überlieferungen wieder. 3.1 Die Funktionselemente sind nicht als Funktionsbedingungen zu verstehen. Sie müssen nicht unabdingbar für die Funktionsfähigkeit eines kollektiven Systems sein. 3.2 Die Zweck-Mittel-Relation, die einer funktionalen Grundrechtskonzeption zugrunde liegt, führt zu weiten Spielräumen der Staaten. Es wird sichergestellt, dass Staaten, denen die konventionswidrige Gestaltung eines wesentlichen Elements vorgeworfen wird, aufzeigen können, dass sie die effektive Ausübung der Koalitionsfreiheit auf andere Weise gewährleisten. 3.3 Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK schützt die Zweckverfolgung durch die Gewerkschaftsmitglieder und die Gewerkschaft, nicht dagegen die Zweckerreichung. Die künstliche Aufwertung einer schwachen Verhandlungsposition wird nicht verlangt. 3.4 Eine absolute Koalitionsmittelgarantie existiert ebenso wenig wie eine umfassende Kampfmittelfreiheit. Der Gerichtshof hat das Recht, Tarifverhandlungen zu führen als wesentliches Element anerkannt. Dieses kann jedoch ausgestaltet und beschränkt werden. 3.5 Die Verfolgung der beruflichen Interessen der Gewerkschaftsmitglieder muss insgesamt möglich sein. Dazu hat eine Gesamtbetrachtung aller verfügbaren Maßnahmen zu erfolgen. 4. Vorgaben können allein am konkreten Fall bestimmt werden. Eine Aussage des Gerichtshofs zum System des einen Mitgliedstaats kann nicht auf das System eines anderen übertragen werden. Wenn dort die Gewerkschaftsmitglieder ihre Interessen auch anderweitig effektiv verfolgen können, wird er seinen Ver-

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pflichtungen aus Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK gerecht. Die funktionswesentlichen Elemente sind Funktionsindikatoren hierfür. 5. Die Rechtsprechung zu den einzelnen funktionswesentlichen Elementen kann systematisiert werden. Hieraus ergeben sich Tendenzen, an die für eine weitere Untersuchung in einem bestimmten Mitgliedstaat angeknüpft werden kann. Die Anerkennung einer bestimmten Gestaltung bedeutet jedoch nicht, dass diese für alle Mitgliedstaaten geboten ist. 5.1 Die Koalitionsfreiheit nach Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMR umfasst neben dem Gewerkschaftsmitglied und den Gewerkschaften auch den Arbeitgeber und die Arbeitgeberverbände. Sie hat sich entgegen des Wortlauts von einer Gewerkschaftsfreiheit zu einer allgemeinen Koalitionsfreiheit entwickelt. 5.2 Das Verbot von closed shop-Regelungen steht pars pro toto für Zwangsmitgliedschaften besonderer Art. Ist die Druckschwelle nicht überschritten, liegt bereits kein Eingriff in die individuelle negative Koalitionsfreiheit vor. 5.3 Das Recht einer Gewerkschaft, gehört zu werden, bietet eine Kompensationsmöglichkeit. Gestaltungen, welche die Gewerkschaften in ihrem Recht, Tarifverhandlungen zu führen, und in ihrem Streikrecht beeinträchtigen, können so ausgeglichen werden. 5.4 Sonderrechte für repräsentative Gewerkschaften sind grundsätzlich möglich. Wird das Recht, Tarifverhandlungen zu führen von der Repräsentativität einer Gewerkschaft abhängig gemacht, ist dies mit Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK vereinbar. Dies gilt unabhängig davon, auf welcher Verhandlungsebene diese Beschränkung stattfindet. 5.5 Eine Tarifautonomie im deutschen Sinne wird durch die konventionsrechtliche Koalitionsfreiheit nicht gewährleistet. Staatliche Zugriffe auf Tarifverhandlungen sind in weitaus höherem Maße als nach deutschem Recht zulässig. 5.6 Der Streik ist auch in Bezug auf nicht tariflich regelbare Gegenstände von Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK geschützt. Maßgeblich ist die Verfolgung beruflicher Interessen. Dem Staat steht jedoch eine weite margin of appreciation zu, weswegen auch ein Ausschluss unter Verweis auf andere Durchsetzungsmechanismen mit der Koalitionsfreiheit vereinbar ist. 5.7 Ein politisches Streikrecht oder ein Streikrecht in Bezug auf allgemeine soziale oder wirtschaftliche Interessen ist nicht geschützt. 5.8 In Bezug auf ein individuelles Streikrecht ohne gewerkschaftliche Führung lässt sich keine Tendenz des Gerichtshofs erkennen. Eine Anerkennung würde jedenfalls einen weiten Spielraum der Staaten nach sich ziehen. Weiterhin möglich wäre die Begrenzung auf gewerkschaftsgeführte Streiks, sofern dadurch die Zweckverfolgung des Einzelnen nicht aus systemischen

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Gründen entwertet ist. Der Spielraum ist erst dann überschritten, wenn der Einzelne seine Interessen nicht mehr effektiv verfolgen kann. 5.9 Verfahrensvorgaben werden durch Art. 11 Abs. 1 Hs. 2 EMRK nicht aufgestellt. Der Streik kann allerdings an prozessuale Voraussetzungen geknüpft werden. Dazu gehören Verpflichtungen, nach denen vor einem Streik oder nach einem längeren erfolglosen Streik ein Schlichtungsverfahren durchzuführen ist.

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Rechtsprechungsverzeichnis Zitierte Urteile des EGMR in chronologischer Reihenfolge EGMR, Urt. v. 23. 07. 1968 – 1474/62 u. a. (Relating to certain aspects of the laws on the use of languages in education in Belgium ./. Belgien). EGMR, Urt. v. 18. 06. 1971 – 2832/66 u. a. (De Wilde, Ooms und Versyp ./. Belgien). EGMR, Urt. v. 27. 10. 1975 – 4464/70 (National Union of Belgian Police ./. Belgien). EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5589/72 (Schmidt und Dahlström ./. Schweden). EGMR, Urt. v. 06. 02. 1976 – 5614/72 (Swedish Engine Drivers’ Union ./. Schweden). EGMR, Urt. v. 07. 12. 1976 – 5493/72 (Handyside ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 25. 04. 1978 – 5856/72 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 13. 06. 1979 – 6833/74 (Marckx ./. Belgien). EGMR, Urt. v. 09. 10. 1979 – 6289/73 (Airey ./. Irland). EGMR, Urt. v. 13. 08. 1981 – 7601/76, 7806/77 (Young, James und Webster ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 21. 02. 1986 – 8793/79 (James et al. ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 18. 12. 1986 – 9697/82 (Johnston et al. ./. Irland). EGMR, Urt. v. 20. 04. 1993 – 14327/88 (Sibson ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 30. 06. 1993 – 16130/90 (Sigurður und Sigurjónsson ./. Island). EGMR, Urt. v. 09. 12. 1994 – 16798/90 (López Ostra ./. Spanien). EGMR, Urt. v. 25. 04. 1996 – 15573/89 (Gustafsson ./. Schweden). EGMR, Urt. v. 29. 04. 1999 – 25088/94 u. a. (Chassagnou et al. ./. Frankreich). EGMR, Urt. v. 08. 12. 1999 – 28541/95 (Pellegrin ./. Frankreich). EGMR, Urt. v. 27. 06. 2000 – 22277/93 (I˙lhan ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 02. 07. 2002 – 30668/96 u. a. (Wilson, National Union of Journalists et al. ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 11. 07. 2002 – 28957/95 (Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 08. 07. 2003 – 36022/97 (Hatton et al. ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 17. 02. 2004 – 44158/98 (Gorzelik et al. ./. Polen). EGMR, Urt. v. 27. 05. 2004 – 66746/01 (Connors ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 20. 09. 2005 – 43672/98 (Ertas¸ Aydın et al. ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 20. 09. 2005 – 43974/98 (Bulg˘ a et al. ./. Türkei).

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Rechtsprechungsverzeichnis

EGMR, Urt. v. 20. 09. 2005 – 45050/98 (Akat et al. ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 11. 01. 2006 – 52562/99, 52620/99 (Sørensen und Rasmussen ./. Dänemark). EGMR, Urt. v. 21. 02. 2006 – 28602/95 (Tüm Haber Sen und C¸inar ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 21. 03. 2006 – 41496/98 u. a. (Ademyılmaz et al. ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 14. 11. 2006 – 20868/02 (Metin Turan ./. Türkei). EGMR, Urt. V. 27. 02. 2007 – 11002/05 (Associated Society of Locomotive Engineers & Firemen (ASLEF) ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 06. 03. 2007 – 31918/02 (Kazım Ünlü ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 27. 03. 2007 – 6615/03 (Karaçay ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 10. 04. 2007 – 6339/05 (Evans ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 17. 07. 2007 – 74611/01 u. a. (Dı¯lek et al. ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 19. 09. 2007 – 35289/11 (Regner ./. Tschechien). EGMR, Urt. v. 04. 12. 2007 – 44362/04 (Dickson ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 18. 12. 2007 – 32124/02 u. a. (Nurettin Aldemir et al. ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 17. 07. 2008 – 23018/04 u. a. (Urcan et al. ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97 (Demir und Baykara ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 16. 04. 2009 – 34438/04 (Egeland und Hanseid ./. Norwegen). EGMR, Urt. v. 21. 04. 2009 – 68959/01 (Enerji Yapı-Yol Sen ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 30. 07. 2009 – 67336/01 (Danilenkov et al. ./. Russland). EGMR, Urt. v. 15. 09. 2009 – 22943/04 (Saime Özcan ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 15. 09. 2009 – 30946/04 (Kaya und Seyhan ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 02. 02. 2010 – 30307/03 (Müslüm C¸iftçi ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 27. 04. 2010 – 20161/06 (Vörður Ólafsson ./. Island). EGMR, Urt. v. 27. 04. 2010 – 7/08 (Ta˘ nase ./. Moldawien). EGMR, Urt. v. 01. 06. 2010 – 22978/05 (Gäfgen ./. Deutschland). EGMR, Urt. v. 13. 07. 2010 – 33322/07 (C ¸ erikçi ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 28. 10. 2010 – 4241/03 (Trofimchuk ./. Ukraine). EGMR, Urt. v. 18. 03. 2011 – 30814/06 (Lautsi et al. ./. Italien). EGMR, Urt. v. 27. 09. 2011 – 1305/05 (S¸is¸man et al. ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 10. 01. 2012 – 30765/08 (Di Sarno et al. ./. Italien). EGMR, Urt. v. 26. 06. 2012 – 9300/07 (Herrmann ./. Deutschland). EGMR, Urt. v. 25. 12. 2012 – 11828/08 (Trade Union of the Police in the Slovak Republic et al. ./. Slowakei). EGMR, Urt. v. 09. 07. 2013 – 2330/09 (Sindicatul ,Pa˘ storul cel Bun‘ ./. Rumänien). EGMR, Urt. v. 10. 09. 2013 – 34010/06 (Fatma Akaltun Fırat ./. Türkei).

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EGMR, Urt. v. 07. 11. 2013 – 29381/09, 32684/09 (Vallianatos et al. ./. Griechenland). EGMR, Urt. v. 08. 04. 2014 – 31045/10 (The National Union of Rail, Maritime and Transport Workers ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 02. 10. 2014 – 10609/10 (Matelly ./. Frankreich). EGMR, Urt. v. 02. 10. 2014 – 48408/12 (Veniamin Tymoshenko et al. ./. Ukraine). EGMR, Urt. v. 27. 11. 2014 – 36701/09 (Hrvatski lijecˇ nicˇ ki sindikat ./. Kroatien). EGMR, Urt. v. 24. 03. 2015 – 29764/09, 36297/09 (Küçükbalaban und Kutlu ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 24. 03. 2015 – 36807/07 (I˙smail Sezer ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 21. 04. 2015 – 45892/09 (Junta Rectora Del Ertzainen Nazional Elkartasuna (ER.N.E.) ./. Spanien). EGMR, Urt. v. 12. 05. 2015 – 73235/12 (Identoba et al. ./. Georgien). EGMR, Urt. v. 26. 05. 2015 – 7152/08 (Dog˘ an Altun ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 09. 06. 2015 – 56395/08, 58241/08 (Özbent et al. ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 16. 06. 2015 – 46551/06 (Manole und ,Romanian Farmers Direct‘ ./. Rumänien). EGMR, Urt. v. 21. 07. 2015 – 70396/11 (Akarsubasi ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 22. 09. 2015 – 22685/09, 39472/09 (Dedecan und Ok ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 26. 04. 2016 – 10511/10 (Murray ./. Niederlande). EGMR, Urt. v. 03. 05. 2016 – 65397/13 (Unite the Union ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 02. 06. 2016 – 23646/09 (Geotech Kancev GmbH ./. Deutschland). EGMR, Urt. v. 25. 10. 2016 – 1056/15 (Dzhurayev und Shalkova ./. Russland). EGMR, Urt. v. 04. 04. 2017 – 35009/05 (Tek Gıda I˙s¸ Sendikası ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 24. 10. 2017 – 47988/09, 47989/09 (Kaya und Gül ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 24. 10. 2017 – 2722/10 (Özdemir Gürcan ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 06. 11. 2017 – 43494/09 (Garib ./. Niederlande). EGMR, Urt. v. 16. 01. 2018 – 27810/09 (Bektas¸og˘ lu ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 04. 04. 2018 – 56402/12 (Correia de Matos ./. Portugal). EGMR, Urt. v. 24. 04. 2018 – 56237/08 (Sadrettin Güler ./. Türkei). EGMR, Urt. v. 28. 06. 2018 – 1828/06 u. a. (G.I. E.M. S.R.L. et al. ./. Italien). EGMR, Urt. v. 25. 10. 2018 – 38450/12 (E.S. ./. Österreich). EGMR, Urt. v. 20. 11. 2018 – 44873/09 (Ognevenko ./. Russland). EGMR, Urt. v. 13. 02. 2020 – 45245/15 (Gaughran ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Urt. v. 09. 06. 2020 – 58418/10 (Süzen ./. Türkei).

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Rechtsprechungsverzeichnis Zitierte Entscheidungen des EGMR in chronologischer Reihenfolge

EGMR, Entscheidung v. 14. 09. 1999 – 32441/96 (Karakurt ./. Österreich). EGMR, Entscheidung v. 10. 01. 2002 – 53574/99 (Unison ./. Vereinigtes Königreich). EGMR, Entscheidung v. 27. 06. 2002 – 38190/97 (Federation of Offshore Workers’ Trade Unions et al. ./. Norwegen). EGMR, Entscheidung v. 30. 11. 2004 – 53507/99 (Swedish Transport Workers’ Union ./. Schweden). EGMR, Entscheidung v. 28. 05.2013 – 5044/04 (Svoboden Zheleznicharski Sindikat ,Promyana‘ ./. Bulgarien). EGMR, Entscheidung v. 03. 12. 2013 – 41547/08 (Costut ./. Rumänien). EGMR, Entscheidung v. 08. 09. 2015 – 15557/10 (Trade Union in the Factory ,4th November‘ ./. ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien). EGMR, Entscheidung v. 15. 05. 2018 – 2451/16 (Association of Academics ./. Island).

Sachwortverzeichnis Absperrklauseln 38 f., 52, 71, 118, 125, 140, 152 f. – Anfängliche 152 – Nachträgliche 152 Arbeitgeberverband 22, 24, 38, 102, 146, 154, 171 – Träger des Koalitionsrechts 146 f. Auslegung – Authentische 46 – Autoritative 35, 46 – Dynamisch-evolutive 35, 47, 92, 125, 127 – Funktionale 91, 120 – 123, 125, 128, 142, 148, 163, 165, 173, 181 – Historische 34 – Teleologische 34 Aussperrung 171 Brighton Declaration Closed shop

48 f., 81, 113

siehe Absperrklauseln

De-Kontextualisierung 60 ff., 143 – Abstrahierung 60 – General principles siehe Grundwertungen – Grundwertungen 62, 65 EGMR – Auslegungsmethoden siehe Auslegung – Berücksichtigungspflicht 48 f. – Beschwerdefrequenz 54, 57 – Bindungswirkung 45 – Case-law 52 – Common law 47, 51 – Einzelfallentscheidungen 50, 152 – Erfolgsquote 55, 57 – Orientierungswirkung 46, 48, 60 – Rezeption 57 – Stare decisis 47 – Two-track Europe 56

– Verhältnis zum BVerfG 49 Europäische Sozialcharta 92 f., 126, 128, 170 f. Funktionselemente 117 f., 120 ff., 144 ff., 156 – Auslegung siehe Auslegung, funktionale – Auswirkung 129 – Effektive Wahrnehmung 131, 135, 137, 142 f. – Funktionale Grundrechtskonzeption 120 ff. – Funktionsversagen 143, 165, 180 – Gesamtbetrachtung 139, 143, 176 – Koalitionszweck 122 – 124, 128, 130, 132, 134, 142, 157 – Kompensationsmöglichkeit 156 – Praxis der Mitgliedstaaten 125, 128, 130, 179 – Zweckverfolgung 129, 137, 139, 148, 158, 165, 171 Gewerkschaft – Angehörige des öffentlichen Dienstes 145, 151, 162 – Diskriminierung aufgrund der Mitgliedschaft 39, 41, 43 f., 149, 151, 175 – Landwirte 43 – Militär 42, 73, 145, 161 f. – Polizei 42, 161 f. – Priester 41, 145 – Repräsentative Gewerkschaften 38, 43, 106, 111, 138, 156 f., 159, 183 – Selbstverwaltung 148 – Träger des Koalitionsrechts 145 Interlaken Declaration

80, 83

Koalitionsfreiheit – Betätigungsfreiheit 155 – eigenständiges Recht 146 ff.

210

Sachwortverzeichnis

Koalitionsfreiheit, Begriff 22 Kollektive Beziehungen 21 – Akteure 22 – Collective bargaining 25, 32 – Ergebnis 24 – Gestaltungsmöglichkeiten 25 – Konzepte 21 – Rechtliche Vergleichsparameter 30 f. – System 24 – Systeme 27 f., 33 – Wirtschaftliche Vergleichsparameter 26, 29 Kollektivverhandlungen 24, 128 – 130, 138, 157 ff., 165 f., 176 – Angehörige des öffentlichen Dienstes 42, 161 – Negative Tarifvertragsfreiheit 38, 154 – Polizisten 162 – Tarifautonomie 163 f. Kollektivvertrag 160, 165 – Wirkung 160 Kontextualisierung 57 f., 60 ff. – Begriff 57 – Vorgehensweise 59 Margin of appreciation 75 ff., 108 – 110, 113, 117, 127, 147, 149, 155, 157, 165, 168, 173, 180 – Anwendungsfelder 84 – Begriff 76 – Begründung 79 – Betroffenheit eines besonderen Sachgebiets 90 – Bezug auf soziale Angelegenheiten 91 – Einflussfaktoren 85 – Funktion 78 – Gemeinsamer europäischer Konsens 94 – Kernbereich 105 f. – Positive Pflicht 99 – Statistik 83 – Wesensgehalt 105 Mindestbedingungen siehe Strukturmerkmale

Mindeststandards siehe Strukturmerkmale Mittelbare Drittwirkung 98 Positive Pflicht

97 f., 101

Spielräume siehe Margin of appreciation Streik 44, 106 f., 119, 129, 138 ff., 166 ff. – Angehörige des öffentlichen Dienstes 169, 176 f. – Daseinsvorsorge 135 – Entwicklung in der Spruchpraxis 166 – Funktionselement 167 f. – Leiharbeitereinsatz 172 – Politischer Streik 174, 177 – Polizisten 169 – Streikabstimmung 180 – Streikbruchprämie 172 – Streikziele 172 – 174 – Sympathiestreik 42, 140 – Tarifbezug 173 – Weitere Arbeitskampfformen 169 – Wilder Streik 178 f. – Zwangsschlichtung 134 f., 181 f. Strukturmerkmale 67, 75, 109 f., 114 f. – Harmonisierung 115, 143 – Matrixstruktur 67, 115, 120, 143 – Spielräume siehe margin of appreciation – Wesensgehalt 68 – 70, 72, 74 f., 114 Subsidiarität 34, 51, 79 – 83, 115, 127, 143 Tarifverhandlungen siehe Kollektivverhandlungen Tarifvertrag siehe Kollektivvertrag Vereinigungsfreiheit 22, 122, 146 ff. Versammlungsfreiheit 36, 170, 175, 177 Wesentliche Elemente siehe Funktionselemente Wiener Vertragsrechtskonvention 34 Zwangsmitgliedschaften

38, 153 f.